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A Thief´s Life

von

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Schuld und Sühne

Aber er war nicht unbeobachtet geblieben. Verborgen im Schatten eines Hauseingangs stand jemand, der alles mit angesehen hatte. Atemlos hatte dieser Jemand das folgende Drama verfolgt und sich dann aufgewühlt nach Hause begeben.
 

Demian selbst machte, dass er heimkam. Dabei lief er seinem Vermieter über den Weg. Dieser warf ihm ob seines Gesichtsausdrucks einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Der Dieb ignorierte ihn ohnehin und ging stumm in seine Kammer. Er schürte das Kaminfeuer und legte sich dann ins Bett. Demian wollte nur noch schlafen und vergessen, aber er fand keine Ruhe. Immer wieder hatte er das Bild des Mannes, wie er reglos auf der Straße lag, vor Augen. Er war nun wirklich kein Sensibelchen, aber das war sogar für ihn zu viel. Demian seufzte. Der Wachmann konnte diesen Sturz unmöglich überlebt haben, dessen war er sich sicher. Und nun fühlte er sich schuldig. Wenn er doch nur ein oder zwei Blitzbomben mehr dabei gehabt hätte, wäre außer kurzzeitigem Verlust der Sehkraft nichts passiert.

Am nächsten Morgen, nach diesem Erlebnis und ein paar Stunden unruhigen, von Alpträumen heimgesuchten Schlafs, musste sich Demian erst mal wieder beruhigen und machte sich auf den Weg durch die Stadt und zu einem geheimen Durchgang in der Stadtmauer, den er vor längerer Zeit zufällig entdeckt hatte. Das Stadttor konnte er ja nicht nehmen, dieses wurde Tag und Nacht strengstens bewacht. Er hatte ein ganz bestimmtes Ziel, das er immer dann aufsuchte, wenn er mit sich selbst nicht im Reinen war.

Er war immer noch so aufgewühlt und mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht richtig auf den Weg achtete. Als er, auf die Straße blickend, um eine Ecke bog, prallte er mit einem Handwerker zusammen. „He du Dummkopf! Hast du keine Augen im Kopf?“ „Tut... mir leid!“ „Pha!“, kam es von dem Mann, als er schnell weiter ging. ‚Ich muss besser aufpassen‘, ermahnte er sich. Aber noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging und er sich nach dem immer noch fluchendem Mann umsah, übersah er zwei Stadtwachen, die direkt auf ihn zu kamen. Erst kurz vor einem Zusammenstoß bemerkte er sie und schlug schnell einen Haken. „Hey du Kerl, stehn geblieben!“ Er eilte davon, die beiden hinterher, aber er war um einiges schneller als sie. Im Gewirr der Gassen verloren sie seine Spur, fluchten, suchten und gaben dann auf. Demian atmete tief durch. Er musste sich zusammen reißen, sonst kam er nicht lebend dort an, wo er hin wollte. Endlich war er am Stadttor angekommen und wollte sich gerade in einem unbeobachteten Moment durch den Durchgang zwängen, als er lauschend inne hielt: „Hast du auch von dem Wachmann gestern Nacht gehört?“ „Was ist denn passiert?“ „Er hat mit ein paar Kameraden einen flüchtenden Kriminellen verfolgt, sogar bis auf ein Dach ist er ihm nach geklettert. Dann ist der Gang abgebrochen und unser entfernter Kollege ist in die Tiefe gestürzt. Man brachte ihn noch zu einem Arzt, aber er war zu schwer am Kopf verletzt und starb kurz darauf.“ „WAS?? Wie denn abgebrochen?“ „Na ja, das Haus ist sehr baufällig und alt. Aber das Beste kommt ja noch.“ „Rede schon!“ „Die anderen Kameraden sagten dem Sheriff, der Kerl hat versucht ihrem Kollegen zu helfen! Er hätte ihn festgehalten und wollte ihn wieder hoch ziehen, aber als der Gang ganz abbrach, konnte er ihn nicht mehr festhalten und er stürzte ab.“ Demian ballte die Fäuste. Er hatte also wirklich nicht überlebt. Der Wachmann sah seinen Kumpel ungläubig an und schüttelte immer wieder den Kopf. „Ist das wahr? Hat dieser Verbrecher wirklich versucht unserem Kameraden zu helfen? Ich kann es nicht glauben, so was tut doch kein Krimineller, der von uns verfolgt wird!“ „Eben, dass würde ich ehrlich gesagt auch nicht tun. Der Sheriff hat denen sogar mit der Prügelstrafe gedroht, wenn sie nicht die Wahrheit sagen. Aber sie haben Stein und Bein geschworen, dass es stimmte, sie hatten es ja mit eigenen Augen gesehen.“ „Ich würde zu gerne wissen, wer das wohl war. Unser Kollege tut mir leid, der war doch noch so jung!“„Ja mir tut er auch leid und er hatte gerade eine Familie gegründet. Nun steht seine Frau mit einem Säugling alleine und fast mittellos da.“ „Oh je! Ist denn das Begräbnis schon geplant?“ „Aber sicher doch, so eine Frage! In drei Tagen auf dem Armenfriedhof.“ „Armenfriedhof? Aber...“ „Ja ja. Als Mitglied der Stadtwache wäre eigentlich ein Grab auf dem Beamtenfriedhof angemessen. Aber selbst für den niedrigen Rang, den der Bursche noch hatte, ist das nicht gerade billig und seine Witwe hat nicht genug Geld für eine solche Bestattung. Sie muss schließlich die Miete bezahlen und so weiter.“ Das Gespräch ging noch weiter, aber Demian hatte genug gehört (oder wollte er nichts mehr hören?), er benutzte den Gang und gelangte so aus der Stadt.
 

Sein Weg führte ihn außerhalb der Stadtgrenzen durch eine weiße Landschaft, bis hin zu einem kleinen Wäldchen. Er ging zwischen den schneebedeckten Tannen hindurch bis zu einem einsam gelegenen Weiher, um dort wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Demian erinnerte sich: Wenn sein alter Meister an etwas zu knabbern hatte, war auch er immer hierher gekommen und hatte ihm diesen Ort später mal gezeigt.

Jetzt saß er gedankenverloren auf einem Stein und blickte auf die gefrorene Oberfläche des Sees, die wie ein Spiegel glänzte. ‚Es ist nicht meine Schuld‘, versuchte er sich zu sagen. ‚Niemand konnte doch damit rechnen, dass so etwas passiert, auch ich nicht.‘ Trotzdem wurde er dieses Schuldgefühl nicht los. Es war zum verrückt werden. Demian schüttelte den Kopf. ‚Verdammt, jetzt reiß dich endlich zusammen!‘, schalt er sich selbst. ‚Du kannst was geschehen ist, nicht mehr ändern!‘ Da erinnerte er sich an eine Geschichte, die ihm Merlin einst erzählt hatte. Dieser hatte eine ähnliche Situation durchmachen müssen. Damals war auch er vor einer Wache geflüchtet, er hatte sich verstecken können, aber der Wachmann lief einigen Mitgliedern der Diebsgilde in die Arme, die ihn kurzerhand geradezu abgeschlachtet hatten. Merlin hatte tatenlos zugesehen und sich ebenso schuldig gefühlt, wie Demian jetzt. Er hatte es aber überwunden, weil er sich gesagt hatte, dass er es ohnehin nicht hätte verhindern können. Eher hätte es ihn selber auch erwischt. „Es war schwer“, hörte Demian ihn wieder sagen. „Aber letztendlich konnte ich es schnell vergessen. Außerdem kann niemand die Zukunft vorher sagen. Es hätte den Mann genauso an einem anderen Tag erwischen können. Abgesehen davon hörte ich kurz danach, dass die Kerle verhaftet und hingerichtet wurden.“ „Dann habt Ihr nicht mehr darüber nachgedacht?“, hatte Demian gefragt. „Nein. Es hätte sich nicht gelohnt. Du darfst auch niemals alles zu persönlich nehmen, mein Junge. Daran ist schon so mancher zerbrochen.“ ‚Es tut mir leid für den Mann, aber ich kann es nicht rückgängig machen‘, dachte er. ‚Ich hoffe, er hat Frieden gefunden.‘ Sein eigener Seelenfrieden war aber nicht so einfach wiederhergestellt. Er konnte nicht so schnell vergessen wie einst sein Mentor.

Durch das still sitzen begann er zu frieren und rieb sich die Hände, das half aber nichts und so lief er ziellos umher. Da fiel ihm plötzlich jemand ein, der wohl genauso wenig Frieden hatte, wie er selbst. Ihm kam ein Gedanke und er schüttelte den Kopf. Nein, das konnte er nicht machen. Sie würde ihm, dem Dieb, doch kein Wort glauben, würde ihn verdammen, ihn der Stadtwache ausliefern... Aber je mehr er darüber nachdachte, umso mehr nahm das Vorhaben Gestalt an. Schließlich stand sein Entschluss fest und er wandte sich um und kehrte in die Stadt zurück. Als er das Tor passierte, unterhielten sich, nach den ersten Wörtern die Demian vernahm zu urteilen, die beiden Wachen immer noch über den Vorfall. Andere Wachmänner und auch ein paar Bürger waren neugierig hinzu getreten. „Ich kenne seine Witwe sehr gut“, meldete sich ein dicker Wachmann zu Wort. „Sie wohnt bei den Docks, in einer dieser Baracken, gegenüber der alten Spelunke da, „Leuchtturm“ oder wie die hieß. Man erkennt diese Bude gleich, sie hat immer eine weiße Christrose im Fenster stehen. Eigentlich wollten sie sich bald eine größere Wohnung im östlichen Viertel nehmen“, erzählte er weiter. „Aber nun, wo sie kaum Geld hat, da sie wegen des Kindes nicht arbeiten kann, kann sie den Umzug vergessen. Sie tut mir leid.“ Diese Information kam Demian gerade recht. Als er wieder Zu hause angekommen war, holte er seine gesamten Ersparnisse aus seinem kleinen Versteck und zählte. Am Ende kam eine hübsche Summe zusammen. Einen Teil behielt er für seine eigenen Ausgaben. Der Rest wanderte zusammen mit einem kurzen Brief in einen Beutel und er machte sich auf den Weg zu den Docks.
 

Es roch nach salziger Seeluft und Fisch. Als Demian den Hafen erreichte, war soeben ein großes Frachtschiff eingetroffen und die Waren wurden verladen. Zu beneiden waren die Arbeiter hier wahrlich nicht, die Arbeit war hart und wurde nicht gerade üppig bezahlt. Die meisten Wachen hatten ihre Aufmerksamkeit zum Schiff gerichtet und bewachten die Verladung. Es musste sich um also um sehr kostbare Fracht handeln. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Demian das ausgenutzt, um sich das ein oder andere wertvolle Stück zu sichern. Aber er hatte im Moment etwas wichtigeres zu tun. Der Dieb hielt nach den Baracken der Arbeiter und Tagelöhner Ausschau. Eigentlich seltsam, dass ein Mitglied der Stadtwache hier gewohnt hatte. Er musste also noch nicht lange in deren Diensten gewesen sein. Nach dem was er gehört hatte, hatte die Familie aber umziehen wollen, in ein besseres Stadtviertel. Nun kam es ihm vor, dass er das junge Glück zerstört hatte. Er seufzte und wünschte sich, die Zeit zurück drehen zu können. Er besah sich die Fenster der Behausungen. Und wirklich, in der dritten stand innen auf dem Fensterbrett eine weiße Christrose in voller Blüte. Die Schönheit der Blume stand im krassen Gegensatz zu dem schwarzen Trauerflor an der Tür. Ein schwaches Licht strahlte aus dem Raum dahinter. Er ging langsam heran bis er schließlich an der Bretterwand neben dem Fenster stand und spähte vorsichtig in den Raum hinein. Es war niemand zu sehen, aber im Nebenzimmer erhaschten seine Augen eine Bewegung. Eine Gestalt, undeutlich durch die beschlagenen Scheiben zu erkennen. Ein Geräusch hinter sich ließ ihn zusammen zucken und er huschte um die Hausecke. Eine Frau klopfte an die Haustür. Die Tür wurde geöffnet und eine warme, melodische Frauenstimme erklang. „Was wollt Ihr? Ach Ihr seid es.“ „Ich bringe die Decke, die ich für Euch genäht hatte.“ „Oh, vielen Dank.“ „Mein Beileid für euren verstorbenen Mann. Es muss furchtbar für Euch sein!“ Sie antwortete nicht, Demian hörte nur ein Seufzen. Dann das Geräusch klimpernder Münzen. „Mehr kann ich Euch leider nicht bezahlen“, sagte die Witwe schüchtern, als fürchtete sie, die Frau könnte die Decke wieder mitnehmen, weil sie mehr kostete. „Das macht nichts. Wenn Ihr noch etwas braucht, dann fragt mich ruhig.“

„Danke.“ Die Näherin ging ihres Weges und Demian entspannte sich wieder und schaute weiter durch das Fenster, in der Hoffnung, sie zu Gesicht zu bekommen. Aber sie blieb im Nebenraum. Schließlich legte er den Beutel auf das Fensterbrett und klopfte ein paar mal deutlich an die Scheibe. Er kam aber nicht mehr dazu, zu beobachten, ob sie öffnete oder nicht, denn auf einmal war da eine Stimme hinter ihm.
 

„Sieh mal an, wen haben wir denn da?“ Demian fuhr herum und sah Stich, der hinter ihm stand, die Arme verschränkt. „Lässt du dich neuerdings auf mickrige Baracken hinab, mit denen nicht mal wir unsere Zeit verschwenden? Oder hat der ach so gute Meisterdieb etwa keine Aufträge mehr?“ Demian wich ohne zu antworten von den Baracken weg. Er wollte nicht, dass die Witwe, sollte sie doch noch aus dem Fenster sehen und ihn noch erblicken, etwas von der zweifellos folgenden Auseinandersetzung mitbekam. Wortlos wollte er an Stich vorbei gehen, aber der packte ihm am Arm. „Etwa Angst vor mir?“ „Bestimmt nicht!“ Er riss sich wieder los. „Was versuchst du dann abzuhauen?“ „Weil ich keine Lust habe, mit dir zu reden! Lass mich in Ruhe!“ Stich knurrte, packte ihn plötzlich am Kragen, drückte ihn gegen die nächste Hauswand und hielt ihm seinen Dolch an die Kehle. Und er war der körperlich weit stärkere. „Wer sagt denn, dass ich mit dir reden wollte? Du willst doch sowieso nicht zu uns, egal welche Angebote dir Aker macht! Ehrlich gesagt, ist mir das nur recht.“ Er begann böse zu lachen. „Ich konnte dich schon nicht ausstehen, als ich dich das erste Mal sah! Weißt du was? Ich habe eine Idee. Wir können unsere Differenzen auf einen Schlag beilegen. Denn ich werde dich gleich hier und jetzt ins Reich des Schöpfers schicken! Was sagst du dazu?“ Er grinste und drückte den kalten Stahl stärker an Demians Hals.„ “Tu dir keinen Zwang an“,“ antwortete dieser gepresst. “„Du kannst mich jetzt hier umbringen, aber sei dir sicher, du bist mit mir dran! Sieh mal nach unten!““ Jetzt erst bemerkte Stich, dass auch Demian den Dolch gezogen hatte und ihn an seinem Bauch hielt. „„Na was ist, Stich? Wer sticht zuerst zu?““ „„Du elender Bastard!““ Stich kochte vor Wut, weil Demian sich selbst mit Dolch an der Kehle nicht von ihm einschüchtern ließ und es sogar noch geschafft hatte, ihn in seine eigene Position zu bringen. Demian würde sich nicht scheuen, seinerseits im selben Augenblick wie er zuzustechen. Er knirschte mit den Zähnen. „Hör mir jetzt gut zu, Demian“, sagte er dann und überraschte diesen, weil er ihn sonst nie direkt beim Namen nannte. „Ich lasse dich dieses eine Mal noch laufen. Wenn du mir aber noch ein einziges Mal in die Quere kommst, ist es mir völlig egal, ob mir jemand zusieht oder nicht! Und es ist mir auch egal, das Aker dich immer noch lebend will! Ich werde dich töten, das ist ein Versprechen, hast du mich verstanden?“ Er ließ Demian los, dafür holte er plötzlich mit seinem Dolch aus. Der junge Dieb unterdrückte einen Aufschrei und taumelte zurück. Blut quoll aus einer Schnittwunde in der linken Wange. „Das war ein Vorgeschmack“, sagte Stich gelassen. „Das wird dich an mein Versprechen erinnern.“ Damit steckte er lachend den noch blutigen Dolch weg, drehte sich um und verschwand um die nächste Hausecke. Demian biss sich auf die Lippen, zog sich einen Handschuh aus und presste ihn notdürftig auf die schmerzende Wunde, während er sich auf den Heimweg machte. Er würde die nächsten drei Tage abwarten und dann zum Friedhof gehen. Dort würde sich dann zeigen, ob der Inhalt des Beutels seinen Zweck erfüllt hatte. Zuhause angekommen, warf er zunächst den blutigen Handschuh auf einen kleinen Kleiderhaufen, die er ohnehin noch heute waschen wollte. Die Blutung hatte zum Glück aufgehört und die Wunde war zu seiner Erleichterung nicht sehr tief. Er wusch sein Gesicht vorsichtig ab. Dieser Zwischenfall hatte seine Laune an den Tiefpunkt gebracht und er schnaubte zornig. Demian hasste diesen Kerl wirklich. 'Wäre ich zur Gilde über gewechselt, es hätte zwischen Stich und mir wohl Krieg gegeben, den über kurz oder lang nur einer von uns überlebt hätte', dachte er sich. Sein Blick fiel auf eine Flasche Wein. Genau das, was er jetzt brauchte, in seinem Kopf ging irgendwie alles durcheinander, er war frustriert, zornig und traurig zugleich. Betrinken wollte er sich nicht, er wollte nur etwas Ordnung in seine Gedanken bringen. Er seufzte fast zufrieden, als der Alkohol eine wohlige Wärme durch seine Glieder sandte. Als er sich einen zweiten Becher einschenkte, blitzte plötzlich ein Bild vor ihm auf. Langes braunes Haar, grüne Katzenaugen... er erinnerte sich an das Mädchen in Arthurs Kneipe. Es war seine Nichte, hatte er gesagt, ihren Namen hatte er aber vergessen. Vielleicht fiel es ihm ja später wieder ein. Demian trank den Becher aus, verschloss die Flasche wieder und nahm einen großen hölzernen Wassereimer. Dann ging er leise die Treppe nach unten. Im Erdgeschoss des Hauses gab es eine Hintertür, die zu einem winzigen Hinterhof führte. Dort stand ein Brunnen, aus dem er sich jetzt den Eimer füllte, zurück in seine Kammer trug und auf den Tisch stellte. Er schürte das Feuer neu, machte das Wasser heiß und kramte in einem der kleinen Schränkchen nach der Seife, damit er die Kleidungsstücke waschen konnte. Irgendjemanden hatte Demian irgendwann einmal sagen hören, Wäsche zu waschen sei reine Frauenarbeit und er lachte leise. Nun, er hatte keine Frau, also musste er es selbst tun. Er achtete auf seinen Körper, saubere Kleidung und mindestens ein wöchentliches Bad waren für ihn selbstverständlich. Er ließ sich Zeit und soviel war es ja auch wieder nicht. Eins nach dem anderen hängte er die Teile zum Trocknen über die nahe an den Kamin geschobenen Stühle. Als er fertig war, kippte er das Wasser im Hinterhof aus und merkte, dass ihm der Magen ziemlich knurrte. Kein Wunder, es war längst Mittag und er hatte an diesem Tag noch gar nichts gegessen. Er öffnete den zweiten Schrank mit den Lebensmitteln und entschied sich schließlich für den Räucherfisch und ein paar Kartoffeln und Karotten, die er sich schälte und in einem kleinen Kessel über dem Kaminfeuer garte. Wieder musste er an das Wort „Frauenarbeit“ denken. Männer, die eine Ehefrau hatten, erwarteten von dieser ganz selbstverständlich einen gedeckten Tisch, wenn sie nach Hause kamen. Er war auf sich allein gestellt und hatte gelernt, sich auch größere Mahlzeiten ohne große Mühe selbst zuzubereiten.
 

Die besagten nächsten Tage verbrachte er mit größtenteils unwichtigen Dingen. Am zweiten Tag begab er sich bereits einmal zum Friedhof, in den Teil, wo die Beamten der Stadt, dazu gehörten auch die Stadtwachen, bestattet wurden. Er hörte das Geräusch einer Schaufel. Der Totengräber war gerade dabei ein Grab auszuheben. War es für die Person, auf die er sozusagen wartete? Er tat so, als wäre er ein Hinterbliebener irgendeines dort Begrabenen und fragte den Mann, wer denn bestattet werden sollte. Sein Verdacht wurde bestätigt. Schon einen Tag eher als ursprünglich geplant, sollte der junge Wachmann hier seine letzte Ruhe finden. Die Witwe hatte einen anonymen Brief und einen Beutel mit Geld erhalten, das nun für ein angemessenes Begräbnis sorgen würde. Er dankte dem Mann und ging wieder nach Hause.

Am nächsten Tag machte Demian sich frühmorgens zum Friedhof auf. Er wollte der Erste sein und sich ein sicheres Plätzchen suchen um die Beerdigung heimlich zu verfolgen. Er blieb schließlich hinter einer sehr großen Eiche mit mächtigem Stamm in unmittelbarer Nähe des Grabes stehen und wartete. Von diesem Standpunkt aus hatte er eine gute Übersicht, ohne selbst gesehen zu werden. Nach einer Weile erklangen viele Schritte. Der Sheriff persönlich führte zusammen mit einem Priester den Leichenzug an. Sechs Wachmänner trugen den Sarg. Aber Demian hatte nur Augen für die Person, die hinter dem Sarg ging. Jetzt sah er sie erstmals. Eine sehr hübsche, zierlich gebaute Frau, mit langem schwarzen Haar. Ganz allein bis auf das kleine Bündel, dass sie neben einem großen Strauß Blumen in den Armen trug und aus dem ein leises Wimmern drang. In schwarz gekleidet, ging sie schweigend den Weg bis zum ausgehobenen Grab entlang. Anscheinend waren sie und das Kind die einzigen Angehörigen, denn sonst sah er außer den Wachen niemanden. Der Priester sprach ein Gebet, in das alle mit einstimmten. „So komme denn seine Seele ins Reich des Schöpfers, auf dass er in ewigem Frieden ruhe.“, schloss der Priester und alle antworteten: „So sei es! Gelobt sei der Schöpfer!“ Langsam wurde der Sarg in die Erde gelassen, der Totengräber trat mit seiner Schaufel heran, um das Grab zu zuschütten. Nachdem sich der Sheriff und seine Männer noch von der Witwe verabschiedet hatten, stand sie da, ihm den Rücken zu gewandt, den Kopf gesenkt und hielt ihr Kind fest im Arm. Demian hörte unterdrücktes Schluchzen. Der Totengräber beendete seine Arbeit, nickte ihr zu und ging ebenfalls. Nun stand sie allein davor und legte den Blumenstrauß auf die frisch aufgehäufte Erde. Für einen Moment hatte Demian den Drang, sich ihr zu offenbaren, ließ es aber bleiben. Er stand weiter still hinter dem Baum und beobachtete die Frau, die eine leise Zwiesprache mit dem Toten führte. Er hörte zwar ihre Stimme, verstand aber kein Wort. Er seufzte leise und hatte plötzlich das Bedürfnis, dasselbe zu tun. Er konnte ohnehin nichts weiter für sie tun. Er wünschte ihr im Stillen, dass sie irgendwann wieder glücklich werden würde, drehte sich um und entfernte sich in Richtung Armenfriedhof. Der Schnee knirschte leise unter seinen Stiefeln.

Der Armenfriedhof war vollkommen still. Die Gräber hier hatten keine Grabsteine. Nur Erdhügel ohne Schmuck. Demian wusste dennoch genau, wohin er sich wenden musste. Er hatte einen bestimmten Hügel unter einer großen Buche mit einigen Steinen so markiert, dass er sich deutlich von den anderen unterschied. Hier ruhte sein Ziehvater Merlin in der kalten Erde. Als sich damals die Kunde seines Todes verbreitet hatte, waren nicht wenige froh gewesen, den Meister unter den Dieben los geworden zu sein. Normalerweise hätte ein Verbrecher keinen Platz auf dem Friedhof erhalten, sondern man hätte seinen Körper verbrannt und die Asche ins Wasser gestreut oder ihn irgendwo verscharrt. Und dieser Gedanke war für den jungen Dieb in seiner Trauer damals unerträglich gewesen. Demian war es gelungen, den verantwortlichen Totengräber ausfindig zu machen. Und der war gegen eine Stange Geld bereit gewesen, Merlin doch auf den Friedhof zu begraben, ohne seinen Vorgesetzten etwas davon zu sagen. Demian war noch heute sehr froh darüber. So hatte er einen Ort, an dem er sich an Merlin erinnern konnte. Er hockte sich hin und strich den Schnee von den Steinen. Irgendwie war ihm nach weinen zumute, er wusste nicht, warum und kämpfte dagegen an. Es war lange her, dass er sich nicht mehr hatte beherrschen können und das war bei Merlin´s Tod gewesen. Er schloss die Augen und dachte an dessen letzte Worte...
 

„Ich bitte dich nur um eines, Demian. Bewahre dir dein ehrliches Herz, bleibe so wie du bist und ändere dich nicht.“ „Das werde ich. Ich verspreche es.“ „Darüber bin ich sehr froh.“ Merlin schoss mit einem Seufzer die Augen. Ein paar Mal noch hob und senkte sich seine Brust, dann nicht mehr. Vergeblich wartete Demian auf ein Lebenszeichen. „Nein... Merlin...“ Lautlos fielen Tropfen auf seine zu Fäusten geballten Hände. Alles, was Demian jetzt empfand, war Schmerz und Trauer. Um den einzigen Menschen, der ihm je etwas bedeutet hatte. Merlin war wie ein Vater zu ihm gewesen. Nun war er wieder allein. Er fühlte sich völlig verlassen und mutlos. Wie sollte es nun weitergehen? Sollte er aufgeben? Aber dann würde er in der Gosse und früher oder später in einem anonymen Grab enden. Die Diebesgilde zog er gar nicht in Betracht. Mit diesen brutalen Kerlen wollte er nichts zu tun haben. Er wäre dort zwar nicht mehr allein, würde aber für den Rest seines Lebens unter Akers Fuchtel stehen. Und das war das allerletzte, was er wollte. Ihm war seine Unabhängigkeit wichtiger. Eine Weile überlegte Demian, sich eine andere Arbeit zu suchen. Aber die meisten wollten wissen, was er zuvor gemacht hatte. Und wenn sie erfuhren, dass er ein Dieb gewesen war, würden sie ihn sofort von der Tür weisen. Oder ihn gleich zu den Stadtwachen schleppen. So blieb ihm keine andere Wahl, als weiter als einzelgängerischer Dieb zu leben. Was sein „Vater“ geschafft hatte, konnte er auch schaffen. Nein, er würde jetzt nicht das Handtuch werfen. Keinesfalls. Das war er Merlin schuldig. Entschlossen fuhr Demian sich über die noch immer nassen Augen. Es war das letzte Mal, dass er sich diese Schwäche erlaubte.
 

Demian atmete tief durch. Seine Augen waren trocken, als er sie wieder öffnete.



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