Zum Inhalt der Seite

Kryptonit

Jeder Held hat eine Schwäche
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Reue

Hallo ihr Lieben!

Diesmal ein wenig Gefasel von mir und ich hoffe, dass ihr das lest und nicht genervt die Augen verdreht, weil ich so mitteilungsbedüftig bin ;)

Am 20.10. ist in den USA Spirit Day. An diesem Tag geht es darum zu zeigen, dass man gegen Homophobie ist. Desweiteren wird morgen sechs homosexuellen Teenagern gedacht, die sich in den letzten Monaten umgebracht haben, weil sie an ihren Schulen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gemobbt/ausgegrenzt wurden. Zu diesem Zweck soll morgen lila getragen werden. Da dies hier eine Geschichte ist, in der es um Mobbing und verwandte Themen geht, würde ich euch bitten, ein paar Minuten Zeit aufzuwenden und vielleicht kurz hier vorbei zu schauen:

http://thenewsoftoday.com/october-20th-spirit-day-wear-purple-to-honor-tyler-clementi-asher-brown/3365/

Wenn ihr morgen auch lila tragen möchtet, würde ich mich sehr über ein Foto von euch freuen, damit ich eine Collage basteln kann, auf der möglichst viele Bilder mit Leuten in lila sind. Näheres dazu findet ihr in meinem Weblog!

Danke für eure Aufmerksamkeit und eure Zeit. Ich wünsche euch viel Spaß mit dem Kapitel (das noch mal aus Anjos Sicht geschrieben ist) und einen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Ur

__________________________________
 

Ich bin ja wirklich nicht besonders sportbegeistert, aber trotzdem gehe ich mit Sina zu allen folgenden Wettkämpfen von Chris. Ich bin immer total glücklich, weil er sich freut, dass wir hinkommen. Ma hat mir eine Postkarte an Sinas Adresse geschickt und sie hängt jetzt über dem Bett im Gästezimmer, direkt neben dem Foto von ihr und mir. Sie hat mir auch erzählt, dass sie bei Pa angerufen und ihn zur Schnecke gemacht hat, weil er sich wie ein Trottel benommen hat. Sina ist dank meiner Erzählungen ganz begeistert von meiner Mutter und meinte, dass sie sie gern mal kennen lernen würde. Ich hätte nichts dagegen. Aber wer weiß, ob Ma nicht einen hysterischen Anfall bekommt, wenn sie Chris sieht. Dann stürzt sie sich womöglich auf ihn und macht Werbung für mich. Das wäre ausgesprochen peinlich.
 

Chris ist während seiner Wettkampfphase dauernd beim Training. Oder im Fitnessraum der Sporthalle. Oder Joggen. Eigentlich ist er kaum zu Hause und ich muss zugeben, dass ich ihn ein wenig vermisse – was ja albern ist, da wir zusammen wohnen –, aber sobald die Wettkämpfe vorbei sind, ist er wieder mehr zu Hause. Und so habe ich Zeit, mich ein wenig um mein Kunstprojekt zu kümmern. Zwei Tage vor der Jahrgangsparty bin ich bei Lilli zu Besuch. Das ist erst das dritte Mal und ich kann mich immer noch nicht so recht daran gewöhnen, dass hier noch zwei Mädchen rumrennen, die eigentlich genauso aussehen wie Lilli. Mal ganz abgesehen von den Klamotten und den Haaren. Maya trägt ihre Haare blond – so wie Lillis Haare eigentlich auch sind – und lang. Alles in allem sieht sie am ehesten aus wie das nette Mädchen von nebenan. Mit Jeans und Bluse und Turnschuhen. Nele hat die blonden Haare ganz kurz. Und sie zieht sich eigentlich eher an wie ein Junge. Sie sind beide ziemlich nett. Genau wie Lillis Eltern, die jedes Mal darauf bestehen, Kekse und Limo reinzubringen, wenn wir in Lillis Zimmer hocken und über Kunst brüten.
 

Auch dieses Mal schleppt Lillis Mutter ein riesiges Tablett mit Obstsalat, Cookies und zwei Gläsern samt Zitronenbrause ins Zimmer und strahlt mich an, bevor sie wieder verschwindet. Ich sehe ihr ein wenig verwundert nach. Lilli scheint das witzig zu finden, denn sie kichert leise und schnappt sich einen Keks.

»Du bist der einzige Freund, den ich habe, der heile Hosen trägt, eine stinknormale Frisur hat und nicht acht Jahre älter ist als ich«, informiert sie mich schmunzelnd. Ich blinzele.

»Ach so. Hat sie was gegen deine anderen Freunde?«, erkundige ich mich und piekse mit einer Gabel, die ebenfalls auf dem Tablett liegt, ein Stück Banane auf.

»Nee. Sie ist nur immer ein bisschen beunruhigt, wenn ich mit ihnen losziehe. Ich kann’s ja irgendwie schon verstehen«, erklärt Lilli und schiebt sich noch einen zweiten Cookie in den Mund.
 

»Ich hoffe nur, dass sie nicht denkt, dass ich für dich als Freund in Frage komme«, sage ich und gieße uns beiden Limo in die Gläser auf dem Tablett.

»Nee. Ich hab dich schon geoutet«, sagt Lilli und zögert einen Moment. »Ist das ok?«

»Ja, wieso nicht?«, gebe ich lächelnd zurück und nehme einen Schluck Limo.

»Hätte ja sein können, dass du es noch nicht so an die große Glocke hängen willst«, mampft Lilli mit dem Mund voller Cookies.

»Ich arbeite dran«, scherze ich. Sie kichert und verschluckt sich beinahe an ihren Cookies.

»Gehst du jetzt eigentlich mit mir auf die Jahrgangsparty?«, erkundigt sie sich.

»Ja, ich denk schon. Aber ich weiß nicht, ob Chris auch mitkommen kann, der ist momentan eigentlich nur am Trainieren. Für seine ganzen Wettkämpfe«, erkläre ich ihr.

»Ich werd Nicci mal ’ne SMS schreiben, vielleicht will sie ja mitkommen. Und du kannst Sina fragen. Wenn Nicci kommt, dann kommt Leon sicher auch und wenn Leon kommt, dann kommt Felix…«

Sie bricht ab, aber ich weiß schon, was sie als nächstes sagen wollte.
 

»Und wenn Felix kommt, kommt Chris«, beende ich ihre Aufzählung und sie sieht ein wenig bedröppelt aus.

»Ich bin froh, dass ich nicht verliebt bin«, gibt sie zu. Ich seufze leise.

»Eigentlich ist es ein schönes Gefühl. Nur… na ja. Auf Dauer ist es recht anstrengend, wenn man weiß, dass man sowieso keine Chance hat«, meine ich ein wenig niedergeschlagen und nehme noch einen Schluck Limonade.

»Chris wird schon irgendwann checken, wie toll du bist«, sagt Lilli und dann wirft sie sich halb auf mich, reißt dabei beinahe die Limo um, und umarmt mich so fest, dass ich nach hinten kippe und wir beide auf ihrem knallbunten Teppich landen – der übrigens noch aus Kinderzeiten ist, wie Lilli mir gesagt hat. Sie konnte sich nie von ihrem Kinderteppich trennen.
 

»Uff«, mache ich ein wenig atemlos.

»Du…?«, murmelt Lilli irgendwo in meiner Halsgegend. Ich lege zögerlich die Arme um sie. Sie riecht nach Cookies.

»Hm?«

Ich liege knuddelnd mit Lilli auf einem Kinderteppich. Es ist merkwürdig, aber eindeutig angenehm.

»Tut mir Leid, dass ich vorher nie drauf geachtet hab, wie Benni dich behandelt… dann hätte ich früher was gesagt. Ehrlich«, nuschelt sie.

Ich blinzele ein wenig verwirrt, weil ich nicht weiß, wie sie darauf kommt. Aber die Gedankensprünge von Mädchen sind mir durch Sina mittlerweile hinlänglich bekannt, also hinterfrage ich diesen Sinneswandel einfach nicht. Ich muss lächeln.

»Schon ok. Ich freu mich nur, dass ich… dass wir jetzt befreundet sind«, sage ich verlegen und laufe prompt knallrot an. Wieso müssen Gespräche dieser Art immer so peinlich sein?

Lilli rappelt sich hoch und ich kann wieder Luft holen. Wir setzen uns beide auf und grinsen uns ein wenig verlegen zu, dann greifen wir zeitgleich nach den Cookies. Freundschaft ist das Beste, was es auf der Welt gibt. Soviel steht fest.
 

*
 

Unerwarteterweise kommt Chris mit. Und das, obwohl Felix und Leon nicht dabei sind. Das freut mich gleich doppelt – obwohl ich es natürlich auch schön gefunden hätte, wenn Felix und Leon da gewesen wären. Die Vorstellung, wie die anderen reagieren würden, wenn da ein offen schwules Pärchen am Rand steht und knutscht… das wäre sicherlich nett gewesen. Und wenn Benni und seine Freunde irgendwas gesagt hätten, dann hätte Leon sie mit dem Todesblick bestraft. Oder ihnen wahlweise den Kopf abgerissen. Sina und Chris hätten sicher geholfen. Und Lilli… Die Vorstellung zaubert mir ein Strahlen ins Gesicht, als wir auf dem Weg zur Party sind. Chris fährt, Sina sitzt vorn. Nicci, Lilli und ich haben uns in Chris’ winzigem Auto auf dem Rücksitz nebeneinander gequetscht.

»Ist dir klar, dass wir wie Rentner aussehen werden? Da laufen nur kleine, niedliche Teenager rum«, sagt Sina amüsiert zu Chris. Der grinst ein wenig müde. Er ist gestern erst sehr spät vom Training gekommen und konnte wieder nicht so gut schlafen.
 

»Ich bin sicher, dass das niemanden stört«, sagt Lilli bestens gelaunt. Sie trägt eine stark ramponierte Jeans und ein schwarzes Oberteil, in dem überall Sicherheitsnadeln und Reißverschlüsse stecken.

»Nett, dass du das sagst«, gibt Sina breit grinsend zurück. »Ich könnte ein paar kleine Jungs aufreißen.«

Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke.

»Zum Beispiel einen von Bennis Kumpels. Wie witzig es wäre, den Jungen dann ohne Hose irgendwo im Gebüsch stehen zu lassen…«

Sinas Gesichtsausdruck hat etwas Verträumtes. Ich sehe es im Rückspiegel. Lilli und Nicci lachen sich scheckig, Chris verdreht nur grinsend die Augen.
 

Es scheint tatsächlich so, als habe so ziemlich jeder aus unserem Jahrgang noch irgendwelche Leute mitgebracht, weswegen es extrem voll ist. Das kleine Sportheim ist mit Theke und Musikanlage ausgestattet und es dröhnen bereits laute Klänge durch die Fenster nach draußen. Viele stehen vor dem kleinen Haus, sitzen auf Bänken und lehnen an der Wand. Ich brauche nur zwanzig Sekunden, um Benni und seine Kumpanen zu entdecken. Benni sieht ausgesprochen mürrisch aus und hat bereits eine halb geleerte Flasche Bier in der Hand. Ich gebe mir Mühe, nicht allzu sehr auf ihn zu achten und folge Lilli und den anderen ins Innere des Hauses, um dort erstmal etwas zu trinken zu besorgen.
 

Wie erwartet ziehen Sina und Chris so ziemlich alles an Blicken auf sich, was an Augenpaaren in diesem Raum vorhanden ist. Ich sehe Wiebke und Pia weiter hinten sitzen und kichernd miteinander tuscheln, während sie Chris beobachten. Hilfe. Ich hoffe, dass sie ihn nicht allzu auffällig belagern oder zweideutige Bemerkungen über mich machen. Aber sie halten sich zurück, begrüßen mich und Lilli gut gelaunt und lassen sich vorstellen, ohne sich allzu sehr daneben zu benehmen. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Lilli sieht mir meine Erleichterung wohl an, denn sie grinst breit und klopft mir beruhigend auf die Schulter. Hier läuft weder Musik, die ich gern höre, noch welche, die Lilli mag. Aber Sina und Nicci scheinen bestens gelaunt zu sein und tanzen ungeniert. Allein würde Nicci sich das wohl nicht trauen, aber Sina hat so eine Art an sich… man fühlt sich einfach unsichtbar, wenn sie da ist, und deswegen wagt man sich auch Dinge, die man sonst eher nicht tun würde. Wer auch immer darüber lacht, der kriegt von Sina ohnehin einen auf den Deckel. Zum gefühlten fünfhundertsten Mal stelle ich fest, dass es unglaublich toll wäre, Sina als große Schwester zu haben.
 

Chris trinkt keinen Alkohol und ich mag ja ohnehin nichts, wo Alkohol drin ist. Lilli, Nicci und Sina amüsieren sich prächtig zu dritt. Ich und Chris sitzen schließlich am Rand und beobachten die drei beim Herumalbern auf der Tanzfläche.

»Immer wieder schön zu sehen, über was für Dinge Mädchen sich totlachen können«, bemerkt Chris amüsiert, während wir Lilli, Nicci und Sina dabei beobachten, wie sie sich vor Lachen ausschütten. Wer weiß, worüber sie gerade reden. Ich sehe ungefähr zwanzig Jungs, die zu ihnen hinüber starren.

»Ich freu mich, dass sie so viel Spaß haben«, gebe ich ehrlich zurück und kann gar nicht anders, als zu lächeln.

»Stell dir nur mal vor wie böse Leon jeden Kerl angesehen hätte, der Nicci anstarrt«, meint Chris schmunzelnd. Er kann es wohl einfach nicht lassen, auf Leon herumzuhacken. Ich beschließe, dass es nicht meine Aufgabe ist, ihn deswegen zu tadeln.
 

Die nächsten zwei Stunden vergehen dank einiger Gespräche mit Mädchen aus meinem Kunstkurs ziemlich schnell. Sina zwingt Chris dazu, mit ihr zu tanzen, und ich muss mich ehrlich bemühen, nicht die ganze Zeit zu den beiden hinzustarren. Chris ist eindeutig kein Tanzmeister und das weiß er wohl auch, weswegen er sich möglichst wenig bewegt. Aber Sina benutzt ihn ohnehin vordergründig als eine Art Gogostange, weswegen die beiden ziemlich aufreizend wirken. Jeder Junge in diesem Raum beneidet Chris. Nur ich nicht. Ich beneide Sina. Auch wenn ich nicht tanzen kann.

Lilli und Nicci leisten mir Gesellschaft, während ich meine dritte Cola trinke.

»Dein Kunstbild wird so geil«, sagt Lilli begeistert und reibt sich die Hände, während sie Sina und Chris beobachtet. Ich muss lachen.

»Es wird schwierig, das Ganze nicht allzu pornographisch aussehen zu lassen. Sina hat da diese Art an sich…«, gebe ich zu bedenken.
 

Benni befindet sich mittlerweile auch im Raum. Ich kann nichts dagegen machen, ich muss ihn dauernd beobachten. Mein Blick schweift also dauernd abwechselnd von Benni zu Chris und wieder zurück. Es ist wohl eine Art Reflex, dass ich immer wissen muss, wo Benni sich befindet, nur um sicherzugehen, dass er nicht plötzlich neben oder hinter mir steht. Immer, wenn ich ihn anschaue, muss ich an die ganzen blauen Flecken denken, die ich gesehen habe, als er sich in der Sportumkleide vor mir umgezogen hat. Dauernd frage ich mich, woher er die wohl hat. Aber es geht mich ja eigentlich wirklich nichts an.

»Benni starrt dauernd zu dir rüber«, sagt Lilli. Ich zucke zusammen und laufe rot an.

»Wirklich? Ich starre ihn auch dauernd an. Dann verpassen wir uns wohl ständig«, sage ich kleinlaut. Lilli kichert.

»Er versucht ja auch, es so unauffällig wie möglich zu machen. Der ist schon total dicht. Kann ja kaum noch grade stehen… und das nach drei Stunden Party. Ziemlich peinlich.«
 

Die nächste Viertelstunde bemühe ich mich krampfhaft, nicht mehr zu Benni hinüber zu sehen. Stattdessen starre ich nun ununterbrochen Chris an, der sich nun von Sina befreit und zu uns herüber kommt.

»Deinem Schläger fallen bald die Augen raus, wenn er dich weiter so anglubscht«, ist sein erster Kommentar, als er sich neben mich auf einen Stuhl fallen lässt. Breit grinsend legt er einen Arm um mich und ich spüre, wie mir heiß wird. Und das liegt eindeutig nicht an der Raumtemperatur.

»Quatsch«, nuschele ich und spüre überdeutlich das Gewicht von Chris’ Arm auf meinen Schultern. Sina, Lilli und Nicci betrachten uns mit Blicken, die mir noch mehr Hitze in den Kopf steigen lassen, und ich sehe Wiebke und Pia, die hektisch wedelnd weiter hinten bei der Theke stehen und sicherlich jeden Moment anfangen zu hyperventilieren. Oh Mann, ist das peinlich.
 

»Ich geh mal kurz frische Luft schnappen«, sage ich zu Chris und husche durch die Menge nach draußen, wo ich einmal tief durchatme und meinen Becher Cola leere. Ich verdrücke mich ums Haus herum, wo der Sportplatz ans Sportheim grenzt, und lehne mich gegen ein steinernes Waschbecken. Jedes Mal, wenn Chris mich – egal, wie kurz es sein mag – berührt, dreht mein Magen völlig durch und mein Herz platzt beinahe. Selbst wenn ich mich der aberwitzigen Hoffnung hingeben würde, dass das mit uns beiden irgendwann mal was wird, wie genau soll das laufen? Spätestens beim ersten Kuss falle ich tot um. Zugegeben, es wäre ein schöner Tod, aber… Seufzend lehne ich meinen Kopf an die kühle Wand hinter mir. So ein Mist. Wenn ich nur einen Bruchteil von Sinas Selbstbewusstsein hätte, dann würde ich mich neben Chris nicht immer so klein und unwürdig fühlen. Gerade als ich überlege, ob ich nicht langsam wieder rein gehen soll, stolpert jemand an mir vorbei, verschwindet um die Ecke des Hauses und ich blinzele einen Moment lang verdutzt.
 

Das war Benni. Glaube ich. Ich hab nur halb drauf geachtet. Jetzt höre ich eindeutig Würgegeräusche. Also wer immer an mir vorbei gerannt ist, übergibt sich hinter dem Haus. Ich zögere, dann drehe ich mich um und schaue das Waschbecken an. Schließlich drehe ich den Hahn auf und lasse Wasser in den Becher laufen, schließe den Hahn wieder und gehe langsam an der Mauer entlang, bis ich die Ecke erreiche. Es ist dunkel, weil hier lauter Bäume und Gesträuch stehen. Aber die Silhouette ist so eindeutig die von Benni, dass ich einen Augenblick am liebsten hastig umdrehen würde.

Er hat die Hände an der Wand abgestützt und sein Kopf hängt nach unten. Ich räuspere mich.

»Möchtest du… Wasser?«, frage ich zögerlich. Meine Stimme zittert. Er sieht aus glasigen Augen zu mir auf und es dauert einen Moment, bis er mich erkennt.
 

Ich warte darauf, dass er wütend wird, oder mich angeekelt ansieht. Aber stattdessen verzieht er das Gesicht auf eine Art und Weise, die für mich eher nach Verzweiflung aussieht. Dann dreht er den Kopf wieder weg und hustet.

»Was willst du denn hier?«, nuschelt er. Seine Stimme ist leise. Sonst hab ich sie immer nur laut gehört. Oder zischend. Oder verächtlich, höhnisch, angewidert. Gerade hört sich sein Lallen an, als wäre das Gewicht der ganzen Welt auf seinem Rücken abgeladen worden.

»Ich…äh…«

Ich bin eindeutig überfordert mit diesem betrunkenen, nicht wütenden Benni. Und das ist komisch, weil ich vorher auch überfordert war, wenn er mich so schlecht behandelt hat.

»Ich bringe dir… einen Becher Wasser?«, erkläre ich fragend. Er sieht nicht so aus, als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen, um mich zu verprügeln. Mein Körper entspannt sich ein wenig und ich strecke die Hand mit dem gefüllten Plastikbecher aus.
 

Es dauert fast eine Minute, bis Benni aufhört zu würgen und erneut den Kopf hebt. Dann streckt er eine deutlich zitternde Hand nach dem Becher aus und trinkt zwei Schlucke. Ich beobachte schweigend, wie er sich den Mund ausspült und angewidert auf den Boden spuckt.

»Scheißdreck.«

Seit ich ihn in der Umkleide gesehen hab, kann ich an nichts anderes mehr denken als an diese blauen Flecken. Es ist, als würde ich ihn nur noch mit diesen Dingern sehen. Als hätte er gar kein Shirt an.

»Alles ok?«

Wieso bin ich besorgt um einen Jungen, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat?

»Brauchst du noch was? Soll ich dir vielleicht ein belegtes Brötchen holen?«

Wieso kann ich nicht wütend auf ihn sein? Egal, was für eine gesunde Reaktion das wäre… ich kann offensichtlich immer nur nett sein. Ich bin nicht sicher, ob das etwas Positives ist.
 

Benni richtet sich auf und sieht mich verschwommen aus seinen glasigen Augen an. Er wankt leicht auf der Stelle und leert dann den Plastikbecher, ehe er ihn mir zurückgibt. Schweigend starren wir uns an, so, als könnten wir beide es nicht wirklich fassen, hier hinter dem Sportheim zu stehen und uns anzusehen.

»Wer ist der wichtigste Mensch auf dieser beschissenen Welt für dich?«, fragt er plötzlich. Er lallt eindeutig, aber nicht so sehr, dass man ihn nicht mehr verstehen kann. Die Frage irritiert mich. Wieso fragt er mich so was? Ich zögere und denke nach.

»M…meine Ma… denke ich«, sage ich unsicher. Er schweigt wieder einen Moment lang und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.

»Und hat dir deine Ma schon mal gesagt, dass du genauso bist, wie das, was sie am allermeisten hasst?«

Ich blinzele. Ich kann mir wirklich keinen Reim auf diese Fragen machen. Alles, was mir dazu einfällt, ist, dass Benni offenbar nur deswegen so viel getrunken hat, weil in seinem Privatleben gerade irgendetwas arg schief gelaufen ist. Was auch immer das sein mag.
 

Ich schüttele den Kopf.

»Nein. Hat sie nicht. Und das würde sie auch nie tun«, antworte ich behutsam. Benni fährt sich erneut über das Gesicht. In diesem Augenblick ist er alles andere als angsteinflößend oder überheblich. Dass er überhaupt mit mir redet, wundert mich ungemein. Da sieht man mal wieder, was Alkohol aus den Menschen macht. Ich hab mal gehört, dass Menschen die Wahrheit sagen, wenn sie betrunken sind.

Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als Benni zwei Schritte auf mich zu macht. Unweigerlich zucke ich zurück und habe schon halb die Arme gehoben, um ihn mir vom Leib zu halten… da kippt er gegen mich und sein Kopf landet auf meiner Schulter. Ich schwanke leicht unter dem Gewicht, schaffe es jedoch, stehen zu bleiben. Um Himmels Willen, was ist jetzt los? Mein Herz rast wie verrückt und mein ganzer Körper ist stocksteif.

»Es tut mir Leid…«

Seine Stimme ist so leise und heiser. Eine Sekunde lang bin ich sicher, dass ich mich verhört habe. Aber er sagt es noch mal. Und noch einmal. Und nach dem vierten Mal kann ich nicht anders, ich hebe zitternd die Arme und lege meine Hände sachte auf Bennis Rücken.

»Verfluchte Scheiße, es tut mir so Leid…«



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (33)
[1] [2] [3] [4]
/ 4

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Kaoru
2011-01-04T10:59:12+00:00 04.01.2011 11:59
Je weiter die Story vorangeht, desto mehr frage ich mich, ob das nicht doch eher ein Benny x Anjo-Ding wird... aber es war ungemein niedlich, wie er sich entschuldigt hat!
Du hast echt Talent, solche Szenen zu beschreiben... ich bin beinahe neidisch*lach*

Sry, dass ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe (ja, ich weiß: niemand ist verpflichtet, zu lesen und zu kommentieren, aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen, denn ich lese die Story echt gerne! - Ui, lange Klammer). Ich bin iwie davon abgekommen...

Na jutti, dann werd ich mal die Gunst der Stunde nutzen und wenigstens noch das nächste Kapitel lesen, bevor ich Mittag mache und mich meiner ver****** HA widme~

Bis gleich~
Von: abgemeldet
2010-10-30T14:10:31+00:00 30.10.2010 16:10
Das entwickelt sich alles total anders als gedacht...
Benni scheint eine immer wichtigere Rolle zu bekommen - bekommt er noch einen Steckbrief?
Was würde Chris jetzt wohl sagen, wenn er die Beiden da so stehen sieht? *uuuh*
Bin gespannt wie es weiter geht :)
Von:  Lanaxylina
2010-10-27T21:44:57+00:00 27.10.2010 23:44
Heyyy, eine unheimlich tolle Story! Ich finde es ziemlich spannend, nach Spiegelverkehrt nun auch Christian näher kennen zu lernen und bin schon sehr gespannt wie es weitergeht :)
Liebe Grüße
faith
Von: abgemeldet
2010-10-25T19:11:43+00:00 25.10.2010 21:11
Verspäteter Kommentar weil Urlaubspause :D
Zu dem Vorwort kann ich nur mal sagen, dass ich solche Aktionen gut finde. Und wichtig. Weil es eine verdammt idiotische Scheiße ist, Menschen wegen irgendetwas auszugrenzen und fertigzumachen.

So. Und jetzt zum Kapitel.
Lilli ist toll. Und ich fand diese Szene in ihrem Zimmer so niedlich :)
Und Benni tut mir verflucht leid. Auch, wenn das, was auch immer er durchmacht, es nit rechtfertigt, dass er so mies zu Anjo war.
Aber er tut mir leid.
Und ich find es gut, dass er sich entschuldigt hat. Auch wenn er besoffen und mit der Welt am Ende war und sich im nüchternen Zustand wahrscheinlich nicht mehr dran erinnert oder so. Wenigstens zeugt er Reue.
Ich frag mich echt, was mit ihm los ist...
Und Anjo...herrje. Ist nett...

Und ich freu mich aufs nächste Kapitel! Du machst die Sache aber auch spannend ;D

GlG
Fatja
Von:  Larii
2010-10-22T23:26:14+00:00 23.10.2010 01:26
Also ich steh auf Benni :D
Von:  Curryschaf
2010-10-21T20:46:53+00:00 21.10.2010 22:46
hey..
das war ein echt tolles kapitel. irgendwie kriegst du es hin, mich für freundschaftsfluff zu erwärmen (lilli :D) und antagonisten so darzustellen, dass man mitleid mit ihnen hat (benni >:/). ich freu mich jedenfalls auf mehr, egal wie es weitergeht. o_ö

ich hab gestern auch lila getragen ^^ aber ich war nicht online, sonst hätt ich dir vielleicht ein foto geschicht (auch, wenn wir uns nicht kennen ^^). ich finds toll, wie du dich für lgbt-themen einsetzt ^_^
lg
Von:  RockFee
2010-10-21T16:11:42+00:00 21.10.2010 18:11
Ja, danke für den Anstoß. Wollte gerade weggehen, als ich das neue Kap entdeckt habe und habe mich noch schnell umgezogen. Als ich meinen Bekannten erklärt habe, warum ich lila trage, haben sie aber bloß blöd geguckt - Deppen.

Ich freue mich für Anjo, dass er so eine gute Freundin wie Lilli gefunden hat. Er war anfangs der Geschichte doch sehr einsam. Und ich schätze mal, Sina hat ihn längst als kleinen Bruder adoptiert.
Ich habe mich sehr gewundert, dass Chris totz Stress mit zu der Feier gekommen ist. Vielleicht zum Dank, weil Anjo ihn bei seinen Kämpfen begleitet?

Na und Benni, wenn das wirklich seine Mutter oder auch sein Vater zu ihm gesagt haben, dann wundert mich nichts mehr. Er tut mir wirklich leid. Und totzdem glaube ich nicht, dass er "der Richtige" für Anjo ist.

lg Rockfee
Von: abgemeldet
2010-10-21T09:38:51+00:00 21.10.2010 11:38
Hey,
erst einmal sorry, dass ich erst jetzt einen Kommentar schreibe. Bin gerade erst dazu gekommen, dieses und das vorherige Kapitel in Ruhe zu lesen.
Den 20. habe ich ja nun leider verpasst. Das ärgert mich, weil ich mich gerne daran beteiligt hätte - auch, wenn ich kein einziges lilafarbenes Kleidungsstück besitze und deshalb zunächst hätte einkaufen gehen müssen xD
Ich finde es gut, dass du darauf aufmerksam machst. Was das Thema Homophobie angeht, hat sich zwar in den letzten Jahren vieles verbessert, aber die Zustände sind fast überall immer noch ziemlich unterirdisch.
Ich wünsche mir, dass irgendwann jede (freiwillige!) Form der Liebe so gleichwertig ist, wie du sie vermittelst. Aber ich befürchte, dass das ziemlich utopisch ist - schließlich brauchen die Menschen immer irgendeine 'Randgruppe', die sie verteufeln können.

Nun aber zum eigentlichen Thema!
Das Lesen hat mir wie immer viel Freude bereitet. Ich finde es schön, dass deine Geschichte so viele leise Töne aufweist. Es passiert nicht alles mehr oder weniger plötzlich hintereinander, sondern es findet eine realistische Entwicklung statt - und das braucht Zeit.
Dass Chris sich z.B. im besonderen Maße dem Sport widmet, hat vermutlich nicht nur mit der Wettkampfsaison zu tun, sondern auch damit, dass er sich von der Sache mit Jakob ablenken will? muss?
Ich mag diese alltäglichen WG-Szenen, in denen die Charaktere so schön heraustreten. Sina zum Beispiel gefällt mir immer besser ^^
Dass Benni sich entschuldigt, finde ich eigentlich gar nicht deplatziert. Er ist betrunken und frustriert. Da ist sowas doch zu erwarten.
Schön finde ich, wie du Anjos Verhältnis zu ihm beschreibst. Am Anfang konnte er in ihm ja nur eine Bedrohung sehen und schafft es jetzt, vielleicht auch dem Menschen dahinter eine Chance zu geben.
Zu Anjo selbst kann ich nur wieder sagen, dass er in dem 'aktuellen' Zustand definitiv nichts mit Chris anfangen sollte. Aufgrund seines mangelnden Selbstbewusstseins (obwohl es sich ja schon bessert) wäre das eine furchtbar einseitige Angelegenheit - behaupte ich jetzt einfach mal frei heraus xD
Aber du wirst das Ganze schon zu einem guten Ende bringen.
Lass dir da von niemandem reinreden, schreib so, wie es für dich Sinn macht. Dann wird es schon stimmen.
Von:  Inu_Julia
2010-10-20T23:24:20+00:00 21.10.2010 01:24
Ich liebe dieses Kapitel <3
Anjo und Lilli sind zusammen einfach goldig :D Und Anjo hat recht es gibt nichts schöneres als Freundschaft auf der Welt <3 Chris der Mistkerl XD Warum trainiert er so viel? Und wieso gefällt mir das trotzdem, weil ich ihn mir dann verschwitzt und halbnackt vorstelle? xD Ich fand es ja schon süß,dass er mit zu der Party gekommen ist, obwohl er ja so müde war und sich dann auch noch um Anjo kümmert, da es ihm ja auch aufgefallen ist, dass Benni ihn die ganze Zeit anstarrt :) Außerdem ist es einfach genial, dass Anjo das selbe denkt, wie ich dachte, dass er es denkt XD Nämlich, dass er einfach sterben würde, falls Christian ihn auch nur ansatzweise küssen will haha <3 Ich hoffe sehr, dass wir bald in diesen Genuss kommen werden ;)
Benni ist irgendwie süß :) Jetzt wo er sich ein wenig geöffnet hat und sich sogar entschuldigt.. aber Anjo ist auch einfach toll, dass er sich einfach um ihn kümmert... nach all dem was er ihm angetan hat, wäre ich glaube ich nicht zu ihm gegangen.. besonders nicht wenn er betrunken ist -__- Ich hatte ja schon Angst, dass er ihn einfach küsst oder so... obwohl es irgendwie cool wäre aber dann auch nicht, weil es sein erster Kuss wäre >_< und der gehört Chris wenn du mich fragst haha :D Gott ich will endlich, dass Anjo mit diesem Projekt anfängt *__* Ich will mehr lesen XD Noch vieeeeel mehr <3 Ich freue mich ja immer so wahnsinnig auf diese Kapitel haha <3

Ich habe leider erst heute von dem Spirit Day erfahren >__< Aber ich finde, dass es eine unglaublich tolle Aktion ist und es ist auch wichtig darauf aufmerksam zu machen. Ich habe nur letztens einen Artikel über einen Jungen gelesen, der sich wegen Mobbing umgebracht hat und war schockiert.. und auch dieser Facebook Eintrag... wenn ich sowas lese bekomme ich echt das kotzen.. schlimmer geht es wirklich nicht. Menschen können echt eklig sein.
Von: abgemeldet
2010-10-20T17:27:29+00:00 20.10.2010 19:27
Hallo^^

Anjo ist ja wirklich viel zu lieb, dass er sich dann auch noch um Benny kümmert. Wobei der wohl wirklich einiges durchgemacht haben zu scheint. Typsiche betrunkenen Reaktion sich dann so bei ihm zu entschuldigen *gg*
Tolles Kapitel!!

Lg


Zurück