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Gesichtslos

eine Kindergeschichte
von

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eine Kindergeschichte

GESICHTSLOS
 

Vater und Mutter waren nicht zu Hause. Ich saß in der Küche, wollte mein Abendessen zu mir nehmen und da war’s mir so, als hörte ich etwas, draußen, auf dem Flur. Ein Geräusch – kurz aufflackernd. Ein Auswurf. Eher eine Schlinge, die sich sofort wieder in die Stille der leeren Wohnung zurückzog. Oder zurückgezogen wurde. Blitzschnell. Ein Rascheln? Ein Kratzen oder Keuchen? War’s das? Kaum artikulierbar. Mehr Ahnung als bewusste Wahrnehmung, so wie es manchmal vorkommt, wenn man mit dem Rücken zur Tür sitzt und die Schatten der heraufziehenden Dämmerung den Raum aufzulösen beginnen. Einbildung statt Realität. Die Dielen knarrten. Ich hielt im Essen inne, sah auf, lauschte. Nichts Besonderes. Ich zwinkerte. Das Holz arbeitete. Und doch beschleunigte sich meine Atmung, meine Hände wurden feucht. Ich spürte, wie sich jede Faser meines Körpers anspannte. Mein Blick jagte zur Ecke hinter dem Kühlschrank. Und Bilder erschienen vor meinem geistigen Auge, Bilder denen ich mich seit meiner Kindheit zu entziehen versuchte und es nicht konnte. Bilder, die mich bis unter die Bettdecke verfolgten. Was, wenn ...? Die Schlinge, ein zweites Mal ausgeworfen, zog sich ruckartig um meinen Leib. Gefangen. Ich schnappte nach Luft, stemmte die Füße gegen den Boden und rückte etwas vom Tisch ab, bereit, sofort aufzuspringen, falls ...
 

Er kam näher. Ich wusste es, denn die Dielen knarrten, lang gezogen, ächzend. Er hatte soeben noch am Türrahmen eines der Zimmer gelehnt und stieß sich nun ab, verlagerte sein Gewicht von den Fersen auf die Zehen, um in den Flurspiegel an der gegenüberliegenden Wand zu blicken – sich zu betrachten. Im Dämmerlicht des verlöschenden Tages. Sich. Aber wen? Gesichtslos – er, der mich schon solange ich denken konnte, heimsuchte. Er war gekommen. Ganz plötzlich in mein Zimmer. Ich hatte ihn nicht sehen können, nur gespürt. Wie einen dunklen Schatten, der sich in den Raum drängte, um ihn in sich aufzusaugen. Er war da. In den Nächten. An den Tagen. Wann immer ich die Augen schloss, Mittagsschlaf hielt. Dann schwebte er heran, senkte sich auf mich herab. Langsam und jede ruppige Bewegung vermeidend. Beinahe zärtlich, um mir nicht weh zu tun, wie er mir ins Ohr flüsternd versicherte. Heiser, krächzend. Aber ich spürte den Druck seines Körpers auf Brust und Bauch. Und er starrte mich an. Die ganze Zeit. Selbst durch die Decke, meine schützende Haut, unter der die Luft knapp wurde, drangen seine Blicke wie glühend heiße Schwerter und ließen mich zusammenzucken. Im Dämmerlicht gefangen riss ich den Mund auf. Mich schwindelte. „Frische, klare Luft“, hämmerte es in meinem Kopf. Doch ich wusste, würde ich die Decke auch nur ein wenig anheben, wär’s um mich geschehen. Dann hätte er mich.
 

Auch jetzt hatte er den Flur betreten, hielt kurz inne, um ... Seine Augen, der Mund, die Nase. Sein Gesicht? Wer blickte ihm aus dem Spiegel entgegen? Wer?
 

Dann, ein von leisen dumpfen Stößen begleitetes Schlurfen. Er war da. Der Holzboden jammerte, schrie, so als verbrenne er unter seinen Schuhen bei lebendigem Leibe. Er trug diese braunkarierten mottenzerfressenen Pantoffeln mit den abgetretenen Gummisohlen aus dem Schuhschrank neben dem Spiegel. Ich wusste es genau. Er war vor langer Zeit in sie eingezogen. Nun wohnte er in ihnen, wenn er hier, in der Menschenwelt war. Er trug sie und schlurfte mit ihnen langsam, beinahe genussvoll über den Boden, hinterließ Schlieren, die wie zu Brei zerriebene Körper winziger Tiere – Ameisen? – aussahen. Hunderte dieser krabbelnden Wesen, fleißig, schnell und bärenstark. Mit einem Tritt seiner Pantoffeln – tot. Ich hatte sie einmal versteckt, die Pantoffeln. In Vaters Arbeitszimmer, hinter der Heizung unterm Fenster, damit er nicht wiederkommen könne. Niemand wusste von dem Versteck, niemand. Vater bewacht es, wann immer er an seinem Schreibtisch saß und arbeitete. Und wenn er nicht im Raum war, schloss er die Tür ab. Ein stilles Einverständnis. Vater hatte keine Fragen gestellt. Nur genickt. Und dieses böse Wesen war nicht mehr gekommen. Die Brücke, wie Vater den Übergang zwischen unserer und seiner Welt nannte, war seine Grenze gewesen. Aber er hatte mich von dort die ganze Zeit angestarrt. Er wartete, lauerte auf eine neue Tür, durch die er in meine Welt eindringen könne. Ich hatte seine Blicke gespürt. Sie brannten des Tags wie Feuer auf der Haut. Und des Nachts fuhr ich aus dem Schlaf hoch, seine im Mondlicht silbern schimmernden Augen dicht über mir. Die Pupillen stecknadelkopfgroß stachen in meinen Geist.
 

Ich komme wieder.
 

Und eines Morgens lagen die Pantoffeln wieder im Schuhschrank. Und die Löcher an den Spitzen – zahnlosen Mäulern gleich, grinsten mich höhnisch an. Ich schluckte, denn mir war so, als lege sich eine schwere Klaue um meinen Hals, bohre sich in meine Kehle, erschwere mir das Atmen. Hämmernder Schmerz pulste durch meine Adern hinauf bis in den Kopf.
 

Ich bin wieder da. Dicht hinter dir. Dreh dich um ...
 

Ich zuckte zusammen. Reglos, zu Stein erstarrt, spürte ich eine lautlose Detonation im Inneren meines Körpers und sah, wie ich – einem Steilhang gleich erschüttert – in mir zusammensackte, dann brach, bereits zu Staub zerfallen, noch ehe ich auf den Boden schlug. Er hatte die Brücke überschritten, war gekommen. Und jetzt stand er in meinem Rücken, bereit, seine Wohnung zu beziehen. Seine Wohnung –, diese von Motten zerfressenen hellbraunkarierten Pantoffeln mit den aufgerissenen Nähten an den Seiten. Aufgeplatzten Wunden gleich, aus denen das weiße Garn wie Knochensplitter hervorstachen. Aber an ihnen klebte kein Blut mehr. Leblose Tunnel – die Löcher. Verrottet, finster, eng. Wie ein Leichnam. Und ewig schweigend, wiesen sie in eine Tiefe, die das menschliche Auge nicht zu durchdringen vermochte.
 

Woher kamen diese Schuhe ursprünglich? Wer hatte sie getragen? Waren es schon immer seine gewesen? Hatte er sie bei seinen früheren Besuchen in der Menschenwelt zurückgelassen? Um ... wiederkommen zu können, so wie es mir Vater einst erzählt hatte, als wir zusammen auf meinem Bett gesessen und uns eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatten?
 

„Und wenn ich seine Wohnung nun ein für allemal …?“, hatte ich gedacht und meine Hand war vorgeschnellt.
 

Ich hatte die Pantoffeln gepackt. Vernichtung! Jetzt oder Nie! Sie bebten, zuckten wie sich im Todeskampf windende Leiber. Ich straffte mich, biss mir auf die Unterlippe. Jetzt oder Nie! Ich gab mir einen Ruck, wirbelte herum, riss die Augen weit auf. Wollte sehen, erkennen, verstehen. Doch nichts. Nur der Flur starrte mich an. Nur der lange leere Flur, der sich von der Küche bis hin zur Stube erstreckte. Und er? Niemals da gewesen? Falsch, nur unsichtbar, denn er war mehr als ein Schatten, mehr als ein Hirngespinst. Ich spürte ihn ganz deutlich. Seine Fingernägel schabten über meine Haut. Mein Herz bäumte sich auf, tobte. Ich hörte das Blut in den Ohren rauschen. Vernichtung! Hin zum Mülleimer. Er befand sich in der Küche unter der Spüle und musste bald geleert werden, denn gestern war Putztag gewesen.
 

„Mira, kannst du mir mal verraten, warum du die Schuhe in den Müll werfen willst?“
 

Ich schnappte nach Luft. Mutters barscher Ton, ihre funkelnden Augen, als sie vor mir stand. Ich hatte den Kopf geschüttelt, die Schuhe wieder an mich genommen. Sie schienen mich anzustarren, wiederum höhnisch grinsend.
 

„Und wie kamen sie ins Arbeitszimmer deines Vaters? Ich habe sie dort gestern gefunden. beim Reinemachen.“
 

Sie hatte mir die Schuhe entrissen, sie ineinander gesteckt und in das oberste Regal des Schuhschranks gelegt.
 

„Warum? Damit er sie weiterhin tragen und zu mir kommen kann?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich wich zurück. Mich fröstelte. Und die bleischwere Klaue schloss sich enger um meinen Hals. Mir wurde die Luft dünner.
 

„Merk dir eines. Diese Schuhe sind für dich tabu. Verstehst du das? Und wenn ich dich noch einmal mit ihnen erwische, dann ...“
 

Sie war laut geworden, hatte mich bei den Schultern gepackt und geschüttelt. Ihr Blick, rasiermesserscharf. Sprechen konnte ich nicht. Ich versuchte gegen den Schmerz in meiner Kehle anzukommen, zu atmen. Als ich aufblickte, die Pantoffeln sah, meinte ich, sie wären ein Richtbeil, das jeden Augenblick auf mich hinabsausen, mich zerhacken würde.
 

Er war damals wiedergekommen und kam auch jetzt, als ich in der Küche saß. Mein Herz tobte. Ich presste die Lippen zusammen, hielt mir die Ohren zu, zwang mich zur Ruhe, so wie früher, wenn ich mich unter meiner Bettdecke wie in einer Höhle vor ihm versteckt hatte. Doch die dumpfen Stöße seiner Pantoffeln schwollen an – wie Geschosse, die die Erde wieder aufrissen, um sie bluten zu lassen. Ich hielt die Luft an, duckte mich, kniff die Augen zu, schüttelte den Kopf. In meinem Rücken nichts weiter als der lange, vor der Stube endende Flur, die große Wohnung, die vielen Räume. Im Schlafzimmer stand das Fenster offen. Der laue Abendwind drang herein, spielte mit der Gardine und ließ sie wie einen weißen Schleier über das im Halbschatten liegende breite Bett gleiten. Noch warm von der vergangenen Nacht. Ich riss die Augen auf. Vor mir der Tisch, zu beiden Seiten die zwei Stühle –, leer. Mein Teller mit dem halb angegessenen Wurstbrot, das Saftglas daneben, randvoll. Ich meinte zu ersticken und klammerte mich am Tischtuch fest, um nicht zu zittern, sah die Gänsehaut auf meinem Arm, die feinen Härchen, die sich gegen den matten Schein der Straßenlaterne deutlich abzeichneten. Sie richteten sich auf, seinem stummen Befehl gehorchend. Seinem. Er, draußen auf dem Flur, schabte mit den Fingernägeln über das weiß getünchte Holz der Tür.
 

Klopf, klopf.
 

Er grinste, holte rasselnd Luft, befeuchtete sich die Lippen. In seinen silbrig schimmernden Augen ein Flackern, sein Gesicht im Halbdunkel verborgen, erkannte ich nicht.
 

Komm zu mir.
 

Ich schreckte auf. Es war wie ein Stromstoß – das heisere, in den Ohren kratzende Keuchen. Ich hatte es ganz deutlich vernommen.
 

Ich weiß, dass du da drin bist.
 

Ich sprang auf. Ein großer Schritt und ich kauerte mich in der Ecke hinter dem Kühlschrank, die Beine an den Leib gepresst. Meine Bluse war feucht. Klebte am Bauch. Blut? Ich hörte’s tropfen – vom Tisch. Saft. Das Glas, umgestoßen, rollte zur Kante, fiel hinab, zersprang klirrend. Ich zuckte zusammen, hielt den Atem an, starrte auf den Fliesenboden, hörte, wie die Klinke gedrückt wurde, die Feder sich spannte. Es quietschte leise ziehend. Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Ich musste würgen. Gleich, ganz gleich würde er vor mir stehen. Ich duckte mich. Was würde er mit mir machen?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  nufan2039
2010-05-12T09:16:52+00:00 12.05.2010 11:16
Wirklich spannend geschrieben!

Du hast wirklich einen großen Wortschatz! ^^

Für mich persönlich sind die manchmal sehr bildhaften Beschreibungen etwas zuviel!

Liebe Grüße


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