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Das Portal

Die Welt in dir
von

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Waldgeflüster

Ich schlug die Augen auf. Dunkelheit umgab mich, etwas warmes Pelziges hatte sich an meine verkrampfte Hand geschmiegt, als wolle es mir sagen, dass alles gut sei. Es bestand kein Grund zur Panik.

Das mir bekannte Ticken der schweren alten Metalluhr an meinem Schreibtisch beherrschte den Raum. Kleine Schneeflocken glitzerten vor meinem Fenster. Ruckartig stieß ich die Luft aus meinen Lungenflügeln. Das darauf folgende Keuchen überdeckte das monotone Ticken und Mikesch sah erschrocken auf. Für eine Sekunde zuckte sein kleiner Körper zusammen und die Vorderpfoten stemmten sich in die Decke, bereit zur Flucht. Er hielt inne und wartete angespannt was nun geschah.

Ich versuchte meine steifen Knochen damit zu lockern, dem leise erwartungsvoll schauenden Kater durch das weiche Fell zu streichen. Beruhigend kraulte ich das kleine Köpfchen und wurde mit einem rhythmischen Schnurren belohnt.

Meine Umgebung wirkte auf mich für einen Atemzug lang befremdlich. War das wirklich mein zu Hause? War das die Realität oder träumte ich noch immer. Ich war nicht in der Lage einen Unterschied zwischen dem eben erlebten und der jetzigen Situation festzustellen. Alles war greifbar und so real gewesen, so unbeeinflusst von meinem Geist. Vielleicht war meine Krankheit noch immer nicht ausgestanden. All die körperlichen Symptome, das Schwitzen, das Fieber, die vielen Gebrächlichkeiten, möglicherweise waren sie Anzeichen für einen geschundenen Geist. War ich dabei verrückt zu werden, eine gestörte Persönlichkeit mit Tagträumen und Halluzinationen zu entwickeln? So froh ich auch gewesen war, dass ich mich physisch deutlich besser fühlte, so war die neue Theorie kein Stück akzeptabler.

Mit dem Handrücken strich ich mir über die Stirn, auf der sich ein feuchter Film gebildet hatte. Meine Augen brannten und mein Gesicht fühlte sich an als habe man meine Haut rechts und links gelöst, straff nachgezogen und dann festgetackert.

Ich zwang mich ein paar Mal tief ein und aus zu atmen. Mikesch rollte sich unter meiner Hand erneut zusammen und fiel schnell wieder in ein entspanntes Dösen. Das Leben einer Katze stellte ich mir einfach vor. Man legte sich einfach irgendwohin, schlief, kam nach Hause wann es einem beliebte um gekuschelt zu werden und zu fressen. Traurig, dass viele Menschen Tieren fast noch mehr Liebe und Aufmerksamkeit schenkten als den Lieben um sie herum, die sich nichts weiter als ein wenig Zuneigung wünschten. Ein wesentlicher Grund war wohl, dass Tiere einen nicht verletzten. Sie waren einfach da und spendeten Trost. Menschen kamen und gingen, wie es ihnen beliebte und hinterließen manchmal eine große schmerzende Lücke im Leben des Anderen.

Auf meinen Wangen lief es heiß hinab. Ich hatte vergessen, wie lange es her war. Er war noch immer verschwunden, ohne ein Lebenszeichen. Vorsichtig stand ich auf, wollte mit hastigen Bewegungen nicht wieder den Kater verschrecken. Etwas wackelig schritt ich ans Fenster heran und schaute in den Garten hinaus. Der Schnee bildete eine ebene weiße Decke. Immer mehr der kleinen Flocken rieselten herab und begruben das Dorf unter einer kalten Schicht. Viele Menschen mochten den Winter mit seinen kalten grauen Tagen nicht. Sie übersahen vielleicht einfach nur die schönen Dinge, wenn sich das Tageslicht auf das gefrorene Wasser senkte und es zum Glitzern brachte oder die wunderschönen klaren Morgenstunden, mit dem zarten rosa, welches die Welt begrüßte. Nein, am Winter war nichts Schlechtes, die meisten waren nur blind.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war sechs Uhr morgens. Nicht unbedingt die Zeit, wo es sich gelohnt hätte sich nochmals hinzulegen. Ich entschied mich heute nicht zur Schule zu gehen. In den letzten Wochen hatte ich mich fast damit abgefunden, die letzte Klasse zu wiederholen. Ich hatte einfach zu viele Sachen verpasst und tat mich mit dem meisten Stoff so oder so schon schwer. Natürlich half mir Grace wo sie nur konnte, um das Vergangene wieder aufzuholen aber es war schwierig und nervenaufreibend jeden Tag nur hinter her zu sein.

Seufzend schritt ich aus dem Zimmer und machte sofort auf dem Absatz wieder kehrt. Die Diele war eisig kalt und mir standen die Haare zu Berge. Rasch nahm ich mir eine Wolljacke vom Haken an meiner Tür und setzte meinen Weg fort. Die restlichen Zimmer waren fast völlig ausgekühlt. Automatisch stellte ich in der Küche den Wasserkocher an, der leise knisternd seinen Dienst antrat. Ich warf einen Blick auf den Kalender. Mein Vater müsste in den nächsten Tagen wieder nach Hause kommen. Unschlüssig ob ich mich freuen sollte oder nicht, nahm ich mir eine Tasse und einen beliebigen Teebeutel.

Dampfend kam das Wasser aus dem Kocher und verteilte seine feinen Perlen auf meinem Gesicht. Ein angenehmes Gefühl auch wenn es danach sofort in einen kühlen Schauer überging. Langsam zog ich einen Stuhl zurück, zupfte meine Jacke ein wenig enger um meinen Oberkörper und setzte mich, die wohltuend riechende Tasse zwischen meinen Händen. Ich schaute hinaus und dachte über den Tag nach. Was ich noch machen wollte oder auch musste. Alleine zu leben war angenehm, denn man räumte immer nur sein eigenes Chaos weg. Auf lange Sicht hin gesehen, stellte ich es mir jedoch sehr eintönig und einsam vor.

Vorsichtig kam der kleine rote Kater in die Küche getapst und schaute mich aus seinen verschlafen goldbraunen Augen an.

„Na hast du schon Hunger?“, fragte ich leise und lächelte. Ein leises Maunzen war die Antwort. Ich stand wieder auf und gab dem Kater ein wenig fressen, um ihn kurz darauf durch die Terassentür in die weiße Wunderlandschaft hinaus zu entlassen. Für einen Moment blieb ich an der offenen Tür und blickte den langen Garten zum Hang hinauf, in Richtung des Nadelwäldchens. Nichts weiter als unberührter Schnee.

Es war ein schöner Morgen. Der erste seit langem, an dem ich mich gut fühlte. Keine Anflüge von Schwäche oder dergleichen. Vom dem wirren Traum abgesehen.

Zum einen war es angenehm aber zum Anderen fast schon ungewohnt. Ich hatte keine Ahnung, wie es bloß alle um mich herum mit mir aushielten. Meine Geduld mit mir selbst war schon recht früh aufgebraucht und der allmorgendliche Blick in den Spiegel war alles andere als ein Geschenk. Täglich quälte mich der Gedanke daran was ich verloren hatte und warum es dazu gekommen war. Ich hatte keine Antwort darauf finden können aber ich war mir nun sicher, es hinter mir lassen zu können. Irgendwann musste ich wieder nach vorn schauen. Vorsichtig nippte ich an der Tasse. Der wohlige Geschmack von Kamille breitete sich in meinem Gaumen aus.

Ich verbrachte den Morgen damit ein wenig Ordnung zu schaffen und ein paar liegen gebliebene Dinge zu verrichten. Die Öfen knisterten angenehm im Hintergrund und es dauerte zum Glück nicht lange bis das Haus einigermaßen warm war. Gegen Mittag erstattete Grace mir einen Besuch und berichtete vom Tag in der Schule. Sie fragte schon gar nicht mehr warum ich nicht dort gewesen war. Es war meine Entscheidung ob ich ging oder nicht und anhand meiner Krankengeschichte machte sich eh niemand mehr die Mühe mein Fehlen zu hinterfragen.

„Du siehst gut aus heute.“, stellte sie überrascht fest als wir in der Küche saßen.

„Ich fühle mich auch gut. Heute ist ein Tag an dem es wieder ein wenig Berg auf geht.“, lächelte ich.

Grace nickte aber wirkte irgendwie nicht so als würde sie es tatsächlich interessieren. Ich beobachtete sie für einen Moment von der Seite. Etwas an ihr war anders. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja schon.“

„Das hört sich nicht gerade überzeugt an. Was ist los?“ Ich wurde etwas unruhig. So kannte ich sie nicht. Pure Heiterkeit war sonst ihr Markenzeichen.

„Ich weiß auch nicht. Es läuft alles ein wenig drunter und drüber bei mir zu Hause. Ich glaube meine Eltern verstehen sich nicht mehr so gut. Sie streiten sich und schlafen teilweise schon in getrennten Zimmern. Manchmal versuchen sie wenigstens noch den Anschein zu wahren und vor mir und meinem Bruder so zu tun als seien wir eine heile Familie aber selbst Tom erkennt das.“, sie stockte und wirkte bedrückt. Ich wusste nicht ob sie die Tränen unterdrückte oder ob sie relativ gefasst war. Es gab kaum Situationen, die sie wirklich betroffen machten, daher wusste ich nicht, wie ich mit ihr umzugehen hatte. Wollte sie Trost oder nur ein paar aufbauende Worte? Ich schüttelte innerlich den Gedanken ab. Was war ich nur für eine Freundin. Konnte ich nicht einfach mal das machen, was eine Freundin eben tat? Nämlich der anderen beistehen. Egal wie sich das gestalten sollte, letztlich war es die Geste die zählte.

Ich rückte mit meinem Stuhl ein Stück näher ran und nahm sie in den Arm. „Du weißt ich bin für dich da. Egal was du brauchst. Du hast mir so viel geholfen und bist mir eine Freundin, die ich nicht mehr missen will. Wenn ich irgendwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen. Meine Tür steht immer offen.“

„Ich weiß.“, flüsterte sie und ich glaubte zu hören, wie ihre Stimme ein wenig zitterte. Ich kraulte ihren Rücken und behielt sie weiter fest im Arm. Wie lange wir dort so saßen, vermochte ich nicht mehr zu sagen. Irgendwann wurde es für uns Beide ungemütlich und wir gingen einfach in die Tagesordnung über. Grace hatte nicht das Bedürfnis es weiter zu erklären und ich fragte nicht weiter nach. Wir wussten, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Das war das Wichtigste.

Ich bemühte mich meine neu gewonnene agile Stimmung dafür zu nutzen sie aufzuheitern. Wir gingen ein wenig spazieren und kochten gemeinsam. Den restlichen Nachmittag lümmelten wir uns aufs Sofa und schauten ein paar Filme. Irgendwann sagte Grace sie müsse langsam mal Heim, da ihr Bruder allein sei und sie für ihn Abendbrot machen sollte. Sie dankte mir für den Tag und ging. Ich wusste nicht ob es ihr jetzt viel besser ging aber zumindest hatte ich das Gefühl, dass sie die Miesere daheim für einen Moment vergessen konnte.

Der Tag war wie im Fluge verstrichen. Beiläufig legte ich ein wenig Holz nach als es an der Tür klingelte. Ich zog das Band des Wollmantels nach und schritt langsam in den Flur. Hinter dem milchigen Scheiben war nicht zu erkennen, um wen es sich wohl handeln mochte. Skeptisch und ein wenig verwundert öffnete ich die Tür.

„Hey. So willst du los? Könnte kalt werden, findest du nicht?“, strahlte mir der blonde Wuschelkopf entgegen und macht keine Anstalten zu warten, ob ich ihn hereinbitten würde.

„Matt? Was soll das? Warte mal.“, rief ich als er sich unvermindert an mir vorbei schob, flink seine Schuhe abstreifte und linksseitig in Richtung Küche verschwand. Hatte ich irgendwas verpasst, dachte ich und musste mich beherrschen, die Tür nicht schnaubend ins Schloss fallen zu lassen. Ich ging ihm nach.

„Was machst du hier?“, fragte ich, während meine Kiefergelenke knackten.

„Wir haben eine Verabredung Liebes. Schon vergessen? Wir wollten an den See gehen. Nun, ich hatte ehrlich gesagt gehofft es wäre ein wenig wärmer aber was soll‘s.“, grinste er und ließ sich selbstverständlich auf einen Küchenstuhl nieder. Locker streifte er seine Lederjacke ab und blickte mich süffisant grinsend an. Die goldblonden Haare fielen ihm zerzaust in das gebräunte Gesicht, während mich seine wachen Augen beobachteten, wie eine Raubkatze sein Opfer.

Meine Bewegungen wurden schlagartig langsamer als müsste ich mich an ihm vorbei schleichen, um nicht angegriffen zu werden. Vage erinnerte ich mich an das Gespräch und biss mir auf die Unterlippe. Wie konnte ich das nur vergessen, schimpfte ich innerlich.

„Ja ich weiß aber das ist heute wirklich kein guter Tag dafür.“, begann ich und wollte mich der Verpflichtung dem Date gegenüber entziehen. Noch inmitten meines Satzes schnellte er in die Höhe und kam auf mich zu. Sacht legte er mir seinen Zeigefinger auf die Lippen. Die Berührung war kaum spürbar und dennoch sträubten sich mir schlagartig meine Nackenhaare und ein elektrisierendes Gefühl schoss durch meine Glieder.

„Vergiss es Süße.“, sagte er und lächelte charmant. „Aus der Nummer kommst du nicht mehr raus. Wir haben eine Verabredung und allein dein Wille, allen Menschen um dich herum gerecht zu werden, zwingt dich dazu, dass auch durchzuziehen.“

Ich zuckte zusammen als hätte mich jemand geohrfeigt. Er hatte Recht damit. Ein Charakterzug, der mir oft Arbeit einbrockte.

Langsam nahm er seinen Finger von meinen Lippen und ich konnte mich nur schwer beherrschen, diesem nicht mit meinem Kopf zu folgen. Bevor er seine Hand zu sich zurücknahm, legte er lächelnd den Kopf schief und ergriff stattdessen eine meiner braunen struppigen Haarsträhnen.

„Du siehst gut aus. Geht es dir besser?“, fragte er und ich glaubte tatsächlich er würde es ernst meinen. Mitgefühl war etwas, was ich ihm nicht zugetraut hätte.

„Ich denke es geht wieder voran.“

„Gut. Dann schnapp dir deinen Mantel und los geht’s.“

Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass das berechnend war, dachte ich und ließ die Schultern ein Stück hängen. „Fein. Ich gehe mir was Warmes anziehen.“

Während des ganzen Weges durch die Siedlung gab Matt kein Wort von sich. Das war seltsam, wo er sonst immer irgendetwas zu sagen hatte. Unabhängig davon, dass es größtenteils Unsinn war. Kühl zog der Wind an uns vorbei und suchte sich seinen Weg in die Bergwipfel, wo er sanft den Schnee aus den Baumkronen trug. Das Wetter wurde etwas milder. Langsam näherte sich der Frühling, der wieder Farbe ins Dorf bringen würde.

„Hast du dich hier gut eingelebt?“, fragte ich, da ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Der See war nicht mehr weit. Es gab nur eine Stelle an ihm, wo sich ein kleiner Sandstrand am Ufer gebildet hatte. Im Sommer fand man dort so gut wie nie einen freien Platz, so dass ich irgendwann aufgegeben hatte mich dort sonnen zu wollen. Stattdessen schlenderte ich lieber durch die Wälder und genoss die kühle Luft zwischen den Bäumen.

„Wie man es nimmt. Noch bin ich nicht richtig hier angekommen.“, meinte er und wirkte dabei überraschend ernst.

„Wieso? Weil du noch kein ansprechendes Mädchen gefunden hast? Du gehst ja alle einmal durch.“, witzelte ich. „Da muss doch eine bei gewesen sein, um sie schnell in die Kiste zu kriegen. Wie wäre es mit Jessica? Die hattest du glaub ich noch nicht. Sie sieht ganz nett aus und soll leicht zu haben sein.“

„Wer sagt denn, dass ich etwas suche, was leicht zu haben ist? Du hälst ja scheinbar sehr viel von mir.“, antwortete er. Seine Stimme war plötzlich vernehmbar härter und in seinem letzten Satz schwang ein gewisser Grad Schärfe mit. Unmerklich zuckte ich zusammen.

„Was erwartest du denn, was die Leute von dir denken, wenn du jeden zweiten Tag eine andere abschleppst?“, entgegnete ich und versuchte dabei so neutral wie möglich zu klingen.

„Ich suche eben nach einer Person mit dem gewissen Etwas. Warum sollte ich Menschen unnötig hin halten, wenn ich bereits weiß, dass sie nicht dem entsprechen, was ich will? Wäre das nicht deutlich egoistischer? Du würdest also des Anstandes wegen den Kontakt wahren, um dich dann irgendwann zu überwinden und das Ganze zu beenden. Und was ist mit dem Anderen? Der hat sich in dieser Zeit auf dich eingestellt, hat Gefühle für dich entwickelt und sich vielleicht Vorstellungen über eine gemeinsame Zukunft gemacht. Dessen Gefühle trittst du dann mit Füßen. Ist das für dich der richtige Weg?“

„Also… so war das gar nicht gemeint.“

„Nein? Wie war es denn dann gemeint?“

„Ich… naja… es ist halt ein untypisches Verhalten.“

Er schnaubte und schüttelte den Kopf. Ich schien es mit jedem Satz schlimmer zu machen.

„Überall das Selbe.“, knurrte er leise.

„Wie meinst du das?“

„Vergiss es. Lass uns über was anderes reden. Das Thema bringt uns ja doch nicht weiter.“, tat er die Diskussion ab. Für einen Moment war ich alles andere als gewillt, das Gespräch einfach so abzuschütteln. Ich wollte nicht, dass er glaubte ich sei gefühlslos oder würde ihn missachten.

„Wann merkst du denn ob jemand das ist was du suchst? Liebe auf den ersten Blick?“, fragte ich und hatte ehrliches Interesse an der Antwort.

„Findest du das witzig, dich über mich lustig zu machen?“, fragte er und schaute mich griesgrämig von oben herab an. Der See war nun in Sichtweite. Wie nicht anders zu erwarten war, hielt sich dort keine Menschenseele auf. Am äußeren Rand des Sandstrandes war eine kleine Hütte zwischen alten Brombeerhecken, auf denen nun eine dicke Schicht Schnee das Geäst zu Boden drückte. Dort konnten wir uns nieder lassen. Das Wasser war an den Übergängen zum Ufer noch immer gefroren und bildete um die dortigen Wasserpflanzen und Grashalme interessante Panzer aus Eis.

Ich schien kein Talent dafür zu haben, dass Gespräch in einer neutralere Zone zu lenken. Die Sekunden verstrichen, ehe ich mich zu einer Antwort durchringen konnte. „ Ich kenne dich einfach nicht gut genug, um es vielleicht anders zu sehen, daher würde ich mir wünschen, dass du es mir erklärst.“, sprach ich ruhig und hoffte den richtigen Ton angeschlagen zu haben.

Für den Bruchteil eines Atemzuges blickte er mich mit seinen türkisen Augen durchdringend an, als hätte ich etwas Seltsames von ihm verlangt. Er setzte sich fast schon schwerfällig auf die Holzbank in der kleinen Hütte. Seine Augen ließen von mir ab und schweiften über die Wasseroberfläche. Die Luft die seine Lunge verließ bildete eine feine Dunstwolke vor seinem Gesicht, wie bei einem schnaubenden Stier. Es war ein langer gleichmäßiger Atemzug, als müsste er sich für etwas Schweres wappnen. Den Blick senkend, stützte er sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab.

Überlegte er, ob er mir etwas erzählen wollte, dachte ich.

„ Ich suche schon lange nach jemanden. Viel zu lange. Jede Enttäuschung nimmt mir ein Stück meiner Hoffnung und so langsam, glaube ich schon fast nicht mehr daran fündig zu werden. Es mag sich für dich übertrieben anhören aber es ist wichtig für mich und meine Familie, dass ich nicht allein wieder nach Hause komme.“, seine Stimme war so klar und ruhig, dass ich ihm noch Stunden hätte zuhören können, ungeachtet des Inhaltes.

„Du gehst wieder nach Hause? Ich dachte hier sei dein zu Hause?“

Er zuckte kurz mit den Schultern. „ Ich bin immer nur ein Reisender. Mich hält es nirgends lange. Ich setze nur überall meine Suche fort. Verläuft sie zu lange negativ, verschwinde ich wieder.“

„Suchst du dann wirklich nach der großen Liebe? Hört sich für mich eher an, wie jemand der nach Sammlerstücken Ausschau hält.“

Einen kurzen Moment schmunzelte er. „Ich bin einsam. Ich war es schon immer und vielleicht werde ich es auch immer bleiben. Also suche ich natürlich nach jemanden, der mich auf meinen Wegen endlich begleitet und mir die Nächte versüßt. Kommt dir das so seltsam vor? Wünschst du dir niemanden?“, fragte er und lächelte sanft.

„Doch schon aber ich würde nicht durch das Land ziehen und so akribisch nach demjenigen suchen.“

„Warum nicht? Was hält dich davon ab?“

„Ich habe Verpflichtungen und gar nicht das Geld ständig umher zu reisen.“, grinste ich verlegen und kam mir vor als würde ich einem kleinen Kind etwas vom echten Leben erzählen.

„Stell dir vor du hättest keinerlei andere Sorgen, wärest niemanden Rechenschaft schuldig und hättest genügend Geld um die Reisen zu bezahlen. Was wäre dann?“, neugierig schaute er mich von der Seite an und sein Blick war wieder ernst geworden.

„Ich glaube ich wäre sehr schnell sehr enttäuscht und würde aufgeben. Ich habe aber auch bei weitem nicht so viel Charisma und Mut wie du.“, flüsterte ich und schaute zu Boden. Plötzlich spürte ich seine Finger an meinem Kinn, wie sie meinen Kopf sanft zu sich drehten. Ich sah nur noch die großen türkisen Augen, ehe sich seine warmen Lippen auf die meinen legten und ich fast schon von selbst die Lieder schloss. Ein Prickeln überzog mein Gesicht und meine Hände wurden zittrig.

Seine Hand strich über meine Wange und fuhr durch meine Haare, ehe er meinen Nacken ergriff und meine Lippen fester an seine presste. Völlig machtlos ließ ich es geschehen und zuckte unmerklich zusammen, als ich seine Hand in meinem Rücken spürte, wie sie meinen Körper an ihn schob. Für den Bruchteil einer Sekunde spannten sich meine Muskeln und ich wollte mein Gleichgewicht halten. Seine weiche Zunge strich plötzlich über meine Lippen und ließ jede Anspannung verschwinden. Fast schon benommen kippte ich nach vorne und stützte mich mit den Händen auf seiner Brust ab. Selbst durch die dicke Jacke konnte ich noch deutlich das Muskelspiel unter meinen Fingern spuren und in meinem Inneren brannte der Wunsch, über seine gebräunte Haut zu streichen und die Konturen seines straffen Oberkörpers nachzuziehen. Es fühlte sich wie Feuer an, was von seinem Lippen übertragen wurde, über mein Gesicht fegte und durch meinen nunmehr geöffneten Mund bis zu meinem Herzen vordrang und alles mit einer Welle von glühender Leidenschaft überzog.

Seine Zunge liebkoste die meine. Ich musste einige Male leise Aufstöhnen als seine Hand plötzlich unter meinen Pullover kroch und sanft über meine Wirbel strich. Wie glühendes Metall spürte ich die Wege, die seine Fingerkuppen auf meiner Haut vollführten.

Langsam und vorsichtig als wolle er mich nicht aus einem Traum reißen, zog er sich wieder von mir zurück. Fast als wüsste er, wie es um meine Körperspannung nun stünde, hielt er mich weiter in seinem Arm.

„Das war mein erster Kuss.“, flüsterte ich fassungslos wie überwältigt.

„Ich wünschte ich könnte das Selbe behaupten Liebes“, hauchte er und gab mich nun aus seiner Umarmung frei. Langsam ließ er seinen Schädel rotieren, dass seine Halswirbel knackten und lehnte sich wieder zurück. Sein Blick glitt über das ruhige Wasser, während er fast automatisch in seine Jackentasche griff und die Schachtel Zigaretten heraus holte. Ein paar Sekunden später nebelte er die kleine Hütte mit grauen Rauchschwaden ein und atmete schwer ein und aus.

Das war es, dachte ich schockiert. Ein Kuss und er tat als wäre nichts gewesen. Irritiert blinzelte ich ihn an und fühlte mich immer mehr benutzt und beschämt.

„Was sollte das?“, fauchte ich und schlug ihm mit dem Handballen gegen den Oberarm.

Erschrocken riss er die Augen auf, als habe er schon vergessen, dass ich ebenfalls anwesend war. Mehrere Lidschläge blickte er mich nur stumm an, ehe er in mir bekannter Art und Weise antwortete:“ War ganz nett für das erste Mal. Noch ein bisschen Übung und du wirst zum richtigen Männerfresser.“

Ich erstarrte regelrecht vor Entsetzen und spürte wie meine Unterlippe zu beben begann. Das konnte er nicht ernst meinen. Dieser Kuss war so liebevoll und einfühlsam, dass konnte er niemals gespielt haben. Zumindest konnte ich das keinesfalls mit meinem Weltbild vereinbaren. So stumpf und oberflächlich konnte niemand sein.

„So machst du das also ja?“, schrie ich ihn an und mein unerwartet aufkeimender Zorn ließ mich die Hände ballen. „Du gibst dich als sensibel und zärtlich und wimmelst die Frauen dann mit deiner kalten unantastbaren Art ab? Du Heuchler! Der Kuss eben, dass war dein wahres Ich habe ich Recht? Stehe doch dazu und tue nicht so als wäre das nur dein Auswahlritual. Du kannst mir nicht erzählen, dass du nahtlos jede so küsst, wie mich gerade.“

„Doch. Eigentlich schon.“ Er blieb ganz locker und zündete sich direkt die zweite Zigarette an, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Lügner!“ Ich schlug ihm die Zigarette und das Feuerzeug aus der Hand. „Wenn es so wäre, würdest du nicht mit jeder meiner Behauptungen noch mehr abblocken.“

„Interpretierst du da nicht ein wenig zu viel rein?“, grinste er und nahm sich einfach die nächste Kippe, zündete sie an und pustete mir direkt ins Gesicht. Die türkisen Augen nicht von mir abwendend, registrierte er jede noch so kleine Bewegung von mir.

„Wie kann man nur so sein? So egoistisch“, zischte ich und schüttelte mit dem Kopf. Ich spürte wie mein Schädel zu glühen begann und mir die Tränen in die Augen schossen. Ich wollte nicht meinen ersten Kuss an so jemanden verschwendet haben. Warum hatte ich das nur zugelassen.

„Nicht weinen. Das ist gemein. Wenn ihr weint, seid ihr immer so niedlich“, säuselte er, ließ die Zigarette im Mund und wischte mir mit den Händen die Tropfen von den Wangen.

Eisiger Wind strich durch meine Haare und ließ mich schaudern. Es wollte sich einfach nicht in meinem Kopf festsetzen, dass das eben nichts weiter als eine Masche gewesen sein sollte. Mir war klar, dass er nicht in mich verliebt war aber dennoch mussten doch so etwas wie Zuneigung oder generell eine gewisse Anziehung vorhanden sein. Ich verstand es einfach nicht. Meiner Verwirrung die Krönung aufsetzend, tat ich schließlich etwas völlig Verrücktes. Mit beiden Händen griff ich nach seiner Jacke und zog ihn mit einem Ruck an mich heran. Unsere Lippen trafen sich so hart, dass ich erst dachte sie würden bluten. Matt legte sanft seine freie Hand auf meine Schulter und wollte mich behutsam von ihm weg drücken, doch ich ließ nicht locker. Wenn es wirklich bedeutungslos war, dann würde er das beenden, dessen war ich überzeugt. Ich ließ meinen Lippen ein wenig Platz zu seinen und begann vorsichtig mit meiner Zunge über die weiche zarte Haut zu streichen. Es roch nach Qualm aber das interessierte mich nicht. Vorsichtig glitten meine Schneidezähne über seine Oberlippe und zogen sanft an ihr. Eine meiner Hände wanderte langsam an seinem Hals hinauf, über den gespannten Nackenmuskel, bis hin zu seinen weichen Haaren. Ich vergrub meine Finger in ihnen und kreiste mit den Spitzen über seinen Kopf. Es dauerte seine Zeit aber nach und nach lockerte er sich, wollte mich nicht mehr von sich stoßen. Achtlos fiel die Zigarette aus seiner Hand zu Boden, er rutschte näher und umschlang mich nun vollständig mit seinen Armen, drückte mich an seinen Körper und atmete schwer aus.

Die Zeit stand still. Mein Kopf drehte sich. Gefühlte Stunden später, meinen Lippen waren bereits taub, lösten wir uns nur schwerfällig voneinander. Mittlerweile war ich mir gar nicht mehr sicher, wem ich da etwas beweisen wollte. Ich ließ mich etwas auf der Bank zurücksinken und wand mich vorsichtig von ihm ab. Mir war schwindelig und mein Magen fühlte sich wie ein krampfender Klumpen an.

„Es ist schon spät. Wir sollten gehen“, flüsterte er und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr zurück. „Außerdem treffe ich mich nachher noch mit Amber.“

„Oh bitte. Wirklich?“, resignierte ich und war verwundert, dass ich noch einen Ton von mir brachte.

„Was willst du von mir Beth?“, fragte er und stand auf. Seine Stimme hörte sich seltsam an. Irgendwie angespannt und beleidigt.

„Ich will, dass du dir eingestehst, dass das nicht einfach nur ein Spiel für dich ist. Du hast etwas dabei empfunden. Da war Leidenschaft.“

„Natürlich war da Leidenschaft. Meine Güte, Beth. Was ist denn nicht richtig mit dir?“, schnaubte er und wirkte genervt. „Versuchst du jetzt zwanghaft mir weiß zu machen, dass ich was für dich zu empfinden habe, weil ich dich geküsst habe?“

„Nein. So war das nicht gemeint.“

„Doch. Genau so.“

„Vielleicht will ich einfach nur nicht als unbrauchbar betrachtet werden“, flüsterte ich und blickte von ihm weg.

„Hörst du eigentlich, was du da redest?“, sagte er und kam auf mich zu. „Ich suche nach jemandem an meiner Seite. Wieso sollte ich das nicht damit testen, denjenigen zu küssen. Es ist etwas Intimes und gibt mir am ehesten Aufschluss darüber ob ich jemanden mag oder nicht. Setze das doch nicht so leichtfertig mit Gefühlen gleich.“

„Du lügst.“, antwortete ich trocken. Ich wusste nicht warum ich so überzeugt davon war. Irgendetwas an ihm passte nicht zu dem was er sagte. „Was suchst du wirklich?“

„Was meinst du damit?“, fragte er und runzelte die Stirn. Doch da war noch etwas anderes, Misstrauen legte seine Stirn in Falten.

„Du suchst doch gar nicht nach der großen Liebe. Das ist ein Vorwand. Wonach suchst du wirklich?“

„Das… was… wovon redest du denn?“

„Wonach suchst du Matt?“

Sekundenlang starrte er mich an. Die strahlenden Augen bohrten sich bis in die Abgründe meiner Seele und hinter seiner Stirn schienen die Gedanken Achterbahn zu fahren.

„Das kann ich dir nicht erklären.“, flüsterte er und wand sich schließlich ab. Er seufzte und strich sich durch die Haare. Ich weiß nicht was ich getan hatte aber er schien wie gebrochen. Sein Gesicht wirkte schlagartig um Jahre gealtert und seine Fassade des strahlenden selbstsicheren Egoisten bröckelte. Ich hatte Recht. Das Pokerspiel hatte ich gewonnen und tatsächlich Recht mit meiner Vermutung. Ich konnte es gar nicht fassen.

Vorsichtig rutschte ich an ihn heran und schaute von unten zu ihm hinauf. „Das musst du auch nicht. Aber tue nicht mehr so als wäre dir alles egal. Das mag ich nicht.“, lächelte ich und versuchte zu verstehen, was ich da gerade bei ihm ausgelöst hatte.

Wir machten uns auf den Heimweg. Er sagte nichts mehr und rauchte nur eine Zigarette nach der anderen. Dennoch wirkte er verändert. Ich hatte das Gefühl sein wahres Gesicht gesehen zu haben. Ich verstand nur nicht warum er sich hinter einer Maske versteckte. Der Abschied war kurz und ohne irgendeinen Körperkontakt. Ich war mir sicher, dass mich Matt nun nicht mal mehr eines Blickes würdigen würde.

Am nächsten Tag fühlte ich mich seltsam erquickt. Selten hatte ich so gut und tief geschlafen und kein Traum hatte mich an meinem Verstand zweifeln lassen. Genüsslich streckte ich mich unter der Bettdecke und stand auf. Als ich mein Nachthemd auszog spürte ich jedoch ein Spannen auf meinem Rücken. Die Stirn runzelnd stellte ich mich vor den Spiegel und versuchte meinen Rücken zu begutachten. Mir den Kopf halb verrenkend, glaubte ich rosa schimmernde Striemen im Lendenbereich zu erkennen. Vorsichtig strich über die Stellen. Sie brannten nicht und taten nicht weh, eigentlich spürte ich sie mit den bloßen Händen überhaupt nicht. Um sicher zu gehen machte ich mit meinem Handy ein improvisiertes Foto davon. Es war leicht verwackelt und schief aber das erklärte nicht, warum ich auf dem Handydisplay die Streifen nicht sah. Ich zoomte an die Stelle meines Rückens und konnte nichts erkennen, außer makelloser Haut. Irritiert schüttelte ich kurz den Kopf und rieb mir über die Augen. War ich doch so müde, dass ich noch nicht richtig sehen konnte, dachte ich und schaute wieder in den Spiegel. Da waren sie, feine rötliche Linien, die je länger ich sie betrachtete, fast wie eine fremdartige Schrift an meiner Wirbelsäule entlang gingen.

„Das ist doch ein schlechter Scherz“, ärgerte ich mich und lag das Handy beiseite. Ich versuchte den Gedanken abzuschütteln und machte mich stattdessen fertig für die Schule. Vielleicht stand das Licht einfach seltsam im Zimmer oder ich war noch nicht wach. Wer wusste das schon.

Feiner Pulverschnee rieselte von den Dächern, auf dem Weg zur Schule. Der Wind war frisch aber nicht so eisig, wie noch am Abend zuvor. Ich summte leise ein Lied als ich die Schule betrat und mir einen Weg durch die vollen Gänge bahnte. Der Trubel tat mir zum ersten Mal seit Monaten wieder richtig gut und ich hatte nicht das Gefühl, von den Massen erdrückt zu werden. Freundlich lächelnd schlenderte ich in mein Klassenzimmer und schritt die Stufen bis zu meinem Platz hinauf. Matt war bereits da und hatte die Ellenbogen auf dem Tisch platziert um seinen müden Kopf zu stützen.

„War wohl eine anstrengende Nacht mit Amber“, witzelte ich trocken und setzte mich. Beiläufig kramte ich meine Sachen für den kommenden Mathematikunterricht hervor.

„Interessiert dich das wirklich oder machst du dich nur über mich lustig?“, fragte er knurrig ohne mich eines Blickes zu würdigen.

„Vielleicht von beidem etwas.“

„Ich hab ihr abgesagt.“

Ich stockte und musste mich zusammenreißen nicht in der Position zu verharren. Hastig kramte ich weiter und versuchte mir nichts anmerken zu lassen. „Wie kam das?“

„Ich war müde und hatte keine Lust mehr darauf ausgequetscht zu werden“, brummte er und schielte mich nun von der Seite an. „Was machst du heute noch?“

„Wieso fragst du?“, meinte ich und wollte desinteressiert klingen, dennoch musste es ihm nicht entgangen sein, dass meine Stimme einen kleinen Hüpfer machte. Wieso fragte er mich das, dachte ich irritiert. Hatte er nicht genug von mir, dank dem gestrigen Abend.

„Es ist anstrengend immer wieder mit fremden Menschen etwas zu unternehmen. Ab und an mal an etwas alten anzuknüpfen schadet nicht und bei dir kann ich mir sicher sein, dass ich nicht vor Verlangen zergehen werde, um dich ins Bett zu bekommen.“

Ich rollte mit den Augen. Irgendwie hätte ich mit so einer Antwort rechnen müssen. „Warum sollte ich mich dann noch einmal mit dir treffen, wenn du schon so nett von mir denkst?“, fragte ich und schepperte etwas zu laut meine Federmappe auf den Tisch. Ein paar der Anderen drehten sich verwundert um.

„Stört es dich, dass ich nicht mit dir schlafen will? Sei doch einmal nicht so verdreht und denk wie ein normaler Mensch. Nanuk wollte dich doch auch nicht rum kriegen oder irre ich mich da? Ich will einfach nur nicht jeden Abend allein rum sitzen. Warum also nicht mit jemanden einen Film gucken oder so.“

„Du bist nicht allein. Du hast jeden Abend eine andere Frau, bei deiner völlig verrückten Suche nach was auch immer“, giftete ich und spürte, wie sich meine Eingeweide verdrehten, als er seinen Namen sagte. Natürlich wollte Nanuk das nicht, zumindest hatte er nie irgendwelche Anstalten in die Richtung getätigt. Wir waren Freunde und nichts weiter. Matt konnte nicht wirklich glauben, dass ich ihm die freundliche Art glaubte.

„Jetzt zier dich nicht so. Ich komme heute Abend rum und wir gucken einen netten Film. Du darfst auch einen Aussuchen. Und ich hab noch eine Idee. Damit du Ruhe gibst und mich, was das angeht, in Frieden lässt“, er brach beim letzten Satz ab, beugte sich vor und küsste mich unvermittelt. Das Rumoren in der Klasse war schlagartig still und man hätte eine Stecknadel aufprallen hören können. Sofort begann mein Herz zu rasen. Der Kuss dauerte nicht lange aber lange genug, um mir wieder den Schwindel in den Kopf zu treiben.

„Bist du verrückt?“, zischte ich mit hochrotem Kopf und versuchte die Menschen um uns herum so gut es ging auszublenden. Was ziemlich schwierig war, denn sie alle starrten uns an.

„Jetzt denken alle du bist meine Freundin. Niemand wird dich mehr wegen Nanuk nerven und ich kann mit keiner deiner Freundinnen mehr ausgehen, ohne als der böse Freund der fremdgeht dazustehen. Zufrieden?“, grinste er breit und seine Augen funkelten mich an.

„Und was ist mit deiner Suche? Das macht doch gar keinen Sinn?“, fragte ich vollends verwirrt.

„Ich glaube ich werde hier nicht fündig aber vielleicht ist es an der Zeit mal etwas länger an einem Ort zu bleiben“, lächelte er und wand den Blick ab. Matts Mimik verfinsterte sich. Es sah aus als habe er mit dieser Entscheidung etwas unvorstellbar Schweres hinter sich gebracht. Ein schwerer Atemzug verließ seine Kehle und die Leichtigkeit mit der er mich geküsst hatte war verschwunden.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Er zuckte kurz zusammen und blickte wieder zu mir auf.

„Natürlich“, antwortete er trocken ohne sein Gesicht zu verziehen. Ich glaubte ihm kein Wort. Ich sollte völlig verdreht sein aber was war er dann, fragte ich mich.

Der restliche Tag war wie ein Spießrutenlauf. In der ersten großen Pause kam Grace sofort auf mich zu und zerrte mich auf den Gang hinaus. Matt grinste nur selbstzufrieden auf die Klasse herab und ignorierte alle die ihn ansprachen.

„Was war das?“, fragte sie aufgebracht und packte mich an den Schultern, um mich grob zu schütteln.

„Das tut weh“, protestierte ich und versuchte mich aus ihrem Griff zu befreien. „Ich weiß nicht was das sollte. Glaubst du ich hab das mit ihm abgesprochen?“

„Ihr habt euch doch gestern getroffen? Was ist da passiert? Seid ihr jetzt zusammen? Wieso erzählst du mir nichts davon?“ Sie war völlig außer sich und ihre Stimme überschlug sich fast.

„Grace. Beruhige dich. Ich weiß wirklich nicht was das sollte. Ich scheine jetzt irgendwie sein Alibi zu sein, damit ihn alle anderen in Ruhe lassen.“, schmunzelte ich und wusste noch nicht so recht, wie ich auf die Situation reagieren sollte. Grace löcherte mich unentwegt mit weiteren Fragen und verstand das alles deutlich weniger. Noch vor ein paar Tagen war mir Matt regelrecht zu wieder und nun saß ich neben ihm auf meinem Platz und ertappte mich dabei, wie ich ihn von der Seite anschmachtete. Ich musste es noch nicht mal mehr heimlich tun, da uns nun alle für ein Pärchen hielten.

Der Gong des Schulschlusses war wie eine Erlösung. Hastig kramte ich meine Sachen zusammen, sprintete die Stufen wieder hinunter und ging schnellen Schrittes Heim. Vor der Haustür blieb ich stehen. Mikesch schnurrte schon um meine Beine und bat um Einlass. Der Schlüssel passte nur widerspenstig ins Schloss. Ich musste wohl mal wieder den Zylinder enteisen, dachte ich und ließ die Katze ins Innere. Seufzend stellte ich den Rucksack in den Flur und nahm mir den Wäschekorb stattdessen, um von draußen Holz zu holen.

In Gedanken stapfte ich durch den Schnee ums Haus zu unserem kleinen Holzschuppen. Der Tag war so aufwühlend, dass es mir schwer fiel meine Gefühle irgendwie zu sortieren. Der Korb war bereits mehr als voll. Ich verzog meinen Mund vor Ärger und nahm wieder ein paar Scheite herunter, da ich so viel nie alleine wieder ins Haus getragen bekam. Polternd fiel ein Stück Holz herunter und kullerte über die Teils gefrorene Schneedecke. Mein Blick folgte diesem automatisch und stoppte als der Brocken inmitten einer Schuhspur zum Stillstand kam. Sekundenlang starrte ich die Spur an und musste mehrmals Blinzeln, bis ich begriff, dass jemand in unserem Garten gewesen sein musste. Ich wusste das gestern das komplette Grundstück unter einer unberührten Schneedecke vergraben war. Die Spur war frisch. Ich folgte den Schritten mit meinem Blick. Sie führten den Hang hinauf, in den Wald hinter unserem Haus. Direkt an dem Baum, wo ich den Schatten gesehen hatte, verschwanden sie zwischen den knorrigen Stämmen.

Ich überlegte nicht lange, zog mir die Kapuze meines Parkers über den Kopf und ging los. Meine Schuhe versanken bis über die Knöchel im Schnee und der Weg den Hang hinauf war mühsam. Je höher ich kam, desto mehr begann der Wind an meiner Kapuze zu zerren. Ich schüttelte mich vor Kälte und freute mich schon auf den warmen Kaminofen. Mit jedem Schritt schaute ich mich genauer um und stellte fest, dass es lediglich Spuren gab, die in den Wald hinein führte aber nicht zum Haus. Vielleicht war es nur irgendjemand, der unseren Garten als Abkürzung benutzt hatte, dachte ich und spürte wie die andere Hälfte meines Kopfes der Meinung war, dass es der Schatten war. Der Waldrand bot ein wenig Schutz vor dem kalten Wind. Ich schaute mich um. Die Spuren verschwanden nach ein paar Schritten, als habe sich derjenige in Luft aufgelöst. Es gab nichts, dass sonst irgendwie seltsam aussah, aufgewühlter Schnee oder abgebrochene Äste. In Gedanken strich ich über die raue alte Rinde der Kiefer neben mir. Meine Finger waren schon so kalt, dass ich die Berührung kaum spürte. Langsam sog ich die Luft ein und atmete schwer wieder aus. Ich jagte Gespenstern nach, dachte ich enttäuscht von mir selbst. Das musste aufhören. Aus meiner Gesäßtasche kramte ich mit klammen Händen meine Geldbörse hervor. In diesem Bereich war ich altmodisch. Fotos von Familie und engen Freunden trug ich immer bei mir. Ich klappte das Leder auf und starrte direkt auf ein Bild von Nanuk und mir vom letzten Sommer. Wir waren in die Stadt gefahren und hatten uns in der Bibliothek herum getrieben. Ich hatte ein altes in Leder gebundenes Buch gefunden, welches über alte Sekten und elitäre Gruppierungen berichtete. Ein paar Seiten durchblätternd fand ich eine alte Aufnahme von einem Anhänger der Gemeinschaft der Pforten. Der Mann war etwas älter und hatte ein paar Falten aber er sah Nanuk zum Verwechseln ähnlich. Er war peinlich berührt und fast schockiert, als ich ihm das Bild unter die Nase hielt und in einem unaufmerksamen Moment machte ich ein Foto von ihm mit der Aufnahme. Ich schmunzelte. Er hatte sich fürchterlich über das Bild geärgert. Das war nun vorbei, dachte ich und kniete mich nieder. Zwischen den Wurzeln lag ein größerer Stein. Mühsam fummelte ich ihn aus dem Geflecht hervor und legte das Bild in die Mulde.

„Es tut mir Leid aber ich kann das nicht mehr“, flüsterte ich und warf einen letzten Blick auf das Bild, ehe ich den Stein wieder an seinen Platz setzte.

„Du darfst ihm nicht trauen.“ Ein Flüstern.

Ich sah auf und schaute mich um. Niemand war zu sehen.

„Er ist gefährlich für dich.“ Es war wie ein Surren in der Luft, dass nur schwer eine Tonlage erreichte, um deutlich hörbar zu sein, als müsste sich die Stimme durch etwas hindurch kämpfen.

„Wer ist da?“, fragte ich leise und rührte mich nicht.

„Er sucht nach dir. Er hat dich bereits markiert.“

Plötzlich begann es auf meinem Rücken zu brennen wie Feuer. Die Linien, die ich heute früh gesehen hatte, fühlten sich an als würde sie mein Fleisch versengen. Ich schrie auf und sackte in den kalten Schnee, krümmte mich vor Schmerzen.

„Du musst dich von ihm fern halten.“

„Lass mich in Ruhe. Hör damit auf“, schrie ich und wand mich im Schnee hin und her. Es tat so schrecklich weh.

„Vertrau ihm nicht.“, zischte der Wind und ebbte schließlich ab. Der Schmerz war schlagartig verschwunden. Benommen und mit aufgerissenen Augen lag ich im Schnee, keuchte und starrte in den Himmel, unfähig mich zu rühren. Der Stoff auf meinem Rücken klebte auf der Haut und die Linien fühlten sich nass und sengend an.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Taroru
2017-03-20T15:46:52+00:00 20.03.2017 16:46
also eins muss ich dir nach wie vor lassen....... du hörst immer bei so extremen cliffhängern auf...... und du weißt doch, das ich sowieso nicht besonders geduldig bin ^^°
und nun verlangst du das ich warten soll? nach dem du an so einer stelle aufgehört hast? das kann nicht dein ernst sein D:
gib mir mehr lesefutter D:


(ganz nebenbei, es freut mich sehr, das du was gepostet hast, das lässt mich in der tat hoffen, bald noch mehr zu bekommen ;-) )


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