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Gerrit und Rahel

Man nannte uns Spinner
von

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Hübsche Carla, Planet der Affen und Rahels Kuss

3/5
 

Es war ein guter Plan.

Zwar nicht genial, aber gut.
 

Ich war auf den Grund meiner Probleme getaucht - von elf Uhr nachts bis drei Uhr morgens - und war fündig geworden. Ich hing nur deswegen so viel mit Rahel rum, weil wir keine Freunde hatten. Peppe lebte mit uns unter dem gleichen Dach, hatte aber seine Ruhe vor uns.

Er hatte Freunde, war oft auf Tour und genoss noch ganz andere Dinge wie Freundin und Sex.

Ich hatte gar nichts von diesen Sachen. Rahel auch nicht, aber sie war selbst daran Schuld.
 

Ich war nur der graue Niemand, der immer im Hintergrund stand, wenn seine bekloppte Schwester wieder einmal um sich schlug.

Mehr nicht.

Und daran wollte ich auch gar nichts ändern, bis auf die Sache mit Rahel und dem wild um sich schlagen.
 

Ich hatte mir über Nacht einen Plan ausgedacht, der vielleicht alles irgendwie leichter machen würde.

Die schwere Last namens Rahel würde verdrängt werden und es wäre Platz für andere Dinge da.

Als erstes wollte ich mich unter die Leute mischen.

Zwar war wenig Erfolg in Sicht, aber wenn ich endlich meinen Schweinehund aus der Wohnung schmiss und mich in der Klasse umsetzte, würde ich vielleicht sogar ein Wort mit jemanden gewechselt bekommen, der nicht mit mir verwandt war.
 

Ich stand am Morgen um sechs Uhr auf und schlich mich leise aus der Wohnung.
 

Den Schulweg ohne Rahel gehen.
 

Es war der erste Schritt in die Freiheit, die ich dringend bräuchte. Es ging einfach nicht mehr.

Rahels Nähe setzte mich unter einen unglaublichen Druck und ich bekam Panik.

Sie hatte es einfach zu weit getrieben gestern. Und das sollte sie ruhig einmal spüren.
 

Um viertel vor acht Uhr war ich der erste Schüler im Klassenzimmer und überredete den höchst verwirrten Herr Schmitz zu einem Sitzplatzwechsel.

Mein Lehrer schob sich immer wieder seine hässliche Brille zurecht und konnte es scheinbar nicht fassen, dass er MICH alleine und pünktlich sah.

Normalerweise kam ich immer mit Rahel auf den letzten Drücker.
 

„Ich…“ Herr Schmitz räusperte sich. „Nun, Gerrit… Das ist etwas spontan. Ich kann nicht jeden nach Lust und Laune so sitzen lassen, wie er will.“
 

„Geben Sie mir einfach nur einen Platz, egal wo. Aber ich will nicht weiter neben Rahel sitzen. Sie… äh… behindert meine… äh… Aufnahmefähigkeit. Genau! Die behindert sie total!“

Das war sogar besser als ich dachte.
 

Herr Schmitz musterte mich abschätzend. Er wusste genau so gut wie ich, dass ich mich noch nie um grosse Aufnahmefähigkeit bemüht hatte.

Ausserdem traute er mir nicht. Würde ich mir ehrlich gesagt aber auch nicht, wenn ich mich nicht selbst kennen würde.

„Gut.“ Er seufzte. „Ich setz dich neben Carla. Sie redet mir ohnehin zu viel mit ihrer Banknachbarin Natascha.“
 

„Und Natascha?“ Ich wusste nicht einmal, dass die zwei Mädchen ein paar Reihen vor mir überhaupt Namen hatten.

Natascha war aber vermutlich die Russin mit den kurzen Haaren, die ständig bei Biologie-Filmen einschlief.
 

„Die sitzt neben deiner Schwester. Rahel würde es sicher gut tun, mal jemand anderes neben sich zu haben.“
 

Natascha aber vermutlich weniger. Ich gab dem Mädchen drei Minuten, dann würde sie vor Verzweiflung aus dem Fenster springen. Mit Sicherheit.
 

Herr Schmitz trug die Änderung im Sitzplan vorne im Pult ein und nickte. Er hielt sich für einen Held. Keine Frage.

„So. Noch einmal ändern tu ich nicht, Gerrit.“
 

„Danke.“ Ich liess mich auf meinen neuen Platz nieder und wartete auf den Rest der Klasse.

Die meisten kamen in der Regel zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn und es herrschte kurz Verwirrung, als die braungebrannte Carla mit dem neuen Sitzplan konfrontiert wurde.
 

Herr Schmitz erwies sich als echter Kumpel und meinte, es wäre eine Massnahme wegen dem Geschwätz der beiden Mädchen. Er erwähnte kein Wort davon, dass ich ihn darum gebeten hatte.

Natascha rastete völlig aus, als sie mitbekam, neben wem sie sitzen musste und wollte zum Schulsprecher, wurde jedoch ziemlich schnell wieder ruhig, als sie eine Verwarnung von Herr Schmitz bekam.
 

Angepisst liess sich die Russin auf meinen alten Platz fallen und hoffte mit Garantie, dass Rahel krank war.
 

Meine Schwester war aber nicht krank, sondern platze mit einer Verspätung von 30 Minuten plötzlich ins Klassenzimmer.

Ihre Haare standen ihr so wirr vom Kopf ab, dass man meinen könnte, sie hätte in eine defekte Steckdose gegriffen. Ihre Schuhe waren nicht einmal gebunden und man sah ihr an, dass sie sich den Pulli und die Hose in aller Eile angezogen hatte.
 

Rahel fixierte mich neben Carla und schob sich einfach an Herr Schmitz vorbei, der sie tadelnd angesehen hatte.

„Du Arsch!“, fauchte Rahel aufgebracht und trat gegen meinen Tisch. „Was soll der Scheiss?!“
 

„Rahel, ich verlange sofort einen anderen Ton!“ Herr Schmitz zog meine Schwester vom Tisch weg. „Ich hab deinen Bruder aus guten Gründen umgesetzt. Wenn es dir nicht passt, ist das deine Sache. Setz dich jetzt hin.“
 

Herr Schmitz war ein toller Hecht. Ich hatte ihn die ganzen Jahre nie wirklich beachtet und in dem Glauben gelebt, er wäre so schräg wie sein Schnurrbart.

Dabei war er zweifelsfrei MEIN Retter.
 

„Einen Scheiss mach ich!“ Rahel warf Carla noch einen giftigen Blick zu und wütete dann bei Natascha weiter.

Nach wenigen Minuten hatten die beiden Mädchen sich so in den Haaren, dass sie beide einen Klassenbucheintrag bekamen.
 

Den restlichen Unterricht spürte ich Rahels Blick starr auf meinem Nacken.

Carla neben mir beachtete mich nicht gross und fragte nur einmal nach einem Radiergummi.

Hier war ich genau richtig.
 


 

Stück für Stück funktionierte es. Ich musste mich zwar in der fünf Minuten Pause im Besenschrank des Hausmeisters verstecken und auf meine morgendliche Cola aus dem Automaten einen Stock höher verzichten, aber das war es mir wert. Ich würde auf alles verzichten, solange ich Rahel nicht begegnen musste.
 

Ich hatte noch nie so sehr das Läuten der Schulglocke genossen wie heute. Kurz nach dem klingelnden Terror verliess ich mein Versteck und stolperte gerade aus der Besenkammer, als Carla mit Natascha und ein paar anderen Mädchen um die Ecke kam.
 

„Der Spinner.“ Natascha schnaubte und blieb nicht einmal stehen. „So Typen wie du kommen immer aus der Besenkammer. Sieht man in jedem Film.“
 

Carla stiess Natascha mit ihrem Ellbogen an und grinste. Sie war seit dem letzten Urlaub in Spanien unglaublich braun und ihre Zähne strahlten fast weiss aus ihrem Gesicht. „Alles okay?“

Sie blieb sogar kurz stehen und sah mich direkt an.
 

„Bestens.“ Ich räumte einen umgestürzten Wischmopp zurück und schloss schnell die Tür. In Sekunden war ich im Klassenzimmer und stürzte förmlich auf meinen Sitzplatz.

Gerettet.
 

Dachte ich zumindest. Unsere Lehrerin in Biologie kam immer zu spät und so sah Rahel die Chance, auf die sie den ganzen Morgen schon gewartet hatte.
 

„Was soll der Scheiss, Gerrit?“ Meine Schwester liess sich auf den Stuhl von Carla nieder. „Du warst heute Morgen einfach weg. Hat dir etwas ins Gehirn gefickt, oder was?“
 

Ich starrte stur an die Tafel. „Geh weg.“
 

„Einen Scheiss mach ich, Gerrit.“ Rahel stiess mich an. „Was soll diese Aktion? Willst du mich für etwas bestrafen, oder wie? Muss ich dir jetzt zu Kreuze kriechen, oder was?“
 

„Entschuldige.“ Carla war mein zweiter Retter an diesem Tag. Sie hatte das Klassenzimmer leise betreten und stellte sich mutig hinter ihren Stuhl. „Du sitz auf meinem Platz.“
 

„Oh!“ Rahel drehte ihren Kopf in Carlas Richtung. „Verzeih mir! Wie dumm von mir! Ich vergass ja völlig, dass mein Bruder den verdammten Arsch auf hat und sich unter deinem zu kurzen Rock verkriechen will!“

Rahel stand so abrupt auf, dass der Suhl umkippte, Carla zurückwich und alle Augen auf uns klebten.

Meine Schwester schaffte es einfach immer wieder, sich in den Mittelpunkt allen Entsetzens zu boxen.

Dummerweise riss sie mich wie immer mit.
 

Und dann, als es schon fast keine Hoffnung mehr gab, kam meine Lehrerin in Biologie in den Raum geflogen.

Sie entschuldigte sich mehrmals, ordnete schnell ihre Unterlagen und fing dann mit dem Unterricht an.

Rahel setzte sich auf ihren Platz und ich wusste, dass mich Zuhause ein riesen Donnerwetter erwarten würde…
 


 

Carla war für ein Mädchen ganz okay.

Auch wenn sie etwas viel über langweilige Dinge sprach, sie hatte eine nette Art an sich.

Sie schlug mich nicht, sie stiftete nicht aus reiner Freude Streit an UND sie war nicht mit mir verwandt.
 

„Cool, dass wir den fast gleichen Weg haben“, sagte Carla und sah auf den Boden. Es hatte sich nach Schulschluss herausgestellt, dass wir fast in derselben Strasse wohnten. „Wie war dein Name nochmal?“
 

„Gerrit“, sagte ich und steckte meine Hände tief in meine Hosentaschen. Ich nahm es ihr nicht übel, dass sie sich nicht meinen Namen merken konnte.

Ich war – wie schon gesagt – ein Niemand in der Klasse. Und dieser Platz gefiel mir.
 

„Oh, ja… Stimmt.“ Carla grinste leicht. „Du bist nicht sehr gesprächig, oder? Aber bei deiner Schwester wundert mich das nicht mal. Ist sie Zuhause auch so ätzend?“
 

Eigentlich mochte ich es nicht, wenn jemand etwas Negatives über meine Familie sagte, aber Carla hatte auf diesem Gebiet voll ins Schwarze getroffen.

„Ja“, sagte ich nur und sah kurz nach hinten.
 

Rahel folgte uns mit einiger Entfernung und sah mich so finster an, dass ich jetzt schon die bald anstehenden Schläge spüren konnte.
 

Ich beschleunigte meine Schritte und Carla machte es mir nach. Bei jedem Schritt wippten ihre schwarzen Locken und sie hatte die längsten Beine, die ich je gesehen hatte.

„Sie macht mir Angst“, sagte Carla plötzlich und drehte sich ebenfalls kurz nach hinten um. „Natascha meinte, sie wäre die Pest als Banknachbar.“
 

Ich sagte nichts.
 

„Hat sie sich die Haare wirklich selbst so zugerichtet?“ Carla sah mich interessiert an. Ihre braunen Augen funkelten so unschuldig, dass ich sofort misstrauisch wurde.

Ich traute Frauen nicht. Es wurde mir bereits in die Wiege gelegt, dass ich mit Misstrauen durch das Leben schlich.

Auch wenn mein Plan eine Freundin beinhaltete – es wurde verdammt nochmal dafür Zeit! – würde Carla nicht die richtige Person dafür sein.
 

Die Art, wie sie stolz durch die Gegend stolzierte, machte mich nervös. Aber nicht die Art Nervosität im Sinne von Angst, so wie ich es von Rahel gewohnt war, eher die Nervosität im Sinne von Verlegenheit.

Ich wusste nicht was ich sagen sollte. So Mädchen wie Carla verstanden nämlich alles mit Leidenschaft gerne falsch und ich fühlte mich… fehl am Platz.

Ja. Fehl neben Carla.
 

„Hat sie sich die Haare jetzt selbst geschnitten?“ Carlas Augen fixierten mich neugierig.

Sie war also auch noch ein Klatschweib…
 

„Was dagegen?“ Ich wurde wieder etwas langsamer. Das Gefühl, dass Carla zu sehr in mein Leben fuschte, tauchte plötzlich auf und bemächtigte sich meiner Sprachsteuerung. „Selbst wenn. Ist doch ihre Sache, oder?“
 

Carla nickte eilig. „Schon gut. Ich wollte ja nur nachfragen.“
 

Ich wollte gerade noch etwas sagen, aber Rahel sprang mich plötzlich von hinten an und schlang ihre Arme um meinen Hals.
 

Verdammt, ich wusste es! Ich hätte dem verfluchten Frieden und dem unglaublich hübschen Mädchen an meiner Seite nicht trauen dürfen.

So Typen wie ich bekamen NIE etwas umsonst.
 

„Verpiss dich, Mäuschen!“, fauchte Rahel Carla an und drückte fester zu. Ich versuchte nicht einmal, mich zu wehren. „Hau ab und lauf auf deinen Stöckelschuhen nach Hause!“ Rahel spuckte Carla dicht vor die Füsse. „Hörst du schlecht, Puppe? Verzieh dich!“
 

Ich wäre an Carlas Stelle vermutlich in Ohnmacht gefallen, aber diese verzog nur das Gesicht und reckte das Kinn nach vorne. „Lass ihn los.“
 

Ich sah verwirrt in das Gesicht von Carla. War sie Lebensmüde? Dämlicher als ich dachte? Oder einfach nur absolut bescheuert?
 

„Was?“ Rahel liess mich immer noch nicht los. Und es würde nur umso schlimmer werden, je mehr meine Schwester gereizt wurde. Natürlich für mich. Für wenn sonst?
 

„Lass ihn los!“ Carla trat mit einem Fuss auf den Asphalt. „Wenn er sich mit mir unterhalten will, darf er das auch!“
 

„Willst du das, Gerrit?“ Rahel drückte für eine Sekunde so fest zu, dass ich keine Luft mehr bekam und meine Knie nachgaben. „Willst du dich mit Schlampen unterhalten?“
 

„Du tust ihm weh!“ Carla schüttelte den Kopf. „Du bist wirklich irre, Rahel! Du hast einen riesen Schaden, weisst du das?!“
 

„Hat dich einer nach deiner Meinung gefragt, Prinzessin? Wenn du so scharf auf meinen Bruder bist, kann er sich ja gleich die Hose runterziehen und sich von dir eine blasen lassen!“
 

Ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss und wünschte mich weit weg. Sicher gab es wieder genug Zuschauer, damit auch bloss jeder die Story brühwarm miterleben konnte.
 

Carlas roter Mund klappte auf und sie blinzelte mehrmals mit ihren langen Wimpern. „Bitte was?“
 

„Du hast mich schon verstanden.“ Rahel liess mich endlich los. „Wir gehen, Gerrit!“

Meine Schwester packte mich grob am Handgelenk, aber ich riss mich los.

Was Carla konnte, sollte ich auch einigermassen hinbekommen.

Selbst wenn sie eine Klatschtante war… Ich wollte mich EINMAL wirklich durchsetzen.
 

„Nein.“
 

„Was?“ Rahel sah mich gross an. „Wie nein?“
 

„Nein.“ Ich fühlte mich für eine Sekunde wirklich gut. Wie ein echter Mann, oder so. Dann kam das schlechte Gewissen. Es zuckte wie ein Stromschlag durch meinen Körper und ich spürte, wie ich wieder weich wurde.
 

Rahel starrte mich immer noch an. Sie sagte nichts und blickte schliesslich zu Carla.
 

Diese hatte die Arme verschränkt und musterte meine Schwester abschätzig. „Du hast ihn gehört, Freak. Verpiss DU dich.“
 

„Was zum Teufel ist los mit dir?!“ Rahel stiess mich plötzlich fest nach hinten und ich landete mit dem Rücken auf dem kalten Asphalt. „Gestern Abend warst du noch normal, verdammt!“
 

Dann lief sie los. Rahel rannte so plötzlich über sie Strasse, dass ein vollbesetzter Schulbus ziemlich bremsen musste.

Der Busfahrer schlug verärgert auf die Hupe, meine Schwester interessierte das aber nicht viel.
 

Carla half mir tatsächlich hoch. „Sie sollte eine Therapie machen“, sagte sie und ich starrte auf ihren Mund.

Er war wirklich ROT.

Carlas Wangen wirkten trotz ihrer Bräune rosig und ihre Hände waren unglaublich zart.

Ihre Beine, welche in einer durchsichtigen Strumpfhose steckten, waren perfekt und einfach nur göttlich.

Klare Sache: Ich musste hier weg. So schnell wie möglich.

Ich traute keinen Frauen, die sich so hermachten wie Carla. Irgendwo war nämlich immer ein Haken.

Und wenn solche Frauen auch noch wirklich Interesse an mir zeigten, dann war schon dreimal was faul an der Sache.
 

Was hatte ich mir dabei nur gedacht?!
 

Ich rannte wie Rahel einfach los und ignorierte Carlas verwunderte Rufe.
 


 

Ich war klatschnass, als ich Zuhause die Treppe im Altbau nach oben lief und halb verreckend die Wohnung betrat.

Ich streifte meine Schuhe ab, lief in Socken an der Küchentür vorbei und lief wieder zurück, da ich vergessen hatte die verdammte Wohnungstür zu schliessen.
 

„Gerrit?“ Moms Stimme drang aus der Küche. Die Tür war nur angelehnt und ich spähte in den Raum.
 

„Ja?“
 

Mom sah unglaublich hübsch aus. Sie hatte die Haare zusammengebunden und sich für irgendjemanden herausgeputzt.

„Was machst du für eine Hektik? Ist etwas passiert?“
 

„Indirekt.“ Ich musterte Moms Aufmachung. „Kommt ein Typ zu Besuch?“
 

Mom lachte, packte weiter Kekse in den zurechtgemachten Korb und schüttelte schliesslich den Kopf. „Nein, Schatz. Ich hole ein paar Kekse mit zur Premiere.“
 

„Die ist heute?“ Auch wenn ich mich vor den Proben immer drückte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Immerhin war die Leidenschaft meiner Mom mir so egal, dass ich nicht mal ihren grossen Abend wirklich mitbekam. Ich setzte ein schräges Grinsen auf. „Viel Glück.“
 

„Danke, Schatz.“
 

Ich trat die immer noch offene Wohnungstür zu und eilte in unser Zimmer.
 

Und dort blieb ich mit nassen Kleidern und einem schlechten Gewissen stehen.
 

Rahel lag mit nur einer Boxershort und einem BH bekleidet auf dem Bett, starrte an die Decke und knirschte mit den Zähnen.
 

Hier stimmte was nicht. Das Gefühl hatte ich schon, als Rahel mich nicht gleich bei der Tür zusammengeschlagen hatte.

Entweder Rahel hatte eine Sinneswandundlung in der letzten halben Stunde erlebt oder sie lag bereits im Sterben. Anders konnte ich mir das sonst nicht erklären.
 

Ich fing an, meine nassen Kleider auszuziehen und trockene Kleidung aus dem Schrank herauszunehmen.

Rahel schrie mich immer noch nicht an, noch schlug sie mich brutal zusammen.

Hier lief was schrecklich verkehrt.
 

„Ich will nicht, dass du mit anderen Mädchen redest.“ Rahels Stimme packte mich plötzlich von hinten und ich zuckte leicht zusammen.

Ich hasste es, wenn man mich von hinten ansprach. Es gab einem nur mehr das Gefühl, dass man völlig Schutzlos war.

„Hast du gehört?“ Rahel klang angespannt. Ganz so, als würde sie doch noch vor Wut schreien. „Ich mein es ernst, Gerrit.“
 

Ich zog mich langsam an, drehte mich zum Bett und blieb beim Kleiderschrank stehen. Ich konnte nichts dagegen tun und starrte wie hypnotisiert auf Rahels roten BH mit den Totenköpfen.

Gott, wäre das ein Leben als Büstenhalter… Ich würde sofort mit dem Stück Stoff tauschen. Keine Frage.

Ausserdem war es bei weitem besser als direkten Augenkontakt mit Rahel aushalten zu müssen.
 

Rahel setzte sich auf. Ihre nassen Kleider lagen ebenfalls auf dem Boden des Zimmers. „Hörst du mir überhaupt zu? Egal was dich gefickt hat, werde wieder normal. Hörst du? Was willst du von dieser geschminkten Schlampe?“
 

Rahel schrie immer noch nicht wirklich. Ihr Blick fixierte mich und ich wusste, dass sie wusste, dass ich ihr auf den BH starrte.

Ich war vermutlich der einzige Typ auf der Welt, der je diese Zone über dem Bauchnabel sehen durfte.

Das merkwürdig warme Gefühl stieg wieder auf, was sonst immer nur dann auftauchte, wenn ich Rahel körperlich nah war.

„Ich…“ Was ich? Ich Vollidiot wusste ja nicht einmal meinen eigenen Namen, wenn meine Schwester halbnackt auf unserem Bett lag und wollte wirklich streiten?!

Ich war in eine Falle getappt. Und Rahel hatte sie vermutlich nicht mal absichtlich gelegt.
 

„Du?“ Rahel stand vom Bett auf. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen. Ich schluckte nervös, als die nackten Füsse meiner Schwester den Boden berührten und sie mit der Zunge an ihrem Lippenpiercing herumspielte.

Das machte sie immer, wenn sie über etwas nachdachte.
 

„Du… Ich… Das geht dich nichts an!“ Ich nickte einmal zu viel und fuhr mir nervös durch die Haare. Gott, konnte sie sich nicht einfach was anziehen?!
 

„Natürlich. Du warst heute Morgen einfach weg und ich hab mir schon irgendwelche Entführungsszenen ausgemalt…“
 

„Echt?“ Ich musterte Rahel misstrauisch. „Du hast dir Sorgen gemacht?“
 

Rahel schnaubte, „Natürlich nicht, Idiot… Okay. Ein wenig.“
 

„Nur ein wenig?“ Ich wollte mehr. Ich wollte Millionen schmerzhaft süsser Worte, wie wichtig ich ihr war und lauter übertriebende Entschuldigungen dafür, dass sie sich ständig in mein Leben mischte.

Aber die Frau vor mir war Rahel. Sie würde nie Gefühle aussprechen. Selbst dann nicht, wenn ihr verdammtes Leben davon abhängen würde.
 

„Ein wenig viel, okay? Ich dachte echt, diese verdammten Affen aus dem Film Planet der Affen hätten dich verschleppt.“ Rahel schnalzte mit der Zunge. „Affen kann man nämlich nicht trauen, weiss doch jedes Kind…“
 

Ich musste plötzlich grinsen. Auch wenn ich bis zum Zerreissen nervös war, konnte ich das Zucken um meine Mundwinkel nicht aufhalten.

Seit wir als Kinder einmal heimlich den Film mit dem Affenplanet geschaut haben, hatte Rahel Angst vor Affen-Gangs, die die Menschheit auslöschen wollten.

Abgedreht, aber irgendwie auch verständlich.

Rahel war als elfjähriges Mädchen einmal im Zoo sogar schreiend an dem Käfig mit den Affen vorbei gelaufen und hatte allen Besuchern entgegen gebrüllt, sie sollten um ihr verdammtes Leben laufen.
 

Keiner aus der Familie war seitdem je wieder in einem Zoo gewesen.
 

„Dachtest du?“ Ich lehnte mich leicht gegen das Holz hinter mir. Der Schrank bot zwar keinen Schutz, aber ich fühlte mich angenehm unterstützt.
 

Rahel schnaubte. „Und dann komme ich ins Klassenzimmer und was sehe ich?! DU sitzt neben dem grössten Affen der Welt! Hab ich dir was getan, oder was?! Und dann gehst du mir in den Pausen auch noch aus dem Weg!“
 

Rahel wurde laut. Das war… beruhigend. So schwer es mir auch fiel, ich hatte es irgendwie vermisst.

Auch wenn ich nur wenige Stunden versucht hatte, mit einem blöden Plan ein eigenes Leben zu haben, hatte ich den Lärm meiner Schwester wirklich vermisst.

Gefürchtet, aber auch irgendwie wieder herbeigesehnt.
 

„Ich kann sitzen neben wem ich will, Rahel. Das ist… mein Leben.“ Ich merkte selbst, dass der Spruch lächerlich rüberkam. Ich nahm mich nicht einmal selbst ernst.

Auch wenn ich vor wenigen Stunden noch hart entschlossen war, floss mein Vorhaben nun einfach an mir vorbei. Und ich konnte nichts daran ändern.

Nicht, solange Rahel immer näher kam.
 

Mein Leben? Das klang abgedroschen. Keine Ahnung, wieso ich die Nacht damit verbracht hatte einen Plan der eigenständigen Revolte zu schmieden…

Ich hatte sogar richtig um einen anderen Sitzplatz gekämpft und sass jetzt neben einem verdammt hübschen Mädchen, das mich noch mehr verunsicherte als meine Schwester.
 

War das wirklich eine Verbesserung?
 

Dicht vor mir blieb Rahel stehen. Sie starrte mir direkt in die Augen.

Ich starrte wenig erfolgreich zurück.
 

„Dir hat einer ins Gehirn gekackt, Gerrit. Echt.“ Rahel trat mir absichtlich auf die Füsse und ich drückte mich noch mehr gegen den Kleiderschrank.
 

„Du solltest verboten werden, so blöd bist du.“ Rahel setzte wieder ihren Psycho-Blick ein und ich wollte nur noch weg.

Ich sah die Faust schon auf mich zufliegen, bevor Rahel überhaupt die Hände zu Fäusten ballte.
 

Mit den kurzen und wirr vom Kopf abstehenden Haaren sah meine Schwester aus wie eine Kriegerin, die man mit Stromschlägen quer durch die Schlacht gefoltert hatte.
 

Und dann küsste Rahel mich.
 

Nicht wie sonst, auf diese kameradschaftliche irgendwie lockere Weise. Auch nicht wie bei Oma, als sie mir den Sünden-Kuchen auf den Teller geklatscht hatte.

Rahel Pfaffner, die verdammte Irre und meine leibliche Schwester, küsste mich RICHTIG.
 

Ihr Mund drückte sich fest gegen meinen und ich spürte auf eine angenehme Weise den Ring in ihrer Unterlippe.

Ihre Hände schoben sich langsam unter mein sauberes T-shirt und ich lehnte mich gegen sie.

Ich kam ihr auf eine verboten geklungene Art entgegen, indem ich ihren fast nackten Rücken mit meinen Händen berührte und sie so fest an mich drückte, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam .

Mein Hirn war Brei und machte einen feigen Abgang, indem die untere Körperhälfte die Kontrolle an sich riss.
 

Rahels Haut unter meinen Fingern war warm und ihre Hände strichen langsam meinen Rücken rauf und runter.

Rauf und runter…

Rauf und…

Runter...?
 

Rahels Finger berührten mein Steissbein und strichen vorsichtig über die Haut.

Ich zuckte leicht zusammen, da es irgendwie kitzelte und verstörend zu gleich war.

Ohne gross an Folgen zu denken machte ich es meiner Schwester einfach nach.
 

Meine Finger berührten warme Haut, wo sie absolut nichts zu suchen hatten und ich drückte meinen Mund fester gegen den von Rahel.

Sie schmeckte nach Orangensaft und MEINEM Kaugummi, an dem sie sich immer ohne zu fragen bediente…
 

Rahel löste sich mit einem Ruck von mir und ich zog meine Hände wie unter einem Stromschlag zurück.

Ich starrte meine Schwester an und diese starrte zurück.
 

„Du hast einen Ständer, Gerrit.“ Rahel schnippte mir fest gegen die Stirn. Sie war erschreckend ruhig. „Bist doch männlicher als ich dachte, Mädchen.“
 

Ihr Sarkasmus prallte völlig an mir ab. Ich machte mir nicht einmal die Mühe irgendwas abzustreiten und konzentrierte mich ganz darauf, einen verdammten Nervenzusammenbruch zu erleiden.

Meine Beine gaben langsam nach und ich rutschte mit dem Rücken langsam den Kleiderschrank entlang Richtung Boden.
 

OH MEIN GOTT!
 

Ich nahmt tief Luft, vergass jedoch das Ausatmen und verschluckte mich. Ich hustete kurz und kniff dann die Augen fest zu.

Rahel ging neben mir in die Knie. „Gerrit?“
 

Ich spürte ihre warme Hand an meinem Hals und mein Puls beschleunigte sich wieder.

Gotteswillen! Sie soll mich nicht anfassen…

Ich… Sie…

Meine Schwester, heilige Scheisse!
 

„Hau ab.“ Ich versuchte Rahel mit meinen Beinen von mir fern zu halten, aber sie lehnte sich provozierend extra weiter nach vorne.

Ihre Gewicht zwang meine Beine wieder zu Boden und ich ächzte leidend auf.
 

„Vergiss es, Idiot.“
 

„Lass mich…“ In Ruhe? Mein eigenes Leben leben? Auf dem Boden sterben?

Scheisse, was wollte ich sagen?!
 

Rahel seufzte. „Es hat ja keiner mitbekommen, Gerrit. Mach keine Show.“
 

Keine Show?! Meine eigene Schwester hatte mich RICHTIG geküsst und als wäre das nicht schon genug, sprang mein Körper ohne Zweifel darauf an.

Ich war geliefert. Im Eimer. Adieu, du Leben mit reiner Weste.
 

Rahel setzte sich auf meine Knie und ich ächzte erneut, da meine Beine durch diese Belastung unangenehm gerade durchgestreckt wurden.
 

„Das darf man nicht“, sagte ich ernst. Ich sah meine Schwester zum ersten Mal WIRKLICH in die Augen. „So was ist verboten, Rahel.“
 

Geiles Kommentar für jemanden, der sich nicht gerade gegen den Kuss gewehrt hatte.

Ich hatte eigentlich am wenigsten den Moralapostel zu spielen, da ICH es war, der erregt auf dem Boden des Zimmers sass und sterben wollte.

Nicht Rahel.
 

„Was?“ Rahel hob beide Augenbrauen. „Küssen ist verboten? Väter küssen ihre Kinder. Mama küsst dich ab und zu und Peppe…“
 

„Aber nicht so!“ Sie wusste es. Rahel wusste es ganz genau.
 

„Ah.“ Rahel nickte langsam. „DAS meinst du also. Wie böse von mir, verzeih mir.“
 

Die Zimmertür ging plötzlich auf und Peppe lugte in den Raum.

Er wunderte sich inzwischen über gar nichts mehr und machte sich nicht einmal die Mühe, nach irgendwelchen Erklärungen zu fragen.

Rahel war Rahel und hatte einen an der Klatsche. Das reichte meinem Bruder als Erklärung dafür, dass unsere Schwester halbnackt auf meinen Beinen sass und ich verstört dreinschaute.

„Mom fragt, ob wirklich keiner von uns mit zur Premiere will.“ Peppe verdrehte die Augen. „Sie würde sich echt freuen, aber es muss ja keiner, wenn er…“

Den Satz leierte er jedes Mal runter, wenn Mom ihn schmeichelnd darum bat, doch Sicherheitshalber noch einmal mich und Rahel zu fragen.
 

Dieses Mal waren es die schönsten Worte meines Lebens, die je aus Peppes dämlichen Mund gekommen waren.
 

„Ich will mit!“ Mein Hirn schaltete in Sekunden. Ich schob Rahel von mir weg, nickte übertrieben und schaffte es doch noch, Peppes Mund aufklappen zu lassen.
 

„Was?“ Mein Bruder glotzte mich an. „Hast du gekifft, oder was?“
 

Ich eilte zum Kleiderschrank, nahm meinen selten gebrauchten Anzug und eilte an Peppe vorbei.

Die Erregung war purem Entsetzen gewichen und ich wollte nur noch weit weg. Weg von Rahel. Von mir aus auch ans andere Ende der Welt.
 

Mom schaute ebenfalls nicht schlecht, als ich innerhalb weniger Minuten fein angezogen und parat vor ihr stand und sie richtig dazu drängte, endlich die verdammte Wohnung zu verlassen.

Bevor überhaupt einer Widerrede einlegen konnte, sass ich neben Mom im Auto und fuhr zur Premiere, die mich noch nie zuvor interessiert hat.
 

Im Spiegel vom Auto konnte ich sehen, wie bleich ich war. In meinem Gesicht stand das blanke Entsetzen von einem Jungen geschrieben, der sich von seiner Schwester auf eine verbotene Art küssen liess.

Ein Junge, der die ganze Scheisse auch noch genossen hatte. Kein Zweifel.

Mom würde mich aus dem Auto kicken, wenn sie das wüsste…
 

„Danke.“ Mom legte plötzlich ihre Hand auf mein Bein und sah mich kurz an. Sie lächelte und sah wieder auf die Strasse. „Ich freu mich, dass du mitfährst.“
 

„Ich mich auch.“ Ich sank tiefer in den Beifahrersitz und wollte nur noch sterben.
 

Ich war ein Schwein. Ein echt übles Schwein…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  il_gelato
2009-11-08T01:51:05+00:00 08.11.2009 02:51
Der Junge ist echt nicht zu beneiden...
Tolles Kapitel!!!

Mach schnell weiter, will unbedingt wissen, wie es bei den beiden weiter geht!
Rahel tat mir bei der Straßen-Szene mit Carla irgendwie leid...
Von:  P-Chi
2009-11-07T20:51:28+00:00 07.11.2009 21:51
Buahahahaha xDDDDDDDDDDDDDDDDD
WAAAAH, ich LIEBE Rahel und Gerrit!!! <3 <3< <3 <3 <3
Scheiße, war dieses Kapi geil!! *___*
YAAAAAY~ xDDDD
Ich kann mich einfach nicht satt lesen, bei dieser Story! x33

glg Angels


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