Zum Inhalt der Seite

Gerrit und Rahel

Man nannte uns Spinner
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Sache mit den christlichen Omas...

1/5
 

"Na, was machst du jetzt?" Meine Schwester drückte mich hart gegen die Wand der Küche und sah mich an.

Sie schob ihr Knie in eine gefährliche Zone und ich würde bei der nächsten ungeschickten Bewegung zum Kastraten-Chor antanzen können.
 

„Ich ersticke!“ Ich versuchte mich aus ihrem Klammergriff zu befreien. Keine Chance, sie hatte mich fest im Griff.
 

„WAS machst du jetzt, Wichser?“ Ich war geliefert. Sie würde mich umbringen. Kaltblütig erdolchen und meine Leiche irgendwo verscharren.
 

„Hör auf, Rahel. Du tust mir weh…“ Ich stemmte meine Hände gegen die Schultern meiner Schwester und versuchte sie von mir wegzudrücken.

Rahel presste sich nur fester gegen mich. „Hör du auf, Weichei. Ich war zuerst am Fernseher.“

„Gar nicht wahr!“ Ich verzog das Gesicht, als Rahel ihr Knie noch weiter anhob. Ich spürte von ihrem spitzen Knie jeden verfluchten Millimeter.

Meine Schwester legte den Kopf schräg und hatte schon wieder diesen durchdringenden Psycho-Blick drauf. Ausserdem trug sie schon wieder Kleider von mir und ihre kurzen braunen Haare standen ihr zerzaust vom Kopf ab.

Es sah chaotisch aus, da sie sich die Haare vor wenigen Wochen einfach selbst geschnitten hatte und unsere Mutter damit in den Wahnsinn getrieben hat.

„Du hast Recht“, sagte Rahel plötzlich und grinste. „Du warst zuerst da, Gerrit.“
 

Hier war was faul. Ich spürte es tief in mir und wusste, dass ich diese Küche nicht mehr lebend verlassen würde.

Rahel würde mich fressen. In Scheiben schneiden und in der Kühltruhe vergraben.

Okay. Sie würde sich wahrscheinlich nicht einmal die Mühe machen mit dem Verstecken und meine Leiche einfach liegen lassen.

Der Polizei und Mom würde sie dann Schulterzuckend erklären, dass es meine eigene Dummheit gewesen wäre, die mich in Stücke gerissen hätte.
 

„Aber da du mich ganz doll lieb hast, lässt du mir den Vortritt, oder Bruder?“ Rahel kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meines. Ihr Knie drückte nun unangenehm in meine empfindlichste Region.

Auch wenn wir uns den Mutterleib zur gleichen Zeit teilen mussten und Zwillinge waren, hasste ich sie an diesen Tagen.

Sie drängte sich durch jede Pore meines Körpers und weigerte sich strickt, meinen Körper und meine Gedanken wieder zu verlassen.

Sie machte mir schlicht und ergreifend Angst.
 

„Weiss nicht“, sagte ich langsam. Ich wollte EINMAL ein Mann sein und mich durchbeissen. „Du warst gestern schon den ganzen Tag am Fernseher und…“
 

Rahel strich mir mit ihrer Hand durch meine ganz kurzen braunen Haare. „Natürlich war ich. Wer sonst. Mom vielleicht? Peppe?“
 

Sie drückte ihren Mund auf meinen und ich spürte, wie es schon wieder passierte.
 

Sie verarschte mich. Tief in ihr drin lachte sie sich über meinen fehlenden Kampfgeist eine ab.
 

Eine Tür knallte zu.
 

„Rahel, du Arsch!“ Peppe war unser älterer Bruder und seit kurzem 19. Er hatte scheinbar wieder ein Problem mit seiner Schwester.

Es würde eine Schlägerei geben. Wie immer.
 

Rahel stiess sich von mir ab, verschwand aus der Küche und ich konnte sie mit unserem Bruder streiten hören.

Sie würde gewinnen.

Rahel war eine unbarmherzige Brutalität, die einen Scheiss auf Anstand und gepflegte Normen gab.

In der Schule spuckte sie auf den Boden, verprügelte Mitschüler und hatte sich vor kurzem ohne Erlaubnis von Mom die Unterlippe piercen gelassen.
 

Rahel sah mit dem eher kantigen Gesicht und der spitzen Nase eher wie ein Junge aus und verstärkte diesen Eindruck durch ihr maskulines Auftreten.

Wenn Rahel irgendwo auftauchte, flogen die Fetzen.

Man hielt uns ab und zu fast für eineiige Zwillinge und man war Masslos erstaunt, wenn sie erfuhren, dass Rahel wirklich ein Mädchen war.
 

„Wo sind meine Zigaretten, Rahel?!“ Ich konnte Peppe laut schnauben hören. „Ich schlag dich tot, wenn du es mir nicht…“
 

Rahel lachte. „Halts Maul, Peppe. Ich hab sie weggeworfen. Wenn du so scharf auf Selbstmord bist, dann schmeiss dich vor einen verdammten Zug, Bruderherz.“
 

„Ich hass dich!“ Peppe kam in die Küche gestampft und drehte sich verwirrt zu mir um. Seine grünen Augen musterten mich verwirrt. „Alles klar?“
 

„Weiss nicht.“ Ich stand immer noch an der Wand und zuckte mit den Schultern. „Rahel wollte mich umbringen.“
 

„Ah.“ Peppe nickte nur und fügte dann zur Tür gewandt hinzu: „Was ich bald mit ihr tue, wenn sie nicht aufhört zu nerven!“
 

„Heul doch!“ Rahel kam wieder zurück in die Küche.
 

„Du bist nicht meine Mom, Rahel! Du kannst Gerrit so behandeln, aber ich bin der grosse Bruder, klar? Ich bin nicht dein Anhängsel am Hosenzipfel und lass mich auch nicht von dir manipulieren! Lass also den Scheiss und HALT DICH AUS MEINEM LEBEN RAUS!“
 

Rahel blieb gelassen. Sie war immer cool und liess einen nicht merken, wenn sie kurz vor dem Ausrasten war.

Sie schlug dann einfach zu. Ohne Gnade.
 

„Peppe…“ Sie sprach langsam, als hätte sie einen absoluten Vollidioten vor sich. „Ich beschütz dich nur vor Lungenkrebs, Idiot. Keine Sorge also und lass mich machen.“
 

„Hörst du mir überhaupt zu?“ Peppe strich sich durch seine etwas längeren Haare. Rahel meinte, es wäre eine Schande, dass unser Bruder so lange Haare hatte. Er sähe aus wie ein Mädchen.
 

„Ja“, sagte Rahel ernst. „Und deine Worte gehen mir an meinem Arsch vorbei, Bruderherz. Also lauf und geh wieder mit deiner Freundin spielen.“
 

Peppe warf Rahel einen bösen Blick zu. Keine Chance.

Er machte den gleichen Fehler wie ich. Er sah ihr zu lange in die Augen.
 

Rahel hatte diesen gruseligen Blick, der einen Stunden anstarren konnte. Sie blinzelte kaum und starrte so lange, bis sie einen im Hirn zu Brei verarbeitet hatte
 

Bei Peppe zog es besonders schnell, da unser Bruder nicht gerade der schlauste Mensch der Welt war und sein Hirn voller Müll steckte.
 

„Irgendwann schlag ich dich, Rahel. Und zwar richtig. Deine Zähne können dann alleine zu Dr. Dent flitzen.“
 

Rahel nickte. „Klar. Ich halt mich schon mal bereit.“
 

Peppe rauschte davon und knallte die dunkle Tür der Küche laut zu. Mom war nicht da, sondern auf einer Theaterprobe.

Wäre sie da, hätte sie Peppe in den Arm genommen und ihn gebeten, sich bei ihr auszuweinen.

So war unsere Mutter nämlich. Wut verstand sie völlig falsch und empfand es als emotionalen Hilfeschrei.

Rahel richtete sie fleissig in dieser Einstellung zu Grunde.
 

„Blödmann“, knurrte Rahel und packte mich am Handgelenk. Sie zog mich durch den Flur der Altbau-Wohnung und führte mich zu einen der fünf Sessel vor dem Fernseher.

Da unsere Mutter oft weg war und wir auch des Öfteren umzogen, waren unsere Wohnung spärlich eingerichtet.

Ausserdem hatte jeder seinen eigenen Sessel, da meine Mom der Ansicht war, dass die Sache mit dem Sofa von ihren Kindern völlig falsch verstanden wurde.

Stimmte auch. Wir hatten mal vor Jahren ein altes aus Leder gehabt und entweder Rahel oder Peppe hatten es so für sich eingenommen, dass keine zweite Person darauf Platz gehabt hatte.
 

Der Fernseher stand auf einem alten und abgegriffenen Holztisch und schrie förmlich danach, endlich angeschaltet zu werden und die gigantische Anzahl an schnellen Bildern an uns weiter zu geben, die er noch mit Mühe zurück hielt.
 

„Wir schauen zusammen.“ Rahel schob mich in den Sessel in der Mitte und schaltete die Flimmerkiste an.

Eine blöde Serie lief und war sicher die millionste Wiederholung.
 

Mich und Rahel interessierte etwas ganz anderes.
 

Rahel schaltete durch die Programme auf der Suche nach unserem Film, der trotz dem respektablen Alter fast jedes Jahr vor Weihnachten gezeigt wurde.

Dabei sass sie dicht vor dem Fernseher in einer Art Hocke und ich konnte ein Stück rote Unterwäsche erkennen, da ihre weite Hose ihr halb über den Hintern gerutscht war.
 

„Welches Programm war es, Gerrit-Boy?“
 

Ich schaltete zu langsam. Die Falle wurde so offensichtlich vor meinen Füssen aufgebaut und ich Idiot tappte trotzdem hinein.

Meine Augen klebten an dem Stück Rot und konnten sich nicht rechtzeitig lösen.
 

Rahel schnaubte. Sie sass immer noch mit dem Rücken zu mir, als sie den Kopf in meine Richtung drehte. „Flachpfeife, welches Programm? Du bist doch hier unser Termin-Planer mit dem super Gedächtnis.“
 

Ich kam langsam aber sicher zurück. Ich hob meinen Blick von der verbotenen Zone und sah in die braun-grünen Augen meiner Schwester.
 

„Kanal sechs“, sagte ich und räusperte mich. Der schwere Kloss war wieder da und rutschte langsam meine Speiseröhre hinunter.

Ich würde kotzen müssen. Keine Frage.
 

„Du bist heute nicht sehr schnell im Denken, Gerrit. Echt jetzt.“ Meine Schwester wand sich wieder dem Fernseher zu und fand den Film schliesslich.
 

Es war eine Komödie, aus der unsere Mom auch unsere Namen hatte.

Die Hauptpersonen waren eine Frau und ein Mann, die mehrere Versuche starteten, um in eine Hochsicherheitsbank einzubrechen.

Der Film war aus den frühen achtziger und ein Kult-Hit. Es war zum Ritual geworden, dass wir den Film jedes Mal ansahen, wenn er im Fernseher lief.

Der Typ, der Gerrit spielte, war ein Vollidiot. Jedes Mal, wenn ein versuchter Einbruch scheiterte, sagte er „Hab ich doch gesagt! Es ist nicht unser Tag, Rahel.“

Rahel war im Film eine hinterlistige pseudo-Diebin, die immer auf Gerrits „Hab ich doch gesagt“ – Getue mit einem kurzen „Halt die Klappe!“ antwortete.
 

Der Schluss gefiel mir am besten.

Beide landeten kurz vor Ende doch noch im Knast und Gerrit wollte gerade seinen üblichen Spruch ablassen, als er von Rahel unterbrochen wird.

Diese sitz direkt neben ihm in einer Zelle und meinte, wenn er jetzt was mit „Nicht unser Tag“ ablasen würde, würde sie ihn umlegen.
 

Dann blendete das Bild aus, Schwärze erschien auf dem Bildschirm und man hörte nur noch Gerrits „Es wird die nächsten zehn Jahre nicht unser Tag sein, Rahel.“
 

Dann kam der Abspann. Ich und Rahel bekamen fast alle Namen der Schauspieler aus dem Kopf heraus zusammen, da wir schon als Kinder eine Art Wettbewerbs-Disziplin darin sahen, so viele Namen wie möglich zu lesen und sich zu merken.
 

Der Film war bereits bei der Hälfte, als sich Rahel auf den Sessel neben mir plumpsen liess.
 

„Wegen dir haben wir den Anfang verpasst, Blödmann“, sagte sie und ich schnaubte.
 

Es war ihre Schuld. Sie hatte den Streit mit dem Fernseher angefangen, als ich etwas anderes als sie schauen wollte.
 

Der Film war wie jedes Mal viel zu kurz und wir achtete gar nicht auf den Lärm im Flur.

Peppe stritt sich mit seiner Freundin. Aber das war uns total egal.

Rahel mochte das andere Mädchen nicht besonders, da diese mal erwähnt hatte, dass ich süss sei.

Niemand nannte Rahels Brüder SÜSS.

Rahels Meinung nach sollte man alle weiblichen Wesen auf der Welt vor mir und Peppe warnen, da wir die grössten Blödärsche der ganzen Galaxie waren.

Aber das durfte nur sie sagen. Wenn jemand anderes mich beleidigte, brach Rahel ihm das Genick.
 

Peppe schrie seine Freundin an, diese schrie zurück und verliess die Wohnung. Sicher hatten sie beiden wieder für ein paar Tage miteinander Schluss gemacht.

Nach einer Woche waren sie in der Regel wieder zusammen und feierten einen neuen Anfang.

Peppes Beziehung hing uns allen zum Hals raus.
 


 

Mom kam spät nach Hause.

Sie hatte Proben bis spät in die Nacht und kochte sich gerade in der Küche einen Kaffee, als ich aus meinem und Rahels Zimmer geschlichen kam.

Ich begrüsste sie immer, wenn sie nach Hause kam. Egal wie viel Uhr es war.
 

Rahel hielt das für bescheuert und schlief bereits tief und fest in unserem Doppelbett.
 

„He, Mom.“ Ich umarmte meine Mama und diese drückte mich ebenfalls.

Sie fuhr mir durch die kurzen Haare.
 

Was hatten die Frauen dieser Familie nur mit meinen Haaren?
 

„He, Schatz.“ Sie küsste mich auf den Kopf und roch nach Farbe und Parfüm.

Irgendwie hatten Schauspieler diesen einen merkwürdigen Geruch, der einen immer an grosse Säle und Kronleuchter denken liess. „Geh wieder ins Bett, ja?“
 

Ich nickte und wollte gerade die Küche wieder verlassen, als mir was einfiel.
 

„Rahel wollte mich heute kastrieren.“
 

Meine Mom sah von ihrer Tasse mit Kaffee verwirrt auf. „Wieso das?“
 

Ich zuckte mit den Schultern. „Und wir haben heute den Anfang von unserem Film verpasst.“
 

Mom nickte mitleidig. „Das tut mir Leid, Gerrit.“
 

„Es war Rahels Schuld.“
 

Mom nickte. „Sie zankt gerne, dass weisst du doch. Aber sie liebt dich, Schatz. Also geh wieder ins Bett.“
 

Ich schloss die Küchentür und schlich zurück in unser Zimmer.
 

Es war ein grosser Raum mit einem Kleiderschrank, einem Schreibtisch und einem grossen und wuchtigen Bücherregal.

Der alte Laptop von Mom ging seit Monaten schon nicht mehr, hatte aber immer noch seinen festen Platz auf dem Schreibtisch am Fenster.

Unser Bett stand zwischen Schrank und Bücherregal und passte mit seinem silber lackiertem Gerüst überhaupt nicht zu den restlichen Holzmöbeln.
 

Rahels Haare standen ihr in leicht unterschiedlichen Längen wirr vom Kopf ab und sie hatte sich wie immer auf beiden Seiten des Bettes breitgemacht.

Man sah einfach, dass sie die Haare in rascher Eile selbst bis zur absoluten Verstümmlung geschnitten hatte.

Ihr schien es nichts auszumachen.
 

Ich kletterte unter die warme Decke, schob meine schlafende Schwester etwas zur Seite und war kurz danach ebenfalls eingeschlafen.
 


 

Es war ein guter Morgen.

Das wusste ich, weil ich meine Augen erst um 10 Uhr öffnete und es ein Schulfreier Tag war.

Rahels Hände hatten sich unter mein T-shirt geschoben und ruhten warm auf meinem Rücken.

Ihr Gesicht lag nah an meinem und ich starrte sie eine Weile an.
 

Ich pustete ihr nach einer Weile gegen die Stirn.
 

„Mach das noch einmal und ich reiss dir deinen Arsch auf…“ Rahel hatte die Augen immer noch geschlossen und gähnte leise. „Ich mach ernst, Gerrit-Boy.“
 

Das glaubte ich ihr sofort, als sich ihre Hände über meinen Rücken bewegten und in der Nähe meines Steissbeins liegen blieben.
 

„Ich will aufstehen“, sagte ich und Rahel schnaubte.
 

Sie öffnete die Augen und sah mich an. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast. „Aha. Das juckt mich wenig, mon amie.“
 

Rahel war am frühen Morgen wie zäher Kaugummi, den man einfach nicht los wurde.

Man kaute bis zum Umfallen, aber das Zeugs gab einfach nicht nach.
 

„Du bist fies, Rahel.“ Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung und stand auf. „Eine echte Hexe, weisst du das?“
 

„Klar.“ Rahel zog sich die Decke über den Kopf. „Immer wieder gerne, Blödmann.“
 

Ich hasste das. „Ziege.“
 

Wie fast jeden Morgen ging ich allein in die Küche und musste meinen schlecht gelaunten Bruder ertragen.

Während einer dieser blöden Beziehungspausen war er die absolute Pest.
 

Mom sass in ihren bequemen Kleidern auf einem der Küchenstühle und grinste mich an. „Morgen, Schatz. Willst du was Tolles hören?“
 

Peppe verzog das Gesicht. „Uns interessiert die blöde Kritik nicht viel, Mom. Ausserdem sagt diese eindeutig, dass das Theaterstück zum Kotzen ist.“
 

Unsere Mutter zuckte mit den Schultern. Sie machte das wie ich und Rahel. „Ja und? Es hat Spass gemacht. Das ist die Hauptsache, Schatz.“
 

„Ich scheiss auf dein Schatz-Getue.“ Peppe stand auf, räumte seinen Teller in die Spüle und fluchte vor sich hin.
 

Mom blieb ruhig. Sie blieb immer ruhig. „Und du, Gerrit?“
 

Ihre grünen Augen bohrten sich in meinen Körper. Sie hatte mich in die Enge getrieben. Und das wusste sie.

Sie machte das aber völlig anders als Rahel. Meine Mom umschmeichelte einen und wurde dann zu einer ruhigen und lautlosen Gefahr, während meine Schwester brüllend ihre Opfer zerfleischte.
 

„Klar“, sagte ich nur und griff nach einem Brötchen. Es war gegessene Sache. Ich würde mir die Kritik anhören müssen. Komme was da wolle.
 

Meine Mom nickte zufrieden und faltete die Zeitung aus. Sie las mir die unendlich scheinende Kritik vor.

Das ganze Theaterstück wurde ziemlich übel dargestellt. Man nannte den spärlichen Bühnenaufbau langweilig, die Story lahm und die Schauspieler beschimpfte man als Witzfiguren, die besser von Hunden ersetzt worden wären.
 

Meine Mom spielte in Theaterstücken mit, die keinen wirklichen Text hatten. Sinn ehrlich gesagt auch nicht und es war wirklich öde.

Die Schauspieler deuteten eher Bewegungen an und man legte vor allem Wert auf die Mimik.

Die menschliche Schönheit des Ausdrucks und so ein Zeugs.

Ich und meine Geschwister waren einmal mit und dann nie wieder. Ich hatte die ganze Zeit neben Rahel gesessen, ihre Hand umklammert und sie angefleht, mich wach zu halten.

Rahel tat mir den Gefallen und lieferte sich mit Peppe eine lautstarke Diskussion über gleichgeschlechtliche Liebe.

Obwohl ich mich nicht muckste, waren mir die verwirrten Blicke der Leute unangenehm gewesen und ich wäre in meinem Sitz am liebsten gestorben.
 

Mom legte die Zeitung zur Seite, stand auf und strich mir durch die Haare. „Weck deine Schwester, wir fahren zur Oma.“
 

Verdammt. Mein Traum von einem guten Morgen war Geschichte. Heute war Omas Geburtstag. Ein schrecklicher Tag, der uns jedes Jahr in tiefe Verzweiflung stürzte.
 

„SCHON WIEDER?!“ Peppe kam in die Küche gestampft. „Wir waren doch erst vor… einem Jahr bei ihr!“
 

„Es ist ihr Geburtstag, Schatz. Da müssen wir durch.“
 

Meine Oma war ein Alptraum. Sie war diese Art von Frau, die jeden Morgen in die Kirche ging und überall diese Jesus-Fratzen hängen hatte.

Sie verabscheute jede Art von Gottlästerrei und sagte ständig Dinge wie „Gott bewahre!“ und „Jesus, gedenke diese Minute!“
 

„Ich will nicht.“ Peppe sträubte sich. Er warf mir einen verzweifelten Blick zu. „Gerrit hasst sie auch! Sag es ihr, du feiger Sack!“
 

Ich sagte gar nichts. Jemand wie Peppe konnte sich das erlauben. Ich war jedoch die Zielscheibe allen Ärgers.

Was ich in den Wald hineinschrie, kam zurück geschallt und prügelte mich bis zur Ohnmacht nieder.
 

„Stell dich nicht so an.“ Mom grinste. „Mach aber bitte das Haargummi aus den Haaren, Peppe. Du siehst wirklich aus wie eine Frau…“
 

Peppe fluchte, schlug Türen zu und rastete schliesslich völlig aus. Mom trank nur in aller Ruhe ihren Kaffee und lächelte leicht.

Sie hatte ihre Rache bekommen.
 

Meine stand noch bevor…
 


 

Rahel hatte mich eine ganze Stunde lang angeschrien und mich verprügeln wollen, für etwas, was unsere Mutter bestimmt hatte.

Aber so war das.

Ich war Gerrit, der kleine Idiot.

Der Depp, der einfach nicht schnell genug in Deckung gehen konnte.

Als wir schliesslich alle in Moms uraltem Käfer sassen, war ich nah an meinem Ableben.
 

Rahel sass neben mir, hatte wieder einmal Kleider von mir an und fixierte mich mit ihrem Psycho-Blick.
 

Ich sah aus dem Fenster und war erleichtert, als wir an dem Haus meiner Oma ankamen.

Aber auch nur die ersten vier Minuten lang.
 

Oma feierte ihren Geburtstag ziemlich gross. Kirchen-Chor, alte Freundinnen von ihr und der Rest der Verwandtschaft kam vorbei, überstand tapfer die Feier und verpisste sich dann wieder.

Wir gehörten zu dem Rest der Verwandtschaft, der sich bis zum nächsten Jahr nicht mehr meldete.

Zumindest ich und meine Geschwister.
 

Mom schrieb Oma regelmässig Briefe und Fotos von dem letzten Theaterstück.

Oma fand den Job ihrer Tochter totalen Humpuck und hob keins der Fotos auf. Sie landeten recht schnell im Müll.

Aber meine Mom war hartnäckig. Die neusten Fotos waren vermutlich bereits auf dem Weg.
 

Ich begrüsste meine Oma, lies die skeptische Musterung über mich ergehen und war dann aus den Fängen des Monsters.

Ich verschwand schnell in die kleine Küche, in der mehrere Frauen die Kuchen-Aufsicht schoben.
 

Rahel kam mit einiger Verzögerung nach. Sie hatte schlechte Laune und sicher wieder einige Kritik von Oma als Begrüssung anhören müssen.

Es war jedes Jahr das gleiche. Beide Frauen umschlichen sich wie Katzen und warteten auf die Gelegenheit, der anderen etwas anzutun.
 

„Wie alt bist du?“ Eine Frau der Kuchen-Aufsicht musterte mich skeptisch. „In dem Kuchen ist Alkohol, Bursche.“
 

„Aha.“ Ich fühlte mich sofort schuldig. Ich wollte die Gabel schon loslassen und den einzig gut aussehenden Nachtisch stehen lassen, als Rahel mich zur Seite stiess.

Sie fixierte die Frauen abfällig.

„Er ist 16 und hat die Erlaubnis unserer Mutter, also weichet von uns, Kirchen-Dämonen!“

Sie schnitt mir ein riesiges Stück der Sünde und klatschte es auf meinen Teller. Dann reichte sie mir eine Gabel und drückte mir einen Kuss auf den Mund.

„Bitte sehr, mein Alkoholiker.“
 

Ich grinste sie an, die Frauen starrten gross.
 

Keine Minute später wusste jeder auf dem Geburtstag meiner Oma, dass ich Alkoholiker war, meine Schwester eine unfreundliche Mistkröte und wir uns geküsst hatten.

Es war jedes Jahr das gleiche…
 


 

„Mein Sohn ein Alkoholiker?!“ Mom stritt sich mit Oma in der Küche.

Die Gäste waren alle schon gegangen und wir bekamen unsere Strafe, indem wir warten mussten.

Peppe starrte uns böse an.

„Super gemacht, ihr Arschlöcher.“ Er zog an der Zigarette und stiess den Rauch durch die Nase aus. „Wie immer. Ganz grosse Show.“
 

„Rahel ist eine unverschämte Göre!“ Oma hantierte in der Küche. Wir warteten auf dem Balkon und konnten in das beleuchtete kleine Fenster des Raumes sehen. „Sie hat ihm den halben Kuchen auf den Keller getan!“
 

„Himmelswillen, Mutter!“ Mom seufzte. Sie stritt zwar, wurde jedoch nicht wirklich laut. „Es ist Rahel! Ausserdem ist in dem Kuchen ein ganz klein wenig Sekt! Was ist daran schlimm?“
 

„Er hat den halben Kuchen allein gegessen! Deine Schwester hat nicht einmal ein Stück von ihrem eigenen Kuchen bekommen!“
 

Mom suchte nach Argumenten. „Sie hat sicher genug vom Teich genascht. Glaub mir, dass macht sie immer. War das alles?“
 

„Nein!“ Oma war eine schreckliche Frau. Sag ich doch. „Und wie sie aussehen! Hättest du nicht EINMAL nur für mich deine Kinder anständig kleiden können? Gerrit hat die Hose irgendwo bei den Knien hängen und Phillip hat seit Monaten keinen Frisör mehr gesehen! Und Rahel… Gott bewahre! Was ist mit ihren Haaren passiert, Kind? Und dieser Ring… Ich schäme mich für meine eigenen Enkel!“
 

Peppe hasste es, wenn man ihn bei seinem richtigen Namen nannte. Er wurde damals nach Dad benannt und als dieser zur allgemeinen Gefahr wurde, nannten wir unseren Bruder einfach in Peppe um.

Jeder hielt sich an diese Regel. Ausser Oma. Sie hielt es Mom immer noch vor, dass Dad sich damals bis zum Umfallen besoffen hatte.

Mom sprach nie darüber.
 

„Gut.“ Mom wollte gehen. „Ich fahr jetzt nach Hause. Ich schreib dir…“
 

„Ja. Fahr nach Hause und komm wieder, wenn deine Kinder Anstand haben!“ Oma spuckte die Worte förmlich vor Moms Füsse. "Na los! Geh schon!"
 

„Endlich.“ Peppe drückte die Zigarette an einem der Blumentöpfe auf dem Geländer des Balkons aus. „Wir müssen NIE wieder zu Oma.“
 

Nach wenigen Minuten kam Mom uns abholen. Sie sagte die ganze Fahrt nach Hause kein Wort und wir wussten alle, dass wir Mist gebaut hatten.

Auch wenn Mom uns nicht sauer war, hatten wir etwas falsch gemacht.
 

Rahel regte sich im Auto jedoch für die halbe Weltbevölkerung auf. Sie beleidigte die Freunde von Oma nach Strich und Faden und schwor, wenn sie jemals in die Nähe einer Kirche käme, würde sie diesen Gott-Scheiss in die Luft jagen.

Ausserdem wüsste jeder, dass ich kein Alkoholiker und Peppe Peppe war und kein Phillip.
 

Mom liess ihre Tochter schimpfen. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie im Stillen ganz Rahels Meinung war.
 


 

Zuhause sagte Mom immer noch nichts. Sie kochte sich Kaffee und verschwand in ihrem Schlafzimmer.
 

Peppe belagerte den Computer und ich ging unter die Dusche.
 

Das tat ich nach jedem Besuch bei Oma. Es war schrecklich, in ihrem Haus zu sein.

Alles roch nach alten Menschen und verschwendeter Zeit, die man so viel lustiger und besser nutzen könnte.

Eine unerträgliche Normalität lag in der Luft und machte das Atmen fast schwer.

Wie in einem zu engen Käfig. Und der Geruch von alten Menschen blieb hängen. Da war ich mir sicher.
 

Zu meinem Ärger konnte man die Badetür nicht absperren, da Peppe einmal nach mir den Schlüssel geworfen hatte. Bis jetzt hatte ihn noch keiner gefunden.

Rahel kam in einem zu weiten T-shirt und in einer Boxershort von mir ins Bad getrampelt, knallte die Tür zu und fixierte mich unter Dusche.

Es gab nichts, was sie von mir noch nicht gesehen hatte.
 

„Verdammt, Gerrit!“, donnerte sie. Da hatten wir es. Ich war am Arsch, ohne dass ich gross was dafür tun musste. „Wieso hast du im Auto nichts gesagt?! Diese ganzen alten und verschrullten Omas erzählen Scheiss über dich herum und du schluckst das einfach?!“
 

Ich schloss die Augen, lies das Wasser der Dusche über mich laufen und versuchte Rahel auszublenden.

Sie platzte öfters ins Bad, wenn ich meine Ruhe haben wollte.
 

Rahel war wie ein Fluch, den ich nicht los wurde. Sie war überall.
 

„Du bist ein Idiot!“ Rahel trat gegen die Dusche. Dann griff sie nach ihrer Zahnbürste und starrte finster vor sich hin, während sie ihre Zähne putzte.
 

Ich wusch meine Haare und verlies die Dusche schliesslich. Ich wickelte mir ein Handtuch um die Hüfte und trat neben Rahel.

Sie rammte mir ihren Ellbogen in die Seite und schnaubte. Schliesslich reichte sie mir meine Zahnbürste.
 

Wir putzten unsere Zähne und meine kurzen Haare waren fast von alleine schon wieder trocken.
 

Im Zimmer zog ich meine Schlafhose an, mein T-shirt und kroch ins Bett. Nach wenigen Minuten kam Rahel.
 

Sie hob die Bettdecke, liess sich neben mich fallen und gab wieder ihren Psycho-Blick zum Besten.

Ich spürte ihre kalten Füsse an meinen.

„Wieso wehrst du dich nicht gegen die?“ Rahel kletterte auf mich und ihr Gewicht übte einen verboten angenehmen Druck auf meinen Unterleib aus. „Bist du echt so ein Idiot, Gerrit?“
 

Ich steckte in der Scheisse. „Geh runter von mir, Rahel.“
 

„Geh du doch, Spinner.“ Rahel beugte sich zu mir nach unten. Sie sah mich ernst an. „Sag es mir“, verlangte sie. „Wieso bist du so ein Schwächling?“
 

„Lass es doch einmal gut sein…“ Ich verdeckte mein Gesicht mit meinen Händen. „Das sind alte Frauen. Die glauben an über das Meer spazierende Typen und haben sicher andere Probleme als Jungs, die sich schlecht benehmen.“
 

„Scheinbar nicht.“ Rahel nahm meine Hände von meinem Gesicht und drückte sie nutzlos über meinen Kopf zusammen ins Kissen.

Ich war geliefert.

Meine Schwester legte den Kopf leicht schräg und drückte ihren Mund auf meine Stirn.

„Ich lass es aber nicht zu, dass solche Klatschtanten Scheisse erzählen. Und ich küss dich WIE und WANN ich will.“

Rahel drückte ihren Mund auf meinen. „Klar soweit, Matschbirne?“
 

Ich starrte sie an. Alles in mir schrie nach Flucht, aber ich war ein Idiot. Einer, der ständig mit dem Dynamit spielte und dann überrascht war, wenn es einen plötzkich in Stücke zerfetzte.
 

„Ich… weiss nicht“, sagte ich und räusperte mich. Rahels warmer Körper presste sich fester an meinen. Gefährliches Unterfangen.
 

„Ich aber. Und ich hab Recht, Gerrit. Ich mach das schon, keine Sorge.“
 

Ich hatte aber Sorgen und kam gar nicht mehr aus ihnen raus…



Fanfic-Anzeigeoptionen
Blättern mit der linken / rechten Pfeiltaste möglich
Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  il_gelato
2009-11-04T21:53:37+00:00 04.11.2009 22:53
wie immer toll!!!

Vielleicht kommst du ja diesmal bis zum Ende?!
Von:  P-Chi
2009-11-04T20:01:08+00:00 04.11.2009 21:01
Wow. Faszinierend~ O.O
Ich bin einfach ... schockiert! x___X
Nicht, weil es hier um Inzest geht - neeee, davon hab ich genug Geschichten im Kopf schwirren - aber dein Schreibstil, die einzelnen Charaktere, Ortsbeschreibungeng...wooooow~~~
xDDDDDD
Ich bin so neidisch, das glaubst du gar nicht!!!!
Ich hatte ja selbst ne Idee was n' inzest Zwillingspärchen angeht, aber jetzt da du es schon auf Papier gebarcht hast, hast du mir damit auch den Wind aus den Segeln genommen xDDD
Aber ich bin froh~ dann kann ich mir die ganze Arbeit sparen, und ich würds ohnehin nie so gut hinbekommen wie du!
Favo!!
Und bekomm ich ne ENS wenn das nächste Kapi on ist?! xDD

glg Angels


Zurück