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Die vier Phasen

von

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Reisende - Teil 2

„Ich koche uns jetzt erst mal einen Tee“, sagte Elin in die betroffene Stille hinein, die nur von Patricks vergebens unterdrückten Schluchzern durchbrochen und von dem lieblichen Gesang einer Amsel untermalt wurde.

„Nami, kommst du mit und hilfst mir mit den Tassen?“ Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass es der jungen Japanerin gerade ebenfalls nicht besonders gut ging, und auf ihr Gefühl hatte sich Elin immer verlassen können. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber Nami wirkte trotz ihrer undurchdringlichen Miene, mit der sie starr in den Garten blickte, als könne auch sie gleich anfangen zu weinen.

Außerdem schien es ganz gut, die Brüder einen Moment für sich zu lassen, damit Patrick sich wieder beruhigen konnte.

Elin kannte sich in der Küche gut aus und griff sich zielstrebig, was sie brauchte. Während das Wasser warm wurde, holte sie vier Tassen aus dem Schrank.

Nami machte eine abwehrende Geste. „Ich brauche keine. Ich denke, besser ist, wenn ich gleich gehen.“

„Nein, gar nicht“, entgegnete Elin. „Wir wollten dich nicht vertreiben. Du kannst ruhig bleiben.“

Nami schob ihr eine Tasse zu. „Nein, wirklich. Stören will ich nicht.“

„Du störst überhaupt nicht“, sagte Elin und stellte die Teekanne ab. Zwei Teebeutel baumelten an ihrer Hand. Sie fand die zierliche Frau, die sich so selbstsicher gab, äußerst interessant, und sie war nicht gewillt, sie gehen zu lassen, ohne mehr über sie zu erfahren. „Oder hast du heute noch was vor?“

„Nein, das ist es nicht.“

„Wartet jemand auf dich?“

„Nein.“

„Na, also.“ Sie schob die Tasse wieder zurück zu den drei anderen. „Was für ein sogenannter Zufall hat dich denn hier her geführt?“ fragte sie neugierig. „Hast du beruflich in Deutschland zu tun?“

„Nein. Ich bin in Urlaub. Erst in Berlin, dort ich habe ein Freundin besucht. Jetzt ich will noch das bisschen Deutschland schauen; ich habe Zeit, aber kein richtig Ziel.“

„Das ist gut“, sagte Elin und fand Namis Art, Deutsch zu sprechen sehr niedlich. Dabei war niedlich ein Adjektiv, das sonst gar nicht zu der Japanerin zu passen schien. Vielleicht fand Elin gerade diesen Kontrast so reizvoll. „Das sind ideale Voraussetzungen, um die Schicksalskräfte wirken zu lassen. Und für Patrick scheinst du ja zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein. Der Arme! Dabei wirkte Toshio immer so glücklich mit ihm.“

„Manchmal können Menschen nicht die Entscheidung haben, die Glück bringt“, sagte Nami.

Da war sie wieder, die Traurigkeit, die Elin an ihr schon auf der Terrasse gespürt hatte. Aber sie kannten sich noch nicht gut genug, um nachzufragen. Also entgegnete sie nur: „Da hast du leider recht.“

Sie hängte die Teebeutel in die Kanne und goss das inzwischen kochende Wasser hinein. Jasminduft breitete sich in der Küche aus.

Kimba kam in die Küche gehechelt, dicht gefolgt von Karoline. Elin begrüßte sie mit einer Umarmung und fragte, ob sie auch einen Tee wolle.

„Nein, danke“, wehrte Karoline ab. „Patrick will euch sicher das ganze Drama erzählen ...“ Sie verdrehte die Augen. „Ich kann`s bald nicht mehr hören.“ Sie füllte eine Schüssel mit Leitungswasser und stellte sie auf den Boden. Gierig trank Kimba davon und verteilte glänzende Tropfen auf den Fliesen.

„Es ist nicht leicht, jemand zu verlieren, den man liebt. Das wirst du auch noch merken“, sagte Elin.

„Vielleicht. Aber Patrick jammert nur rum! Ich wäre so sauer an seiner Stelle!“ Deutlich war ihr anzumerken, dass sie nicht nur sauer wäre, sondern sauer war.

„Jeder geht anders mit seinem Schmerz um“, entgegnete Elin sanft.

„Naja ...!“ machte Karoline zweifelnd. Dann wechselte sie das Thema: „Darf ich mit Kimba spazieren gehen? Er hat bestimmt Lust zu laufen, nach der langen Autofahrt.“

„Klar.“ Elin hatte selbst Lust zu laufen. Aber Kimba hatte bestimmt nichts dagegen, am Abend noch einen zweiten Spaziergang zu machen.

„Wo ist denn sein Halsband?“

„Das liegt vorne im Wagen, die Leine auch. Kannst du dir raus holen.“

„Komm, Kimba, ausgehen!“

Begeistert lief der Hund hinter Karoline her, drehte sich dann aber in der Tür noch einmal um und schaute Elin fragend an. „Na, lauf schon!“ sagte sie. „Ich warte hier auf dich.“ Und weg war er.

„Ist Kimba dein Hund?“ fragte Nami.

„Naja, ich sag mal so: Er wohnt bei mir. Wir haben uns in Spanien getroffen, und er war der Meinung, wir passen gut zusammen. Ich fand ihn nett, also habe ich ihn mitgenommen. Und ich habe es nicht bereut, er ist so süß! Er hat es, glaube ich, auch nicht bereut. Damals war er halb verhungert, du kannst dir nicht vorstellen, wie er ausgesehen hat. Er hatte mehrere eitrige Geschwüre, in denen schon die Fliegenmaden saßen ... Aber jetzt geht es ihm wieder gut. So, ich glaube, der Tee ist fertig. Nimmst du die Tassen, bitte?“
 

Als sie auf die Terrasse zurück kamen, sagte Patrick gerade: „Die Polizei macht gar nichts. Die gehen der Sache nicht einmal richtig auf den Grund! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihnen von der SMS gar nicht erzählt.“ Er klang sehr verzweifelt, aber er weinte wenigstens nicht mehr.

Die beiden Brüder hatten sich an den Gartentisch gesetzt, Oliver saß dicht neben ihm. Schweigend verteilte Nami die Tassen, und Elin schenkte den Tee ein. Danach setzten sie sich zu ihnen.

„Und was ist das für ein Typ, bei dem Toshi jetzt ist?“ fragte Oliver.

„Ach! So ein reicher Industrieller. Dem gehört ein riesiges französisches Unternehmen, der hat wahrscheinlich Kontakte in alle Himmelsrichtungen, an den komme ich nicht ran – und die Polizei anscheinend auch nicht. Würde mich nicht wundern, wenn der seine Finger mit dabei hat, dass die nicht ermitteln. Womöglich hat er die alle bestochen, Geld genug hat er bestimmt!“

„Wo lernt man denn so einen vermögenden Mann kennen?“ fragte Elin.

„In der Disko“, antwortete Patrick unbestimmt, kam aber mit dieser ausweichenden Antwort nicht durch.

„In der Schwulen Sau?“ fragte Oliver erstaunt. „Da gehen solche Leute hin?“

„Nein ... Im Spotlihgt. Das ist etwas gehobeneres Milieu. Toshi hat dort gearbeitet. Als Gogo-Tänzer“, fügte er schließlich noch widerwillig hinzu, und tatsächlich bekam Oliver große Augen.

„Toshio hat als Gogo-Tänzer gearbeitet?“

„Ja. Na, und? Er kann schließlich tanzen, und er brauchte das Geld. Und Gogo ist reiner Animationstanz, kein Striptease oder so!“ Das Thema war Patrick unangenehm, auch weil er wusste, dass Toshi nicht gern über diesen Nebenjob gesprochen hatte – und weil er wusste, dass er eben zeitweise doch mehr getan hatte als Animation, und das war ein leidiges Streitthema zwischen ihnen gewesen. Aber das ging niemanden sonst etwas an!

„Habt ihr denn gestritten? Oder war sonst zwischen euch irgendwas nicht in Ordnung?“ lenkte Oliver das Gespräch wieder auf das eigentliche Problem zurück.

„Nein, es war alles gut. Darum dachte ich ja erst, es muss ihm irgendwas zugestoßen sein ... aber jetzt ... na ja, vielleicht haben ja alle recht, und er hat einfach eine bessere Partie als mich gefunden ...“

„Hm“, machte Oliver zweifelnd. „Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihm Geld so wichtig ist.“

„Es könnte aber sein“, sagte Patrick leise. „Er hat Schulden. Ich hab die Mahnungen gefunden.“

„Wieviel Schulden?“

„Keine Ahnung ... bei der Uni, beim Vermieter, den Stadtwerken ... vielleicht fünftausend Euro insgesamt.“

„Hm. Aber das hätten wir doch hinbekommen, wenn er was gesagt hätte. So viel ist das doch nicht. Mama und Papa hätten ihm was leihen können.“

„Ich weiß es doch auch nicht! Vielleicht liebt er ja auch diesen Schnösel!“

„Was denkst du denn, was los ist?“ fragte Elin. „Lass mal diese ganzen rationalen Gedanken beiseite, was denkst du dann?“

Sofort schossen Patrick wieder die Tränen in die Augen. „Ich denke, dass es Toshi total schlecht geht! Ich träume immer von ihm, jede Nacht, und jedes Mal fleht er mich an, dass ich ihm helfen soll! Aber ich weiß ja nicht, wie. Ach, Scheiße! Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll ...“ Er legte die Hände vor sein Gesicht und atmete tief durch, um nicht schon wieder loszuheulen.

„Das solltest du auf jeden Fall ernst nehmen“, sagte Elin, beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf das Knie. „Wie können wir dir helfen?“

„Ich dachte ...“ Patrick schniefte und nahm die Hände wieder herunter. Er griff nach seiner Teetasse und umklammerte sie, als könne ihm das Halt geben. „Ich dachte, vielleicht könnt ihr ja mit so einer schamanischen Reise seine Seele finden, oder so. Ich weiß ja nicht, was genau man da macht, aber könnt ihr nicht heraus finden, wo er ist? Wie es ihm geht? Oder könnt ihr Kontakt zu ihm aufnehmen und ihm sagen, dass er mit mir sprechen soll? Dass ich … dass ich ihm nicht böse bin … und … dass er jederzeit zurück kommen kann. Ich hab keine Ahnung, ob das wirklich geht. Und ob ihr das könnt. Oder vielleicht kennt ihr jemanden …?“

„Das geht“, sagte Oliver. „Elin kann das.“

„Nun übertreib nicht“, entgegnete Elin. „Ich kann vieles – aber seinen Aufenthaltsort in der realen Wirklichkeit finden? Das übersteigt meine Möglichkeiten.“ Sie bemerkte Patricks enttäuschten Gesichtsausdruck und sprach schnell weiter: „Trotzdem können wir eine ganze Menge tun – hilfreich für dich und Toshio wäre es allemal. Wenn auch vielleicht anders, als du dir das wünschst. Die geistige Welt funktioniert nach anderen Maßstäben als die, in der wir leben. Und wir müssen natürlich vorher klären, ob wir überhaupt ohne Toshios Einwilligung mit ihm arbeiten dürfen.“

„Aha. Und wen fragt man da?“ fragte Patrick.

„Das erledige ich dann schon. Den Rest machen wir dann gemeinsam.“

„Gemeinsam?“

„Na, klar. Ihr helft mir natürlich alle. Je mehr wir sind, desto besser. Umso mehr können wir erreichen. Energie potenziert sich – deswegen finden sich seit jeher Menschen zu rituellen Handlungen zusammen. Gemeinsam ist man stärker.“

„Aber ich kann das doch gar nicht“, protestierte Patrick.

„Jeder kann das. Du hast es höchstens noch nie gemacht.“ Sie wandte sich Nami zu. „Bleibst du noch? Wir werden ein schamanisches Trommelritual durchführen. Ich würde mich freuen, wenn du auch dabei wärst. Und ...“, sie zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu, „... so etwas erlebt nicht jeder auf seiner Europa-Reise.“

„Wenn Patrick-san nichts dagegen hat ...“ antwortete Nami vorsichtig.

„Ich habe nichts dagegen“, sagte Patrick sofort. „Ich wollte Sie vorhin auch nicht so anfahren, tut mir leid. Ich bin zur Zeit nicht ganz gesellschaftsfähig, fürchte ich.“

„Nein, ich muss Entschuldigung“, widersprach sie. „Ich wollte nicht reden wie discrimination. That's not me.“

„Schon okay. Wollen wir uns vielleicht auch einfach duzen?“

„Ja, gut. Nami-desu.“ Sie stand auf und verneigte sich förmlich.

Elin lächelte. „Dann ist ja alles geklärt.
 

Knapp eine Stunde später saßen sie wieder zusammen, diesmal in Olivers früherem Zimmer, das inzwischen als Gästezimmer fungierte.

Elin und Oliver hatten geduscht und sich frische Sachen angezogen, während Patrick und Nami alle Möbel beiseite rückten und Kissen auf dem Teppich verteilten, so dass sie jetzt im Kreis auf dem Boden sitzen konnten. In der Mitte brannte eine dicke Stumpenkerze und daneben hatte Elin Räucherstäbchen, eine Feder, eine Muschel, einen Stein und ein Stück verkohltes Holz verteilt. Eine Rahmentrommel, die mit durchsichtigem Kunstfell bespannt war, lag zwischen ihr und Oliver.

Patrick legte ein Foto von Toshio in die Mitte. Er hatte eins ausgewählt, auf dem Toshi in Tanzpose stand: den Oberkörper leicht nach hinten gedehnt und ein wenig gedreht, ein Arm schräg nach hinten unten, den anderen nach vorne oben ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt und den Blick nicht in die Kamera, sondern selbstvergessend ins Nirgendwo gerichtet. Es war nicht sein Lieblingsbild von Toshi, da mochte er natürlichere, ungestellte Bilder lieber, auf denen Toshio in die Kamera lachte, aber er hatte es ausgewählt, weil Toshi den Tanz so liebte, und auf diese Weise noch ein weiterer Aspekt, der Toshi ausgemachte, mit auf dem Bild abgebildet war.

Nami nahm es in die Hand und betrachtete es. „Hübsch sieht er aus.“

„Ja, und er kann wirklich richtig gut tanzen“, schwärmte Elin. „So gern hätte ich ihn mit uns auf der Bühne gehabt – statt dessen macht er Gogo in einem Nachtclub!“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

„Da gab es eben mehr Geld zu verdienen“, sagte Patrick und warf Nami einen unbehaglichen Blick zu. „Vielleicht hab ich ja doch ein falsches Bild von ihm gehabt ...“

„Also, mir hat er als Begründung gesagt, dass er sein Studium nicht unterbrechen will“, schaltete sich Oliver dazwischen. „Ich kann nicht glauben, dass es ihm plötzlich nur noch ums Geld geht.“

„Ja, danke“, sagte Patrick erleichtert. „Ich weiß schon nicht mehr, was ich denken soll.“

„Denk am besten gar nicht so viel“, riet Elin ihm. „Vertraue lieber auf dein Gefühl. Erzähl uns doch einfach, wie ihr euch kennengelernt habt.“

„Ach, das war ganz unspektakulär“, sagte Patrick. „In der Mensa. Obwohl, nein, gesehen habe ich ihn zum ersten Mal in der Disko, in der Schwulen Sau. Da tauchte er eines Nachts plötzlich auf, ohne Begleitung, zumindest habe ich keine gesehen, und er verließ die Tanzfläche kein einziges Mal. Ganz versunken hat er stundenlang getanzt, als gäbe es nur ihn und die Musik. Ich konnte kaum die Augen von ihm lassen, und es ging nicht nur mir so.“ Patricks Gesicht bekam bei der Erinnerung einen weichen, wehmütigen Ausdruck. „Ich habe ihn da aber nicht angesprochen, habe mich nicht getraut, weil … Hm, wie soll ich sagen, seine ganze Ausstrahlung lud einfach nicht dazu ein. Er sprach aber auch mit sonst keinem, er tanzte nur und war dann genauso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Als ich ihn dann drei oder vier Wochen später in der Mensa sitzen sah, wirkte er eigentlich genauso unnahbar. Er saß allein und sah nicht rechts und links, nur auf den Teller vor sich. Ich erkannte ihn sofort wieder, und diesmal wollte ich mir die Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Ich setzte mich zu ihm.“

Patrick musste lächeln, als er an ihr erstes Gespräch dachte, das alles andere als glücklich verlaufen war. Was unter anderem daran lag, dass Patrick gleich zu Beginn in ein Fettnäpfchen tappte, welches er allerdings erst viel später als solches erkennen sollte.

„Hi, ist hier noch frei?“, hatte er es ganz harmlos angefangen.

Toshis Blick hatte ihn nur beiläufig gestreift (dieser kleine Augenblick, als sich ihre Augen trafen, rief allerdings schon ein heftiges Kribbeln in Patricks Bauch hervor), und dann hatte er mit einem wortlosen Nicken sein Ja zu verstehen gegeben.

Patrick rutschte beim Hinsetzen vor Aufregung fast sein Teller vom Tablett, gerade rechtzeitig hatte er noch verhindern können, die Nudeln mit der Soße über den Tisch zu verteilen, nur die Gabel verriet laut klirrend seine Nervosität, als sie erst auf die Tischplatte und von dort auf den Boden fiel. Mit hochrotem Kopf bückte sich Patrick, um sie aufzuheben, und wischte sie an seinem Hosenbein ab, was von Toshio mit einem Hochziehen der Augenbraue schweigend quittiert wurde.

Oh je, wie dumm, dachte Patrick, gleich so einen trotteligen ersten Eindruck zu machen! Da konnte nur eine beherzte Offensive helfen.

„Bist du neu in der Stadt?“ fragte er das erste, was ihm einfiel. Und was, zugegebenermaßen, nicht besonders originell war.

„Nein. Du?“ war die knappe Antwort.

„Nein. Ich bin hier schon in den Kindergarten gegangen.“ Patrick kicherte verlegen und schlug sich gleichzeitig innerlich gegen die Stirn, dass er sich so albern benahm. Aber es ging nicht anders, die Anspannung musste einfach irgendwo hin, und dämliches Verhalten war ein beliebter Weg, den sie einzuschlagen pflegte.

Toshio blieb dummerweise total ernst. Er war hauptsächlich mit Essen beschäftigt.

Also musste Patrick einen weiteren Vorstoß wagen, und was war besser geeignet, um näheren Kontakt herzustellen, als ein unverfängliches Coming Out aufgrund der Diskothek, in der man gewesen war?

„Ich habe dich neulich tanzen sehen, in der Disko“, platzte Patrick also heraus, nicht ahnend, dass er damit das genaue Gegenteil von Nähe erzielen würde.

„Schön für dich. Ich muss los.“ Die Stuhlbeine quietschten über die Steinfliesen, als Toshio aufstand. Dabei hatte er noch gar nicht aufgegessen!

Auch Patrick erhob sich, so hastig, dass sein Stuhl umfiel. Er hatte es völlig vermasselt, und was hatte er sich überhaupt eingebildet, dass so ein gut aussehender Mann sich ausgerechnet mit ihm würde abgeben wollen?

„Na, gut, dann … vielleicht sehen wir uns ja demnächst mal wieder in der Sau“, stammelte er mit glühenden Ohren.

„In der Sau?“ Die Hände, die gerade nach dem Teller und der daneben liegenden Serviette greifen wollten, hielten mitten in der Bewegung inne.

„Ja, in der Schwulen Sau. Habe ich doch gerade gesagt, dass ich dich da gesehen habe.“

„Ach so“, sagte Toshio, und Patrick hatte in dem Moment noch nicht verstanden, warum er so erleichtert klang. Damals hatte er ja noch nichts von Toshios Nebenjob im Spotlight gewusst, und dass er es tunlichst vermied, Schnittstellen zwischen Uni und Nachtclub entstehen zu lassen.

„Ich fand toll, wie du getanzt hast“, konnte sich Patrick nicht verkneifen zu gestehen.

„Danke.“ Toshio hatte jetzt seinen halbgeleerten Teller in der Hand, schien es aber mit einem Mal nicht mehr ganz so eilig zu haben. Zum ersten Mal sah er Patrick richtig an.

Und dem wurde heiß und kalt unter der unverhofften Aufmerksamkeit. Leider fiel ihm gerade jetzt nichts mehr ein, was er sagen könnte. Sein Kopf war völlig leer.

„Na dann ... gehe ich jetzt“, sagte Toshio.

Und bevor Patricks Sprachzentrum wieder mit ausreichend Blutzufuhr versorgt war, hatte Toshi sich schon umgewandt. Er konnte ihm nur noch hinterher schauen, wie er seinen Teller auf den Geschirrwagen stellte, und dann war er auch schon hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
 

„Unser erstes Gespräch war sehr kurz“, fasste er das Erlebnis für die anderen zusammen. „Und ich muss gestehen, ich war so verknallt, dass ich in dieser Mittagspause nicht einen Bissen gegessen habe.

Bei Toshi hat das allerdings noch etwas länger gedauert. Die nächsten Male, wenn wir uns begegnet sind – rein zufällig natürlich – war er nicht unfreundlich zu mir, aber höflich distanziert. Das war nicht gerade ermutigend. Aber ich konnte einfach nicht von ihm lassen … Er war meistens allein, und ich hatte ja auch nicht wirklich das Gefühl, dass er mich nicht mochte ... Am liebsten traf ich ihn – rein zufällig – in der Mensa, wenn das Essen ihn zwang, nicht gleich wieder weg zu laufen.“ Patrick grinste bei der Erinnerung, wie viel Zeit er investiert hatte, nur um seinen Schwarm für wenige Minuten am Tag zu treffen. „Es hat eine Weile gedauert, bis sich bei meinem Anblick zum ersten Mal ein echtes Lächeln in seinem Gesicht zeigte. Aber da wusste ich, dass sich meine Beharrlichkeit ausgezahlt hatte! Ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich ich war, als wir uns das erste Mal außerhalb der Uni verabredeten. Und als er mich zum ersten Mal geküsst hat ...“ Seine Stimme schwankte, und seine Stimmung kippte zurück in die Traurigkeit. „Ich wollte immer nur, dass er glücklich ist. Und das will ich immer noch. Wenn ich nur glauben könnte, dass es ihm gut geht mit diesem Remarque, dann ...“

Er ließ offen, was dann wäre, und schwieg. Nami legte das Photo zurück neben die Kerze.

„Remarque heißt der Typ?“ vergewisserte sich Elin mit belegter Stimme, ob sie sich nicht verhört hatte. „Etwa der Remarque von der Pharmaindustrie?“

„Ja, genau. Remarque-Pharma. Die mit der Werbung: Pharmacie pour la vie. Kennst du ihn?“

„Nein, persönlich nicht.“ Elin war ganz blass geworden. Jetzt sah man deutlich die Sommersprossen auf ihren Wangen. „Aber ich habe von ihm gehört und zwar nichts Gutes. Eine Freundin von mir, sie war gegen Tierversuche aktiv, hatte mit ihrer Gruppe ein paar Konzerne besonders intensiv unter die Lupe genommen, und Remarque-Pharma gehörte dazu. Sie redete von fast nichts anderem mehr. Bald zehn Jahre ist das schon her. Und dann kam dieser merkwürdige Autounfall. Wenn es denn ein Unfall war“, schloss sie bitter.

„Oh, Gott“, stöhnte Patrick. „Das wird ja immer schlimmer. Meinst du, die Pharmaindustrie hatte damit zu tun?“

„Es gibt keine Beweise, dass es mehr war als ein Unfall“, sagte Oliver beschwichtigend. „Und diese Leute mögen in unseren Augen Verbrecher sein, aber sie müssen deswegen nicht von Grund auf „böse“ sein. Sie denken schließlich, dass sie mit ihren Forschungen einen Dienst an der Menschheit tun.“

„Die gehen über Leichen, im wahrsten Sinne des Wortes“, warf Elin ein.

„Das machen die meisten unserer Mitmenschen, wenn sie ihr Mittagessen zubereiten“, entgegnete Oliver.

„Ich habe über Remarque gegoogelt“, berichtete Patrick. „Der Konzern ist seit vier Generationen im Familienbesitz. Früher haben die ordentlich mitgemischt bei den Menschenversuchen in Auschwitz im Dritten Reich. Nach Ende des Krieges haben sie einfach wieder mit Tieren weitergemacht, ohne je für ihre Taten belangt zu werden. Natürlich steht das so nicht in den Texten zu der Firma, aber wenn man ein bisschen herum sucht, findet man entsprechende Artikel. Das ist widerlich.“

„Entschuldigung, aber vielleicht ist besser, wenn wir bleiben bei Toshio-san in Gedanken vor Zeremonie“, sagte Nami und fiel damit Elin ins Wort, die schon zu einer Erwiderung angesetzt hatte.

„Ja, genau“, stimmte Oliver ihr zu. „Nami hat recht. Es geht uns jetzt schließlich um Toshi und nicht um Remarque – und auch nicht um Hanna“, fügte er sanft hinzu, nahm Elins Hand und drückte sie kurz.

Elin öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber dann nickte sie nur.

„Am besten fangen wir einfach an. Soll ich mit dem Abräuchern beginnen?“ fragte er.

Wieder nickte Elin stumm, und er nahm gleich drei Räucherstäbchen aus der Packung, zündete sie an der Kerze an und kniete sich neben Patrick. Langsam bewegte er die Räucherstäbchen vor seinem Bruder hin und her, von oben nach unten und wieder hoch, dann über den Kopf und hinter seinem Rücken hinunter.

„Der Rauch reinigt dich und hilft dir, offen für Neues zu sein“, erklärte er kurz.

Das Gleiche wiederholte er bei Nami und Elin, danach räucherte Elin ihn ab und zum Schluss noch ihre Trommel, wobei ihre Lippen lautlose Worte formten. Sie behielt die Trommel in der Hand und überließ die Räucherstäbchen der Erde einer Grünpflanze, die auf dem Fensterbrett stand. Das Fenster war offen, sodass die Stäbchen weiter einen angenehmen Duft im Zimmer verbreiteten, ohne dass es zu stickig wurde.

Jetzt schlug sie die Trommel in einem Rhythmus, der an das Klopfen des Herzschlages erinnerte, und ging mehrmals bedächtig im Kreis hinter den Sitzenden entlang, während sie einen melodiösen, aber unverständlichen Singsang anstimmte. Das war ihre ganz persönliche Art, die Elementarkräfte einzuladen, ihr Krafttier zu rufen und gemeinsam mit ihm einen Schutzkreis zu ziehen.

Schließlich setzte sie sich wieder an ihren Platz, und ohne mit Trommeln aufzuhören – sie änderte nur den Rhythmus, wurde langsamer und leiser – sagte sie: „Bevor wir beginnen, erkläre ich euch, was ihr zu tun und was ihr zu beachten habt. Von Oliver weiß ich, dass er Erfahrung hat, von Patrick, dass er keine hat. Wie ist es mit dir, Nami?“

„Ich kenne meditieren. Und als Kind ich war in Trommelgruppe, taiko. Aber dies ich kenne nicht.“

„Das macht überhaupt nichts. Ich werde euch zu Beginn ein wenig anleiten. Wichtig ist, dass ihr euch auf das einlasst, was sich euch an inneren Bildern zeigt. Ich werde einen schnellen Rhythmus schlagen“, sie machte vor, was sie meinte, „und dann nach ungefähr fünfzehn bis zwanzig Minuten unterbreche ich und schlage sieben einzelne Schläge. Das ist das Rückrufsignal, danach habt ihr noch kurz Zeit, Euch zu verabschieden und den Rückweg anzutreten. Geht bitte ganz bewusst den selben Weg zurück, den ihr am Anfang genommen habt, bis ihr wieder am Ausgangspunkt der Reise angekommen seid.

Wir reisen in die Anderswelt durch eine Art Tunnel, der in die Erde führt. Der Eingang kann ein Fuchsbau sein, ein Loch zwischen den Wurzeln eines Baumes oder ein Felsspalt. Oder etwas anderes. Stellt euch das vor, was euch am meisten anspricht oder nehmt das, was sich als erstes als Bild in eurem Kopf zeigt. Versucht, es euch so genau und detailreich wie möglich vorzustellen und seht euch gründlich um: Wie ist der Boden, erdig, steinig, sandig; sind da Wurzeln oder kleine Tiere, vielleicht ist da ein Geruch, den ihr wahrnehmt.

Euer Krafttier wird euch erwarten, entweder am Anfang oder am Ende des Tunnels. Begrüßt es, stellt euch vor und nennt ihm den Grund unserer Reise. Es wird euch begleiten, führen und beschützen.

Sollte sich kein Tier zeigen, dann könnt ihr es rufen und bitten, zu erscheinen. Wenn ihr dann immer noch keins wahrnehmen könnt, ist das nicht schlimm. Cloud, mein Krafttier, wird euch dann abholen. Sie wird da sein, auch wenn ihr sie vielleicht nicht seht, stellt euch dann einfach einen weißen Drachen vor.“

„Woher soll ich denn wissen, was zu der Anderswelt gehört und was ich mir nur einbilde, wenn ich mir alles selber vorstelle?“ fragte Patrick verwirrt.

„Das merkst du dann schon“, beruhigte Elin zuversichtlich. „Plötzlich passieren Sachen, auf die du nie gekommen wärst oder die völlig anders ablaufen, als du es erwartest. Wichtig ist nur, dass du am Anfang deine innere Vorstellungskraft aktivierst, denn über deine inneren Bilder nehmen die Geistwesen Kontakt zu dir auf.“

„Und woher weiß ich, ob das Tier, das ich sehe - wenn ich denn eins sehe - wirklich mein Krafttier ist, und was ist ein Krafttier überhaupt?“

„Krafttiere sind spirituelle Führer. Jeder hat eins. Sie lehren dich und lernen gleichzeitig von dir. Wenn sich dir ein Tier zeigt, und du bist nicht sicher, ob es dein Krafttier ist, frag es einfach. Du wirst eine ehrliche Antwort erhalten. Wenn es wieder verschwindet, war es nicht dein Krafttier. Sonst noch Fragen?“

„Nein, erst mal nicht“, seufzte Patrick und klang noch immer nicht sehr zuversichtlich, dass er bei diesem Ritual irgendwem irgendwie hilfreich sein würde.

Elin lächelte ihm aufmunternd zu. „Es klingt schwieriger als es ist. Im Übrigen sind wir ja nicht wirklich weg, und der schamanische Trance-Zustand bedeutet auch nicht, dass wir völlig weg driften. Wenn ihr also zwischendurch unsicher werdet, Angst bekommt oder noch wichtige Fragen habt, dann fragt ruhig. So ...“ Sie begann, die Trommel lauter und schneller zu schlagen. „Ich erkundige mich jetzt als erstes, ob wir überhaupt auch ohne Toshios Einverständnis mit ihm und für ihn arbeiten dürfen.“

Sie schloss die Augen, und bevor sie noch den Ausgangsort einer jeder ihrer Andersweltreisen, einen hohen, breiten Felsen, imaginieren konnte, schwebte schon Cloud vor ihr. Der weiße Drachen mit dem schillernden, schlanken Leib schien bereits ungeduldig auf sie gewartet zu haben, ihre grazilen Barten bebten leicht, und sie hatte ihre pergamentdünnen und fast durchscheinenden Flügel weit ausgebreitet. Ihre ganze Körperhaltung drückte aus: „Na, endlich! Los jetzt!“

Sie ließ Elin keine Zeit für eine Begrüßung oder Erklärung, sondern drehte sofort ab und erhob sich in einer eleganten Bewegung voller Leichtigkeit in die Lüfte.

„He! Warte!“ Elin zögerte nicht, ihrer langjährigen Begleiterin zu folgen. Die physikalischen Gesetze der realen Welt existierten hier nicht, so dass Elin mühelos hinter dem Drachen herfliegen konnte. Cloud reduzierte ihre Geschwindigkeit gerade so weit, dass ihre menschliche Freundin aufholen konnte, dann ließ sie sich in einer schnellen Drehung nach unten gleiten, kam mit sanftem Schwung wieder hoch und platzierte Elin auf diese Weise rittlings auf ihrem Rücken. Sofort schmiegte sich Elin an den schuppigen Drachenkörper, und die hauchzarten Schwingen legten sich schützend um sie herum und ließen sie beide verschmelzen zu einem Wesen. Elin liebte es, mit ihrem Drachen eins zu werden; das geschah nicht oft und zeigte ihr die Dringlichkeit ihrer Aufgabe. Sie wusste nun ohne große Erklärungen, dass Toshio tatsächlich Hilfe brauchte, sie wusste, dass es eilte, und sie wusste, dass es keiner weiteren Erlaubnis dafür bedurfte. Cloud würde wissen, wenn es falsch wäre.

Gleichzeitig wusste Elin aber auch, dass Oliver, Nami und Patrick auf eine Antwort von ihr warteten, vorher würden sie ihr nicht in die Anderswelt folgen. Ungeduldig stoppte Cloud ihren Flug und wartete reglos, als hätte jemand bei einem Film auf Pause gedrückt, und Elin öffnete ihre Augen, blickte kurz in die Runde und sagte knapp: „Es ist in Ordnung. Ich habe jetzt keine Zeit, aber ich habe es euch ja schon erklärt. Sucht euch euren Eingang, ruft euer Krafttier, der Rest geht von allein. Es ist ganz einfach.“

Damit ließ sie sie allein, schloss wieder die Augen und sauste mit Cloud zusammen weiter, dem Licht entgegen, das in der Höhe mild leuchtete, und von dem sie wusste, dass es ihr Ziel war.

Die Zeit drängte.
 

Patrick blinzelte verwirrt. Hatte Elin nicht gesagt, dass sie sie zu Anfang anleiten wollte? Das hatte er sich allerdings anders vorgestellt. Elins Getrommel hatte ihn in einen angenehmen Dämmerzustand versetzt, jetzt allerdings war er wieder hellwach und wusste nicht recht, was er tun sollte. Die anderen sahen hochkonzentriert aus und saßen mit geschlossenen Augen ganz still. Er jedoch begann seine Knie zu spüren, die langsam gegen die ungewohnte Haltung aufbegehrten. Möglichst lautlos versuchte er, seinen Sitz ein wenig zu verändern, doch dadurch beschwerte sich nur sein Knöchel, auf dem jetzt das Körpergewicht zu liegen kam. Wie sollte er sich denn dabei bitte schön irgendeinen Eingang vorstellen können? Ein Ächzen unterdrückend setzte er sich jetzt ganz um, so dass seine Beine nach vorne ausgestreckt lagen. Aber das war auch unbequem, das merkte er sofort. Also zog er sie an, schlang die Arme um die Unterschenkel und legte das Kinn auf die Knie. So konnte es gehen. Ein Rundblick zeigte ihm, dass sich die anderen anscheinend durch sein Herumgehampel nicht hatten stören lassen, und so versuchte auch er sich wieder auf die Aufgabe zu besinnen: einen Eingang finden, ein Krafttier rufen. Doch er sah nur schwarz mit rötlichen Sprenkeln, als er die Lider senkte. Elin hatte zwar gesagt, er solle sich am Anfang einfach etwas vorstellen, und normalerweise hatte er damit auch gar kein Problem, nur verstand er noch immer nicht, wie das Toshi helfen sollte, wenn er sich jetzt irgendetwas ausdachte. Er begriff nicht, wo der Unterschied zwischen Einbildung und Realität sein sollte – und war die Anderswelt überhaupt real?

Er spürte, wie er schon wieder in einen durch das gleichmäßige Trommeln herbeigeführten Dämmerzustand sank. Einschlafen wäre auch nicht schlecht, aber Toshi brauchte ihn, und darum riss er sich zusammen und zwang sich, ein Loch in der Erde zu visualisieren. Sah aus wie der Eingang zu einem Kaninchenbau. Wie sollte er da denn rein passen? Ratlos rief er nach seinem Krafttier, aber das einzige Tier, das in seiner Vorstellung erschien, war ein winziger Marienkäfer. Das konnte wohl kaum ein Krafttier sein.

Frustriert gab er auf und lauschte nun doch nur noch der Trommel, bis er tatsächlich fast einschlief. Er lief durch einen Wald. Stachelige Ranken, Wurzeln, die aus der Erde ragten, und dichtes Unterholz erschwerten das Vorwärtskommen. Er wusste, dass er im Kreis gegangen war, und er wusste, dass Toshi hier war, irgendwo in diesem Wald, und dass er genauso herum irrte wie er selbst.

Vielleicht hatte er geschnarcht, weswegen Elin ihn leise ansprach, ohne das Trommeln zu unterbrechen: „Patrick, hast du den Eingang gefunden?“

Wieso fragte sie ihn und nicht Nami? Er sah sie an und zuckte die Achseln. „Nein. Wenn ich mir einen Eingang vorstellen will, sehe ich nur so ein kleines Kaninchenloch, da passe ich nicht durch.“

„Doch, das geht“, widersprach sie lächelnd. „Du kannst dich einfach klein machen. Ist dir dein Krafttier begegnet?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Da war nur ein Marienkäfer. Ich hab doch gesagt, dass ich das nicht kann.“

Nun war es Elin, die den Kopf schüttelte. „Ich denke schon, dass du das kannst. Du kannst es nur nicht glauben, dass du es kannst.“

„Nein, ich kann das eben einfach nicht“, maulte Patrick.

„Kann nicht gibt`s nicht“, sagte Elin bestimmt, und das Lächeln verschwand aus ihren Zügen. Sie rutschte näher an Patrick heran und senkte die Stimme noch weiter zu einem eindringlichen Flüstern, um die beiden anderen Reisenden so wenig wie möglich zu stören. Keinen Moment geriet ihr Trommeln aus dem Rhythmus. „Ich habe Toshio gerade gesagt, dass er erwartet wird, und dich will er mit Sicherheit am ehesten sehen, und ich glaube dir, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckt und dass es wirklich dringend ist, dass wir etwas tun für ihn, gerade du, wo du ihn so sehr liebst und ihm das Liebste bist, also gib dir gefälligst Mühe!“ Sanfter fügte sie hinzu: „Ich helfe dir auch.“

„Pfh“, machte Patrick entnervt, wagte aber keinen Widerspruch mehr.

„Gut. Dann schließ jetzt die Augen. Du stehst wieder vor deinem Kaninchenbau, doch diesmal gehst du einfach hindurch.“ Sie sprach langsam und ließ genügend Pausen zwischen den Sätzen, um Patricks Vorstellungskraft Raum zu geben. „Der Eingang und du, ihr habt genau die passende Größe, dass du bequem hindurch passt. Am anderen Ende des Tunnels erwartet dich Cloud. Siehst du den weißen Drachen?“

„Ja. Naja – zumindest kann ich mir einen vorstellen. Ich weiß ja nicht, wie sie aussieht.“

„Egal. Energie kann viele Formen annehmen. Begrüße sie, stell dich ihr vor und bitte sie, dir zu zeigen, wo oder wie du Toshio helfen kannst.“

Sie überließ die beiden sich selbst und suchte sich wieder eine gemütlichere Sitzposition. Nami und Oliver hatten sich von ihrem Gespräch mit Patrick nicht stören lassen und saßen unbeweglich mit ruhigen Gesichtern. Elins Blick verweilte einen langen Moment auf der kerzengerade auf den Füßen sitzenden Gestalt der schlanken Japanerin. Kurz gestattete sie sich die Frage, wie deren Gesicht wohl aussehen mochte, wenn sie aus tiefsten Herzen entspannt lachen würde. Und wie sich ihre Haut wohl anfühlte, wenn Elins Fingerspitzen leicht wie eine Vogelfeder über sie strichen. Sie bemerkte eine kleine steile Falte zwischen den schmalen Augenbrauen, die von angestrengter Konzentration zeugte, und war gespannt, was Nami wohl gleich von ihrer Reise berichten würde.

Soweit Elin das beurteilen konnte, musste Toshio ernsthafte Probleme haben. Oder warum sonst war das Thema ihrer Reise gewesen, Toshios Seele davon abzuhalten, in das Tor aus Licht zu gehen? Auf Patricks Bauchgefühl war allem Anschein nach Verlass.

„Ein Drache geleitet mich ins Jenseits“, hatte Toshio gedacht, und war sich damit vollkommen bewusst, dass er sterben sollte. Vielleicht sogar sterben wollte, denn der Gedanke gefiel ihm. Schlecht hatte er ausgesehen, bleich, mit schwarzen Ringen unter den Augen, verzweifelt, krank, verwelkt. Dem Tode nah. Und dennoch hatte er sich bereitwillig von ihr wegführen lassen vom Friede verheißenden Licht. Toshio war stark, war er immer gewesen.

Elin hatte gelacht, um der Situation etwas Leichtigkeit zu schenken, außerdem war Toshio nie jemand gewesen, der bemitleidet werden wollte. Aber innerlich war sie erschrocken.

Und sie hatte ein Versprechen gegeben: „Das mache ich gern, Toshio. Aber jetzt ist es noch nicht so weit.“ Sie wusste das, denn die beiden Lichtgestalten vor dem Tor hatten die Speere gekreuzt gehalten. Sie hätten Toshio hindurch gelassen, wenn er darum gebeten hätte, aber sie erwarteten ihn nicht.

Oder war es Cloud gewesen, die das wusste, und die solch ein weitreichendes Versprechen abgab? Wie auch immer, Elin war von nun an mit Toshio verbunden, untrennbar, bis zu jenem Tag, an dem sie das Versprechen würde einlösen können.

Sie hoffte zumindest, dass sie dazu in der Lage sein würde, später dann, wenn es so weit war.

Denn irgendetwas verhinderte, dass sie den Kontakt zu Toshio halten konnte, etwas Dunkles, Machtvolles schob sich zwischen sie, während sie von der Oberwelt hinunter kamen. Unaufhaltsam, zunächst fast unmerklich wurden sie getrennt, und als sie die Unterwelt erreichten, hatte sie Toshio verloren. Auch das dunkle, unheilvolle Gefühl war fort, einzig eine lange, tiefschwarze Feder segelte vor ihren Augen sanft schaukelnd durch die Luft und senkte sich langsam zu Boden.

Sie spürte, dass ihre Aufgabe hier zunächst getan war, und kehrte zu den anderen zurück. Jetzt konnte sie Toshio nur noch helfen, indem sie Patrick in seiner Hilfe unterstützte.
 

Sie gab ihm noch zehn Minuten, dann schlug sie das Rückrufsignal, sieben einzelne laute Schläge mit einer deutlichen Pause dazwischen. Danach trommelte sie einen schnellen, leichten Rhythmus.

„Es ist Zeit, zurück zu kommen“, gab sie leise ihre Anweisung dazu. „Kommt zum Abschluss, bedankt euch, und bittet eurer Krafttier, euch wieder zu dem Tunnel zu bringen. Kommt ganz bewusst den ganzen Weg zurück. Dann verabschiedet euch, und wenn ihr so weit seit, öffnet die Augen.“

Nacheinander kamen sie zurück.

Elin schenkte allen frischen Tee nach und war sehr neugierig, was die anderen zu erzählen hatten.

Oliver machte den Anfang.

Sein Krafttier, ein zierlicher Baumdrache, der Oreon hieß, hatte ihn zunächst in die Oberwelt geführt, wo er einen kupfernen Kessel mit einer matt leuchtenden, gelblichen Flüssigkeit und kleine rot glitzernde Edelsteine überreicht bekam. Danach ging es wieder hinunter zu dem Ort, an dem er für Toshio hilfreich sein durfte. Sie kamen an eine Lichtung in einem grünen, dichtbewachsenen Wald. Er hörte das tiefe Kollern von Raben, die in den Bäumen sitzen mussten, sich jedoch nicht zeigten. Den Geräuschen nach zu urteilen, musste es ein ganzer Schwarm sein.

Auf der Wiese lag ein großes Tier mit bräunlich rotem Fell, an dessen mächtigem Geweih Oliver beim Näherkommen einen Hirsch erkannte. Zunächst dachte er, der Hirsch sei tot, so reglos lag er da. Die Atmung war so flach, dass man sie kaum erkennen konnte, die Augen blickten trüb, der Bauch war eingefallen, und Knochen zeichneten sich viel zu deutlich unter dem stumpfen Fell ab. Als er Oliver bemerkte, gab er ein schwaches verzweifeltes Schnaufen von sich und versuchte vergebens, den schmalen Kopf mit dem schweren Geweih zu heben. Der Hirsch war nicht tot, aber er lag im Sterben.

Und ohne groß nachzudenken, wusste Oliver, dass die Flüssigkeit in seinem Kessel ihn retten würde.

Doch er kam nicht an das totgeweihte Tier heran. Als er sich ihm näherte, stürzten die schwarzen großen Vögel zwischen den Bäumen hervor und attackierten ihn mit ihren kräftigen Schnäbeln und scharfen Krallen in einer Heftigkeit, dass sich Oliver nur schwer seiner Haut erwehren konnte. Sie ließen nur von ihm ab, sobald er sich wieder zurück zog.

Er musste aber zu dem Hirschen, so viel war sicher. Also griff er sich die einzige Waffe, die zur Hand war, einen dicken Ast, der am Boden lag, und warf sich wild schreiend und um sich schlagend in den Kampf, der härter und erbitterter geführt wurde, als jede Auseinandersetzung, die er je in der Anderswelt zu überstehen gehabt hatte. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, und ohne das beherzte Eingreifen von Oreon wäre es ihm möglicherweise gar nicht gelungen, den Schwarm zu bezwingen. Doch schließlich zogen sich die Vögel in die Tiefen des Waldes zurück. Nur ein besonders großer Rabe blieb in dem Wipfel einer Kiefer sitzen und beobachtete mit klugen, schwarz glänzenden Augen, wie Oliver neben dem Hirsch in die Knie ging und ihm behutsam den heilenden Trank aus dem Kupferkessel einflößte. Doch er war schon zu schwach, um zu schlucken.

Voller Angst, das stolze Tier könne ihm nun doch noch unter den Händen wegsterben, bat Oliver eindringlich die Wesenheiten der Wiese und des Waldes um Hilfe. Und tatsächlich traten winzige, elfenhafte Mädchen und Frauen aus den Blumen hervor und bildeten einen engen Kreis um den Hirsch. Mit merkwürdigen, wellenartigen Bewegungen ihrer Arme spannen sie eine Lichtkugel um den Sterbenden, der schließlich tief einzuatmen begann und sich sichtbar erholte. Jetzt konnte Oliver ihm von dem Trank geben. Sie tanzten solange, bis das Tier sich endlich langsam aufzurichten begann. Es stand noch unsicher, aber senkte das Haupt, um den Kessel leer zu trinken. Danach sah es schon wieder gesund und kräftig aus.

Und dann kam auch schon Elins Rückrufsignal.

Oliver bedankte sich bei den Elfen und schenkte ihnen die roten Kristalle. Dann warf er noch einen unsicheren Blick zu dem Raben hinauf und hatte ein unbestimmtes, ungutes Gefühl dabei, ihn mit dem Hirsch jetzt wieder allein zu lassen. Die Angelegenheit schien noch nicht bereinigt. Der jedoch stupste ihn an, als wolle er sagen, dass es gut sei. Oliver streichelte zum Abschied über das glatte Fell am Hals des Tieres. „Pass gut auf dich auf!“

Dann ließ er sich von Oreon zurück bringen.

„Ich weiß nicht, was dieser Hirsch mit Toshio zu tun hat. Ich hoffe, ich bin nicht am Thema vorbei gereist“, beendete er seinen Bericht. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er ja einfach mal hätte fragen können. Aber dafür war es nun zu spät.

„Glaube ich nicht“, sagte Elin nachdenklich. „Das Thema war zumindest das Gleiche wie bei mir. Ganz existenziell.“ Und eine schwarze Feder hatte sie auch gesehen. Gut möglich, dass es eine Rabenfeder gewesen war. Merkwürdig.

Sie wandte sich an Nami. „Wie war es bei dir? Konntest du dich darauf einlassen?“

Nami nickte. Ihre schlanken Finger umfassten die Teetasse, als wolle sie sich wärmen trotz der sommerlichen Temperatur. „Ich rief Krafttier, und sofort kam Drache.“

„Das war bestimmt Cloud. War es ein weißer Drache?“ fragte Elin.

„Nein, ich nicht glaube. Ich glaube, war Drache von mein Großmutter, Drache aus Fluss, wo sie hat gelebt. Es sah aus, wie sie hat erzählt.“

„Ein Wasserdrache? Du hast einen Drachen als Krafttier? In der dritten Generation?“ Elin gab sich keine Mühe, ihre Begeisterung zu verbergen. „Dann ist es wirklich kein Zufall, dass wir uns hier treffen!“

Nami zuckte leicht die Schultern und setzte ein entschuldigend wirkendes Lächeln auf. „Ich nicht weiß. Vielleicht mein Großmutter schickt mir zu Hilfe. In Japan, wir glauben, dass Seelen von Toten leben weiter. Jedenfalls Drache kam und bringt mich in Anderwelt. It is okay for you, if I tell it in English?“ Nachdem niemand etwas dagegen hatte, fuhr sie wesentlich flüssiger auf Englisch fort. „Ich kam zu einer Ebene, durch die sich ein sehr breiter Fluss schlängelte, der ins Meer mündete. Dunkle Gewitterwolken standen tief am Himmel, und Blitze zuckten durch die Luft. Es war sehr stürmisch, und der Wind riss an meinen Haaren, und Regen peitschte mir entgegen. Alles in allem wirkte die Szenerie sehr bedrohlich. Das Meer war unruhig und schwarz, und ich sah eine Art Boot bei der Flussmündung und ging darauf zu. Es sah aus wie eine Mischung aus einem Floß und einer Sänfte, aber ich konnte nicht in das Innere sehen. Ein junger Mann mühte sich vergebens damit ab, das Floß ans Ufer zu ziehen.

„Ich helfe dir“, sagte ich und fasste mit an. „Bist du Toshio-san?“

„Ich schaffe es nicht allein“, sagte er nur, aber ich war sicher, dass er es war. Er sah aus wie auf dem Foto.

Das Floß war schwer und ließ sich schlecht anfassen, es war unmöglich, es an Land zu bekommen, im Gegenteil: Der Sog der Strömung sorgte dafür, dass wir es nur mühsam an Ort und Stelle halten konnten, immer wieder drohten die Wellen, es fortzureißen. Lange würde das nicht mehr gut gehen.

Bei jedem Blitz zuckte Toshio zusammen und duckte sich ängstlich. Es war aber auch beängstigend, wie das Gewitter um uns herum tobte.

„Wir müssen hier weg“, sagte ich.

„Ich kann nicht weg“, antwortete er. „Ich brauche Hilfe.“

„Ich helfe dir“, wiederholte ich.

Jetzt, wo ich es erzähle, fällt mir erst auf, dass wir gar nicht Japanisch gesprochen haben, sondern Englisch.“

„Das passt zu Toshi“, warf Patrick ein. „Toshi mag so ziemlich gar nichts, was aus Japan kommt.“ Sie tauschten einen wissenden Blick miteinander. Burakumin.

Was allerdings gar nicht zu Toshi passte, war, dass er um Hilfe bat.

Warum hast du das nur nicht früher getan, dachte Patrick wehmütig, aber dann lauschte er weiter auf Namis Erzählung.

Sie verstand, dass das Floß Toshios „Seelengefährt“ war. Wenn es davon trieb, würde er seine Seele verlieren, und er war kurz davor, es nicht mehr halten zu können. „Ich schaffe es nicht allein“, hatte er immer wieder gesagt, und Namis Stimme stockte ein paar Mal, so sehr war sie wieder von seiner Verzweiflung ergriffen, als sie die Situation erneut durchlebte.

Da sie ratlos gewesen war, bat sie den Drachen um Hilfe. Und auf diese mysteriöse, wortlose Art, wie es sie nur im Traum oder in Trance gab, wusste sie plötzlich, was zu tun war. Sie schwang sich auf den Rücken des Drachen, um gemeinsam etwas zu suchen, womit sie das Floß festbinden konnten.

„Halt nur noch kurz durch!“ rief sie Toshio Mut zu. „Wir sind gleich wieder da.“

Doch wo sollte sie in dieser kargen Landschaft ein Seil finden – und selbst wenn sie eins ausfindig machen würde, wo sollte sie dann das Floß befestigen?

Doch der Drache schlug einen anderen Weg ein und tauchte mit ihr in das tosende Meer hinab. Sie glitten durch das Wasser, während über ihnen die Blitze zuckten, und schließlich gelangten sie an ein altes moderndes Schiffswrack. Schlingpflanzen wucherten aus dem löchrigen Holz hervor, und kleine Fische huschten in das Innere des Schiffsbauches, als sie sich näherten. Auf den ersten Blick entdeckte Nami nichts Brauchbares, doch dann bemerkte sie eine eiserne, algenbewachsene Kette. Fast so gut wie ein Seil, entschied sie und griff danach. Aus dem morschen Holz konnte sie das eine Ende der Kette mit Leichtigkeit lösen, das andere Ende jedoch hing im Schlick des Meeresgrundes überraschend fest. Sie zog und zerrte umsonst und begann schließlich im weichen Boden zu graben, um die Kette zu befreien. Was sie zu Tage förderte, war ein großer Anker, hätte sie ja auch gleich drauf kommen können. Und gleichzeitig dachte sie, wie genial das war – so würde das Floß nicht wegtreiben können, und sie brauchten auch keine Halterung am Ufer.

Rasch kehrten sie mit ihrem Fund zu Toshio zurück. Und fanden ihn als zusammengekauertes Bündel am Boden hocken. Das Floß trieb auf das Meer hinaus.

Wieder verständigte sie sich wortlos mit dem Drachen, der sich sogleich davon machte, das Floß zurück zu holen. Nami schlang ihre Arme um Toshio und wiegte ihn sanft. Da sie keine Worte fand, sang sie ein altes japanisches Wiegenlied dabei. Sie hatte das Gefühl, ein zweiter, blauer Drache war bei ihnen, aber sie war nicht sicher.

Da kam das vereinbarte Zeichen zur Rückkehr. Sie befestigte den Anker an dem Floß, dass nun nicht mehr abtreiben konnte.

„Sag oka-san, dass ich sie vermisse“, bat er zum Abschied.

„Alles wird gut, Toshio. Alles wird gut“, versprach sie aus einem inneren Gefühl heraus, ohne zu wissen, ob sie recht behalten sollte.

Sie verließ ihn, um zurück zu kehren.
 

Niemand sprach, nachdem Nami geendet hatte.

In die Stille hinein sagte Patrick: „Ich hab nicht so viel zu erzählen. Und bei mir sind auch keine tollen Drachen aufgetaucht. Nur ein Marienkäfer.“ Seine Frustration war ihm deutlich anzumerken.

„Sag das nicht so“, versuchte Oliver ihn aufzumuntern. „Nur weil ein Marienkäfer klein ist, ist er nicht weniger wert. Marienkäfer ist ein uraltes Glückssymbol. Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich dir einer zeigt. Das bedeutet, dass du auf dem richtigen Weg bist und auf eine glückliche Wendung hoffen kannst.“

„Vielleicht ist er auch gar nicht dein Krafttier“, tröstete Elin, die Patricks Gesichtsausdruck entnahm, dass ihn Olivers Worte nicht überzeugen konnten. Das musste ja auch ein blödes Gefühl sein, wenn alle von Drachen oder stolzen Hirschen erzählten und man selbst lediglich ein kleines Insekt vorzuweisen hatte. „Es gibt auch sogenannte Helfertiere, die uns nur für eine gewisse Zeit oder eine bestimmte Aufgabe zur Seite stehen. Hast du ihn denn gefragt, ob er dein Krafttier ist?“

„Nein“, gab Patrick zu. „Ich dachte, dafür ist er eh zu klein ... Jedenfalls hab ich mir dann vorgestellt, mit deinem Drachen durch diesen Kaninchentunnel zu kriechen.“ Er verzog kurz das Gesicht: Kaninchen, noch so ein unrühmliches Tier. „Zum aufrechten Gang hat da meine Fantasie einfach nicht ausgereicht, und dann kam ich in so einen Trödelladen oder Antiquitätengeschäft oder so, jedenfalls war der Raum voll gestellt mit so ollem Kram. Da war eine alte Frau, die könnte Japanerin gewesen sein, aber ich weiß nicht genau, denn ich glaube, sie sprach Deutsch. Eigentlich sprach sie gar nicht richtig, ich wusste nur irgendwie, was sie sagte ... äh, oder so ähnlich. Jedenfalls sollte ich mir in ihrem Laden etwas für Toshio aussuchen. Da gab es so viel Krimskrams, Möbel, Porzellan, alte Bilder und so halt. Ich hatte keine Ahnung, was davon Toshi gebrauchen könnte. Ich hab dann einen alten, staubigen Kompass genommen, weiß nicht, warum. Oder ... na ja, vorhin hatte ich so eine Art Traum gehabt, und da war dieses Gefühl, Toshi hätte sich verirrt und läuft im Kreis ... Ich dachte ... na ja, so ein Kompass kann einem ja helfen, sich zu orientieren. Jedenfalls hab ich ihn also ausgesucht, vor dem Laden war dann allerdings nichts mehr, nur“, er korrigierte sich rasch, „außer diesem Marienkäfer schon wieder. Und dann hat Elin schon zurück gerufen, und ich hatte keine Ahnung, wie der Kompass denn nun zu Toshi kommen sollte. Das hat dann irgendwie der Marienkäfer gemacht …? Macht das Sinn?“

Elin nickte ermutigend. „Vielleicht hilft der Kompass Toshio, zu dir zurück zu finden. Oder wenigstens zu sich selbst zurück zu finden.“

„Das wäre schön“, seufzte Patrick nicht sehr überzeugt.

„Jedenfalls glaube ich, dass es gut und richtig und wichtig war, dass wir diese Trommelreise gemacht haben“, sagte Elin, und sie war tatsächlich überzeugt davon. „Dein Gefühl, dass er in irgendeiner Art in Not ist, Patrick, hat sich jedenfalls in jeder Reise bestätigt – teilweise sogar auf sehr dramatische Weise.“ Sie berichtete in knappen Worten, was sie selbst mit Toshio in der Anderswelt erlebt hatte.

„Und was machen wir jetzt?“ fragte Patrick.

„Jetzt können wir nur abwarten“, antwortete Elin. „Vielleicht meldet er sich ja demnächst. Oder du rufst ihn noch mal an, und er ist jetzt bereit, mit dir zu sprechen.“

Patrick schüttelte den Kopf. „Er hat seine Handynummer schon abgemeldet. Können wir denn gar nichts sonst tun?“

„Wir haben schon eine ganze Menge heute getan“, entgegnete Elin gefühlvoll. Sie sah Patrick seine Enttäuschung an, und er tat ihr leid, auch wenn sie ihn vorher gewarnt hatte, dass spirituelle Hilfe anders aussehen würde, als er sich das wünschte. „Wir können höchstens noch weitere Reisen machen, um ihn weiter zu unterstützen, und um einige Themen, die aufgetaucht sind, noch tiefer zu beleuchten. Zum Beispiel, welche Verbindung der Hirsch zu ihm hat. Gut möglich, dass er sein Krafttier ist. Das Wohlbefinden des Einen hängt eng mit dem Zustand des anderen zusammen. Indem wir sein Krafttier heilen, helfen wir auch ihm unmittelbar.

Und dann ist da auch noch dieser geheimnisvolle Rabe. Wäre vielleicht auch ganz interessant, in dieser Richtung noch genauer zu schauen – um eventuell für Toshio destruktive Kräfte zu bekämpfen oder zu integrieren, ja nachdem, was das Thema ist.

Aber nicht mehr heute. Ich schlage vor, wir essen jetzt erst mal was. Ich hab einen Bärenhunger!“

„Sehr gute Idee“, stimmte Oliver zu. Und zu seinem Bruder gewandt sagte er: „Toshio schien bei uns allen bereit, Hilfe anzunehmen. Vielleicht manifestiert sich das in der realen Wirklichkeit und es kommt tatsächlich bald eine glückliche Wendung, wie dein Helfertier verheißt. Du könntest auch versuchen, über diesen Remarque in Kontakt zu kommen.“

Wieder schüttelte Patrick traurig den Kopf: „An den kommt man überhaupt nicht ran, leider.“

„Mal schauen, ob uns da vielleicht nicht doch was einfällt. Aber jetzt sollten wir wirklich etwas essen!“

„Du bleibst doch noch?“ fragte Elin in Namis Richtung.

Die blickte besorgt zur Uhr. „Besser, ich gehe jetzt. Ich muss noch finden Hotel für die Nacht. Das habe ich noch nicht.“

„Ach, darüber mach dir mal keine Gedanken, du kannst bestimmt auch hier schlafen – du gehörst ja jetzt irgendwie zu uns“, sagte Elin. Fragend sah sie Oliver an.

„Ich kann ja bei Patrick schlafen“, überlegte der. „Dann könnt ihr beiden Frauen hier das Gästezimmer haben. Wenn das für euch in Ordnung ist.“

„Meinetwegen“, sagte Patrick. Als Kinder hatten sie oft in einem Bett geschlafen und später auch noch einige Male, wenn das Haus voller Besuch gewesen war.

„Na gut, wenn macht nicht zu viel Umstände“, sagte Nami nach kurzem Überlegen.

„Wie schön“, strahlte Elin.

„Nur Koffer ist noch in Schließfach bei Bahnhof.“

„Das ist überhaupt kein Problem. Den holen wir sofort nach dem Essen“, sagte Elin fröhlich.

Und Patrick hatte das sichere Gefühl, wenn er Elin so ansah, wie sie Nami ansah, dass ihrem Vorschlag mehr zugrunde lag als pure Gastfreundschaft.

Und er sollte recht behalten.

Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
 


 

Hallo!
 

Ich weiß nicht, wie es euch geht,

aber ich habe an dieses Kapitel inzwischen keinerlei schriftstellerische Ansprüche mehr,

ich bin einfach nur froh, dass es endlich zu Ende ist!
 

Ich hoffe, euch gefällt es trotzdem,

und vielen, vielen Dank wie immer für eure Rückmeldungen!!! *Schoki und Kekse für euch* ^^
 

LG,

Jin



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Kommentare zu diesem Kapitel (9)

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Von:  me-luna
2014-03-08T11:51:14+00:00 08.03.2014 12:51
Schönes ruhiges Kapitel und ein sehr gut gelungener zweiter Teil. Die Ruhe steigert noch die Beklemmung und man denkt die ganze Zeit "Wenn die wüssten". Muss wirklich sehr schlimm für Patrick sein, so einfach nichts für Toshio tun zu können. Am Ende bleibt ihnen wohl nur, zu hoffen und zu warten und die Dinge, so wie sie sind, anzunehmen. Man kehrte nach diesem Kapitel gleich doppelt mit Toshi leidend und ihm die Daumen drückend zu ihm in sein Gefängnis zurück. Jedes Mal ist man aufs Neue gespannt, wie es wohl weitergeht. Du überrascht mit vielen guten Ideen, nie kann man sagen, was als nächstes kommt.
Liebe Grüße luna
Von:  LindenRathan
2012-08-15T22:37:16+00:00 16.08.2012 00:37
Klasse Kapitel, gerade weil es unerwartet ist was passiert. Ich bin unheimlich gespannt wie es weiter geht. Diese Geschichte ist klasse.
Von:  SakuraxChazz
2012-08-11T13:46:46+00:00 11.08.2012 15:46
Es hat mich wirklich überrascht, was hier in dem Kapitel passiert ist. Auf der einen seite. Auf der anderen seite, hab ich auch schon fest damit gerechnet. Weil mir das Erlebnis in dem Kellerraum noch sehr gut in Erinnerung war. Und da dies ja in der 'Vergangenheit' spielt, war es irgendwie nur logisch, diese Reise mitzuerleben.
Diese Seelenwanderung zeigt ja auch nochmal, wie schlecht es ihm damals wirklich ging. Und beleuchtet auch, was Toshio nicht so deutlich war. Wie das alles mit der heilenden Wirkung war. Das Oliver dem Hirsch geholfen hat ihn zu stärken und auch die anderen. Auch wenn das bei Patrick nicht so erfolgreich schien, so hat es sicherlich geholfen.
Machst du persönlich auch schonmal solche Reisen, oder hast es ausprobiert? Das klingt für mich nämlich ziemlich glaubhaft alles. Für gewöhnlich muss man sowas ja schonmal selbst erlebt haben, damit man überhaupt in der Lage ist sowas zu Papier zu bringen.
Und ich weiß noch immern icht genau wie ich das Kapitel finden soll. Ich hatte gestern schon begonnen zu lesen und hab heute dann erst wieder weiter gelesen. Mach ich für gewöhnlich nicht. Zumindest wenn mich eine Story wirklich reizt und es kaum Ablenkung gibt. Ich mag das Kapitel auf der einen Seite, eben weil die Seelenwelt von Toshio und die Dramatik drumherum gut beleuchtet wurde. Aber auf der anderen seite, fand ich es auch ziemlich ermüdend dem ganzen beizuwohnen. Ist schwer für mich in Worte zu fassen. Aber es gehört definitiv dort rein! Es hätte deutlich was gefehlt, wenn das Kapitel nicht gekommen wäre.
Ich bin gespannt was uns im nächsten Kapitel dann erwartet.

LG Saku^^
Von:  Tokio
2012-08-10T20:52:49+00:00 10.08.2012 22:52
Oh ich hatte es übersehen das neue Kapitel .
Es war toll obwohl ich es nicht erwarten kann wieder etwas von Toshi und Pascal zu lesen .
Freue mich jedenfalls riesig über jedes kleine Krümmelschen
zu dieser Story .
Grüße Ulrike
Von:  kmolcki
2012-08-10T05:52:07+00:00 10.08.2012 07:52
Menno so früh am Morgen sollte ich keinen Kommi schreiben, hoffe du verstehst trotz der vielen Fehler, was ich meine
Von:  kmolcki
2012-08-10T05:50:51+00:00 10.08.2012 07:50
Ich kann mich hier eigentlich nur Samanthas Kommi voll und ganz snschließen, sie bringt genau das zu wort, was ich bei deiner denk, nur das ich weiß in welcher Zeit und Wo (Deutschland) dieses Kapitel spielt, es untzerscheidet sich nur emotional und von der Intention sehr von den vorangegangen Kapiteln, in denen Toshio und Pascal die Hauptrollen spielten. Ich bin gespannt ob und wie du diese beiden Handlungsstränge miteinander verbindest. Bei Ricardo und Myro ist ja für Toshio doch einiges möglich ...aber wie sieht es im Innersten von Pascal wohl aus...nach dem Erdbeben und allen drum herum? Toshio scheint ihm ja doch "etwas" Wert zu sein.

GLG von nds.nach nds. sendet Kmolcki, die auf eine wieder tolle Fortsetzung hofft!!!
Von: abgemeldet
2012-08-08T22:04:02+00:00 09.08.2012 00:04
Ich bin jetzt schon zu müde, hier noch viel zu schreiben, aber mußte das kapitel ja unbedingt noch lesen. :)
freue mich schon darauf, wenn es mit nami und elin weiter geht!! <3
auch wenn ich mich damit noch gedulden muss... :( vielleicht fange ich doch gleich mit einer fanfic zu deiner geschichte an ;)

ansonsten: großartig, wie immer - trotz gewisser w.h. einschläge *lach* oder gerade deshalb noch besser. *grins*

wann geht's weiter??? ^^ xxx
Von:  Samantha_Josephine
2012-08-08T20:08:08+00:00 08.08.2012 22:08
Hallo,
ich bin kein Schwarzleser, nur war es mir vor ein paar Tagen noch nicht möglich diese FF zu kommentieren.

Sie ist eine meiner Lieblingsff´s und ich hab mich heute morgen nach dem auftehen geärgert, das ich sie erst heute Abend lesen konnte, weil ich arbeiten war, aber was laber ich hier von mir schließlich geht es um dich und deine FF.

Hach der arme Toshi ich mag es von ihm zu lesen und seine Gedanken zu lesen ich finde es jedes Mal aufs neue toll wie er mit sich und Pascal kämpft wenn auch nicht mit Waffen, aber ich denke du weißt wie ich das meine ;).

Toshi tut mir manchmal wirklich leid und manchmal liebe ich es einfach nur zu lesen wie er mit dieser Situation fertig wird. Diese FF hat was ganz besonderes was mich an sie fesselt ich aber nicht wirklich sagen kann was es ist. Ich finde sie einfach toll und muss wirklich schon aufquietschen wenn es eine neues Kapitel zu lesen gibt.

Am Anfang dieses Kapitels dachte ich: "Ach man geht es schon wieder um Partik." Aber ich habe es jetzt bereut so gedacht zu haben, da ich dieses Kapitel sehr schön und auch wichtig fande.

Ich finde es unsagbar toll, das sie versuchen Toshi zu helfen und dieser sich auch mit ihnen verständigen will und jetzt wünsch ich mir, das Patrik noch mehr solcher Reisen macht, da kommt mir gleich wieder die Frage, wie du überhaupt auf sowas kommst, so eine Reise, davon hab ich noch nie was gehört und ich finde es wirklich klasse, und jetzt sag mir bitte nicht das es nur ausgedacht ist und sowas noch nie jemand gemacht geschweige denn daran gedacht hat. Das wäre jetzt mehr als enttäuschend.

Apropos Enttäuschend, Patrik war ja auch nicht gerade davon überzeugt Toshi somit helfen zu können und ich wäre es seiner Meinung nach auch nicht, aber ich hätte mich wahrscheinlich eher drauf eingelassen als Patrik.

Auch finde ich Nami ganz süüß, von ihrem Satzbau her, stell mir die Aussprache richtig niedlich vor. Nur kann ich sie noch nicht wirklich einschätzen und den letzten Satz hab ich eh noch nicht gepeilt.

Ach ja Frage: In welcher Zeit spielt denn jetzt dieses Kapitel also ich möchte gerne wissen wo Toshi gerade ist und was er macht. Ist er zum Beispiel in Japan mit Pascal oder in Frankreich? Ich hoffe du verstehst was ich meine.

Du hast bestimmt mal französisch gelernt oder? Müsste ja eientlich klar sein, sonst wüsstest du ja nicht was du schreibst, ach ich Dummerchen wieder xD.

Boar dein Schreibstil ist echt toll und auch gut zu lesen und zu verstehen.

Bei manchen Szenen musste ich wirklich schlucken aber ich denke das ist verständlich.
Ricardo und Myro sind auch ganz toll, hach ich mag die beiden. Vor allem, nein geht gar nicht ich kann mich nicht entscheiden ich mag beide, und das beide Toshi helfen wollen, wenn ich das richtig verstanden haben finde ich toll.

Nach diesem Kapitel habe ich mir gewünscht das man Toshi findet und er befreit werden kann. und eigentlich wollte ich, das es im nächsten Kapitel schon so weit ist, aber das geht ja nicht, weil dann die FF schon zu Ende wäre, das find ich auch nicht gut.

Ich finde es sehr toll wie du die Sprachen einsetzt und ich glaube du verstehst echt was von Sprachen, bist du Dolmetscher oder so? xD

Ich glaube ich habe ja jetzt oft genug in jedem zweiten Satz gesagt, wie toll und gut ich deine FF finde. Und ich wünsche mir das sie noch nicht so schnell zu Ende ist und du uns noch ein bisschen mitleiden lässt.

Ach eine bitte oder Frage hätte ich noch? Wird es im nächsten Kapitel wieder um Toshi und Pascal gehen, bitte bitte bitte bitte. *dich anflehe und auf knien rumrutsch, ach und dabei noch ein bittenden Gesichtsausdruck mit Dackelblick drauf xD*

Wow ich glaube mein längstes Kommi überhaupt zu einer FF.
Hab ich irgendwas vergessen? *überleg*

Nein ich glaube nicht. Ich wünsche dir ganz viel Zeit, Motivation und Ideen zum Schreiben, falls du nich t schon vorgeschrieben hast.

Ganz Liebe Grüße Samantha <3 <3 xD
Von:  Doris
2012-08-08T10:39:56+00:00 08.08.2012 12:39
wieder lange gewartet, aber es hat sich auch mal wieder gelohnt!

was ich schade finde, das zwischendurch nichts von Toshio dabei war. mir geht es dann so, das wenn es bei ihm weiter geht, das ich schonn gar nicht mehr weiß, was zu letzt passiert war und ich ertmal in vorherigen kapiteln nachschauen muß.

trotzdem alles sehr gelungen und hoffe, das es bald wieder weiter geht.

ganz liebe grüße
doris


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