Kapitel 12
12. Kapitel
Es herrschte Finsternis. Totale und absolute Finsternis.
Kein Geräusch nahm er wahr, kein Funken Licht, kein Geruch, gar nichts. Langsam tastete er sich vorwärts. Sein Körper war angespannt wie eine Bogensehne, jeder seiner Muskeln bereit zu reagieren. Sein Atem war flach und bemüht leise, sein ganzes Verhalten darauf ausgerichtet keinen Lärm zu verursachen.
Wo war er überhaupt? Was war los? Warum war er so vorsichtig.
Da hörte er etwas tropfen.
Tropf. Tropf. Tropf.
Ein stetiger und gleichmäßiger Rhythmus. Der einzige Laut in diesem Nichts. Und dieses Tropfen machte ihn beinahe wahnsinnig. Er wusste nicht warum, doch das Geräusch machte ihm Angst. Es war, als wüsste sein Unterbewusstsein etwas, das ihm noch verborgen war. Etwas das er nicht wissen wollte.
Plötzlich war das Geräusch ganz nah. Plötzlich spürte er ein schweres Gewicht zwischen seinen Fingern.
Irritiert sah er zu seiner Hand. Und erstarrte.
Sein Blick lag auf dem scharfen Messer, dass er fest umklammert hielt. Blut triefte von dem Messer, tropfte hinunter. Eine Lache aus roter Flüssigkeit hatte sich bereits zu seinen Füßen gebildet.
Er wollte das Messer loslassen, es wegwerfen, weit von sich schleudern.
Doch er konnte nicht. Er konnte keinen Muskel rühren, nur die bluttriefende Klinge anstarren. Angst kroch in ihm hoch, lähmte seine Glieder, ließ seinen Atem stocken und trieb eisigen Schweiß auf seine Stirn.
Was war hier los?!
Er wünschte, er könnte schreien, doch nicht einmal das war ihm möglich.
Und dann war es plötzlich nicht mehr dunkel.
Ein sanftes blaues Licht erfüllte den Raum, die endlose Weite, in der er sich zu befinden schien.
Er wollte nicht aufsehen. Eine böse Vorahnung sagte ihm, er sollte nicht aufsehen. Er sollte sich herum drehen und rennen. Rennen, so weit ihn seine Füße trugen. Doch wieder gehorchte ihm sein Körper nicht.
Wie von einer fremden Macht gelenkt, hob er langsam den Kopf.
Sein Blick folgte der Blutspur, die, von der immer größer werdenden Blutlache zu seinen Füßen aus, weiter in den Raum hinein ging.
Bis sie in einer noch größeren Blutlache endete.
Ein See aus rubinrotem Blut in dessen Zentrum der leblose Körper eines silberhaarigen jungen Mannes lag.
Nach Luft schnappend öffnete er bei diesem Anblick den Mund.
Und schrie.
Schreiend und keuchend fuhr er aus seinem Bett hoch, fixierte mit starrem Blick die Wand, während sein ganzer Körper zitterte.
Ängstlich umschlang er sich selbst mit seinen Armen und zog seine Knie dicht an sich heran.
Ein heftiges Zittern schüttelte ihn.
Warum verfolgten diese Alpträume ihn?
Warum verfolgte ER ihn?!
Zufrieden stellte Ray fest, dass es wieder wärmer wurde.
Eine sanfte Brise fuhr durch seine Haare, ein paar Vögel zwitscherten und das erste Grün war zu sehen. Hach, das Leben war einfach schön!
Mit einem glücklichen Lächeln trat der Chinese ins Freie, froh endlich Schulschluss zu haben. Kai, Spencer und Ian hatten heute nicht so lange Unterricht und waren schon längst gegangen. Tala besuchte sowieso eine andere Schule.
Leicht verträumt beobachtete Ray Tyson und Max. Die Beiden gingen fröhlich lachend und schwatzend über den Schulhof zur Bushaltestelle. Sie hatte seit einer halben Ewigkeit kein Wort mehr mit ihm gewechselt.
Frustriert seufzte Ray und sein Blick verfinsterte sich etwas bei dem Gedanken daran, doch dann schüttelte er leicht den Kopf, um die deprimierenden Gedanken zu verscheuchen. Er selbst würde heute nicht mit dem Bus ins Heim fahren, sondern sofort zum Hauptquartier der Demolitionboys – seiner Bande – gehen. Kai und Tala hatten heute nämlich wieder Training mit ihm im Wald eingeplant. Es machte wirklich Spaß, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erforschen, zu stärken und zu verfeinern. Außerdem war Drigger erstaunlich stark, das mussten sogar die Russen zugeben!
Nicht ich, du bist stark. Ich bin nur ein Teil von dir, ich gehöre zu dir, doch es ist deine Kraft, die ich verwende.
„Okay, sagen wir, wir sind zusammen wirklich ziemlich stark, ja Drigger?“, murmelte Ray leise.
Langsam hatte er sich daran gewöhnt, die Stimme seines BitBeasts in seinem Kopf zu hören. Der weiße Tiger sprach zwar nur selten von sich aus mit ihm, doch anfangs hatte der Schwarzhaarige sich immer ziemlich erschreckt. Inzwischen mochte er die kurzen Gespräche sogar. Wenn Drigger nur nicht immer so in Rätseln sprechen würde!
Aber laut Tala hatte er noch Glück mit Drigger. Wolborg würde meistens nur Knurren und selten etwas, für den Rothaarigen verständliches, sagen. Der Russe hatte sich schon öfter darüber beschwert, Ray fand dir Vorstellung dagegen ganz lustig, dass Tala andauernd ein Knurren in seinem Kopf hörte.
Inwieweit sich Kai mit Dranzer unterhielt, darüber schwieg sich der Rotäugige im Großen und Ganzen aus, doch er rede mehr mit dem Vogel, als dass der Phönix singen würde. Ray war sich gar nicht so sicher, ob Dranzer überhaupt singen konnte, bisher hatte er ihn nur Kreischen gehört. Und zwar bei Angriffen, bei denen der Chinese nicht am falschen Ende stehen wollte. Der Vogel war extrem stark und sehr gefährlich. Er war mindestens genauso zerstörerisch, wie das Element, dass er kontrollierte – das Feuer.
Laute Schreie holten Ray aus seinen Gedanken. Zuerst war er etwas irritiert und vorsichtig, bis er erkannte, dass es sich nicht um Angst- oder Schmerzensschreie handelte, sondern eher um gebrüllte Befehle und sehr laute Kommunikation. Neugierig geworden beschleunigte der Chinese seine Schritte noch einmal. Der Lärm stieg, je mehr er sich ihrem Hauptquartier näherte. Der Lärm schien direkt von der Lagerhalle zu kommen.
Eine kleine Falte bildete sich auf Rays Stirn und sein Instinkt riet ihm zur Vorsicht. Die Geräusche waren nicht normal. Sonst herrschte hier eher Ruhe und nur wenige Menschen verirrten sich in diese Gegend. Einfach, weil es bekannt war, dass dies das Gebiet der Demolitionboys war.
Als Ray um die Ecke kam und endlich das Hauptquartier sah, hielt er abrupt an. Nach einigen Sekunden des Schreckens reagierte sein Körper von ganz alleine und verschwand wieder im Schatten eines anderen Gebäudes; verbarg sich vor den vielen Menschen, die sich um die Lagerhalle tummelten. Das Gebäude war – im wahrsten Sinne des Wortes – umstellt. Autos, LKWs und hunderte von Menschen standen um das Gebäude, rannten hinein und hinaus, transportierten merkwürdige Gegenstände, räumten die Lagerhalle aus und standen vor Rechnern.
Was zum Teufel war hier los?!
Unruhig huschte Rays Blick über die Menschen. Kai und Tala konnte er nirgends entdecken, genauso wie Spencer und Ian. Irgendwie war Ray über diese Tatsache erleichtert. Sein Instinkt sagte ihm, es wäre nicht gut, wenn einer seine Freunde hier wäre.
Und dann sah er sie.
Zwar hatte der Langhaarige sie bisher nur im Fernsehen gesehen und kannte sie sonst nur aus den Geschichten seiner Freunde, aber er erkannte sie trotzdem sofort. Ihre gänzlich weiße Kleidung, ihre überheblichen aber auch ernsten Minen und ihre Ausstrahlung, die Ray noch bis zu seinem, einige hundert Meter entfernten, Standpunkt wahrnehmen konnte. All das verriet sie, ließ sie aus der Masse der einfachen Polizisten und anderen Menschen herausstechen.
Die Jäger.
Ray schluckte.
Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sein Verstand raste, doch kein klarer Gedanke wollte sich bilden. Was taten sie hier? Was wollten sie? Wussten sie von Kai und Tala? Wussten sie von ihm? Aber wenn ja, woher?
„Sie müssen hier irgendwo sein! Ihr müsst doch eine Spur haben, verdammt! Sie dürfen uns nicht entwischen. ER darf uns nicht schon wieder entwischen!“
Erschrocken starrte Ray zu dem großen muskulösen Mann. Er hatte merkwürdige fliederfarbene Haare und trug eine Maske, die den Großteil seines Gesichtes verdeckte. Seine Stimme klang laut und befehlsgewohnt. Es war nicht schwer zu erraten, dass dieser Fremde hier das Sagen hatte.
Es war Zeit sich aus dem Staub zu machen, entschloss sich Ray. Dass keiner seiner Freunde hier war, hatte der Lilahaarige ja jetzt mit seinem Geschrei laut genug kundgetan. Es gab keinen Grund für den Chinesen, sich hier noch länger als nötig aufzuhalten.
Leise trat er einen Schritt zurück, die Jäger nicht aus dem Blick lassend. Fast war er außer Sichtweite, als er mit dem Rücken gegen etwas stieß. Gegen etwas Weiches!
Aufgeschreckt wirbelte er herum und starrte direkt in ein Paar rehbraune Augen.
„Alexey!“, keuchte Ray. „Gott, hast du mich erschreckt!“
Unsicher blickte Ray sich zu dem Trubel an der Lagerhalle um, doch niemand schien sie zu bemerken, wahrscheinlich waren sie zu weit weg. Dann wandte sich Ray wieder zu seinem Freund: „Hör Mal, es ist grad etwas ungünstig. Ich muss schnell weg, hab noch was vor. Tut mir Leid, wir können uns doch sicher ein anderes Mal unterhalten, ja?“
Der Braunhaarige musterte ihn mit einem unergründlichen Ausdruck. Ein ungutes Gefühl stieg in dem Schwarzhaarigen auf. Sein Blick schweifte über die Gestalt Alexeys. Rays Atem stockte. Sein Blick blieb an der weißen Kleidung hängen.
„Alexey?“, flüsterte er tonlos.
„Ja. Ich bin ein Jäger.“ Die Stimme des Älteren klang kalt und emotionslos.
Rays Denken setzte aus. Wie ein Film spielten sich die Warnungen Talas und Kais vor seinen Augen ab, die er alle rücksichtslos in den Wind geschlagen hatte. Er war so dumm gewesen…
„Was?“, flüsterte er heiser.
Mehr brachte er nicht heraus. Ray wusste nicht, wie stark Alexey wirklich war, als Esper. Doch Ray wusste er war stärker, als Zero. Doch würden sie jetzt einen Kampf beginnen, würden sie mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Polizisten, der Soldaten und vor allem der Jäger am Lagerhaus wecken. Und gegen alle würde der Langhaarige nie ankommen. Ray fühlte sich in die Ecke gedrängt, wie die Maus, die zwischen den Pfoten der Katze sitzt.
Tief durchatmen, befahl sich Ray. Er weiß nicht, dass auch du ein Zero bist. Woher sollte er das auch wissen? Sie sind sicher nur hinter Kai, vielleicht auch hinter Tala, aber niemals hinter dir her.
„Was soll das alles hier?“ Diesmal klang seine Stimme schon fester.
Doch Alexeys Blick ließ ihn nicht los, folgte jeder seiner Bewegungen. Er schien nicht einmal zu blinzeln.
„Wir haben den endgültigen Beweis dafür, dass Kai derjenige ist, durch den die ganzen Zero-Aktivitäten in der Umgebung hier ausgelöst wurden. Obwohl bei der Stärke der Aktivität sich sicher noch mehr Zeros hier aufhalten.“
„Aktivitäten?“, fragte Ray irritiert.
„Ja. Man kann mit Hilfe modernster Technik und spezieller Satelliten, die mit bestimmten Kameras ausgerüstet sind, feststellen, wie hoch die Aktivitäten der Esper an jeder Stelle der Erde sind. Und natürlich die viel stärkere Aktivität der Zeros. Allerdings ist die genaue Positionsbestimmung noch nicht möglich. Daher wussten wir, dass es hier in der Umgebung mindestens einen Zero geben muss, aber seine Position war uns unklar.“
Diese Informationen musste Rays Gehirn erst einmal verarbeiten. Das bedeutete ja, dass, wo immer sie ihre Fähigkeiten als Zeros einsetzten, Biovolt es sofort merken würde und ihren Aufenthaltsort in etwa bestimmen könnte. Das war nicht gut.
„Was für einen Beweis habt ihr dann?“, fragte Ray schnell, um ihre Unterhaltung am Laufen zu halten. Der Chinese brauchte mehr Informationen und musste außerdem Alexey weiter ablenken, bevor dieser auf die Idee kam Hilfe zu holen.
„Vor ein paar Wochen gab es einen Unfall in einem alten Industriegebiet nicht weit von hier. Ein Haus ist scheinbar grundlos bis auf seine Grundmauern abgebrannt und einen Menschen hat das das Leben gekostet.“
Rays Mund wurde trocken.
„Zuerst hat uns das nicht weiter interessiert, aber durch Zufall konnte vor zwei Wochen ein Videoband bei den Aufräumarbeiten geborgen werden. Die Kamera war Schrott, dank der enormen Hitze total geschmolzen. Aber das Gehäuse hat die meiste Wärme absorbiert und der Chip, auf dem der aufgenommene Film gespeichert wurde, war nahezu unbeschädigt. Es hat leider eine Weile gedauert, bis man Experten darauf angesetzt hatte, das noch vorhandene Filmmaterial so weit wieder herzustellen, dass man etwas Sinnvolles erkennen konnte, doch es hat sich gelohnt. Das Video zeigt eindeutig, dass Kai ein Zero ist.“
Das Blut in Rays Adern schien wie zu Eis gefroren. Sein Blick traf den noch immer ruhigen und gelassenen des Russen und keiner der Beiden sprach es aus, doch beide wussten, was Alexey noch dachte.
/Und es hat gezeigt, dass auch du ein Zero bist, Ray./
Er weiß es! Sie wissen es! Schoss es Ray durch den Kopf und sein Atem wurde hektischer. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, doch er versuchte ruhig zu bleiben. In Panik auszubrechen würde ihm jetzt nicht helfen.
„Und, bin ich jetzt verhaftet oder bringst du mich gleich um?“, fragte er bemüht spöttisch.
Alexey zuckte leicht zusammen. Der Chinese registrierte das erstaunt. Er hatte den Russen doch nicht etwa mit seinen Worten verletzt?
„Zuerst habe ich dich nur angesprochen, um Informationen über Kai zu sammeln“, meinte da plötzlich der Braunhaarige.
Ray erwartete, dass ihm dieses Geständnis wehtun würde, doch erstaunlicher Weise fühlte er nichts.
„Aber dann merkte ich, dass du eigentlich ganz nett bist. Ich fing an dich zu mögen und traf mich bald nicht mehr wegen meines Auftrages mit dir, sondern einfach um deinetwillen. Ich habe unsere gemeinsame Zeit wirklich genossen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, du warst mein Freund. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein Schock es für mich war, die Wahrheit zu erfahren.“
„Die Wahrheit? Welche Wahrheit?!“, fuhr Ray dazwischen. Er konnte sich das nicht mehr länger schweigend mit anhören. „Die Wahrheit darüber, dass ich anders bin als du? Das ich dir etwas verschwiegen habe, wegen dem man mich ohne zu fragen getötet hätte? Oder konntest du es nicht ertragen vor Augen geführt bekommen zu haben, dass Zeros nichts anderes sind als Esper oder Menschen, nur halt mit anderen Talenten? Was ist es, mh?“
„Ich konnte es nicht ertragen, die ganze Zeit mit dem Feind zusammen gewesen zu sein.“
Das brachte Ray zum Schweigen.
„Versteh mich nicht falsch, Ray. Ich mag dich, ich mag dich wirklich. Zumindest den menschlichen Teil in dir. Doch du bist ein Zero. Ein Monster. Eine Bestie. Im Sinne unserer schönen gemeinsam verbrachten Zeit und als letzten Freundschaftsdienst an das Menschliche in dir werde ich dich jetzt gehen lassen. Doch wenn wir uns das nächste Mal treffen, dann werde ich dein Feind sein und nicht zögern dich zu töten.“
Stocksteif stand Ray da. Er konnte keinen Muskel rühren, nichts sagen und nichts tun, als Alexey Felk – bis eben noch sein Freund, jetzt sein schlimmster Feind – ohne ihm einen letzten Blick zuzuwerfen, an ihm vorbeiging. Hinüber zu der Lagerhalle, an der sich noch viele andere seiner Sorte aufhielten. Noch viele andere, Menschen und Esper, die nichts weiter in ihm sahen als ein Monster, eine Bestie…
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