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Shadows of the NewMoon

von
Koautor:  Caracola

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37. Kapitel

Es war schwierig zu erklären, aber heute fühlte sich Amanda schon viel wohler in ihrer Haut, als sie mit Nataniels gesamter Familie am Tisch saß. Vielleicht lag es daran, dass Lucy die gesamte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich und von Amanda wegzog. Die Kleine saß auf Steves Schoß und versuchte sich alles zu greifen, was auch nur annährend in ihre Nähe kam. Gerade versuchte Nataniels Vater seine Tochter daran zu hindern, dass sie sich die Gabel von der Schinkenplatte griff.

"Habt ihr beiden denn gut geschlafen?", wollte Nataniels Mutter freundlich wissen.

Amanda warf Nataniel einen kurzen Blick zu und streichelte automatisch seinen Oberschenkel unter dem Tisch. Sie würde nur für sich selbst antworten. Dass Nataniel eine unbequeme Nacht hinter sich hatte, wusste sie nur zu gut, aber genauso klar war ihr, dass er noch nicht über seine Verletzungen sprechen wollte. Sonst hätte er es schon getan.

"Sehr gut, danke. Der Fluss und das Rauschen der Bäume hat wirklich eine beruhigende Wirkung. Ich habe seit meinem zehnten Lebensjahr mitten in der Hauptstadt gelebt. Da gab es nie eine derartig entspannende Geräuschkulisse."

Nach einer winzigen Pause fügte sie hinzu: "Vielleicht lag es auch an mir. Manche Menschen halten ja Straßenlärm auch für beruhigend…"

Sie warf Nataniels Eltern ein Lächeln zu, das erwidert wurde.

"Wo warst du, bevor du zehn wurdest?", wollte Kyle wissen.

Amanda legte ihre Hand um den gelb-grün gestreiften Kaffeebecher und sah den blonden Jungen an.

"Außerhalb der Stadt. In einem kleinen Vorort. Dort war es auch schön grün. Aber so wirklich kann ich mich nicht mehr daran erinnern."

"Warum seid ihr in die Stadt gezogen?"

Nun spürte Amanda Nataniels Hand auf der ihren, die immer noch auf seinem Bein lag. Amanda lächelte ihm sanft zu, weil sie seinen Blick sah, der besagen wollte, dass sie diese Frage nicht beantworten musste.

"Meine Eltern sind gestorben. Mein Bruder und ich sind zu einer Pflegefamilie gekommen, die in der Stadt gewohnt haben."

Kyle sah so aus, als könne er sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn seine Eltern sterben würden. Er sah ungläubig zwischen beiden hin und her, bevor er sich wieder Amanda zuwandte. Aber er stellte keine weiteren Fragen mehr, sondern biss nachdenklich in sein Brot und kaute darauf herum.

Vielleicht hatte er vor, später noch genauer nachzuhaken. Amanda würde ihm seine Fragen beantworten, wenn er welche hatte. Es schien ihr fast so, als hätte sie in letzter Zeit irgendwann, ohne es zu wissen, Frieden mit sich selbst geschlossen, was dieses Thema betraf.
 

Während Nataniel versuchte, sich auf Vieles, nur nicht auf seine durchdrehenden Hormone zu konzentrieren, bemerkte er allerhand Dinge, die ihm sonst vermutlich eher weniger aufgefallen wären. Der Frühstückstisch war wie immer mit Essen nur so überladen und bei den Mengen die er täglich verdrückte, war das auch kein Wunder. Er war hier eindeutig der stärkste Esser, aber darüber hatte sich noch nie jemand beschwert.

Das Geschirr seiner Pflegeeltern war für das alltägliche Familienleben bunt durcheinander gewürfelt. Es gab verschieden farbenreiche Muster, Formen und Farben. Sollten sie doch einmal einen Anlass für eine Feier haben, wurde das ‚gute Geschirr‘ hervor geholt. Aber Nataniel waren die unterschiedlichen Stücke ohnehin viel lieber. Sie hatten einfach viel mehr Charme, eben weil sie einzigartig auf diesem Tisch waren.

Er war sich auch bewusst, dass Amanda und er heute dichter als gestern zusammen saßen. Ihre Schultern berührten sich zwar nicht, aber fast und manchmal, wenn einer von ihnen ein Stück mit dem Messer kleiner Schnitt oder sich einen Bissen in den Mund schob, berührten sich sachte ihre Ellenbogen. Dabei konnte er nicht sagen, was sich heute geändert hatte. Überhaupt schien die Atmosphäre eine gänzlich andere zu sein als gestern noch.

Es war nicht nur Amanda, die neben ihm kein bisschen mehr nervös zu sein schien. Auch an seinen Eltern hatte sich etwas geändert. Würde er sie nicht so gut kennen, wäre es ihm vermutlich nicht aufgefallen. Aber er hatte das Gefühl, als hätten sie sich zu irgendetwas entschlossen.

Gestern waren sie herzlich und freundlich gewesen, wie sie es immer zu Gästen waren. Heute spürte er irgendwie eine Bindung in der Luft hängen, als würde der gesamte Tisch zusammen gehören. Wie eine große, fröhliche Familie. Es war wirklich merkwürdig, aber beschweren konnte er sich darüber auf keinen Fall.

Hoffentlich änderte sich dieses traute Zusammensein nicht, wenn er erst einmal mit seinem Dad gesprochen hatte. Natürlich hatte er noch immer nichts gesagt, was Nataniel dazu veranlasst hätte, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Dabei konnte sicherlich jeder, bis auf Amanda, Kyle und Lucy an ihm das Alphatier riechen und auch erkennen. Vielleicht nicht so ausgeprägt, wie es mitten unter seinen Leuten gewesen wäre, aber sicherlich deutlich spürbar. Trotzdem wurde kein Wort darüber verloren. Wofür er sehr dankbar war.

Während er also erst einmal seinen gewaltigen Hunger zu bändigen versuchte, lauschte er andächtig dem Gespräch zwischen Amanda und seiner Mutter. Wie immer, wenn sein Vater Lucy auf dem Schoß sitzen hatte, fütterte seine Mutter ihren Mann wie nebensächlich, damit er beim Essen nicht zu kurz kam. Zwar hatte Nataniel hier den größten Appetit, aber auch sein Dad konnte ganz schöne Portionen verdrücken.

Als seine Mom Amanda und ihn fragte, wie sie denn geschlafen hatten, spürte er überraschend Amandas Hand über seinem Oberschenkel streicheln. Sie sah ihn dabei kurz an, ehe sie zu einer Antwort ansetzte, aber für ihn hatte es den Eindruck, als würde sie diese Geste nicht hundertprozentig bewusst ausführen, sondern eher wie nebenbei. Kein Wunder, bei den Intimitäten, die sie vor weniger als einer halben Stunde noch ausgetauscht hatten.

Wie immer verursachte ihm eine von Amandas Berührungen dieses wohlvertraute Prickeln im Nacken und zugleich war da dieses sehnsuchtsvolle Ziehen in seinem Unterleib, auf das er auf keinen Fall einging, sondern sich stattdessen nur noch mehr auf das Gespräch konzentrierte.

Kyle schien wirklich ein Talent dafür zu entfalten, unangenehme Situationen herauf zu beschwören. Denn mit seinen Fragen lenkte er das Gespräch in eine Richtung, die nicht nur Nataniel ein unwohles Gefühl im Magen verursachte. Bestimmt musste das auch für Amanda schwierig sein. Er hatte nicht vergessen, was sie ihm über den Tod ihrer Eltern erzählt hatte. Wie seltsam musste es doch für sie sein, nun hier als einziger Mensch inmitten von Gestaltwandlern am Tisch zu sitzen.

„Das tut mir wirklich leid für dich, Amanda.“, beteuerte seine Mom in einem angemessen traurigem Tonfall und ließ dann ihren Blick zu Nataniel gleiten. Auch sein Vater sah ihn an.

Bevor irgendjemand auch nur noch einen einzigen Satz zu dieser Sache sagen konnte, wobei Nataniel sehr genau spürte, dass in den Blicken seiner Eltern eine unausgesprochene Frage lag, übernahm er selbst das Gespräch und lenkte es in eine vollkommen andere Richtung.

„Gibt es eigentlich irgendetwas Neues über die Ranch zu berichten?“, wollte er mit Entschlossenheit wissen, worauf sein Dad natürlich sofort ansprang. Wenn es um die Ranch ging, konnte er Stundenlang reden, hielt sich aber meistens zurück, wenn sie Gäste hatten.

„Während du weg warst, haben wir eine Hand voll neuer Pferde erworben. Ich bin mir allerdings noch nicht so sicher, wie gut wir sie für die Arbeit einsetzen können. Bis jetzt hatte ich nicht die Zeit, sie dementsprechend zuzureiten. Ich hoffe, das kannst du in nächster Zeit einmal für mich übernehmen. Außerdem müssen sie noch ‚gewöhnt‘ werden.“

„Sicher doch.“, erklärte sich Nataniel sofort einverstanden, da er ohnehin nicht vorhatte, schon morgen wieder abzureisen. Außerdem war er ziemlich geschickt darin, auch das störrischste Pferd zu zähmen und es ‚einzugewöhnen‘. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie die Tiere auch auf ihre Raubkatzengestalt prägten und ihnen zumindest die Furcht vor seiner eigenen Familie nahmen. Denn es kam immer wieder einmal vor, dass es nötig wurde, sich während der Arbeit zu verwandeln, um Situationen zu meistern, bei denen andere den Verlust von Vieh im Kauf nehmen würden. Aber auch wenn hier tausende von Hufen über die Erde wanderten, so lag ihnen doch an jedem einzelnen Tier etwas. Der Verlust eines von ihnen, wurde nie auf die leichte Schulter genommen. Es ging hierbei nicht ums Geld, sondern einfach darum, dass Nataniel und seine Familie ebenfalls auf ihre Weise Tiere waren. Man lebte einfach in einem vollkommen anderen Bezug zu diesen Wesen.

Allerdings würde er seinem Vater später erklären müssen, dass er zumindest in den nächsten Tagen sich nicht zu sehr anstrengen konnte.

Zum Glück verlief der Rest des Frühstücks wieder in vollkommener Harmonie. Es wurde sogar immer wieder einmal herzlich gelacht, wenn es besonders ausgelassen zuging.

Nataniel hätte sich fast einbilden können, den Tisch erleichtert aufatmen zu hören, als das meiste Essen darauf verschwunden war. Eine Weile nippten sie noch an ihren Getränken herum. Für Amanda natürlich guten Kaffee und er selbst trank soeben die letzten Reste seiner heißen Schokolade aus. Danach war das Frühstück offiziell beendet.

Alle halfen noch fleißig mit, den Tisch leer und alles in die Küche zu räumen, bis der kritische Zeitpunkt nun endgültig gekommen war, als Nataniels Dad ihm die Hand auf die Schultern legte und ihn mit einem Blick ansah, der nicht unmissverständlicher sein konnte.

Offiziell lautete die Erklärung natürlich anders. Steve wollte seinem Sohn die neuen Pferde zeigen, während seine Frau Amanda das Baby in die Hände legte, um ihre eigenen für den Abwasch frei zu haben. Kyle verkrümelte sich ohnehin wortlos, um seinen eigenen Pflichten nachzugehen. Womit sich die Versammlung fast schon in flüssiger Bewegung auflöste.

Im Normalfall hätte Nataniel Amanda einfach mitgenommen, um auch ihr einmal einen Einblick über die Ranch zu geben. Aber da sie sowieso wusste, was jetzt anstand, streichelte er ihr entschuldigend in zärtlicher Geste über die Wange, ehe er sich von den beiden Frauen und seiner kleinen Schwester verabschiedete und seinem Dad folgte, um das unausweichliche Gespräch zu führen.
 

Sie platzte fast vor lauter unausgesprochenen Fragen, aber da sie Amanda nicht das Gefühl geben wollte, jetzt da die beiden Männer nach draußen gegangen waren, würde ein Verhör stattfinden, musste sich Mary auch weiterhin zurück halten. Wenigstens waren ein paar ihrer Sorgen seit heute Morgen gemildert.

Gestern hatte sie Zweifel daran gehabt, wie eng die Bindung zwischen Nataniel und Amanda wohl sein konnte, wenn man es ihnen kaum ansah. Doch Steve und sie hatten sich darauf geeinigt, dass es vielleicht nur deshalb so wenig offensichtlich erschien, weil Amanda nicht zu ihrer Art gehörte. Sie war ein Mensch und somit in einigen Dingen anders als Gestaltwandler. Das könnte auch Nataniels Zurückhaltung erklären.

Als die beiden jedoch heute Morgen zu Tisch gekommen waren, verließen Marys diesbezügliche Sorgen sie. Amanda roch nun deutlicher nach Nataniel und zugleich hatte sie einen Hauch von weiblicher Erregung an sich haften.

Hätte sie Kyle vielleicht doch noch später zu ihnen schicken sollen? Mary wurde das Gefühl nicht los, sie hätte die beiden bei etwas gestört, aber alleine dass es so sein könnte, ließ ihr das Herz leichter werden. Vielleicht zeigten es die beiden nicht so deutlich in Worten und Gesten, aber man las die Zuneigung immer deutlicher in ihren Augen, wenn man nur genau hin sah und das hatte sie heute mehr als nur einmal getan.

„Erzähl doch einmal, Amanda.“, begann sie freundlich lächelnd, während sie Wasser zum Spülen einließ.

„Wie kommst du damit zurecht, so mitten unter Gestaltwandlern zu leben? Ich kann mir vorstellen, dass einige unserer Bräuche und Sitten fremdartig auf dich erscheinen müssen.“

Während sie das fragte, wanderten einen kurzen Moment lang, ihre Gedanken zu ihrem Mann und Nataniel. Sie wusste ganz genau, dass sie in diesem Augenblick ein Gespräch führten, das sehr viele Aufschlüsse bieten würde. Allerdings würde ihr Mann ihr danach auch erklären müssen, was Nataniel nun wirklich in der Zeit seiner langen Abwesenheit getrieben hatte. Denn wie ein zurückgekehrter Urlauber sah er absolut nicht aus. Ganz im Gegenteil. Die Narbe über seinem Auge sah so aus, als wäre die Verletzung tief gewesen. Außerdem hatte sie gestern noch deutlich Blut an ihm riechen können und ihr war aufgefallen, dass ihr Sohn sich vorsichtiger bewegte als sonst. Irgendetwas stimmte da nicht und heute würde sie sich nicht mehr damit zufrieden geben, dass das eine Sache zwischen ihrem Mann und Nataniel war. Herrgott noch mal, immerhin war es ihr Sohn, um den es ging und sie machte sich wirklich ernsthaft Sorgen!

„Ich hoffe doch sehr, dass sich Nataniel anständig benimmt. Ich weiß, wie sich die Männer meiner Art verhalten können. Weshalb ich mir etwas Sorgen um dich mache. Gerade Alphatiere können sehr temperamentvoll werden. Da schaltet das Gehirn einfach einmal ab. Scheu dich also bitte nicht, etwas zu sagen, solltest du einmal einen Rat diesbezüglich brauchen. Ich bin gerne für dich da.“

Und das meinte sie mit ganzem Herzen. Nataniel hatte noch nie so viel Zuneigung für eine Frau gezeigt. Ob Mensch oder Gestaltwandler, Amanda war in Marys Augen ein Segen. Es wurde Zeit, dass ihr Sohn jemanden fand, der zu ihm gehörte. Denn obwohl sie ihn wie ein eigenes Kind bei sich hatten aufwachsen lassen, so war doch deutlich immer der Unterschied zu spüren gewesen. Amanda schien mit ihrer Andersartigkeit wunderbar zu Nataniel zu passen. Sie beide schienen sich auf eine Weise zu verstehen, zu der Mary keinen Zugang hatte. Aber das war auch nicht wichtig.
 

Amanda fand des faszinierend, wie schnell ihr die kleine Lucy in die Arme gelegt wurde. Immerhin hatte sie weder eigene Kinder, noch sonderlich große Erfahrung mit Babys, geschweige denn welche, die sich jeder Zeit und ohne Vorwarnung in einen Berglöwen verwandeln konnten. Aber Lucy war ein ruhiges, ausgeglichenes Kind und sah Amanda lediglich etwas erstaunt an, bis diese für die Kleine ein paar Grimassen zog und somit ihr Lächeln gewann.

Mit einem Schnuller zwischen den Lippen war Lucy so selig, dass Mary sich wohl so weit fühlte, mit ihrer Befragung anzufangen. Es fühlte sich nicht wie ein Verhör an, denn es war auch nicht als solches gedacht, aber Amanda musste trotzdem vorsichtig damit sein, was sie sagte. Nataniels Familie hatte eine derart entspannende Wirkung auf sie, dass sie selbst glaubte, Gefahr zu laufen, sich zu verplappern. Immerhin wollte sie sicher nicht unnötig früh damit herausrücken, für wen sie gearbeitet hatte, bei wem sie aufgewachsen war und aus welchen Gründen sie Nataniel ursprünglich kennen gelernt hatte.

Lächelnd lehnte Amanda sich gegen die Küchenzeile, um Mary ansehen zu können, während diese abspülte und sie miteinander sprachen.

"Ehrlich gesagt ist es ein wenig verunsichernd. Es ist das erste Mal, dass ich in so einer Situation bin."

Da sie nicht genau sagte, welche Situation sie meinte, war sie umso ehrlicher. Sie war zwar schon mit vielen Gestaltwandlern zusammen gewesen – in Nataniels Rudel – aber so wie die Dinge lagen, konnte sie genau das nicht erzählen. Und dass es das erste Mal war, dass sie die Eltern von einem ihrer festen Freunde kennen lernte, wollte sie nicht erzählen.

"Aber es ist auf keinen Fall so, dass ich mich bei Gestaltwandlern nicht wohlfühlen würde. Es ist nur…"

Amanda versuchte ihre Gefühle in Worte zu kleiden, die für Nataniels Mutter ausreichend waren. Da sich das verdammt schwer machen ließ, lachte sie schließlich nervös auf.

"Ihr alle wisst, wann ich nervös bin, ohne dass ich etwas sage. Ihr seht mir an oder könnt riechen, wenn ich Angst habe oder andere Gefühle. Ich kann vor euch nichts verbergen, was es mir leichter machen würde, den Eindruck einer selbstbewussten Frau aufrecht zu erhalten, die dein Sohn völlig überraschend mit nach Hause gebracht hat, nachdem er wochenlang verschwunden war."
 

Mary hörte Amanda ganz genau zu. Sie konnte sich selbst kaum vorstellen, wie sie sich fühlen würde, wäre die Situation umgekehrt. Als Mensch ganz alleine unter Gestaltwandlern würde sie selbst sicher ganz schön das Flattern bekommen. In diesem Sinne war Amandas Leistung ganz schön beeindruckend.

„Ach, Amanda. Mach dir wegen dem was wir wahrnehmen bloß keine Gedanken. Wir Gestaltwandler nehmen unsere Umwelt anders wahr, als die Menschen. Hätten wir nicht so gute Sinne, ich wüsste nicht, wie wir zurecht kämen. Ich meine, auf mich wirken die meisten Menschen wie Profipokerspieler, wenn ich nur nach dem ginge, was sie mir an Emotionen zeigen. Schon so manches Mal hat die Nase meines Gefährten uns vor einer Abzocke bewahrt. Was das angeht, sind die Verhältnisse wohl fast ganz ausgeglichen.“

Mit einem leisen Klirren legte Mary das Besteck ins Wasser, um es etwas einzuweichen, während sie mit ihren Worten fortfuhr. Immerhin wollte sie Amanda diese Unsicherheit nehmen, auch wenn Mary sie sehr gut verstehen konnte. Auch sie hatte ein paar Unsicherheiten den Menschen gegenüber. Das war aber völlig normal.

„Denke es dir doch einfach einmal so: Einigen Menschen fällt es sicher leicht, ihre Gefühle hinter einer Maske zu verbergen, da wir Gestaltwandler es aber untereinander gewöhnt sind, ständig die Gefühle der anderen mitzubekommen, verstecken wir sie grundsätzlich nicht. Natürlich haben wir auch Geheimnisse untereinander, aber es bleibt jedem selbst überlassen, wie viel er uns mitteilen möchte und genau aus diesem Grund können uns Menschen umso leichter durchschauen, wenn wir nicht besonders aufpassen.“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann schenkte sie Amanda über ihre Schulter hinweg ein vertrautes Lächeln.

„Unter uns beiden gesagt, meiner Meinung nach muss man schon Einiges an Selbstbewusstsein besitzen, wenn man sich als Mensch mitten unter Raubtiere wagt. Meine Bewunderung hast du dafür auf jeden Fall.“

Sie drehte sich wieder zu dem schmutzigen Geschirr herum und seufzte leise, als ihr die nächsten Worte etwas leiser entkamen.

„Außerdem bin ich froh, dass du mir Nataniel wieder nach Hause gebracht hast.“

Sie hatte sich wirklich gewaltige Sorgen gemacht, aber da ihr Mann ihr nicht hatte verraten wollen, warum Nataniel so lange weg geblieben war, hatte sie sich nur darauf verlassen können, dass einer der beiden Männer wenigstens klug genug sein würde, ihr in einem Notfall alles mitzuteilen. Aber selbst dabei hatte sie sich nicht sicher sein können.
 

Amanda senkte ihren Blick und bemerkte, dass sie zur Beruhigung angefangen hatte, Lucys Bauch leicht zu streicheln. Die Kleine nuckelte an dem hellblauen Schnuller und wie am vergangenen Abend fielen ihr schon wieder die hübschen, großen Augen zu.

"Ich liebe Nataniel. Er ist ein wirklich toller Mann…"

Diesmal konnte Amanda weder Mary noch Lucy ansehen, als sie weitersprach.

"Es ist schwierig und kompliziert, weil wir so verschieden sind. Ich weiß nicht, ob er mehr von mir erwartet, als ich erfüllen kann."

Ihr Blick haftete an einem Windspiel, das sich an der Terrassentür leicht bewegte und sacht klingelte. Es sah beruhigend aus, auch wenn Amanda alles andere als ruhig war, während sie hier stand, neben Nataniels Mutter und mit seiner kleinen Schwester in den Armen und ihr Herz für Amandas eigene Verhältnisse viel zu sehr ausschüttete.

"Nataniel und ich hatten dieses Thema schon einmal. Ich bin nur ein Mensch. Und ich werde auch nie mehr sein."

Jetzt sah Amanda Mary wieder in die Augen. Die Frau mit dem langen Zopf hatte aufgehört zu spülen und sich zu ihrem Gast umgedreht. Ihre Augen ruhten wohlwollend auf Amanda. Mary sah so freundlich und offen aus, dass Amanda sie am liebsten umarmt hätte.

"Wahrscheinlich bin ich zu ehrlich… Ich will das hier alles nicht versauen, aber…" Nun entkam ihr ein Seufzer und obwohl Amanda befürchtete, dass der nächste Satz dazu führen würde, dass sie genau das tat – das Verhältnis zu Nataniels Eltern zu versauen, bevor es überhaupt wirklich entstanden war – redete sie weiter.

"Ich habe eure Reaktion gesehen, als Nataniel mich als seine Gefährtin vorgestellt hat. Ich habe gesehen, dass es ein Schock für euch beide war. Und das kann ich verstehen."

Scheiße. Hör doch auf zu reden!

"Ich habe mir selbst schon überlegt, dass ich nie dem entsprechen kann, was eine Wandlerin für ihn sein könnte. Und wie du sagtest, noch dazu ist er ein Alphatier…"

Völlig hilflos hielt sich Amanda an Marys Blick fest, der immer noch warm auf der jungen Frau ruhte. In Amandas Hals bildete sich ein dicker Kloß und sie fühlte ein Brennen in ihrer Brust.

"Und trotzdem hoffe ich, dass es gut gehen wird."

Mehr bekam sie nicht heraus, obwohl sie gern noch so viel mehr gesagt hätte. Aber Amanda war wieder eingefallen, mit wem sie hier eigentlich sprach. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung von Beziehungen. Weder was Männer, noch was Familien betraf.

Das altbekannte Prickeln ging durch ihre Fußsohlen und Amanda hätte Mary am liebsten das Baby in die Arme gedrückt, um sich draußen in den Wagen zu setzen und einfach vor der gesamten Situation zu flüchten.
 

Als Amanda Mary gestand, dass sie Nataniel liebte, wurde es ihr ganz warm ums Herz, während ihre Hände in ihrer Arbeit innehielten und sie sich schließlich zu der blonden Frau herum drehte.

Ihr Lächeln war warm, fast schon glücklich und leicht sentimental. Aber es hatte einfach so ehrlich geklungen und Mary fühlte ganz genau, dass es Amanda auch wirklich ernst war. Sie liebte ihren Sohn wirklich, so wie er sie liebte. Das war nicht mehr zu übersehen.

Wie sehr sich Mary doch wünschte, dass diese Bindung funktionieren möge, aber es war, wie Amanda es schon festgestellt hatte, nicht leicht, gerade weil sie unterschiedlicher Rassen angehörten. Zwar war Nataniel auch ein Mensch, aber Amanda fehlte das Tierische. Vielleicht würden die beiden immer spüren, dass sie da etwas vermissten, das nie da sein konnte. Und doch hatten nicht auch Menschen Instinkte, Triebe und manchmal auch so etwas wie einen sechsten Sinn?

„Es überrascht mich nicht, dass dir unsere Reaktion auf Nataniels so deutliche Bekanntgabe, nicht entgangen ist. Aber ich glaube, du hast unsere Überraschung fehlinterpretiert, Amanda.“

Mary trocknete sich ihre Hände an der Schürze ab, die sie sich umgebunden hatte und trat auf die blonde Frau zu. In ihrem Blick lag genau das, was sie fühlte. Ehrlichkeit, herzliche Wärme und zugleich das Gefühl, als würde Amanda bereits von dem Moment an, da Nataniel ihnen offenbart hatte, dass sie seine Gefährtin sei, zu ihrer Familie gehören.

„Natürlich waren wir auch darüber verwundert, dass gerade ein Mensch es geschafft haben soll, einen Wildfang wie unseren Sohn an sich zu binden. Aber vor allem überraschte uns die Tatsache, dass er dich ohne große Umschweife als seine Gefährtin vorgestellt hat. Ich kenne Nataniel. Alles was er sagt, meint er sehr ernst. Es war also nicht einfach nur ein dahingesagtes Wort und nach seiner langen Abwesenheit hätten wir nun wirklich nicht damit gerechnet, dass er mit einer Gefährtin nach Hause kommt. Ich meine-“

Mary machte eine etwas hilflose Geste mit den Händen und ließ ihren Blick durch die Küche gleiten, aber auch die konnte ihr nicht die richtigen Worte geben.

„Ich meine, er hat noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht.“, gestand sie schließlich, dabei nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war.
 

Amanda hielt Lucys kleinen Körper sanft an sich gedrückt. Das Baby strahlte so viel Hitze aus, dass sie selbst Nataniels Körperwärme um Einiges übertraf. Als wäre Amanda nicht schon warm genug. Die ganze Situation nahm sie so sehr mit, dass sie das Gefühl hatte, ihr würde, auch ohne den kleinen Hochofen in ihren Armen, gleich der Schweiß ausbrechen. Eigentlich hätte sie beruhigt sein sollen. Nataniels Eltern waren nicht deswegen so erstaunt gewesen, weil sie Amanda ihres Sohnes nicht würdig hielten, sondern weil er sie mit seiner Eröffnung einfach völlig überrumpelt hatte. Dabei hätte Amanda sich das denken können. Sie musste doch nur daran zurückdenken, was Nataniel für einen Eindruck auf sie gemacht hatte, als sie sich kennen gelernt hatten. Ein Kerl, der sein Ego vor sich hertrug, um jede halbwegs attraktive Frau damit k.o. zu schlagen.

Dass er noch nie eine Frau mit auf die Ranch gebracht hatte, konnte Amanda kaum glauben.

Wahrscheinlich hatte er sie bloß schon vor dem Morgengrauen wieder dort abgeladen, wo er sie aufgegabelt hatte. Amanda würde sich bestimmt nicht der Vorstellung hingeben, sie sei die Erste, mit der er seine kleine Hütte teilte. Aber zumindest schien sie die Erste zu sein, die er seinen Eltern vorstellte. Das war laut seiner Mutter schon allein eine verdammt große Sache und dann stellte er Amanda auch noch als seine Gefährtin vor. Da wären Amanda an Stelle von Mary und Steve wahrscheinlich mehr als die Kinnlade herunter gefallen.
 

Mary wusste sehr genau, dass Nataniel alles andere als unschuldig war, aber was sollte eine Mutter schon großartig dazu sagen können? Er war im besten Alter, hatte unermüdliche Energien durch seinen Panther und zugleich trug er das Potential eines Alphatiers in sich, was zusätzlich für heftigere Gefühle sorgte.

Sie hielt in ihren Gedanken sowie auch körperlich inne. Die Wucht der Erkenntnis, ließ ihr schwindeln, weshalb sie sich an der Spüle abstützen musste. Bisher war ihr nicht klar gewesen, was genau so anders an Nataniel gewesen war, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte vermutet, es würde an Amanda liegen. Doch da hatte sie sich wohl deutlich geirrt, denn nun wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass Nataniel nicht nur das Potential eines Alphatiers in sich trug, sondern es nun auch ausstrahlte. Was bedeutete, dass er es erkannt und akzeptiert hatte. Aber wie-?

Ihr Blick fiel auf Amanda.

War Nataniel nur aus reinem Zufall auf seine verborgenen Fähigkeiten gestoßen, oder bewusst darauf hingeführt worden? Wenn Letzteres zustimmte, würde er vermutlich das mit seiner wirklichen Familie wissen. Warum Steve und sie ihn bei sich aufgenommen hatten. Und dabei stellte sich nun auch die Frage: Hatte Nataniel seinen richtigen Vater kennen gelernt? War er deshalb solange weggeblieben?

Mary versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen, während sie mit geschlossenen Augen ein paar tiefe Atemzüge machte. Selbst wenn Nataniel seinem Vater begegnet war, so würde er in Marys Augen doch immer noch ihr Sohn bleiben. Das konnte ihr niemand nehmen und nur alleine darauf kam es ihr an. Er gehörte zu ihrer Familie. Punkt.

Als sie wieder hoch blickte, konnte sie deutlich Amandas Verunsicherung sehen. Kein Wunder, es hatte sie selbst ganz schön überrumpelt, weshalb sie jetzt auch entschuldigend lächelte.

„Tut mir leid, meine Liebe. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Alles wieder in Ordnung. Mir war nur erst jetzt klar geworden, wie sehr Nataniel doch das Alphatier ausstrahlt. Es hat sich wohl wirklich viel getan, während seiner Abwesenheit.“
 

Oh ja, Nataniel hatte seiner Mutter Einiges zu beichten.

Mit sanfter und hoffentlich beruhigender Stimme, versuchte Amanda zu antworten, ohne Nataniels Geheimnisse preiszugeben.

"Ja, er hat sich verändert. Sogar in der Zeit, die ich ihn kenne. Aber in Grunde ist er der Selbe geblieben."

Als sie Mary, die Amanda bereits nach so kurzer Zeit so gern hatte, immer noch nervös und besorgt ansah, fügte Amanda hinzu: "Und er freut sich im Moment einfach nur, zu Hause zu sein. Bei seiner Familie."

Das zauberte Mary immerhin ein Lächeln aufs Gesicht, auch wenn es ihren Gedankengang, der sich wohl gerade in ihre aufbäumte, um sie völlig aus dem Takt zu bringen, sicher nur wenig beruhigen konnte.

Amanda ginge es nicht anders. Aber sie wusste, dass Nataniel sich gerade mit seinem Vater über alles unterhielt. Und so, wie sie Mary einschätzte, würde sie alles erfahren, sobald sie mit einem von den beiden oder zusammen mit ihnen allein war. Die Männer konnten sich auf eine echte Standpauke gefasst machen. Zu Recht, wie Amanda fand. Hätte Nataniel Amanda etwas Derartiges verschwiegen, könnte er sich durchaus mit dem Fell über den Ohren wiederfinden.
 

„Weißt du was? Das restliche Geschirr kann warten. Ich finde, ein Spaziergang an der frischen Luft, kann uns sicherlich nicht schaden. Bestimmt hattest du noch nicht die Gelegenheit dir unsere Ranch anzusehen.“ Entschlossen nahm Mary die Schürze ab und hängte sie an den kleinen Haken neben der Terrassentür. Danach nahm sie Amanda die inzwischen schlafende Lucy aus den Armen, um sie in ein babysicheres Weidenkörbchen direkt neben dem Schmetterlingsflieder in den Garten zu legen, damit auch sie während des Schlafs etwas frische Luft tanken konnte.

Mit einem fröhlichen Lächeln hakte sich Mary bei Amanda unter, ehe die beiden Frauen ihre Führung starteten.
 

Da Mary ihre kleine Tochter derart selbstverständlich in dem Weidenkörbchen schlafen ließ, um Amanda eine kleine Führung zu geben, machte sie sich keine weiteren Sorgen darüber. Außerdem gingen sie nicht allzu weit weg. Sie würden Lucy auf jeden Fall hören, wenn sie anfangen sollte zu weinen. Und Kyle war auch noch irgendwo in der Nähe.

"Ihr Grundstück ist wirklich wunderschön.", gab Amanda ehrlich beeindruckt zu, als die beiden Frauen einen kleinen Trampelpfad zu einem Teil des Gartens hinunter gingen, in dem ein paar Gemüsebeete gepflegt wurden. Im oberen Teil, direkt hinter dem Haus, gab es vor allem Blumen, einen kleinen Teich und einen Pavillon, mit Bänken. Davor stand ein Grill, der so aussah, als wäre er von der Familie in regelmäßiger Benutzung.

Amanda lächelte, weil sie sich die ausgelassene Stimmung bei einer Grillfeier sehr gut vorstellen konnte. Ob oft Freunde von Nataniels Eltern hier vorbei kamen?

"Leben eigentlich viele Wandler in der Nähe? Habt ihr viel Kontakt mit euren Nachbarn oder seht ihr kaum einen Menschen? Ich frage nur, weil ich mir sehr gut vorstellen kann, dass in eurem einladenden Haus immer reges Treiben herrscht."

Es hätte Amanda wirklich eher überrascht, wenn Nataniels Familie kaum Freunde gehabt hätte, die immer mal wieder zu Besuch kamen.

Dass es inzwischen so viele Wandler in der Nähe gab – Nataniels Rudelmitglieder – ließ Amanda unerwähnt. Aber Palia und ein paar andere würden sich bestimmt gut mit Nataniels Eltern verstehen.

Bei dem Gedanken an Palia, kam Amanda Eric in den Sinn. Sie hatte ihren Bruder immer noch nicht angerufen. Lediglich auf dem Campingplatz hatte sie aus einer Telefonzelle Kontakt mit ihm aufgenommen, ihm aber mehr oder weniger nur erzählt, dass sie am Leben war. Genauso wie Eric ihr das Gleiche von sich und Clea versichert hatte. Wenn Amanda so darüber nachdachte, hatte Eric nicht besonders glücklich geklungen. Vielleicht würde sie doch länger mit ihm sprechen müssen, als vermutet.
 

„Nun ja, eigentlich hätte ich gerne mehr Besuch, aber die Arbeit steht keinen Tag still, weshalb es nur im Winter halbwegs ruhig zugeht. Aber dafür feiern wir ein paar Mal im Jahr mit den umliegenden Ranchern Feste zu gegebenen Anlässen. Das ist immer ein riesiger Aufwand, aber es waren bisher immer unvergessliche Augenblicke.“

Mary lächelte verträumt, als sie an die Feiern zurückdachte und die vielen guten Bekannten, die sie meistens zwar nur zu solchen Anlässen traf, aber dafür war das Wiedersehen umso herzlicher.

„Und um deine Frage zu beantworten, es gibt hier einige Wandler in der Gegend. Ich bin sogar bereit, zu behaupten, dass es mehr Gestaltwandler als Menschen hier gibt. Weshalb das Leben hier auch sicher leichter für unsere Rasse ist, als anderswo. Hier greift jeder dem anderen unter die Arme, wenn es denn nötig ist und in der Klinik ist sogar ein Gestaltwandler Oberarzt. Was Vieles erleichtert. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwierig es ist, einem menschlichen Arzt klar zu machen, dass man kein hohes Fieber hat, sondern eigentlich nur wegen einer gebrochenen Zehe gekommen ist, um sie gerade zu biegen, bevor sie schief verheilt.“

Inzwischen hatten die beiden Frauen den Rundgang durch den Garten hinter sich gebracht und waren wieder bei der Terrasse angekommen, wo Mary die schlafende Lucy aus dem Körbchen nahm und sich so an die Hüfte setzte, dass das Baby in Ruhe weiter schlafen konnte, Mary aber nach Einigerzeit keine Probleme mit dem Halten bekam.

Es war der Griff einer Mutter, die schon mehr als nur ein Baby wie ein eigenes Körperteil an sich herum getragen hatte. Als Nataniel noch so klein gewesen war, sah die Sache noch ganz anders aus. Er hatte für Vieles herhalten müssen, was den elterlichen Lernprozess anging, aber es schien ihm nie wirklich etwas ausgemacht zu haben. Kaum zu glauben, dass er jetzt größer als sein Vater war.

Wie schnell doch die Zeit verging.

„Ich will dich eigentlich nicht zulange aufhalten. Aber ich denke, es kann nicht schaden, wenn wir einmal nach den Männern sehen. So wie ich meine beiden kenne, ist das sicher kein verkehrter Gedanke.“

Mary grinste Amanda von der Seite her an, ehe sie die blonde Frau zu den Ställen führte, wo sie ihre beiden Männer vermutete.
 

Es war für Amanda etwas ganz Neues auf einer Farm zu sein. Als Kind hatte sie in einem Vorort gelebt, in einem kleinen Haus mit einem Garten, in dem ihr Vater eine Schaukel und einen Sandkasten für die Kinder gebaut hatte. Aber sie war noch nicht einmal auf einem Bauernhof gewesen, geschweige denn auf einer riesigen Farm wie dieser.

Es fühlte sich so an, als wäre sie in einem Film. Vor allem, als Mary zu den Ställen hinüberging und Amanda ihr über den sandigen Platz und durch das Gebäude folgte, dass nach Pferd roch, war ihr ein wenig seltsam zumute.

Als wären hier Arbeitsstiefel, Jeans und T-Shirt angemessener gewesen als Amandas enge Hose und das dunkle Oberteil.

Sie würde bei Gelegenheit in die Stadt fahren und sich ein paar Anziehsachen besorgen. Schließlich wollte sie nicht immer in den gleichen Klamotten und vor allem nicht in der gleichen Unterwäsche herumlaufen.

Clea sollte ihre Konten inzwischen aufgelöst und umdisponiert haben, so dass Amanda wieder an ihr Geld kam, ohne wegen der Moonleague in Verfolgungswahn ausbrechen zu müssen.
 

***
 

Während sein Dad unruhig im Raum auf und ab tigerte, saß Nataniel inzwischen ruhig auf einem Strohballen und sah ihm beim Hin- und Herlaufen zu. Kein Wunder dass sein Vater so aufgebracht war. Eine Geschichte wie die von Nataniel bekam man schließlich nicht jeden Tag zu hören.

Zuerst hatte er damit begonnen, ihm von dem Raben mit der Botschaft seines Erzeugers zu erzählen. Wie er sich auf den Weg gemacht hatte und dann angefahren wurde.

Die Amnesie und Amandas Rolle bei seiner Erinnerung dabei, verschwieg er ohne schlechtem Gewissen. Alles musste sein Dad wirklich nicht wissen, besonders wenn es darum ging, seine Gefährtin zu beschützen. Weshalb er sie und die Moonleague auch kein einziges Mal in einem Satz erwähnte. Überhaupt erwähnte er Amanda so gut wie gar nicht. Stattdessen berichtete er ausführlich, wie er schließlich zu seinem Rudel geführt wurde und dass er von da an das Potential in sich erkennen und annehmen konnte. Es war alles fast wie automatisch gegangen. Da war das Rudel seines Vaters, das ihn als Anführer haben wollte und hier war er, als geborenes Alphatier. Eine Gleichung die auch als solche aufgegangen war.

Nataniel erzählte seinem Dad auch von der Flucht vor dem feindlichen Rudel und von dem Verrat an seinem eigenen. Noch immer wusste er nicht, wer ihre Identitäten nun verraten hatte, aber solange er noch keinen besorgten Anruf von einem seiner Mitglieder bekommen hatte, machte er sich noch zu keine großen Sorgen deswegen. Wer weiß, vielleicht war es auch die Besitzerin des B&B gewesen, die auch schon Amanda verraten hatte. Immerhin musste die Frau auch sehr viel gewusst haben, war sie doch ebenfalls einmal ein Teil des Rudels seines Vaters gewesen und seither war sie auch nicht wieder aufgetaucht.

Der Kampf mit Nicolai und die Reise in diese Gegend hatte Nataniels Geschichte abgerundet. Nun saß er schweigend hier und wartete auf eine andere Reaktion seins Dads, als stille Beinarbeit. Denn seit er zu erzählen begonnen hatte, war Steve sehr schweigsam geworden.

Letzten Endes betraf ihn das alles gar nicht, aber natürlich konnte man die Sorgen eines Vaters nicht so einfach abstellen. Wie erst seine Mutter darauf reagieren würde, wollte sich Nataniel in diesem Moment gar nicht vorstellen. Aber das würde er garantiert seinem Dad überlassen. Noch einmal diese Rede halten, würde er nicht durchziehen können. Er hatte wirklich anderes im Kopf.

Schließlich, als wäre seinem Dad der Sprit ausgegangen, blieb er stehen und sah Nataniel von oben bis unten an.

„Ich hoffe, du verstehst, dass das Ganze nicht sehr leicht für mich ist, Nataniel. Ich meine, du gehst weg und lässt uns im Glauben, du seiest auf einer Gruppenreise und kommst zurück als Alphatier, mit einem ganzen Sack voller neuer Narben und zugleich einer Ausstrahlung, als wärst du um einige Jahre reifer geworden. Nimm es mir nicht übel, aber so leicht lässt sich das für mich nicht verdauen. Erst recht nicht, da du auch noch eine menschliche Gefährtin mitbringst. Ich meine, nichts gegen das Mädchen, aber wie kam es eigentlich dazu?“

Kaum dass es um Amanda ging, versteifte sich Nataniel und er sprang mit einem Satz von dem Strohballen, um sich in seiner vollen Größe aufzurichten, womit er seinen Vater immerhin ein paar Zentimeter überragte.

„Sie hat mir mehrmals das Leben gerettet. Selbst wenn dem nicht so wäre, könnte ich dich das gleiche mit Mom fragen. Woher wusstest du, dass sie deine Gefährtin ist? Ich weiß nicht, wie es genau dazu kam, aber das es so ist, lässt sich für mich nicht leugnen. Mehr muss ich auch nicht wissen.“

Er liebte Amanda mehr als sein Leben. Daran gab es einfach keine Zweifel mehr.

Für einen langen Augenblick sah Steve seinen Sohn, überrascht über die offen ausgestrahlte Autorität von diesem, nachdenklich in die Augen. Als könne er nicht fassen, wen er da vor sich hatte. Doch schließlich fing sich sein Dad wieder und er begann breit zu lächeln.

„Verdammt noch mal, Nataniel. Du bist wirklich erwachsen geworden. Dass ich das noch erleben darf!“

Ein unstimmiges Knurren war alles, was er von seinem Sohn erntete, bis sich auch Nataniel ein Lächeln nicht mehr verkneifen konnte.

„Wolltest du mir nicht noch die neuen Pferde zeigen?“, fragte er schließlich, um das Gespräch nun endgültig zu beenden. Immerhin hatte er es endlich überstanden.
 

***
 

Der Stall war wirklich groß und bot Platz für gut zwanzig Pferde, auch wenn nicht alle Boxen belegt waren. Doch obwohl Mary in jedem Winkel suchte, fand sie weder Nataniel noch ihren Mann, weshalb sie Amanda schließlich an den Pferdeboxen links und rechts entlang führte, um auf der anderen Seite des Stalls wieder ins Freie zu treten, wo die Koppel lag und ein kleiner eingezäunter Bereich, der mit Sand ausgestreut war. Dort ritten sie für gewöhnlich die Pferde zu.

„Ah, da sind sie. Ich wusste doch, dass sie nicht weit weg sein konnten.“

Mary deutete auf ihren Mann, der auf dem Rundholzzaun saß und in das Innere, des Auslaufs blickte. Nataniel konnte sie nirgends sehen, weshalb sie vermutete, dass er sich gerade mit einem der neuen Pferde beschäftigte.

Hoffentlich nicht mit diesem schwarzen Monster, dessen weiße Fesseln beinahe schon verhöhnend elegant wirkten.

Das Tier war kaum zu halten gewesen, als es auch nur den schwachen Geruch von Steve aufgefangen hatte. Dabei hatte er sich vorher sogar extra noch geduscht, um wirklich nicht nach Raubkatze zu riechen, aber manche Pferde spürten das einfach von Vornherein. Dennoch wollte ihr Mann ihn unbedingt kaufen, auch wenn er zur Arbeit selbst wohl nicht viel taugen würde, wenn man sich nicht auf ihn verlassen konnte.

Als sie näher kamen, entkam Mary ein resignierter Seufzer. Natürlich war es der Hengst. Welches Pferd auch sonst? Nataniel hatte wirklich noch nie etwas gegen Herausforderungen gehabt, so schien ihr.

„Und wie macht er sich?“, wollte sie von ihrem Mann wissen, der erst jetzt bemerkt hatte, dass die Frauen zu ihm gestoßen waren. Er musste wirklich ganz schön abgelenkt gewesen sein.

Nataniel nahm ihre Anwesenheit daher erst recht nicht zur Kenntnis. Immerhin sah der Hengst alles andere als ruhig aus. Er scharrte unruhig mit dem rechten Vorderhuf im Sand, hatte die Ohren zurückgelegt und begann dann wieder nervös hin und her zu tänzeln. Obwohl Nataniel nichts anderes tat, als wenige Meter vor dem Tier zu stehen und ihn anzusehen. Das jedoch mit großer Konzentration.

„Wer? Unser Sohn oder der Hengst?“, fragte Steve zurück.

„Beide.“

„Die anderen drei Pferde hat er sich schon in den Boxen angesehen. Er fand dieses Mal sogar, dass ich eine gute Wahl mit den Tieren getroffen habe. Du weißt ja, wie kritisch er bei solchen Sachen immer ist.“

Mary machte ein zustimmendes Geräusch.

„Und was hat er zu dem Hengst gesagt?“, hakte sie nach. Immerhin war das Tier nicht billig gewesen.

„Bis jetzt noch nicht viel. Er wollte ihn sich erst einmal richtig ansehen, aber das hat der Hengst natürlich nicht zugelassen, weshalb wir ihn hier heraus gebracht haben. Jetzt zieht er seine Pferdeflüsterernummer durch. Ich frag mich immer wieder aufs Neue, wie er das schafft. Dabei mache ich nicht wirklich etwas anders als er.“

„Muss wohl an seiner Ausstrahlung liegen.“

Den kleinen Seitenschlenker konnte sich Mary nicht verkneifen, doch ihr Mann ging leider nicht darauf ein, sondern sah wie gebannt auf die Szene vor sich, als sich etwas innerhalb der Umzäunung tat.

Nataniel hatte sich anscheinend nicht gerührt, aber der Hengst brach auf einmal aus, während er Staub hoch wirbelte. Ihr Sohn folgte dem Tier nicht, hielt aber immer Augenkontakt zu ihm, bis es sich wieder beruhigt hatte. Erst als der Hengst wieder leicht nervös, aber offensichtlich auch etwas neugierig im Sand scharrte, rührte sich Nataniel und ging zwar langsam, aber in gemessenen Schritten auf den Hengst zu. Ohne groß Umschweife zu machen.

Das war der Punkt, an dem Mary jedes Mal glaubte, die Tiere würde ihn entweder anfallen oder wieder weglaufen, doch überraschenderweise blieben sie alle einfach stehen. Als könnte Nataniel sie mit seinem bloßen Blick bannen.

Als er schließlich dicht vor dem großen Tier stand, hob er seine Hand etwas an, aber nicht weit. Eine Weile schien nichts zu geschehen, doch plötzlich senkte der Hengst seinen Kopf und drückte seine Nüstern gegen Nataniels Handfläche, um deutlich dessen Geruch aufnehmen zu können.
 

Nataniel war erleichtert, als der Hengst endlich auf ihn zukam. Er hatte schon geglaubt, das Tier wieder weggeben zu müssen, weil es sich gar so sträubte, obwohl es schon von Menschen zugeritten und eingewöhnt war. Aber das konnte sich in der Nähe von Gestaltwandler immer ändern. Er wusste das aus Erfahrung.

Aber woran es auch lag, in den meisten Fällen begannen die Tiere ihm zu vertrauen. Sie waren skeptisch wie neugierig. Das war etwas, mit dem er arbeiten konnte. Nachdem die Skepsis überwunden war, kam die Neugierde und die brachte schließlich den Hengst dazu, Nataniels Hand zu berühren, um ihn so leichter wittern zu können. Es würde zwar noch ein gutes Stück Arbeit bedeuten, das Tier an seinen Panther zu gewöhnen, aber zumindest für den Moment hatte er ihn unter Kontrolle, weshalb er ihn schließlich am Geschirr nahm und beruhigend den warmen Hals tätschelte und streichelte, während er ihm leise Worte zuflüsterte.

Erst als er sich mit dem Hengst auf den Weg zum Tor machte, bemerkte er die angewachsene Zuschauermenge. Sofort erschien ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen, als er Amanda erblickte. Das Wort richtete er jedoch zuerst an seinen Dad.

„Gib ihm einen Namen, eine Box und was zu Fressen. Meinen Segen hast du für den Hengst.“

Mit diesen Worten drückte er seinem Vater die Führungsleine in die Hand und klopfte sich dann den Staub von seinen Handflächen, ehe er neben Amanda trat.

„Wenn du nichts dagegen hast, werde ich die Führung später fortführen. Jetzt will ich erst einmal unter die Dusche.“, teilte er ihr mit.

Kein Wunder, erstens roch er nach Pferd. Zweitens schwitzte er unter den Verbänden ganz schön, auch wenn es angenehme Temperaturen waren und drittens wollte er seinen Eltern die Zeit geben, um sich zu unterhalten.
 

Amanda stand neben Steve und Mary und sah Nataniel dabei zu, wie er das Pferd zu zähmen versuchte. Ihr waren diese großen Tiere immer völlig uninteressant vorgekommen. Schön zwar und mit einem Hauch von Freiheit, wenn man es beherrschte, sie zu reiten, aber eben nicht besonders. Das schien Nataniels Familie und auch er selbst, anders zu sehen. Es war ein durchaus beeindruckendes Schauspiel, Nataniel dabei zuzusehen, wie er das Tier beruhigte und schließlich an seinen Vater abgab. Amanda erwiderte Nataniels leichtes Lächeln und ging neben ihm her in Richtung seiner Hütte.

"Hast du mit deinem Dad alles geklärt?"

Sie sah zu ihm auf, um gleich an seinen Gesichtszügen erkennen zu können, ob das Gespräch gut oder schlecht verlaufen war.

Es klang egoistisch, aber Amanda hätte auch gern gewusst, wie viel Nataniel seinem Vater von ihr und der Organisation erzählt hatte. Sie würde ungern ein böses Erwachen erleben, wenn sie zum Abendessen erschien und man ihr – nur verständliche – Abneigung entgegen brachte. Und doch wollte sie Nataniel nicht drängen.
 

„Ja, ich habe meinem Dad so weit alles erzählt, was die Angelegenheiten um das Rudel anging. Die Moonleague habe ich nur am Rande erwähnt und du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, was deine Rolle dabei angeht. Alles erzähle ich meinem Vater wirklich nicht. Es geht ihn nichts an, was du getan hast, bevor wir uns trafen. Meiner Ansicht nach ist das Vergangenheit und zu jenem Zeitpunkt waren sie es, die dir ein neues Leben gegeben haben, nachdem jemand meiner eigenen Rasse dein Altes zerstört hat.“

Wenigstens in diesem einen Punkt konnte er nichts gegen die Moonleague sagen. Sie hatten Amanda zu der gemacht, die sie nun war. Wäre es anders, er hätte sie vermutlich nie getroffen. Eine Tatsache, die er sich nicht vorstellen konnte. Ohne sie in sein altes Leben zurückkehren? Beides war nicht mehr möglich. Es hatten sich neue Kapitel aufgetan. Egal ob Nataniel nun wollte oder nicht.
 

"Ich habe mit deiner Mom geredet. Sie ist wirklich nett. Wir konnten ein paar Missverständnisse aus dem Weg räumen."

Unvermittelt hielt Amanda an und nahm Nataniels Hand. Er roch nach Pferd und sah ein wenig angestaubt aus. Ließ der Dreck auf seinen Wangen seine Augen etwa noch intensiver erscheinen, als es sonst der Fall war?

In einer fast unschuldigen Bewegung stellte Amanda sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um Nataniels Hals und küsste ihn. Ob er verstand, wie sehr sie ihn liebte? Dabei verstand sie selbst nicht, warum ihr Herz gerade jetzt so wahnsinnig stark danach verlangte, es ihm zu zeigen, sich zu vergewissern, dass er das Selbe fühlte und vor allem, dass er sie nie verlassen würde.

Amandas Kuss war lang und als sie ihn beendete, sah sie Nataniel in die tiefen, eisblauen Augen. Am liebsten hätte sie ihn nie mehr losgelassen, aber sie brauchte keine Angst zu haben, dass er ihr hier einfach davon lief. Daher ließ sie ihn wieder los und begleitete ihn bis vor die Tür seiner Hütte, bevor sie abermals stehen blieb.

"Während du duscht, würde ich gern in die Stadt fahren, ein paar Klamotten und andere Dinge besorgen und Eric anrufen. Ist das ok? Oder möchtest du mit in die Stadt kommen? Wenn du was brauchst, kann ich es dir auch gern mitbringen."
 

Als Amanda fortfuhr, wollte er gerade fragen, was für Missverständnisse das denn gewesen seien, doch da hielt sie plötzlich an, so dass er aus dem Tritt kam und von ihrer Hand wieder zurück gezogen wurde, als sie die seine ergriff.

Positiv überrascht nahm er zur Kenntnis, wie sie ihre Arme um seinen Nacken schlang, sich an ihn drückte und ihn küsste. Ein Kuss und bei ihm brannten die Sicherungen für logisches Denken durch.

Instinktiv und zugleich aus dem Drang heraus, seinen Besitzanspruch geltend zu machen, umschlang er sie mit seinen Armen, zog sie so eng an sich heran, wie es ihm möglich war und zugleich beugte er sich etwas herab, damit sie sich nicht so nach ihm ausstrecken musste.

Kaum dass er ihre Lippen berührt und seine Zunge um ihre geschlungen hatte, begann für ihn deutlich fühlbar sein ganzer Körper zu vibrieren. Von der Sohle bis zu den Haarspitzen baute sich ein deutliches Prickeln in ihm auf und brachte damit seinen Puls sofort innerhalb weniger Sekunden zum Rasen.

Es war ihre Fruchtbarkeit. Sie rückte mit jeder Stunde näher und ließ seinen Körper schon mit der kleinsten Berührung auf Hochtouren laufen. Irgendwie war es ein gutes, aber auch zugleich ein absolut störendes Gefühl, weil es ihm den Panther näher, als dem klaren Verstand brachte. Ein Ringen, das schon einmal zu Komplikationen geführt hatte und obwohl er wusste, dass er sich zurückziehen sollte, konnte er es nicht. Stattdessen ließ er das herumwirbelnde Testosteron im Blut sich immer weiter entfalten, bis er glaubte, sich noch nie ‚Paarungsbereiter‘ gefühlt zu haben, als in diesem Moment.

Zum Glück sah er schon leicht verschwitzt und verstaubt aus. Auch der dominierende Geruch nach Pferd verdeckte, seine eigenen körperlichen Anzeichen sehr gut, aber er würde es nicht mehr lange vor sich herschieben können.

Amanda sollte wirklich erfahren, was hier los war, bevor wieder etwas völlig Unvorhergesehenes passierte. Aber irgendwie brachte er die Worte nicht über seine Lippen. Stattdessen musste er mit aller Gewalt gegen den Drang ankämpfen, sie nach ihrer Frage nicht gleich ins Haus zu sperren.

„Nein!“, entkam es ihm trotzdem etwas zu laut. Weil sie vorhatte, alleine in die Stadt zu fahren. Wo überall männliche Gestaltwandler herum liefen.

Einige seiner Kumpel waren wahre Frauenhelden. Die Ladys lagen ihnen zu Füßen, wenn sie nur von ihnen angelächelt wurden. Wie konnte er Amanda da alleine raus schicken?!

Eifersucht, ungezähmte Dominanz und Revierinstinkte lasteten tonnenschwer auf ihm und zugleich schienen sie ihn zu beschimpfen, als er seinen zu lauten Ausruf mit sanft ausgesprochenen Worten abmilderte: „Ich meine: Nein, ich brauche nichts. Aber wenn du gute Kleidung für gutes Geld einkaufen willst, so kann ich dir ‚Susans Fashion Boutique‘ empfehlen. Sie macht auch tolle Beratung, falls du darauf Wert legen solltest…“

Oh Mist! Entfuhr es ihm in Gedanken, als ihm einfiel, wer Susan alias ‚die Viper‘ war. Zwar hatte er sie schon Monate nicht mehr gesehen und auch davor war ihr Verhältnis nur noch rein freundschaftlich gewesen, aber trotzdem hätte er sich am Liebsten für seine Worte auf die Zunge gebissen.

Sie war eine seiner Bettgefährtinnen in seiner Jugendzeit gewesen. Sex mit einer Frau, die eine Schlange in sich trägt, war wirklich nicht zu verachten, was die Stellungen anging, aber verdammt noch mal. Im Augenblick hätte er jede Minute von dieser Zeit ausgelöscht, wenn er gekonnt hätte.

Amanda als seine Gefährtin dorthin zu schicken, kam ihm ziemlich falsch vor. Aber er konnte das Gesagte nicht mehr rückgängig machen und wenn er mitkam, würde er sicherlich eine Situation herauf beschwören, die alles andere als angebracht war.

Von dem Verlangen hin und her gerissen, bei Amanda zu sein, um auf mögliche Rivalen zu achten und der Angst davor, genau dadurch eine Katastrophe auszulösen, ließ er schließlich doch die eher praktischere Seite gewinnen.

Shopping war nicht unbedingt sein Ding, auch wenn er für Amanda wirklich alles tun würde. Selbst Stundenlang durch Kaufhäuser zu wandern und ihre Tüten zu schleppen. Er würde es mit Freuden hinnehmen. Aber sie wollte auch noch ihren Bruder anrufen und bestimmt täte ihm selbst auch etwas Abstand gut, um von seinem Hormonstau etwas runter zu kommen. Seine Jeans wurde ohnehin bald gesprengt, wenn das so weiter ging.

„Fahr nur alleine, wenn du willst. Ich habe das Handy immer dabei, falls es Probleme geben sollte.“, meinte er schließlich etwas künstlich.

Hatte Amanda eigentlich eine Ahnung, wie schwer es ihm fiel, DAS zu sagen? Alles in ihm wehrte sich dagegen, sie gehen zu lassen, als würde er sie nie wieder sehen. Aber es war einfach lächerlich, so etwas zu denken.
 

Überrascht von Nataniels augenscheinlich übertriebenem Ausruf, zog Amanda die Augenbrauen in die Höhe. Was das 'nein' jetzt genau heißen sollte, erklärte er dürftig im nächsten Satz, aber für Amandas Ohren klang das nicht gerade überzeugend.

Schon den ganzen Tag über war etwas an Nataniel gewesen, das Amanda nicht richtig einordnen konnte. Er schien sich nicht anders zu verhalten als sonst, aber irgendetwas lag in der Luft, das Amandas Alarmglocken schrillen ließ.

Es fühlte sich fast so an, als würde Nataniel ihr etwas verschweigen.

Sobald sie an den Morgen zurückdachte, seine leicht hilflose Geste, als wäre ihm schwindelig, sah sie ihn prüfend an. Er wäre doch hoffentlich nicht so dumm, eine schwere Verletzung vor ihr geheim zu halten. Was, wenn er doch schlimmere Wunden davon getragen hatte, als man äußerlich sehen konnte?

Horrorszenarien von inneren Blutungen, Entzündungen und noch Schrecklicherem stiegen in Amandas Vorstellung, wobei sie versuchte irgendein Zeichen zu erkennen, das auf etwas Derartiges hindeuten könnte. Und dann fiel ihr ein, wo sie hier waren.

Vor Amanda könnte Nataniel eine vermeintlich tödliche Wunde geheim halten. Aber nicht vor seiner Familie. War es denn nicht so?

Sofort beruhigte sich Amanda wieder und erst jetzt stellte sie fest, dass sich ihr gesamter Körper vor Sorge verkrampft hatte. Sie lockerte sich leicht und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Nataniel ihr die Boutique empfahl und ihr schließlich sagte, dass er jederzeit erreichbar sei.

"Ok, ich werde nicht lange weg sein."

Nachdem sie ihm einen kurzen Abschiedskuss gegeben hatte, fügte sie noch hinzu: "Und du weißt, dass für mich das Gleiche gilt. Ich bin hoffentlich nicht umsonst die eins in deinem Kurzwahlspeicher."

Mit einem Zwinkern war sie verschwunden und bald mit dem Leihwagen auf dem Weg in die nahegelegene Stadt. Während sie durch Wälder fuhr, die sich auch dann nur wenig lichteten, als bereits das Ortsschild sie willkommen hieß, sang Amanda einen Song im Radio lautstark mit und trommelte den Takt auf dem Lenkrad.

Ob es allein an Nataniel lag oder seiner freundlichen Familie, der allgemeinen Umgebung oder der Tatsache, dass sich Amanda seit Langem endlich einmal absolut frei fühlte, war egal. In diesem Moment war sie einfach nur absolut fröhlich.



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