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Der Dornenkönig

von

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Traumlandschaften. Er, der Dornenkönig, hält mir höhnisch seine Hand entgegen. Mir bleibt keine andere Wahl, als sie zu ergreifen. Seine spitzen Dornen bohren sich stechend in meine Haut, ich blute, aber ich fühle keinen Schmerz. Ich weine, doch ich empfinde keine Trauer. Er hält schützend seine andere Hand über meinem Kopf, so, als würde er mich trösten und flüstert die Worte:“Folge mir!“ Ich verstehe ihn laut und deutlich, so als hätte er für mich gesungen. Nur für mich, eine sanfte Melodie aus den Worten geformt: folge- mir. So säuselt der Wind. Folge mir. Wohin?, will ich fragen, doch meine Stimme versagt, versperrt den Worten den Weg durch die Zunge und so bleiben sie in meinen Gedanken gefangen. Nickend steige ich die Treppen herauf, die sich vor mir auftun. Stufe um Stufe erklimme ich hinter der mächtigen Gestalt des Königs. Sein Gewand winselt vor meinen Füßen, ich habe Angst, ihm zu nah zu kommen, ihn zu berühren. Manchmal blickt er sich nach mir um, lächelnd. Seine Zähne sind Dornen, an ihnen klebt Blut. Ich lächele zurück. Wir erreichen eine Tür, erklimmen die oberste Stufe. „Herein!“, fordert er mich erneut auf. „Lass mich dir zeigen, wo es weh tut.“ Der Raum, der sich dahinter verbirgt, besteht aus Nägeln. Die Wände, der Boden, und der Stuhl, der das einzige Mobiliar darstellt, sind aus spitzen Nägeln geformt, rostbraun und lang. Ich wage lange Zeit nicht, hinein zu treten, doch erneut säuselt der Wind durch mein Ohr:“Komm herein, junges Kind“, und seine Stimme ist so lieblich, das ich nicht anders kann, als ihr folge zu leisten. Meine nackten Füße werden von Nägeln durchbohrt, sie hinterlassen tiefe Wunden in meinem Fleisch, durchdringen meinen Sehnen. Ich kann sie unter meiner Haut sehen, sie pulsieren. Ich spüre keine Schmerzen. Der Dornenkönig drückt mich gegen die Wand, lässt die Nägel tief in meinen Rücken eindringen. Durch mein Mark gehen sie, durch die Wirbelsäule. Sie zerschneiden mein Muttermal und ich fühle, wie das kalte Blut an mir herab rinnt, ich kann den rostigen Geruch der roten Flüssigkeit in meinem Mund schmecken. Es tut nicht weh, ich fühle mich wie betäubt, werde noch weiter in die Wand gedrückt, bis die Spitzen meine Brust durchdringen, aus meinem Bauch herauskriechen, wie Parasiten aus dem trächtigen Laib einer toten Frau. Mit einem Ruck reißt mich der König heraus, als wäre ich nichts weiter als Papier, das er in Stücke reißt. Sanft umschließen mich seine Hände. Ich blute, meine Haut hat sich längst rot gefärbt. Wie war sie früher, frage ich mich. Ich kann mich nicht erinnern. Aus dem einzigen Fenster des Raumes kann ich nach draußen sehen. Dort steht mein Sarg, ich sehe seine Konturen durch das milchige Glas der Scheibe und weiß instinktiv, dass er für mich gedacht ist, doch ich kann noch nicht gestorben sein, das weiß ich, als ich auf den Stuhl gesetzt werde, ich bin überzeugt davon, dass mein Fleisch sich entzündet hat. Es eitert, es beginnt zu brennen, die erste Empfindung und ich kann nicht anders darauf reagieren, als mit einem Lachen. „Worüber lachst du?“, fragt der König erzürnt. Ich antworte:“Mich kann doch nichts mehr zum weinen bringen, seit du mir das Herz heraus gerissen hast.“ Ich verweise auf die Aushöhlung in meiner linken Brust. Von Hautfetzen umrandet prangt mein Rippengitter, doch das Knochengefängnis ist leer. Aus seiner Tasche holt der König einen roten Klumpen. Fleischig und pulsierend liegt er auf seiner Handfläche, klein und unbedeutend, fast hilflos. „Du darfst ihn behalten“, sage ich ihm. „Ich kann es nicht mehr gebrauchen. Leg es in den Sarg dort draußen vor dem Fenster, eines Tages werde ich mich dazu legen.“

Er steckt das Herz zurück in seine Tasche, nickt mir kurz zu und löscht das Licht.



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