Eine Lilie, bitte
Eine Lilie, bitte
lasst die Rosen im Garten
Rosen. Schon wieder Rosen. Warum immer wieder Rosen?
Ihre ganze Wohnung bestand fast gänzlich nur noch aus Rosen!
Was hatten die nur alle mit Rosen? Was war so toll an Rosen?
Sie hasste Rosen.
Sie verfluchte ihre Freundin Ino. Dieses verdammte hexenartige, teuflische Biest.
Zur Erklärung: Ino Yamanaka war äußerst kreativ, schon immer. Ihre Einfälle waren legendär, berühmt berüchtigt und ebenso weit gefürchtet. Und flößte man ihr Alkohol ein, so war sie nicht mehr nur kreativ, nein, es grenzte schon fast an verrückten Wahnsinn, was sie dann vorzuweisen hatte und anderen antat.
Ino war betrunken gewesen - übermäßig betrunken -, als ihr der Einfall gekommen war, sie - ihre beste Freundin, ihre Seelenverwandte, ihr Fels in der Brandung, ihr Halt an einer Klippe, der verdammte Regenschirm bei einem Mistwetter! - bei einer Partnerbörse anzumelden. Keine normale Partnerbörse, oh nein! Da Ino Yamanaka ein bekennender Blumenfetischist war, suchte sie sich natürlich die Vermittlung aus, bei denen die potentiellen Bewerber ihren ausgesuchten Herzensdamen ihre Telefonnummer mitsamt Foto und kurzer Beschreibung mit Blumen schickten, per vermittlungseigenem Lieferservice; verstand sich ja wohl von selbst.
Und nun bekam Sakura Haruno mehrmals am Tag Rosen gebracht. Nur Rosen. Mal eine weiße, dann eine rosane, ab und zu auch eine gelbe, aber hauptsächlich rote Rosen.
Die weißen Umschläge, die an den Stielen befestigt waren, blieben ungeöffnet. Solch eine Unkreativität, was das Wählen einer geeigneten Blume anging, gehörte nicht belohnt, indem sie sich die Fotos der Männer anguckte und sich einen von ihnen als möglichen Freund aussuchte oder was auch immer diese Idioten sich erhofften für sie zu werden.
Hatte sie in der Blumensprache eine Vokabel falsch nachgeschlagen? Ihrem Wissen nach hatten Rosen schon immer Liebe bedeutet.
Wer verschickte Rosen an eine Person, die er überhaupt nicht kannte?
Wer verschickte Liebe an eine Person, die er überhaupt nicht kannte?
Schnaubend schlug Sakura dem breit grinsenden Blumenboten die Tür vor der Nase zu. Die Rosen schmiss sie einfach in irgendeine Ecke des kleinen Flures und versuchte verzweifelt, auf keine der vielen Rosen auf dem Boden zu treten. Nicht, dass sie Angst davor hatte, die Blüten platt zutreten, es waren eher die Dornen, die ihr doch nennenswerte Sorgen bereiteten.
Ein leises Kichern ließ sie aufblicken und sogleich überzog sich ihr Gesicht mit Zorn. Ihr persönlicher Pechbringer und Unglücksmagnet saß neckisch auf ihrem Sofa und kicherte ihr dreist entgegen.
«Ich versteh echt nicht, warum du so miesepetrig bist. Erfreu dich doch an dem übermäßigen Interesse des männlichen Geschlechts an dir.» Allein dafür hätte sie ihr lieb und gerne etwas ins Gesicht geworfen. Leider befand sich nichts Greifbares außer den Rosen in der Nähe. Blöde, unnützliche Rosen!
«Wenn dir das ganze so viel Freude bereitet, warum hast du dich dann nicht selber da angemeldet?» Und da war sie: Die fetteste Lüge aller Zeiten. Ihr breites Lächeln à la ’Ich bin ja so unschuldig und kann nicht mal einer Fliege etwas antun’. Wie sie dieses Lächeln doch hasste. Es führte ihr immer wieder vor Augen, wie gut Ino ihre Mitmenschen manipulieren und nach ihrem Willen tanzen lassen konnte. Mein Gott, dieses Höllenweib konnte ja sogar Stumme zum Singen bringen! Vielleicht alle ihre Mitmenschen, aber nicht Sakura. Noch wehrte sie sich mehr oder weniger erfolgreich gegen die manipulierenden Angriffe an ihrem eigenen, freien Willen.
«So ist es doch viel lustiger. Allein schon dein Gesicht ist ein absolutes Highlight und dein wütendes Schnauben ist die Sahne plus Kirsche oben drauf.»
«Weißt du mit deinem Leben eigentlich nichts Besseres anzufangen, als mich ständig auf die Palme zu bringen?»
Das süffisante Grinsen brachte sie wieder gefährlich nahe zum Explodieren.
«Ach Haruno, was wäre die Welt ohne unsere gegenseitigen Neckereien? Genau: langweilig! Ich weiß, tief in dir drin liebst du es, mich mit deinem Sarkasmus in den Boden zu stampfen, so wie ich es liebe, dich zur Weißglut zu bringen.» Sie zwinkerte ihr verspielt zu und erhob sich dann stöhnend von dem Sofa. «Äh, Frau wird langsam alt.»
Dieses Weib kannte sie so gut. Und sie war die Beste, wenn es darum ging, sie herauszufordern, ob nun gewollt oder nicht.
«Oh ja, du solltest dir schleunigst einen Termin für ’ne Hüftoperation sichern. Mit 23 kann man ja nie wissen, wann es plötzlich zu spät ist.»
«Ha! Ich hab’s dir doch gesagt.» Ihre Antwort artete in einen kleinkindhaften Singsang aus und sie hüpfte in die Küche. Sakura schüttelte resigniert den Kopf. Ino würde sich niemals ändern. Vielleicht in vierzig Jahren, wenn schwache Knochen es ihr erschwerten, aber bis dahin würde sie einfach weiterhin durch das Leben tanzen, hüpfen und wirbeln.
Seufzend ließ sie sich auf das Sofa fallen - der einzige Platz, der noch nicht von dem Rosengestrüpp eingenommen wurde - und schaltete den Fernseher ein. Das Nachmittagsprogramm war ätzend, aber für ihre jetzige, schlechte Laune ausreichend. Sie drehte nur minimal den Kopf zur Seite, als Ino wieder in das Wohnzimmer trat, und schweifte dann wieder zu dem kreischenden Knäuel aus Frauen, die sich wieder einmal in irgendeiner Talkshow wegen eines Mannes bekriegten.
«Wieso, zur Hölle, hast du Rosen in deinem Kühlschrank?» Verdattert sah Ino auf die fünf Rosen in ihrer Hand, die sie aus dem Kühlschrank genommen hatte, und schien ihr eigentliches Vorhaben dort vergessen zu haben.
Sakura zuckte bloß kurz mit den Schultern. «Ich hatte keinen Platz mehr, um sie irgendwo drauf zulegen oder rein zustecken, bis ich dann irgendwann auf die Idee gekommen bin, sie einfach auf den Boden zu schmeißen. Im Eisfach sind übrigens auch welche, falls dir gekühlte Rosen nicht reichen.»
Dieses Mal war es an Ino, den Kopf zu schütteln. «Du bist verrückt. Meine beste Freundin ist verrückt.» Mit diesem verzweifelten Ausruf warf sie sich zu Sakura auf das Sofa und drückte sich in die Ecke.
«Nicht sehr verrückter als du.»
Und so verbrachten sie die weiteren Stunden des Tages eng zusammengequetscht auf dem Sofa und sahen sich sinnlose Shows an. Die Sonne ging schon langsam unter und färbte den Horizont in ein leuchtendes Farbenspiel aus Rot, Orange und ein wenig Rosa. Die zwei hätten auch noch die restlichen Stunden des Tages guten Gewissens so verbringen können, hätte nicht irgendein Idiot in diesem Moment das Verlangen danach verspürt, erst an die Tür zu klopfen - dreimal - und dann zu klingeln. Während Ino wieder los kicherte, verspannte Sakura sich und ihr Gesicht verzog sich zu einer verdammt wütenden Fratze. War dieses Ritual den beiden doch schon allzu bekannt.
«Ich glaub das einfach nicht!» Vor Wut kochend sprang sie auf und stierte zur Tür, fast so, als wollte sie Blitze aus ihren Augen schießen lassen und damit die Tür wegsprengen.
«Und schon wieder der Rosenkavalier.» Ino konnte nicht mehr an sich halten und fing nun lauthals an zu lachen.
Dieses “dreimal Klopfen und danach erst klingeln“ war Markenzeichen dieser verdammten Partnerbörse. Wenn das nicht bald aufhörte, würde noch jemand sterben. Und die lachende Ino prangte zurzeit an der Spitze ihrer Liste.
«Nun mach schon auf, bevor er nochmal klingelt.» Immer noch lachend trat sie zum Spaß nach ihr und schubste sie so der Tür entgegen.
«Wenn es wieder Rosen sind, töte ich ihn!» Inos lautes Lachen begleitete sie noch bis zu dem kleinen Flur.
Sakura atmete einmal tief ein und wieder aus und versuchte ihren normalen Gesichtsausdruck wieder herzustellen. Leichter gesagt, als getan.
Mit Schwung riss sie die Tür auf, bereit den Boten anzuschreien und sich notfalls auf ihn zu stürzen, und erstarrte kurz darauf.
Das Bild vor ihr war falsch.
Der Bote war männlich, wie auch die anderen Male zuvor. Er hatte die gleiche hässliche grau-grüne Uniform an. Das breite Grinsen war auch wie sonst. Etwas anderes passte nicht.
«Eine Lilie, bitte!» Dieses Mal hielt er ihr keine perfekt gezüchtete Rose unter die Nase, sondern eine weiße, noch nicht voll aufgeblühte, wirklich wunderschöne Lilie.
Sie liebte Lilien.
«Ähm … danke» Überrascht und verwirrt griff sie nach der Blume und nahm automatisch den weißen Umschlag, den der Bote ihr in die Hand drückte, entgegen und schloss langsam die Tür. Den Blick immer noch auf die Lilie gerichtet ging sie zurück ins Wohnzimmer.
«Ich habe gar keine Kampf- geschweige denn Sterbensgeräusche gehört. Du hast ihn doch wohl nicht etwa vollkommen unspektakulär vergif- oh!» Mitten im Satz hielt sie inne und starrte wie Sakura auf die schneeweiße Blume in deren Hand.
«Eine Lilie.» Sakura sah auf und wirkte seltsam sprachlos. «Ich habe eine Lilie bekommen.»
Ino beugte sich ihr entgegen und entriss ihr schwungvoll den Umschlag.
«Dann wollen wir doch mal sehen, von wem du eine Lilie bekommen hast.» Ungeduldig riss sie den Umschlag einfach auf und zog das Foto heraus.
«Woah, die Hölle grüßt. Der ist heiß!» Vollkommen aufgedreht und verknallt sah sie Sakura an. «Ich bin neidisch!»
Sakura lächelte leicht und setzte sich zu Ino auf das Sofa. So sehr interessierte sie sich gar nicht für das Aussehen des Kerls, ihre Gedanken drehten sich immer noch um die Blume in ihrer Hand. Wenn er ihr eine Lilie schickte, hielt er sie dann für schön?
«Jetzt guck doch mal!» Ungeduldig hielt Ino ihr das Foto hin und wühlte mit der anderen Hand in dem Umschlag und versuchte, den Zettel mit der Nummer und der Beschreibung herauszuziehen.
Langsam griff Sakura nach dem Foto und sah es sich lange an. Es war kein klassisches Portrait, eher eine Momentaufnahme. Er sah nicht direkt in die Kamera, sondern irgendwo anders hin und schien nicht einmal zu bemerken, dass er fotografiert wurde.
Ino hatte Recht. Der Mann sah wirklich unglaublich gut aus. Diese schwarzen Haare bildeten einen wundervoll auffälligen Kontrast zu seiner blassen Haut. Dieses markante, gleichzeitig auch seltsam weiche und wirklich hübsche Gesicht strahlte eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus. Man konnte es schon förmlich als Coolness bezeichnen. Aber nichts, wirklich gar nichts ging über diese Augen. Sie hatte noch niemals schwarze Augen gesehen. Sie kannte viele, die wirklich dunkle Augen hatten, aber keine rein schwarzen.
Ohne es verhindern zu können, ohne es verhindern zu wollen, bildeten sich kleine Schmetterlinge in ihrem Bauch und flogen wild hin und her.
«Er heißt Sasuke Uchiha und ist auch 23 Jahre alt. Mehr steht hier leider nicht.» Ino seufzte frustriert und schnappte sich wieder das Foto, um es weiter anzuschmachten.
Sakuras Lächeln wurde breiter und sie biss sich auf die Unterlippe.
Sasuke Uchiha schickte ihr also eine Lilie.
Und ließ die Rosen im Garten.
Ja, Sasuke Uchiha schickte Sakura Haruno eine Lilie.
Denn das Schicksal hatte beschlossen, dass Sasuke eine Wette verlor.
Und das Schicksal würde beschließen, dass Sakura sich bei ihm meldete.
Fin