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Hinterlist

Wichtelgeschichte für DINO2011
von

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Hinter den Nebelschwaden kamen kleine Häuser mit spitzen Dächern zum Vorschein. Die Außenwände waren sauber; kaum Autos fuhren hier wohl herum, höchstens Traktoren. Die Entfernung zur nächsten Großstadt betrug 203,4 Kilometer, die zur nächsten Kleinstadt 40,6 Kilometer. Das Dorf selbst war klein genug, dass man zu allen Bereichen per Fuß kommen konnte, ohne außer Atem zu geraten. Abgesehen von der Schule, die sich auf dem Hügel hinter den vielen, wie aus Lebkuchen gemachten Häusern verbarg.

Hanna seufzte und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Die Kühle beruhigte ihre heiße Stirn. Hinter ihrer Schädeldecke pochte und zog es.

"Mama, kann ich ne Aspirin kriegen?"

Ihre Mutter drehte sich zu ihr um und lächelte. "Schätzchen, wenn wir..."

"Wegen der bisschen Kopfschmerzen brauchst du keine Chemie", sagte Merten. Er bog in einen sandigen Weg ein. Der Parkplatz ihres neuen Zuhauses.

Hanna sank tiefer in den Sitz. "Aspirin ist doch keine Medizin. Das nehmen alle!"

"Du kriegst bloß deine Tage", sagte Merten. Er schnallte sich ab und stieg aus.

Hanna verengte die Augen und schnaubte. 'Was fällt ihm ein', dachte sie, 'ich kenn ihn kaum und er...'

"Spatz?", sagte ihre Mutter und öffnete die hintere Tür. "Komm, steig aus. Die Luft ist herrlich. Ich bin mir sicher, da wird es dir gleich besser werden."

Das einzige, was Hanna auffiel, als sie ausstieg, waren die toten Hühner. Weiße und braune Hühner und auch ein schwarzer Hahn lagen auf der Wiese neben ihrem neuen Haus. Kleine Blutlachen hatten sich um sie herum gebildet. Hanna konnte ihre Mutter und Merten hören, wie sie sich beim Auspacken stritten.

Sie seufzte und ging auf die toten Vögel zu. Die Flügel waren verdreht und die Schnäbel geöffnet. Hanna kniete sich hin und berührte das Blut. Es blieb an ihren Fingerspitzen kleben. "Das ist noch frisch", flüsterte sie.

"Hanna? Meine Güte, Hanna!"

Sie drehte sich um. Merten stand vor dem Kofferraum, die Hände in die Hüften gestemmt. "Hilf uns gefälligst!"

"Jetzt lass sie doch."

"Nein, mit sechzehn Jahren kann man auch mal von sich aus mit anpacken. Als ich so alt war wie sie, da..."

Hanna stöhnte. Sie wandte sich wieder der Hühnerleiche zu, vor der sie hockte. In der Brust des Huhns waren zwei Löcher. Die Federn darunter waren voller getrocknetem Blut. 'Vielleicht ein Fuchs?' Das Huhn war leicht. 'Klar', dachte Hanna, 'ihr fehlt ja das Blut.'

Sie trug es zu einer Bank an der Hauswand und legte es dort ab.

"Hanna, um Gottes Willen! Das kannst du nicht einfach anfassen!"

"Quatsch", sagte Merten, den kleinsten, leichtesten Koffer unterm Arm, "Dreck reinigt den Magen. Und wenn sie an Syphilis stirbt, selbst Schuld."

"Merten!" Ihre Mutter atmete zischend ein. Ihre Augen weiteten sich.

Hanna verdrehte die Augen. "Syphilis wird nicht von Huhn auf Homo sapiens übertragen."

"Klugscheißen will sie auch noch!" Merten setzte den Koffer vor der Tür ab. Er kramte in seiner Hosentasche.

Hanna wusste, wo der Schlüssel war. Im Handschuhfach, unter dem Eiskratzer. Aber wozu hätte sie es Merten sagen sollen? Um erneut angefahren zu werden? Sicherlich nicht.

Sie schob die Finger zwischen die dichten, rauen Daunen und untersuchte die Wunde. Glatte, runde Bisswunden. Ein Fuchs hätte die Hühner gefressen, aber bestimmt nicht fünf angebissen liegen lassen.

"Schatzilein, schau doch mal im Handschuhfach nach", sagte ihre Mutter. Ihre Stimme zitterte.

Hass wallte in Hanna auf. Niemand machte ihrer Mutter Angst -- und doch, sie wollte es und Hanna konnte nichts dagegen tun. Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und gesellte sich zu Merten und ihrer Mutter, die im Gegensatz zu ihm, wie Hanna nun sah, den schwereren Koffer geschleppt hatte. Ein bitterer Geschmack kam ihr in den Mund. Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich.

"Deinen Kram trägst du aber selber rein", sagte Merten.

Hanna zog die Schultern hoch. "Wie soll ich das machen, wenn die Tür nicht mal offen ist?"

"Werd nicht frech, du kleine..." Merten biss sich auf die Unterlippe. "Du weißt doch wieder alles besser."

"Ja", sagte sie und sie wusste, dass sie Recht hatte. Allerdings war es bei jemandem wie Merten nicht schwer, meistens Recht zu behalten und auch das war ihr klar. "Du solltest echt im Handschuhfach nachsehen."

"Ihr Weiber haltet wieder zusammen, typisch."

Hanna lief vor ihm zum Auto. Wenn er sah, dass er falsch gelegen hatte, wäre der Rest des Tages gelaufen. Wenn sie es holte, dann...

Sie winkte mit dem Schlüssel.

"Du hattest den doch schon die ganze Zeit! Hausarrest!"

"Mertischatz, wir sind gerade erst angekommen."

"Die perfekte Zeit, um sich in seinem Zimmer einzugewöhnen."

"Ist schon in Ordnung", sagte Hanna und schloss die Haustür auf. Ein muffiger Geruch waberte ihr entgegen und von der Decke fiel... sie kniff die Augen zusammen und suchte nach dem Lichtschalter.

Merten packte sein Feuerzeug aus und zündete die Kerze direkt neben der Tür an. "Hier gibt es zwar fließend Wasser, aber keinen Strom."

Hanna klappte der Mund auf. Dass sie nicht mit einbezogen worden war in die Wahl des Hauses, ja, aber dass ihre Mutter sich auf so etwas eingelassen hatte?

Das mysteriöse Ding war eine Motte. Sie war mindestens dreimal so groß wie die, die Hanna aus der Stadt und dem Bio-Unterricht kannte. Ihr drehte sich der Magen um.

Merten trat auf die Motte und schleppte den kleinen Koffer in den Flur. "Rechts geht's in die Küche, links ins Wohnzimmer. Hinten sind die Schlafzimmer. Deins ist neben der Toilette", sagte er und wandte sich damit an Hanna.

"Natürlich", sagte sie und schulterte ihren Rucksack. Ihre Klamotten steckten in dem großen Koffer, den sie sich mit ihrer Mutter teilte. Ihre Bücher hatte sie nicht mitnehmen dürfen. Zumindest war das ihre Vermutung. Merten fand es nicht gut, wenn Kinder zu schlau waren, vor allem weibliche Kinder. Eines Tages, kurz nachdem Merten mit ihrer Mutter zusammen gekommen war, waren ihre Bücher verschwunden. Ihn zu beschuldigen hätte nichts gebracht.

Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Unverfehlbar, der Duft der Toilette hing davor und auch darin. Sie hielt sich die Nase zu und betrat den Raum. Kaum zehn Quadratmeter schätzte sie. Für einen Schrank war kein Platz mehr. Das schmale Bett und der noch schmalere Tisch stellten das Zimmer schon komplett zu. Der Stuhl war nur ein Hocker und obwohl durch das Fenster nur wenig Licht fiel, konnte sie von weitem die Splitter sehen.

Sie setzte sich auf das Bett. Es quietschte. Die Matratze war weich und wenn sie mit der Hand darüber strich, konnte sie die Sprungfedern fühlen. Darauf zu schlafen würde nicht angenehm werden. Und Vorhänge gab es auch keine.

"Hoffentlich gibt's keine Werwölfe."
 

*
 

Der Nebel hatte sich über Nacht verzogen, wie auch die schlechte Laune Mertens. Hanna hatte zehn Minuten zuhören müssen und danach nicht mehr in den Schlaf gefunden. In dem Haus gab es keine Spiegel, aber sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Augenringe ihr bis zu den Kniekehlen hingen.

Merten hatte den Hausarrest aufgehoben und so war sie gleich nach dem Frühstück, das aus Toast und Butter bestanden hatte -- "wenn die Hühner noch leben würden, hätten wir Eier gehabt, wenn ich den Übeltäter erwische, knall ihn ab!" -- nach draußen abgehauen.

Das Schulgebäude war ein altes Haus, wie alle anderen, wild zusammengewürfelt nebeneinander stehenden Häuser des Ortes. Die Regenrohre hatten massenweise Löcher und an der östlichen Ecke war ein Stück herausgebrochen.

Soweit Hanna wusste, hatte die Schule weder einen besonders guten, noch einen besonders schlechten Ruf. Sie hatte einfach gar keinen Ruf. Niemand hatte je von dieser Schule gehört, außer dem Schulamt. Dass sie existierte war eine Tatsache, die niemanden interessierte, der nicht in dem namenlosen Ort wohnte.

Hanna schulterte ihre Schultasche und stieg die Treppen hoch. Wie viele Schüler es hier geben mochte? Insgesamt sicher nicht mehr als zwanzig.

Sie linste durch eins der hohen Fenster. Die Scheibe war grau und Hanna war sich nicht sicher, ob das Fenster nur von außen schmutzig war oder auch von innen. Sie seufzte und ging um die Ecke.

"Wer bist du?"

Hanna erstarrte. Die Stimme hatte ein deutliches Echo gehabt, aber als die Quelle hinter einem Müllcontainer hervortrat, war es nur ein Junge. Er war blond und etwa fünf Zentimeter kleiner als sie, hatte X-Beine und war so dürr und bleich, dass ihr der Anblick in den Augen und im Herzen wehtat. Sie schluckte und streckte die Hand aus. "Ich bin Hanna! Nett, dich kennen zu lernen."

"Mein Name ist Niklas." Die Stimme hatte nichts von der, die Hanna davor gehört hatte. Sie war hoch und ab und an krächzte der Junge. Dann räusperte er sich und sprach das nächste Wort langsamer aus. "Bist du die Neue?"

"Hm? Äh, ah." Sie hatten schon von ihr erzählt? Dass die Nachricht überhaupt bis hierher vorgedrungen war. Bisher hatte Hanna noch keinen Nachbarn gesehen und es war inzwischen mitten am helllichten Tag. "Ja, ich werde hier die Zehnte besuchen."

Niklas verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. "Das gibt's hier nicht", nuschelte er. Seine Stimme brach bei der Hälfte des Satzes wieder ab. "Hier gibt's nur eine Klasse Unterstufe, eine Klasse Mittelstufe und ne Klasse Oberstufe."

"Oh, ach so", sagte sie und lächelte ihn an.

Obwohl oder vielleicht gerade weil er so bleich war, lief er röter an, als Hanna es für einen Menschen möglich gehalten hätte und obwohl sie sich eigentlich damit brüstete, nicht besonders mädchenhaft zu sein, fing sie an zu kichern. "Und du bist wie alt?"

Niklas Augen bewegten sich hektisch hin und her. "Fünfzehn", sagte er.

"Also jünger als ich."

Er zog die Wangen in den Mund und starrte auf den Boden.

"Oh, ich wollte damit nicht sagen, dass du... also... irgendwie..." Hanna sah selbst zu Boden. Das Gras war nass und gelblich statt satt grün, wie man es von einer dörflichen Gegend eigentlich erwartet hätte. Trotzdem war es ein besserer Anblick als das Gesicht des beleidigten, verlegenen Jungens. Sie wusste doch, wie man sich benahm. Außerdem hatten sie sich eben erst getroffen. Ihr Herz sank tief in ihre Magengrube hinab. Die Kopfschmerzen vom Vortag kehrten zurück und sie holte tief Luft. Es half nur wenig.

"Hast du einen Spitznamen?" Seine Stimme hatte fast gar nicht gewackelt.

Hanna hob den Kopf. "Nein, du?"

Er zuckte mit den Schultern. "Leiche."

Es war zwar wieder unhöflich, aber sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. 'Passt schon irgendwie', dachte sie. Er wirkte nicht so, als ob es ihn stören würde und nachdem er ihr ins Gesicht gesehen hatte, grinste er auch.

"Gibt es hier echt keinen Strom?"

"Nur wenn Gewitter ist." Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Seine gekrümmten Beine kamen noch mehr zur Geltung und wenn Hanna das eingefallene Gesicht nicht irritiert hätte, dann hätten es die Beine.

Sie nickte und sah zu dem Container. "Was machst du hier eigentlich ganz allein?"

"Könnt ich dich genauso gut fragen!" Er schob die Unterlippe vor.

Hanna hob die Hände. "Das sollte kein Vorwurf sein." 'Junge, ist der empfindlich!' Sie erinnerte sich an ihre Mutter, die ihr immer wieder predigte, dass Jungs in dem Alter halt so seien. Hannas Einschätzung nach nicht nur in dem Alter und ein Y-Chromosom war längst keine Entschuldigung dafür. "Ich wollte mich hier umsehen", sagte sie möglichst ruhig. "Damit ich morgen schon mal weiß, wo ich hinmuss."

"Ich kann dir unser Klassenzimmer zeigen, wenn du magst."

"Ist nicht abgeschlossen?"

Niklas prustete. Da war es wieder, das Echo! "Wieso sollte hier irgendwer irgendwas abschließen?"

Hanna zuckte mit den Schultern. "Vielleicht gibt's hier Diebe?"

"Ne", sagte Niklas und damit schien die Sache gegessen.

Hanna hätte zu gerne eingeworfen, dass sie ein paar Hühner gefunden hatte, die sicher nicht von einem Tier getötet worden waren. Aber sie hatte das starke Gefühl, dass das eine dumme Idee war und ließ es bleiben.

Sie folgte Niklas zurück um die Ecke und blieb vor der großen Eichentür stehen. "Die sieht ziemlich zu aus."

"Das täuscht."

Hanna versuchte die Tür aufzudrücken. Dann zog sie daran. Nichts bewegte sich auch nur einen Millimeter von der Stelle. "Das täuscht, soso? Offensichtlich hat wohl doch mal wer abge--"

Niklas legte die flache Hand an die Tür und schob sie nach innen.

Hanna klappte der Mund auf. "Wie hast du das gemacht?" Er war viel zu dünn, um dermaßen stark zu sein. Sie war schließlich nicht schwach, hatte lange geturnt und einige Muskeln entwickelt. Die Tür hätte sich bei ihr schon bewegen müssen, nicht wie von Geisterhand aufspringen, wenn die Leiche... Niklas, korrigierte sie ihre Gedanken, die Tür streichelte.

Sie verschränkte die Arme und betrat das Schulgebäude. Es war genauso dunkel wie ihr Zimmer. Die Fenster starrten vor Schmutz und an der Decke hingen alte Spinnennetze, die sich über den ganzen Flur spannten und verkreuzten.

Hanna rieb sich die Oberarme. Eine Heizung gab es wohl auch nicht. Schaudernd öffnete sie die erste Tür auf der rechten Seite. Die Stühle waren winzig und die Tafel mit dem Einmaleins vollgeschrieben. "Darf ich raten?", sagte sie. "Das ist das Zimmer der Unterstufe."

"Richtig."

Sie drehte sich um. Warum wartete er im Flur und kam nicht nach? Sie verließ das Unterstufenzimmer wieder. "Und wo ist unseres?"

"Ganz hinten, neben den Toiletten."

"Schon wieder." Sie stöhnte und ließ die Schultern hängen.

"Wieso schon wieder?" Niklas zog die Brauen hoch.

Hanna seufzte und nahm sich zusammen. "Ach, nur so."

Das Klassenzimmer für die Oberstufler war kaum größer als das andere. Fünf Tische standen im Raum und ein Lehrerpult, für das wohl kein Stuhl mehr übrig gewesen war, denn Hanna konnte im ganzen Zimmer nur fünf entdecken, jeweils auf den Tischen der Schüler.

"Wie viele sind wir?"

"Drei momentan."

"Drei!?" Sie fuhr zu ihm herum. Jetzt war er ihr ins Zimmer gefolgt und stand direkt hinter ihr. Sie machte einen Schritt von ihm weg, hob einen Stuhl herunter und setzte sich. "Das..."

"Zwei der Mittelstufler sind ziemlich gut und kommen in Deutsch und Englisch zu uns in die Klasse."

"Verstehe", sagte Hanna. "Wie viele Schüler sind's denn insgesamt?"

Niklas trommelte auf seinem Bauch. "Hm. Ah, zehn. Drei Oberstufler, drei Mittelstufler, vier Unterstufler."

Wenn andere Schulen sich mit kleinen Klassen brüsteten, dann waren das solche, wo es nur fünfzehn, zwanzig Schüler in einer Klasse gab. Aber insgesamt nur zehn? Lohnte sich der Betrieb der Schule überhaupt? Wobei es ohne Strom wohl auch weniger Geld kostete, sie zu betreiben. Hanna war immer noch nicht ganz klar, wie manche Fächer dem Zeitalter entsprechend ohne Elektrizität unterrichtet werden sollten. Allein Mathe war ohne Computer schon auf altmodische Rechnungen beschränkt. Wie man Physik und Chemie unterrichtete, war ihr ein vollkommenes Rätsel.

"Die Lehrer sind im Grunde einfach Leute, die zu alt für die Feldarbeit sind."

Hanna stützte den Kopf in die Hände. Also gab es weder Strom, noch Lehrkräfte. "Super. Man hat mich ins vorletzte Jahrhundert geschickt."

"Du hast keine Ahnung", sagte Niklas.

Hanna sah ihn an. Er ging zur Tafel und pustete den Kreidestaub in die Luft. Das ließ ihn noch bleicher erscheinen.

"Echt, wie ne Leiche."

Niklas wandte sich zu ihr um. "Ich weiß."
 

*
 

Ein Rumpeln riss Hanna aus dem Schlaf. Kurz darauf hörte sie jemanden fluchen. Sie rieb sich die Augen und setzte sich auf. Eine Sprungfeder stach in ihren Po. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Sie schüttelte sich, öffnete die Tür einen Spalt und linste hindurch.

Merten trottete in Boxershorts den Gang entlang.

'Dann war das Rumpeln wohl er', dachte sie und seufzte. Sie wandte sich zu ihrem Bett um und sah, dass die stechende Sprungfeder durch die Matratze hindurchgestoßen war. 'Klar, da leg ich mich jetzt rein.' Sie seufzte erneut. Ob es etwas bringen würde, die Matratze umzudrehen? Wenn sie zuviel Lärm machte, würde Merten ins Zimmer kommen und fragen, was los war.

Ein Quietschen ertönte. 'Die Eingangstür?' Ihr Herz pochte. Warum sollte Merten nachts nach draußen gehen? Es gab nichts besonderes und die Hühner waren tot, also musste auch nichts gefüttert werden. Nicht dass Merten Tiere mochte. Er hasste Tiere. Für ihn waren sie nur zum Essen gut. Vielleicht hatte er ja die Hühner umgebracht.

Hanna prustete, hielt sich aber eine Hand vor den Mund um das Geräusch zu dämpfen.

Die Neugier siegte und sie schob ihre Tür auf, ging auf Zehenspitzen durch den kalten Flur möglichst ohne die Dielen knarren zu lassen und schlüpfte barfuss in ihre Turnschuhe. Sie streckte sich um an ihre Jacke zu kommen. Es klirrte und sie dachte für eine Sekunde voller Schreck, sie hätte den Kerzenständer umgeschmissen. Sie griff in die ungefähre Richtung. Nein, er stand noch da, kantig und eiskalt.

Hanna streifte sich die Jacke über. Dann musste das Klirren von draußen gekommen sein. Aber was hatte geklirrt?

Sie stemmte sich mit dem Körper gegen die Tür und schob sie leise nach und nach auf, um den quietschenden Ton nicht hervorzulocken.

Es war draußen heller als in der Wohnung. Sie hob den Kopf und blickte hinauf in den Himmel. Abermillionen Sterne und ein riesiger Mond schienen ihr ins Gesicht. 'Ob ich jetzt genau so bleich aussehe wie Niklas?'

"Runter von meinem Grundstück!"

Hanna zuckte heftig zusammen. Es schüttelte sie noch, als sie nach Merten suchte. Er stand mitten im Hof, die Hände erhoben, und drosch auf eine gekrümmte, weiße Gestalt ein.

Ihr erster Gedanke war, dass ein Huhn überlebt haben musste. Dann schrie Merten und fiel zu Boden. Ein blonder Schopf tauchte auf.

Hanna schlug sich beide Hände über den Mund. Sie stolperte über die Türschwelle und hielt sich an der Klinke fest.

Blut klebte in Niklas' weißem Gesicht, sein Mund und seine Wangen glänzten im fahlen Licht, schimmerten rot und Hanna rutschte an der Wand herunter auf den Boden.

Er hatte sie gesehen!

Ihre Stimme zitterte und klang so anders, dass sie einen Moment brauchte um zu realisieren, dass sie es war, die da weinte. Sie öffnete den Mund und unterdrückte einen Schrei. Die Luft drückte ihr den Hals zusammen.

Niklas schüttelte den Kopf.

"Komm nicht näher! Geh weg!" Hanna wimmerte. "Mama..."

Niklas sprang auf und rannte vom Hof. Er schlug Haken und zog sich über den Zaun, dann war er in der hellen Nacht verschwunden.

Hanna zitterte. Tränen liefen über ihr Gesicht und warmer Rotz sammelte sich an ihrer Oberlippe. Sie zog die Nase hoch.

Merten rührte sich nicht.

Wie ein Kind krabbelte sie auf ihn zu. Seine Augen starrten den Mond über ihnen an. Genau wie die Hühner hatte auch er zwei Löcher im Hals. Bisswunden, aus denen Blut floss. 'Er hat nicht getrunken', dachte sie. Hanna zog die Ärmel ihres Nachthemds über ihre Hände und wischte sich das Gesicht trocken. Was dachte sie denn da? Niklas war kein Vampir. Vampire gab es nicht. Vampire waren Fantasiewesen. Vampire... Niklas war ein Vampir.

Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie prüfen musste, ob Merten noch lebte. Das Blut, das immer noch aus den Wunden lief, stieß sie ab und dazu sein Blick -- aber sie wollte ihm nicht die Lider zuklappen. Als er lebte, hatte sie nie von ihm angefasst werden wollen und ihn nie anfassen wollen. Wenn er es jetzt nicht mehr tat -- und seine Augen sahen tot aus, so tot -- dann wollte sie es immer noch nicht.

Hanna starrte den Zaun an um nicht in Mertens starres Gesicht sehen zu müssen. Sie legte Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals, dort wo die Arterie unter der Haut lag. Sie suchte nach einem Pochen, Zucken, auf der anderen Seite auch, aber... kein Puls. Merten war tot.

In ihrer Kehle drückte ein Kloß ihre Luftzufuhr ab und ein Stein lag schwer in ihrem Magen. Sie stand auf und ging zurück ins Haus, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Die Sprungfeder stach ihr in den Rücken, aber sie rollte sich einfach von ihr herunter und presste sich an die Wand. Ihr war eiskalt, selbst die Wand wirkte wie ein heißes Bügeleisen auf ihren nackten Oberschenkeln. Sie schloss die Augen. Niklas blutbeflecktes Gesicht tanzte in ihrem Kopf umher, umschwirrt von schwarzen, braunen und weißen Federn.

Hanna hatte den Hühnermörder gefunden.
 

*
 

Wenn sie gesagt hätte, dass es ihr leid tat und wie grausam sie es fand, dass Merten so zugerichtet worden war, wäre es eine Lüge gewesen. Aber keiner fragte Hanna nach ihrer Meinung. Ein paar alte Leute tätschelten ihre Wange oder ihre Schulter, ein kleiner Junge sah sie mit großen Augen an und fing dann an, loszuheulen wie eine Sirene. Sonst schenkte ihr keiner Beachtung.

Sie stelle sich ganz nach hinten. Ihrer Mutter schien nicht einmal aufzufallen, dass sie nicht in ihrer Nähe war. Hanna war das ausnahmsweise ganz recht. Ihre Mutter weinte Merten tatsächlich hinterher. Seit dem Morgen, an dem er tot aufgefunden worden war, kullerten alle halbe Stunde pünktlich die Tränen. Am Anfang hatte Hanna sie noch verstehen und trösten können. Allein der Schock, der auch tief in ihren Gliedern saß, war Grund genug um zu weinen. Jetzt war es aber nur noch Trauer über den Verlust von Merten und das war...

Die Trauergesellschaft verließ den Friedhof. "Essen fassen!", murmelten einige der alten Männer. Die Kinder, genau drei Stück und ein Baby, hüpften durch das Friedhofstor den steinigen Weg herab.

Hanna lehnte sich an eine Eiche. Keiner bemerkte, dass sie fehlte, dass sie zurückblieb, nicht mitkam und auch nicht nachkommen würde.

"Hallo", sagte Niklas und das Echo war schwach, aber hörbar.

Hanna drehte sich nicht zu ihm um. Sie sah stur zu den Getreideäckern, die momentan keine Früchte trugen.

Niklas' Gang war unbeholfen. Sein Kreuz krümmer als das von Quasimodo und der Kopf abgenickt, dass Hanna beinah glauben wollte, er hätte sich das Genick gebrochen. Nicht dass das in dem Fall schlimm gewesen wäre. Davon wäre die Leiche nicht gestorben.

Er ging um sie herum und versperrte ihr damit die Sicht auf die Äcker.

Hanna seufzte; sie beschloss die Kapitulation. "Was willst du, Niklas?"

"Reden", sagte Niklas.

Hanna setzte sich ins Gras. Es war feucht und sie hörte ihre Mutter sagen, dass sie sich eine Blasenentzündung holen würde. Hanna stützte den Kopf auf die angezogenen Knie. "Schieß los", sagte sie.

Niklas hockte sich vor sie. Er rupfte einige Grashalme heraus und ließ sie wieder fallen. "Du bist die Erste seit Jahrzehnten, die mich entdeckt hat."

"Ach, echt? Die Erste, die du nicht gleich danach umgebracht hast?" Sie biss sich auf die Zunge. Sie war ganz allein mit einem Vampir. Wenn es einen guten Zeitpunkt gab, sie umzubringen, dann genau jetzt. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus. Sie hoffte, dass er keine besonderen Sinne hatte und nicht hörte, wie ihr Herz gegen ihre Rippen schlug und sich ihr Magen krampfte.

Niklas schob die Augenbrauen zusammen. Seine Mundwinkel hingen. "Hanna..."

"Geh mir einfach aus dem Weg."

"Wir gehen in eine Klasse. Das geht nicht."

Hanna schnaubte. "Du bist ein Vampir. Warum solltest du eine Schule besuchen? Verpiss dich in den Wald zu den Bestien. Häng dich von mir aus in irgendeiner Höhle kopfüber auf." Sie wedelte mit der Hand. "Kusch!"

"Hier gibt es keine Fledermäuse. Sie haben Angst vor mir. Und... und die Wölfe würden mich fressen!"

"Pfeffernase", seufzte sie.

"Was?"

"Nichts." Hanna streckte die Beine aus. Fast berührte sie Niklas. Immerhin wirkte er nicht, als ob er sie umbringen wollte. Ein Angsthase war er noch dazu. Sie hatte nichts zu befürchten. Die Anspannung fiel von ihr ab. Sie kreuzte die Hände hinter ihrem Rücken und betrachtete das wehleidig verzogene Gesicht vor ihr. "Weißt du, Merten ist so ein Mensch, um den ist es nicht schade."

Niklas hob den Kopf. "Man darf nicht töten!"

Sie blinzelte. "Wenn du's nicht tust, stirbst du."

"Ich war ja nicht immer so drauf." Niklas fiel eine dunkelblonde Strähne in die Stirn.

Hanna streckte die Hand aus und strich sie ihm hinters Ohr. Sie zuckte zusammen, räusperte sich und lehnte sich wieder an die Eiche. "Wie lang bist du schon Vampir?"

Niklas spreizte die Finger und zählte leise. "Dreißig Jahre."

"Hm. Und wie bist du einer geworden?"

"Nicht freiwillig", sagte Niklas.

'Also nicht weiter danach fragen', dachte Hanna. Sie sah zum Friedhof hinüber. "Dann hast du keine Familie mehr. Tot?"

"Ermordet."

Hanna fragte sich, ob Niklas selbst der Mörder seiner Familie war oder derjenige, der ihn zum Vampir gemacht hatte. Ändern ließ es sich nicht mehr und wenn sie ihn richtig einschätzte, würde er ohnehin nicht antworten. "Wo wohnst du?" Sie sah ihn an.

"In einer Hütte hinter dem Friedhof."

'Deswegen ist er hier.' "Ganz schön einsam."

"Das ist gut. Da erkennt mich keiner als Vampir. Die Leute hier interessieren sich nur für sich selbst."

"Willst du wirklich die nächste Ewigkeit an diesem Ort verbringen?!" Hanna schauderte. Ihr reichte es schon nach den paar Tagen, die sie hier hatte wohnen müssen.

Niklas stand auf. Das Echo war wieder da. "Mir bleibt keine andere Wahl." Er reichte ihr die Hand.

Hanna ließ sich von ihm hochziehen. Sie betrachtete ihn schweigend. Er wirkte entschlossen. Vielleicht war er nicht ganz so einseitig, wie ihr erster Eindruck ihn hatte erscheinen lassen. "Wieso hast du einen Menschen getötet?"

"Er hat mich erschreckt", sagte Niklas. "Ich wollte nur die Hühner holen um sie zu begraben."

Ohne dass sie es wollte oder hätte verhindern können, breitete sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus. "Für einen Vampir bist du eine ziemliche Pflaume."

"Ich weiß", sagte Niklas. Er wollte seine Hand wegziehen, aber Hanna hielt sie weiter fest.

"Du hast mich auch erschreckt. Ich finde, ich hab was bei dir gut."

Niklas' Augen weiteten sich. "Alles was du willst! Bitte verrat mich nicht."

"Das werden wir noch sehen."
 

ENDE



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