Erinnerungen
„Kouyou! Nun hör endlich mal auf zu träumen und konzentrier dich auf deine Gitarre. Wir haben nicht ewig Zeit. Jetzt ist es eh schon zu spät für die Proben. Leute, ihr könnt einpacken.“, herrschte ihn die genervte Stimme ihres Leaders Kai an, der an seinem Schlagzeug saß und seine Sticks zwischen den Fingern routieren ließ.
Angesprochener hob verwirrt den Kopf und blinzelte dreimal. Seine Bandmitglieder standen an ihren Instrumenten und sahen vorwurfsvoll zu ihm. Ruki war gerade dabei, sein Mikro an den Ständer zu stecken, Reita zupfte gelangweilt an seinem Bass und Aoi verstaute vorsichtig seine Gitarre.
„Uhm… Tut mir leid, Leute. Ich bin heute etwas neben der Spur.“, murmelte Uruha leise und schulterte seinen Gitarrenkoffer, in dem bereits seine Gitarre verwahrt worden war.
„Heute? Kou, mach dich nicht lächerlich. Du bist schon seit Wochen unkonzentriert und in Gedanken versunken. Was ist denn mit dir los?“, fragte ihn Kai mit ruhiger Stimme.
„Nichts, wirklich. Es ist alles in bester Ordnung.“, versuchte Uruha sich mit einem falschen Grinsen herauszureden.
In Wahrheit war nicht alles in Ordnung. Ganz im Gegenteil. Uruhas Welt stand buchstäblich gesehen Kopf. Und der Grund für seine verdrehte Welt war hier in diesem Raum und nahm keinerlei Notiz von ihm. Reita. Der Traum Uruhas schlafloser Nächte ignorierte ihn vollkommen. Uruha seufzte schwer. Er war schon seit geraumer Zeit in den blonden Bassisten verliebt. Genauer gesagt seit seinem 26. Geburtstag.
**+**Flashback**+**
Es war der 9. Juni. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und die Sonne lachte. Genauso wie Uruhas Herz. Heute war sein 26. Geburtstag und er hatte vor, diesen ganz groß mit seinen Freunden zu feiern. Nachmittags um vier Uhr sollte es losgehen und für zwölf Uhr hatte sich Reita freiwillig angemeldet, um ihm bei den Vorbereitungen zu helfen. Uruha war richtig hibbelig. Für ihn waren Geburtstage immer etwas besonders Aufregendes. Es gab Geschenke, alle seine Freunde waren da, sie lachten zusammen, tranken Alkohol, feierten ausgelassen und hatten einfach Spaß zusammen. Uruha liebte es, bei seinen Freunden zu sein und mit ihnen zusammensitzen zu können.
Er stand gerade in der Küche und suchte alle Zutaten zusammen, die er und Reita für den Nuss-Schokoladen-Kuchen brauchen würden, den sie zubereiten wollten. Gerade, als er das Mehl auf den Tisch gestellt hatte, klingelte es an der Haustür und Uruha eilte mit einem Grinsen im Gesicht zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand… Ein Strauß Blumen?
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kou!“, sprach der riesige Blumenstrauß und Uruha erkannte Reitas Stimme.
Mit einem noch breiteren Grinsen auf den Lippen nahm er seinem Freund den Strauß ab und umarmte ihn herzhaft.
„Danke, Aki. Der Strauß ist wirklich schön. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“
„Und wie das nötig gewesen war. Aber der Strauß ist noch nicht alles. Da hängt noch was dran.“
Verwundert sah Uruha auf den Blumenstrauß, an dem tatsächlich noch ein Kärtchen festgebunden war. Bevor er sich jedoch das Kärtchen ansah, ließ er Reita in sein Haus und ging mit ihm zusammen in die Küche, wo er den Blumenstrauß in eine Vase stellte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der kleinen Karte in seiner Hand zu. Er klappte sie auf und einige Sekunden später hang er vor Freude jauchzend am Hals des blonden Bassisten.
„Akira! Ein Gutschein für eine Massage! Danke!“
Er gab ihm ein kleines Küsschen auf die Wange, woraufhin Reita ihn leise lachend von sich schob und meinte:
„Hey, schwul mich hier nicht an.“
Uruhas Wangen zierte ein leichtes Rosa und er maulte:
„Bist doch selbst schwul…“
„Schon, aber doch nicht mit meinem besten Freund. Und nun los. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit und wenn wir den Kuchen heute Nachmittag nicht fertig haben, erwürgt uns Takanori eigenhändig. Der freut sich schon die ganze Woche auf seinen Schokokuchen.“
Uruha seufzte leise und machte sich mit Reita an die Arbeit. Doch so wirklich konzentrieren konnten sich die beiden nicht. Immer wieder fanden sie einen Grund zum Herumblödeln. Das artete dann nach einiger Zeit in einer wahren Mehlschlacht aus. Schon nach kurzer Zeit waren Uruha und Reita kaum mehr von Schneemännern zu unterscheiden – und das im Sommer! Wie sie es dann schließlich schafften, den Kuchen doch noch rechtzeitig fertig zu bekommen, wusste keiner von beiden so genau. Jedoch waren beide außerordentlich froh, die Schlacht in der Küche hinter sich gelassen zu haben und machten sich nun daran, das Wohnzimmer zu dekorieren. Nach gut drei Stunden waren sie fertig. Gerade noch rechtzeitig, denn keine fünf Minuten später klingelte es und Uruha eilte zur Haustür. Er machte auf und fand sich sofort in einer engen Umklammerung Rukis wieder, der seine Arme um Uruhas zierlichen Körper geschlungen hatte und ihn fast zu Tode knuddelte.
„Wow, Nori-Chan. Mach Kou-Chan nicht kaputt. Den brauchen wir doch heute noch.“, grinste Aoi und trat zusammen mit Kai ein.
„Jaja, schon gut.“, maulte Ruki und ließ Uruha wieder Platz zum Atmen.
Dieser grinste seine Bandmember an und umarmte jeden einzelnen herzlich.
„Schön, dass ihr gekommen seid. Kommt mit ins Wohnzimmer.“
Er führte seine Gäste dorthin und alle setzten sich auf die große, gemütliche Couch.
„Kou, Aki? Wie seht ihr beiden eigentlich aus? Ihr seid richtig weiß.“, machte Kai die beiden auf das Resultat ihrer kleinen Mehlschlacht aufmerksam.
Reita und das Geburtstagskind grinsten sich an und standen auf, um sich auf dem Balkon vom Mehl zu befreien. Dann kehrten sie wieder zurück und setzten sich. Ruki wuselte auch sofort wieder zu Uruha und drückte ihm ein Päckchen in die Hand.
„Das ist von uns allen. Wir wussten nicht, was jeder einzelne dir schenken sollte und deswegen haben wir zusammengelegt. Hoffentlich gefällt es dir. Mach auf!“, ließ Ruki verlauten und rückte Uruha nahe auf die Pelle und sah ihn erwartungsvoll an.
Uruha lächelte ihn an und machte sich dann daran, die Verpackung des Geschenkes aufzureißen. Zum Vorschein kam eine violette Tasche, die mit zahlreichen Strasssteinen verziert worden war und Uruha konnte außerdem die Unterschriften von allen Bandmembern erkennen. Selbst Reita, der ihm ja schon etwas geschenkt hatte, hatte unterschrieben. Uruha musste unweigerlich schmunzeln. Die Farbe der Tasche und dass jeder einzelne unterschrieben hatte, war ja eine wirklich tolle Idee… Aber die Strasssteine fand er nun wirklich ziemlich kitschig. Aber das konnte er natürlich nicht sagen. Also knuddelte er Ruki ebenfalls durch, da er ihm am nächsten war und lächelte den anderen zu.
„Das ist wirklich total lieb von euch, Leute. Ihr seid die besten!“
„Die Strasssteine waren meine Idee!“, posaunte Ruki.
Das hätte Uruha sich ja eigentlich denken können. Obwohl Ruki in der Öffentlichkeit normalerweise keinerlei Gefühlsregungen zeigte und immer die Ruhe selbst blieb, war er, wenn er mit seinen Freunden alleine war, kaum zu bändigen. Er hüpfte dann meistens gut gelaunt durch die Gegend und nervte jeden mit seinem Gesang. Dieser an sich war ja eigentlich nicht nervig, doch wenn man immer und immer wieder dasselbe Lied vorgesungen bekam, nervte es einen schon irgendwann. Aber Ruki konnte man nie wirklich böse sein. Der Kleinere hatte eine so liebenswürdige Art, dass man ihm schon nach ein paar Minuten ohne zu zögern vergeben hatte.
„Das habt ihr wirklich klasse gemacht. Danke, Leute. Und nun setzt euch mal alle an den Tisch, es gibt Kuchen.“, grinste Uruha.
„Kuchen!“, rief Ruki laut und saß als Erster am Küchentisch.
Uruha sah, wie Reita leicht genervt die Augen verdrehte und alle Gazettos setzten sich an den langen Tisch. Uruha schnitt den Kuchen an und reichte jedem ein Stück.
„Lasst es euch schmecken. Guten Appetit!“
Man hörte nur noch leises Schmatzen und ab und zu ein paar Lacher, wenn Ruki mal wieder gekleckert hatte. Nachdem alle aufgegessen hatten, wollte Uruha aufstehen, um das Geschirr abzuräumen und abzuspülen, doch Kai hob die Hand und stand auf.
„Nichts da, Kouyou. Ich und Nori machen das schon.“
„Was? Wieso ich denn?“, pikierte sich Ruki und verschränkte stur die Arme vor der Brust.
„Weil du derjenige bist, der den meisten Kuchen verdrückt hat. Und du willst Kouyou doch bestimmt eine Freude bereiten oder? Nun steh schon auf, du faule Socke.“
„Ich mach ja schon, du Sklaventreiber.“
Uruha konnte Ruki die ganze Zeit in der Küche maulen hören, doch ihm machte das nichts aus. Er wusste, dass Ruki es nicht böse meinte und Kai würde ihn schon zur Ordnung rufen. Kai war sozusagen die Band-Mami. Er kümmerte sich um jeden und alles und war immer der Ruhepol und der Sonnenschein der Gruppe. Man musste ihn einfach gernhaben. Uruha kannte niemanden, der Kai nicht mochte. Zusammen mit Reita und Aoi machte er es sich auf der Couch gemütlich. Aoi zündete sich sofort eine Zigarette an und Reita legte die Füße auf den Tisch. Uruha schüttelte den Kopf. Typisch. Die beiden benahmen sich immer, als wären sie hier zuhause, was Uruha eigentlich schmeichelte, da sie ihm damit bewiesen, wie wohl sie sich bei ihm fühlten. Etwa eine halbe Stunde später kam Kai mit einem nicht mehr schmollenden Ruki wieder und sie setzten sich alle in einer gemütlichen Runde zusammen. Reita hatte einige Flaschen Bier, Schnaps und eine große Flasche Moet&Chandon aus dem Keller geholt und zusammen tranken sie, bis nichts mehr übrig war. Das dauerte allerdings mehrere Stunden, da sie natürlich nicht alles auf Ex tranken und immer wieder über Witze lachten, die Ruki oder Kai gemacht hatten. Und bei Aoi konnte es immer sehr lange dauern, bis der sich wieder beruhigt hatte, da Aoi wirklich einen regelrechten Lachanfall bekam und lange brauchte, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Als es kurz nach elf Uhr nachts war, kam Aoi dann auf die glorreiche Idee, doch Flaschendrehen zu spielen – genug leere Flaschen waren ja bereits vorhanden. Die anderen waren begeistert von seiner Idee und selbst Reita, der sonst nichts für solche Spiele übrig hatte, ließ sich in angeheitertem Zustand darauf ein. Die GazettE-Members setzten sich in einem Kreis auf den Boden und begannen mit ihrem mehr als kindischen Spiel. Nachdem Ruki schon „Alle meine Entchen“ gesungen hatte (wobei er allerdings den Text nicht mehr zusammenbekommen hatte), Kai auf einem Bein hüpfen und laut einen Elefanten nachahmen musste (wobei er natürlich auf den Allerwertesten fiel, da er doch ziemlich betrunken war und ihn sein Gleichgewichtssinn im Stich ließ) und Aoi einen mehr oder minder erotischen Striptease hingelegt hatte (wenn man mal davon absah, dass er es alleine nicht mehr bewerkstelligen konnte, sein Shirt auszuziehen und Uruha ihm unter lautem Lachen das Oberteil über den Kopf ziehen musste), war Aoi dran mit drehen. Das tat er natürlich auch sofort mit Schwung und die Flasche zeigte auf Reita.
„Hm… Aki-Chan… Aki-Chan muss Kou-Chan küssen! Auf den Mund!”, hickste Aoi und lachte leise vor sich hin.
Sofort versteifte sich Uruha und sah Aoi perplex an.
„Was? Och, Yuu!“, maulte er und zog einen Schmollmund.
„Nix da >Och, Yuu!<. Sei kein Spielverderber, Kou-Chan.“
Reita verdrehte genervt die Augen.
„Wenn ihr das lustig findet, bitteschön…“, murrte er leise und beugte sich zu Uruha rüber.
Dessen Augen weiteten sich erschrocken, als er Reitas weiche Lippen auf seinen eigenen spürte. Seine Augenlider klappten automatisch zu und er erwiderte schüchtern den Kuss. Neben sich konnte er Aoi und Ruki johlen hören. Er allerdings verlor sich in diesem wunderbaren Gefühl und eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Reita schmeckte nach Alkohol. Warum fühlte sich das bloß so gut an? Der, der ihn da gerade küsste, war schließlich Reita, sein bester Freund! Da konnte er so einen Kuss doch nicht genießen… Oder doch? Er hatte jedoch keine Zeit, sich noch länger mit seinen Gewissensbissen auseinanderzusetzen, denn Reita löste sich bereits wieder von ihm und wischte sich über den Mund. Diese Geste versetzte Uruha einen Stich ins Herz und er sah auf den Boden.
„So, zufrieden? Da hattet ihr euren Kuss. Ich bin dran.“, hörte er Reitas gelangweilte Stimme und weiter ging das Spiel.
Kais verletzter Blick entging dem Geburtstagskind.
Ab hier verblasste Uruhas Erinnerungsvermögen. Anscheinend hatte er sich danach so volllaufen lassen, dass er einen regelrechten Blackout hatte. Denn Reitas Verhalten hatte ihn, ohne dass er es jemals zugeben würde, tief verletzt. An diesem Tag verlor Uruha sein Herz an Reita, seinen besten Freund…
**+**Flashback Ende**+**
„Kou? Hey, Kouyou! Erde an Kouyou, noch jemand zuhause? … Hier spricht Käpt’n Kork. Kouyou, bitte melden! … Mensch, Kouyou! Ich rede mit dir!“
Uruha schreckte aus seinen Überlegungen auf und sah direkt in Kais Gesicht. Der fuchtelte mit seiner Hand vor seinen Augen herum und versuchte wohl schon etwas länger, ihn anzusprechen. Seiner vorwurfsvollen Miene nach zu urteilen wohl mehr als ein bisschen länger. Uruha seufzte.
„Tut mir leid, Yutaka. Ich war gerade mit den Gedanken ganz woanders. Was wolltest du sagen?“
„Das hab ich gemerkt. Ich mache mir langsam Sorgen um dich, Kouyou. Du bist so anders als sonst. Nun… Ich wollte dich eigentlich fragen, ob ich dich nach Hause fahren soll.“
„Nein, nicht nötig. Ich fahre doch immer mit Aki nach Hause.“
„Akira ist aber schon weg.“
„Weg?“, wiederholte Uruha mit verblüffter Stimme.
„Ja. Der wurde vor einer Viertelstunde von einem großen Kerl abgeholt. Keine Ahnung, wer das war. Auf jeden Fall nicht der Kerl von letzter Woche, der war viel kleiner.“
„Oh…“, brachte Uruha nur hervor und es versetzte seinem Herzen einen kleinen Stich.
Seit geraumer Zeit schleppte Reita jede Woche einen neuen Typen an und vergnügte sich mit ihm, ehe er ihn wieder fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Uruha wünschte sich, wenigstens einmal eine von diesen Kartoffeln zu sein. Auch wenn es nur für eine Nacht wäre… Er wollte Reita wenigstens einmal in seinem Leben so nahe sein und ihm seine Liebe gestehen. Aber das würde wohl auf ewig ein Traum bleiben.
„Kouyou? Au weiha, geht’s dir gut? Du bist auf einmal so blass um die Nasenspitze. Komm, ich fahr dich jetzt nach Hause und da legst du dich hin. Wer weiß, vielleicht brütest du ja auch eine Krankheit aus.“
Uruha spürte, wie Kai ihn am Arm packte und mit sich zum Auto zog. Dort wurde er auf den Beifahrersitz gedrückt und Kai fuhr los. Eine Viertelstunde später waren sie vor Uruhas Wohnung angelangt. Uruha stieg aus und vernahm noch einmal Kais besorgte Stimme.
„Kou? Soll ich noch mit reinkommen?“
„Nein… Schon okay. Bis morgen dann.“, murmelte Uruha und verschwand in seiner Wohnung.
Dort legte er seinen Gitarrenkoffer zur Seite, zog sich bis auf die Boxershorts aus und warf sich aufs Bett. Eine Weile lag er so da und spürte plötzlich, wie ihm heiße Tränen die Wangen hinunterliefen und in seinem Kissen versanken. Er schluchzte unterdrückt auf und verbarg sein Gesicht im Kissen. An diesem Abend weinte sich Uruha in den Schlaf…