Die Übertragung
Wie jeden Tag seit einem Monat sitze ich nachmittags auf der Mauer und betrachte ihn versteckt hinter einem dicken Buch. Er steht ganz ruhig in der Menschenmasse, mitten in der Fußgängerzone, ein freches Grinsen kitzelt seinen Mundwinkel und er hält sein Schild so vor der Brust, dass jeder die Worte lesen kann, die er darauf geschrieben hat.
Auf dem Schild steht jeden Tag das Gleiche: Kostenlose Umarmungen. Ich weiß wirklich nicht, warum er das macht, ob er eine Wette verloren hat oder irgendwas in der Art, aber was ich weiß, ist, dass er unglaublichen Erfolg damit hat. Dutzende Mädchen pilgern täglich zu ihm und lassen sich umarmen, viele von ihnen kommen sogar mehrere Male.
Man muss schon sagen, dass er wirklich schön ist mit seinen schwarzen Haaren und schwarzen Augen hinter schweren Wimpern, aber es überrascht mich dennoch, dass so viele Leute ihn umarmen wollen, auch wenn sie ihn kein bisschen kennen. Vielleicht ist das unaufdringliche Selbstbewusstsein in seiner Körperhaltung der Trick, gepaart mit etwas Unausgesprochenen in seinem Blick, dass den unsinnigen Wunsch hervorruft, man selbst könnte gemeint sein, vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein.
Ich selber bin natürlich noch nie zu ihm gegangen. David Leclerc ist eindeutig eine Nummer zu groß für mich. Er geht in die Abschlussklasse und ist der beliebteste Junge der ganzen Schule, wobei ich aber nicht genau sagen kann, woran das eigentlich liegt. Jedenfalls hätte er das Schild da gar nicht nötig, denn es sind sowieso schon alle Mädchen verrückt nach ihm. Zu blöd nur, dass ich nicht behaupten kann, bei mir wäre es anders. Mir ist absolut klar, dass er meinen Namen nicht kennt und mich nie auch nur eines Blickes würdigen wird – aber trotzdem kann ich mich nicht glauben machen, dass er ein oberflächliches Arschloch ist und wie eine Süchtige komme ich immer wieder zur Mauer, um ihn zu beobachten. Die meiste Zeit könnte ich mir deswegen den Hintern abbeißen. Eine Voyeuristin und ein bekloppter Schönling – was für ein schönes Paar!
Ich heiße Anya Bouvier. Ich bin fünfzehn Jahre alt, in meiner Freizeit lese ich gerne und schreibe kleine Geschichten und wenn irgendwo ein Hundehaufen auf der Straße liegt, bin ich garantiert die Erste, die hineintritt. Außerdem bin ich das meiner Meinung nach hässlichste Mädchen der ganzen Schule und eine fürchterliche Streberin, aber ich kann es verstehen, wenn euch das nicht wirklich berührt, es gibt einfach zu viele Leute, die mit diesem Klischee ankommen.
David Leclerc hat nur ein einziges Mal mit mir gesprochen: Er hat mich gefragt, ob ich die Baguettes mögen würde, die in der Mensa verkauft werden, aber ich war zu schüchtern um zu antworten und bin geflüchtet, ohne ihm in die Augen zu sehen. Zwei Wochen nach diesem Vorfall hab ich ihn zum ersten Mal in der Fußgängerzone gesehen. Seitdem komme ich zur Mauer, wobei ich krampfhaft versuche, nicht zu überlegen warum er mich so sehr interessiert.
Manchmal, wenn ich dort sitze, scheint es mir, als würde er seinen Blick auf mich richten, aber ich bin sicher, dass er mich nicht bemerken wird. Die kleine Steinmauer, mein Beobachtungsposten, befindet sich ganz am Rand des Platzes und dort bin ich in Sicherheit. Die Fußgängerzone symbolisiert die wilde Welt, die Mauer ist das Versteck für die Leute, die zu feige sind um ihr den Krieg anzusagen. Ich fühl mich da wirklich wie zu Hause.
Heute versinke ich dermaßen in meinen Observationen, dass ich die Zeit erst bemerke, als es zu dämmern beginnt. Wütend auf mich selbst und mein lächerliches Verhalten stehe ich auf und mache mich auf den Heimweg.
Als der Bus mich schließlich in meinem Stadtviertel ausspuckt, ist es schon fast völlig dunkel. Ich muss zugeben, dass ich jetzt ein wenig beunruhigt bin, denn das Viertel ist nachts nicht unbedingt sicher. Erst letzte Woche ist ein sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigt worden, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Vielleicht wartet ein riesiger Mann irgendwo in den Schatten, um…aber nein, das ist Unsinn. Entschlossen verscheuche ich den Gedanken und setze mich schnell in Bewegung. Keiner wird mich hier…Stopp.
Ist das nicht das Geräusch von Schritten, kaum hörbar wie nächtlicher Regen? Ich kralle die Finger in den Stoff meines Anoraks und lege einen Zahn zu, aber das leise Tappen scheint immer näher zu kommen. Mein Herz beginnt zu hämmern. „He, warte auf mich!“ Die Stimme zerreißt die Nacht wie ein Kugelhagel. Plötzlich packt mich jemand grob an der Schulter, und in diesem Moment verliere ich die Kontrolle über meine Handlungen. Meine Faust trifft mitten ins Gesicht der Person hinter mir, die mit einem Aufschrei zurücktaumelt. ‚Ich hab nicht umsonst Selbstverteidigung gemacht, seitdem ich sieben bin‘, schießt es mir völlig zusammenhanglos durch den Kopf. Fast hätte ich gelacht. Aber dann erkenne ich die Person. Und starre direkt in das fassungslose Gesicht von David Leclerc.
Meine Beine beginnen zu zittern als ich verzweifelt versuche etwas zu sagen, mich zu entschuldigen, aber mein Mund gehorcht mir nicht mehr. Das war’s, es ist vorbei - gemeinerweise bevor es angefangen hat. Ich habe den Jungen geschlagen, den ich liebe, der mich eingefangen hat, irgendwo, irgendwann, vollkommen sinn- und hoffnungslos. Was für ein dummer Schmetterling…
Jetzt muss er wirklich denken, ich sei total durchgeknallt und noch dazu wird er die Geschichte in der Schule herumerzählen und jeder wird mich verbal massakrieren. Der Gedanke trifft mich, als hätte man mir einen nassen Sack ins Gesicht geschleudert. Total überfordert fahre ich herum und renne so schnell ich kann.
Diese Nacht weine ich mich in den Schlaf.
Der nächste Tag ist ein Samstag und ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr nicht fragen würdet, warum ich schon wieder zur Mauer gekommen bin, denn das weiß ich selbst nicht. Allerdings ist David nicht da, das sehe ich auf den ersten Blick. Wenn er hier wäre, würde er unweigerlich meinen Blick anziehen, wie eine Art menschlicher Magnet. Aber heute wirkt die Fußgängerzone seltsam grau und grausam leer, obwohl schon eine ganze Menge Leute zum Einkaufen unterwegs sind. Überhaupt, was hab ich denn erwartet? Ein Wunder etwa? Ich komme mir dermaßen dumm vor, dass ich mir selbst eine Ohrfeige geben könnte. Plötzlich wollen mich nicht einmal mehr meine Beine tragen. Ich stolpere zur Mauer um mich abzustützen, aber in diesem Moment bemerke ich das Blatt und weiche mit einem überraschten Laut zurück. Jemand hat mit Tesafilm ein Blatt an genau der Stelle befestigt, wo ich normalerweise sitze! Ist das etwa für eine dieser bescheuerten Fernsehsendungen, in denen man Passanten verarscht, oder was? Wie in Trance nehme ich es an mich und beginne zu lesen. Es ist ein Brief, und noch dazu für mich!
Liebe Anya,
Seit drei Monaten versuche ich jetzt schon, an ein perfektes Mädchen heranzukommen, das ich bei jeder Gelegenheit beobachte und das mich so die ganze Zeit beeindruckt, ohne dass sie es merkt…aber so langsam beginne ich zu glauben, dass es aussichtslos ist. Ich habe sie angesprochen – und sie ist geflüchtet. Ich wollte ihre Aufmerksamkeit mit einem dämlichen Schild erringen- beobachtet hat sie mich, aber zu mir gekommen ist sie nicht. Ich bin dem Mädchen sogar nachgelaufen- und sie hat mich geschlagen, weil sie dachte ich sei ein Vergewaltiger. Dieser Brief hier ist meine letzte Chance um ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Was denkst du darüber? Wird sie mich wohl erhören?
Dein verzweifelter David
Ich bin wirklich erstaunt, dass ich jetzt nicht hyperventilieren muss, aber seltsamerweise fühle ich mich angenehm ruhig. Und als ich eine sanfte Hand auf meiner Schulter spüre, muss ich lächeln.