Begegnung
Es regnete, als ihr der hellblaue Schirm auffiel.
Sie stand am schlecht überdachten Bahnhof ihrer Schule und wartete auf ihren Zug, der in nur wenigen Minuten einfahren sollte. Der Junge, dem der auffällige Regenschirm gehörte, unterhielt sich angeregt mit seinen Kumpels, die um ihn herum standen. In diesem Moment hätte das Mädchen niemals gewettet, dass sie diesen jemand kannte. Doch als eine Böe den blauen Regenschirm zur Seite fegte, und der Junge ihm schnell nachsetzte, blieb dem Mädchen das Herz für einen Augenblick stehen.
Wie sich herausstellte, war der Junge niemand anderes als ihr alter Klassenkamerad - ihre erste große Liebe.
Natürlich bemerkte der Junge sie nicht, auch nicht, als der Zug einfuhr und sie knapp hintereinander einstiegen. Die Röte in ihrem Gesicht nahm zu.
Erleichtert spannte sie ihren schwarzen Regenschirm auf, als sie den Zug an der nächsten Haltestelle wieder verlies. Auch er stieg dort aus. Nur grob konnte sie sich erinnern, wo er wohnte, doch sie wusste, dass sich ihre Wege nun trennen würden. Traurig blieb sie stehen und sah ihm nach, wie er - immernoch umringt von seinen Kumpels - die Treppe hinunter verschwand, die ihn aus dem Bahnhof führte. Sie seufzte und wartete noch einen kleinen Moment mehr, um sich schließlich in Bewegung zu setzen und nach Hause zu trotten. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, denn sie hatte ihren Schwarm gesehen, den sie seit Jahren nur noch in ihrer Erinnerung gekannt hatte. Hatte sie ihn auch nicht ansprechen können, so war es wenigstens ein Blick gewesen, den sie hatte erhaschen können.
Sein Aussehen hatte sich in der vergangenen Zeit noch um einiges verbessert.
Zu Hause angekommen konnte das Mädchen an nichts anderes mehr denken, als an ihre Begegnung auf dem Bahnsteig. Insgeheim wünschte sie sich, dass sie sich öfter sehen würden, doch ihr war klar, dass dies nicht der Fall sein würde, denn einer ihrer Kurse war ausgefallen und nur deswegen hatte sie diesen Zug nehmen können. Vielleicht würde aber auch er diesen Zug nie wieder nehmen und es war einfach Zufall gewesen, dass sie sich noch einmal gesehen hatten, Jahre später.
Die Woche verging wie im Flug und es war wieder Freitag, der Tag, an dem sie ihn getroffen hatte. Ihr Herz pochte so heftig in ihrer Brust, als ihr gesagt wurde, dass ihre Vorlesung ausfallen würde. Nocheinmal würde sie es schaffen den Zug zu nehmen, den sie schon eine Woche zuvor genutzt hatte. Ob er wieder dort sein würde?
Als der Zug einfuhr, konnte sie ihn nicht sehen. Auch im Inneren fehlte jede Spur von ihm. Beim Aussteigen wartete sie vergeblich bis alle Leute weg waren, doch er war nicht hier gewesen. Ihre Brust schien sich zusammenzuschnüren, als sie langsamen Schrittes nach Hause lief. Zu dieser Zeit schien die Sonne.
Gegen Abend, als das Mädchen schon mit ihren Hausaufgaben fertig war, rief ihre Freundin sie auf dem Handy an. Ob sie nicht mitkommen wolle, sie würden einen Trinken gehen mit ihrem Freund und seinen Kumpels, fragte das andere Mädchen. Nach einiger Überredungskunst waren sie sich einig.
Um 22Uhr wurde das Mädchen von ihrer Freundin und deren Freund abgeholt. Er fuhr einen schwarzen BMW und hatte seine Musik voll aufgedreht. Der Musikgeschmack gefiel dem Mädchen nicht, doch freute sie sich, dass es nicht nur Leute wie sie gab, die ihrem Schwarm hoffnungslos hinterherschmachteten. Sie wurde freundlich begrüßt, als sie einstieg.
Nicht einmal zehn Minuten später, befanden sich die drei vor einer kleinen Bar, in welcher der Rest der Truppe schon warten sollte. Das Mädchen wurde nass, als sie aus dem Auto stieg; es hatte zu Regnen begonnen. Obwohl es kein allzu langer Weg gewesen war, fühlte sich das Mädchen völlig durchnässt und war froh, seine Jacke an die Garderobe hängen zu können.
Schnell wurde sie mitgeschleift, ihre Freundin wollte ihr jemanden vorstellen.
Ihr wurde heiß und schlecht, zusätzlich zu dem unbehaglichen Gefühl, dass sie die ganze Zeit über schon gehabt hatte. Da saß er. Lachend unterhielt er sich mit einem anderen Jungen, der am selben Tisch saß und augenscheinlich schon einiges gebechert hatte. Ihn?, fragte das Mädchen unsicher und blieb vor dem Tisch stehen. Ihre Freundin nickte und stellte ihn ihr vor. Aufmerksam geworden, drehte der Junge sich zu den beiden und musterte das Mädchen. Lächelnd hielt er ihr die Hand hin und murmelte ein 'Schön dich kennenzulernen'. Schon drehte er sich zu seinem Gesprächspartner zurück und schien plötzlich noch tiefer in sein Gespräch vertieft zu sein, als je zuvor.
Wie hatte sie auch erwarten können, dass er sich an sie erinnern würde? Immerhin war sie immer die ruhige der Klasse gewesen, hatte keinen einzigen Fehltag und war nur selten früher nach Hause gegangen. Die Noten waren weder besonders gut noch besonders schlecht gewesen, eben eine Durchschnittsschülerin, die keinerlei Aufmerksamkeit bedurfte. Vorallem nicht vom bestaussehendsten Jungen der Klasse.
Einige Zeit - und auch einige Drinks später - saßen das Mädchen und der Junge plötzlich nebeneinander. Den Jungen, der sich schon zugebechert hatte, als sie angekommen waren, wurde von einem anderen nach Hause gebracht, ihre Freundin und ihr Freund tanzten auf der Tanzfläche und von den anderen war sich das Mädchen nicht ganz sicher, ob sie nicht allesamt mit dem weißen Telefon sprachen.
Notgedrungen schienen die beiden ins Gespräch zu kommen. Wie sie dazu kamen dort zu sein - er war ein Kumpel des Freundes, sie eine Kumpanin der Freundin-, ihre Hobbys und andere Vorlieben und und und. Nie fiel das Thema auf die Schule.
Minute um Minute verging und die beiden unterhielten sich noch immer. Nicht besonders angeregt, aber doch interessiert und humorvoll. Sie fühlte sich fast wie im siebten Himmel.
Als es daran ging aufzubrechen, lächelte der Junge ihr traurig zu, auch er hatte es genoßen mit ihr reden zu können; immerhin. Seufzend stand sie auf, zahlte ihre Getränke - es waren nicht einmal viele gewesen - und wollte ihre Jacke holen, als er sie ihr schon hinhielt. Deine?, fragte er und half ihr sie anzuziehen. Hochrot im Gesicht bedankte sie sich und tat einen Schritt zurück. Eben noch waren sie sich so nah gewesen.
Mit gemischten Gefühlen starrte sie zu Boden, die Scham konnte man ihr ansehen. Er lächelte sie nur an.
Lachend griff die angeheiterte Freundin die Hand des Mädchens und schleifte sie hinter sich her. Das Gelallte verstand das Mädchen nicht, doch sie interessierte sich auch nicht dafür. Hastig blickte sie noch einmal über die Schulter zurück und sah, wie der Junge ihr nachwinkte.
Ihre Augen weiteten sich, als sie hörte, was er ihr nachrief. Sie glaubte nicht daran, dass es ein Traum war, oder dass der Alkohol schuld daran war, doch ehe sie sich hatte erkundigen können, war sie schon aus der Bar verschwunden, gezogen von ihrer Freundin. Die Worte hallten noch in ihrem Kopf wider, als sie sich ins Auto setzte, vor sich hingrinste und mit ihrer Freundin das nächste Treffen arrangierte.
Du hast dich gar nicht verändet, seit damals!