Ein leises Geräusch hatte Bryan geweckt. Gedämpftes Keuchen, wie er nach einem Moment der Orientierung feststellte.
„Kai? Wichst du schon wieder?“ Tiefes Knurren, ein ersticktes Stöhnen und dann ein kurzes, atemloses „Halt doch die Fresse und schlaf weiter.“ Bryan zog sich grummelnd die Decke über den Kopf und kuschelte sich gemütlich zurück in sein Kissen. Es war noch mitten in der Nacht und er hatte absolut keinen Bock sich um halb eins – wie ein kurzer Blick auf die Leuchtzahlen seines Digitalweckers ihm verriet – mit Kai Hiwatari anzuzicken. Wirklich, das taten sie tagsüber schon genug.
Kai war vor drei Jahren zu den Demolition Boys zurückgekehrt und zu aller Überraschung auch dort geblieben. Nein, keine klamm heimlichen Teamwechsel mehr bei Nacht und Nebel. Offenbar hatte er sich endlich entschieden ob er mit oder gegen Tyson kämpfen wollte. Aber das alles ging Bryan ja im Grunde nichts an. Er und Kai waren auch nach drei Jahren noch nicht wirklich warm miteinander geworden – da konnte sie Yuriy während Meisterschaften und Spezialtrainingseinheiten noch so oft in dasselbe Zimmer stecken. Bryan mochte ihn nicht, diesen kleinen arroganten Snob. Und seine Meinung über den Halbrussen verbesserte sich auch nicht gerade dadurch, dass Kai ihn jetzt schon seit zwei Wochen – seit Beginn der russischen Beyblademeisterschaften – mit unkontrolliertem Rumgewichse jede zweite Nacht weckte. Okay, er hatte einen verdammt leichten Schlaf, aber warum zum Henker wichste der Idiot nicht wie jeder andere Mensch auch: tagsüber im Bad, statt zu nachtschlafender Zeit? Über diesen Gedanken schlief Bryan letztlich wieder ein...
...Nur diesmal riss ihn ein garantiert ungedämpftes Poltern, gefolgt von einem angepissten „Scheiße“ aus seinen Träumen.
„Was zum Geier ist denn jetzt schon wieder?“ Wohlgemerkt um sechs Uhr in der Früh. Bryan löste seinen Blick von seinem Wecker und drehte sich gähnend um. Kai in weinroten Hotpants war gerade dabei Klamotten aus dem Kleiderschrank zu ziehen. Bryans Gewichte waren dabei polternd zu Boden gefallen. Rote Augen funkelten ihn angriffslustig an und dem Russen war es wie immer ein Rätsel, wie Kai schon am frühen Morgen so gut drauf sein konnte.
„Wieso hast du deine Gewichte in mein Fach gelegt, Bryan?“ Ah, stimmte ja, er war Schuld. Wer auch sonst?
„Wieso hast du den ganzen beschissenen Schrank mit deinen Klamotten voll gestopft? Wir sind auf einem dreiwöchigen Turnier in Novgorod, nicht auf einem dreimonatigen Modeurlaub in Paris, du Modetucke.“
„Ich brauch halt auch Kleidung zum Wechseln, im Gegensatz zu dir.“
„Ja, ja, fick dich und lass mich schlafen.“
„Yuriy kommt sowieso gleich, um dich aus dem Bett zu schmeißen.“ Bryan verdrehte innerlich die Augen. Dieser kleine Besserwisser.
„In einer Stunde. Und bis dahin werd’ ich hier noch ganz friedlich schlafen.“ Doch an Schlaf war nicht zu denken. Kai verschwand im Bad und Bryan blieb hellwach zurück – dank der kleinen Ratte. Lange würde das nicht mehr gut gehen, soviel war sicher. Kai schien seit einigen Monaten ihm gegenüber noch aggressiver als sowieso schon und Bryan musste sich schon fragen, warum der Halbrusse ihn so hasste.
Er seufzte. Er wollte wieder mit Spencer in einem Zimmer schlafen. Aber Yuriy hatte hier nun mal das Sagen und der war der Meinung, dass sie lernen mussten miteinander klar zu kommen, um des Teams willen. Dabei hatten sie gerade als Team doch alles erreicht. Sie hatten die Finals der letzten WM gewonnen, dank Yuriys spektakulärem Sieg über Tyson. Herr Gott, sie waren Weltmeister und das ohne tiefe Freundschaft zwischen ihm selbst und Kai. Ach, es lohnte nicht, darüber nachzugrübeln und jetzt, wo er sowieso wach war, konnte er auch aufstehen.
Auf nackten Füßen tapste er hinüber zum Schrank, von dem ihm ja doch irgendwie ein Viertel zustand und kramte sich frische Unterwäsche, Hose und T-Shirt heraus. Dann stapfte er ins Bad. Kai war natürlich noch nicht mit Duschen fertig, aber wenn er ihn schon so früh wach machte, sollte er sich jetzt gefälligst auch beeilen.
„Mach Druck, Prinzessin. Ich will heut auch noch duschen.“ Ein Stück Seife flog haarscharf an seinem Kopf vorbei, dann hatte Kai die Tür zur Duschkabine bereits wieder zugeknallt. Dieser verwöhnte Pisser. Trotzdem ging das Wasser gleich danach aus und Kai stieg mit frostiger Miene aus der Kabine.
„Als ob bei dir Duschen noch irgendeinen Zweck erfüllen würde.“ Bryan biss sich auf die Unterlippe, er war kurz davor richtig wütend zu werden und das konnte unangenehm enden; für sie beide.
Kai hatte sich mittlerweile ein Handtuch gegriffen und rubbelte sich in gewohnt nervenaufreibender Seelenruhe die Haare trocken. Bryan musterte ihn von der Seite, manchmal konnte wirklich alles an Kai ihn auf die Palme bringen. Trotzdem hatte er sich vorgenommen – oder besser, es Yuriy geschworen – Ruhe und Frieden zu bewahren.
„Weißt du, Hiwatari, wenn du mir nicht so absolut scheiß egal wärst, würde es mich glatt interessieren, warum du mich so hasst.“ Zu seiner Überraschung kam keine dumme Antwort. Kai sah ihn unter seinem Handtuch hervor groß an, dann stapfte er mit gesenktem Blick und immer noch splitternackt aus dem Bad. Das war’s. Aber Kai verstehen, das stand sowieso nicht in seiner To-Do-Liste. Wen interessierte schon das merkwürdige Verhalten dieses absolut merkwürdigen Freaks?
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„Yuriy!“, Bryan zog seinen Teamleader und vermeintlich besten Freund nach dem gemeinsamen Hotelfrühstück zur Seite. ‚Vermeintlich’, weil er sich schon fragen musste, wie der Rothaarige ihm das mit Kai antun konnte, obwohl er sicher bereits tausendmal um Erlösung gebettelt hatte. Auch jetzt hatte er nichts anderes vor, obwohl er das Resultat längst kannte…
„Hör zu. Ich halt’s mit der Ratte einfach nicht mehr aus. Können wir nicht endlich wieder die Zimmer tauschen? Wenn es sein muss, schlaf ich auch in ’ner Abstellkammer.“ Kühle, eisblaue Augen maßen ihn kurz, dann fuhr sich Yuriy seufzend durch sein feuerrotes Haar.
„So schlimm kann Kai doch gar nicht sein.“
„Ist er aber. Und irgendwie werd’ ich das Gefühl nicht los, dass du ihn mir nur deshalb untergeschoben hast, damit du ihn nicht ertragen musst.“ Bei dem letzten ‚du’ hatte Bryan seinen Finger nachdrücklich gegen Yuriys Brust gestupst, doch der lächelte ihn nur mit einer Mischung aus Spott und Vergnügen an.
„Ich weiß nicht was du hast. Ich mag Kai.“
„Da bist du aber der einzige.“
„Spencer hat auch nichts gegen ihn.“
„Der muss ja auch nicht im selben Zimmer mit ihm schlafen.“ Yuriys Augenbrauen zogen sich dichter zusammen und jeder Hauch von Amüsement verschwand plötzlich aus dem blassen Gesicht. Bryan wusste, das Limit war erreicht. Weiter zu diskutieren würde nichts bringen, außer Yurys Zorn und den nahm keiner gerne offenen Auges auf sich. Trotzdem wagte er noch einen letzten Versuch. Schließlich ging es hier um seinen persönlichen Seelenfrieden.
„Okay, ich beschwer mich nicht weiter, aber mach mich dann auch nicht verantwortlich, wenn die Situation irgendwann eskaliert.“ Yuriy schnaubte nur abfällig.
„Macht das unter euch aus. Aber eine Beeinträchtigung des Teams oder eurer Leistung werde ich nicht dulden. Verstanden?“ Das war Yuriys letztes Wort und ohne sich weiter um seinen Teamkollegen zu kümmern, drehte sich der Rothaarige um und machte sich auf den Weg Richtung hoteleigene Trainingsräume. Bryan sah ihm resignierend hinterher. Er würde sich wohl arrangieren müssen.
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„…wenn du mir nicht so scheiß egal wärst…“
Kai stupste seinen Fuß abwesend auf den Boden und sah dann hinüber zu Spencer und Bryan, die in ein Übungsmatch vertieft waren, während Yuriy sich ihre Technikpunkte notierte. Ihr nächstes Teamspiel war in zwei Tagen und bis dahin hatte ihr Kapitän leichtes Training und Technikkorrektur angesagt. Und Kai war froh, dass er zumindest beim Bladen abschalten konnte. Sein innerlicher, absolut chaotischer Zustand hatte Gott sei dank (noch) keinen Einfluss auf seine Leistung. Aber Bryans Worte vom Morgen wogen schwer. Natürlich wusste er, dass Bryan ihn hasste – hatte er das nicht immer getan? – es dann aber so mehr oder minder unverblümt ins Gesicht gesagt zu bekommen, war doch etwas anderes.
Er beobachtete wie Bryan sein Blade erneut in den Starter setzte, nachdem er diese Runde an Spencer abgeben musste, und unwillkürlich verlor sich sein Blick auf dem schlanken Körper. Wunderbar sexy geformte Oberarme spannten sich an, Muskeln arbeiten – selbst durch Bryans T-Shirt deutlich sichtbar – auf dem sehnigen Rücken und die blasse Haut des Russen brachte Kai dazu, sich zu fragen, wie seine eigene, braunere Haut wohl darauf aussehen würde. Der Kontrast von Körper auf Körper… Kai seufzte ungehört. Er sollte so nicht denken, nicht jetzt, nicht später, gar nicht. Aber was konnte er schon tun, gegen diesen Irrsinn, der sich Gefühle nannte? Bryans Nähe machte ihm Angst und hinterließ gleichzeitig ein so angenehmes Kribbeln tief unter seiner Haut.
Da schaute Bryan zu ihm herüber und die grauen Augen funkelten ihn eisig an. Kai schauderte und starrte doch genauso eisig zurück, solange, bis der Grauhaarige sich wohl oder übel wieder seinem Spiel zuwenden musste.
Kai ärgerte sich. Er war alles andere als unschuldig an der jetzigen Situation und an den Worten, die Bryan so voller Verachtung zu ihm gesagt hatte. Er war aggressiv und überheblich und machte sich bei jeder Gelegenheit über ihn lustig. Aber irgendwie musste er sich doch schützen. Er wusste einfach nicht, wie er mit diesen lächerlichen, völlig irrationalen Gefühlen umgehen sollte. Wo war nur seine beschissene Gleichgültigkeit abgeblieben, seine Gefühlsbeherrschung? Warum musste ausgerechnet er schwul sein? Das hatte er für sein Leben nicht geplant. Das hatte er nicht gewollt. Das war verdammt noch mal unfair!
„Tja, Spencer, wer hat jetzt die dickeren Eier?“ Bryans männliche und doch so jungenhafte Stimme riss ihn aus seinen Grübeleien.
„Mach dich nicht lächerlich, Kurzer, das nächste Mal stampf ich dich ungespitzt in den Boden.“ Bryan lachte und ließ sich von Spencer durch die Haare strubbeln. Und Kai ärgerte sich über sich selbst: er war eifersüchtig. Diese ausgelassene, beinah kindliche Seite zeigte Bryan nicht jedem und ihm schon mal gar nicht. Er war nicht Bryans Freund, so wie Yuriy oder Spencer. Er war bloß die arrogante Ratte und so sehr es ihn auch selbst störte, es tat ihm weh, zu wissen, dass er auch nie mehr sein würde.
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Operation Problem-Kai-aussitzen-bis-zum-Ende-der-Meisterschaft begann für Bryan nach einem mäßig anstrengenden Trainingstag – an dem Kai ihn überraschenderweise kein einziges Mal blöd von der Seite angemacht hatte – mit einer DVD, die er sich auf sein Zimmer ausgeliehen hatte. Er würde sich nicht mehr provozieren lassen, er würde Kai einfach ignorieren.
Sein erklärter Erzfeind saß unbeteiligt auf dem Bett und las, wie so oft, einen viel zu dicken Schmöker, als Bryan mit der DVD eintrat. Groß war die Auswahl im Hotel nicht gewesen und er hatte sich für einen klassischen Horrorstreifen aus den 80ern entschieden. Leichte Kost, vielleicht gab es was zu lachen. Zwanzig Filmminuten später hatte er den Stress der letzten Tage vergessen und gerade schmunzelte er über eine besonders schlecht inszenierte Szene, als ein leises Lachen an sein Ohr drang. Er sah zu Kai und bemerkte gerade noch, wie dieser hektisch sein Buch wieder hochnahm.
„Wenn du den Film auch sehen willst, dann tu es doch einfach.“
„Nein, danke.“
„Mein Gott, Hiwatari, bist du dir jetzt schon zu fein, dir mit mir ’nen Film anzusehen?“
„Nein, Kuznetsov, ich seh’ von hier drüben nur kaum was, Idiot.“ Ganz ruhig, Bryan, nur nicht aufregen. Die kleine Ratte würde ihm diesmal nicht den Abend vermiesen. Er zwang sich ein Lächeln auf und klopfte auf das Bett neben sich.
„Dann setz dich doch zu mir, Kai.“ Es klang eher wie die Einladung zum Jüngsten Gericht. Aber, hey, er hatte eine längere Diskussion geschickt umgangen. Kai würde mit einer dummen Bemerkung ablehnen und er würde in Ruhe den Rest des Films genießen. Seine Schuld, dass er den Giftzwerg überhaupt erst angesprochen hatte und wenn er so darüber nachdachte, dann – eh?
Die Matratze senkte sich neben ihm, ein Kissen wurde an der Rückenlehne aufgeschüttelt und der schlanke Körper eines 17jährigen machte es sich unübersehbar in seinem Bett gemütlich. Er sah Kai fragend an, doch der starrte nur stoisch auf die Mattscheibe. Na gut, dann sahen sie sich eben den Film zusammen an. Würde ihn schon nicht umbringen mit Kai im selben Bett zu sitzen.
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Kais Herz schlug ihm bis zum Hals. Selbstverständlich war Bryans Einladung nicht ernst gemeint gewesen, aber die vollkommen irrationalen Gefühle, die ihn jetzt schon seit Monaten belästigten, hatten einfach die Kontrolle übernommen. Und jetzt saß er neben Bryan im Bett und war so nervös wie noch nie in seinem Gott verdammten Leben. Er brauchte ganze zehn Minuten bis er sich halbwegs auf den Film konzentrieren konnte. Das wahnsinnige Kribbeln in seinem Bauch immer wenn Bryan sich auch nur einen Millimeter bewegte, blieb aber trotzdem.
„Das ist so gestellt.“ Bryans dunkle Stimme kroch heiß über seine Haut und hinterließ Herzklopfen und weiche Knie. Kais Antwort klang heißer.
„Ja, vor allem, welcher Vater schickt seinen 12jährigen Sohn mitten unter die Monster, um mit dem Auto Hilfe zu holen?“
„Echt mal! Ich hatte The Critters irgendwie besser in Erinnerung.“
„Wann hast du den denn das letzte Mal gesehen? Vor zehn Jahren?“ Bryan lachte, „Könnte hinkommen“ und einen Augenblick sahen sie sich direkt in die Augen. Kai konnte nicht anders, er lächelte und wusste im selben Moment, in dem er das tat, dass es verdammt blöd aussehen musste, denn Bryan starrte ihn geradezu entgeistert an. Beschämt und verunsichert wandte der Halbrusse seinen Blick ab, schlug die Augen nieder und hatte absolut keinen blassen Schimmer, was er mit der Situation anfangen sollte. …Bis sich eine knisternde Tüte unter seine Nase schob.
„Willst du?“ Er nickte, murmelte ein undeutliches „Danke“ und griff sich eine handvoll der Karamellbonbons, die Bryan ihm anbot.
Den Rest des Films zogen sie gemeinsam über die steinzeitartige Aufmachung der Horror-Sequenzen her und Kais Herz raste, jedes Mal, wenn er Bryan mit einer Bemerkung zum Lachen brachte. So ausgelassen hatte er den attraktiven Vollblutrussen noch nie erlebt, zumindest nicht in seiner Gegenwart. Vielleicht, nur vielleicht konnten sie ja eines Tages doch so etwas wie Freunde werden. Vielleicht hasste Bryan ihn ja gar nicht.
Der Film schloss mit einem übertriebenen Happy End und der magische Moment der friedlichen, ausgelassenen Nähe zwischen den beiden Zuschauern fand dabei ebenso sein Ende. Kais Befangenheit kehrte zurück. Er rutschte vom Bett mit noch immer butterweichen Knien und spürte förmlich Bryans bohrenden Blick im Nacken. Als ob er mit ihm reden wollte und nicht wusste, wo anfangen. Kai zog sich schleunigst um und es dauerte keine viertel Stunde – inklusive Zähneputzen – und er lag bis zu den Ohren zugedeckt im Bett. Reden, das wusste er, würde nur in Streit enden, dafür kannte er sich gut genug. Und Streiten, war das letzte, was er nach diesem Abend wollte. Es hatte ihn glücklich gemacht, so mit Bryan zusammen gewesen zu sein, doch letztlich brachte es auch seine Zweifel wieder. Er wäre gern mit dem anderen Jungen befreundet, doch was er fühlte, war keine Freundschaft. Selbst wenn Bryan es zuließe, er könnte niemals ein bloßer Freund sein.
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„Du Arschloch!“ Bryan schlug wutentbrannt seine Faust auf den Tisch. Ein Glas kippte, fiel herunter… zersprang. Gestern Abend hatte er noch geglaubt, dass Kai vielleicht doch ganz verträglich war und selbst den heutigen Tag über waren sie recht gut miteinander klar gekommen. Bis vor zwanzig Minuten. Ein Wort gab das andere und schon waren sie wieder mitten drin, ohne dass er jetzt noch den Auslöser benennen könnte. Sie hatten sich gefetzt, wie noch nie und Yuriy war nicht gekommen, wie sonst immer. Er hatte eine klare Ansage gemacht. Er würde sich nicht einmischen, sie mussten ihre Probleme selbst lösen.
„Gott, Kusnetzov, kannst du mich nicht in Ruhe lassen mit deiner Scheiße. Du bist hier doch das verdammte Arschloch.“ Bryans Faust zuckte gefährlich. Wie gern würde er dem kleinen Wichser jetzt eine rein schlagen… Aber er hatte seine Aggressionen unter Kontrolle, hoffte er zumindest.
„Na, was denkst du, wie ich reagieren soll, wenn du so was zu mir sagst.“ Er spielte darauf an, dass Kai ihn vor Minuten noch mit Dingen belehren wollte, die ihn absolut nichts angingen.
„Hätten Spencer oder Yuriy genau dasselbe zu dir gesagt, wärst du auch nicht so ausgerastet.“
„Spencer und Yuriy sind ja auch meine Freunde.“
„Im Gegensatz zu mir?“ Bryan stutzte. Kai klang mit einmal seltsam ruhig und der Sturm, der hier gerade noch tobte, hatte sich von einer Sekunde auf die andere gelegt. Was ging hier eigentlich vor?
„Ja, genau, im Gegensatz zu dir“, murmelte er noch. Yuriys Worte fielen ihm ein. Wenn sie ihre Differenzen lösen wollten, mussten sie endlich miteinander reden und genau jetzt schien der perfekte Augenblick dafür gekommen zu sein.
„Sag mir, was dein Problem mit mir ist, Kai. Warum bist du schon seit Monaten so gereizt?“ Doch Kai sah die Sache mit dem „Reden“ wohl anders. Er schnaufte nur abfällig und wandte sich zum Gehen.
„Ich hab keine Lust mit dir zu quatschen. Wir sind ja nicht bei der Eheberatung.“ Bevor die Ratte sich allerdings verdrücken und Bryan, wie so oft, einigermaßen bedröppelt stehen lassen konnte, packte der ihn am Arm, riss ihn herum und donnerte ihn mit dem Rücken gegen den Schrank.
„Es reicht! Wir klären das jetzt, verstanden? Also, was in aller Welt ist dein beschissenes Problem mit mir?“ Rote Augen sahen ihn erschrocken an, dann versuchte Kai sich an ihm vorbeizudrängen. Ein kurzes Handgemenge folgte, bis Bryan seine Handgelenke zu fassen bekam. Hart presste er den anderen Jungen gegen den Schrank. Der Halbrusse wandte seinen Kopf zur Seite und Bryan bemerkte überrascht, wie dessen Atem beschleunigte und unter den zerfransten, grauen Ponyhaaren konnte er einen Rotschimmer auf Kais Wangen erkennen. Er wirkte angespannt und nervös und dieses Gefühl sprang seltsamerweise auch auf Bryan über.
„Lass mich los.“ Das war Kais schwacher Protest und Bryan spürte ein aufgeregtes Kribbeln in seinem Bauch.
„Warum hasst du mich?“ Sein Herz schlug unwillkürlich schneller.
„Ich hasse dich doch nicht.“ Kais Stimme klang gepresst und Bryan trat noch einige Zentimeter näher. Die Wärme des anderen Körpers flackerte angenehm zu ihm herüber und wieder war es da, dieses merkwürdigen Kribbeln tief in seinem Inneren.
„Und warum bist du dann so Scheiße zu mir?“
„Ich–“
„Ja?“
„Ich… bin halt so, verdammt!“ Kai sah endlich zu ihm auf und Bryan hielt einen Herzschlag lang den Atem an. Die roten Augen flammten dunkel unter langen, schwarzen Wimpern und absurderweise lag Bryan plötzlich die Frage auf der Zunge, ob Kai sich wohl die Augen schminkte. Aber davon mal ab, der Halbrusse war – und das überraschte Bryan regelrecht – der Halbrusse war schön. Das war ihm vorher nie aufgefallen. Wie auch, wenn sie sich ständig nur ankotzten?
„Verscheißer’ mich nicht, Kai. Sag mir doch einfach, was los ist und vielleicht können wir dann endlich unsere Streitereien begraben.“ Ohne das wirklich kontrollieren zu können, trat Bryan noch ein wenig näher, so nah, dass sich ihre Körper berührten und Bryan fühlte, wie Kai sich anspannte. Der eben noch so intensive Blick verschwamm und Kai schlug erneut seine Augen nieder.
„Du bist zu nah“, hörte er ihn murmeln.
„Ich weiche keinen Millimeter zurück, bis du mir gesagt hast, was dein beschissenes Problem mit mir ist.“
„Verdammt, Bryan…! Du willst wissen, was mein Problem ist? Herrgott, ich sag’s dir!“ Kai funkelte ihn wütend an, wirkte plötzlich unglaublich aufgedreht und seine Stimme überschlug sich fast, als er ihn anbrüllte: „Es kotzt mich verdammt noch mal an, dass ich mich in so einen Idioten wie dich verliebt habe! Und jetzt lass mich gefälligst los!“ Mit einer kurzen, kraftvollen Bewegung schupste der Halbrusse ihn zur Seite. Eine Tür knallte sekundenspäter und Bryan, jetzt alleine im Zimmer, starrte verdutzt und völlig überrumpelt auf den Schrank vor sich. Dahin, wo der vermeintliche Giftzwerg bis eben noch gestanden hatte.
Kai war in ihn verliebt?
~~~
Kai saß in seinem Wohnzimmer auf der Couch und starrte teilnahmslos auf das Buch, das er schon seit Tagen lesen wollte. Er konnte sich nicht konzentrieren.
Zwei Wochen waren vergangen seit er Bryan dieses Geständnis gemacht hatte – zu ihrer beider Überraschung. Die russischen Meisterschaften waren längst vorbei – natürlich hatten sie erneut gewonnen – und das Team gönnte sich einige Tage Ruhe, bevor sie zu einem Trainingscamp ins sibirische Hinterland aufbrechen wollten. Kai war wieder in sein kleines Apartment zurückgekehrt und vermied jeden Kontakt zum Team. Seit jenem denkwürdigen Abend hatte er kein Wort mit Bryan gewechselt. Aber der Russe schwieg ebenfalls und genau das tat erstaunlicherweise mehr weh, als eine ehrliche Ablehnung. Denn bedeutete dieses Schweigen nicht, dass Bryan ihn verachtete? So sehr, dass er nicht mal die Worte fand, ihn abzuweisen? Der Gedanke, dass Bryan sich vor ihm ekeln könnte, war grauenhaft. Vielleicht hatte er es längst Yuriy und Spencer erzählt? Vielleicht würden sie ihn aus dem Team werfen? Er schüttelte den Kopf, er würde noch paranoid werden.
Doch gegen seine Gefühle, gegen seine Angst konnte er nichts tun. Wie hatte er überhaupt so dumm sein können, es zu sagen? Ah, blöde Frage, Bryans Nähe hatte ihm das Gehirn vernebelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Die tiefe, warme Stimme, die Kraft, mit der er ihn an den Schrank gepresst hatte und diese Hitze, die seinen Körper entflammt hatte. Gott, er war so total verknallt. Und er war so ein Idiot.
Ein energisches Klingen schallte drängend durch die kleine Wohnung. Kai legte das ohnehin kaum beachtete Buch auf den Couchtisch und stand auf. Er hatte keine Lust auf Besuch und wer auch immer da vor der Tür stand, hatte sich einen verdammt ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um Kai Hiwatari beim Nachgrübeln und beim Im-Selbstmitleid-Baden zu stören.
Doch jeder Ärger verpuffte, als er die Tür öffnete und genau der Junge davor stand, den er jetzt absolut als Letzten erwartet hätte.
„Hi… Darf ich rein kommen?“ Bryan sah so gut aus! Nein, besser! Gott, er sah absolut anbetungswürdig aus! Sein graues Haar war vom Wind zerzaust, die blassen Wangen von der Kälte gerötet und die klaren Augen wirkten aufgewühlt, wie nach einem inneren Sturm. Kais Blick blieb an den sicher samtweichen, zarten, unendlich einladenden Lippen hängen und er merkte wie sehr er den Jungen vermisst hatte. Er grummelte ein undeutliches „Hm“ und trat dann beiseite, um Bryan einzulassen.
Der Grauhaarige schälte sich aus seiner Jacke und Kai verlor sich in Gedanken über das sexy enge T-Shirt und diese knackigen, ausgewaschenen Jeans, die Bryans süßen Po wirklich nur ins allerbeste Licht rückten. Argh… er hatte einen an der Waffel. Bryan war sicher nicht hier, um ihm seine unendliche Liebe zu gestehen und er dachte nur daran, wie wunderschön und süß und erregend es sein könnte, jetzt mit Bryan zu kuscheln, zu knutschen und zu fummeln.
Keine zwei Minuten später saßen sie zusammen im Wohnzimmer, jeder in einer Ecke des Sofas und Kai spielte angesichts Bryans Schweigen nervös mit einem Sofakissen. Er fühlte sich unangenehm angestarrt und letztlich hielt er die Anspannung nicht mehr aus.
„Also, was willst du jetzt?“ Bryan strich sich kurz durch sein graues Haar und sah Kai dann durchdringend an.
„Weißt du, das war schon ’nen ganz schöner Schock, was du da zu mir gesagt hast. Und eigentlich kann ich dich auch gar nicht leiden–“
„Moment mal.“ Kai hob leicht seine Hand, um seinen Einwand zu unterstreichen. „Soll das heißen, du bist hier, um mir zu sagen, dass du mich nicht ab kannst?“
„Halt doch einfach mal die Klappe. Ich bin ja noch nicht fertig.“
„Tze, bitte schön“, Kai verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, „dann erzähl mal.“ Bryan räusperte sich und fuhr sich erneut durch sein kurzes Haar.
„Na, ich war also geschockt und dann hab ich so nachgedacht. Über dich und mich und überhaupt so alles.“ Kai wusste nicht recht, ob er die Augen verdrehen oder lächeln sollte. Das war Bryans Art Dinge völlig frei von allen Details zu erzählen. Dann musste er doch schmunzeln. Er mochte ihn einfach. „Und da ist mir klar geworden, dass ich dich überhaupt nicht kenne, Kai. Ich mein, wir kennen uns natürlich schon seit der Abtei… Aber ich mein so richtig kennen… Weißt du, was ich meine?“ Bryan wirkte ehrlich verzweifelt. Offenbar fehlten ihm die Worte um zu sagen, was er sagen wollte und Kai war gewillt ihm zu helfen.
„Bryan, du brauchst mir hier nichts zu erklären. Sag einfach, dass du nicht auf mich stehst und wir vergessen die ganze Sache.“ Natürlich war ihm klar, dass er das ganze nicht so schnell vergessen konnte. Gefühle brauchten ihre Zeit, das wusste selbst er. Doch zumindest für Bryan wollte er es ein wenig leichter machen. Er war immerhin gekommen und das allein bedeutete Kai schon sehr viel.
„Nya, weiß du, erst dachte ich ja, ich steh ja eh nicht auf Kerle, aber dann hab ich mir so gedacht, dass du eigentlich sehr hübsch bist und ja, ich weiß nicht, ich glaub, ich finde dich schon ähm… anziehend.“ Und Kai war mittlerweile feuerrot im Gesicht.
„W-Was?“
„Ich würde dich gern mal küssen. So probehalber.“ Okay, das war dann der Moment, in dem Kai das erste Mal ernsthaft an seinem sonst so einwandfreien Gehör zweifelte.
„Bitte?“ Doch seine Zweifel bestätigten sich nicht. Bryan rutschte auf dem Sofa zu ihm herüber und Kai krallte sich unwillkürlich in das Sofakissen, das er noch immer im Arm hielt.
„Ich mach das jetzt“, hörte er den anderen Jungen mit rauer Stimme flüstern. Der Halbrusse presste sich zurück an die Armlehne des Sofas, doch Bryan war bereits über ihm. Kai wurde heiß und kalt zugleich. Seine Knie schlotterten. Er hatte noch nie jemanden geküsst. Und Bryan war so nah… Er fixierte die Lippen, die er sich immer so göttlich weich vorgestellt hatte, dann verschwamm seine Sicht und er schloss die Augen. Warmer Atem streichelte seine Haut und in stiller Erwartung öffnete er seine Lippen. Die erste Berührung war ein vorsichtiger Kuss auf seine Unterlippe, dann spürte er Zähne auf dem weichen Fleisch, ein zartes Ziehen und Kai rannen heiße Schauer über den Rücken. Sein Herz schlug so schnell, so verdammt schnell… Und endlich Bryans Zunge in seinem Mund. Feucht und warm, ein fremder Geschmack. Ihre Zungen streichelten sich, zurückhaltend erst, dann immer gieriger. Ein Tanz. Bryan drückte ihn an den Schultern ins Polster, drängte sich gegen ihn und raubte Kai immer wieder sekundenlang die Luft. Er konnte sie nicht unterdrücken, die kleinen Geräusche, ein leises Wimmern, das aus seiner Kehle drang. Immer stärker, je mehr er Bryans Hitze spürte. Sein Körper stand in Flammen. Der Kuss beraubte ihn seiner Sinne und er legte seine Hände auf Bryans Seiten, nestelte aufgebracht am Saum seines T-Shirts und schob letztlich seine Finger unter den engen Stoff. Bryans nackte Haut! Gott, das war so… so… geil!
Bryan keuchte auf und schob ihn von sich. Er löste den Kuss und Kai sah verwundert zu ihm auf. Doch wirklich verwundert war offenbar Bryan. Er starrte ihn atemlos und absolut erstaunt an. Und Kai schmolz bei seinem Anblick, den leicht geschwollenen Lippen und dem klaren, stürmischen Grau seiner Augen. Bryan wich noch weiter zurück und Kai richtete sich auf. Letztlich saßen beide wieder brav auf der Couch und Kai fragte sich, was nun kommen würde. War der Grauhaarige so schockiert über ihren Kuss, dass er gleich fluchtartig die Wohnung verlassen würde? Den Eindruck machte er zumindest. Nein, er blieb sitzen und nach Minuten des Schweigens und des Wieder-Zu-Atem-Kommens, ergriff er auch das Wort.
„Kai, ähm… wow. Also, der Kuss… wow. Was ich vorhin eigentlich noch sagen wollte – und Scheiße, dieser Kuss war echt heiß – ist, ich kann dir nichts versprechen, aber ich würde dich gern besser kennen lernen, bevor ich mich entscheide.“ Kais Augen wurden groß und er brauchte einen Augenblick um Bryans scheinbar zusammenhangsloses Gebrabbel in eine logische Reihenfolge zu bringen. Bryan interpretierte sein Schweigen aber wohl als Aufforderung weiter zu sprechen.
„Na, ich mein, ich kann dich ja nicht abweisen, wenn ich dich nicht mal gut genug kenne, um zu wissen, ob ich dich mögen könnte, oder nicht. Das fände ich unfair. Wäre das okay für dich? Mein Freund auf Probe zu sein?“ Was für eine Frage. Klar wäre es okay mit Bryan auszugehen, Zeit mit ihm zu verbringen und ihn vielleicht noch einmal so verdammt geil zu küssen. Natürlich gab es keine Garantie, dass er ihn am Ende nicht doch noch in die Wüste schickte. Aber er würde sich anstrengen und er würde jeden Moment genießen. Was hatte er schon zu verlieren? Ausgerechnet er?
„Okay“, er lächelte, „aber mehr als Küssen gibt es erst, wenn du dich entschieden hast, klar?“
„Nun zick’ doch nicht gleich wieder, das weiß ich doch selbst.“
„Ich persönlich bezweifle ja immer, dass du so umfassend denken kannst, Bryan.“
„Mein Gott, Hiwatari, manchmal gehst du mir einfach nur auf die Eier.“ Doch er schmunzelte und Kai konnte nicht anders, er war glücklich.
---The End---