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Warten

von

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Ich habe Jahre auf ihre Rückkehr gewartet. Jeden Morgen steige ich auf den Hügel und sehe zu, wie sich der Nebel über dem Tal auflöst. Jeden Morgen hoffe ich, ihre schmale Gestalt im Nebel auftauchen zu sehen.

Es passiert nie.

Die wenigsten wissen, was ich dort oben tue. Manche loben mich für meine Disziplin, vor dem Frühstück noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Andere wieder halten mich für einen Spinner, einen Idioten, für dessen merkwürdiges Verhalten es keine vernünftige Erklärung gibt. Wenn mich Gäste bei meinem Ritual beobachten und sich bei einem der Jungen nach meinem Verhalten erkundigen, zucken die nur mit den Schultern oder deuten mit einem kreisenden Finger an, was sie davon halten.

Nur glückliche Menschen kommen in ihrem Leben nie an den Punkt, an dem ihnen egal ist, was andere über sie denken. Also beachte ich sie nicht, sondern empfinde ihren Spott als Grund zum Neid. Könnte ich wie sie sein, hieße das -

„Jonathan! Träumst schon wieder, eh? Wenn de deine Beene nich bald mehr bewegst als deinen Kopp, kriegste zwei hinter de Ohren!“ Der Meister schlägt sich das Handtuch über die Schulter und sieht drohend in meine Richtung. Ich nicke; dumm, aber gehorsam, wie sie es verlangen.

Einige der Gäste, die als letzte noch ihr Frühstück einnehmen oder aus den Fenstern auf die Hügellandschaft hinaussehen, unterhalten sich tuschelnd. Der Geruch von Rührei und Kaffee erfüllt den Saal wie eine dichte Paste. Mir ist übel, ich reibe mir der Bauch, aber es hilft nicht.

Die Räume werden so grenzenlos, wenn sie nicht hier ist. Die Wände verschieben sich ins Unendliche, nur gefüllt mit Zeit. Die Sekunden tropfen hinein und ändern nichts, nur ...

Ich trage das Geschirr in die Spülküche. Die Tische müssen gewischt, die Decken abgezogen und gewaschen werden.

Danach steige ich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Hügel und sehe hinunter ins Tal.

Ein Mädchen steht bei mir an der Kreuzung. Sie lehnt an dem Pfosten, von dem der Wegweiser in die Richtung des Hofs deutet und der andere nach unten in die Stadt. Zuerst bemerke ich sie nicht, weil sie nicht zu dem Bild des Hügels gehört. Dann stehen wir nebeneinander und sie sieht aus den Augenwinkeln zu mir herauf.

Einen Kopf kleiner ist sie, ein zartes Mädchen mit einem dicken Schal und Wintermantel. Sie friert, aber ihr Blick sagt, wie wenig es sie stört.

„Ich warte auf meinen Liebsten“, sagt sie.

„Ich warte auf meine Liebste.“

„Glaubst du, er wird kommen?“

„Bestimmt“, sage ich und fröstele. „Aber es wird dauern.“

„Vielleicht tragen sie ihn in einem Sarg heim. Dann werde ich seine Mörder suchen und finden.“

Wir schweigen. Der Nebel ist aus dem Tal verschwunden und in den Himmel gewandert, wo dichte Wolken das Blau verbergen. Der Weg bleibt leer.

Sie dreht sich um und geht. Als ich mich umsehe, ist sie bereits verschwunden.

Der Tag vergeht wie jeder andere. Manchmal fällt es mir schwer am Morgen aufzustehen, weil ich genau weiß, was mich erwartet. Allein das Warten auf sie ruft mich aus dem Bett, allein wegen ihr stehe ich auf, achte darauf, nicht die Treppe hinunter zu fallen, allein deswegen esse und schlafe und trinke ich, damit ich hier bin, wenn sie kommt.

„Nun, wenn das so is, dann musste aber een großer Lieber sein“, meinte einmal ein Gast, nachdem ich ihm eines Abends die Geschichte erzählte.

Ich zuckte damals mit den Schultern. Nicht Liebe lässt mich jeden Tag zu der Kreuzung wandern, sondern Hoffnung, aber ich hatte keine Lust, dass dem Mann zu sagen.

Am nächsten Morgen ist sie wieder da. Ich bin etwas spät, der Nebel lichtet sich bereits unter dem Blick des Mädchens.

„Ich warte auf meinen Liebsten“, sagt sie.

„Ich warte auf meine Liebste.“

„Glaubst du, er wird kommen?“

„Vielleicht“, sage ich und fröstele. „Aber es wird dauern.“

Sie nickt, dreht sich um und geht. Dieses Mal sehe ich ihr hinterher, bis ihre kleine Silhouette hinter dem Hügel verschwindet.

Am Abend unternehme ich nach der Arbeit einen Spaziergang. Der Lärm des Gasthauses dringt zu mir hinüber, die fröhlichen Rufe schließen mich aus. Hinter mir leuchten die Fenster in einem matten Gelb und versprechen eine Heimat. Geborgenheit. Was für schöne, abgedroschene Worte.

Sie wartet an der Kreuzung auf mich.

„Ich warte auf meinen Liebsten“, sagt sie.

„Ich warte auf meine Liebste.“

„Glaubst du, er wird kommen?“

„Ich bezweifele es“, sage ich und fröstele. „Es wird dauern.“

Sie nickte. Ich verschränke die Hände hinter dem Rücken und sehe hinaus in die Dunkelheit. Weit entfernt leuchten die Lichter der Stadt. Die Sterne sind auf den Boden gefallen.

„Ich warte auf meinen Liebsten“, sagt sie.

„Ich warte auf meine Liebste.“

„Glaubst du, er wird kommen?“

Ich schweige. Sie nickt. „Das dachte ich mir.“

Sie erklärt nicht, was sie damit meint, sondern sieht nur mit einem Lächeln in die Dunkelheit hinein. Dann greift sie meine Hand.

Ich warte zusammen mit dem Mädchen, von dem ich hoffe, dass es irgendwo auf mich wartet.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Wildflower
2009-04-13T09:42:25+00:00 13.04.2009 11:42
Wow, einfach klasse. Die Geschichte hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Mir g efällt besonders diese ständige Wiederholung von "Ich warte auf meinen Liebsten...". Obwohl es eine Wiederholung ist und man eigentlich ungefähr weiß was kommt, ist man gespannt, was er als letztes sagen wird. Und dann diese ewige Frage, ob das Mädchen nun die ist, auf die er wartet, oder nicht! Eigentlich müsste seine Reaktion dann ja ganz anders sein, aber irgendwie passt es doch, sie könnte es sein...Auf jeden Fall eine sehr schöne Geschichte.
Von: abgemeldet
2008-04-21T16:44:13+00:00 21.04.2008 18:44
Das ist wahnsinnig tiefsinnig und gut geschrieben!!
Es ist echt traumhaft!
Und der Schlusssatz ist perfekt.
Eine wundervolle Geschichte die ich gerne favorisiere^^
Schade, dass sie bis jetzt so wenig gelesen haben!
Aber lass dich davon nicht unterkriegen, es ist eine der besten Geschichten die ich je gelesen habe!
*ausAchtungvorderQualitätverbeugz*
glg Cinnbunny^.^ö
Von:  Sherry_16
2008-04-11T06:49:42+00:00 11.04.2008 08:49
ich find das kapi klasse!
:/ mensch wie die beiden warten... und warten... am ende warten sei ja gemeinsam...
haben sie nicht schon längst ihren liebsten und liebste gefunden... *gg*



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