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Mondlicht und Sonnenwind

aus den Schatten der Vergangenheit
von

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Tod

Vorbemerkung zu Fremdwörtern und Fachbegriffen:

Da meine Geschichten nun mal auf Deutsch geschrieben sind und ich es bevorzuge bei einer einzigen Sprache zu bleiben, vermeide ich japanische Sprachwendungen weitgehend. Einige Fremdwörter und Fachbegriffe habe ich allerdings aus stilistischen Gründen übernommen, um ein bisschen japanisches Flair einzubringen. Und manche Begriffe (wie z.B. Anrede-Suffixe) lassen sich eben nur schwer übersetzen. Falls jemand den einen oder anderen Begriff nicht kennt, kann er in folgender Liste nachschauen. Hier werde ich fortlaufend alle Fremdwörter, wie sie nacheinander in dieser Story auftauchen, auflisten.
 

*Youki = dämonische Energie oder die Aura eines Youkai (=Dämon bzw. eine bestimmte Art von Dämonen. Youkai sind nur wenig mit der europäischen Vorstellung von Dämonen oder Teufeln vergleichbar. Sie müssen nicht unbedingt böse sein, sondern sind eher ähnlich wie Götter und Geister als eine höhere Macht zu verstehen)

*Oyakata = Bezeichnung bzw. Titel für eine bewunderte, höhergestellte Person (meist wird so ein Anführer tituliert)

*-sama = Höflichkeitssuffix, sehr ehrerbietige Anrede für Höhergestellte oder für andersartig verehrte Personen wie z.B. Mönche und Priester

*Shuriken = Sammelbegriff für per Hand geworfene Wurfgeschosse oder Wurfklingen verschiedener Form (z.B. Wurfmesser, Wurfsterne etc.)

*Kataana = einschneidig geschliffenes, leicht gebogenes, mittellanges Schwert, bekannteste Waffe der Samurai, wurde auch als Ehrenwaffe getragen

*Haori = traditionelle, japanische Oberbekleidung für Männer, ähnlich einem langen Jackett mit sehr weiten Ärmeln, wurde (und wird teils auch heute noch) in Kombination mit Hakaama (= weit geschnittene Hosen) wie ein Kimono getragen

*Inu (no) Taishou = mit ‚Hundeanführer’ oder ‚Herr der Hunde’ übersetzbar, im dritten Inuyasha-Film neben dem Begriff Oyakata-sama als Anrede für Inuyashas Vater gebraucht, beides ist eher als Titel zu verstehen. (Ich verwende Inu no Taishou in meiner Story einerseits als Titel und andererseits in abgekürzter Form (Inutaishou) auch als Name!)

*Chichi-ue = eine respektvolle, anerkennende, aber auch intime, freundliche Anrede für den Vater

*-san = Höflichkeitssuffix, höfliche Anrede im gewöhnlichen Umgang

*Hanyou = Halbblut, Halbdämon: ein aus der Verbindung von Youkai und Mensch entstandenes Mischwesen

*-chan = verniedlichendes Suffix für die Anrede von kleinen Kindern (ähnlich dem im Deutschen verwendeten, an Wörter angehängten "chen" oder "lein"), wird auch gern unter Mädchen als Anrede für Freundinnen oder für jüngere Verwandte gebraucht
 

(Falls hier irgendetwas falsch erklärt/übersetzt wurde, dürft ihr mich jederzeit gern korrigieren. Ich bin kein Gelehrter der Japanologie! ^^°)
 

- * - * - * - * -
 

Vorbemerkung zur Story:

Diese Geschichte spielt lange Zeit vor Inuyashas Geburt und knüpft an eine andere IY-Fanfic (‚Anfang aller Feindschaft’) von mir an bzw. wurde davon inspiriert. "Mondlicht und Sonnenwind" ist allerdings nicht unbedingt eine Sidestory davon. Man muss jene andere Fanfic nicht kennen, um diese Geschichte hier lesen und verstehen zu können. Beide Geschichten können völlig unabhängig voneinander gesehen werden.
 

Diese Fanfic konzentriert sich sehr auf eins: auf Sesshoumaru bzw. seine Kindheit und seinen Vater sowie auf die manchmal etwas schief laufende Beziehung der beiden (Ich mag konfliktbetonte Vater-Sohn-Geschichten, kommt wohl von meiner Begeisterung für Star Wars, was mich hier ebenfalls ein ganz klein wenig inspiriert hat...^^). Das Ganze wird weitgehend aus den Sichtweisen bzw. den Erlebnissen von Außenstehenden/Nebenfiguren erzählt. Eingebettet ist alles in verschiedene Storyideen, die mir irgendwann beim Schreiben von ‚Anfang aller Feindschaft’ in den Sinn kamen, die mich einfach nicht mehr losließen und die ich daher unbedingt noch in einer Erzählung verarbeiten wollte.

Da die Story lange vor Inu Yasha in der Vergangenheit spielt, kommen bis auf Sesshoumaru und seinen Vater leider nur sehr wenige, aus dem Manga/Anime bekannte Figuren und Aspekte vor. Außerdem ist es eine eher episodenhaft gestaltete, zum Teil offen gelassene Geschichte, die zu Beginn und in den Endkapiteln teils auch düster ist.

Wahrscheinlich gibt es dafür keinen riesigen Leserkreis. Umso mehr würde mich jeder fördernde Kommentar dazu sehr freuen.
 

Allen Interessierten wünsche auf jeden Fall:

Enjoy reading!
 


 

Prolog: Tod
 

In einer Vollmondnacht hasteten zwei Schatten durch einen Wald. Das dichte Kronendach der Bäume ließ nur wenig Licht hindurch, so dass die Dunkelheit des Waldes die vorwärts eilenden, menschenähnlichen Gestalten fast völlig verschluckte. Doch die beiden hatten keine Probleme sich zurecht zu finden, die Finsternis schien ihnen nichts auszumachen.

„Warte...“, keuchte plötzlich eine weibliche Stimme, „bitte, ich kann nicht mehr... lass uns kurz eine Pause machen. Bitte, nur kurz!“

Das voraus laufende Wesen, offensichtlich ein Mann, blieb stehen.

„Wir müssen weiter, wir haben es gleich geschafft! Wenn wir die Küste erreichen, kannst du dich ausruhen. Dort sind wir in Sicherheit. Den heiligen Schrein, in dem wir das Kind untergebracht haben, kann er nicht betreten, sein Youki ist zu stark dafür. Und über das Meer auf das Festland wird er uns nicht folgen.“

„Ich weiß, doch... ich kann wirklich nicht mehr... bitte!“

„Also gut...“

Der Mann sah sich kurz um und ging zu einer kleinen, vom Mondlicht erhellten Waldlichtung. Ein glitzernder Bach durchfloss dort eine von weißen Anemonen übersäte Wiese.

Die weibliche Gestalt folgte dem Mann zum Bach und ließ sich seufzend neben dem Ufer im blumenreichen Gras nieder. Durstig schöpfte sie etwas Wasser und ließ das kühle Nass aus ihrer hohlen Hand in ihre Kehle rinnen. Im Schein des Mondes konnte man sie nun genauer erkennen. Sie war eine eher dunkelhäutige Frau mit langen, leicht gewellten, rötlichbraunen Haaren und ebenso braunen Augen. Auffallend waren ihre spitzen Ohren und ihre langen, scharfen Fingernägel, die im nächtlichen Licht kurz aufblitzten. Diese Merkmale zeigten, dass sie ein Dämon war.

Der Mann neben der Dämonin, der sich immer wieder sorgfältig prüfend umsah, hatte im Vergleich zu ihr sehr helle Haut. Außerdem hatte er glattes, schneeweißes, fast bis zur Hüfte reichendes Haar und trug eine Rüstung. Doch wie sie besaß er spitze Ohren und krallenartige Fingernägel, die ihn als Dämon kennzeichneten. Seine Wangen zierte zudem ein Paar seltsamer, dunkelblauer Streifen. Eine seiner Hände lag an dem Griff seines Schwerts, bereit es jederzeit ziehen zu können.

„Es riecht immer noch nach Blut“, sagte er leise, „selbst so weit weg verfolgt uns der Krieg.“

„Meinst du, es konnte außer uns noch jemand ihm entkommen?“ fragte die Frau bang.

„Ich denke nicht... dazu ist er viel zu stark und stolz. Er wird niemanden entkommen lassen. Im Kampf kennt er keine Gnade, er wird alle töten.“

Stumm sah die Dämonin zu Boden, zitternd verkrallte sie ihre Hände im Gras und den dazwischen wachsenden Blüten.

„Hab keine Angst, es wird alles gut...“, versuchte der weißhaarige Krieger seine Begleiterin zu trösten. Aber er war nicht sehr erfolgreich damit, denn seine leicht schwankende Stimme verriet seine eigene Furcht.
 

Ein eiskalter Windhauch zog auf einmal über die Lichtung, die beiden Dämonen fuhren daraufhin erschreckt zusammen.

Hastig drehte sich der Mann um, zog sein Schwert und stellte sich schützend vor die am Bachufer kauernde Frau.

Am Waldrand, halb verborgen in den Baumschatten, stand nun ein dritter Dämon in menschenähnlicher Gestalt und kriegerischer Ausrüstung. Er ähnelte dem Aussehen nach auffallend dem Mann auf der Lichtung. Ebenso weißes Haar umspielte sein emotionslos wirkendes Gesicht. Seine Augen glühten rötlich in der Düsternis.

„Schnell, flieh“, flüsterte der erste Dämonenkrieger seiner Begleiterin zu und stellte sich mit seinem erhobenen Schwert in Angriffsposition. Die Dämonin zögerte.

„Nun lauf schon!“ schrie ihr Beschützer sie an und stieß sie von sich weg.

Aufschluchzend richtete sich die Frau auf und lief durch den Bach. Doch sie kam nicht weit. Blitzartig löste sich die Gestalt des dritten Dämons von den Waldesschatten am Rand der Lichtung und sprang ihr hinterher.

Die Fliehende erstarrte und blickte entsetzt in die plötzlich vor ihr aufgetauchten, rot leuchtenden Augen. Kurz darauf zuckte sie zusammen und ächzte leise, eine krallenbewehrte Hand durchbohrte ihre Brust. Leblos sackte die Dämonin zusammen und stürzte danach platschend in den Bach. Das Wasser färbte sich rot.
 

„NEIN!“

Aufbrüllend stürzte sich der Begleiter der Getöteten mit erhobenem Schwert auf den ihm so ähnlich ausschauenden Dämonen: „Du gemeiner Mörder!“

Der Angegriffene blieb ruhig im blutigen Bach stehen. Als ihn sein Gegner erreichte und zu einem tödlichen Hieb ansetzte, hob er einen seiner Arme und schlug dem Angreifer das Schwert aus der Hand.

Der entwaffnete Krieger taumelte zurück und verkrampfte seine Hände. Für kurze Zeit sah es aus, als wolle er nochmals, dieses Mal mit bloßen Händen angreifen. Doch dann warf er einen Blick auf die Leiche der Dämonin im Bach, ließ seine Arme wieder herabfallen und senkte seinen Kopf.

„Geliebte...“, flüsterte er leise und sank am Bachufer ergeben in die Knie.
 

Leichtes Plätschern war zu hören, als der Dämon im Wasser aus dem Bach heraus kam und langsam auf den Knienden zu ging. Letzterer sah hasserfüllt auf, seine feuchten Augen schimmerten blau und erinnerten an funkelnde Saphire.

„Verflucht sollst du sein“, sagte er, „warum hast du das getan, warum musste auch sie sterben? Es hätte doch gereicht mich allein... ich verfluche dich, du sollst auch eine Liebe finden, eine verachtete Liebe, so wie die, die du mir genommen hast. Und wenn du diese Liebe gefunden hast, so soll sie dich wie mich zerstören und vernichten!“

Der rot glühende Blick, mit dem der andere Dämon auf den Knienden herabsah, veränderte sich. Die Röte daraus verschwand und wich einem prächtigen Goldton. Doch es sprach keine Wärme aus diesen goldenen Augen, sie wirkten wie kalt glänzendes Metall.

„Spar dir deine Flüche, ich bin schon längst verdammt“, erwiderte der goldäugige Dämon: „Kein weiterer Schmerz, den du mir noch zufügen willst, kann mich mehr treffen, dafür ist die Wunde, die du mir bereits geschlagen hast, schon zu tief. Du existierst nicht mehr für mich, Koniromaru, es hat dich niemals gegeben.“

„Du hoffst vergessen zu können...“, murmelte der kniende Dämon und gab ein leises, bitteres Lachen von sich: „Du hoffst vergeblich... die Schatten der Vergangenheit werden dich eines Tages einholen.“

Mit diesen Worten schloss er seine saphirblauen Augen und senkte wieder seinen Kopf. Im nächsten Moment spürte er einen leichten Luftzug in seinem Nacken, danach einen kurzen Schmerz und dann nichts mehr. Er war tot, bevor sein enthaupteter, zusammensackender Körper auf den Boden fiel.
 

Der Nachtwind strich über die Getöteten und durch das lange, weiße Haar dessen, der ihr Leben beendet hatte. Ohne einen Blick zurück zu werfen, verließ der goldäugige Dämon die Lichtung, verwandelte sich in einen weißlichen Energieball und verschwand in den Lüften.
 

Einige Zeit später landete er neben einem bewaffneten Kriegertrupp auf einer kleinen Anhöhe und nahm wieder seine menschenähnliche Form an. Die Soldaten, ebenfalls Dämonen, warfen sich vor ihm zu Boden.

„Wir erwarten Eure weiteren Befehle, Herr“, sagte einer von ihnen.

„Habt ihr die restlichen Flüchtigen des feindlichen Heeres eingeholt?“ fragte der Angesprochene kühl zurück.

„Ja, Herr, wir haben sie auf der Ebene unter uns zusammengetrieben und gefangen genommen. Einige baten um Gnade. Was soll mit ihnen geschehen?“

Der weißhaarige Dämon drehte sich etwas, stellte sich an den Rand der Anhöhe und sah in die Ferne. Am Horizont begann es zu dämmern.

„Tötet sie. Alle!“

„Wie Ihr befielt, Oyakata-sama!“

Der vorderste Soldat schlug sich als Geste seines Gehorsams eine Faust an die Brust und eilte fort. Seine Kameraden erhoben sich ebenfalls, zückten ihre Waffen und folgten ihm den Hügel herab.
 

Der Dämon mit den weißen Haaren blieb allein zurück und beobachtete schweigend die heraufziehende Morgendämmerung. Er stand völlig reglos, achtete offenbar nicht auf die entsetzlichen Schreie, die kurzfristig auf der Ebene unter ihm zu hören waren, bevor wieder absolute Stille herrschte. Als jedoch die Sonne aufging, ihre goldfarbenen Strahlen das weite Land erhellten und sich in den ebenso goldenen Augen des Dämons widerspiegelten, ließ sich dieser unerwartet auf die Knie fallen. Seine Hände begannen zu zittern.

„Warum nur... warum musste das alles geschehen...“, flüsterte er und starrte auf seine blutigen Finger. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz und Trauer. Er ballte seine klauenartigen Hände zu Fäusten und streckte einen Arm anklagend in Richtung der aufgehenden Sonne. Seine Stimme klang wütend und verzweifelt, als er seine Frage erneut stellte:

„WARUM?!“
 


 

Das war der Prolog.

Es fängt etwas düster und rätselhaft an, oder? Was hier alles genau passiert ist, wird sich erst langsam im Laufe späterer Kapitel klären. Von dem mörderischen, weißhaarigen Dämonen mit den scheinbar eiskalten Goldaugen erfahrt ihr auf jeden Fall noch mehr. Ihr könnt ja mal raten, wer das ist...

Im nächsten Kapitel richtet sich die Sichtweise allerdings erst auf eine andere Zeit, dort geht es dann zunächst etwas weniger ernst zu...
 

noch eine wichtige Bemerkung:

Ich benachrichtige automatisch jeden, der zu dieser Story einen Kommentar abgibt, per ENS, wenn es weitergeht. Wer das nicht möchte oder wer auch ohne Kommentar eine Benachrichtigung zur Fortsetzung haben will, möge mir bitte Bescheid geben.
 

Danke für euer Interesse, freue mich über Feedback.

Jugend

Vorbemerkung:

Ich bedanke mich herzlich für alle Kommentare zum Prolog. Freut mich ungemein, dass diese Geschichte ein paar Leser gefunden hat.

Wie ich sehe, gab es keine Probleme damit zu raten, wer der geheimnisvolle, goldäugige Rächer am Anfang der Story war. Auch bezüglich sonstiger Details zum Prologsgeschehen waren einige Leser schon auf der richtigen Spur. Das alles hat durchaus seinen Sinn, denn im weiteren Verlauf der Geschichte werden sich immer wieder vereinzelte Anspielungen zum Prolog finden, bis sich der Vorfall zum Schluss endgültig aufklären wird. Jetzt geht es nach dem düsteren Anfang allerdings erst mal ein wenig anders und heiterer weiter...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 1: Jugend
 

Wie jeden Morgen überprüfte Tamahato sorgfältig seine Ausrüstung. Es war Spätherbst und daher noch recht dunkel, doch der alte Hundedämon fand sich problemlos in seiner kleinen Kammer zurecht. In alltäglicher Gewohnheit legte er seine Rüstung an, verstaute seine sternförmigen Shuriken oberhalb seines Gürtels und steckte ein verziertes, dolchartiges Messer dazu. Zuletzt griff er mit seiner Linken nach seinem Schwert. Sanft, fast liebevoll strich er kurz über die glatt polierte, hölzerne Scheide des kostbaren Kataanas und befestigte die Waffe dann an seiner rechten Seite.

Nachdem er sich nochmals versichert hatte, dass alles genau da war, wo es hingehörte, alles einwandfrei passte, ging Tamahato zur gegenüberliegenden Zimmerseite und stieß mit dem Fuß einer auf dem Boden liegenden Gestalt unsanft in die Rippen.

„Aufstehen, Schlafmütze, es ist Zeit zur Wachablösung!“

Die Gestalt am Boden regte sich unwillig und rollte sich dabei noch enger auf einer dünnen Matte zusammen.

Tamahato sah eine Weile wartend auf den Schläfer herab, schaute sich daraufhin im Zimmer um und entblößte schließlich grinsend seine spitzen Eckzähne. Sein in der Dunkelheit rötlich schimmernder Blick wanderte zu einem tönernen Wasserkrug, der in einer Ecke stand.
 

Drei menschenähnliche, soldatisch gekleidete Dämonen, die im deckenfreien Hof eines quadratisch angelegten Gebäudes um ein Feuer herum saßen und sich leise unterhielten, wurden aufmerksam, als sie ein Platschen hörten, danach ein entrüstetes Zetern:

„Aah, iih, was... so 'ne Sauerei... Du beknackter, alter Wichtigtuer, musste das sein?“

Das war noch nicht alles, was den unbedarften Zuschauern im Hof geboten wurde. Im nächsten Moment beobachteten sie, wie der Strohvorhang vor Tamahatos Kammer beiseite gerissen wurde und etwas in hohem Bogen aus der Kammer hinaus geworfen wurde. Eine jugendliche Gestalt mit durchnässten, schwarzen Haaren sauste schreiend durch die Luft und schlug hart auf dem Boden neben den drei Soldaten am Feuer auf.

„Oh, guckt mal, ein fliegender Hundejunge!“ kommentierte einer der soldatischen Dämonen die Aktion und grinste.

„Das mit der Landung muss der Kleine aber noch üben“, meinte ein weiterer Soldat dazu, „vielleicht sollte er das Fliegen lieber bei unserem Herrn anstatt bei Tamahato lernen?“

Schallendes Gelächter erfüllte nun den Hof.

Der unglücklich Gelandete stöhnte leise und richtete sich mühsam auf. Auf den ersten Blick sah er wie ein maximal sechszehnjähriger Mensch aus. Seinen spitzen Ohren und krallenartigen Fingernägeln zufolge war er allerdings ebenfalls ein Dämon, genau gesagt ein Hundedämon, und daher sicher weitaus älter als sein menschenähnliches Äußeres vermuten ließ. Sein wahres Alter interessierte und beeindruckte hier jedoch niemanden, hier gab es überall nur Dämonen und für Dämonen bedeuteten einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte so gut wie nichts.

„Hey, Seto“, sprach einer der lachenden Soldaten den jugendlich wirkenden Burschen an, „willst du zur Abwechslung nicht mal normal aufstehen? Irgendwann gehen Tamahato doch sicher auch die Ideen aus, wie er dich originell aus dem Bett befördern kann.“

„Hach, wirklich sehr witzig, ich lach mich tot!“ gab Seto grummelnd zurück, ballte wütend die Fäuste und stand gänzlich auf. Er wurde allerdings gleich darauf erneut zu Boden geschickt, als ihm von hinten eine Soldatenausrüstung samt dazugehörigen Waffen an den Kopf geschmissen wurde.

„Mach dich gefälligst endlich fertig!“ grollte eine tiefe Stimme im Hintergrund.

Die lachenden Soldaten am Feuer verstummten und nickten dem nun dazu kommenden, älteren Dämon höflich zu. Keiner von ihnen hätte Tamahato den Respekt versagt. Formell besaß dieser zwar keinen sehr hohen Rang, aber er war der dienstälteste Krieger im Gefolge des Herrn des Westens und das wollte was heißen. Damit musste Tamahato schon mehr Kämpfe und Schlachten erlebt und überstanden haben als sich jeder hier vorstellen konnte, eine Tatsache, die ihm überall Bewunderung einbrachte. Nur seinem neuen Partner und Zimmergenossen Seto war das offensichtlich noch nicht recht bewusst. Er folgte Tamahato nur unter ständigem Nörgeln.

„Es ist ja noch dunkel“, beschwerte sich der junge Hundedämon kurz darauf auch prompt bei dem Älteren, „wir sind ja viel zu früh dran! Bist du so erpicht auf unseren Wachdienst? Also, ich kann mir echt was Angenehmeres vorstellen als stundenlang an den Außenmauern herum zu patrouillieren, wobei doch eh keiner unbemerkt an das Schloss heran kommt. Außerdem, wer würde sich schon trauen uns hier anzugreifen... das ist doch eigentlich absolut blödsinnig, was wir da ständig machen...“

„Tu mir den Gefallen, Seto, und halt ein einziges Mal deine Klappe!“
 

Genervt von seinem jungen, nachfolgenden und dabei weiter vor sich hin schimpfenden Gefährten verließ Tamahato die Unterkunft der Soldaten. Vor ihm breitete sich nun ein typisch japanisches, aber sehr weitläufiges und bestaunenswertes Schlossgelände mit vielen verschiedenen Holzgebäuden und großzügig angelegten, teils verwilderten Gartenbereichen aus. Das gesamte Gelände war in eine von steilen Gebirgshängen umgebene Hochebene hinein gebaut worden und wurde von einem riesigen Park und einer daran anschließenden, uralt wirkenden Steinmauer umrahmt. In der Mitte, eingebettet zwischen einige Hügel, direkt hinter und über allen anderen Häusern, ragte das herrschaftliche Hauptgebäude auf. Es war ein altes, aber prächtiges, mehrstöckiges Dämonenschloss aus dunklem, edlem und reichhaltig verziertem Holz. Genau auf dieses Schloss ging Tamahato zu.

Wenig später erreichten der alte Soldat und sein ihm folgender Partner einen vor dem herrschaftlichen Anwesen gelegenen, ausgedehnten Sandplatz. Manchmal wurde dieser Platz für verschiedene Zwecke der Repräsentation genutzt, meist stand er aber als Trainingsplatz für kriegerische Übungen zur Verfügung. Neben dem Sandplatz lag Tamahatos Ziel, dort befanden sich einige Lagerhäuser, darunter auch ein kleines Waffenlager, in dem sich Kage, der Hauptmann der fürstlichen Garde, häufig aufhielt. Dieser überprüfte und verteilte hier morgens die täglich anfallenden Aufgaben an seine Untergebenen.

Bei einem Kriegsfall trug Kage die Verantwortung über das gesamte Dämonenheer des Westens, das je nach Bedarf passend ausgehoben und koordiniert wurde. Als Heerführer hatte er dann die höchste Stellung und Befehlsgewalt innerhalb der ganzen Streitmacht inne, abgesehen natürlich vom Herrn des Westens selbst. In friedlichen Zeiten wie zur Zeit hatte Kage dagegen nicht viel zu tun, denn während solcher Friedensperioden gab es nur die Schloss- und Grenzwache, um die er sich kümmern musste. Meist beschäftigte er sich daher nebenbei mit der Ausbildung und dem Training der Rekruten für die Fürstengarde.
 

In den frühen Morgenstunden war erwartungsgemäß nur wenig los, denn viele der im Schloss lebenden Dämonen bevorzugten es wie Menschen nachts zu ruhen. Tamahato ließ seinen jugendlichen Gefährten am Rande des Sandplatzes vor dem Herrschaftsgebäude zurück und verschwand im Waffenlager, um sich pflichtgemäß bei Kage zu melden und sich den wöchentlichen Dienstplan aushändigen zu lassen.

Seto hatte nichts dagegen draußen zu warten, er fand die routinierte Meldung zu Dienstantritt und das ganze dazugehörige, höfliche Gehorsamsgetue ziemlich langweilig. Eigentlich fand er sein gesamtes, bisheriges Soldatenleben im Dämonenschloss des Westens recht langweilig. Er hatte sich das weitaus spannender vorgestellt und auf viele abenteuerliche Kämpfe gehofft. Doch alles, was er bisher hatte tun dürfen, war unnötiges Wache schieben an irgendwelchen Toren, die keiner benutzte, oder sinnloses Herumpatrouillieren in einsamen Parkbereichen des Schlossgeländes, wo sich niemand sonst aufhielt. Dazwischen durfte er die Soldatenunterkünfte putzen oder bei einfachen Tätigkeiten der Waffenherstellung helfen. Das waren ebenfalls keine besonders aufregenden oder glorreichen Taten. Die einzige Abwechslung bot das tägliche, von Kage und Tamahato geleitete Kampftraining, doch selbst das artete oft nur in ermüdendes Exerzieren aus.

Leise seufzend betrachtete der junge Hundedämon den Sandplatz vor sich. Der Platz war zur Zeit fast leer. Nur zwei Dämonenjungen, einer davon annähernd so alt wie Seto, der andere noch im Kindesalter, probierten dort mehr spielerisch als ernsthaft gegeneinander einen Schwertkampf. Desinteressiert sah Seto ihnen dabei zu.

Es war leicht erkennbar, dass die zwei Übenden blutige Anfänger in Sachen Kampfkunst waren. Für den Kleineren der beiden war das nicht erstaunlich, denn der war für Dämonenverhältnisse erst eine kurze Zeitspanne auf der Welt. Er war ein sehr ziergliedrig gebauter, weißhaariger Junge und hatte große Mühen das in seinen Kinderhänden überaus lang und schwer erscheinende Kataana überhaupt festzuhalten, geschweige denn damit irgendwelche Schwünge auszuführen. Trotzdem versuchte sich der Kleine tapfer gegen seinen viel größeren Trainingspartner zur Wehr zu setzen. Dieser war braunhaarig, hatte eine deutlich dunkler gefärbte Haut und er war um einiges älter, fast ausgewachsen. Von seiner Art her erinnerte er ein wenig an einen Wolfsdämon. Seto verzog abschätzig die Mundwinkel. Falls das wirklich jemand mit Wolfsblut war, machte er seiner Rasse keine große Ehre, er machte eher einen enttäuschenden Eindruck. Er mochte vielleicht etwa in Setos Alter sein, Setos Stärke und Geschick erreichte er deshalb noch lange nicht.
 

„Du bist neu hier?“

Erschreckt fuhr Seto zusammen und sah zur Seite, neben ihm stand plötzlich ein Mann, dessen Auftauchen er trotz seiner gut ausgeprägten Sinneswahrnehmung gar nicht bemerkt hatte. Altersgemäß war der Aufgetauchte wohl jünger als Tamahato einzuschätzen, sofern man das Alter bei Dämonen überhaupt richtig schätzen konnte. Menschen hätten irrtümlicherweise gesagt, dass er um die dreißig Jahre alt wäre. Er war sehr schlicht gekleidet, in helle Hosen und einen kaum gemusterten, vorwiegend weißen Haori. Seine hüftlangen Haare waren ebenfalls weiß und zu einem Zopf zusammengebunden. Eine Rüstung trug er nicht, Seto vermutete daher, dass er kein Krieger war. Möglicherweise ein hochgestellter Beamter. Immerhin sah er recht vornehm aus, denn seine Kleidung mochte einfach sein, bestand jedoch aus edelster Seide. Aus diesem Grund war es sicher angebracht sich ehrerbietig zu verhalten, auch wenn Seto sich eigentlich nicht besonders für ihn interessierte.

„Ich bin Seto“, stellte sich der junge Hunddämon höflich vor und fügte nicht ohne Stolz hinzu: „Ich gehöre zur Fürstengarde. Und wer seid Ihr? Arbeitet Ihr auch im Schloss?“

Der Fremde lächelte leicht.

„Ja, das könnte man wohl so sagen“, meinte er, „ich verwalte alles hier.“

„Aha, Ihr seid also der Schlossverwalter... hm, wie interessant...“ sagte Seto und hielt dabei angestrengt nach Tamahato Ausschau. Wo blieb der nur so lange? Der junge Hundedämon hatte keine Lust sich ausgerechnet mit einem Verwaltungsbeamten unterhalten zu müssen. Da war ja sogar Fußboden schrubben noch spannender.

Der Schlossverwalter schien kurz nachzudenken, dann nickte er leicht und führte die Unterhaltung fort:

„Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, müsstest du der Nachfolger von Gai sein, nicht wahr? Es ist gut, dass Tamahato wieder einen neuen Partner hat. Gais Tod bedeutete einen schlimmen Verlust, denn er und Tamahato waren quasi unzertrennlich und zusammen fast unschlagbar. Damit hast du allerdings eine schwere Aufgabe vor dir, es wird sehr hart für dich werden Gai einigermaßen ersetzen zu können. Ich hoffe, das ist dir bewusst und du gibst dir große Mühe!“

Etwas verblüfft starrte Seto den anderen an, der schien ja bestens über alles und jeden im Schloss informiert zu sein. Doch warum interessierte sich ein Verwalter für einen Krieger? Offensichtlich wollte er nur freundlich sein und Seto einen Ratschlag geben, doch dem jungen Hundedämon ging solch altkluge Besserwisserei extrem auf die Nerven.

„Bisher habe ich nix davon gemerkt, dass ich irgendeine schwierige Aufgabe zu bewältigen hätte“, bemerkte Seto spitz, „bisher scheinen mich hier alle für einen Grünschnabel zu halten.“

Wieder zeigte der Weißgekleidete ein leichtes, etwas seltsames Lächeln.

„Und du selbst hältst dich nicht für einen Grünschnabel?“

„Natürlich bin ich kein Grünschnabel! Wärt Ihr nicht irgend so ein hochtrabender Beamter, würde ich Euch das jetzt in einem Kampf beweisen!“

„Tatsächlich? Du würdest mich gerne herausfordern? Im Ernst?“

Der Schlossverwalter klang amüsiert. Plötzlich streifte er sich seinen Haori und das dazugehörige Untergewand ab und wandte sich an die zwei Trainierenden auf dem Sandplatz:

„Yoshio, leih mir doch bitte mal dein Schwert!“
 

Der jugendliche Dämon und das mit ihm kämpfende Dämonenkind unterbrachen ihren Trainingskampf und drehten sich verdutzt um. Der Schlossverwalter nickte ihnen kurz befehlend zu. Daraufhin rannte der ältere, wolfsähnliche Dämon sofort herbei und brachte das gewünschte Schwert. Perplex gewahrte Seto, dass zudem von irgendwoher ein Diener herbeieilte, dem Schlossverwalter den ausgezogenen Haori abnahm und sich unter einer Verbeugung wieder entfernte. Was hatte denn das alles zu bedeuten?

„Nun, was ist? Wolltest du mir nicht gerade beweisen, dass du kein Grünschnabel, sondern ein würdiges Mitglied der fürstlichen Garde bist?“

Irritiert blickte Seto auf den weißhaarigen Dämonen, der ihm nun mit bloßem Oberkörper und leicht erhobenem Schwert gegenüberstand. Dessen Augen funkelten in einer Mischung aus Herausforderung und Belustigung, sie hatten einen sehr ungewöhnlichen Farbton, es waren Spiegel aus Gold.

Es dauerte eine Weile bis Seto registrierte, dass das kein Scherz war. Dieser vornehme Beamte, oder wer auch immer er war, hatte ihn wirklich herausgefordert und er wollte echt mit ihm kämpfen. Und er schien sogar Spaß an der Sache zu haben. Was war denn das für ein verrückter Würdenträger?

„Also, ich weiß nicht, ob mir so ein Duell mit Euch überhaupt gestattet ist...“ murmelte Seto verunsichert. Er kannte sich noch nicht sehr gut mit den Sitten bei Hofe aus. Aber er wusste immerhin, dass er vom Rang her nur ein einfacher Soldat war, da durfte er doch sicherlich keinen hochrangigen Schlossbeamten verprügeln.

„Keine Sorge, greif mich ruhig an“, erwiderte der andere äußerlich völlig ernsthaft wirkend, nur seine Goldaugen glitzerten leicht neckisch: „Niemand wird es wagen dir und mir diesen Kampf zu verbieten.“
 

In diesem Moment kamen Tamahato und der Hauptmann Kage aus dem Waffenlager. Beide blieben abrupt stehen, völlig entgeistert starrten sie Seto und sein Gegenüber an.

Allmählich dämmerte es Seto, dass er offenbar etwas sehr Ungehöriges getan haben musste, allerdings war ihm nicht ganz klar, was und wie. Egal, da musste er jetzt wohl durch und der Möglichkeit zu einem Kampf war er sowieso noch nie ausgewichen. Er musterte nochmals interessiert seinen weißhaarigen Herausforderer und zog begierig sein Schwert, um die Herausforderung anzunehmen:

„Also gut, wenn Ihr unbedingt ein paar Hiebe kassieren wollt... dann macht Euch mal auf was gefasst!“
 

Tamahato schlug sich die Hände vor das Gesicht und plumpste reflexartig zu Boden, er wirkte so als wolle er weinen.

„Warum bin ich nur mit solch einem Schwachkopf als neuem Partner gestraft worden“, schluchzte er, „dieser Einfaltspinsel namens Seto bringt es tatsächlich fertig mich in weniger als einer Woche völlig zu blamieren... das ist zuviel, das ist einfach zuviel... bitte, Kage-sama, ich will sofort aus dem Dienst entlassen werden... ansonsten sehe ich mich gezwungen rituellen Selbstmord zu begehen, um den letzten Rest meiner Ehre zu retten...“
 

Seto hatte seine Umgebung derweil völlig vergessen. Mit einem angriffslustigen Schrei stürzte er sich auf seinen Gegner. Dieser machte nur eine leichte Drehung und wich der Attacke leichtfüßig aus. Setos Schwert schnitt in die Leere. Rasch wirbelte der junge Hundedämon herum und startete einen neuen Angriff, wieder ging sein Hieb ins Nichts. Das wiederholte sich mehrere Male.

„Vielleicht solltest du versuchen in die Richtung deines Gegners zu zielen“, hörte Seto seinen Kontrahenten sagen.

Was für ein arroganter Kerl, dachte der junge Hundedämon, dem würde er es zeigen! Voller Wut schlug er erneut zu, dieses Mal war er auch schnell genug, sein Schwert traf klirrend auf die Klinge seines Gegenspielers. Kurz sah er in dessen goldene Augen.

„Gut gemacht“, sagte dieser nur, Seto war sich nicht sicher, ob das nun als Anerkennung oder Spott zu deuten war. Er kam aber nicht mehr dazu weiter darüber nachzudenken, im nächsten Augenblick schleuderte ihn ein blitzartiger Gegendruck durch die Luft quer über den gesamten Sandplatz.

Völlig überrascht fand sich der junge Hundedämon rücklings am Boden wieder. Er setzte sich flink auf und konnte so gerade noch einen auf ihn herab sausenden Schwerthieb abfangen, der seinen Kopf wie eine reife Melone hätte halbieren können. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Handgelenk. Seto gab dem Druck ein Stück nach, zog sein Schwert drehend zurück und sprang mit einem Rückwärtssalto auf, wodurch der Schlag seines Kontrahenten kurz abgelenkt wurde. Der junge Hundedämon nutzte sofort seine Chance für eine neue Offensive, landete aber wieder in der Leere.

Dieser merkwürdige Verwaltungsbeamte war eindeutig kein Stubenhocker, merkte Seto, sondern ein bestens ausgebildeter und äußerst geübter Schwertkämpfer. Genau genommen gab es nur eine Aussage, die dessen Kampftechniken richtig beschrieb: das war ein Profi! Aber das schreckte Seto nicht ab, es stachelte ihn nur noch mehr auf. Verbissen erhöhte er das Tempo, legte immer mehr Kraft in seine Attacken und eröffnete verschiedene trickreiche Manöver. Doch der erhoffte Erfolg blieb aus. Spielend leicht, gleich einem Tänzer, wich Setos Gegner jedem Angriff aus, er parierte nicht einmal ernsthaft.

Irgendwann kam Seto schließlich die Erkenntnis: er hatte von Anfang an nicht den Hauch einer Chance gehabt. Sein Gegner spielte schon die ganze Zeit nur mit ihm und genau in der Sekunde, als Seto genau das bewusst wurde, wurde ihm auch schon sein Schwert aus der Hand geschlagen. Kurz darauf lag der junge Hundedämon wieder auf dem Rücken am Boden, völlig wehrlos, die stahlharte und perfekt geschärfte Klinge des gegnerischen Kataanas am Hals.
 

Blinzelnd sah Seto auf. Die goldenen Augen, die prüfend auf ihn herab sahen, schienen seine ganze Seele zu durchdringen. Seltsamerweise war das aber gar nicht unangenehm, eher im Gegenteil, es fühlte sich an, als würden sich zwei Seelen füreinander öffnen, um sich gegenseitig Kameradschaft und Vertrauen anzubieten. Für diesen goldenen Blick, erkannte Seto in diesem Moment, würde er alles tun, er war sogar bereit dafür zu sterben.
 

Der goldäugige Dämon zog die Klinge zurück und wandte sich von Seto ab. Er ging zu den zwei Dämonenjungen und gab dem älteren von ihnen das ausgeliehene Schwert zurück. Die beiden senkten demütig das Haupt.

„Inu no Taishou...“ sagte der eine.

„Chichi-ue...” der kleine Dämon neben ihm.

Seto setzte sich auf und versteinerte. Sein Gesichtsausdruck ähnelte einem glotzenden Ochsen vor der Schlachtung.

Hatte er da eben richtig gehört? Wie hatten der wolfsähnliche Jugendliche und das weißhaarige Dämonenkind daneben seinen Gegner gerade eben angesprochen? Inu no Taishou? Chichi-ue? War der Unbekannte etwa...?

Bevor Seto aufstehen und seine Vermutung laut äußern oder anderes sagen konnte, drückte ihn etwas zurück auf den Boden. Tamahato war schleunigst an Setos Seite gelaufen, hatte den jungen Hundedämonen am Nacken gepackt, ihn neben sich auf die Knie gezwungen und presste nun fest sein Gesicht in die Erde. Seto hustete erstickt, er schluckte Staub und Sand.

„Mein Herr und Fürst... verzeiht Eurem ergebenen Diener...“ hörte Seto seinen älteren Kampfgefährten unterwürfig sagen, Tamahatos Stimme zitterte dabei vor Aufregung, Angst und unterdrücktem Zorn.

„Tamahato“, erklang daraufhin die unterbrechende Antwort: „Dein neuer, junger Partner hat eine ungewöhnliche Art sich bei mir bekannt zu machen. Doch ich muss gestehen, ich hatte Spaß daran. Pass aber künftig besser auf deinen Schützling auf! Dein kleiner Grünschnabel sollte nicht zu oft ausprobieren, an was ich Freude habe und an was nicht. Ein paar respektable Verhaltensweisen solltest du ihm auch beibringen. Sonst verliert er noch seinen eigenwilligen Kopf... Hm, und er sollte an seiner Schwerttechnik feilen, er kämpft viel zu hitzig, legt all seine Kraft in den Angriff und lässt dabei seine Verteidigung völlig außer Acht. Interessanterweise verhält er sich damit genau wie Yoshio und mein Sprössling... Ich wünsche, dass du mit Seto ab sofort täglich zwei Stunden extra trainierst. Bilde deinen Kameraden gründlich aus und zwar zur persönlichen Leibwache für meinen Sohn Sesshoumaru!“

Tamahato sah kurz erstaunt aus seiner knienden Haltung auf, dann senkte er schnell wieder ergeben seinen Blick.

„Ja natürlich, gerne... Euer Wunsch ist mir Befehl, Oyakata-sama!“
 

Als Seto endlich aus Tamahatos eisernem Griff freigegeben wurde, endlich wieder frei atmen, aufblicken und aufstehen durfte, waren die beiden Hundedämonen allein auf dem Sandplatz. Verstohlen sah sich Seto um, doch er konnte weder Kage noch die beiden Dämonenjungen entdecken. Auch der unbekannte Beamte, der Seto im Duell besiegt hatte, war fort.

Der Fürst, korrigierte sich Seto sofort verschämt in Gedanken, das war nicht ein bloßer Beamter, das war der Fürst selbst gewesen! Peinlicherweise hatte er ihn mit dem Schlossverwalter verwechselt... Bei allen Mächten, es war kaum zu glauben, er hatte sich tatsächlich mit dem Herrscher des Westens höchstpersönlich duelliert!

„Da hast du aber unverschämtes Glück gehabt, Bürschchen!“ unterbrach Tamahato die Überlegungen des Jüngeren: „Weißt du, dass es mit der Todesstrafe geahndet werden kann seinen Herrn herauszufordern? So etwas grenzt an Verrat! Der Herr hätte das Recht gehabt, dich für deine Respektlosigkeit bei lebendigem Leib zu sezieren.“

„Ich habe ihn doch gar nicht herausgefordert“, begehrte Seto auf, „er hat mich herausgefordert. Und woher sollte ich denn wissen, dass das Inutaishou, unser Fürst, ist? Ich kannte ihn doch bisher überhaupt nicht, ich habe geglaubt, der sieht viel älter aus. Und ich dachte, der Herr ist mit seiner Familie auf Reisen, irgendwo im Süden, das hast du mir doch selbst erzählt!“

Tamahato seufzte leise. Seinem jungen Gefährten die gängigen, höfischen Umgangsformen, Respekt und Verstand einzubläuen, war eindeutig die schwerste Aufgabe.

„Unser Fürst ist am gestrigen Abend überraschend zurückgekehrt“, gab er daraufhin widerwillig eine Erklärung ab: „Kage-sama hätte dich ihm heute normalerweise bei einer Audienz zusammen mit den anderen Neulingen vorgestellt, aber... na ja, jetzt hast du ihn ja schon kennengelernt und diese abnorme Begegnung erstaunlicherweise sogar überlebt. Der Herr muss bei sehr guter Laune gewesen sein... Und warum er dir nach all dem solch hohe Ehre erweist und dich zum Leibwächter für seinen Sohn erwählt, ist mir ein absolutes Rätsel...“

„Ah ja, dieses kleine, weißhaarige Kind da...“ überlegte Seto laut fragend: „Das war also Inutaishous Sohn?“

Blitzartig fuhr Tamahato herum, holte mit seiner Linken aus und versetzte Seto damit einen derben Schlag über den Schädel.

„Dieses KIND DA, wie du es nennst, ist der Kronprinz und künftige Erbe des Westens, es hat im kleinen Finger mehr Macht als du! Sein Name lautet Sesshoumaru-sama! Und wenn du in seiner Nähe nur eine unflätige Bemerkung machst, oder dich ihm gegenüber je anders als ein demütig kriechender Hund benimmst, mache ich eigenhändig Grillfilet aus dir! Verstanden?“

Seto rieb sich den schmerzenden Kopf.

„Ja, schon klar... ich hab’s kapiert.“

Dem war sich Tamahato nicht so sicher, aber er beließ es dabei.

„Komm mit, wir sind heute zur Wache im Ostgelände eingeteilt.“
 

Innerlich grummelnd folgte Seto seinem Gefährten.

Schon wieder langweiliger Wachdienst, dachte er. Aber zugegebenermaßen sollte er sich heute lieber nicht mehr beschweren. Immerhin war er, ohne recht zu wissen wie, plötzlich von einem einfachen Rekruten zum fürstlichen Leibwächter aufgestiegen. Zudem war noch einer seiner Wünsche erfüllt worden, endlich hatte er tatsächlich etwas Aufregendes erlebt.

Jetzt habe ich was Einzigartiges zu erzählen, kam es ihm in den Sinn.

Und mit diesem Gedanken lag Seto völlig richtig. Der junge Hundedämon war zwar nicht der Erste und Einzige, der mal gegen den Inu no Taishou, den mächtigen, dämonischen Beherrscher des Westens, gekämpft hatte. Aber außer Seto gab es sonst kaum jemanden, der von solch einem Kampf noch hätte erzählen können.
 


 

Soweit das erste Kapitel.

Und was hat das jetzt mit dem Prolog zu tun, mögt ihr euch vielleicht fragen?! Tja, nicht sehr viel, das gebe ich zu. Aber Geduld, die Geschichte fängt ja erst an. Ich muss erst die einzelnen Fäden spinnen bevor ich sie verknüpfen kann... Hoffentlich gefiel es euch ein bisschen.

Im nächsten Kapitel bekommt Seto einen Vorgeschmack darauf, dass er sich lieber nicht über sein langweiliges Leben im Schloss des Westens hätte beschweren sollen. Bodyguard ist nicht unbedingt ein Traumjob. Und tja, wer meckert, der macht eben die Schalkhaftigkeit des Schicksals auf sich aufmerksam...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Freundschaft

Vorbemerkung:

Erneut bedanke ich mich für alle bisherigen Kommentare. Vielen Dank auch an alle stillen Leser. Eure Unterstützung und Euer Interesse bedeutet mir wirklich viel.

Zurück zur Geschichte: im letzten Kapitel lernte ein junger Hundedämon auf etwas unübliche Weise den Herrscher des Westens kennen und kam so in die zweifelhafte Ehrenposition eines Leibwächters. Mal sehen, wie sich dieser Jungspund in seinem neuen Amt schlägt, denn eins ist sicher, eine dankbare Aufgabe hat er nicht...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 2: Freundschaft
 

Was für ein beschissener Tag!

Das war der erste Gedanke des jungen Wolfshundedämons Yoshio, als er an einem Frühlingsmorgen das oberste Stockwerk des herrschaftlichen Schlossgebäudes betrat. Mit verdrießlichen Blicken musterte er einen jungen Soldaten, der vor den Gemächern des Fürsten wartend an einer Holzsäule lehnte und gelangweilt mit einem winzigen Wurfstern herumspielte.

Was für ein blöder, selbstgefälliger Typ, dachte Yoshio, seine Laune sank ins Bodenlose. Warum, fragte er sich, warum war ausgerechnet dieser Seto zu Sesshoumarus Leibwächter bestimmt worden? Was hatte sich Inutaishou nur dabei gedacht? Weshalb hatte er diesen unverschämten Gesellen nach dem ungewöhnlichen Duell vor einigen Monaten nicht einen Kopf kürzer gemacht? Yoshio hätte diesen Aufschneider an Stelle des Fürsten sofort getötet!
 

„Na Wolfi, was machst du denn hier? Bist du etwa auch zum Herrn befohlen worden? Ich dachte, der wollte mich nur in meine Aufgabe einweisen und mich endlich mal seinem Sohn vorstellen... Oder soll ich mich künftig etwa nicht nur um das Fürstenbaby, sondern auch um dich kümmern?“

Na bitte, dachte Yoshio, es geht schon los, ich wusste, dass der sofort irgendeine doofe Bemerkung loslässt... was für ein anmaßender Scheißkerl!

„Wo bleibt der Fürst eigentlich so lange“, stellte Seto seine nächste Frage: „Gehört das hier zum höfischen Stil, dass die Herrschaften dermaßen auf sich warten lassen? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich noch eine Stunde gepennt. Dieses ständige frühe Aufstehen geht mir sowieso auf den Nerv!“

„Pass auf, was du sagst!“ drohte Yoshio: „Nur weil der Inu no Taishou dein respektloses Verhalten bisher geduldet hat, heißt das noch lange nicht, dass er dir deshalb alles nachsieht. Du bist nichts als ein niederer Soldat, ein winziger Fisch gegenüber einem riesigen Wal!“

„Ui, ich bin beeindruckt...“ spöttelte Seto: „Du kannst dich ja toll ausdrücken! Wo hast du denn dieses schwülstige Gelaber und solch schöne Metaphern gelernt? Im Sprachunterricht für gezähmte, verhätschelte Wolfskinder?“

„Ich bin kein Wolf“, gab Yoshio zurück, seine Stimme begann vor unterdrückter Wut zu zittern.

„Dann eben ein halber Wolf“, meinte Seto verächtlich, „tu nicht so, das riecht ja jeder Trottel, dass du ein Wolfshundmischling bist! Eine komische Mischung... mag sein, dass Wolfsdämonen und Hundedämonen ursprünglich dieselbe Abstammung haben und sich sehr ähnlich sind. Aber soweit ich weiß, paaren sich diese beiden Rassen nicht mehr miteinander, weil da meist nur schwachsinniger Mist bei rauskommt... Wer ist denn bei dir der dämliche, blinde Hund gewesen, der bei der Partnerwahl so daneben gegriffen hat, deine Mutter oder dein Vater?“

Yoshio schluckte hart und unterdrückte seinen Zorn weiterhin, auch wenn ihm das sehr schwer fiel. Er konnte es nicht glauben, was nahm sich dieser gemeine Kerl heraus? Hielt er sich etwa für etwas Besseres, nur weil er ein reinblütiger Hund war sowie ein wenig älter und stärker war? Am liebsten wäre Yoshio jetzt auf den jungen Soldaten losgegangen, doch er wusste, damit hätte er alles nur noch schlimmer gemacht. Er wollte nicht zeigen, wie sehr ihn Setos beleidigende Worte getroffen hatten. Außerdem hätte er auch keine Chance gegen Seto gehabt, denn eines entsprach leider den Tatsachen, Yoshio war nur ein halber und zudem ein sehr schwacher Hundedämon.
 

„Hast du etwas gegen Mischlinge?“

Die dunkle, sanft klingende Stimme, die diese fragenden Worte aussprach, bewirkte, dass Seto zusammenfuhr und sich umdrehte. Als er erkannte, von wem er gerade angesprochen worden war, ließ er sich rasch auf ein Knie nieder, presste ebenso hastig seine rechte, zu einer Faust geballte Hand an seine Brust und senkte ergeben das Haupt.

„Mein Herr und Fürst... äh, nein. Ich meine, nein, ich habe nichts gegen Mischlinge. Ich habe mir nichts dabei gedacht, als ich...“

„Du solltest aber lieber denken.“

Die Stimme Inutaishous war immer noch sanft, hatte jetzt allerdings einen unterschwellig bissigen, zurechtweisenden Ton. Seto schluckte.

„Verzeiht, ich...“

„Ein guter Krieger braucht sich nicht zu entschuldigen, sondern er steht zu seinem Wort und handelt danach. Darum überlege immer gut, was du sagst.“

Die goldenen Augen des Dämonenfürsten richteten sich nun von dem getadelten Soldaten auf Yoshio.

„Warum bist du zornig, Junge? Haben Setos einfältige Worte dich beleidigt? Es gibt keinen Grund gekränkt zu sein. Du gehörst zur Familie. Oder habe ich dir jemals das Gefühl gegeben nicht willkommen zu sein?“

Yoshio sah beschämt zu Boden.

„Nein “, antwortete er leise, „und ich bin ja gar nicht gekränkt.“

Der Fürst betrachtete den jungen Wolfshundedämonen intensiv, sein Gesicht zeigte dabei einen recht seltsamen Ausdruck, es wirkte nahezu traurig oder schmerzlich. Das währte allerdings nur kurz. So schnell wie eine vorüberziehende Erinnerung verwandelte sich Inutaishous Miene wieder in äußerliche Regungslosigkeit. Nach diesem Moment drehte er sich um und ging auf seine Gemächer zu.

„Folgt mir!“
 

Sofort sprang Seto diensteifrig auf und eilte seinem Herrn nach.

So ein Mist, dachte er, ich war wohl etwas zu vorlaut. Alles nur wegen diesem schwächlichen, wölfischen Mondkalb... Er warf einen kurzen, verärgerten Blick auf den Wolfshundedämonen neben sich. Yoshio sah ebenso feindselig zurück und verkniff sich mühsam den Impuls die Zunge herauszustrecken.

Erst als die beiden jungen Hundedämonen ihrem Herrn durch eine weit aufgeschobene, von zwei Wachposten flankierte Schiebetür folgten und einen geräumigen, halbdunklen Raum betraten, ließen sie die gegenseitige, heimliche Streiterei sein. Verblüfft blieben sie stehen, als sie begriffen, wo sie waren.

Sie befanden sich im Herzstück des Schlosses, besser gesagt sogar im Herzstück der gesamten westlichen Gefilde. Inutaishou hatte die beiden Jugendlichen in seinen Ratssaal geführt. Hier versammelte der Herr des Westens seine Berater, Freunde und Verbündeten. Hier empfing er die Beherrscher anderer Länder, hier hielt er seine Audienzen ab, hier gab er seine Beschlüsse bekannt und erließ Gesetze. Das war der Raum, vom dem aus die Geschicke des Westens bestimmt wurden, das Land regiert wurde.

Weder Yoshio noch Seto waren bisher an diesem Ort der Macht gewesen. Schließlich galten sie bisher so gut wie nichts, in den Augen der Mächtigen waren sie nur unbedeutende und unerfahrene Burschen. In scheuer Ehrfurcht und eingeschüchtert sahen sie in den Saal hinein.

Angesichts der Tatsache, was dieser Raum repräsentierte, wirkte er leicht enttäuschend. Er war weder überragend groß noch besonders prachtvoll. Ein vollkommen schlichter, fensterloser Raum, gebaut aus uraltem Holz. Bis auf ein paar glimmende Kohlebecken, die matt Licht spendeten, war er völlig leer, nicht einmal Reismatten lagen am Boden. Die einzige Verzierung war ein kunstvoll in die Wand geschnitztes Holzrelief gegenüber der Tür in der Darstellung eines Hundes. Darunter war mit silbernen Haken ein Schwert in einer versiegelten Scheide an der Wand befestigt.

Atemlos starrte Seto das Schwert an.

Sou'unga, das Schwert der Hölle, dachte er staunend. Er hatte schon davon gehört, abends, wenn an Lagerfeuern Abenteuergeschichten und Legenden erzählt wurden, doch er hatte nie geglaubt, dass es diese legendäre Waffe tatsächlich gab, geschweige denn, dass er sie jemals sehen würde.
 

Eine flüsternde und wohlbekannte Stimme holte Seto wieder in die Realität zurück.

„Starr keine Löcher in die Luft und setz dich gefälligst endlich hin, du halbwüchsiger Vollidiot!“

Etwas packte Seto am Handgelenk und riss ihn zu Boden. Unsanft landete er auf seinem Hinterteil und entdeckte zu seiner Überraschung Tamahato neben sich. Und nicht nur den, sondern auch sieben weitere Dämonen, die in kniender Stellung halbkreisförmig auf dem Boden saßen. Sie alle waren kostbar gekleidet, entweder in die aufwendigen Gewänder und Rüstungen hochgestellter Krieger oder in die teuren Kimonos wie sie vornehme Amtsinhaber von Verwaltungs- und Beratungsaufgaben bevorzugten. Mit starren Gesichtern und missbilligenden Blicken sahen sie alle auf Seto, ihre Augen schimmerten rötlich in dem halbdunklen Raum.

Allmählich verstand der junge Hundedämon, dass er nicht nur in den Ratssaal, sondern auch in eine Ratsversammlung geführt worden war. Und dass er sich eben gründlich blamiert hatte, weil er die zusammengekommenen, hochrangigen Dämonen vor lauter Aufregung und Staunen komplett übersehen und ignoriert hatte. Zumindest war er mit dieser Blamage nicht allein. Auch Yoshio hatte die Sachlage etwas spät erkannt. Deshalb hatte er sich überstürzt zu Boden geworfen und lag flach wie eine Flunder auf dem Bauch.

Inutaishou, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raums vor der Wand mit Relief und Schwert niedergelassen hatte, kommentierte das Verhalten des jungen Wolfshundedämons mit belustigter Stimme:

„Das hier ist kein Gericht und du bist kein Angeklagter, Yoshio. Also rutsch nicht am Boden rum, sondern setz dich hier hinter mich!“

Verlegen stand junge Wolfshundedämon auf, huschte zum Dämonenfürsten, und setzte sich rechts hinter ihm auf den Boden. Vorsichtig betrachtete er die versammelten Würdenträger. Deren Mienen waren nun alle ausdruckslos und verrieten nichts mehr. Wenn sie sich darüber wunderten, was zwei jugendliche Naseweise hier zu suchen hatten, ließen sie sich nichts davon anmerken. Yoshio wusste nicht, dass Inutaishous Gefolgsleute derartige Auftritte durchaus gewohnt waren. Denn der Herrscher des Westens brachte öfters solche Überraschungsgäste in seine Besprechungen mit, er wollte Unerfahrenen so die Gelegenheit zum Lernen geben. Außerdem ging es heute um eine wichtige Angelegenheit und Inutaishou wollte den beiden Jugendlichen klar machen, dass das Leben in seinem Reich durchaus auch sehr ernsthafte Dinge bereit hielt.
 

Nachdem Yoshio Platz genommen hatte, kam der Hundherr sofort zur Sache und wandte sich an die kleine Versammlung, seine Stimme hatte jetzt einen festen, leicht grimmigen Tonfall:

„Ich danke euch allen für eure gute Aufmerksamkeit und eure Warnungen. Eure Befürchtungen haben sich bestätigt. Heute früh bekam ich die Meldung, dass Akechi tatsächlich einen Aufstand plant. Die Lage ist bedenklich, Akechi hat die ihm ergebenen Fomorians vermehrt und begonnen ein Kriegsheer aufzustellen. Offensichtlich bereitet er einen Angriff über das Donnergebirge vor. Soweit darf es erst gar nicht kommen. Glücklicherweise gibt es eine Möglichkeit die Gefahr frühzeitig zu beseitigen.“

Der Dämonenfürst sah auffordernd zu Kage, seinem Heermeister. Dieser sprach daraufhin weiter:

„Um über die Donnerberge zu kommen, muss Akechi seine Armee durch die Düsterschlucht führen. Dieses Terrain kenne ich gut, es gibt dort eine Enge, an dem wir ihm einen Hinterhalt legen können. Dafür brauche ich nur etwa bis zu vierzig Krieger, die jedoch zu den Besten gehören sollten und möglichst viele, verschiedene Kampftechniken beherrschen müssen. Die Fomorians sind ein bunt gemischtes Volk aus unterschiedlichsten Kreaturen. Da sie den chaotischen Kräften aus Anbeginn der Schöpfung entstammen, beherrschen einige von ihnen uralte Magien. Daher brauche ich zusätzlich noch einige magiebegabte Dämonen auf meiner Seite. Leider wissen wir bisher nicht, auf welcher Seite der Donnerstamm steht, ob er Akechi möglicherweise unterstützen und uns in den Rücken fallen wird. Das könnte unsere Aktion scheitern lassen.“

„Deshalb werde ich als Ablenkungsmanöver ein Heer in die Ebenen südlich der Donnerberge führen“, fuhr Inutaishou fort, „und so den Anschein erwecken, als wolle ich Akechi dort erwarten. Falls die Dämonen des Donnerstamms auf Akechis Seite stehen, werden sie versuchen mich vorzeitig zu überfallen, um meine Streitkraft zu schwächen. Dadurch werden sie nicht mehr darauf achten, was sonst in ihrem Territorium vorgeht.“

„Die Angehörigen des Donnerstamms sind alle sehr kriegslüstern“, gab einer der übrigen Versammelten, ein Hirschdämon, seine Bedenken bekannt: „Wenn sie wirklich angreifen, könnten alle, die an diesem Ablenkungsmanöver teilnehmen, in eine furchtbare Schlacht verwickelt werden.“

„Das ist wahr“, bestätigte Inutaishou, „ich bestehe daher nicht auf mein Recht Truppen von euch zu fordern. Niemand muss mich begleiten, ich nehme nur Freiwillige mit.“

„Also, meine Unterstützung und die meiner Leute habt Ihr“, erklärte ein Büffeldämon: „Sollte es Akechi gelingen über die Donnerberge zu kommen, kommt er in ein Gebiet, in dem viele Unzufriedene leben, die sich ihm anschließen könnten. Und dann könnte es erst wirklich gefährlich werden. Da finde ich es besser, wenn dieser Verräter frühzeitig aufgehalten wird und riskiere lieber einen Kampf gegen den Donnerstamm!“

„Gut“, meinte der Herrscher des Westens daraufhin, „am Nachmittag brechen wir auf. Ich erwarte alle, die sich mir anschließen wollen, am Rande der Dornenwälder. Kage wird seine ausgewählten Krieger einen Tag später zur Düsterschlucht führen und die Falle zuschnappen lassen. Trefft eure Vorkehrungen und verteilt geheime Warnungen, ich möchte zivile Opfer möglichst vermeiden. Das wäre alles, ihr könnt gehen.“
 

Die Versammelten erhoben sich. Mit einer Verbeugung vor dem sitzen bleibenden Fürsten, verließen sie den Ratssaal. Seto und Yoshio hatten atemlos zugehört, am liebsten hätten sie noch mehr erfahren. Neugieriges Nachfragen stand ihnen aber nicht zu. So wollten sie auch aufstehen, gemäß ihrer niedrigen Rangordnung mussten sie jedoch warten und konnten erst zuletzt gehen, nach Tamahato. Dieser wurde allerdings zuvor von Inutaishou aufgehalten.

„Tamahato“, sagte er, „ich übertrage dir die Befehlsgewalt über die Schlosswache. Du bist mir für die Sicherheit aller hier lebenden Dämonen verantwortlich.“

Der altgediente Dämon senkte demütig das Haupt.

„Mein Herr, ich danke Euch für die Ehre Eures Vertrauens...“

Der Dämonenfürst kannte seinen getreuen Gefolgsmann sehr gut.

„Aber...?“ fragte er deshalb.

„Ich würde Euch lieber begleiten. Erlaubt mir, an Eurer Seite zu kämpfen“, bat der Soldat.

„Dieses Mal nicht“, entschied der Hundeherr, „ich möchte meine Heimstatt und meine Familie während meiner Abwesenheit gut geschützt wissen.“

Nach einem kurzen Blick auf Seto sprach er weiter:

„Wie macht sich dein kleiner Grünschnabel? Zeigt sein Training Fortschritte?“

„Ja, Herr“, antwortete Tamahato, „er lernt schnell. Seine Kampftechniken haben sich in den vergangenen Wintermonaten deutlich verbessert.“

„Ich hoffe, seine Klugheit wächst ebenso. Es wird Zeit, dass er meinen Sohn kennenlernt. Er bekommt ein Zimmer hier im Hauptgebäude, direkt neben Sesshoumarus Raum. Ab jetzt wird er sich immer in der Nähe meines Sohnes aufhalten, außer in seinen Trainingsstunden.“

Zum Schluss drehte sich Inutaishou noch zu Yoshio um:

„Tamahato wird sich künftig auch um deine und um Sesshoumarus Ausbildung kümmern. Wenn ihr wollt, könnt ihr beiden zusammen mit Seto üben. Und jetzt bring Seto zu Sesshoumaru, ich hoffe, ihr drei versteht euch gut!“

Damit waren die zwei Jugendlichen entlassen.
 

Zweifelnd und besorgt sah Tamahato den Burschen nach. Er hoffte inständig, dass Seto nicht nur genug Kampftechniken, sondern vor allem genug Anstand gelernt hatte. Leider hatte der aber immer noch ein ungeahntes Talent dafür in jedes auf dem Weg liegende Fettnäpfchen zu steigen und war sich bedauerlicherweise nur wenig bewusst, welch bedeutende Pflicht er zu erfüllen hatte.

„Ich bin sicher, dass Seto gute Arbeit leisten wird“, meinte Inutaishou in diesem Moment dazu, „er ist schließlich dein Partner und Schüler.“

Tamahato wäre kein guter Gefolgsmann gewesen, hätte er nicht sofort verstanden, was sein Gebieter mit diesen Worten sagen wollte. Darin lag die Aufforderung Seto und seine Leistungen als Leibwächter gründlich zu überwachen. Vor allem bedeutete es, Inutaishou hatte Tamahato damit zum indirekten, aber zum wirklichen Beschützer von seinem Sohn ernannt.

Der treue Soldat schluckte. Er wusste, im gesamten Reich gab es keine verantwortungsvollere Aufgabe als den Thronerben zu beschützen. Und es war der größte Vertrauensbeweis, den der Herr der Hunde zu vergeben hatte.

Ehrerbietig verlagerte Tamahato daher sein Gewicht, rutschte auf ein Knie vor und stützte sich mit geballter Faust auf seinen nach unten ausgestreckten Schwertarm. Seine daraufhin ausgesprochenen Worte waren ein Schwur:

„Ihr werdet niemals von mir enttäuscht sein, Oyakata-sama!“
 

Yoshio führte Seto derweil ein Stockwerk tiefer zum Gemach des Kronprinzen. Er wollte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Je früher er Seto an Sesshoumaru los war und den unverschämten Kerl nicht mehr ertragen musste, desto besser. Zudem musste sich Seto Sesshoumaru gegenüber sehr höflich benehmen und es war bestimmt eine sehenswerte Demütigung für den überheblichen Soldaten einem Kind gehorchen zu müssen.

Allerdings gab es ein Problem, das Yoshios Stimmung senkte. Sesshoumaru war nicht in seinem Zimmer.

„Also schön, Wolfi, und was jetzt?“ fragte Seto ungeduldig.

„Was fällt dir ein, mich so anzusprechen?“ empörte sich Yoshio: „Hast du immer noch nicht kapiert, dass ich zur fürstlichen Familie gehöre? Du hast mich gefälligst mit Yoshio-sama anzusprechen!“

„Soweit ich richtig informiert bin, du wölfischer Mischling“, höhnte Seto, „bist du bloß ein einfacher Findling, den der Fürst zufällig irgendwann und irgendwo halb verhungert im Dreck gefunden und aus nicht ganz nachvollziehbarem Mitleid aufgezogen hat. Das gibt dir weder einen Rang noch einen ehrenvollen Namen. Also versuch nicht mir, einem Hundedämon aus reinem Geblüt und klarer Herkunft, Vorschriften zu machen, klar?“

„Vorsicht“, warnte Yoshio, „Inutaishou behandelt mich trotzdem wie einen Sohn. Ich hätte sein Erbe werden können!“

„Na, da hast du ja Pech gehabt, dass er noch einen leiblichen Sohn gekriegt hat“, spottete Seto weiter: „Außerdem bist du ganz schön dämlich, wenn du dir jemals Chancen auf die Herrschaft ausgerechnet hast. Dafür musst du schon mehr mitbringen als die Protektion unseres Gebieters. Glaubst du etwa, die Hunde oder andere Dämonen im Westen würden je eine solch kümmerliche Witzfigur wie dich als Anführer akzeptieren?“

„Noch ein Wort“, knurrte Yoshio, „und ich...“

„Und was? Willst du dich beim Inu no Taishou über mich beschweren gehen? Nur zu, damit schindest du bestimmt Eindruck. Ist gewiss eine tolle Demonstration deiner Autorität und deines Durchsetzungsvermögen, wenn du dem Herrn die Ohren voll heulst!“

Erneut knurrend drehte Yoshio sich weg. Seto grinste daraufhin breit, sein Spott hatte zielsicher ins Schwarze getroffen. Eigentlich waren seine Sticheleien ziemlich würdelos, aber der schwache Wolfshundedämon war einfach ein zu verlockendes Opfer und es machte zu großen Spaß ihn zu ärgern.

„So, Wolfi, nachdem wir das geklärt haben, könntest du mich jetzt wie befohlen zu dem Fürstenbaby bringen, damit ich endlich mal meine Pflicht erfüllen kann. Also, wo ist der Kleine?“

Yoshio schluckte seinen Zorn herunter, öffnete eine der vielen Schiebetüren von Sesshoumarus Zimmer und durchsuchte eine großräumige, luftige Balkonterrasse. Soweit er wusste, hielt sich der Prinz lieber dort als drinnen auf, weil er geschlossene Räume nicht besonders mochte. Doch auch auf dem Balkon war Sesshoumaru nicht.

„So ein Pech“, meinte Yoshio und kam zurück zu Seto ins Zimmer, „ich glaube, er ist draußen. Wir müssen in den Gärten nach ihm suchen. Das kann dauern.“

Seto schnupperte in der Luft herum und prägte sich den in Sesshoumarus Raum vorherrschenden Geruch ein.

„Dann gehen wir halt der Nase nach. Für mich stellt so etwas kein Problem dar, ich bin ein herausragender Spürhund. Das Prinzchen werden wir schnell haben. Also, damit übernehme ich jetzt die Führung. Pass gut auf, Wolfi, von mir kannst du noch was lernen!“
 

Hochnäsig stolzierte Seto aus dem Gemach, hinunter ins Erdgeschoss des herrschaftlichen Gebäudes und von dort hinaus in den ausgedehnten Park hinter dem Schloss. In seinem stolzen Eifer fiel ihm nicht auf, dass Yoshio nicht mehr wie erwartet verärgert war, sondern überraschenderweise auf einmal sehr vergnügt gestimmt war. Diese rätselhafte Änderung in der Stimmung des Wolfshundedämons bemerkte Seto erst, als er etwa eine Stunde später durch einen verwilderten Rosengarten stapfte und sich fluchend durch dichte, wuchernde Dornengebüsche kämpfen musste.

„Ja, verdammt noch mal!“ schimpfte er dabei: „Wo ist dieses Kind denn überall hingerannt? Und irgendwas stimmt doch mit dieser Fährte nicht, wir drehen uns ja dauernd im Kreis! Wie, zur Hölle, ist das möglich?“

Yoshio hätte am liebsten laut losgelacht. Doch er wollte den Spaß gerne noch länger auskosten und begnügte sich daher mit einer höhnischen Bemerkung:

„Ich sehe, ich kann von dir tatsächlich noch eine Menge lernen, großer Meister der Fährtenlese-Kunst! Welche Strategie schlägt mein verehrter Spürhund nun vor?“

„Verarsch mich nicht, du blöder Wolfsköter“, raunzte Seto den Schadenfrohen an, „mach dich lieber mal nützlich und erklär mir, was hier los ist. Dieser Fürstenbengel führt uns doch irgendwie an der Nase herum!“

„Tja“, meinte Yoshio fröhlich, „du hättest dich vielleicht mal besser über die Person, die du beschützen sollst, informieren sollen. Sesshoumaru ist dafür bekannt, dass er gerne wegläuft und sich versteckt. Und er ist äußerst geschickt darin, seine Spuren zu verwischen. Er hat schon öfters eine wahre Panik im ganzen Schloss ausgelöst, wenn er unauffindbar war und alle vergeblich nach dem Verschwundenen gesucht haben... Möchtest du in diesem Zusammenhang übrigens wissen, was aus dem letzten Leibwächter von Sesshoumaru geworden ist? Der Prinz ist ihm einmal auf einer Reise verloren gegangen und wurde durch einen Unfall lebensgefährlich verletzt. Inutaishou war daraufhin völlig außer sich und hat den glücklosen Bewacher regelrecht in Fetzen gerissen.“

„Verdammte Scheiße“, fluchte Seto, „behalt deine bescheuerten Geschichten für dich und denk nach! Du kennst den Fürstensohn doch gut, oder? Sag schon, wo er sich verkrochen haben könnte! Hat er vielleicht irgendwelche Lieblingsplätze?“

„Hat er“, bestätige Yoshio grinsend, „dann übernehme ich jetzt wieder die Führung, oder?“

„Ach, mach doch, wenn es dich glücklich macht!“
 

Die nächste Suchaktion war erfolgreicher. Bereits beim zweiten Ort, den Yoshio als einen von Sesshoumarus Lieblingsplätzen kannte, hatten die Hundedämonen Glück und fanden den Gesuchten nahe eines Quellbachs in einem bebuschten Hain. Dort saß der kleine, weißhaarige Dämonenprinz neben einem Rhododendron am Boden und schnitzte mit einem hell glänzenden Messer kurze, hölzerne Wurfpfeile. Als Yoshio und Seto sich ihm näherten, schaute er auf.

Er bedachte Yoshio mit einem kurzen, freudigen Blick und sah danach missfällig zu Seto.

„Was will der hier?“

Seto musste sich zusammennehmen, um nicht eine ungebührliche, beleidigende Erwiderung loszulassen, die ihm bereits auf der Zunge lag. Einen derartig abwertenden Ton und einen solch arroganten Blick hätte er sich normalerweise nie gefallen lassen. Erst recht nicht von so einem Knirps. Was erlaubte dieses anmaßende Balg sich?

„Das ist dein neuer Leibwächter“, stellte Yoshio den jungen Krieger vor.

Sesshoumaru schnaubte verächtlich.

„So etwas wie den brauche ich sicher nicht. Wessen Idee war denn das?“

Jetzt reichte es Seto, Geduld war noch nie seine Stärke gewesen.

„Hör zu, Kleiner“, sagte er, „ich bin auch nicht begeistert davon, dass ich den Babysitter für dich spielen soll. Aber ich bin auf ausdrücklichem Wunsch deines Vaters hier. Also wirst du dich wohl damit arrangieren müssen. Lass uns einfach einen Pakt schließen, okay? Ich bleib unauffällig in deiner Nähe und geh dir nicht auf die Nerven und du nervst mich nicht. Dann kommen wir sicher wunderbar miteinander aus!“

Mit golden funkelnden Augen sah Sesshoumaru zu ihm. Bedächtig schob er die Wurfpfeile, die er geschnitzt hatte, unter seinen Haori und hob dann leicht sein Messer. Ruhig und demonstrativ strich er mit den Fingerspitzen seiner linken Hand über die scharf geschliffene Klinge. Ein dünnes Blutrinnsal floss über seine Haut.

„Solltest du mich jemals noch einmal unaufgefordert ansprechen oder mir nochmals irgendeinen Ratschlag geben wollen“, drohte er leise dabei, „sorge ich dafür, dass du fein säuberlich in hauchdünne Streifen geschnitten wirst. Ansonsten kannst du niederer Wurm meinetwegen machen, was du willst.“

Seto verschlug es die Sprache. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte er seinen Impuls den vor ihm sitzenden Dämonenjungen zu packen und übers Knie zu legen, um ihm eine ordentliche Tracht Prügel zu verpassen.

Sesshoumaru beachtete seinen verärgerten Leibwächter nicht mehr, er wandte sich erwartungsvoll an Yoshio:

„Kommst du mit mir zum alten Buchenwald, zum Vögel jagen?“

Yoshio hätte sich lieber verdrückt, denn er hatte selten Lust sich mit Sesshoumaru zu beschäftigen. Aber er wusste auch, dass der kleine Dämon sehr hartnäckig sein konnte, wenn er etwas wollte. Aus einem unerfindlichen Grund mochte Sesshoumaru Yoshio nämlich sehr gern. Wenn der Wolfshundedämon jetzt nicht nachgab, das kannte er aus Erfahrung, konnte es leicht geschehen, dass sich Sesshoumaru bei jeder anderen Gelegenheit an seine Fersen heftete. Außerdem machte es sicher Spaß Seto dabei zu beobachten, wie er um Selbstbeherrschung rang. Also nickte Yoshio bejahend.

„Fein“, freute sich Sesshoumaru, „du kannst meine Wurfpfeile haben. Ich kann ja auch mit meinen Krallen jagen.“

„Lass nur“, meinte Yoshio, „behalte deine Spitzen. Ich habe meine Shuriken dabei. Das geht auch. Dein Vater hat dir schließlich verboten, per Hand fliegenden Vögeln hinterher zu jagen. Du bist in deinen Flugfähigkeiten noch nicht sicher genug.“

„Da täuscht du dich, ich bin schon ziemlich gut im Fliegen und Chichi-ue muss ja auch nichts davon wissen“, erwiderte Sesshoumaru, steckte sein Messer ein und sprang auf: „Los, lass uns gehen.“
 

Na, das kann ja heiter werden, dachte Seto, als er den beiden Dämonen in einem höfisch angebrachten Abstand folgte.

Zum ersten Mal konnte er die Bedenken seines Partners Tamahato nachvollziehen und fragte sich nun ebenfalls, warum der Herr der Hunde ausgerechnet ihn zum Leibwächter seines Sohns erkoren hatte. Was bezweckte Inutaishou damit? Hatte er geglaubt, dass ein jüngerer Krieger besser zu einem Kind passte? Sollte er als zusätzlicher Spielkamerad oder Freund für den Fürstensohn fungieren?

In diesem Fall, dachte Seto weiterhin, ist der Herr aber ganz schön auf dem Holzweg. Dieser trottelige Wolfsköter und diese aufgeblasene Rotznase sind bestimmt die allerletzten, mit denen ich mich jemals anfreunden würde.
 


 

Soweit das zweite Kapitel.

Tja, es erscheint oft ziemlich rätselhaft, was sich der Inu no Taishou bei so einigen Dingen gedacht hat. Vielleicht hatte er manchmal auch eine etwas seltsame Art von Humor?!?

Im nächsten Kapitel wird Seto weitere Schattenseiten seiner neuen Position kennen lernen. Hoffen wir mal, dass Tamahato als Lehrer und heimlicher Zusatzwächter den jungen Hunden etwas beibringen kann. Währenddessen sieht der Westen nach einer Friedensperiode einer eher kriegerischen Zeit entgegen...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Vertrauen

Vorbemerkung:

Ich bedanke mich wieder für alle bisherigen Kommentare. Und da einige von euch sich im zweiten Kapitel über diese kleine Szene mit Sesshoumaru und dem Messer gewundert haben, möchte ich dazu noch eine Erklärung abgeben:

Inspiriert wurde ich zu dieser Szene durch einen Fünfzehnjährigen, den ich mal flüchtig kannte. Dieser Junge hatte die Angewohnheit langsam, demonstrativ und mit unbewegter Miene seine Zigarettenkippe am Handrücken auszudrücken, wenn er etwas Gewichtiges zu sagen hatte. Das sollte offensichtlich seine Coolness und Stärke unterstreichen (in der Ethologie (Verhaltensforschung) wird so ein Gehabe auch Imponierverhalten genannt^^). Ich schätze, seine von ehemaligen Brandblasen vernarbten Hände hat der Kerl heute noch (denn dummerweise verfügen Menschen ja nicht über Dämonenheilkräfte, *grins*).

Doch zurück zu meiner Geschichte: im letzen Kapitel lernte der jugendliche Leibwächter Seto seinen herrschaftlichen Schützling und den jungen Wolfshundedämon Yoshio näher kennen. Daneben gab es erste Anzeichen, dass dem Westen eine beunruhigende Zeit bevorsteht. Kriegerische Konflikte bahnen sich an...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 3: Vertrauen
 

Tief in Gedanken versunken stand Kage, der Heerführer des Westens und Hauptmann der Fürstengarde, auf einer Anhöhe nahe einem Dornenwald und blickte auf die vor ihm liegende Ebene. Kage gehörte dem Clan der dämonischen Flughunde an und die zunehmende Dunkelheit der hereinbrechenden Neumondnacht schenkte ihm ein angenehm schützendes Gefühl. Die Nacht war sein Verbündeter, mehr noch als für viele andere Dämonen. Am helllichten Tage fühlte er sich dagegen extrem unwohl. Umso beruhigter war er, dass das Ereignis, auf das er momentan warten musste, nachts geschehen würde.

Auf etwas warten zu müssen ist allein schon unangenehm genug. Am schlimmsten ist jedoch die Erwartung einer Schlacht.
 

Kage war ein Krieger seit er denken konnte. Seit langer Zeit schon diente er dem Gebieter des Westens als Heerführer. Er war dessen Stellvertreter und Helfer in mannigfaltigen Kriegen, die der Inu no Taishou immer wieder führen musste, um seine Herrschaft zu sichern. Auch bevor Kage seine hohe Stellung in der Heeresführung besaß, hatte er bereits viele Jahrhunderte auf der Seite des Hundeherrn gekämpft.

Vor weitaus längerer Zeit war das allerdings anders gewesen, einst waren Kage und Inutaishou Feinde.

Damals, in einer Zeit, als die Menschen gerade erst begannen sich auf der Erde zu verbreiten, herrschte in Japan das Chaos. Das Land war durch dämonische Machtkämpfe zerrissen und verheert gewesen. Auch Kages Clan, der aus fernen Landen vertrieben worden war, hatte sich auf der Suche nach einer neuen Heimat an diesen Kämpfen beteiligt. Es war furchtbar gewesen. Die dämonischen Kriege weiteten sich aus und rissen Unbeteiligte mit hinein. Ganze Stämme, Rassen und Familien wurden komplett ausgelöscht. Das alles hätte schließlich fast die ganzen japanischen Inseln vernichtet.

Doch inmitten dieser Zeit des Schreckens und der Finsternis begann auf einmal ein neuer Stern zu erstrahlen. Unerwartet wie ein geheimnisvoller Komet, dessen gleißendes Licht das dunkle All durchbricht, tauchte Inutaishou im Westen auf. Die damals Mächtigen nahmen erst kaum Notiz von ihm, für sie war er zunächst bloß irgendein Fremder. Niemand hatte vorher etwas von ihm und dem Clan der weißen Hunde gewusst. Aber Inutaishou sorgte schnell dafür, dass er beachtet und bekannt wurde. Innerhalb kürzester Zeit kämpfte er sich an die Spitze der Dämonen und räumte dann im wirren, ausgebluteten Land gründlich auf.

Der damals noch sehr junge Hundedämon überraschte alle. Er befreite sich oft aus größter Gefahr und den unmöglichsten Situationen, er führte seine Gefolgsleute aus scheinbaren Niederlagen zum Sieg und machte Unglaubliches wahr. Zudem hatte er etwas an sich, das ihn zum Anführer prädestinierte, das ihm unendliche Bewunderung und Begeisterung einbrachte. Etwas, das andere anzog und das seine Getreuen dazu brachte alles für ihn zu tun. Sie starben sogar voller Freude für ihn.

Woher diese unbeschreibliche Loyalität und diese Anziehungskraft kam, die der Herr der Hunde ausstrahlte, war nicht leicht zu erklären. Vielleicht lag es daran, dass Inutaishou meist sehr selbstlos handelte, es entsprach nun mal seiner Art andere zu beschützen. Vielleicht lag es auch an seiner verführenden Vision von Versöhnung und Frieden sowie an seiner Bereitschaft jedes Lebewesen, sei es noch so bedeutungslos, grundsätzlich zu achten und anzuerkennen. Trotzdem war das sicher nicht alles. Das Charisma des Hundefürsten blieb ein genauso großes Rätsel wie er selbst. Dagegen und gegen den festen Glauben, den Inutaishous Gefolgsleute in ihren Herrn setzten, kam kein Feind an. Diejenigen wie Kage, die diese Sachlage rechtzeitig erkannten und darin eine Chance auf ein neues, besseres Leben sahen, unwarfen sich Inutaishous Führung. Viele seiner ehemaligen Feinde machte Inutaishou sich daraufhin zu Freunden und Verbündeten, manche davon wurden sogar seine glühendsten Anhänger. Diejenigen allerdings, die nicht auf eine gewaltsame Durchsetzung eigener Machtansprüche verzichten wollten, mussten den Preis bezahlen, den Zerstörung mit sich bringt. Sie wurden buchstäblich von der Erde getilgt, nichts von ihnen blieb übrig, nicht einmal ihre Namen blieben in Erinnerung.
 

Nachdem die verheerenden, dämonischen Dominanzkämpfe beendet waren, teilten die siegreichen Mächte das Land unter sich auf und befriedeten es dadurch. Inutaishou übernahm die Herrschaft im japanischen Westen und mit dem Beginn seiner Herrschaft begann auch eine großartige, friedliche Blütezeit im Land, eine Art goldenes Zeitalter brach an. Der neue Dämonenherr im Westen wurde von allen hoch geachtet, er wurde auch von ebenso starken oder sogar von noch mächtigeren Wesen aus entfernten, anderen Reichen respektiert.

Doch Ruhm und Glück des einen bringt oft Neid und Gier des anderen mit sich und so wurde der Glanz der goldenen Epoche wieder getrübt.

Das Schicksal ging nicht dauerhaft gnädig mit Inutaishou um, er wurde betrogen. Ausgerechnet einige seiner engsten Vertrauten verrieten ihn und bildeten den Kern einer schrecklichen Verschwörung. Diese Verschwörung endete schließlich in einem Krieg, der so grässlich gewesen war, dass ihn alle überlebenden Beteiligten nur noch vergessen wollten und nie wieder darüber sprachen. Das war eine sehr traurige und schmutzige Geschichte gewesen, die wohl dunkelste Episode in Inutaishous Herrschaft bisher, die auch den Hundeherrn selbst fast gebrochen hätte.

Zudem verschoben sich im Laufe der Zeit im Norden, Osten und Süden die Machtverhältnisse oder es bauten sich neue Mächte auf, die ebenfalls oft zu neuer Gewalt und weiteren, grausamen Kämpfen um die Vorherrschaft führten. Einfach deswegen, weil es immer wieder welche gab, die nicht akzeptieren konnten, dass da jemand existierte, der größer und besser als andere war. An der Spitze kann zwar nur einer stehen, aber es gefällt eben kaum jemanden, wenn ein Stern alle anderen überstrahlt.
 

„Kage-sama?“

Ein junger, schlanker und sehr flink wirkender Dämon kniete hinter dem Heeresführer und sprach ihn schüchtern an. Aus seinen Erinnerungen gerissen drehte sich Kage zu ihm herum. Der junge Dämon war noch neu im Heer des Westens, Kage wusste nicht einmal, welcher Art er angehörte. Er wusste nur, dass dieser ursprünglich vom Festland stammte und wohl so etwas ähnliches wie eine Bergziege war. So jemand war sehr vertraut mit gebirgigem Gelände und daher ideal geeignet für die Mission, mit der Kage vom Inu no Taisho betraut worden war.

„Die Krieger sind bereit“, fuhr der junge Dämon fort, „wir können nun aufbrechen und die Falle für Akechi vorbereiten. Der Inu no Taishou hat seinem Heer soeben den Befehl zum Aufbruch gegeben und wird uns somit die nötige Ablenkung und Deckung schenken.“

„Hervorragend“, sagte Kage und schlang seinen langen Umhang enger um sich, „nun kommt alles auf unsere Geschicklichkeit und den Überraschungseffekt an. Akechi darf auf keinen Fall an uns vorbei und durch die Düsterschlucht kommen. Schafft er und seine Armee es über die Donnerberge und vereinigt sich dieser Verräter mit dem Donnerstamm, haben wir versagt und das Vertrauen, das der Inu no Taishou in uns setzt, enttäuscht. Das darf nicht geschehen.“

„Es wird nicht geschehen“, meinte der junge Krieger schlicht. In seinen Augen lag die feste Überzeugung, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Und Kage sah darin das ihm altbekannte Vertrauen, die Verehrung und sogar die tiefe Zuneigung, die dem Herrn der Hunde entgegen gebracht wurde.
 

Das war und blieb Inutaishous wirkliche Macht und wohl seine größte Stärke. Auf seine wahren Getreuen konnte sich der Herrscher des Westens bedingungslos verlassen.
 

Nicht nur auf dem Schlachtfeld, auch in der friedlichen Heimstatt des Fürsten, im gut geschützten Schloss des Westens, wurde währenddessen gewissenhaft jede Pflicht erfüllt. Alles dort lief seinen gewohnten Gang, so dass niemand etwas von den weit entfernten Bedrohungen und bevorstehenden Kämpfen im Donnergebirge bemerkte.

Allerdings war Pflichterfüllung nicht immer leicht, diese Tatsache wurde insbesondere dem jungen Soldaten Seto mit jeder Stunde deutlicher.
 

Genau zwanzig Stunden hatte Seto bisher als Leibwächter in der Nähe von Inutaishous Sohn verbracht und er war sich schon lange nicht mehr sicher, dass ihm seine ehrenvolle Position gefiel.

Der direkte Umgang mit Sesshoumaru war prinzipiell nicht das Problem, denn der kleine Dämon ignorierte seinen Bewacher einfach komplett. Dummerweise hatte das aber zur Folge, dass sich sein Schützling nichts von Seto sagen ließ. Außerdem hatte Seto niemals zuvor Erfahrung mit kleinen Dämonen gesammelt. Daher hatte er absolut keine Vorstellung davon, was ein Kind alles anstellen konnte, insbesondere wenn es sich um ein Kind mit chronischer Selbstüberschätzung handelte.
 

Nur ungern erinnerte sich der junge Soldat an den vorigen Nachmittag, als Sesshoumaru mit dem Wolfshundedämon Yoshio auf Vogeljagd gewesen war. Zunächst schien das alles eine recht harmlose Sache zu sein. Seto hatte nur nicht damit gerechnet, dass es sich bei den Vögeln, die sich der Prinz als Beute auserkoren hatte, um Habichte handelte, die in der Krone vom höchsten Baum eines alten Buchenwalds brüteten.

Die Greifvögel hatten einen guten Platz für ihr Nest und ihren Schutz gewählt, Sesshoumarus Versuche die Tiere von unten her mit Wurfpfeilen abzuschießen, blieben durch das dichte Blätterdach ziemlich fruchtlos. Doch das hielt den Dämonenjungen nicht ab, gepackt vom Jagdfieber sprang er, gefolgt von Yoshio, einen Baum hinauf.

Aufwendige Kletteraktionen gehörten eigentlich nicht zum normalen, angeborenen Verhaltensrepertoire eines Hundes und Seto hatte sich derartiges Können erst mühsam antrainieren müssen. Deshalb war er sehr überrascht wie spielerisch leicht Sesshoumaru das beherrschte. Seine Überraschung wandelte sich jedoch schnell in Entsetzen, als er beobachtete, wie der kleine Fürstensohn die Baumkronen erreichte und sich über sehr dürre und leicht brechbare Äste an seine Jagdbeute heranpirschte.

Es kam wie es kommen musste, Sesshoumaru stürzte ab. Yoshio, der schwerfällig hinter dem Dämonenprinzen hergeklettert war, versuchte ihn noch im Fall zu erhaschen, griff aber ungeschickt daneben. Schleunigst sprang Seto hinzu, um den kopfüber stürzenden Jungen aufzufangen. Bevor er ihn allerdings erreichte, gelang es Sesshoumaru seinen Fall von alleine abzubremsen. Nachlässig schwebte er zwei bis drei Meter über dem Boden in der Luft, drehte er sich in eine aufrechte Stellung und sah sich nachdenkend um. Als wäre absolut nichts passiert, flog er daraufhin zu dem Ast eines anderen Baums und versuchte von dort aus erneut sein Glück. Währenddessen beruhigte Seto seinen Herzschlag und erhöhte seine Alarmbereitschaft, was sich als gute Idee erweisen sollte.

Es blieb nicht bei einem Absturz, der zweite folgte nur wenige Minuten später. Denn die erschreckten Habichte hatten beschlossen ihre Jäger zu attackieren. Gegen Dämonenkrallen konnten einfache Vögel eigentlich nichts ausrichten. Aber sie sorgten dafür, dass Sesshoumaru in seinem Übereifer, während er nach den Vögeln schlug, das Festhalten vergaß und erneut von einer Baumspitze herab sauste. Dabei fiel er dieses Mal unglücklicherweise direkt auf Yoshio, woraufhin beide den Weg nach unten antraten.

Im Gegensatz zu Sesshoumaru, der viele Talente seines mächtigen Vaters besaß, gehörte Yoshio genau wie Seto zur Mehrzahl der Hundedämonen, die nicht fliegen konnten. Sesshoumaru packte seinen mit ihm herabstürzenden Freund daher und versuchte Yoshio mit sich zusammen in der Luft zu halten. Aber der Dämonenprinz war schließlich noch ein Kind, seine Fertigkeiten und dämonischen Kräfte waren noch lange nicht ausgereift. Yoshio war zu schwer für ihn. Trotzdem ließ er den Älteren nicht los und wurde so mit in die Tiefe gerissen. Seto, dessen Hilfe diesmal eindeutig nützlich zu sein schien, fing beide auf. Das Gewicht der zwei auf ihn fallenden Dämonen drückte ihn zu Boden und bescherte ihm mehrere blaue Flecken und Beulen.

Dank erntete Seto für seinen Einsatz nicht.

„Warum mischt du dich ein? Ich hätte das schon selbst geschafft“, fauchte Sesshoumaru ihn kurz an, bevor er ihn wieder völlig ignorierte und sich eine neue Strategie für seine Vogeljagd überlegte.

Seto hätte Sesshoumarus Behauptung gern widersprochen, hatte aber natürlich kein Recht dazu seinen hochrangigen Schützling zu kritisieren und musste schweigen. Yoshio, dem durch Seto einige unangenehme Blessuren erspart worden waren, schwieg ebenfalls. Er sah nicht ein, warum er sich bei dem Soldaten bedanken sollte. Immerhin hatte Seto den Wolfshundedämonen in der Vergangenheit nicht nett behandelt und ziemlich gemein verspottet.

Zum Glück kam es nicht zu weiteren Unfällen, weil kurz darauf ein von Inutaishou ausgeschickter Diener erschien und den Prinzen ins Schloss holte, damit sich der Fürst von ihm verabschieden konnte. Als Sesshoumaru erfuhr, dass sein Vater ihn sehen wollte und fort musste, vergaß er sofort alles andere.
 

Die Verabschiedung zwischen Vater und Sohn war kurz. Sie wirkte zudem ziemlich steif und förmlich, fand Seto. Vielleicht zeigte der Herr des Westens intime Gefühle wie Zuneigung nicht gern. Inutaishou hatte kaum etwas gesagt, auf Fragen seines Sohns zu dem bevorstehenden Feldzug antwortete er nicht und Sesshoumarus Bitten ihn begleiten zu dürfen wehrte er energisch ab. Nach einer flüchtigen Umarmung seines Sprösslings sowie einem kurzen Nicken in Setos Richtung war er dann gegangen und hatte mit dem Großteil der fürstlichen Garde das Schloss verlassen. Daraufhin zog sich Sesshoumaru enttäuscht und schmollend in sein Zimmer zurück.

Seto war auch enttäuscht, dass er zurückbleiben und so auf einen spannenden Kampf verzichten musste. Stattdessen durfte sich der junge Leibwächter vorwurfsvolle Fragen von seinem älteren Partner und Lehrmeister Tamahato gefallen lassen, denn diesem war ein zerrissener Ärmel von Sesshoumarus Haori aufgefallen.

Nachts gab es schließlich noch eine Aufregung, weil Sesshoumaru versuchte sich aus dem Schloss zu schleichen, um heimlich seinem Vater zu folgen. Nach seiner Entdeckung durch Tamahato, der mit so einem Fall aus Gewohnheit gerechnet hatte und sich zusammen mit zwei Wachposten dementsprechend vorbereitet hatte, wurde der kleine Prinz mühsam wieder zurück ins Bett verfrachtet. Und Seto, der das Ausreißen seines Schützlings prompt verschlafen hatte, bekam seine nächste Strafpredigt serviert.
 

All diese Erfahrungen in den letzten zwanzig Stunden hatten Seto seine Freude am Dienst mittlerweile ziemlich verleidet, doch man konnte ihm zumindest zugute halten, dass er nicht so leicht aufgab. Trotz seiner Frustration befahl ihm sein Stolz jetzt erst recht weiter zu machen. Er würde sich doch nicht von einem Kind unterkriegen lassen!

So saß er nun am frühen Vormittag in einem hellen, mit hübschen Malereien geschmückten Raum und hörte sich einen Vortrag über das Wachstum und den Nutzen von Ginko an. Der Vortragende war ein ehrwürdig wirkender, weiser Dämon mit langen, blaufarbenen Haaren und sanfter Stimme. Er trug den Namen Ieyasu, diente Inutaishou als Heiler und unterrichtete den Fürstensohn unter anderem in Pflanzenkunde. Für Hunde war das nicht gerade das spannendste Thema, doch zumindest konnte Sesshoumaru während dieser Lehrstunde nichts anstellen, das ihn hätte in Gefahr bringen können, und das empfand Seto als ziemlich erholsam.

Als nächstes stand Kampfunterricht bei Tamahato auf dem Stundenplan, worauf Seto schon sehnsüchtig wartete. In dieser Zeit würde auch er sein tägliches Trainingspensum absolvieren und konnte so zumindest für einige Zeit seinem Leibwachdienst entfliehen. Er hoffte nur inständig, dass Tamahato sich nicht an den Vorschlag Inutaishous erinnerte, Sesshoumaru und Yoshio könnten zusammen mit Seto üben. Erfreulicherweise fanden Sesshoumaru und Yoshio diesen Vorschlag auch nicht besonders toll, so war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es eine getrennte Ausbildung gab.

Nach Beendigung der langweiligen Schulstunde in Pflanzenkunde stellte Seto jedoch fest, dass sich Tamahato weder an Wahrscheinlichkeiten noch an die Vorlieben seiner ihm anvertrauten Schüler hielt.
 

Das Kampftraining fand wie gewohnt draußen auf dem Sandplatz vor dem herrschaftlichen Hauptgebäude statt. Setos freudige Erwartung und all seine Hoffnungen schlugen sofort in Missvergnügen um, als er neben seinem wartenden Partner den Wolfshundedämonen Yoshio entdeckte. Tamahato begrüßte erst ehrerbietig den Fürstensohn und zeigte dann auf einen nahe liegenden, mit verschiedenen, versteckten Fallen versehenen Hindernisparcours.

„Den durchquerst du zusammen mit Yoshio“, befahl er Seto, „wenn einer von euch in eine Falle gerät, sich verletzt oder zu lange zögert und nicht weiterkommt, fangt ihr beide wieder von vorne an.“

„Aber...“ begann Seto.

„Ohne Widerreden“, fügte Tamahato scharf hinzu und reichte den beiden Hundedämonen je zwei Unterarmschützer, „und versucht keine betrügerischen Tricks, ich behalte euch im Auge. Los, fangt an!“

Yoshio und Seto warfen sich kurz einen verdrießlichen Blick zu, streiften sich die erhaltenen Armschoner über und gingen widerwillig zum Parcours.

Tamahato wandte sich inzwischen Sesshoumaru zu, gab ihm ein kleines, auf seine Kinderhände abgestimmtes Schwert, das er extra hatte anfertigen lassen, und ermunterte den Fürstensohn damit einige Schwünge vorzuführen. Auch wenn seine Aufmerksamkeit jetzt scheinbar nur dem Jungen galt, wusste Seto, dass Tamahato sehr wohl gleichzeitig auch auf die beiden älteren Jugendlichen achten konnte und würde. Deshalb machte er sich ohne weiteres Zögern an die gestellte Aufgabe.
 

Das erste Hindernis, das ihn und Yoshio erwartete, war eine hohe Bretterwand. Flink sprang Seto drüber und wich sofort geschickt winzigen, pfeilartigen Holzgeschossen aus, die überraschend auf ihn zugeflogen kamen, kaum dass der Hundedämon mit den Füßen den Boden berührte.

Yoshio kam erst beim zweiten Versuch über die hohe Wand, mit irgendwelchen versteckten Waffen rechnete er überhaupt nicht. So wurde Seto, der sich bereits an die nächste Hürde wagte und sich vorsichtig durch einen mit spitzen Eisendornen gespickten Säulenwald bewegte, von einem Schmerzenslaut aufgehalten. Verärgert brach der Soldat seinen Hindernislauf ab und kam zu Yoshio zurück. Der Wolfshundedämon zog sich gerade mit leicht kläglichem Gesichtsausdruck mehrere Holzspitzen aus den Schultern und der Brust.

„Na wunderbar“, war Setos Kommentar dazu, „jetzt müssen wir den Regeln entsprechend beide wieder von vorn beginnen. Musst du denn schon bei der ersten Schwierigkeit versagen?“

„Woher sollte ich denn wissen, dass so etwas passiert?“ gab Yoshio wütend zurück: „Ich habe so was doch noch nie zuvor gemacht!“

„Das hier ist ein Kampftraining, Wolfi“, betonte Seto, „kein harmloses Kinderspiel. Du hättest dir eigentlich denken können, dass hier einige überraschende Herausforderungen auf dich warten!“

Zögernd begutachtete Yoshio die Wunden, die er sich zugezogen hatte und die, typisch für Dämonen, rasch begannen zu heilen.

„Was erwartet uns noch alles in diesem Parcours?“ fragte er.

„Das weiß ich auch nicht vorher“, antwortete Seto unwirsch, „so ein Hindernislauf ist jedes Mal anders gestaltet. Das ist ja der Sinn der Sache, dass du nicht weißt, was dich erwartet, und so lernst blitzschnell auf jede Situation zu reagieren... Hast du Schiss davor dir weiter weh zu tun? Wenn es dich beruhigt, die Fallen sind so ausgelegt, dass sie dich nicht ernsthaft verletzen oder umbringen.“

„Danke, ich komm schon klar“, erwiderte Yoshio bissig.

„Na, hoffentlich, sonst werden wir hier nie fertig... Ich hoffe, du hast dir wenigstens gemerkt, von woher die Holzspitzen geschossen kamen und stellst dich jetzt weniger dämlich beim Ausweichen an. Übrigens sind die Armschoner, die uns Tamahato gegeben hat, nicht nur zur Dekoration da. Damit kannst du dich zusätzlich vor Verletzungen schützen.“

Dieses Mal verzichtete Yoshio auf eine Antwort und gab nur ein ärgerliches Knurren von sich.
 

Die beiden jungen Hundedämonen gingen an den Anfang des Parcours zurück und starteten erneut. Allerdings gelang es Yoshio erst nach zwei weiteren Versuchen das erste Hindernis verletzungsfrei zu bewältigen. Durch die eisendornigen Säulen danach kam er zunächst gut bis auf einmal eiserne Klingen in Kniehöhe aus den Säulen schnappten und den Wolfshund an den Beinen erwischten. Das dritte Hindernis, das beim wiederholten Durchgang auf die jugendlichen Dämonen wartete, war ein plötzlich einbrechender Boden mit darunter liegender Fallgrube. Danach galt es einen dunklen Tunnel mit einem dicht verwobenen Netz aus hauchdünnen und messerscharfen Drahtseilen zu durchqueren und dabei auf am Boden verteilte Sprengkugeln zu achten. Hier blieb Yoshio sehr häufig hängen, erhielt Schnittwunden oder zog sich Verbrennungen zu, weil er versehentlich Sprengsätze berührte und auslöste. Deshalb dauerte es lange bis die Trainierenden das fünfte Hindernis, eine äußerst schmale, über eine Feuergrube führende und wackelige Brücke erreichten. Bei Hindernis Nummer sechs, einem verzweigten Gang, in dessen Nischen kleine, bisswütige, niederdämonische Skorpione und Schlangenmonster lauerten, riss Seto schließlich der Geduldsfaden.

„Du bist wirklich der unfähigste Tollpatsch, der mir jemals untergekommen ist“, fuhr er Yoshio an. Dieser war kurz davor von einer Schlange gebissen und fast völlig gelähmt worden, vergeblich versuchte er sich nichts von seinen Schmerzen anmerken zu lassen. Fluchend packte Seto ihn und schleppte ihn zu Tamahato.

„Es reicht“, beschwerte er sich dort, „so komme ich nicht voran. Dabei kann ich doch nichts lernen, wozu soll so ein Training denn gut sein?“

Tamahato, der Sesshoumaru gerade einige Schwertattacken an einem Bambusstecken ausprobieren ließ, unterbrach den Eifer seines kleinen Schülers und drehte sich ruhig zu Seto um.

„Was ist dein Problem? Sind die Fallen zu schwer für dich?“

„Die Fallen machen mir keine Schwierigkeiten“, schimpfte Seto und deutete zornig auf Yoshio, „dieser Anfänger ist das Problem.“

Tamahato antwortete mit einem leicht zynischen Lächeln.

„Ist das so? Dann muss ich dir wohl erst demonstrieren wie du dieses Problem lösen kannst... Sesshoumaru-sama, würdet Ihr bitte Euer Schwert beiseite legen und mich begleiten?“

Daraufhin führte Tamahato den Fürstensohn zum Hindernisparcours und bat ihn über die erste Hürde, die Bretterwand, zu springen. Obwohl er wusste, dass ihn da eine unbekannte Falle erwartete, zögerte Sesshoumaru keinen Augenblick und sprang sofort. Blitzschnell tat Tamahato es ihm nach, er überholte den Jungen im Sprung, landete schützend vor ihm und fing dabei die ihm entgegen schießenden, hölzernen Pfeilgeschosse mit seinen Armschonern ab. Danach wandte er sich an Seto, der von der Seite her zugeschaut hatte.

„Verstehst du den Sinn deines Trainings nun?“ fragte er seinen jüngeren Partner: „Du sollst hier nicht deine eigene Stärke beweisen, sondern gemeinschaftlich handeln. Es ist leicht Gefahren und Hindernisse zu überwinden, wenn man nur für sich selbst verantwortlich ist. Doch es ist schwer, wenn man dabei auf einen anderen achten muss. Dass Yoshio diesen Parcours nicht geschafft hat, war nicht seine, sondern deine Schuld. Nicht er, sondern du hast versagt. Durch dein Versagen wurde Yoshio verletzt. Denn aufgrund seiner Unerfahrenheit kann er so etwas ohne deine Hilfe gar nicht bewältigen. Das ist die Aufgabe der Stärkeren: den Schwächeren zu helfen und sie zu beschützen! Und jetzt fang nochmals von vorn an!“
 

Zerknirscht leistete Seto der Aufforderung Tamahatos Folge und machte sich erneut daran mit Yoshio den Hindernisparcours zu durchqueren. Widerstrebend behielt er den Wolfshundmischling nun dabei wachsam im Auge, warnte ihn vorzeitig, half ihm, wenn er mit etwas nicht zurecht kam, und schirmte ihn gegebenenfalls vor Gefahren ab. Da die beiden auf diese Weise weitaus besser und schneller voran kamen, gewährte Seto seine Hilfe bald bereitwilliger und störte sich schließlich nicht einmal mehr an der Tatsache, dass er nun häufiger Blessuren kassieren musste. Dadurch gewann Yoshio, der sich jetzt kaum mehr vor Verletzungen fürchten musste, zunehmend an Vertrauen. Letztendlich empfanden beide sogar Freude und Stolz, als sie gemeinsam das letzte Hindernis gemeistert hatten und unversehrt durch den Parcours gekommen waren. Auch wenn keiner von ihnen das offen zugab.

Zum Abschluss seines lehrreichen Unterrichts stellte Tamahato seine beiden jugendlichen Schüler noch vor eine ganz besondere Herausforderung. Erneut schickte er sie durch den Hindernisparcours, dieses Mal allerdings zu dritt, zusammen mit Sesshoumaru. Für den kleinen Dämonenprinzen waren fast alle Hindernisse eigentlich zu schwer, aber diese Tatsache war ihm entweder nicht bewusst oder völlig gleichgültig. Er ließ sich nicht davon abhalten immer alles als Erster und allein ausprobieren zu wollen. Hilfe nahm er nur äußerst ungern in Anspruch und so wurde es eine extrem anstrengende Aufgabe für Seto und Yoshio, als sie Sesshoumaru oft nur im letzten Augenblick vor Verletzungen schützen konnten.

Für Tamahato, der das Training sorgsam überwachte, war das ein unterhaltsames Schauspiel. Erst ein Wachposten, der wild gestikulierend auf ihn zu gerannt kam, lenkte seine Aufmerksamkeit ab.

„Tamahato... äh, ich meine Tamahato-sama...“ Trotz seiner Hast vergaß der Wachsoldat nicht, dass der alte Soldat momentan die höchste Befehlsgewalt im Schloss inne hatte und dementsprechend ehrerbietig angesprochen werden musste.

„Was ist denn los?“

„Wölfe...“ brachte der Krieger aufgeregt hervor, „wir wissen nicht wie und woher, aber ein Rudel Wölfe ist an der Südmauer aufgetaucht. Sie haben es irgendwie geschafft den Schutzbann des Schlosses zu durchbrechen. Es ist kaum zu glauben, aber... Wir werden angegriffen!“
 


 

Soweit das dritte Kapitel.

Ob die jungen Hundedämonen wohl etwas aus Tamahatos lehrreichen Lektionen gelernt haben? Weise Ratschläge des Alters sollte man beherzigen, aber die Jugend besitzt eben auch viel Vorwitz und ist nur schwer zu bändigen.

Im nächsten Kapitel werden alle im Schloss des Westens auf eine Bewährungsprobe gestellt. Es gibt Ärger, unvermeidlichen Streit und endlich mal wieder ein bisschen Action. Denn nun steht der Auftakt zu einem geheimnisvollen Intrigenspiel bevor...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Stärke

Wieder einmal: Herzlichen Dank für alle bisherigen Kommentare!

Letztes Kapitel habe ich euch einen kleinen Cliffhanger beschert, das sonst so Frieden gewohnte Schloss des Westens wird von Wölfen angegriffen, während der Inu no Taishou auf Kriegszug außer Haus ist. So langsam kommt die Geschichte nun ins Rollen...^^

(Zusatzbemerkung: in diesem Kapitel tauchen erstmalig wieder zwei neue, japanische Fremdwörter/Fachbegriffe auf. Die Erklärungen dazu findet ihr –falls überhaupt nötig- in der Fremdwörter-Liste am Anfang der Story, also vor dem ganzen Text im Prolog.)
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 4: Stärke
 

Wölfe?

Für einen kurzen Moment glaubte Tamahato nicht recht zu hören.

Ein Rudel Wölfe versuchte einen Angriff auf den Herrschaftssitz des Westens?

So etwas hatte schon lange niemand mehr gewagt. Am wenigsten zu erwarten war das von Wolfsdämonen, die eigentlich immer noch ihre Wunden aus einem längst vergangenen und weitgehend vergessenen, aber dafür sehr vernichtenden Krieg leckten.

Und wie waren die Angreifer durch den schützenden Bannkreis gekommen, der das ganze Schlossgelände von der Außenwelt abschirmte?

Auch das kam völlig unerwartet, denn Wolfsdämonen waren zwar sehr raubeinige, nicht zu unterschätzende Kämpfernaturen, aber in Sachen Magie gewöhnlich eher Nieten. Von den Möglichkeiten einen Bannkreis zu erschaffen beziehungsweise zu brechen, hätten sie eigentlich nur wenig Ahnung haben dürfen.

Das alles bedeutete wahrscheinlich, dass jemand anderes den Wölfen geholfen hatte. Folglich gab es vielleicht sogar eine doppelte Bedrohung, äußerste Vorsicht war geboten.
 

Blitzschnell hatte Tamahato die ganze Situation und die Gefahr analysiert, doch aus der Fassung bringen ließ er sich davon nicht. Er war ein sehr erfahrener Dämonenkrieger und daher immer auf alle Eventualitäten vorbereitet.

„Verriegelt sämtliche Zugänge des inneren Schlosskreises“, befahl er dem vor ihm knienden Soldaten, „die dazugehörigen Wachen bleiben für die nötige Rückendeckung hier und beziehen ihre Posten auf den Dächern. Die Außenwache hat die Eindringlinge sicherlich schon empfangen. Ich werde diesen Empfang noch etwas festlicher gestalten. Die Eliteeinheit der Veteranen soll sich aufteilen und sich beiderseits des angegriffenen Walls positionieren. So nehmen wir den Feind in die Zange!“

Während der Untergebene fort eilte, um die Befehle an alle Kämpfenden weiter zu geben, wandte sich Tamahato an seine drei Schüler:

„Ihr zieht euch sofort mit der kampfunfähigen Dienerschaft ins Haupthaus zurück. Sollte es den Angreifern gelingen uns zu besiegen und bis hierher vorzudringen, werden sie für eine weitere Weile von den Wachen des inneren Schlosskreises aufgehalten werden. So ist eure Flucht gedeckt, sollte es zum Schlimmsten kommen. Dabei wird euch das Schloss selbst schützen und unsere Ahnen werden euch am Ende den Weg weisen.“

„Nein, das mach ich nicht“, protestierte Seto, „ich verkriech mich doch nicht wie eine Maus in ihrem Loch und dreh Däumchen, ich werde natürlich auch kämpf...“

„Hast du was an den Ohren?“ brüllte Tamahato aufbrausend zurück: „Ich habe hier zur Zeit die Befehlsgewalt und du tust sofort, was ich sage, verstanden?! Ich dulde keinerlei Widerspruch! Wenn du nicht augenblicklich zusammen mit Yoshio-san und Sesshoumaru-sama im sicheren Schloss verschwindest, richte ich dich auf der Stelle wegen verräterischer Gehorsamsverweigerung hin!“

Unwillkürlich wich der jüngere Soldat leicht eingeschüchtert vor seinem älteren Kampfgefährten zurück. Erstmalig bekam Seto eine Ahnung davon, warum Tamahato als einer der besten und gefährlichsten Dämonenkrieger überhaupt galt. Sein kurzfristig zu spürendes, aufwallendes Youki unterstrich seine Autorität imposant. Niemand mehr wagte daraufhin weitere Einwände zu erheben, nicht einmal der kleine Kronprinz.
 

Sesshoumaru und Yoshio zogen sich folgsam ins herrschaftliche Hauptgebäude zurück. Geknickt schloss sich Seto ihnen an. Er wollte gerade die Treppe zum vorderen Hauseingang betreten, als er Tamahatos zurückhaltende Hand auf seiner Schulter spürte.

„Lass Sesshoumaru-sama nicht eine einzige Sekunde aus den Augen“, sagte der alte Soldat nun leise, seine Stimme klang auf einmal erstaunlich sanft und zudem sehr eindringlich: „In einem akuten Gefährdungsfall so wie jetzt übernimmst du als Leibwächter die Rolle von Sesshoumarus Vater. Daher ist der Fürstensohn momentan verpflichtet deinen Anweisungen zu folgen und du musst alles tun, um ihn zu behüten. Nichts anderes darf dir mehr wichtig sein, weder Ruhm noch Ehre, noch Stolz, noch du dir selbst. Nur eines zählt: das Leben deines Schützlings! Vergiss das niemals, du bist jetzt der erste und letzte Wächter des einzigen Thronerben, die Zukunft unseres Landes und des gesamten Hundeclans liegt in deinen Händen!“

Schlagartig löste sich Setos Unmut in Luft auf. Die Ernsthaftigkeit von Tamahatos Worten erwischte ihn eiskalt und machte ihm die Verantwortung, die er trug, bewusst. Plötzlich bekam er regelrecht Angst. So senkte der junge Hundedämon stumm nickend den Kopf. Trotzdem war seine Enttäuschung, dass er beim bevorstehenden Kampf nicht dabei sein durfte, unübersehbar.

Aufmunternd gab Tamahato seinem jugendlichen Kameraden einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken und schenkte ihm eins seiner seltenen, liebevollen Lächeln.

„Keine Sorge, Partner, irgendwann bekommst du schon noch deine Chance und du wirst es packen. Und jetzt ab mit dir und pass auf dich auf. Bis nachher... hoffentlich.“

Das letzte Wort hörte Seto nicht mehr, denn das sagte Tamahato nur noch flüsternd zu sich selbst. Dann war der alte Dämonenkrieger fort.
 

Seto eilte ins Herrenhaus und suchte pflichtbewusst nach Sesshoumaru. Der kleine Dämonenprinz befand sich auf der weitläufigen Balkonterrasse, die zu seinem Privatgemach gehörte, um von dort zusammen mit Yoshio alle weiteren Ereignisse zu beobachten.

Neugierig gesellte sich Seto hinzu. Zu seiner Enttäuschung war von dem entfernten Kampfgeschehen allerdings kaum etwas zu sehen, da der ringartige Gebäudekomplex, der das herrschaftliche Haupthaus schützend umschloss, den Ausblick verstellte. Nur mehrere Staubwolken, vereinzelte Explosionen und laute, jaulende Schreie wiesen darauf hin, dass es außerhalb des inneren Schlosskreises kriegerisch zuging.

„Diese Wölfe machen ja ein ganz schönes Geschrei“, bemerkte Seto nach einer Weile: „Warum jaulen die denn so? Wollen sie mit diesem Geheule etwa ihre Gegner einschüchtern?“

„Ich weiß nicht“, meinte Yoshio, „ich habe bisher noch nie einen Wolfsdämon gesehen.“

„Dann hast du wohl noch nie in einen Spiegel geguckt“, erwiderte Seto herablassend, „viel Unterschied zu dir ist da nicht. Hast du dir denn auch nie den Elternteil angeschaut, der dir dein Wolfsblut vererbt hat?“

„Ich erinnere mich nicht mehr an meine Eltern“, erklärte Yoshio mit schmerzlichem Unterton, „ich weiß nicht einmal, wer sie eigentlich waren. Ich glaube, sie sind tot.“

„Wundert mich nicht. So eine verräterische Verbindung zwischen zwei verfeindeten Dämonenrassen war für beide Seiten sicher untragbar. Dummes Pech für dich, mit so einer Schande leben zu müssen.“

Yoshio erbleichte, Setos Worte trafen ihn wie ein Peitschenhieb. In unterdrücktem Schmerz und Zorn zitternd stützte er sich auf das Balkongeländer. Seine Hände krallten sich so fest in das Holz, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Ein Hundedämon, in dessen Familienstammbaum ein Hanyou auftaucht, sollte lieber nicht über Schande reden“, sagte in diesem Moment eine kindliche Stimme kühl.

Unvermittelt wurden Setos Ohren flammend rot. Angespannt wandte er sich um und sah zu Sesshoumaru. Der kleine Dämon hatte sich abseits mit überkreuzten Beinen auf den Balkonboden gesetzt und blickte seinem Leibwächter herausfordernd entgegen. Hinterhältig lächelnd sprach er danach weiter:

„Du dachtest wohl, du kannst das verheimlichen? Aber ich weiß alles über dich. Dein Großvater war ein sehr triebgesteuerter Hund, der keinem weiblichen Wesen widerstehen konnte. Er hat sogar Menschenfrauen zu seinen Konkubinen gemacht und eine davon zu allem Überfluss auch noch geschwängert. Und weil er seinen Halbblutsprössling nicht beseitigt hat, sich aber auch nicht zu ihm bekennen wollte, ist der Hanyou irgendwann durchgedreht und hat sich für sein unerwünschtes Dasein gründlich gerächt... eine wirklich fatale und beschämende Episode in deiner sonst so ehrenvollen Herkunftsgeschichte...“

Völlig geschockt starrte Seto den Dämonenprinzen an. Er konnte es nicht glauben. Wie hatte der Kleine etwas von diesem streng gehüteten Familiengeheimnis erfahren können?

„Du hast einen Hanyou-Onkel?“ fragte Yoshio und musterte Seto voller Erstauen. Das waren ja interessante Neuigkeiten!

„Diesen Hanyou gibt es nicht mehr und er war niemals mein Onkel!“ antwortete Seto entrüstet: „Das Ganze ist schon ewig her und alle, die mit dieser Familienschande zu tun hatten, sind längst tot. Das geht euch beide überhaupt nichts an!“

„Wenn das so ist, dann geht dich Yoshios Herkunft zukünftig auch nichts mehr an“, kommentierte Sesshoumaru die Antwort seines wütenden Leibwächters und lächelte wieder bösartig.

Mit aller Macht, die er aufbringen konnte, rang Seto um seine Selbstbeherrschung, denn er konnte seine Streitlust kaum mehr zurückhalten. Langsam, aber sicher trieb ihn der kleine Dämon, den er behüten sollte, in den Wahnsinn. Es war erschreckend, dass Sesshoumaru von Dingen wusste, die er insbesondere in seinem Alter gar nicht hätte wissen dürfen. Noch erschreckender war die Tatsache, wie geschickt und mutwillig der Prinz sein Wissen gezielt als Waffe einsetzte. Selbst wenn er noch ein Kind war, war er sich seiner Macht und der Nutzbarkeit dieser Macht schon mehr als bewusst. Das war geradezu unheimlich. Und überaus ärgerlich. Seto war noch nie gut im Verlieren und Nachgeben gewesen. Am allerwenigsten gönnte er so einen Triumph einer halben Portion mit derartiger Arroganz.

Erbost überlegte der junge Soldat, was er entgegnen konnte, um Sesshoumarus Überheblichkeit einen Dämpfer zu verpassen. Doch ihm wollte partout nichts einfallen. Mit heiklen Familiengeschichten über den Hundeherrn konnte er jedenfalls nicht kontern, denn da gab es nichts zu lästern. Über Sesshoumarus Mutter konnte Seto nichts sagen, weil er über sie, genau wie Sesshoumaru selbst, nichts wusste. Aber sie war offensichtlich eine hochrangige und sicher reinblütige Hundeyoukai gewesen. Wer sie genau war und was letztendlich aus ihr geworden war, wusste niemand, sie galt als verschollene Unbekannte und war wahrscheinlich tot. Abgesehen von diesem blinden Fleck bezüglich seiner Gefährtin wies der bisherige Lebenslauf von Sesshoumarus Vater keinerlei peinliche Makel auf, jedenfalls waren keine bekannt. Der Inu no Taishou war ein nahezu perfekter Herrscher, das mussten sogar seine Feinde anerkennen, niemand wurde so sehr bewundert und beneidet wie er.
 

„Ich glaube, der Kampf wird gefährlicher.“

Mit dieser Feststellung versuchte Yoshio von der angespannten Streitsituation abzulenken und die Aufmerksamkeit zurück zur aktuellen Bedrohung vor dem Schloss zu richten.

„Spürt ihr diese gewaltigen Ansammlungen von dämonischer Energie? Weder die Angreifer noch unsere Leute wollen offenbar aufgeben. Das gibt bestimmt viele Tote. Aber es ist nun so seltsam ruhig. Was mag da wohl vor sich gehen?“

„Egal, was da vor sich geht, wir werden gewinnen“, behauptete Seto, auch wenn er tief in seinem Innersten nicht ganz so sicher war und zunehmend Besorgnis in sich aufsteigen fühlte. Irgendwas stimmte da nicht. Zu seiner eigenen Beruhigung redete er schnell weiter:

„Unsere Verteidiger sind fast alle sehr starke, erfahrene Veteranen. Insbesondere Tamahato. Den kann keiner besiegen.“

„Mein Vater kann ihn besiegen“, stellte Sesshoumaru klar, „und ich werde das auch bald können.“

Diese beiläufige, selbstbewusste Meinungsäußerung war zuviel für Seto und brachte seinen angestauten Groll letztendlich zum Überkochen.

„Ich fürchte, das dauert noch ein paar Jahre“, sagte er mit zuckersüßer, extra höflich betonter Stimme und maß Sesshoumarus kindlichen Körperbau dabei mit abschätzigen Blicken: „Bis Ihr Euch mit jemanden wie Tamahato messen könnt, müsst Ihr erst noch ein wenig wachsen, Sesshoumaru-sama. Denn so reicht Ihr leider gerade an die Höhe von meinem Schwertarm heran und das macht es äußerst leicht Euch den Kopf abzuschlagen. Würdet Ihr gegen einen der angreifenden Wolfskrieger kämpfen müssen, würde das wahrscheinlich nicht länger als einige Wimpernschläge dauern.“

„Ja, denn Sesshoumaru hätte alle Wölfe in wenigen Wimpernschlägen getötet“, warf Yoshio hastig ein und wandelte Setos provozierende Behauptung so in einen Scherz um. Begütigend lächelte er danach den kleinen Prinzen an:

„Beachte diesen Idioten gar nicht! Der redet nur Schwachsinn.“

Sesshoumaru sagte nichts mehr. Schweigend stand er auf und ging in sein Zimmer. Dort setzte er sich neben seine Bettstatt und sah starr auf die gegenüberliegende Holzwand.
 

Yoshio packte Seto am Handgelenk und zog ihn ein Stück fort, aus der Sicht- und Hörweite von Sesshoumarus Raum.

„Sag mal, spinnst du?“ zischte der Wolfshundedämon: „Was sollte denn diese bescheuerte Bemerkung? Hast du überhaupt keinen Respekt? Wieso legst du dich ständig mit jedem an? Was befriedigt dich denn daran, wenn du ein Kind beleidigst und ihm damit wehtust?“

„Ich habe ihn nicht beleidigt, ich habe diesem frechen Fürstenbengel nur die Wahrheit gesagt“, machte Seto deutlich: „Außerdem hat er mit dem Provozieren angefangen. So ein Spiel mache ich jedoch nicht mit. Ich bin ein treuer Untergebener meines Herrn und erfülle meine Pflicht, aber ich lass nicht auf mir herumtrampeln. Wenn das dem Kleinen nicht passt, soll er sich bei seinem Vater beschweren und sich einen neuen Leibwächter zuteilen lassen. Ich war schließlich niemals scharf auf diese ehrenwerte Aufgabe.“

„Pah, du bist bloß sauer, weil dir Sesshoumaru mit deinem Hanyou-Onkel erfolgreich eins ausgewischt hat und du so keine Chance mehr hast dich über Schwächere wie mich lustig zu machen. Es stört dich, dass ein kleiner Junge es mit dir aufnehmen kann und dabei genauso anmaßend ist wie du. Mit einem Unterschied: Sesshoumaru kann sich Arroganz leisten, du dagegen nicht!“

„Du nervst, Wolfi, lass mich in Ruhe!“

„Gerne. Du bist mir eh zu blöd.“
 

Zur Bestätigung seiner letzten Worte drehte sich Yoshio demonstrativ um, er wollte den Balkon verlassen und zu Sesshoumaru ins Zimmer gehen. Doch vor einer der geöffneten Schiebetüren stockte er mitten in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich, als er voller Entsetzen in das Gemach des Kronprinzen blickte.

„Oh nein...“

„Was ist denn?“ Abfällig begutachtete Seto den versteinerten Wolfshundedämonen aus den Augenwinkeln.

„Sesshoumaru...“ brachte Yoshio flüsternd heraus: „Er ist weg...“

„WAS?!“ In einem einzigen Satz sprang Seto zum Zimmer, schubste Yoshio beiseite und rannte in den leeren Raum.

„Verflucht noch mal, dieses kleine Ungeheuer macht mich verrückt! Wo ist er hin?“

„Ist doch klar, wo er hin ist“, regte Yoshio sich auf, „draußen auf dem Weg ins beste Kampfgetümmel ist er. Und warum? Weil du ihn verletzt hast, indem du ihm sein noch unterentwickeltes Können unter die Nase reiben musstest! Jetzt will er natürlich beweisen, dass er gegen jeden Feind bestehen kann. Hoffentlich hast du eine gute Entschuldigung parat, wenn wir Inutaishou den Tod seines einzigen Sohns erklären müssen.“

„Hör sofort mit deinen Schuldzuweisungen auf“, fuhr Seto den Wolfshunddämonen an, „ich kann nix dafür, wenn das Prinzchen plötzlich abhaut. Mag ja sein, dass ich etwas taktlos war, aber das ist noch längst kein Grund sich heimlich zu verdrücken. Diesen Ärger hast du mir eingebrockt, weil du mich mit deinem Gelaber abgelenkt hast. Wieso hast du stattdessen nicht besser aufgepasst, was Sesshoumaru tut?“

„Bin ich sein Leibwächter oder du? Und der Prinz ist schließlich noch ein Kind, du kannst ihn nicht für seine Unbesonnenheit verantwortlich machen. Sieh lieber zu, dass du ihn schleunigst findest!“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen.“
 

Knurrend hetzte Seto aus dem Zimmer in die Schlossflure und nahm Sesshoumarus Witterung auf. Glücklicherweise hatte der Verschwundene nicht sein Talent im Spuren verwischen ausgenutzt. So konnte Seto der Fährte des Fürstensohns problemlos folgen. Anlass zur Freude hatte der jugendliche Leibwächter deshalb trotzdem nicht, denn sein kleiner Schützling hatte genau das getan, was Yoshio vermutet hatte. Sesshoumaru war tatsächlich nach draußen gelaufen, in Richtung des dort stattfindenden Kampfgeschehens.

„Schöne Scheiße“, murmelte Seto und verließ den inneren Schlosskreis. Seine Großspurigkeit war auf einmal wie weggeblasen, als er registrierte, dass alle Wachen, die im Umkreis des herrschaftlichen Hauptgebäudes hätten postiert sein müssen, fort waren. Offenbar waren mittlerweile sämtliche verfügbaren Verteidigungskräfte mobilisiert worden. Folglich mussten die feindlichen Angreifer überraschend weit vorgedrungen sein. Im Gegensatz dazu war es beängstigend still. Auch von dämonischen Energien war vergleichsweise wenig zu spüren. War die Verteidigung etwa schon zusammengebrochen und überwältigt worden?

„Tamahato...“ flüsterte Seto erstickt. War der alte Soldat etwa tot?

Doch über all das durfte der junge Hundedämon nicht weiter nachdenken. Seine einzige Aufgabe war Sesshoumaru wieder zu finden und zu beschützen. Wenn dem Fürstensohn etwas geschah, konnte sich Seto sofort selbst ein Grab schaufeln. Sofern es dann noch irgendwo einen Platz für seine letzte Ruhestätte gab. Einem pflichtvergessenen Dämonenkrieger wurde kein ehrenvolles Begräbnis gestattet. Selbst nach Jahrhunderten würde jeder verächtlich auf Setos Gebeine spucken.
 

In wachsender Verzweiflung hastete der unglückliche Leibwächter weiter und erreichte einen bewaldeten, ziemlich düster wirkenden Parkbereich. Sämtliche Instinkte des Hundedämonen warnten vor Gefahr. Seto beschleunigte seinen Lauf und entdeckte kurz darauf Sesshoumaru, der sich prüfend auf einer kleinen Lichtung umsah. Blitzschnell rannte Seto zu ihm.

„Sesshoumaru-sama! Bleibt stehen! Sofort... Ich befehle es Euch!“

Der kleine Dämonenprinz wandte sich zu Seto um. Seine goldenen Augen funkelten vor Wut und Feindseligkeit.

„Du hast mir gar nichts zu befehlen. Verschwinde!“

„Oh doch, ich darf dir sehr wohl etwas befehlen, Kleiner!“ Seto erinnerte sich an Tamahatos Worte: „Als dein Leibwächter übernehme ich in einem akuten Gefährdungsfall kurzfristig die Rolle deines Vater. Daher bist du verpflichtet meinen Anweisungen zu folgen. Ich bin für deinen Schutz verantwortlich und ich werde nicht verschwinden, egal, was du machst. Wenn du mich los sein willst, musst du mich schon umbringen!“

Sesshoumaru hob seine rechte Hand und knackte mit seinen krallenbewehrten Fingern.

„Na gut, wenn du das unbedingt so willst...“

In diesem Moment jedoch kniete sich Seto überraschenderweise vor dem Dämonenkind nieder. Er schluckte mühsam all seinen Stolz hinunter und bot unterwürfig seine Kehle dar.

„Tu mit mir, was dir beliebt. Ich nehme jede Strafe für mein ungebührliches Verhalten an. Doch vorher erlaube mir, dich in Sicherheit zu bringen. Ich bitte dich darum, im Namen deines ehrenwerten Vaters sowie all jener, die sich für die Verteidigung des Schlosses und für dich opfern.“

Nach diesen flehenden Worten, die auszusprechen Seto am meisten Überwindung gekostet hatte, blickte der junge Krieger demütig zu Boden und wartete.
 

Einige, scheinbar ewig andauernde Sekunden vergingen, dann war ein leises, abfälliges „Keh!“ zu hören.

Seto sah wieder auf und hätte vor Erleichterung am liebsten geseufzt. Sesshoumaru hatte nachgegeben und ging nun von der Lichtung weg, zurück in Richtung des Herrenhauses.

Aber die Hoffnung, dass damit alle möglichen Gefahren vorerst überstanden waren, erwies sich rasch als trügerisch.
 

Es war nur eine Ahnung, ein unbestimmtes Gefühl, weniger wirkliches Wissen, das Seto plötzlich aufspringen und Sesshoumaru hinterher sprinten ließ. Ohne Nachdenken und Zögern stürzte er sich auf den Fürstensohn und warf sich mit ihm zu Boden. Ein Speer streifte Seto und verletzte ihn an der rechten Schulter, eine weitere Lanze bohrte sich knapp links neben den beiden Hundedämonen in einen Baum.

„Das ging daneben! Könnt ihr Wolfstölpel denn nicht besser zielen?“

Die ärgerliche, sehr tief klingende Stimme, die das gesagt hatte, jagte Seto einen Schauer über den Rücken. Eine dämonische, nicht gerade harmlose Dämonenaura war zu spüren. Hastig stand der jugendliche Soldat auf, stellte sich schützend vor Sesshoumaru und zog sein Schwert.

Gegenüber den beiden Hundedämonen tauchte jetzt ein breitschultriger, muskulöser Mann in einer schuppenartigen Rüstung auf. An den Beinen trug er hohe, gepanzerte Schienen, über seinem Rücken hing ein dunkler, bläulich schimmernder Federmantel, unter dem sich zwei breite Schwerter verbargen. Seine hüftlangen, offenen Haare waren ebenfalls tiefblau mit Ausnahme einer einzigen feuerroten Strähne, die zu seinen kurzen Stirnhaaren gehörte und ihm über das linke seiner schwarz glänzenden Augen fiel. Seto wusste nicht, welcher Rasse der Unbekannte angehörte, aber er war zweifelsfrei dämonischen Ursprungs und wirkte keinesfalls freundlich. Zudem war er nicht allein, zwei groß gewachsene, mit Fellen bekleidete Wolfsdämonen begleiteten ihn und traten nun höhnisch grinsend vor.

„Guck dir das an“, sagte einer der Wölfe zu seinem Kumpan, „die Hunde haben wohl mittlerweile ihre letzten Kräfte aufbieten und nun sogar Kinder in den Kampf schicken müssen. Wir haben Glück, unsere Aufgabe gestaltet sich leicht.“

„Ja...“ sagte der zweite Wolfskrieger, musterte Seto kurz abschätzig, sah sich dann Sesshoumaru genauer an und stutzte erfreut: „Unser Glück ist sogar unglaublich. Rate mal, wer der Kleine da ist... Das ist der Welpe vom Inu no Taishou höchstpersönlich!“

„Worauf wartet ihr?“ ließ sich der unbekannte Dämon mit der tiefen Stimme hinter den Wölfen vernehmen: „Schnappt euch das Hundebaby. Tötet den anderen!“

„Kommt nur und ich mache Hackfleisch aus euch!“ schrie Seto, obwohl er wusste, dass seine Drohung wahrscheinlich eher lächerlich wirkte. Immerhin war er mindestens einen Kopf kleiner als die beiden hünenhaften Wolfsdämonen. Andererseits verschaffte ihm diese alberne Wirkung einen Vorteil: die Angreifer unterschätzten ihre vermeintlich leichte Beute gründlich.

Der erste Wolfskrieger nahm sich Seto vor und startete einen heftigen Klauenangriff. Aber statt sein Opfer zu zerfetzen, landete er frontal in einem Baum. Der junge Hundedämon war blitzschnell ausgewichen und verpasste seinem unüberlegten Gegner nun zusätzlich noch einen Schwerthieb auf den Rücken. Der Wolfsdämon brüllte kurz auf und versuchte wutschnaubend eine neue Attacke. Sein Kumpan wollte derweil Sesshoumaru packen.

Den kleinen Dämonenprinzen schien das nicht schrecken zu können. Gelassen wirkend hob er einen der beiden zuvor auf ihn und Seto geworfenen Speere auf und erwartete damit ruhig seinen Angreifer. Dieser stockte daraufhin und begann zu lachen:

„Was willst du denn mit dem Spieß, Welpe? Leg die Waffe lieber wieder hin, sonst tust du dir noch weh. Du kannst mit der Lanze doch gar nicht umgehen, die ist viel zu groß und unhandlich für dich.“

„Das ist gleichgültig“, antwortete Sesshoumaru kühl, „ich muss mit der Lanze nicht umgehen können.“

Im nächsten Augenblick brach der kleine Dämon das obere Eisenstück der Lanze ab und schleuderte die abgebrochene Speerspitze seinem Feind wie ein Wurfmesser entgegen. Das perfekt geworfene, spitze Geschoss traf die Brust des überraschten Wolfsdämonen und bohrte sich zielgenau zwischen den Rippen in sein Herz. Mit einem gurgelnden, erstickten Laut brach er tot zusammen.

Der Wolfsdämon, der sich weiterhin vergeblich gegen Seto abgemüht hatte, sah ungläubig zu seinem fallenden Kameraden. Sein letzter Fehler, denn Seto nutzte diese Ablenkung sofort für einen vernichtenden Schwerthieb.
 

„Oho, ich sehe, ich habe hier zwei bissige, wehrhafte Köter. Eindrucksvoll!“

Damit mischte sich der unbekannte Dämon ein. Er zog seine beiden am Rücken befestigten Schwerter hervor und überkreuzte sie. Ein grelles Licht erstrahlte und blendete Seto. Daher sah er nicht, wie der Fremdling ihm entgegen sprang, sondern bemerkte nur reflexartig dessen Armbewegung und riss schnell sein Schwert hoch. Eines der beiden, breiten Schwerter des Fremden krachte gegen Setos Klinge. Der junge Hundedämon brach vor der gewaltigen Kraft, die diesem Angriff innewohnte, in die Knie. Gleichzeitig hörte er einen kurzen, leisen Jaullaut und spürte, wie neben ihm jemand zu Boden fiel.

„Nein! Sesshoumaru... Tu ihm ja nichts, du Fiesling!“

Laut aufschreiend stemmte sich Seto gegen seinen Gegner, doch dessen Kraft schien unermesslich zu sein. Flüchtig sah Seto in das Antlitz des Feindes. Dessen Gesicht hatte sich verzerrt und glich einem hämischen Raubvogel.

„Du dummer Hundejunge...“ sagte er.

Dann wurde das blendende Licht wieder heller und Seto sah und hörte nichts mehr.
 


 

Soweit das vierte Kapitel.

Tja, das kommt davon, wenn man ungehorsam ist. Wer nicht hören kann, muss eben fühlen.

Im nächsten Kapitel wird sich zeigen, welche Folgen die Unbedachtheit für Seto und Sesshoumaru haben wird...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Enttäuschung

Vorbemerkung:

Zunächst bedanke ich mich mal wieder herzlich für alle bisherigen Kommentare.

Der diesmalige Kapiteltitel passt wahrscheinlich auch gut zum Gefühl einiger Leser, denn ich werde damit wohl alle enttäuschen, die nach meinem Cliffhanger eine actiongeladene Fortsetzung erwarten. Stattdessen ist das folgende Kapitel erstaunlich ruhig. Diese Geschichte steigert sich eben nur langsam und ich wollte nicht schon zu früh zu viel Pulver verschießen... (hoffentlich gefällt es trotzdem.^^° )...

Im letzten Kapitel griff ein Rudel Wölfe unerwartet das Schloss des Westens an. Dabei beweist der jugendliche, hundedämonische Leibwächter Seto diplomatisches Missgeschick, als er Sesshoumaru beleidigt und diesen so aus dem schützenden Schloss ins Freie treibt, wo der kleine Prinz prompt einigen Feinden begegnet. Seto, der dem gekränkten Erbprinzen schuldbewusst gefolgt ist, versucht sich und seinen Schützling gegen einen Unbekannten zu wehren. Aber vergeblich, der Gegner ist zu stark...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 5: Enttäuschung
 

Durcheinander wirbelnde Farben, wirre Gerüche, verschiedenste Rufe und zuletzt ein vogelartiges Kreischen waren Setos nächste bewusste Erinnerungen. Er glaubte kurz eine riesige, davon fliegende Schlange mit übergroßen, in Blau schimmernden Schwingen zu sehen. Daraufhin wurde ihm wieder kurzfristig schwarz vor den Augen, bis ihn jemand an den Schultern packte und kräftig schüttelte.

„Seto! Alles in Ordnung, Junge? Komm zu dir!“

Blinzelnd schlug Seto die Augen auf und sah in das besorgte Gesicht seines neben ihm knienden Partners.

„Tamahato... Ausnahmsweise bin ich echt mal froh dich zu sehen. Ich dachte schon, es hätte dich vielleicht erwischt. Was ist passiert? Konntet ihr den Angriff auf das Schloss abwehren?“

„Ja. Es war allerdings nicht leicht. Die Wölfe haben uns einen deftigen Kampf geboten und es gab schwere Verluste auf beiden Seiten. Aber wir waren gar nicht das eigentliche Ziel, der ganze Angriff war nur ein Ablenkungsmanöver. Dem wirklichen Feind bist du mit Sesshoumaru-sama in die Arme gelaufen. Was, um alles in der Welt, habt ihr beide hier draußen gemacht? Ich hatte euch doch befohlen im Schloss zu bleiben!“

„Sesshoumaru-sama! Oh, nein... Was ist mit ihm?“

Bei dieser Frage setzte Seto sich kerzengerade auf und sah sich hektisch nach dem Dämonenprinzen um. Erleichtert entdeckte er ihn einige Meter neben sich, ein weiterer Hundedämon half dem sehr benommenen wirkenden Jungen gerade beim Aufstehen.

„Ihm ist nichts passiert“, sagte Tamahato, „er war nur ohnmächtig. Das wäre allerdings anders ausgegangen, hätte euer Gegner ihn nicht nur bewusstlos geschlagen, sondern wirklich töten wollen. Und für dich wäre sowieso beinahe jede Rettung zu spät gekommen!“

Mit Schaudern erinnerte sich Seto an das raubvogelartig verzerrte Gesicht und die enorme Kraft des fremden Dämons, gegen den er sich vergeblich zu verteidigen versucht hatte.

„Wer war der Kerl? Und was wollte er? Ist er tot?“

„Nein, er ist entwischt. Ich hatte ihn mit der Veteranen-Elite umstellt, aber er hat einen Bannkreis um sich erschaffen, hat sich verwandelt und ist geflüchtet. Er schien eine Art Mischung aus Vogel und Drache zu sein, wir wissen nicht, wer er war. Aber was er wollte, war deutlich. Er wollte den Erben des Westens haben und ihr beide seid ihm entgegen gekommen und habt ihm euch auf einem Silbertablett präsentiert!“

Beschämt sah Seto zu Boden.

„Es tut mir leid.“

Tamahato stand auf und wandte seinen Blick von Seto ab.

„Ich fürchte, damit ist es nicht getan. Ihr werdet euch beide vor dem Inu no Taishou verantworten müssen. Es ist seine Entscheidung, wie euer törichtes Tun zu beurteilen ist. Bis dahin werdet ihr im Schloss bleiben und eure Zimmer nicht verlassen. Ich werde dem Herrn einen Boten schicken, um ihm von dem Überfall auf das Schloss zu berichten. Dann werde ich alle Vorsichtsmaßnahmen verstärken. Hoffen wir, dass nicht noch Schlimmeres geschieht. Schließlich ist unser Fürst schon genug mit Akechis Aufstand beschäftigt, eine weitere Kriegsfront können wir wirklich nicht brauchen.“

Mit einem leisen Seufzen drehte sich der alte Soldat wieder zu Seto um.

„Wenn wir hier draußen fertig sind, schicke ich den Heiler zu dir. Er soll deine Schulterwunde behandeln. Die Feinde haben einen Teil ihrer Waffen vergiftet, woher auch immer die Wölfe dieses Gift hatten. Es wäre nicht gut, wenn du deinen Schwertarm verlierst. Sorge dafür, dass auch Sesshoumaru-sama eventuelle Verletzungen verarzten lässt und wenn du ihn dazu fesseln musst. Und jetzt verschwinde!“
 

Seite an Seite und mit gesenkten Köpfen kehrten Seto und Sesshoumaru, eskortiert von einigen Dämonenkriegern, ins Schloss zurück. Tamahato sah ihnen nach und schüttelte leicht den Kopf. Dieses Duo aus Leibwächter und Schutzbefohlenem würde sicher noch öfters Schwierigkeiten bereiten.

Doch ich werde schon mit euch fertig, dachte Tamahato. Sein Blick fiel auf die zwei Wolfsdämonen, die von Sesshoumaru und Seto getötet worden waren.

Ich werde nämlich niemals den Fehler begehen und euch beide sowie den Ärger, den ihr verursachen könnt, unterschätzen!
 

Zu Tamahatos und auch sonst jedermanns Erleichterung gab es nach dem missglückten Angriff der Wölfe keinen weiteren Ärger mehr. In den folgenden Tagen konnten sich die Bewohner im Herrschaftssitz des Westens daher in aller Ruhe auf die Beseitigung der Kampfesschäden konzentrieren und sich um die Verletzten kümmern. Die Krieger hatten für die erfolgreiche Verteidigung ihrer Heimstatt einen hohen Preis zahlen müssen, ein Drittel der gesamten Schlosswache sowie mehrere der zur fürstlichen Eliteeinheit gehörenden Veteranen waren tot. Von den überlebenden Kämpfern hatte fast jeder Verwundungen fort getragen. Eine erneute Bedrohung hätte fatal ausgehen können.
 

Umso erfreuter und beruhigter waren alle im Schloss, als daraufhin, nach vier Tagen, der Herrscher des Westens aus seinem Feldzug gegen den Aufrührer Akechi zurückkehrte. Dem Fürsten und seinen Getreuen war es gelungen die aufständische Armee niederzuschlagen. Einen kompletten Sieg hatte der Herr der Hunde allerdings nicht erringen können, denn Akechi und einige seiner Verbündeten waren entkommen. Zudem war auch hier die Abwendung der Gefahr teuer mit viel Blut und Leben bezahlt worden. Es war sehr fraglich, wie lange der unsichere Frieden andauern würde.

Über diese Dinge machte Seto sich allerdings nur wenig Gedanken, er sorgte sich eher um seine unmittelbare Zukunft. Er war als einziger nicht über Inutaishous Rückkehr erfreut. Denn nun würde er sich vor seinem Herrn für sein Versagen als Leibwächter rechtfertigen müssen und er musste zugeben, dass er mittlerweile höllische Angst davor hatte. Sicherlich wartete eine harte Bestrafung auf ihn. Mit Nachsicht und Milde konnte er dieses Mal wohl kaum rechnen. Wahrscheinlich konnte er froh sein, wenn er nur in Schande davongejagt werden würde. Es hatte schon Fälle gegeben, in denen ein Herrscher seine Untergebenen für geringere Vergehen zum Tode verurteilt hatte. Für den Herrn der Hunde war eine derartig radikale Vorgehensweise zwar unüblich, aber auch nicht auszuschließen. Wer wusste schon, wie Inutaishou reagierte, wenn er seinen einzigen Nachkommen in Gefahr sah.
 

Mit wachsender Furcht sah Seto deshalb dem Moment entgegen, dass er, wie Tamahato es angedroht hatte, zum Fürsten befohlen wurde. Als es endlich soweit war und ein Diener erschien, um ihn und den Erbprinzen zu holen, hatte der jugendliche Hundedämon schwere Mühen seine zittrigen Knie zu verbergen.

Seltsamerweise war jedoch nicht nur der junge Leibwächter, sondern auch Sesshoumaru nervös. Das fiel Seto aber erst auf, als sie zusammen im Vorzimmer zu Inutaishous Privatgemächern saßen und darauf warteten zum Hundeherrn vorgelassen zu werden. Voller Verwunderung betrachtete der Jugendliche seinen kleinen Schützling dabei heimlich genauer. Kein Zweifel, das Fürstenkind wirkte ebenso ängstlich. Aber ihm würde doch sicherlich nichts geschehen, er würde bestimmt auch nicht bestraft werden. Wovor also fürchtete er sich?
 

Die Zeit verging qualvoll langsam, bis endlich eine Schiebetüre zum Raum des Fürsten geöffnet wurde. Tamahato trat heraus, ihm folgten der Dämonenheiler Ieyasu und der junge Wolfshundedämon Yoshio.

„Der Herr erwartet euch“, sagte Tamahato, seine Stimme klang hart. Seto sah seinem Kampfgefährten in die Augen und versuchte etwas aus dessen Gesichtsausdruck zu deuten. Doch die Miene des alten Soldaten blieb ausdruckslos.

„Ich bleibe solange hier“, bemerkte der Heiler hinter Tamahato, „ich möchte sicherstellen, dass der Herr sich danach ausruht. Er braucht unbedingt mehrere Stunden Schlaf für eine schnelle Genesung, denn es steht schlimmer um ihn als es scheint und er selber zugeben möchte.“

„Ich werde dafür sorgen, dass der Fürst in den nächsten Stunden nicht mehr gestört wird“, beruhigte Tamahato und wandte sich mit Yoshio zum Gehen.

„Wurde der Inu no Taishou denn verletzt?“ platzte Seto neugierig heraus.

Auch Sesshoumaru war sehr überrascht und blickte aufhorchend auf.

Mit funkelnden Augen drehte sich Tamahato nochmals zu seinem jugendlichen Kameraden um.

„Hast du etwa immer noch nicht verstanden, wo du hier bist und in was für einer Situation wir uns befinden? Unser Fürst hat genau wie wir einen schweren Kampf hinter sich. Wir haben Krieg. Das ist kein spannendes Abenteuer, sondern eine todernste Sache, dabei fließt Blut! Langsam solltest du das begreifen. Und jetzt geh zum Herrn und hör auf dich wie ein kindischer Vollidiot zu benehmen. Übernimm endlich Verantwortung und mach mir keine Schande mehr!“

Seto schluckte und stand zusammen mit Sesshoumaru auf. In leicht geduckter Haltung betraten der junge Hundedämon und der noch jüngere Prinz Inutaishous Gemach.
 

Bis auf die überall im Schloss zu findenden, aufwendigen Schnitzereien, wirkte auch dieser Raum des Fürsten ziemlich einfach. Inutaishou hatte es nicht nötig seine Stellung durch Prunk zu untermauern. Sein im Zimmer deutlich zu spürendes, momentan offen gezeigtes Youki demonstrierte seine Macht deutlich genug.

Der Dämonenfürst saß auf einem gepolsterten Podest. Er trug eine ähnlich schlichte, überwiegend weiße Kleidung wie er sie getragen hatte, als Seto ihm das erste Mal begegnet war. Neben und hinter ihm lag ein dickes, flauschiges Fell, auf das er sich stützte. Beim näheren Herankommen bemerkte Seto, dass der Hundherr sein rechtes Bein in einer schonenden, leicht angewinkelten Haltung hielt und dass er einen seiner Arme fest gegen seinen rechten Oberkörper drückte. Das aufrechte Sitzen und das Atmen schien ihn anzustrengen. Für ein genaues, geübtes Auge war zudem zu erkennen, dass der Fürst unter seinem seidenen Haori Verbände trug. Offenbar hatte er an der gesamten rechten Seite schwere Kampfeswunden davongetragen, aber wie bedrohlich diese Verletzungen möglicherweise waren, konnte Seto nicht beurteilen. Denn von eventuellen Schmerzen ließ sich Inutaishou nichts anmerken. Mit äußerlich emotionslosem Gesicht und stählernen Augen beobachtete er, wie sich sein kleiner Sohn vor ihm in kniender Stellung auf den Boden setzte. Seto nahm in gebührenden Abstand hinter Sesshoumaru Platz und sah ehrerbietig nach unten.
 

Eine Weile herrschte Schweigen.

Schließlich wandte der Herr der Hunde seinen durchdringenden, goldenen Blick von seinem Sohn ab und sprach Seto an:

„Tamahatos Bericht zufolge hat ein unbekannter Dämon mit dem unerwarteten Wolfsüberfall auf das Schloss versucht Sesshoumaru zu entführen. Hat dieser Unbekannte etwas zu dir gesagt, das verraten könnte, wer er war oder in wessen Auftrag er handelte?“

„Nein, tut mir leid, Herr“, antwortete Seto gedämpft, „ich habe keine Ahnung. Sein Geruch oder seine dämonische Ausstrahlung war mir völlig neu, ich bin nie jemanden wie ihm vorher begegnet. Ich weiß nur, dass er sehr mächtig war...“

Voller Beschämung starrte der junge Krieger weiter auf den Boden.

„Ich hatte keine Chance gegen ihn...“

„Zumindest scheinst du deine Grenzen zu erkennen“, meinte Inutaishou daraufhin, „also bist du vielleicht noch kein völlig hoffnungsloser Fall. Erkläre mir bitte, wie du dich und meinen Sohn in solch eine gefährliche Lage bringen konntest! Laut Tamahato war euch beiden befohlen worden im Schloss zu bleiben.“

Seto biss sich auf die Unterlippe und suchte verzweifelt nach den passenden, erklärenden Worten. Lügen war unmöglich, schon allein deswegen, weil Tamahato und dieser Wolfshundemischling Yoshio dem Fürsten vorher bestimmt alles haarklein über den Vorfall erzählt hatten. Am besten war es wohl so genau wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, auch wenn Seto damit riskierte sich selbst zu verurteilen.

„Es war meine Schuld, Herr. Ich habe meine Pflicht vernachlässigt. Ich habe allerlei dummes Zeug geredet, dabei nicht richtig aufgepasst und Sesshoumaru-sama nach draußen gehen lassen.“

Der Dämonenfürst gab einen undefinierbaren Laut von sich und wandte sich nun an seinen kleinen Sohn:

„Warum hast auch du dich nicht Tamahatos Befehlen gebeugt?“

Sesshoumaru, der bisher keinen Muskel gerührt hatte und schweigend mit gesenktem Blick vor seinem Vater gesessen war, sah auf.

„Ich wollte kämpfen.“

„So... Kämpfen...“

Inutaishou sah beiseite. Sein Gesichtsausdruck blieb unergründlich wie die Tiefe der See. Seto fühlte ein merkwürdiges Unbehagen und stellte verwundert fest, dass dieses nun nicht mehr auf seine Angst vor einer Bestrafung zurückzuführen war, sondern auf ein ganz anderes Gefühl, das er zunächst nicht benennen konnte.
 

Erneut herrschte minutenlanges Schweigen.

Als der Fürst daraufhin wieder Sesshoumaru und Seto anblickte, waren seine goldenen Augen noch härter und auch sehr kalt geworden.

„Ihr beide wollt also kämpfen... Wisst ihr wenigstens auch, wofür? Und habt ihr euch auch schon mal überlegt, wofür andere kämpfen? In den letzten Tagen haben sehr viele beispielsweise für mich gekämpft. Jeder von ihnen hat mir seine Treue geschworen und sein Leben in meine Hände gelegt, im Vertrauen darauf, dass ich etwas, an das sie glauben, bewahre. Sie waren bereit für mich und ihre damit verbundenen Überzeugungen zu sterben, viele von ihnen sind dafür gestorben. Ihre toten Seelen sind nun ein Teil von mir und begleiten mich. Denn sie möchten sich überzeugen, dass ihr Tod nicht umsonst war. Und ich will sie diesbezüglich niemals enttäuschen müssen. Versteht ihr beiden, was ich damit meine? Denkt daran, bevor ihr euch das nächste Mal dermaßen töricht verhaltet, euch blindlings in Gefahr begebt und damit die Bemühungen derer, die um euretwillen kämpfen und sterben, zunichte macht... Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Und nun geht!“

Erstaunt schaute Seto auf. Das war alles? Keine Bestrafung? Nur ein Tadel und eine Warnung, sonst nichts? Im gleichen Augenblick begegnete er Inutaishous Blick und erschrak. Er konnte nicht genau sagen, was ihn daran eigentlich so entsetzte. Er spürte nur, wie sein Unbehagen, während er in die Augen des Fürsten sah, sich ins Unermessliche steigerte und sich in einen bitteren, bohrenden Schmerz verwandelte.
 

In diesem Moment stand Sesshoumaru auf, drehte sich schweigend um und verließ das Fürstengemach. Wie in Trance tat Seto es ihm gleich und folgte dem kleinen Prinzen. Mit jedem Schritt fühlte er sich dabei elender.

Nachdem sie im Vorzimmer angelangt waren, presste Sesshoumaru plötzlich seine Hände vor sein Gesicht, ein leises Schluchzen entfuhr ihm. Seto, der mit so einigem gerechnet hätte, nur damit nicht, sah perplex zur Seite und konnte es kaum glauben. Der sonst so selbstsichere Dämonenjunge litt, er war zutiefst am Boden zerstört und wirkte regelrecht verzweifelt.

„Ich habe ihn enttäuscht...“ flüsterte der Kleine erstickt, dann versagte ihm die Stimme.

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, fühlte Seto es erneut, dieses nur schwer zu fassende, unerträgliche Gefühl. Nun verstand er auch, um was es sich dabei handelte, und, dass er diesen Schmerz mit Sesshoumaru teilte.

„Nein, wir haben ihn beide enttäuscht“, fügte er leise hinzu.

Damit erkannte der junge Hundedämon, dass es schlimmere Dinge als eine direkte, körperliche Bestrafung gab. Er wusste jetzt, dass da jemand war, den er sehr verehrte, in dessen Augen er unbedingt gut dastehen wollte, für den er alles tun wollte, nur um seine Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erringen. Diese Person hatte er nun enttäuscht, diese Person hatte ihn mit Missfallen gestraft. Das war schlimmer als alles, das er sich je hätte vorstellen können. Und am liebsten hätte er wie Sesshoumaru geweint.
 

In ungewohnter Eintracht schlichen sich der junge Leibwächter und sein Schützling davon. Ihre Umgebung hatten sie offensichtlich komplett vergessen, denn sie achteten sonst auf nichts mehr. So bemerkten sie auch den Heiler Ieyasu nicht, der wartend im Vorzimmer saß und die beiden beim Verlassen des Fürstengemachs beobachtete.
 

Nachdem Seto und Sesshoumaru gegangen waren, stand Ieyasu kaum hörbar seufzend auf und begab sich direkt zu Inutaishou. Der Dämonenfürst schien sich nicht daran zu stören, dass sein Heiler nicht die gängigen Umgangsformen einhielt und unangemeldet ins Zimmer platzte. Er sah nur kurz auf.

„Keine Sorge, Ieyasu“, sagte er dabei, „du brauchst mir keine weiteren Vorhaltungen zu machen. Ich werde ganz brav sein und mich schonen, ganz so wie du es mir geraten hast.“

„Das freut mich, mein Herr“, erwiderte Ieyasu milde lächelnd: „Es wäre sonst auch sehr ungerecht von Euch andere dafür zu tadeln, dass sie sich in Gefahr bringen und nichts als Sorgen machen, während Ihr selbst Euch nicht anders verhaltet.“

Inutaishou legte den Kopf schief und fasste seinen Heiler fest ins Auge.

„Hast du etwa gelauscht, mein Freund?“

Ieyasu lächelte erneut und verneinte kopfschüttelnd.

„Das war nicht nötig. Ich musste mir nur die beiden zu Tode betrübten Hundewelpen anschauen, um zu wissen, was hier ungefähr vorgefallen ist.“

„Meinst du, ich war zu streng?“

Der Heiler blieb die Antwort zunächst schuldig. Stattdessen holte er eine kleine hölzerne Schale, einen Mörser und einige getrocknete Kräuter aus einem Beutel hervor, den er bei sich trug. Bedächtig setzte er sich danach neben seinen Herrn und begann die Kräuter in der Schale zu zerkleinern und zu einem feinen Pulver zu zermahlen.

„Irgendwie erinnert mich das alles sehr an einen jungen, ungestümen Hundedämonen“, begann Ieyasu nach einer Weile wieder zu reden: „Dieser Hundedämon hatte offenbar enormen Spaß daran, seine Freunde ständig in den Wahnsinn zu treiben, weil er sich immer ohne großartig nachzudenken in jedes Abenteuer stürzte. Er konnte es einfach nicht lassen. Er musste sich um alles selbst kümmern, scheute kein Risiko und steckte seine Nase wirklich überall hinein. Das konnte sehr nervig sein, aber es brachte auch viel Gutes mit sich. Denn der lästige Hund hasste Ungerechtigkeit. Er lehrte die Bösen das Fürchten und schenkte dem Land ein vorher nie gekanntes, sicheres Glück. Der Tatendrang dieses Hundes und sein Wille eine bessere Welt zu schaffen waren sehr ansteckend, so gewann er viele weitere Freunde, die ihn aufrichtig liebten und bereit waren ihm zu folgen, wohin immer er auch ging...“

Ieyasu beendete seine Erzählung und warf einen kurzen, lauernden Blick auf seinen Herrn. Als der jedoch keine Anstalten machte zu reagieren, führte der Heiler seine Rede fort:

„Wenn Ihr nach meinem Rat fragt, Herr, dann rate ich euch folgendes niemals zu vergessen: Liebe und Treue jeglicher Art ist ein wertvolles Geschenk. Diese Kostbarkeit gleicht einem mächtigen Schwert, das Euch zusätzliche Stärke verleiht. Aber darin liegt auch eine Gefahr, denn diese erlesene Waffe ist scharf und zweischneidig, so dass man sich leicht selbst daran verletzen kann. Geht Ihr nicht vorsichtig damit um, wird es Euch das Herz durchbohren.“

Inutaishous Gesicht nahm einen schwermütigen Ausdruck an.

„Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich von dir halten soll, Ieyasu!“ meinte der Fürst: „Ich glaube, es ist nicht gut, dass du mich und meine Schwächen so genau kennst. Ein Herrscher sollte keine Schwächen zeigen. Niemals und niemanden.“

„Da irrt Ihr Euch!“ erklärte Ieyasu bestimmt und griff nach einer Wasserkanne, die auf einer nahe gelegenen, kleinen und glimmenden Feuerstelle bereit stand. Ruhig füllte er heißes Wasser zu den in der Holzschale zermahlten Kräutern.

„Sagt mir, mein Herr, was ist eine Schwäche?“ fragte er dann: „Kann man das vorher beurteilen? Ich könnte Euch viele Beispiele nennen, in denen eine angebliche Schwäche sich letztendlich als Stärke erwies. Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, Ihr selbst seid ein leuchtendes Beispiel dafür.“

Das brachte den Herrscher des Westens zum Lachen.

„Schon gut, Ieyasu, hör auf! Mit dir zu diskutieren bringt nichts, dabei zieh ich nur den Kürzeren... Verrate mir lieber, was du da für ein Zeug zusammenbraust! Soll das etwa für mich sein? Willst du mich vergiften? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich das trinken werde, oder?“

Das Lächeln auf Ieyasus Lippen wurde breiter, es wirkte beinahe bösartig.

„Oh doch, Ihr werdet das trinken! Ansonsten, das verspreche ich Euch, werde ich das gewaltsam in Euch hinein befördern. Und ich warne Euch, mit widerborstigen Patienten habe ich eine Menge Erfahrung. Im Fall aller Fälle kann ich auf Fertigkeiten zurückgreifen, die Ihr Euch gar nicht vorstellen könnt!“

„Wozu brauche ich eigentlich noch Feinde, wenn ich solche Freunde habe“, beschwerte Inutaishou sich knurrend, „ein paar harmlose Kratzer auf dem Schlachtfeld und alle tun so, als läge ich auf dem Sterbebett...“

„Ob Eure Verletzungen harmlose Kratzer sind oder nicht, überlasst mal lieber dem Fachmann“, antwortete Ieyasu unbeeindruckt und reichte seinem Herrn die Schale mit dem frisch zubereiteten, dampfenden Kräutersud. Der Fürst nahm die Schale widerstrebend entgegen und schnupperte vorsichtig daran.

„Riecht ja grässlich... Gib es ruhig zu, das macht dir Vergnügen, du bist ein heimlicher Sadist!“

Ieyasu lächelte nur.
 

Nachdem Inutaishou getrunken hatte und Ieyasu die Holzschale zurückgegeben hatte, lehnte er sich ernster werdend in sein Fell zurück und teilte dem Heiler weiterhin offen seine Gedanken mit:

„Ich muss unbedingt herausfinden, wer meinen Sohn entführen wollte. Das könnte ich mir niemals verzeihen, stieße ihm etwas zu... Warum nur haben ausgerechnet Wölfe bei dem Überfall auf mein Schloss mitgemacht? Hoffentlich ist ihre Beteiligung an dem Ganzen nicht als Herausforderung zu einem neuen, großangelegten Krieg zu verstehen. Ich muss versuchen weitere Feindseligkeiten der Wölfe zu verhindern und mit ihnen verhandeln. Schließlich ist die Gefahr mit Akechi auch noch nicht gebannt und dessen Aufstand hat schon viel zu viele Opfer gefordert. Noch mehr kriegerische Auseinandersetzungen darf ich mir momentan nicht leisten, das brächte mich in eine sehr prekäre Lage... Es wäre gut, wenn ich mir wenigstens sicher sein könnte, dass mir nicht noch jemand zusätzlich in den Rücken fällt. Deshalb sollte ich es vielleicht wagen die Einladung der Ostdrachen anzunehmen...“

„Die Drachen des Ostens haben Euch eingeladen? Wozu?“, fragte Ieyasu erstaunt, in seiner Stimme schwangen Zweifel und Sorge mit. Von den im Südosten lebenden Drachendämonen war bisher nie Gutes zu erwarten gewesen, sie gehörten zu Inu Taishos gefährlichsten Feinden.

„Bundori hat mir vor einiger Zeit eine Botschaft übersenden lassen und die Aushandlung eines Nichtangriffspakts in Aussicht gestellt“, erklärte der Dämonenfürst: „Und er scheint es tatsächlich ernst mit seinem Angebot zu meinen. Ich habe gründlich nachforschen lassen, aber mein Misstrauen ließ sich nicht bestätigen. Der intrigante Lindwurm hat ausnahmsweise mal nichts mit all den Geschehnissen, die mich derzeitig bedrohen, zu tun. Möglicherweise bietet sich hier eine Chance für einen dauerhaften Waffenstillstand mit den Drachen...“

Der Hundeherr dachte eine Weile schweigend nach, bevor er weitersprach:

„Normalerweise reise ich nur mit wenigen Getreuen zu Friedensverhandlungen. Und wenn ich zu Bundori gehe, werde ich das sicherheitshalber besser ganz allein tun. Aber bei einer Reise zu den Wölfen könnte ich vielleicht Sesshoumaru mitnehmen. Ich habe zuletzt viel zu wenig Zeit mit ihm verbracht und hätte ihn gern bei mir... Meinst du, er würde sich darüber freuen?“

„Gewiss, mein Herr“, meinte Ieyasu, „das ist eine gute Idee.“

„Er hat nun das erste Mal sehr gekonnt einen Feind getötet, in festem Willen und ohne Reue“, murmelte Inutaishou nachdenklich vor sich hin, „wahrhaftig, Sesshoumaru macht seinem Namen bereits alle Ehre, dabei ist er noch ein Kind... So wollte ich das nicht... Ich wünschte, es müsste nicht so sein, ich möchte nicht, dass mein Sohn hart werden muss oder dass er jemals wieder kämpfen und töten muss. Er sollte frei von all dem sein dürfen... glücklich sein... Ein Herrscher ist kein guter Vater...“

„Macht Euch darüber heute keine Gedanken mehr und schlaft jetzt“, unterbrach ihn der Heiler, „das Betäubungsmittel wird schnell wirken und Euch Eure Schmerzen nehmen.“

„Ich danke dir, Ieyasu“, sagte Inutaishou, seine Stimme klang schon sehr müde.

„Ich tue nur meine Pflicht“, beteuerte der Heiler leise und wartete bis sein Herr gänzlich eingeschlafen war. Behutsam stand er danach auf und verließ geräuschlos den Raum.

„Euch zu dienen ist nicht nur eine Pflicht, es ist eine Ehre“, sprach er dabei zu sich selbst, „die größte Ehre, die mir je gewährt wurde. Und ich werde immer an Eurer Seite sein. Ich folge euch, wohin Ihr auch geht.“
 


 

Soweit das fünfte Kapitel.

Eine Bemerkung zu dem Dämonenheiler Ieyasu: Er spielt in dieser Geschichte nur eine kleine Rolle, ist mir aber trotzdem ziemlich wichtig. Denn er stellt für mich ein gutes, freundliches und weises Gegenüber dar, das ebenso zum Inu no Taishou gehört wie seine Härte und Macht. (Und ich finde, weder Myouga noch Toutousai hätten eine derartige Rolle passend erfüllen können.) Ieyasu ist nicht völlig frei erfunden, die Inspiration für ihn kam wie so vieles andere auch vom IY-Manga. Bei Rumiko Takahashi taucht dieser dämonische Heiler allerdings nur namenlos und nur sehr kurz in bloß zwei Bildern auf...

Im nächsten Kapitel geht die ganze Gesellschaft zur Abwechslung dann mal auf Reisen und wird neue Freunde oder Feinde kennen lernen. Damit wird der nächste Zug des mysteriösen Intrigenspiels eröffnet...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Annäherung

Vorbemerkung:

Zunächst möchte ich wieder meinen Dank an alle Schreiber von Kommentaren aussprechen. Merci, ihr Lieben, ihr seid toll!

Weil mich einige von euch wegen dem Dämonenheiler Ieyasu befragt haben, hier noch ein paar Infos zu diesem Charakter: die Figur, die mir als Inspirationsvorlage für Ieyasu diente, findet ihr bei Rumiko Takahashi im Manga nach der Geschichte von Tessaigas Diebstahl durch die erpresste Sango, woraufhin sich ein Kampf mit Naraku entwickelt und die Inuyasha-Gruppe danach auf Heilkräutersuche geht. Wer Ieyasu in Farbe sehen will, kann sich auch Animefolge 31 anschauen... Ieyasu hat eine gewisse Gemeinsamkeit mit dem Inu no Taishou bezüglich seiner Nachkommenschaft ... ich denke, das dürfte als Hinweis reichen, welche Figur sich hinter diesem Charakter versteckt. ^^

Jetzt wieder zur Geschichte: glücklicherweise haben Seto und Sesshoumaru im letzten Kapitel den Wolfsangriff auf das Schloss des Westens und einen Entführungsversuch heil überstanden. Für ihre Unbesonnenheit erhielten sie aber eine hintergründige Strafpredigt des Inu no Taishou, der in diesen unsicheren Zeiten schon genug Gründe für allerlei Sorgen hat. Nun stellt sich die Frage, ob und wie lange bittere Erfahrungen vor neuen Dummheiten schützen können...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 6: Annäherung
 

Im Norden Japans hatte sich der seit Wochen herrschende Frühling noch nicht richtig durchgesetzt. Insbesondere in den Bergen brauchte die Vegetation noch Zeit, um sich zu entwickeln. Viele Bäume trieben gerade erst ihre Blätter aus. Auf tiefer gelegenen, unbewaldeten Gebirgsmatten und in den Tälern zeigten sich zwar schon die ersten Blütenknospen, in den höheren Lagen dagegen bedeckte Schnee das langsam sprießende Grün.

In diesem Gebiet, in einer abgelegenen, von Menschen unbesiedelten und meist gemiedenen Gegend war eine dreißigköpfige Reisegruppe unterwegs und überquerte entlang eines kaum erkennbaren Pfades einen Gebirgszug.

Die Reisenden waren zu Fuß unterwegs, ohne Pferde oder Packtiere. Das beeinträchtigte die Geschwindigkeit dieser menschenähnlichen Wesen jedoch kaum, denn sie besaßen weitaus größere Ausdauer als jedes Tier. Es waren Hundedämonen und ihre lautlose Gewandtheit, mit der sie sich flink durch das unwegsame, steile Gelände bewegten, war beeindruckend.
 

Nur wenige Tage nach seinem Kampf gegen Aufständische, direkt nach ausreichender Heilung seiner Kriegsverletzungen, hatte der Herrscher des Westens seine Heimstatt verlassen und zog nun mit einigen seiner Getreuen nordwärts in fremdes Territorium. Inutaishous Begleiter auf dieser Reise waren fast alle perfekt ausgebildete und buchstäblich bis zu den Zähnen bewaffnete Krieger. Darunter Tamahato und die besten Veteranen der Fürstengarde. Diese Tatsache bewies, dass der Hundeherr keine Vergnügungstour machte, sondern in einer ernsten, möglicherweise gefährlichen Mission unterwegs war. Tatsächlich befanden sich der Fürst und seine Gefolgsleute momentan in Feindesland, in einem Gebiet, das Wolfsdämonen als Revier beanspruchten.

Im Hinblick auf eine derartig riskante Sachlage wirkten fünf Mitglieder der Reisegruppe, die hinter Inutaishou und Tamahato hergingen, fehl am Platz. Sie sahen jedenfalls nicht sehr wehrhaft aus. Zu ihnen zählten zwei Jugendliche und ein Kind. Die frappierende Ähnlichkeit des Kindes mit dem anführenden Dämonenfürsten ließ keine Zweifel, um wen es sich dabei handelte. Es war Inutaishous kleiner Sohn Sesshoumaru, die beiden Jugendlichen waren Seto, Sesshoumarus Leibwächter, und der junge Wolfshundedämon Yoshio. Ihnen folgten zwei schon ältere, einfache Diener, die Gepäckballen trugen.

Kaum jemand war begeistert gewesen, dass Inutaishou unbedingt seinen Sohn auf eine Reise in den Norden hatte mitnehmen wollen, am wenigsten war Tamahato davon angetan. Schließlich erhöhte das die Sorgenlast. Aber niemand wagte dem Fürsten etwas auszureden und Tamahato fand es zumindest verständlich, dass der Hundeherr seinen Sprössling bei sich haben wollte. Inutaishou hatte sonst viel zu selten Zeit für seine Familie. Deshalb ahnten auch nur sehr wenige, wie sehr der Hundefürst in Wirklichkeit an seinem Welpen hing.
 

Als die dämonische Reisegruppe nach Überwindung eines steilen Felsenkamms die Ausläufer einer verborgenen, verzweigten Schlucht erreichte, geriet sie ins Stocken. Inutaishou war stehen geblieben, beobachtete aufmerksam den Himmel und schien auf etwas zu warten.

Er musste nicht lange warten. Nur kurz, nachdem alle Halt gemacht hatten, flog ein fledermausartiges Wesen zu der Gefolgschaft herab und landete direkt neben dem Dämonenfürsten im spärlich sprießendem Gras. Die fledermausartige Gestalt entpuppte sich als ein Flughund, der sich nun in das Licht dämonischer Energie tauchte und verwandelte. Aus dem geballten Youki formte sich ein bewaffneter, hünenhafter Mann in kostbarer Rüstung: Kage, der Hauptmann der Fürstengarde und Inutaishous Heermeister. Ehrerbietig neigte er vor seinem Herrn den Kopf.

„Nun, Kage“, sprach der Herrscher des Westens seinen Heerführer freundlich an, „was hast du entdeckt?“

Der dämonische Flughund faltete seine ausladenden Schwingen unter seinem dunkelgrauen Umhang zusammen und zeigte zu einem entfernten Berghang in Gegenrichtung zur bald untergehenden Sonne.

„Dort oben, etwa eine viertel Flugstunde von hier, gibt es ein verstecktes, Plateau mit frischem Quellwasser. Von da aus hat man einen guten Überblick über die Schlucht und das anschließende Gebiet. Das Gelände ist da nicht mehr so steil und teilweise bewaldet, sicherlich gibt es dort auch Wild. Wölfe habe ich noch keine finden können, doch wenn sich in dieser Gegend welche aufhalten, dann dort.“

„Gut“, meinte Inutaishou, „dann schlagen wir dort unser Lager auf. Gibt es einen Weg zum Plateau, auf dem wir die Schlucht umgehen können?“

„Ja, wenn wir uns bei der nächsten Abzweigung westlich halten“, antwortete Kage, „allerdings müssen wir dann einen Umweg von etwa ein bis zwei Stunden in Kauf nehmen.“

„Das macht nichts“, entschied der Dämonenfürst, „besser ein Umweg als ein Gang durch die Schlucht. Danke, Kage, schließ dich nun unserer Nachhut an!“

Kage ging sofort wie befohlen zum Hinterende der Reisegruppe, Inutaishou wandte sich derweil all seinen Gefolgsleuten zu.

„Keiner von euch betritt diese Schlucht!“ befahl er: „Erhöht eure Wachsamkeit! Wir werden sicher nicht mehr lange unentdeckt bleiben und wir werden wahrscheinlich nicht sehr herzlich empfangen werden. Ich möchte nicht, dass sich hier jemand zu unüberlegten Handlungen hinreißen lässt. Verstanden? Gut, dann weiter!“

Damit setzte sich der Herr der Hunde wieder in Bewegung, seine Getreuen folgten ihm.
 

Zur Abendstunde erreichten die Dämonen das von Kage beschriebene Plateau. Inutaishou sah sich kurz um und wählte einen Lagerplatz am Rande eines leicht aufsteigenden, bewaldeten Berghangs aus. Während die Soldaten die Umgebung sicherten, näherte sich der Dämonenfürst seinem Sohn und ging neben dem Jungen in die Hocke.

„Bist du sehr müde, Sesshoumaru? Es tut mir leid, der Weg war anstrengend...“

Energisch schüttelte Sesshoumaru seinen Kopf.

„Ich bin nicht müde“, beteuerte er.

Der Hundeherr lächelte sanft. Zaghaft hob er seinen rechten Arm, strich Sesshoumaru kurz zärtlich über die Wange und legte seinem kleinen Sohn schließlich die Hand auf die Schulter.

„Du brauchst dich deiner Schwächen doch nicht zu schämen“, sagte er leise: „Du bist mein Sohn, du musst mir nichts beweisen...“

Mit einem weich werdenden Ausdruck in seinen goldenen Augen fügte er zögerlich fragend hinzu:

„Möchtest du heute bei mir, an meiner Seite schlafen? Es würde mich freuen...“

Ein schüchternes Lächeln stahl sich in Sesshoumarus Antlitz. Doch bevor er seinem Vater antworten konnte, störte ein lautes Streitgespräch von Seto und Yoshio mit Tamahato die Szenerie.

„Das kommt keinesfalls in Frage“, schimpfte Tamahato gerade, „ihr geht nirgendwohin! Erst recht nicht in die Nähe der Schlucht! Dort unten befindet sich ein Friedhof der Wolfsdämonen.“

„Na und?“ ereiferte Seto sich: „Was ist dabei denn das Problem? Auf einem Friedhof stören wir wenigstens niemanden. Wir wollen ja nichts anstellen, sondern uns nur mal die Gegend angucken.“

„Nochmals, damit auch du Schwachkopf es kapierst: wir sind hier in feindlichem Territorium, wir wollen die Nordwölfe nicht provozieren! Und genau das tut ihr zwei, wenn ihr ungebeten und pietätlos in der Wolfsruhestätte herumstolziert!“

„Was haben die Nordwölfe denn gegen uns Hunde?“ mischte sich der Wolfhundedämon Yoshio in die Diskussion ein und fragte daraufhin neugierig weiter: „Hat das etwa was mit dem vergessenen Krieg zu tun?“

Diese Frage schien Tamahato ziemlich unangenehm zu sein.

„Auf gewisse Weise...“ antwortete er ausweichend, „das ist alles schon sehr lange her...“

Yoshio ließ nicht locker.

„Was ist damals in diesem Krieg geschehen?“

In diesem Moment stand Inutaishou auf und drehte sich ernst zu den jugendlichen Hundedämonen um.

„Vergessene Kriege sollten vergessen bleiben“, betonte er. Seine goldenen Augen waren nun wieder hart und seine Stimme klang seltsam, wie gesprungenes Glas: „Fragt nicht weiter, lasst die Vergangenheit lieber ruhen!“
 

„Vorsicht, ein Wolf!“

Der Warnruf eines Soldaten beendete jede weitere Diskussion.

Inutaishou sah in die Richtung, in die der warnende Krieger mit seinem Speer deutete. Am Rand des Plateaus, das sich die Hundedämonen als Nachtlager erkoren hatten, neben dem bewaldeten Berghang, stand ein mit einer festen, geschwärzten Lederrüstung gepanzerter Mann. Um seine Schultern hing ein Bärenfell. Seine spitzen Ohren und seine rötlich schimmernden Augen kennzeichneten ihn sofort als Dämon. Sein wolfsartiger Geruch machte klar, welcher Art er angehörte. Sein sonstiges Aussehen allerdings war sehr untypisch für einen Wolfsdämon, denn sein schulterlanges Haar war blond. Zunächst schien er völlig allein zu sein, doch dann tauchten wie aus dem Nichts acht schwarzfellige Wölfe neben ihm auf und umringten ihn schützend.
 

„Was wollt Ihr hier?“ fragte der Unbekannte und musterte argwöhnisch die hundedämonischen Krieger, die sich sogleich verteidigungsbereit um ihren Fürsten scharten.

„Sucht Ihr Streit?“

„Nein.“

Inutaishou trat etwas vor, eine unauffällige Handbewegung seinerseits genügte, dass sich seine Soldaten wieder leicht zurückzogen.

„Ich bin in Frieden hier, meine Krieger begleiten mich nur zum Schutz.“

Der blondhaarige Wolfsdämon schnaubte verächtlich.

„Seit wann habt Ihr das nötig, seit wann muss der ach so mächtige Herrscher des Westens mit einer Schutzpatrouille durch fremde Bergwälder schleichen? Heimlich und versteckt, wie ein Räuber mit seinem Diebsgesindel!“

Tamahato, der knapp hinter seinem Herrn stand, sog scharf die Luft ein und fasste nach seinem Schwertgriff. Inutaishou warf ihm einen gebieterischen, verneinenden Blick zu und wandte sich erneut dem Wolfsdämonen zu.

„Es gibt keinen Grund für Beleidigungen, Wolf. Ich will niemanden provozieren. Darum solltest du das auch lassen.“

Der Wolfsdämon kraulte eines seiner Tiere begütigend an den Ohren und kam skeptisch näher.

„Gastfreundschaft könnt Ihr nun mal nicht von uns erwarten, Hundeherr, das ist Euch ja hoffentlich klar? Ihr seid hier nicht willkommen.“

„Ich weiß“, meinte Inutaishou ruhig, „und wenn ihr Wölfe es unbedingt wollt, gehe ich sofort wieder. Allerdings werde dann mit einem Heer und einem gezogenen Schwert zurückkommen. Such es dir aus, es liegt ganz bei dir.“
 

Kurzzeitig herrschte bedrohliche Stille. Die rötlichen Augen des Wolfsdämons begannen unheilvoll zu glühen.

„Scheinbar seid Ihr genau so, wie es unsere Ältesten erzählen. Sind Drohungen und Gewalt Eure einzige Sprache? Dann seid Ihr ein Tyrann. Doch damit macht Ihr mir keine Angst, irgendwann werdet Ihr für Eure Untaten büßen!“

„Du enttäuschst mich“, antwortete Inutaishou, seine Stimme war immer noch erstaunlich ruhig: „Ich hätte dich für klüger eingeschätzt. Willst du dir nicht erst selbst ein Bild machen, bevor du dein Urteil über mich fällst? Oder hörst du lieber auf das Gerede alter, verbitterter Kriegstreiber, die vergangenen, am Stolz kratzenden Niederlagen nachweinen? Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, dass es damals in dem Konflikt zwischen Hunden und Wölfen keinen echten Gewinner gab. Ich habe auch viel dabei verloren.“

„Oh, wie bedauerlich für Euch“, bemerkte der Wolfsdämon, „wenn Ihr allerdings nach Mitleid sucht, seid Ihr hier falsch... Aber gut, ich möchte tatsächlich nicht vorschnell urteilen. Also, frage ich Euch nochmals: was wollt Ihr hier?“

„Ich will mit dem Anführer der Wölfe reden.“

„Welchem Anführer? Wir Wölfe sind frei, wir sind die Kinder der ungezähmten Wildnis und gehorchen nur uns selbst. Wir haben keinen Herrn. Niemand kann einen Wolf an die Kette legen, nicht einmal Ihr!“

„Aber jedes Wolfsrudel hat auch jemanden, der seine Getreuen leitet und schützt, jemanden, dem jedes andere Rudelmitglied folgt. Die Wölfe des Nordens bilden momentan die größte, stärkste und einflussreichste Gruppe. Deswegen suche ich den Leitwolf des Nordrudels.“

Der Wolfsdämon lächelte hintergründig.

„Ihr seid gut über uns informiert, Hundeherr, das muss ich Euch lassen... Und was habt Ihr mit dem Leitwolf des Nordens zu bereden?“
 

Inutaishou betrachtete den Wolfsdämonen eine Zeitlang, als suche er in dessen Gesicht etwas. Seine bisher ruhige Stimme änderte sich und bekam nun einen zunehmend harten Unterton, offensichtlich war seine Geduld langsam erschöpft.

„Du stellst sehr viele Fragen, Wolf. Eigentlich stünde das eher mir zu. So würde ich beispielsweise gerne wissen, warum Angehörige deiner Art mein Schloss angegriffen haben und meinen Sohn entführen wollten, während ich durch eine mehrtägige Schlacht abgelenkt und fort war. Das lässt sich sehr leicht als Kriegserklärung interpretieren. Ich komme nicht als Bittsteller zu euch, ich will diesen Vorfall klären. Und falls ihr Wölfe an der Bewahrung des Friedens zwischen uns interessiert seid, solltet ihr mir bei der Aufklärung helfen. Sonst sehe ich mich gezwungen eure Kampfansage zu erwidern.“

Dieses Mal zeigte der Wolfsdämon eine überraschte Miene, sein Gesichtsausdruck grenzte sogar an Fassungslosigkeit.

„Das...“ stammelte er, „das ist unmöglich... Was redet Ihr denn da? Von so einem Angriff auf Euer Schloss wüsste ich... Ihr lügt! Es gab nie irgendwelche Pläne Euch anzugreifen!“

„Du willst mich der Lüge bezichtigen?“ Bei diesen Worten hielt Inutaishou keinen Groll mehr zurück, sein Youki wallte drohend auf: „Meinetwegen zeige ich dir die Toten beider Seiten und bereite dir dann neben den Wolfsschädeln ein weiteres Grab. Das ist meine letzte Warnung. Nicht ich bin hier derjenige, der einen Waffenstillstand gebrochen hat!“

Der Wolfsdämon wurde blass, er war auf einmal wie ausgewechselt. Absolute Betroffenheit spiegelten sich in seinen dämonischen Augen. Er hätte ein hervorragender Schauspieler sein müssen, um seine fortdauernde Bestürzung zu verbergen.

„Ich...“ brachte er schließlich heraus, „bitte, das ist... verzeiht mir, vielleicht habe ich Euch Unrecht getan... Das ist wohl alles ein großes Missverständnis! Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mit mir verhandeln. Nicht weit von hier ist eine Höhle, dort sind wir ungestört. Mein Name ist Chugo, Ihr könnt Euch sicher sein, ich meine es ehrlich. Und ich möchte keinen Krieg.“

Inutaishou nickte.

„Chugo“, sagte er. In der Art, wie er diesen Namen aussprach, klang es, als würde er eine Vermutung bestätigen: „Du bist einer der ranghöchsten Wölfe. Der Stellvertreter vom Leitwolf des Nordrudels. Und einer der Wächter des Wolfsdämonen-Friedhofs. Du besitzt ein hohes Ansehen bei deinesgleichen. Kannst du für alle Wölfe des Nordens sprechen?“

„Ich sagte schon, wir Wölfe lassen uns nur ungern binden“, erklärte Chugo zögernd, „wir respektieren zwar unsere Rudelführer und wir haben unsere Regeln, aber wir müssen ihnen nicht unbedingt folgen. Daher kann ich nicht für alle Wölfe sprechen, doch ich habe Einfluss. Ich werde Euch zuhören und so gut es geht helfen. Wenn Ihr wirklich von Wölfen angegriffen wurdet, ist das eine sehr ernste Sache, die geklärt werden muss. Bitte, folgt mir!“

Mit einem weiteren Kopfnicken nahm Inu Taishou die Einladung des Wolfsdämons an und schickte sich an ihm zu folgen. Sofort schlossen sich Kage, der Heermeister, Tamahato und vier weitere Krieger ihrem Herrn unaufgefordert an. Chugo trat den Soldaten abwehrend entgegen.

„Nein!“ bestimmte er und forderte Inutaishou auf: „Ihr kommt mit mir allein!“

„Von wegen, Wolf! Das lass ich nicht zu“, erhob Kage seinen zornigen Einwand: „Ich vertraue keinem potentiellen Feind!“

„Wir sind in einem für uns Wölfe heiligem Gebiet“, gab Chugo verärgert zurück, „wollt ihr uns beleidigen? Ich habe nichts Unehrenhaftes vor.“

„Lass nur, Kage“, sagte Inutaishou besänftigend, „es ist schon in Ordnung. Schlagt das Lager auf, ruht euch aus, wir haben morgen noch einen weiten Weg vor uns. Danach stehen uns weitaus schwierigere Verhandlungen bevor. Ich möchte das hier gütlich geregelt haben, bevor ich zu den Drachen reise.“

„Herr, bei allem Respekt“, begehrte Kage auf, „es könnte eine Falle sein! Ihr solltet nicht allein gehen!“

Inutaishou lächelte amüsiert.

„Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Es besteht keine Gefahr.“

Damit wandte sich der Hundefürst wieder dem Wolfsdämonen und dessen tierischen Begleitern zu.

„Ich vertraue dir, Chugo. Lass uns gehen!“
 

Kage und Tamahato beobachteten, wie der Inu no Taishou zusammen mit Chugo und seinen Wölfen den bewaldeten Berghang hinauf verschwand.

„Manchmal würde ich diesen Hund am liebsten anleinen und ihm einen Maulkorb verpassen“, fauchte Kage, „was glaubt er, wer er ist? Jedermanns Liebling? Unter den Wölfen gibt es bestimmt mehrere, die unserem Herrn voller Entzücken den Hals durchschneiden würden. Hat er vergessen, was damals alles vorgefallen ist? Alle Wölfe, die an diesem längst vergangenen, scheußlichen Krieg direkt beteiligt waren, sind zwar tot, aber die Geschichten darüber leben weiter und werden natürlich mit Vorliebe zunehmend umgedeutet. Und es gibt immer irgendwelche dämlichen, selbsternannten Helden, die sich zum Rachegeist berufen fühlen. Ein heimlich verborgenes, rasch geführtes Mördermesser ist schließlich schnell bei der Hand!“

„Sicher, Kage-sama“, meinte Tamahato, „doch so dumm ist unser Herr nun auch wieder nicht. Und seiner Intuition konnten wir bisher immer trauen. Wenn er meint, dass keine Gefahr besteht, gibt es wohl auch keine. Zur Not kann er ja tatsächlich auf sich aufpassen. So wie wir auf uns auch.“

Der Heerführer gab einen entrüsteten Laut von sich. Wütend wies er die hinter ihm abwartenden Krieger an auf die Jagd zu gehen, um Fleisch zu besorgen. Danach brüllte er Befehle zur Lagerbereitung und Wacheinteilung. Mit seiner barschen Stimme machte er keinen Hehl aus seiner derzeitigen Laune, daher beeilten sich alle den Befehlen ihres zornigen Hauptmanns Folge zu leisten.

Tamahato ging zu der Kriegertruppe, die Sesshoumaru, Seto und Yoshio während dem Auftauchen der Wölfe schützend eingekreist hatte, und unterdrückte ein Grinsen. Er konnte Kages Ärger gut nachvollziehen und er wusste, dass sich hinter der aggressiven Fassade des dämonischen Flughunds nur Besorgnis verbarg. Kaum jemand von Inutaishous Getreuen mochte den Fürsten eben gern allein irgendwohin gehen lassen, dafür verehrten und liebten sie ihn alle zu sehr.
 

„Sollen wir jetzt etwa schlafen gehen?“ fragte Seto seinen älteren Kampfgefährten, als dieser zu den jungen Hunden kam.

„Keine schlechte Idee“, antwortete Tamahato, „Welpen brauchen viel Schlaf zum Wachsen.“

Mit einem leichten Lächeln sah der alte Soldat kurz zu Sesshoumaru und Yoshio, die ungerührt am Boden saßen. Neben den beiden kramten derweil die zwei einzigen, nicht kriegerischen Diener aus Inutaishous Gefolge im Gepäck des Fürsten herum und breiteten Decken aus. Alle anderen hatten sich währenddessen höflich ein Stück von dem Fürstensohn und seinen Begleitern zurückgezogen und halfen nun bei der Vorbereitung des Nachtlagers. Einige Krieger sammelten Holz und zündeten Lagerfeuer an. Es würde schon bald dunkel werden und nachts war es in den Bergen des Nordens kalt.

„Ich bin doch kein Baby mehr“, murrte Seto und betrachtete missfällig die vorbereiteten, weichen Decken und Felle.

„Sonst schläfst du doch auch immer so gerne“, entgegnete Tamahato, „was stört dich daran? Wer sich kindisch verhält, wird eben auch wie ein Kind behandelt. Es könnte schlimmer sein, also beschwer dich nicht.“

„Schon gut, schon gut...“
 

Grummelnd setzte sich Seto neben Sesshoumaru auf den Boden und verfiel wie dieser und Yoshio in demonstratives Schweigen. Allerdings konnte er nur schwer dauerhaft den Mund halten. Nachdem Tamahato wieder gegangen war und sich nach einer Runde durch die Reihen seiner soldatischen Kameraden dem Hauptmann Kage zugesellte, brach es aus dem jugendlichen Hundedämonen heraus:

„Also, so langsam nervt mich das alles. Das ist echt die langweiligste und bescheuertste Reise, die ich je erlebt habe!“

Yoshio seufzte leise.

„Was hast du erwartet? Das ist ja kein Erholungsurlaub.“

„Das weiß ich auch“, gab Seto gereizt zurück, „aber deshalb braucht man uns doch nicht wie ein zerbrechliches Gepäckstück zu behandeln. Wir könnten uns ja wenigstens zwischendrin mal was angucken gehen dürfen oder so. Oder warum lässt man uns stattdessen nicht einfach mal bloß in Ruhe? Wir können ja nicht mal pinkeln gehen, ohne dass irgendwelche Wachhunde hinterher rennen!“

„Ach nee, was du nicht sagst“, spöttelte Yoshio, „dann rat doch mal, wem wir diese Zusatzwache und diese überaufmerksame Fürsorge zu verdanken haben...“

„Reit nur drauf rum und ich vergesse meine gute Erziehung!“ drohte Seto.

„Hast du so was wie eine Erziehung überhaupt?“ reizte Yoshio frech weiter.

„Seid still!“

Sesshoumarus Befehl war zwar sehr leise, hatte aber sofort die gewünschte Wirkung. Seto und Yoshio verstummten und sahen den kleinen Dämonenprinzen überrascht an. Es waren die ersten Worte, die der Fürstensohn seit Reisebeginn an seine jugendlichen Begleiter richtete. Noch überraschender war dabei Sesshoumarus Gesichtsausdruck. Bisher hatte er ziemlich abgestumpft und bedrückt gewirkt, doch nun wirkte er ganz anders, regelrecht abenteuerlustig.

„Wir legen uns schlafen und warten, bis sich alle anderen auch zur Ruhe gelegt haben“, fuhr Sesshoumaru flüsternd fort: „In der zunehmenden Dunkelheit ist es leicht die Waldesschatten als Deckung zu benutzen, sobald keiner zu uns sieht. Sehr viele Wachposten wurden nicht aufgestellt und Kage, der uns orten könnte, ist mit Tamahato auf der anderen Lagerseite. Der Wind steht ebenfalls günstig. Wir stopfen unsere Decken mit nicht benötigten Kleidungsstücken aus. Keiner wird es wagen uns zu stören, wenn wir angeblich schlafen. So wird niemand unsere Abwesenheit bemerken.“

Perplex starrten Seto und Yoshio den Fürstensohn an.

„Äh“, wagte Yoshio vorsichtig einzuwerfen, „ich glaube, ich habe dich gerade nicht richtig verstanden... planst du etwa auszubüxen?“

Völlig ernst nickte Sesshoumaru dem Wolfshundedämonen zu.

„Ich gehe hinunter in die Schlucht, ich möchte mir den Friedhof der Wölfe ansehen. Das interessiert dich doch auch sehr, nicht wahr?“

„Äh...“ Yoshio war sprachlos. Seto fehlten ebenfalls die Worte. Für eine Weile zumindest, dann explodierte er fast.

„Sesshoumaru-sama, verzeiht, wenn ich das jetzt so sage, aber... spinnst du kleiner Scheißer jetzt total? Du glaubst doch nicht, dass ich da mitmachen werde? Nach all dem, was passiert ist... Ich meine, du kannst dir ja wohl denken, was dein Vater davon halten würde! Er würde dir mit Recht den Hintern versohlen und mich in meine Einzelteile zerlegen. Die Zeit der Kinderstreiche haben wir, dachte ich, hinter uns! Willst du den Inu no Taishou schon wieder enttäuschen?“

Sesshoumaru ging nicht auf Setos unverschämten Tonfall ein, er sah zu Boden.

„Nein“, meinte er dann, „ich möchte ihn nicht nochmals enttäuschen. Aber Chichi-ue ist nicht da und er wird es nie erfahren. Ich will in diese Schlucht und ich werde dorthin gehen.“

„Aber warum denn bloß?“ Setos Stimme klang nun fast verzweifelt.

Nach einem kurzen Seitenblick auf Yoshio sprach Sesshoumaru weiter:

„Ich will wissen, was damals passiert ist. Vor meiner Geburt, als mein Vater den vergessenen Krieg gegen die Wölfe geführt hat. Über diese Sache ist so gut wie nichts zu erfahren. Fragen darauf werden auch nie beantwortet. Dahinter steckt irgendein bedeutungsvolles Geheimnis und ich will es herausfinden. Auf dem Friedhof der Wolfsdämonen, in dem viele Geheimnisse bewahrt werden, können wir möglicherweise etwas von diesem Rätsel lösen. Das ist eine Chance, die wir sonst vielleicht nie wieder haben.“

„Das... aber das... das ist doch...“ druckste Seto herum und blickte schließlich herausfordernd Yoshio an: „Sag doch auch mal was! Red ihm diesen Blödsinn aus! Du hast doch gehört, was Tamahato und der Inu no Taisho zu all dem gesagt haben!“

„Ja...“ murmelte Yoshio nachdenklich und starrte dabei intensiv auf seine krallenbewehrten Hände, „aber genau deswegen werde ich mit Sesshoumaru mitgehen. Ich will auch endlich etwas über den vergessenen Krieg erfahren. Irgendwie hatte ich schon immer das Gefühl, dass das teils was mit mir und meinen Eltern zu tun hatte. Ich möchte wissen, was. Und ich muss endlich wissen, wer meine Eltern eigentlich waren.“

„Ob du ebenfalls mitkommst, ist deine Sache“, fügte Sesshoumaru an Seto gewandt hinzu: „Aber eins sage ich dir: wenn du uns beide verpetzt, war das deine letzte Tat auf Erden! Einen Verräter werde ich nicht weiter als Leibwächter an meiner Seite dulden.“
 

Seto starrte den kleinen Dämonenprinzen an. Sesshoumaru blickte unverwandt zurück. Seine goldenen Augen bohrten sich regelrecht in Setos Seele.

Dieselben Augen wie bei seinem Vater, dachte Seto. Und im gleichen Augenblick wusste er, dass es keinen Widerspruch mehr für ihn gab. Zudem hatte ihn nun auch die Abenteuerlust gepackt. Es war zu spät. Bevor er befürchten konnte, er würde es bereuen, hatte er schon die folgenden Worte ausgesprochen:

„Ich schwöre Euch, ich würde Euch niemals verraten, Sesshoumaru-sama. Und... ich komme mit.“
 


 

Soweit das sechste Kapitel.

Der Jugend sind die Flausen offenbar noch immer nicht ausgetrieben worden. Was es wohl mit dem vergessenen Krieg auf sich hat? Immerhin dürfte klar sein, dass es in der Vergangenheit großen Ärger zwischen Hunden und Wölfen gab.

Im nächsten Kapitel schauen wir dann, wie sich das alles weiter entwickelt und welcher neue Ärger nun in Anmarsch ist. Eines ist jedenfalls schon mal sicher: so ganz nach Plan läuft die Reise des Hundefürsten nun nicht mehr ab...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Gefahr

Vorbemerkung:

Ich bedanke erst mal wieder bei allen Lesern und für alle bisherigen Kommentare. Freut mich wirklich sehr, dass diese Geschichte weiterhin treue Anhänger hat.

Letztes Kapitel haben wir den Inu no Taishou, seinen Sohn und seine Getreuen auf eine Reise in den Norden begleitet. Der Herrscher des Westens hofft dort mithilfe von Friedensverhandlungen einige Antworten und Unterstützung bezüglich aktueller Bedrohungen zu finden. Allerdings birgt diese Reise auch ein Risiko, denn sie bringt einerseits Sesshoumaru, Yoshio und Seto auf gefährliche Lausbuben-Ideen und macht andererseits natürlich Feinde aufmerksam...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 7: Gefahr
 

Es war nahe Mitternacht. Wegen dem fehlenden, abnehmenden Mond, der erst später aufgehen würde, waren die umliegenden Berge in Finsternis getaucht. Die weiter entfernten, steil aufsteigenden Gebirgszüge des Nordens wirkten wie bedrohende, tiefschwarze Schatten. In der Schlucht, die das weitreichende Revier der Nordwölfe in zwei Hälften teilte und die einen alten, dämonischen Friedhof beherbergte, sammelte sich Nebel. Dadurch ähnelte die Schlucht einem träge wallenden Fluss, aus dessen Fluten sich ab und zu die warnenden Geister einer vergessenen Vergangenheit erhoben.

Tamahato schüttelte sich kurz und wandte seinen Blick von der umgebenden Landschaft ab. Danach kehrte er von seiner Wachrunde zum Lager der Hundedämonen zurück.
 

Mittlerweile waren schon fast fünf Stunden vergangen, seitdem der Inu no Taishou einem blondhaarigen Wolfsdämon einen Berghang hinauf zu einer irgendwo verborgenen Höhle gefolgt war, um mit ihm zu reden. Da jeder wusste, wie langwierig Friedensverhandlungen oder ähnliche Gespräche sein konnten, war keiner von Inutaishous Gefolgsleuten bisher über die lange Abwesenheit des Fürsten beunruhigt. Es war gut möglich, dass der Hundeherr erst in den Morgenstunden zurück kommen würde.

Hoffentlich hatte der Herrscher des Westens Erfolg mit seinen Friedensbemühungen. Tamahato empfand keine Freude bei der Vorstellung gegen die Wölfe in den Krieg ziehen zu müssen. Das konnte sehr böse ausgehen. Den besten Wolfskriegern in einer Schlacht gegenüber zu stehen war etwas anderes als einen Haufen größenwahnsinniger Banditen abzuwehren, wie die Hundedämonen das bei dem Überfall der Wölfe auf das Schloss des Westens getan hatten. Zusätzlich drohte weiterhin noch Gefahr von dem Aufrührer Akechi und seinen Verbündeten, denen der Inu no Taishou zwar eine vorübergehende Niederlage hatte zufügen, die er aber nicht hatte gänzlich niederringen können. Ein Krieg gleichzeitig an zwei verschiedenen Fronten war immer schlecht.

Wieder schüttelte Tamahato sich und vertrieb damit seine düsteren Gedanken. Es hatte keinen Sinn sich über eine noch fragliche Zukunft Sorgen zu machen. Außerdem vertraute der alte Hundedämon seinem Herrn, Inutaishou hatte sich und seine Getreuen schon oft genug aus weitaus schwierigeren und aus scheinbar auswegslosen Situationen herausmanövriert.
 

„Es ist alles ruhig“, sagte Tamahato, als er das Nachtlager von Inutaishous Reisebegleitern erreichte und sich neben Kage, dem Hauptmann der Fürstengarde, an ein kleines Lagerfeuer setzte. Wärmesuchend streckte der alte Soldat dabei seine kalten, krallenbewehrten Hände den Flammen entgegen.

„Ich habe nicht einmal die Spur von weiteren Wolfsdämonen finden können, offenbar waren dieser Chugo und seine tierischen Begleiter in der letzten Zeit tatsächlich die einzigen Wölfe hier. Ich frage mich, wo der Rest des nördlichen Rudels sich rumtreibt. Hoffen wir, dass sich diese ganze Sache möglichst rasch klären wird. Ich bin froh, wenn ich hier wieder weg komme.“

„Mir gefällt das alles auch nicht“, bemerkte Kage leise murmelnd.

Tamahato warf einen Holzscheit ins Feuer und blickte verwundert zu seinem Hauptmann auf. Funken sprühten, ein flackernder, rötlicher Schein huschte über sein Gesicht.

„Was gefällt Euch nicht? Die Friedensverhandlung? Warum? Chugo schien doch ein guter, ehrenhafter Wolf zu sein, er gehört wohl nicht zu den verräterischen Typen wie einige seiner Art. Möglicherweise findet er heraus, wer diese Verrückten waren, die das Schloss unseres Herrn angegriffen haben. Auf diese Weise kann er uns helfen die Gemüter zu beruhigen, damit sich wegen diesem Überfall nicht ein neuer Krieg gegen die Wölfe entzündet. Ein Bündnis mit Chugo könnte sehr nützlich sein. Was soll schlecht daran sein?“

„Nicht Chugo bereitet mir Bauchschmerzen“, erwiderte der Heerführer ernst, „sondern die Idee der Reise an sich mitsamt all diesen Friedensverhandlungen. Besonders der Gedanke an das nächste geplante Treffen mit dem Drachen Bundori gefällt mir nicht. Das mit den Wölfen kann ich ja noch verstehen, aber was will der Inu no Taishou denn bei den Drachen erreichen? Er sollte sich damit zufrieden geben, dass diese Reptilien ihn endlich mal in Ruhe lassen und nicht weiter nachfragen, warum sie das tun. Es wäre besser, wenn er und Bundori sich überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen, die beiden können sich niemals versöhnen.“

„Nun“, erwiderte Tamahato nachdenklich, „ich schätze, unser Herr hat lieber einen Feind vor sich als in seinem Rücken. Und selbst so einer wie Bundori muss doch irgendwann einsehen, dass ewiger Hass nichts einbringt. Immerhin gingen die ersten versöhnlichen Schritte ja sogar von ihm selbst aus...“

„Gerade das ist es ja, was mir solche Sorgen macht“, erklärte Kage gedehnt und fügte danach lauernd hinzu: „Kennst du die Geschichten, die man sich über Bundori erzählt?“

Mit deutlichem Unbehagen sah Tamahato ins Feuer. Erst nach einer Weile antwortete er seinem Hauptmann:

„Nun ja, diese Geschichten kennt wohl fast jeder. Aber die Drachen sind alle eine sehr alte und rätselhafte Rasse. Sie existieren schon eine Ewigkeit, weitaus länger als jeder Youkai. Wie sollen wir da beurteilen können, wer, was und wie diese Wesen eigentlich wirklich sind. Ich kann einfach nicht glauben, dass es einen Drachen gibt, der derartig furchtbar und vollkommen böse sein soll. Sicher wird vieles in den grausigen Berichten über Bundori aus Unwissenheit übertrieben.“

„Übertrieben, meinst du?“

Kage gab ein leises, tonloses Lachen von sich, blieb eine weiter erklärende Antwort aber schuldig. Dann wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich traurig, er schien in unglücklichen Gedanken zu versinken.
 

Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Kriegern. Beide blickten unbewegt und stumm ins Feuer. Schließlich regte sich Kage wieder ein wenig, der dämonische Flughund hüllte sich eng in seinen Umhang. Seine Stimme hatte einen seltsamen, dumpfen Klang, als er erneut zu sprechen begann:

„Vor sehr langer Zeit, direkt nachdem ich auf die japanischen Inseln gekommen war und weit bevor ich auf Inutaishous Seite übergewechselt bin“, erzählte er, „lebte ich mit meiner Familie im Südosten. Es war zwar etwas öde, aber sonst ganz gut da. Von den dort herrschenden Drachen haben wir normalerweise nie etwas bemerkt. Denn, wie das so ihre Art ist, kümmern sich Drachen nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Solange man ihnen nicht in die Quere kommt, interessieren sie sich nicht für andere... Irgendwann eines Morgens, nach einem nächtlichen Streifzug, kam ich mit meinen Geschwistern zufällig in eine unbekannte, zur Meeresküste hinausführende Schlucht. Meine Geschwister und ich waren jung damals und sehr abenteuerlustig, wir sahen uns neugierig um. Auf einmal entdeckte mein jüngerer Bruder einen riesigen, rotgoldenen und lindwurmartigen Drachen, der sich schlafend im Morgenlicht sonnte. Ich weiß nicht, was uns dazu trieb, aber wir kamen auf die Idee den Drachen spaßeshalber ein wenig zu ärgern. Falls es gefährlich werden sollte, konnten wir schnell davonfliegen und flüchten. So dachten wir. Wir haben den Drachen ein bisschen gezwickt, er schien es nicht einmal zu spüren. Dann haben wir Steinchen auf ihn geworfen, nichts geschah. Schließlich wurde mein kleiner Bruder übermütig, er flog direkt zum Kopf des Drachens, hüpfte vor seiner Schnauze in der Luft herum und schnitt alberne Grimassen... Doch dann, so blitzartig, dass wir nicht merkten, wie es zuging, schnappte der Drache zu. Er zermalmte meinen Bruder zwischen seinen Zähnen, so nebensächlich, als würde er einen Käfer zertreten. Ich höre heute noch meines Bruders Aufschrei und das Brechen seiner Knochen. Danach spukte der Drache den toten Körper abfällig aus und richtete sich etwas auf. Wir waren wie gelähmt. Er starrte uns an, aus seinen brennenden, rotglühenden Augen. Auf seiner Stirn war eine kleine Maske, wie ein zweites Gesicht. Mit diesem Gesicht sprach er zu uns. Das heißt, er redete nicht wirklich mit uns, er machte nur eine beiläufige Bemerkung, eine Feststellung zu sich selbst. „Ihr seid lästig geworden“, sagte er, „ich sollte meine Heimstatt vielleicht mal wieder von Ungeziefer befreien.“ Wir fragten nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten, sondern sind so schnell wie möglich geflohen. Wir hatten Angst. Da war etwas in den Augen des Drachens gewesen, das ist nicht zu beschreiben... Zunächst schien aber alles nochmals gut gegangen zu sein, es passierte zunächst gar nichts und wir begannen das Erlebnis zu vergessen. Der Drache jedoch vergaß uns niemals und eines Tages, nach vielen, vielen Jahren, tat er, was er gesagt hatte. Er beseitigte Ungeziefer...“

Nach dieser Erzählung verstummte Kage, seine dunklen Augen wurden noch finsterer. Tamahato starrte sein Gegenüber verblüfft an. Es war schon erstaunlich genug, dass der sonst ziemlich verschlossene Fledermausdämon etwas aus seiner Jugend erzählt hatte. Kages momentaner Gesichtsausdruck allerdings war noch erstaunlicher. Nie hatte Tamahato den Heerführer derartig verbittert, vergrämt und auch verunsichert erlebt.

„Dieser Drache“, erkundigte sich der alte Hundedämon schließlich vorsichtig, „war das Bundori?“

Kage nickte kaum merklich.

„Ich selbst hatte Glück, ich war zufälligerweise woanders, als Bundori seine Vernichtungsaktion durchführte. Der Großteil meiner Familie und weitere, völlig unschuldige Dämonen im Osten hatten Pech, sie büßten auf schreckliche Weise für einen dummen, lange vergessenen Kinderstreich. Die genauen Details dazu erspare ich uns lieber...“

Nochmals unterbrach Kage kurz seine Rede. Nach einer kurzen Zeit bedrückender Stille sprach er weiter:

„Du sagtest, du kannst nicht glauben, dass es einen Drachen gibt, der durch und durch böse ist... Wahrscheinlich kannst du dir nicht vorstellen, was für ein Wesen Bundori ist. Ich sage dir, die Geschichten über ihn sind noch untertrieben!“

Damit verfiel Kage endgültig in Schweigen. Seine Worte allerdings hingen noch lange in der Luft, wie das Unbehagen aus einer unvergesslichen Drohung.
 

Das Holz im Feuer knackte. Trotz der wärmenden Flammen wurde es Tamahato zunehmend kalt.

Nach einiger Zeit hielt er es nicht mehr aus und stand auf.

„Ich mache noch eine Wachrunde und schau dabei mal nach unseren jüngeren Reisemitgliedern. Ich traue der Ruhe nicht so ganz. Für meinen Geschmack benahmen sich mein junger Partner, sein kleiner Schützling und Yoshio-san die letzten Tage viel zu brav. An gutem Willen mangelt es den jungen Hunden sicher nicht, aber vom Willen bis zur Tat ist es eben noch ein großer Schritt.“

Kage reagierte nicht, er hatte seine Augen demonstrativ geschlossen. Als er hörte, wie Tamahato sich entfernte, vergrub er sich noch fester in seinen Umhang und gab sich seinen Erinnerungen hin.

Das Lagerfeuer brannte langsam nieder. Die Glut sackte mehr und mehr in sich zusammen und zerfiel schließlich zu Asche.
 

Tamahato wanderte unruhig durch das Lager. Es war nicht nur das Unbehagen, das Kages Erzählung über den Drachen Bundori in ihm geweckt hatte. Auch das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung hielt ihn auf den Beinen. Der alte Hundedämon hatte viele Gefahren oft nur deswegen heil überstanden, weil er sich auf seine Instinkte verlassen konnte. Und diese Instinkte warnten ihn nun, etwas stimmte nicht.

Rastlos und besorgt näherte sich Tamahato der Stelle, die sich die jüngeren Mitglieder der Reisegruppe als Nachtlager ausgesucht hatten. Er nickte kurz stumm einem Wachposten zu und stieg dann vorsichtig über mehrere, direkt auf dem nackten Boden zusammengerollte, schlafende Krieger. Soldaten hatten gewöhnlich nur einen leichten Schlaf und Tamahato wollte seine Gefährten nicht unnötig um ihre wohlverdiente Ruhe bringen. Anlass für Alarmbereitschaft gab es schließlich nicht, alles blieb friedlich. Trotzdem wollte Tamahatos innere Unruhe nicht weichen.

Der treue Soldat warf einen Blick auf den Ruheplatz des Fürstensohns und seiner Begleiter. In der dortigen Ecke war es durch die benachbarten Gebüsche schattig und dunkel. Nur schemenhaft konnte Tamahato drei aufgewölbte Decken erkennen, unter die sich Sesshoumaru, Seto und Yoshio offensichtlich gekuschelt hatten und wohl genau wie die davor lagernden Krieger schliefen.

Etwas an diesem Anblick machte den alten Hundesoldaten stutzig. In den Monaten, als er Seto zum Leibwächter ausgebildet hatte und bevor Seto zu Sesshoumaru ins herrschaftliche Hauptgebäude umgezogen war, hatte Tamahato seine Unterkunft mit seinem jugendlichen Partner geteilt. Wenn man monatelang zusammen in einer kleinen Kammer lebte, kannte man die Angewohnheiten eines Zimmergenossen zu Genüge. Tamahato wusste daher, dass Seto ein unruhiger Schläfer war, der sich häufig im Schlaf auf seinem Lager herumwälzte. Wie konnte es da sein, dass die Decke unter die sich Seto verkrochen hatte, noch genau so dalag wie vor fünf Stunden?
 

Misstrauisch ging Tamahato näher an den Schlafplatz von Sesshoumaru und den seiner zwei jugendlichen Gefährten heran. Er wollte sich an Seto heranschleichen und sich die jungen Schlafenden mal genauer ansehen, als ihn ein leise knackendes Geräusch ablenkte.

Verwundert sah der alte Hundekrieger nach rechts zur Dunkelheit am Rande des Lagers und musterte nacheinander die Bäume. Doch er konnte nichts Gefährliches entdecken. Vielleicht war es nur das Rascheln eines Tieres gewesen.

Ich mache mir einfach zu viele Sorgen, dachte Tamahato kopfschüttelnd.

Im nächsten Moment packte ihn etwas von hinten. Bevor er darauf reagieren konnte, presste sich kaltes, scharfes Metall gegen seine Kehle.

„Ein einziger Laut oder eine weitere Regung von dir und du bist tot!“ zischte eine flüsternde Stimme.

Fauliger Atem schlug Tamahato in den Nacken. Der Wald um ihn herum schien sich plötzlich zu bewegen. Von der Finsternis kaum unterscheidbare Gestalten lösten sich blitzschnell aus den Baumschatten und huschten lautlos auf das Lager zu.

Ein Hinterhalt, schoss es Tamahato durch den Kopf. Trotz der vorigen Drohung versuchte er sich zu wehren. Aber schneller als er nur denken konnte, wurde er schmerzhaft in die Knie und dann auf den Rücken zu Boden gedrückt. Etwas Dünnes, Spitzes bohrte sich von vorne durch seine Rüstung hindurch in seine linke Schulter. Gleichzeitig legte sich etwas um seinen Hals und erstickte seinen Schrei. Eisige Kälte lähmte seine Glieder, dann fiel er in absolute Schwärze. Er bekam nicht mehr mit, wie die geheimnisvollen Angreifer das Lager erstürmten und innerhalb weniger Minuten alle überwältigt hatten. Es war ein Überraschungsangriff im wahrsten Sinne des Wortes, die Überfallenen hatten keine Chance.
 

Fern von all dem bemühte sich der Inu no Taishou währenddessen um Frieden. Er hatte vorzeitig kein einziges Anzeichen für einen Überfall entdecken können und ahnte deswegen in den Stunden zuvor auch nichts davon.

Chugo, der den Herrscher des Westens fort von seinen Getreuen einen Berghang hinauf führte, wirkte ehrbar und vertrauenserweckend. Tief in seinem Innersten spürte Inutaishou, dass der Wolfsdämon eine treue, gütige Seele hatte und dass ihm wirklich viel an Frieden lag. Der Hundeherr irrte sich bei der richtigen Einschätzung anderer nur sehr selten, normalerweise merkte er es sofort, wenn ihn jemand betrog. Seine instinktive, sensible und verblüffend stark ausgeprägte Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen, machte es fast unmöglich den Dämonenfürsten zu täuschen. Das war einer der Gründe, warum er seinen Feinden meist einen Schritt voraus war und warum es so schwer war, ihn zu besiegen.
 

Schweigend folgte der Hundeherr dem blondhaarigen Wolfsdämonen und seinen schwarzfelligen Tieren. Lange verdrängte Erinnerungen wurden wieder in ihm wach. Es war lange her, dass Inutaishou Wölfen so nahe gewesen war, dass er ihnen vertraute. Denn in der Nähe von Wölfen hatte ihn in der Vergangenheit erstmalig seine Intuition im Stich gelassen, von Wölfen war er einst erstmalig betrogen worden. Das war damals ein sehr schwerer Schlag für ihn gewesen. Wahrscheinlich war er zu dieser Zeit noch zu idealistisch gewesen, um den Schmerz einer solchen Enttäuschung verkraften zu können. Er hatte eben sehr lange nicht an die finsteren Seiten des Lebens glauben wollen. Mittlerweile wusste er es natürlich besser, weil er auch später mit neuen Enttäuschungen hatte fertig werden müssen. Aber es tat nichtsdestotrotz immer noch weh. Auf seiner andauernden Suche nach dem Licht hatte Inutaishou die Schatten zu fürchten gelernt.
 

„Wir sind da.“

Höflich wies Chugo auf eine kleine Höhle. Diese Höhle war zwar natürlichen Ursprungs, war aber offensichtlich noch weiter ausgebaut worden. Ihre Felswände waren glattpoliert, mit eingemeißelten Ornamenten geschmückt und bildeten ein perfektes Rund. In der Mitte brannte in einer gemauerten Steingrube ein blauweißliches, dämonisches Feuer. Der Schein der magischen Flammen ließ die im Felsen verborgenen Mineralien aufblitzen und brachte die ganze Höhle zum Glitzern. Es war ein atemberaubender Anblick.

„Willkommen in der Höhle der Wächter!“ sagte Chugo, schickte mit einer kurzen Armbewegung seine tierischen Begleiter voraus und trat zuletzt etwas beiseite, um den Herrscher des Westens einzulassen.

Inutaishou zögerte kurz und betastete behutsam Luft vor dem Höhleneingang. Er spürte eine starke Magie, ein bläuliches Schimmern umflirrte seine Finger.

„Ein Bannzauber...“

„Richtig“, bestätigte der Wolfsdämon, „nur wir Wolfswächter und diejenigen, die von uns eingeladen wurden, können diese Höhle betreten. Dies hier ist eine von unseren Machtquellen und eins von unseren wertvollsten Heiligtümern. Nur sehr wenige wissen etwas davon. Und Ihr seid der erste fremdartige Dämon, der diesen Ort betreten darf.“

„Das ist eine sehr hohe Ehre, ich danke dir“, antwortete Inutaishou und trat ein. Als er den Bann durchbrach, erfasste ihn ein unangenehmes Kribbeln. Etwas ungeheuer Mächtiges begann an ihm zu saugen und verwandelte sich in rasenden Schmerz. Unwillkürlich keuchte er auf, er hatte das Gefühl innerlich zu verbrennen und wäre fast in die Knie gebrochen. Doch dann war er hindurch und der Schmerz hörte sogleich wieder auf.

„Verzeiht, dass ich Euch nicht gewarnt habe“, beteuerte Chugo rasch: „Daran habe ich nicht gedacht. Eure Dämonenenergie ist sehr stark, sie wehrt sich dementsprechend heftig gegen die läuternde Magie des Bannkreises und das ist natürlich extrem schmerzhaft.“

„Läuternde Magie? Eine Menschenmagie?“ Erstaunt und fragend blickte Inutaishou den Wolfsdämonen an.

„Ja“, erklärte dieser, „es wird erzählt, eine mächtige, menschliche Miko habe diesen Bann einst gelegt. Als Dank dafür, dass ein Wolfsdämon ihr das Leben gerettet hatte. Wenn ein Dämon versucht hier unerlaubt einzudringen, wird ihm sämtliches Youki entzogen. Wesen anderer Art kommen hier auch nicht so einfach rein, sie können die Höhle überhaupt nicht sehen und prallen, falls doch, an der Barriere ab.“

„Ich verstehe“, sagte Inutaishou und setzte sich Chugo gegenüber an das dämonische Feuer. Sein Blick streifte die acht Wölfe, die sich neben ihrem Anführer nahe der glattpolierten Höhlenwand auf den sandigen Boden gelegt hatten. Die Tiere gruppierten sich dabei um ein dickes Fell, auf dem ein fest schlafendes Kind lag.

Ein kleiner Wolfswelpe...

Überrascht betrachtete der Dämonenfürst das Kind genauer, es war ein Junge mit pechschwarzem Haar, etwa im gleichen Alter wie Sesshoumaru. Im Schlaf hatte sich der Kleine fest in den Pelz gekrallt und sich eine Falte des Fells in den Mund gestopft, auf der er träumend herumnuckelte.

„Dein Sohn?“ fragte Inutaishou lächelnd.

Chugo lächelte ebenfalls.

„Nein. Koga-chan ist der Welpe einer Begleiterin, die momentan nicht hier ist und ihr Kind zur Sicherheit in der Höhle zurückgelassen hat. Sie wollte eine Weile allein sein. Ihr Name ist Aoi und sie ist so etwas wie eine Partnerin für mich. Sie trauert allerdings immer noch sehr um ihren verlorenen Gefährten, darum wird sich wohl nie mehr aus der Beziehung zwischen uns entwickeln.“

Inutaishou nickte verständnisvoll.

„Es ist sehr schwer erneut zu lieben, wenn man durch Liebe verletzt wurde.“

„Es ist ebenso schwer sich mit einem Feind zu versöhnen“, meinte Chugo dazu, „doch vielleicht wird uns beiden das gelingen... Darf ich Euch etwas zu essen anbieten?“

Inutaishou riss sich von dem Anblick des niedlichen, schlafenden Wolfskindes los und nahm ein Stück getrockneten Fleischs entgegen. Eigentlich aß er fast nie etwas, er hatte das nur selten nötig, aber in diesem Fall war das ein Gebot der Gastfreundschaft und der Hundefürst wollte den Wolfsdämonen natürlich nicht beleidigen.
 

„Wie ich gesehen habe“, führte Chugo nach dem Essen das Gespräch fort, „habt auch Ihr einen kleinen Welpen dabei.“

„Ja, meinen Sohn, Sesshoumaru.“

„Euer einziger?“

„Ja. Ich habe sonst nur noch einen Pflegling, einen Waisen, der im letzten Krieg gegen Wölfe seine Eltern verlor.“

„Ach ja, richtig... Dieser junge Wolfshund fiel mir auch auf, ich hätte nicht gedacht, dass es solche Mischlinge noch gibt... Wolltet Ihr damit ein Zeichen des Friedens setzen, indem Ihr ausgerechnet diese beiden hierher mitbringt?“

Inutaishou lächelte.

„Ja, das auch. Ich sehe, du erkennst und verstehst meine guten Absichten. Und dein freundliches Entgegenkommen stützt meine Hoffnung, dass meine Bemühungen um Frieden nicht umsonst sein werden.“
 

Eine Zeitlang unterhielten sich die beiden Dämonen entsprechend den Regeln einer ehrerbietigen Zusammenkunft auf diese Weise weiter. Als sie ein solides Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut hatten, kam Inutaishou schließlich auf sein wichtigstes Anliegen zurück:

„Die Wölfe, die vor wenigen Tagen mein Schloss überfallen haben, waren offenbar angeheuerte Söldner. Ein unbekannter Dämon, möglicherweise ein Drachenverwandter, benutzte sie, um an meinen Sohn heranzukommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht meinen Welpen oder andere mir nahe stehende Personen zu entführen, um mich zu erpressen. Derartig geschickt hat sich aber schon lange keiner mehr angestellt... Hat in letzter Zeit jemand versucht Krieger von euch Wölfen anzuwerben? Oder hast du ähnliche, aufrührerische Aktivitäten im Norden bemerkt?“

„Nein“, entgegnete Chugo nachdenklich, „im Norden war es bisher sehr friedlich. Nur dieser machthungrige Akechi mit seinen merkwürdigen Fomorians hat einmal Ärger gemacht. Er wollte uns Wölfe überreden, dass wir uns ihm im Aufstand gegen Euch anschließen, aber unser Leitwolf hat das entschieden abgelehnt. Alle anderen Dämonen, die im Norden leben, sind normalerweise auch nicht an Kriegshandlungen oder Eroberungen interessiert... Es fällt mir immer noch schwer zu glauben, dass sich Wölfe an so einer schwachsinnigen Aktion beteiligt haben könnten. Es gibt allerdings auch einige heimatlose, aus dem Osten stammende Rudel, die machen, was sie wollen. Vielleicht wurde ihnen Land versprochen, für ein eigenes Revier setzen manche Wölfe schon so einiges auf’s Spiel.“

„Wolfsrudel aus dem Osten?“, fragte Inutaishou interessiert: „Könnten die vielleicht etwas mit dem östlichen Drachenclan zu tun haben?“

„Nein, sicher nicht“, stellte Chugo überzeugt klar, „ich weiß, Ihr hattet in der Vergangenheit oft Ärger mit dem Drachenlord Bundori, da liegt es nahe ihn zu verdächtigen. Aber die Wölfe stehen mit den Ostdrachen ebenso auf Kriegsfuß wie Ihr und würden sich nie mit diesem grässlichen Lindwurm verbünden. Bundori hat die Wölfe des Ostens einst aus seinem Reich vertrieben. Zudem habe ich gehört, dass der Drachenlord momentan genug eigene Probleme hat, es gibt da wohl eine Revolte und einen Bürgerkrieg mit seinesgleichen.“

„Das ist wahr“, gab Inutaishou zu, „Bundori hat mich deswegen sogar um einen vorübergehenden Waffenstillstand gebeten. Und er hat sich aus meinem Krieg gegen Akechi herausgehalten anstatt daraus seinen Nutzen zu ziehen.“

„Vielleicht ist ja genau das der Grund“, überlegte Chugo weiter: „Vielleicht möchte jemand verhindern, dass Ihr mit Bundori einen Friedenspakt schließt. Als Feind eines Feindes wärt Ihr ein wertvoller Verbündeter... Möglicherweise wollte ein Gegner von Bundori Euch erpressen, damit Ihr ihm helft?“

„Wenn jemand meine Hilfe gegen Bundori braucht, müsste er sie nicht erzwingen, ich hätte nichts dagegen, wenn dieses Drachenscheusal verschwindet.“

„Aber hättet Ihr Euch freiwillig in eine interne Drachenfehde eingemischt und dafür Eure Leute geopfert?“

Das war ein sehr berechtigter Einwand. In Bürgerkriege mischte sich niemand unbegründet ein. Und Inutaishou war schließlich kein Eroberer. Seine Getreuen, die für ihn kämpften, wollten und konnten sich sicher sein, dass sie, wenn sie ihr Leben einsetzen mussten, für eine gute Sache starben.

„Möglicherweise hast du Recht, Wolf, das könnte sein“, murmelte der Hundefürst und ergänzte: „Da wollte mich wohl jemand an sich binden und falls etwas schief geht, sollte die Schuld euch Wölfen zugeschoben werden. Das war geschickt eingefädelt... Wer könnte dahinter stecken? Kennst du jemanden von Bundoris sonstigen Feinden genauer?“

„Oje, da gibt es bestimmt so einige“, erwiderte der Wolfsdämon, „ich werde am besten erst mal versuchen herauszufinden, wer die Wölfe waren, die von diesem mysteriösen Unbekannten angeheuert wurden. Sie hatten bestimmt Freunde, die eventuell etwas wissen...“
 

Der Wolfsdämon unterbrach sich. Inutaishou hörte ihm nicht mehr zu. Der Dämonenfürst war plötzlich aufgesprungen. Seine ganze Haltung war angespannt als wolle er jemanden angreifen.

„Was ist denn? Was habt Ihr?“

„Sie sind in Gefahr“, flüsterte Inutaishou mehr zu sich selbst.

Im nächsten Augenblick sprang der Hundeherr aus der Höhle, durchbrach den schützenden Bannkreis, verwandelte sich aus der Bewegung heraus in einen strahlend weißen Energieball und flog fort.

Chugo sah, wie die Energiekugel den Berghang herab schoss, und dachte nicht lange nach. Er befahl seinen Wölfen in der Höhle bei dem schlafenden Wolfskind zu bleiben und rannte Inutaishou nach.
 


 

Soweit das siebte Kapitel.

Insgesamt vielleicht etwas viel Gerede. Aber das war die Überleitung zu einem bösen, bedrohlichen Intrigenspiel, hinter dem mehr steckt als es zuerst den Anschein hat. Ich hoffe, es hat euch gefallen, auch wenn ich streckenweise nur langwierige Dialoge geboten habe.

Im nächsten Kapitel steht Inutaishou und Chugo dann eine schreckliche Entdeckung bevor. Und auch der kleine, ausgebüxte Fürstensohn Sesshoumaru und seine beiden jugendlichen Begleiter haben so einiges zu entdecken...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Missverständnis

Vorbemerkung:

Erneut bedanke ich mich für alle bisherigen Kommentare. Freut mich wirlich sehr, dass euch die Geschichte immer noch gefällt (ich hoffe, das bleibt so.^^).

Im letzten Kapitel hatten sich der Inu no Taishou und der Wolfsdämon Chugo zu Friedenverhandlungen zusammengesetzt. Fast hätten die beiden dabei eine Versöhnung zwischen Hunden und Wölfen erreicht. Doch dann spürt der Herrscher des Westens eine Gefahr, unterbricht das Gespräch und eilt zu seinen Getreuen. Völlig überraschend wurde das Lager der Hundedämonen überfallen...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 8: Missverständnis
 

Während Chugo dem Inu no Taishou zum Lagerplatz der Hundedämonen folgte, schob sich eine von den nördlichen Gebirgshängen heranziehende Wolkenwand über den Nachthimmel. Es begann leicht zu nieseln. Den mittlerweile aufgegangenen Mond bedeckten die düsteren Regenwolken allerdings noch nicht. Daher bot sich beiden Dämonen, als sie das Lager erreichten, ein im bleichen Licht deutlich erkennbares Bild der Zerstörung.

Der Boden war aufgerissen und verheert, ein Teil der umliegenden Bäume war entwurzelt und zerschlagen worden. Ohne Zweifel hatte es hier einen äußerst heftigen, aber ebenso schnell beendeten Überfall gegeben. Es war unübersehbar, dass dieser Angriff zudem völlig überraschend gekommen war. Die Soldaten, die am Rande des Lagers Wache gehalten hatten, hatten nicht die Zeit gehabt ihre Waffen einzusetzen, noch weniger hatten sie ihre ruhenden Kameraden warnen können. Sie lagen mit gebrochenem Genick am Boden. Weitere Krieger waren im Schlaf getötet worden. Nur wenige hatten sich wehren können, waren aber offensichtlich hoffnungslos unterlegen gewesen. Ihre Leichen waren dermaßen übel zugerichtet, als wäre eine ganze Horde Monster über jeden einzelnen von ihnen hergefallen.
 

Voller Entsetzen starrte Chugo auf die grausige Szenerie des Todes. Wer hat das getan, fragte er sich sofort, wer hatte so etwas überhaupt tun können? Immerhin besaßen Hundedämonen eine hervorragende Sinnesausstattung und gerieten normalerweise nicht so leicht in einen Hinterhalt. Insbesondere diese Krieger hier waren auch sicherlich keine Amateure gewesen, die sich leicht überrumpeln und ausschalten ließen. Wer also hatte so etwas vollbringen können? Wer war der Gegner gewesen?

Chugo sah sich genauer um und entdeckte schließlich zwei Tote, die keine Hundedämonen waren. Gleich darauf durchfuhr ihn solch ein Schreck, dass er glaubte das Blut in seinen Adern gefriere zu Eis. Denn bei den beiden Toten, die nicht Inutaishous Gefolgsleuten, sondern eindeutig den mysteriösen Angreifern zuzurechnen waren, handelte es sich um Wolfsdämonen!

Das ist doch nicht möglich, dachte Chugo, das darf einfach nicht wahr sein. Unglauben und Fassungslosigkeit spiegelte sich in seinen Augen. Hastig blickte er zum Herrn der Hunde.
 

Mit steifen Bewegungen und steinernem Gesicht wanderte Inutaishou langsam durch das zerstörte Lager. Sorgsam prüfte er jedes einzelne Detail und musterte genauestens jeden einzelnen der Gefallenen. Bei jedem Schritt wurde seine Körperhaltung angespannter, sein stählerner Blick härter.

Neben einem der Soldaten kniete der Dämonenfürst plötzlich nieder. Er ergriff den Krieger unter den Achseln, zog ihn etwas zu sich heran und hielt ihn so vorsichtig in seinen Armen.

Verwirrt kam Chugo hinzu und besah sich den Hundedämonen in Inutaishous Armen. Die Rüstung des Kriegers war zerborsten, seine Brust regelrecht zerfetzt und voller Blut. Doch trotz seiner schrecklichen Verwundungen lebte er. Noch.

Chugo hatte bereits genug Sterbende gesehen, um zu wissen, dass der Soldat keine Chance hatte. Auch Inutaishou wusste das, sein Griff, mit dem er den Todgeweihten festhielt, verkrampfte sich.

Der Schwerverletzte regte sich, stöhnte und öffnete flackernd seine Lider. Seine schmerzerfüllten Augen weiteten sich, als er dem Blick seines Herrn begegnete.

„Oyakata-sama...“ flüsterte er erstickt.

„Ruhig“, sagte Inutaishou mit ebenso gedämpfter Stimme, „bleib still und beweg dich nicht. Ganz ruhig...“

Der Soldat achtete nicht auf die besänftigenden Worte.

„Verzeiht, Herr“, sprach er keuchend und stockend weiter, „es ging so schnell, so überraschend. Und es waren so viele... es war vergebens... keiner konnte sie aufhalten...“

„Wer sie? Wölfe etwa?“ mischte sich Chugo ungläubig ein, er klammerte sich an die verzweifelte Hoffnung, das Offensichtliche möge nicht wahr sein.

„Sie... ich... sie rangen mich nieder... so schnell...“

„Schon gut“, beruhigte Inutaishou den Krieger erneut, sah danach kurz um sich und stellte fest: „Einige von euch fehlen. Was geschah mit ihnen?“

„Verschleppt“, hauchte der Sterbende, „sie haben... sie betäubt, gefangen und mitgenommen.“

„Weißt du wohin?“

„In eine Festung. Einer sagte was von... einer Feste in der Tiefe...“

„Und mein Sohn?“ fragte Inutaishou bang: „Er ist ja wohl auch verschleppt worden... Ist ihm etwas geschehen?“

Der Krieger rang krampfhaft um Luft. Seine Atmung wurde schwerer und seine letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen:

„Verzeiht, Herr...“, brachte er schließlich noch heraus: „verzeiht unser Versagen...“

„Keiner von euch hat versagt“, beteuerte der Dämonenfürst rasch, „du hast mir dein Leben gegeben. Ich stehe deiner Treue wegen in deiner Schuld und ich danke dir. Wenn es ein jenseitiges Reich gibt, in dem wir Waffenbrüder uns wiedersehen können, werde ich meine Schuld bezahlen und dir so treu dienen wie du es mir gegenüber getan hast.“

Noch während Inutaishou dies sagte, erschlaffte der Körper in seinen Armen. So blieb es ungewiss, ob der sterbende Krieger die Worte seines Herrn noch gehört hatte.
 

Für einige Sekunden hielt der Fürst den Toten noch fest, dann legte er ihn behutsam auf dem Boden ab und senkte schweigend seinen Kopf. Der sanfte, sich nun verstärkende Nieselregen nässte seine Haut und perlte wie Tränen über seine Wangen. Seine Hände zitterten unmerklich und ballten sich zu Fäusten.

Chugo streckte langsam einen Arm aus, um den Hundeherrn zu berühren. Es war eine spontane, rein instinktive Geste, entsprungen aus einem unbewussten Gefühl der Hilfsbereitschaft und der Anteilnahme.

Doch er konnte seine Bewegung nicht zu Ende führen. Im nächsten Moment loderte eine von Inutaishou ausgehende, gewaltige Energiewelle auf. Eine heftige Ladung Youki erfasste den Wolfsdämonen und schleuderte ihn einige Meter fort gegen einen halb zerborstenen Baum am Rande des Lagerplatz.
 

Eilends raffte Chugo sich wieder auf, griff reflexartig an seinen schmerzenden Rücken und sah zu Inutaishou zurück. Der Anblick versetzte ihn in eine Verfassung heillosen Entsetzens.

Düster schimmerndes, rötliches Licht umwallte den Hundefürsten, eine Dämonenaura von unglaublich hoher, regelrecht unheimlicher Stärke strahlte von ihm aus. Es war eine übermächtige Kraft, die von einer einzigen Empfindung genährt wurde: Zorn.

„Bevor ich dich töte, Wolf, beantworte mir eine Frage...“

Diese ersten Worte sprach Inutaishou noch sehr leise aus, die folgenden dagegen schrie er:

„WARUM?! Warum habt ihr Wölfe das getan?“

Nun war es mit Chugos Fassung endgültig vorbei.

„Ihr glaubt doch nicht etwa, dass das mein Plan war? Ich schwöre Euch, weder ich noch irgendein Wolf sonst hat etwas mit diesem feigen Überfall zu tun!“

„Und wie erklärst du mir dann das da?“

Der Hundefürst war außer sich vor Wut. Bebend zeigte er auf die beiden Toten, die Chugo bereits zuvor als Mitglieder der vermutlichen Angreifer und als Angehörige seiner Art identifiziert hatte.

„Diese Leichen da sind Wölfe, genau wie der Rest des miesen Haufens, der meine Getreuen hier aus dem Hinterhalt heraus angegriffen und abgeschlachtet hat. Die ganze Luft hier stinkt nur so nach Wolf!“

Drohend ging Inutaishou auf Chugo zu, seine Augen leuchteten in brennendem Rot. Seine dämonischen Kräfte entfalteten sich weiter und umloderten ihn wie ein vernichtendes Feuer.

Chugo wich unwillkürlich einen Schritt vor dem aufgebrachten Dämon zurück. Inutaishou sah aus wie die Personifikation der Rache. Der Wolfsdämon wollte sich verteidigen, doch er brachte kein Wort über seine Lippen. Er hätte allerdings auch keine vernünftige Erklärung für das Geschehene liefern können. Alle erkennbaren Beweise sprachen schließlich gegen ihn. Für Unschuldsbeteuerungen blieb ihm zudem kaum Zeit, denn Inutaishou packte den Unglücklichen mit beiden Händen am Hals und drückte ihn fest gegen einen Baum.

„Machte dir das Spaß, verräterischer Wolf? Mich fortzulocken und mit schönen Worten abzulenken, während du meine Leute ermorden lässt? Das wirst du mir büßen...“

Der Dämonenfürst flüsterte nun nur noch, seine zwanghaft unterdrückte Stimme war heiser und rau:

„Ich hätte euch Wölfe damals wohl besser alle ausrotten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte... Wenn du nicht willst, dass ich das Versäumte nachhole oder du nicht äußerst grausam sterben willst, sagst du mir jetzt, was aus den Verschleppten geworden ist! Und was mit meinem Sohn geschehen ist! Wo ist er?“

Die Todesangst holte Chugo aus seiner Erstarrung. Als Inutaishou daraufhin seinen Griff leicht lockerte, brach es aus ihm heraus:

„Ich schwöre Euch nochmals, ich habe nichts mit all dem zu tun, ich bin genau so überrascht wie Ihr! Das waren keine Wölfe, die ich kenne, es müssen Abtrünnige gewesen sein... Und überlegt doch, kein mir bekannter Wolf hätte sich derartig geschickt und unbemerkt an Hundekrieger heranschleichen können. Da waren noch andere Kräfte mit im Spiel... Bitte, glaubt mir! Ein wahrer Wolf wie ich würde so etwas Unehrenhaftes auch nicht tun. Niemals!“

Jedes beschwörende Wort schien vergeblich zu sein, Inutaishou folgte offenbar nur noch seiner überschäumenden Wut. Sein Youki erhöhte sich unaufhörlich weiter, es erreichte ein Level, von dem Chugo immer geglaubt hatte, das ließe sich nicht übertreffen, und stieg immer noch an. Gleichzeitig traf den Wolfsdämonen ein hartes Gefühl, das ihm wie ein elektrischer Schlag durch sämtliche Nervenbahnen schoss. Es dauerte eine Sekunde, bis Chugo begriff, dass diese Empfindung aus Inutaishous tiefster Seele kam: ein schreckliches, fast unerträgliches Gefühl bestehend aus zerreißendem Schmerz und aus der erdrückenden Last von Verantwortungsbewusstsein.
 

Im nächsten Moment war es vorbei.

Inutaishou ließ den Wolfsdämonen abrupt los und brach in die Knie. Ein erstickter, klagender Schrei entrann seiner Kehle. Zugleich zog er sein Youki dermaßen schnell in sein Innerstes zurück, dass kurz darauf absolut nichts mehr von der unfassbaren Macht des Dämonenfürsten zu spüren war.

Chugo hustete und betastete vorsichtig seine Kehle. Nach einigem Zögern wandte er sich wieder Inutaishou zu:

„Es tut mir leid“, begann er schließlich behutsam, „was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen, aber vielleicht kann ich Euch helfen. Ich werde meine Begleiterin und ein paar meiner Wölfe holen. Dann werden wir mit Euch nach Euren verschleppten Gefolgsleuten und Eurem Welpen suchen. Wegen des zunehmenden Regens wird das schwierig sein, aber vielleicht finden wir trotzdem noch ein paar Spuren. Und diese Festung, die der sterbende Hundekrieger erwähnte, kommt mir irgendwie bekannt vor... ich glaube, ich habe schon mal etwas über eine Feste in der Tiefe gehört...“

„Eine Feste in der Tiefe“, wiederholte Inutaishou nachdenklich murmelnd und sah grimmig zu Boden. Danach holte er tief Luft, rammte eine Faust in die Erde und stand entschlossen auf. Sein harter Blick richtete sich nun wieder auf Chugo:

„Also gut, hole deine Gefährtin und deine Tiere, Wolf! Ich nehme dein Hilfsangebot an. Vergib mein voriges, ungerechtfertiges Verhalten! Ich glaube dir, dass du nichts mit diesem Überfall zu tun hast, und ich bedauere es meinen Zorn an dir ausgelassen zu haben. Es hat mich überkommen, als ich das hier sah. Und der Gedanke an meinen Sohn... ich habe einen Fehler begangen, ich hätte den Kleinen nicht mit mir hierher und in solche Gefahr bringen dürf...“

Inutaishou unterbrach sich. Er schüttelte sich kurz, sammelte sich und sprach entschieden weiter:

„Lass uns keine Sekunde mehr verlieren und aufbrechen. Wir werden die Mörder meiner Getreuen und die mit ihnen Verschwunden sowie meinen entführten Sohn finden. Und ich verspreche bei allem, was mir heilig ist, wer auch immer das getan hat, er wird es bereuen!“
 

Der Aussage des Hundeherrn gab es nichts mehr hinzuzufügen. Chugo nickte stumm, drehte sich um und verließ, gefolgt von Inutaishou, das zerstörte Lager. Er spürte den entschlossenen, brennenden Blick des Dämonenfürsten in seinem Rücken. Es fühlte sich an, als würde ihm der Hauch des Todes, der über den ermordeten Hundekriegern lag, nachfolgen. Und Chugo gab zu, dass er sehr erleichtert war, weil Inutaishou an seine Unschuld glaubte. Der Wolfsdämon wollte lieber nicht in der Haut des oder der wahren Schuldigen stecken.
 

Es war eine niederträchtige Ironie des Schicksals, dass der Wolfsdämon und der Hundeherr bei ihrer darauffolgenden, durch den Regen erschwerten Suche nach Spuren zufälligerweise nur knapp einen ganz bestimmten Hinweis übersahen. Dabei handelte es sich um ein einzelnes, silberweiß schimmerndes Haar, das sich in einem Gebüsch verfangen hatte. Dieses Haar war das einzige Zeichen, welches bewies, dass drei der vermissten Hundedämonen inklusive Sesshoumaru nicht verschleppt worden, sondern woanders hin verschwunden waren. Doch da Sesshoumaru ein Meister der Tarnung war und ein einzelnes Haar nicht mehr als eine Stecknadel im Heuhaufen darstellte, entging Inutaishou und Chugo dieses Indiz leider.
 

Der Hundefürst glaubte also sein Sohn wäre zusammen mit den sonstigen Vermissten von Feinden entführt worden und machte sich zu seiner Rettung auf. Sesshoumaru aber schlich zusammen mit Seto und Yoshio in völliger Ahnungslosigkeit der Ereignisse durch die gut verborgene und verbotene Ruhestätte der Wolfsdämonen.
 

In der Schlucht, welche den Wolfsfriedhof beherbergte, war es neblig. Das begünstigte zwar die heimliche Entdeckungstour der drei Ausreißer, erschwerte allerdings auch ihre neugierigen Nachforschungen bezüglich vergangener, vergessener Geschichte.

„Was für eine bescheuerte Wolkensuppe!“ meckerte Seto: „Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen!“

Der jugendliche Leibwächter fragte sich, wie lange sein herrschaftlicher Schützling und dessen Freund weiterhin ergebnislos zwischen irgendwelchen Felsen und verblichenen Knochen herumsuchen wollten. Er hatte keine Überzeugung mehr, dass hier noch irgendwas Interessantes zu finden war. Abgesehen von alten, mumifizierten Wolfsskeletten hatten die Hundedämonen bisher nichts entdecken können.

Den zweiten Grund, warum Seto die Schlucht eigentlich lieber wieder verlassen wollte, hätte er nicht einmal gegenüber sich selbst genannt. Denn dann hätte er zugeben müssen, dass er schlichtweg Angst hatte. Auf einem nächtlichen, nebligen Friedhof war es eben unheimlich und auch ein Dämon war nicht gefeit gegen das Unbehagen, das an so einem gruseligen Ort aufkommen konnte. Insbesondere, wenn man zudem ein junger, ungehorsamer Dämon war, der genau wusste, dass er etwas Verbotenes tat.

Auch Yoshio, der zuerst noch sehr aufgeregt und wissbegierig gewirkt hatte, verlor langsam seine Abenteuerlust. Nur die Tatsache, dass Sesshoumaru nicht aufgeben wollte und sich offenbar auch überhaupt nicht von der gespenstigen Umgebung beeindrucken ließ, trieb den Wolfshundmischling noch weiter. Ebenso wie Seto wollte er sich gegenüber einem Kind nicht mit seiner Furcht blamieren.
 

Einige Zeit später, während der nieselnde Regen zunahm, wurde es Seto schließlich doch zu dumm. Er begann angestrengt zu überlegen, wie der diplomatischste Weg aussehen könnte, Sesshoumaru zur Rückkehr ins Nachtlager der Hundedämonen zu bewegen. Als er so seinen Gedanken nachhing, verfing sich sein Fuß in etwas. Ehe er wusste, wie ihm geschah, strauchelte der Jugendliche und knallte mit der Nase voran bäuchlings auf den feuchten Boden.

„Aaaah, autsch, Scheiße noch mal!“ keifte er: „Jetzt habe ich die Schnauze aber wirklich bis oben hin voll!“

„Eine hübsche Landung“, kommentierte Yoshio das peinliche Missgeschick, „brauchst du ein bisschen Gymnastik?“

„Deine dämlichen Witze werden offenbar nie besser“, knurrte Seto gereizt, richtete sich auf und bemühte sich zu erkennen, über was er gestolpert war.

„Was ist das? Ein verrosteter Metallring? Einfach so grundlos im Boden?“

„Metallringe wachsen wohl kaum grundlos aus der Erde“, bemerkte Yoshio ätzend und beugte sich prüfend zu dem fraglichen Objekt herab. Auch Sesshoumarus Interesse war geweckt, er kam an Yoshios und Setos Seite.

„Geh etwas weg da!“ befahl er seinem am Boden hockenden Leibwächter.

Seto stand von seiner Sturzstelle auf und trat beiseite. Yoshio putzte den nassen Sand und die Kiesel rings um den Metallring weg. Zum Vorschein kam eine rechteckige, marmorierte Steinplatte.

„Eine Bodenplatte“, staunte Yoshio, „sieht aus wie eine geheime Tür zu einer Gruft.“

„Worauf wartest du denn, mach sie auf!“ forderte Seto.

Yoshio ließ sich nicht lange bitten, er packte den Metallring und zog kräftig daran. Allerdings war die Steinplatte sehr fest verankert. Erst als Seto und letztendlich auch Sesshoumaru dem Wolfshundemischling halfen, konnten sie die Steinplatte hochheben und entfernen. Gespannt starrten die drei Hundedämonen in das nun geöffnete Loch. Ein schmaler Treppenschacht lag vor ihnen, die Stufen führten hinab in ein unterirdisches, kuppelartiges Gewölbe.

Sesshoumaru wollte die Treppe betreten, wurde aber sogleich von Seto zurückgehalten.

„Wartet, Sesshoumaru-sama“, bat er, „lasst mich vorangehen. Ob es Euch gefällt oder nicht, ich bin weiterhin für Eure Sicherheit verantwortlich. Und wir wissen ja nicht, was da unten ist. Ich möchte echt nicht noch mehr Ärger bekommen als ich eh schon kriegen werde, weil wir abgehauen sind und hier verbotenerweise herumschnüffeln.“

Zu Setos und Yoshios Überraschung erhob Sesshoumaru keine Einwände und überließ seinem Leibwächter tatsächlich den Vortritt.

Seto fühlte sich zwar keineswegs so wohl und selbstsicher wie er sich äußerlich gab, während er sich anschickte den Schacht herabzugehen, aber als feige dastehen wollte er freilich ebenfalls nicht. Tief Luft holend setzte er einen Fuß auf die erste Treppenstufe und sprang im selben Moment schmerzlich aufjaulend zurück. Yoshio und Sesshoumaru beobachteten irritiert wie er japsend, vor sich hin schimpfend und ziemlich lächerlich wirkend auf einem Bein im Kreis herumhopste.

„Aua, aua, aua... scheiße noch mal, tut das weh...“

„Hat dich was gestochen?“ fragte Yoshio höhnisch grinsend.

Daraufhin kniete sich Sesshoumaru neben den Treppenschacht, tastete vorsichtig mit den Fingerspitzen die Luft darüber ab und zuckte ebenfalls zurück.

„Ein schützender Bannzauber“, erklärte er danach, „merkwürdig, ich dachte, Wolfsdämonen verstehen nicht viel von derartiger Magie.“

Interessiert streckte nun auch Yoshio seine Hände aus, er wich aber nicht zurück.

„Ich spüre gar nichts davon“, stellte er verblüfft fest und betrat dann mutig geworden die Treppe: „Seht nur, ich komme problemlos hindurch!“

Sesshoumaru musterte seinen älteren Freund zunächst verwundert. Aber er fand schnell eine Begründung für das Phänomen:

„Du trägst Wolfsblut in dir, das wird es sein. Wahrscheinlich dürfen nur Wölfe dort hinein... Was ist da unten?“

Yoshio ging die Treppe weiter runter, es war nicht weit, er hatte das Gewölbe schnell erreicht und sah sich um. Doch er konnte in der absoluten Finsternis nichts sehen.

„Ich brauche Licht!“

Mit einem leichten Nicken legte Sesshoumaru seine Handflächen aneinander, schloss die Augen und konzentrierte sich. Erstaunt registrierte Seto ein Leuchten, das die Finger des Dämonenprinzen umspielte. Sesshoumaru nahm seine Hände wieder etwas auseinander, dazwischen bildete sich nun eine Kugel aus strahlender Dämonenenergie. Dieser über dem Schacht schwebende Energieball spendete genügend Licht, um das unterirdische Gewölbe für Yoshio zu erhellen. Seto kam aus dem Staunen nicht heraus, er war extrem beeindruckt. Feuer machen war nämlich eine Fähigkeit, die Hundedämonen nicht natürlicherweise besaßen. Solch ein spezieller und kontrollierter Einsatz von Youki war deswegen sehr schwierig für sie zu bewerkstelligen, erst recht für ein Kind.
 

„Volltreffer! Da haben wir genau das Richtige entdeckt“, erklang Yoshios Stimme aus der Tiefe: „Das muss ein Ort für Erinnerungen sein. Hier gibt es lauter Malereien, die wohl Szenen aus der Vergangenheit und die Geschichte der Wolfsdämonen darstellen... Da sind auch Schlachtenbilder mit Wölfen und Hunden. Die zeigen sicher den vergessenen Krieg... Und das da... das ist...“

Mit einem Mal verstummte Yoshio. Kurz darauf gab er einen undefinierbaren Schreckenslaut von sich.

„Was ist denn?“ erkundigte sich Seto.

Aber bevor Yoshio antworten konnte, stöhnte Sesshoumaru auf, das Licht in seinen Händen erlosch. Der Fürstensohn öffnete die Augen und sprang hastig auf.

„Und was ist jetzt bitte plötzlich auch noch mit dir los?“ fragte Seto zunehmend ungehalten.

Sesshoumaru reagierte nicht auf Setos unüberlegt ausgesprochene und daher flegelhafte Worte. Sein Gesicht war kreidebleich.

„Chichi-ue...“ flüsterte er, dann rief er zu Yoshio herab: „Komm wieder hoch! Schnell! Wir müssen sofort zurück!“

Perplex verließ Yoshio das Gewölbe. Neben seiner Überraschung über Sesshoumarus Aufforderung und Verhalten drückte seine Miene auch ungläubiges Entsetzen aus. Seto wunderte sich, was der Wolfshundedämon wohl durch die geheimnisvollen Wandmalereien in dem unterirdischen Raum herausgefunden hatte, dass er so bestürzt war. Doch zunächst war es wichtiger zu klären, was auf einmal in Sesshoumaru gefahren war.

„Ich wäre echt glücklich über ein paar Erklärungen!“

„Spürst du das denn nicht?“ fuhr Sesshoumaru seinen Leibwächter zornig an: „Die Aura meines Vaters! Er zeigt offen sein Youki, irgendetwas ist passiert!“

Nun fühlten Seto und Yoshio es auch. Eine mächtige, dämonische Energie baute sich in dem entfernten Lager der Hundedämonen auf und wallte bis zu ihnen hinunter in die Schlucht. Immer stärker und stärker wurde diese Ausstrahlung, bis sie plötzlich abrupt wieder verschwand.
 

Für Sesshoumaru gab es nun kein Halten mehr. Wie gehetzt rannte er aus der Schlucht die Berghänge hinauf. Seto und Yoshio konnten ihm kaum folgen.
 

Völlig außer Atem erreichten die beiden Jugendlichen und das Kind das Lager der Hundedämonen und erstarrten geschockt, als sich ihnen dort das gleiche schreckliche Bild von Blut, Tod und Zerstörung bot, das nur wenige Zeit zuvor auch Inutaishou und Chugo erwartet hatte.

„Wa-was... was...“ stotterte Seto fassungslos, „was ist denn hier passiert?“

„Wir sind überfallen worden“, entsetzte sich Yoshio und schlug seine Hände vor den Mund. Er begann unkontrolliert zu zittern und Übelkeit ergriff ihn.

Mit Sesshoumarus kühler Selbstsicherheit war es ebenso vorbei, in völliger Verzweiflung hastete der kleine Dämon durch das zerstörte Lager und untersuchte ängstlich die Toten.

„Das ist ja... einfach furchtbar...“ stöhnte Seto leise und ging hinter Sesshoumaru her. Eigentlich war er bisher stets sehr begierig auf Kämpfe gewesen, dieses Mal hielt sich seine Begeisterung für so etwas aber sehr in Grenzen. Bei der Begutachtung der vielen, teils sehr grausam umgebrachten Leichen wurde ihm bewusst, dass Krieg keineswegs so ehrenwert war, wie er es sich oft ausgemalt hatte, sondern im Gegenteil eine äußerst scheußliche, schmutzige Sache sein konnte.
 

Es dauerte eine Weile bis die drei jungen Hundedämonen ihren Schrecken verarbeitet hatten, dann jedoch fiel ihnen auf, dass einige der zu erwartenden Leichen fehlten.

„Kage, Tamahato und zwei weitere sind nicht unter den Toten“, stellte Seto fest, „auch nicht die beiden Diener, die uns begleitet haben. Und der Inu no Taishou fehlt ebenso. Ob er immer noch bei diesem Wolf Chugo ist?“

„Nein“, betonte Sesshoumaru, „er war zwischenzeitig wieder hier. Ganz sicher. Sein Youki hat eindeutig von hier ausgestrahlt.“

„Wenn er eine so enorme Energie freigelassen hat, hat er wahrscheinlich gekämpft“, vermutete Seto nachdenklich, „und dass sein Youki dann so plötzlich erlosch, muss wohl bedeuten, dass er überwältigt wurde...“

Der junge Soldat stockte, als er Sesshoumarus erschrockenen Blick sah.

„Er muss deswegen ja nicht vernichtet worden sein“, fügte er daraufhin schnell beruhigend hinzu, „scheint mir eher so, dass er mit den anderen Verschwundenen gefangen und fortgebracht wurde.“

„Ach ja?“ mischte Yoshio sich ein: „Und wohin bitte? Kannst du das in deiner überschlauen Weisheit und mit deiner Supernase auch feststellen?“

Verlegen ließ Seto die Schultern hängen.

„Nein, das nicht. Die Gerüche hier sind ja allesamt mehr als verwirrend. Da scheint sich jemand gut auf Spuren verwischen zu verstehen, der Regen verschlimmert das noch. Vielleicht waren an dem Ganzen auch nicht nur Wölfe beteiligt...“

Grübelnd brach Seto ab, irgendwie erinnerte ihn das Geschehene auf einmal sehr an den vergangenen Wolfsangriff auf das Schloss des Westens. Der merkwürdige, mächtige Drachenvogel, dem es fast gelungen war Sesshoumaru zu entführen, fiel ihm wieder ein. Ob der was mit der Sache zu tun hatte?

„Ich kann zumindest noch einen Nachhall vom Youki meines Vaters spüren“, sagte Sesshoumaru in diesem Moment: „Und da ist noch eine andere, offenbar eine wölfische Spur. Der könnten wir folgen. Ich werde meinen Vater retten!“

Mit einem Ausdruck in den Augen, als wäre der Mond vom Himmel gefallen, glotzten Seto und Yoshio den kleinen Prinzen an.

„Äh“, meinte Yoshio, „hör mal, Sesshoumaru, das ist wohl keine gute Idee... wir sollten lieber schnell verschwinden, um Hilfe zu holen, und...“

„Dann ist es vielleicht zu spät“, unterbrach Sesshoumaru ihn heftig, „ihr könnt meinetwegen ja gerne davonlaufen. Ich schaff das schließlich auch allein. Aber versucht nicht mich aufzuhalten!“
 

Resignierend kam Seto an des Kronprinzen Seite. Er sah keine Möglichkeit, wie er Sesshoumaru von seiner Idee und dem darausfolgenden Wahnsinnsunternehmen abbringen konnte. Da half wahrscheinlich nicht einmal Gewalt, immerhin waren die Kräfte des kleinen Dämons nicht zu unterschätzen. Außerdem verstand er den Dämonenjungen sehr gut. Seto war genauso besorgt und fragte sich ängstlich, was wohl aus seinem alten Partner Tamahato geworden war.

Es gab nur eine Lösung. Wenn eine Chance bestand, dem Inu no Taishou und seinen Getreuen zu helfen, dann mussten sie diese Chance nutzen. Und vielleicht hatten die jungen Hundedämonen dabei auch einen Überraschungseffekt und das Glück auf ihrer Seite, denn eins war jedenfalls sicher: mit ihnen als Rettungstruppe rechnete garantiert niemand.
 


 

Soweit das achte Kapitel.

Tja, jetzt ist’s passiert. Ein paar kleine Missverständnisse bzw. Fehlinterpretationen und schon gehen Vater und Sohn unabhängig voneinander auf gegenseitige Rettungsmission. Ohne zu ahnen, dass der jeweils andere eigentlich gar nicht gerettet werden muss, und dass sich beide damit erst recht in Gefahr begeben... *grins*.

Im nächsten Kapitel erfahrt ihr ein wenig über die Hintergründe des nächtlichen Überfalls bzw. was mit den Verschleppten geschehen ist. Und welchen Hürden die Hunde sich voraussichtlich stellen dürfen...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Ungewissheit

Vorbemerkung:

Und wiederum bedanke ich mich bei allen Lesern für das anhaltende Interesse und für alle bisherigen Kommentare.

(*jedem einen dicken Blumenstrauß in die Arme drück*)

Im letzten Kapitel wartete eine schreckliche Entdeckung auf den Dämonenherrscher des Westens und den Wolfsdämonen Chugo, denn das Lager der Hundedämonen wurde überfallen. Inutaishous Getreuen wurden getötet oder verschleppt. Voller Zorn und in der festen Überzeugung, dass auch sein Sohn entführt worden ist, setzt sich der Hundeherr mit Chugo auf die Fährte eines noch fremden Feindes. Er weiß nicht, dass sich die vermissten, jungen Hundedämonen Seto, Yoshio und Sesshoumaru sich woanders auf einem Wolfsdämonen-Friedhof herumgetrieben haben, um Geheimnissen aus der Vergangenheit nachzuspüren. Zu allem Überfluss begeben sich die drei unbedachten Ausreißer aufgrund einer Fehlinterpretation der Situation auch noch selbst auf Rettungsmission. So stürzen sich alle unabhängig voneinander ins große Unbekannte...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 9: Ungewissheit
 

Düsternis und feuchte, modrige Luft empfingen Tamahato, als er sich, aus seiner Bewusstlosigkeit erwachend, mühsam aufsetzte und blinzelnd die Augen öffnete. Sein Kopf dröhnte wie nach dem kraftvollen Schlag mit einer Streitaxt. Seine Gedanken waren genauso träge wie seine Bewegungen, daher dauerte es einige Zeit bis ihm einfiel, was geschehen war.
 

Wir sind in einen Hinterhalt geraten...

Entsetzen packte ihn, der Schreck fuhr ihm durch sämtliche Glieder. In höchster Alarmbereitschaft wollte er hastig aufspringen, wurde jedoch sogleich durch einen starken Gegenzug an den Armen und durch einen plötzlichen, heftigen Schmerz, wie von einem Blitzschlag getroffen, zurück zu Boden gerissen.

„Lass das lieber, alter Kamerad“, hörte Tamahato eine ruhige, ihm bekannte Stimme sagen: „Wenn du dich gegen die Bannfesseln wehrst, erleidest du nur unnötig Schmerzen und verschwendest deine Kraft. Und es könnte gut sein, dass wir unsere Kräfte noch dringend brauchen.“

„Kage-sama!“

Erneut, dieses Mal allerdings deutlich vorsichtiger, versuchte Tamahato sich aufzurichten und entdeckte daraufhin seinen Hauptmann neben sich. Der Anführer der Fürstengarde saß regungslos an einer gemauerten, etwas feuchten Wand. Noch leicht verwirrt sah Tamahato sich weiter um und erkannte, dass sie sich beide in einem engen, halbrunden Verlies befanden, wahrscheinlich tief unter der Erde. Der einzige Zugang zu dem steinernen Gefängnis war eine massive Holztür mit einer winzigen Gitterluke, durch die ein schwacher Lichtschimmer drang, offensichtlich der Schein von Feuerfackeln.

„Wo, zur Hölle...“

Ein erneuter blitzartiger Schmerz und ein klirrendes Geräusch unterbrachen Tamahatos Frage und Bewegung. Der alte Soldat blickte an sich herab und bemerkte eiserne Ketten, die seine Hand- und Fußgelenke an die Wand hinter sich fesselten. Auch Kage war derartig angekettet worden.

„Beim dusteren Abort des Todes, wo sind wir hier gelandet?“

„An einem Ort, an dem wir sicher nicht sein wollen“, antwortete Kage mit dumpfer Stimme: „Meiner Meinung nach stecken wir tief in der schwärzesten Tinte!“

Tamahato starrte den Heerführer kurz an und schnupperte schließlich prüfend in der Luft herum.

„Es riecht nach Wölfen“, stellte er nun fest, „aber auch nach allerlei anderen Dämonen. Und nach Wesen, deren Geruch ich nicht zuordnen kann... sie riechen genau wie die modrigen Steinwände hier, nach Fäulnis!“

„Das ist der Gestank von Fomorians“, erklärte Kage: „Ich habe die Ausdünstungen dieser Kreaturen erst vor einer Woche ertragen müssen. Und meine Hoffnung, dass ich das nie wieder riechen muss, war wohl umsonst. Du weißt wahrscheinlich, dass die Fomorians dem Chaos aus Anbeginn der Schöpfung entstammen und kein richtiges Leben besitzen. Durch meine eigene Erfahrung kann ich bestätigen, dass es widerliche Missgeburten sind, die ständig am Rande der Verwesung stehen, deswegen stinken sie auch so. Angeblich existieren sie wie Parasiten von der Lebenskraft anderer, die sie sich einverleibt haben.“

„Fomorians?“ fragte Tamahato erstaunt: „Aber das würde ja heißen, dass...“

„Ja“, bestätigte sein Hauptmann, „der Verräter Akechi und der Rest seiner entflohenen Bande von Aufrührern sind ebenfalls hier irgendwo. Jemand hat diesen miesen Aufständischen nach ihrer Niederlage hier Unterschlupf gewährt.“

„Verdammt!“ fluchte Tamahato: „Haben sich die Wölfe mit Akechi verbündet? Dann hat dieser Chugo vom Nordrudel gelogen, der Wolfsangriff auf unser Schloss war also doch von ihnen geplant gewesen. Der Mistkerl hat uns reingelegt!“

„Auf den ersten Blick scheint das so.“

Leise seufzend verlagerte Kage leicht sein Gewicht, um eine bequemere Sitzposition auf dem harten, kalten Steinfußboden zu finden. Nachdenklich fuhr er schließlich fort:

„Ganz so einfach ist es aber wohl doch nicht. Wölfe sind an dem Ganzen offenbar nur geringfügig beteiligt, sie sind nur vordergründige Handlager. Interessant sind da eher die Hintermänner... Als ich, vor etwa einer Stunde, vor dir hier aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte, habe ich ganz kurz die Aura eines Drachens gespürt. Außerdem bin ich mir relativ sicher, dass dieses Bauwerk, in dem wir uns befinden, einst von Drachen erbaut wurde. Ich glaube, wir sind in einer der uralten Festungen gelandet, die von den Drachen vor ewigen Zeiten für ihre damaligen Kriege gegeneinander errichtet wurden. Als ich noch im südöstlichen Drachenreich gelebt habe, habe ich einmal eine Legende von einer halb vergessenen, unterirdischen Drachenfestung im Norden gehört... Gut möglich, dass unsere Feinde diese Feste entdeckt und für sich in Anspruch genommen haben.“

„Drachen also auch noch...“
 

Das alles klang irgendwie gar nicht gut, fand Tamahato. Scheinbar steckten Akechi und seine Formorians, Wölfe, Drachen und allerlei andere Dämonen zusammen unter einer Decke. Offensichtlich waren die Hundedämonen und ihr Herr zum Ziel einer großangelegten Verschwörung geworden. Voller Sorge stellte Tamahato deswegen nun die nächste Frage, die ihm schon die ganze Zeit über auf der Seele brannte:

„Was ist mit den übrigen von uns? Sind sie auch gefangen worden?“

Kage sah ernst zu Boden, sein Blick verdüsterte sich.

„Der größte Teil unserer Leute ist tot. Es ging alles so schnell, dass keiner von uns richtig reagieren konnte. Ich habe höchstens zwei oder drei von diesen Schurken in die Hölle schicken können, bevor sie mich wie dich niederrangen und bewusstlos machten. Ich weiß nicht, ob außer uns noch weitere unserer Krieger überlebt haben. Falls ja, stecken die wohl in einem anderen Kerkerloch.“

„Und was ist mit Sesshoumaru-sama, Yoshio-san und meinem Partner Seto?“

Diese Frage brachte Kage erstaunlicherweise in ziemliche Verunsicherung.

„Was mit dem Prinzen und den beiden Jugendlichen passiert ist, weiß ich leider überhaupt nicht“, meinte er zögernd, „die waren nämlich komplett verschwunden, als wir überfallen wurden.“

„Verschwunden?! Wohin?“

„Wie gesagt, ich habe keine Ahnung“, wiederholte der Heerführer und hob bedauernd die Schultern: „Sie waren einfach weg, ihre Schlafplätze waren leer. Bevor ich in die Bewusstlosigkeit abgedämmert bin, habe ich nur noch mitbekommen, wie sich unsere Angreifer wegen dem Fehlen des Fürstensohns aufgeregt und gestritten haben. Sie wollten zunächst nach dem Kleinen suchen, haben es dann aber doch sein gelassen, weil sie das Auftauchen des Inu no Taishou fürchteten.“

„Unser Herr...“ murmelte Tamahato bedrückt: „Hoffentlich ist wenigstens ihm nichts passiert... Und was jetzt? Wir können hier doch nicht einfach so tatenlos sitzen bleiben und abwarten!“

„Ich glaube, uns bleibt leider nichts anderes übrig.“

Kage war von der momentanen Situation ebenfalls alles andere als begeistert, doch er hatte bereits einsehen müssen, dass die Lage, in der er und sein Untergebener sich befanden, so gut wie aussichtslos war. Sie waren vollkommen hilflos, eine Flucht war schon allein wegen der Bannketten unmöglich. Überdies wussten sie noch zu wenig über die Umstände und über die Feinde, durch die sie in Gefangenschaft geraten waren. So konnten sie tatsächlich nichts Sinnvolleres tun als zu warten.
 

Nach einer Weile beklemmenden Schweigens hob der Heerführer leicht seinen Kopf und lauschte.

„Vielleicht erhalten wir jetzt ja eine Chance etwas mehr zu erfahren“, meinte er.

Auch Tamahato bemerkte daraufhin die leisen Geräusche, die Kage mit seinem besonders ausgeprägten Gehör sofort wahrgenommen hatte. Schritte näherten sich.
 

Wenige Sekunden später öffnete sich knarrend die schwere Holztür vom Verlies. Fackelschein erhellte den engen Raum.

Im Zelleneingang standen drei Dämonen in menschenähnlicher Gestalt. Zwei von ihnen waren wölfischen Ursprungs. Der Dritte, der die Gefangenen kurz musterte, war ein schlanker, hellhäutiger Dämon in einer schweren, silbern verzierten Rüstung. Kage erkannte in diesem einen Angehörigen des Donnerstamms und verengte unwillkürlich grimmig die Augen. Der Donnerstamm hatte Akechi unterstützt und sich in dem Feldzug vor einer Woche auf die Seite der Aufrührer gestellt. Der Großteil des Stamms war deswegen von Inutaishou und seinem Heer vernichtet worden. Somit gehörten auch die Donnerdämonen zu den Feinden des Hundeherrn.

Der Donnerdämon begegnete Kages finsterem Blick und deutete mit einer herrischen Geste auf ihn:

„Der da! Das ist der Heermeister des Hundefürsten, nehmt ihn mit! Den anderen brauchen wir noch nicht, der bleibt da!“

„Wer seid ihr?“ fragte Tamahato sofort: „Warum habt ihr uns überfallen und gefangen genommen? Was wollt ihr von uns?“

Der Donnerdämon warf Tamahato einen giftigen Blick zu. Dann holte er mit seinem Arm aus und schlug dem alten Hundekrieger kräftig mit einer ellenlangen, harten Gerte ins Gesicht.

„Halt gefälligst deine Schnauze, Hund!“ fuhr er den Geschlagenen zornig an: „Fragen stellen nur wir. Beim nächsten unerlaubten Wort peitsche ich dir das Fleisch von den Rippen!“

Die beiden Wolfsdämonen kamen derweil zu Kage und zerrten ihn grob auf die Beine. Einer hielt den dämonischen Flughund fest und drückte ihm dabei warnend ein Messer gegen den Hals, während der andere Kages Ketten löste und dem Heerführer danach die Hände hinter dem Rücken fesselte. Als sie damit fertig waren, packten sie Kage an den Armen und schleiften ihn mit sich aus dem Verlies.

„Kage-sama!“ rief Tamahato ungeachtet der vorigen Drohung hinter seinem Hauptmann her: „Ihr niederträchtigen Feiglinge! Was habt ihr mit ihm vor?“

Mit einem süffisanten Grinsen wandte sich der Angehörige des Donnerstamms noch einmal zu dem alten Soldaten um.

„Keine Sorge, unsere Herren wollen sich nur ein wenig mit ihm unterhalten. Noch brauchen wir euch alle lebendig. Sei froh und dankbar, wenn dich keiner beachtet, und genieß deine letzte Zeit, solange du noch kannst!“

Damit verließ der Donnerdämon ebenfalls den Kerker und verriegelte die Tür hinter sich sorgfältig.
 

Tamahato hörte, wie sich die Schritte entfernten.

Die Tatsache, dass die feindlichen Dämonen ihre Gefangenen zumindest zeitweise noch am Leben lassen wollten, beruhigte ihn nur wenig. Wahrscheinlich brauchten sie Geiseln und als solche würden sie sicher sterben, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatten. Lebendig war zudem ein dehnbarer Begriff.

Behutsam strich Tamahato über seine linke Gesichtshälfte, auf der die Peitsche des Donnerdämons eine lange, tiefe Strieme hinterlassen hatte, und versank in sorgenvolles Nachdenken.

Das sah wirklich übel aus. Vermutlich waren sie verschleppt worden, um den Herrn der Hunde unter Druck zu setzen oder in eine Falle zu locken. Das würde Inutaishou in höchste Gefahr bringen, sofern er das nicht schon war. Doch welche Pläne hatten diese Halunken genau? Und wer steckte da alles dahinter? Das schien ein gut durchdachter Coup zu sein, in dem mehrere intrigante Geister ihr Können erprobten und ihre Finger im Spiel hatten.

Mit einem schweren Seufzer lehnte sich Tamahato an die feuchte Kerkerwand.

Zumindest schien nicht alles völlig nach Plan zu verlaufen. So war den Feinden offensichtlich Sesshoumaru entwischt. Damit hatten sie schon mal ein wichtiges Druckmittel weniger. Das würde dem Inu no Taishou, wenn er noch lebte und handeln konnte, vieles erleichtern. Zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer gab es also.

Der alte Soldat lächelte.

Er erinnerte sich jetzt wieder daran, dass Yoshio und Seto sehr neugierig bezüglich der Schlucht mit dem Friedhof der Wolfsdämonen gewesen waren. Möglicherweise hatte das auch Sesshoumarus Interesse erweckt und bei so etwas war der Prinz unberechenbar... hatte der kleine Ausreißer mit den beiden Jugendlichen vielleicht einen heimlichen Nachtausflug gemacht? Zuzutrauen war es ihm, der Fürstensohn war ein Künstler darin Verbote zu umgehen. Dann hatte sich der kindliche Ungehorsam ja ausnahmsweise mal als nützlich erwiesen.

Tja, dachte Tamhato, alle machen sie eben immer wieder den gleichen Fehler, sie unterschätzen junge Hunde und den Blödsinn, den diese anstellen können, einfach zu sehr. Aber auch ältere Hunde sollten lieber nicht unterschätzt werden, die können nämlich erst recht sehr gefährlich sein...

Mit diesem letzten Gedanken richtete sich Tamahatos Hoffnung auf seinen Herrn. Allen Gefahren und möglichen Fallen zum Trotz würde der Inu no Taishou seine gefangenen Getreuen sicher nicht im Stich lassen.
 

Tatsächlich hatte sich der Herrscher des Westens in derselben Nacht, in der Tamahato und Kage gefangen worden waren, zusammen mit dem Wolfsdämon Chugo auf die Fährte seiner unbekannten Feinde gesetzt.

Um möglichst viele Hinweise finden zu können, hatten sich der Hundeherr und der Wolfsdämon nach einer Weile jedoch wieder getrennt. Zudem hatte Chugo auch noch sein Rudel über die Ereignisse informieren wollen. Daher war Inutaishou bei der Verfolgung seiner Feinde momentan allein unterwegs.
 

Die Suche des Hundefürsten gestaltete sich allerdings zunehmend schwierig. Denn der seit Mitternacht strömende Regen hatte sich verstärkt. In den Morgenstunden kamen auch noch heftige Windböen zur Wetterverschlechterung dazu und verwehten die letzten Reste einer Witterung, so dass Inutaishou schließlich die Spur seiner Feinde verlor und seine Jagd abbrechen musste.

Äußerst widerwillig beugte sich der Dämonenfürst den Zwängen der Natur, suchte sich einen schützenden Unterschlupf unter dem mächtigen Stamm eines umgestürzten Baums und wartete dort auf Chugo. Er hoffte inständig, dass ihm nun die Wölfe weiterhelfen konnten. Immerhin kannten diese sich in ihrem Revier am besten aus und konnten so vielleicht ergründen, wohin die feindlichen Angreifer mit ihren Gefangenen verschwunden waren.

Eine Feste in der Tiefe...

Das hatte der sterbende Hundekrieger gesagt, als Inutaishou ihn gefragt hatte, wohin seine fehlenden Gefolgsleute und sein Sohn verschleppt worden waren. Es war der einzige Anhaltspunkt. Um was es sich bei dieser Feste handelte, wusste Inutaishou nicht, aber eigentlich war ihm das auch gleichgültig. Ergrimmt ballte er die Fäuste.

Weder das beste Bollwerk noch die stärksten Mauern oder sonstige Hindernisse, die ihm möglicherweise in den Weg gelegt werden würden, würden ihn aufhalten können. Keiner würde sich dauerhaft irgendwo vor seinem Zorn verstecken können. Denn niemand tötete ungestraft seine Getreuen! Und wirklich niemand entführte, ohne es bereuen zu müssen, seinen Welpen!
 

„Äh... Oyakata-sama?“

Eine leise, zaghaft klingende Stimme, die offensichtlich einem schon älteren Wesen angehörte, störte Inutaishous wütende Gedanken. Diese Stimme erklang fast direkt neben seinem Ohr.

Der Dämonenfürst blickte aus den Augenwinkeln beiseite. Auf seiner rechten Schulter saß eine winzigkleine Gestalt, gerade mal so groß wie ein Fingernagel. Es war ein kleines, dämonisches Insekt: ein Floh.

„Wenn ich mich recht erinnere, Myouga“, bemerkte Inutaishou daraufhin, „hatte ich dir vor Beginn unserer Reise befohlen, dass du dich stets unsichtbar verhältst. Also verschwinde sofort wieder unter mein Fell! Keiner weiß, dass ich dich bei mir habe. Und ich möchte, dass das vorerst auch so bleibt!“

„Verzeiht, Herr“, sagte der kleine Flohgeist hastig, „sobald Chugo zu Euch stößt, werde ich mich gleich wieder verbergen. Aber ich wollte Euch fragen, ob ich nicht lieber ins Schloss zurückkehren soll, um Hilfe zu ho...“

„Du bleibst bei mir!“ unterbrach ihn ein scharfer Befehl. Inutaishou verschränkte die Arme und fuhr nach einer kurzen Pause etwas milder gestimmt fort:

„Ich brauche dich. Schließlich wissen wir nicht, was uns erwartet, da könnten die Spionagedienste eines kleinen, unauffälligen Flohs sehr nützlich sein.“

„Aber das wird doch bestimmt sehr gefährlich“, wagte Myouga einzuwenden: „Wäre es nicht besser Verstärkung zu haben? Ihr könnt doch nicht allein mit ein paar Wölfen...“

„Ich bringe nicht noch weitere meiner Leute in Gefahr!“ unterbrach ihn Inutaishou erneut zornig: „Es ist schon genug Unheil geschehen, nur weil ich unbedingt meinen Welpen auf die Reise mitnehmen wollte. Außerdem wäre es wohl sehr kontraproduktiv, wenn ich mit einem ganzen Haufen Krieger durch die Gegend marschiere. Meine einzige Chance, die Entführten retten zu können, liegt im heimlichen Handeln. Ich muss sie schnellstmöglich befreien. Hoffentlich kann Chugo mir helfen das Versteck meiner Feinde ausfindig zu machen.“

„Könnt Ihr diesem Wolf denn wirklich trauen? Was, wenn er Euch direkt in eine Falle lockt?“

„Das muss ich eben riskieren.“

Ein dezentes, leicht freches Lächeln stahl sich nun auf Inutaishous Gesicht.

„Zur Not habe ich ja dich dabei. Wenn etwas schief geht, kannst du immer noch Hilfe holen gehen. Du musst dann eben nur zusehen, wie du allein aus dem ganzen Schlamassel herauskommst.“

Der Flohdämon auf des Hundefürsten Schulter schien in sich zusammenzuschrumpfen und noch kleiner zu werden. Das Abbild der personifizierten Angst hätte nicht realistischer dargestellt werden können. Inutaishous Lächeln wurde weicher.

„Mach dir keine Sorgen, Angstfloh, ich pass schon auf uns beide auf! Es wird alles gut werden. Und jetzt versteck dich wieder, ich kann Chugo wittern. Er und seine Wölfe werden gleich da sein.“
 

Im fahlen Licht des trüben Vormittags waren daraufhin mehrere, durch Regen und Nebel verwaschen wirkende Schatten zu erkennen, die auf Inutaishou zu liefen. Bei diesen Schemen handelte es sich um zwei menschenähnliche und drei tierische Wesen. Der erste von ihnen, der zu Inutaishou unter den schützenden Baumstamm schlüpfte, war Chugo.

„Elendes Mistwetter!“ schimpfte er, schüttelte sich kurz und wandte sich dann sofort ohne Umschweife an den Dämonenfürsten:

„Ihr habt die Spur verloren, nicht wahr? Ärgerliche Sache, aber bei diesem Wetter nicht anders zu erwarten. Diese mysteriösen Angreifer haben wirklich den idealen Zeitpunkt für ihren Überfall gewählt! Sie werden uns trotzdem nicht entkommen. Meine Begleiterin wird uns helfen können.“

Mit den letzten Worten winkte Chugo den zweiten menschenähnlichen Wolfdämonen zu sich. Eine schöne Frau mit langem, rotbraunem Haar trat an seine Seite, hob stolz ihren Kopf und blickte Inutaishou ohne jede Unterwürfigkeit entgegen.
 

Der Fürst sah direkt in die dämonischen, rötlich schimmernden Augen der Wolfsfrau und erschrak unwillkürlich. Diese Dämonin kam ihm bekannt vor! Er war ihr zwar noch niemals zuvor begegnet, da war er sich sicher, aber irgendwo hatte er dieses Gesicht, diese Augen schon einmal gesehen. Doch wo? Und warum erschreckte ihn das so? Was hatte das zu bedeuten? Wer war sie?

„Das ist meine Begleiterin Aoi“, stellte Chugo die Wolfsdämonin vor: „Sie gehört wie ich zu den Wächtern der Wölfe. Ihre Aufgabe ist es, unsere Geschichte und Erinnerungen zu bewahren. Daher weiß sie auch viele Dinge, die wir anderen schon längst vergessen haben. Ich habe sie nach der Feste in der Tiefe befragt und sie meinte, sie weiß, worum es sich dabei handelt.“

„Ja, ich weiß, was die Feste in der Tiefe ist“, bestätigte Aoi, „und, was noch wichtiger ist, ich weiß, wo sie ist und wie man hineinkommt...“

Die Wolfsdämonin hielt inne, in ihrem Antlitz machte sich Verwunderung breit.

„Warum schaut Ihr mich so seltsam an, ist Euch nicht gut?“ fragte sie den Dämonenfürsten besorgt.

Der Hundeherr bemerkte, dass sich sein unerklärlicher Schrecken wohl auch deutlich in seinem Gesicht widerspiegeln musste. Sofort unterdrückte er seine Gefühlregung und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. Seine Verwirrung überspielte er hastig mit einem Kompliment:

„Deine Schönheit hat mich so unvorbereitet getroffen, dass sie mich wohl völlig verzauberte... verzeih, es ist alles in Ordnung mit mir. Bitte, erzähl weiter!“

Aoi nahm das Kompliment und die Entschuldigung erfreut zur Kenntnis, sie stellte keine weiteren verwunderten Fragen mehr. Stattdessen fuhr sie wie gewünscht mit ihrem Bericht fort:

„Die Feste in der Tiefe liegt zwei Tagesreisen von hier entfernt noch weiter im Norden, nahe einer Hochebene. Es ist eine ehemalige, unterirdische Drachenburg, die ursprünglich einigen Erddrachen gehörte. Laut Legenden stammen von diesen Erddrachen die lindwurmartigen Sonnenweberdrachen ab, die mit dämonischen Wesen eine symbiotische Vereinigung eingingen und danach versuchten die gesamten japanischen Inseln zu erobern. Als das scheiterte, zog sich der Clan der Sonnenweberdrachen in den Südosten zurück. Seitdem ist ihre alte Festung verlassen, wird aber immer wieder gern von Drachen oder Dämonen, die davon noch wissen, als Schlupfwinkel genutzt. Es ist nicht einfach die Burg zu finden, ihre wenigen Zugänge sind extrem gut versteckt. Und es ist sehr gefährlich sich dort hineinzuwagen. Es gibt dort fast unendlich viele Gänge, in denen man sich leicht völlig verirren kann. Nicht zu reden von den tödlichen Fallen, durch welche die unterirdische Burg vor Eindringlingen geschützt wird, oder allerlei fremdartigen Wesen, die dort schon seit Urzeiten hausen sollen... Ohne einen findigen Führer, kommt Ihr dort nicht lebend hinein und noch weniger wieder lebendig heraus.“
 

Ungerührt hatte Inutaishou der Wolfsdämonin zugehört. Nach einer Weile nachdenklichen Schweigens fragte er die Wölfe:

„Was schlagt ihr mir vor?“

Chugo übernahm die Antwort:

„Wir werden Euch begleiten und in die Feste bringen. Aoi war schon einmal dort, sie kennt einen Zugang, der wahrscheinlich weitgehend fallenfrei ist und nicht so leicht in die Irre führt, weil er der am häufigsten genutzte Weg in die Burg ist. Der Nachteil ist, dass sich dort sicher auch die meisten Eurer Feinde aufhalten dürften, die erst aus dem Weg geräumt werden müssten.“

„Diese Aufräumaktion könnt ihr getrost mir überlassen“, meinte Inutaishou trocken, „das mache ich mit Freuden!“

Das kann ich mir lebhaft vorstellen, dachte Chugo und schluckte kurz bevor er weitersprach:

„Die Verschleppten sind sicher in den untersten Kerkerräumen. Während Ihr uns den Weg freikämpft, werde ich mit Aoi zu den Verliesen vordringen und versuchen die Gefangenen zu befreien. Das ist sicher nicht ein origineller Plan, aber einen anderen haben wir nicht. Und je weniger wir sind, desto besser können wir möglichst lange unauffällig bleiben. Deswegen nehme ich außer Aoi auch nur drei Wölfe mit. Es sind sehr kluge, verlässliche Tiere mit einer perfekten Spürnase.“

Inutaishou nickte langsam. Er hatte auch nicht vor größere Unterstützung einzufordern. Eigentlich wäre es ihm sogar lieber gewesen, er hätte ganz auf die Hilfe anderer verzichten können.

„Ihr riskiert euer Leben für mich“, gab er Chugo und Aoi zu bedenken: „Seid ihr sicher, dass ihr das wollt? Ich war einst euer Feind! Und möglicherweise müsst ihr euch nun euren eigenen Artgenossen entgegen stellen!“

„Die Wölfe, die Euch angegriffen haben, verhielten sich vollkommen schändlich“, erwiderte Chugo sofort bestimmt: „Mit diesem Verhalten haben sie den geheiligten Boden von unserem Friedhofsgelände entweiht. Wölfe, die so etwas tun und unser aller Ehre derartig in den Schmutz ziehen, erkenne ich nicht als meinesgleichen an. Das Recht ist auf Eurer Seite, Hundeherr, auf dieser Seite möchte auch ich stehen. Damit kann ich den Verrat, der Euch im Namen von Wölfen zugefügt wurde, wiedergutmachen. Und wenn mein Leben der Preis für Frieden zwischen unseren Völkern ist, zahle ich diesen Preis gern.“

Diese höchst bewundernswerte Haltung der Ehrbarkeit und Versöhnungsbereitschaft verblüffte Inutaishou dermaßen, dass er zunächst überhaupt keine Worte mehr fand. Als er seine Sprache wiederhatte, wandte er sich an Aoi:

„Und was ist mit dir? Willst auch du dein Leben für einen Hund auf’s Spiel setzen?“

Im Gegensatz zu Chugo zögerte Aoi ein wenig mit ihrer Antwort. Doch sie schloss sich ebenfalls an:

„Ja, ich komme mit Euch! Ich möchte auf jeden Fall dabei sein und ebenfalls die Ehre der Wölfe wiederherstellen!“

In den Augen der Wolfsdämonin lag ein seltsamer Glanz, als sie das sagte. Wieder hatte Inutaishou kurz das Gefühl, er müsse die Frau von irgendwoher kennen. Und dieses Gefühl verband sich mit Unbehagen. Aber er ignorierte das, er hatte auch keine andere Wahl. Wenn er in die geheimnisvolle Feste in der Tiefe wollte, musste er den Wölfen vertrauen. Es war der schnellste und offenbar auch der einzige Weg.

„Dann lasst uns aufbrechen! Das Unwetter schwächt sich langsam ab und wir dürfen nicht mehr warten. Jeder Moment ist kostbar!“
 

Die Dämonen verließen ihren Unterschlupf. Aoi übernahm die Führung.

„Zunächst, schlage ich vor, machen wir einen kurzen Abstecher zu Gakusanjin-sama. Er schuldet uns Wölfen noch einen Gefallen und könnte uns nützliche Hilfe bieten.“

„Wer ist Gakusanjin und wobei könnte er uns helfen?“ fragte Inutaishou. In seiner Stimme schwang Missbilligung mit, denn die Aussicht auf eine weitere Verzögerung gefiel ihm nicht.

Chugo verstand die Ungeduld des Dämonenfürsten sehr gut und beeilte sich eine Erklärung abzugeben:

„Gakusanjin ist ein dämonischer Berggeist, der schon lange in unserem Gebiet lebt. Er besitzt einen Schutzstein, einen Fuyoheki, mit dem sich dämonische Ausstrahlung verbergen lässt. Aoi möchte sich diesen Fuyoheki ausleihen. Damit können wir unsere Aura und auch unsere sonstigen Kräfte wie unseren Geruch perfekt tarnen. So wird uns niemand bemerken bis wir in die Feste in der Tiefe eingedrungen sind. Eine möglichst lange Unsichtbarkeit ist schließlich unser einziger vernünftige Schutz für die gefangenen Geiseln.“

Das war wahr. So gerne der Hundeherr die unterirdische Festung sofort erstürmt hätte, er durfte jetzt nicht ungeduldig werden und unüberlegt handeln. Sich zu tarnen, war es eine hervorragende Idee. Schließlich waren die Getreuen und der Sohn des Dämonenfürsten nicht ohne Grund entführt worden, damit hatten die Feinde ein wirksames Druckmittel in der Hand. Inutaishou durfte es nicht riskieren die Geiseln in Gefahr zu bringen. Deren Befreiung musste unbemerkt ablaufen. Ansonsten würde er sein Kind wahrscheinlich nicht mehr lebend wiedersehen.
 

Schweren Herzens fügte sich der Herr der Hunde in sein Schicksal und folgte den Wölfen Richtung Nordosten in ein abgelegenes Berggebiet. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein kleiner, vermisster Sohn, den er so dringend retten wollte, zufällig der Gefahr entkommen war. Und noch weniger konnte er ahnen, dass Sesshoumaru diesen glücklichen Zufall nicht nutzte, sondern eine eigene Rettungsaktion startete und damit gerade erst in diese Gefahr wieder hineinlief.
 


 

Soweit das neunte Kapitel.

Tamahato sieht das schon richtig. Junge und ältere Hunde sollten niemals unterschätzt werden. Da können sich alle noch auf einige Überraschungen gefasst machen.

Im nächsten Kapitel schauen wir, wo der vermisste Welpe und seine beiden jugendlichen Gefährten abgeblieben sind. Für die drei Naseweise dürfte es ja eigentlich erst recht nicht einfach sein in eine unterirdische Festung zu kommen. Mal sehen, ob und wie sie es trotzdem schaffen...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Eigensinn

Vorbemerkung:

Wie immer bedanke ich mich für alle Leser und alle bisherigen Kommentare und hoffe sehr, dass das Interesse an dieser Geschichte weiterhin bestehen bleibt.

Im letzten Kapitel fanden sich zwei von Inutaishous Getreuen nach einem hinterhältigen Überfall als Gefangene in einer unterirdischen Drachenfestung wieder und bekamen eine Ahnung davon, dass da eine gefährliche und großangelegte Verschwörung gegen ihren Herrn am Laufen ist. Derweil starten der Herrscher des Westens und sein kleiner Sohn –in der fälschlichen Annahme, dass der jeweils andere auch gefangen wurde- unabhängig voneinander eine gegenseitige Befreiungsaktion. Der Inu no Taishou kann dabei dank der Wolfsdämonen Chugo und Aoi sehr zielgerichtet vorgehen. Sesshoumaru, seinen Freund Yoshio und seinen Leibwächter Seto führt diese gutgemeinte Rettungsmission dagegen auf Umwege...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 10: Eigensinn
 

Erst am späten Nachmittag besserte sich endlich das stürmische, ungemütliche Regenwetter in den Bergen des Nordens. Langsam lockerte der düstere Himmel auf und bot ein beeindruckendes Naturschauspiel. Wie durch ein Bad erfrischt ragten die Berggipfel aus den tiefhängenden, sich bedächtig auflösenden Wolken hervor. Dunkelgrüne, durchtränkte Kiefernwälder umschmeichelten die bewachsenen Hänge wie schimmernder Samt. Viele Milliarden glitzernder Wasserperlen schmückten die Pflanzen. Überall rauschten angeschwollene Bergbäche. Gierig sog die kräftig spießende Frühlingsvegetation das lebensspendende Nass auf. Schließlich brach die allmählich untergehende Sonne durch die aufsteigenden Nebelfetzen. Ihre rotgoldenen Lichtstrahlen trafen auf den abziehenden Sprühregen und zersplitterten in tausend Farben. Ein prächtiger, doppelter Regenbogen spannte sich über das erfrischte Gebirge.
 

Inmitten all dieser Schönheit der Natur waren Seto, Yoshio und Sesshoumaru unterwegs. Die drei jungen Hundedämonen zeigten allerdings keine Begeisterung für die bestaunenswerte Landschaft um sich herum. Begossenen Pudeln gleich wanderten sie müde am Rande der Waldgrenze in höhere Lagen empor, bis sie schließlich ein Hochtal mit einem kleinen, aber sehr tiefem und dunklem Gebirgssee erreichten.

Am Ufer dieses Bergsees ließ sich Seto, der erste und älteste des Trios, zu Boden plumpsen.

„Es reicht“, stöhnte er und schüttelte seine klitschnassen, schwarzen Haare: „Es reicht wirklich! Wir machen jetzt eine Pause! Ich bin schließlich ein Hund und kein Packpferd, das stundenlang durch die Gegend trottet. Außerdem kommen wir ausgeruht viel besser voran.“

„Ausruhen, au ja“, murmelte Yoshio und gönnte sich ein erleichtertes Aufseufzen.

Erschöpft ließen sich nun auch er und Sesshoumaru am Seeufer nieder. Wieder seufzte Yoshio und starrte trübe auf die spiegelnde Wasseroberfläche. Wäre es ein heißer Sommertag gewesen, hätte ihn dieser Anblick normalerweise sehr gefreut. Der junge Wolfshundedämon nahm gerne mal ein erfrischendes Bad und hatte schon als Kind Spaß am wilden Herumtollen im kühlen Nass gehabt. Aber für heute hatte er wirklich genug von Wasser. Er war durchnässt bis auf die Knochen und fror erbärmlich, seine beiden Gefährten ebenso. Dämonen waren zwar nicht so empfindlich wie Menschen, doch sie spürten auch die verschiedenen Anforderungen, die das Leben in einer Körperform einem abnötigte. Warm, satt und trocken, das waren nun mal die Grundbedürfnisse vieler Säugetiere und ihrer dämonischen Verwandten. Und kein einziges dieser Grundbedürfnisse war momentan erfüllt. Dementsprechend elend fühlten die drei jungen, nassen Abenteurer sich mittlerweile.

Yoshio gab seiner Müdigkeit nach, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Trotz seines Frierens wäre er beinahe eingeschlafen. Doch kaum hatte er sich ein wenig entspannt, zuckte er zusammen und fuhr erschreckt wieder hoch.

Verflucht noch mal, dachte er dabei, warum muss ich jetzt schon wieder an dieses scheußliche Bild denken?

Immer wenn der Wolfshundedämon sich entspannte und seine Gedanken schweifen ließ, tauchten die mysteriösen Wandmalereien, die er in der geheimen Gruft auf dem Friedhof der Wolfsdämonen entdeckt hatte, vor seinem geistigen Auge auf. Besonders das letzte der Bilder, das er dort kurz gesehen hatte, verfolgte ihn nachhaltig in seinen Gedanken. Dieses Bild hatte so realistisch ausgesehen und war gleichzeitig so schrecklich gewesen, dass er es nicht vergessen konnte. Es war das Bild eines dämonischen Schattens gewesen, der auf einer Waldlichtung mit weißen Blumen stand, zu seinen Füßen ein Bach, in dem zwei leblose Körper lagen. Zwei leblose Körper, die Yoshio so vertraut vorkamen, als ob er sie auch schon einmal in Wirklichkeit gesehen hätte...

Nein!

Entschlossen verbannte Yoshio die verschwommene Erinnerung an die wölfischen Wandmalereien, die ihn merkwürdigerweise so erschreckte, wieder aus seinen Gedanken.

Was mir diese Bilder in der Wolfsgruft gezeigt haben, ist sowieso nicht wirklich passiert, redete er sich ein. Ich habe mich gewiss getäuscht. Ich habe alles viel zu kurz gesehen, um richtig was erkennen zu können. Außerdem haben die Wölfe doch sicher nicht alles wahrheitsgemäß dargestellt. Immerhin sind sie ja mit uns Hunden verfeindet... das war alles nur ein dummer Irrtum! Nichts davon ist wahr!
 

Langsam beruhigte Yoshio sich.

Er atmete einige Male tief ein und aus und überprüfte dann vorsichtig, ob einer der Hundedämonen neben ihm, insbesondere Sesshoumaru, etwas von seinem Verhalten bemerkt hatte. Zu seiner Erleichterung war Sesshoumaru genau wie Seto ebenfalls viel zu erschöpft und mit eigenen Gedanken beschäftigt, um großartig auf seinen Freund zu achten.

Der Fürstensohn bemühte sich zwar weiterhin seine zunehmenden Ermüdungserscheinungen zu verbergen, aber es war deutlich zu erkennen, dass er schon längst nicht mehr so motiviert war wie zu Beginn seiner Rettungsmission. Er zitterte unmerklich und bot einen fast mitleiderregenden Anblick. Gleichzeitig sah er jedoch sehr hübsch und bewundernswert aus. Sein feuchtes, seidenglattes und weißsilbernes Haar glänzte und funkelte wie Schneekristalle im farbenprächtigen Zwielicht der Abendsonne.

In einem Anflug von Neid betrachtete Yoshio den kleinen Prinzen. Er hätte auch gern solch wunderschönes Haar und ein besonderes Aussehen gehabt. Leider wirkte er dagegen, wie er fand, sehr normal und unscheinbar. Bedauernd betastete der Wolfshundedämon seinen eigenen, braunhaarigen Hinterkopf. Sesshoumaru bemerkte Yoshios Geste, missverstand diese aber und sah seinen Freund besorgt an.

„Schmerzt deine Kopfwunde?“ fragte er ihn.

Yoshio hatte in dem regnerischen Sturm nämlich Pech gehabt und war bei der Durchquerung des Waldes fast von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden. Schnell nahm Yoshio seine Hand vom Kopf, er wollte weder seine wahren Gedanken mitteilen noch als wehleidig dastehen.

„Es ist nichts“, beteuerte er hastig, „nur eine kleine Beule...“

„Wäre ja auch noch schöner“, brummte Seto verärgert, „wie kann man auch so blöd sein und sich einen Holzprügel auf den Schädel fallen lassen? Du bist echt ein unheilbarer Schwächling, Wolfi!“

„Und du bist ein großkotziger, miserabler Spürhund“, gab Yoshio wütend zurück, „gib doch endlich zu, dass auch du absolut keine Ahnung mehr hast, wo wir uns mittlerweile befinden. Du Navigationsniete hast uns komplett in die Irre geführt!“

„Als ob das allein meine Schuld wäre“, motzte Seto: „Was kann ich für diesen beschissenen Sturmregen? Außerdem war es nicht meine Idee bei diesem Mistwetter weiter durch diese bescheuerte, verwirrende Berggegend zu latschen! Sesshoumaru wollte mir ja nicht glauben, dass das unklug ist.“
 

Zu spät wurde Seto bewusst, dass sein letzter Satz eine ungebührliche Kritik an seinem hochwohlgeborenen Schützling darstellte. Die Strafe folgte prompt. Wie aus dem Nichts traf ihn ein scharfer Krallenhieb mitten ins Gesicht.

Der junge Soldat sah auf und begegnete einem eiskalten Goldblick. Sesshoumaru war aufgesprungen, stand nun mit erhobener Rechte neben seinem Leibwächter und starrte diesen böse an.

„Behalt deine Weisheiten für dich“, drohte er dabei: „Meinetwegen kannst du auch gerne verschwinden! Ich habe dich nicht gebeten mitzukommen.“

Im ersten Moment packte Seto eine derartige Wut, dass er dem kleinen Dämonenprinzen am liebsten die maßregelnde Ohrfeige heimgezahlt und zurückgeschlagen hätte. Nur Sesshoumarus durchdringende goldene Augen, die ihn fixierten, hielten ihn gerade noch von einer unbedachten Reaktion ab. Denn in diesen Augen lag neben der sonst üblichen Arroganz ausnahmsweise mal etwas, das regelrecht rührend war. Es war eine versteckte Angst. Die Angst eines alleingelassenen Kindes, das sich nach dem verlorenen Vater sehnte. Und auf einmal schämte sich Seto für sein ständiges unhöfliches Verhalten zutiefst.

„Verzeiht, Sesshoumaru-sama! Ich meinte das nicht so... Ich.. ich bin nur total müde. Und ich mache mir natürlich auch Sorgen um den Inu no Taishou und die anderen. Das alles war eben wirklich zuviel, da sage ich leicht etwas Dummes... es tut mir leid, ehrlich!“

Sesshoumaru ließ die Hand sinken und setzte sich wieder an Yoshios Seite. Yoshio hatte die kurze Auseinandersetzung des Leibwächters mit seinem fürstlichen Schützling staunend verfolgt. Am meisten erstaunte ihn die Nachgiebigkeit auf beiden Seiten. Begannen die beiden sich etwa allmählich zu vertragen? Seltsamerweise war das eine Vorstellung, die dem Wolfshundmischling nicht gefiel.
 

Die Müdigkeit nahm die drei jungen Hundedämonen nun wieder völlig gefangen. Resigniertes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.

Seto massierte innerlich vor sich hin stöhnend seine schmerzenden Waden. Bisher hatte er nicht gewusst, dass Dämonen Muskelkater bekommen konnten. Er war allerdings auch nie dermaßen schnell und lange irgendwelche Bergkämme hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter geklettert. Nie hätte er gedacht, dass Bergsteigen so anstrengend und eine Berglandschaft so groß sein konnte. Das ewige Auf und Ab nahm einfach kein Ende. Nach jedem überwundenen Berg kam ein neuer. Es hörte niemals auf!

Wenn schon ein einziger Landesteil, der bloß zu einigen Inseln im Meer gehörte, so groß war, dachte Seto, wie groß war dann eigentlich erst die ganze Welt?

Dieser Gedanke weckte ein komisches Gefühl in dem jungen Hundedämonen, er kam sich auf einmal so winzig und unbedeutend vor. Um sich von diesem beunruhigenden Gefühl abzulenken, sah er zur Nachmittagssonne.

„Wenigstens wissen wir jetzt endlich, wo Westen ist“, meinte er dazu, „dieses dämliche Unwetter scheint sich zu verziehen. Wenn wir Glück haben, klart es nachts soweit auf, dass wir uns an den Sternen orientieren können.“

„Na und, was haben wir davon?“ fragte Yoshio griesgrämig.

„Das ist ja wohl offensichtlich“, erklärte Seto ungeduldig, „so finden wir wieder nach Hause. Wenn wir uns immer südwestlich halten, stoßen wir sicher irgendwann auf das Schloss des Westens.“

„Ich gehe nicht nach Hause“, stellte Sesshoumaru unmissverständlich klar.

„Sesshoumaru-sama, bitte...“

Seufzend suchte Seto nach den richtigen, überzeugenden Worten.

„Glaub mir, Kleiner, ich finde das alles genauso beschissen wie du. Ich will deinem Vater, Tamahato und den anderen ja auch gern helfen. Aber so wie die Dinge momentan stehen, können wir allein nichts tun. Wir haben jede Spur verloren, sogar das Youki deines Vaters ist komplett verschwunden. Und wir haben uns in der Wildnis verirrt. Wir sind bloß zu dritt in einem fremden Feindesland. Was sollen wir machen, wenn wir einem Feind begegnen?“

„Soll ich jetzt etwa Angst kriegen und aufgeben?“ fragte Sesshoumaru unbeeindruckt zurück.

Nun riss Seto doch noch der Geduldsfaden.

„Ja, verdammt“, schimpfte er, „du solltest Schiss haben. Und zwar gewaltigen Schiss! Nur jemand, der Stroh im Kopf hat, hätte in so einer Situation keine Angst! Wir haben es hier schließlich mit Leuten zu tun, die den Inu no Taishou gefangen haben. Glaubst du, du wirst mit jemandem fertig, der deinen Vater reingelegt und überwältigt hat? Es war ein glückliches Wunder, dass wir dem ganzen Unheil entkommen sind. Deswegen ist es eine tollkühne Idiotie weiter den heldenhaften Retter spielen zu wollen. Sieh es doch endlich ein, es bleibt uns nix anderes mehr übrig, wir müssen aufgeben!“

Sesshoumaru presste stumm die Lippen aufeinander und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. In seinen goldglitzernden Iriden glimmte ein wahres Höllenfeuer der Wut. Offensichtlich stand er kurz davor seinem Leibwächter an die Kehle zu springen. Die Tatsache, dass er sich dennoch zurückhielt, zeigte allerdings, dass etwas nicht zu leugnen war: Seto hatte recht.
 

„Sieh mal, Bruder, da sind drei kleine Hunde. Wie nett, endlich kommt uns mal wieder jemand besuchen! Und dann auch noch niedliche Kinder!“

Eine fremde, glucksende Stimme, die wie das Blubbern von Wasserblasen klang, mischte sich auf einmal in das Geschehen ein und schreckte die drei jungen Hundedämonen auf. Alarmiert sprangen sie hoch und drehten sich blitzartig zu dem See hinter sich um.

Erstaunen spiegelte sich daraufhin in allen Gesichtern. Aus der stillen Wasseroberfläche des Bergsees ragten nämlich plötzlich zwei riesige, viele Meter lange und baumstammdicke Schlangenkörper hervor. Sie hatten die gleiche silbrige, fliesende und glasklare Färbung wie das Wasser, so dass es schien, als würden sich zwei Wassersäulen aus dem See erheben. Im unteren Bereich, knapp unter der Wasseroberfläche, vereinigten sich diese beiden Körper zu einem einzigen, ebenso durchsichtig erscheinenden Schlangenleib, dessen Konturen kaum vom umgebenden Wasser zu unterscheiden waren. Zwei schuppige Köpfe, deren auffallendstes Merkmal ein gefährlich wirkendes Maul mit messerscharfen Zähnen und vielen herabhängenden Barteln war, krönten die zwei aus dem See ragenden Schlangenhälse. Beide Köpfe besaßen je drei große, kugelrunde Augen, mit denen sie neugierig auf die drei jungen Hundedämonen am Seeufer herabsahen. Die Augen des einen Kopfs hatten eine himmelblaue Farbe, die des anderen schimmerten perlmuttweiß.
 

Seto, der selbst in größter Gefahr oder in den unmöglichsten Situationen nie lange seinen Mund halten konnte, fand als Erster seine Sprache wieder.

„Hey, was ist das“, platzte er heraus, „wo kommt denn auf einmal dieses zweiköpfige, schlangenartige und geruchslose Wasserungetüm her?“

Kaum hatte er das gesagt, beugte einer der einschüchternden Köpfe seinen langen Hals und senkte sich schnell zu Seto herab. Hastig machte Seto einen rückwärtigen Sprung vom Seeufer weg, riss sein Schwert aus der Scheide und verpasste dem vermeintlich angreifenden Schlangenkopf einen kräftigen Hieb ins bedrohliche, zahnbewehrte Maul. Aber die Klinge des jugendlichen Hundedämonen schnitt einfach nur durch den silbrig glänzenden Schlangenschädel hindurch wie durch einen Wasserstrahl, ohne irgendeinen Schaden anzurichten.

Erstaunt und erschrocken zugleich wich Seto noch einen weiteren Schritt nach hinten und nahm eine verteidigungsbereite Haltung ein, um einen erneuten Angriffsversuch sofort wieder abwehren zu können.

Der vollkommen unbeschadete, riesige Schlangenkopf zog sich jedoch zurück und schüttelte sich kurz. Ein Geräusch ähnlich wie leises Wasserplätschern begleitete jede seiner Bewegungen. Seine drei weißlichen Augen schienen pikiert aufzuleuchten. Gleich darauf öffnete er sein Maul und fing mit glucksender Stimme zu sprechen an:

„Unverschämter Rotzbengel, was ist denn das für eine unhöfliche Begrüßung? Wieso schlägst du mit dem Schwert nach mir? Hast du denn kein Benehmen? So ein unerzogenes Hundekind wie du ist mir ja noch nie unter gekommen!“

Die Tatsache, als Kind bezeichnet zu werden, ließ Seto sämtliche Vorsicht oder jegliche vielleicht vorhandene Höflichkeit vergessen.

„Ach, ich bin also unverschämt, ja?“ knurrte er: „Und was bist du, du komisches, doppelköpfiges Wassermonster? Du hast mich schließlich angegriffen! Gehörst du zu den Fieslingen, die uns Hundedämonen überfallen haben? Komm uns noch einmal zu nahe und du erlebst dein blaues Wunder!“

Die beiden riesigen, säulenartigen Schlangenhälse erzitterten. Lautes Sprudeln und Blubbern ertönte. Beunruhigt umfasste Seto sein Schwert fester, bis er begriff, dass dieses gurgelnde Geräusch keine Drohung, sondern ein Lachen darstellte. Das seltsame Wasserwesen schien sich bloß zu amüsieren.

Ausgelacht zu werden, konnte Seto allerdings genauso wenig vertragen wie für zu jung und unerfahren angesehen zu werden.

„Was gibt’s denn da zu lachen?“ beschwerte er sich: „Warte nur, das wird dir noch leid tun. Ich mach dich alle!“

Das Wasserwesen hörte auf zu lachen. Wieder senkte es einen seiner Köpfe, dieses Mal aber das andere, blauäugige Haupt, zu Seto herab und musterte ihn abfällig.

„Du bist ganz schön vorlaut, Bursche! Und dumm offenbar auch noch. Meinst du etwa, dein Schwert, deine Krallen oder sonst eine deiner Waffen könnten mir etwas anhaben? Ich bin eine der ehrwürdigen Seeschlangen, ein Abkömmling uralter Wassermächte, geboren in den Zeiten, als die Weltmeere entstanden. Hast du je das Meer gesehen? Weißt du, wie unendlich groß es ist? Dieses gewaltige Wasser ist meine Mutter und der Urquell meiner Stärke! Wie willst du mich hindern, wenn ich dich und die beiden Hündchen neben dir verschlingen wollte? Nichts könntest du gegen mich ausrichten, Junge, gar nichts. Also halt besser deinen Mund!“

„Sei nachsichtig, Ta“, meldete sich nun der erste, weißäugige Schlangenkopf wieder zu Wort, „die Kleinen sind nur erschrocken und haben meine Annäherung wohl missverstanden. Sie dachten wohl, ich wolle ihnen was antun. Stellen wir uns daher doch erst mal namentlich vor!“

Freundlich lächelnd machte der Kopf mit den weißen Augen nun eine leichte Verbeugung.

„Ich bin Ki“, sagte er und nickte darauf dem blauäugigen Kopf zu: „Das ist mein Bruderkopf Ta. Zusammen heißen wir Taki. Entschuldigt, falls wir euch erschreckt haben sollten. Das lag nicht in unserer Absicht. Wir sind sehr friedliebend und tun niemanden was. Und ich wollte euch nicht angreifen, sondern nur von der Nähe anschauen und beschnuppern. Ich sehe nicht mehr ganz so gut, müsst ihr wissen.“

„Ki hat ein paar altersbedingte Schwächen“, bemerkte der Schlangenkopf namens Ta herablassend.

Verärgert wandte Ki sich ihm zu.

„Du Blödkopf solltest nicht vergessen, dass wir einen gemeinsamen Körper besitzen und dass du deshalb genauso alt bist wie ich. Also mach dich gefälligst nicht über meine Altersbeschwerden lustig! Ich erzähl ja auch niemanden etwas über deine zunehmende Demenz!“

„Ich soll demenzkrank sein?“ schrie Ta wütend: „Sag das noch mal und ich beiß dir deine schon lange untaugliche Nase ab! Ohne mich wärst du vergreisender Saurierschädel doch schon längst zugrunde gegangen!“

„Du meinst wohl eher, ohne MICH wärst DU schon lange tot!“ gab Ki zurück: „Du besitzt mittlerweile ja nicht mehr genug Gehirn, um dich daran zu erinnern, was vor einer Stunde passiert ist!“

„Und du hast überhaupt nie irgendein Hirn besessen, du eingetrockneter, verschrumpelter Wasserkopf“, kam die Antwort.
 

Ein wildes Streitgespräch entspann sich zwischen den beiden Köpfen der ehrwürdigen Seeschlange und steigerte sich schließlich in eine wüste Beschimpfungsorgie. Zuletzt, als sie ihren beträchtlichen Wortschatz aus Beleidigungen und Flüchen aufgebraucht hatten, gingen Ta und Ki mit den Zähnen aufeinander los und verbissen sich ineinander. Ihre gegenseitigen Attacken hatten allerdings, genau wie zuvor Setos Schwert, keinerlei Effekt. Denn die Bisswunden, die sich die beiden Köpfe zufügten, flossen wie Wasser einfach wieder zusammen. Scheinbar besaß Takis Körper nicht nur das gleiche Aussehen, sondern auch die gleichen Eigenschaften wie das Element, in dem er lebte.
 

Verdutzt schauten Seto, Yoshio und Sesshoumaru dem Treiben der doppelköpfigen Seeschlange eine Weile lang zu. So friedliebend wie Ki behauptet hatte, war dieses seltsame, sehr alte und mächtige Wesen offensichtlich doch nicht, jedenfalls nicht zu sich selbst. Es lebte wohl schon dermaßen lange einsam in seinem See, dass Streiten die einzige interessante Abwechslung in seinem eintönigen Leben darstellte. Vermutlich stritten sich die beiden Köpfe schon mehrere Millionen Jahre und waren dabei allmählich verrückt geworden.

Mit derartigen Verrückten wollten sich die drei Hundedämonen allerdings lieber nicht weiter abgeben. Außerdem konnte ihnen dieses senile Wasserwesen ja egal sein, denn mit den Feinden, nach denen das Hundetrio suchte, hatte Taki scheinbar auch nichts zu tun. Daher wandten die Drei sich schließlich in gemeinschaftlichem und stillschweigendem Einvernehmen ab, um den Bergsee und die darin wohnende Riesenschlange schnellstmöglich zu verlassen.
 

„He, wartet doch!“ rief Ki ihnen nach: „Wo geht ihr denn hin? Wir wissen ja noch gar nicht, wer ihr seid und was ihr hier wolltet. Bitte, ihr lieben Kleinen, bleibt doch da! Wir kriegen so selten Besuch. Und wir mögen Kinder doch so gern... Unterhaltet euch doch noch ein wenig mit uns!“

Genervt drehte sich Seto wieder zu der Seeschlange um.

„Also, erstens sind wir keine Kinder mehr, ich jedenfalls nicht. Und zweitens interessierst du uns einen Scheißdreck. Wir haben echt Sinnvolleres zu tun als eine bekloppte Doppelkopfschlange zu unterhalten!“

„Aber vielleicht können wir euch ja helfen“, wandte Ta ein, „ihr seht so aus, als ob ihr euch verirrt habt... Ihr armen Kleinen... Sucht ihr jemanden?“

Seto wollte eine weitere beleidigende Schimpftirade loslassen, doch Yoshio kam ihm zuvor.

„Ja, wir suchen tatsächlich jemanden“, bestätigte der Wolfshundedämon, „und zwar andere Hundedämonen. Oder Wölfe. Hast du seit letzter Nacht welche gesehen?“

„Hm“, überlegte Ta, „Hunde haben wir vor euch schon ewig keine mehr gesehen. Aber Wölfe schon. Seit ein paar Monaten wohnen nämlich viele von denen, glaube ich, in der Feste in der Tiefe.“

„Was für eine Feste in der Tiefe?“

Hellhörig geworden wandte sich nun auch Sesshoumaru an Taki und sah die Seeschlange neugierig fragend an.

„Na, die Feste in der Tiefe eben!“ erklärte Ki: „Kennt ihr die denn nicht? Das ist eine alte, unterirdische Drachenburg. Bis vor einiger Zeit haben Ta und ich nahe einem Eingang zu diesem Festungsgelände gelebt, in einem Höhlensee. Aber dann sind Wolfsdämonen in die Feste gekommen und wohnen da neuerdings wohl. Jedenfalls haben sie ab und zu irgendwo in der Burg laute Jaulkonzerte veranstaltet. Und dieses Geheule war schrecklich! Es drang durch sämtliche Gänge, sogar bis zu unserer abgelegenen Höhle. Das tat uns in den Ohren weh. Deshalb sind wir lieber fortgezogen.“

„Eine unterirdische Festung“, flüsterte Yoshio aufgeregt in Sesshoumarus Ohr: „Bestimmt haben sich darin die Wolfdämonen versteckt. Und vielleicht halten sie deinen Vater und die anderen Verschleppten dort gefangen.“

Sesshoumaru nickte leicht, Tatendrang spiegelte sich in seinen goldenen Augen.

„Kannst du uns in diese Feste in der Tiefe führen?“ fragte er Taki.

Die Seeschlange schüttelte verneinend ihre beiden Köpfe.

„Nein, tut uns leid“, entgegnete Ta, „wir sind niemals in der Burg gewesen, die hat uns nie interessiert. Wir kennen davon nur den Höhlensee, den Ki erwähnte und an dem eben zufällig ein Eingang zur Feste liegt. Und dieser Weg ist schon sehr alt und wurde, soweit wir uns erinnern, sehr lange nicht mehr benutzt. Wahrscheinlich wurde er im Laufe der Zeit vergessen.“

„Zeig uns diesen Eingang“, forderte Sesshoumaru.

Ta senkte sich zu dem kleinen Dämonenprinzen herab und musterte ihn aufmerksam mit seinen drei blauen Augen.

„Du bist ja noch ein Baby“, stellte er fest, in seiner Stimme klang ein sorgenvoller Unterton mit: „Ich weiß nicht, ob wir das verantworten können, wenn du mit deinen Freunden in eine unterirdische Festung gehst. Diese Burg soll sehr, sehr groß sein. Und vielleicht ist das gefährlich. Wo sind denn deine Eltern, wissen die darüber Bescheid?“

Eine steile Zornesfalte bildete sich auf Sesshoumarus Stirn. Offenbar gefiel es ihm genauso wenig wie Seto, dass er als Kind eingestuft und behandelt wurde, auch wenn das in seinem Fall der Wahrheit entsprach. Yoshio wollte nicht, dass sich die bisher günstig erscheinende Sachlage komplizierte und übernahm daher hastig die Antwort:

„Sesshoumarus Vater ist wahrscheinlich in dieser Festung, aus diesem Grund wollen wir ja da hinein. Wir suchen ihn!“

„Ach, so ist das“, meinte Ki, „ihr wollt also einfach zu eurer Familie, ja? Na, dann ist ja alles in Ordnung. Also gut, dann zeigen wir euch den Höhlensee mit dem Weg in die Feste in der Tiefe. Allerdings ist das recht weit weg von hier und ihr seht ziemlich müde aus... Wollt ihr euch nicht erst ein bisschen ausruhen oder was essen? In meinem See gibt es köstliche Fische, wir würden euch ein paar fangen.“

„Nö, nicht nötig“, brummte Seto verärgert. Er hatte zwar schon Hunger, aber die senile Wasserschlange zerrte an seinen Nerven. Besser, sie wurden Taki schnell wieder los.

„Na, dann tragen Ta und ich euch wenigstens, dann sind wir ganz schnell da“, fuhr Ki fort und öffnete plötzlich weit sein Maul.
 

Auch Ta riss seinen Rachen auf. Bevor die drei Hundedämonen überhaupt reagieren konnten, schnellten zwei lange wasserfarbene Zungen auf sie zu. Eine Zunge packte und umschlang Sesshoumaru und Yoshio, die andere umwickelte Seto. Es fühlte sich an, als ob sie ein zähflüssiges, klebriges Gel umfließen würde. Gleich darauf zogen Ta und Ki ihre Zungen zurück in ihren Schlund.

Für Gegenwehr blieb keine Zeit. Seto bemerkte entsetzt, wie er geradewegs auf das geöffnete Maul von Ki zuflog.

So muss sich eine Fliege fühlen, wenn sie vom Frosch gefangen und verschluckt wird, dachte er noch, dann war er auch schon im Rachen von Ki verschwunden.
 


 

Soweit das zehnte Kapitel.

Hopsa, hat die Schlange jetzt drei Hunde gefressen? Oder wohin führt das Ganze? Die lieben Kleinen haben sich da wohl eine Begegnung mit einer mehr als seltsamen Art ausgesucht.^^

Im nächsten Kapitel geht es mit den verschluckten Hunden und den armen Gefangenen in der Drachenburg weiter...

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Treue

Vorbemerkung:

Nachdem diese Fanfiktion jahr(zehnt)elang geruht hat und beinahe für immer in der Versenkung verschwunden wäre, bedanke ich mich bei allen, die mich in der Vergangenheit unterstützt und schließlich angespornt haben weiteres Lesefutter zu bieten. Freut mich enorm, dass es erstens noch immer InuYasha-Anhänger gibt und dass zweitens diese Fans meinen kleinen Beitrag, das Fandom mit zusätzlichen Geschichten lebendig zu halten, mögen und schätzen.

Nach der ewiglangen Pause ist es sicher schwierig sich an den bisherigen Inhalt dieser Story zu erinnern. Deshalb fasse ich als Einleitung vor dem neuen Kapitel nochmals alle Ereignisse bis hier grob zusammen: Zunächst gewährte uns der Prolog einen kleinen Einblick in die geheimnisvolle, düstere Vergangenheit eines Dämons, der im Zuge von nicht näher beleuchteten Kriegshandlungen ein fliehendes Dämonenpaar tötet und seine besiegten Feinde hinrichten lässt. Was genau und warum es geschah, bleibt offen. Die eigentliche Geschichte beginnt später im Herrschaftssitz vom Inu no Taishou, der das Oberhaupt aller Hunde(-dämonen) und aller Dämonen im japanischen Westen ist. Dort duelliert sich der jugendliche Hundedämon und Rekrut Seto eher versehentlich mit besagtem Dämonenherrscher und erlangt dadurch überraschenderweise die Position als Leibwächter für den kleinen Erbprinz Sesshoumaru. Nach einer friedlichen Zeit kommt es zu einem Aufstand unter der Führung eines Dämons namens Akechi. Während der Inu no Taishou in den Krieg zieht, um den Aufstand zu beenden, wird sein Schloss von Wolfsdämonen angegriffen und beinahe Sesshoumaru entführt. Um herauszufinden, was genau hinter diesem Angriff steckt und um Friedensbündnisse zu schließen, reist der Hundeherr nach erfolgreicher Verteidigung seines Reichs und Schlosses nach Norden. Die dort ansässigen Wölfe scheinen ihn daraufhin in eine Falle zu locken, denn inmitten eines Verhandlungsgesprächs mit dem Wolfsdämon Chugo werden Inutaishous Gefolgsleute angegriffen und teils getötet, teils verschleppt. Auch Sesshoumaru, sein Leibwächter Seto und sein jugendlicher Freund Yoshio scheinen gefangen worden zu sein, hatten in Wirklichkeit aber eine verbotene, heimliche Erkundungstour gemacht. Der Herrscher des Westens und sein kleiner Sohn starten daraufhin in Unkenntnis des Verbleibs des jeweils anderen eine gegenseitige Rettungsaktion. Ersterer erhält dabei Hilfe von nicht feindlichen Wölfen, letzterer trifft mit seinen beiden jugendlichen Begleitern auf eine uralte, doppelköpfige Seeschlange, die ihnen den Weg in die sogenannte Feste in der Tiefe weist, eine alte Drachenburg, in der alle Fäden eines hintergründigen Intrigenspiels zusammen laufen...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 11: Treue
 

Um Seto herum war nur noch Wasser. Jedenfalls glaubte er im ersten Moment, dass es Wasser war. Reflexartig hielt der junge Hundedämon den Atem an und machte strampelnde Schwimmbewegungen. Doch er konnte sich kaum vom Fleck rühren. Die Flüssigkeit, die ihn umgab, war kein normales Wasser, sie war wie dicker Schlamm. Sie umhüllte ihn wie ein Insekt, das in klebriges Harz eingeschlossen wurde. Er konnte nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen, er bekam keine Luft mehr. In einem lautlosen Schrei öffnete er den Mund.

Erstaunt stellte er daraufhin fest, dass er nicht erstickte. Er wusste nicht wie, aber er konnte in der dickflüssigen Suppe atmen. Und seltsamerweise fühlte er sich auf einmal sogar sehr sicher und geborgen.

Was lief hier bloß ab?

Er konnte es sich nicht erklären, er konnte aber auch nicht weiter über diese Frage nachdenken, denn dann schwand sein Bewusstsein.
 

Seine bewusste Wahrnehmung setzte erst wieder ein, als er bäuchlings auf steinigem Untergrund lag und röchelnd einen widerlichen Schleim aushustete. Auch sein Körper war schleimbedeckt. Vollkommen verwirrt rappelte Seto sich schließlich etwas auf und sah sich um.

Er befand sich in einer gigantischen, kuppelförmigen Höhle, vor ihm breitete sich ein tiefschwarzer See aus. Neben ihm, am Rand dieses Sees kauerten Sesshoumaru und Yoshio, ebenfalls verschleimt und vor sich hin hustend.

Seto sah hoch und blickte in das weiße und das blaue Augendreieck von Taki. Die beiden Köpfe der gewaltigen Seeschlange beugten sich über die drei Hundedämonen und musterten sie mütterlich.

„Sag mal, du blöder Riesenwurm, was sollte das denn?“ schrie Seto und sprang wütend auf: „Wolltest du uns auffressen?“

„Aber nicht doch“, beschwichtigte der Schlangenkopf Ki ihn, „wie kommst du denn darauf? Wir haben euch bloß in unsere Maultaschen aufgenommen. So konnten wir euch am besten hierher transportieren.“

„Das machen manche Fische mit ihren Jungen doch auch so“, fügte Ta erklärend hinzu, „wisst ihr das denn nicht? Im Maul ihrer Eltern sind die Kleinen wunderbar geschützt und können so auch sicher überall hin getragen werden.“

„Wir sind doch keine Fischbabys“, beschwerte Seto sich. Mehr zu sagen fiel ihm allerdings nicht ein. Dazu war das Erlebnis viel zu verrückt gewesen. Diese alte Seeschlange war offenbar nicht mehr ganz dicht in ihren beiden Oberstübchen.
 

Sesshoumaru und Yoshio waren nun auch soweit zu sich gekommen, dass sie ihre Umgebung genauer betrachten konnten. Sie waren zwar ebenfalls nicht begeistert über den unfreiwilligen Transport im Maul einer überdimensionalen Seeschlange, doch momentan war es ihnen wichtiger zu erfahren, wohin Taki sie gebracht hatte.

„Das ist der Höhlensee, in dem ich bis vor einigen Monaten gewohnt habe“, beantwortete Ta die unausgesprochenen Fragen der jungen Hundedämonen: „Hier ist der Eingang zur Feste in die Tiefe, den ich euch zeigen sollte. Er befindet sich am gegenüberliegenden Ufer. Eine kleine, steinerne Tür führt dort in einen schmalen Schacht. Wohin dieser Weg euch genau bringt, kann ich euch leider nicht sagen. Aber ich glaube, der Gang reicht bis in den Zentralbereich der Burg. Dort werdet ihr sicher eure gesuchten Dämonen finden. Passt aber gut auf, dass ihr nicht euren Weg verliert, diese ganze Burg soll riesige Ausmaße haben und recht verwirrend sein.“

Ki blickte freundlich zu Sesshoumaru.

„Ich hoffe besonders, du findest deinen Papa schnell. Er macht sich bestimmt Sorgen um dich... Also, macht’s gut, ihr lieben Kleinen, wir kehren dann zurück in unseren Bergsee!“

„Äh... ja... danke“, murmelte Yoshio.

„Nichts zu danken!“ meinte Ta lächelnd: „Besucht uns doch mal wieder! Wir kennen viele lustige Geschichten und schöne Spiele, die euch bestimmt gefallen. Mit unseren Urenkeln hatten wir früher auch immer viel Spaß.“

„Ja, das war schön, damals...“ seufzte Ki.

„Wiedersehen!“ rief Ta.

Die Hundedämonen konnten nichts mehr erwidern, denn im nächsten Moment zerfloss Takis riesige Schlangengestalt zu einem glänzenden Bach. Der Bach floss plätschernd ein Stück durch die Höhle und versickerte dann einfach im Boden.
 

Perplex starrten Sesshoumaru, Yoshio und Seto auf die Stelle, an der die doppelköpfige Seeschlange verschwunden war.

„Uff“, stöhnte Seto, „dieser senile Schlangenopa war das seltsamste Wesen, dem ich je begegnet bin. Hier im Norden scheinen ja allerlei komische Gestalten zu hausen. Hoffentlich treffen wir nicht noch auf mehr von denen.“

„Immerhin haben wir jetzt wieder eine vielversprechende Spur“, meinte Yoshio.

„Fragt sich nur, was das für eine Spur ist und wohin uns die führt“, erwiderte Seto missmutig, „das meiste, was dieser alte Taki von sich gegeben hat, war doch nur albernes Geschwätz. Diese unterirdische Festung, in die angeblich irgendwelche Wölfe eingezogen sein sollen, kann wer weiß was sein. Wir haben keinen Beweis, dass sich hier unsere Feinde verstecken oder dass der Inu no Taishou oder sonst wer von unseren Leuten dort ist. Das sind alles nur Vermutungen. Es wäre besser gewesen, wenn wir heim in den Westen gegangen wären!“

„Nein, hier sind wir richtig“, behauptete Sesshoumaru.

„Woher willst du das wissen?“ erkundigte sich Seto genervt.

„Ich weiß es eben“, erklärte der Dämonenprinz selbstbewusst und stand auf. Entschlossen blickte er zum gegenüberliegenden Ufer des Höhlensees, wo sich der Eingang in die Feste in der Tiefe befinden sollte. Yoshio stellte sich nachdenklich an seine Seite.

„Es gibt keinen Weg zum anderen Ufer“, bemerkte er, „wir müssen durch den See schwimmen... Na ja, nass sind wir sowieso schon und dann wird wenigstens diese eklige Schlangenspucke von uns abgewaschen. Am besten verwandeln wir uns in unsere wahre Gestalt, dann geht es am leichtesten!“

Sesshoumaru nickte schweigend und setzte Yoshios Vorschlag sogleich in die Tat um. Seine goldenen Augen färbten sich glutrot, ebenso rötlicher Schimmer umwallte seine Gestalt. Diese Aktivierung seiner dämonischen Aura entfesselte einen stürmischen Windwirbel, in dem er verschwand. Als der Sturmwind sich wieder legte, stand am Seeufer ein weißer Hund. Er war weitaus größer als normale Hunde, etwa so groß wie ein Pferd, allerdings keinesfalls so groß wie es bei einem Hundedämon zu erwarten wäre. Aber Sesshoumaru war ja auch noch nicht ausgewachsen und seine wahre Gestalt offenbarte nur, was er eben noch war: ein Hundewelpe.

Yoshio, der sich nun ebenfalls verwandelte, nahm die Form eines schwarzbraunen Wolfshundes an. Entsprechend seines höheren Alters überragte er Sesshoumaru deutlich. Gemeinschaftlich sprangen die beiden Hunde in den See und schwammen hindurch.
 

„Scheiße... diese idiotischen Kindsköpfe wollen tatsächlich in diese dämliche Feste in der Tiefe gehen“, murrte Seto leise.

Er konnte und wollte den Tatendrang seiner beiden jüngeren Gefährten nicht teilen. Denn er glaubte nicht an einen solch unwahrscheinlichen Zufall, dass die Begegnung mit der Seeschlange Taki zum gewünschten Ziel einer erfolgreichen Rettungsmission führte. Stattdessen war er überzeugt davon, dass sie sich alle drei nur noch mehr verirren und unvorhersehbaren Gefahren begegnen würden. Und wer würde es büßen, wenn dem Erbprinzen dabei etwas geschah? Ich natürlich, dachte Seto ergrimmt. Langsam begann er seine Berufswahl ernsthaft zu bereuen.

„Wenn ich diesen beschissenen Dienst als Leibwächter überleben sollte, verabschiede ich mich vom Kriegerdasein. Ich trete aus der Fürstengarde aus und werde Blumenzüchter!“

Mit diesem Entschluss und vielen unaussprechlichen Flüchen auf den Lippen verwandelte sich letztendlich auch der junge Soldat in seine wahre Dämonengestalt. Als kohlrabenschwarzer, kurzhaariger Hund schwamm er verärgert vor sich hin knurrend hinter Sesshoumaru und Yoshio her.
 

Zur gleichen Zeit, als die uralte, doppelköpfige und kinderliebe Seeschlange Taki die drei jungen Hundedämonen per Maultransport zur Feste in der Tiefe brachte, wurde Inutaishous gefangener Heerführer Kage von zwei Wolfsdämonen durch einen anderen, weit entfernten Bereich der riesigen unterirdischen Burganlage geschleppt. Nun würde der dämonische Flughund wohl endlich den Grund seiner Gefangennahme erfahren. Und, was weitaus wissenswerter war, die Drahtzieher der ganzen mysteriösen Geschichte, also die gegnerischen Anführer und deren weitere Pläne, kennenlernen. Allerdings war es sehr zu bezweifeln, dass für ihn selbst dabei etwas Gutes heraus kam. Das Interesse von feindlich gesonnenen Dämonen an einem Gefangenen war nur selten positiv zu bewerten.

Aufmerksam betrachtete Kage die vielen verzweigenden, verschlungenen und verwirrenden Gänge, durch die er geführt wurde, und bemühte sich den Weg zu merken. Zugleich schätzte er immer wieder die Möglichkeiten für einen Ausbruchsversuch ab. Doch er musste dieses Vorhaben schnell wieder aufgeben, die Chance für eine erfolgreiche Befreiung und Flucht war zu gering. Seine beiden wolfsdämonischen Bewacher beäugten misstrauisch jede seiner Bewegungen. Der dritte Aufpasser, der Donnerdämon, der hinter Kage herging, behielt ihn ebenso wachsam im Auge. In den unergründlichen Längen und Tiefen der vielen verwinkelten Höhlengänge verlor man außerdem extrem leicht die Orientierung. Sogar ein Hund mit einer sehr guten Spürnase würde hier Orientierungsprobleme bekommen, denn überall herrschte ein wahres Wirrwarr an unterschiedlichen Gerüchen, die sich scheinbar völlig widersinnig in der ganzen Luft verteilten und vermischten. Daran war wahrscheinlich ein komplexes Belüftungssystem schuld, das in einer unterirdischen Anlage genügend Luftaustausch ermöglichte.

Es war eine deprimierende Sachlage, die der gefangene und gefesselte Heerführer widerwillig akzeptieren musste. Jeder, der sich in diesem unterirdischen, wahrhaft gigantischen Irrgarten nicht auskannte und hier eindringen oder herauskommen wollte, war gravierend im Nachteil.

Mühsam versuchte Kage das Unbehagen, das mehr und mehr von ihm Besitz ergriff, von sich zu drängen. Doch er musste feststellen, dass selbst ein starker Dämon nicht immun war gegen die Angst.
 

Nach einem schier unendlich andauernden Wegmarsch wurde Kage in eine große Halle gebracht. Im Gegensatz zu allem anderen, was der dämonische Flughund bisher von der unterirdischen Feste gesehen hatte, bot diese Halle einen schönen Anblick. Sie war prachtvoll und durchaus beeindruckend. Die warme, helle Beleuchtung aus zahlreichen Feuerschalen ließ einen fast vergessen, dass man sich tief unter der Erde befand. Ein Teil der Wände und Säulen war kunstvoll und kostbar mit Edelmetallen verziert, meist mit Gold. Der Boden bestand aus tiefschwarzem, leicht glänzendem Basalt. Beklommen starrte Kage nach unten. Während er weiter in die Halle hinein geführt wurde und über den Basaltboden ging, hatte er das unangenehme Gefühl über die Wasseroberfläche eines unergründlichen, dunklen Sees zu laufen.
 

„Ah, unsere Gäste sind also endlich wach geworden... herzlich willkommen, Kage-sama!“

Der angesprochene Flughundedämon hob seinen Kopf. Er befand sich nun wenige Schritte vor einem breiten, dreistufigen Treppenabsatz. Auf diesem Treppenabsatz, neben einem leeren, thronartigen Stuhl stand ein kriegerisch gekleideter Mann mit langem, blauschwarzem, zu einem Zopf zusammengebundenem Haar. Insgesamt war sein Aussehen nicht unähnlich dem vieler Krieger, die unter dem Inu no Taishou in der Fürstengarde dienten. Denn er war ein Hundedämon. Der Harnisch, den dieser Hundedämon trug, war mindestens genauso kostbar wie Kages eigene Rüstung. Die zwei, ebenfalls sehr wertvollen Schwerter an seiner Hüfte und die sonstige Bekleidung aus feinster Seide bestätigten, dass der Hundekrieger eine hohe Stellung einnahm. Das brachte ihm allerdings keinen Respekt von Kage ein. Der Heerführer schaute den herrschaftlich wirkenden Hundedämonen nur verächtlich an und spuckte ihm schließlich sogar abfällig vor die Füße.

„Akechi... Du elender, aufständischer Verräter!“ presste er unter zornig zusammengebissenen Zähnen hervor.

Der bespuckte, beschimpfte Hundedämon namens Akechi setzte ein schmallippiges Lächeln auf und gab dem Donnerdämon hinter Kage einen Wink. Dieser stieß dem Heerführer daraufhin heftig in den Rücken, wodurch Kage nach vorne taumelte. Die beiden Wolfsdämonen rissen derweil derb an seinen Fesseln und zwangen ihren Gefangenen so auf Knie.

Akechis Lächeln verbreitete sich.

„Dir scheint noch nicht klar zu sein, in welcher Lage du dich befindest, mein hochverehrter Heeresführer“, sagte er: „Dir ist offensichtlich entgangen, dass unsere Rollen dieses Mal anders verteilt sind. Das letzte Mal hast du mich in eine Falle gelockt, dieses Mal bist du in meinen Hinterhalt geraten. Es wird mir ein Vergnügen sein mich an dir für meine Niederlage in den Donnerbergen zu rächen. Und später, wenn Inutaishou tot ist, sobald ich den mir gebührenden Rang als Herrscher des Westens eingenommen habe, werde ich dich öffentlich hinrichten und dir die Eingeweide aus dem Leib reißen lassen.“

„Na, da bin ich ja gespannt, wie erfolgreich du damit bist“, erwiderte Kage geringschätzig und fügte bewusst provozierend hinzu: „Bisher hast du dich bei deiner Gier nach der Herrschaftskrone jedenfalls ziemlich dämlich angestellt. Und was für Qualitäten hast du sonst schon zu bieten? Erscheint mir lächerlich, dass so einer wie du den Inu no Taishou ersetzen will.“

„Ich werde ein weitaus besserer Herrscher als dieser miese Emporkömmling sein!“ zischte Akechi erbost: „Schließlich entstamme ich einem hohen, gottgleichen Adelsgeschlecht! Wenn der Clan der weißen Hunde ausgelöscht ist, wenn Inutaishou und sein Sohn tot sind, wird das Land von einer unwürdigen Regentschaft befreit sein. Nur diejenigen, die wie ich ein wirklich edles Geblüt und eine ehrwürdige Abstammung vorweisen können, sollten ein Land beherrschen dürfen.“

Gerade noch rechtzeitig unterdrückte Kage einen erneuten Ausdruck der Abscheu, die sich seiner bemächtigte. Du meine Güte, dachte er entsetzt, jetzt will dieser verräterische Kerl seinen unredlichen Machtanspruch auch noch mit rassistischen Ideologien legitimieren.

Kage legte keinen Wert auf die Rasse oder das Geblüt eines Dämons, für ihn zählten allein die Taten desjenigen, und so konnte er nur schwer nachvollziehen, wenn jemand nur aufgrund der Herkunft besser zu sein glaubte. Es gab jedoch auch viele Dämonen, vor allem unter den Hunden, die sich enorm etwas auf Abstammungen und scheinbar besondere Rassen einbildeten. Bei solchen Fanatikern konnten Akechis Bemerkungen über sein angeblich edles Blut durchaus Nährboden finden und eine gefährliche, radikale Anhängerschar hervorbringen.

Seine nächsten Worte, die er an den herrschsüchtigen Hundedämonen richtete, formulierte Kage daher etwas vorsichtiger. Vielleicht bekam er so auch mehr Informationen, was Akechi weiter vorhatte und wer seine Mitstreiter waren. Die Verfechter dogmatischer Weltanschauungen redeten schließlich gern über ihre Ideologien.

„Der Tod der letzten weißen Hunde und deine edle Abstammung allein genügen nicht, um die Regentschaft im Westen zu übernehmen, Akechi. Ein Anführer braucht auch Gefolgsleute, ohne Untertanen gibt es nun mal keinen Regenten. Sag, wer will sich dir denn beugen? Wer unterstützt denn alles deinen angeborenen Herrschaftsanspruch?“
 

Bevor Akechi eine Antwort geben konnte, erklang plötzlich ein silberhelles, vergnügtes Kichern im Hintergrund. Kage zuckte unwillkürlich zusammen, er spürte eine starke und unheimliche Aura, die sich zusammen mit dem Lachen in der goldenen Halle ausbreitete. Es war eine überaus mächtige Ausstrahlung, die Aura eines Drachens.

„Wie amüsant“, bemerkte nun eine weich klingende Stimme in Kages Rücken, „einen solch aufgeweckten Gefangenen hatte ich gar nicht erwartet. Aber Inutaishou hat offenbar wirklich ein geschicktes Händchen bei der Auswahl fähiger Getreuen.“

Das sachte Rascheln von Seidenstoff und leichtfüßige, kaum hörbare Schritte begleiteten diese Worte. Im nächsten Moment ging jemand um den knienden Heerführer und die ihn bewachenden Dämonen herum. Eine hochgewachsene Frau trat nun in Kages Blickfeld. Sie hatte knöchellanges, tief dunkelviolettes, fast schon schwarz wirkendes Haar, aus dem vereinzelte hellbraunfarbene Strähnen hervorblitzten, die wie gesponnene Goldfäden wirkten. Ihre Figur war schlank und sehr geschmeidig, wurde allerdings zum größten Teil durch einen üppigen, aus vielen Stofflagen bestehenden und prächtigen Kimono verhüllt. Zwei filigran gefertigte Kämme aus Jade zierten ihre Schläfen und hielten das wallende Haar aus ihrem fein geschnittenen Gesicht. Sie sah atemberaubend aus. Jemand mit einer Schwäche für schöne Frauen hätte sich in diesem Anblick völlig verlieren können, wären da nicht ihre glühend roten Augen gewesen, die davor warnten, dass von dieser Frau etwas Bedrohliches ausging. In ihrem Inneren schien ein Höllenfeuer zu brennen. Zudem hatte sie noch etwas anderes Unheimliches an sich, auf ihrer Stirn befand sich ein zweites Gesicht, das wie eine kleine aufgeklebte Maske aussah.

Sie ist ein Sonnenweberdrache, dachte Kage und erschauderte. Von diesen Drachen gab es nicht sehr viele. Es war eine sehr mysteriöse Rasse, angeblich war die einst entstanden aus der symbiotischen Vereinigung von schlangenartigen Erddrachen und unbekannten dämonischen Wesen. Kage hatte bisher nur ein einziges Mal einen weiteren Drachen dieser Art gesehen: den Beherrscher des Ostens, den grausamen Drachenlord Bundori. Von einem weiblichen Vertreter der Sonnenweberdrachen hatte er dagegen noch nicht einmal etwas gehört.

Die Drachenfrau lächelte ihn freundlich an. Damit erbrachte sie das Kunststück gleichzeitig bezaubernd und furchterregend auszusehen. Sie war das lebende Beispiel dafür, dass Schönheit auch sehr schrecklich wirken konnte.
 

Nach einem weiteren, undeutbaren Blick ging die unheimliche Schöne die Treppenstufen zu dem Absatz neben Akechi hinauf und setzte sich dort auf den thronartigen Stuhl. Sie zupfte ein wenig an ihrem Gewand herum, bis sie die Falten des seidigen Stoffs möglichst vorteilhaft drapiert hatte, und sah danach wieder lächelnd zu Kage.

„Du bist also Kage, der Heermeister des Hundefürsten. Ich bin Hotaru. Freut mich deine Bekanntschaft zu machen. Angeblich bist du ein ausgezeichneter Stratege und sollst sehr geschickt darin sein feindliche Armeen auszutricksen. Offenbar kannst du jede Situation hervorragend abschätzen. Ich muss zugeben, so ein Talent macht mich neugierig. Darf ich fragen, wie du deine momentane Situation einschätzt? Hast du eine Idee oder einen Plan, wie du aus der Feste in der Tiefe entkommen könntest?“

„Wenn ich so etwas hätte“, antwortete Kage gelassen, „würde ich wohl kaum mehr hier sein oder dir derartige Ideen verraten.“

Die Drachendämonin kicherte wieder vergnügt.

„Natürlich nicht. Du würdest hier ja auch nicht verschwinden wollen, ohne ein paar Informationen für deinen Herrn über mich, den lieben Akechi und unsere Pläne in der Hand zu haben, nicht wahr? Außerdem möchtest du bestimmt nicht deine ebenfalls gefangenen Genossen im Stich lassen. Das würde schließlich nicht zu einem gewissenhaften Hauptmann passen... Du siehst, ich bin nicht schlecht im Herausfinden und in der Nutzung eines Schwachpunkts. Deine Schwäche beispielsweise ist ehrenwertes, pflichtbewusstes Verhalten. Ein Verhalten, das vielen Gefolgsleuten von Inutaishou anhaftet. Das kommt wahrscheinlich vom Hundefürsten selbst, dessen Eigenschaften färben eben stark auf seine Untergebenen ab. Doch damit kenne ich auch den Schwachpunkt deines Herrn und das wird es mir leicht machen ihn in unsere Falle zu locken.“

„Was auch immer du und Akechi geplant haben solltet, ihr werdet keinen Erfolg damit haben“, meinte Kage überzeugt, „am Inu no Taishou haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen.“
 

„Hach“, seufzte Hotaru nach einer kurzen Pause, „immer wieder dieselbe, nervtötende Loyalität... wird dir das nicht langweilig? Wollen wir beide nicht mal ausnahmsweise das typische Muster durchbrechen? Hättest du nicht Lust etwas Unerwartetes zu tun und dich mir anzuschließen? Glaub mir, ich könnte dir viele interessante Dinge bieten. Schließlich lebt man nur einmal und auch Jahrhunderte gehen ziemlich schnell vorüber. Du solltest dir überlegen, womit du deine kostbare Zeit verbringst. Was hast du davon, wenn du dich treu an deinen Herrn und irgendwelche vermeintlich gute Überzeugungen klammerst?“

„Ein ruhiges Gewissen“, antwortete Kage knapp.

„Gewissen?! Auweia, komm mir doch nicht damit“, lachte die Drachendämonin, „wir sind ja schließlich keine Menschen. Über solchen Unsinn ist unsereins doch schon lange erhaben. Woher willst du denn überhaupt wissen, was richtig und falsch ist? Meinst du denn, es würde das Universum interessieren, was du machst? Glaub mir, die Sterne drehen sich auch weiter, wenn die ganze Welt untergeht. Gut oder böse, richtig oder falsch, das ist alles nur Ansichtssache und auch völlig belanglos. Irgendwann bist du Sternenstaub und nichts und niemand wird dich für irgendeine deiner Taten zur Rechenschaft ziehen. Also genieß dein Leben lieber!“

Kage zuckte kurz mit den Schultern.

„Mir macht es eben Spaß ein loyaler Kerl zu sein. Und das, was mein Herr so macht, gefällt mir auch, deshalb diene ich ihm gern.“

Erneut antwortete die schöne Drachenfrau mit einem vergnügten Lachen.

„Du bist wohl eher einfach veranlagt, was? Ich strebe da eher nach Höherem. Meine Lieblingsbeschäftigung ist das Spiel um die Macht. Das Streben nach Macht ist eine sehr befriedigende Sucht, davon kann ich nie genug kriegen. Und ich habe vor eine gewichtige Figur in diesem Spiel zu sein. Du dagegen bist offenbar mit einer Rolle als unbedeutende Nebenfigur auf der Verliererseite zufrieden. Schade, aber das macht nichts, es sind ja noch genug andere Figuren mit im Spiel, mit denen ich mich weiter vergnügen kann... Also kommen wir jetzt zu den entscheidenden Dingen, ich hätte da nämlich einige Fragen an dich. Erstens: wo hat sich Inutaishous kleiner Sohn verborgen? Ich weiß sicher, dass er bisher nicht zuhause im Westen aufgetaucht ist und ebenso sicher, dass er nicht bei seinem Vater ist. Wo also könnte er sonst sein?“

„Keine Ahnung“, antwortete Kage wahrheitsgemäß, „wenn der Junge sich versteckt, wirst du keine Chance haben ihn zu finden.“

„Soso“, überlegte Hotaru, „der kleine Prinz spielt also gern Verstecken? Nun gut, das kann ich verstehen, ich habe früher als Kind auch gern Versteckspiele gespielt. Und ich bin immer noch sehr gut darin. Also werde ich den entwischten Kleinen schon noch kriegen. Kommen wir daher zur zweiten Frage: wie ist das Heer des Westens aufgebaut und welche Truppenstärke besitzt es?“

„Das kommt ganz auf den Bedarfsfall an“, erwiderte Kage, wieder völlig wahrheitsgemäß, schließlich war das kein Geheimnis: „Unsere Armee ist sehr flexibel. Der Inu no Taishou besitzt viele unterschiedliche Untergebene und Verbündete, auf deren Hilfe er zurückgreifen kann. Er stellt das Heer immer je nach Wunsch und Notwendigkeit aus verschiedenen Teilen zusammen. Ich will dich da nicht mit Einzelheiten langweilen.“

„Och, erzähl es mir trotzdem“, bat die Dämonin neckisch, „nimm einfach mal an, dein Fürst würde sein komplettes Heer benötigen und müsste all seine Krieger zusammensammeln.“

„Das wäre sehr ungewöhnlich. Ein vernünftiger Herrscher schont seine Ressourcen. Eine komplette Mobilisierung des westlichen Gesamtheeres geht daher auch nur über einen besonderen Befehl, den nur der Inu no Taishou selbst aussprechen kann.“

„Denn zu diesem Befehl gehört ein geheimer Kode“, ergänzte die Drachendämonin listig lächelnd und fügte lauernd hinzu: „Ohne die richtigen Tarnworte, die an ausgewählte, geheime Mitglieder der unterschiedlichen Truppenteile weitergegeben werden muss, wird der Befehl nicht ausgeführt, richtig? Mit dieser klugen Vorsichtsmaßnahme will der liebe Hundefürst verhindern, dass ein Fehlalarm ausgelöst wird oder andere fatale Irrtümer geschehen, nicht wahr?“

Eine Weile kicherte die Drachendämonin fröhlich vor sich hin, bevor sie weitersprach:

„Welch weise Voraussicht... Aber leider umsonst. Denn ich habe ja dich. Du bist der Heeresführer, die Schnittstelle zwischen deinem Herrn und dessen Armee, also kennst du den kodierten Befehl für die Mobilisierung des gesamten Heeres natürlich auch. Du wirst doch sicher so nett sein und mir diese Schlüsselworte sowie die Namen derer, die diesen Befehl erhalten müssen, verraten?“

„Ich würde eher sterben“, erklärte Kage ruhig.

„Aha, soso“, fuhr Hotaru gelangweilt fort, „ich dachte schon, du würdest diesen abgedroschenen Satz nie sagen... Also gut, wenn du es nicht anders haben willst... dann werde ich eben deine Erwartungen erfüllen!“
 

Die Drachendämonin sprach nun lächelnd den Angehörigen des Donnerstamms an, der hinter Kage stand.

„Damit gehört der Flughund jetzt dir. Zeig ihm unser exklusives Gastzimmer, das wir extra für so loyale Typen wie ihn reserviert haben. Vielleicht ist der verehrte Heerführer dann eher gewillt meine Fragen zu beantworten.“

Der Donnerdämon nickte Hotaru höflich zu und ging zum Ausgang der Halle. Die Wolfsdämonen, die Kage bewachten, zerrten ihren Gefangenen bösartig grinsend hinterher. Der Heerführer spürte ein äußerst mulmiges Gefühl in seiner Magengrube, er ahnte, welche Funktion das Gastzimmer erfüllte, in das er nun gebracht wurde.
 

Etwa eine Viertelstunde später, nachdem sie die Halle verlassen hatten, wurden Kages Vermutungen bestätigt. Er war weitere verwirrende Höhlengänge hinab, in abgelegene, finstere Kerkerräume, geführt worden und stand nun vor einer massiven Eisentür.

Der Donnerdämon öffnete die Tür und wies dann mit einer einladenden Geste in ein matt mit Feuerfackeln beleuchtetes, übel riechendes Verlies. Beklommen blickte Kage hinein und ertappte sich bei dem Wunsch überall anders, nur nicht dort, wo er sich gerade befand, zu sein. Denn er sah in eine Folterkammer.

„Du darfst dich freuen“, raunte ihm der Donnerdämon unheilvoll zu, „ich bin ein Könner meines Handwerks. Ich habe eine Zeitlang als Söldner im Osten gedient, unter dem Drachenlord Bundori höchstpersönlich, da habe ich einiges gelernt. Hotaru-sama musste eine Menge zahlen, um mich anzuwerben, aber du wirst merken die teure Investition hat sich für sie gelohnt. Noch vor Anbruch des nächsten Tages wirst du mir alles sagen, was sie wissen will.“

Der gefangene Heerführer sparte sich eine Antwort. Standhaftes Schweigen war nun schließlich alles, worauf es ankam, und was Kage dementsprechend auch tun würde. Seine letzten Worte an Hotaru waren keine hohle Phrase gewesen, er würde wirklich eher sterben als irgendetwas zu verraten. Leider würde ihm das Sterben jedoch nicht leicht gemacht werden.
 


 

Soweit das elfte Kapitel.

Armer Kage. Der hat echt den Schwarzen Peter gezogen... Ehrlich gesagt, ich fühle mich ziemlich unwohl damit, dass schon wieder in einer Geschichte von mir ein Charakter gefoltert wird, denn solche Thematik behagt mir gar nicht. Aber, tja, das ist eben ein einfacher Weg, um die Bösen zu definieren und eine spannende Dramatik zu erzeugen. Außerdem bemühe ich mich stets direkte, deutliche Beschreibungen von Gewalttätigkeiten zu vermeiden.

Ansonsten habe ich jetzt den Spruch bewiesen, dass die Hoffnung zuletzt stirbt. Denn die Hoffnung auf eine Fortsetzung dieser fast schon begrabenen Geschichte war winzig, aber nun geht es tatsächlich weiter.

An dieser Stelle geht mein tiefster Dank an inukimi, deren eindringliche Bitte den Abbruch dieser FF verhindert hat! Dank ebenso an Hotepneith, die mir als Betaleserin beim Fortgang+Abschluss der Geschichte hilft! Und Dank an alle, die in unerschütterlicher Treue die Hoffnung auf eine Fortsetzung aufrechterhalten haben und weiterhin etwas von mir lesen möchten!
 

Im nächsten Kapitel geht es zurück zu den tapferen Rettern. Dann könnt ihr den Inu no Taishou und die ihn führenden Wölfe sowie Sesshoumaru und seine beiden jugendlichen Gefährten auf unterschiedlichen Wegen in die Feste begleiten.

Über Kommentare freue ich mich sehr.

Tatendrang

Vorbemerkung:

Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen potentiellen Lesern für das Interesse an meiner Geschichte, besonderer Dank geht dabei nochmals an inukimi für den Kommentar zu Kapitel 11 und für die fortwährende Unterstützung!

Weiter im Text: in dem jahr(zehnt)elang überfälligen, vergangenen Kapitel lüftete sich ein wenig das Geheimnis um die Identität von Inutaishous Feinden. Der gefangene Heerführer Kage stand dem aufständischen Hundedämon Akechi sowie der mysteriösen Drachendämonin Hotaru gegenüber und fand sich alsbald in einer prekären Lage wieder, denn er soll zum Verrat gezwungen werden. Umso besser, dass sich währenddessen zwei Rettungstrupps auf den Weg in die Feste in der Tiefe gemacht haben, obwohl die Rettung beiderseits leicht in einem Desaster enden könnte...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 12: Tatendrang
 

Es war wieder Nacht geworden. Ein abnehmender Sichelmond beleuchtete matt das einsame Berggebiet, in dem sich die Feste in der Tiefe verbarg. Seit dem Überfall auf die Gefolgsleute von Inutaishou und der Verschleppung seiner überlebenden Getreuen war bereits mehr als ein Tag vergangen. Für den Herrscher des Westens war das eine unerträglich lange Zeit der Ungewissheit gewesen, doch nun endlich lag sein Ziel direkt vor seinen Augen.

Der Dämonenfürst hockte lauernd hinter einem Felsen und blickte grimmig auf das Bergmassiv vor sich. Das überwiegend nackte Gestein glänzte hellgrau im schwachen Mondlicht. Nur ein spaltartiger und auf den ersten Blick unauffälliger Bereich der Bergwand, auf die Inutaishou starrte, lag in völliger Schwärze. Dieser dunkle Bereich war ein Höhleneingang. Davor flackerte unruhig ein rötlicher Schein: der Schein eines Feuers, an dem vier Dämonenkrieger in menschenähnlicher Gestalt lagerten.

„Das ist einer der Eingänge in die Feste“, flüsterte Aoi. Die Wolfsdämonin kauerte zusammen mit ihrem Artgenossen Chugo und drei tierischen Begleitern hinter Inutaishou.

„Und der Eingang ist natürlich bewacht“, knurrte Chugo leise: „Es wird nicht einfach werden, unbemerkt da rein zu kommen.“

„Rechts am Fuße der Bergwand bietet die Vegetation genügend Deckung“, stellte Inutaishou fest, „wir können uns von dort aus seitlich heranschleichen.“

Der Dämonenfürst löste seinen Blick von der Szenerie vor sich und sah prüfend zu Chugo:

„Kannst du zwei der Wachen übernehmen?“

Der Wolfsdämon nickte stumm.

„Gut“, meinte Inutaishou und schaute danach fragend auf Aoi: „Wie weit wirkt die schützende Abschirmung des Fuyoheki?“

„Normalerweise nur bis zu zwanzig Schritt“, erwiderte Aoi und drehte bedeutungsvoll eine kristallene Kugel in ihren Händen, „doch die Reichweite lässt sich kurzfristig auch bis auf das Zehnfache erweitern.“

„Perfekt, das genügt. Dann warte mit den drei Wölfen hier bis wir die Wachen beseitigt haben!“

Ohne ein verräterisches Geräusch zu verursachen erhob Inutaishou sich und huschte, geduckt in die Schatten von Felsen, Büschen und Bäumen, an die Felswand mit dem Höhleneingang heran. Chugo folgte ihm ebenso lautlos.
 

Die vor dem Felsenspalt lagernden, dämonischen Wächter bemerkten nichts von der sich annähernden Bedrohung. Der Fuyoheki, ein magischer Schutzstein, den sich Aoi von einem Berggeist ausgeliehen hatte, tarnte die Heranschleichenden hervorragend. Er unterdrückte nicht nur jegliche dämonische Ausstrahlung, sondern auch jeden Geruch. Die lange Verzögerung, die Inutaishou in Kauf hatte nehmen müssen, um den Fuyoheki zu holen, zahlte sich nun aus.

Einer der Wächter zuckte zwar alarmiert zusammen, als er einen Schatten über sich sah. Aber es war schon zu spät. Im gleichen Moment riss ihn etwas aus seiner sitzenden Position in die Höhe und brach ihm das Genick. Seine drei Kumpane starben auf ähnliche Weise, bevor sie richtig reagieren konnten.

Chugo zog die Getöteten flink hinter ein nahelegendes Gebüsch und verbarg sie dort.

„Hoffen wir, dass nicht ein baldiger Wachwechsel ansteht.“

Inutaishou nickte nur und wandte seine Aufmerksamkeit dem spaltartigen Höhleneingang zu. Der Spalt war gerade so groß, dass sich ein Mann hindurchzwängen konnte.
 

„Wartet! Lasst mich voran gehen!“

Aoi war mit Chugos Wölfen hinzu gekommen und drängte sich nun vor dem Hundeherrn in den Spalt. Drinnen erweiterte der Höhleneingang sich, so dass Aoi sowie die ihr nachfolgenden Dämonen und tierischen Begleiter daraufhin in einem hallenartigen Felsrund standen.

„Hier geht es ja gar nicht weiter“, bemerkte Chugo verblüfft.

„Lass dich nicht verwirren“, erklärte Aoi, „das ist bloß eine Täuschung!“

Prüfend betastete die Wolfsdämonin die gegenüberliegenden, massiven Felswände.

„Ich muss die richtige Stelle finden und berühren“, murmelte sie, „ich schätze, es ist da, wo der Fels sich warm anfühlt...“

Plötzlich begann der Felsen bläulich zu schimmern. Direkt vor Aoi wurde das Gestein durchsichtig. Eine mannshohe, ovale Öffnung bildete sich. Dahinter lag ein zwei Meter hoher und fast ebenso breiter Gang. Schwach glimmende Fackeln, genährt durch dämonisches Feuer, beleuchteten diesen.

„Vorsicht!“

Mit einer warnenden Handbewegung hielt Aoi den Herrn der Hunde und ihre Artgenossen zurück, als diese den Gang betreten wollten.

„Da ist eine Falle“, begründete Aoi ihre Warnung: „Seht ihr dort unten auf dem Boden die musterartig ausgelegten Steinplatten? Man muss diese Platten in einer vorgegebenen Reihenfolge betreten. Man darf sie auch nicht überspringen oder überfliegen. Ansonsten bildet sich ein Bannkreis, der uns in der Eingangshöhle einschließt. Dieser Bannkreis besteht aus uralter Drachenmagie, dagegen kommt keiner von uns an.“

Inutaishou war zwar überzeugt, dass er sehr wohl gegen so etwas ankommen könnte. Doch das gewaltsame Zerstören eines Bannkreises würde sicherlich ungewollte Aufmerksamkeit erregen. Und das war nicht in seinem Sinne, denn dann hätte er sich auch das Besorgen des Fuyoheki sparen können. Daher folgte der Dämonenfürst lieber Aoi aufmerksam über die Steinplatten, immer genau dorthin seinen Schritt setzend wie sie es ihm vormachte. Zuletzt kam Chugo und dirigierte dabei vorsichtig die drei vor ihm her springenden Wölfe richtig über das Steinmuster.

„Das läuft bisher ja ganz gut“, meinte der Wolfsdämon nach erfolgreicher Überwindung dieser Hürde und streichelte seine tierischen Gefolgsleute lobend.

„Rein zu kommen ist keine große Schwierigkeit, wenn man sich auskennt, problematisch wird es eher raus zu kommen“, sagte Aoi dazu und folgte leise vorwärts huschend dem Gang. Inutaishou, Chugo und die drei Wölfe schlossen sich ihr sofort an.
 

Der Gang wurde zunächst noch etwas breiter und höher, dann endete er vor einem Abgrund. Die Wölfe und der Hundedämon standen auf mittlerer Höhe vor einer riesigen, kuppelartigen Höhle. Überall von dieser rundlichen Höhle zweigten unter und über ihnen viele weitere Gänge ab. All das glich einem gewaltigen Röhrensystem.

„Meine Güte“, stöhnte Chugo, „das ist ja unglaublich! Das sieht ja aus wie der unterirdische Teil eines Ameisenbaus in Riesenformat. Wie viele Drachen haben denn einst hier gehaust und diese unzähligen Gänge gegraben? Der reinste Irrgarten!“

Inutaishou betrachtete den nun ersichtlichen Ausschnitt des unterirdischen Bauwerks ebenfalls mit sehr gemischten Gefühlen. Er hatte damit gerechnet, dass die Feste in der Tiefe riesig und ungewöhnlich war, aber das wirkliche Aussehen und die wahren Ausmaße dieser Festung übertrafen seine Vorstellung. Die ganze unterirdische Drachenburg war nichts anderes als ein unermesslich in die Breite und Tiefe gehendes Höhlenlabyrinth!

Aoi kletterte und sprang währenddessen zu einem anderen, schräg nach unten führenden und besonders breiten Gang hinab. Von dort aus bedeutete sie Inutaishou und Chugo ihr zu folgen. Als diese das getan hatten, fuhr die Wolfsdämonin mit hilfreichen Erklärungen fort:

„Das hier ist einer der Hauptgänge. Er führt ins Mittelgebiet der Feste, zu großen Hallen und Wohngebieten. Darunter liegen, soweit ich weiß, ausgedehnte Lagerbereiche und sicher auch die Kerkerräume. Ich würde vorschlagen, dass wir zunächst in Richtung des Thronsaals gehen. Denn der ist das Herzstück dieser Labyrinthburg, in dem sich viele der Wege vereinen. Von dort aus finden wir sicher am leichtesten einen Weg zu den Verliesen. Bis zum Thronsaal kann ich noch die Führung übernehmen, bis dorthin bin ich schon einmal fast gekommen. Aber weiter kenne auch ich mich nicht mehr aus. Dann müssen wir nach Gutdünken weiter... Außerdem hat sich seit meiner ersten Erkundung hier bestimmt einiges verändert, schließlich ist die Feste im Gegensatz zu damals jetzt wieder bewohnt. Vielleicht gibt es auch neue, mir unbekannte Fallen... Deshalb kann ich nicht sagen, was uns alles erwarten wird.“

Inutaishou musterte noch einmal die Umgebung und sah schließlich Aoi fest in die Augen. Immer noch wurde er nicht das seltsame Unbehagen los, das er in Gegenwart der Wolfsdämonin empfand. Konnte er ihr wirklich trauen?

„Woher und warum weißt du eigentlich so viel über die Feste in der Tiefe?“

Aoi senkte ihren Blick und betrachtete den Fuyoheki in ihren Händen.

„Chugo sagte Euch doch schon, dass ich bereits einmal hier drinnen war. Es ist schon etwas länger her. Ich war damals auf der Suche nach etwas... es war eine sehr törichte Idee und wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Mein Gefährte rettete mich und gab dafür sein Leben... verzeiht, aber versteht bitte, dass ich nicht gern darüber spreche!“

Diese Antwort stellte Inutaishou zwar keinesfalls zufrieden, aber er beließ es dabei. Schließlich wollte er nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen. Er musste nur an seinen Sohn und seine Getreuen denken, um seine zunehmende Ungeduld zu spüren. Er musste schnellstmöglich weiter und er würde tun, was nötig war, bis er sein Kind in Sicherheit wusste. Koste es, was es wolle!
 

Eng beisammen bleibend und ständig nach möglichen Gefahrenquellen Ausschau haltend drangen der Hundeherr, die Wolfdämonen und ihre drei Tiere weiter in die labyrinthartigen Gänge der unterirdischen Drachenfestung vor.

„Je näher wir dem Kernbereich der Feste kommen“, sprach Chugo nach einer Weile eine Befürchtung aus, „desto gefährlicher wird es werden. Bestimmt halten sich dort die meisten Feinde auf. Hoffentlich gelingt es uns, ihnen möglichst lange aus dem Weg...“

Der Wolfsdämon hatte seine Überlegungen noch nicht zu Ende geführt, als sich das Fell der drei Wölfe neben ihm sträubte und die Tiere warnend zu knurren begannen. Zur gleichen Zeit hatten Inutaishou und Aoi eine alarmbereite Haltung angenommen.

„Da kommt jemand“, flüsterte Aoi.

„In den Seitengang!“ befahl Inutaishou und sprang sofort in den schattigen Schutz einer unbeleuchteten Abzweigung, die links neben ihm vom Hauptgang wegführte. Die Wolfdämonen mit ihren Tieren folgten ihm und pressten sich neben dem Herrscher des Westens an die steinerne Gangwand.

Schritte mehrerer Personen, in perfektem Gleichmaß, waren nun zu hören. Zusätzlicher Fackelschein erfüllte den Hauptgang.

Mist, das klingt nach einem größeren Kriegertrupp, dachte Chugo und blickte rasch neben sich zu Inutaishou.

Die Augen des Dämonenfürsten glänzten rötlich im düsteren Schatten des Seitengangs. Er hatte offensichtlich die gleichen Schlussfolgerungen gezogen wie Chugo und bereitete sich vorsichtshalber auf den Fall einer Entdeckung und Verteidigung vor. Mit unbewegter Miene griff er hinter sich und zog lautlos ein an seinem Rücken befestigtes Schwert aus der Scheide. Das Schwert schien kurz violettfarben aufzuschimmern und Chugo zuckte zusammen. Flüchtig hatte er das Gefühl von etwas Abscheulichem berührt worden zu sein. Kam das etwa von dem Schwert? Doch diese Empfindung war dermaßen schnell vorbei, dass der Wolfsdämon sie für Einbildung hielt. Stattdessen konzentrierte er sich lieber wieder auf den näherkommenden Kriegertrupp. Zu seinem Entsetzen war der tatsächlich recht groß, er bestand aus mindestens 50 Dämonen, dem Geruch nach zu urteilen waren darunter viele Wolfsdämonen.

Es ist also wirklich wahr, so schwer es Chugo immer noch fiel, es zu glauben. Es waren wirklich Wolfsdämonen gewesen, die Inutaishous Getreuen überfallen und getötet hatten. Der Waffenstillstand zwischen Wölfen und Hunden war also wahrhaftig gebrochen worden und die Wölfe waren nun an einer Verschwörung gegen den Herrscher des Westens beteiligt. Warum? Und warum hatte Chugo nichts davon mitbekommen? Er war doch einer der Wolfswächter, ihm blieb sonst nichts verborgen, was bei den Wölfen geschah... was bedeutete das alles?

Inutaishou umfasste sein Schwert fester. Die Krieger erreichten nun den Seitengang, in dem er sich mit Aoi, Chugo und dessen Tieren zurückgezogen hatte. Doch zum Glück der Verborgenen drang der Lichtschein von den zusätzlichen Fackeln, welche einige Krieger mit sich trugen, kaum in den schmalen Seitengang ein. Zudem schirmte der Fuyoheki in Aois Händen weiterhin zuverlässig jede verräterische Aura und jeden Geruch der dicht aneinander gedrängten, versteckten Dämonen ab. Ahnungslos lief die Kriegergruppe daher an den Eindringlingen vorbei und begann sich zu entfernen.

Doch gerade in dem Moment, als Chugo sich erleichtert von der Wand lösen wollte, machte ein leise klingendes Geräusch, als ob etwas Gläsernes zu Boden gefallen wäre, zwei Krieger aus der Nachhut aufmerksam. Zögernd blieben die beiden stehen und starrten zurück. Chugo suchte nach der Ursache des verräterischen Geräuschs, schaute nach unten und sah überrascht den Fuyoheki an seinen Füßen vorbei über den Boden rollen. Als der Wolfsdämon daraufhin zur Seite sah, begegnete er einem entschuldigenden Blick Aois. Der magische Schutzstein war ihr aus der schwitzenden Hand gerutscht.

Erneut half das Glück. Ein scharfer Befehl bewog die misstrauischen Nachzügler ihrer Truppe zu folgen. Gleich darauf waren sie fort, bevor sie die in den Hauptgang hinausrollende Kugel entdecken konnten. Es wurde wieder still.
 

„Verflixt, Aoi, was sollte denn das?“ fragte Chugo wütend: „Kannst du nicht aufpassen? Fast hätte dein Missgeschick uns verraten!“

Die gerügte Wolfsdämonin kniete sich im Hauptgang nieder und sammelte schuldbewusst den fallengelassenen Fuyoheki wieder auf.

„Tut mir wirklich leid...“

Inutaishou sagte zunächst nichts dazu, doch seine eisige Miene verhieß nichts Gutes. Sein unheimliches Schwert lag immer noch drohend in seiner Hand.

„Ich war nervös... ich bin eben keine Kämpferin“, wagte Aoi flüsternd hinzuzufügen.

„Wenn so etwas noch einmal vorkommt, werde ich euch töten“, drohte Inutaishou mit eisenharter Stimme: „Solche Fehler kann ich nicht tolerieren, dafür steht zuviel auf dem Spiel! Lass dir das eine Warnung sein... Und jetzt zeig uns weiter den Weg!“

Aoi schluckte, stand auf und begann wieder voranzulaufen.

Lautlos und vorläufig noch unbemerkt folgten ihr der Dämonenfürst, Chugo und die Wölfe weiter in das Wirrwarr zahlloser Gänge, tief ins Innere der gewaltigen, unterirdischen Labyrinthfeste.
 

In einem ganz anderen, weit entferntem und seit langem unbenutzten Gelände der Drachenburg schlichen währenddessen drei weitere Eindringlinge auf fragwürdiger Rettungsmission durch die Tiefe. Dem ersten Anschein nach hatten diese es im Vergleich zum Herrn der Hunde und den Wölfen sehr einfach. Denn Probleme mit irgendwelchen Wachposten oder patrouillierenden Kriegern hatten Sesshoumaru, Yoshio und Seto nicht. Der Gang hinter einem Höhlensee, den ihnen die doppelköpfige Seeschlange Taki als Weg in die Festung gezeigt hatte, war mittlerweile völlig vergessen und wurde von den derzeitigen Burgbesitzern deswegen auch nicht mehr genutzt.

Unbehelligt folgte das junge Trio dem vergessenen, scheinbar endlosen Schacht, der in schlängelnden Bahnen und mit sanfter Neigung hinab in die Tiefe führte. Fluoreszierende Steine statt dämonische Feuerfackeln spendeten hier schwaches Licht. Im Gegensatz zu allen sonstigen Bereichen der Feste in der Tiefe, gab es in diesem Gang bisher keine Abzweigungen. Von dem Labyrinth, zu dem der Weg letztendlich führte, ahnten die Drei daher noch nichts. Ebenso wenig ahnten sie, dass der vergessene Gang trotz fehlender Wächter nicht ungefährlich war. Und, dass dieser Burgbereich nicht unbegründet dem Vergessen heimgefallen war.
 

„Puh, was ist denn das für ein Gestank?“

Nach langer Zeit des Schweigens, während die drei jungen Hundedämonen vorsichtig und langsam, aber stetig vorwärts gewandert waren, meldete sich Seto zu Wort. Gemäß seiner Leibwachfunktion ging er voran. Sesshoumaru lief in der Mitte. Yoshio bildete das Schlusslicht und fühlte sich dabei keineswegs wohl. Er hatte dauernd das Gefühl verfolgt zu werden und drehte sich deshalb häufig unruhig um. Jetzt allerdings erforderte ein seltsamer Geruch vor den jungen Dämonen alle Aufmerksamkeit. Immer stärker werdend kam ihnen von dort ein starker, süßlicher Duft entgegen.

„Das stinkt ja tausendmal schlimmer als dieses Zeug, mit dem Menschen so gern ihre Haut beschmieren. Parfüm oder wie das heißt“, meckerte Seto weiter: „Ist ja nicht auszuhalten! Gibt es hier eine unterirdische Blumenwiese, oder was?“

Sesshoumaru und Yoshio sparten sich den Hinweis, dass das Vorkommen von Blumen ohne Sonnenlicht sehr unwahrscheinlich war. Auch zu der Tatsache, dass sie schon bald wissen würden, woher dieser intensive Duft kam, weil sie ja direkt darauf zu liefen, sagten beide nichts.
 

Unter weiteren vor sich hin gemurmelten Schimpftiraden und Flüchen ging Seto weiter. Der lange Weg durch die Düsternis strapazierte seine sowieso geringe Geduld und seine immer mieser werdende Laune. Erst, als der Gang eine scharfe Biegung machte, verstummte er und blieb überrascht stehen.

„Igitt, was ist denn das?“

Genervt von Setos Nörgeleien und seinen sinnlosen Fragen drängte Yoshio den jungen Hundekrieger beiseite und blickte nun neben ihm stehend auf einen fast quadratischen Höhlenraum mit einer Bodenfläche von vielleicht 20 Metern. Weitaus interessanter als die Form war der Inhalt dieses Raums. Der steinige Boden war überwuchert von übermannshohen, schleimigen, pilzähnlichen und quietschbunten Gebilden, die einen dermaßen starken, honigsüßen Duft absonderten, dass die geruchsempfindlichen Hundedämonen fast in Ohnmacht gefallen wären.

„Puh, müssen wir da etwa durchgehen?“ fragte Yoshio mit krampfhaft zugehaltener Nase: „Das ist ja grässlich!“

„Es gibt keinen anderen Weg!“ gab Sesshoumaru Antwort.

Auch der kleine Fürstensohn hielt sich die Nase zu und presste dabei fest seinen Ärmel vor das Gesicht. Ihm war gleichgültig, ob das vielleicht unkultiviert aussah. Der Geruch war anders nicht zu ertragen. Tapfer betrat er dann die merkwürdige Schleimpilzfläche. Seto, der für Sesshoumarus Sicherheit verantwortlich war, und Yoshio, der nicht allein zurückbleiben wollte, konnten nichts anderes tun als dem Dämonenprinzen zu folgen. Bis auf den intensiven Duft ging auch nichts Gefährliches von den Pilzgebilden aus.
 

Geradezu fluchtartig durchquerten die jungen Hundedämonen den quadratischen Höhlenraum und retteten sich in den gegenüberliegenden Gang.

„Oh, bei all meinen Ahnen, war das scheußlich“, jammerte Seto, „gut nur, dass ich da durch gekommen bin ohne eines von diesen ekligen Pilzdingern zu berühren. Diesen süßen Duftschleim von denen würden wir ja unser Lebtag nicht mehr abbekommen...“

Sesshoumaru hob ruckartig den Kopf und starrte seinen Leibwächter an.

„Aber natürlich“, sagte er daraufhin, „das ist DIE Idee!“

„Bitte?“

„Was für eine Idee?“ fragte auch Yoshio.

„Wir reiben uns mit diesem duftenden Pilzschleim ein“, erklärte Sesshoumaru, „das ist wie das Parfüm der Menschen. Es übertüncht jeden anderen Geruch. Damit sind wir hervorragend getarnt!“

„Das ist nicht dein Ernst!“, entsetzte Yoshio sich.

„Unsere Feinde sind Wolfsdämonen“, fuhr Sesshoumaru ungeduldig fort, „sie haben genauso gute Nasen wie wir. Früher oder später könnten sie uns wittern. Wenn wir aber wie irgendwelche Pilze riechen, die hier unten wachsen, wird sich keiner was dabei denken!“

Sprachlos und immer noch voller Entsetzen starrten Yoshio und Seto erst sich und dann wieder den Fürstensohn an. Keiner der Drei war von dieser Idee begeistert. Doch je länger jeder darüber nachdachte, desto einsichtiger war diese.

Na ja, vielleicht ist das ja eine gute Vorübung für meine künftige Berufswahl als Blumenzüchter, überlegte Seto innerlich seufzend und holte sich schließlich etwas Schleim von einem orangefarbenen Pilz. Mit einem Gesicht, als habe er soeben in eine saure Zitrone gebissen, begann er sich und seine Kleidung mit der süßlich riechenden Substanz einzureiben. Sesshoumaru und Yoshio taten es ihm nach.
 

Versehen mit einer neuartigen, tarnenden Duftmarke und neuem Tatendrang folgten die drei Hundedämonen danach weiter dem Gang in die Tiefe.

Doch Sesshoumarus Stolz über seine grandiose Idee und seine überzeugte Vorfreude darauf, seinen Vater retten zu können, währte nicht lange. Nach nur wenigen Minuten endete der Gang nach einer erneuten Biegung abrupt vor einem Abgrund.

Seto, der weiterhin pflichtbewusst voran gegangen war, hatte gerade noch rechtzeitig abbremsen können. Verärgert sah er nun hinunter in die bodenlose Schwärze vor sich.

„So langsam reicht es echt! Was soll der Scheiß denn jetzt? Welcher Vollidiot baut denn solch einen Gang, der runter in eine Grube ins Nirgendwo führt?“

Sesshoumaru und Yoshio kamen ebenfalls an den Rand des Abgrunds heran. Letzterer prüfte schnuppernd die Luft.

„Wo auch immer es da unten hinführen mag, wir sollten dort lieber nicht runter. Es riecht sehr eigenartig da unten. Wie eine Leichengrube.“

„Wir müssen ja auch nicht da runter“, bemerkte Sesshoumaru und deutete geradeaus auf die weit entfernte, gegenüberliegende Höhlenwand:

„Dort drüben geht der Gang weiter. Die Benutzer dieses Gangs hatten offenbar Flugfähigkeiten. Wir brauchen es ihnen bloß nachzumachen und über den Abgrund fliegen.“

„Tolle Idee!“ Setos Stimme triefte vor Sarkasmus: „Offenbar ist Euch entfallen, dass Yoshio und ich nicht fliegen können, Sesshoumaru-sama. Wollt Ihr etwa alleine weiter? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich wiederhole es ungern, aber ich bin für dich kleinen Scheißer verantwortlich. Und ich habe keine Lust wegen dir von deinem Vater zu Hackbällchen verarbeitet zu werden, weil du mich zurücklässt und mich so an meiner Pflichterfüllung hinderst!“

„Halt gefälligst endlich deine Schnauze!“ gab Sesshoumaru zurück. Seine eher ordinäre Wortwahl bewies, dass er ziemlich wütend war:

„Ich lasse euch beide ja nicht zurück. Ich trage euch rüber!“

„Äh, Sesshoumaru, also ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist...“

Krampfhaft überlegte Yoshio, wie er seinen Einwand weiter ausformulieren konnte, ohne den kleinen Dämonenprinzen noch mehr zu erzürnen:

„Du bist stark und deine Flugfähigkeiten sind schon erstaunlich gut, aber deine Kräfte sind noch nicht völlig entfaltet... Das letzte Mal, als du versucht hast mich zusammen mit dir in der Luft zu halten, wäre das beinahe schief gegangen... Und jetzt müsstest du auch noch Seto tragen...“

„In meiner wahren Gestalt geht es!“ behauptete Sesshoumaru.

Bevor noch weitere Zweifel und Proteste aufkamen, verwandelte er sich in seine pferdegroße, noch nicht ausgewachsene und welpenartige Hundeform. Auffordernd knurrend legte er sich dann neben seine beiden Gefährten auf den Boden und wartete darauf, dass diese sich auf seinen Rücken setzten.

Seto ließ sich nicht lange bitten. Die Vorstellung, Sesshoumaru als Reittier zu benutzen, gefiel ihm außerordentlich gut. Das war bestimmt eine unwiederholbare Gelegenheit den arroganten Knirps mal in einer demütigenden Position zu erleben. So eine Chance würde Seto nicht verstreichen lassen, selbst wenn er dafür in den Abgrund stürzen müsste. In einer schadenfrohen, boshaften und nahezu selbstmörderischen Stimmung setzte sich der junge Krieger auf den weißen, welpenartigen Hund.

Yoshio dagegen war nicht lebensmüde genug, um sich über solch einen außergewöhnlichen Ritt zu freuen. Nur sehr zögerlich stieg auch er hinter Seto auf Sesshoumarus Rücken. Als Sesshoumaru sich am Boden abdrückte und in den Abgrund sprang, schloss der Wolfhundedämon kurz die Augen. Den Reflex sich an Seto zu klammern konnte er glücklicherweise gerade noch unterdrücken. Deshalb bemerkte niemand etwas von seiner Angst.
 

Es ging alles glatt. Sicher überflog Sesshoumaru den dunklen, scheinbar bodenlosen Abgrund und landete im angepeilten, gegenüberliegenden Gang. Drüben angekommen verwandelte er sich schnell zurück in seine menschenähnliche Gestalt. Länger als unbedingt nötig wollte er nicht Reittier spielen. Seto, der nicht wie Yoshio sofort bei der Landung von Sesshoumarus Rücken abgesprungen war, wurde bei der Rückverwandlung unsanft mit der Nase voran zu Boden befördert.

„Aah! Scheiße! Jetzt habe ich mir einen Zahn ausgeschlagen! Ich hasse diese Feste und diesen beknackten Gang! Ich hasse diese ganze Mission! Und ich...“

„Was ist das?“ unterbrach Yoshio Setos wüstes Lamentieren.

Vorsichtig ging er einige Schritte weiter vor in den Gang. Seltsame, klebrige und gebündelte Fadenstränge hingen dort an den Felswänden. Die Luft war stickig und feucht.

„Sind das Spinnenfäden?“

„Nein“, meinte Sesshoumaru nachdenklich, „es sieht nicht danach aus und riecht ja auch nicht nach Spinne. Aber vielleicht ist es etwas ähnliches wie Spinnenfäden. Wir sollten es lieber nicht berühren. Gehen wir weiter!“

Beklommen folgte Yoshio dem Dämonenprinzen in den Gang. Seto rappelte sich hastig auf und rannte ihnen nach.
 

Je weiter die drei jungen Hundedämonen in den Gang vordrangen, desto dichter wurde das seltsame, spinnenartige Gewebe. Es wurde immer schwieriger den Fäden auszuweichen. Zudem wurde das Licht immer schwächer, denn die fluoreszierenden Steine in den Wänden wurden weniger.

„Das gefällt mir gar nicht!“ murmelte Seto leise.

Auch Yoshios Unbehagen stieg. Er bekam mehr und mehr das Gefühl etwas oder jemand würde sie beobachten. Oder eher auf sie lauern. Vielleicht doch eine Spinne oder eben etwas ähnliches? Mühsam unterdrückte er seine aufwallende Furcht. Warum nur konnte er nicht so mutig sein wie Sesshoumaru, der sogar noch ein Kind war. Immer bin ich so ein Schwächling, ärgerte Yoshio sich, er hasste sich selbst dafür.

Es hätte den Wolfshundedämonen vielleicht beruhigt, wenn er gewusst hätte, dass auch Sesshoumaru keineswegs so selbstsicher war wie es äußerlich den Anschein hatte. Doch der Erbe des Westens ging trotz aller innerlichen Bedenken beharrlich weiter. Aufgeben kam für ihn nicht in Frage.
 

Nur wenige Zeit später weitete sich der Gang. Doch wie weit, das konnten die drei Hundedämonen nicht sehen, weil das fluoreszierende Licht weiter abgenommen hatte. Nur sehr undeutlich erkannten sie einen großen, rechteckigen Raum, ähnlich dem, in dem die pilzartigen Gebilde gewesen waren. Statt der Pilze wucherte hier das klebrige, dichte Gespinst. Eine der Wände schien zudem durchlöchert zu sein.

Sieht fast aus wie riesige Bienenwaben, dachte Seto und erschrak. Auf einmal wusste er, was das für Löcher und Fäden waren und was das alles bedeutete.

„Los, weg hier“, schrie er, „wir müssen sofort hier raus!“

Doch es war schon zu spät. Wie von Geisterhand schloss sich plötzlich der Gang hinter ihm. Die drei Hundedämonen waren gefangen. Gleichzeitig verlosch das letzte Licht.

Insektengeruch erfüllte nun die Luft. Sesshoumaru, Yoshio und Seto drängten sich aneinander, sich gegenseitig mit dem Rücken Deckung bietend.
 

Tja, wie es aussieht, schaffe ich es nicht mehr mir eine andere Arbeit zu suchen und Blumenzüchter zu werden, dachte Seto zynisch und zog sein Schwert. Ich werde mir Blumen wohl nur noch von unten ansehen können.

Im nächsten Moment hörte er ein Schwirren und sah im Dunkeln eine unzählige Menge rotglühender Facettenaugen aufleuchten.
 


 

Soweit das zwölfte Kapitel.

Beide Rettungstrupps sind also mehr oder weniger erfolgreich in die unterirdische, labyrinthartige Festung eingedrungen. Fragt sich, was sie alle weiter erwartet. Das jüngere Rettungstrio hat ja offensichtlich schon mal ein ziemliches Problem. Im nächsten Kapitel erfahrt ihr mehr über dieses Problem, zumindest ein ganz klein bisschen, während euch ein weiterer Blick auf das feindliche Lager gewährt wird...

Über Kommentare freue ich mich sehr

Planung

Vorbemerkung:

Danke an inukimi für den Kommentar zu Kapitel 12 und Danke an alle potentiellen Leser, die weiterhin Interresse an dieser Geschichte zeigen.

Im letzten Kapitel sind wir den beiden Rettungsteams, das eine bestehend aus Dämonenherrscher, zwei Wolfsdämonen plus drei Wölfen, das andere bestehend aus einem Dämonenkind mit zwei nicht viel älteren Gefährten, auf zwei verschiedenen Wegen in die Feste in der Tiefe gefolgt. Jetzt stellt sich natürlich die brennende Frage, ob die Ankunft der Retter unbemerkt geblieben ist und wie die Gegenseite auf den Besuch reagiert...
 

Enjoy reading!
 


 

Kapitel 13: Planung
 

Wie langsam doch die Zeit vergeht, wenn man auf etwas wartet...

In Gedanken versunken betrachtete Hotaru eine raffinierte und reichlich verzierte Wasseruhr aus Gold. Ohne diese Uhr, ein Geschenk eines ehemaligen Liebhabers, hätte sie durch den Mangel an natürlichem Licht mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren. Der fehlende Wechsel zwischen Tag und Nacht war für sie ungewohnt.

Die Stunden verrannen nur langsam. Viel zu langsam, fand Hotaru.

Unzufrieden räkelte sich die schöne Drachendämonin auf ihrem Lager, warf einige seidene Kissen beiseite und ließ gelangweilt ihre Blicke durch ihr exquisit eingerichtetes Zimmer gleiten. Neben der sehr geräumigen Bettstatt und der goldenen Wasseruhr gab es hier allerlei kostbare Dinge. Eine mannshohe, kunstvoll bemalte Porzellanvase beispielsweise, eine aus Elfenbein gefertigte Truhe oder einen großen, auf einen schwenkbaren Ständer montierten Spiegel aus glattpolierter Bronze. Besonders auffallend war das Wanddekor. Es bestand aus mehreren detailliert gezeichneten Holzbildern mit derart deutlich erotischen Darstellungen, dass sie jede behütet und sittsam aufgezogene Jungfrau hätten erröten lassen. Hotaru jedoch war keine sittsame Jungfrau und machte deswegen keinen Hehl daraus, wofür sie ihr Schlafzimmer auch benutzte, falls sie es für nützlich erachtete. Sie nutzte jede ihrer Stärken, um ihre Ziele zu erreichen, auch ihre weiblichen Reize. Und bisher hatte sie alles bekommen, was sie wollte.
 

Der schwere, undurchsichtige Vorhang, der Hotarus Schlafzimmer von den Vorräumen ihrer Privatgemächer trennte, schob sich beiseite und ein menschenähnlicher Dämon in einer kostbaren Rüstung trat ein.

Verärgert über die Unhöflichkeit sah Hotaru auf.

„Ich mag es nicht, wenn meine Privatsphäre missachtet wird. Das solltest du wissen, Akechi. Also hoffe ich, dass du einen berechtigten Grund für dein unangemeldetes Eindringen in meine Gemächer hast!“

„Warum so unfreundlich, geschätzte Freundin?“

Selbstgefällig lächelnd blieb der Angesprochene am Zimmereingang stehen und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

„Du hast mir doch selbst gesagt, dass mir jeder Bereich der Feste in der Tiefe zur Verfügung steht und dass ich dir auch jederzeit meine Aufwartung machen dürfe.“

„Überspann den Bogen nicht“, warnte Hotaru den Hundedämonen, „wir haben zwar ein Bündnis geschlossen, aber solange wir unsere Ziele nicht erreicht haben, ist keiner von uns an diesen Pakt gebunden. Noch gehört dir nichts. Die Feste nicht, der Westen nicht. Und erst recht nicht ich. Bevor du deine Siegespreise einheimsen kannst, musst du das Spiel erst noch gewinnen...“

„Es wäre leichter bei deinen Spielchen mitzumachen und sie zu gewinnen, wenn du deine Strategie besser mit mir absprechen würdest“, bemerkte Akechi unwirsch: „Ich glaube nämlich nicht, dass alles wie geplant funktioniert. Kage erweist sich immer noch als harter Brocken und schweigt weiterhin beharrlich. Wenn er nicht redet, kommen wir nicht an den geheimen Befehl und Ablauf zur Mobilisierung des gesamten Westheeres. Und dann wird nichts aus unserem Plan alle Anhänger des Inu no Taishou auf einen Schlag zu vernichten.“

„Das lass mal alles ruhig meine Sorge sein“, fauchte Hotaru: „Kage wird schon noch reden, wenn er erst merkt, wie hoffnungslos seine Lage ist. Außerdem dürfte ja bald der Hundefürst hier aufkreuzen, um seine Getreuen zu befreien. Und dann läuft auch er in meine Falle und wird niemals mehr zurück ans Tageslicht kommen. Ohne seinen Herrn ist der Westen kopflos und wird leicht zu erobern sein.“

Akechis Gesicht nahm einen skeptischen Ausdruck an.

„Ich bin nicht davon überzeugt, dass sich Inutaishou hierher locken lässt. Er wird wohl eher in sein Territorium zurückkehren. Das ist die einzige vernünftige Entscheidung. Er wäre ein dummer und schlechter Herrscher, wenn er bei einer potentiellen Bedrohung sein Land und seine Untertanen im Stich ließe, nur um wenige Einzelne zu retten.“

„Das ist deine Meinung“, bemerkte Hotaru und lächelte hintergründig, „aber Inutaishou denkt darüber anders. Du wirst schon sehen, er kommt hierher. Dann wird er der Vernichtung all seiner Verbündeten und Getreuen persönlich beiwohnen können. Und du wirst dich vor seinem Angesicht zum neuen Herrscher des Westens krönen können. Das ist doch ein großartiger Triumph, oder nicht? Was willst du mehr?“

Der Hundedämon war noch lange nicht zufriedengestellt.

„Ich will auch Sesshoumaru haben“, forderte er: „Solange es noch einen Erben aus dem Clan der weißen Hunde gibt, steht er meinem Herrschaftsanspruch auf die westlichen Gefilde im Weg!“

„Keine Sorge, ich setze Binotori auf ihn an. Der findet den Welpen.“

„Pah!“, schnaubte Akechi: „Taugt dieser Drachenvogel denn was?“

„Frag ihn das doch selbst!“
 

Hotaru stand von ihrer Bettstatt auf und deutete mit einer eleganten Handbewegung auf eine Stelle hinter Akechi. Der Hundedämon fuhr herum. Direkt hinter ihm schien sich ein Stück von der Wand lösen. Das Wandstück begann zu flimmern, seine Konturen lösten sich auf und verschwammen zu einem bläulichen Schatten. Aus diesem Schatten formte sich eine Gestalt und kniete sich auf dem Boden. Es war ein breitschultriger, muskulöser Mann, gewappnet mit einer schuppenartigen Rüstung und gepanzerten Beinschienen. Auf dem Rücken trug er zwei Schwerter unter einem blau schimmernden Federmantel. Mit einem belustigten Blick strich er sich eine feuerfarbene Strähne, die einzige rote Strähne in seinem sonst tiefblauen, langen Haar, aus der Stirn.

„Ich stehe stets zu Euren Diensten, meine Herrin und mein Herr!“

Akechi war nicht entgangen, in welcher Reihenfolge er und Hotaru angesprochen worden waren, und spürte Verärgerung gegen den so plötzlich Aufgetauchten in sich aufsteigen. Er konnte den anmaßenden Dämon, der eine seltsame Drachen-Vogel-Mischung darstellte und der erstaunliche Verwandlungskünste besaß, nicht leiden. Denn dieser Drachenvogel versagte Akechi jeden Respekt.

Hotaru tat, als habe sie Akechis Groll nicht bemerkt, und wandte sich erwartungsvoll dem neu hinzu gekommenen Mann zu.

„Ich hoffe, du bringst gute Neuigkeiten aus dem Osten, Binotori... Läuft mit dem Aufstand gegen Bundori weiterhin alles gut?“

Hotarus Untergebener nickte.

„Ja, Herrin. Die Aufständischen gewinnen langsam die Oberhand und der Dämonenfürst des Ostens steht zunehmend schlecht da.“

„Und was ist mit Bundoris jüngerem Bruder?“, fragte Hotaru weiter.

„Ryoukoussei konnte wie geplant reingelegt und problemlos gefangen genommen werden. Er befindet sich nun hier in einem Kerker. Und Bundori glaubt die Geschichte, dass Ryoukoussei ihn verraten hat und auf die Seite der Aufständischen übergewechselt ist.“

„Wunderbar! Sehr gut gemacht, ich danke dir!“ lobte Hotaru ihren Untergebenen: „Wie hat Bundori auf den angeblichen Verrat seines Bruders reagiert?“

„Ryoukousseis Verschwinden war der letzte Tropfen Öl im Feuer“, antworte Binotori grinsend: „Unser werter Drachenlord kocht vor Wut. Er hat den Überbringer der Nachricht und eine Gruppe seiner eigenen Leute, die zufällig in der Nähe standen, eigenhändig massakriert. Dann hat er allen Aufständischen blutige Rache geschworen, sämtliche Reste seiner Krieger zusammengekratzt und sich den Rebellen entgegengestellt. Der ganze Osten gleicht nun einem einzigen Schlachtfeld. Das wird noch Tage so weitergehen, aber ich bin sicher, dass die Entscheidung zu unseren Gunsten ausfallen wird.“

„Hach“, seufzte Hotaru wohlig, „die Grundsteinlegung für diesen Bürgerkrieg im Osten war mein absolutes Meisterstück. Die Endschlacht wäre bestimmt sehenswert. Schade, dass ich nicht dabei sein kann, um zuzuschauen, wie die beiden Kriegsheere sich gegenseitig aufreiben.“
 

Mit einem vergnügten Kichern wandte sich Hotaru nun wieder Akechi zu.

„Siehst du, mein Lieber, ich halte meine Versprechen. Alles, was ich anfasse, verläuft genau nach Plan. Bald wirst du der Herrscher des Westens sein und bekommst dann nach unserer Heirat den Osten als meine Brautgabe gleich mit dazu. Unser Bündnis bringt dich ans Ziel all deiner Träume. Welche Zweifel kannst du jetzt noch haben?“

Akechi musterte kritisch Hotarus schönes Gesicht.

„Trotzdem frage ich mich, ob ich dir wirklich trauen soll, Hotaru... ich werde das Gefühl nicht los, dass du noch weitere, eigene Pläne strickst. Du hast doch nicht etwa vor mich zu hintergehen, oder? Unterschätze mich nicht. Ich bin keine deiner Spielfiguren. Und du brauchst mich!“

„Ebenso wie du mich brauchst!“gab die Drachendämonin giftig zurück: „Du bist genauso abhängig von mir wie ich von dir. Hintergeht einer von uns den anderen, schaden wir uns nur selbst! Also könntest du mir und meinen Plänen ruhig vertrauen anstatt mich mit deinen Zweifeln zu nerven. Beweise lieber erst selbst deine Nützlichkeit und kümmere dich endlich um die Vermehrung deiner Fomorians. Wenn du deine neue Armee nicht rechtzeitig fertig hast, werden all meine Bemühungen, das Heer des Westens nach seinem Herrscher hierher und ins Verderben zu locken, sinnlos.“

„Ob ich dir vertrauen kann, muss sich erst noch zeigen“, meinte Akechi kühl und wandte sich zum Gehen: „Bis dahin vertraue ich niemanden!“
 

Missmutig blickte Hotaru auf den Vorhang, der sich hinter dem Fortgehenden schloss. Verwünschter, argwöhnischer Mistkerl, dachte sie.

„Verzeiht, Herrin“, sprach Binotori die Drachendämonin demütig an, „aber Ihr wollt Akechi doch nicht wirklich heiraten? Dieser Hund ist Eurer doch nicht würdig...“

„Wen ich heirate, ist meine Entscheidung“, zischte Hotaru, „und ich habe eine perfekte Wahl getroffen. Nach Bundoris Niederlage braucht der Osten einen neuen Herrscher. Und dieser neue Herrscher werde ich sein. Aber ich bin eine Frau und die alleinige Regentschaft einer Frau wird nicht anerkannt werden. Also brauche ich einen Gemahl, der formal die Herrschaft inne hat. Und wer würde sich besser dafür eignen als der Herr des Westens? Mit diesem Bund gehört mir die ganze Macht von Ost und West zusammen!“

„Ich verstehe, meine verehrte Herrin“, sagte der Drachenvogel: „Welche Befehle habt Ihr nun für mich?“

„Du schaffst mir endlich den kleinen Hundeprinzen herbei. Dein zweimaliges Versagen in dieser Angelegenheit hat mich schwer enttäuscht!“

„Ich bedaure Euch enttäuscht zu haben, Herrin. Es wird nicht wieder vorkommen, ich werde den Hundeprinzen finden.... Aber, nachdem Ihr Eure Pläne auf die neuen Situationen angepasst habt, braucht Ihr den Jungen eigentlich doch nicht mehr. Der Inu no Taishou läuft Euch nun doch auch so in die tödliche Falle. Wozu wollt Ihr also noch seinen Welpen haben?“

„Was für eine dämliche Frage!“ ärgerte Hotaru sich: „Du hast doch gehört, dass Akechi den Kleinen haben will. Und solange der Hund nützlich für mich ist, werde ich seine Wünsche erfüllen. Bisher besitzt allein Akechi die Fähigkeit die Fomorians zu beherrschen. Und ich brauche diese Chaoswesen, sie sind eine äußerst effektive Waffe, die ich...“
 

Plötzlich stockte Hotaru und starrte wie gebannt auf den großen, bronzenen Spiegel in ihrem Zimmer. Die glattpolierte Spiegelfläche hatte begonnen golden zu schimmern.

„Eine unbekannte Dämonenaura ist in die Feste eingedrungen! Das wird wohl der Inu no Taishou sein... ich wusste, dass er kommt...“

Erwartungsvoll ging Hotaru näher an den Spiegel heran und blickte tiefer hinein. Die glatte Oberfläche des Spiegels hatte sich in eine nebelhafte Schicht aus bunten Farben verwandelt. Binotori wusste, dass der Spiegel magische Fähigkeiten besaß, allerdings konnte er mit dem Farbenspiel, das der Spiegel zeigte, nichts anfangen. Hotaru dagegen schien etwas daraus deuten zu können. Ungerührt blickte sie auf die wallende, farbige Nebelfläche und murmelte leise vor sich hin:

„Nein... das ist er ja gar nicht, auch wenn diese Aura der seinen sehr ähnlich zu sein scheint... Merkwürdig, der Hundeherr müsste doch endlich hier sein. Warum ist dann nichts von ihm zu spüren? Lässt er seine Getreuen etwa doch im Stich? Was bedeutet das? ... Moment, das sind ja drei verschiedene Dämonenenergien! ... Das gibt es ja nicht, das ist ja unglaublich!“

Im nächsten Moment drehte sich Hotaru zu Binotori um.

„Geh sofort in den Nordteil der Feste, in den verlassenen Bereich!“ befahl sie ihm.

„In den verlassenen Bereich?“ fragte Binotori verdutzt: „Aber dort hausen die dämonischen Schlupfwespen. Wer dort hingeht, ist verloren... Hat der Inu no Taishou etwa diesen unsinnigen Weg in die Burg gewählt?"

„Nein“, erwiderte Hotaru ärgerlich, „ich weiß nicht, wo der Hundefürst steckt. Aber stattdessen spaziert seelenruhig sein kleiner Sohn mit zwei weiteren Hundedämonen durch den verlassenen Bereich der Feste, geradewegs auf die Heimstatt der Schlupfwespen zu. Du wirst den Kleinen da rausholen und zu mir bringen. Und zwar schnell, bevor diese Insektenbiester ihn kriegen!“

„Aber, meine Herrin, das verstehe ich nicht...“

In völliger Verwirrung blickte der Drachenvogel die Drachendämonin an:

„Wozu soll das gut sein? Wollt Ihr den Jungen weiterhin lebendig haben?“

„Du hast es erfasst! Und jetzt hör auf mir Fragen zu stellen, sondern mach, dass du wegkommst! Ich warne dich, enttäusche mich nicht noch einmal!“
 

Binotori verbiss sich weitere Fragen auf der Zunge und verließ Hotarus Zimmer.

Die Drachendämonin ließ sich zurück auf ihre Bettstatt fallen und sah gedankenvoll zur Zimmerdecke.

Das Glück ist mir hold. Es läuft sogar noch besser als geplant. Spätestens, wenn ich den Erben des Westens habe, wird der Herr der Hunde schon noch zu mir kommen. Und dann habe den Schlüssel zur Macht in der Hand...

Mit einem sanften Lächeln schmiegte Hotaru ihre Wange an die seidigen Kissen in ihrem Bett.

Die Macht gleicht einer prächtigen Pflanze, sinnierte sie. Der oberirdische, sichtbare Teil davon ist die Macht der Männer, sie beherrschen die Welt. Doch es gibt noch einen weiteren Teil der Macht, einen unterirdischen, unsichtbaren Teil: die Wurzeln. Und dies ist die Macht der Frauen, meine Macht! Die Macht, aus der alles entspringt und die selbst die prächtigste Pflanze zu Fall bringen kann...

Nicht mehr lange, und sie, Hotaru, eine Frau, würde an der Spitze stehen!
 

Noch völlig unbemerkt von Hotaru und ihren Verbündeten drang währenddessen Inutaishou mit Bedacht, aber unaufhaltsam weiter in die unfassbaren Tiefen und Weiten der unterirdischen Drachenfeste vor. Dank der Tarnung durch den Fuyoheki waren der Dämonenfürst und seine wölfischen Begleiter sogar vor Hotarus magischen Spiegel geschützt. Mittlerweile hatten sie sich dem Bereich angenähert, in dem der Thronsaal lag. Hier kamen sie nur sehr langsam voran, weil sie immer wieder Wachpatrouillen umgehen mussten und dadurch immer wieder gezwungen wurden einen neuen Weg durch die labyrinthischen Gänge zu finden.

Die Feste in der Tiefe ist tatsächlich ein nicht zu unterschätzendes Bollwerk, dachte Inutaishou in widerwilliger Anerkennung. Ohne die Hilfe der Wölfe wäre er wahrscheinlich kaum so weit gekommen. Trotzdem war er sich immer noch nicht sicher, inwieweit er den Wölfen trauen konnte. Vor allem Aoi stimmte den Hundeherrn weiterhin misstrauisch. Woher wusste sie so viel über die Feste in der Tiefe? Ihre ausweichende Antwort zu dieser Frage hatte Inutaishou keineswegs zufrieden gestellt. Zudem wunderte er sich, warum ihm die Wolfsdämonin bekannt vorkam und er in ihrer Nähe solches Unbehagen verspürte.
 

Die schöne Wolfsdämonin ahnte nichts von Inutaishous Misstrauen. Bedacht darauf, nicht noch einmal einen Fehler wie mit dem fallengelassenen Fuyoheki zu begehen, suchte sie sorgfältig nach den sichersten Wegen und erreichte schließlich ihr Ziel: eine Höhlenkreuzung mit einer steinernen Treppe.

„Folgt man dieser Treppe nach oben“, erklärte Aoi, „kommt man zum Thronsaal. Dieser liegt nun direkt über uns. Nach unten führt die Treppe zu Lagerbereichen und Schatzkammern. Auch die Kerkerräume sind vermutlich dort.“

Die Wolfsdämonin holte tief Luft und umfasste krampfhaft den Schutzstein in ihren Händen, als wolle sie sich daran festhalten. Ihre steigende Nervosität war unübersehbar.

„Ab jetzt müssen wir die Führung dem Glück überlassen, denn ab hier ist auch für mich alles Neuland. Jeden weiteren Weg von hier müssen wir uns zudem sehr genau einprägen, damit wir zu dieser Treppe zurück finden. Sie ist die einzige Verbindung zwischen den unteren Ebenen der Feste und den mir bekannten Bereichen, durch die wir hergekommen sind.“

„Wenn ich das also richtig verstehe, ist diese Treppe auch unser einziger Fluchtweg, um aus der Feste wieder herauszukommen“, bemerkte Chugo.

Seine Artgenossin nickte bestätigend.

„Nicht gerade trostreich“, fuhr Chugo fort: „Wenn wir vorzeitig entdeckt werden und unsere Feinde schlau sind, müssen sie bloß diese Treppe besetzen oder versperren und wir sind in den unteren Ebenen gefangen.“

Nach einigen Momenten bedrückenden Schweigens sah der Wolfsdämon zu Inutaishou.

„Ich nehme mal an, das wird Euch nicht abhalten weiter zu machen, oder?“

Ein goldener Blick, der die Macht des Sonnenfeuers ausstrahlte, war die einzige Antwort. Es war Antwort genug.

Unwillkürlich musste Chugo grinsen, er konnte nicht anders. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde die ganze Aktion scheitern und ihnen allen den Tod bescheren. Aber es würde ein denkwürdiges Ereignis sein, das war hundertprozentig sicher. Die Erregung bei einem solch denkwürdigen Erlebnis dabei zu sein, nahm dem Wolfsdämon alle Furcht und erfüllte ihn mit ungeahntem Tatendurst. Langsam begann er zu ahnen, warum der Hundeherr über eine große Anziehungskraft als Anführer verfügte und leicht Begeisterung erwecken konnte.
 

Die heimlich eingedrungenen Dämonen folgten der Treppe nach unten. Dort erwartete sie ein weiteres Höhlenlabyrinth, das nicht weniger verwirrend war als das bisherige. Es gab keinen Hinweis, wo die Kerkerräume sein könnten. Inutaishou, der nun die Führung übernommen hatte, betrachtete kurz die neuen Gegebenheiten und wandte sich an seine Begleiter:

„Vorschläge?“

Chugo versammelte seine drei Wölfe um sich und sprach zu ihnen mit leisen Jaul- und Knurrlauten. Es klang zwar ähnlich wie Hundegebell, war aber doch so anders, dass Inutaishou kaum etwas davon verstand. Die Tiere gaben kurze Jaullaute zurück, offenbar war es eine Bestätigung auf Chugos Anweisungen, und liefen danach los. Sie verteilten sich in verschiedenen Höhlengängen und verschwanden.

„Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich aufteilen und alles vor uns erkunden“, erklärte Chugo: „Falls sie dabei entdeckt werden, dürfte das kaum Aufmerksamkeit erregen. Hoffe ich jedenfalls. Sie sind ja bloß Tiere, keine Dämonen, deren fremde Energie ohne den Schutz des Fuyoheki auffallen würde. Sofern sie nicht ausgerechnet einem Wolfsdämon begegnen und dieser sie nicht intensiv zur Identifikation abschnüffelt, dürfte nichts passieren.“

„Eine gute Idee“, meinte Inutaishou und zog sich mit Chugo und Aoi in eine dunkle Nische zurück.
 

Während die drei Dämonen auf die Rückkehr ihrer wölfischen Kundschafter warteten, hielt Inutaishou ein wachsames Auge auf die Treppe, die sie runter gekommen waren. Wenn die Treppe das einzige Verbindungsstück zu den untersten Ebenen der Feste in der Tiefe darstellte, wurde sie sicherlich häufig genutzt. Das Auftauchen möglicher Feinde war folgerichtig am ehesten von dort zu erwarten.

Tatsächlich kam nur wenige Minuten später eine große Gruppe die Treppe hinunter. Diese Gruppe unterschied sich allerdings gravierend von allen Wesen, die Inutaishou, Chugo und Aoi bisher in der Feste gesehen hatten. Es waren menschliche Kinder. Sie waren zudem nicht freiwillig hier, denn sie wurden die Treppe von begleitenden Dämonen hinab gepeitscht und weinten erbärmlich. Der von der Gruppe ausgehende Angstgeruch raubte dem versteckten Hundedämon und seinen beiden wolfsdämonischen Begleitern fast den Atem.

Es kostete die versteckten Dämonen ein gehöriges Maß an Selbstbeherrschung, um nicht ungewollt auf sich aufmerksam zu machen, als die schreiende Kinderschar an ihnen vorbei getrieben wurde. Besonders Aoi brachte es kaum fertig sich zurückzuhalten. Gewöhnlich bedeuteten Menschen in den Augen eines Dämons nichts. Ein Dämon mit Raubtierblut wie sie hätte darin höchstens eine fressbare Beute gesehen. Aber Aoi war auch eine Mutter, und der Anblick der hilflosen, verzweifelten Kinder weckte ihren Beschützerdrang. Unkontrolliert begann sie zu zittern, ihr Atem kam stoßweise und all ihre Muskeln spannten sich an. Der Geist einer Wölfin kam über sie, einer Wölfin, die bereit ist ihre Jungen zu verteidigen.

Es hätte nicht viel gefehlt und Aoi wäre aus ihrem Versteck gestürmt. Gerade noch rechtzeitig hielten zwei starke Hände sie auf, die sich beruhigend, aber fest wie stählerne Klammern auf ihre Schultern legten.

„Tu es nicht“, vernahm Aoi Inutaishous Stimme, „so schwer es dir fällt, es wäre vergebens. Du kannst ihnen nicht helfen. Aber wenn du jetzt ruhig bleibst, wirst du weitere Untaten dieser Art vielleicht verhindern können und andere Kinder dadurch retten.“

Aoi lauschte den leise gesprochenen Worten und zu ihrem eigenen Erstaunen beruhigte sie sich. Noch erstaunter merkte sie, dass nicht allein die Worte das bewirkten, sondern vor allem das Gefühl einer Seelenverwandtschaft. Es kam ihr so vor, als hätte Inutaishou mehr zu sich selbst gesprochen. Als müsse er sich selbst gewaltsam davon abhalten die wehrlosen Menschenkinder zu schützen.
 

Nachdem die Kinder an ihnen vorbei in einen Höhlengang getrieben und verschwunden waren, holte Chugo tief Luft und trat aus dem Nischenversteck. Auch ihn hatte das Ereignis sichtlich erschüttert. Kopfschüttelnd sah er in den Gang, aus dem von fern immer noch mitleiderregendes Kindergeschrei drang.

„Bah, wie abscheulich“, brach es aus dem Wolfsdämon heraus. Angewidert spuckte er auf den Boden, bevor er weiter sprach: „Ich versteh es ja durchaus, wenn sich Dämonen über niedere Wesen hermachen, schließlich reißt jeder Wolf gerne mal ein Lamm, aber dieses Verhalten eben... mittlerweile glaube ich, dass diese unterirdische Festung einem Höllenreich angehört, wo es keinen Funken Anstand mehr gibt. Wo sonst würden verständige Wesen eine ganze Herde armseliger, mütterloser Lämmer durch die Dunkelheit peitschen? Was haben die ehrlosen Dämonen vor? Wollen sie die Kinder auf die Schlachtbank treiben und eine blutberauschte Fressorgie veranstalten?“

„Möglicherweise“, murmelte Inutaishou zerstreut, der Dämonenfürst war sehr nachdenklich geworden, „vielleicht haben sie aber auch Schlimmeres vor.“

Aoi starrte den Hundeherrn entsetzt an.

„Was denn noch Schlimmeres?“

„Ich bin mir nicht sicher, es ist nur eine Ahnung“, entgegnete der Hundeherr und blickte nun wie Chugo in den Gang, in den die Kinder getrieben worden waren: „Wir sollten ihnen folgen, um mehr zu erfahren.“

„Sollen wir nicht lieber auf meine Wölfe und das Ergebnis ihrer Erkundung warten?“ wandte Chugo ein.

„Wenn deine tierischen Freunde so fähig sind wie du behauptet hast, dürften sie keine Schwierigkeiten haben unserer Fährte zu folgen, trotz Fuyoheki. Wir könnten ihnen eine unauffällige Duftspur hinterlassen.“

„Gut, wie Ihr wünscht.“

Chugo beschloss keine weitere Diskussionen zu führen. Schließlich stufte Inutaishou das neue Vorhaben dermaßen wichtig ein, dass er dafür sogar kurzfristig sein vorrangiges Ziel, seine gefangenen Getreuen und seinen Sohn zu befreien, hinten anstellte.
 

Es war nicht schwer die Menschenkinder wiederzufinden. Ihr Weinen und ihr übermächtiger Angstgeruch zeigte den drei Dämonen problemlos den richtigen Weg. Bald darauf gesellte sich noch ein widerwärtiger Gestank nach Fäulnis und Verwesung dazu. Dieser Gestank schien die Ahnung des Hundefürsten, was auch immer das für eine Ahnung war, zu bestätigen. Denn er eilte nun immer schneller voran.

Auf diese Weise erreichten der Hundedämon und seine wölfischen Begleiter schließlich eine niedrige, aber sehr weitläufige Halle. Lautes Grölen aus den Kehlen verschiedenartiger Dämonen war zu hören. Es gesellte sich zu dem andauernden Weinen der Menscherkinder, das mittlerweile allerdings stückweise leiser wurde. Dazwischen ertönte immer wieder eine autoritäre Stimme, die Beschwörungsformeln zu zitieren schien.

Neugierig geworden drängten sich Chugo und Aoi in den Zugang neben den Herrn der Hunde und sahen eine große Horde Dämonen in der Halle stehen. Glücklicherweise war der Zugang dunkel genug, dass er ausreichend Deckung bot. Abgesehen davon achtete sowieso keiner auf den Eingang, aller Aufmerksamkeit war auf mehrere riesige Gruben gerichtet, in denen es brodelte. Sie ähnelten gewaltigen Schmelzöfen.

Aoi biss sich auf die Fingerknöchel und unterdrückte ein Schluchzen, als sie erkannte, warum das Weinen der Menschenkinder stetig abgenommen hatte. Die Dämonen warfen nämlich ein Kind nach dem anderen johlend in die brodelnden Gruben. Wie ein Huhn in den Kochtopf, dachte Chugo. Was bedeutete das? Fragend sah er zu Inutaishou. Der Dämonenfürst beobachtete das Treiben in der Halle mit grimmigen Blick und fixierte dann offensichtlich etwas. Chugo folgte dem Blick und entdeckte dadurch einen Dämon mit einem blauschwarzem Haarzopf und einer kostbaren Rüstung, der zwischen den Gruben herumstolzierte und zwischenzeitig immer wieder Beschwörungsworte aussprach. Bei genauerem Hinsehen stellte Chugo fest, dass das ein Hundedämon war. Und zwar nicht irgendein Hundedämon, sondern ein sehr hochgestellter und mächtiger, der seit wenigen Wochen ziemliche Berühmtheit erlangt hatte, weil er sich gegen den Herrscher des Westens erhoben hatte.

„Akechi!“

Inutaishou spie diesen Namen regelrecht aus, seine Stimme bestand aus reiner Verachtung. Nach einem weiteren, gründlichen Rundumblick drehte der Hundefürst der Halle den Rücken zu.

„Gehen wir zurück. Ich habe genug gesehen.“
 

„Was bedeutete das alles, was hat Akechi vor?“ wagte Chugo auf dem Rückweg zu fragen.

Inutaishou sah keinen Grund ihm die Auskunft zu verweigern. Seine Helfer sollten wissen, was sie erwartete.

„Er vermehrt seine Fomorians. Fomorians entstammen dem Chaos aus dem Anbeginn der Schöpfung. Sie kamen einst aus einem weit entfernten Land, niemand weiß genau woher. Akechis Vorväter gewährten diesen fremden Wesen eine Heimat und fütterten sie fleißig mit lebenden Seelen. Als Dank dienen sie seitdem Akechis Familie. Schon Akechis Vorväter nutzten die Fomorians gerne, um ihre Machtinteressen durchzusetzen. Zuletzt versuchte Akechi selbst sich mit diesen widerwärtigen Kreaturen gegen mich zu behaupten. Sein Aufstand vor über einer Woche misslang glücklicherweise. Leider gelang es meinen Getreuen und mir aber nicht alle Fomorians zu vernichten. Es blieben genug übrig, aus denen Akechi sich nun neue erschaffen kann. Das funktioniert so ähnlich wie die Erschaffung von Dämonenabkömmlingen in Fleischtöpfen.“

„Dafür waren also die Gruben“ flüsterte Aoi erschaudernd dazwischen.

„Ja“, bestätigte Inutaishou: „Prinzipiell braucht Akechi dafür nur ein paar Fomorians als Ausgangsmaterial und gewisse Zutaten, die man alle zu einem Brei verkocht. Eine Zutat sind beispielsweise unschuldige Seelen, vorzugsweise Menschenkinder.“

„Also bastelt sich Akechi hier nach seiner Niederlage eine neue Armee“, fuhr Chugo überlegend fort: „Wieder gegen Euch?“

„Vermutlich. Fraglich ist aber, was das bringen soll, nachdem diese Armee schon einmal gescheitert ist. Von Fomorians lässt sich nur eine begrenzte Anzahl erschaffen. Und von den sonstigen Verbündeten Akechis ist nicht mehr viel übrig. Damit kommt er nicht gegen das gesamte Heer des Westens an. Es sei denn, er hat neue Verbündete oder einen neuen Plan. Oder beides.“

„Und ich schätze mal, das hat alles etwas mit dem Überfall auf Eure Gefolgsleute zu tun“, meinte Chugo: „Deshalb wird es wohl höchste Zeit, dass wir Eure verschleppten Getreuen und Euren entführten Sohn finden.“

Dem konnte Inutaishou nur zustimmen.

Zu Chugos und Aois Erleichterung kamen ihnen in diesem Moment ihre Wölfe entgegen. Keinem der Tiere war etwas geschehen und ihre Erkundungstour war offensichtlich erfolgreich gewesen. Aufgeregt winselnd erstatteten sie Chugo Bericht, der die Tierlaute sofort übersetzte:

„Einer unserer Wolfsfreunde hat die Verliese entdeckt. Die Anzahl der dort befindlichen Wachen hält sich in Grenzen. Scheinbar rechnet noch keiner damit, dass Ihr schon hier seid. Wenn wir uns beeilen und Glück haben, sind wir samt den Gefangenen wieder draußen, bevor überhaupt jemand weiß, was passiert ist.“

„Schön.“

Lächelnd hob Inutaishou seine Unterarme und ließ die Fingergelenke seiner Klauen knacken.

„Dann werden wir im Kerker mal etwas aufräumen!“
 


 

Soweit das dreizehnte Kapitel.

Ich hoffe, man kommt einigermaßen dabei mit, wer was vorhat und wer mit wem gegen wen was plant. Ist nicht so einfach das Intrigenspiel der Bösewichter darzustellen, ohne vorzeitig zuviel zu verraten. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass jeder seine kleinen Geheimnisse hat und jeder jeden betrügt.

Im nächsten Kapitel geht’s dann hoffentlich etwas klarer und vor allem handfester zu. Die Befreiung der Gefangenen steht an...

Über Kommentare freue ich mich sehr.



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Von:  inukimi
2019-05-19T14:15:06+00:00 19.05.2019 16:15
Hey,

ja, dieses mal warst du schneller XDD
stecke gerade mitten im Umzug^^
Danke für´s Erinnern

Ich muss zugeben, die Nachricht, dass Ryo entführt wurde und Bundori glaubt, sein kleiner Bruder hätte ihn verraten, hat mich etwas überrumelt^^
Ich hatte bisher den Eindruck, sie stehen einander sehr nahe und wüssten, zu was wer fähig ist...
Oder ist das ihrerseits ein Köder für die Drachendame? :D

Ost und West in ihre Gewalt bekommen... da haben Akechi und Hotaru sich ja echt was vorgenommen.

Jetzt könnte ich mir fast denken, wie der vorgetäuschte Friedensvertrag zwischen InuTaisho und Bundori zustande kam XD
Am einfachsten wäre es natürlich, wenn sie gemeinsam gegen die "Verlobten" vorgehen^^

Bin riesig gespannt, wie es nun weiter geht und wie die Brüder und InuTaisho vorgehen werden, bzw. Sesshomaru und co. es schaffen zu entkommen. ;)

GlG

inukimi

Und unsere 3 Hunde bekommen jetzt entweder Hilfe von dem Vogel, oder sie bezwingen diese Hürde auf eigene Faust und der Vogel darf sich dann selbst mit den Insekten rumschlagen XD

Und wie darf ich mir diese Fomorians aussehensmäßig vorstellen?
Antwort von:  Lizard
19.05.2019 19:26
Danke für deinen Kommi (und endlich nutz ich mal die Antwortfunktion darauf... das habe ich bisher immer irgendwie weitgehend übersehen... ähem... sollte mich mal echt wieder ein bisschen intensiver mit all den Funktionen und Möglichkeiten auf animexx auseinandersetzten...^^°)!

Tja, was Bundori und Ryoukoussei angeht sowie deren weitere Rolle bzw. auf welche Weise die zwei in dem Ganzen mitmischen oder da mit rein gezogen wurden, dazu werde ich mal nicht viel weiter verraten. Das wird sich von selbst im Laufe der Geschichte zeigen. Und ja, es könnte sein, dass du auf der richtigen Spur bist, warum und wie es zu einem Friedenspakt zwischen dem West- und Ostherrscher kam... wie heißt es doch so schön: der Feind meines Feindes ist mein Freund... (wobei ein feindlicher Freund freilich eine gefährliche Sache ist...)

Was das Aussehen von den Fomorians betrifft, werde ich schon noch ein paar zusätzliche Beschreibungen nachliefern, sobald diese "fertig gekocht" sind und zum Einsatz kommen. Als dem Chaos entstammende Wesen sehen sie auch sehr chaotisch aus. Vielleicht stellst du dir sie am besten so ähnlich vor wie dieses Dämonenmischmasch aus dem Naraku bestand bzw. seinen Körper formte und in das er immer zerfallen ist, wenn er sich regeneriert/umgeformt hat.
Von:  inukimi
2019-02-20T10:25:14+00:00 20.02.2019 11:25
Hey, freut mich riesig, dass es wieder weitergeht :DD
Auch die Idee, die nächsten Kap. bei jedem Vollmond hoch zu laden finde ich genial^^
Aber nun zur Geschichte:

Ich finde es zwar irgendwie süß, aber auch etwas merkwürdig, dass Chugo und Aoi 3 Tiere mit in diese Höhle nehmen^^
War der Baumgeist, der ihnen diesen Fuyoheki geliehen hat vielleicht ein uns nur zu bekannter oder ein völlig anderer?
Was Aoi InuTaisho so wage erklärt hat... das ist doch die selbe Geschichte, die sie in AaF Ieyasu erzählt hat?
Dass Bundori ihren Retter getötet hatte und so? Oder reime ich mir da nur was zusammen?^^

Was das andere Trio betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob Sesshomarus idee jetzt gut war, oder nicht...
Genau dieser Duft hat die Insekten letztenendes auf sie aufmerksam gemacht, oder?
Aber der Gedanke Sesshomaru als Reittier zu nutzen...XDD Böser Seto XD
Aber wie beharrlich er jetzt an seiner Blumenzüchter-Idee festhält^^

Und wieder lässt du das Kap. in voller Spannung enden^^
Freue mich jedenfalls riesig, auf das nächste Vollmondkap. ;)

GlG

inukimi
Von:  inukimi
2019-02-06T11:08:28+00:00 06.02.2019 12:08
Endlich geht es weiter, kann meine Freude kaum in Worte fassen :D

Taki ist schon echt ein sehr spezielles Wesen, man muss ihn einfach mögen XD
Hunde mit Fischen gleich zu setzen, jap^^

Und was Kage betrifft, ich weiß, dass er diesem Donnerdämon - auch, wenn dieser von Bundori selbst gelernt hat - standhalten wird.
Wahre Treue ist nicht so einfach zu brechen.

Dieser Akechi ist auch gut. Das erinnert mich irgendwie an sie Shitoshin Brüder im 4. Film. Diese bezeichnen sich ja auch als Götter XD
Da würde mich echt mal interessieren, weshalb er sich als "Gottgleich" hinstellt^^

Hotaru hat mich auch überrascht.
Gehört sie zu den Brüdern, oder handelt sie auf eigenem Antrieb?
Die beiden müssen sich wegen dem bevorstehenen Friedensvertrag jetzt eher ruhig verhalten, aber wie wir jetzt allein schon Ryo kennen, hat er mehrere Hintergedanken und Pläne.
Zudem ist sie auch noch ein Sonnenweberdrache^^

Du hälst es wieder mal sehr spannend.
Umso mehr freue ich mich auf das nächste Kap. und wie sich unsere 3 Helden so schlagen, von InuTaisho mal ganz zu schweigen.^^

LG

inukimi
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-11T16:47:07+00:00 11.05.2010 18:47
Hallo!

Es bleibt spannend.
Und leider war es das auch seit zwei Jahren.
Bitte, bitte, bitte schreib weiter!
Am Besten an beiden Geschichten!
Ich hoffe die Musen küssen dich und die Zeit lässt es bald wieder zu, dass du uns Lesern eine Freude machst^^.

Liebe Grüße,

Minerva
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-11T13:52:27+00:00 11.05.2010 15:52
Hi!

Im vorletzten Absatz sind zwei Rechtschreibfehler.
Das Kapitel war gut.
Die Bezeichnung Angstfloh hat mir sehr gut gefallen.
Wie zum Henker spricht man Aoi aus? Au oder Ai oder wie man es liest?
Ich bange nun dem letzten Kapitel entgegen.
Du musst echt weiter schreiben!

Bye

Minerva
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-10T18:46:39+00:00 10.05.2010 20:46
Wirklich schönes Kapitel... in gewisser Weise.
Stilistisch ect. klasse wie immer.
Glücklicherweise war der Sterbende doch nicht Tamahato*puh*
Klein Sesshoumaru ist sehr mutig und loyal. Ich liebe diesen Welpen*g*
Ich hoffe Inu Taishou hat liebe Worte für seinen tapferen Sohn übrig, wenn sie sich treffen.
Was Yoshio wohl gefunden hat?
Es bleibt spannend.

Liebe Grüße,

Minerva
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-10T17:11:58+00:00 10.05.2010 19:11
Hi!

Das Kapitel kannte ich jetzt aber wirklich noch nicht:)
Die Dialoge haben mir gefallen.
Ich hoffe Tamahato und Kage ist nichts ernsthaftes passiert.
Chugo ist sehr sympathisch und soweit ich mich erinnere kommt er später doch noch mit Aoi zusammen.
Inu Taishou hat ein hervorragendes Gespür.
Bin gespannt, wer diese Gestalten sind.

Bye

Minerva
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-10T15:37:35+00:00 10.05.2010 17:37
Hi!

Ich sehe gerade, ich habe bereits ein Kommi hinterlassen..., kann mich aber nicht mehr an das Geschehen erinnern...
Wahrscheinlich habe iich bis zu den Wölfen gelesen. Kommt mir so vor.
Nyo.
Bis zum nächsten Kapitel!

Liebe Grüße,

Minerva
Von:  Minerva_Noctua
2010-05-10T14:01:04+00:00 10.05.2010 16:01
Hallo!

Nach ewig langer Zeit habe ich beschlossen diese Geschichte wieder weiter zu lesen.
Wie zuvor auch, kann ich nur sagen: Ich liebe sie!
Schade ist freilich, dass es nicht mehr weitergeht... Noch schlimmer ist das zwar bei "Anfang aller Feindschaft", doch vorerst vertröstet mich diese hier ziemlich gut. Gejammer wirst du von mir beim letzten Kapitel dieser Geschichte wohl reichlich erwarten dürfen:(
Aber nun zu diesem hier: Sesshoumarus Charakter gelingt dir gut. Toll fand ich, dass er es tatsächlich geschafft hat einen Wolf zu töten. Sogar schneller als Seto^^. Dass der Prinz abhaut ist klar gewesen.
Bin gespannt, wie sich das noch entwickelt.
Ich hoffe auf ein paar Vater und Sohn Szenen. Die Art der Beziehung der Beiden ist tragisch.
Dann bis zum nächsten Kapitel^^!

Liebe Grüße,

Minerva
Von: -Suhani-
2008-06-07T17:33:17+00:00 07.06.2008 19:33
Oh man, hab total verpennt zum letzten Kappi was zu schreiben. v.v Daa Kappi hat mir auch gefallen, genau wie dieses. ^^
Diesen Taki finde ich tierisch witzig. So schizophren angehaucht. Wäre ich an der Stelle der drei Welpen würde ich dem Vieh nicht vertrauen... und mich erst recht nicht von denen mitnehmen lassen. -.-
Was machen kleine Hunde nicht alles, um wieder zu ihrem Papa zu kommen.
Bin ja mal gespannt, was die drei so alles in der Festung erwartet. Und wie lange es dauert, bis Seto mehr als nur einen Schlag abbekommt. ^^
lg
Suhani (früher Pluschtierchen, nicht das du dich wunderst. ^^)



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