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Rise of Broken Sun

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Ichi – Akatsuki ~ Morgendämmerung

So, nachdem ich das vor Ewigkeiten geschrieben habe, lade ich es ENDLICH auch bei animexx hoch! Warum eigentlich erst jetzt? Na, wie auch immer. Das Broken Sun ist ursprünglich ein Rollenspiel - eines meiner absoluten Lieblingsrollenspiele hier bei animexx, um genau zu sein. Und weil mich die Geschichte zu begeistert, mitgerissen und teilweise wirklich tief bewegt hat (nächtliche Heulkrämpfe vor dem Laptop mit eingeschlossen ^^;;;), bin ich auf die Idee gekommen, es für meine liebe, liebe Freundin Yoko (Yoko-chan hier bei animexx) als Geschenk in eine Geschichte umzuschreiben. Schon, wie das Rollenspiel entstanden ist, war einfach einmalig: Erst wollten wir unbedingt ein Samurai-Rollenspiel haben, weil wir so PEACE MAKER Kurogane-süchtig waren (und sind!). Wer's nicht selber merkt: Yokos Charakter (Yukita) ist *sehr* von Okita Souji, und mein Charakter (Ashitaka) ist sehr von Hijikata Toshizou beeinflusst. *räusper* Sie... sehen auch genau so aus... ^^;;; (bis auf die Tatsache, dass Taka graue Augen hat)

Aber dann entstand da eine Wahnsinns-Story, und die Charaktere haben sich so verselbstständigt. Taka ist heute, mit Caine, mein Lieblingschara. ^.^ Ja, und das Endergebnis kann man also hier lesen. Es macht viel Spaß, die Geschichte zu schreiben, es ist sogar richtig entspannend. Man merkt an den vielen Dialogen, dass es mal ein RPG war, und wie genau ich das mit den RPG-Dialogen am besten umsetze, hab ich auch noch nicht raus. ^^;;; Aber ich hab mein Bestes gegeben, und ich verspreche, es wird noch besser werden! Wer also Lust auf ein Samurai-Psycho-Drama hat (das folgen noch Szenen, das kann man sich gar nicht vorstellen!), statt einem Gut-Böse-Schema lieber mehrere Seiten mit unterschiedlichen Zielen haben möchte und nebenbei noch ein bisschen über die Geschichte meiner Welt (Youma) lernen will... bitte, hier ist die Geschichte, auf die ihr immer gewartet habt! Ich hoffe, ich habe alle Charaktere gut umgesetzt, und jetzt Schluss mit meinem wohl längsten Vorwort EVER und... viel Spaß mit Rise of Broken Sun!!!
 

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Sakurahashi no Kazahaya Yukita ~ Yoko-chan

Yukigawa no Tsukimori Ashitaka ~ YueKatou (--> Ich ^^)

Kagezaki Shôtoku ~ TiaChan

Jin-Roh Ishii ~ SonGokuDaimao
 

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„Du kannst einem Menschen alles nehmen – seinen Besitz, seinen Glauben, seine Freiheit; aber nicht die Freiheit, für seine Ziele und Träume alles zu geben“
 

Kane Tiphreth (Midgardischer General und Revolutionär)
 

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Verhaltenskodex der Hikari no Jotei
 

Erstens: Es ist nicht gestattet, die Hikari no Jotei zu verlassen bzw. auszutreten.
 

Zweitens: Es ist verboten, sich privat Geld zu beschaffen oder zu verdienen.
 

Drittens: Es ist verboten, an Rechtsstreitigkeiten und Prozessen teilzunehmen, außer es betrifft die Hikari no Jotei.
 

Viertens: Es ist verboten, sich in private Angelegenheiten einzumischen oder Streitigkeiten innerhalb der Hikari no Jotei zu beginnen.
 

Fünftens: Vorgesetzten ist mit höchstem Respekt zu begegnen. Ihren Anweisungen ist Folge zu leisten.
 

Sechstens: Die Ausrüstung, insbesondere das Schwert, ist mit Achtung und Ehrerbietung zu behandeln.
 

Siebtens: Informationen gleich welcher Art sind unter keinen Umständen an Außenstehende weiterzugeben.
 

Sollte einem dieser Artikel zuwidergehandelt werden, hat die betreffende Person Seppuku zu begehen.
 

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Ichi – Akatsuki ~ Morgendämmerung
 

Shukumei rannte.

Sie rannte um ihr Leben, doch ihr Verfolger blieb ihr dicht auf den Fersen, mit blitzenden Krallen und langen, spitzen Zähnen, die ein scharrendes Geräusch auf dem trockenen Boden verursachten. Der Tag war noch jung und der Hof des Schlosses von Gharith beinahe menschenleer, sodass niemand von ihrer verzweifelten Flucht Notiz nahm. Niemand? Nun – das entsprach doch nicht ganz der Wahrheit, denn das gharithische Schloss war nicht umsonst auch das Hauptquartier der Hikari no Jotei, der königlichen Samuraiarmee, und einer dieser tapferen Samurai hatte seinerseits die Verfolgung der blutrünstigen Bestie aufgenommen, die Shukumei nach dem Leben trachtete.

Sein langes, schwarzblaues Haar wehte in dem Wind, den er allein durch seine Bewegung schuf, sein Körper war gespannt und seine violetten Augen fixierten starr den Feind, den es einzuholen galt und der sich doch mit einer unverschämten Eleganz und Schnelligkeit immer weiter von ihm zu entfernen schien. Womit er sich leider auch unaufhaltsam seinem Opfer näherte, dessen Kräfte langsam aber sicher schwanden. Der Samurai beschleunigte seine Schritte noch einmal, dann sogar noch ein kleines bisschen mehr und wenige Sekunden später ein letztes Mal, bis der Boden mehr unter seinen Füßen hinwegraste, als dass er sich noch von ihm abstieß. Sein Blick durchbohrte den haarigen Rücken des Ungetüms, fast so tödlich wie die Klinge eines Schwertes, ließ ihn keine Sekunde mehr aus den Augen. Es gab nur noch ihn, die Bewegung und das Monster.

Und dann war da im nächsten Moment noch eine Mauer, eine große, schwarze Mauer, die vollkommen unvermittelt vor ihm aus dem Boden ragte.

Der Samurai hatte nicht einmal mehr genügend Zeit, um darüber nachzudenken, dass dies eigentlich ganz und gar unmöglich war, dass es hier mitten auf dem Hof einfach keine Mauer geben durfte, schon gar keine große und schwarze. Aber was hätte das auch noch für einen Unterschied gemacht? Der Zusammenprall trieb ohnehin jeden Gedanken aus seinem Kopf und die Luft aus seinen Lungen, und im nächsten Augenblick stürzte er auch schon. Er fiel vornüber, ehe er so überhaupt so richtig wusste, wie ihm geschah, und dann landete er auch schon auf der vermeintlichen Mauer, die ihm da so plötzlich den Weg versperrt hatte.

Diese zweite Landung war deutlich weicher als der erste Zusammenstoß, einzig seine Stirn machte eine eher unangenehme Bekanntschaft mit dem trockenen Boden des Schlosshofes. Ein dumpfes Pochen breitete sich in seinem Kopf aus – nicht unbedingt das, was er unter Schmerz verstand, aber etwas ähnlich Unschönes, und zudem war sein Blick seltsam getrübt. Der Samurai stöhnte leise und rieb sich die Stirn. Er wusste, dass er wieder aufstehen, dass er weiterlaufen und Shukumei zu Hilfe eilen musste – wenn es dazu nicht schon zu spät war. Allerdings war da immer noch dieses latente Gefühl von Schwindel in seinem Kopf, und so kämpfte er sich eher langsam und vorsichtig wieder auf Hände und Knie.

Der Boden unter ihm bewegte sich.

Mit einem leisen, erschrockenen Keuchen öffnete der Samurai die Augen, und da fiel ihm auch wieder die vielleicht doch nicht ganz so unbedeutende Nebensache ein, dass er ja gar nicht auf dem Boden lag, sondern auf… dem irgendetwas, das ihn kurz zuvor zu Fall gebracht hatte. Das übrigens auch zwei graue Augen besaß, deren Blick ihn auf eine unsagbar vernichtende Weise durchbohrte. Und das an sich nicht unbedingt eine Erscheinung war, die man ohne weiteres übersehen konnte.

Die kalten grauen Augen lagen in einem unwahrscheinlich finsteren Gesicht, dessen Züge auf eine markante Weise schön und ganz eindeutig silvanisch waren. Wie die Augen des Mannes waren aber auch seine sehr langen Haare für einen Silvanier ungewöhnlich hell, jedenfalls nicht schwarz, sondern von einem dunklen Braun. Er hatte sie hoch am Hinterkopf zusammengebunden, allerdings nicht besonders ordentlich, sodass ihm noch einige Strähnen vor das Gesicht fielen. Und dann fügte er seinem vernichtenden Blick ebenso vernichtende Worte hinzu, nämlich:

„Wer auch immer Ihr sein mögt – sagt, hättet Ihr vielleicht die Güte von mir herunterzugehen?!“

Es gab Momente, in denen die Erkenntnis einen Menschen wie ein Blitz traf, so deutlich, hell und plötzlich. Manche dieser Momente mochten erleichternd oder gar erleuchtend sein. Andere vielleicht ein wenig erschreckend. Und wieder andere… ja, wieder andere waren Momente wie dieser, in denen man wie unser Samurai begriff, dass man vor wenigen Sekunden keinen Geringeren als Yukigawa no Tsukimori Ashitaka, den Vizekommandanten des Dritten Korps, der auch über die Reihen der Hikari no Jotei hinaus für seine Unerbittlichkeit und Grausamkeit bekannt war, buchstäblich über den Haufen gerannt hatte.

Es verstrichen wiederum mehrere Sekunden, in denen der Schwarzhaarige nichts Anderes tun konnte, als den Blick der grauen Augen geschockt und perplex zu erwidern. Dann kletterte er von Ashitaka herunter, so schnell er eben konnte, ohne gleich wieder hinzufallen, erhob sich und trat einen Schritt zurück.

„Es tut mir furchtbar leid!“, stieß er hastig hervor, während er sich wie mechanisch zu verneigen begann. „Ihr… Ihr seid Tsukimori-san, nicht wahr? Bitte, verzeiht mir, das wollte ich wirklich nicht!“

Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich der Vizekommandant ebenfalls erhob, und dann spürte er auch schon wieder dessen eiskalten Blick auf sich, der ihn von oben bis unten geringschätzig musterte.

„Spart Euch weitere Entschuldigungen“, entgegnete Ashitaka, während er seine Augen nun über die eigenen Kleider und sein langes Haar streifen ließ – ganz besonders über die dünne Schicht von Staub, die an beidem haftete –, wobei sein Gesichtsausdruck leider nicht freundlicher wurde, „und öffnet das nächste Mal lieber die Augen, bevor Ihr Euch in Bewegung setzt.“ Er öffnete den Mund, wie um noch etwas hinzuzufügen, hielt dann aber inne und betrachtete sein Gegenüber sogar noch ein wenig finsterer. „Wer seid Ihr überhaupt?“

Der junge Samurai unterbrach sich in seinem entschuldigenden Verneigen. Sah Ashitaka stattdessen noch einen Moment lang überrascht an. Und dann plötzlich lächelte er.

„Mein Name ist Sakurahashi no Kazahaya Yukita und ich bin der Anführer der ersten Einheit des ersten Korps.“ Er verneigte sich erneut, aber diesmal nach wie vor mit einem Lächeln auf den Lippen. „Sehr erfreut.“

„Ihr?“ Die Stimme des Braunhaarigen klang zweifelnd, und das ganz bestimmt nicht ungewollt. Dann steckte er sich zunächst einmal die Pfeife wieder an, die er offenbar die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten hatte – eine lange, schlanke Kiseru aus dunklem Holz –, bevor er mit unverändert düsterer Stimme fortfuhr: „Ja. Die Freude ist ganz meinerseits. Ich…“

Wiederum hielt er inne, aber jetzt bemerkte Yukita, dass seine Augen irgendetwas Anderes fixierten – etwas, das sich hinter ihm befand. Und dass in das kalte Grau für den Bruchteil einer Sekunde eine ganz leise Spur des Entsetzens trat. Als er seinen Blick wandte, um dem des Vizekommandanten zu folgen, sah er allerdings nur einen wenig entsetzlich aussenden Menschen, den selbst er noch um gut einen halben Kopf überragte. Er hatte etwas weniger als schulterlanges schwarzes Haar, das er im Nacken zusammengebunden trug, und violette Augen.

„Konnichi wa, Tsukimori-fukuchô! Konnichi wa, Kazahaya-san!”, begrüßte er sie sehr höflich und mit einer tiefen Verbeugung. Dann ging er auch schon weiter. Yukita sah, dass er ein Buch unter seinen Arm geklemmt hatte.

„Konnichi wa!“, grüßte er dem Fremden hinterher und verneigte sich ebenfalls in dessen Richtung. Dann wandte er sich wieder Ashitaka zu. „Ja, ich“, bestätigte er dann, wobei er den zweifelnden Tonfall in den Worten des deutlich größeren Mannes gekonnt überhörte. „Und ich wollte das wirklich nicht, ich war nur auf der Jagd nach…“ Jetzt war er derjenige, stockte und innehielt. Dann riss er seine violetten Augen weit auf. „Oh bei den Göttern, Shukumei! Wenn dieses Monster ihr etwas getan hat, dann…“

Und mit diesen Worten rannte er an Ashitaka vorbei, ohne diesem noch einen einzigen weiteren Blick zu schenken. Er stürzte in die Richtung, in die Shukumei und das Ungetüm verschwunden waren. Nach ein paar Augenblicken war ihm, als ob ihm irgendjemand – vermutlich Ashitaka – etwas hinterherrufen würde, das in etwa nach Halt! oder Bleib stehen! klang, aber da war er sich nicht ganz sicher. Er meinte auch, plötzlich schwere Schritte hinter sich zu hören, und obendrein fühlte er sich beobachtet. Aber all das nahm er nur am Rande wahr. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf Shukumei, auf die arme, kleine Shukumei. Und er erkannte sofort den Ernst der Lage, in die sie geraten war.

Natürlich war Yukita schon erleichtert zu sehen, dass Shukumei überhaupt noch am Leben war. Allerdings saß sie in der Falle. Sie hatte sich todesmutig auf einen sehr hohen Fenstersims gerettet, aber das Ungetüm sprang fauchend und mit gebleckten Zähnen immer höher und höher, während es mit seinen langen Krallen nach ihrem Körper schlug. Sein Schwanz peitschte nervös hin und her. Yukita ließ sich von all dem wenig beeindrucken. Er legte eine Hand an den Griff seiner Waffe, während er direkt auf das Monster zuhielt, das Shukumei so grausam in die Enge gedrängt hatte.

Dass noch einmal jemand nach ihm rief, hörte er überhaupt nicht mehr. Sein Körper war gespannt, mit jeder einzelnen Faser zum Angriff bereit. Er würde die Bestie erlegen. Andere Gedanken, andere Sinneseindrücke, andere Geschehnisse um ihn herum fanden in seinem Kopf keinen Platz mehr. Vielleicht bemerkte er die Finger an seinem Kimono auch deshalb erst in dem Moment, als sie sich schon um dessen weißen Stoff geschlossen hatten und ihn zurückzerrten. Jemand wollte ihn herumreißen. Yukita kämpfte tapfer um seine Freiheit, dann im nächsten Moment um sein Gleichgewicht, aber letzten Endes siegte doch sein allzu großer Schwung. Er kam auf dem staubigen Boden ins Schlittern, und dann plötzlich prallte von hinten etwas gegen ihn, riss ihn mit sich nach vorne und geradewegs gegen die zum Fenstersims gehörige Wand.

Danach wurde ihm erst einmal schwarz vor Augen.

Yukita rang nach Atem, blinzelte und schüttelte den Kopf, um wenigstens wieder einigermaßen klar zu sehen. Dies nutzte er dann, um sich mit einem kurzen Blick davon zu überzeugen, dass sein Körper noch vollständig intakt war. Er fühlte sich nämlich wie zerquetscht, und das war auch wirklich kein Wunder. Immer noch etwas benommen musterte er Ashitakas knapp zwei Meter große, muskulöse Gestalt, die ihn da eben zwischen sich und der Wand eingeklemmt hatte. Wenn er es genau bedachte, war es eigentlich ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.

Darum kümmerte der Vizekommandant sich herzlich wenig. Er blinzelte ebenfalls noch einige Male, klopfte sich endlich doch noch den Staub von seinem schwarzem Kimono, dem schwarzen Hakama und den… nicht schwarzen, sondern braunen Haaren. Und ging dann seinerseits auf das blutrünstige Monster zu, das immer noch fauchend vor dem Fenster auf- und abschlich. Packte es mit beiden Händen. Hob es hoch. Und setzte es dann auf seine Schulter, bevor er sich die Hände in die Seiten stemmte und mit finsterer Miene auf Yukita zustapfte. Der eilte erst einmal an Ashitaka vorbei zu Shukumei, streckte die Arme aus, um gerade bis zu ihr hinaufzureichen, und ließ sie dann über seine Arme in seinen Nacken klettern. Beruhigend streichelte er der Ratte über ihren kleinen Kopf.

„Arme Shu-chan“, sagte er ganz leise, „hat dieses böse Vieh dir Angst gemacht?“

„Rührt dieses Vieh noch einmal an“, sagte eine Stimme hinter ihm, „und Ihr seid die längste Zeit hier am Hof gewesen.“

Der Tonfall des Vizekommandanten ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm damit vollkommen ernst war. Yukita zuckte zusammen, drehte sich dann aber ganz ruhig um – und sah im ersten Moment nicht mehr als einen Hals. Er legte den Kopf in den Nacken und starrte Ashitaka an. Machte für einen ganz kurzen Moment eine seltsame Handbewegung, als wolle er ins Innere seines Yukata greifen. Hielt dann aber inne und antworte ganz plötzlich und sogar überraschend laut:

„Dieses Vieh hat meine arme Shukumei ohne ersichtlichen Grund gejagt und hätte sie gefressen, wenn ich es zugelassen hätte! Passt gefälligst auf Eure Haus… tiere auf!“

Er stemmte sich die Arme in die Hüften und funkelte Ashitaka an.

„Katzen fressen Ratten“, antwortete der, während er ein ganz unglaublich böses Lächeln auf seine Lippen legte. „Und das in jeder Beziehung, was Ihr Euch übrigens merken solltet. Darüber hinaus ist Kokyô auch kein Vieh, sondern eine Katze. Falls Euch das nicht bekannt war.“ Ashitaka richtete sich noch ein bisschen mehr auf und wirkte spontan sogar noch um einige Zentimeter größer. „Übrigens solltet Ihr Euch, bevor Ihr fortfahrt, noch einmal gut überlegen, ob Ihr auch tatsächlich den richtigen Tonfall gewählt habt, um mit mir zu sprechen.“

Yukita presste seine Lippen fest aufeinander. Jetzt hatte er die Hand wirklich auf Brusthöhe im Inneren seines Yukata und umfasste dort etwas. Dann holte er tief Luft und schloss einen Moment die Augen.

„Ver…zeiht mir meine… Unbeherrschtheit“, sagte er und verneigte sich. Hielt einen Moment lang inne. Und fügte dann ganz, ganz leise hinzu, so dass es, wenn überhaupt, höchstens Ashitaka hören konnte: „Manchmal… trickst die Maus… oder in diesem Fall die Ratte, die Katze aus… und frisst sie ihrerseits.“ Dann zog er seine Hand wieder aus dem Kimono hervor und verneigte sich erneut. „Ich werde mich in Zukunft beherrschen“, fuhr er dann ganz normal und wie immer fort.

„Manchmal wird die Ratte auch von herabfallenden Hagelkörnern erschlagen“, grummelte Ashitaka und verdrehte die Augen. „Ausnahmen bestätigen die Regel. Darüber hinaus ist diese Diskussion müßig und wir werden beobachtet.“ Diesen letzten Satz sagte er übrigens betont laut.

„Nein“, widersprach Yukita, „dazu sind Ratten viel zu schlau.“ Er grinste. „Ist es Euch peinlich, dass dieser Kleine uns gesehen hat? Euer Shinobi, nehme ich an.“

Ashitaka sah aus, als ob er ihm am liebsten den Hals umdrehen würde.

„Er“, verbesserte er dann, wobei er demonstrativ Yukita musterte, „ist eigentlich gar nicht so klein, wie man zunächst einmal denken könnte. Und vor allem ist es seine Aufgabe, feindlichen Mächten nachzuspionieren, nicht seinen Vorgesetzten.“

Der Vizekommandant sprach mit jedem Wort noch ein wenig lauter und deutlicher. Als er fertig war, raschelte es tatsächlich in den Bäumen zu ihrer Linken. Dann war es wieder einige Augenblicke lang still. Und letztlich trat der Schwarzhaarige wieder auf den Platz hinaus und kam eilig auf sie zu.

„Es tut mir leid!“, entschuldigte er sich mit einer neuerlichen tiefen Verbeugung. „Ich hatte nicht im Sinn, Euch nachzuspionieren.“

Yukita lächelte amüsiert.

„Hm, vielleicht fühlt er sich gerade unterfordert? Diese Shinobi sind seltsam. Ich glaube, von diesem Beruf wird man ein bisschen… verrückt.“

Das sagst ausgerechnet du, sagte Ashitakas Blick, während er selbst auf diese Bemerkung hin schlicht und ergreifend schwieg. Er wandte sich dem Shinobi zu, ohne Yukita weitere Beachtung zu schenken. Dieser konnte bei der Gelegenheit aber immerhin feststellen, dass der Vizekommandant sogar noch ein wenig böser dreinblicken konnte, was zweifellos eine Leistung war.

„Aber gewiss nicht“, meinte er dann ganz unwahrscheinlich kalt, „du bist natürlich rein zufällig hier vorbeigekommen. Und hast dich dann rein zufällig dort versteckt und uns schweigend… angestarrt.“ Er stieß einen grummligen Seufzer aus. „Unglaublich, was für Zufälle es gibt. Allerdings… kommt mir dieser Zufall nicht ganz ungelegen. Es gibt noch Dinge, die ich mit dir besprechen muss. Wohlgemerkt nur mit dir.“

Shôtoku nickte, wohingegen Yukita beschloss, dass er sich den Ausdruck in Ashitakas grauen Augen, der ihm förmlich entgegenschrie, wie sehr er doch gerade störte, nicht länger gefallen lassen musste. Er verzog kurz und unwillig das Gesicht, hob dann seine Schultern und drehte sich um.

„Ich gehe schon“, sagte er, und schlenderte tatsächlich langsam davon. „Ich habe sowieso frei, also warum verschwende ich meine Zeit hier“, murmelte er weiter vor sich hin. „Es stimmt, was sie sagen, er ist wirklich so ganz anders als sein Vater… aber was erwarte ich… der Liebling des Kommandanten.“

Yukita blickte nur kurz über die Schulter zurück, aber es entging ihm nicht, dass Ashitaka merklich zusammenzuckte. Auf seinem Gesicht war deutlich zu lesen, dass er hin- und hergerissen war, ob er Yukita nun ignorieren oder ermorden sollte. Dann schien er sich für eine Art Kompromiss zu entscheiden, indem er ihm in wahrlich tiefgefrorenem und reichlich bedrohlichem Tonfall hinterherrief:

„Was habt Ihr da eben gesagt?!“

„Hm?“ Yukita blieb stehen – in bereits zwei, drei Metern Entfernung – und wandte sich wieder um. Ein breites, gut gelauntes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Ich sagte, dass ich sowieso frei habe und hier nur meine Zeit verschwende.“

Ganz kurz streifte sein Blick dabei Shôtokus Gesicht, und obwohl dieser nach wie vor beherrscht war, in einer unnachahmlichen Weise, wie überhaupt nur Shinobi beherrscht sein konnten, meinte er doch in dessen dunklen Augen zu lesen, dass er damit gerade ihrer beider Todesurteile unterzeichnet hatte. Ashitaka trat auch augenblicklich wieder auf Yukita zu – er trat sogar mit sehr, sehr, sehr finsterer Miene auf ihn zu und sagte:

„Sieh an, sieh an… die Ratte bleckt ihre Zähne und möchte alle Welt an ihrer Intelligenz teilhaben lassen. Zu gütig.“ Sein Gesichtsausdruck wandelte sich betont langsam und fließend von angedeutet wütend in herablassend und ein bisschen gehässig. „Möchte da jemand witzig sein? Oder einfach nur ein wenig provozieren? Jedenfalls scheint sich dieser Jemand seiner Lage nicht ganz bewusst zu sein.“

Yukita sah ihn einen Moment lang recht verduzt an. Blinzelte. Und setzte dann wieder ein Lächeln auf.

„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Ihr da eigentlich redet, Tsukimori-san.“ Er neigte seinen Kopf zur Seite und lächelte unbeirrt weiter. „Vielleicht würde Euch etwas Freizeit auch nicht schaden.“

„Ihr scheint auch nicht so recht zu wissen, wovon Ihr ab und an sprecht, aber aus irgendeinem Grund wundert mich das nicht.“ Er steckte sich wieder – schon wieder! – seine Pfeife an und wandte sich dann zum Gehen. „Allerdings habt Ihr insofern Recht – meine freie Zeit ist kostbar, und ich kann sie gewiss auf sinnvollere Weise nutzen als hier.“

„Da habt Ihr sicher vollkommen Recht, Vizekommandant!“ Yukita lächelte immer noch, als er sich ebenfalls zum Gehen wandte. Dann plötzlich stockte er, als ob ihm gerade noch eingefallen wäre, das er beinahe etwas vergessen hätte, und wandte sich noch einmal halb um. „Und… Ihr wollt sicher keinen Rat von mir, aber ich sage ihn Euch trotzdem. Passt besser auf die Leichen auf, die in Eurem Keller liegen… sonst finden sie vielleicht noch mehr Menschen.“

Nur für den Bruchteil einer Sekunde verlor Ashitaka tatsächlich die Fassung und starrte Yukita mit deutlich geweiteten Augen hinterher. Schon im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen., doch Yukita hatte sich bereits abgewandt und ging langsam in Richtung der Übungsplätze davon. Obwohl es immer noch recht früh am Morgen war, wurde dort bereits gekämpft. Yukita sah sich nach einem bekannten Gesicht um, bis sein Blick auf einem jungen Mann mit einem schwarzen Pferdeschwanz hängen blieb, der schon deshalb schwer zu übersehen war, weil seine Augen unterschiedliche Farben trugen. Dass eines von ihnen dunkelrot, das andere dunkelblau war, machte das Ganze für einen Silvanier sogar noch ein bisschen auffälliger.

Ishii Jin-Roh, der Anführer der ersten Einheit des zweiten Korps, war gerade damit beschäftigt, einen jüngeren Samurai in Grund und Boden zu kämpfen. Während sein Gegner bereits keuchte und schwitzte, mit rot angelaufenem Gesicht und starren Augen, wirkte Jin-Roh eher ein bisschen gelangweilt. Es vergingen noch einige Momente des ungleichen Kampfes, dann zerschnitt er dem Jüngeren mit einigen spielerischen Handbewegungen das Gewand, was auf den ersten Blick recht seltsam und überflüssig anmutete – auf den zweiten Blick aber die schneeweiße Unterwäsche des Samurai enthüllte. Im Kontrast dazu färbte sich sein Gesicht beinahe augenblicklich in ein tiefes Rot.

„Da hast du es“, sagte Jin-Roh ganz ruhig, während er ihn wenig interessierte betrachtete. „Wenn du nicht lernst, konzentriert zu kämpfen, wird dir das immer wieder passieren. Und das nächste Mal wird sich nicht dein Gewand von dir abschälen, sondern deine Haut, also pass besser auf!“

Der jüngere Samurai verbeugte sich, sammelte hastig und ein bisschen unbeholfen seine Sachen zusammen und verschwand eilig vom Übungsplatz. Jin-Roh steckte sein Schwert wieder in die Scheide und ging dann mit der ihm eigenen Unnahbarkeit und Erhabenheit auf Yukita zu. Er begrüßte ihn mit einem Nicken.

„Guten Tag, Kazahaya-san!“

„Ishii-san, guten Tag“, entgegnete Yukita und verneigte sich, während er – wie immer – lächelte. „Habt Ihr dem armen Kleinen da eine Lektion erteilt?“

Jin-Roh erwiderte die Verneigung und folgte mit seinem Blick der Kopfbewegung, die Yukita in die Richtung vollführte, in die der Junge verschwunden war.

„Meiner Meinung nach könnten all diese Heißsporne ein ganzes Dutzend solcher Lektionen vertragen, sie nehmen ihre Berufung nicht ernst genug, sind nicht mit dem ganzen Herzen und dem ganzen Verstand dabei.“ Er seufzte. „Im Grunde kann mir der Junge dankbar sein, wenn ich meinem Meister in seinem Alter mit der gleichen erbärmlichen Leistung unter die Augen getreten wäre, die er mir heute gezeigt hat, dann hätte ich dreihundertmal die Treppen zum Ishimo-Tempel und wieder zurück rennen können, alle dreitausend, mit zwei vollen Wassereimern oben auf den Schultern!“ Er wandte seinen Blick wieder Yukita zu. „Aber wem sag ich das“, fügte er mit einem angedeuteten Lächeln hinzu.

„Ja, ich verstehe vollkommen, wovon Ihr redet“, nickte der und lächelte zurück. „Leider sind die meisten meiner Männer nicht so jung, wie es der Kleine da war. Ich habe noch keinen von ihnen erlebt, dem ich nicht hätte zeigen müssen, dass sie mich durchaus ernst nehmen sollten, selbst wenn ich jünger bin als sie.“ Wie zufällig legte er seine Hand an die Stelle, an der er sein Tachi tragen würde, wenn er es denn gerade bei sich gehabt hätte. „Und scheinbar“, fuhr er dann fort, wobei er ebenfalls wie zufällig und für einen Sekundenbruchteil nicht mehr lächelnd in Richtung Ashitaka zurückblickte, „gibt es noch ein paar Menschen hier, die den gleichen Fehler begehen.“

Dann lächelte er wieder.

„Es ist eine der Grundregeln eines jeden Kämpfers, den Gegner niemals nach seinem Erscheinen zu beurteilen, und trotzdem begehen so viele diesen Fehler.“ Bei diesen Worten strich Jin-Roh über sein Schwert. Seine zweifarbigen Augen fixierten irgendeinen Punkt im Nichts. „Und an eine andere Regel muss ich sie auch immer erinnern, die wilden Jungen. Daran, innerhalb der Hikari no Jotei keine Streitigkeiten mit anderen anzuzetteln. Die Jungen balgen sich oft und provozieren sich gegenseitig, und hin und wieder merke ich auch, dass selbst die Älteren sich manchmal dazu hinreißen lassen, ein Gefecht auszutragen.“ Ganz kurz sah er Yukita direkt an, bevor er seinen Blick wieder von ihm abwandte. „Dabei wissen sie doch alle, welche Strafe darauf steht, diese Regel zu brechen.“

„Findet Ihr?“ Yukita lächelte weiterhin gut gelaunt. „Ich würde manche Streiterei eher als… Diskussion bezeichnen. Gut, wenn sich diese halben Kinder gegenseitig an die Kehle gehen, ist das natürlich etwas Anderes, aber…“ Eben in diesem Moment sah er Ashitaka über den Hof gehen. Er sprach weiter, verfolgte den in Schwarz gekleideten Mann aber mit seinen Blicken. „Aber manchmal wird in eine einfache, vielleicht etwas hitzige Unterhaltung auch zuviel hineininterpretiert.“

„Dennoch…“ Jin-Roh öffnete sich mit raschen, geübten Bewegungen sein doch etwas unordentlich gewordenes Haar, strich sich einmal mit den Fingern hindurch und band es sich dann wieder hoch. „Wer schon nicht im Wort an sich halten kann, der wird im Gefecht nur umso schneller eidbrüchig. Aber lasst uns das Thema wechseln, ich hatte heute genug Reibereien. Wie sehen Eure Pläne für die kommende Woche aus?“

„Die kommende Woche?“ Yukita dachte einen Moment lang nach. „Nun, zuerst einmal habe ich frei… zumindest auf dem Papier. Danach kommt dann wieder Training, Training und nochmals Training, durchzogen von Patrouillen und diesen schrecklich langweiligen Besprechungen mit dem Vize.“ Er gähnte.

Jin-Roh zog seine Augenbrauen etwas zusammen.

„Ihr solltet nicht so abfällig über Euren Vizekommandanten reden, Ihr wisst doch, dass das Prinzip unserer Gemeinschaft auf Respekt beruht, und der bezieht sich nicht nur auf die einem niedrigen Amt Innewohnenden.“ Er wandte sich wieder ab. „Nun, ich möchte Euch nicht weiter bei Eurem Training stören und muss selbst auch noch einige Kleinigkeiten erledigen. Ich wünsche noch einen schönen Tag!“

Er verneigte sich, dann ging er in Richtung Ashitaka davon. Yukita sah ihm blinzelnd hinterher.

„Dem täte ein wenig freie Zeit auch mal ganz gut“, murmelte er kopfschüttelnd. „Die sind alle so… verbissen.“

Er hob seine Schultern, und im selben Moment stellte er fest, dass er sich schon wieder beobachtet fühlte. Einen Moment lang überlegte er, hinunter in die Stadt, nach Gharith zu gehen. Dann entschied er sich jedoch, zu seinem Zimmer zurückzukehren, das an den Platz angrenzte. Es war ein aufregender Morgen, und jetzt konnte er ein wenig Ruhe gut gebrauchen. Genau der richtige Moment also, um sich auf der überdachten hölzernen Veranda vor den Zimmern niederzulassen und den anbrechenden Tag mit den Klängen seines Shamisen zu begrüßen.
 

Es war der schlimmste Morgen seit mindestens einer Woche.

Und das wollte schon etwas heißen. Vor zwei Tagen hatte es bereits mit den ersten bleichen Sonnenstrahlen einen kurzen, aber heftigen Angriff einiger Ronin aus dem Norden gegeben. Und wieder zwei Tage davor war er nach einer langen, einer sehr langen Nacht im Hyakugetsu, dem Vergnügungsviertel Ghariths, mit mindestens fünfhundert kämpfenden Samurai hinter der Stirn erwacht. Aber dies hier, dieser Morgen, übertraf alles.

Ashitakas grauen Augen fixierten noch einige Sekunden lang Yukitas Rücken, während dieser langsam über den Platz von dannen schlenderte. Dann wandte er sich wieder seinem Shinobi Shôtoku zu – oder besser gesagt, dem Flecken Erde, an dem sich Shôtoku eben noch befunden hatte. Zunächst einmal sah er überhaupt nichts, und er fragte sich in Gedanken schon, ob der Shinobi nicht vielleicht doch eine gewisse Lebensmüdigkeit besaß, von der er bislang noch gar nichts geahnt hatte. Dann aber konnte er die halbtransparenten Konturen von Shôtokus Körper exakt vor dem Trainingsplatz ausmachen, auf dem gerade ein Nachwuchssamurai von einem der Truppenführer gequält wurde. Ashitaka zog unwillig seine Augenbrauen zusammen.

„Nicht schon wieder…“

Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als Shôtoku endgültig unsichtbar wurde. In Gedanken frage sich der Vizekommandant, wie es eigentlich kam, dass sich heute wirklich alles und jeder über ihn lustig zu machen schien.

„Shôtoku!“, rief er in einem Tonfall, der alles, nur nichts Gutes verhieß, und pustete ein wenig Rauch in Richtung seines Shinobi. „Lass diese Spielchen, wenn ich mit dir rede.“

Darauf folgte einen Moment lang Stille. Dann etwas, das wie ein scharfes Einziehen von Luft klang. Und dann konnte er Shôtoku zwar nicht wieder sehen, aber wenigstens wieder hören.

„Es tut mir leid! Das war keine Absicht!“

An der Stimme des Shinobi konnte Ashitaka hören, dass dieser sich verbeugte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde sein Körper halb sichtbar, nur um sich dann sofort wieder vollkommen aufzulösen. Ashitaka sah Shôtoku noch einige Augenblicke lang bei seinen missglückten Rettungsversuchen der sowieso nicht mehr zu rettenden Situation zu, dann ließ er langsam eine Augenbraue nach oben wandern und sagte:

„Schon gut… komm mit.“

Der Vizekommandant trat von der Mitte des Platzes in eine ruhigere, abseits gelegene Ecke. Er hatte genug davon, in den Augen sämtlicher Betrachter Selbstgespräche zu führen, erst recht, wenn es dabei fortan um vertrauliche Angelegenheiten gehen würde. Wobei er sich auch jetzt immer noch etwas seltsam vorkam, weil er ja nicht einmal wusste, ob Shôtoku ihm tatsächlich folgte. Er konnte es nur hoffen. Für seinen Shinobi.

„Also schön“, begann er dann, während er prüfend nach allen Seiten blickte, ob sie auch wirklich ungestört waren, „ich habe jedenfalls einen Auftrag für dich. Es… Shôtoku? Bist du da?!“

„Ja“, war eine Stimme irgendwo dicht hinter ihm zu hören, „ich bin hier und höre zu, Tsukimori-fukuchô.“

„Gut“, entgegnete Ashitaka, und seine Stimme bekam einen gewissen sachlichen Unterton, den sie grundsätzlich nur bekam, wenn er über Berufliches sprach. Auch sein Gesichtsausdruck veränderte sich ein wenig von schlichtweg finster zu… ernsthaft finster. „Also, hör zu, ich habe keine Lust, mich zu wiederholen“, sprach er in etwa in die Richtung, aus der er Shôtokus Stimme gehört hatte. „Die Rebellen haben die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens eingesehen. Was allerdings kein Grund zur Freude ist, da sie sich deshalb neuen Wegen zuwenden und Hilfe von außen suchen, kurzum: Gewissen Gerüchten zufolge sollen just in diesen Augenblicken, während wir noch Zeit mit Reden verbringen, Rebellen zur Küste aufbrechen, um nach Dûnedja überzuschiffen.“

Ashitaka wartete einige Sekunden lang auf irgendeine Reaktion – sei es eine Nachfrage oder auch nur einen Laut der Überraschung bei der Erwähnung des Wüstenkontinentes. Silvania und Dûnedja waren seit vielen, seit sehr vielen Jahren befeindet. Er selbst hatte in seiner Kindheit miterlebt, wie die letzten Vertragsverhandlungen gescheitert waren, und seitdem herrschte Krieg. Für ihn selbst war die Vorstellung einer solchen Bündnisses etwas Unvorstellbares, aber aus dem Verhalten eines unsichtbaren Shinobi ließ sich natürlich noch ungleich weniger lesen als aus dem eines sichtbaren. So fuhr er mit noch etwas grimmigerer Miene fort:

„Du wirst am Besten sofort aufbrechen und sie abfangen. Dann mischst du dich unter das Pack und findest heraus, was sie ausgerechnet mit unseren Feinden zu schaffen haben.“

Erneut folgte einen Moment lang Schweigen – Ashitaka konnte sich mittlerweile denken, dass Shôtoku währenddessen nickte, was an sich ja zweifellos höflich, aber leider angesichts der momentanen Situation auch vollkommen sinnlos war.

„Ja, Tsukimori-fukuchô“, fügte Shôtoku hinzu, als auch er das zu bemerken schien.

„Gut“, nickte Ashitaka, und damit erklärte er das Gespräch für beendet. Er hatte schlichtweg keine Lust mehr darauf, sich noch länger mit der Morgenluft zu unterhalten, und so wandte er sich ab und schlenderte wieder zurück über den Platz.

Schon nach wenigen Schritten entdeckte er einen Menschen, den er zwar nicht unbedingt gesucht, aber nach dem er doch immerhin Ausschau gehalten hatte. Zugegebenermaßen mit nur mäßiger Motivation. Es war nicht so, dass er gegen Ishii Jin-Roh persönliche Antipathien gehegt hätte; genau genommen kannte er ihn kaum. Aber Ashitaka vermied den Kontakt zum zweiten Korps, wo das eben möglich war. Es war nun einmal eine Tatsache, dass auf Silvania und insbesondere in Gharith bei einem Krieger vor allem zweierlei geschätzt wurde: Weisheit und Erfahrung. Werte, die man für gewöhnlich nur älteren Männern zugestand.

Ashitaka war noch jetzt, mit seinen siebenundzwanzig Jahren, jünger als jeder andere, der jemals den Posten eines Vizekommandanten der Hikari no Jotei eingenommen hatte. Und niemand hatte sich gegen seine Einsetzung so vehement gewehrt wie Hashimoto, der Vizekommandant des zweiten Korps – nicht nur, aber vor allem wegen seines Alters. Manchmal hatte Ashitaka den Eindruck, dass diese herablassende Abneigung ausnahmslos jeder Angehörige des zweiten Korps teilte. Auch wenn er ihnen natürlich beigebracht hatte, dass es nicht unbedingt ratsam war, ihn diese Überheblichkeit auch spüren zu lassen.

Was Ashitaka allerdings momentan noch weitaus mehr missfiel, war die Tatsache, dass Ishii Jin-Roh ausgerechnet neben Yukita stand und sich offensichtlich mit ihm unterhielt. Da Ashitaka keine allzu große Lust auf eine weitere Begegnung mit einer gewissen Ratte verspürte, lehnte er sich erst einmal gegen die nächstbeste Wand, rauchte seine Pfeife und beobachtete dann und wann die beiden so unterschiedlichen Anführer. Erfreulicherweise endete deren Unterhaltung recht bald, Yukita verabschiedete sich und Jin-Roh kam allein auf Ashitaka zu, als ob er bereits von dessen Anliegen geahnt hätte. Der Vizekommandant ging ihm trotzdem nicht entgegen, sondern blieb gegen die Wand gelehnt und begrüßte Jin-Roh dann, als er in Hörweite war, in überflüssig lautem Tonfall:

„Gut, dass ich Euch sehe. Es gibt da noch etwas mit Euch zu besprechen.“

Jin-Roh ging ganz ruhig weiter und blieb erst neben Ashitaka stehen.

„Guten Tag, Tsukimori-san!“ Er drehte den Kopf in dessen Richtung und blinzelte, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien. „Ihr habt etwas mit mir zu besprechen?“

„Ja“, nickte Ashitaka, und er gab sich keine große Mühe, zu verbergen, wie wenig Lust er eigentlich auf diese Konversation hatte. „Im Grunde genommen nicht ich, sondern ich anstelle Eures Vizes. Da sich dieser aber gerade nicht hier am Hof befindet“ – glücklicherweise, wie Ashitaka aber nur in Gedanken hinzufügte – „darf ich in diesem Fall für Ihre Majestät den Dienstboten spielen, was mir selbstverständlich eine große Ehre ist.“

Jin-Roh musterte Ashitaka sehr ernst, was an sich schon schlimm und unverschämt genug war, aber dann verzogen sich seine Lippen auch noch zu einem Lächeln.

„Nehmt es mir nicht übel, Tsukimori-san, aber Ihr seid nicht sehr gut darin, Eure Launen zu überspielen.“ Dann wurde er aber sofort wieder ernst und strich mit der Hand vorsichtig über sein Schwert. „Das solltet Ihr aber, als Vizekommandant der Hikari no Jotei. Doch nun seid so nett und sagt mir, was mein Vizekommandant mir durch Euch sagen lassen will.“

Sieh an, dachte Ashitaka, während ein überaus boshafter Zug um seine Lippen spielte. Noch jemand, der schon so früh am Morgen das Bedürfnis hatte, zu sterben.

„Ich denke schon, dass ich sehr gut darin bin, Dinge zu verbergen, die ich auch wirklich verbergen möchte. Alles andere solltet Ihr schön mir überlassen. Es steht Euch im Übrigen auch nicht zu, gleich welche meiner Handlungen zu be- oder verurteilen. Und schon gar nicht, mir… Befehle zu erteilen.“ Er nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Kiseru-Pfeife und hielt einige Sekunden lang inne, nur um dann in deutlich kühlerem Tonfall fortzufahren: „Um es kurz zu machen: Der König hat den Ausnahmezustand ausgerufen. Und da besondere Zeiten besonderer Maßnahmen bedürfen, haben wir beschlossen, gewisse Männer zu… sagen wir, außergewöhnlichen Zwecken einzusetzen. Also, macht Euch auf weitere Befehle gefasst. Ach, und…“ Er blickte betont auf Jin-Roh herab, und das nicht nur, weil er sowieso ein gutes Stück größer war. „Ihr solltet nicht vergessen, wo Ihr steht… und wo nicht.“

Jin-Rohs Blick blieb gelassen.

„Es lag mir fern, Euch zu be- oder gar zu verurteilen, aber wenn Ihr jedweden Kommentar in Bezug auf Eure Person gleich als Kritik an selbiger deuten wollt, so sollt Ihr damit glücklich werden.“ Er strich sich eine Strähne seines schwarzen Haares hinter das Ohr, während sein Blick in die Ferne schweifte. „Soso. Das sind interessante, aber auch alarmierende Neuigkeiten. Es wird sich zeigen, was davon überwiegen wird.“ Seine zweifarbigen Augen wandten sich wieder Ashitaka zu. „Habt Dank dafür, es mir überbracht zu haben, Tsukimori-san.“

„Mir liegen auch viele Dinge fern, wenn der Tag lang ist“, sagte der wieder vollkommen ruhig. Was aber nicht bedeutete, dass er Jin-Roh jetzt weniger unerträglich fand als noch vor wenigen Sekunden. „Interesse ist gut und Alarmbereitschaft in diesen Tagen sowieso wichtiger als alles Andere. Die Rebellen brechen mit allem, was einem Menschen heilig sein sollte. Selbst dem Feind kriechen sie vor den Füßen herum. Es ist so erbärmlich.“

„Die Rebellen also wieder.“ Jetzt war es Jin-Roh, der einen bösen, finsteren Gesichtsausdruck bekam. Seine Finger schlossen sich um den Griff seines Schwertes. „Sie sind in der Tat eine Plage. Sie plündern und stehlen, sie rauben und zerstören, grundlos, sie entweihen Tempel und heilige Stätten, ganze Dörfer legen sie in Schutt und Asche. Erst, wenn sie alle vernichtet sind und in ihrem eigenen Blut liegen, wird endgültig Frieden im Land einkehren.“

„Wer sonst? Sie haben allein in den letzten Monaten schon weit mehr überflüssiges Unheil angerichtet, als so mancher ernst zu nehmende Feind. Es wird nicht zu vermeiden sein, sie auszurotten, wie man das mit Plagen nun einmal machen muss. Allerdings…“ Er hielt inne. Binnen weniger Sekundenbruchteile war sein Körper vollkommen angespannt, noch bevor er ganz begriff, dass und weshalb seine Instinkte Alarm schlugen. Er blickte nach allen Seiten, aber ohne etwas Verdächtiges zu sehen.

„Allerdings was?“, fragte Jin-Roh. Ashitaka antwortete mit einem Blick, der eigentlich nichts anderes ausdrückte, als dass er verdammt noch mal die Klappe halten sollte – das aber umso Unmissverständlicher –, und machte einige Schritte auf den Hof hinaus. Dann zog er blitzschnell sein Katana, schlug einige Male scheinbar sinnlos in die Luft, und im nächsten Moment ertönte ein leises Klappern. Auf den staubigen Boden des Platzes fiel ein dreigeteilter Pfeil.

Fast gleichzeitig zog auch Jin-Roh eines seiner beiden Schwerter und drehte es blitzschnell vor sich in der Luft, dass ein weiterer Pfeil davon abprallte. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt und tasteten die Umgebung ab.

„Es geht doch nichts über etwas Bewegung“, fügte er diesem kleinen Kunststück mit der Klinge hinzu.

„…oder eine kleine Aufwärmübung vor den morgendlichen Kampfesübungen.“ Noch im Sprechen fuhr Ashitaka herum, lief auf einen Busch zu und enthauptete den daraus hervorschnellenden Mann mit einer fast schon beiläufigen Bewegung. Dieser einen Gestalt folgten jedoch binnen weniger Sekunden zahllose weitere, gekleidet in Grün und Braun und sonstigen Farben, deren tarnende Unauffälligkeiten von nun an vollkommen überflüssig war.

„Und ich dachte, dies würde ein langweiliger Tag werden.“ Jin-Roh sprang mit einem Salto auf die Wiese zwischen den Büschen, wo er sofort von drei der Bewaffneten umrundet war. Er zückte sein zweites Schwert und vollführte mit wirbelnden Klingen eine Drehung um die eigene Achse, womit er die Angreifer rasch in handliche kleine Stücke zerlegte. Dann teilte er einen weiteren Rebellen mit der einen Klinge mittendurch, während er mit der zweiten einen anderen seines Handgelenkes und somit auch seiner Waffe entledigte. Sofort rückten für jeden der beiden weitere Kämpfer nach. Jin-Roh brach einem von ihnen mit einem hohen Tritt das Genick, und ihm blieb nur wenig Zeit, mit einer abgehackten Schnittbewegung das Blut von seinen Klingen zu schleudern, bevor er sie wieder mit den Schwertern zweier Feinde kreuzte.

Ashitaka nahm von all dem keine Notiz. Er duckte sich unter einem hohen Schwerthieb hinweg und schnitt mit derselben Bewegung dem Mann die Sehnen in den Knien durch. Seine grauen Augen blickten kurz nach Rechts und Links, während er ganz nebenbei einen weiteren Rebellen hinter sich erstach. Dass ihm seinerseits mittlerweile ein Pfeil in der Schulter steckte, hatte er bislang noch nicht bemerkt. Stattdessen befreite er mit einem schnellen, präzisen Hieb zwei Angreifer von der seiner Meinung nach in ihrem Fall ohnehin vollkommen überflüssigen Last ihres Kopfes.

Und dann nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, ein kurzes Blitzen im Licht der aufsteigenden Sonne. Er fuhr herum, doch ein zweiter Rebell stürzte mit gezückter Klinge frontal auf ihn zu. Ashitaka schnitt ihm relativ mühelos die Kehle durch, doch damit verlor er wertvolle, möglicherweise entscheidende Sekunden. Er riss sein Schwert herum, wohl wissend, dass seine Parade eigentlich gar nicht mehr rechtzeitig kommen konnte – und hörte dann ein Klirren, das im Kampfeslärm beinahe unterging.

Tatsächlich stand unmittelbar hinter ihm ein Rebell – wenigstens noch ein oder zwei Sekunden lang. Dann folgte er, die Augen und den Mund weit aufgerissen, seiner Waffe auf den kalten Boden. Hinter ihm stand eine Gestalt in einem Kimono, dessen Weiß nun von etlichen dunklen Flecken beschmutzt wurde. Von dem Tachi, das sie in ihrer Hand hielt, tropfte Blut. Ihr Gesicht wurde von einer weißen Kabuki-Maske mit schwarz umrandeten Augen bedeckt, aus der ein kleines Stück herausgebrochen war, sodass nur ein Teil des Kinns und der Lippen zu sehen war.

Einen Moment lang war Ashitaka aus dem fließenden Rausch des Kampfes gerissen, und er fixierte den Maskierten mit einer irritierten Beunruhigung, die er sich jetzt eigentlich gar nicht erlauben konnte. Natürlich hatte auch er die… Geschichten gehört, die man sich über einen gewissen Menschen am Hof erzählte. Die Feststellung, dass diese Geschichten in einem krasseren Widerspruch zu der unliebsamen Bekanntschaft, die er in den frühsten Stunden dieses Morgens gemacht hatte, gar nicht mehr hätten stehen können, berührte seine Gedanken nur ganz oberflächlich, während er zwei der Rebellen den Bauch aufschnitt.

„Sag Ihrer Majestät Bescheid, aber schnell!“, rief er einem Diener zu, der dem Geschehen wie erstarrt zusah. Dabei streifte sein Blick die Gestalt im blutig weißen Kimono. Hinter dem Bruch in der Maske konnte Ashitaka ein Grinsen erkennen, ein unbeschreiblich wahnsinniges Grinsen sogar. Dann war diese alptraumhafte Erscheinung, die sich ihm erst kurz zuvor mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen als Yukita vorgestellt hatte, mit einem Satz mitten im Kampfgeschehen und begann… zu schlachten. Ein anderes Wort fiel Ashitaka für das, was er da nur relativ kurz betrachtete, beim besten Willen nicht ein.

Neben ihm hatte sich Jin-Roh gerade tief auf den Boden geduckt und trennte zwei Angreifern die Füße ab, um sie so im wahrsten Sinne des Wortes flachzulegen. Ashitaka sprang über einen der schreienden Männer hinweg und schnitt ihm noch im Fallen die Kehle durch. Zwei weitere Rebellen näherten sich ihm von Links, die Waffen hoch erhoben. Sie schrien ebenfalls, allerdings vor Wut. Zu einem Schmerzensschrei blieb ihnen dann auch keine Zeit mehr, da Ashitaka sie kurzerhand enthauptete. Er drehte sein Schwert blitzschnell in der Hand und zog es wieder nach vorne, wobei er einem in schmutziges Braun gewandeten Rebellen seinen ebenso schmutzigen Bauch aufschnitt.

Der Boden zu seinen Füßen war mit Blut befleckt, selbst die Morgenluft war schwer von Blut. In seine Seite bohrte sich ein weiterer Pfeil, aber das bemerkte Ashitaka überhaupt nicht mehr. Seine Sinne waren derart geschärft, dass er alles um sich herum nur in einzelnen Sequenzen wahrnahm, auf die er jeweils blitzartig reagieren konnte. Langsam bewegte er sich rückwärts auf den Platz, in Richtung des Hofes. Über den Kampfeslärm legte sich das laute, irrsinnige Lachen des Maskierten, während dessen Klinge einem Rebellen die Brust aufschlitzte. Noch mehr Blut spritzte auf das Weiß seines Kimonos, seiner Maske, seiner Haut.

Trotz seiner totalen Konzentration lief über Ashitakas gespannten Körper ein kurzes, aber eisiges Schaudern, von dem er sich jedoch keinesfalls im Kampf stören ließ. Jeder seiner Schläge besaß eine schnelle, zielgerichtete, fast schon chirurgische Präzision. Er ließ sein Schwert nicht wirbeln, um die Feinde niederzumetzeln, wie Jin-Roh es just in diesem Augenblick irgendwo zu seiner Linken tat. Er führte nicht eine einzige überflüssige oder schmückende Bewegung aus. Er kämpfte, um zu töten. Dabei glitt sein Blick schnell und abschätzend über den Platz zu den Unterkünften der Hikari no Jotei hin. Dort entdeckte er einige Männer aus der dritten Einheit seines Korps, die ihnen offenbar gerade zu Hilfe eilen wollten.

„Deckt die nördliche Front und geht auf Distanz“, rief er ihnen zu, während er ganz automatisch weiterkämpfte. Fast so, als ob sein Katana den Weg über die Kehlen und Bäuche seiner Gegner ganz von selbst finden würde. Zwischen den Kämpfenden sah er Yukita, über und über mit Blut befleckt, der wie in einem Rausch alles niedermachte, das den Fehler beging, ihm vor die Klinge zu kommen. Ashitaka hielt sich von ihm fern, sicherheitshalber. In Gedanken positionierte er binnen weniger Sekunden seine Samurai an allen wichtigen Stellen des Platzes und vor den Eingängen, und gab ihnen dann die entsprechenden Anweisungen, ohne ein einziges Mal im Kämpfen innezuhalten.

Es vergingen nur noch wenige Minuten, bis von den Angreifern nicht mehr allzu viel übrig geblieben war. Einige ächzende und stöhnende Halbleichen, kaum mehr zu einer Regung fähig, waren alles, was unter den zahlreichen Rebellen überhaupt noch als lebendig bezeichnet werden konnte. Inmitten dieses Teppichs aus Leichen, Blut und Körperteilen stand Yukita, schwer atmend, zitternd und blutbeschmiert. Er machte keinerlei Anstalten, sein Schwert zu senken. Lauernd glitten seine Augen über die Umgebung. Ashitaka, ebenfalls schwer atmend, betrachtete ihn einige Momente lang, dann sah er sich noch einmal prüfend um. Kurz streifte sein Blick auch seine eigenen Hände, deren helle Haut unter dem Blut der Feinde gar nicht mehr zu erkennen war. Ein kaum merkliches Zucken lief durch seinen Körper und er wandte sich hastig wieder ab.

„Yukita!“, rief er diesem zu. „Es ist vorbei!“

Langsam, ganz langsam hob Yukita seinen Kopf in Richtung von Ashitakas Stimme. Sein Atem ging immer noch schwer, fast schon keuchend. Und auch das Schwert hielt er noch fest in seinen Händen. Dann ging er, immer noch auf diese beängstigend langsame Weise, auf den Vizekommandanten zu. Instinktiv schlossen sich Ashitakas Hände um den Griff seines Schwertes.

„Yukita?“, sprach er ihn mit eindringlicher Stimme an, während er sich lauernd einen Schritt auf ihn zubewegte. Dann atmete er noch einmal tief durch und rief dann noch einmal, diesmal aber laut und befehlend: „Yukita!!“

Der Schwarzhaarige zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Dann riss er sich ganz plötzlich und ziemlich hektisch die Maske von seinem Gesicht und starrte diese einen Moment lang entsetzt an. Wieder ging sein Atem keuchend, diesmal aber auf eine gänzlich andere Art und Weise.

„Ist es… ist es vorbei?“, fragte Yukita sehr leise, während er die Maske sinken ließ. Ganz kurz und unvermutet lief wieder ein Schauer über Ashitakas Körper, obwohl er nicht einmal genau sagen konnte, weshalb. Er nickte.

„Sie sind tot. Na gut… mehr oder weniger, aber keiner wird uns noch in irgendeiner Form gefährlich werden können.“ Ashitaka fiel übrigens erstmalig auf, dass ihm das aufrechte Stehen Mühe bereitete, aber er beschloss, das zu ignorieren.

„Gut“, sagte Yukita und steckte seine Maske zurück ins Innere seines blutgetränkten Yukata. „Wir sollten…“ Er brachte den Satz nicht zuende. Stattdessen trat in seine Augen eine gewisse Spur des Entsetzens. „Tsukimori-san… ich glaube, wir sollten zu einem Heiler gehen. Genauer gesagt solltet Ihr zu einem Heiler gehen, und zwar möglichst schnell!“

„Wir sollten uns vielleicht erst einmal waschen. Blut ist so hässlich, wenn es getrocknet ist.“ Während er sprach, folgte Ashitaka mehr zufällig Yukitas Blick. Seine grauen Augen wanderten seine Brust hinab zu seiner Seite. Und von dort aus wieder hinauf zu seiner Schulter. Jetzt sah er auch die beiden Pfeile, die dort in seinem Körper steckten – und bemerkte im gleichen Moment leider auch den Schmerz, den sie damit verursachten. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen und er taumelte einen Schritt nach vorne, wo er gerade noch an der Schlosswand Halt fand. „Vielleicht… sollten wir wirklich gleich zu einem Heiler gehen.“

„Ja, wie ich bereits sagte.“ Yukita trat auf den Vizekommandanten zu und nahm seinen Arm, offensichtlich in der Absicht, ihn zu stützen, was in Anbetracht der Größenverhältnisse natürlich mehr schlecht als Recht gelang. Kurz überlegte Ashitaka, was seinen Stolz wohl schlimmer treffen würde – sich jetzt ein wenig helfen zu lassen oder irgendwo auf halbem Wege zusammenzubrechen. Dann nahm sein verräterischer Körper ihm diese Entscheidung ab, als ihm beinahe die Beine nachgaben. Mit aller Selbstbeherrschung hielt er sich trotzdem, so gut es eben ging, noch aufrecht – alles war besser, als noch einmal gemeinsam mit Yukita zu Boden zu gehen! – und wankte dann mit starrem Blick in Richtung des Heilerzimmers.
 

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon lange überschritten, als Ashitaka beschloss, dass er lange genug rastlos in seinem Zimmer auf- und abgegangen war. Seine Wunden schmerzten noch, aber damit konnte er gut leben. Schlimmer war, dass ihn eine merkwürdige Unruhe befallen hatte, die er jetzt einfach nicht mehr loswurde. So öffnete er die Schiebetür seines Zimmers, trat hinaus auf die überdachte hölzerne Terrasse, die dem Platz zugewandt war, und rauchte erst einmal. Als ihm das auch nicht weiterhalf, holte er einige Bögen Papier und begann, sie zu falten. Wenn er sich beruhigen wollte, war er stets besonders produktiv. Trotzdem wählte er für den Einstieg einfache Formen, einige kleinere Blumen – Kamelien –, bevor er sich an Größeres und Aufwändigeres wagte.

Von irgendwoher hörte er den Klang einer Koto. Sie spielte ein schönes, ruhiges Lied, und Ashitaka fand es beinahe ein wenig schade, als sie wieder verstummte. Obwohl er gegen Stille natürlich auch nichts einzuwenden hatte. Er faltete gerade den zarten Kopf eines Kranichs, als er sich plötzlich beobachtet fühlte, allerdings nicht auf eine bedrohliche Weise. Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Yukita, seine Ratte auf der Schulter, der schweigend hinter ihm stand. Ashitaka betrachtete ihn kurz, dann wandte er sich wieder seinem Werk zu.

„Solch eine Unverfrorenheit hätte ich nicht einmal ihnen zugetraut…“

„Meint Ihr die Rebellen?“, fragte Yukita, während er zu Ashitaka auf die Terrasse stieg. Dann beantwortete er sich seine Frage aber gleich selbst: „Natürlich meint Ihr die. Nun, ich hätte es ihnen auch nicht zugetraut. Allerdings eher, weil ich erwartet hätte, dass sie nicht so blöd sind, uns auf eigenem Gelände anzugreifen. Mit so wenig Männern.“

Dass er allein schon so viele Rebellen getötet hatte, dass man von wenig beim besten Willen nicht mehr sprechen konnte, ließ er dabei freilich außer Acht.

„In diesem Fall kann man unverfroren übrigens auch als Synonym für dumm verstehen, aber man soll sich ja seinen Respekt vor dem Gegner bewahren.“ Ashitaka schnaubte kurz und abfällig. „Sie hätten mit halb Gharith anrücken können. Hier können sie uns nicht besiegen. Ihr kämpft übrigens gut. Besser, als ich erwartet hatte.“

Yukita setzte sich auf das Geländer der Veranda. Der Wind strich ihm durch sein schwarzes Haar, das er jetzt offen trug, und er baumelte mit den Beinen.

„Danke für das Kompliment“, lächelte er. „Ich kann es zurückgeben, allerdings habe ich erwartet, dass Ihr gut kämpfen würdet. Ich muss zugeben, ich kann nicht wirklich stolz darauf sein, aber es nützt der Hikari no Jotei. Nun ja… meistens zumindest.“ Er kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf.

„Hm“, machte Ashitaka, während das Papier unter seinen Händen langsam wirklich die Gestalt eines Vogels annahm. „Worauf man stolz sein kann und worauf nicht, ist immer so eine Sache. Aber es ist müßig, darüber zu diskutieren oder auch nur nachzudenken. Momentan geht es nicht um Stolz, sondern um Zweckmäßigkeit.“

„Das mit der Zweckmäßigkeit ist so eine Sache…“, entgegnete Yukita, und fügte murmelnd hinzu: „Aber der war auch selber Schuld.“ Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Wenn man Euch so zuhört, könnte man denken, dass Ihr jede Diskussion müßig findet.“ Er zuckte mit den Schultern, während sich seine Augen neugierig auf den kleinen Kranich richteten. „Was macht Ihr da eigentlich?“

„Origami“, antwortete Ashitaka, vollführte die letzten Handgriffe an seinem Papiervogel und streckte ihn Yukita entgegen. „Es gibt keinen besseren Weg, sich zu entspannen. Und dass die meisten Diskussionen tatsächlich müßig sind, lässt sich nicht leugnen.“

„Das sieht schön aus.“ Yukita nahm ihm den Kranich aus der Hand und betrachtete ihn näher. „Aber auch sehr kompliziert. Ich glaube, zum Entspannen bleibe ich lieber bei der Koto.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen gab er den Kranich wieder zurück. „Und ich würde nicht sagen, dass die meisten Diskussionen wirklich so müßig sind. Manche können ganz interessant sein, um sich mal ein wenig abzulenken.“

„Man kann es lernen. Und natürlich gibt es auch noch viele andere Wege, sich zu entspannen“, nickte Ashitaka und beschloss beinahe noch im selben Augenblick, dass er für heute genug gefaltet hatte. „Die meisten Diskussionen halte ich allerdings schlicht und ergreifend für ermüdend.“

„Natürlich. Man kann alles lernen. Wenn man die Geduld dazu hat… aber ich glaube, für das da“ – und bei diesen Worten deutete Yukita auf das kleine Kunstwerk aus Papier – „würde mir die Geduld fehlen. Ich würde einfach alles irgendwann in den Papierkorb werfen oder anzünden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ihr findet die meisten Diskussionen also ermüdend? Gut, ich hätte Euch auch nicht für jemanden gehalten, der den Leuten ein Gespräch aufdrängt. Und apropos müde“, fügte er mit einem Gähnen hinzu, streckte sich dabei – und sollte diesen Satz niemals zuende bringen, denn noch im Strecken verlor er das Gleichgewicht. Yukita stieß einen erschrockenen Schrei aus und ruderte wild mit den Armen, um nicht vom Geländer zu fallen.

„Ich finde, es ist eine schöne Tradition“, entgegnete Ashitaka ganz ungerührt, während er den verzweifelten Kampf des schwarzhaarigen Samurai gegen die Schwerkraft einige Momente lang dezent und höflich nicht beachtete, „und ich könnte es nicht einfach wegwerfen. Zumindest manches nicht.“ Bei diesen Worten ließ er ganz kurz seinen Blick zu den Kamelien schweifen. „Ich sollte wohl hinzufügen, dass für die meisten Menschen eine Diskussion bedeutet, mit leeren Worten zu rechtfertigen, den eigenen Standpunkt um keinen Millimeter verrücken zu müssen. Und außerdem…“ Genau in dieser Sekunde verlor Yukita seinen Kampf. Ganz reflexartig griff Ashitaka nach seinem Kragen, bekam ihn tatsächlich noch am Stoff zu fassen und zog ihn zurück auf die Veranda. „Ihr solltet Euch ins Bett legen, wenn Ihr schlafen wollt. Das ist weniger hart als der Boden, mit dem Ihr um ein Haar Bekanntschaft geschlossen hättet.“

„Danke.“ Yukita atmete erleichtert auf und warf dabei einen Blick über die Schulter. „Ja, da lässt es sich bestimmt nicht gut schlafen. Aber… ich will gar nicht schlafen. Eigentlich wollte ich schon lange etwas essen gehen, aber dann… kam etwas dazwischen. Beziehungsweise jemand.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Wollt Ihr mitkommen?“, fragte er dann lächelnd. „Oh, und man kann sich auch einfach über irgendetwas Interessantes unterhalten. Das kann auch eine Diskussion sein. Ich mag dieses Gefechte mit leeren Worten auch nicht.“

Ashitaka dachte nach – einen, zwei Augenblicke, jedenfalls nicht besonders lange, und dann bemerkte erst, wie hungrig er eigentlich war. Also nickte er eben und stand auf. Bevor er in sein Zimmer ging, sammelte er erst einmal vorsichtig die Kamelien vom Holz der Veranda auf, trug sie dann hinein und schob eine Tür beiseite, hinter der sich ein Schrank verbarg. Dort suchte er unter vielen, sehr vielen Kamelien und einigen anderen Papiergeschöpfen einen Platz für die neuen Blumen und den Kranich. Dann schloss er den Schrank wieder und wandte sich Yukita zu. „Sicherlich gibt es auch interessante Unterhaltungen, aber ich sehe da einen gewissen Unterschied.“

„Natürlich gibt es da einen Unterschied. Aber genau das habe ich auch gemeint.“ Yukitas Lippen verzogen sich zu einem selbst für seine Verhältnisse überaus breiten und fröhlichen Lächeln. In Anbetracht der Ereignisse des vergangenen Morgens war seine unverschämt gute Laune schlicht und ergreifend grotesk. „Wo sollen wir hingehen. Mögt Ihr Soba-Nudeln? Ich kennen einen guten Laden mit Soba-Nudeln.“ Er nickte, wie um seine Worte zu bekräftigen, und schlenderte dann schon einmal los. Statt eines weißen trug Yukita jetzt einen zartblauen Kimono. Er hatte keine Waffen bei sich, und mit seinem langen, offenen Haar, das sanft ihm Wind wehte, sah er wie so ziemlich alles aus, nur ganz bestimmt nicht wie ein Samurai.

„Soba-Nudeln?“ Ashitaka hob seine Schultern. „Warum nicht. Das hört sich gar nicht so übel an.“

Und so folgte er Yukita, der auf seinen hochhackigen Geta voranschlenderte. Es war kein weiter Weg vom Schloss hinunter in die Stadt. Nach Gharith. Wie ein kunstvoll gewobener Teppich breiteten sich die Dächer, die Tempel, Pavillons und Pagoden der Stadt vor ihnen aus, geschmückt von den vielfarbigen Kunstwerken der Parkanlagen. Durchzogen wurde dieser fein verwobene Stoff von den Fäden des Straßennetzes und den sich kreuzenden Flüssen Hyogairo und Shirotama.

Der Name Gharith stammte aus dem Litischen, einer uralten Sprache, die mittlerweile fast nur noch an traditionsbewussten Akademien gelehrt und gesprochen wurde. Gharith bedeutete Gold, und Ashitaka verstand sehr gut, weshalb man der Hauptstadt des Hei’ya, des ebenen Landes im Süden Silvanias, diesen Namen gegeben hatte. Es war eine prächtige Stadt, und tatsächlich waren einige Dächer und Kuppeln golden oder wenigstens mit Gold verziert. Vor allem bei den zahlreichen Tempeln hatte man nicht mit Edelmetall gespart, auch an den Fassaden, den Fenstern und Türen. Unter den Strahlen der Sonne wurde Gharith in ein ganz besonderes Leuchten gehüllt. Hier hatte Ashitaka beinahe sein ganzes Leben verbracht, in dem Schloss mit der goldenen Stadt zu seinen Füßen. Als er die zahllosen Häuser seiner Heimatstadt jetzt betrachtete, kam er nach einigem Überlegen doch zu dem Schluss, dass dieser kleine Ausflug eigentlich gar keine allzu schlechte Idee gewesen war.

Wenigstens noch nicht.
 

Gharith war eine riesige Stadt, und fernab der großen Prachtstraßen gab es zahllose kleine, verwinkelte Gassen, in denen man sich allzu leicht verlaufen konnte. Yukita kannte den Weg zu dem kleinen Lokal aber mittlerweile nicht nur im Schlaf, nein, er hatte von allen möglichen Wegen auch den schnellsten herausgefunden. So dauerte es nicht lange, bis die beiden Samurai ihr Ziel erreicht hatten. Yukita schlug den Vorhang vor dem Eingang des niedrigen Gebäudes zur Seite und trat ein.

Gut gelaunte begrüßte er den Wirt, dann nahm er vor einem der Tische Platz. Dort zog er aus einem Ärmel einen Fächer hervor und verschaffte sich damit ein bisschen Kühlung in der doch recht stickigen Luft des kleinen Raumes. Ashitaka bedachte ihn mit einem reichlich kritischen Blick. Dann nahm er ihm gegenüber Platz und begann, in der Speisekarte zu blättern. Das konnte Yukita sich sparen. Er kannte diese Karte längst auswendig, und er wusste auch schon, was er bestellen würde.

Seinem Gegenüber schien diese Entscheidung deutlich schwerer zu fallen. Er blätterte ein-, zweimal durch die ganze Speisekarte. Dann zog er seine Augenbrauen zusammen. Näherte sich mit der Karte unauffällig – nun ja, mehr oder weniger unauffällig, aber immerhin in dem Bemühen darum – seinem Gesicht. Blinzelte einige Male. Und zog die Augenbrauen noch ein wenig mehr zusammen. Yukita entging auch nicht, dass Ashitaka die Lippen ein ganz kleines bisschen fester aufeinander presste.

Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf auf die Handrücken und lächelte.

„Soll ich Euch etwas empfehlen? Eigentlich ist alles gut, aber manche Sachen sind doch sehr scharf.“

Ashitaka grummelte irgendetwas Unverständliches, aber Yukita strahlte weiter und bestellte schon einmal Sake, als der Kellner ihren Tisch passierte. Dann sah er den Vizekommandanten ebenso begeistert wie erwartungsvoll an.

„Was könntet Ihr denn empfehlen?“, fragte dieser betont beiläufig und bestellte sich ebenfalls einen Sake. Yukita fächerte sich weiterhin Luft zu.

„Oh, im Grunde genommen das meiste, aber die Haifischflossensuppe ist besonders gut. Und wenn man sehr robuste Geschmacksnerven hat, kann man auch Hummerkrabbenschwänze in Kokossuppe bestellen, aber das ist sehr scharf. Ach, und die Geflügelsuppen sind auch gut. Aber wie gesagt, im Grunde ist alles gut, weil sie überall diese tollen Nudeln reintun.“

„Haifischflossensuppe klingt gut“, nickte Ashitaka und bestellte sich dann auch genau das. Ein ganz kurzes Aufatmen konnte er sich dabei nicht verkneifen. Er versuchte, es mit einem anschließenden Grummeln zu überspielen, als das aber nicht so recht funktionierte, nahm er eben einen Schluck des warmen Sake, der bereits gebracht worden war.

Yukita bestellte sich ebenfalls eine Haifischflossensuppe, dann sah er Ashitaka doch ein wenig verwirrt an.

„Was habt Ihr?“, erkundigte er sich und sah sich ganz automatisch um, ob um sie herum vielleicht irgendetwas vor sich ging, das das Missfallen des Vizekommandanten erregt haben könnte. Als er aber nichts entdeckte, sah er stattdessen Ashitaka fragend an.

„Nichts!“, antwortete dieser etwas zu schnell und zu harsch, holte dann tief Luft und fügte in ruhigerem und auch deutlich bestimmterem Tonfall hinzu: „Nichts. Ich bin wohl noch etwas nervös. Man kann nicht wissen, auf welche Ideen Sie noch kommen.“

„Das sieht mir eigentlich nicht nach Nichts aus“, entgegnete Yukita stirnrunzelnd. „Braucht Ihr… eine Brille?“ Dann blinzelte er. „Oh, keine Angst, der Laden hier ist sauber und die Rebellen werden wohl kaum hinter der Theke lauern, um Euch zu vergiften – und wenn“, lächelte er, „würde der Wirt uns das sagen.“

„Warum sollte ich eine Brille brauchen?“, fragte Ashitaka mit… fast schon wieder verdächtig ungerührter Miene. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, hinter der Theke lauern sie bestimmt nicht. Aber wer sagt uns eigentlich, dass sie nicht hier arbeiten und genau in diesem Moment unser Essen zubereiten? Möglich ist alles.“

„Nein, das ist nicht möglich. Ich kenne die Besitzer dieses Ladens. Die sind dem König treu.“ Yukitas Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. „Gegenfrage: Warum solltet Ihr keine Brille brauchen?“ Er hob die Schultern. „Im Grunde sehe ich dabei kein Problem. Mein Meister trägt zum Lesen auch eine Brille und sieht damit aus wie eine alte Eule.“

„Warum sollte ich eine Brille brauchen, wenn ich gut sehe?“, beharrte Ashitaka und nahm einen weiteren Schluck von seinem Sake. „Euer Meister kann von mir aus aussehen, wie er will, ob mit Brille oder ohne!“

Während er sprach, schweiften seine grauen Augen übrigens immer wieder in Richtung der Küche ab. Offensichtlich war Yukita nicht der Einzige, der mittlerweile schon wirklich großen Hunger hatte.

„Ich glaube leider nur nicht, dass Ihr so unglaublich gut seht… aber gut, lassen wir das.“ Yukita sah ein, dass dieser Versuch, eine Konversation zu beginnen, gescheitert war. In Ermangelung einer besseren Ablenkung begann er, mit dem Finger Linien auf dem Tisch zu malen. Dann blickte er ebenfalls in Richtung der Küche, obwohl er ganz genau wusste, dass es hier gut einmal ein wenig länger dauern konnte. Die Wartezeiten lohnten sich, ohne Frage, und deshalb nahm er sie ja auch wieder und wieder in Kauf. Aber leider knurrte sein Magen deshalb nicht weniger.

„Glaubt, was Ihr wollt“, erwiderte Ashitaka noch, und dann schwieg er ebenfalls. In seinen Blick trat etwas… Nachdenkliches, und dann, nach einiger Zeit, fragte er ganz plötzlich, vollkommen zusammenhangslos und ohne aufzublicken: „Glaubt Ihr an so etwas wie Gerechtigkeit?“

„An Gerechtigkeit?“, wiederholte Yukita, und er blickte dabei sehr wohl auf. „Wie genau meint Ihr das?“ Er war froh, als gerade in diesem Moment das Essen gebracht wurde. Aus mehreren Gründen. Bevor er noch irgendetwas antwortete, nahm er erst einmal seine Stäbchen, brach sie auseinander und fing an, zu essen. „Meint Ihr, ob es so was wie Gerechtigkeit überhaupt gibt?“

„Dass jeder das bekommt, was er verdient. Auf die eine oder andere Weise.“ Ashitaka nippte an seinem Sake und begann dann ebenfalls mit dem Essen, aber er sah dabei immer noch ein wenig abwesend aus. „Es war nur eine Frage. Ich meinte nicht… die Gerechtigkeit an sich, sondern… vergesst es.“

Yukita sah ihn an und vernachlässigte dafür sogar einen Moment lang seine wie immer köstliche Suppe.

„Ob jeder bekommt, was er verdient?“ Er konnte plötzlich gar nicht mehr verhindern, dass seine Stimme einen doch recht bitteren Klang bekam. „Das kommt ganz darauf an. Manche Menschen bekommen wirklich irgendwann das, was sie verdienen.“ Bei diesen Worten klang er sogar noch ein bisschen bitterer. „Aber jeder Mensch? Manche bekommen etwas, das sie nicht verdient haben, ohne etwas zu tun.“

Dann aß er weiter.

„Hm…“ Ashitaka murmelte irgendetwas vor sich hin, das Yukita aber nicht verstand, und schüttelte den Kopf. „Es ist sowieso ein leidiges Thema. Die Dummheit der Rebellen scheint mir zu Kopf gestiegen zu sein.“

„Ich bezweifle ehrlich gesagt stark, dass Euch überhaupt irgendetwas zu Kopfe steigen kann“, sagte Yukita leise und mehr zu sich selbst. Dann fuhr er in normaler Lautstärke fort: „Ihr seid seltsam. Zuerst beginnt Ihr ein Thema, und dann lenkt Ihr plötzlich wieder davon ab und erstickt es, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.“

„Es schien mir allerdings auch nicht so, als ob Euch das Thema sonderlich behagt hätte.“ Ashitaka sah ihn mit kalten Augen an. „Und im Übrigen bin ich nicht der Einzige, den man hier als seltsam bezeichnen könnte.“

„Nur, weil mir ein Thema nicht auf den Kopf hin zusagt, heißt das nicht, dass ich nicht mit mir darüber reden lasse. Aber…“ Yukita blinzelte den Vizekommandanten mit einem Gesichtsausdruck an, dessen Aussage, von nichts, aber auch wirklich gar nichts zu wissen, in ihrer Unmissverständlichkeit selbst Shôtoku Konkurrenz gemacht hätte. „Was meint Ihr damit, Ihr wärt nicht der Einzige, den man hier als seltsam bezeichnen könnte?“ Er sah sich einen Moment lang suchend um. „Habt Ihr einen Rebellen gesehen?“

„Nun“, sagte Ashitaka, ohne beim Sprechen auch nur eine Sekunde lang die Augen von Yukita abzuwenden, wobei sein Blick eigentlich schon genug gesagt hätte, „Ihr lächelt die ganze Zeit und vielleicht ist das auch besser so. Ich möchte nur nicht wissen, was dahinter liegt.“ Er hob seine Schultern. „Und im Grunde genommen ist mir nur aufgefallen, wie sinnlos meine Frage gewesen ist. Ich jedenfalls kenne nur eine einzige Antwort darauf: Nein, nicht jeder. Nur mancher.“

Für einen einzigen winzigen Augenblick hörte Yukita bei Ashitakas Worten auf, zu lächeln, als ob jemand das Strahlen auf seinem Gesicht ganz einfach hinfortgewischt hätte. Stattdessen sah er den Vizekommandanten in diesem Moment unglaublich kalt und… gebrochen an. Aber dann, von einer Sekunde auf die nächste, lächelte er wieder wie zuvor, als ob nichts gewesen wäre.

„Und warum sollte ich nicht lächeln? Das Wetter draußen ist schön, wir sitzen bei gutem Essen und rein formell habe ich eigentlich noch immer frei.“

„Ja, aber das alles trifft auf mich nicht weniger zu und…“ Er stockte, und Yukita könnte ihm förmlich an der Stirn ablesen, dass ihm irgendein unschöner Gedanke durch den Kopf ging. Dass ihm seine Mundwinkel dabei halb bis zum Kinn hinabhingen, daran hatte sich Yukita mittlerweile schon gewöhnt. „Im Übrigen stehen wir an der Schwelle zum Bürgerkrieg und die Welt ist ohnehin schlecht genug.“

„Ihr sagt es.“ Yukita klang plötzlich sehr ernst, lächelte aber unentwegt weiter. „Die Welt ist schlecht genug. Warum soll ich da mit einer Laune bis zum Kern des Planeten herumlaufen und mir das auch noch ansehen lassen? Glaubt Ihr, es macht den Menschen um uns herum sonderlich viel Mut, wenn selbst wir, die wir sie doch beschützen sollen, aussehen wie drei Tage Regenwetter?“

Dann zuckte er mit den Schultern, als ob ihm das ganze aber im Grunde genommen egal wäre.

„Und diesmal sagt Ihr es.“ Ashitaka klang gewohnt finster, aber sein Blick wirkte wieder ein bisschen abwesend. „Es ist meine Aufgabe, die Menschen… dieses Land zu beschützen. Nicht, für sie einen kostenlosen Alleinunterhalter zu spielen. Wer mutlos ist, wird diese Zeit ohnehin nicht überstehen.“

„Und Ihr glaubt nicht auch, dass es Euch nicht umbringen würde, wenn Ihr mal versuchen würdet, ein wenig besser gelaunt auszusehen? Das würde vermutlich allen Beteiligten… ja, wie schon gesagt, mehr Mut machen. Gerade in Zeiten wie diesen.“

„Ich sehe keinen Grund, anders auszusehen, als ich es gerade tue“, entgegnete Ashitaka, und jetzt klang er sogar noch ein bisschen kälter. „Jeder soll sich um seine eigene Motivation kümmern. Ich bin Samurai und kein… Geistesheiler.“

Yukita kratzte sich am Kopf.

„Ich kenne die Regeln eigentlich… aber ich kann mich nicht erinnern, dass da irgendwo drinstand, dass ein Samurai gucken muss, als sei er gerade gestorben.“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Aber ich würde mir nie anmaßen, Euch Ratschläge zu erteilen.“

Lächelnd machte er sich daran, den letzten Rest seiner Suppe zu verspeisen.

„Ebenso wenig steht dort etwas von verpflichtendem Dauergrinsen. Und von mir aus könnt Ihr mir Ratschläge erteilen, solange dahinter nur ein Minimum an Logik zu erkennen ist.“ Er wandte sich ebenfalls seiner Suppe zu, um den letzten Rest davon zu verzehren. „Jeder begegnet der Welt auf seine Weise. Belassen wir es dabei.“

„Ich rede auch nicht vom Dauergrinsen“, murmelte Yukita und klang dabei ein bisschen schmollend. „Und da war eigentlich Logik dahinter.“ Dann sprach er wieder lauter weiter: „Gibt es denn nichts, was Euch ein wenig aufheitern kann?“

„Wer sagt, dass man mich aufheitern muss? Ich kann mich nicht daran erinnern, darum gebeten zu haben.“ Mit einem leisen Grummeln schob er seine Schüssel beiseite. „Außerdem seid Ihr sowieso nicht in der Lage, dies zu tun“, fügte er sehr viel leiser hinzu.

Yukita sah den Vizekommandanten verwirrt an.

„Warum sollte ich nicht dazu in der Lage sein? Sagt mir doch erst mal, was, dann sage ich Euch, ob ich es kann.“ Sein Lächeln wurde ein bisschen breiter. „Versteht mich nicht falsch, es ist nicht so, dass ich gar nichts zu tun habe, aber Ihr seht immer so miesepetrig drein.“

Er stützte seine Ellbogen auf den Tisch, verschränkte die Finger und stützte den Kopf darauf. Ashitaka sah ihn an, als ob er einen Moment lang wirklich darüber nachdenken würde.

„Ja gut“, sagte er dann, „da gäbe es zwei Möglichkeiten. Natürlich könntet Ihr mir helfen. Und zwar, wenn Ihr entweder Wunder vollbringen oder die Zeit zurückdrehen könnt.“ Ganz kurz presste Ashitaka sein Lippen etwas fester aufeinander, nur um danach noch ein bisschen finsterer dreinzublicken. „Wie ich aussehe und wie nicht, ist meine Sorge. Es hat mir jedenfalls noch nie geschadet.“

Einen Moment lang starrte Yukita den Vizekommandanten an.

„Bitte“, sagte er dann. Plötzlich lächelte er nicht mehr, sondern sah sogar ziemlich kühl aus. Und das nicht ohne Grund. Auch seine Geduld hatte ihre Grenzen, und diese waren genau in diesem Augenblick sogar ziemlich rücksichtslos überschritten worden. „Dann eben nicht. Ich muss Euch enttäuschen, ich kann weder das eine noch das andere, aber scheinbar ist es sowieso vergebene Mühe, Euch irgendwie einen Gefallen tun zu wollen.“ Er stand auf und legte zwei Münzen auf den Tisch. „Meinetwegen versinkt für den Rest Eures Lebens in schlechter Laune.“

Dann wandte er sich um und verließ den dämmrigen Raum.
 

Yukita schlenderte ziellos durch Ghariths verwinkelte Gassen, und plötzlich kamen sie ihm furchtbar dunkel vor. Noch viel dunkler als sonst. Er fühlte sich traurig und unverstanden, aber natürlich schenkte er jedem Menschen, dem er begegnete, ein ebenso fröhliches wie freundliches Lächeln. Wie immer. Yukita hielt erst an, als sich das Labyrinth aus Mauern, vorspringenden Dächern, Fenstern und Schiebetüren, aus noch lichtlosen Lampions und Laternen auftat und den Blick auf einen Park freigab, der wie eine Lichtung in einem Wald aus Holz und Stein lag.

Wie die meisten Parks in Gharith, allen voran natürlich der riesige Schlossgarten, war dieses bunte Kunstwerk aber nur auf den ersten Blick ein kleiner Fleck Natur inmitten der Großstadt. Tatsächlich war auch in diesem Garten nichts dem Zufall oder den Launen der Natur überlassen worden. Es war ein bewegtes Gemälde, mit geschwungenen Steinpfaden zwischen perfekt aufeinander abgestimmten Farbenspielen des kurzen, intensiv grünen Grases, der Bäume und der Blumen. Zwischen diesen zarten, fragilen Pflanzen floss ein Bach über steinerne Treppchen hinab in einen See, gesäumt von Weiden, niedrigen Hügeln aus perfekt gestutzten Büschen und tiefrotem Ahorn.

Yukita überquerte eine kunstvoll gearbeitete Holzbrücke, die über diesen Bach führte, dann ließ er sich auf einer Bank am Ufer nieder und betrachtete das Wasser, das an ihm vorbeifloss. Er saß einfach nur da und starrte vor sich hin, bis er unweit von sich ein Geräusch hörte. Dann stand er wieder auf. Der Park war groß genug, um niemandem begegnen zu müssen, und Yukita sehnte sich nach ein bisschen, nur ein bisschen Ruhe und Einsamkeit.

Dann aber sah er, dass es niemand anderes als Ashitaka war, der sich offenbar ebenfalls in diesen Park verirrt hatte. Yukita glaubte nicht, dass der Vizekommandant ihm hierher gefolgt war. Er schien von seiner Gegenwart auch noch nichts bemerkt zu haben. Mit einem immer noch unglaublich finsteren, aber gleichzeitig irgendwie… abwesenden Blick trat er neben ein kleineres Blumenbeet. Kamelien, ging es Yukita durch den Kopf. Schon wieder. Ashitaka ging neben dem Beet in die Knie, pflückte eine der scharlachroten Blüten und fixierte sie mit starrem Blick. Es war eine absurde Szenerie. Yukita betrachtete sie – betrachtete Ashitaka einen Moment lang. Dann ging er hinunter zum Wasser. Ließ sich dort am Ufer nieder. Und blickte noch einmal in den lebendig plätschernden, klaren Strom.

Wie aus weiter Ferne hörte er eine Stimme, die er zwar kannte, aber nicht sofort erkannte.

„So in Gedanken versunken? Kennt man gar nicht von Euch.“

Jin-Roh, natürlich. Aber er sprach überhaupt nicht mit ihm, sondern mit… ach, wahrscheinlich mit Ashitaka, sonst war hier ja niemand. Und schon im nächsten Augenblick dachte Yukita auch überhaupt nicht mehr darüber nach, sondern wandte den Blick vom Wasser ab und seinen Händen zu. Plötzlich fing sein ganzer Körper an zu zittern, und jeder einzelne Zentimeter davon fühlte sich furchtbar schmutzig an. Yukita presste seine Lippen fest aufeinander.

Dann drückte er mit einem Ruck beide Oberarme und den Kopf in den klar dahinfließenden Bach.
 

Ende des ersten Kapitels



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