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Das Opfer

von

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Die Gefängniszelle war dunkel und muffig. Man hatte der Gefangenen eine Kerze gebracht, damit sie in ihrer letzten Nacht ein Licht habe, zum Beten. In der Feuchtigkeit des Raums aber war die Flamme nahezu erloschen. Draußen hörte man schon die Henkersknechte umhereilen, während sie

alles für die bevorstehende Hinrichtung vorbereiteten. Diese Geräusche weckten in dem Mädchen, das in einer Ecke auf einem Häufchen verfaulenden Strohs lag, noch einmal einen letzten Widerstand. Sie erhob sich auf ihre von der Folter zerschundenen Beine, deren Knochen gesplittert und zermahlen waren, taumelte an die Wand und schlug mit ihren entstellten Händen dagegen. Die Fingernägel

hatte man zum Teil herausgerissen, so dass das rohe Fleisch an den Fingerspitzen herausschaute. Tränen liefen ihr über die verdreckten Wangen, das verfilzte Haar bedeckte fast ihr ganzes Gesicht. "Lasst mich raus! ich will leben LEBEN!" krächzte sie, aber obwohl sie ihre ganze Kraft aufwand, war ihre heisere Stimme kaum zu hören. "Ich will nach Hause!" schluchzte sie und verbarg das Gesicht in den vor Schmerz gekrümmten Händen. Sie war einmal ein recht hübsches sechzehnjähriges Mädchen gewesen, das mit seinen Eltern auf einem kleinen aber schmucken Hof lebte. Ihre Mutter hatte gerade einen Sohn geboren und die ältere Tochter hatte die Zeit, in der sie nicht die Arbeit der geschwächten Frau übernahm, oft im Wald verbracht, um Pilze und Beeren zu sammeln und etwas Ruhe zu haben. auf einem dieser Spaziergänge hatte sie das Kind gefunden. Es war ein nackter Knabe gewesen, halb verborgen im Gebüsch, zart und klein für einen Säugling, aber ansonsten genauso wie der kleine Bruder in der Wiege. Bis auf einen Unterschied: der kleine Bruder lachte und schrie und fuchtelte mit den Fäusten. Er war weich und warm. Dieses Kind war tot. Entsetzt hatte sie den Leichnam aufgehoben und hätte ihn fast wieder fallengelassen, als sie bemerkte, dass jemand die Ohren des Babys abgetrennt hatte. Wer konnte einen Säugling töten und ihn dann auch noch so schänden? Sie war starr vor Abscheu. Auf der runden Stirn waren rote Male zu sehen, hinterlassen von einer groben Hand, welche das Köpfchen gepackt und unsanft nach hinten gebogen hatte, um das Genick zu brechen. "Nein! Nein!" flüsterte sie. So etwas durfte keinem Kind geschehen. Ob es wohl schon getauft war? Der Pfarrer wäre auf jeden Fall nicht bereit, ein fremdes, womöglich ungetauftes Kind in heiliger Erde bestatten zu lassen. Das Mädchen ergriff eine der kleinen Hände. Erschrocken fuhr sie zurück: An der Hand fehlte der kleine Finger! Auch am anderen Händchen, wie an beiden Füßen konnte sie keine entdecken. War das Kind ein Krüppel gewesen? Aber so sehr sie den Körper auch untersuchte: Bis auf die fehlenden Finger und Zehen, war das Kind gesund. "Wer immer dir das angetan hat, ich werde ihn finden!" schwor sie leise, legte das Baby ins Gebüsch zurück und deckte es mit Zweigen und Laub notdürftig zu. Als sie den Waldboden absuchte, berührte sie mit der Hand etwas hartes, glattes unter einer Moosschicht. Sie zog es hervor: ein Messer, unwahrscheinlich kunstvoll, mit geschnitztem Griff und voller Blut. Als sie die Schnitzereien näher betrachtete, fiel ihr ein Zeichen ins Auge: . Sie kannte es: Johann der Messerschmied im Dorf pflegte seine Waren damit zu markieren. Das Schicksal spielte ihr also in die Hände. So schnell sie konnte eilte sie ins Dorf, zur Schmiede und fragte atemlos nach Johann. Dessen Frau zeigte etwas mürrisch auf den Stall, wo der Schmied anscheinend gerade beschäftigt war. Er fütterte ein paar Hühner, als Das Mädchen hereinkam. "Hallo, Marjanne! Sind eure Messer schon wieder stumpf? Oder braucht dein Vater eine neue Rasierklinge?" fragte er freundlich. "Nein, ich habe eine andere frage: Ich habe ein Messer gefunden, auf dem euer Kürzel steht und möchte es dem Besitzer zurückgeben. Es sieht wertvoll aus!" antwortete sie. "Alle meine Messer sind wertvoll, meine Liebe. Aber zeig einmal her, ob ich mich erinnere..." lächelte Johann. "Herrgott!" entfuhr es ihm, "Da ist ja Blut an der Klinge! Was hat das zu bedeuten!" Marjanne wand sich verlegen und suchte nach einer Ausrede. Ihr Blick fiel auf die Hühner am Boden. "Mit diesem Messer ist eine unserer Hennen geschlachtet worden und ich will den Dieb zur Rede stellen! Sagt, erinnert Ihr euch an den Käufer?" drängte sie. "Ja, ich erinnere mich. Aber ich bezweifle, dass der Herr eure Henne geschlachtet hat. Es war ein ganz feiner, hoch zu Ross. Er hatte einen Diener dabei. Ein etwas tumber Bursche, schien mir, aber breit wie ein Ochse. der schafft sicher einiges. Ein gutes Jagdmesser verlangte der Herr, eines, um die Beute zu häuten, die Ohren abzuschneiden und all so etwas. " Marjanne zuckte zusammen. "Ich glaube eher, dass der Diener sich das Messer geschnappt und sich an eurer Henne gütlich getan hat. er sah aus wie einer, der seinen Herrn in kürzester Zeit arm frisst! Aber mit dem würde ich mich nicht anlegen, Kindchen. Die eine Henne könnt ihr verkraften und einen gebrochenen Hals ist sie sicher nicht wert!" warnte Johann. Marjanne bedankte sich und verließ den Stall. Ein feiner Herr also. Warum hatte er wohl das Kind getötet- oder war es der Diener gewesen? Wenn sich die beiden noch im Dorf aufhielten, dann mussten sie im Wirtshaus nächtigen! Sie würde ihre Freundin Angela, die Tochter des Wirts ausfragen. Sie fand Angela schnell in der Küche. "Angela, ich habe gehört, ein feiner Herr nächtigt bei euch?" fragte sie aufs Geratewohl. "Ein Herr?" die Andere überlegte, "Ja, seit gestern haben wir einen hohen Gast- aber der ist kein weltlicher Fürst!" verriet sie. "Kein weltlicher Fürst?" - "Nein, es ist ein Bischof, der den weltlichen Freuden nicht ganz abgeneigt ist, wenn du verstehst, was ich meine!" meinte Angela geheimnisvoll "Du hättest sehen sollen, wie der mir schöntut- da wird einem ja ganz anders! Sein Diener ist allerdings nicht so geschickt- er ist grob und ungehobelt!" plauderte die Freundin weiter. "Wie aufregend! Bei uns auf dem Hof haben wir nie so interessante Gäste!" tat Marjanne neidisch. Angela winkte geschmeichelt ab. Sie verabschiedeten sich voneinander und Marjanne machte Pläne, wie sie sich in des Herren Zimmer schleichen könne. Wenn sie sich als leichtes Mädchen ausgab, wäre der Bischof gewiss nicht abgeneigt und sie könnte ihn dann mit der Wahrheit konfrontieren. Also schlich sie sich durch die Küche, an der Freundin vorbei, zu den oberen Räumen. Sie wusste, dass der Wirt vornehmen Gästen stets das Zimmer am Ende des Gangs zuwies, weil es das angenehmste und ruhigste war. Hoffentlich hatte der Herr das Zimmer nicht abgeschlossen. Sie hatte Glück: die Tür war nicht verriegelt und sie gelangte leicht in den leeren Raum. Hier sah sie sich erst einmal um. Viele Bücher lagen aufgestapelt auf einer Kommode. Neugierig nahm sie eines in die Hand und schlug es auf. Sie konnte nicht sehr gut lesen, aber der Dorfpfarrer, dessen besonderer Liebling sie war, hatte sich lange damit beschäftigt, sie das Alphabet zu lehren. Auch des Lateinischen war sie ein wenig mächtig. Das Buch war voller Illustrationen von vierfingrigen, spitzohrigen Dämonen, welche sich durch die Lüfte schwangen, oder auf unheimlichen Kreaturen ritten. Zudem waren diese Bilder mit Texten versehen, welche von den Gräueltaten dieser Wesen berichteten. War das tote Kind einer dieser Dämonen gewesen? Konnte ein unschuldiger Säugling, der so menschlich aussah, so böse sein, wie es dieses Werk verkündete? Sie hörte Schritte und legte das Buch an seinen alten Platz. Als der Bischof ins Zimmer trat, knöpfte sie sich die Bluse ein wenig auf. "Was hast du in meinem Zimmer zu suchen, Bastard? Mach dass du verschwindest!" wütete er. "Ich dachte, wenn Euer Ehren nachts so schrecklich allein sind, könnten Euer Ehren vielleicht jemand brauchen, der Euer Ehren die Zeit und die Kälte vertreibt?" kokettierte Marjanne. Der Geistliche war sichtlich nicht abgeneigt, blieb jedoch misstrauisch: "Wer hat dich hereingelassen?" Das Mädchen lachte "Ich selbst, Euer Ehren!". "Nun ja, dann wollen wir doch zunächst einmal die Tür verriegeln, damit nicht noch mehr von deiner Sorte hereinkommen!" schmunzelte der Bischof, wohl im Gedenken an die bald folgenden Freuden. Marjanne war sich nicht sicher, wie sie weiter vorgehen sollte, wie sie den Bischof zu einem Geständnis bringen sollte, ohne gleich sein Mißtrauen zu wecken. Schließlich sah sie ihn ein wenig schelmisch-verlegen von unten her an, wie ein Kind, das etwas verbotenes getan hat. "Herr, ich habe ein bisschen in den Büchern dort geblättert," Sie streckte die Hand aus, "Ich kann ja nicht lesen, aber diese Bilder sind so furchterregend. Was für Wesen stellen sie dar?" fragte sie. Der Mann lächelte überlegen. "Dämonen, mein Kind. Sie sind gottlose, gefährliche Wesen, die dem Teufel dienen und seiner bösen Kräfte mächtig sind." Marjanne schrak zurück und sperrte erschrocken die Augen auf. "Muss man denn wirklich solche Angst vor ihnen haben? Ich meine..." Sie sah sich verstohlen um, "Könnte man ihnen hier irgendwo begegnen?" Diesmal lachte der Bischof laut heraus. "Pass nur auf, mein Mädchen, sonst erwischen sie dich und rauben dir deine kleine Seele, sofern du noch eine hast, Hure!" Dabei begrapschte er sie grob. Diese Worte zu hören tat fast ebenso weh, wie seine unsanfte Berührung, dennoch fiel sie nicht aus ihrer Rolle. "Aber ein Kirchenmann wie Ihr könnt doch bestimmt etwas gegen sie tun, Euer Ehren?" Jetzt wurde er wieder ernst. "Ja, wo immer sie mir begegnen, rotte ich sie aus, diese verfluchte Brut, die aus dem Sturm und dem Schwefelfeuer der Hölle geboren wird, wie alles Widernatürliche. Ich habe mein Leben in diesen Dienst gestellt. Auch wenn niemand mir glaubt, werde ich allein sie alle besiegen. In dem Gewand eines Kirchenbeauftragten, kann ich handeln, ohne erkannt zu werden. Seit ich die alten Aufzeichnungen gefunden habe, weiß ich: Ich bin der Rächer, der dazu bestimmt ist, sie zu vernichten!" Er hatte sich in Rage geredet und achtete nicht mehr auf seine Worte. Marjanne dagegen stand wie erstarrt, der Mensch dort erschien ihr wie ein Besessener, ein Wahnsinniger, der Tollbeeren gegessen hatte und immer weniger konnte sie seiner Geschichte über die gottlosen Dämonen Glauben schenken. Sich das Bild des so grauenvoll verstümmelten Säuglings ins Gedächtnis zu rufen, reichte aus, um auch bei ihr einen Schwall von Emotionen hervorbrechen zu lassen und erfüllt von Abscheu und Hass spuckte sie ihm die Anschuldigung entgegen, die das Schrecklichste bedeutete dessen ein Mensch fähig war: "Mörder! Verdammter Mörder!" In dem Moment, in dem sie die Worte gesprochen hatte, wusste sie, dass es ihr eigenes Todesurteil gewesen war, das sie da herausgeschrieen hatte. Ihr Gegenüber erstarrte. "Was sagst du da, redest du wirr, kleine Hure?" meinte er verächtlich und mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. Seine Überheblichkeit machte sie noch wütender und ließ sie abermals alle Vorsicht vergessen. "Vor Gott werdet Ihr euch rechtfertigen müssen, auch wenn ihr hier auf Erden ewig lügen könnt. Mir könnt ihr nichts vormachen, ich habe das tote, geschändete Kind gefunden und ich habe auch einen Beweis: Euer Jagdmesser, mit welchem dem Säugling die Ohren abgetrennt wurden!" rief sie hitzig und zog das Beweisstück hervor. Als der kalte Blick des Bischofs sie traf, schwand ihr Mut. "Dummes Kind! Dummes, dummes kleines Mädchen! Hättest du dich nur schön brav weiter für fremde Männer ausgezogen und nicht mir nachspioniert, dann hättest du dein Leben nicht verspielt. Keine Angst, ich werde nicht selbst Hand an dich legen: das erledigt die Kirche für mich!" Wie ein gehetztes Tier, das von den Jägern in die Enge getrieben wurde, sah sich Marjanne um. Sie hatte keine Möglichkeit zu entkommen: Durch die Tür zu fliehen war unmöglich, da sie verriegelt war, und das Fenster war zu weit entfernt. Außerdem wäre ein Sprung in die Tiefe nichts als Selbstmord gewesen. Aber war solch ein Tod nicht gnädiger, als der, den sie zu erwarten hatte, wenn der Bischof sie bestrafte? Nein, denn Selbstmörder kamen nicht in den Himmel, sie wurden verachtet und ihr Grab bespuckt. Wählte sie den anderen Weg, bliebe ihr wenigstens noch die Liebe Gottes... und ihrer Familie. "Wir sind alle Geschöpfe Gottes, auch das unschuldige Kind, das Ihr getötet habt!" murmelte sie und sah ihm fest in die Augen. Er lachte auf und trat auf sie zu, sie blieb unbeweglich vor Angst und verzweifeltem Mut stehen. Mit einer für seinen Leibesumfang überraschenden Behändigkeit entwand er ihr das Messer, brachte sich damit selbst einen Schnitt am Unterarm bei und zerfetzte den Stoff am Ärmel seines kostbaren Gewandes. "Gunther! Zu deinem Herrn!" schrie er daraufhin. Sofort war sein Diener zur Stelle und brach die verschlossene Tür einfach auf. "Diese Hexe wollte mich töten, sie hat mich verletzt! Sorge dafür, dass sie nicht entkommt!" schrie der Bischof. Es war alles sehr schnell gegangen. Man hatte sie der heiligen Inquisition übergeben, gefoltert und zum Tod durch den Scheiterhaufen verurteilt. Schon kamen die Henkersknechte herein, zerrten sie durch die Tür nach draußen, wo es gerade dämmerte und luden sie auf einen wagen. von einer johlenden Menge begleitet, bespuckt und beschimpft, fuhr man sie auf den Platz, wo schon der Scheiterhaufen aufgetürmt war. Als man sie an den Pfahl in der Mitte band, drehte sich alles vor ihren Augen und sie verlor fast das Bewusstsein. Die Worte des Priesters drangen kaum an ihr Ohr.

Von den Dächern und Mauern aus beobachteten große, scharfe Augen das Geschehen. Die Ausgestoßenen waren machtlos. Sie wurden von der Kirche gnadenlos gejagt und selbst ihre Kinder wurden ermordet und verstümmelt. Daher war ein langgezogenes, unheimliches Heulen der letzte Tribut für das Opfer, das wegen seiner Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit unten auf dem Platz den Flammen übergeben wurde.



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