"Heimat" [III]
"Heimat"
(Kyouran - Ísvængur: Szenario 3)
Im Dämmerlicht des schwindenden Tages entscheidet sich die Schlacht, doch Gewinnern wie Verlierern präsentiert sich dasselbe Bild; Zerstörung, Tod und Verzweiflung ertrinken an manchen Stellen knöchelhoch im Blut.
Die verheerenden Konsequenzen dieses Krieges hat niemand vorausgesehen, und selbst die, die sich als die Sieger bezeichnen können, haben verloren. Mancher seine Angehörigen oder gar das eigene Leben, andere ihren Verstand.
Es nieselt.
In ihm erhärtet sich die Vermutung, dass die Sonne an jenem Ort nie wieder scheinen wird. Nichts kann das Unrecht, das hier verübt wurde, jemals aufheben oder sühnen.
Unbewusst streichen seine Fingerkuppen über die glatte Oberfläche der Schwertscheide, in der eine Klinge, die tödliche Waffe, ruht, mit der er bereits unzählige Male mordete.
Ja, er bekennt sich schuldig im Angesicht seiner Gräueltaten, Reue verspürt er jedoch nicht. Ob ungerechtfertigt oder nicht, er war und ist noch immer von der Notwendigkeit seines Handelns fest überzeugt. Die Gerechtigkeit, die zweifelsohne nicht dahinter steht, ist zweitrangig.
Alles für den Clan, alles für seine Blutlinie…
Unlängst haben seine Knochen wieder zu schmerzen begonnen, denn den Wechsel zwischen den warmen Gefilden des Westens und den nasskalten Regionen im Osten belastet seinen Organismus schwerer als ihm lieb ist.
Seufzend legt er den Kopf in den Nacken und blickt zum von schiefergrauen Wolken verhangenen Himmel auf.
Er muss aufs Festland zurückkehren, schon bald, aber sein gesamtes Wesen sträubt sich gegen diesen Gedanken.
„Ísvængur.“
Obwohl er sich der Präsenz des Wasserdrachen durchaus bewusst gewesen ist, zuckt er unwillkürlich zusammen.
Wirklich, er muss sich ausruhen.
„Was willst du hier?“
Trotz dem beträchtlichen Schwanken seiner Stimme, stellt sich der ärgerliche, nahezu drohende Unterton überdeutlich heraus.
Die Wasserdrachen haben ihre Verbündeten im Stich gelassen, mitten im Gefecht, ohne ersichtlichen Anlass.
Kyouran kann sich glücklich schätzen, ihn in einem solch miserablen Zustand vorzufinden; anderenfalls hätte er nicht gezögert, ihn auf der Stelle ins Jenseits zu schicken, auf die brutalste Art und Weise, die ihm gerade in den Sinn gekommen wäre.
„Mich bedanken, dafür, dass du bei mir warst, und mich entschuldigen, dafür, dass mein Clan nicht ebenso entschieden hat.
Allerdings kann ich mich unmöglich gegen meinen Vater sperren…“
Eine vage Gestik des Luftdrachen gebietet ihm zu schweigen, und er gehorcht.
„Wieso?“
Gesenkten Hauptes verweilt der Wasserdrache in seiner demütigen, leicht beschämten Haltung.
Die angespannte Atmosphäre zehrt an seinen Nerven.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich verstehe es nicht…“
Ísvængur schließt die Augen, verzichtet geflissentlich auf eine Erwiderung.
„Wir werden uns nicht wieder sehen, oder?“
Zu spät bemerkt er, dass er laut gedacht hat. Eigentlich möchte er keine Antwort.
„Nein.“
Dies ist ihr letztes Aufeinandertreffen, und die Gewissheit bezüglich der Endgültigkeit dieses Umstandes betrübt und erzürnt Kyouran gleichermaßen.
Doch er ist machtlos, und obwohl er es niemals akzeptieren wird, kann er dem nicht alternierend entgegen wirken.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Mit einem Mal fühlt er sich so einsam, verlassen.
Der Ursprung der Pein, die nunmehr seine Seele quält, liegt in seinem Herzen – nur verwehrt er der Wahrheit noch immer das Recht, sich manifest in seinem Verstand zu äußern.
Und auch das ist eine Form der Verzweiflung.
„Mach was du willst.“
Vorsichtigen Schrittes nähert er sich dem distanzierten Luftdrachen, dessen Kleidung sich an den sichtbaren Stellen mit Wasser voll gesogen hat.
Zusätzlich fallen ihm die mäßig verzerrten Gesichtszüge auf.
„Bitte, hasse mich nicht für etwas, das ich nicht zu verantworten habe…“
Seine Schulter streift versehentlich die des anderen.
„Hn.“
Kyourans Puls beginnt zu rasen, als er die Bewegung des kaum älteren Drachen spürt, der sich zaghaft an ihn lehnt.
Er schluckt, lässt sich seine Verwirrung dennoch nicht anmerken.
„Wie ist es dort im Westen, auf dem Festland?“
Ja, er beabsichtigt sich abzulenken, er stuft die Lage – für sich – als äußerst heikel ein.
Außerdem interessiert ihn Ísvængurs Herkunft wirklich.
„Mild, und die Winde sind weicher.
Am schönsten ist es, wenn die Zitronen und Orangen blühen; ihr Geruch hat etwas Besonderes an sich…“
Eine verräterische Röte färbt die Wangen des Jüngeren, als sich die rechte Hand seines Gesprächspartners in seine linke stiehlt.
„Klingt traumhaft.“
Verbissen zwingt er sich zur Ruhe.
Sein dümmlicher Kommentar ist ihm augenblicklich peinlich.
„Mag sein.
Aber mir bekommt die Wärme nicht, das Blut meiner Vorfahren, das durch meine Adern fließt, stammt hierher, aus dem Norden, und das ist meine eigentliche Heimat.“
Mit einem Mal kommt ihm der Luftdrache wesentlich älter vor, als er ist, seine tatsächliche Jugend zerstäubt und verweht, wie Asche im Wind.
Er ist nicht glücklich, sein Leben bereitet ihm Kummer.
Zum Leidwesen des Wasserdrachen steht ihm nicht die Möglichkeit offen, eine tröstende Position einzunehmen, dafür kennt er ihn nicht gut genug.
Die Hilflosigkeit übermannt ihn, und seine einzige aktive Handlung besteht darin, zögerlich den Arm um den erschöpften Jungdrachen aus dem Westen zu legen.
Und warum erzählt er ihm das überhaupt?
Vertraut er ihm? Oder ist es lediglich ein stummer Hilfeschrei, den er frei, ungerichtet artikulierte?
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[Anm. der Autorin]
Na, jetzt ist wohl offensichtlich, wo Ísvængur mit dem Westclan lebt.
Ist natürlich kein Zufall, dass ich teilweise Goethe zitiere, wobei ich die ausschlaggebende Zeile nicht einmal einbinden konnte ("In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut").
Viel mehr gibt es nicht zu sagen, ich hoffe, der Dreiteiler hat euch gefallen!