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Seelensplitter

Rufe aus der Vergangenheit
von

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"Vergessen"

"Vergessen"
 

(Flúgar - Hríðarbylur)
 

„Sieh es dir gut an, Flúgar.“
 

Lediglich für einen kurzen Moment streift der Blick des Loftsdreki den kühlen Ausdruck des Kindes, das in teilnahmsloser Haltung neben ihm steht, die farblosen Augen ins Nichts gerichtet.
 

„Wieso?“
 

Die Stimme des jüngeren Drachen ist emotionslos, kalt – die Frage zeugt von Unverständnis und Desinteresse.

Im Grunde möchte er keine Antwort, denn seine Erwiderung basiert auf reiner Höflichkeit und dem tiefen Respekt, den er dem Älteren gegenüber empfindet.
 

„Wenn du das nächste Mal hierher kommst, wird alles anders sein. Diese Welt verändert sich rasch, dir mag es wie ein einzelner Atemzug erscheinen, jedes andere Wesen durchlebt derweil eine Ewigkeit.“
 

Das Kind merkt nicht, dass seine Miene vage ins Nachdenklich abdriftet, es den Kopf währenddessen leicht zur Seite neigt.

Es ergab keinen Sinn, sich an etwas zu erinnern, dass kurzerhand ohnehin nicht mehr in dieser Form existierte. Wozu also der unnötige Aufwand, es sich einzuprägen?

Langsam schüttelt er den Kopf.
 

„Ich verlange nicht, dass du es verstehst. Noch nicht. Aber vergiss es nicht.“
 

Unwillkürlich umspielt ein sachtes Lächeln die Lippen des Drachen, der bereits Jahrhunderte überdauerte. Er ist der letzte aus der alten Generation und erlebte bereits einiges – sein Enkel schafft es dennoch, ihm eine deutliche Gefühlsregung zu entlocken.

Der stoische Charakter des Jungen amüsiert ihn, er erkennt sich selbst in ihm wieder. Nicht nur sein Äußeres entspricht dem ursprünglichen, nordischen Typus seiner Sippe, sondern vor allem sein einfacher Charakter zeigt die edle Abstammung. Möglicherweise trägt er ein Vielfaches mehr des Clanerbes in sich als sein Vater.
 

„Das werde ich nicht.“
 

Natürlich nicht.

Behutsam legt er dem Jungdrachen die linke Hand auf den Kopf, vergräbt die Finger in den samtweichen Strähnen seines beinahe gänzlich weißen Schopfes.

Doch auch jene liebevolle Geste bewegt den Jüngeren nicht zur Reaktion, er verharrt in seiner abwesenden Position, und lässt die Liebkosung über sich ergehen; für einen Augenblick versteifen sich seine Schultern, doch das ist alles.

Eine Erwiderung bleibt gleichermaßen aus.

Ja, führwahr, das Kind ist sonderbar, jedoch stört ihn das nicht. Emotionen eignen sich nicht für Drachen.
 

„Du bist ein guter Junge, Flúgar.“
 

Abrupt entzieht sich der Angesprochene der Berührung, seine Züge werden von bitteren Schatten überlagert, sodass er älter aussieht, als er wahrhaft ist.
 

„Nein…“
 

Gewöhnlich widerspricht er nicht, gleichgültig, wie sehr ihm ein Umstand missfallen sollte, aber diese Aussage ist anders, und trotz ihrer aufrichtigen Bedeutung wiegt sie schwerer.

Angesichts dessen schmerzt es ihn, dass er manchmal glaubt, das Kind mehr zu lieben als seinen eigenen Sohn. Dennoch ist es wahr und nicht zu bestreiten.

Súnnanvindur trägt große Verantwortung, was den Fortbestand des Clans betrifft, und er weiß das – ob das ausreichen wird, um seine Aufgabe als zukünftiges Oberhaupt erfolgreich wahrzunehmen, steht in den Sternen.

Er verlässt sich zu sehr auf andere, bemüht sich um verbale Auseinandersetzungen; zuweilen vermeint er einen Menschen vor sich sitzen zu sehen, mit ihm sprechen zu hören. Und das erbost ihn, es ist verdrießlich.

Der animalische Bestandteil seines Egos ist ihm offenbar in den Jahren nach dem Tod seines älteren Bruders abhanden gekommen.

In Flúgar hingegen ist sie umso stärker ausgeprägt, sein Potenzial nahezu beängstigend.
 

„Halte Bitterkeit und Hass von deinem Herzen fern, sonst verlierst du dich selbst.“
 

Demütig neigt der Junge den Kopf, er bereut seine Unhöflichkeit.
 

„Verstanden.“
 

Letztendlich tritt das Schweigen ein, das sich das Kind so ersehnte, und es entspannt sich.

Neutralität beherrscht die stumme Atmosphäre, und während der Altdrache die Augen geschlossen hält und in Konzentration versinkt, beobachtet sein Enkel wachen Blickes die Umgebung.

Er tut, was man ihm befiehlt, er ist gehorsam. Zumindest seinem Großvater gegenüber.

Das Felsplateau auf dem sie sich befinden, ist karg, lebensfeindlich, doch der Ausblick ist überwältigend. Ringsum, wohin man auch schaut, eröffnen sich lichte Mischwälder dem Auge des Betrachters.

Sanft streichelt die milde Brise die blassen Wangen des Jungens, verfängt sich in seinem Haar und verschwindet leise raschelnd zwischen dem ausgedehnten Blätterdach des ozeangleichen Waldes.

Mit all seinen Sinnen nimmt er die Wildnis um sich herum wahr, versucht jeden Eindruck akribisch zu erfassen und in sein Gedächtnis einzuordnen. Er wird es nicht vergessen, er hat es versprochen.
 

Am Himmel wandert die Sonne, ihrem vorbestimmten Lauf folgend, in Richtung des Horizonts, und schickt ihre letzten Strahlen auf die Erde. Wie ein fein gewobener Orientteppich erstreckt sich der nun in rote und goldene Lichtmuster getauchte Wald vor den beiden Drachen – von Interesse ist es für sie allerdings nicht.

Dieser Ort wird sich verändern, bald schon, und wird nie wieder so aussehen wie jetzt. Es hat einen Sinn sich daran zu erinnern, wie es einstmals war. Werte und Traditionen liegen immer in der Vergangenheit verwurzelt, und nur der, der dem Vergangenen gedenkt, wird sie bewahren können.

Der Jungdrache wird die Lektion begreifen, wenn er älter ist, er wird sich an die Worte seines Großvaters erinnern.

Das ist die Gabe der Drachen: Sie werden es nicht vergessen.
 

***---***---***
 

[Anm. der Autorin]

Ich wollte schon seit Ewigkeiten etwas über die beiden schreiben, und ich muss zugeben, dass es mir sehr leicht von der Hand gegangen ist und mir dabei noch unheimlich gut gefällt.

Flúgar und sein Großvater sind sich so verdammt ähnlich, was die Grundzüge ihres Charakters, kleine Eigenarten und das Aussehen betrifft, allerdings sind sie in ihrer Entwicklung und ihrem Sein vollkommen verschieden - das macht es so reizvoll, über sie zu schreiben.
 

Ich will euch nicht mit meinem Geschwafel langweilen.^-^



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Lizard
2007-07-16T15:23:15+00:00 16.07.2007 17:23
Woah, diese One shots sind so toll... es ist allerdings nicht ganz leicht sich darauf einzulassen, man sollte den Text am besten mindestens zweimal lesen, damit man in die Stimmung hineinfinden kann, alles erfassen kann. Doch dann ist es wunderschön.
Dieser One shot gefällt mir von den bisherigen fünf am besten, er berührt mich am stärksten. Hauptsächlich wegen dem Thema Erinnern und Vergessen. Das hat mich irgendwie sehr beeindruckt.
Und mir gefällt Flugars Großvater.
Flugar selbst, hmm, ich weiß nicht, seltsamerweise tat er mir irgendwie extrem leid, ein typisches Kind war er offensichtlich nie und genau wie sein Vater scheint er ein schweres Erbe zu tragen, das macht aus beiden tragische Figuren. Schade, dass beide im Zeitbogen von SA die Führung des Ältesten verloren haben. Wie ist Flugars Großvater eigentlich gestorben? Wurde das mal in SA erwähnt? (Kann mich nicht mehr erinnern, würde mich aber nach diesem One Shot brennend interessieren)
Von:  Carcajou
2007-06-21T10:10:01+00:00 21.06.2007 12:10
Ooooh, ich könnte jetzt so viel dazu schreiben...
Versuche, mich kurz zu fassen^^*
Die gesamte Szene wirkt gheimnisvoll, beinahe mystisch, man taucht regelrecht hinein in diese Situation-eigenartig, auf eine sehr positive Weise!
Der Großvater wirkt so unendlich weise, erhaben. Die Beziehung zwischen den Beiden ist wesentlich enger und verständnisvoller, als zwischen Vater und Sohn- auf beide Generationen gesehen. Flugars "Nein" ist so bitter, endgültig. die Differenzen zwischen ihm und Sunnanvindur scheinen schon zu diesem Zeitpunkt gravierend zu sein... nochmals, armer Flugar! Aber vielleicht leidet auch Sunnanvindur, weil er ja selbst mit seinem Vater nicht so gut zurecht kommt, und Flugar ihm so ähnelt... Stopp, jetzt komm ich ins Grübeln/Schwafeln.
Zusammengefasst: Eine faszinierende Atmosphäre,packend und melancholisch.
Ich liebe so was^^


Viele Grüße, Carcajou
Von: abgemeldet
2007-06-20T15:31:42+00:00 20.06.2007 17:31
Das war ja sehr geheimnissvoll, muss ich schon sagen.....
Aber das Flúgar schon in einem so frühen Alter sich widersetzt und so kalt ist.........

Er hatte bestimmt ne strenge Erziehnung oder???


24
Von:  Hotepneith
2007-06-20T14:31:15+00:00 20.06.2007 16:31
Hm. Es stimmt eigentlich. Warum soll man sich einen Eindruck merken, der doch bald wieder anders ist? Aber wenn man es sich eben nicht merkt, hat man gar keine Erinnerungen, kann also auch nicht lernen. Ein interessanter Zwiespalt.
Der Großvater ist ein interessanter Typ^^, auch, wenn ich seine Meinung über Reden sei nur etwas für Menschen nicht so ganz teilen kann.

Mach nur weiter

bye

hotep


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