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Der Bulle und der König

von

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Folge dem Geschrei

Zehn Tage waren seit Takashis Verhaftung vergangen und seitdem hatte Makoto ihn nicht mehr gesehen. Zwar packte ihn mehrmals täglich die Lust, ihn zu besuchen, aber es würde alles nur schwerer machen. Für Makoto. Takashi selbst war der Typ, der bei jedem Besuch ganz aus dem Häuschen war und hätte sich wohl sehr gefreut.
 

Nur heute hatte Makoto gerade nichts Besseres zu tun und beschloss, Takashi in dem Gefängnis zu besuchen, dem er eine Woche zuvor anvertraut/zugemutet wurde. Er hatte schon die wildesten Stories über die Prozeduren und Praktiken in diesem Gefängnis gehört und einer wie Takashi, der jeder noch so besonnen Person die Besinnung rauben konnte, war ein potentieller Kandidat für diverse Strafen und Schikanen. Wäre er nicht so bestialisch stark, wäre er wohl auch ein beliebtes Ventil. Wer vergreift sich nicht gern an solchen Schmachbräten, die allem Anschein nach schwul und obendrein ständig fröhlich sind.
 

Während er seine Dienstmarke und seinen Ausweis am Eingang vorlegte, stellte sich Makoto das Bild vor, wenn Takashi sich zum Pinkeln anstellen müsste. In Reih und Glied zu stehen, war vom G-Boys King viel zu viel verlangt. Wie lange es wohl dauern würde, bis man es entweder aufgab, ihn zum Geradestehen und auf drei zu pinkeln zu zwingen, oder aber bis Takashi beschließen würde, in den Mülleimer, oder in einem Akt feinster Akrobatik, aus dem Fenster zu pinkeln?
 

Einen Tag. Genau einen Tag sollte es dauern. Aber das konnte Makoto noch nicht wissen, als er den Gang des vierten Stocks entlang in Richtung Zelle vierhundertneunundzwanzig lief. In Krankenhäusern wurden die Zahlen vier, zweiundvierzig und neun bei Zimmernummern streng gemieden, weil ihnen negative Bedeutungen nachgesagt wurden. Bei einem Todeskandidaten wohl weniger dramatisch. Shi-ni-ku – tolerant übersetzt „leidend sterben“. Shiniku, shiniku, shiniku, die zahl wurde zum Rhythmus, einem Beat, zu dem er bei anderen Gelegenheiten vielleicht getanzt hätte.
 

Das Gebäude wirkte von innen sehr viel größer, als von außen. Dies lag vielleicht an den Galerien, in die das Innere des Gefängnisses eingeteilt war. Jedes der fünf Stockwerke war eine viereckige Galerie, von der aus man auf die anderen herab oder hinaufsehen konnte und in jedem der Stockwerke hörte man die Schritte der Leute auf den anderen auf dem Gitterrost, der einen soliden Boden ersetzte. Nur in den Zellen selbst war der Boden aus Beton. Im Stil glich das Gefängnis eher einem amerikanischen Gefängnis als einem Japanischen. Nur die Größe der Zellen war, typisch für japanische Gefängnisse, höchst bescheiden.
 

„MAKOTOOOO!!“

Er brauchte nicht länger die Zellennummern zu lesen, um zu wissen, wo er hinmusste. Als er seinen Namen zum zweiten Mal hörte, blieb er – und für einen kurzen Moment auch sein Herz – abrupt stehen. Wenn Takashi ihn bei seinem richtigen Namen nannte, ohne ein –chan anzuhängen, bedeutete das meist nichts Gutes. Das letzte Mal, dass Takashi ihn so genannt hatte, wirbelte er einen beinahe bewusstlosen Makoto durch die Gegend und deformierte sein Gesicht in einen rot-lila-schwarzen Klumpen. Wenn man das Endresultat mit irgendeinem externen Körperteil hätte vergleichen können, dann wohl eher mit einem allergiegeplagten Hodensack als mit einem Gesicht.
 

So langsam bewegte er sich eindeutig an den herkömmlichen Zellen vorbei und das Geschrei schien trotzdem nicht näher zu kommen. Hatte Takashi sich etwa im Klo eingeschlossen? Wobei so ein Missgeschick für Takashi längst kein Grund gewesen wäre, Makoto beim vollen Namen zu nennen. Dafür konnte Makoto doch auch nichts. Es dauerte etwas, bis Makoto die Essenz der Sache zu hinterfragen begann, nämlich: wie konnte Takashi überhaupt wissen, dass Makoto da war und ihn hören konnte?
 

Irgendwann kam ihm ein Wärter entgegen und Makoto beschloss, ihn nach dem Weg zu fragen.

“Ach, die Zelle ist zur Zeit leer. Er ist in der Hogobo-Zelle eingesperrt, folgen Sie dem Geschrei bis zum Ende des Ganges. Seien Sie vorsichtig, er ist gefährlich.“

‚Sagt einer, der offensichtlich noch keine von Takashis Launen abgekriegt hat,’ dachte Makoto sarkastisch und bedankte sich höflich für den Hinweis. Und was ist eigentlich eine Hogobo-Zelle? Er sollte es bald genug herausfinden, hing doch neben der zugehörigen Eisentür eine „Gebrauchsanweisung“. Laut dieser war dies eine Art Sicherheitszelle für Insassen, die eine Gefahr für sich und andere waren.
 

Er steckte den Schlüssel, den man ihm gegeben hatte, ins Schlüsselloch und machte sich auf eine Reihe von Schlägen und Tritten gefasst. Als Mann akzeptierte er die Wut und die Strafen, die ihm gebührten. Schließlich war er es gewesen, der Takashi verhaftet hatte. Er biss die Zähne zusammen, kniff die Augen zu und hoffte, dass es schnell vorbei sein würde.
 

Nichts kam. Als er die Augen wieder öffnete, sah Makoto in seiner ängstlich geduckten Haltung nur etwas Graues am Boden der dunklen Zelle, in der es nicht gerade angenehm roch. Er wollte das Licht anschalten, fand aber keinen Schalter. Als er die Tür hinter sich wieder öffnete und so Licht von außen hereinließ, musste er mit Schrecken feststellen, dass es nicht einmal eine Lampe gab. Stattdessen konnte er endlich die graue Gestalt auf dem Boden als Takashi identifizieren.
 

Oder das, was von ihm übrig war. Das einzige, das noch Farbe hatte, war sein hochrotes Gesicht, besonders die verheulten Augen. Er hatte in den zehn Tagen bereits sichtlich abgenommen und sein Haar konnte sich vor lauter Fett kaum noch aufrecht halten. Er war oben-ohne und trug nur eine graue Hose mit Schlitz zwischen den Beinen, der das Fehlen des Klos zu erklären schien. Um den Bauch trug er einen viel zu eng geschnallten Ledergurt, an den seine Hände, ebenfalls mit Ledergurten gefesselt, gebunden waren. Die für Takashi ungewöhnlich steife Haltung erklärten zwei Stahlringe im Boden, die seine Füße hinter ihm festhielten. Takashi mochte ja eine Gefahr für sich selbst und vor allem für andere sein, aber hätte es nicht gereicht, ihn in eine Einzelzelle zu stecken, wie es für Todeskandidaten ohnehin üblich war?
 

„GLOTZ NICHT UND HOL MICH HIER RAUS!!“

Makoto fuhr vor Schreck zusammen, als Takashis mittlerweile heisere Stimme die Stille zerriss. Der entthronte König fixierte seinen Freund und Henker mit roten, nassen Augen und wäre, wenn er gekonnt hätte, wohl auf ihn losgegangen.

„Wie,“ stotterte Makoto, um das glühendheiße Eis zu brechen, „Wie lange, ich meine, sitzt du hier schon... so?“

„RIECH MAL, DANN WEISSTES!“
 

Makoto verzog das Gesicht. Es roch nicht nur penetrant nach Schweiß, das bisschen Wasser, das Takashi zu trinken bekam, musste auch irgendwann wieder raus. Das letzte, was Makoto jetzt brauchte, war ein weiterer Grund, sich von Takashi fernzuhalten und diesen damit nur noch weiter auf die Palme zu bringen, aber schon als Kind fasste Makoto prinzipiell keine Hosenpinkler an. Und ehe er sich versah, hockte er sich vor Takashi und legte einen Arm um seine schlaffen Schultern. Takashi kippte ein Stück weit in Makotos Brust, gerade so weit, wie die Fußschellen und vor allem, die Pfütze auf dem Boden, ihn ließen. Und begann, bitterlich zu heulen. Makoto wusste nicht mehr, ob die Nässe in seinen Armen Schweiß oder Tränen waren, er wusste nur, dass seine Pose äußerst unbequem war und der Pissgeruch seine Nase stach.
 

Dank Takashis kontaktfreudiger Natur, konnte Makoto seine Gemütszustand anhand der Spannung in seinen Muskeln und dem Rhythmus seines Atems einschätzen. Allmählich wurden seine Muskeln schlaff, sein Atem ruhiger und langsamer. Er schien sich zu beruhigen. Sein Gesicht war noch immer glühend heiß, und das würde es wohl auch noch eine Weile bleiben. Takashi war ein geborener Hitzkopf, schlimmer noch, ein brodelnder Vulkan. Und auch, wenn Takashi ein verhältnismäßig kleiner, leichter Vulkan war, fiel es Makoto langsam schwer, das Gleichgewicht zu halten und er versuchte, Takashi sanft und ohne abweisend zu wirken, etwas nach hinten zu drücken. Was ein Fehler war. Ob er wollte oder nicht, Takashi schien es auch in gefesseltem Zustand nicht möglich zu sein, seine Körperteile allesamt bei sich zu behalten und seine Zähne hatten sich irgendwann heimlich in der Krawatte von Makotos Uniform verbissen und, wie zur Beruhigung, unbemerkt auf ihr herumgekaut. Und an genau dieser Krawatte zog er Makoto mit sich nach hinten weg; Makoto konnte gerade noch eine „Wasserlandung“ verhindern.
 

Nun lagen sie da. Die Krawatte hing schlaff zwischen Takashis Lippen, quer über ihm lag der viel schwerere Makoto und stöhnte über die „lästige“ Situation, in der er schon wieder war. Die Fußschellen waren dazu gemacht, den Gefangenen auf den Knien ausharren zu lassen und sogar der gelenkige Takashi empfand es so langsam als äußerst schmerzhaft, auf angewinkelten Beinen zu liegen.
 

„Geh runter,“ keuchte er schwach und bekam einen leichten Hustenanfall. Seine Kehle war trocken und rau, er hätte nicht so viel schreien sollen.

„Haben sie dir mal’n Arzt geschickt?“ fragte Makoto, während er sich von Takashi runterquälte und sich hinter ihm an die Wand setzte, schön weit weg von der feuchten Stelle am Boden.

„Was für’n Arzt denn,“ stöhnte Takashi müde und schien sich nicht wirklich zu scheren.

„Einen Psy... chologen... chiater... Du weißt schon, Seelenklempner.“

„Wozu? Weiß doch eh jeder, dass ich gaga im Kopf bin.“

„Ich hab mal mit Kazunori gesprochen, der meint, wenn die sehen, dass du wirklich unberechenbar bist, wirkt sich das straflindernd aus.“

„Unberechenbar, straflindernd? Seit wann das?“

„Ach, du weißt schon. Na ja, dass du halt nix dafür kannst und die dir nicht die Verantwortung geben können, für das was du tust.“

„Unzurechnungsfähig. Dein Wörterbuch hat sich schon immer auf ‚lästig’, ‚ätzend’ und ‚Hikaru’ beschränkt, Makoto.“

„Hikaru! Genau! Siehste, die haben sie nämlich auch nur in die Klapse gesteckt, anstatt in den Knast! Weil die auch diese Rechenschwäche hat! Irgendwie mit dem Tiger und dem Pferd.“
 

Takashis Körper zuckte kurz. War das ein Lachen?
 

„Jedenfalls,“ fuhr Makoto fort, „Wenn du einem Psychiater beweisen kannst, dass du krank bist und nichts dafür kannst, wenn du Leute zusammenschlägst, dann könnte man dir helfen. Jemanden, der bei einer Tat nicht von Geistern besessen war, kann man auch nicht dafür bestrafen, verstehst du?“

„Falsch,“ stöhnte Takashi, der immer noch in einer sehr unbequemen Haltung vor Makotos Füßen lag, „Nichts dafür können tut man eben, wenn man von Geistern besessen ist.“

„Hä?“

„Geistesgegenwärtig, mit ‚ä’. Damit ist der eigene Geist gemeint, keine Hirngespenster.“

„Gespinste.“

„Egal.“
 

Egal war auch aller guter Rat. Wo sollte Makoto innerhalb der nächsten sechs Monate, die Takashi vom Galgen trennten, einen Psychiater finden, der erstens vom Gericht ernstgenommen und zweitens für jemanden wie Takashi plädieren würde. Wer brauchte Takashi schon? In ganz Bukuro war er nur als Anführer einer dreihundert Mann starken Jugendbande bekannt, den jeder dritte Bürger gerne von der Bildfläche verschwinden sähe. Takashi mochte nicht so aussehen, aber seine Kontakte und sein Einfluss beschränkten sich nicht auf ein paar hundert jugendliche Nichtsnutze, auch die Yakuza kannte ihn. Welcher Arzt würde für jemanden wie Takashi seine Karriere riskieren?
 

„Ich komm gleich wieder.“

„Wohin gehst du?“
 

Eine Antwort bekam Takashi nicht, als Makoto ihn bei offener Tür zurückließ. An der „Rezeption“ angekommen, sprach er den Beamten an.

„Takashi Andoh, zur Zeit in der Hogobozelle, hat sich beruhigt und kann wieder in eine normale Zelle umgesiedelt werden.“

„Die zwei Wochen sind noch nicht vorbei,“ murmelte der Beamte desinteressiert und blätterte weiter in einem Magazin, das Makoto von sich aus nicht identifizieren konnte.

„Welche zwei Wochen? Hören sie, der ist völlig fertig, der kann gar nicht mehr rumtoben.“

„Machen’s doch grad, was Sie wollen,“ nuschelte der Mann und warf Makoto einen Schlüssel zu. „Tun’s ihn da rein.“

„Danke.“
 

Mit motziger Miene schlurfte Makoto zurück zur Hogobozelle. Was für Leute arbeiteten hier? War es so egal, was mit den Insassen passierte? Als er kam, war Makoto nicht einmal nach seinem Dienstausweis gefragt worden, er hatte ihn von sich aus vorgelegt. Er hätte genau so gut ein Cosplayer sein können, der mit Sprengstoff bewaffnet, einen Ausbruch organisieren kam. Was gar keine so schlechte Idee war. Doch erst einmal wollte er Takashi wieder auf die Beine helfen – buchstäblich.
 

Er merkte kaum, wie sich die einst kalten Fußschellen, die längst seine Körperwärme angenommen hatten, von seinen Knöcheln lösten. Auf wackligen Beinen stand er auf, wankte nach rechts, dann nach vorne, nach links und plumpste auf seinen dünnen Hintern.
 

„Mako-chan,“ kam es kleinlaut von unten.

„Was los?“

„Heute ist zwar kein offizieller Waschtag, aber wenn ein Polizist es anordnet?“

„Duschen? Gute Idee.“
 

Er war erniedrigend, der Weg zu den Duschen. Nicht alle Türen waren aus Eisen, es gab auch Gittertüren und durch diese, gafften andere Insassen Takashi an, wie er seinen Spießrutenlauf ablegte. Wie ein Tier im Zoo, trafen ihn die neugierigen Blicke, denen er schutzlos ausgeliefert war. Seine Hände waren zwar inzwischen wieder frei und ohne den Gurt konnte er auch endlich wieder richtig atmen, aber diese Hose...
 

Allmählich wurde die zellenlose Wand länger und der Duschraum kam in Sicht. Makoto konnte sich nicht erklären, wie jemand, der vor wenigen Minuten noch weinend am Boden lag, plötzlich immer kühler und lässiger zu werden schien. Er stolperte vor Schreck beinahe über seine eigenen Füße, als Takashi mit einem Kampfschrei – oder war es ein Freudenschrei – den Duschraum enterte, sich im Lauf die Hose vom Leib riss und sofort den nächsten Hahn aufdrehte.
 

„KALT!“

„Der mit dem roten Punkt dürfte warmes Wasser sein, du Depp,“ rief Makoto ihm aus sicherer Entfernung zu. Er hatte heute morgen bereits geduscht. Das tat er zwei mal die Woche, genau wie die Insassen hier. Hinter ihm konnte er das Prasseln der Dusche und das Klatschen von nassen Füßen auf dem Boden hören. Das Geschrei, die Tränen, die Wut und der Gestank von vor nicht einmal zehn Minuten, schienen plötzlich vergessen.
 

Aber für wie lange?



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