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Schwarzer Drache: Geisterdrache

Schwarzer Drache IV
von

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Was bisher geschah...

"Schwarzer Drache"
 

Vier Jahre sind vergangen, seit Hitomi von Gaia auf die Erde zurückgekehrt ist. Der Kontakt zu Van ist abgebrochen, dunkle Ahnungen erfüllen sie. Hitomi hat den Willen zu Leben verloren und will sich von einer Klippe stürzen. Doch die Verbindungen zwischen Van und ihr ist zu stark - Van erscheint und rettet sie.

Hitomi kehrt nach Gaia zurück und trifft auf alte Freunde - und alte und neue Feinde.
 

Allens Schwester Serena scheint geheilt zu sein - die Vergangenheit als Zaibacher Krieger Dilandau liegt offenbar in der Vergangenheit. Dass dies nur eine Illusion ist, zeigt sich beim ersten Zusammentreffen von Serena und Van. Der Hass siegt und aus Serena wird wieder Dilandau. Er flieht aus Farnelia und schließt sich den Feinden von Farnelia an.
 

Das Zaibacher Reich ist zwar zerfallen, aber ein alter Feind bedroht Farnelia. Sarya, ein kleines Land erschüttert den Frieden. Und die Ehe des Königs von Farnelia mit der Prinzessin von Sarya scheint der einzige Ausweg zu sein. Van versucht zwar, sich Rat bei seinem verstorbenen - und wiederbelebten Bruder Folken zu holen, doch eine politische Ehe scheint die einzige Möglichkeit zu sein, den Frieden zu wahren. So kommt die saryanische Prinzessin Auriana nach Farnelia, um diese Bündnis zu schmieden. Als Hochzeitsgeschenkt bringt sie etwas besonderes mit - den Löwenjungen Louvain.

Doch Auriana ist nicht, was sie zu sein scheint. Intrigant bis ins Mark versucht sie die Macht an sich zu reißen - und scheitert nur an Vans schneller Reaktion. Doch eine Niederlage lässt sie nicht auf sich sitzen - sie lässt Hitomi, die Geliebte des Königs, und Prinzessin Milerna entführen. Van, Allen und Dryden brechen auf, um die beiden Frauen zu retten. Dryden sieht sich in der Konkurrenz zu Allen, seit er entdeckt hat, dass seine Ehefrau Milerna und der Ritter des Himmels ein Verhältnis unterhalten. Der Händler stirbt den Heldentod, als er sich seiner Frau beweisen will.
 

Hitomi und ein seltsamer schwarzer Drache, der sich als der verehrte Drachengott entpuppt, treten in Kontakt. Als beschützender Schatten begleitet der Drache Hitomi.

Zwischen Merle und Louvain entwickeln sich langsam erste zarte Bande...
 

Als Folge der Entführung wird die Ehe von Van und Auriana aufgelöst und Auriana des Landes verbannt. Der Krieg steht unvermeidbar vor der Tür.

Farnelia rüstet auf. Unerwartete Verstärkung bekommen sie von den Biestmenschen, die in Sarya verfolgt werden und in Farnelia eine neue Zuflucht finden. Schließlich ist es so weit - die saryanischen Truppen stehen vor dem Tor. Durch zwei Duelle soll der Kampf entschieden werden. Van tritt gegen Dilandau an und Folken gegen Orlog, den Sohn des verstorbenen Kaisers Dornkirk, König von Sarya und Vater von Auriana.

Als Van im Kampf zu unterliegen scheint, gibt es Einmischung von unerwarteter Seite. Der schwarze Drache stürzt vom Himmel und tötet Dilandau - gleichzeitig befreit er damit einen alten Feind als seinem Gefängnis und lässt eine neue Bedrohung auf Gaia los.

Ein alter Feind, an dessen Seite Auriana stehen wird...
 

"Schwarzer Drache: Manticor"
 

Auf der Suche nach Folkens Geliebten Tayana müssen Van und Hitomi die schockierende Feststellung machen, dass diese bereits vor etlichen Jahren gestorben ist. An ihrem Grab treffen sie auf Alexander Dazèra - Tayanas und Folkens Sohn und somit Vans Neffen.

Gemeinsam kehren sie nach Asturia zurück.

Dort haben Louvain, Lothian und Allen für Lothian einen Guymelef erstanden - Louvain übernimmt den Guymelef Castillo des verstorbenen Dryden.
 

Als die Gruppe schließlich wieder zusammentrifft, wollen sie mit dem Crusado nach Farnelia aufbrechen. Es geschieht jedoch etwas seltsames: Eine schwarze Lichtsäule ergreift den Crusado und trägt ihn fort. Der Manticor hat die Bühne betreten und ein erstes Mal seine Kräfte spielen lassen... Sein Ziel ist, seinen Erzfeind, den schwarzen Drachen, und dessen Kinder (namentlich Van und Alexander) zu vernichten.

Auriana hat Zwillinge zur Welt gebracht, die die Namen Laures und Lauria tragen. Beide werden getrennten Familien zur Erziehung gegeben und ihr Wachstum wird magisch beschleunigt. So besitzen die beiden innerhalb kürzester Zeit das Aussehen und das Auftreten 15jähriger Menschen. Laures wird vom Manticor so manipuliert, dass er seinen Vater Van auf den Tod hasst und als einziges Ziel hat, diesen umzubringen. Sowohl er als auch Lauria werden nach Farnelia geschickt. Die beiden sind dafür vorgesehen, ein neues Volk zu gründen, eines, das sowohl die Gene des Manticor als auch des Drachen in sich trägt...
 

Der Crusado stürzt in einer unbewohnten, unwirtlichen Gegend fast auf der anderen Seite des Planeten ab. Durch das schnelle Eingreifen des verstobenen Folken als Schutzengel für Van kann dessen Verletzung verhindert werden.

Nach einem Gespräch mit dem schwarzen Drachen beschließen Van & Co den Manticor in seinem Versteck aufzusuchen, denn nur so kann der Drache seinen Erzfeind erreichen. Dem Manticor ist es gelungen, sich vor ihm zu verbergen und somit im Moment unangreifbar zu sein.

Während Gardes und seine Crew zurückbleiben, um den Crusado zu reparieren, brechen Van, Hitomi, Allen, Shid, Louvain, Merle, Lothian und Alexander auf.
 

Auf der Reise haben die Gefährten verschiedene Gefahren zu überstehen. Sie werden von Werwölfen und Echsen angegriffen und verlieren sich auf der Traumebene. Die Traumebene ist ein Ort, den die Menschen durch ihre Träume zu erreichen pflegen, auf der aber auch begabte Menschen und die "Mächtigen" wie Drache und Manticor herumwandeln können.

Auf dieser Traumebene begegnen Hitomi und Alexander der "Herrin vom See". Da sie die Herrin vor dem Manticor beschützt hat, befreit der Drache sie aus ihrem Gefängnis auf der Traumebene.
 

Als die Gefährten beinahe die kalte Wüste erreicht haben, in der das Versteck des Manticors liegt, geschieht etwas unvorhergesehenes: Sie werden von einer Schar Kindersoldaten überfallen und Hitomi, die von dem Manticor mit einem Bann belegt und "umgepolt" wurde, wechselt die Seiten.
 

In der Ruine angekommen, die das Versteck des Manticors ist, überschlagen sich die Ereignisse. Auriana tritt erneut in Erscheinung und Van wird zu einem Kampf mit Balthèro, einem Kind des Manticor, aufgefordert. Lothian droht damit, Hitomi umzubringen, weil sie ihr Rudel, ihre Freunde verraten hat, einen Verrat, den er als Wolfsmensch nicht dulden kann. Es kommt zum Kampf zwischen den Freunden Lothian und Louvain, die der Löwenjunge für sich entscheidet. Im Moment seines Todes geling es Lothian mit Hilfe des Drachen noch, den Bann von Hitomi zu lösen. Sie ist wieder frei.

Schließlich taucht der schwarze Drache auf, da ihm seine Kinder nun den Weg zu seinem Erzfeind gewiesen haben, und die beiden kämpfen miteinander. Die beiden Erzfeinde töten sich schließlich gegenseitig...
 

Der Crusado erscheint gerade rechtzeitig, um die erschöpfen Gefährten nach Hause zu bringen. Doch dort erwartet sie mit Laures eine neue Bedrohung...

Außerdem sind die beiden Erzfeinde nicht so vollständig vernichtet, wie es zuerst den Anschein hat...
 

"Schwarzer Drache: Silberschwingen"
 

Endlich ist es so weit: Van und Hitomi heiraten. Auf ihrer Hochzeit stellt sich jedoch heraus, dass die Welt nicht so heil ist, wie sie scheint.
 

Eine undeutliche Bedrohung hängt in der Luft. Laures, Vans und Aurianas Sohn gelingt es, sich unbemerkt in die Nähe seines Vaters zu begeben. Er will Rache für das, was sein Vater ihm und seiner Mutter angetan hat - wie er glaubt.

Gleichzeitig findet sich Lauria in Farnelia ein. Zarte Bande entstehen zwischen ihr und dem unerkannten Bruder. Die Pläne des Manticor scheinen aufzugehen.
 

Ebenfalls zarte Bande entspinnen sich zwischen Alexander und Ivory, der Schwester des verstorbenen Lothian, welche wiederum einen ungezügelten Hass gegen den Mörder ihres Bruders - Louvain hegt.
 

In einer Vision erscheint Hitomi die Herrin vom See und fordert sie auf, den schwarzen Drachen zu suchen. Die Erzfeinde sind also nicht so vollständig vernichtet worden, wie es zuerst schien. Eine Statue des Drachen soll sich irgendwo im Untergrund unter dem Schloss befinden. Gemeinsam machen sich Hitomi und Merle auf die Suche...

Als Führer erweist sich schließlich ein Einhorn, das letzte, wie die beiden Frauen erfahren.

Doch auch dieses schöne Geschöpf verbirgt eine grausame Wahrheit - nur durch sein Blut kann der schwarze Drache wiederbelebt werden. Da es keine andere Wahl gibt, nimmt Hitomi das schreckliche Vergehen, das Einhorn zu töten und irgendwann einmal die Strafe dafür zu erfahren, auf sich.
 

Der schwarze Drache wird wiederbelebt. Zuerst scheint es so, als wenn sich diese Wiederbelebungsmacht allein auf ihn konzentrieren würde, doch das ist ein Irrtum. Auch sein Erzfeind betritt wieder die Bühne.
 

Hitomi und Merle kehren in das Schloss zurück, wo sie bereits von Van erwartet werden.
 

Während es Ivory gelingt, Louvain den Tod ihres Bruder zu verzeihen, treffen ihm Thronsaal Van und Laures aufeinander. Laures' Hass entlädt sich und es kommt zu einem brutalen Schwertkampf. Bevor es Laures jedoch gelingt, seinen Vater zu töten, greift der Geist Folkens, Vans Bruders, ein und verhindert die Tat.

Angestachelt durch die schwarzen Flügel Folkens zeigt auch Laures, dass er Flügel besitzt - vier schwarze Schwingen, zwei davon gefiedert nach Art des Drachengottvolkes und zwei ledrig nach Art der Manticor-Kinder.
 

Die Situation eskaliert, als der Manticor auftaucht und Laures und Lauria als seine Kinder fordert. Schockiert über die Tatsache, dass sie Geschwister sind und von dem Manticor aufgehetzt und benutzt wurden, stellt sich Laures dem mächtigen Wesen entgegen.

Währenddessen ruft Hitomi den schwarzen Drachen an, damit nicht noch schlimmeres passiert.
 

Als Lauria zwischen den Manticor, der Laures bereits schwer verletzt und dessen Flügel verkrüppelt hat, offenbart sich, dass sie ebenfalls Flügel besitzt. Silbrige Fledermausschwingen - Silberschwingen. Zur Strafe für ihren Widerstand vernichtet der Manticor Laures und Lauria mit einer Flammenwelle und tritt dann Van und den anderen, Alexander, Ivory, Farla und Hitomi entgegen.

Doch ehe er diese angreifen kann, erscheint der schwarze Drache auf der Bildfläche. Erneut kämpfen die beiden Erzfeinde gegeneinander.
 

Der Kampf endet damit, dass der Drache den Manticor tötet - und weil ihre Leben untrennbar miteinander verbunden sind, stirbt er selbst...
 

Drache und Manticor scheinen endgültig verschwunden - gestorben - zu sein. Doch können derart mächtige Wesen wirklich sterben, sich gegenseitig töten? Es stellt sich heraus, dass dem nicht so ist...

Und auch Laures und Lauria sind nicht gestorben, sondern leben noch. Ihre Bestimmung ist noch nicht erfüllt...

1. Die letzten Rebellen

"Majestät, Ihr könnt nicht nach draußen! Nicht am helllichten Tag!" keuchte Leutnant Asha und versperrte Hitomi den Weg. Die Königin von Farnelia funkelte ihn wütend an.

Sie standen direkt vor dem schweren Eisentor, das den Zugang zu dem Höhlensystem markierte, in dem sich die Rebellen versteckt hielten. Die wenigen, die es von ihnen gab.

"Lass mich raus," fauchte Hitomi mit herrischer Stimme. "Sofort!"

Der blonde Leutnant sah ihr kurz in die harten, grünen Augen, dann nickte er und wies die Wachen an, das Tor einen Spalt zu öffnen. Hitomi quetschte sich wortlos hindurch.

Ihr Kettenhemd schabte quietschend an der Eisentür. Dann war sie draußen und atmete tief die frische Luft ein. Sie blickte weit über die Berge. In der Nähe des eisernen Tores ließ sie sich in das trockene Gras sinken und starrte nachdenklich vor sich hin. Gedankenverloren spielte sie mit dem Schwert an ihrem Gürtel. Sie wusste, dass Asha sie beobachtete. Und auch, dass die Wachen auf den Aussichtsposten sofort verstärkt worden waren. Es war nun einmal lebensgefährlich, die sichere Festung bei Tag zu verlassen.

Hitomi seufzte leise und rupfte einige Grashalme aus. Sie warf sie hoch und sah ihnen nach, wie der Wind sie davontrug.

Angefangen hatte das alles vor knapp zwei Jahren. Torian dy Arkadia hat Eries Aston geheiratet und war damit König von Asturia geworden. Die beiden waren wirklich glücklich gewesen. Und dann war Traian dy Arkadia, König von Arkadien und Vater von Torian, gestorben und auf einmal war sein erstgeborener Sohn Tassilo an die Macht gekommen. Von da an hatte sich alles geändert. Niemand wusste, woher Tassilo auf einmal diese gigantische Armee gehabt hatte, doch er besaß sie... Und er überrannte Gaia. Seit annähernd zwei Jahren dauerte dieser Krieg nun an. Jetzt beherrschte Tassilo praktisch ganz Gaia. Es gab nur noch wenig Widerstand gegen ihn, und dieser wenige Widerstand kam von ihnen, den letzten Rebellen, hauptsächlich Überlebende aus den Königreichen von Farnelia und Asturia und dem Herzogtum von Freyd. Niemand sonst war noch in der Lage sich irgendwie zu wehren.

Ja, ziemlich genau ein Jahr war es jetzt her, dass Farnelia zerstört worden war. Wieder hatte Hitomi das Land brennen sehen, doch diesmal war es ihre Heimat gewesen, die da brannte. Nicht alle hatten aus Farnelia fliehen können. Es waren die wenigstens gewesen. Zu viele Menschen waren in Farnelia gestorben. Und in Asturia. Und in Freyd. Und überall auf Gaia. Für kurze Zeit hatten sie Zuflucht in Asturia finden können, doch auch Palas war nur wenige Tage später angegriffen und niedergebrannt worden. Das Gleiche geschah mit Freyd. Sie hatten sich zurückgezogen, in die Einhornberge. Hier hatten sie ein weitläufiges Tunnelsystem entdeckt, dass sie zu ihrer Festung gemacht hatten. Seither lebten sie hier, die wenigen Rebellen und Überlebenden, die es aus Farnelia, Asturia, Freyd und einigen wenigen anderen Ländern noch gab. Diejenigen, die noch Mut genug hatten, sich gegen Tassilo und seine blutige Diktatur aufzulehnen, fanden sich hier ein.

Hitomi seufzte leise und nahm ihren silbernen Stahlhelm ab. Sie fuhr sich durch das kurze, hellbraune Haar und blinzelte gegen den Wind.

Im Gedanken an ihre Kinder hatte sie, die doch niemals kämpfen wollte, schließlich zum Schwert gegriffen. Sie wusste nicht mehr, wie viele Menschen sie mittlerweile getötet hatte. Sie wusste nur, dass sie ihre beiden einjährigen Kinder, die Zwillinge Varie und Vargas, beschützen wollte. Um alles auf der Welt.

"Hitomi," erklang Vans Stimme hinter ihr. Sie blickte über die Schulter und sah ihren Mann langsam auf sich zukommen.

"Du solltest nicht rausgehen," sagte er sanft, als er sich neben ihr ins Gras hockte.

Hitomi sah ihm ins Gesicht. In den letzten zwei Jahren war er älter geworden. Viel mehr, als er es hätte sollen. Im Sonnenlicht konnte sie die schmale Narbe sehen, die von seinem linken Auge fast waagerecht zu seiner Schläfe lief und sich irgendwo in dem dichten, schwarzen Haar verlor. Ein Greif hatte ihm im Kampf beinahe das Auge ausgestochen.

Ja, die Greifen waren die gefährlichste Waffe, die Tassilo dy Arkadia auf seiner Seite hatte. Diese Fabelwesen, die den Körper eines Löwen besaßen, aber dazu den Kopf eines Raubvogels und dessen Flügel, waren blutrünstige Bestien, die sich im Kampf als nahezu unbesiegbar erwiesen hatten. Beinahe so groß wie Drachen, war ihnen auch mit einem Guymelef nur schwer beizukommen.

Van blickte Hitomi wehmütig an. Sie hatte nur noch wenig von dem unbeschwerten, friedliebenden Mädchen, das sie einmal gewesen war. Auch sie war härter geworden und unglaublich stark. Es gab nur noch wenige, die ihr im Kampf das Wasser reichen konnten.

"Van," murmelte Hitomi sanft und strich dem König von Farnelia sanft über die Wange. "Warum weinst du?"

Irritiert stellte Van fest, dass sie Recht hatte.

"Ach, nichts," brummte er leise und stand schließlich auf. "Komm. Wir müssen wieder reingehen. Der Kriegsrat tagt..." Er streckte die Hand aus. Hitomi ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen. Arm in Arm gingen sie zurück in die Höhlenfestung.

Erleichtert schloss Asha das Tor nach dem Königspaar. Van und Hitomi von Farnelia waren mit die wichtigsten Befehlshaber. Die Rebellen konnten es sich nicht leisten, sie zu verlieren.

2. Kriegsrat

Im Sitzungssaal wurden Van und Hitomi bereits von den wichtigsten Kriegern erwartet. An dem runden Tisch saßen Folkens Sohn Alexander, das Wolfsmädchen Ivory, Merle, Louvain, Admiral Vitguer, Gardes, Königin Eries und ihr Mann Torian, Milerna, Allen Schezar und sein Sohn Shid, der Herzog von Freyd. Alle trugen schwere Kettenhemden und waren ausnahmslos bewaffnet. Man konnte schließlich nie wissen, wann der nächste Angriff des Diktators kommen würde. Genauso wenig wussten sie, ob sie in ihrem Versteck noch sicher waren...

"Was gibt es Neues?" wandte sich Van an Alexander, der das Kommando über die Kundschafter hatte.

"Wir haben in der Nähe einige Greifentrupps gesichtet," gab Folkens Sohn zurück und strich sich das schulterlange, schwarz gelockte Haar aus der Stirn. Quer über seine rechte Wange zog sich eine frische Wunde.

"Ihr scheint sie nicht nur gesehen zu haben..." murmelte Van und funkelte Alexander zornig an. Es war gefährlich, wenn eine Aufklärungseinheit auf sie stieß, denn diese würde direkt einen größeren Trupp alarmieren...

"Nein, nein." Alexander schüttelte hastig seinen Kopf und lief knallrot an. "Wir mussten wegen der Greifen plötzlich in Deckung gehen und dabei bin ich blöd gestürzt..."

Mit kaum verhohlener Erleichterung sah Van ihn an. "Habt ihr sonst noch etwas herausgefunden?"

"Die Aufklärer werden häufiger... Es scheint so, als wenn Tassilo uns hier in der Gegend vermutet..." überlegte Alexander laut. "Aber noch scheinen wir sicher zu sein."

"So sicher, wie wir eben sein können," flüsterte Merle leise. Das Katzenmädchen warf selbstbewusst ihr langes, rosafarbenes Haar zurück. Auch sie war endlich erwachsen geworden. Die letzten Jahre hatten sie dazu gezwungen. Van sah seine Freundin aus Kindheitstagen kurz wehmütig an, dann wandte er sich weiter an Ivory.

"Wie sieht es mit den Reparaturen aus?"

"Wir tun, was wir können," erklärte das Wolfsmädchen, das für die Reparatureinheit zuständig war, die sich um die zerstörten und beschädigten Ausrüstungsgegenstände, wie die Guymelefs und die wenigen Luftschiffe kümmerte. "Aber nach dem letzten Zusammenstoß haben wir noch ziemlich viel Arbeit da unten liegen... Wir arbeiten so schnell, wie wir können, aber mehr als 24 Stunden hat ein Tag nun einmal nicht..." Sie zuckte mit den Schulter. Dabei rutschte ihr das schwarze Stirnband, das ihr weißes Haar zurückhielt, halb über die Augen. Unwirsch schob sie es mit einer schwarz verschmierten Hand zurück. Sie war offenkundig direkt aus der Werkstatt in den Sitzungssaal gekommen und hatte sich noch nicht einmal die Zeit zum Hände waschen genommen.

"Wir steht es mit dem Lazarett?" wandte sich Van nun an Milerna. Die Prinzessin lächelte Van an. Es war bemerkenswert, dass sie es immer noch irgendwie schaffte freundlich zu sein. Dabei sah sie jeden Tag so viel Leid...

"Fünf Soldaten haben wir retten können. Sie werden durchkommen. Aber dafür haben wir Tark, Daniar und Morat verloren... Ich konnte ihnen nur noch ihr Leid erleichtern..." Milerna seufzte leise. Sie hatte schon so viele ihrer Leute sterben sehen. Und letzte Nacht waren es wieder drei mehr gewesen, die diesem schrecklichen Krieg erlegen waren.

Traurig sah Hitomi die Freundin an. Tark und Daniar hatten zu ihrem Einsatzteam gehört. Es waren zwei ihrer besten Männer gewesen. Sie würde sie vermissen.

"Die Verpflegung, Eries?" fragte Van nun die Königin von Asturia. Diese hatte freiwillig die wichtige Aufgabe übernommen, die Vorräte zu rationieren und sich um ihrer Verteilung zu kümmern.

"Es wird weniger. Langsam müssen wir neue Vorräte anlegen. Noch müssen wir die Rationen nicht runterschrauben, aber es wird langsam knapp," sagte Eries bedächtig.

Ein leiser Seufzer machte die Runde. Also kam noch ein weiteres Problem auf sie zu.

"Was ist mit den Luftschiffen?" Van blickte Gardes an.

"Der Crusado ist auf alle Fälle einsatzbereit. An der Umrüstung der anderen arbeiten wir noch. Wir wollen sie so herrichten, dass wir sie sowohl bei der Verteidigung, als auch bei einer spontanen Flucht einsetzen können. Im Moment ist aber eher letzteres der Fall... Es erschien mir wichtiger zu sein, im Zweifelsfall rechtzeitig verschwinden zu können..."

"Eine kluge Wahl," meinte Hitomi und lächelte Gardes aufmunternd an. Auch aus dem Rest der Runde erhob sich Zustimmung. Weglaufen war immer noch besser, als sinnlos zu sterben.

"Und eure Truppen?" wandte sich Van an den Rest in der Runde. Jeder der anderen hatte eine eigene Kompanie von knapp fünfzig Männern unter seinem Kommando. Davon hatten aber jeweils höchsten zehn Kämpfer einen Guymelef. Die anderen gehörten zu den Schwertkämpfern, die sich ohne eine dieser riesigen Kampfmaschinen ins Getümmel stürzen mussten.

"Sie schlagen sich alle recht gut," sagte Allen stellvertretend für alle. "Allerdings wird die Anspannung immer größer. Allein Übungseinheiten sind nicht genug..."

"Van," mischte sich Merle nachdrücklich ein, "Sie wollen alle mehr, als nur hier sitzen und warten, Angst haben und darauf warten, dass wir entdeckt werden. Und dann angegriffen."

Shid nickte heftig mit dem Kopf und beugte sich vor. "Sie hat Recht. Wir können uns nicht einfach nur verkriechen und darauf hoffen, dass sie uns nicht finden werden. Das werden Tassilos Truppen. Früher oder später. Wir können nicht nur weglaufen. Wir müssen die Initiative ergreifen."

Auch Shid war in den letzten zwei Jahren erschreckend gealtert. Für seine fünfzehn Jahre war er viel zu abgeklärt. Mit seinen schulterlangen, blonden Haaren und den leuchtend blauen Augen sah er aus, wie eine jüngere Version seines Vaters Allen. Van sah in Shids Augen etwas, dass er selbst damals erlebt hatte. Damals, als Zaibach Farnelia das erste Mal zerstört hatte...

Zustimmend senkte Van den Kopf. Er verstand nur zu gut, was Shid meinte. Er selbst hatte auch genug vom Abwarten. Auch er wollte endlich etwas tun.

"Und was schlagt Ihr vor, junger Herr?" warf Admiral Vitguer leicht spöttisch in den Raum. Gelassen hatte dieser den heftigen Ausbruch des fünfzehnjährigen Herzogs von Freyd verfolgt. Er sah hauptsächlich die Ungeduld der Jugend in ihm. Vitguer selbst war bereits weit über fünfzig Jahre alt und hatte genug Schlachten erlebt, um zu wissen, dass Abwarten bei der derzeitigen Lage das Beste für die Rebellen war.

"Ich weiß nicht..." murmelte Shid kleinlaut und senkte langsam den Blick unter Vitguers stahlharten Augen.

"Tassilo hat in der Nähe eine Versorgungsstation eingerichtet," sagte Alexander langsam. "Wir haben den Greifentrupp verfolgt und sind fast in eine Armee von knapp hundert Guymelefs reingerannt... Wenn wir das Lager überfallen könnten... Sie haben die Guymelefs und Rationen, die wir brauchen..." Folkens Sohn machte eine Pause und blickte aufmerksam in die Runde.

3. Ein wahnsinniger Plan

"Du bist doch verrückt!" durchbrach Hitomi schließlich die Stille. "Das kann doch gar nicht funktionieren! Hundert Guymelefs! Und dazu dann sicher noch die gleiche Menge an Greifen! Vergiss es, Alexander! Das ist vollkommen unmöglich!"

"Immer mit der Ruhe, Hitomi," sagte Allen langsam. "Wir hätten knapp achtzig Guymelefs auf unserer Seite - wenn wir alle mobil machen würden..."

"Du vergisst die, die in Reparatur sind," knurrte Hitomi ungehalten zurück. Ihr eigener Guymelef war bei der letzten Schlacht schwer beschädigt worden und daher wusste sie nur zu gut, wie es wirklich in der Werkstatt aussah. Gut zwanzig Guymelefs wurden dort gerade unter Hochdruck repariert.

"Da hat sie Recht," stimmte ihr Ivory zu. "Ihr habt nur höchsten sechzig zur Verfügung. Wenn es hoch kommt. Vielleicht würden wir noch den einen oder anderen vorher fertig bekommen, aber wettet da lieber nicht drauf."

"Also gut, dann sind es also sechzig," sprach Allen unbeeindruckt weiter. "Und wir haben den Überraschungseffekt auf unserer Seite..."

"Das stimmt," mischte sich nun auch Van ein. "Tassilo rechnet niemals mit einem Angriff. Er fühlt sich sicher. Er jagt uns ja. Und langsam wird es Zeit, dass die Beute sich zur Wehr setzt..."

Hitomi sah Van in seine braunen Augen. Entschlossen blickte er sie an und sie verstand, dass er froh darüber wäre, endlich etwas tun zu können.

"Also gut," seufzte die Königin von Farnelia. "Alex, zeichne uns mal auf, wie es dort aussieht..." Hitomi deutete mit einer weiten Handbewegung auf die Wand aus schwarzem Gestein, die deutlich sichtbar schon häufiger als Tafel verwendet worden war.

Alexander sprang sofort auf und machte sich an der Wand zu schaffen.

"Also, hier sind der Spitzhornberg und die Ahornsenke. Genau in dieser Senke haben sie ihr Lager aufgeschlagen..."

"Beim Drachengott, das ist ja nur zwei Täler weiter!" stieß Milerna erschrocken hervor.

Van funkelte Alexander nachdenklich an. Sein Neffe hatte nicht angedeutet, dass Tassilos Truppe bereits so nah an ihrem Versteck waren.

"Hm," meinte Gardes schließlich nachdenklich. "Wir haben ja noch unsere Luftschiffe... Fünf von den Großen sind zum Angriff ausgerüstet. Und natürlich der Crusado. Damit könnten wir sie überraschen und auch die Schwertkämpfer sinnvoll einsetzen." Er sprang auf. "Wenn wir hier und hier landen würden..." Er deutete mit dem Finger auf sechs einzelne Stellen rund um das Lager. "Dann könnten wir sie blitzschnell einkreisen."

"Was ist mit Greifen, Alexander?" hakte Torian nach. Nachdenklich strich sich Eries' Mann durch das braune Haar und fixierte den schwarzhaarigen Jungen mit seinen grünen Augen.

"Wir haben nur wenige gesehen," murmelte Alexander zur Antwort. "Höchstens zehn oder zwanzig."

"Nur wenige!" Louvain schüttelte seine blonde Mähne. "Zwanzig! Dafür brauchen wir mindestens doppelt so viele Guymelefs. Und wir werden wieder Verletzte haben!"

"Du vergisst die Luftschiffe. Sobald sie ihre Truppen abgesetzt haben, können wir mit ihnen die Greifen aus der Luft angreifen. Vergiss nicht die Kanonen!" gab Gardes zurück.

"Also gut," ergriff nun Vitguer das Wort und brachte alle anderen sofort zum Verstummen. "Wenn ich das zusammenfasse, dann sehe ich ein Lager mit hundert Guymelefs und zwanzig Greifen, dass geplündert werden soll. Wir brauchen hauptsächlich die Guymelefs. Darauf muss im Kampf also Rücksicht genommen werden. Das Beste wäre also ein Angriff bei Nacht, wenn der größte Teil der Einheit schläft. Wir müssen also noch die Wachen beobachten."

Alexander nickte bei diesem Hinweis kaum merklich. Darum würde er sich in der kommenden Nacht persönlich kümmern.

"Mit den umgerüsteten Luftschiffen haben wir einen Vorteil gegenüber den Greifen, den wir nicht leichtfertig verspielen dürfen. Das heißt, dass alle sechs Schiffe gleichzeitig angreifen müssen. Ist das möglich, Gardes?" fuhr der Admiral fort.

Sofort nickte der Kommandant des Crusado. Er wusste, dass er sich auf seine Truppen verlassen konnte.

"Nun, es wird kein leichter Kampf werden, aber wir können dadurch nur gewinnen. Also, ich stimme für diesen Überfall. Und zwar bereits morgen Nacht. Wenn wir ihren Wachrhythmus kennen, können wir sie überrumpeln und sogar siegen. Danach müssen wir allerdings sofort unser Lager aufgeben. Das bedeutet, dass die anderen zehn Luftschiffe auch fertig gemacht werden müssen. Sie werden die restlichen Menschen, sowie die gesamte Ausrüstung transportieren müssen. Wir müssen bis morgen Nacht evakuieren. Ich frage Euch: ist das möglich?" Aufmerksam sah Vitguer in die Runde.

"Wenn wir sofort anfangen, ja," sagte Van fest. "Stimmt ihr für diesen Überfall?"

"Unter der Voraussetzung, dass die Überwachung heute Nacht erfolgreich ist, ja," erklärte Hitomi. Auch die anderen schlossen sich ihrer Meinung einstimmig an.

"Also gut, dann liegt es jetzt an dir und deinen Spähern, Alexander," sagte Van mit einem Lächeln zu seinem Neffen. "Die Sitzung ist hiermit beendet."
 

"Hitomi!" Ivory hielt die Königin von Farnelia an der Schulter fest. "Kommst du mit in die Werkstatt? Es geht um deinen Guymelef..."

Mit einem leisen Seufzer nickte Hitomi. Sie hatte eigentlich gehofft, etwas Zeit für ihre Kinder haben zu können. Für die beiden kämpfte sie schließlich und wenn sie sie nicht sah, dann kam es ihr manchmal so vor, als wenn alles, was sie tat, so sinnlos war. Ihre Kinder waren es, die ihr die Kraft zum Kämpfen gaben.

Nach den anderen verließen nun auch Hitomi und Ivory den Sitzungssaal. Allein Alexander und Allen blieben zurück.

"Du bist nicht nur unvorsichtig gewesen," sagte der blonde Ritter fest zu Folkens Sohn und deutete auf dessen Wunde.

"Ich weiß nicht, was du meinst," brummte Alexander und verschränkte die Arme trotzig vor der Brust.

"Alex, ich erkenne die Wunde von einem Greifenschnabel, wenn ich sie sehe. Lüg mich nicht an! Es ist erstaunlich genug, dass Van dir geglaubt hat!" gab Allen heftig zurück und packte Alexander fest an den Schultern. Dieser blickte dem großen, blonden Mann fest in die blauen Augen. Trotzig presste er die Lippen zusammen. Doch dann gab er nach und senkte verlegen den Blick.

"Wir sind genau in sie reingerannt. Wir hatten keine andere Wahl als zu kämpfen," seufzte der schwarzhaarige Junge leise. "Es waren fünf Greifen und mein Trupp hat gerade einmal zehn Männer umfasst. Ohne Guymelefs. Wir haben aber dafür gesorgt, dass keiner überlebt hat. Und ich habe noch nicht einmal einen Mann verloren. Wir sind alle verletzt worden - ja. Aber wir haben überlebt und gesiegt!"

"Sie werden ihren Trupp vermissen, Alex. Das weißt du auch. Deswegen bist du so unbedingt für diesen Überfall, nicht wahr?"

Schweigend sah Alexander den blonden Ritter an.

"Du wirst es Van bis heute Abend sagen. Wenn nicht, dann werde ich es tun," sagte Allen mit harter Stimme, als er den Sitzungssaal verließ.

4. Kinder

"Wir bekommen das hier einfach nicht hin," erklärte Ivory und deutete stirnrunzelnd auf ein Wirrwarr aus Zahnrädern. Das Wolfsmädchen stand neben Hitomi vor deren Guymelef und zeigte auf einen bestimmten Teil in der geöffneten Brustklappe des Guymelefs. "Wenn das Zahnrad hier sich nicht richtig dreht, dann funktioniert dein Schwert nicht einwandfrei..."

"Ich verstehe," sagte Hitomi langsam. "Ich muss also wohl mit einem hakenden Schwert kämpfen. Stimmt das?" Sie blickte Ivory fragend an.

Das Wolfsmädchen zuckte mit den Achseln. "Wir versuchen alles, aber irgendwie will dieses Mistdingen einfach nicht passen..."

Frustriert hieb sie auf das winzige Zahnrad ein und zog fluchend die Hand wieder zurück. Sie hatte sich die Finger aufgerissen. Gedankenverloren saugte sie das Blut aus dem Kratzer und sah Hitomi an. Die Königin von Farnelia streckte die Hand aus und drückte ein wenig an dem Zahnrad herum. Nachdenklich zog auch sie ihrer Hand wieder zurück.

"Wird es mit etwas Öl besser sein?" fragte sie. Ivory zuckte erneut mit den Schultern.

"Vielleicht." Das Wolfsmädchen griff nach der Ölkanne und tropfte etwas von dem Maschinenöl über das Zahnradsystem. "Hast du dir eigentlich endlich einen Namen für deinen Guymelef ausgedacht? Ich meine, du kämpfst schon fast ewig mit ihm... Alle anderen Guymelefs haben Namen. Nur deiner noch nicht..."

"Ich weiß," murmelte Hitomi als Antwort. "Ich weiß." Sie blickte zu dem hellgrauen Guymelef mit dem schwarzen Umhang empor.

Aber ein Name bedeutet, dass wir eine Beziehung eingehen. Und das will ich nicht... Ich muss dich benutzen. Aber ich will nicht anfangen, es gerne zu tun... dachte sie.

"Sag mir Bescheid, wenn ich ihn testen kann," brummte Hitomi noch, dann ließ sie Ivory stehen und eilte davon.
 

"Gardes! Vitguer! Wartet einen Moment!" Van rannte dem Kommandanten der Flugschiffe und dem Admiral hinterher.

"Euer Majestät." Vitguer blieb stehen und drehte sich verblüfft um. Auch Gardes hielt inne und sah sich nach Van um.

"Wir... müssen noch klären, wohin wir nach dem Überfall fliegen werden. Wir brauchen ein neues Versteck..." keuchte Van, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie.

"Und das bedeutet?" erkundigte sich Vitguer, während Gardes dem Gespräch schweigend folgte.

"Kundschafter. Noch heute Nacht..." stieß der König von Farnelia hervor.

"Warum kommt Ihr damit zu uns? Alexander kümmert sich um die Späher..." erwiderte der Admiral ratlos.

"Alex hat irgendetwas angestellt... Noch weiß ich nicht, was es ist, aber im Moment will ich ihn nicht losschicken. Gardes, kannst du mit dem Crusado heute Nacht rausgehen? Jetzt, wo ihr ihn umgerüstet habt, ist er unser schnellstes Luftschiff. Und wenn ihr nur wenig Ladung habt... Dann schafft ihr in einer Nacht gut, wofür die anderen Flugschiffe den ganzen Tag brauchen..." Van sah Gardes abwartend an. Dieser nickte langsam.

"Eine Art geheime Mission also," brummte Gardes langsam. "Wir brauchen also ein gutes Versteck... Vorzugsweise wohl wieder ein paar Katakomben, nicht wahr? Ich werde sehen, was wir finden können..." Er lächelte Van freundlich an, dann wandte er sich um und ging schnellen Schrittes davon. Van und Vitguer sahen ihm kurz nach, dann eilte auch Van davon.
 

Hitomi schob langsam die Tür zu dem Kinderquartier auf. Zwei junge Frauen, Lena und Mara, kümmerten sich hier um alle Kinder, die es im Rebellenlager gab. Zu ihrer Überraschung fand Hitomi hier auch Merle vor, die ihre kleine Tochter Liona im Arm hielt. Das kleine Mädchen war auch knapp ein Jahr alt. Hitomi und Merle hatten ihre Schwangerschaft praktisch zusammen durchgestanden. Ein seltsames, enges Band verband sie seither. Ein Lächeln huschte über Hitomis Gesicht, als sie Merle so dasitzen sah. Das rosafarbene, lange Haar verdeckte das Gesicht der Katzenfrau und doch wusste Hitomi, dass Merle lächelte. Sie konnte schließlich selbst nicht anders, wenn sie eines ihrer Kinder auf dem Arm hielt.

"Königin Hitomi!" rief das Kindermädchen Lena schließlich aus, als sie Hitomi sah. "Welch eine Freude, Euch hier zu sehen!"

Merle hob den Kopf und lächelte Hitomi zu. Dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. Die Königin von Farnelia schenkte den beiden noch ein strahlendes Lächeln und sah sich dann nach ihren beiden Kindern um. Vargas und Varie krabbelten auf einer weichen Decke umher. Als Hitomi sich neben ihnen niederließ, wurde sie mit einem glucksenden Lachen und strahlenden Kinderaugen begrüßt. Varies Augen waren von dem gleichen warmen Braun wie Vans, während Vargas' Iris in dem gleichen Grün schillerte wie die seiner Mutter. Hitomi spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Ja, das war es wert zu kämpfen!
 

Unbemerkt stand Van in der Tür und sah Hitomi neben ihren gemeinsamen Kindern knien. Bei ihrem Anblick zog sich sein Herz zusammen. Gerade drückte sie Vargas und Varie schluchzend an sich. Van stiegen selbst die Tränen in die Augen. Abrupt drehte er sich um und stürmte hinaus.

Dieser Krieg muss aufhören! schrie er stumm. Damit es eine Zukunft gibt. Eine Zukunft für unsere Kinder...

5. Der Grund zu kämpfen

Als der Abend endlich kam, war er schon lange herbeigesehnt worden. Alexander hatte bereits seine Tarnkleidung angelegt, das dunkelgrün gefärbte Kettenhemd und die dazu passenden Hosen, Stiefel und den Helm, und stand jetzt unschlüssig vor der Tür zu Vans Quartier. Er wusste, dass er seinem Onkel sagen musste, was bei der letzten Aufklärung geschehen war, doch er scheute sich auch davor. Alexander wusste aber auch, dass Allen es Van wirklich sagen würde, wenn er es nicht selbst tun würde. Innerlich fluchte er laut.

Entschlossen klopfte er an und drückte die Tür auf ohne eine Antwort abzuwarten. Van beugte sich gerade über eine Karte und an seiner Seite stand Allen, der wohl gerade auf einen bestimmten Punkt gezeigt hatte. Als Allen Alexander erkannte, wurde sein Gesicht ernster und er blickte Folkens Sohn fest in die Augen. Alexander nickte kaum merklich und sofort entspannte sich der Ritter sichtlich.

"Ich lasse euch wohl besser allein," meinte er und wollte sich schon zurückziehen, doch Van hielt ihn am Arm fest.

"Du kannst ruhig bleiben, Allen. Wir haben doch keine Geheimnisse vor einander," sagte er. Sein Blick blieb jedoch fest auf Alexander haften. Folkens Sohn seufzte leise auf. Dann trat er entschlossen ein und zog die Tür hinter sich zu.

"Wir sind gestern auf einen Trupp Greifen gestoßen," sagte Alexander fest und berührte dabei unwillkürlich die frische Wunde auf seiner Wange. "Wir haben sie komplett vernichten können, ohne einen Mann zu verlieren. Aber sie werden ihren Trupp früher oder später vermissen..." Seine Stimme begann zu zittern. "Ich weiß, ich hätte es dir eher sagen müssen, aber..."

"Ja, das hättest du," sagte Van hart. Dann seufzte er auf und blickte seinen Neffen nachsichtig an. "Du weißt, was es für uns bedeutet, wenn Tassilos Garde uns findet. Wir werden sterben. Alle. Dann hat Gaia keine Chance mehr. Dann wird es ein freies Gaia niemals geben. Außer uns stellt sich niemand gegen Tassilo. Wir sind die Einzigen. Alex, da unten sind Kinder! Kinder, die ein Recht darauf haben, in Freiheit aufzuwachsen. In Frieden und Freiheit! Und genau dafür kämpfen wird!" Vans Augen schienen im Schein der Fackeln zu lodern und Alexander begriff auf einmal, was ihre Rebellion wirklich bedeutete. Sie kämpften längst nicht mehr um ihr Leben oder für ihre Ideale. Sondern für mehr. Für eine Zukunft. Folkens Sohn schluckte hart.

"Es wird nichts mehr schief gehen, Van," flüsterte Alexander mit bebender Stimme. "Nie wieder. Ich schwöre es dir."

"Das musst du nicht, Alex," erwiderte Van sanft. "Sei dir nur bewusst, was du tust. Aber weiter," wechselte er abrupt das Thema. "Ihr scheint einen Weg gefunden haben, die Greifen wirkungsvoll zu bekämpfen. Schließlich wart ihr ohne Guymelefs unterwegs und habt ausnahmslos überlebt..."

Alexander nickte mit einem scheuen Lächeln. "Feuer. Sie haben wahnsinnige Angst vor Feuer. Sobald sie mit Flammen in Berührung kommen, werden sie panisch. Aber sie fliehen nicht. Das lässt ihr Wesen nicht zu. Die Reiter verlieren die Kontrolle über sie und dann kann man sie ganz leicht töten..."

Van und Allen nickten nachdenklich. "Ich werde das an die anderen weitergeben," meinte Allen.

"Viel Erfolg für heute Abend," erklärte Van, dann bedeutete er Alexander zu gehen.
 

Louvain saß auf einem Stuhl vor seinem Guymelef Castillo und bearbeitete dessen Schwert mit einem Schleifstein. Schweiß rann ihm über die Stirn und verklebte seine blonde Mähne. Dennoch rieb er den Schleifstein mit gleichmäßiger Kraft weiter über das Schwert. Im Kampf konnte er sich keine Scharten an der Waffe erlauben...

"Louvain?" Der Löwenmann sah auf und blickte in Merles blaue Augen. Das rosafarbene Haar hing ihr halb vor dem Gesicht und sie wirkte auf ihn seltsam bedrückt.

"Was ist, Merle?" fragte er besorgt und hielt mitten in der Bewegung inne.

"Weißt du, ich... Ich frage mich, ob wir den morgigen Tag überleben werden. Ich frage es mich immer öfter... Wie lange werden wir noch leben? Werden wir die Zukunft, für die wir kämpfen, jemals sehen? Werden wir unsere Tochter aufwachsen sehen?" Die Katzenfrau fuhr sich durch die langen Haare und wischte sie sich unwirsch aus der Stirn. In ihren blauen Augen glänzte tiefe Sorge.

"Merle..." Louvain stand auf und zog seine Freundin liebevoll in die Arme.

"Wir werden das Morgen erleben, Merle. Wir werden es schaffen. Vertrau mir. Vertrau Van. Vertrau uns. Wir werden einen Weg finden..."

Er spürte, wie Merle in seinen Armen zitterte und zog sie noch fester an sich. Zärtlich streichelte er ihr über den Rücken.

"Weißt du, es wird die Dinge zwar nicht ändern, aber... Vielleicht sollten wir doch... Damals, als... als ich dich fragen wollte, kam ein Krieg dazwischen... Diesmal soll es nicht so sein..." Er schob Merle ein wenig von sich und blickte ihr in die leuchtenden Augen. Sie erwiderte seinen Blick scheinbar gelassen.

"Willst du mich heiraten, Merle?" fragte Louvain langsam.

Eine einzelne Träne löste sich aus den Augen der Katzenfrau, verfing sich in ihren Wimpern und tropfte dann langsam zu Boden.

"Wie könnte ich denn Nein sagen, Louvain?" erwiderte sie leise. "Wie könnte ich denn? Ich liebe dich..." Sie gab ihm einen sanften Kuss.

6. Treibende Seelen

In der Nacht schlief Hitomi unruhig. Sie träumte...

Hitomi fand sich auf einer grasbewachsenen Ebene wieder. Der Himmel glühte blutrot und Flammen leckten durch das Gras.

"Das ist Gaias Zukunft," sagte eine sanfte Stimme hinter ihr.

Sie kannte diese Stimme. Sie kannte sie so gut... Die letzten zwei Jahre hatte sich Hitomi wenig mehr gewünscht, als diese Stimme wieder zu hören und die sanfte Ruhe zu spüren, die die Gegenwart des Sprechers bewirkte. Sie konnte seine Zuversicht wieder spüren. Und doch hatte sie Angst sich umzudrehen. Sie wollte ihn so gerne wieder sehen, aber sie fürchtete, dass sie sich täuschen könnte.

"Sieh mich an, Mädchen vom Mond der Illusionen," fuhr die Stimme mit einem leisen Lachen fort. "Ich werde nicht verschwinden."

Hitomi drehte sich mit Tränen in den Augen um.

"Dieses Mädchen bin ich nicht mehr!" schrie sie. Sie blickte dem schwarzen Drachen fest in seine gelben Augen. "Wo warst du die letzten zwei Jahre? Wo warst du? Warum hast du uns im Stich gelassen? Wir haben dich gebraucht..." Die Tränen rannen ihr über die Wangen und sie wischte sie mit einer trotzigen Handbewegung weg. Der Drache berührte sie sanft mit dem Maul und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Stirn.

"Ich konnte nicht... Ich wollte bei euch sein, aber ich konnte es nicht. Der Kampf mit dem Manticor... Ich bin gestorben. Ich werde nie wieder zu euch zurückkehren können. Was du hier siehst, ist nur meine Seele. Wesen... wie ich, werden nicht wieder geboren. Wir leben und wir sterben. Und dann sind wir Schattengeister. Treibende Seelen, wenn du so willst. Wir sind noch, aber nicht mehr wie vorher... Wir sind nur noch... Erinnerungen." Der schwarze Drache seufzte leise und schlug mit den Flügeln. "Aber ich verspreche dir, Hitomi, ich werde bei dir bleiben. Bei dir und Van, bei Alexander, bei Varie und Vargas. Ich werde mein Volk nicht im Stich lassen. Ihr seid schließlich meine Kinder..."

"Was ist mit den anderen?" fragte Hitomi. Sie war wieder etwas ruhiger geworden und fuhr sich nun langsam durch das kurze, braune Haar.

"Ich stehe ihnen bei, wenn sie an eurer Seite stehen. Uneingeschränkt. Aber nur dann," erwiderte der Drache sanft. Unruhig schlug er mit seinem Schwanz und löste eine kleine Staubkaskade aus.

"Ich habe nicht viel Zeit. Hör mir zu, Hitomi. Tassilo... Denk darüber nach, was ihn motiviert. Es steckt mehr dahinter. Sehr viel mehr. Er ist nicht mehr... Nur ein Mensch. Er ist mehr... Ich fürchte..." Weiter konnte der Drache nicht sprechen. Langsam verblasste seine massige, schwarze Gestalt und hinterließ nur noch die Erinnerung. Hitomi starrte die Stelle, an der er gesessen hatte, lange an, dann drehte sie sich langsam im Kreis und sah sich um. Die Flammen hatten sie mittlerweile völlig eingeschlossen und außer dem lodernden Feuer konnte sie nichts mehr sehen.

"Auch du wirst brennen... Ihr alle werdet brennen... Ihr alle werdet mir gehören..." grollte eine dumpfe Stimme über das Flammenmeer. Ein Schauer rann Hitomi über den Rücken. Sie erkannte die Stimme...
 

Auriana wachte schweißgebadet auf. Sie strich sich das lange, blonde Haar aus dem Gesicht und blinzelte angestrengt in die Dunkelheit. Er war doch tot... Er war gestorben. Sie hatte es gespürt. Sie hatte die Freiheit gespürt. Er durfte nicht wiederkehren. Niemals!

Langsam stand Auriana auf. Neben ihr schliefen Mèo und Miguel im Schein des langsam erlöschenden Feuers. Allein die beiden waren ihr von ihrer Leibwache noch geblieben. Aber das reichte ihr. Am liebsten wäre sie ganz allein gewesen, doch die beiden hatten sich nicht davon überzeugen lassen, sie zu verlassen.

"Wacht auf," sagte sie schließlich und hockte sich zwischen den beiden nieder. "Wir müssen noch heute Nacht zu den Einhornbergen..."

Miguel war sofort auf den Beinen und bereitete das kleine Luftschiff zum Abheben vor, während Mèo erst langsam wach wurde. In letzter Zeit begann er wieder mehr ein Kind zu sein, als es Auriana jemals zuvor an ihm gesehen hatte. Auf eine seltsame Art beruhigte sie das.

"Es ist Zeit, die Seite zu wählen," murmelte Auriana leise, als sie anfing die Spuren ihres nächtlichen Aufenthalts zu beseitigen. "Und diese Wahl fällt nicht schwer..."
 

Tassilo dy Arkadia lief unruhig in dem Thronsaal seiner fliegenden Festung auf und ab. Das lange, rote Haar wehte wie eine blutige Fahne hinter ihm her. Seine ebenfalls blutroten Augen glühten wie lodernde Flammen.

"Herr," flüsterte ein Soldat leise, der mit gesenktem Haupt vor dem Thron kniete.

"Findet sie," knurrte Tassilo wütend. "Findet diese verdammten Rebellen. Und bringt sie mir. Lebend. Ich will das Vergnügen haben, sie zu töten. Ganz besonders Van Farnel und Alexander Dazéra Farnel..."

Mit einer unwirschen Handbewegung jagte Tassilo den Soldaten aus dem Thronsaal. Der neue Herrscher über Gaia blieb allein zurück. Am Fenster blieb er stehen und blickte hinaus. Im Moment kreiste die fliegende Festung über den noch immer schwelenden Überresten, die einmal das Königreich Farnelia gewesen waren. In seinem Inneren konnte Tassilo das unbändige blutrünstige Monster wieder toben fühlen.

"Gut so..." flüsterte die Stimme in seinen Gedanken. "Ich will Van Farnel sterben sehen. Die Kinder des Drachen sollen sterben... So wie er. Und wie ich..."

7. In der Nacht

Langsam verließen Alexander und seine neun besten Männer die sichere Festung in den Einhornbergen. Mit einem kleinen, gut getarnten Luftschiff flogen sie dicht über die Wipfel der Bäume hinweg. Sie waren bemüht möglichst wenig aufzufallen, da es doch ein großes Risiko darstellen würde, von einem Aufklärertrupp entdeckt zu werden. Alexander saß neben dem Steuermann im Cockpit des kleinen Luftschiffes, während sich die anderen acht im Laderaum drängten. Das Schiff war nun einmal nicht dafür gedacht bequem zu sein.

Schon nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht.

"Lande dort vorne," kommandierte Folkens Sohn und stand auf. Kaum war er durch die schmale Tür in den Laderaum getreten, da setzte das Luftschiff schon auf und die Aufklärer verließen das Schiff. Nun begann das Beobachten des Lagers von Tassilos Garde.
 

Auriana blickte nachdenklich in ihre Kristallkugel. Dass ihr ehemaliger Herr auf irgendeine Art wieder präsent war, spürte sie nur zu überdeutlich. Es kratzte an ihrer Seele und sie verspürte beinahe einen körperlichen Schmerz. Doch sie wollte sich nicht fügen. Diesmal nicht. Sie hatte zwei Jahre lang von der Freiheit gekostet und diese würde sie nicht freiwillig wieder aufgeben.

"Wohin müssen wir jetzt fliegen, Mylady?" fragte Miguel vorsichtig und riss Auriana aus ihren Gedanken. Sie blickte den hochgewachsenen, schweigsamen Mann mit der nachtschwarzen Haut einen Moment orientierungslos an, dann schaute sie aus dem Fenster und sah, dass sie sich schon am Rande der Einhornberge befanden. Anschließend blickte sie wieder in ihre Kristallkugel. Sie musste sich nur einen winzigen Moment lang konzentrieren und schon konnte sie Van sehen. Gerade betrat er ein dunkles Schlafzimmer und wollte offenbar zu Bett gehen.

"Na komm schon," murmelte Auriana leise. "Verrate mir, wo du bist, Van..." Das Bild wechselte schnell und schließlich sah sie einen mondlichtüberfluteten Hang, der an einer steilen Felswand endete. In dieser Felswand befand sich ein eisernes Tor.

"Halte dich nach Westen," sagte Auriana fest. "Dort werden wir sie finden..." Sie schloss die Augen und sah Van immer noch vor sich.
 

Van hielt mitten in der Bewegung inne. Er stand in dem dunklen Schlafzimmer, das er sich mit Hitomi teilte und hatte auf einmal das unbehagliche Gefühl beobachtet zu werden. Angestrengt starrte er in die Finsternis, doch er konnte nichts erkennen.

"Hitomi, bist du wach?" flüsterte er schließlich, doch Hitomis ruhiger Atem teilte ihm mit, dass sie tief und fest schlief.

Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch tastete sich Van weiter durch die Dunkelheit und stieß schließlich gegen das Bett. Schnell streifte er seine Kleider ab und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Dann krabbelte er zu Hitomi unter die Decke. Obwohl sie schlief, bemerkte sie sofort, dass er da war. Sie drehte sich zu ihm und kuschelte sich eng an seine Brust. Ein Lächeln huschte über Vans Gesicht und er legte den Arm liebevoll um Hitomi. Er hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Anschließend starrte er weiter in die Dunkelheit. Er war todmüde, doch er wollte nicht einschlafen. Er wusste, wovon er wieder träumen würde, wenn er die Augen auch nur eine Sekunde lang schloss. Seit gut einem Jahr sah er immer die gleichen Bilder. Und sie wurden kein bisschen leichter zu ertragen. Van seufzte leise auf. Wenn es nur einen Weg geben würde, dass er niemals wieder schlafen müsste... Gedankenverloren fuhr er sich durch das widerspenstige Haar und schloss schließlich doch die Augen. Sekunden später war er eingeschlafen.
 

Allen stand neben Leutnant Asha auf einem der Aussichtposten und beobachtete die schlafenden Berge unter dem strahlenden Sternenhimmel. Auch der Ritter des Himmels konnte nicht schlafen. Damit war er allerdings nicht allein. Weiter unten herrschte noch immer hektische Aktivität, die hauptsächlich an den überstürzten Evakuierungsvorbereitungen lag. Die Rebellen mussten bereit sein, am morgigen Abend wieder einmal zu fliehen. Allen seufzte leise und stützte sich an der Brüstung ab. Der kalte Nachtwind spielte mit seinem langen Haar und ließ es wie eine goldene Fahne wehen. Asha sah ihn aus dem Augenwinkel an.

"Ihr solltet besser schlafen gehen, Kommandant. Ihr seid schon seit Sonnenaufgang auf den Beinen. Und morgen wird ein harter Tag..." sagte der blonde Leutnant schließlich vorsichtig. Ihm war nicht entgangen, dass der Ritter des Himmels sehr viel müder war, als er zugeben wollte.

"Ich weiß, Asha," murmelte Allen leise. "Ich weiß. Aber ich will nicht schlafen." Er seufzte erneut. "Gibt es hier eigentlich irgendjemanden, der keine Alpträume hat?" Frustriert hieb er mit der Faust auf die Steine der Wand. Asha zuckte unwillkürlich zusammen. Der Leutnant hatte nicht erwartet, dass Allen ihm gegenüber solch eine Tatsache eingestehen würde. Wobei Asha sich, wenn er ehrlich war, auch eingestehen musste, dass er auch immer noch unter den Bildern der Zerstörung von Farnelia litt.

"Ich denke nicht, Kommandant," antwortete er schließlich leise. "Wir haben alle unsere Heimat verloren. Das schmerzt..."

Allen blickte ihn kurz aus seinen blauen Augen an und Asha konnte in ihnen den gleichen Schmerz und Zorn lesen, den auch er empfand. Ja, es musste allen so gehen...

"Ich gehe schlafen," sagte Allen plötzlich, drehte sich um und ließ Asha allein auf dem Aussichtsposten zurück.

8. Farnelia

Van träumte...

Wieder einmal fand er sich auf der Stadtmauer Farnelias wieder. Es war Nacht und er war nicht allein. Neben ihm stand Hitomi, die sich geweigert hatte, mit den meisten anderen Frauen, Kinder und Alten in die sicheren Berge zu fliehen. Der Angriff von Tassilos Armee stand unmittelbar bevor. Es war nur noch eine Frage der Zeit...

Escaflowne stand hinter ihm bereit, doch Van wusste, dass Kämpfen wenig Sinn machte. Ein Kampf diente einzig und allein dazu, seinem Volk die Flucht aus Farnelia zu ermöglichen. Van drehte sich um und blickte auf sein Land. Die Stadt lag schweigend vor ihm. Nur wenige Lichter brannten, doch trotzdem konnte er die huschenden Gestalten der Soldaten und die geisterhaften Bewegungen der Guymelefs sehen. Farnelia war für den Angriff bereit. Plötzlich erregte eine Bewegung am Himmel seine Aufmerksamkeit. Sie war direkt über dem Palast.

Schlagartig brach die Hölle los. Auf einmal stiegen hohe Flammen aus dem Palast empor und fraßen sich rasendschnell durch die Stadt. Der Angriff kam aus den Bergen, nicht aus dem Wald.

Fassungslos sah Van, wie sich die feindliche Armee bereits durch die Straßen der Stadt wälzte. Und die feindlichen Soldaten waren nicht allein. Vor sich trieben sie die bereits Geflüchteten her. Van rann ein eisiger Schauer über den Rücken.

"Majestät!" riss ihn auf einmal eine sich überschlagende Stimme von dem fürchterlichen Anblick los. Er blickte zur Seite und sah neben der erstarrten Hitomi Admiral Vitguer stehen, der ihn alarmiert ansah. "Wir müssen uns wehren!"

Van nickte kaum merklich und schrie: "Zum Angriff!" Damit rannte er zu Escaflowne und schwang sich in das Cockpit der vertrauten Kampfmaschine.

Doch so sehr er es auch versuchte, er konnte nichts gegen die übermächtigen Angreifer ausrichten. Für jeden Guymelef, den er besiegte, standen zwei andere vor ihm. Sie waren hoffnungslos unterlegen. Schließlich begriff er, dass er aufgeben musste. Er sah sich um und erkannte, dass nur noch eine Handvoll Soldaten um ihn herum stand. Unter ihnen waren Vitguer, Asha, Louvain, Alexander und Ivory. Er wusste nicht, wo Hitomi war.

"Wir fliehen," sagte er schließlich resigniert. "Wir fliehen!"

Schmerzerfüllte Blicke trafen ihn und er wusste, dass er diese Entscheidung vielleicht zu spät getroffen hatte. Er verwandelte Escaflowne in einen Drachen und erhob sich in die Luft, um so den Rückzug seiner Männer besser leiten zu können. Kaum war er jedoch in der Luft, als er urplötzlich angegriffen wurde. Ein scharfer Schnabel riss ihm die Wange direkt unter seinem linken Auge auf. Der Angreifer hatte unzweifelbar nach seinem Auge gezielt. Mit der rechten Hand riss Van erschrocken sein Schwert aus der Scheide und schlug nach dem geflügelten Angreifer, der ihn nun mit seinen scharfen Krallen attackierte. Dabei versuchte er mit der linken Hand Escaflowne weiter zu steuern. Auf einmal wusste er mit erschreckender Klarheit, dass er abstürzen würde, wenn er diesen Feind nicht sofort loswerden konnte. Entschlossen ließ er die Steuerleinen fallen, griff mit beiden Händen das Schwert und wandte sich vollends seinem Angreifer zu. Zum ersten Mal konnte Van seinem Feind ins Gesicht sehen. Der Greif flog beinahe gemächlich neben Escaflowne her und hackte mit einem scharfen Schnabel immer wieder nach Van. Blitzschnell hatte er dem jungen König das Kettenhemd aufgerissen. Gleichzeitig schlug der Greif mit seinen Löwenpranken zu. Van wehrte ihn mit einer heftige Parade ab und schlitzte dem Tier das goldene Fell auf. Der Greif quittierte diese Attacke mit einem heftigen Aufkreischen und schlug nur noch entschlossener nach Van. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Escaflowne sich ohne seine Steuerung nicht mehr lange in der Luft halten würde. Langsam sanken sie der brennenden Stadt entgegen. Dann stockte Van fast das Blut in den Adern. Er sah Hitomi in dem Schatten einer Häuserreihe kauern. In ihren Armen hielt sie ihre gemeinsamen Kinder. Und die feindlichen Soldaten näherten sich ihr unaufhaltsam.

Van fluchte laut auf, verpasste dem Greifen einen überraschenden Schlag ins Gesicht, der diesen sein rechtes Auge kostete, und griff nach den Steuerleinen. Sofort ging er in den Sturzflug über und raste auf Hitomi zu. Sie hob den Kopf und sah ihn aus ihren grünen Augen verzweifelt an. Van blickte zu den feindlichen Soldaten und begriff, dass er es nicht schaffen konnte. Und plötzlich war der Greif wieder neben ihm und griff ihn erneut an.

"Hitomi!" Van schrie gellend auf und sah, wie seine Frau aufsprang. Gleichzeitig wehrte er den Schnabel des Greifen aus purer Verzweiflung mit seinem bloßen Arm ab.

"Escaflowne, bitte..." flehte Van kaum hörbar. Und der Guymelef von Isparno schien ihn zu erhören.

Obwohl es vollkommen unmöglich war, erhöhte Escaflowne seine Geschwindigkeit noch einmal. Das enttäuschte Kreischen des Greifen hinter ihm verriet Van, dass er nun zumindest ein Problem weniger hatte. Er konzentrierte sich voll auf Hitomi. Direkt vor ihr krachte Escaflowne zu Boden und Van streckte ihr die Hand entgegen. Hitomi rannte los und mit ihren Kindern im Arm zog Van sie auf Escaflownes Rücken. Nur einen Sekundenbruchteil später schossen sie in den dunklen Nachthimmel empor. Vans Herz raste noch immer wie verrückt, doch es schien, als wenn sie zumindest im Moment in Sicherheit wären. Wie trügerisch diese Hoffnung war, erkannte Van, als er sich umsah und der einäugige Greif wieder neben ihm schwebte...

9. Abgestürzt

Van wachte schweißgebadet auf. Er keuchte und schnappte angestrengt nach Luft. Er hasste diesen Traum. Er hasste ihn. Vor allem deswegen, weil er wusste, wie es weiterging und trotzdem jedes Mal aufs Neue Todesangst ausstand. Neben ihm bewegte sich Hitomi leicht im Schlaf. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn sanft am Arm. Trotz der absoluten Dunkelheit wusste Van ganz genau, wie sie jetzt neben ihm lag. Eng zusammengerollt, mit geschlossenen Augen und einer vorwitzigen Haarsträhne in der Stirn. Ein liebevolles Gefühl überkam ihn, wie immer, wenn er sie neben sich wusste. Vorsichtig tastete er nach ihrer Hand und drückte sie. Dann holte ihn das Bild seines Traums wieder ein. Niemals würde er vergessen, wie verzweifelt sie ihn angesehen hatte. Später hatte sie ihm schließlich erzählt, wie sie überhaupt an diese Stelle gelangt war, Auf der Stadtmauer war sie zwar in Sicherheit gewesen, doch als sie das Kindermädchen von Varie und Vargas mit den beiden auf dem Arm in der Menge der Fliehenden gesehen hatte, hatte sie sich ins Gedrängel gestürzt. Sie war gerade rechtzeitig gekommen, um ihre Kinder zu retten. Kaum hatte sie das Kindermädchen erreicht, als es auch schon von einem feindlichen Soldaten niedergestochen worden war. Ehe dieser die Kinder jedoch hatte verletzten können, hatte Hitomi ihn mit dem Mut der Verzweiflung überwältigt. Sie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, doch irgendwie hatte sie es. Danach war sie mit ihren Kindern geflohen und hatte sich schließlich in die Enge getrieben wiedergefunden, als Van sie entdeckt hatte.

In Erinnerung an diese Erzählung rann Van ein erneuter Schauer über den Rücken. Er mochte nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn er sie nicht hätte retten können...

Langsam schloss Van die Augen und betete, dass ihn die Vergangenheit nicht erneut im Traum einholen würde.
 

Alexander und seine Leute beobachteten aufmerksam das Lager von Tassilos Garde. Das Wachsystem war nicht besonders aufwändig. Gerade einmal fünf Mann standen an jeder Seite Wache und wurden alle zwei Stunden abgelöst.

Nichts Besonderes also, dachte Alexander erleichtert.

Wenn sie morgen Abend direkt nach Sonnenuntergang hier wären, würden sie leichtes Spiel haben. Folkens Sohn hob den Kopf und spähte nach Osten. Ja, langsam zeigten sich die ersten Anzeichen der Morgenröte.

"Wir ziehen uns zurück," gab er seinem Nebenmann per Zeichensprache zu verstehen und nur einen Moment später huschten die zehn Gestalten zu ihrem Luftschiff zurück. Sie wollten gerade an Bord gehen, als ein lautes Krachen ertönte. Alexander hielt mitten in der Bewegung inne.

"Was war das?" fragte Marius, der neben seinem Kommandanten auf dem Posten gewesen war. Unruhig strich er sich über das zusammengebundene, grünliche Haar. Nervös starrte er in den dunklen Wald.

"Wir sollten nachsehen," murmelte Phil, der Pilot der Truppe. Bevor Alexander jedoch etwas sagen konnte, erklang das schmerzerfüllte Kreischen eines Greifen und kurz darauf der laute Schrei eines Kindes.

"Scheiße! Da ist jemand in Schwierigkeiten!" rief Alexander. "Los! Und haltet die Fackeln bereit!" Damit stürmte er durch den Wald davon. Die neun Soldaten folgten ihm auf dem Fuße.
 

Auriana rappelte sich langsam aus den Trümmern ihres Luftschiffes auf. Sie war sich nicht sicher, was eigentlich passiert war. Sie wusste nur, dass sie abgestürzt waren.

Plötzlich ertönte neben ihr ein gellender Schrei. Erschrocken sah sie zur Seite und wurde mit heißem, roten Blut bedeckt. Das geflügelte, massige Tier, das sie hatte angreifen wollen, sank tot zu Boden und Miguel zog beinahe beiläufig seinen Säbel aus dem Hals des Greifen. Sofort wandte er sich dem nächsten Angreifer zu. Verwirrt sah Auriana ihm nach und begriff dann schlagartig, dass sie sich in ernster Gefahr befand. Doch bevor sie sich bewegen konnte, hackte schon der nächste Greif mit seinem Schnabel nach ihr und zwang sie in Deckung zu gehen. Irgendwo hörte sie Mèo schreien.
 

Alexander stürmte auf die Lichtung und sah drei Greifen, die um das Wrack eines abgestürzten Luftschiffes herumwirbelten. Ein vierter lag tot am Boden. Sie trugen keine Reiter auf ihrem Rücken, sondern gehörten offenbar zu einem kleinen Jagdtrupp, der die Gegend von unliebsamen Besuchern frei halten sollte. In Gedanken notierte er sich diese Art der Wachen noch, bevor er sich auf den Greifen stürzte, der gerade eine schlanke, blutverschmierte, blonde Frau angriff.
 

Miguel hatte den Greif, der es wagte, ihn anzugreifen, sehr schnell besiegt. Im Kampf verwandelte sich der Mann mit der mitternachtsschwarzen Haut und den eiskalten, grauen Augen in einen tödlichen Schemen, dem auch ein Greif wenig entgegenzusetzen hatte. Sofort wollte Miguel seinen beiden Begleitern zur Hilfe eilen, doch als er sich umsah, erkannte er, dass diesen bereits genug geholfen wurde. Mèo und Auriana wurden von jeweils fünf grimmig aussehenden jungen Kriegern unterstützt. Mit Fackeln schlugen diese nach den verbliebenden beiden Greifen und besiegten sie in kurzer Zeit.
 

"Ist bei Euch alles in Ordnung?" erkundigte sich Alexander und ließ keuchend sein Schwert wieder in der Scheide verschwinden.

Auriana nickte langsam und blickte den jungen Mann mit den schwarzen Locken und den dunklen Augen forschend an. Sie kannte sein Gesicht. Nachdenklich strich sie sich das blutverklebte Haar aus der Stirn. Dann erinnerte sie sich. Das war Vans Neffe! Sie hatte ihn schon einmal gesehen.

"Kennen wir uns?" fragte Alexander verwirrt und musterte die blonde Frau. Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor...

Innerlich stöhnte Auriana auf. Alexander war natürlich in der Lage, sie zu Van zu bringen. Es stellte sich nur die Frage, ob er es tun würde...

"Prinzessin!" Miguel eilte sie Auriana und verneigte sich demütig vor ihr. Dann stützte er sie unaufgefordert. Auriana ließ es gedankenverloren geschehen. Was sollte sie nur jetzt tun?

"Prinzessin?" Alexander sah sie forschend an. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

"Auriana!" knurrte er. "Da wird sich Van aber freuen, wenn wir ihm drei Gefangene mitbringen..."

10. Wieder Farnelia

Van war wieder eingeschlafen und träumte genau an der Stelle weiter, an der er zuvor aufgewacht war.

Der Greif flog dicht neben Escaflowne her und schlug mit seinen Vorderpranken hasserfüllt nach Van. Verzweifelt bemühte sich dieser, gleichzeitig den Schlägen auszuweichen, Escaflowne in der Luft zu halten und Hitomi nicht zu gefährden. Schließlich war es Hitomi, die handelte. Sie legte ihre beiden Säuglinge vorsichtig auf dem Boden ab, griff sich Vans Schwert und schlug zu. Mit dem ersten Schlag trennte sie dem Greif beinahe die rechte Vorderpfote ab. Schmerzerfüllt kreischte das Tier auf und taumelte zur Seite. Im gleichen Moment schlug Hitomi erneut zu. Van konnte hören, wie der Flügel des Greifen unter ihrem Schlag brach und mit einem lauten Todesschrei stürzte das Tier ab.

"Mistvieh," keuchte Hitomi leise, steckte das Schwert weg und kümmerte sich wieder um ihre Kinder, die erschreckend still waren. Fast schien es, als wenn sie ihre Eltern so gut wie möglich in diesem verzweifelten Kampf unterstützen wollten - und sei es nur durch Schweigen.

Van lenkte Escaflowne sicher durch die Luft und spähte hinunter. Er konnte noch immer rennende Menschen zwischen Flammen, Rauch und feindlichen Soldaten und Guymelefs ausmachen. Immer wieder sah er Menschen tot oder verwundet zu Boden fallen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Tränen voller Zorn, Wut und Verzweiflung. Er wollte nichts lieber, als diese Mistkerle zu töten, doch er konnte nichts tun. Er fühlte sich gänzlich hilflos.

"Da ist Merle!" schrie Hitomi schließlich auf. Van blickte in die Richtung, in die seine Frau zeigte und erkannte sofort das rosafarbene Haar des Katzenmädchens. Geduckt rannte Merle durch den Rauch und versuchte verzweifelt ihren Verfolgern zu entkommen. Auch sie trug ein Kind auf dem Arm.

"Wir müssen runter, Van!" rief Hitomi. Van nickte stumm und lenkte Escaflowne langsam nach unten. Schnell war er neben Merle. Hitomi streckte sofort die Hand aus und half dem Katzenmädchen und ihrem Baby an Bord. Kaum hatte Van Escaflowne wieder hochgezogen, als das Haus hinter ihnen in einem Regen aus Feuer zusammenbrach.

"Und jetzt?" flüsterte Hitomi leise und starrte entsetzt auf das Flammenmeer unter und hinter ihnen.

"Zum Sammelpunkt," erwiderte Van mit Tränen in den Augen. "Wir fliegen zum Sammelpunkt..."
 

"Majestät!" Die Stimme von Leutnant Asha riss Van aus seinem Traum. Überrascht blinzelte er in das Licht, das durch die offene Tür in das Schlafzimmer hineinschien.

"Was ist denn, Leutnant?" brummte Van verschlafen und setzte sich in seinem Bett auf. Er spürte, wie sich Hitomi neben ihm bewegte.

"Kommandant Alexander ist wieder zurück. Und er hat Gefangene mitgebracht..."

Sofort war Van hellwach. "Ich komme sofort," erwiderte er.

Asha nickte und zog taktvoll die Tür zu, damit sich der König von Farnelia anziehen konnte. Er ließ jedoch eine brennende Lampe im Schlafzimmer zurück.

"Was ist denn?" murmelte Hitomi leise und blinzelte Van aus ihren grünen Augen an.

"Alex ist wieder da und hat Gefangene mitgebracht," erwiderte ihr Mann und sprang aus dem Bett. Er griff schnell nach den Kleidern, die er am Abend zuvor so gedankenlos auf den Boden geworden hatte.

"Nimm mich mit," sagte Hitomi entschlossen und sprang auf. Innerhalb weniger Minuten war das Königspaar von Farnelia fertig angezogen und stürmte durch die Tür. Asha erwartete sie bereits und führte sie sofort zum Gefängnistrakt, der bisher immer leergestanden hatte.
 

Auriana seufzte leise. Sie saß neben Miguel und Mèo auf der schmalen Holzpritsche und lehnte sich nun an die kalte Steinwand. Durch die Gitter wurden sie von zwei Soldaten beobachtet. Das Blut war mittlerweile auf ihrem Haar, ihrer Haut und ihrem Kleid getrocknet und fühlte sich widerlich an. Sie fand auch, dass sie ekelhaft roch. Nach Tod...

Auriana schüttelte den Kopf und versuchte vergeblich mit den Fingern die verklebten, blonden Haarsträhnen von einander zu lösen. Dieses aussichtslose Unterfangen gab sie jedoch recht schnell wieder auf. Scheinbar gelangweilt funkelte sie die Soldaten vor der Tür an.

"Kümmert sich auch mal jemand um uns?" fauchte sie gereizt.
 

Van und Hitomi blieben wie angewurzelt stehen. Diese schneidende, ein wenig kühle Stimme kam ihnen so bekannt vor. Sie sahen sich kurz an, dann bog Van als erster um die Ecke und blieb erneut stehen. Ja, da saß sie wirklich. Diesmal zwar nicht auf einem bedeutungslosen Thron, sondern auf einer hölzernen Gefängnispritsche, doch sie war es. Ihre blauen Augen hatten noch immer diesen kalten Glanz und in ihrer ganzen Art lag noch immer diese seltsame Eleganz, die sie schon immer ausgezeichnet hatte. Zwar war sie diesmal nicht elegant gekleidet, sondern blutverschmiert, doch das tat ihrer Ausstrahlung keinen Abbruch. Eher das Gegenteil war der Fall. Jetzt sah sie zum ersten Mal so gefährlich aus, wie sie es in Wirklichkeit war.

"Auriana..." murmelte Van leise.
 

Auriana hörte ihren Namen und blickte an den Soldaten vorbei. Sie sah Van an der Ecke stehen. Er blickte sie aus seinen braunen Augen unverwandt an und zu ihrer Überraschung konnte sie nicht erkennen, was dieser Ausdruck in ihnen zu bedeuten hatte. Auriana stand langsam auf und trat an das Gitter heran. Van ging weiter und blieb direkt vor ihr stehen.

"So sehen wir uns also wieder," sagte er langsam. "Nur diesmal bist du die Gefangene..."

"Die Dinge ändern sich eben," erwiderte Auriana gelassen und sah ihm fest in die Augen.

Nun bog auch Hitomi um die Ecke und blickte Auriana an.

Sie sagte jedoch nichts, sondern dachte nur stumm: Auriana... Sie erinnerte sich schlagartig an die Hochzeit, die Auriana und Van vor fast vier Jahren gefeiert hatten. Und dann automatisch an die Bilder, die ihr der Manticor vor einer Ewigkeit - wie es ihr schien - gezeigt hatte. Hitomi spürte eine beinahe körperliche Abneigung in sich hochsteigen.

11. Auriana

Ach, Van, dachte Auriana traurig, wenn die Dinge damals doch nur anders gelaufen wären... Im gleichen Moment rief sie sich aber selbst zur Ordnung. Sie sind es aber nicht. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern. Sie ist, was sie ist. Und wird es auch immer bleiben. Nur die Gegenwart lässt sich wandeln...

Sie umfasste die Gitterstäbe mit einer blutverschmierten Hand und blickte Van noch immer unverwandt an. Langsam senkte er den Blick und betrachtete ihre Hand.

"Ich vermute mal, dass das nicht dein Blut ist," sagte er kühl und blickte ihr wieder in die Augen.

"Es war ein Greif," erwiderte sie. "Wir sind angegriffen worden."

"Ach?" Van zog spöttisch eine Augenbraue hoch. "Es überrascht mich, dass du nicht mit Tassilo gemeinsame Sache machst. Aber wahrscheinlich tust du das doch und bist hier nur als Spion... Überraschen würde es mich nicht."

"Das denkst du also von mir." Ein kühles Lächeln huschte über Aurianas Gesicht. "Ich habe nicht meine Freiheit von dem einen Tyrannen gewonnen, nur um mich in die Gewalt eines anderen zu begeben. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Van. Das müsstest du doch wissen..."

"Was willst du hier?" fauchte Hitomi plötzlich und stellte sich neben Van.

Auriana musterte sie mit einem abschätzenden Blick. Ihr entgingen weder das Schwert, noch das Kettenhemd und der harte Ausdruck in Hitomis Augen. Dies war nicht mehr das Mädchen, dem sie damals in dem Schloss von Farnelia das erste und in den Ruinen auf der Rückseite Gaias das zweite Mal begegnet war. Dies war eine Kriegerin. Mit Ehrfurcht registrierte Auriana diesen Wandel. Sie wünschte sich, dass sie selbst in der Lage gewesen wäre, an ihrem Leben zu wachsen und sich zu entwickeln. Sie hatte das Gefühl immer noch auf der Stelle zu treten und sich kein bisschen verändert zu haben.

"Mich euch anschließen," erwiderte Auriana sanft. "Ich werde nicht noch einmal den Fehler machen, mich auf seiner Seite wiederzufinden..."

"Das fällt mir schwer zu glauben," entgegnete ihr Hitomi schnippisch. "Und außerdem: wer ist er?"

"Sag bloß, das weißt du noch nicht..." Auriana sah die Frau mit den hellbraunen Haaren verwirrt an. Der Manticor hatte doch immer von ihren besonderen Fähigkeiten gesprochen. Spürte sie es etwa nicht?

"Spürst du ihn nicht? Fühlst du nicht, wer hinter Tassilo steht?" fragte Auriana überrascht und sah Hitomi aus geweiteten, blauen Augen an. Und plötzlich begriff Hitomi. Die Worte des Drachen machten auf einmal Sinn und sie erkannte, wer am Ende ihrer Vision noch gesprochen hatte.

"Nein..." flüsterte sie schockiert. "Nein..."

"Was ist?" fragte Van und sah Hitomi besorgt an.

"Van, Tassilo wird von dem Manticor beherrscht! Oder unterstützt. Was auch immer. Der Manticor ist wieder da, Van!" sagte Hitomi und blickte Van erschrocken an.

Für einen kurzen Moment blickte Van sie an, dann sah er wieder zu Auriana.

"Und warum sollten wir glauben, dass du nicht zu ihm zurückkehrst?" fragte er nachdrücklich.

Die blonde Frau lachte heiser auf. "Ich? Zu ihm zurückkehren? Ich war die letzten zwei Jahre frei. Zum ersten Mal in meinem Leben weiß ich, was Freiheit bedeutet! Warum sollte ich das aufgeben wollen? Warum?! Ich werde nicht in dieses unsichtbare Gefängnis zurückkehren. Niemals. Niemals! Er bekommt mich nicht zurück. Ich habe genug unter ihm gelitten..."

Auriana sah Van fest an und tief in ihren kornblumenblauen Augen erkannte er einen unendlichen Schmerz, der ihm verriet, dass sie die Wahrheit sagte. Van blickte zu den Wachen.

"Lasst sie raus und weist ihnen zwei Quartiere zu. Sie sollen sich frisch machen können. Aber bewacht sie weiter," sagte er fest. Dann schaute er wieder zu Auriana. "Du siehst ja schrecklich aus..." Ein leichtes Lächeln kräuselte seine Lippen.

Auriana hatte das Gefühl, als wenn ihr ein Stein vom Herzen fallen würde. Nein, es war eher ein ganzer Berg. Er glaubte ihr! Er glaubte ihr... Sie erwiderte sein Lächeln und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass der Eispanzer, unter dem ihr Selbst verborgen lag, langsam aufbrach.

Van drehte sich um und zog Hitomi mit sich. Zusammen gingen sie davon, während die Wache die Tür der Zelle aufschloss.

"Van!"

Der König von Farnelia drehte sich um und sah Auriana an. Sie stand auf dem Gang und blickte ihn bittend an.

"Was ist mit Laures und Lauria?"

Er schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Sie sind verschwunden..."

Traurig nickte Auriana und folgte dann zusammen mit Miguel und Mèo den beiden Wachen zu ihren Quartieren. Van schaute ihr noch einen Moment nach, dann folgte er Hitomi.

12. Laures und Lauria

"Warum fragt sie auf einmal nach den beiden?" fragte sich Van laut, während er neben Hitomi durch die langsam erwachende Festung schritt. Er hatte selbst lange nicht mehr an Laures gedacht, seinen Sohn, und an Lauria, Laures' Schwester. Wo sie wohl waren? Ob sie überhaupt noch lebten?

Hitomi zuckte nur mit den Schultern. "Mich interessiert viel mehr, warum sie auf einmal hier ist. Und warum zum Teufel du sie rausgelassen hast!"

Hitomi blieb stehen und funkelte Van zornig an.

"Weil sie die Wahrheit gesagt hat," entgegnete Van ruhig. Er konnte Hitomis Zorn verstehen. Mehr als das. Ihm ging es selbst nicht viel anders. Auch er war immer noch voller Wut auf Auriana.

"Hast du vergessen, was sie uns alles angetan hat? Sie stand auf der Seite des Manticor! Sie hat dich benutzt! Kannst du das so einfach vergessen?!"

"Natürlich nicht." Van bemühte sich krampfhaft ruhig zu bleiben und kämpfte gegen den Drang an, ebenfalls zu schreien. "Aber wie du schon sagst, sie stand auf der Seite des Manticor. Die Dinge haben sich geändert. Ich glaube ihr. In ihren Augen... Da war etwas. Ein solcher Schmerz..."

"Na und?" schnappte Hitomi und ging energisch weiter. "In mir ist auch Schmerz! Hast du den Manticor vergessen? Hast du Farnelia vergessen? Hast du all die Toten vergessen?"

Van rannte ihr nach und hielt sie an der Schulter fest.

"Hitomi, hör auf! Auriana hat uns viel angetan - ja! Aber wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können. Jede! Auch Auriana. Und sie kennt den Manticor besser als wir alle. Sie kann uns vielleicht helfen."

Hitomi sah Van trotzig an. Dieser blickte fest zurück und wich ihr keinen Wimpernschlag lang aus. Schließlich senkte Hitomi den Blick und lehnte ihre Stirn an Vans Brust.

"Du hast ja recht," seufzte sie leise. "Du hast ja recht... Aber das ändert nichts daran, dass ich..." Hitomi sprach nicht weiter, doch Van wusste auch so, was sie sagen wollte.
 

Auf einer Insel, fernab des Festlandes, mitten im Auge des ewigen Sturms, saßen ein Junge mit langen schwarzen Haaren und ein Mädchen mit goldenen Haaren aneinander gelehnt am Lagerfeuer. Sie waren allein auf der Insel. Hier gab es niemanden sonst. Niemanden, der über sie richten und sie verurteilen konnte. Niemanden, der versuchte, sie zu benutzen.

"Ist alles in Ordnung, Lauria?" fragte der Junge mit den hüftlangen, schwarzen Haaren schließlich und streichelte dem Mädchen sanft über die Wange.

"Ja, Laures, ja," murmelte sie leise. "Ich habe nur so ein Gefühl... Das Gefühl, dass wir bald eine Seite wählen müssen..."

"Ich weiß, was du meinst," antwortete ihr Bruder langsam und löste sich von Lauria. Er stand auf und blickte auf die tobenden Sturmwolken am Horizont. Lauria sah ihm zu, wie er den Horizont schweigend betrachtete. Schließlich stand auch sie auf und gesellte sich zu ihm.

"Die Wahl fällt nicht schwer, oder?" meinte sie sanft.

"Nein, das tut sie wirklich nicht," erwiderte Laures mit einem Lächeln und küsste seine Schwester zärtlich.

"Lass mich deine Flügel sehen," lächelte sie, nachdem sie sich wieder von einander gelöst hatten.

Laures streifte sein Hemd ab und breitete seine vier schwarzen Flügel aus, zwei gefiederte und zwei ledrige Schwingen. An einigen Stellen waren die Federn vollständig ausgefallen und an anderen waren die Knochen offenkundig schief zusammengewachsen. Lauria schnürte sich bei diesem Anblick das Herz zusammen. Sie wusste, dass Laures niemals mehr fliegen würde. Nicht mit diesen Flügeln. Laures blickte Lauria in ihre schwarzen Augen und erkannte in ihnen genau das, was er selbst längst wusste. Für ihn würde das Fliegen unmöglich sein. Ein Gefühl von Hass, das er schon lange nicht verspürt hatte, kam in ihm hoch.

Dafür wirst du bezahlen, Manticor. Und für deine Lügen. Ich habe dich noch nicht vergessen, oh nein. Du wirst bezahlen... schwor er dem Manticor stumm.

Lauria spürte genau, was in Laures vorging. Und selbst in ihr, die noch nie zuvor Zorn und Hass verspürt hatte, regte sich ein finsteres Gefühl. Auch sie wollte, dass der, der für ihr Leid verantwortlich war, bezahlen musste.

Laures streichelte ihr liebevoll über das goldene Haar. Sie lächelte ihn an und wie zur Beruhigung entfaltete sie ihre Silberschwingen. Ihr silberfarbener Glanz spiegelte sich in Laures' schwarzen Flügeln wieder und für den Moment schien es Lauria so, als wenn sich die Haltung seiner Schwingen ein wenig gerichtete hätte, doch sofort wies sie das als Einbildung zurück. Das war unmöglich. Voller Traurigkeit umarmte sie ihren Bruder.
 

In ihrem Zimmer angekommen, stellte Auriana mit Erleichterung fest, dass man ihr auch die Überreste ihres Gepäcks hergebracht hatte. Hektisch durchsuchte sie die einsame Tasche und fand schließlich ihre Kristallkugel. Mit untergeschlagenen Beinen nahm sie auf dem Boden Platz und hielt die Kugel in ihren blutverschmierten Händen. Es gab jetzt Wichtigeres, als sich zu waschen. Sie starrte in die Kristallkugel und konzentrierte sich.

Meine Kinder, flehte sie stumm, Zeig mir meine Kinder! Bitte!

Sie wusste nicht, woher dieses drängende Gefühl und diese Sorge auf einmal kamen, doch sie waren da. Zum ersten Mal empfand sie etwas für ihre Kinder.

Allmählich klärte sich das rauchige Bild in der Kugel und sie sah Laures und Lauria mit ausgebreiteten Flügel an einem Sandstrand. Sie hielten sich fest umarmt und wiegten sich zu einer unhörbaren Melodie. Langsam traten Auriana Tränen in die Augen.

13. Gefühle

"Van, wie stellst du dir das mit Auriana eigentlich vor?" fragte Hitomi und funkelte ihren Mann wütend an. "Sollen wir ihr etwa vertrauen? Wie können wir das denn?"

Van seufzte leise. "Glaub mir einfach, Hitomi, du kannst ihr trauen. Sie steht auf unserer Seite. In ihren Augen lag etwas... Sie hasst den Manticor, Hitomi."

Hitomi schnaubte nur und schlug mit der Hand zornig gegen die Felswand.

Van und sie standen in dem Sitzungssaal. Bald würden auch die anderen eintreffen und die Pläne für die heutige Nacht schmieden, doch noch war das Königspaar von Farnelia allein.

"Hitomi, frag doch deine Tarotkarten," sagte Van plötzlich. "Zieh nur einen einzige Karte als Antwort auf die Frage, was Auriana für uns ist. Vielleicht verstehst du dann endlich!"

Sie sah ihn überrascht an. Eigentlich war das ein ziemlich guter Vorschlag. Sie hatte die Karten zwar schon lange, sehr lange, nicht mehr gelegt, aber schaden konnte es ja nicht. Hitomi griff nach die kleine Tasche an ihrem Gürtel. Auch wenn sie ihre Tarotkarten lange nicht mehr benutzt hatte, trug sie sie doch immer bei sich. Fast waren sie zu einer Art Glückbringer geworden.

Hitomi ließ sich an dem großen Tisch nieder und mischte die Karten. Schließlich formte sie einen ordentlichen Stapel und griff nach der obersten Karte.

"Na los, Auriana, was bedeutest du für uns?" murmelte Hitomi leise, während sie die Karte umdrehte.

"Das Gericht." Sie blickte die Karte nachdenklich an.

"Und was heißt das?" fragte Van neugierig.

"Dass eine tiefe innere Wandlung bevorsteht. Es gibt einen Neubeginn..." Nachdenklich fuhr sich Hitomi durch die kurzen Haare. "Also gut, sie bekommt eine Chance. Aber mehr auch nicht..."

"Das ist doch schon etwas." Van lächelte sie liebevoll an und streichelte ihr zärtlich über die Wange.
 

Auriana blickte das Bild in ihrer Kristallkugel nachdenklich an. Ihre Kinder. Laures und Lauria. Sie sollten noch nicht so erwachsen sein. Sie sollten noch nicht allein sein. Auriana seufzte leise auf. Eigentlich waren die beiden ja erst zweieinhalb Jahre alt, aber der Zauber des Manticor hatte alles verändert... Nun waren sie siebzehn. Siebzehn und hatten nie eine wahre Kindheit gehabt. Tränen traten der blonden Prinzessin in die Augen.

"Du verdammter Mistkerl," murmelte sie leise. "Du hast sie einfach so auf deinem Altar geopfert. Nur ein paar weitere Schachfiguren in deinem Spiel... Aber damit ist jetzt Schluss, Manticor. Ein für alle Mal..."

Zornig wischte sich Auriana die Tränen aus dem Gesicht. Nein, sie würde sich dem Manticor nicht noch einmal beugen. Da konnte er in ihren Träumen noch so laut nach ihr brüllen. Sie mochte zu seinem Volk gehören, seine Tochter sein, doch sie würde niemals wieder auf seiner Seite stehen...
 

Milerna verarztete im Lazarett eine hässliche Wunde, die sich Alexander bei dem Kampf gegen die Greifen zugezogen hatte.

"Schon wieder ein verdammter Greif," knurrte er, während Milerna seinen Oberarm langsam verband.

"Wem sagst du das," murmelte Milerna. "Ich sehe genug von den Verletzungen, die diese Viecher reißen..."

Alexander blickte Milerna an und lächelte vorsichtig. "Ich weiß gar nicht, was wir ohne dich machen würden..."

"Wahrscheinlich an einer Blutvergiftung sterben," brummte die blonde Prinzessin und zog den Verband fest. "So, du bist dann fertig. Und pass das nächste Mal gefälligst besser auf."

"Aye, aye, Sir!" Mit einem Lachen salutierte Alexander vor ihr. Nun musste Milerna auch grinsen.

"Na los, hau schon ab!" lachte sie.

"Bis nachher im Sitzungssaal!" rief Alexander noch, dann sprang er auf und ging aus dem Lazarett.

Milerna sah ihm kopfschüttelnd nach. Anschließend kümmerte sie sich wieder um das Verpacken der Arzneimittel. Bis heute Abend musste sie diesen Raum geräumt haben, denn dann würden sie schließlich aufbrechen. Sie verpackte die Tinkturen und Verbände weiter in den Kisten. Schließlich hielt sie inne und wischte sich das verschwitze Haar aus der Stirn. Langsam sah sie sich in dem halbrunden Höhlenraum um. Das ganze letzte Jahr hatte sie hier drinnen gearbeitet, Menschen gerettet und sterben gesehen. Sie wollte es sich eigentlich nicht eingestehen, doch irgendwie war dieser Ort fast schon zu einer Art Heimat geworden.

Obwohl Asturia und Freyd natürlich schöner waren... dachte sie. Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.

"Milerna?" Allen hatte unbemerkt das Lazarett betreten und ging nun langsam auf sie zu. "Ist alles in Ordnung?" Besorgt blickte er seine Frau an.

"Ja, ja," erwiderte Milerna schnell und wischte sich die Träne aus dem Gesicht. "Ich habe nur etwas Staub im Auge..."

Allen streckte sie Hand aus und fuhr ihr sanft über die Wange. Sie lächelte ihn traurig an.

"Du denkst an Freyd und Asturia," stellte er fest.

Sie nickte nur. Tröstend zog der Ritter des Himmels sie in seine Arme und streichelte ihr liebevoll über den Rücken.

"Die Dinge werden sich wieder ändern, Milerna," flüsterte er leise. "Das verspreche ich dir..."
 

Louvain wachte langsam auf. Merle hatte sich eng an seine Seite gekuschelt und er spürte seinen rechten Arm nicht mehr. Trotzdem bewegte er sich nicht, sondern starrte in die Dunkelheit. Das war eben die Sache mit diesen Höhlenzimmern. Es gab kein Tageslicht, sondern nur Kerzen, Fackeln und Petroleumlampen. Er spürte wieder, wie sehr er es vermisste, vom Tageslicht geweckt zu werden.

"Du bist wach," stellte Merle verschlafen fest.

"Hmhm," brummte Louvain leise und streichelte der Katzenfrau zärtlich über das Haar.

In der Wiege neben ihrem Bett konnten sie beide nun hören, wie ihre Tochter Liona wach wurde und leise zu quengeln anfing.

"Mach mal das Licht an," meinte Merle und setzte sich ruckartig auf. Der Löwenmann griff nach den Zündhölzern und der Kerze. Sekunden später erhellte ihr flackerndes Licht zumindest ein wenig den Raum. Anschließend griff Louvain nach der Petroleumlampe und zündete auch sie an. Nun konnten sie schon wesentlich mehr sehen. Merle stand auf und nahm Liona aus ihrem Bett. Liebevoll wiegte sie ihre Tochter im Arm. Das lange, rosafarbene Haar fiel ihr über die Schultern und kitzelte das Mädchen offenbar am Arm, denn das kleine Kind fing glucksend an zu lachen. Louvain betrachtete die Szene mit einem zärtlichen Lächeln.

14. Ziele

Van saß neben Hitomi an dem Tisch im Sitzungssaal und hing seinen Gedanken nach. Schließlich spürte er, wie ihm der Kopf auf die Brust sackte und er wieder einschlief. Hitomi sah ihn an und musste lächeln. Ob sie ihn wecken sollte? Nein, besser nicht. Sollte er doch noch ein wenig schlafen. Der heutige Tag würde anstrengend genug werden...
 

Van träumte...

Am Sammelpunkt fanden sich nach und nach die Überlebenden aus Farnelia ein. Es waren nicht viele. Sehr viel weniger als Van gehofft hatte. Traurig schritt er durch das karge Lager. Überall saßen verletzte Menschen. Und schwiegen. Das war das Schlimmste an allem: Sie schwiegen. Sie redeten sich nicht ihren Zorn, ihre Wut, ihre Angst und ihren Schmerz von der Seele, sondern sie schwiegen einfach. Van blickte zum Himmel und sah die tiefhängenden schwarzen Wolken an. Fast schien es ihm, als wenn Tassilos Geist schon ganz dicht über ihnen schweben würde, sie es aber noch nicht bemerkt hatten. Gedankenverloren ging Van weiter. An einem Lagerfeuer fand er schließlich Hitomi und Merle, die ihre Kinder in den Armen hielten, sowie Vitguer, Ivory, Alexander, Louvain und Asha. Alle sahen sie mitgenommen aus. Van ließ sich neben ihnen auf dem Boden nieder und starrte schweigend in die Flammen des Feuers.

"Was machen wir jetzt, Euer Majestät?" fragte Asha langsam. Die blonden Haare hingen ihm noch immer blutverklebt im Gesicht. Van sah ihn an und unwillkürlich fuhr er mit der Hand zu der Risswunde neben seinem Auge. Sie blutete nicht mehr, aber irgendwie sagte ihm sein Gefühl, dass er davon noch lange etwas haben würde...

"Wir sollten nicht hier bleiben, Majestät," sagte nun auch Vitguer.

"Ich weiß..." murmelte Van. "Wir sollten nach Asturia gehen. Eries und Torian werden uns sicher Zuflucht gewähren..."

"Das stimmt," meinte Merle und streichelte ihrer Tochter zärtlich über den Kopf. "Asturia wird uns sicher aufnehmen..."

"Dann lasst uns besser gleich aufbrechen," sagte Alexander entschlossen und sprang auf. Diese schnelle Bewegung bereute er aber sofort wieder und ließ sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen wieder auf den Boden fallen. Ein feindlicher Soldat hatte ihm eine schwere Beinverletzung zugefügt. Außerdem hatte er sich bei einem Sturz eine schmerzhafte Prellung auf dem Rücken zugezogen.

"Du hast ja Recht, Alex," erklärte Van. "Sagt den anderen, dass sie sich fertig machen sollen. Wir gehen nach Asturia..."
 

Eine sanfte Berührung an der Schulter weckte Van aus seinem Traum. Er blickte in Hitomis grüne Augen und spontan zog er sie an sich. Er küsste sie stürmisch. Verblüfft ließ Hitomi es geschehen und sah ihn danach forschend an.

"Ist alles in Ordnung, Van?"

"Ich habe nur nicht besonders gut geträumt," erwiderte er und streckte sich langsam. Die Erinnerungen wollten jedoch nicht so leicht von ihm weichen.

Verdammt... Ich will diesen Traum nicht weiterträumen. Ich weiß doch, wie es ausgeht... fluchte er in Gedanken.

Die Tür öffnete sich und nach und nach tauchten die führenden Köpfe der Rebellion auf.
 

Tassilo lief unruhig in dem Thronsaal seiner Fliegenden Festung auf und ab.

"Bayliss, ich will Fortschritte sehen! Ihr habt immer noch keine Ahnung, wo sie sind. Seit einem verdammten Jahr schlüpfen sie uns durch die Finger. Ich will Ergebnisse sehen! Sonst..."

Der Diktator musste nicht weitersprechen. Die kalte Wut in seiner Stimme sagte seinem General schon mehr als genug. Bayliss verneigte sich ehrerbietig vor seinem Kaiser, doch gleichzeitig spürte er auch, wie eine dumpfe Angst nach seinem Herz griff. Der große Mann mit den grau melierten Haaren wusste ganz genau, dass der Imperator nicht davor zurückschrecken würde, ihn hinrichten zu lassen, wenn er ihm nicht die gewünschten Ergebnisse bringen konnte.

Bayliss verließ den Thronsaal und ging direkt zu der Kommunikationsanlage. Nur gut, dass sie die Technologie des untergegangenen Volkes der Zaibacher gefunden hatten... Er drückte auf den Knopf und wurde sofort mit Kommandant Jarrow verbunden, der derzeit in den Einhornbergen mit seiner Truppe als Späher stationiert war.

"Jarrow, wie kommt ihr voran?" knurrt Bayliss ungehalten. Es gefiel ihm nicht, dass sein Kopf auf dem Spiel stand.

"Wie soll es schon voran gehen? Dieser verdammten Greifen setzen sich hier dauernd ab... Scheinen hier wohl viel zu viel zu fressen zu finden..." brummte Jarrow. Auch er wirkte angespannt. Die rötlichen Haare hingen ihm wirr in die Stirn und in seinen grauen Augen zeigte sich immer wieder ein nervöses Zucken.

"Ich will nicht hören, was diese Mistviecher anstellen, sondern Informationen über die Rebellen! Sie müssen bei euch in der Gegend sein! Jarrow, wenn du mir nicht bald was lieferst, wird jemand anderes deinen Posten übernehmen. Du bist nicht unersetzlich! Vergiss das bloß nicht!" fauchte der General gereizt.

"Aye, Sir!" Erschrocken starrte Jarrow das Gesicht seines Generals an. Damit beendete dieser die Kommunikation und blickte noch einen Moment lang auf den dunklen Bildschirm. Er spürte, wie Angst nach ihm griff. Noch mehr als ohnehin schon. Und er hatte ein ungutes Gefühl, was die Späher betraf. Für einen Moment war er versucht, Jarrow noch einmal zu rufen, doch dann ließ er die Hand langsam sinken und ballte sie unwillkürlich zur Faust. Mit einem Ruck wandte sich Bayliss ab und stürmte aus dem Kommunikationsraum. Er würde noch einen weiteren Trupp in die Einhornberge schicken. Das erschien ihm klüger, als Jarrow mit irgendwelchen Ahnungen zu belästigen und sich wohlmöglich lächerlich zu machen. Und am besten würde er Berengar mit seiner Elitetruppe losschicken. Auf ihn konnte er sich wenigstens verlassen...

15. Gespräche

"Also gut," beendete Van nun mit einer kurzen Zusammenfassung, den Kriegsrat, "Wir werden also bei Sonnenuntergang aufbrechen. Alle einsatzbereiten Guymelefs landen verstreut um das feindliche Lager und auf die Leuchtrakete, die der Crusado abfeuern wird..." Damit nickte er Gardes zu, der seinen Kopf kurz senkte um seine Zustimmung zu zeigen. "...werden wir angreifen. Unser vornehmliches Ziel sind Guymelefs und Vorräte. Wir müssen also schnell sein und sie überwältigen. Die Unterbringungen der Guymelef sind als Erstes abzusichern, damit keine feindliche Soldaten zu ihnen kommen können. Haben wir Guymelefs erobert, dann werden sie sofort von unseren Soldaten eingesetzt. Und zwar mit einem schwarzen Fleck auf der Brust. Shid, sorg dafür, dass auch wirklich alle diese Farbe bekommen. Ich will nicht, dass aus Versehen welche von unserer Leuten getötet werden. Wir haben eh viel zu wenig."

Shid nickte. Der junge Herzog von Freyd nahm seine Aufgabe ernst, so lächerlich sie auch im ersten Moment klingen mochte. Im Kampf würde dieser schwarze Fleck dann den Unterschied zwischen Feind und Freund ausmachen.

"Ansonsten: Gardes, wer deiner Leute wird sich um die Evakuierungsschiffe kümmern?" Van sah den Kommandanten der kleinen Luftschiffflotte der Rebellen aufmerksam an.

"Das wird Troy übernehmen. Er ist mein bester Mann..." überlegte Gardes laut. "Und er ist erfahren genug, um die Schiffe alle unbemerkt hier wegzubekommen. Unser neues Ziel ist auch wirklich gut geeignet... Wieder ein Höhlensystem, allerdings noch weit reichender und besser ausgebaut als hier. Und besser versteckt..." Gardes grinste breit. Er war stolz darauf, dass er und die Crusado-Crew in der letzten Nacht so schnell fündig geworden waren.

"Gut." Nachdenklich sah Van in die Runde. "Wie steht es an sich mit den Evakuierungen?"

"Das Lazarett ist leer," antwortete Milerna und lächelte vorsichtig. "Alle Verletzten sind schon an Bord der Luftschiffe und meine Ausrüstung ist auch gerade auf dem Weg..."

"Genauso schaut's bei mir mit der Werkstatt aus," ergänzte Ivory. Das Wolfsmädchen blickte Hitomi konzentriert an. "Hitomi, du musst aber gleich noch einmal mit mir kommen. Dein Guymelef..."

Die Königin von Farnelia gab ihr mit einem leichten Neigen des Kopfes zu verstehen, dass sie mitkommen würde. Van bemerkte das und verzog leicht das Gesicht. Er mochte es nicht, wenn Hitomi mit in die Schlacht zog. Daran hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Er wusste zwar, dass Hitomi eine der besten Schwertkämpferinnen war, die die Rebellen zu bieten hatten, aber andererseits bedeutete jede Schlacht nun einmal ein gewisses Risiko... Mit aller Macht schüttelte er diesen Gedanken ab. Es gab keine Sicherheit und keine Garantien. Bei nichts, was sie taten...
 

Eine halbe Stunde später, war die Sitzung schließlich beendet. Die Gefährten standen allesamt auf und verließen nach einander den Sitzungssaal. Hitomi und Ivory waren die Ersten, die durch die Tür traten. Sofort blieb Hitomi wie angewurzelt stehen und funkelte die blonde Frau, die auf einmal vor ihr stand, wütend an.

"Was willst du hier?" fauchte sie. Auriana zuckte unter dem brutalen Tonfall unwillkürlich zusammen.

"Wissen, was ihr vorhabt," entgegnete die Prinzessin bemüht gelassen. "Ihr evakuiert. Und ich will wissen, was geschehen wird. Schließlich geht es auch um mein Leben..."

"Und warum sollten wir dir das sagen? Damit du uns verraten kannst?" Hitomi wollte noch weitersprechen, doch Van fasste sie sanft an der Schulter und hinderte sie daran.

"Hast du die Tarotkarte schon vergessen?" flüsterte er ihr leise zu und bedeutete ihr dann, mit Ivory zu gehen. Hitomi funkelte Auriana noch einmal voller Ablehnung an, doch dann folgte sie dem Wolfsmädchen in die Werkstatt.
 

"Also, Auriana," seufzte Van, als sie allein waren, "Was gibt es?"

"Sag mir bitte, was ihr vorhabt," sagte Auriana fest und ließ sich auf der Tischkante nieder. Sie spürte noch immer die misstrauischen und feindseligen Blicke, die ihr die anderen Rebellen zugeworfen hatten. Ihr war nicht wohl in ihrer Haut und außerdem war ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie sich erst einmal in der Runde der Rebellen etablieren musste, damit sie weiter hier bleiben konnte. Sie würde sich ihr Vertrauen schwer verdienen müssen.

Van blickte die blonde Frau nachdenklich an. "Ich bin versucht, dir zu trauen, aber ich weiß nicht, ob das klug ist..." murmelte er und fuhr sich nachdenklich durch das struppige Haar. Auriana musste lächeln.

"Das wüsste ich an deiner Stelle auch nicht... Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dir beweisen kann, dass es kein Fehler wäre." Sie seufzte auf. "Drücken wir es so aus: Nicht nur deine Hitomi hat gewisse Fähigkeiten, sondern ich auch. Ich kann euch helfen, wenn ihr mir sagt, was ihr vorhabt. Ich kann euch unterstützen. Hitomi und ich - gemeinsam müssten wir unschlagbar sein..."

Van lachte trocken auf. "Hitomi verspürt nicht gerade das Verlangen, dir zu trauen. Hast du die Vergangenheit etwa schon vergessen?"

"Natürlich nicht." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Deswegen bin ich ja hier. Diesmal bin ich stark genug, gegen den Manticor zu kämpfen. Dieses Mal werde ich nicht seine Puppe sein und mich benutzen lassen. Diesmal wird alles anders..." Nicht nur Entschlossenheit klang in ihrer Stimme mit, sondern auch blanker Hass. Und es war der Ausdruck in ihren Augen, der Van verriet, dass er ihr diesmal wirklich trauen konnte.

"Also gut." Er lächelte leicht. "Wir werden heute Abend das Lager verlassen und uns ein neues Versteck suchen. Gardes' Truppe hat da ein nettes Fleckchen gefunden. Und außerdem werden wir das Lager von Tassilos Truppe überfallen..."

"Das ist doch Wahnsinn!" Auriana keuchte überrascht auf. "Damit verratet ihr ihm, dass ihr hier seid!"

"Das weiß er schon längst. Seine Truppen ziehen die Kreise um uns immer enger und langsam wird es Zeit auszubrechen... Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihn anzugreifen. Irgendetwas müssen wir tun. Wir können nicht nur weglaufen und uns verstecken!" Van hatte begonnen in dem Sitzungssaal unruhig auf und ab zu laufen.

"Du hast ja Recht..." Auriana biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Nehmt aber auf alle Fälle Miguel als Verstärkung für eure Truppen mit. Er ist ein unglaublicher Kämpfer... Im Gegensatz zu mir. Meine Stärken liegen in anderen Bereichen..." Sie lächelte Van aufmunternd an. Er nickte zustimmend.

"Schick ihn mir nachher in die Guymelefhalle. Ich werde sehen, was ich tun kann..."

Für den Moment schwiegen sie und blickten sich einfach nur in die Augen. Auriana spürte, dass immer noch eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen bestand, obwohl sie immer auf verschiedenen Seiten gestanden hatten.

Geliebter Feind, dachte sie mit einem Lächeln. Da ist doch etwas dran... Aber jetzt bist du kein Feind mehr. Zum ersten Mal stehen wir Seite an Seite. Und das fühlt sich gut an...

"Ich habe unsere Kinder gefunden," sagte Auriana plötzlich laut.

Überrascht riss sich Van aus dem Blickkontakt los. Fast hatte er sich in dem Blick aus ihren blauen Augen verloren. Sein Herz schlug noch immer für Hitomi, doch trotz allem spürte er für Auriana eine gewisse Zuneigung. Das verwirrte ihn, vor allem, weil er auf einmal wirkliches Verständnis für sie aufbringen konnte.

"Wo sind sie?"

"Auf einer Insel... Ich denke, sie werden kommen, wenn die Zeit reif ist. Die beiden haben auch noch eine Rechnung mit dem Manticor offen... In gewisser Weise hat er ihnen ihr Leben genommen..." Auriana brach ab und wieder glitzerten Tränen in ihren Augen. Sie kämpfte dagegen an, doch sie konnte sie nicht aufhalten.

Verblüfft sah Van, dass sie weinte. Einen Moment lang zögerte er noch, doch dann trat er auf sie zu und nahm sie tröstend in seine Arme.

16. Guymelefs

Widerstrebend ging Hitomi mit Ivory in die Werkstatt.

"Also, was ist jetzt schon wieder mit ihm?" brummte Hitomi und blickte ihren hellgrauen Guymelef widerwillig an. Sein schwarzer Umhang hing wie ein dunkler Schatten hinter ihm. Irgendwie hatte sie auf einmal den Eindruck, als wenn auch ihr Guymelef von einer dunklen Macht verfolgt werden würde... Mit einem energischen Kopfschütteln tat sie den Gedanken ab. Er brachte sie schließlich nicht weiter.

"Diesmal sind es gute Neuigkeit," erklärte Ivory mit einem fröhlichen Lächeln. "Wir haben das Zahnrad austauschen können. Damit funktioniert dein Schwert also wieder vernünftig. Ich hätte nur gerne, dass du mal eben ein paar Testrunden mit ihm machst. Damit wir wissen, ob noch etwas los ist... Ansonsten kannst du ihn heute Abend nämlich benutzen..."

"Das sind doch mal eine gute Neuigkeit!" Hitomi kletterte bei diesen Worten schon in das Cockpit des Guymelefs und sank in die richtige Position. Seltsam, wie vertraut er ihr schon geworden war. Das Cockpit schloss sich und sie tat einige unsicheren Schritte mit dem metallenen Riesen. Dann fühlte sie sich jedoch wieder sicher, da alle Gelenke perfekt funktioniert. Mit einem leisen Klicken fuhr sie das Schwert aus und schwang es elegant durch die Luft. Ivory beobachtete sie von unten.

Von wegen keine Beziehung zu deinem Guymelef, dachte das Wolfsmädchen mit einem leichten Kopfschütteln. Du bist mit deinem Namenlosen genauso eins, wie Van mit Escaflowne, Allen mit Scheherazade, Louvain mit Castillo oder Merle mit Jaune... Er gehört schon längst zu dir. Und wenn du es endlich zulässt, dann wirst du noch besser kämpfen...

Hitomi seufzte leise, als sie den Guymelef zurückstellte und wieder aus dem Cockpit sprang. Irgendwie war ihr der Guymelef doch ans Herz gewachsen und sie spürte deutlich, dass da doch mehr Verbindung war, als sie bereit war, zuzulassen.

Nein! Wir werden niemals eins sein... Niemals! Denn dann werde ich auch mit diesem Kampf eins... schrie Hitomi innerlich auf.

"Das musst du aber werden, um siegen zu können..." flüsterte eine vertraute Stimme in ihrem Kopf. Hitomi schloss für einen kurzen Moment die Augen und blickte dem Drachen fest in seine gelben Augen.

"Ich will aber nicht!" schrie sie ihn an.

"Hitomi? Ist alles in Ordnung?" Ivory berührte sie sanft am Arm. Die Freundin öffnete die Augen und sah das Wolfsmädchen verwirrt an.

"Was?"

"Du hast auf einmal geschrieen..."

"Es ist nichts," wehrte Hitomi sie unwirsch ab, drehte sich um und marschierte aus der Werkstatt. Die verbliebenen Mechaniker, die unter Hochdruck an den letzten Kleinigkeiten einiger Guymelefs arbeiteten, sahen ihr verwirrt nach.
 

Louvain knurrte leise vor sich hin, während er in der Guymelefhalle saß und das Schwert von Castillo schärfte. Ruhig zog er den Wetzstein immer wieder über das Schwert. Einige Meter neben ihm saßen Merle, Allen und Alexander und verfuhren mit ihren Guymelefs ebenso. Der Löwenmann mochte diese Momente vor der Schlacht. Die Anspannung vor dem Kampf war zwar schon in greifbarer Nähe, aber noch nicht zu drückend. Noch waren alle recht entspannt und schliffen ihre Schwerter. Louvain musste lächeln.

Das würde dir jetzt gefallen, Lothian, dachte er. Das wäre genau der richtige Moment für uns beide. Wir zusammen in einer Schlacht - so lange ist das nun schon her... So lange...

Schlagartig holten ihn die Erinnerungen wieder ein. Ja, er hatte sich den Tod von Lothian längst verziehen, aber trotzdem fragte er sich manchmal, ob es nicht doch einen anderen Weg gegeben hatte. Allerdings wusste er sicher, dass dem nicht so war. Lothian war nun einmal so gewesen, wie er war. Ein Sturkopf, der sich auf seinem Weg nie beeinflussen ließ. Louvain seufzte leise. Er vermisste den Freund.

"Ist alles in Ordnung, Louvain?" fragte Alexander auf einmal und musterte den Löwenmann aufmerksam. Louvain sah auf.

"Ja, warum fragst du, Alex?"

"Weil du seit dich seit fünf Minuten nicht mehr bewegt hast..." Der junge Mann mit den schwarzen Locken grinste ihn frech an. Louvain musste nun auch lachen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr er in Gedanken gewesen war.

"Hab nur geträumt..." winkte Louvain nachdrücklich ab.

"Sicher?" mischte sich nun auch Merle ein.

"Ja!" brummte er zurück und griff wieder nach dem Wetzstein. Dann bearbeitete er das Schwert seines Guymelefs weiter.

Allen hatte das Geplänkel zwischen den Dreien halbherzig verfolgt und blickte nun nachdenklich zu Escaflowne hinüber. Normalerweise leistete Van ihnen immer Gesellschaft, wenn es darum ging, den Guymelefs den letzten Schliff für die Schlacht zu geben.

Irgendwie seltsam... Allen hielt in der Bewegung inne und stand schließlich abrupt auf.

"Ich geh mal nach Van sehen..." murmelte er und verließ die Halle.
 

Auriana presste ihren Kopf an Vans Schulter und weinte hemmungslos. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass sie wirklich weinen konnte. Dass sie niemand für schwach halten würde. Dass sie es sich erlauben konnte, zu weinen. Unsicher begann ihr Van über den Rücken zu streichen.

"Ganz ruhig," sagte er leise. "Es wird alles wieder gut..."

Auriana lachte hart auf.

"Das glaubst du doch selbst nicht," brachte sie zwischen den Schluchzern hervor. "Wie denn?" Sie stieß ihn abrupt von sich, sprang auf und funkelte ihn aus ihren verheulten blauen Augen an.

"WIE DENN?" Diese Worte hatte sie geschrieen.

Van sah sie perplex an.

"Wir werden kämpfen. Und wir werden siegen. Das ist es, was wir tun können..." erklärte er möglichst überzeugt.

"Ändert das etwa die Vergangenheit? Ändert das die Dinge, die schon längst geschehen sind? Ändert das irgendetwas?" Aurianas Stimme überschlug sich fast.

"Es ändert die Zukunft," entgegnete ihr Van ruhig. "Das Wichtigste von allem..."

Für den Moment glühte in Aurianas Augen immer noch diese unbeherrschte Wut, dann schien sie in sich zusammenzusacken und ließ sich langsam wieder auf der Tischkante nieder.

"Das Einzige, was wir noch haben..." flüsterte sie. "Eine Zukunft... Und die kann man uns nicht nehmen..."

Sie senkte den Blick und Van konnte sehen, wie ihre Schultern unter erneuten Schluchzern wieder anfingen zu zucken. Langsam trat er auf sie zu und legte ihr sanft die Hand unter das Kinn. Dann zwang er sie sacht dazu, ihn anzusehen.

"Auriana..." Seine Stimme klang sanft, aber bestimmt. "Wir werden diesen Kampf führen und wir werden ihn gewinnen. Diese Zukunft wird uns niemand nehmen. Niemand..." Sein Gesicht war dicht vor ihrem und er konnte ihren Atem warm auf seiner Haut fühlen.

"VAN!" Allen stand in der offenen Tür und starrte den König von Farnelia fassungslos an. "Wie kannst du nur?!"

"Allen!" Erschrocken wirbelte Van herum und starrte den Freund an. "Es ist nicht so, wie es scheint..."

Doch der blonde Ritter sah ihn nur kopfschüttelnd an, drehte sich um und ging davon.

"Allen! Warte doch! Verdammt noch mal, warte!" brüllte Van und rannte dem Ritter des Himmels hinterher. Auriana blieb allein zurück.

17. Drohungen

Hitomi saß auf einem der Aussichtsposten. Im Prinzip war er nur ein Loch in der Steilwand, eine kleine, offene Höhle, die sich an das Tunnelsystem des Rebellenverstecks anschloss. Sie hatte die Beine über der Kante hängen und baumelte mit den Füßen. Der Wind spielte mit ihrem kurzen Haar und sie atmete tief die klare Luft ein. Sie blickte über das karge Tal, in dem nur wenig wuchs und sich alle Pflanzen besonders dicht an den Boden zu drängen schienen. Alles duckte sich, wie um möglichst wenig aufzufallen...

Wie wir... Wir ducken uns auch. Bald trauen wir uns nicht mehr wieder aufzustehen. Bald liegen wir auch am Boden und werden dort bleiben... Hitomi seufzte leise.

"Ist alles in Ordnung, Majestät?" fragte Leutnant Asha hinter ihr hilfsbereit. Er war der wachhabende Soldat auf dem Aussichtsposten.

"Ja, Asha. Danke der Nachfrage." Hitomi drehte den Kopf leicht und lächelte ihn über die Schulter weg an. "Ich war nur in Gedanken..."

Asha erwiderte ihr Lächeln höflich und blickte dann wieder durch das Fernglas über das Tal.

Hitomi versank wieder in ihren Gedanken. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und fand sich sofort in einer Vision wieder.

Erneut stand sie auf der brennenden Ebene. Die Flammen zügelten um sie herum hoch. Sie drehte sich langsam im Kreis und suchte nach einem Ausweg, doch es gab keinen. Sie spürte, wie Angst in ihr emporkroch, doch noch konnte sie sie unterdrücken. Plötzlich erkannte sie einen schwarzen Schemen in dem Rauch. Er landete knapp neben ihr und sofort rannte Hitomi auf ihn zu. Sie kletterte auf den Rücken des schwarzen Drachen. Sekunden später flogen sie über dem Feuer.

"Wir sind noch nie zusammen geflogen..." meinte sie mit einem leichten Lächeln.

"Noch nicht." Der Drache schlug ruhig mit seinen Schwingen und trug sie weiter hinauf in den dunklen Himmel.

"Sieh nach unten, Hitomi," sagte er sanft. "Sieh nach unten. Das ist Gaia. Das brennende Gaia."

"Ja..." Tränen stiegen Hitomi in die Augen, als sie sah, dass praktisch der gesamte Planet zu brennen schien.

"Wir stehen an der Kante, Hitomi. Entweder verlöschen die Feuer und geben Gaia neues Leben. Oder sie werden die Welt verbrennen... Ihr seid das einzige Wasser, das noch bleibt. Löscht das Feuer und gebt Gaia neues Leben..."

"Aber wie denn?" fragte Hitomi traurig. "Wie denn?"

"Führt euren Kampf weiter... Kämpft. Wider aller Hoffnung. Kämpft..."

Der Drache wollte noch weitersprechen, doch er brach mitten im Satz ab und wandte den Kopf hektisch zur Seite. Hitomi spürte auf einmal noch eine weitere Präsenz in ihrer Vision. Da war noch jemand. Eine starke, bedrohlich Aura...

"Verschwinde!" schrie sie, als sie den blutigen Schatten sah, der auf sie zukam.

"Du kannst mich nicht aufhalten, Mädchen!" höhnte der Manticor, als er scheinbar ruhig neben dem Drachen durch die Luft glitt. "Niemand kann es!"

"Oh doch... Die Allianz der Tränenden Herzen... Sie kann es. Und sie wird es!" brüllte der Drache herausfordernd zurück. Der Manticor grollte drohend, doch bevor er sich auf seinen Erzfeind stürzen konnte, fühlte sich Hitomi in die Realität zurück geschleudert.

Eine besonders harte Windböe traf sie und warf sie rücklings zu Boden.

"Majestät!" Asha war sofort neben ihr und blickte sie besorgt an.

"Es geht schon..." murmelte Hitomi leise und setzte sich wieder auf. Sie rieb sich den Hinterkopf, mit dem sie hart auf den Boden geprallt war.

Die Allianz der Tränenden Herzen... Was soll das denn schon wieder heißen? stöhnte sie innerlich auf.
 

Auriana schloss kurzzeitig die Augen. Sofort spürte sie, wie der Manticor nach ihr griff. Er tat es immer, wenn sie schlief oder die Augen auch so geschlossen hatte. Sofort war er da und versuchte seinen Besitzanspruch auf sie geltend zu machen. Seine dunkle Aura griff brutal nach ihren Gedanken.

"NEIN!" Auriana schrie gellend auf. Die Dunkelheit umhüllte sie und drohte ihr die Luft abzuschnüren. Sie wehrte sich verzweifelt gegen die Macht, die ihr langsam die Luft aus den Lungen presste.

"Gehorche mir!" brüllte der Manticor in ihren Ohren. "Gehorche! Denn du bist Mein..."

"Nein, das ist sie nicht!" Die Stimme, die sich dem Manticor entgegenstellte, klang hell durch die Finsternis, in der Auriana gefangen war.

"Lass sie los!" Diesmal war es die Stimme eines Jungen, die sprach. "Du hast kein Recht dazu! Lass sie los!" Beide Stimmen mischten sich.

Urplötzlich spürte Auriana deutlich die Präsenz von zwei weiteren Seelen. Die eine schillerte silbern, während die andere noch dunkler war, als die Nacht, die sie bereits umgab. Und doch waren ihr beide freundlich gesonnen. Mit einem unwirschen Knurren entließ der Manticor Auriana aus seinen Fängen. Sie öffnete blitzschnell die Augen. Schweiß rann ihr über die Stirn und sie fuhr sich durch die verschwitzten Haare.

Wer war das? Wer hat mir geholfen? Sie hatte eine Ahnung, wer es gewesen sein könnte, doch sie war sich nicht sicher, ob sie so weit überhaupt hoffen durfte...
 

Tassilo zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Der große Mann taumelte und fing sich nur mit Mühe an einem Vorhang ab. Verstohlen sah er sich um, ob jemand seinen kurzen Schwächeanfall mitbekommen hatte, doch er war allein in dem Thronsaal. Nachdenklich blickte er wieder aus dem Fenster. In der Scheibe spiegelte sich nicht nur sein Gesicht mit den rot glühenden Augen und den blutig schimmernden Haaren, sondern der komplette Thronsaal. Doch da war noch mehr. Ein gigantischer, geflügelter Löwe mit einem Skorpionsschwanz lag schattenhaft vor dem gespiegelten Thron und blickte Tassilo unverwandt an.

"Ich komme nicht an sie heran," grollte der Manticor unwirsch und schlug gereizt mit seinen schwarzen Schwingen. Ein kurzer, heftiger Windstoß wehte Tassilos Haar zurück. "Sie wird beschützt..."

"Heißt das etwa, dass du zu schwach bist?" fauchte Tassilo und starrte dem Manticor fest in die bodenlosen Augen.

"Ich bin nicht SCHWACH!" brüllte dieser als Antwort und warf seinen Kopf stolz in den Nacken.

"Wenn sie so wichtig ist, dann schnapp sie dir. Warum zögerst du noch?" Hochmütig sah der Imperator seinen Verbündeten an.

"Du hast ja keine Ahnung," knurrte der Manticor beinahe sanft. "Such du nur weiter die Rebellen. Ich komme meinen Aufgaben schon nach..."

"Pah! Meine Truppen müssen sie doch nur suchen, weil du nicht imstande bist, sie aufzuspüren!"

"Pass auf, was du sagst!" Blitzschnell war der Manticor auf den Beinen, schoss zum Fenster herüber und stach mit seinem Stachel zu. Vor Tassilo zeigte das Fenster urplötzlich Risse und er wich schreckensbleich zurück.

"Ich bin ein Geist, aber das hindert mich an nichts! Hast du das verstanden?" Drohend blickte der Manticor den rothaarigen Menschen an. Vor seiner massigen Gestalt schien Tassilo immer weiter zu schrumpfen, bis er schließlich zögernd nickte.

"Gut..." Der Manticor lachte bösartig auf und rollte sich wieder vor dem Thron zusammen.

18. Klärungen

"Allen! Jetzt bleib verdammt noch mal stehen! Allen!" Van brüllte dem Ritter des Himmels immer noch hinterher, während er ihm gleichzeitig nachrannte. Doch Allen war schnell, sodass Van keine Chance hatte, ihn einzuholen. Doch schließlich blieb der blonde Ritter in einer Tür stehen und Van konnte keuchend zu ihm aufschließen.

"Allen..." brachte er hervor, doch dieser wirbelte plötzlich herum, packte Van brutal an den Schultern und zwang ihn, in den Raum hinein zu sehen. Dort saß Hitomi verträumt neben ihren beiden Kindern auf einer weichen Decke und spielte mit ihnen. Neben ihr krabbelte noch Liona über die Decke und gluckste zufrieden vor sich hin.

"Das gibst du auf? Einfach so?" fragte Allen leise.

"Niemals... Wie könnte ich denn? Allen, an meiner Liebe zu Hitomi hat sich nichts geändert! Und das wird es auch niemals!"

Verwirrt sah Hitomi auf und erkannte stirnrunzelnd Van und Allen, die in der Tür standen und zu ihr hinüber blickten. Sie wollte schon aufstehen und nachfragen, was los sei, als ihr auffiel, dass sich außer ihr niemand bei den Kleinkindern befand und sie sie natürlich nicht allein lassen konnte. Sie nahm sich aber fest vor, später mit Van zu sprechen.

Van machte sich unwirsch aus Allens Griff frei und zerrte den blonden Ritter aus Hitomis Sichtweite.

"Allen, ich würde Hitomi niemals betrügen. Niemals! Krieg das mal bitte in deinen Kopf rein. Ich habe Auriana nur getröstet. Nichts weiter. Das musst du mir glauben! Allen, bitte..." redet Van auf den Freund ein.

"So?" Allen zog demonstrativ eine Augenbraue hoch.

"Wenn du nur fünf Minuten eher reingekommen wärst, dann hätte das alles Sinn für dich gemacht," seufzte Van und lehnte sich an die raue Wand des Ganges. "Auriana wird uns helfen gegen Tassilo zu kämpfen. Gegen den Manticor zu kämpfen."

"Der Manticor?" Allen sah den König von Farnelia schockiert an. Van schrak seinerseits zusammen und begriff, dass er in der heutigen Kriegssitzung tatsächlich vollkommen vergessen hatte zu erwähnen, wer hinter Tassilo stand.

"Ja, er beeinflusst Tassilo. Sagen wir es mal so. Und Auriana hat sich endgültig von ihm abgewandt. Wer könnte uns da eine bessere Verbündete sein, als jemand, der den Feind so gut kennt?"

"Van, du hast uns den Teufel hergeholt..." stöhnte Allen auf und lehnte sich kraftlos gegen die Wand. "Auriana ist hier. Der Manticor steht auf Tassilos Seite und versucht Gaia zu unterjochen oder eher: Er hat es schon geschafft! Und du willst dieser Frau vertrauen?! Du bist doch vollkommen übergeschnappt!" Er schüttelte fassungslos den Kopf.

"Warum kann es denn keiner verstehen? Sieh Auriana einfach in die Augen, wenn sie von ihrem ehemaligen Meister spricht. Dann weißt du, dass sie ihn um so vieles mehr hasst, als wir es jemals können werden. Allen, durch das, was er Laures und Lauria angetan hat, hat er das Fass zum Überlaufen gebracht. Auch Auriana ist eine Mutter und sie hat damals zugelassen, dass er ihren Kindern das alles angetan hat. Dafür will sie Rache... Stell dir doch nur einmal vor, jemand würde Shid, Drayos und Ayres für seine Zwecke missbrauchen - dann würdest du doch alles in der Welt mögliche tun, um das zu verhindern, nicht wahr? Und wenn du das nicht mehr könntest..."

"Dann würde ich mich auf alle Fälle in jeglicher Hinsicht wiedersetzen und auf Rache brennen," vervollständigte Allen den Satz. "Also gut, Van, sie bekommt eine Chance. Ich werde auch die anderen überzeugen. Und das mit dem Manticor: Warum hast du das nicht schon früher gesagt? Das hätte Einiges erklärt..."

"Ich weiß es selbst erst seit heute Morgen..." Van seufzte leise. "Und vorhin habe ich es vollkommen vergessen zu erwähnen."

"Dann erzähl es allen bei der nächsten Sitzung. Das ist wichtig, Van." Allen lächelte dem Freund zu und wandte sich dann zum Gehen. Mitten in der Bewegung hielt er jedoch noch einmal inne und blickte über die Schulter zurück. "Es tut mir Leid, was ich dir da zugetraut habe, Van..." sagte er leise. Der König von Farnelia nickte nur und nahm damit die Entschuldigung des Ritters des Himmels schweigend an.
 

"Sag mal, Merle..." begann Louvain, als sie gemeinsam zum Mittagsessen saßen. Neben ihnen rannten die anderen Rebellen hin und her und unterhielten sich angeregt beim Essen. Die Anspannung vor dem Kampf wurde immer greifbarer.

"Sollen wir eigentlich noch vor dem Aufbruch..." Der Löwenmann brach ab und sah die Katzenfrau unruhig an.

"Kannst du vielleicht mal auf den Punkt kommen?" Merle verdrehte leicht die Augen. "Ich habe keine Ahnung, worauf du eigentlich hinaus willst..."

"Ich meine unsere Hochzeit... Noch vor der Schlacht? Wir können ja nicht sagen, was danach kommen wird..."

Verlegen zuckte Louvain mit seinen Schultern. Merle blickte ihn nachdenklich an. Er hatte ja Recht. Sie wussten nicht, was nach der Schlacht sein würde. Ob sie dann noch leben würden... Ob sie vielleicht besiegt würden... Und sie wollte ihn ja unbedingt heiraten. Außer einem Sieg über Tassilo gab es kaum etwas, was sie sich mehr wünschte.

"Ja, vorher," sagte die Katzenfrau fest und grinste ihren Freund liebevoll an. "Wir müssen gleich alle zusammentrommeln, damit wir das vorher noch schaffen. Es ist schließlich schon Mittag..."

"Du bist großartig," lachte Louvain und drückte ihr einen stürmischen Kuss auf den Mund.
 

"Nicht mehr lange," murmelte Laures leise, als er langsam erwachte. Er lag neben Lauria zusammengerollt in dem Sand. Neben ihnen brandeten die Wellen mit einem leisen Rauschen auf den Strand.

"Dann ruft er uns..." vervollständigte Lauria seinen Satz und blickte ihren Bruder an.

"Die Zeit der Ruhe geht zu Ende," fuhr Laures fort.

"Und wir werden mitten in den Sturm fallen." Lauria schloss wieder nahtlos an.

"Wir werden eins sein..." Laures blickte seiner Schwester fest in die Augen.

"Mit den Tränenden Herzen," endete sie. Die Anspannung fiel von den Geschwistern ab und sie sanken einander in die Arme.

"Ich habe Angst, Laures. Angst vor der Welt, in die wir zurückkehren werden..." murmelte das Mädchen mit dem goldenen Haar leise und drückte ihren Kopf fest an Laures' Brust.

"Ich weiß, geliebte Schwester. Ich weiß. Auch ich habe Angst, aber gemeinsam werden wir es schaffen. Gemeinsam werden wir siegen..." Laures küsste sie sanft auf das Haar und hob dann wieder den Blick. Er sah zu den ewig kreisenden Sturmwolken, doch seine Gedanken reichten viel weiter als seine Augen.

Du wolltest den Krieg, Manticor. Und jetzt bekommst du ihn. Stell dich auf deine Niederlage ein... Diesmal wirst du endgültig untergehen...

19. Vor der Schlacht

"Hitomi!" Merle stürmte durch die Tür und blieb keuchend vor der Freundin stehen. Immer noch saß diese neben ihren beiden Kindern Varie und Vargas, sowie Merles Tochter Liona auf dem Boden und beobachtete die Kinder beim Spielen und Herumkrabbeln.

"Was ist denn?" Hitomi sah auf und blickte der Katzenfrau verwirrt in die Augen.

"Ich brauche deine Hilfe... Louvain und ich..." Merle schnappte zwischen den einzelnen Worten immer wieder nach Luft. So schnell war sie durch die Katakomben gerannt.

"Wir wollen noch heute heiraten! Noch vor der Schlacht... Wir wissen ja nicht, was danach ist... Und ich habe nichts anzuziehen... Und ich brauche eine Trauzeugin... Und... Und..."

"Immer mit der Ruhe!" Hitomi lächelte sanft und stand auf. Sie nickte einem Kindermädchen zu, das sich sofort um die drei Kinder kümmerte, und nahm Merle sanft am Arm.

"Wir werden schon etwas finden..."
 

"So, die Schlacht naht..." murmelte Allen leise und ölte noch einige Gelenke von Scheherazade. Die anderen hatten die Eröffnung von der Rückkehr des Manticors und dem Seitenwechsel Aurianas erstaunlich gefasst aufgenommen. Aber ihnen ging es vermutlich wie ihm: Die Dinge konnten kaum noch schlimmer werden, als sie ohnehin schon waren. Und außerdem war jeder bereit, nach den Strohhalmen zu greifen, die in Reichweite kamen... Auriana mochte einer von ihnen sein.

"Allen! Alex! Ivory!" Milerna blieb in der Tür zu der Guymelefhalle stehen. "Kommt mit! Wir haben da noch etwas zu erledigen!"

"Was ist denn jetzt schon wieder?" grummelte Alexander leise und sprang von der Schulter seines Guymelefs.

"Wir werden es schon früh genug merken," sagte Ivory sanft und hakte sich bei Alex unter.
 

Im Sitzungssaal hatte der Hohepriester, der früher im Tempel Farnelias gedient hatte, eine Art provisorischen Tempel errichtet. Louvain stand sichtlich nervös vor dem alten Mann und fummelte an den abgewetzten Ärmeln seiner Galauniform herum. Hitomi stand neben ihm und bemühte sich, den Löwenmann durch gutes Zureden zu beruhigen, hatte damit aber wenig Erfolg.

"Nehmt Platz," sagte Milerna leise und zog Allen neben sich auf einen Stuhl.

"Was geht hier denn vor?" fragte Alexander verwirrt, während er sich neben Ivory setzte. Auch Admiral Vitguer, Leutnant Asha, Herzog Shid von Freyd, sowie Königin Eries und König Torian von Asturia waren bereits anwesend.

"Das ist eine Hochzeit, Dummerchen!" kicherte das Wolfsmädchen und hauchte Alexander einen sanften Kuss auf die Wange.

"Aha..."

"Ich bitte um Ruhe," sagte der Priester mit tiefer Stimme. Dann begann er eine alte Weise aus Farnelia zu intonieren. Während er sang, öffnete sich die Tür des Sitzungssaals und Merle schritt an Vans Seite hinein. Sie trug ein helles Kleid, das sichtlich schon bessere Tage gesehen hatte, aber im Gegensatz zu den anderen Kleider, die die Rebellen noch besaßen, sehr aufwändig mit Silberstaub und Spitze geschmückt war. Hitomi hatte all ihren Einfluss als Königin Farnelias geltend machen müssen, um eine junge Kriegerin davon zu überzeugen, es Merle für ihre Hochzeit zu leihen.
 

In der fliegenden Festung über Farnelia knurrte der Manticor den Diktator Gaias ungehalten an: "Bereite eine Zeremonie vor."

Das seltsame Geschöpf brummte diese Worte schon fast schwach, doch der rothaarige Mann sprang sofort auf und lief aus dem Thronsaal.

Die schattenhafte Spiegelung des Manticors seufzte leise. Er fühlte sich schwach. Als vormals so mächtiges Wesen war er nun auf diese Existenz als ein Schatten, eine Erinnerung beschränkt. Sein einziger Zugang zur Realität bestand in Visionen und Träumen, die er von der Traumwelt aus schicken konnte. Und doch hatte er nun, als ein schwacher Geist, der nur noch durch Angst und Albträume herrschen konnte, die Macht erlangt, die er als lebendes Wesen nie erreicht hatte. Die Welt konnte schon ungerecht sein - und zynisch...
 

Tassilo war beinahe panisch aus dem Thronsaal gestürzt, doch sobald er auf dem Gang war, riss er sich zusammen und nahm seine majestätische, leicht hochnäsige Körperhaltung an und bemühte sich, gelassen zu wirken. Dem Manticor war es gelungen ihm, dem furchtlosen Sohn von König Traian von Arkadien, Angst einzujagen und zwar so sehr, dass er gehorchte, was auch immer von ihm verlangt wurde - auch wenn diese Furcht langsam einer Art von Gewöhnung wich. Im Gegenzug hatte Tassilo die Macht über Gaia erhalten. Angestachelt von Traumvorstellungen, die der Manticor an verschiedene einflussreiche und weniger einflussreiche Menschen geschickt hatte, hatte Tassilo seine gewaltige Armee aufbringen können. Mithilfe des Manticors, der die Menschen auf der Traumwelt beeinflusste, war seine Macht so gut wie gesichert. Allein die Rebellen unter Van Farnel, dem König von Farnelia, stellten sich Tassilos Macht noch in den Weg. Und so weit der Diktator es verstanden hatte, gab es neben dem Manticor noch irgendein mächtiges Wesen, das allerdings auf der Seite der Rebellen stand, und es seinem alten Feind unmöglich machte, diese auf der Traumebene heimzusuchen.

Gedankenversunken hatte Tassilo das Quartier seiner Priester erreicht. Er selbst hatte die Position des Hohepriesters in dem neuen Manticor-Kult eingenommen, den er über Gaia verbreitet hatte. Dennoch brauchte er, der wenig Ahnung von geistlichen Handlungen hatte, die Unterstützung erfahrener Priester.

Unwirsch drückte Tassilo die Tür auf und informierte die Priester darüber, dass in den nächsten fünf Minuten eine Opferung stattfinden würde.

20. Zeremonien

Merle schritt langsam auf Louvain zu. Ihr langes Kleid raschelte leise und wogte sanft um ihre schlanke Figur. Ihre Hand krallte sich fest ins Vans Arm. Der König von Farnelia, der sie auf den improvisierten Altar zu führte, musste leicht lächeln. Merles Nervosität war schwerlich zu übersehen. Schließlich war sie neben Louvain angekommen und lächelte diesem schüchtern zu. Van zog sich an die rechte Seite Louvains zurück und grinste Hitomi zu, die links neben Merle stand. Sie beide würden die Trauzeugen für Merle und Louvain sein.
 

Tassilo hatte seine Stellung neben dem schwarzen Opferaltar bezogen. Passend zu seinen leuchtend roten Haaren trug er eine blutrote Robe, auf die das schwarze Abbild des Manticors gestickt war. Neben ihm hatten die fünf Priester Aufstellung bezogen und summten alte Worte, die Tassilo nicht verstand und denen er auch wenig Bedeutung beimaß. Er wusste, dass letztendlich nur seine Gedanken an den Manticor, während er den Dolch in sein Opfer senkte, entscheidend für die Kraftübertragung an dieses seltsame Geschöpf waren.

Die Tür zu dem heiligen Raum öffnete sich mit einem lauten Knall und zwei Soldaten trugen eine junge Frau hinein, die in ein bodenlanges, ärmelloses, weißes Gewand gehüllt war. Sie hatte kurzes, struppiges, blondes Haar mit einem leichten Grünschimmer. Ihre graugrünen Augen blickten Tassilo und den Altar entsetzt an. Sie wehrte sich gegen ihre Bewacher, doch diese vermochten es mit Leichtigkeit, die zartgebaute Frau festzuhalten.

"Tassilo! Was heckt Ihr nur wieder für eine Teufelei aus?!" schrie sie mit sich überschlagender Stimme, als die Soldaten mit ihr direkt vor dem Hohepriester stehen blieben.

Tassilo trat auf sie zu und lächelte sie mitleidig an. Sanft strich er ihr mit seiner bloßen Hand über die Wange.

"Saiyett, füge dich einfach dem Unvermeidlichen," sagte er mit kühler Stimme.

Mit einer leichten Handbewegung wies er die Soldaten an, das Mädchen auf den Altar zu legen. Nachdem die Soldaten das Mädchen rücklings auf den Altar gehoben hatten und sie festhielten, während die Priester die Arm- und Beinschnallen schlossen, hing Tassilo seinen Gedanken nach.

Er hatte Saiyett aus dem Grund ausgewählt, weil sie eine Priesterin in Freyd gewesen war. Sie war in die Geheimnisse der Magie und der Götter eingeweiht, sodass er ihr mehr Energie zuschrieb als den anderen Menschen, die in den Kerkern der fliegenden Festung saßen. Außerdem war sie mit ihren sechzehn Jahren sehr jung und auch deshalb als Opfer sehr ansprechend.

"Mylord," murmelte einer der Soldaten, als das Mädchen sicher verschnürt war, und die beiden Männer verließen fast fluchtartig den Raum. Sie wollten nicht mitansehen, was nun geschehen würde. Allein die Gerüchte über die blutrünstigen Zeremonien ihres Herrschers reichten, um ihnen Todesangst einzujagen.

Tassilo ignorierte sie und wandte sich nun wieder dem Mädchen zu.

"Tassilo! Ich verfluche dich!" schrie sie und als er sich über sie beugte, um ihr ins Gesicht zu blicken, spuckte sie ihn an. Beiläufig wischte er ihre Spucke ab und strich ihr noch einmal über die Wange.

"Saiyett, mach dich bereit, den Weg zu meinem Gott zu gehen," sagte er beinahe sanft.
 

"Möchtet Ihr, Merle, Erste Beraterin des Königs von Farnelia, den hier anwesenden Louvain, Ritter von Farnelia, zu Eurem angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Euch scheidet?" fragte der Priester und blickte Merle ernst an.

"Ja, ich will," erwiderte das Katzenmädchen. Sie lächelte Louvain zärtlich an und steckte ihm den einfachen Silberring an den Finger. Andere Ringe hatten sich so kurzfristig nicht finden lassen.

"Und wollt Ihr, Louvain, Ritter von Farnelia, die hier anwesende Merle zu Eurer angetrauten Ehefrau nehmen, sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod Euch scheidet?"

"Ja, ich will," lächelte der Löwenmann und steckte Merle den Ring an.

"Damit ist der Bund vollendet und ich erkläre Euch zu Mann und Frau," deklarierte der Priester und breitete seine Arme für den Segen aus. "Möge Eure Ehe durch den Drachengott gesegnet sein und das Glück mit Euch sein, wohin Euch Euer Weg auch führen mag. - Auch unter diesen Umständen."

Louvain beugte sich vor und hauchte Merle einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
 

Mit weit ausgebreiteten Armen stand Tassilo neben dem Altar.

"Manticor, nimm dieses Opfer an. Sein Blut wird in deinem Namen vergossen. Seine Kraft wird in deine Adern fließen."

Damit zog der rothaarige Mann einen rubinbesetzten Dolch aus den weiten Ärmeln der Robe. Er beugte sich vor und schlitzte Saiyett die Pulsadern am linken Handgelenk auf. Sie stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus, den er jedoch ignorierte. Mit einigen schnellen Schritten war er an ihrer rechten Seite und schnitt auch dort ihre Pulsadern auf.

"Möge das Blut dieser Frau für dich vergossen sein," deklamierte Tassilo.

"Nein," murmelte Saiyett schwach. "Nein..." Sie konnte spüren, wie die Kraft aus ihrem Körper wich. Das Verbluten eines menschlichen Körpers mochte zwar schnell gehen, aber nicht so schnell, wie ihre Kraft sie nun verließ. Als ihr die Augen zufielen, begriff sie, was es war, das sie so schwächte. Ihr Geist betrat die Traumwelt und dort sah sie den Manticor, der mit weitgeöffnetem Maul auf sie zusprang, um sie zu fressen und das Opfer Tassilos anzunehmen. Saiyett fiel ergeben auf die Knie und akzeptierte ihren Tod mit der Gelassenheit, die man sie in ihrer Ausbildungszeit gelehrt hatte. Sie erkannte, dass es keinen Ausweg gab...

21. Vorbereitungen

Nachdem die Hochzeitszeremonie beendet war, verfielen alle wieder in die gleiche Hektik wie zuvor. Guymelefs mussten vorbereitet, Waffen geschärft und Flugschiffe ausgerüstet werden. Es war keine Zeit dazu, großartig zu feiern.

Merle seufzte leise, als sich ihre Freunde schon wieder in alle Richtungen zerstreuten und nur sie mit ihrem frischangetrauten Ehemann zurückblieb.

"Entschuldige, dass es kein großes Fest gibt," sagte Louvain leise und strich der Katzenfrau sanft über die rosafarbenen Haare.

"Ist schon gut," murmelte Merle. "Das war doch klar... Es gibt im Moment Wichtigeres..." Wieder seufzte sie leise, dann fuhr sie fort: "Komm, wir müssen auch unsere Guymelefs fertig machen..."

Louvain nickte leicht und legte den Arm über ihre Schulter.
 

Hitomi seufzte leise, während sie vor Noir stand und den Wetzstein hartnäckig über die Klinge des Guymelefschwerts rutschen ließ. Im Gegensatz zu den Freunden um sie herum, die sich lebhaft unterhielten oder fast in eine Art Meditation versunken schienen, konnte sie dieser Aktivität nichts abgewinnen. Es war einfach nur ein notwendiges Übel, damit der Guymelef möglichst gut auf den Kampf vorbereitet war und sie ein geringeres Risiko einging, um lebendig zu ihren Kindern zurückzukehren...

Hitomi wischte sich die verschwitzten Haare aus der Stirn und seufzte leise. Sie hasste das Kämpfen immer noch, auch wenn sie es nun für notwendig und unabwendbar hielt. Friedlicher Widerstand war gegen den Tyrannen Tassilo absolut sinn- und zwecklos. Wieder seufzte sie.

"Ist alles in Ordnung?" fragte Van sie und blickte besorgt von Escaflowne zu ihr herüber.

"Ja, ja," brummte Hitomi unwillig. "Noirs Schwert ist nur so schartig..."

"Ah, er hat endlich einen Namen," grinste Allen von Scheherazade herüber. "Noir - das passt zu ihm."

"Ja," murmelte Hitomi und führte den Satz in Gedanken fort: Er ist genauso schwarz, wie sich meine Seele anfühlt, wenn ich mit ihm kämpfe...
 

Zwei Stunden später brachen sie die Vorbereitungen der Guymelefs ab. Nun war es Zeit, sich noch einmal auszuruhen, bevor sie dann mit Sonnenuntergang aufbrechen würden. Sämtliche Krieger zogen sich zurück und bemühten sich, noch etwas Schlaf zu finden, bevor das Aufbruchssignal gegeben wurde. Allein die Evakuierungscrews arbeiteten weiter. Sie mussten die Evakuierungsschiffe noch fertig haben, bevor die Kämpfer aufbrechen würden. Und am besten schon längst in dem neuen Quartier angekommen sein, wenn die anderen nachkamen...

Milerna wirbelte in dem Gedränge umher und kommandierte die Leute herum, die die Ausrüstung des Lazaretts transportierten.

Als die lebenswichtige Fracht endlich an Bord des Luftschiffes war, war es schon beinahe Sonnenuntergang. Das Gewimmel in der Luftschiffhalle erhöhte sich immer mehr. Nun wurde auch um die Luftschiffe, die in den Kampf ziehen würden, herumgewirbelt.

In dem Gedränge sah Milerna die zwei Kindermädchen auf sich zukommen. Lena und Mara hielten direkt auf sie zu. Lena hatte dabei Liona und Ayres auf dem Arm, Mara Varie und Vargas. Neben ihnen liefen sowohl Drayos als noch andere Kinder der Rebellen her.

"Wir sollen an Bord dieses Schiffes gehen," sagte Lena leise und wiegte die beiden Kinder beruhigend auf ihren Armen. "Die anderen sind schon voll..."

"Kein Problem," lächelte Milerna. "Wir finden schon noch ein Plätzchen..."
 

Leutnant Berengar knurrte unwillig, als ihn General Bayliss aus dem Schlaf riss. Der General ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass ein sofortiger Aufbruch zu den Truppen in der Senke vor den Einhornbergen unbedingt notwenig war.

Berengar fluchte leise, während er sich seine Uniform anzog. Der kräftige Mann hatte schulterlange blauschwarze Haare und tiefblaue Augen. Eine Narbe verlief quer durch sein Gesicht und verlieh ihm das harte Aussehen, das seine Handlungen perfekt wiederspiegelte.

"Plötzlicher Aufbruch..." grollte er leise. "Bayliss muss sich aber Sorgen machen..."

Leise fluchte er vor sich hin, während er auf die Guymelefhalle der fliegenden Festung zusteuerte.

Also gut... Wenn Bayliss es so will, dann werden wir eben aufbrechen... Gegen Mitternacht sollten wir dann da sein...

Beiläufig drückte Berengar in der Halle auf einen Knopf, der Alarm in den Quartieren seiner zwanzigköpfigen Elitetruppe auslöste.
 

Hitomi betrat zusammen mit ihrer Truppe den Crusado. Die Guymelefs wurden sicher verstaut und damit war das kleine Luftschiff zum Aufbruch bereit.

Von den anderen Schiffen kamen nun auch langsam die Bestätigungsmeldungen, dass sie aufbruchsbereit waren. Alles blickte nun zu Van Farnel, der mit Escaflowne in der Mitte der Flughalle stand. Sobald Van Escaflowne in einen Drachen verwandelte und losflog, würde dies das Zeichen zum Aufbruch sein.
 

Van schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Er spürte, wie Anspannung und Nervosität nach ihm griffen und ihn kaum einen klaren Gedanken fassen ließen. Er wusste, dass alle auf ihn warteten, um endlich aufbrechen zu können. Aber er war sich auf einmal nicht mehr sicher...

"Vertrau auf dich, mein Sohn. Vertrau auf deine Freunde. Ihr geht den richtigen Weg..." flüsterte plötzlich eine vertraute Stimme in seinen Gedanken.

"Woher willst du das wissen?" erwiderte Van leise. "Du lebst doch nicht mehr, Drache..."

Ein leises Lachen war die Antwort, die er erhielt.

"Es gibt noch andere Arten der Existenz... Halte nicht deinen Maßstab für den Maßstab der Welt. Und nun glaub an dich. Glaub an dich und deine Freunde. Und du wirst es schaffen..." sprach die Stimme eindringlich.

Van musste nun doch lächeln.

"Na gut..." Zuversicht machte sich auf einmal in ihm breit.

Wir werden es schaffen...

Er spannte sich und im gleichen Moment verwandelte sich Escaflowne in einen Drachen und schoss dem langsam dunkel werdenden Himmel entgegen. Die Luftschiffe hoben ab. Der eine Teil folgte dem Drachen von Isparno schließlich in Richtung auf das feindliche Lager, während der andere Teil zu dem neuen Quartiert aufbrach.

22. Auf in den Kampf!

Der Crusado mit Hitomi und ihrer Abteilung an Bord landete in der Nähe des Flusses, an dem das Lager von Tassilos Vorhut lag. Leise schlichen sich die Kämpfer von Bord und bezogen Stellung.

Nun galt es, auf das vereinbarte Zeichen zu warten. Van würde mit Escaflowne über dem Lager kreisen und sobald er mit einem Lichtblitz in die Tiefe schoss, würden die Rebellen angreifen. Hitomi saß mit vor Nervosität zitternden Händen in dem Cockpit ihres Guymelefs. Sie ahnte, dass es den anderen nicht viel besser ging - wobei: vielleicht doch... Es gab schließlich genügend Krieger unter ihnen, die schon zu viele Kämpfe geführt hatten, um vor einem einzigen Kampf nervös zu werden... Oder war das doch eine Empfindung, die alle Kämpfer auszeichnete? Hitomi wusste es nicht und fand es auch müßig, weiter darüber nachzudenken. Das würde sie nur ablenken und ihr doch keine Antwort auf ihre Fragen geben...

Da! Ein heller Blitz explodierte über dem Lager und im gleichen Moment sah Hitomi Escaflowne vom Himmel herunterstürzen und mit einem lauten Krachen in der Mitte des Lagers landen.

"Los!" schrie sie und stürzte sich mit ihrem Guymelef Noir ins Gefecht.
 

Van war etwas unsanfter gelandete, als er geplant hatte. Außerdem stellte er überrascht fest, dass Tassilos Truppe sehr viel schneller auf die Beine kam, als die Rebellen erwartet hatten. Er betete nur, dass Shid und seine Truppe die Guymelefs schnell genug okkupiert und zu ihren eigenen erklärt hatten...

Mehr Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, da er sich nun schon mit dem ersten Greifen herumschlagen musste, der Escaflowne angriff.
 

Wie Van es hoffte, waren Shid und seine Soldaten schnell erfolgreich gewesen. Sie hatten annähernd zwanzig Guymelefs ohne große Gegenwehr in Besitz nehmen und mit dem vorgesehenen schwarzen Fleck kennzeichnen können. Shid schlich zwischen den immer noch unbemannten Guymelefs hindurch und bemalte sie schnell mit dem lebenswichtigen schwarzen Fleck, während die Soldaten schnell und leise in die Cockpits schlüpften, bereit jederzeit loszuschlagen. Jedoch wussten sie alle, dass es im Moment noch darauf ankam, leise zu sein, damit eventuelle Feinde sie nicht hören und hier vermuten würden... Je unauffälliger sie waren, desto mehr Guymelefs konnten sie noch erobern. Shid schlich leise weiter und markierte einen weiteren Guymelef, als urplötzlich eine Abteilung feindlicher Soldaten zu den Guymelefs stürmte.

"Rein da, Jerro!" fauchte Shid kurzangebunden und rannte zu seinem eigenen Guymelef zurück. Noch während er lief, brüllte er: "Angriff!"

Die feindlichen Soldaten blieben verblüfft stehen, als sie sahen, wie ihre eigenen Guymelefs sich auf einmal, beinahe geisterhaft, gegen sie wandten. Dann wandten sie sich zur Flucht, verfolgt von Shids erfolgreichen Guymelefdieben.
 

Zur gleichen Zeit wirbelte Merle zusammen mit ihrer Gruppe von Soldaten durch das Lager. Ihre Aufgabe war es, die Zelte der arkadischen Soldaten in Brand zu stecken, um somit Verwirrung zu stiften und gleichzeitig die Greifen möglichst fortzutreiben.

Merle kicherte leise, als sie ein weiteres Zelt anzündete. Irgendwie gefiel sie sich in ihrer Rolle als Feuerteufel...
 

Hitomi schlug sich mit zwei Greifen und einem feindlichen Guymelef herum. Die beiden Greifen hielten auf Grund des brennenden Zeltes hinter ihr glücklicherweise die meiste Zeit Abstand, der Guymelef jedoch musste von jemandem geführt werden, der ein sehr erfahrener Kämpfer war. Wenn Hitomi in sein Cockpit hätte hineinsehen können, dann hätte sie dort drinnen Jarrow, den Kommandanten der Vorhut der arkadischen Armee, erkennen können.

Hitomi ließ Noir hin- und herwirbeln und schlug mit ihrem Schwert brutal um sich. Irgendwann landete sie einen Glückstreffer, der den mutigeren der beiden Greifen beinahe köpfte und ihn tot zu Boden sinken ließ. Dies änderte jedoch wenig an ihrer Lage, denn das Feuer in dem brennenden Zelt begann langsam zu verlöschen und der andere Greif wagte sich nun immer näher an sie heran. Gleichzeitig setzte ihr auch Jarrow mit seinem Guymelef weiter zu. Hitomi mochte eine gute Kämpferin geworden sein, jedoch konnte sie sich mit Jarrows Erfahrung bei weitem nicht messen. Und so trieb dieser sie langsam aber sicher immer weiter zurück.
 

Allen und seine fünfzig Männer hatten in der Zwischenzeit erfolgreich die Vorräte der arkadischen Vorhut erobert und sicher zu dem für den Transport vorgesehenen Luftschiff gebracht. Dabei hatten sie sich häufig gegen Greifen wehren müssen, die sich jedoch als so extrem scheu gegenüber Feuer gezeigt hatten, wie Alexander es verraten hatte. So war der Transport doch leichter vonstatten gegangen, als es der Ritter des Himmels erwartet hatten.

"Was nun?" fragte schließlich ein junger Kämpfer und stützte sich auf sein Schwert. Der Trupp hatte seine Prioritäten dahingehend gesetzt bekommen, dass sie die Vorräte erobern und verteidigen würden, bis das Rückzugssignal kam.

"Warten. Bis Van das Zeichen gibt," gab Allen zurück und wehrte sich mit Scheherazade gegen einen zudringlichen Greifen, den das Feuer nicht dauerhaft hatte abschrecken können.
 

Van stach gerade einen Greifen nieder, wirbelte herum und hatte es sofort mit zwei weiteren zu tun. Wütend attackierten ihn die Fabelwesen und versuchten Escaflownes Panzer mit ihren scharfen Schnäbeln zu durchdringen. Doch das Feuer, das die Rebellen in sämtlichen Zelten gelegt hatten, sorgte dafür, dass sie unruhig waren und sich letztendlich erfolglos in den sicheren Himmel zurückzogen.

"Van!" Der dunkle Guymelef Ebony eilte durch das Gedrängel und hielt vor Escaflowne inne.

"Van," keuchte Alexander leicht außer Atem. Auch der Neffe des Königs von Farnelia hatte sich mit mehreren Greifen und dem einen oder anderen Fußsoldaten herumschlagen müssen. Die Kampfspuren sah man seinen Guymelef deutlich an, denn er hatte nicht nur einige große Kerben davongetragen, sondern auch einen vollkommen zerfetzten Mantel und der linke Arm hing seltsam steif hinunter.

"Wir sind fertig! Gib das Signal!"

Damit wirbelte Alexander auch schon wieder herum und kämpfte sich den Weg zu seinem Trupp zurück frei. Alexanders Aufgabe war es bei diesem Angriff gewesen, im Auge zu behalten, inwieweit die einzelnen Aufgaben "Guymelefs erobern" und "Vorräte sichern" erledigt worden waren und Van rechtzeitig über den Erfolg - oder Misserfolg - in Kenntnis zu setzen.

Van lächelte leicht.

Na also... dachte er. Es sieht gut aus...

Er verpasste einem herannahenden Guymelef noch einen brutalen Schlag auf den Kopf, dann verwandelte er Escaflowne in einen Drachen und jagte zum Himmel. Dort oben zündete er eine goldene Rakete, deren Lichtschimmer die Rebellen über den Rückzug informierte.

23. Rückzug

Berengars Elitesoldaten und die Verstärkung für Jarrows Vorhut der arkadischen Armee war nicht mehr weit von dem Lager entfernt, als sie den goldenen Blitz über dem Lager sahen.

"Verdammt!" Berengar schlug mit der Faust wütend auf die Armaturen des Luftschiffes.

"Da ist etwas nicht in Ordnung! Schneller!" schnauzte er und biss sich angespannt auf die Unterlippe. Einen Sekundenbruchteil später wies er seine Leute an, sich in ihre Guymelefs zu setzen und sich zum Absprung bereit zu machen.
 

Jarrow trieb Hitomi mit seinen hartnäckigen Attacken langsam zur Verzweiflung. Der Greif hatte sich glücklicherweise irgendwann zurückgezogen, weil die Rauchschwaden, die von einem anderen Teil des Lager herübergezogen waren, ihm wohl doch zu sehr zugesetzt hatten. Hitomi hatte das Rückzugssignal gesehen, konnte diesem im Moment jedoch nicht nachkommen, da sie der feindliche Guymelef nicht aus seinen Klauen entließ. Brutal schlug er auf sie ein und zwang sie in eine dauerhafte Verteidigung. Das Problem war nur, dass Noirs linker Arm langsam Ermüdungserscheinungen zeigte und Hitomi deutlich spürte, dass dort etwas im Gelenk kaputt gegangen sein musste, sodass sie sich nur noch mit einem einhändig geführten Schwert gegen Jarrow zur Wehr setzen konnte.

"Verdammt!" fluchte die Königin von Farnelia verzweifelt. Sie schnaufte und wischte sich unwirsch mit der linken Hand einige verschwitze Haarsträhnen aus der Stirn. Da der linke Guymelefarm eh kaum noch zu gebrauchen war, konnte sie sich das erlauben...

In dem Cockpit seines Guymelefs lächelte Jarrow.

"Gut so..." murmelte er leise. "Ich kriege dich..."
 

"Scheiße!" knurrte Allen, als er auf die Brücke des Luftschiffes rannte, in dessen Frachtraum er gerade Scheherazade abgestellt hatte. Das Schiff war bereits gestartete und kreiste nun über dem feindlichen Lager.

Was Allen zu diesem Fluch veranlasste, war das feindliche Luftschiff, das sich dem Lager genäherte hatte und aus dessen Frachtraum nun Guymelefs, Fallschirmspringern gleich, zu Boden sprangen, um sich in den Kampf einzumischen.
 

"Sie bekommen Verstärkung!" schrie Alexander und wehrte sich schlagkräftig gegen einen der Elitekrieger, der direkt vor ihm gelandet war. "Wir müssen weg hier!"

Die Soldaten um ihn herum begriffen sofort den Ernst der Lage, halfen ihrem Anführer kurzerhand bei dem Kampf gegen den plötzlich erschienen Feind und zogen sich nach ihrem Sieg sofort zu dem Luftschiff zurück, das ihnen zugewiesen worden war.

Langsam aber sicher erhoben sich die Luftschiffe der Rebellen in die Luft und flogen zum Sammelpunkt. Van kreiste weiterhin über dem Lager, schlug sich hin und wieder mit einem vorwitzigen Greif herum, der sich von dem durchdringenden Qualm, der nun allmählich von dem Lager aufstieg, nicht hatte vertreiben lassen, und beobachtete den Abzug seiner Truppen. Plötzlich entdeckte er, dass der Crusado immer noch auf der Wiese stand und sich noch nicht aus der Gefahrenzone entfernt hatte. Entschlossen lenkte er Escaflowne nach unten. Er landete kurz neben dem kleinen Luftschiff.

"Gardes, es ist egal, auf wen ihr wartet! Ihr müsst weg hier! Sofort!"

"Aber.." Gardes versuchte Van zu sagen, dass sie nur noch auf Hitomi warteten, doch Van ließ ihn gar nicht zu Wort kommen.

"Sofort! Weg hier oder ihr werdet sterben!" Van deutete dabei mit einer knappen Geste auf die herannahenden, feindlichen Guymelefs.

Schweren Herzens nickte Gardes und startete den Crusado.
 

Hitomis Lage verschlimmerte sich deutlich, als auf einmal die Verstärkung für die arkadischen Truppen vom Himmel fiel. Sie hatte es auf einmal nicht nur mit Jarrow zu tun, sondern auch noch mit Berengar, dem Kommandierenden der Verstärkung. Verzweifelt versuchte sich die Königin von Farnelia gegen diese Übermacht zu wehren, doch langsam begann sie zu ahnen, dass sie keine Chance mehr hatte...

So wird es also enden... In einem Krieg, auf einem Schlachtfeld. Verdammt! Ich hatte mir mein Ende anders vorgestellt!

Hitomi fluchte leise vor sich hin und bemühte sich noch einmal, alle Kräfte des langsam zusammenbrechenden Guymelefs zu motivieren. Aber sie wusste, dass es zwecklos war. Mittlerweile hatte sie es zwar geschafft, sich bis in die Nähe des Flusses zurücktreiben zu lassen, aber der Crusado war nicht mehr dort.

Natürlich nicht... Sie konnten nicht mehr warten...

Hitomi seufzte leise. Es war ihr klar, dass im Kampf nicht auf jeden gewartet werden konnte. Sie selbst hatte schon einige gute Kämpfer ihrer Truppe verloren, weil diese nicht rechtzeitig am Treffpunkt erschienen waren und sie den Rest ihrer Soldaten hatte retten müssen.

So ist das nun einmal...

Den nächsten Schlag konnte sie nicht mehr abblocken. Berengars Guymelef zertrümmerte ihr Cockpit und Hitomi wurde aus dem Guymelef geschleudert. Sie fühlte sich wie eine zerbrochene Puppe, als sie auf dem Boden aufschlug und zum Flussufer rollte. Dann rutschte sie über die Klippe ins Wasser.

Berengar gab ein kurzes, abfälliges Schnauben von sich, als er sah, wie der Kämpfer, der den Guymelef mit dem schwarzen Umhang gesteuert hatte, auf den Boden fiel und in den Fluss rollte. Jarrow wollte Hitomi nachsetzen, doch Berengar hielt ihn zurück.

"Der ist schon tot. Wir haben andere Sorgen..." Damit wandten sich beide Männer mit ihren Guymelefs um und wandten sich erneut dem Chaos in dem Lager der arkadischen Armee zu.
 

Auf dem Rücken liegend ergriff die Strömung Hitomi und zog sie sanft mit sich. Ihre Ohren lagen unter Wasser und sie genoss die plötzliche Stille und die Ferne des Kampflärms. Ihre Gedanken fingen genau wie ihr Körper an zu treiben. Und als sie eine weiße Wolke am dunklen Himmel aufblitzen sah, musste sie an das letzte Einhorn denken. Komisch, zwei Jahre lang hatte sie nicht mehr an es gedacht, doch jetzt tat sie es. Während sie der Fluss immer weiter von ihren Freunden davontrieb, sich ihre Kleidung immer mehr mit Wasser vollsog und sie das Kettenhemd umbarmherzig nach unten zu ziehen versuchte.

"Einhorn," flüstere sie leise und schluckte dabei sofort Wasser. "Einhorn..."

24. Das Einhorn

Hitomi erinnerte sich wieder genau... Wie sie damals das Messer in den Hals des Einhorns gesenkt hatte, wie das silberne Blut durch die Rinnen des Opferaltars geflossen war, wie das letzte dieser wundervollen Wesen starb, wie sie das Gefühl hatte, für den Tod dieses Geschöpfes einmal bezahlen zu müssen...

Tränen rannen der Königin von Farnelia über die Wangen und vermischten sich mit dem Wasser des Flusses, das nun immer häufiger in kleinen Wogen über ihr Gesicht lief. Die Strömung wurde stärker und zerrte Hitomi unbarmherzig mit sich. Doch die junge Frau machte keine Anstalten, sich gegen die Strömung und das allmähliche Untergehen zu wehren. Sie ließ sich treiben, die Augen weit geöffnet und blinzelnd gegen die häufiger werdenden Wasserschwalle, auf den Lippen immer noch das Wort: "Einhorn..."

Schließlich wurde das Wasser, das ihr über das Gesicht lief, zu viel und Hitomi schloss ihre Augen. Dunkelheit umfing sie... Doch diese währte nicht lange. Ein silberner Lichtschein durchbrauch die Schwärze. Allmählich zeichnete sich die verschwommene Gestalt eines Einhorns in diesem Lichtkegel ab.

"Hitomi... Mädchen vom Mond der Illusionen... Hör auf dich zu quälen..." sagte das Einhorn sanft.

"Wie denn?" erwiderte Hitomi schwach. "Wie denn? Ich habe dich umgebracht... Und nun bin ich bereit zu bezahlen... Dir zu geben, was du verlangst, was ich dir für deinen Tod schulde... Nimm mein Leben hin..."

Das Einhorn lachte leise. "Ich will dein Leben nicht. Dein Leben hat einen anderen Sinn..." Es begann vor Hitomi mit wehender Mähne und wirbelndem Schweif auf und ab zu tänzeln.

"Es ehrt dich, dass du noch immer an diesen Moment denkst, aber das ist sinnlos... Natürlich, für den Tod eines Einhorns muss bezahlt werden... Aber das tut Gaia schon längst... Dieser Krieg, die Gewalt, die Aussichtslosigkeit. All das ist der Preis, den Gaia dafür bezahlt, dass es keinen Platz für Einhörner mehr hat... Einhörner können nicht sterben, so lange es genug Liebe und Güte in der Welt gibt. Das hält uns am Leben... Aber wenn eine Welt dies alles verliert, wenn die Menschen die Dinge aus den Augen verlieren, die wirklich wichtig sind, dann können auch Einhörner sterben... Mein Blut wurde für einen guten Zweck vergossen. Der schwarze Drache konnte seinem Erzfeind zumindest noch einmal die Stirn bieten. Wir wussten, dass wir Gaia mit meinem Tod weiter in den Abgrund stürzen würden, aber wir hatten gehofft... Und wir hoffen weiter! Gaia wird wieder zu sich selbst zurückfinden! Und wenn es das geschafft hat, werden wir Einhörner wieder sein... Aber nun ist genug geredet... Kämpfe, Hitomi. Kämpfe, Mädchen vom Mond der Illusionen! Welche Chance hat Gaia denn, wenn die wenigen Rebellen gegen den Tyrannen aufgeben? Kämpfe..."

Das Einhorn verschwand und hinterließ einen Silberschein, der noch ein wenig nachglühte bis er schließlich verlosch.

Im gleichen Moment spürte Hitomi auf einmal, dass sie keine Luft mehr bekam und ihr Wasser in Mund und Nase drang. Sie begann wild um sich zu schlagen und kämpfte sich mühsam an die Wasseroberfläche zurück. Keuchend schnappte sie nach Luft und blickte sich hektisch um. Sie erinnerte sich wieder an den Flussverlauf, den ihr Van auf der Karte gezeigt hatte. Von dem Lager der arkadischen Vorhut dauerte es nicht mehr lange bis ein Wasserfall kam und der starken Strömung nach zu urteilen, war dieser nicht mehr weit!

Hitomi streifte ihr Kettenhemd ab, da sie dieses immer wieder unter Wasser zu ziehen drohte. Dann versuchte sie sich mit Schwimmbewegungen ans Ufer zu retten, wurde jedoch weiter mitgerissen. Langsam konnte sie das Rauschen des Wasserfalls hören und sie begann immer schneller zu schwimmen. Das änderte allerdings gar nichts an ihrer Lage. Schließlich prallte sie gegen einen Felsen, ergriff die Chance, die sich ihr damit bot, und krallte sich an dem glitschigen Stein fest. Mit einem gewaltigen Kraftakt gelang es ihr, auf den Felsen zu klettern. Dort saß sie nun, blickte sich um und stellte fest, dass es für sie keinerlei Möglichkeit gab, von allein an das Ufer zu gelangen.

Der Fluss trieb zu beiden Seiten mit unbändiger Gewalt an dem Felsen vorbei und direkt hinter ihr brandete er über das Kliff und stürzte in die Tiefe.

"Na klasse..." brummte Hitomi und stützte die Stirn verzweifelt in die Hände. "Und wie komme ich hier nun weg?"
 

Die Rebellen waren inzwischen auf dem Weg in ihr neues Lager.

Gardes stand am Steuer des Crusado und sein Gesicht war grau vor Sorge um Hitomi.

"Verdammt... Ich hätte warten sollen... Ich hätte warten müssen... Allen Befehlen zum Trotz... Wenn Van es gewusst hätte... Wenn ich es ihm nur gesagt hätte..."

Verzweifelt schlug Gardes mit der Hand auf das Steuerrad ein. "Verdammt! Verdammt, verdammt!"

"Was ist?" brummte Katz, ein Crewmitglied des Crusados, und blickte den Kapitän verwirrt an.

"Hitomi ist nicht an Bord..." seufzte Gardes. "Wir mussten sie zurücklassen..."

"Ach herrje!" Katz war sofort kreidebleich geworden. "Wenn das König Van erfährt..."

"Ja." Gardes seufzte erneut. "Und es war sein Befehl..."

"Ach, du heiliger Drachengott..." Katz starrte seinen Kapitän aus weit aufgerissenen Augen an. Die Königin von Farnelia wurde vermisst! Das war eine der schlechtesten Nachrichten, die er seit Beginn dieses Krieges gehört hatte.

25. Sonnenaufgang

Die Sonne kletterte langsam über den Horizont, als die Rebellen in ihrem neuen Versteck ankamen. Hektisch wurde der Höhleneingang verschlossen und versteckt, nachdem das letzte Luftschiff gelandet war. Die Sorge war groß, dass ihnen vielleicht doch ein Kundschafter der Arkadier hatte folgen können.

Kaum war dies geschehen, als auch schon mit dem Sichten der eroberten Vorräte und Guymelefs begonnen wurde. Letztendlich stellte sich heraus, dass die Ausbeute größer war, als die Rebellen gehofft hatten.

Gardes schob sich langsam durch das Gedränge von Menschen und Guymelefs und suchte nach Van. Es erschien ihm am klügsten, den König von Farnelia so schnell wie möglich über das Zurückbleiben seiner Frau zu informieren. Gardes war blass und dunkle Schatten zeigten sich unter seinen Augen. Er sorgte sie um Hitomi, die er als Freundin zu schätzen gelernt hatte. Außerdem fragte er sich, was Van tun würde, sobald er von Hitomis Fehlen erfuhr... Gardes seufzte leise. Mit gesenktem Blick stolperte er in Allen hinein.

"Hey!" Der blonde Ritter grinste seinen alten Freund an. "Was ist dir denn über die Leber gelaufen?"

"Frag besser nicht..." brummte Gardes leise. "Hast du Van gesehen?"

"Er ist irgendwo da hinten bei den Guymelefs..." erwiderte der Ritter und betrachtete Gardes mit sorgenvoller Miene. Er kannte den dunkelhaarigen Luftschiffpiloten nun schon lange genug, um zu wissen, wann etwas nicht in Ordnung war, aber derart besorgt hatte er Gardes noch nie gesehen.

"Warte, ich komme mit!" rief Allen einer plötzlichen Eingebung folgend und rannte dem dunkelhaarigen Mann hinterher.

Gemeinsam fanden sie schließlich Van, der zusammen mit Louvain und Ivory über die eroberten Guymelefs fachsimpelte.

"Van..." sprach Gardes den König von Farnelia schließlich schweren Herzens an. Van drehte sich um und blickte dem alten Freund mit einem Lächeln in die Augen.

"Ja, Gardes?"

Verdammt... fluchte Gardes in Gedanken. Er sieht so unbekümmert aus...

"Wir haben jemanden zurücklassen müssen," setzte der Luftschiffkapitän an.

"Ja, das dachte ich mir schon." Vans Miene verdüsterte sich. "Das ist bedauerlich, aber..."

Weiter kam er nicht, da er sofort von Gardes unterbrochen wurde.

"Van, wir mussten Hitomi zurücklassen."

Von einer Sekunde zur anderen wurde Van kreidebleich. Er begann unkontrolliert zu zittern und krallte sich an Louvains Schulter fest. Auch der Löwenmann, die Wolfsfrau und der Ritter des Himmels starrten Gardes fassungslos an.

"Aber..." brachte Van mühsam hervor.

"Du gabst uns den Befehl..." sagte Gardes leise. "Außerdem hattest du Recht: Wir konnten unmöglich noch länger warten und noch mehr Leben riskieren..."

Vans weit aufgerissene Augen blickten ihn an.

Wenn ich es gewusst hätte... Ich hätte sie gesucht... Hitomi! Hitomi! Ach, Hitomi...

Vans Knie gaben nun doch nach und er sackte zwischen den Freunden auf den Boden. Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Und nun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?!?

Er war kurz davor, seine Gedanken laut herauszuschreien. Verzweiflung machte sich in seinem Inneren breit. Plötzlich sprang er auf und rief: "Ich werde sie suchen! Jetzt, sofort! Ich darf keine Sekunde mehr verlieren!" Damit wollte er schon davon stürmen, doch Allen hielt ihn umbarmherzig am Arm fest.

"Nein, Van," sagte der blonde Ritter fest. "Du wirst nirgendwohin gehen."

Van sah den blonden Ritter fassungslos an und begann sich gegen dessen harten Griff zu wehren, doch Allen ließ ihn nicht los.

"Van, du bleibst hier," donnerte der Ritter des Himmels. "Du kannst da nicht rausgehen. Das Risiko ist viel zu groß. Nicht nur für dich, sondern für uns alle. Wegen einem einzigen Leben darfst du nicht unsere ganze Rebellion riskieren. Das darfst du nicht!"

"Und Hitomi?" fragte Van tonlos. "Willst du sie einfach aufgeben? Ist sie nicht auch deine Freundin?"

"Das ist sie," erwiderte Allen sanft. "Aber wir können im Moment nichts tun. Sie ist jetzt erst einmal auf sich gestellt... Ich sage nicht, dass wir nichts tun werden - nur jetzt ist gerade extrem ungünstig. Die arkadische Armee ist aufgeschreckt und wir sind einem Versteck, das noch längst nicht optimiert ist. Wir haben andere Sorgen und müssen jetzt erst einmal an uns denken... Das ist gerade das, was wir tun können... Sag mir, was würde Hitomi wollen? Dass du sie suchst und dich sinnlos in Gefahr begibst oder dass du ruhig bleibst und überlegst, was jetzt das Klügste ist?"

Van grinste schief und hörte auf, sich gegen Allens Griff zu wehren. So sehr es den König von Farnelia auch schmerzte, sein Freund hatte ja Recht...

"Sag, Van, kannst du nicht spüren, wie es ihr geht?" mischte sich Louvain ein. "Dann weißt du zumindest, ob sie lebt..."

Van sah den Löwenmann kurz an, dann nickte er, griff nach dem Pendel um seinen Hals, dass ihm Hitomi vor so langer Zeit geschenkt hatte, und konzentrierte sich. Hitomis Bild erschien vor seinem inneren Auge. Sie lächelte ihn an und strich ihm beruhigend über die Wange. Ihr Haar wehte im Wind. Ihr ging es gut...

"Sie lebt..." sagte Van schließlich. "Das kann ich zumindest sagen... Mehr aber nicht." Er seufzte leise.

"Nun, wenigstens diese Gewissheit haben wir nun," sagte Allen leise und legte dem Freund sanft den Arm um die Schultern.

26. Benachrichtigungen

Als die Sonne aufging, hatte sich das Chaos im arkadischen Lager endlich gelegt. Leutnant Berengar und Kommandant Jarrow waren sich nun sicher, dass sich keine Rebellen mehr in der Nähe aufhielten. Damit war jedoch auch die Zeit gekommen, ihrem General Bericht zu erstatten.

Jarrow seufzte leise. Ihm war unwohl dabei, General Bayliss über den Überfall zu unterrichten.

Berengar musste grinsen, als er das sorgenvolle Gesicht des Kommandanten sah. Die rötlichen Haare hingen diesem noch immer wirr und verschwitzt in die Stirn und die grauen Augen waren kummervoll zusammengezogen.

"Kopf hoch, Jarrow, Ihr macht das schon..." brummte Berengar und schlug Jarrow freundschaftlich auf die Schulter.

Jarrow richtete einen anklagenden Blick auf den Elitesoldaten mit den schulterlangen, blauschwarzen Haaren.

"Ihr habt leicht reden... Schließlich müsst Ihr Bayliss auch nicht Rede und Antwort stehen..."

"Und mir wäre es auch nicht passiert, mich derart überraschen zu lassen..." erwiderte Berengar mit zusammengekniffenen Augen. "Ihr wart nachlässig und das wisst Ihr auch. Ihr habt die Rebellen deutlich unterschätzt. Und das wird weder Bayliss noch Tassilo freuen..." Ein höhnisches Grinsen huschte über das Gesicht des Kriegers.

"Es ist einfach jetzt große Sprüche zu klopfen..." knurrte Jarrow gereizt. "Ihr hättet ja vielleicht auch etwas eher ankommen können..."

"Wie denn? Wir sind schon urplötzlich aufgebrochen, weil General Bayliss eine Ahnung hatte... Das ist noch so ein Punkt: General Bayliss, der hunderte von Meilen von hier entfernt ist, hat ein besseres Gespür für das, was hier geschehen wird, als Ihr, die Ihr hier vor Ort seid..." Berengars abfälliges Grinsen wurde noch breiter. "Das spricht nicht gerade für Euch..."

"Ach, haltet die Klappe!" fauchte Jarrow ungehalten. "Kümmert Euch lieber darum, was wir alles verloren haben... Und erstattet mir sofort Bericht!" Damit schickte er den noch immer lachenden Berengar aus dem provisorisch errichteten Zelt. Wenigstens stand er im Rang über diesem überheblichen Soldaten... Zumindest die Befriedigung, ihm Befehle zu erteilen, hatte er. Jarrow grinste schief, da er sich bewusst war, wie gering diese Befriedigung angesichts seines eigenen Versagens war. Berengar hatte mit jedem seiner Worte Recht gehabt und das war es, was Jarrow wirklich wurmte.

"Ach, Scheiße!" fluchte der Mann mit den rötlichen Haaren und trat wuchtig gegen die Nachrichtenkonsole, die glücklicherweise vor den Flammen hatte gerettet werden können. Dann seufzte er noch einmal und stellte die Verbindung zu General Bayliss her.
 

Bayliss war gerade zu Bett gegangen, als ihn das nervtötende Piepsen der Kommunikationsanlage wieder aufrüttelte. Fluchend und grummelnd stand er auf, ließ sich vor dem Gerät nieder und nahm die Nachricht in Empfang.

"General Bayliss, bitte entschuldigt die Störung..." Jarrows Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Seine rötlichen Haaren waren verklebt und er sah durch und durch besorgt.

"Was ist passiert?" Bayliss musterte das Gesicht seines Kommandanten und hatte auf einmal ein ungutes Gefühl.

"Wir sind überfallen worden... So weit wir feststellen konnten, war die gesamte Armee der Rebellen daran beteiligt. Uns wurden Vorräte und Guymelefs geraubt..." Weiter kam Jarrow nicht.

"WAS?!" Bayliss sprang von seinem Stuhl auf und starrte den Kommandanten ungläubig an. "Das kann doch nicht wahr sein! Du solltest die Rebellen finden und dich nicht von ihnen überfallen lassen!"

"Ja, Sir, aber..."

"Kein aber! Das ist eine Katastrophe! Kannst du mir mal verraten, wie ihr das geschafft habt? Die müssen euch ja ausgekundschaftet haben, ohne dass ihr das bemerkt habt! Beim Manticor, du bist derart unfähig..." Bayliss begann vor dem Gerät auf und ab zu gehen.

"Was ist mit Berengar?" fragte er schließlich und bemühte sich, etwas ruhiger zu werden.

"Er kam mit seiner Truppe gerade rechtzeitig..." brachte Jarrow eingeschüchtert hervor.

"Wenigstens etwas... Ich hoffe mal, ihr habt ein paar Gefangene machen können..."

"Nein." Jarrow schüttelte kleinlaut den Kopf. "Wir haben nur einen zerstörten Guymelef hier, dessen Pilot in den Fluss gefallen ist und ein paar tote Rebellen..."

"Na klasse..." Bayliss fuhr sich durch die grau melierten Haare und seufzte leise. "Also gut, ihr werdet die Gegend noch gründlicher absuchen als zuvor. Hast du mich verstanden? Vielleicht findet ihr den einen oder anderen verletzten oder zurückgebliebenen Rebellen, den wir verhören können. Und streng dich an, Jarrow! Ansonsten wird Berengar deine Position übernehmen..." Damit beendete Bayliss die Übertragung und fragte sich, wie er Tassilo diese Nachricht am besten überbringen sollte. Schließlich entschloss er sich dazu, es so schnell wie möglich zu tun. Er zog seine Uniform an und eilte in den Thronsaal.

Kaiser Tassilo ging stets spät zu Bett und war meist bis in die frühen Morgenstunden in seinem Thronsaal anzutreffen. Bayliss fragte sich manchmal, wie es der rothaarige Diktator nur schaffte, mit so wenig Schlaf auszukommen.

Beherrscht betrat Bayliss den Thronsaal und steuerte auf seinen Herrscher zu. Vor dem Thron fiel er auf die Knie und wartete darauf, dass der Mann mit den blutroten Haaren ihn ansprechen würde.

"Bayliss," sagte Tassilo sanft. "Es muss doch etwas vorgefallen sein, wenn du mich so spät aufsuchst..."

"Herr." Bayliss blickte auf und bemühte sich, den Diktator ruhig und beherrscht anzublicken. "Die Vorhut in den Einhornbergen wurde von den Rebellen überfallen."

Tassilo starrte seinen General an. Noch war keine Reaktion auf seinem Gesicht abzulesen.

"Ich habe Befehl gegeben, nach Nachzüglern und Zurückgebliebenen zu suchen, um diese verhören zu können... Leider hat Kommandant Jarrow keine Gefangenen machen können..."

"Aha..." Das war die einzige Äußerung, zu der sich Tassilo herabließ. Bayliss war verwirrt. Er hatte das übliche Toben und Zetern des Kaisers erwartet, doch dieser blieb so ungewöhnlich ruhig.

"Nun, wenigstens wissen wir nun, dass wir an der richtigen Stelle gesucht haben... Weit können sie noch nicht gekommen sein. Verstärkt also die Truppen in der Gegend." Damit winkte Tassilo seinem General zu gehen. Geschwind sprang dieser auf und eilte aus dem Thronsaal. Vor der Tür blieb Bayliss stehen, lehnte sich an die Wand und murmelte leise: "Wenn er toben würde, wäre er mir lieber... Mit dieser komischen Ruhe ist er noch unheimlicher..."

27. Der Erddrache

Hitomi wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Felsen am Randes des Wasserfalls saß, als ihr aufging, dass der Morgen bereits dämmerte und sie hier wie auf den Präsentierteller zu sehen war... Erneut sah sie sich nach einem Ausweg um, konnte aber noch immer keine Möglichkeit entdecken, wie sie den Fels in der reißenden Strömung verlassen konnte. Sie seufzte resigniert. Schwimmen schien die einzige Lösung zu sein...

Dagegen sprach aber nicht nur die reißende Strömung, sondern auch die Tatsache, dass ihre Kleidung noch immer nass und schwer war. Das Kettenhemd mochte sie zwar schon abgeworfen haben, aber sie trug noch immer Lederhosen und hohe Lederstiefel...

"Verdammt..." fluchte sie leise. Selbst wenn sie die Sachen ausziehen würde und es ihr irgendwie gelänge, nicht den Wasserfall hinuntergerissen zu werden und an Land zu schwimmen, so würde sie doch in dieser Wildnis allein in ihrer Unterwäsche und dem dünnen Stoffhemd sowie ohne Stiefel nicht weit kommen...

Ihr Blick glitt über das dichte Gestrüpp an beiden Seiten des Flusses. Dornige Büsche drängten sich eng an das Wasser. Hier und da stand auch ein verkrüppelter Baum, der Fuß auf diesem felsigen, harten Boden hatte fassen können. Schilf wucherte in den kleinen Ausbuchtungen, die der Fluss in das steinige Ufer geschlagen hatte und wo das Wasser deutlich langsamer floss als in der Mitte der Stroms.

"Verdammt!" Diesmal stieß sie den Fluch laut aus. "Ach, Van... Wo bin ich hier nur wieder reingeraten?" Plötzlich schlug ihre vorher verzweifelte Stimmung um. "Ich hasse das!" Unwirsch schlug sie mit der Hand auf den harten Fels unter sich. "Ich hasse das!"

Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn und richtete ihren Blick anklagend auf den Himmel.

"Warum passiert dieser Mist immer nur mir? Warum? Warum, warum, warum? Gibt es nicht genug andere Menschen auf dieser Welt? Warum ich? Warum?"

Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte ihrer Wut wieder Herr zu werden. Es brachte ja nichts, wenn sie sich weiter aufregte. Das würde sie nicht von diesem Felsen herunter bringen. Es würde sie nur vielleicht zu Dummheiten führen - und sie Kraft kosten. Hitomi seufzte leise. Aber es hatte gut getan, diese Wut rauszulassen. Das Schicksal war aber auch verdammt ungerecht...

"Wer hat je gesagt, dass das Schicksal gerecht ist?" Eine vertraute, diesmal spöttisch klingende Stimme in ihren Gedanken schien sie auszulachen.

"Halt den Mund!" fauchte Hitomi ungehalten. "Wegen dir bin ich doch überhaupt hier! Hilf mir also lieber, anstatt mich zu verspotten..."

Plötzlich raschelte es derart lautstark in dem Gestrüpp an der rechten Uferseite, dass Hitomi dieses Geräusch sogar durch den beständigen Donner des Wasserfalls hören konnte. Sie blickte hinüber und sah, wie sich ein Erddrache am Flussufer niederließ. Diese Unterart der Drachen besaß keine Flügel, sondern war an ein Leben auf dem Boden angepasst. Ihre Gestalt erinnerte stark an übergroße, etwas dickliche Eidechsen.

Seine glatte Haut war dunkelgrün mit hellbraunen Sprenkeln. Er war von gewaltiger Größe, auch wenn er offenkundig noch nicht ganz ausgewachsen war. Aus seinen leuchtenden, gelben Augen musterte er den Fluss so erstaunt, wie es Kleinkinder tun, die zum ersten Mal etwas Neues erblicken. Dabei schlug er unruhig mit seinem langen Schwanz durch das Gestrüpp hinter sich.

Dann planschte er mit einem weiten Satz in das reißende Wasser und blieb direkt neben Hitomis Felsen stehen. Das Wasser brandete mit Urgewalt um die Beine des jungen Drachen, vermochte ihn aber nicht mit- oder gar umzureißen.

Neugierig senkte das Drachenkind seinen Kopf und beschnupperte Hitomi, die ihn ängstlich zusammengekauert betrachtete.

Auch noch ein Drache... Als wenn der Fluss nicht schon reichen würde! stöhnte sie in Gedanken auf.

Als der Erddrache sie vorwitzig mit der Nase anstieß, hatte die junge Frau das Gefühl, dass ihr das Herz stehen bleiben würde - so groß war ihre Angst. Doch der Drache machte keinerlei Anstalten, ihr etwas tun zu wollen. Er war nur neugierig angesichts dieses Geschöpfes, das er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte.

Schließlich ließ er von Hitomi ab, senkte den Kopf und trank aus dem Fluss.

Erleichtert darüber, dass sie nicht vom Regen in die Traufe geraten war, betrachtete Hitomi den jungen Erddrachen näher. Und plötzlich blieb ihr Blick an seiner Schulter hängen, die direkt neben ihr etwas über die Höhe des Felsen hinaus ragte.

Sie hatte eine Idee...

Behutsam stand sie auf und näherte sich langsam dem Rand des Felsen. Dort angekommen streckte sie die Hand aus und berührte vorsichtig die Schulter des Drachen, jederzeit dazu bereit, sich mit einem Satz nach hinten zurückzuziehen. Doch der Drache stieß nur ein leises Grunzen aus und trank in Ruhe weiter. Überrascht stellte Hitomi fest, dass er sich gar nicht an ihr und ihrer Berührung stört. Gleichzeitig merkte sie, dass seine Haut nicht glitschig war, wie sie es unwillkürlich erwartet hatte, sondern weich, warm und trocken.

Hitomi hielt noch einen Moment inne, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und kletterte auf den Rücken des Erddrachen. Sie rechnete damit, dass das Tier versuchen würde, sie abzuwerfen, doch das tat es nicht. Wieder störte sich der junge Erddrache nicht an ihr.

Er trank in Ruhe zu Ende und trottete dann aus dem Fluss heraus, um seine Weg - wohin auch immer - fortzusetzen.

28. Ivorys Lied

Der Manticor spürte auf einmal, dass sich etwas verändert hatte. Er spitzte seine Löwenohren und streckte seine gedanklichen Fühler aus. Ja... Das Mädchen vom Mond der Illusionen war nicht mehr bei den anderen... Sie war von ihnen getrennt worden.

Erregt sprang er auf und tigerte auf der Traumebene auf und ab. Er konnte immer noch spüren, dass der schwarze Drache seine ganze Kraft dazu aufbrachte, seine Kinder und eben dieses Mädchen vor ihm abzuschirmen. Gleichzeitig spürte der Manticor auch wieder, wie schwach er eigentlich war... Er hasste diese geisterhafte Gestalt, in die er seit dem Tod seines Körpers gefesselt war. Er hasste sie! Und er würde alles tun, um wieder eine fleischliche Version seiner selbst zu werden. Und dazu brauchte er das Mädchen... Das Mädchen und die Kinder des Drachen. Wenn es keine Drachenkinder mehr gab, dann würde ihm die ganze Macht Gaias offen stehen. Und er allein könnte sie nutzen...

Ein dunkles Lächeln huschte über seine Lefzen.

Dann konzentrierte er sich darauf, Tassilo, seinen menschlichen Verbündeten, zu erreichen.
 

Tassilo schreckte hoch, als sich der Manticor brutal in seine Gedanken drängte.

"Verstärk die Suchtrupps... Sie müssen ein Mädchen suchen, eine junge Frau..."

"Ja, ja..." erwiderte Tassilo unwirsch. "Die Suchtrupps sind schon verstärkt. Aber ich werde ihnen gleich durchgeben, dass sie nach einem Mädchen suchen sollen - Warum auch immer!" Tassilos blutrote Augen fixierten das Bild des Manticors in der dunklen Glasscheibe mit dem langen Riss. "Du solltest dir angewöhnen, mir zu sagen, was du weißt..." knurrte er ungehalten.

Der Manticor schüttelte unwillig seine dunkelrote Mähne. Der Mensch lernt dazu... Und ist nicht mehr so abhängig von mir... Ein schlauer Mann... Er braucht mich und ich brauche ihn - So ist es nun einmal...

"Sie ist der Schlüssel... Das Mädchen ist die Königin von Farnelia. Eine Anführerin der Rebellen. Durch sie werden wir die anderen finden..."

"Ah..." Ein Lächeln huschte über Tassilos Gesicht. Das war wiederum etwas, das ihm gefiel. Jetzt hatten sie also endlich die Möglichkeit, an die Rebellen heran zu kommen und diesen dreisten Überfall zu rächen.

Der Diktator drückte einige Tasten auf der Armlehne seines Throns und bekam sofort eine Kommunikationsverbindung zu seinem General Bayliss.

"Bayliss, sag den Truppen, dass sie nach einem Mädchen, einer Frau suchen sollen. Nach der Königin von Farnelia." Der rothaarige Mann wartete die Bestätigung seines Untergebenen nicht mehr ab, sondern beendete die Verbindung sofort und wandte sich wieder dem Manticor zu.

"Aber du willst doch noch etwas, oder?" brummte er.

"Ein Opfer..." Der Manticor lächelte sein düsteres Lächeln. "Mich dürstet nach Kraft..."

"Also gut..."
 

In dem Höhlenversteck der Rebellen saß Van neben Escaflowne auf dem Boden, hatte das Gesicht in die Hände gestützt und fragte sich, was er nur machen konnte, um Hitomi zu helfen - und sie im Zweifelsfall zu retten. Allen hatte schon Recht - Van durfte das Versteck im Moment nicht verlassen. Das Risiko war viel zu groß, nicht nur für ihn, sondern für alle Rebellen. Das war eine Schuld, die er sich nicht auf seine Schultern laden konnte und durfte. Und außerdem musste er an seine Kinder denken... Die Kinder von ihm und Hitomi. Er musste sicherstellen, dass sie wenigstens ihren Vater behielten...

"Oh Van," stöhnte er leise auf, "Lass diese finsteren Gedanken sein..."

Zum wiederholten Male in den letzten Stunden konzentrierte er sich darauf, Hitomi über ihre gemeinsame, geistige Verbindung zu erreichen. Doch wieder scheiterte er. Er konnte zwar spüren, dass es ihr gut ging, doch er konnte nicht zu ihr durchdringen.

Woran auch immer das jetzt liegen mag... fluchte er in Gedanken.

"Van?" Ivory trat zwischen den Guymelefs hervor, die Escaflowne und Van umgaben. Der König von Farnelia hob den Kopf und blickte das Wolfsmädchen an.

"Ja?"

"Du kannst im Moment nichts tun - Also mach dich nicht verrückt! Vertrau auf Hitomi! Sie wird zurechtkommen..."

Die Albinowolfsfrau ließ sich neben Van zu Boden sinken und strich ihm sanft über die Schulter. "Beruhige dich. Das ist das Beste, was du im Moment tun kannst, um ihr zu helfen..."

Vans seufzte leise. "Aber das ist verdammt schwer..."

"Ich weiß..." Ivory lächelte traurig. "Wir alle machen uns Sorgen um Hitomi. Aber das Einzige, was wir tun können, ist an sie zu glauben und darauf zu vertrauen, dass sie stark genug ist, ihren Weg zu finden - zurück zu uns."

"Ja..." sagte Van langsam. "Vielleicht hast du Recht."

"Das habe ich immer." Ivory grinste ihn frech an und ihre roten Augen funkelten belustigt. "Weißt du, als Wolfsmensch habe ich mit verschwundenen Freunden so meine Erfahrungen. Mein Volk ist daran gewohnt, dass Freunde immer wieder verschwinden und mal wieder kommen, und mal nicht... Wir singen für sie immer ein Lied, das ihnen Kraft geben soll..."

"Singst du es mir vor?" bat Van und lächelte die Wolfsfrau freundlich an.

"Gerne," erwiderte sie. Dann hob sie ihre Stimme und begann zu singen.
 

"Möge das Mondlicht

dir deinen Weg leuchten

und dir Hoffnung geben

wo immer

du bist
 

möge der Mond

dir Kraft geben

und dich leiten

was immer

du tust
 

möge der Mondschein

dich befreien aus deinen Ketten

und dir deine Freiheit schenken

wer immer

dich festhält
 

möge der Mond

dir beistehen

bei deinen Taten

und sein Licht schützend

über dich breiten"
 

Hitomi saß in der Zwischenzeit immer noch auf dem Rücken des Erddrachen und fragte sich langsam, wie sie es eigentlich schaffen sollte, von dieser übergroßen Eidechse herunterzukommen. Immerhin befand sie sich gute vier Meter über dem Erdboden und bei dem erstaunlichen Tempo, das der Erddrache auf einmal an den Tag legte, fehlte ihr der Mut, einfach zu springen. Wahrscheinlich wäre dies auch ziemlich töricht gewesen, der Erddrache durch einen dichten Wald lief. Äste schlugen immer wieder nach Hitomi, sodass die Königin von Farnelia eigentlich genug damit zu tun hatte, nicht von dem Rücken des Tieres heruntergeschlagen zu werden. Sie seufzte leise und beschloss dann zu warten, bis der Drache irgendwann anhalten würde. Das musste sogar er schließlich mal...

29. Frauen

Auriana lehnte gelangweilt an einer der Wände des neuen Versammlungssaales der Rebellen. Im Moment wusste keiner wirklich etwas mit ihr anzufangen, sodass sie einfach hierher bestellt worden war, damit sie möglichst nicht im Weg war. Die Prinzessin war zwar nicht gerade begeistert über die Behandlung, die man ihr hatte zukommen lassen, aber wenigstens hatte man keine Wachen für sie abgestellt. Das hieß doch, dass man ihr zumindest einigermaßen traute - oder etwa nicht? Sie schüttelte unwillig den Kopf.

"Auriana?" Eine junge Frau mit blonden Haaren trat ein.

"Ja?" Auriana hob den Kopf und sah sie an. Die Frau kam ihr bekannt vor... "Ihr seid...?"

"Milerna Sara Aston Schezar," stellte sich Milerna mit einem leichten Lächeln vor. "Aber lassen wir die Formalitäten bei Seite. Wir stehen schließlich doch auf der selben Seite. Auch wenn ich das noch nicht wirklich zu glauben vermag..." Milernas violette Augen musterten Auriana kritisch.

"Ja..." Auriana seufzte leise. "Da bist du nicht die Einzige. Dieser ganze Haufen betrachtet mich mit Misstrauen. Aber das kann ich keinem hier verdenken. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich hier bin. Dass ich all das auf mich nehmen, um frei zu sein..."

"Frei?" Milerna sah die Prinzessin verwirrt an. Sie verstand nicht, worauf die ehemalige Gattin von Van und Tochter des Manticors hinauswollte.

"Ich habe mein Leben lang nur in einem Käfig gelebt. Erst war es mein Vater, der all mein Tun und Sein bestimmt hat. Ich hatte gehofft dem durch die Hochzeit mit Van zu entkommen, doch letztlich saß ich nur noch tiefer in meinem Käfig und habe wieder getan, was mein Vater sagte. Nach seinem Tod hatte ich gehofft, aufatmen zu können, doch dann ergriff mich der Manticor, machte mich zu seiner Dienerin und steckte mich wieder in einem Käfig... Und jetzt bin ich das erste Mal in meinem Leben frei und denke nicht daran, zu ihm zurückzukehren." Sie lachte trocken auf. "Irgendwann einmal muss ich doch frei sein dürfen, nicht wahr?"

Milerna nickte langsam. Jetzt begann Aurianas Hiersein Sinn zu machen...

"Aber was nimmst du auf dich, um frei zu sein? Das verstehe ich nicht ganz..."

"Die Angriffe des Manticor. Sobald ich auch nur zwei Sekunden die Augen schließe, ist er da, greift nach mir und versucht, mich zu sich zu ziehen. Bisher konnte ich mich wehren und ihm entkommen..." Auriana seufzte erneut. "Außerdem behagt mir die Feindseligkeit nicht, die mir hier entgegenschlägt. Aber du bist sicher nicht gekommen, um mich zu fragen, was ich hier tue und was mich motiviert, bei euch zu sein..." Auriana lächelte leicht.

"Da hast du Recht..." Milerna erwiderte dieses Lächeln sanft. "Hitomi ist seit unserem Überfall verschwunden und wird vermisst. Sie ist wohl im Kampfgetümmel ,abhanden' gekommen..."

"Oh..." Aurianas Augen weiteten sich erstaunt und Milerna konnte darin so etwas wie Sorge erkennen.

"Das ist nicht gut..." murmelte die saryanische Prinzessin leise und schüttelte den Kopf. "Der Manticor wird versuchen, sie zu fassen zu kriegen... Wir müssen schneller sein! Wir müssen sie finden! Wenn er sie in seine Hand bekommt... Der Himmel weiß, was dann geschieht!" Auriana sah Milerna ängstlich an.

"Ich weiß..." Die Heilerin der Rebellen erwiderte Aurianas Blick. "Das Problem ist nur, dass wir unser Versteck im Moment nicht verlassen können..."

"Es würde ja schon reichen, wenn wir Hitomi die richtige Richtung sagen könnten!" Auriana lächelte mit dieser Idee. "Ich brauche alle Kinder des Drachen hier! Sofort! Vielleicht können wir sie ja erreichen..."

Hoffnungsvoll blickte Milerna die goldhaarige Frau an.

Ja, vielleicht ist Auriana wirklich eine Chance...

"Ich hole sie," sagte die Prinzessin von Asturia noch, dann drehte sie sich um und verließ den Versammlungsraum.
 

Hitomi kauerte noch immer auf dem Rücken des Erddrachen. So langsam wurde es ihr langweilig... Weiter stampfte der grüne Gigant durch den Wald und weiter konnte sie nichts tun... Doch plötzlich hielt der Erddrache inne. Sein großer Kopf zuckte herum, aber seine Beine standen still... Hitomi nutzte die unerwartete Chance und ließ sich blitzschnell von dem Rücken des flugunfähigen Drachen zu Boden gleiten. Sie huschte leise zwischen den nächsten Bäumen davon. Sie fragte sich keine Sekunde lang, warum der Drache angehalten hatte. Sie war nur froh, dass er es getan und sie nun von seinem Rücken heruntergekommen war. Alles andere interessierte sie erst einmal nicht...
 

Lauria lehnte sich gegen die Palme hinter ihr. Das Mädchen mit den goldenen Haaren beobachtete die Sturmfronten am Horizont.

"Was siehst du, Geliebte?" fragte ihr Bruder Laures. Der Junge mit den hüftlangen, schwarzen Haaren saß neben ihr im Sand, konnte aber nichts weiter als tobende Wolken, zuckende Blitze und aufschäumende Wellen sehen. Ihm fehlte die weibliche Intuition, um die Zeichen des Sturmes richtig zu deuten. Meistens waren seine und Laurias Visionen synchron, aber eben nicht immer...

Sie mochten Geschwister sein - Zwillinge sogar - aber doch waren sie verschieden... Während Lauria in sich die uneingeschränkte Kraft des Lichtes trug, war Laures von der Macht der Dunkelheit erfüllt. Laures hatte immer wieder darüber gegrübelt, warum seine Schwester und er so waren, aber eine befriedigende Antwort hatte er nicht finden können. Sie waren einfach. Damit musste er sich wohl zufrieden geben... Seine schwarzen Augen blickte seine geliebte Schwester wieder an. Er ahnte, dass die Anziehungskraft zwischen ihnen mit ihren unterschiedlichen Auren zusammenhing - und dass die Manipulation des Manticor das Ihrige dazugetan hatte. Aber trotzdem... Er liebte seine Schwester und er war glücklich, dass er mit ihr hier, auf der Insel inmitten des ewigen Sturms, sein konnte.

Laurias schwarze Augen fixierten immer noch die Sturmwolken. Etwas braute sich zusammen...

"Etwas kommt auf uns zu... Eine Beschwörung... Unsere Mutter wird eine Beschwörung machen. Und uns rufen. Zu sich." Laurias glockenhelle Stimme hing noch einen Moment in der Luft, dann verklang sie wieder.

Laures blickte seine Schwester an, dann rückte er näher zu ihr und nahm ihre Hand. Gemeinsam warteten die Geschwister.

30. Beschwörungen

Eine halbe Stunde später kam Milerna zusammen mit Alexander, Van, Louvain, Merle Allen und den beiden Kleinkindern Varie und Vargas zurück. Auriana verzog ein wenig das Gesicht, als sie sah, welche Menge an Leuten auf einmal in den Versammlungssaal drängte, doch sie sagte nichts, weil sie spürte, dass sich all diese Menschen um Hitomi sorgten.

"Also denn..." murmelte sie leise. Lauter fuhr sie fort: "Alle Kinder des Drachen kommen jetzt zu mir..."

Alexander und Van traten mit den beiden Kindern auf dem Arm zu Auriana, während die anderen automatisch zurücktraten und sich an dem großen Sitzungstisch niederließen. Auriana hatte für ihr Vorhaben den freien Raum in dem Zimmer gewählt.

"Gut, reicht mir eure Hände..." Sie nahm Vans Linke und Alexanders Rechte. "Lasst die Kinder sich die Hände reichen..."

Und als ob Varie und Vargas verstanden hätten, um was es ging, reichten sich die beiden Geschwister die kleinen Hände. Der Kreis war geschlossen.

"Denkt an Hitomi."

Auriana schloss ihre blauen Augen und begann sich auf Hitomi zu konzentrieren. Auch Van und Alexander machten ihre Augen zu. Ihre ganze Konzentration galt Hitomi.

Und auf einmal konnten sie spüren, wie etwas geschah.

Eine prickelnde Kraft schien durch den Kreis zu laufen. Alle fünf merkten sie an ihren Händen und von dort breitete sie sich durch die fünf Körper aus. Dennoch hatte keiner den Drang, den Kreis zu unterbrechen, indem er seine Hände von den anderen löste. Selbst die beiden Babys hielten mit geschlossenen Augen still. Plötzlich breitete sich ein gleißendes Licht in dem Saal auf.

"Hitomi..." Das Flüstern hallte durch den Raum und breitete sich sofort über ganz Gaia aus.
 

"Hitomi..."

Die Königin von Farnelia zuckte zusammen, als sie auf einmal ihren Namen in dem Wispern der Blätter im Wind vernahm.

"Wer...?" Dann begriff sie und konzentrierte sich, um diese Kraft in sich hineinzulassen.

"Hitomi, kehr zu uns zurück... Finde deinen Weg..."

Sie erkannte, dass nicht nur eine Stimme zu ihr sprach. Die Stimmen von Van, Alexander und Auriana sprachen gleichzeitig zu ihr - ja, sie meinte sogar, das sanfte Glucksen von Varie und Vargas in dem Stimmengemisch zu hören.

"Meine Kleinen..." flüsterte Hitomi leise und sackte auf die Knie. Das Kinn auf die Brust gesenkt, die Hände in das weiche Moos des Waldbodens gegraben, saß sie da und gab sich ganz der gedanklichen Verbindung hin.

Plötzlich brach der Kontakt ab, aber jetzt wusste sie, wohin sie gehen musste...
 

Auriana spürte deutlich, wie die Verbindung zu Hitomi riss. Und im gleichen Moment nutzte sie die Kraft, die ihr der Kreis von Drachenvolkangehörigen gab, um eine andere Beschwörung zu beginnen.

Van und Alexander wollten schon den Kreis auflösen, als erneut Energie durch ihre Körper zu wallen begann. Ihre Hände und die von Vans Kindern wurden aufeinander gepresst. Ein Durchbrechen des Kreises war nun unmöglich geworden, bis Auriana ihre Beschwörung abgeschlossen hatte.

Die saryanische Prinzessin konzentrierte sich. Ihre Gedanken streckten sich nach Laures und Lauria aus. Sie vermisste ihre Kinder und konnte diese einmalige Chance, sie zu sich zu holen, nicht ungenutzt verstreichen lassen... Da die Zwillinge auch die Kraft des Drachengottes in sich trugen, war es ein Leichtes, sie zu finden. Die gleichartigen Kräfte zogen sich sofort an...

"Kommt zu mir..." flüsterte Auriana leise.

"Kommt zur mir... Kommt zu mir. Kommt zu mir!" Mit jedem Mal wurde ihre Stimme lauter, bis sie schließlich laut durch den Versammlungssaal hallte.

"KOMMT ZU MIR!"

Das helle Licht, das noch immer den Saal anfüllte, gleißte einmal auf und erlosch dann vollständig. In dem Kreis, den Auriana, Van, Alexander und die beiden Kinder gebildet hatten, saßen Laures und Lauria.
 

Erschöpft sanken sowohl Van und Alexander mit den Kleinkinder im Arm, als auch Auriana zu Boden.

"Was hast du getan?" keuchte Van leise. "Was hast du getan?"

"Sie hat uns gerufen..." sagte Lauria leise. "Vater, unsere Mutter hat uns gerufen, damit wir euch beistehen können. Denn ihr braucht unsere Hilfe."

"Ach ja?" Van funkelte die beiden Jugendlichen wütend an. "Das letzte Mal hat er" - dabei deutete er mit dem Kinn auf Laures - "versucht mich umzubringen! Was habt ihr diesmal vor?"

"Euch beizustehen," erwiderte Laures sanft, der immer noch neben Lauria auf dem Boden saß und seinen Vater nun gelassen anblickte. "Du brauchst uns. Genauso wie wir dich. Der Manticor muss endgültig vernichtet werden. Das ist unser gemeinsames Ziel..."

Kopfschüttelnd stand Van auf.

"Es gibt keinen Grund, warum ich dir trauen sollte, Laures von Styx..." knurrte der König von Farnelia wütend. Er reichte Varie, die er im Arm gehalten hatte, Milerna und wandte sich dann wieder den beiden Neuankömmlingen zu.

"Nenn mich nicht so." Laures stand nun auch auf und zog fürsorglich sowohl Lauria als auch seine Mutter hoch. Alexander rappelte sich aus eigener Kraft auf.

"Mein Name ist Laures Farnel. Ich trage deinen Namen, Vater. So, wie es mir zusteht."

Van funkelte den schwarzhaarigen Jungen an. "Nun, das mag sein. Aber einen Sohn sehe ich in dir nicht." Damit wandte er sich um und verließ den Raum.

Laures blickte ihm traurig nach und schüttelte dann den Kopf. Die Wut in ihm auf seinen Vater war schon lange verraucht... Die Wut auf den Manticor nicht. Nein, sie war es nun, die das dumpfe Lodern in seinem Inneren anfachte.

31. Manticor

"Sie haben sie gerufen..." murmelte der Manticor mit seiner grollenden Stimme und riss Tassilo damit aus seinem Schlaf.

"Was?" murmelte der rothaarige Diktator.

"Die Kinder des Drachen haben das Mädchen vom Mond der Illusionen gerufen... Sie haben ihr den Weg gezeigt. Jetzt haben wir nicht mehr viel Zeit! Dann versteckt sie sich wieder..."

Der Manticor blinzelte Tassilo durch die dunkle Scheibe an.

"Nun, dann müssen wir sie eben irgendwie aufhalten..." brummte Tassilo ungehalten. Er hatte in den letzten Monaten wenig geschlafen, denn der Manticor schien keinen Schlaf zu kennen und erwartet dauernd von seinem menschlichen Verbündeten, dass er ansprechbar war...

Tassilo strich sich die wirren Haare aus dem Gesicht und blickte der roten Löwengestalt in dem Spiegelbild unwillig entgegen. Dem Manticor entging Tassilos Laune nicht, doch das mächtige Wesen ließ sich nicht auf eine Diskussion mit ihm ein. Warum auch? Sie brauchten einander. Und so mussten sie für einander da sein...

"Eine gute Idee..." Ein hässlichen Lächeln huschte über das Löwengesicht des Manticors. "Und ich weiß auch schon wie... Wir werden Zweifel säen... Zweifel an ihrer Mission. Zweifel am schwarzen Drachen..." Er lachte grausam. "Und nun: Bring mir ein weiteres Opfer... Dann kann ich tun, was ich vorhabe..."

Tassilo seufzte leise, dann rappelte er sich von dem Thron hoch, in dem er geschlafen hatte und ging zur Tür. Er würde dem Manticor das Opfer bringen und dann hoffen, dass das sein Verbündeter wenigstens eine Weile beschäftigt war, sodass er schlafen konnte...
 

Hitomi ging weiter durch den dichten Wald. Seit sie den Erddrachen verlassen hatte, hatte sie kein weiteres Lebewesen mehr gesehen. Noch nicht einmal mehr Vögel... Dennoch hatte sie seit einer Weile ein ungutes Gefühl. Sie hatte dein Eindruck, verfolgt zu werden... Hinter und neben ihr raschelte es immer wieder im dichten Gebüsch, doch wenn sie sich umwandte, dann konnte sie nichts und niemanden sehen. Hin und wieder war da ein huschender Schatten, doch Hitomi wusste nicht, ob sie ihn sich nur einbildete oder ob nicht...
 

"Nun, willkommen bei uns..." sagte Allen schließlich langsam zu den Neuankömmlingen.

Laures und Lauria lächelten ihn freundlich an.

"Das ist ein besserer Empfang, als wir zu hoffen gewagt haben..." sagte Lauria sanft.

"Nun, wir wissen nur noch nicht, was wir mit euch machen sollen," fauchte Merle. Der Katzenfrau sträubte sich das Fell, als sie daran dachte, wie Laures damals Van angegriffen hatte. Aber sie erinnerte sich auch an die Worte, die er damals gesagt hatte und an die offenkundige Verblendung.

"Sie haben so wenig Grund zu lügen wie ich," sagte Auriana nachdrücklich, stellte sich zwischen ihre Kinder und legte ihnen die Hände auf die Schultern. "Sie sind auch Opfer des Manticor. Und sie haben genauso viel verloren wie ich... Eher noch mehr! Er hat ihnen ihre Kindheit geraubt! Er hat sie zu etwas gemacht, das sie nie gewesen wären... Wie alt wären sie nun wirklich? Knapp 3 Jahre! Ist das nicht eine große Strafe? Niemals ein Kind gewesen sein zu können?"

Langsam nickten die Rebellen. Ja, die Kindheit zu verlieren war eine schreckliche Vorstellung. Und dennoch waren sie misstrauisch...

"Aber wie können wir euch vertrauen?" fragte Louvain. "Wie und warum? Das letzte Mal standen wir auf anderen Seiten..."

"Taten wir das?" Laures behielt sein sanftes Lächeln noch immer bei, als er dem Löwenmann mit einer Gegenfrage antwortete. "Sobald der Manticor dort war, haben wir auf einer Seite gekämpft. Hast du das bereits vergessen? Nein, der Manticor ist für uns kein Freund. Und das hier, was mit Gaia geschieht, ist nicht in unserem Sinne..."

"Und was ist in eurem Sinne?" mischte sich nun Milerna ein.

"Prinzessin," antwortete Lauria an der Stelle ihres Bruders, "Frieden ist in unserem Interesse. Frieden und Freiheit."

"Und die Vernichtung des Manticor." ergänzte Laures seine Schwester.
 

Van wusste nicht, wie lange er durch die Höhlengänge gerannt war, als er endlich inne hielt und sich an eine Wand lehnt. Doch sofort stieß er sich wieder ab und begann mit den Fäusten auf den Fels einzutrommeln.

"Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt?" fragte er leise. Er hörte mit dem Einschlagen auf und ließ sich langsam zu Boden sinken. Eng zusammengekauert saß er auf dem Boden des schlecht beleuchteten Gangs.

Van erinnerte sich wieder an die Hochzeitsnacht mit Auriana. Es war seine Pflicht gewesen, die Ehe auch auf dieser Ebene zu vollziehen. Kontrollmöglichkeiten mochte es zwar nicht geben, aber trotzdem... Das war er seinem Land schuldig gewesen. Und nun waren die Kinder aus dieser Verbindung hier.

"Verdammt..." knurrte Van leise. Hitomi war verschwunden und eigentlich sollte das doch jetzt seine Gedanken bestimmen, aber stattdessen musste er sich mit seinen Kindern herumschlagen.

"Warum nur jetzt..." Vans Stimme brach, während er sprach und schweigend schlug er sich die Hände vors Gesicht.

Laures... Du hast mich angegriffen und töten wollen. In deinem Zorn warst du blind... Und doch bist du jetzt hier und sagst, dass das nicht mehr zählt. Wie kann ich dir denn glauben? Wie denn?

Und Lauria... Eine Tochter, die ich nur kurz gesehen habe... Einige Minuten, bevor es so schien, dass der Manticor euch beide getötet hat. Weil ihr trotzig wart und euch nicht benutzen ließt...

Van seufzte erneut. Nun, zumindest schienen die beiden willensstark zu sein. Und wenn er ehrlich war, dann wollte er sie doch irgendwie kennen lernen...

"Also gut," sagte er und stand auf. "Ich gebe ihnen eine Chance. Diese eine..."
 

"Ah..." Der Manticor schnurrte beinahe, als die Kraft des Opfers, das Tassilo ihm dargebracht hatte, durch seine Adern floss. Diesmal war es ein farnelianischer Krieger gewesen, der ihm dargeboten worden war. Seine Energie war angenehm stark in den Adern des Manticor. Und während Tassilo noch das blutige Messer bei Seite legte und die Wachen anwies, den nutzlosen Leichnam zu entsorgen, schloss der Manticor bereits seine Augen und schickte seinen Geist auf die Suche nach dem richtigen Mädchen.

Schließlich verharrt er und lächelte, als er ein junges, zorniges Wesen gefunden hatte. Ja, sie war genau richtig...

32. Warge

Während bei der fliegenden Festung langsam der Tag anbrach, sank die Sonne über dem Wald, durch den Hitomi noch immer ging. Sie wusste zwar nun, in welche Richtung sie gehen musste, aber das half ihr immer noch nicht dabei, sich durch den Wald zu schlagen...

Außerdem hatte sie weiterhin das Gefühl verfolgt zu werden. Und dieses Gefühl wurde immer stärker. Schließlich bleib sie stehen und sah sich im Dämmerlicht aufmerksam um. Das braune Haar hing ihr verschwitzt in die Stirn und ihre Hand ruhte bereits auf dem Griff ihres Schwertes. Man konnte schließlich nie wissen...

Dann hörte sie das Knurren. Es klang beinahe wie ein Erdbeben und kam von einem Punkt direkt hinter ihr. Blitzschnell wirbelte sie herum und sah eine schwarze, pelzige, wolfsähnliche Gestalt etwa fünf Meter vor sich. Weiße, spitze Zähne blitzen im letzten Sonnenlicht auf, als das Geschöpf erneut knurrte. Sein Rücken musste ungefähr auf der Höhe von Hitomis Hüfte sein, und seine langen, schlanken Beine sahen aus, als wenn sie zum Laufen gemacht wären.

Zum Laufen und zum Jagen... dachte Hitomi erschrocken. Sie musste einen Ausweg finden...

Gerade wollte sie ihr Schwert ziehen, als sie das bedrohliche Knurren auch rechts und links von ihr vernahm.

"Oh," brachte sie hervor, als sie die beiden nächsten Tiere sah. Dann schälte sich hinter dem ersten Tier noch ein viertes aus dem Wald.

Jetzt erinnerte sich auch wieder an den Namen dieser Geschöpfe. Warge. Wolfsähnliche Raubtiere, die jedoch viel brutaler und grausamer waren als ihre kleineren Verwandten. Außerdem liebten sie die Jagd...

Verdammt... fluchte sie in Gedanken. Sie sah sich aufmerksam nach einem Fluchtweg um und bemühte sich, die vier Warge dabei in den Augen zu behalten. Der einzige Grund, warum die Tiere noch nicht angegriffen hatten, mochte darin liegen, dass sie Hitomi noch treiben und jagen wollten... Und darauf, das ahnte sie, durfte sie sich nicht einlassen. Sie musste einen anderen Weg finden...

Der erste Warg knurrte wieder und kam langsam einen Schritt näher. Hitomi wich automatisch zurück. Sofort setzen die beiden anderen Warge nach und Hitomi begriff, dass sie einen elementaren Fehler gemacht hatte. Gerade hatte noch eine Art Status quo geherrscht, doch nun war die Jagd eröffnet...

Mit einem Ruck drehte sie sich um und rannte los. Die Warge verhielten noch einen Moment, doch dann sprinteten auch sie los.

Zweige schlugen Hitomi gegen Beine, Arme und Gesicht als sie durch den Wald hetzte.

Eine Lösung... Ein Ausweg...

Ihre Gedanken tobten, während sie rannte. Sie wusste, dass sie nicht lange so rennen konnte. Sie war beinahe den ganzen Tag gelaufen und nun zu rennen war einfach zu viel... Sie schätze, dass ihr noch maximal zwei Minuten blieben, bis sie erschöpft zusammenbrechen würde. Zwei Minuten und dann würden die Warge sie fressen...

Der Gedanke spornte sie noch mehr an, sodass sie es schaffte, kurzzeitig ein wenig schneller zu rennen. Hinter sich hörte sie deutliche die Raubtiere durch das Gebüsch brechen. Sie waren dicht hinter ihr.

Dann sah sie den Baum. Breit ragte er vor ihr empor. Mit einladenden Ästen, knapp zwei Meter über dem Boden. Hitomi nutzte ihren Schwung aus, sprang hoch, ergriff einen Ast und zog sich hoch. Sofort kletterte sie weiter, während sie unten ein enttäuschtes und zorniges Knurren hörte, das sich schnell zu einem wütenden Jaulen und Toben steigerte. Vier Meter über dem Erdboden hörte Hitomi auf zu klettern und drückte sich eng an den Stamm des dicken Baumes. Sie seufzte erleichtert.

"Ich wäre an deiner Stelle nicht so voreilig. Meines Wissen nach können sie klettern," sagte eine dünne Stimme neben ihr.

Hitomi fiel vor Schreck beinahe vom Baum. Überrascht drehte die junge Frau den Kopf nach rechts und blickte in das Gesicht einer hellgrünen, menschlichen Gestalt. Es war eine kleine Frau, die dunkelgrüne, lockige Haare hatte und sich neben Hitomi an den Stamm geklammerte.

"Wer bist du?" raunte Hitomi leise, während sie wieder zu den Wargen nach unten blickte. Noch schienen die Tiere unschlüssig zu sein, was sie tun sollten. Knurrend und kläffend rannten sie unter dem Baum auf und ab. Hin und wieder sprang auch einer in die Luft, aber noch schien es nicht gefährlich...

"Mein Name ist Esje. Ich bin die Nymphe dieses Baumes," erwiderte die kleine Frauenperson stolz.

"Es freut mich, dich kennen zu lernen. Was ist eine Baumnymphe?" Hitomi sprach mit der Nymphe, ohne sie anzusehen. Ihre Konzentration galt ganz den Raubtieren am Boden.

"Ein Freund des Baumes. Wir sorgen dafür, dass es unserem Baum gut geht und passen auf ihn auf."

"Aha..." Hitomi blickte noch immer zu den Wargen herunter. So langsam schienen sie auf eine Idee zu kommen, die Hitomi ganz und gar nicht gefiel. Einer der Warge sprang an den dem Baum hoch und drückte auf einmal seine Pfoten gegen den Stamm. Dann stieß er sich ab und landete auf einem Ast. Dort rappelte er sich auf und kletterte auf die gleiche Weise langsam aber sicher höher...

"Sie können doch klettern.." brachte Hitomi entsetzt hervor und kletterte nun ihrerseits weiter.

Die Baumnymphe krabbelte wie ein Affe an dem Baumstamm empor und hielt sich dabei neben Hitomi.

"Ich möchte dich ja nicht verunsichern... Aber der Baum ist irgendwann zu Ende. Du kannst nicht ewig nach oben klettern..." sagte Esje.

"Ich weiß... Aber im Moment ist das zumindest besser, als da unten auf ihn zu warten...."

"Auch wieder wahr..." Esje hielt einen Moment inne, dann lachte sie auf.

"Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin..." Sie streckte die Hand aus und Hitomi sah mit Erstaunen, wie die kleine grüne Hand im Baumstamm verschwand.

"Halt dich fest!" rief die Nymphe noch, dann begann sich der Baum mit unglaublicher Kraft zu schütteln.

Der Warg fiel mit einem Heulen vom Baum. Knurrend und geifernd blieb er unten zwischen den anderen Raubtieren liegen, dann begannen dicke, harte Eicheln auf sie herunterzuregnen und die Warge zogen sich mit einem enttäuschten Knurren zurück. Hitomi hing an einem Ast, baumelte mit ihren Beinen durch die Zweige unter sich und sah erleichtert, wie sich die vier Tiere zurückzogen. Schließlich hörte die Nymphe auf mit dem, was auch immer sie tat, um den Baum zum Schütteln zu bringen und der Baum stand wieder still..

"Danke," sagte Hitomi lächelnd, während sie sich wieder auf den Ast hochzog.

"Nichts zu danken." Esje erwiderte das Lächeln. "Ich würde dir übrigens vorschlagen, dass du noch ein wenig hier oben bleibst. Sie können hartnäckig sein..."

"Ja, danke..."

33. Asturia

Van wusste nicht, wie lange er noch auf dem Gang gesessen hatte, aber irgendwann war er aufgestanden und zurückgegangen. Dort hatte er dann festgestellt, dass sich alle zur Nachtruhe begeben hatte. Und so war auch Van zu Bett gegangen. Jetzt lag er in der abgelegenen Höhle, die für ihn und Hitomi gedacht war. Und vermisste sie.

Van presste die Augen fest zusammen und versuchte die aufkeimenden Tränen zu unterdrücken. Es tat weh, dass sie nicht da war... Es tat so weh, als wenn man ihm einen Dolch mitten ins Herz gerammt und dort genüsslich umgedreht hätte.

"Hitomi," flüsterte er leise. "Ich hoffe nur, es geht dir gut..."

Damit entspannte er sich ein wenig und war trotz seiner Sorgen nach einigen Sekunden eingeschlafen. Die Anstrengungen des Tages forderten nun seinen Tribut.
 

Van träumte...

Asturia erschien den überlebenden Rebellen als die einzige Auswegmöglichkeiten. Und so reisten sie dorthin. Mit halbzerstörten Luftschiffen und zerbrechlich wirkenden Guymelefs...

Nach zwei langen Tagen kamen sie endlich in Pallas an. Fürsorglich wurden sie sofort von Königin Eries und ihrem Gatten, König Torian, aufgenommen. Auf dem Weg waren weitere Menschen gestorben...

Van seufzte leise, während er die Flucht nach Asturia in seinen Gedanken Revue passieren ließ. Er saß in dem Palastgarten auf einer Mauer und kurierte seine Verletzungen. Der Schlossarzt hatte ihm eine wild aussehende Bandage um das Gesicht verpasst, die die Verletzung auf der Wange noch schlimmer aussehen ließ, als sie war. Der Schnitt, den ihm der Greif zugefügt hatte, hatte sich entzündet, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass die Wunde ohne Narbenbildung abheilen würde, äußerst gering war. Aber das interessierte Van nicht. Was machte schon so eine dumme Narbe aus?

"König Van?" Leutnant Asha trat aus dem Schatten eines Baumes und blickte Van aus seinen wasserblauen Augen unruhig an.

"Ja?" Van sah auf und erkannte sofort die Sorge in den Augen des jungen Leutnants. "Was geschieht?"

"Sie kommen..." flüsterte Asha. "Die Armee nähert sich Pallas über das Meer..."

"Wir müssen fort von hier!" Van sprang auf und rannte sofort in den Palast zurück. Dort stolperte er direkt Eries und Torian in die Arme.

"Wir müssen weg hier, Eries," keuchte er und blickte die Königin Asturias flehendlich an.

"Das geht nicht, Van..." sagte sie bedauernd. "Wir haben die Pflicht Asturia zu schützen - oder es zumindest zu versuchen."

Van nickte langsam und seufzte dabei leise. Natürlich. Er hätte Farnelia auch niemals kampflos verlassen...

"Aber wir veranlassen bereits die Evakuierung der Zivilbevölkerung. Sie zieht sich bereits nach Freyd zurück. Ich möchte dich bitten, dass du Hitomi mitschickst. Und alle anderen Zivilisten..."

Van nickte wie betäubt. "Ich werde mit euch kämpfen," sagte er dann tonlos. "Ich werde euch beistehen..."

Damit drehte er sich um und lief zu dem gemeinsamen Zimmer von ihm und Hitomi. Dort angekommen, ließ er ihr gar keine Gelegenheit, irgendetwas zu sagen oder zu fragen, sondern zog sie einfach vom Bett hoch, drückte ihre die kleine Varie in den Arm, nahm selbst Vargas und rannte schon mit ihr durch die Gänge des Palastes.

"Van? Was ist denn los? Van!" rief Hitomi neben ihm, doch er ignorierte sie und zerrte sie weiter. Auf dem Vorplatz des Palastes angekommen, schubste er sie unwirsch die Rampe des Crusados hoch. Als sie im Inneren waren, hielt er inne, drückte ihr auch Vargas in den Arm und blickte sie an.

"Die Armee kommt. Du wirst mit Vargas und Varie nach Freyd fliehen. Mit all den anderen."

Mit einer weiten Geste umfasste er ganz Pallas.

"Und du?" ihre grünen Augen blickten ihn besorgt an.

"Ich bleibe hier und kämpfe. Das schulde ich Farnelia. Und Asturia. Außerdem bekommt ihr dadurch eine bessere Chance zu entkommen..."

"Van - Das ist doch Wahnsinn!" Hitomi wollte ihn zurückhalten, doch Gardes, der auf einmal neben ihr stand, hielt sie fest. "Van!" Hitomis Stimme gellte über den Vorplatz. Doch Van rannte unbeeindruckt zum Palast hinüber.

"Hey! Versprich mir wenigstens, dass du zurückkommst!" Verzweiflung klang in ihrer Stimme mit.

Erst jetzt drehte er sich um.

"Das werde ich!" rief er und winkte. "Das werde ich!"
 

Noch am gleichen Abend sah Van Pallas brennen. Er schwebte mit Escaflowne über der brennenden Stadt und beobachtete, wie die Flammen langsam nach dem Palast leckten, um ihn dann mit gesundem Appetit zu verschlingen. Erneut standen ihm Tränen in den Augen. Er hatte gekämpft, so gut er konnte, doch verhindern konnten auch er, die Überlebenden der farnelianischen Armee und die Armee Asturias den Untergang nicht. Noch immer wüteten Greifen und feindliche Guymelefs in der Stadt. Er konnte sehen, wie sie die Häuser zerstörten, einfach nur um des Zerstörens Willen.

"Verdammt!" schrie er laut in den Wind. "Womit hat Gaia das verdient? Womit?"

Er schüttelte langsam den Kopf.

Das laute Kreischen eines Greifen riss ihn aus seinen Gedanken. Das geflügelte Tier war auf einmal neben ihm erschienen und schlug nun wuchtig mit seinen Krallen nach dem König von Farnelia.

"Hau ab!" schrie Van, zog sein Schwert und behielt die Lenkseile von Escaflowne nur noch in der linken Hand. Der Greif ließ sich von Vans Worten nicht beeindrucken, sondern schlug nur noch hartnäckiger nach dem schwarzhaarigen Mann. Mit den Krallen riss er Van den Verband vom Gesicht und die Wunde erneut auf. Schmerzerfüllt schrie Van, als Blut und Eiter aus der alten Verletzung rannen.

"Mistvieh!" knurrte er und schlug mit dem Schwert um sich. Im gleichen Moment beugte sich der Greif vor und wollte Van die Augen aushacken. Das Schwert schlitzte dem Tier die Kehle auf. Greifenblut sprudelte über Van, als der Flug des geflügelten Fabelwesens plötzlich beendet war und es dem Boden entgegen stürzte.

"Geht doch..." murmelte Van leise, steckte das Schwert weg und wischte sich das heiße Greifenblut aus den Augen.

"Also dann... Auf nach Freyd, Escaflowne..."

34. Mädchen vom Mond der Illusionen

Der Manticor konzentrierte sich. Das Rufen des Mädchens vom Mond der Illusionen kostete ihn bereits einiges an Kraft, jedoch war die Bestimmung ihres Ankunftsortes und die Verwandlung der schwarzen Lichtsäule, die das löwenartige Geschöpf sonst verwendete, in eine helle noch viel kraftaufwändiger.

"Ich brauche danach sofort ein Opfer..." fauchte der Manticor Tassilo noch an, dann versank er ganz in seiner Konzentration und streckte seinen Gedanken nach dem auserwählten Mädchen aus...
 

Es war Mitternacht, als Hitomi den Baum der Nymphe endlich verließ. Sie war sich nun relativ sicher, dass die Warge nicht wiederkommen würden. Außerdem fühlte sich Hitomi nicht in der Lage, die gesamte Nacht auf einem Baum zu verbringen. Sie würde sich einen anderen Schlafplatz suchen...

"Ich danke dir noch einmal," sagte sie zu Esje und verabschiedete sich damit von der kleinen Baumnymphe. Diese winkte ihr noch eine Weile hinterher bis sie sich in den Stamm ihres Baumes zurückzog.

Der dunkle Wald gefiel Hitomi noch weniger als bei Tag... Überall raschelte es und kleine Tiere huschten über den schmalen Pfad, dem sie folgte. Hin und wieder sah sie auch einige größere Tiere, die sich bei ihrem Herannahen jedoch immer sofort zurückzogen. Schließlich kam Hitomi auf einer Lichtung an und beschloss, dass diese genauso gut ihr Schlafplatz sein konnte, wie alles andere.

Sie ließ sich in das weiche Gras sinken und blickte zu den Sternen empor. Am Himmel glühten der silberne Mond und die Erde. Hitomi blickte zu ihrem Heimatplaneten empor und seufzte leise. Die Erde...

Urplötzlich wurde die Lichtung von einem gleißendhellen Lichtstrahl erleuchtet. Geblendet hob Hitomi die Hand vor die Augen und versuchte zu erkennen, was gerade geschah.

Rief sie jemand zurück? Schickte sie der Drache wieder zurück? Nein, sie war offenbar nicht gemeint...

Dann löste sich die Lichtsäule wieder auf und hinterließ ein junges Mädchen, das langsam auf die Knie fiel und zusammenbrach.

"Was...?" brachte Hitomi gerade noch hervor. Staunend sah sie das Mädchen an, das mit der Lichtsäule gekommen und offenbar gerade ohnmächtig geworden war. Sie war etwa fünfzehn Jahre alt, so alt wie Hitomi als sie damals das erste Mal nach Gaia gekommen war, und trug die Schuluniform der gleichen Schule, auf die Hitomi auch gegangen war. Die Königin von Farnelia erkannte sofort das Matrosenoberteil und den Rock wieder. Das Mädchen war schmal und zierlich. Ihre schulterlangen Haaren waren schwarz, jedoch mit einem offenbar getönten - oder gefärbten - Rotschimmer.

"Was soll das nur wieder?" murmelte Hitomi leise und stand auf. Neben dem Mädchen ging sie in die Knie und legte sie behutsam auf die Seite. In der Nähe des Neuankömmling lag eine Sporttasche und Hitomi war einen kurzen Moment versucht, diese zu durchsuchen, doch dann ließ sie es. In Ruhe steckte sie eine Feuerstelle ab und zündete ein kleines Lagerfeuer an.

Dann rollte sie sich neben dem Mädchen zusammen und vertraute darauf, dass das Feuer alle wilden Tiere abhalten würde. Außerdem ging sie davon aus, dass ihre mittlerweile geschärften Sinne sie sofort darüber unterrichten würden, wenn das Mädchen aufwachte.

Was soll sie nur hier? fragte sie sich stumm. Hat der Drache sie gerufen? Er muss ja, denn seine Lichtsäule ist hell... Aber warum? Was soll sie tun, was ich nicht kann? Was bedeute ich dann noch, wenn sie hier ist?

Zweifel kamen in ihr auf...
 

Hitomi schätzte, dass sie ungefähr drei Stunden geschlafen hatte, als sie plötzlich wach wurde. Das Feuer war schon recht weit herunter gebrannt und automatisch legte sie Holz nach. Dann sah sie sich nach dem Mädchen um. Dieses rappelte sich gerade benommen auf und blickte Hitomi mit schreckgeweiteten, rotbraunen Augen an.

"Wo bin ich?" flüsterte sie. "Und wer bist du?"

"Du bist nicht mehr auf der Erde... Du bist auf Gaia. Sieh zum Himmel. Dort siehst du die Erde..." Hitomi beobachtete die Reaktion des Mädchens. Erschrocken starrte es zum Himmel.

"Aber... aber... wie kann das sein? Ich war doch gerade noch auf der Laufbahn! Und dann auf einmal hier! Warum... Warum bin ich hier?!" Sie blickte Hitomi wieder an.

"Eine gute Frage. Ich kann sie dir nur nicht beantworten..." Hitomi lächelte schief und zupfte gedankenverloren einen Grashalm aus, mit dem sie nun herumspielte. "Ich kann dir nur sagen, wer ich bin. Ich bin Hitomi Kanzaki. Und ich kam auch von dort..." Sie deutete zur Erde. "Vor einigen Jahren..."

"Hitomi? Hitomi Kanzaki? Die Hitomi Kanzaki?" Das Mädchen starrte Hitomi erstaunt an.

Hitomi zog überrascht eine Augenbraue hoch. "Was erzählt man sich denn von mir? Ich vermute zumindest, dass du mich meinst, denn es gab wohl keine andere Hitomi Kanzaki auf unserer Schule..."

"Man sagt, dass du Selbstmord begangen hast..." erwiderte das Mädchen.

"Aha..." Hitomi nickte langsam. "Das hatte ich auch damals vor - so weit von der Wahrheit sind die Gerüchte also nicht weg... Aber die Dinge kamen anders..." Ein Lächeln huschte über Hitomis Gesicht. Und das ist auch gut so...

"Aber nun verrate mir, wer du bist..." Hitomi grinste.

"Sayuri. Sayuri Yanagiba." Sayuri lächelte vorsichtig.

"Sayuri Yanagiba..." Hitomi wiederholte den Namen gedankenverloren. Der Name sagte ihr nichts. Es war einfach nur der Name irgendeines Mädchens, das aus irgendeinem Grund hier auf Gaia gelandet war...

"Nun, willkommen auf Gaia, Sayuri," meinte Hitomi schließlich. "Und ein Rat vorneweg: Verrate hier niemandem, von wo du kommst.

Und jetzt hältst du die erste Wache. Weck mich, wenn der Mond hinter den Bäumen verschwindet."

Damit legte sich Hitomi wieder hin, drehte sich auf die Seite und schlief ein. Sie war sich sicher, dass Sayuri nicht einfach weglaufen würde. Wohin sollte sie schon gehen? Nein, sie würde sich schon an Hitomi halten müssen. Eine andere Wahl hatte das Mädchen gar nicht...

35. Freyd

Van träumte...

In Freyd waren die Flüchtlinge gerade einmal eine Woche sicher gewesen. Zeit genug, um sich einigermaßen zu sammeln, die leichten Wunden heilen zu lassen und zu überlegen, was als Nächstes zu tun war...

Van seufzte leise und blickte von dem Sitz des Herzogs aus über die Stadt. Auf dem Vorplatz war ein großes Flüchtlingslager aufgeschlagen worden. 300 Menschen hatten es aus Farnelia und Asturia her geschafft. 300. Das waren so unglaublich wenige... Van hoffte, dass sich noch einige abseits der Wege in der Wildnis befanden und anderswo Zuflucht gefunden hatten. Er hoffte es aus ganzem Herzen.

"Van..."

Der König von Farnelia drehte sich um und sah Allen Schezar an, der ihn gerade angesprochen hatte.

"Ja, Allen?"

"Die Späher berichten das Herannahen der arkadischen Armee... Sie werden in zwei Tagen hier sein." Allen setzte sich zu Van auf die Holzbank auf dem schmalen Balkon, auf dem sie sich befanden.

"Zwei Tage... Das ist eine sehr kurze Galgenfrist..." Van seufzte erneut. "Was sollen wir nur tun, Allen?"

"Nun, Shid hat die Evakuierung Freyds bereits beginnen lassen... Die Menschen verteilen sich in den angrenzenden Wäldern und in den Katakomben... Das ist das Beste, was wir tun können. Freyd besitzt keine Armee. Wir können nur fliehen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht..." Allen blickte nachdenklich über das Flüchtlingslager.

"Das ist traurig..." Van sah den blonden Ritter an. "Freyd wird wohl auch brennen. Genau wie Farnelia und Asturia..." Vans Stimme wurde tonlos und in Gedanken sah er wieder die erschreckenden Bilder der brennenden Länder.

"Ja..." Der Ritter des Himmels schloss sich Vans Seufzen an. "Wir müssen irgendwo einen Ort finden, wo wir uns gut verstecken können... Ich habe Gardes mit dem Crusado losgeschickt - Vielleicht findet er einen geeigneten Ort. Dort werden wir uns dann sammeln und überlegen, wie wir weiter vorgehen..."

Van nickte. "Das scheint mir das Klügste zu sein..."

"Wir werden uns alles genau überlegen müssen... Starten wir eine Rebellion oder ergeben wir uns? Das sind die beiden Optionen, die wir haben."

"Du weißt, wie ich mich entscheiden werde." Van stand auf, nickte Allen noch einmal zu und ließ den Freund allein auf dem Balkon zurück.

Gedankenverloren ging Van durch die Gänge der herzoglichen Residenz.

Eine Rebellion... Aber wie sollen wir gegen einen übermächtigen Feind rebellieren? Wir können uns doch erst nur zurückziehen, Kräfte sammeln und warten... Nicht mehr und nicht weniger. Aber das ist immer noch besser, als sich einfach unterzuordnen...
 

Noch am Abend verließen die letzten Einwohner Freyd. Der Crusado war glücklicherweise genau rechtzeitig eingetroffen, um die kleine Luftschiffflotte der künftigen Rebellen in ein sicheres Versteck zu führen.

Van stand neben Hitomi auf der Brücke des Crusados und blickte über die langsam zurückbleibende Stadt.

"Du bist gut in deinem Guymelef geworden..."

"Ich weiß."

Hitomi lächelte. Nachdem sie auch aus Asturia hatten fliehen müssen, hatte sie ihren Einfluss als Königin von Farnelia genutzt, um einen Guymelef zu erwerben und mit diesem lernte sie nun zu kämpfen. Bei einigen Scharmützeln mit den arkadischen Spähern war sie bereits dabei gewesen und hatte sich im Kampf bewiesen. Ebenso hatte sich Merle nicht davon abhalten lassen, an Louvains Seite gegen die Feinde zu kämpfen.

"Ich hätte nie gedacht, dass du einmal kämpfen würdest..." sagte Van langsam und beobachtete Hitomi aus dem Augenwinkel.

"Ich weiß..." Sie stützte das Kinn in die Hände und sah ihn unverwandt an. "Ich halte es nur für unausweichlich. Wir könnten nachgeben und uns Tassilo und seiner Armee unterordnen - ja... Aber was für eine Zukunft hätte Gaia dann noch? Was für eine Zukunft hätten unsere Kinder dann noch?" Sie hielt inne und wischte sich eine Träne aus den Augen. "Für sie kämpfe ich... Damit sie in einem friedlichen Gaia aufwachsen können. Und in einem Gaia, das nicht von einem Tyrannen beherrscht wird..."

"Das ist ehrenhaft..." Van lächelte leicht. "Aber hast du nicht auch immer gesagt, dass Gewalt nur Gewalt bringt?"

"Das ist wahr..." Hitomi grinste schief. "Ich wusste nur damals noch nicht, dass das so ein unglaubliches Dilemma geben kann... Es gibt auch das Sprichwort: Wer Wind säet, wird Sturm ernten. Und wir sollten für Tassilo der Sturm sein, uns als unbeugsam erweisen, ihn einfach stören und im Weg sein. Allein unsere Existenz dürfte ein Stachel in seinem Fleisch sein... Das heißt, dass wir die meiste Zeit doch friedlich sein können..."

"Ja," Van nickte langsam. Ihre Gedanken leuchteten ihm ein. "Allerdings werden wir irgendwann kämpfen müssen und wenn uns nicht etwas wirklich Gutes einfällt, dann werden wir im Kampf untergehen..."

Hitomi schwieg, aber Van wusste auch so, dass sie ihm nur zustimmen konnte.
 

Van wachte auf und dachte noch benebelt von dem Traum daran, wie sie sich in den kommenden Wochen und Monaten in dem Höhlensystem verschanzt hatten, das Gardes und seine Crew entdeckt hatten, und die Truppenbewegungen der Arkadier beobachtet hatten. Die Armee war zwar hin und wieder näher gekommen, hatte sie aber nie entdeckt...

Van seufzte leise und streckte sich. Und nun hatten wir den ersten bedeutsamen Kampf und Hitomi ist darin verloren gegangen...

Plötzlich wurden ihm die Dunkelheit in seinem Schlafraum und die Leere zu drückend. Er stand auf, zog sich an und machte sich dann auf die Suche nach irgendetwas, wobei er nützlich sein konnte...

Da das neue Versteck bei weitem noch nicht perfekt war, wurde er schnell fündig. An dem großen Höhleneingang rätselten Asha, Allen und Louvain, wie sie diesen Zugang am besten verstecken könnten. Van stieß dazu, hörte sich die Probleme an und meinte dann:

"Lasst uns am besten die Idee mit der Holztür verfolgen... Wir fällen im Tal unten Bäume, binden die Stämme zusammen und machen eine provisorische Tür. Die kann man dann auch am Besten verstecken und tarnen..."

Die anderen nickten zustimmend. Einige Minuten später brachen sie mit zwei Guymelefs und einem Luftschiff, das für den Transport der Bäume geeignet war, auf.

36. Mignon

Das Kind wehrte sich nicht dagegen, als es von den beiden Soldaten in den abgedunkelten Opfersaal geführt wurde. Seine Haut schimmerte golden und sein Haar schien wie aus reinstem Silber. Das weiße Gewand umschmeichelte seine schmale Gestalt und ließ es wie einen Engel wirken. Allein die Flügel fehlten ihm...

Als die Soldaten es auf dem Altar fesselten, lächelte das Kind sogar leicht und blickte dem Hohepriester Tassilo, der nun langsam näher trat und es mit einem fast argwöhnischen Ausdruck in den Augen musterte, fest ins Gesicht.

"Tu, was du tun musst, aber sei dir der Konsequenzen bewusst..." summte das Kind in leichtem Singsang.

Tassilo sah es unsicher an. Etwas war an ihm, dass er diese Drohung ernst nehmen und seinen Dolch nicht direkt in ihr Herz senken, dabei die Beschwörungsformeln murmeln und sein Leben dem Manticor schenken sollte... Die Bestie mochte an seinen Gedanken kratzen und toben, verlangend nach diesem Opfer, doch sein Diener hielt inne und blickte das seltsame Kind lange an. Es erwiderte diesen Blick gelassen aus seinen schillernden Augen, deren Farbton er irgendwo zwischen Silberblau und Silbergrün einordnete.

"Tu, was du tun musst, aber sei dir der Konsequenzen bewusst..."

Diesmal sang es diese Worte.

Tassilo spürte, wie sich seine Worte immer tiefer in sein Herz gruben. Mit einem leichten Aufstöhnen ließ er den Dolch sinken und wies die Priester mit einer unwirschen Handbewegung an, den Raum zu verlassen. Danach befreite er das Kind und ignorierte das Toben des Manticor, als dieser sein Opfer dem sicheren Tod entkommen sah. Die Bestie war durch das Herrufen des Mädchens vom Mond der Illusionen zu entkräftigt, als dass sie Tassilo irgendetwas hätte tun können. Dessen war sich der Heerführer im Moment deutlich bewusst, weshalb er sich erlaubte, seinen eigenen Interessen nachzugehen. Außerdem störte es ihn, dass der Manticor ihn ständig herumkommandierte, ohne ihn als wirklichen Partner zu betrachten. Ein wenig erfreute es Tassilo sogar, den Manticor warten zu lassen. Sollte er ruhig merken, dass er ihn brauchte...

"Wer bist du?" fragte Tassilo. Seine Stimme klang rau und er war sich nicht sicher, weshalb das so war. War es diese seltsame Ausstrahlung des Kindes? Hatte er Angst vor ihm?

Es lächelte ihn an und erwiderte: "Ich bin, wer ich bin... Und werde niemals anders sein..."

"Wie heißt du?" fragte der Herrscher von Gaia weiter.

"Nenn mich Mignon..." Erneut lächelte es und begann gedankenverloren zu einer unhörbaren Melodie durch den Saal zu tanzen.

Tassilo beobachtete es dabei. Er war sich nicht sicher, was es war - ob Mädchen oder Junge. Mignon hatte irgendwie androgyne Gesichtszüge. Seine Gestalt ähnelte sowohl der einer Elfe, einer Nymphe und sogar einer Meerjungfrau - aber es war nichts davon. Es schien menschlich zu sein und doch war es irgendwie nicht von dieser Welt. Eine rätselhafte Aura umgab es, die es Tassilo unmöglich machte, sein Wesen zu bestimmen...
 

Der Manticor hatte aufgehört zu toben und sich damit zufrieden gegeben, dass er ein anderes Opfer erhalten würde. Es ärgerte ihn, dass Tassilo ihn so warten ließ, aber im Moment faszinierte ihn vielmehr das Kind, als dass er Tassilo etwas antun wollte - selbst wenn er gekonnt hätte. Außerdem hielt er es für unnötig. Mochte der Mensch doch versuchen, seine erbärmliche Macht zu demonstrieren... Im Endeffekt war es dem Manticor egal, da er letztlich doch der Herrscher über Gaia werden würde...

Ein Lächeln huschte über seine Lefzen.

Dann musterte er wieder Mignon. Ihn lockte die starke Energie, die dieses seltsame Menschenkind ausstrahlte und doch schreckte er vor ihm zurück. Er war sich unsicher, ob er seine Kraft überhaupt aufnehmen und der seinen hinzufügen konnte... Neugierig beobachtete er Mignons Tanzen durch den Raum und grübelte nach, was dies für ein Wesen sein konnte...
 

Mignon schlug ein Rad nach dem anderen und kam schließlich vor Tassilo wieder zum Stehen. Es summte noch immer und wirkte kein bisschen außer Atem.

"Woher kommst du, mein Kind?" fragte der rothaarige Mann sie sanft. Er verspürte auf einmal das Bedürfnis, möglichst viel über es in Erfahrung zu bringen...

Mignon lächelte ihn an und begann zu singen. Dabei tanzte es wieder durch den Raum. Es wirkte, als wenn es schweben würde, obwohl es keine Flügel hatte...

"Kennst du das Land,

wo zwei Monde des Nachts scheinen,

wo Zitronen blühen

und Goldorangen glühen?

kennst du es wohl?

daher komme ich...
 

Kennst du die Welt,

die sich ruhig dreht

im Licht einer warmen Sonne

und im Schatten grausamer Wesen?

kennst du sie wohl?

daher komme ich...
 

Kennst du ein Land,

voll Frieden und voll Freiheit,

voll Leben und Glück,

voll Zukunft und Kraft?

kennst du es wohl?

dahin werde ich gehen..."
 

Verwirrt hörte Tassilo zu. Er kannte kein Land, in dem Zitronenbäume wuchsen... Vielleicht meinte Das Kind ja eines der südlichen Länder... Er kannte sich mit der Geografie Gaias herzlich wenig aus. Was ihn bisher interessiert hatte, war allein die Tatsache ganz Gaia möglichst schnell zu erobern... Nun, es schien Gaia zu meinen, irgendein Land Gaias, das zu klein war, als dass er ihm Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nur fragte er sich, welches Land das sein mochte, in das das Kind gehen wollte.

Er schüttelte langsam den Kopf und sah Mignon zu, wie es weiter durch den Saal wirbelte, ganz gefangen in seinem eigenen Lied.

37. Sayuri

Vollkommen verblüfft sah Sayuri, wie Hitomi sich zum Schlafen legte. Und sie tatsächlich mit der Wache allein ließ! Na toll, diese Frau hatte wohl wenigstens einigermaßen eine Ahnung, was hier auf dem Planeten los war - ansonsten hätte sie Sayuri wohl kaum gewarnt, von ihrer Herkunft zu sprechen und diesen Krieg erwähnt. Aber nichts desto trotz wäre es Sayuri deutlich lieber gewesen, wenn Hitomi erstens wach geblieben und ihr zweitens noch etwas ausführlicher über diese Welt - und vor allem auch ihre Geschichte! - erzählt hätte. Schließlich war Hitomi Kanzaki an der Schule, auf die Sayuri ging und Hitomi gegangen war, praktisch eine Legende. Das Mädchen, das sich von der guten Schülerin und beliebten Läuferin auf einmal zu einem leblosen Freak verwandelte, der dann Selbstmord beging. Und - wie Sayuri gerade herausgefunden hatte - Letzteres gar nicht getan hatte, sondern einfach auf einem anderen Planeten lebte...

Sayuri stützte das Gesicht in die Hände und brummte etwas Unverständliches. Dann rutschte sie näher an das Feuer heran. Ihr wurde langsam kalt. Grummelnd zog sie ihre Trainingstasche heran und kramte einen dicken Pulli, sowie ihre langen Trainingshosen hervor. Das erschien ihr deutlich besser als die kurze Schuluniform, die sie trug.

Als sie sich umgezogen hatte, setzte sie sich wieder neben das Feuer, starrte in die Flammen und fluchte lautlos vor sich hin.
 

Hitomi wurde davon wach, dass ihr einige Regentropfen ins Gesicht klatschten. Mit einem unwilligen Grunzen rappelte sie sich hoch und blickte sich um. Gerade als sie zum Himmel sah, um abzuschätzen, wie spät es sein mochte, fing der Regenguss erst richtig an. Seufzend stand sie auf und sah sich nach Sayuri rum. Diese kauerte noch immer neben dem längst erloschenen Feuer.

"Warum hast du mich denn nicht geweckt?" fragte Hitomi etwas ungehalten. Bereits jetzt war sie bis auf die Haut nass und sah keinen Sinn mehr darin, unter die nahen Bäume zu flüchten.

"Du hast mir nicht gesagt, dass ich das tun soll..." funkelte Sayuri zurück. "Übrigens: Danke, dass du mich hier einfach so allein lässt..."

"Habe ich doch gar nicht... Wenn etwas gewesen wäre, hättest du mich jederzeit wecken können. Außerdem bin ich nicht zu deiner Unterhaltung hier. Und im Gegensatz zu dir habe ich einen verdammt harten Tag hinter mir. Ich habe an einem Überfall auf ein feindliches Lager teilgenommen, bin fast umgebracht worden, aus meinem Guymelef geschleudert worden, fast ertrunken, auf einem Erddrachen geritten, von ein paar Bestien gejagt worden und einfach nur unglaublich müde. Also hör du gefälligst auf, dich über diesen beschissenen Transport hierher aufzuregen!" brüllte Hitomi zornig.

Sie hatte die Schnauze gestrichen voll. Und dieser Scheißtag schien auch kein Ende zu haben. Nein, anstatt, dass sie sich in Ruhe auf den Weg zurück zu den Rebellen machen konnte, hatte sie nun auch noch dieses verdammte Mädchen am Hals.

"Ach ja?! Du bist vielleicht an diesen bescheuerten Transport und diese doofe Welt gewöhnt - ich aber nicht! Und ich will wissen, was hier Sache ist, denn ich habe nicht vor hier zu sterben!" schrie Sayuri zurück.

Das nasse, rötlich schwarze Haar hing ihr in die Stirn und ihre Trainingskleider klebten ihr am Leib. Sie sah aus wie der berühmte nasse Hund. Außerdem wirkte sie im Moment ziemlich hilflos, was wiederum an Hitomis gutes Herz appellierte.

Hitomi hielt einen Augenblick inne, dann musste sie lachen.

"Wenigstens hast du Feuer und lässt dich nicht einfach so einschüchtern... Und jetzt komm, wir suchen uns erst einmal einen trockenen Platz..."

Sayuri nickte erleichtert. Wenigstens hatte sie Hitomi Paroli geboten. Und außerdem hatte sie wirklich nicht vor, hier zu sterben. Sie wollte nur in Ruhe die Situation kennen lernen, um sich dann zu entscheiden, auf wessen Seite sie stehen wollte. Dass Hitomi sie gefunden hatte, hieß noch lange nicht, dass Sayuri auf ihrer Seite sein würde...
 

Einige Minuten später hatten sie sich unter das dichte Blätterdach einer großen Eiche zurückgezogen. Hier entzündeten die beiden Frauen ein kleines Feuer und warteten auf das Ende des Regens.

"Ich würde vorschlagen, dass du jetzt erst einmal eine Weile schläfst..." meinte Hitomi schließlich. "Wir werden morgen weit laufen müssen. Ich schätze mal, dass du keine andere Wahl hast, als mit mir mitzukommen..."

Sayuri nickte langsam. Ja, das würde sie wohl tun müssen. Allein hatte sie hier keine Überlebenschance. Also würde sie sich an Hitomi halten - vorerst...

Mit einem leichten Lächeln rollte sich Sayuri in dem trockenen Laub zusammen und schlief fast augenblicklich ein.

Hitomi musterte das Mädchen nachdenklich.

"Was machst du nur hier?" fragte sie leise. "Das macht doch keinen Sinn..."

Sie seufzte leise.

"Schwarzer Drache, was soll das nur alles?"

Doch der alte Freund schwieg und so war Hitomi allein mit ihren Gedanken. Und den aufkommenden Zweifeln an sich und ihrer Bedeutung für Gaia. Welche Rolle spielte sie schon, wenn auch andere nach Gaia kamen?

38. Herrin vom See

Der Manticor lächelte zufrieden. Oh ja... Sie hegt schon Zweifel...

Er grinste breit. Sein Plan schien aufzugehen. Und diese Sayuri war offenbar auch ein kleines, berechnendes Biest, was ihm sehr zusagte. Es würde leicht sein, sie auf seine Seite zu ziehen, da sie offenbar eh den Hang dazu hatte, die sichere Seite zu wählen - sprich: die Seite des Stärkeren. Und im Moment war niemand stärker als Tassilo mit seiner arkadischen Armee.

Der Manticor brummte zufrieden und legte seinen Kopf wieder auf die Tatzen. Sein Blick fiel wieder auf Tassilo, der gerade die Überreste der letzten Opferung beseitigen ließ und sich wieder diesem seltsamen Mädchen - oder was auch immer es war - zuwandte.

Ein ungewöhnliches Wesen... Der Manticor schüttelte leicht den Kopf und seine dichte, blutrote Mähne umwehte sein Löwengesicht.

An irgendjemanden erinnerte es ihn, aber er wusste nicht an wen oder an was... Grollend rollte er sich umher und blieb schließlich auf der Seite liegen.
 

Tassilo wollte sich gerade wieder Mignon zuwenden, das die Opferung mit Neugier und einem dennoch ausdruckslosen Gesicht beobachtet hatte, als ein Kommunikationsgerät an der Wand piepste. Seufzend ging er hin und nahm die Nachricht an. Schweigend hörte er zu.

"Ich werde mich darum kümmern," versprach er.

Dann rief er in seinen Gedanken den Manticor.

"Sie haben die Herrin vom See gefunden... Es ist deine Kraft von Nöten, um sie zu zähmen..."

Der Manticor grinste zufrieden und konzentrierte sich ganz auf seine alte Feindin. So sah man sich also wieder... Ihren sterblichen Körper würde er nun vernichten... Ein zufriedenes Grollen entwich seiner Kehle.

Nein, noch besser: Er tötete sie nicht jetzt, sondern stattdessen ließ er sie opfern... Um ihre Kraft der seinen hinzuzufügen... Ein grausames Lächeln breitete sich auf seinem Löwengesicht aus. Sofort informierte er Tassilo und dieser gab direkt die Nachricht weiter, dass die seltsame Seejungfrau nun gefahrlos gefangen werden konnte.

"Was ist mit den Elfen?" kam es aus dem Kommunikator zurück.

"Tötet sie," brummte Tassilo beiläufig und deaktivierte das Gerät dann. Danach wandte er sich Mignon zu, das wieder seinen eigentümlichen Tanz durch den Raum aufgenommen hatte.

Kopfschüttelnd betrachtete er, wie das silberhaarige Kind mit der goldenen Haut durch den Saal wirbelte. Sein weißes Kleid umschmeichelte den schmalen Körper und wehte im Wind der Bewegung. Tassilo ließ sich auf der Kante des blutbeschmierten Altars nieder und sah ihm wie gebannt zu.
 

Die Elfen wehrten sich mit all ihrer Kraft und all ihrer Magie gegen die Eindringlinge. Dennoch konnten sie nicht lange bestehen. Verzweifelte versuchten sie, ihr Heim und ihr Heiligtum zu verteidigen, doch die arkadischen Soldaten metzelten brutal eine nach der anderen nieder. Schließlich erreichten sie den See der Träume und begannen ihn systematisch mit großen Netzen zu durchsieben.

Nach einigen Stunden hatten sie die Herrin vom See gefunden. Durch die Kraft des Manticors wehrlos geworden, wurde sie problemlos in einen großen Wasserbehälter verfrachtete und von dort auf ein Luftschiff gebracht, das sie innerhalb von zwei Tagen zu der fliegenden Festung Tassilos bringen würde.

Faisala, die Hohepriesterin der Elfen sah mit Schaudern, wie das Dorf der Elfen vernichtet und ihre ,Göttin' verschleppt wurde. Mit Tränen in den silbernen Augen, sah sie ihre Tochter Sola an.

"Sola, flieg mit den Verbliebenen zu Hitomi, Van und den anderen... Flieg zu den Verbündeten des Schwarzen Drachen..."

"Was hast du vor, Mutter?" fragte die junge Elfe mit großen Augen.

"Ich werde versuchen, sie aufzuhalten," gab Faisala mit einem traurigen Lächeln zurück. "Das muss ich tun... Und nun: Flieg, mein Kind, flieg!"

Mit Tränen in den hellen Augen nickte Sola und flog gehorsam mit den letzten noch lebenden Elfen davon. Faisala blieb allein zurück. Doch die alte Elfe nahm sich keine Zeit, traurigen Gedanken nachzuhängen,. Sie sammelte all ihre Energie und griff die Soldaten, die den Wasserbottich mit der Herrin vom See transportierten, in einem Funkenschauer an.

Fast wäre es ihr auch gelungen, den Bottich zu zerstören und die Herrin des Sees in die Freiheit zu entlassen, doch dann durchbohrten sie drei Speere gleichzeitig und die Elfe ging tödlich getroffen zu Boden.

"Die war ganz schön hartnäckig," brummte einer der Soldaten stieß die Elfe mit seiner Stiefelspitze in die Seite.

"Lass sie liegen. Ist doch egal, was mit ihr passiert..." knurrte ein weiterer und zog weiter an den Transportseilen, um den Wasserbehälter mit der Herrin vom See an Bord des Luftschiffs zu bringen. Der erste nickt und half seinem Kollegen.

So endet es also... ging es Faisala durch den Sinn, als sie die große Dunkelheit übermannte. Herrin, ich glaube an Euch. Gebt nicht auf...

39. Laures

Van und die anderen hatten erfolgreich das Holztor fertig gestellt. Schweißgebadet saßen sie neben ihrer erfolgreichen Arbeit und stießen mit einigen Bechern Wasser an. Asha verschwand nach einigen Minuten wieder, da er die nächste Wache übernehmen würde.

"Das war doch gut..." Van grinste zufrieden.

"Schön, dich wieder lächeln zu sehen..." meinte Allen und legte dem Freund behutsam den Arm über die Schultern. Sofort verdüsterte sich Vans Gesicht wieder.

"Ach, Allen..." seufzte er. "Ich mache mir Sorgen um Hitomi... Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas geschieht und ich ihr nicht helfen kann..."

"Und dann ist auf einmal noch Laures hier..." fügte Louvain hinzu. Der Löwenmann nippte nachdenklich an seinem Becher. "Ob wir ihm trauen dürfen? Immerhin ist er ja dein Sohn, Van..."

"Er ist kein Sohn für mich!" fauchte Van wütend. "Hör auf, so etwas zu sagen! Einen Sohn würde ich kennen! Ein Sohn hätte mehr von mir als nur... nur... die Haarfarbe oder sonst was. Verstehst du? Das da ist nicht mein Sohn! Das ist ein Junge, dessen Erzeuger ich zufälligerweise bin, aber mehr nicht!"

Zornig war Van aufgesprungen. Er hatte sich nie ernsthaft mit der Existenz von Laures und Lauria auseinander gesetzt. Zu kurz hatte er sie bisher gesehen und zu groß war sein Zorn auf Laures, der ihn in blindem Hass angegriffen hatte. Er mochte sich vorgenommen haben, den beiden eine Chance zu geben, doch diesen Gedanken blendetet er jetzt vollkommen aus.

"Und was ist mit Lauria?" hakte Allen nach.

"Was soll schon sein? Wie kann sie meine Tochter sein, wenn ich sie nicht kenne? Wenn ich sie gerade einmal zehn Minuten lang gesehen habe? Wie kann das sein?"

"Nun, es ist so..." entgegnete der Ritter des Himmels. "Und jetzt hast du die Möglichkeit, die beiden kennen zu lernen. Willst du diese Chance einfach so verstreichen lassen? Willst du einfach weiter beide ablehnen? Das wird nur nichts an ihrer Existenz ändern..."

Van seufzte leise. "Ja, Allen, du hast mal wieder Recht... Aber trotzdem... Ich fühle mich für die beiden nicht als Vater..."

"Das kannst du auch nicht, wenn du meiner Schwester und mir keine Chance lässt..." sagte auf einmal eine leise, dunkle Stimme. Unbemerkt von den dreien war Laures in die Halle getreten und hatte sich neben ihnen an die Wand gelehnt. Seine langen schwarzen Haare fielen ihm beinahe wie ein dunkler Umhang um die Schultern und im Fackellicht glänzten seine schwarzen Augen wie dunkle Kohlen.

"Du hier?" Vans Stimme klang kühl und er musterte Laures abschätzig von oben nach unten.

"Du tust es wieder... Es ist, als wenn du ein Eisblock bist, sobald wir uns gegenüber stehen." Laures' Augen blickten Van traurig an. "Was ist es? Dass ich einen Fehler gemacht habe? Dass ich verblendet war? Dass mich der Manticor verblendet hatte?

Nun, ich gebe zu, dass das unserer Beziehung nicht gerade zuträglich war, aber willst du mir das ewig vorhalten? Willst du für immer sagen, dass ich dich angegriffen haben? Willst du für ewig sagen, dass ich dich töten wollte? Und weiter vergessen, dass ich mich am Ende gegen denjenigen gewandt habe, der mich belogen und benutzt hat? Willst du weiter vergessen, dass Lauria und ich mächtige Feinde für den Manticor sind?"

Laures' Stimme war immer lauter geworden und langsam aber sicher war er vor seinen Vater getreten. "Ist es so einfach? Gibt es immer nur Schwarz und Weiß? Gibt es immer nur Licht und Dunkelheit? Oder kann die Dunkelheit nicht doch Licht spenden?"

"Du sprichst in Rätseln..." brummte Van ungehalten.

"Das ist wahr..." Laures lachte leise. "Irgendwie habe ich mir das wohl angewöhnt... Verzeih mir, Vater."

Bei dem letzten Wort verfinsterte sich Vans Gesicht einen Moment, doch dann entspannte er sich wieder und nickte langsam.

"Also gut, mein Sohn, dann lass mich dich kennen lernen. Lass mich sehen, ob ich dir trauen kann. Lass mich sehen, ob du ein Sohn für mich bist..."

Ein erleichtertes Lächeln huschte über Laures' Gesicht. Ja, er bekam eine Chance. Eine Chance, die er nicht verspielen würde... Zu wichtig waren sie. Zu wichtig waren sie alle, die Kinder des Drachen und die letzte Tochter des Manticor...

Laures hörte wieder die sanfte Stimme des schwarzen Drachen: "Gib ihm Zeit... Lass die Wunden heilen. Zeig ihm deine Stärke, zeig ihm deine Dunkelheit. Und zeig ihm, dass du Licht bringen wirst..."

Laures nickte kaum merklich. Ja, seinem Vater würde er sich offenbaren...
 

Plötzlich war ein schwaches Klopfen an dem Holztor zu vernehmen.

"Was...?" brummte Louvain überrascht und sprang auf. Vollkommen fasziniert von dem Gespräch zwischen Van und Laures hatte er das Geräusch im ersten Moment gar nicht zuordnen können. Er bedeutete Allen, Van und Laures, sich mit gezogenen Schwertern neben ihn zu stellen, während er vorsichtig die kleine Tür in dem riesigen Tor öffnete.

"Elfen!" Vollkommen erstaunt riss Louvain die Tür ganz auf und eine klägliche, erschöpfte Truppe von an die zwanzig Elfen strömte in die unterirdische Festung.

"Van... Wir müssen zu Van..." murmelte eine der Elfen und brach erschöpft auf dem Boden zusammen.

"Ich bin Van..." Der König von Farnelia trat vor und legte der Elfe sanft die Hand auf die Schulter.

"Dann ist es gut..." Ermattet lächelte sie. "Sola... Meine Name... Tochter von... Faisala..." Damit schloss sie ihre Augen und wurde ohnmächtig. Den anderen Elfen ging es nicht sehr viel besser, sodass Van und seine Freunde für eine Unterkunft sorgten, ehe sie überhaupt daran denken konnten, ihnen Fragen zu stellen und herauszubekommen, woher die Elfen so plötzlich gekommen waren.

40. Einsamer Drache

Der schwarze Drache grollte leise vor sich hin. Da waren endliche alle Teile - Menschen - zusammen, die er zum Schmieden der ,Allianz der Tränenden Herzen' brauchte und dann fehlte ihm ein wichtiges Stück... Hitomi befand sich fern von ihren Freunden irgendwo im Wald, in ihrer Nähe war ein seltsames Mädchen, das auf Gaia eigentlich nichts zu suchen hatte, und er konnte nichts weiter tun, als hier sitzen, vor sich hingrollen und verfluchen, dass er keinen Körper mehr hatte. Noch nicht einmal richtig toben konnte er!

Der schwarze Drache seufzte leise und musste sich selbst etwas belächeln. Er benahm sich ja schon wie eines dieser sterblichen Geschöpfe... Und dennoch: Seine derzeitige Existenz war absolut unbefriedigend. Es hatte ihn ja schon fast all seine Kraft gekostet, Hitomi diesen jungen Erddrachen zu schicken, um sie von dem Felsen in dem reißenden Fluss zu retten. Alle weiteren Gefahren hatte sie allein bestehen müssen - und das wurmte ihn. Er konnte ihr noch nicht einmal zur Seite stehen und sie in ihren Träumen besuchen, um sie etwas zu beruhigen. Nein, das bisschen Kraft, das er noch besaß, musste er nutzen, um die Rebellen, besonders seine Kinder, davor zu bewahren, von Tassilo und seinen Soldaten entdeckt zu werden. Und Hitomi davor zu schützen, dass der Manticor sie aufspüren konnte...

"Verdammt!" brüllte der schwarze Drache schließlich lautstark. Die graue Welt der Traumebene begann ihn anzuöden. Als Refugium, das er aufsuchen konnte, wann auch immer er wollte, hatte er diese Ebene zwar schätzen gelernt, aber jetzt war sie nicht mehr als ein Gefängnis...

"Ich weiß, was du fühlst..." sagte eine sanfte Stimme neben ihm.

"Du?" Der schwarze Drache versuchte gar nicht erst, das Wesen anzusehen, das gesprochen hatte. Es zeigte sich nur äußert ungern und selten, sodass er kaum erwarten konnte, es zu sehen. Dennoch blinzelte er einmal kurz zur Seite, um sich zu vergewissern und sah, dass es zumindest in der Gestalt eines einigermaßen humanoiden, goldenen Nebels zu ihm gekommen war.

"Hör auf mit diesem Kampf..." sagte es sanft. "Wofür kämpfst du noch? Lass es sein..."

"Ich kann nicht," erwiderte der Drache leise und senkte schuldbewusst den Kopf. "Ich kann nicht... Ich habe zu viel zu verlieren und zu viel zu gewinnen..."

"Zu gewinnen..." Spott klang in der Stimme mit. "Was denn? Den Tod deines Erzfeindes? Die Freiheit deiner Kinder? Einen neuen Körper?" Das Wesen lachte. "Denkst du wirklich in so kleinen Dimensionen?"

Der Drache wandte den Kopf ab und starrte ins Graue hinaus. "Du verstehst es nicht. Du kannst es gar nicht verstehen..."

"Das glaubst du..." Die Nebelgestalt schüttelte den Kopf. "Du bist mein Kind... Genau wie der Manticor. Meinst du etwa, ich verstehe dich nicht? Eine Mutter versteht ihre Kinder doch... Und deswegen sage ich: Hör mit diesem Kampf auf! Beende du ihn, bevor ich es tue... Er hat schon zu lange angedauert und zu viele Opfer verlangt... HÖR AUF!"

Damit löste sich der Nebel auf und der schwarze Drache blieb allein im Grau zurück.

"Auf einmal mischt du dich ein?" keuchte er heiser. "Auf einmal?! Was bildest du dir eigentlich ein?! Hüte dich vor dem, was du tust, Mutter..."
 

Allein saß Van mit untergeschlagenen Beinen in seinem Zimmer auf dem Bett. Er fühlte sich so unendlich allein - und verwirrt. Hitomi fehlte ihm und es quälten ihn die Ungewissheiten, was nun mit ihr war, wo der schwarze Drache eigentlich steckte, der sich ja nun schon eine ganze Weile nicht mehr hatte sehen lassen, und was bei den Elfen geschehen sein mochte. Im Moment würde er nur keine Antworten finden. Van seufzte leise. Das war alles so verdammt ungerecht!

Ungerecht... Plötzlich musste der König von Farnelia lachen. Was war schon gerecht? Die Tatsache, dass sein Land wieder zerstört worden war? Die Tatsache, dass Tassilo den ganzen Planten unterjochte? Die Tatsache, dass der Manticor offenbar gewann? Oder die Tatsache, dass Hitomi fort war und auf einmal seine Kinder hier waren, die er eigentlich gar nicht hatte sehen wollen?

"Verdammt!" fluchte Van lautstark.

"Ich habe doch noch gar nichts gesagt..." kam eine schüchterne Stimme aus der Tür.

Van wirbelte herum und sah Lauria dort stehen. Das goldhaarige Mädchen sah ihren Vater mit unsicher zuckenden Augen an.

"Entschuldige... Ich meinte nicht dich," brummte Van. "Komm her und setz dich..."

Lauria nickte leicht, kam gemessenen Schrittes näher und hockte sich auf die Kante des Bettes.

"Was führt dich her?" Van musterte seine Tochter aufmerksam. Sie sah blass aus. Das goldene Haar glänzte im Licht der Fackeln und ihre schwarzen Augen leuchteten wie glühende Kohlen. Sie sah Laures ähnlich und wirkte doch gleichzeitig so anders.

"Ich wollte dich sehen... Vater..." Unsicher knetetet Lauria ihre Finger und blickte zu Boden.

"Warum hast du Angst?" fragte Van sanft. Er legte ihr behutsam die Hand unter das Kinn und hob es an, sodass sie ihn ansah.

"Ich weiß nicht... Du bist so wütend geworden, als Laures und ich ankamen... Ich wusste nicht, ob du mich sehen wolltest..."

"Ach, Lauria..." Van lächelte. "Du brauchst vor mir keine Angst zu haben. Ich war nur wütend auf eure Mutter. Sie hat... eigenwillig gehandelt, wie sie es oft tut. Sie hat Alex und mich einfach benutzt, ohne etwas zu sagen... Deshalb war ich wütend. Und ich war nicht darauf vorbereitet, euch zu sehen..." Eine verlegene Röte huschte über sein Gesicht.

"Willst du uns überhaupt?" Laurias große Augen blickten Van unverwandt an.

Es war der König von Farnelia, der schließlich wegsah. "Ich weiß es nicht. Das ist die ehrlichste Antwort, die ich dir geben kann. Ich kenne euch beide nicht... Und mittlerweile bin ich wenigstens dazu bereit, euch beide kennen zu lernen. Aber wir werden Zeit brauchen. Viel Zeit, damit wir vielleicht so etwas wie eine Familie werden können..."

Lauria nickte langsam. "Das wäre schön, Vater..."

41. Streit

"Alex! Warte gefälligst!" Ivory schrie durch den dunklen Gang hinter Alexander her. Gleichzeitig rannte sie und versuchte den jungen Mann einzuholen.

"Hör auf, Ivory..." knurrte Alexander. "Du wirst mich nicht aufhalten. Eine Patrouille muss raus und du weißt, dass ich der Beste dafür bin..."

"Der Beste wofür? Sich umzubringen? Leichtsinnig zu handeln?"

Endlich hatte die Wolfsfrau ihren Freund erreicht und baute sich mit in die Hüfte gestemmten Händen vor ihm auf. "Willst du dich unbedingt umbringen, Alex?" Das weiße Haar hing ihr halb ins Gesicht, das Stirnband war verrutscht und einige schwarzen Schmierstreifen zierten ihre Wangen. Die roten Wolfsaugen funkelten Vans Neffen mit mühsam unterdrückter Wut an.

"Was meinst du, Ivory?" Alexander runzelte die Stirn und versuchte unberührt zu bleiben.

"Das hier!" Sie riss den Ärmel von seinem Hemd empor und entblößte einen blutdurchtränkten Verband. "Dein rechtes Bein sieht genauso aus - Und du willst jetzt unbedingt in einen Guymelef steigen? Alex, das ist Wahnsinn!"

"Hör auf..." Unwirsch schob er Ivory bei Seite und ging weiter. "Außerdem werde ich gar keinen Guymelef nehmen..."

Er ignorierte den Schmerz in seinem rechten Bein und ging schnell weiter. Er wollte nicht mit Ivory diskutieren... Er wollte jetzt nach draußen, in die Kühle der Nacht und Tassilos Soldaten jagen...

"Alex! Ich weiß, was in dir vorgeht... Ich würde auch so gerne nach draußen und Hitomi suchen. Und diesen Mistkerlen den Hintern verhauen, die sie von uns getrennt haben. Aber das geht nicht! Denk doch endlich mal nach!"

Alexander drehte sich um und sah die Wolfsfrau an. Ivory stand mit ausgestreckten Händen in dem Gang und sah ihn fehlendlich an. "Bitte, Alex..." flüsterte sie.

"Nein," sagte er scharf, wandte sich ab und ging weiter. Sie versuchte nicht weiter, ihn aufzuhalten.
 

"So behandelst du uns also..." Milerna funkelte Auriana wütend an. Die beiden Frauen befanden sich im Sitzungssaal. Dort hatte die Prinzessin von Asturia Vans ehemalige Frau schließlich aufgetrieben. Milerna war zornig auf die saryanische Prinzessin. Unglaublich zornig - und dieser Wut ließ sie nun freien Lauf.

"Wir sind nur Mittel zum Zweck für dich... Du benutzt Van und Alex, ja, sogar Vans und Hitomis Kinder - Säuglinge -, für deine Zwecke! Womit müssen wir noch rechnen? Damit, dass du uns verrätst? Dass du uns in den Rücken fällst und auf einmal Tassilos Armee hier einmarschiert? Sind das deine geheimen Ziele?!"

Milerna hatte sich über den Tisch gebeugt und funkelte Auriana wütend aus ihren violetten Augen an. Die goldhaarige Frau betrachtete die wütende Prinzessin ruhig und mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit.

"Du regst dich über Dinge auf, die du nicht verstehst..." antwortete Auriana kühl. "Wir werden Laures und Lauria brauchen. Mehr als du es ahnst... Und jetzt hör auf, dich so künstlich aufzuregen... Du hast mir nichts zu sagen, also lass es gefälligst!"

"Ich? ICH rege mich künstlich auf?!" Milerna schnappte fassungslos nach Luft. "Du solltest viel besser aufpassen, was du sagst, du kleines Miststück..."

"Milerna, es reicht." Allens Stimme schnitt seiner Frau hart das Wort ab.

"Ah, ich danke für Eure Rettung, Allen Schezar..." sagte Auriana mit einem Lächeln.

"Als wenn ich das für Euch getan hätte..." Allens abfälliger Blick traf die goldhaarige Prinzessin. "Es bringt nichts, wenn ihr beide euch ankeift. Wir haben andere Sorgen. Genug andere Sorgen... Es reicht, wenn Van sich morgen um Euch kümmert, Auriana. Bis dahin wird Euch ein Quartier zugewiesen, wo Ihr zu bleiben habt, bis Van Euch aufsucht. Habt Ihr verstanden?"

"Natürlich..." Auriana nickte langsam. Ihr graute vor der Unterhaltung mit Van. Sie ahnte, wie wütend er auf sie war. Und zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte.

"Komm jetzt, Milerna..." hörte sie Allen noch murmeln. "Es ist spät - wir sollten zu Bett gehen..."
 

"Berengar!" fluchend rannte Jarrow durch das Lager. "Berengar!"

"Ja?" Scheinbar gelangweilt trat der hoch gewachsene Krieger zwischen zwei Zelten hervor und blickte Jarrow unbeteiligt an.

"Berengar, was treiben Eure Leute hier nur? Wir kommen keinen Zentimeter voran! Macht ihnen gefälligst Beine!" Jarrow war außer sich vor Wut - und Sorge. Er konnte das Damoklesschwert in Form seiner Degradierung über seinem Kopf hängen sehen, und das Einzige, was dieses Schwert am Fallen hindern würde, war das Auffinden dieser Königin von Farnelia.

"Wir tun, was wir können..." sagte Berengar bedächtig. "Selbst wir müssen einmal ruhen..."

"Dann verkürzt die Ruhepausen!" fauchte Jarrow ungehalten. "Tut etwas! Verstärkt die Suchmaßnahmen! Sie kann nicht weit gekommen sein! Findet sie endlich!" Zeternd und schimpfend stand der Kommandant vor Leutnant Berengar.

"Kommandant, wenn ich Euch einen Rat geben darf: Seid etwas beherrschter... Wenn Euch die Männer so sehen, dann werden sie Euch wohl kaum ernst nehmen..."

Jetzt sah Jarrow rot. Mit einem unmenschlichen Knurren sprang er vor und verpasste Berengar einen brutalen Schlag in die Magengegend. Dieser mochte zwar durchtrainiert und ungleich stärker sein als der rothaarige Kommandant, aber die Überraschung war auf Jarrows Seite. Mit einem überraschten Seufzer ging der schwarzhaarige Krieger zu Boden. Verblüfft starrte er zu Jarrow empor. Noch im gleichen Moment wich die Überraschung der Wut und Berengar sprang auf, um sich auf seinen Kommandanten zu stürzen. Dieser jedoch hatte sich längst abgewandt und sagte mit kalter Stimme: "Erklärt das einmal Bayliss, wenn ich tot bin. Er weiß, um unsere Antipathie. Ihr werdet dann auch keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen..."

Knurrend und mit geballten Fäusten blieb Berengar stehen und starrte den Kommandanten hasserfüllt an.

"Und jetzt bewegt Euch endlich... Macht Euren Männern endlich Beine!" fauchte Jarrow und ließ den zornigen Krieger einfach stehen.
 

Bayliss seufzte leise. Tassilo hatte ihn rufen lassen, um sich anzuhören, welche Fortschritte die Suchmannschaften machten... Kleinlaut und eingeschüchtert betrat der General den Thronsaal. Er wusste schließlich, dass er nichts zu berichten hatte.

"Nun, Bayliss... Wie sieht es aus?"

"Bisher suchen wir noch, Euer Majestät..." antwortete der General mit dem grau melierten Haar bedächtig.

"Das reicht nicht, Bayliss," sagte Tassilo mit einem zuckersüßen Lächeln. Der Diktator stand von seinem Thron auf und trat auf seinen General zu. "Ihr habt doch sicher von den Gerüchten über die Opfer gehört, nicht wahr?"

Bayliss nickte und blickte Tassilo mit aufgerissenen Augen an. Jeder Soldat hatte davon gehört, aber die meisten waren sich noch nicht allzu sicher, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprachen oder ob sie einfach nur der Angst vor ihrem unbeherrschten und unberechenbaren Kaiser entsprungen waren...

"Ja, Mylord..."

Mit einem Fingernagel fuhr Tassilo den Oberkörper des Generals entlang.

"Nun, wenn es nicht endlich voran geht, dann wirst du herausfinden, dass sie der Wahrheit entsprechen. Du wirst nur nicht mehr darüber berichten können. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?"

"Ja, Mylord..." Bayliss war aschfahl geworden.

"Gut... Dann BEWEG dich endlich!" brüllte Tassilo und Bayliss nutzte die Gelegenheit aus dem Thronsaal zu stürmen.

Täusche ich mich, oder wird es schlimmer mit ihm? fragte sich der General, als er schweißgebadet die Tür hinter sich zuschlug. Was auch immer... Ich muss Jarrow noch mal Beine machen...

42. Auf Patrouille

Alexander hatte sich noch zwei seiner engsten Freunde und besten Soldaten ausgesucht, um mit ihnen die Umgebung zu sichten und herauszufinden, ob sich Tassilos Späher schon in der Nähe des Verstecks befanden. Schließlich lag die neue Zuflucht der Rebellen nicht allzu weit von der letzten und dem Schlachtfeld entfernt...

"Marius, bleib hier..." zischte er, während sie über den kargen Abhang direkt vor dem versteckten Eingang von ihrem Lager eilten. "Wir müssen eng zusammenbleiben..."

Der dunkelhaarige Soldat nickte nur und wartete kurz auf Alexander und seinen Begleiter, Cedil, einen schmalen, fast zierlich wirkenden, jungen Mann, der sich jedoch durch großes Geschick und Lautlosigkeit in seinen Bewegungen auszeichnete.

"Los jetzt..." murmelte Alexander leise, als er auf das nahe Gestrüpp zueilte und dann möglichst lautlos weiterschlich.

"Er ist unruhig heute..." flüsterte Cedil Marius zu. Dieser nickte nur und runzelte gleichzeitig die Stirn. Unruhe bei einer Patrouille konnte lebensgefährlich werden...

"Lass uns vorsichtig sein," raunte Marius zurück und folgte Alexander dann so schnell, wie es möglich war.

Alexander schlug ein fast mörderisches Tempo an. Als er auf einer Lichtung endlich inne hielt, sanken Marius und Cedil ins Gras und genossen die kurze Pause. Folkens Sohn warf ihnen einen abschätzigen Blick zu und meinte: "Ich gehe schon einmal ein wenig spähen... Ich komme sofort wieder zurück. Ruht euch ruhig so lange aus..."

Sobald er verschwunden war, seufzte Cedil auf. "Was ist bloß los mit ihm? Er ist ja heute unglaublich unruhig!"

Marius zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht... Vielleicht macht er sich Gedanken, wegen der Königin... Die beiden sind schließlich sehr eng befreundet..."

"Möglich..."
 

Alexander hörte noch, wie die beiden miteinander sprachen, nachdem er sie zurückgelassen hatte, jedoch nicht mehr was. Er näherte sich aufmerksam und mit gespannten Muskeln einer weiteren Lichtung. Die Schmerzen seiner Verletzungen hatte er mittlerweile völlig vergessen. Plötzlich wurde er von hinten angegriffen. Mit einem lauten Kreischen stürzte sich ein Greif auf ihn.

Mit einem überraschten Schrei wich Alexander zurück und versuchte, den aufdringlichen Angreifer mit seinem Schwert auf Distanz zu halten.

Verdammt! Ich habe kein Feuer! Und wenn ich jetzt nach Cedil und Marius rufe, bringe ich sie nur unnötig in Gefahr! Ich muss es so schaffen...

Der Greif war auf dem Boden und zwischen den engstehenden Bäumen bei weitem nicht so beweglich, wie in der Luft oder auf freiem Feld.

Das war die einzige offensichtliche Schwäche, die der Greif zu haben schien...

Und die Augen... Vielleicht, wenn ich ihn blende...

Alexander wirbelte herum und rannte scheinbar vor dem Greif weg. Blitzschnell quetschte er sich zwischen einigen eng stehenden, jungen Birken hindurch und hörte nur den Bruchteil einer Sekunde später hinter sich das enttäuschte und zornige Kreischen des Greifs. Das Tier hieb mit seinem scharfen Schnabel zwischen den jungen Bäumen hindurch, konnte Alexander jedoch nicht erreichen und machte gleichzeitig auch keinerlei Anstalten, um die Bäume herumzugehen.

So... Und nun?

Für einen Moment verharrte Alexander. Dann wusste er, was er tun wollte. Mit aller Kraft, die er mit seinem verletzten Bein aufbringen konnte, drückte er sich ab, hangelte nach einem einigermaßen festen Ast der Birke, die dem Greif am nächsten war, hielt sich einen Moment lang fest und stach nach dem linken Auge des Greifs. Gedankenschnell ließ er sich wieder fallen und rollte sich ab. Das schmerzerfüllte Kreischen des Greifs verriet ihm, noch bevor er sich umgedreht hatte, dass er erfolgreich gewesen war. Mit einem triumphierenden Grinsen schnellte er zwischen den Bäumen hervor und stieß dem abgelenkten Greif das Schwert tief in die Brust. Als das Tier tot zusammensackte, seufzte er leise und betrachtete sein Werk. Gerade wollte er sich abwenden, als er ein leises, fast fragendes Gurren hinter sich hörte. Langsam drehte er sich um und sah auf der anderen Seite der Birken einen weiteren Greif stehen, der ihn mit schief gelegtem Kopf betrachtete.

"Oh, oh..." entfuhr es ihm. Danach wirbelte er herum und rannte so schnell er konnte zwischen den Bäumen davon. Dieser Greif war jedoch deutlich kleiner und schlanker als der erste und vermochte es, Alexander problemlos zu folgen.

Nicht gut... dachte er, als er sich umblickte und den Greif knappe fünf Meter hinter sich sah. Er drehte sich wieder nach vorne, passte einen Moment lang nicht auf und kam ins Stolpern.

"Aaaah...." entfuhr es ihm, als er plötzlich über den Waldboden kugelte.
 

"Cedil! Da muss was passiert sein!" Marius hatte den Schrei gehört, riss sein Schwert hervor und stürmte auf den Wald zu. Cedil folgte ihm auf dem Fuße.

"Alex! Wo bist du?" brüllte Cedil, alle Gefahr der Entdeckung außer achtlassend. Sie mussten Alexander finden. Nur der Drachengott allein wusste, was Van mit ihnen anstellen würde, wenn sie ohne seinen Neffen zurückkamen...
 

"Hier!" schrie Alexander zurück, als er Cedils Stimme hörte. "Hierher!"

Gleichzeitig kroch er rückwärts und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Der Greif ließ ihn jedoch nicht. Mit einer seiner Löwenpranken hielt er Alexanders rechtes Bein fest am Boden und mit der anderen Pranke schlug er beinahe gemächlich nach Alexanders Gesicht.

"Hau ab!" knurrte Vans Neffe gereizt und versuchte, den Greif abzuwehren.

Erleichterung durchströmte ihn, als er Cedil und Marius hinter dem Greifen auftauchen sah. Die beiden dachten nicht lange nach, sondern stürmten sofort auf das Tier zu. Gleichzeitig beschloss jedoch auch der Greif, Ernst zu machen. Mit einem lauten Kreischen sprang er vor, bohrte seine Krallen durch Alexanders Kettenhemd und riss es auf. Im gleichen Moment stieß er mit dem Schnabel zu und riss dem jungen Mann einige Haarbüschel aus.

Alexander wehrte sich nach Leibeskräften, da ihm der Greif jedoch seinen Schwertarm mit einer Tatze auf den Boden presste, konnte er sich nur hin- und herwinden und versuchen, mit der bloßen Hand zuzuschlagen. Blut sickerte durch sein Kettenhemd und er spürte, wie er schwächer wurde und ihm das Gewicht des Greifen den Brustkorb zu zerquetschen drohte.

Plötzlich ließ das brutale Gewicht nach und der Greif sackte zusammen. Cedil und Marius zogen ihre blutigen Schwerter aus dem Leib des Tieres und wälzten es von Alexander herunter.

"Alles in Ordnung?" Cedils Frage schien angesichts der Menge an Blut, die aus Alexanders Wunden sickerte fast wie Hohn, war jedoch ehrlich gemeint.

"Nicht ganz..." keuchte Alexander und presste sich eine Hand auf den Bauch. "Ich fürchte, ich werde nicht laufen können..." Damit verlor er das Bewusstsein.

43. Zorniger Engel

"Warum?!" Folkens Stimme hallte weit über die graue Fläche der leeren Traumebene. "Warum hast du mich nicht zu meinem Sohn gelassen? Warum hast du mich zurückgehalten?!"

Außer sich vor Zorn stand der grauhaarige Mann vor dem schwarzen Drachen und hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Folken konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal wütend gewesen war - während seiner Zeit als ,Schutzengel' für Van jedenfalls noch nicht und auch in seinem Leben war es lange her. Doch die Tatsache, dass er hilflos hatte ansehen müssen, wie Alexander von den Greifen angegriffen und schwer verletzt worden war, ohne dass Folken seiner Pflicht als Schutzengel, die er auch auf seinen Sohn ausgeweitet sah, hatte nachkommen können, machte ihn unglaublich zornig.

"Es war nicht möglich, Folken..." Der schwarze Drache seufzte leise. "Ich kann dir im Moment nicht die Kraft geben, damit du ihn beschützt - und Van... Ich brauche all meine Kraft, damit meine Kinder nicht gefunden werden - und damit der Manticor Hitomi nicht deutlich sehen kann. Wenn er Hitomi in seine Gewalt bekommen sollte.. Derzeit haben wir gute Chancen: Sobald Hitomi wieder im Lager ist, werden wir das Ritual durchführen und ihn bannen... Alle Teile sind bereit, nur noch das Mädchen vom Mond der Illusionen fehlt..."

"Ist das alles?" Folkens Stimme klang wieder einigermaßen beherrscht. "Machst du dir keine Gedanken, dass Alexander vielleicht sterben könnte? Damit würden deine Pläne zu Staub zerfallen..."

Der schwarze Drache funkelte Folken an. "Meinst du etwa nicht, dass das meine Sorge sein sollte? Alexander wird so lange leben, wie es nötig ist!"

Er wandte sich ab und vergrub das Gesicht in seinen großen Tatzen. Der Drache wusste genau, dass Alexanders Leben an einem seidenen Faden hing - der langsam aber sicher immer mehr nachgab und zu reißen drohte.

"Sind sie nur Mittel zum Zweck für dich? Ist das alle Beachtung, die du ihnen entgegen bringst? Dass sie ein Mittel für dich sind, um deinen Erzfeind zu besiegen?" fragte Folken leise und blickte dabei unverwandt den schuppigen Rücken des Drachen an. Der Gigant antwortete nicht, sondern schlug nur unwillig mit seiner Schwanzspitze. Schließlich grollte er: "Ich habe dich nicht vor dem Tod bewahrt, damit du mir Vorwürfe machst... Mach dich nützlich... Steh Alexander in seinen Fieberträumen bei. Er soll sich schließlich nicht im Wahnsinn verlieren..."

"Welchen Sinn hat das denn?" hakte Folken nach. "Ob er leidend stirbt oder ruhig - im Tod wird er dir nichts mehr nützen..."

Gedankenschnell wirbelte der schwarze Drache herum und richtete sich drohend vor Folken auf.

"GEH JETZT!" donnerte er und schickte dem langsam verblassenden Folken eine gelbe Stichflamme hinterher.

Sobald Folken verschwunden war, beruhigte sich der Drache wieder und rollte sich erneut zusammen.

"Als ob das alles so einfach wäre..." murmelte er leise.
 

Noch immer grenzenlos zornig, aber gleichzeitig auch wieder einigermaßen beherrscht betrat Folken Alexanders Fiebertraum.

"Mein Sohn..." murmelte Vans Bruder leise, während er zusah, wie Alexander mit einem Greifen kämpfte.

"Komm her..." Folken streckte die Hand aus, entzog Alexander dem Greifen und stellte sich zwischen die Beiden.

"Geh, Traumwesen... Geh..." sagte er sanft und der Greif verschwand. Danach wandte er sich seinem Sohn zu.

Alexander sah Folken mit fiebrigglänzenden Augen an.

"Vater..." stammelte er.

"Ja, ich bin hier." Folken lächelte sacht und strich dem dunkelhaarigen jungen Mann behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Wir haben jetzt Zeit, Alexander... Lass uns über das reden, was du schon immer wissen wolltest..."

Alexander strahlte seinen Vater an und begann zu fragen.
 

Im neu eingerichteten Lazarett der Rebellen hatte Milerna endlich sämtliche Wunden ausgewaschen, die der Greif Alexander zugefügt hatte. Sie verband langsam und behutsam die Verletzungen und war froh darüber, dass der junge Mann offenbar nicht mehr von heftigen Fieberträumen gequält wurde. Zumindest warf er sich nicht mehr hin und her und brabbelte Unverständliches, sondern jetzt lag er still da und ein beinahe zufriedener Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht.

"Ich hoffe nur, du schaffst es auch..." murmelte Milerna leise.

"Sieht es so schlecht aus?"

Die blonde Prinzessin wirbelte herum und blickte Ivory ins Gesicht. Die weißhaarige Wolfsfrau stand hinter ihr und starrte auf Alexanders schlafenden Körper.

"Ich möchte nichts beschönigen, Ivory..." sagte Milerna und legte der Wolfsfrau die Hand auf die Schulter. "Es sieht nicht gut aus. Wenn er es schaffen würde, dann wäre das beinahe ein Wunder... Ich kann nichts weiter für ihn tun. Wir können jetzt nur noch abwarten und sehen, ob er genug Lebenswillen und Lebenskraft hat..."

"An seinem Lebenswillen sollte es nicht liegen..." Ivory lächelte durch die Tränen hindurch, die ihr über die Wangen rannen. "Er will leben - das weiß ich... Aber ich weiß nicht, ob er sich mit seiner Kraft nicht vielleicht übernommen hat."

"Wir werden sehen..." antwortete Milerna leise. "Bleibst du bei ihm? Dann kann ich Van Bescheid sagen. Er weiß noch nichts..."

Ivory nickte stumm, trat zu dem Bett und nahm sanft Alexanders Hand.

Milerna blickte sie traurig an und wandte sich dann ab, um zu Van zu gehen.

44. Van und Auriana

"Auriana?" Van trat in das düstere Gemach seiner ehemaligen Königin. Der kahle Raum wurde schwach durch eine einzelne Öllampe erhellt.

"Du bist es..." murmelte Auriana gelangweilt. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Bett und hatte bis gerade angestrengt in ihre Kristallkugel geblickt. Sie sah Van nur kurz an und konzentrierte sich dann wieder auf ihre Kugel.

Van setze sich auf die Kante ihres Bettes. Er musterte Auriana genauer und bemerkte nun, dass sie nur ein dünnes und durchscheinendes Unterkleid trug. Sein Blick wanderte weiter zu ihrem Gesicht und er konnte die Konzentration darin deutlich erkennen. Vor lauter Anspannung biss sich Auriana auf die Unterlippe.

"Was tust du da?"

Mit seiner Frage brach er ihre Konzentration endgültig. Ihre angespannten Schultern sackten herunter und sie blickte Van aus verschleierten Augen an.

"Ich habe versucht, Hitomis Aufenthaltsort zu bestimmen..." sagte sie leise.

Van zog überrascht eine Augenbraue hoch.

"So?"

Aurianas Lippen verzogen sich etwas, doch ihrer Stimme konnte man keine Gefühlsregung entnehmen.

"Es überrascht mich nicht, dass du mir nicht glaubst," erwiderte sie.

"Dazu hast du mir auch keinen Grund gegeben. Kaum vertraue ich dir einmal, schon fällst du mir in den Rücken! Wahrscheinlich ist schon allein dein Hiersein nichts weiter als eine Lüge - und eine Falle!"

Van wandte sich ab, sprang auf und begann unruhig hin und her zu gehen.

"Du hast uns BENUTZT!"

"Ja..."

Ungerührt sah Auriana ihn an. Sie lehnte sich ein wenig zurück und beobachtete, wie Van durch den Raum lief.

"Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?"

Er blieb stehen und sah sie wütend an.

"Es war notwendig."

Aurianas kurze Antwort schürte Vans Zorn nur noch.

"Und WARUM war es notwendig?" fauchte er und beugte sich über sie, die Hände neben ihr abgestützt.

"Allein kann ich ihm nicht mehr widerstehen... Ich brauche Hilfe," hauchte die blonde Prinzessin leise. "Außerdem sind unsere Kinder ein wichtiger Schlüssel. Sie werden unsere Welt heilen..."

Aurianas Blick klebte an Vans Gesicht, heftete sich an seine Lippen.

"Was für ein Schlüssel?"

"Sie können eine Tür öffnen... Das Unversöhnliche miteinander vereinen... Licht aus der Dunkelheit bringen... Sie sind... wichtig. Mehr habe ich nicht sehen können."

Auriana schüttelte den Kopf. Van seufzte leise, zog sich von ihr zurück und stützte den Kopf in die Hände. Sie blickte ihn einen Augenblick lang an, dann rückte sie näher. Sanft löste sie seine Hände und hob sein Gesicht an. Sie lächelte über den verwunderten Ausdruck in seinen mandelbraunen Augen. Dann küsste sie ihn.
 

Es war schon später Vormittag, als Hitomi wach wurde. Sie hatte zwar ursprünglich vorgehabt, Sayuri zur Wache zu wecken, musste aber eingeschlafen sein, bevor sie das hatte tun können. Müde streckte sie sich und blickte zu dem Mädchen herüber, das immer noch zusammengerollt neben dem mittlerweile heruntergebrannten Feuer lag.

Seufzend stand Hitomi auf und weckte das Mädchen vom Mond der Illusionen.

"Ist es schon Morgen?" murmelte Sayuri müde und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

"Eher bald Mittag..." gab Hitomi zur Antwort. Während sich Sayuri aufsetzte, knurrte ihr Magen geräuschvoll. Das Mädchen angelte nach seiner Sporttasche und zog zwei Schokoriegel heraus. Einen warf sie Hitomi kommentarlos zu.

"Danke..." sagte die Königin von Farnelia und biss zum ersten Mal seit Jahren in einen irdischen Schokoriegel. Er erschien ihr wie eine unglaubliche Köstlichkeit - was nicht zuletzt in ihrem Hunger begründet lag. Das letzte Essen, das sie zu sich genommen hatte, lag jetzt schon einen Tag zurück.

"Wo müssen wir hin?" erkundigte sich Sayuri, während sie gleichzeitig Schokolade frühstückte und ihre Sachen sortierte.

"Zu den Hügeln dort hinten..."

Hitomi deutete mit ihrer freien Hand zu den Bergen, die sich am Horizont abzeichneten.

"Das ist weit..." staunte Sayuri mit offenem Mund.

"Ich weiß," brummte Hitomi. "Und es ist noch weiter, weil wir weder Proviant noch Trinkwasser haben... Es sei denn, du kannst noch etwas hervorzaubern."

"Einen letzten Rest Energydrink..." murmelte Sayuri nach kurzem Kramen. "Aber damit haben wir wenigstens eine Flasche."

"Knapp ein Liter. Nun, das reicht wenigstens ein Stück. Ich hoffe nur, wir finden unterwegs genug Wasser."

Sayuri hielt inne und blickte Hitomi hoffnungsvoll an.

"Du hast gar nichts?"

"Was ich am Leib trage," antwortete die junge Frau. "Und etwas, um uns zu beschützen..." Sie schlug mit der Hand auf ihr Schwert.

"Meinst du, das wird nötig sein?" fragte Sayuri mit großen Augen, während sie gleichzeitig aufstand und ihre Sporttasche schulterte. Gemeinsam gingen die beiden los.

"Du bist mitten in einem Krieg gelandet, Sayuri. Außerdem waren die Wälder auch vorher schon gefährlich," antwortete Hitomi mit einem Achselzucken. "Mach dir keine Gedanken, ich bin ja da..."

"Ja, und hoffentlich kannst du gut kämpfen!" fügte Sayuri mit einem leichten Schaudern hinzu. Hitomi grinste nur und schritt vor Sayuri den Wildpfad entlang, der sie in das Dickicht des Waldes führte.

45. Hinter einem Schleier

Für einen Sekundenbruchteil war Van versucht, Auriana nachzugeben, ihr, ihren fordernden Lippen und ihrem angenehm warmen Körper. Doch zeitgleich drängte sich ihm Hitomis Bild vor Augen und er schob Auriana rüde von sich.

"Lass das..." Er wollte diese Worte hinausschreien, doch seine Stimme klang leise, rau und belegt.

"Bist du sicher?" fragte Auriana und lächelte Van an. Gleichzeitig legte sie den Kopf auf kokette Art schief. Das lange, goldblonde Haar fiel ihr in leichten Wellen über die Schultern und es war auch in dem Dämmerlicht nicht zu übersehen, dass die saryanische Prinzessin nur einen Hauch von Nichts trug.

"Ja, verdammt noch mal!"

Van hatte seine Stimme endlich wieder in der Gewalt. Mit weichen Knien stand er auf und entfernte sich etwas von dem Bett.

"Warum bleibst du denn dann noch hier?" raunte Auriana. "Warum gehst du dann nicht?"

"Weil ich hergekommen bin, um mit dir zu reden! Was wir bis gerade ja auch getan haben, bis du auf irgendwelche komischen Ideen gekommen bist." Empört blickte der junge Krieger die Prinzessin an.

"Jetzt tu mal nicht so..." murrte sie, griff hinter sich und zog sich eine Decke über die Schultern. Mit unverhohlener Erleichterung registrierte Van diese Geste. Sie ließ also von der ,Jagd' und ihren Verführungsversuchen ab.

"Ich tu nicht nur so! Verdammt noch mal, Auriana! Ich bin glücklich verheiratet!"

"Ja - oder mit ein wenig Pech verwitwet..."

"Wie meinst du das?" Vans Gesicht war schlagartig aschfahl geworden und seine Knie begannen unkontrolliert zu zittern. "Was hast du gesehen?"

"Nichts... Das ist es ja gerade! Ich sehe Hitomi nicht! Van, um mein Verhalten bei der Beschwörung wieder gut zu machen, habe ich versucht, deine Frau zu erreichen. Aber da ist nichts! Ein undurchdringlicher Schleier liegt über uns. Und nicht nur über uns, sondern über ganz Gaia! Das kann nicht mehr durch Drache oder Manticor bewirkt sein - etwas Größeres ist dem Spiel beigetreten..."

In Aurianas Gesicht war die Verwirrung unübersehbar. Van überlegte einen Moment und wartete, bis er sich wieder gänzlich in der Gewalt hatte. Danach fragte er: "Und Hitomi? Lebt sie noch?"

"Vielleicht, vielleicht auch nicht... Mir - uns! - ist der Weg über die Traumebene versperrt. Nur noch die Mächtigen können ihn beschreiten..." erwiderte die Prinzessin langsam.

"Und das sind Drache und Manticor. Und dieses mysteriöse Wesen..." vervollständigte Van und sein Gesicht verfinsterte sich.

"Es stellt sich nur die Frage, wer mächtiger als diese beiden Erzfeinde ist..." murmelte Auriana leise.
 

Hitomis Schwert kam weniger zum Einsatz, um die beiden Frauen gegen wilde Tiere und arkadische Soldaten zu verteidigen, sondern es wurde vielmehr zweckentfremdet, um ihnen einen Weg durch das dichte und dornige Unterholz zu bahnen. Irgendwann war der Wildwechsel immer schmaler geworden und letztlich vollends von dichtem Gestrüpp überwuchert gewesen. Die ersten Stunden hieb Hitomi den Weg frei, danach überließ sie das Schwert für eine Weile Sayuri. Diese wog die Waffe prüfend in der Hand und meinte dann: "Das ist ganz schön schwer..."

"Natürlich," brummte Hitomi und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Das ist ja auch nicht aus Plastik sondern aus Stahl..."

Mit aller Kraft schlug Sayuri auf einige Dornenranken ein und murmelte: "In den Animes sieht das immer so leicht aus..."

Hitomi musste lachen. "Ja! Die sind aber auch der Fantasie irgendwelcher Zeichner und Schreiberlinge entsprungen! Das hier ist nun einmal das wahre Leben..."
 

Milerna fand Van schließlich grübelnd in dem Sitzungssaal, wohin er sich nach seinem Gespräch mit Auriana zurückgezogen hatte.

"Van..." sagte sie leise. "Es ist etwas passiert..."

Der König von Farnelia hob den Kopf und sah die asturianische Prinzessin mit sorgenvoller Miene an.

"Wer ist verletzt?" fragte er. Aufgrund von Milernas Tätigkeit ging er davon aus, dass es nur um das Lazarett und damit verbunden um einen weiteren Verletzen gehen konnte.

"Alex. Ich weiß nicht, ob er es schaffen wird..." Milerna ließ sich auf einem der Stühle nieder,

Van schüttelte traurig den Kopf. "Weißt du, wie es passiert ist?"

"Ich kann dir nur sagen, was mir seine zwei Freunde gesagt haben... Er ist ohnehin schon verletzt auf Patrouille gegangen und dann mit zwei Greifen zusammengestoßen. Den einen konnte er wohl töten, aber der andere... Nur seinen beiden Begleitern hat Alex zu verdanken, dass er noch lebt..."

Van seufzte leise. "Alex und sein verdammter Übermut! Ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen!"

"Wie denn, Van? Er ist erwachsen! Und mindestens genauso stur wie du!"

Langsam nickte der dunkelhaarige Krieger. Milerna hatte ja Recht.

"Ich frage mich nur..." setzte sie an und brach dann doch ab.

"Ja?"

"Warum hat Folken ihn nicht beschützt?" Milerna sah Van nachdenklich an. "Auf dich hat er doch auch Acht gegeben - warum nicht auf Alex, seinen Sohn?"

"Eine berechtigte Frage," erwiderte Van nachdenklich. "Vielleicht..." Er dachte an Aurianas Worte. "Vielleicht ist Folken dazu zu schwach... So oder so: Wir können uns nur noch auf uns selbst verlassen, nicht mehr auf irgendwelche Schutzengel oder mächtigen Wesen..."
 

Der Manticor schlug unwirsch mit einer Tatze auf den Boden. Nicht, dass ihm die Traumebene die Befriedigung in Form einer aufwallenden Staubwolke oder brechende Steinen gegeben hätte, aber seine alten Gewohnheiten hatte das rotbemähnte Wesen noch lange nicht abgelegt. Er war bei seinem Versuch, Auriana erneut unter Druck zu setzen, an einer seltsame Barriere gescheitert.

"Die Sicht ist versperrt..." murmelte er unwirsch. "Warum?"

"Das fragst du noch?" Eine leise, spöttische Stimme in seinen Gedanken antwortete ihm. "Es ist genug... Hör jetzt auf, oder ich vernichte euch..."

"Verschwinde und misch dich nicht ein!" fauchte der Manticor drohend zurück.

"Du vergisst, mit wem du es zu tun hast... Lass ab! Dies ist meine letzte Warnung!"

Der Manticor spürte, wie ihn die Stimme verließ, ohne dass er ihr noch eine Antwort hatte entgegen schleudern können.

Wie kann sie es wagen, sich einzumischen!

Er dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er war der absoluten Macht und dem Tod seines verhassten Gegners so nahe, dass er gar nicht mehr aufhören konnte.
 

"Du hast Recht, Mutter," sagte Laures langsam und öffnete die Augen. Er hatte sich bemüht, die Traumebene zu betreten, war jedoch ebenfalls an dem Schleier gescheitert.

"Jemand schirmt alles ab. Die freien Wege sind unbetretbar geworden," fügte Lauria hinzu. Dem goldhaarigen Mädchen standen einige Schweißperlen auf der Stirn, die ihre Mutter liebevoll mit einem Taschentuch abtupfte.

"Was meint ihr, wer dahinter steckt?" fragte Auriana schließlich.

"Ich spüre weder die Kraft des Drachen," begann Laures.

"Noch die Kraft des Manticors," vollendete seine Schwester.

"Jemand anderes ist es."

"Jemand, dem wir noch nie zuvor begegnet sind."

"Obwohl seine Energie vertraut ist."

Auriana lauschte dem abwechselnden Singsang ihrer Kinder und nickte dann.

"Ja... Nur: Wer ist es?" fragte sie leise.

"Das wird sich früher oder später noch herausstellen," meinte Laures trocken.

46. Jagd und Tanz

Bayliss' Stimme gellte noch immer in Jarrows Ohren.

"Ich will Resultate sehen! Ansonsten übernimmt Berengar deine Stelle! Ist das klar?"

Verdrießlich, gestresst und voller Sorge um Stellung und Leben marschierte Jarrow durch das Lager. Die Soldaten konnte seine Laune kaum übersehen, sodass sie ihm erstaunlich schnell und geschäftig aus dem Weg gingen.

"Berengar!" brüllte der alternde Kommandant schließlich und stürmte in das Zelt des Untergebenen. Dieser war gerade dabei, seine Rüstung anzulegen und begegnete Jarrow mit aufreizender Gelassenheit. Der Elitesoldat hatte ihr letztes Aufeinandertreffen längst nicht vergessen und machte daher keinerlei Bemühungen, seinem Vorgesetzten in irgendeiner Art und Weise entgegenzukommen.

"Ja, Kommandant?" fragte Berengar schließlich, während er gleichzeitig sein Schwert umband und den Mantel überwarf.

"Ihr führt die nächste Patrouille in Richtung der Berge durch den Wald."

"Dorthin?" Berengar verzog das Gesicht. "Das ist zu weit - und dort ist nichts!"

"Ihr werdet dorthin gehen! Dort hat noch niemand nach ihr gesucht, folglich muss sie da sein. Und lasst Euch nicht durch ein paar Ammenmärchen über Warge abschrecken..."

Jarrows kleiner Seitenhieb auf Berengars abergläubische Tendenzen tat ihm gut. Jeder wusste schließlich,. dass Warge in den bewohnten Teilen Gaias seit Jahrzehnten ausgerottet waren - und das zu Recht. Diese wolfsähnlichen, vierbeinigen Bestien waren nicht nur Fleischfresser, sondern Raubtiere, die es liebten, ihre Beute zu Tode zu hetzen. Häufig töteten und hetzten sie auch aus reiner Jagdlust alles, das ihnen in die Quere kam. Von daher waren sie als ernsthafte Gefahr eingestuft worden und von den Soldaten der einzelnen Länder abgeschlachtet worden.

Berengar ließ sich seine Wut über Jarrows Worte und diesen Befehl nicht anmerken, zu deutlich erinnerte er sich an die letzte Abreibung, die ihm der kleinere Mann überraschender Weise verpasst hatte. Er nickte nur. Gleichzeitig schwor er sich jedoch, sich für dieses Verhalten an seinem Kommandanten zu rächen.
 

Tassilo saß auf seinem Thron und beobachtete Mignon. Sein Blick folgte dem Kind, das immer noch - oder schon wieder, er war sich dabei nicht so sicher - durch den Saal tanzte. Es summte vor sich hin und sprang zu dieser Melodie durch die Gegend. Teilweise vollführte es auch Salti und Flick Flacks.

"Mignon!" Tassilo lächelte und winkte es zu sich. Mit einem Lächeln kam es zu ihm gehuscht und sank neben dem Thron zu Boden. Die Beine untergeschlagen saß Mignon da und blickte den rothaarigen Kaiser an. Es war kein wenig außer Atem, obwohl es bereits seit Stunden getanzt hatte.

"Warum tanzt du immerzu?" fragte Tassilo, erneut vollkommen eingenommen von dem seltsamen Wesen des Kindes.

Diese Begeisterung reichte mittlerweile so weit, dass sich Mignon innerhalb der Festung frei bewegen durfte, was es auch tat und was zu großer Verwirrung unter den Soldaten geführt hatte. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man, dass der Kaiser endgültig verrückt geworden sei.

Als Antwort legte Mignon den Kopf schief und begann zu singen.
 

"Tanzend

kann ich nur sein

tanzend

kann ich nur atmen

tanzend

kann ich nur denken

tanzend

kann ich nur sein..."
 

Berengar und seine vier Soldaten kamen schnell voran. Für seine Mission hatte er sich Tysain, Larik, Ker und Sangera aus seiner Elitetruppe ausgewählt. Mit den Vieren kämpfte er schon lange zusammen und wusste, dass er sich auf ihre ausgezeichneten Fähigkeiten jederzeit verlassen konnte.

Auf einer Lichtung stießen sie auf die Überreste von einem Feuer und das fremdartige Papier eines Schokoriegels.

"Leutnant!" Tysain hielt das Papier in die Höhe und kam auf Berengar zu.

"Eine Spur..." Ein haifischartiges Grinsen huschte über das Gesicht des Leutnants. "Das kann nur sie gewesen sein. Wer sonst außer einer Bewohnerin des Mondes der Illusionen kann so etwas besessen haben?"

Jarrow hat wohl doch nicht ganz Unrecht gehabt... gab Berengar innerlich zerknirscht zu.

"Fußspuren!" Lariks Stimme hatte eine elektrisierende Wirkung auf den Trupp. Sofort und entgegen allen Regeln der Kriegskunst und Vorsicht eilten alle zu der Stelle und begutachteten die Fußspuren. Der Eifer der Jagd hatte sie vollends gepackt.

"Zwei Personen. Noch frisch. Von heute Mittag," murmelte Larik.

Berengar maß mit den Augen den Stand der Sonne und meinte dann: "Sie haben einige Stunden Vorsprung, aber wir können sie noch einholen!"

Die Soldaten folgten eiligen Schrittes dem Pfad, den Hitomi und Sayuri im Dickicht hinterlassen hatten.
 

"Tanzendes Kind..." sagte Tassilo leise und strich Mignon sanft über das silberne Haar. "Was für ein seltsames Wesen du doch bist..."

Mignon lachte glockenhell auf, als wenn der Kaiser einen guten Scherz gemacht hätte.

"Die Seltsamkeit liegt immer im Auge des Betrachters," erwiderte das Kind keck.

Bevor Tassilo jedoch auf diese Worte reagieren konnte, öffnete sich die Tür zum Thronsaal und Bayliss trat mit gesenktem Kopf ein.

"Verzeiht die Störung, Herr..." begann er und wurde sofort von dem Kaiser unterbrochen.

"Ich hoffe, deine Erklärung ist gut genug, damit ich dir nicht gleich das Herz herausreißen lasse!" Tassilos Stimme klang gereizt und mit funkelnden Augen blickte er seinen General an.

Bayliss schluckte und Angstschweiß trat ihm auf die Stirn.

"Herr, die... die Herrin vom See ist bereits eingetroffen. Herr, Ihr... Ihr batet darum, sofort informiert zu werden, Herr..." stammelte der General.

"Ah! Das sind sehr gute Nachrichten, Bayliss!"

Tassilo strahlte den Mann mit den grau melierten Haaren an, als wenn er diesem niemals gedroht hätte.

"Lasst sie direkt von den Priestern vorbereiten!"

Bayliss nickte und nutzte die Gelegenheit, den Thronsaal schnell wieder zu verlassen.

"Wie schön..." kicherte Tassilo. "Ihre Opferung wird sicher ein Spaß..."

Sein irres Lachen erfüllte den Raum und erreichte auch noch Bayliss, der bereits einige Gänge weit vor der Unberechenbarkeit seines Kaisers geflohen war.

47. Die Allianz

Als Sola erwacht war, hatte sie sich genauso schwach und müde gefühlt wie bei ihrer Ankunft in dem Versteck der Rebellen. Ihre sonst so strahlend hellen Flügel leuchteten nur schwach und auch ihre Haut war für eine Elfe ungewöhnlich glanzlos.

Nein, eher der Flüchtlinge, dachte sie.

Denn diese Rebellen schienen ihr im Kampf gegen Tassilos Armee genauso wenig auf die Beine gestellt zu haben wie Solas Volk. Sie hatten versucht sich zu wehren und waren geflohen. Zumindest hatte sie diesen Eindruck gewonnen, während Allen Schezar gerade die Geschichte der Rebellen, wie sie sich dann doch nannten, zusammengefasst hatte. Sola saß als Anführerin der Elfen zusammen mit dem Kriegsrat in dem Sitzungssaal. Sie war dem Ritter, König Van, Admiral Vitguer, Leutnant Asha, Prinzessin Milerna, Königin Eries, König Torian, Herzog Shid, Prinzessin Auriana, Laures, Lauria, Ivory, Merle und Louvain vorgestellt worden - und konnte sich doch kaum noch an irgendwelche Namen erinnern.

Müde und mit tonloser Stimme berichtete sie, wie die arkadischen Soldaten ihr Lager überfallen und den See durchkämmt hatten. Wie die Herrin vom See schließlich gefunden und gebändigt worden war. Wie die Soldaten die Elfen beiläufig abgeschlachtet hatten, welche versucht hatten, ihre Herrin zu beschützen und zu befreien. Wie die Herrin vom See hilflos in dem Netz gezappelt hatte. Wie sie in den Tank gesteckt und fortgebracht worden war. Wie die Hohepriesterin Faisala ihr Leben gegeben hatte, in einem letzten, verzweifelten Rettungsversuch.

Schweigen herrschte, nachdem die junge Elfe geendet hatte. Sie fühlte sich so unendlich müde und leer.

"Es tut mir so Leid..." sagte schließlich Van leise. "Es tut mir so Leid für dein Volk."

Sola lächelte ihn an. "Ich danke dir für dein Mitgefühl..." Sie seufzte leise. "Doch das macht nichts ungeschehen. Gar nichts von dem, was mit Gaia passiert. Wie soll es denn nur weitergehen? Diesen Haufen hier kann man kaum Rebellen nennen... Wie viele seid ihr? 100 Mann? 200? Das beeindruckt eine Armee von Hunderttausenden ganz bestimmt..." Solas Stimme klang höhnisch - und gleichzeitig unendlich traurig.

"Ja..." sprach Torian. Der dunkelhaarige Mann zog es sonst vor, in den Sitzungen zu schweigen und aufmerksam zu beobachten, was geschah, diesmal jedoch hielt er es für notwendig, zu sprechen. "Aber das ist trotzdem zumindest etwas! Wir fügen uns nicht. Nun gut, bisher haben wir uns fast ausschließlich versteckt und sind geflohen, aber wir haben auch angegriffen!"

"Oh ja..." Sola zog eine Augenbraue hoch. "Einen Vorposten. Ihr habt Guymelefs und Vorräte gestohlen und ein paar Soldaten getötet. Das wird diese Diktatur gekippt haben...

Versteht mich nicht falsch: Ich weiß es zu schätzen, dass ihr alle Widerstand leistet und sei es nur, indem ihr nicht greifbar seid; aber ich frage euch: Kann das alles sein? Eine ewige Flucht vor einem Häscher, der beginnt, allmächtig zu werden?"

"Nein..." Laures dunkle Stimme dröhnte durch den Raum, obwohl er sehr leise sprach. "Aber es ist wenigstens etwas. Was soll deiner Meinung nach geschehen? Ein Angriff? Wie du schon angedeutet hast: Die Hunderttausend werden das hier" - mit einer weiten Geste umfasste er den Raum - "in Sekundenschnelle vernichten. Und dann? Dann ist niemand mehr da... Wir können alles kippen - wir brauchen nur Hitomi! Und wir brauchen sie schnell..."

"Aber sie muss erst einmal ankommen..." Van strich sich sorgenvoll durch das Haar. "Wir müssen sie suchen!" Kurzentschlossen stand er auf. "Wir müssen sie suchen! Jetzt, sofort! Alle Vorsicht aufgeben! Wie dumm sind wir doch, noch länger zu warten!"

Allen griff nach seinem Arm und zog ihn sanft wieder auf seinen Stuhl zurück. "Das ist ein hohes Risiko... Aber wenn das, was Laures sagt stimmt, dann brauchen wir sie! Unbedingt!"

"Nun, aber vorher sollte Laures erst einmal erklären, wofür Hitomi so wichtig ist..." brummte Merle und legte den Kopf schief.

"Hitomi wird gebraucht..." sagte Laures.

"Um die Allianz zu schmieden..." fuhr Lauria fort.

"Die anderen Teile sind alle hier..."

"Van, Alexander, Varie und Vargas - die Kinder des Drachen..."

"Auriana - die letzte Tochter des Manticor..."

"Und Laures und ich - die Kinder von beiden Mächtigen..."

"Wenn sich alle Seiten..."

"Gegen einen verbinden..."

"Dann kann der Gegner endgültig vernichtet werden...

"Bindeglied der Allianz ist jedoch..."

"Das Mädchen vom Mond der Illusionen..."

Der wechselhafte Singsang der Geschwister verwirrte die Anwesenden und machte es ihnen nicht leichte, die rätselhaften Worte zu begreifen.

"Also, bedeutet Hitomi das unbedingte Bindeglied, damit diese Allianz geschmiedet werden kann?" hakte Eries noch einmal nach.

"Ja..." Die Geschwister sprachen wie aus einem Mund.

"Asha, organisiert Suchtrupps. Sofort! Allen, Louvain, ihr kommt augenblicklich mit mir!"

Van sprang auf und ließ sich diesmal durch nichts und niemanden zurückhalten. Er hatte lange genug gewartet und jetzt erwies sich, dass Hitomi nicht nur für ihn wichtig war, sondern für ganz Gaia. Wie hatte er nur so dumm sein können!

Der König von Farnelia stürmte bereits aus dem Raum, während Allen und Louvain noch aufsprangen, um ihm dann hektisch zu folgen.

"Van!" Allen keuchte leicht, während er neben dem Freund herlief. "Verzeih mir... Wenn ich das geahnt hätte..."

"Du konntest es nicht wissen, Allen," wehrte Van ab. "Du hast nur getan, was du für richtig hieltest...

Verdammt! Ich wette, Hitomi wusste es!"

Louvain rannte hinter den beiden her und rief schließlich: "Wo werden wir anfangen?"

"Dort, wo Alex' Patrouille die Suche abbrechen musste! Wir dringen in die Richtung des dichten Waldes vor!"

Mit diesen Worten hatte er Escaflowne erreicht, kletterte blitzschnell ins Cockpit und startete. Scheherazade und Castillo folgten dem berühmten Guymelef von Isparno auf dem Fuße.
 

"War diese plötzliche Hektik denn nötig?" polterte Vitguer los. Der alte Admiral hielt wenig von den spontanen Ausbrüchen seines jungen Königs, konnte diese Abneigung jetzt jedoch nur zu spät äußern.

"Nun, sie sind weg... Von daher denke ich mal, dass Van sie für nötig hielt," erwiderte Auriana spitz. "So oder so - Hitomi muss gefunden werden. Und je eher, desto besser. Dahingehend sind wir uns wohl alle einig." Die blonde Prinzessin blickte in die Runde.

Schweigendes Nicken antwortete ihr. Auriana hatte die Gedanken sämtlicher Anwesender auf den Punkt gebracht.

48. Todeskampf

Tassilo stand erwartungsvoll in dem Opferraum. Der Altar war gewaschen und vorbereitet. Neben ihm stand Mignon und blickte sich neugierig um. Seine schillernden Augen huschten schnell und beinahe hektisch über die anwesenden Priester, über Tassilo - und schließlich über das hereingeführte Opfer.

An den Schultern von zwei Soldaten getragen, da sie mit ihrem Fischschwanz schwerlich laufen konnte, wurde die Herrin vom See hereingebracht. Auch sie trug ein schneeweißes Opfergewand. Ihr grünen Augen weiteten sich erschrocken angesichts des Altars.

"Das wagst du nicht!" Ihre Stimme klang zischend und weit weniger bedrohlich, als Tassilo erwartet hatte.

"Was hindert mich daran?" erkundigte sich der rothaarige Diktator freundlich, während die Seejungfrau auf den Altar geschnallt wurde. Anstatt der üblichen zwei Fußfesseln wurde ihr Fischschwanz mit einem festen Seil gesichert.

"Das, was du auslösen wirst! Du hebst Dinge aus den Fugen, von denen du nichts verstehst!"

"Ach ja?" Tassilo lächelte das schöne Wesen an und strich ihr das blaugrüne Haar aus dem Gesicht. Obwohl sie schon lange nicht mehr im Wasser gewesen war, da man sie bereits direkt nach ihrer Ankunft aus dem Tank geholt hatte, fühlte sich ihr Haar feucht an.

"Was denkst du, wer mein Verbündeter ist?" Tassilos Grinsen gewann etwas unendlich boshaftes und ließ seine schöne Hülle fallen.

"Nein!" Die Augen der Herrin vom See wurden noch größer und ihr Gesicht wurde aschfahl.

"Oh doch..." Das boshafte Grollen des Manticor antwortete ihr. Dieser nahm seine Kraft zusammen, um direkt zur ihr sprechen zu können. "Ich bin es, dein alter Freund..." Er lachte laut auf.

Dieses Lachen dröhnte schmerzhaft im Kopf der Seejungfrau wieder.

"Wo ist er?" fragte sie mit bebenden Lippen.

"Er ist nicht körperlich hier," erklärte Tassilo, während er den Dolch an ihrem rechten Handgelenk ansetzte. "Aber auf seine Art ist er hier... Du weißt doch sicher, dass er eine Niederlage hinnehmen musste und als Folge davon er seinen Körper verloren hat..." Die Stimme des rothaarigen Mannes klang vorgetäuscht mitfühlend und traurig. Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte er die Pulsadern und wanderte beinahe gemächlich auf die andere Seite des Altars. Auch dort setzte er das Messer an ihrem Handgelenk an.

"Aber was hat er vor?" hauchte die Herrin vom See.

"Er herrscht - durch mich!" Tassilo schlitzte ihr die Adern auf und sah zu, wie das rote Blut der Herrin vom See durch die Rinnen des Altars lief.

"Du glaubst doch nicht wirklich, dass ihm das reicht! Weißt du, auf was du dich da eingelassen hast? Er wird dich verraten! Er hat noch jeden verraten, der an seiner Seite stand!"

"Warum sollte ich einer Todgeweihten Glauben schenken?" Tassilo zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

"Weil die Todgeweihten nichts mehr zu fürchten haben und die Wahrheit..." Die Stimme der Herrin vom See wurde schwächer und versagte schließlich ganz. Ihr fehlte die Kraft, den Satz zu Ende zu sprechen. Ihre Augen sanken zu, während das Leben in zwei roten Rinnsalen aus ihr herauslief.

Neugierig trat Mignon näher und legte die Hand auf das kühle Gesicht der Seejungfrau.
 

"Hier bist du also..." Der Manticor umkreiste die Herrin vom See lauernd, als sie auf der Traumebene ankam.

"Und wieder einmal stehen wir uns gegenüber..." Sie schwebte in der Luft und schien sich wie im Wasser zu bewegen. "Warum glaubst du, dass ich dir nicht entkommen kann?"

"Weil dein Körper stirbt... Nur noch deine Kraft ist hier... Nicht mehr..." Der Manticor schlich weiter lauernd um die Seejungfrau herum.

"Warum wartest du dann noch?"

"Weil es so mehr Spaß macht..." Ein böses Grinsen huschte über das katzenhafte Gesicht. "Warum soll ich dich direkt töten? Sehen wir doch erst einmal zu, wie dein Körper stirbt..."

Die Herrin vom See zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie wusste, dass sie nichts mehr tun konnte. Alle Angst war von ihr abgefallen, als sie ihren Körper verlassen hatte. Einen Moment lang hatte sie Hoffnung, dass sie dem Manticor vielleicht entkommen konnte, doch wo sollte sie hin? Auf der grauen Traumebene gab es nichts. Gar nichts. Sie konnte sich nicht einmal vor ihm in einen Traum retten - diese Wege hatte sie bereits in ihrem Tank versperrt vorgefunden. Sie glaubte jedoch nicht, dass der Manticor dafür verantwortlich war. Er mochte einmal stark gewesen sein, doch jetzt war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein beinahe schon bemitleidenswürdiger Schatten, wenn er nicht so unglaublich blutrünstig, rach- und herrschsüchtig gewesen wäre...

Mit leeren Augen sah die Herrin vom See zu, wie das Kind ihrer leblosen Hülle sanft über das Haar fuhr und sie neugierig betrachtete. Plötzlich war sie wieder hellwach und sah das Kind an. Konnte es sein? War es möglich, dass...

In diesem Moment starb ihr Körper. Mignon hob den Kopf und blickte zu der großen Glasscheibe, in der Tassilo dann und wann das Spiegelbild des Manticors sehen konnte. Das seltsame Kind blickte der Herrin vom See direkt ins Gesicht. Seine Augen wirkten traurig und schienen die Seejungfrau um Verzeihung zu bitten.

"Jetzt ist es Zeit..." Mit einem weiten Satz sprang der Manticor die Herrin vom See an, riss sie zu Boden und biss ihr die Kehle durch. Ihre Kraft wurde freigesetzt und ging durch das aufgerissene Maul in den Manticor über. Zufrieden seufzte er und spürte, wie die neue Kraft durch seine Adern ran. Wie unbedeutend waren seine bisherigen Opfer gewesen! Wie viel Kraft ihm seine alte Feindin doch gegeben hatte!

"Du hast es nicht anders gewollt..." Die gleiche Stimme, die ihn erst kürzlich gestört hatte, mischte sich wieder ein. "Du hast nicht aufgehört und dafür wirst du bezahlen..."

"Verschwinde!" fauchte der Manticor ungehalten. Er wirbelte im Kreis, doch er konnte niemanden sehen. Jemand, der körperlos und ungesehen über die Traumebene wandeln konnte? Jetzt, wo alle Wege versperrt waren? Wer konnte das sein?

"Wer bist du?" brüllte er beinahe angstvoll und hilflos.

"Streng dein Gedächtnis ein wenig an..."gab die Stimme spöttisch zurück. "Wir haben uns zwar lange nicht mehr gesehen, aber doch blickst du mich jeden Tag an..."

"Hör mit diesen verdammten Rätseln auf!" Doch das Wesen, welches zu ihm gesprochen hatte, war längst wieder verschwunden und hinterließ einen verwirrten Manticor.

49. Wettlauf

Berengar und seine Soldaten eilten beinahe ohne Rücksichtnahme auf Geräusche durch den Wald. Sie hatten ihr Ziel dicht vor Augen und wollten es um keinen Preis mehr verlieren.

Auch wenn der eine oder andere der vier Elitesoldaten langsam zu keuchen begann, würde keiner aufgeben. Egal, wie viele Äste ihnen noch ins Gesicht schlugen, wie oft sie noch in den Schlamm fallen mochten - sie liefen unaufhaltsam weiter.
 

Escaflowne, Scheherazade und Castillo brachen durch die engstehenden Bäume in den Wald.

"Verdammt!" knurrte Allen gereizt. "Hier sieht man ja nichts - und man kann sich kaum bewegen!"

Von Louvain erhielt er ein zustimmendes Grollen, Van rannte mit Escaflowne einfach blind weiter. Er wollte Hitomi finden - um jeden Preis. Nicht nur, weil sie von so elementarer Bedeutung für einen Sieg der Rebellen war, sondern auch weil er sich Sorgen machte. Und diese Sorgen waren angesichts ihrer Bedeutung nur noch größer geworden. Was sie wussten, das wusste der Manticor mit Sicherheit auch! - glaubte er zumindest.

Plötzlich schloss Castillo zu ihm auf und Louvain schrie herüber: "Wie willst du sie eigentlich finden? Was ist dein Plan, Van?"

Abrupt blieb Escaflowne stehen und Van hielt zitternd inne.

Finden... Wie finden...

Die Worte gellten in seinen Gedanken wieder.

"Louvain... Ich..." Van stockte. Er konnte Hitomi nicht spüren. Er konnte sich nur auf die dumpfe Ahnung verlassen, dass sie irgendwo auf dem Weg von dem überfallenen Lager der Arkadier und dem Versteck der Rebellen war. Irgendwo...

"Wir laufen den Weg zum überfallenen Lager ab," sagte Van fest und rannte direkt weiter.
 

Hitomi und Sayuri kamen nur langsam voran. Immer wieder mussten sie sich den Weg frei schlagen.

"Das ist doch bescheuert..." brummte Sayuri irgendwann und ließ sich schweißbedeckt auf den matschigen Boden sinken. "Wir kommen so gut wie gar nicht voran..."

"Ich weiß..." Hitomi seufzte leise und hockte sich neben des rothaarige Mädchen. "Aber wir dürfen nicht aufgeben, Sayuri. Und wir dürfen noch weniger hier bleiben. Es ist zu gefährlich..."

Hitomi war aufgefallen, dass die Vögel ihr Gezwitscher eingestellt hatten und nur noch Stille im Wald herrschte. Eine drückende Stille, so als wenn ihre Umwelt darauf warten würde, dass etwas geschah...

Und plötzlich hörte sie das Geräusch von brechenden Zweigen irgendwo weit hinten auf dem Weg, den sie sich gebahnt hatten.

"Sayuri," raunte Hitomi befehlend, "lauf!"

Und damit sprintete die Königin von Farnelia auch schon los. Rücksichtslos bahnte sie sich mit ihren Händen und Ellenbogen einen Weg durch die eng stehenden Pflanzen. Dornige Ranken zerrten an ihrer Kleidung, ihren Armen und Beinen, ihrem Haar. Dennoch kam sie deutlich schneller voran als zuvor.

Einen Moment hielt sie inne und blickte sich um. Sobald sie sah, dass ihr Sayuri notgedrungen folgte, rannte sie weiter.
 

"Da vorne..." Auf Berengars Lippen entstand ein brutales Grinsen. Irgendwo, ein gutes Stück vor ihm und seinen Soldaten hatte sich hektische Bewegung entfaltet. Es konnte einfach nur ihre Beute sein. Kein Wildtier hätte sich zu einem solchen Krach hinreißen lassen.

"Schneller!" befahl der Leutnant und zog selbst das Tempo sofort an.
 

Langsam aber sicher erarbeitete sich Van einen Vorsprung vor Castillo und Scheherazade. Der Guymelef von Isparno trug Schramme um Schramme davon, doch das war seinem Piloten gänzlich egal. Was bedeuteten denn auch schon solche Macken gegenüber Hitomi?

Van fluchte leise vor sich hin, als er mit Escaflowne zwischen zwei Bäumen stecken blieb. Keuchend stand er einen Moment still, dann schlug er brutal um sich und die jungen Birken brachen mit einem lauten Krachen. Ohne sich nach Allen und Louvain umzusehen, eilte er weiter.
 

Hitomi blickte immer wieder über ihre Schulter zurück. Langsam konnte sie in der Entfernung einige menschenförmige Gestalten ausmachen.

"Schneller, Sayuri!" schrie sie.

Das Mädchen fiel langsam zurück. Hitomi zögerte einen Moment, dann hielt sie inne und wartete, bis Sayuri zu ihr aufgeschlossen hatte. Entschlossen schnappte sie sich die Sporttasche und schleuderte sie davon. Den erschrockenen und empörten Ausdruck auf Sayuris Gesicht ignorierte sie.

"Behindert dich nur..." brachte Hitomi hervor, griff nach Sayuris Arm und zwang das Mädchen dazu, ihr Tempo weiter zu erhöhen.

"Warum..." keuchte Sayuri, "rennen wir... eigentlich?"

Hitomi blickte mit einem derart wütenden, sorgenvollen und ängstlichen Ausdruck in den Augen zu dem Mädchen vom Mond der Illusionen, dass dieses keinen Ton mehr sagte, sondern nur weiter rannte.
 

"Was...?" Berengar stutzte einen Moment, als er einen Gegenstand durch die Luft fliegen sah, und kam ins Straucheln. Einen Augenblick lang konnte er sich noch auf den Beinen halten, dann schlug er lang hin.

Mit einem unmenschlichen Knurren kam er sofort wieder auf die Füße, ignorierte den Schmerz in Knien und Handflächen und lief noch schneller.

"Na warte...!"

Der Schmerz trieb ihn nur noch mehr an. Ja, er sehnte sich regelrecht danach, die beiden, besonders die Königin von Farnelia, in seine Finger zu bekommen. Tassilo würde sicher nichts dagegen haben, wenn er sich zuerst mit ihr ein wenig beschäftigte...

Ein wütendes Lächeln stahl sich auf sein von der Anstrengung gezeichnetes Gesicht.

50. Kampf und Verrat

Plötzlich kamen Hitomi und Sayuri auf eine Lichtung. Ein reißender Fluss versperrte ihnen den Weg zu der anderen Seite. Keuchend sahen sie sich nach einem Fluchtweg um, doch außer nach rechts oder links in den Wald zu rennen, gab es keine Möglichkeit. Dadurch würden sie ihren knappen Vorsprung verlieren und ihren Verfolgern nur in die Hände spielen, da diese letztlich den kürzeren Weg zu laufen hatten...

"Verdammt!" keuchte Hitomi, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Sie zwang sich, wieder ruhiger zu atmen und einen klaren Gedanken zu fassen.

"Und jetzt?" Sayuris angstvolle Augen schauten sie an.

"Kämpfen." Hitomis Stimme klang ruhiger und entschlossener, als sich die junge Frau fühlte. Sie zog das Schwert und bezog vor Sayuri Stellung. Sie ahnte, dass es nicht lange dauernd würde, bis ihre Verfolger aus dem Wald kamen.

Und wirklich: Einige Minuten später hetzten Berengar und seine vier Soldaten zwischen den Bäumen hervor. Als sie die Frau mit dem gezückten Schwert sahen, verhielten sie und zogen ihre eigenen Waffen.

"Nun, Lady Hitomi..." Berengar lächelte sie haifischartig an. "So begegnen wir uns also... Ihr solltet besser sofort aufgeben. Das würde Euch unnötige Schmerzen ersparen..." Langsam begann er Hitomi zu umkreisen. Die vier Soldaten schlossen sich ihm an.

Hektisch versuchte Hitomi, alle vier Männer im Augen zu behalten, scheiterte daran jedoch. Sayuri drückte sich ängstlich an ihren Rücken und behinderte die junge Frau damit.

"Ihr wollt es wohl nicht einsehen," sagte Berengar trocken. Leichter Spott lag in seiner Stimme. Dann griff er an. Hitomi wich zurück, stieß Sayuri zu Boden und stolperte über das Mädchen. Das Schwert fest in der Hand, fiel sie Ker vor die Füße. Der Soldat schlug sofort nach ihr, doch Hitomi konnte ihn abwehren. Sie rollte zur Seite und kam wieder auf die Füße. In Abwehrstellung stehend blickte sie den Soldaten fest an.

Ker sprang vor und mit einem Funkenregen prallten die beiden Klingen aufeinander. Mit einigen schnellen Schlägen versuchte der Soldat, Hitomi zu entwaffnen, doch damit war er bei ihr an der falschen Adresse. Hitomi wehrte ihn ab und begann ihrerseits eine Attacke, die sie mit einigen Finten kombinierte. Ihr Kampfgeist überraschte Ker derart, dass er einen Fehler machten - und diesen sogleich teuer bezahlte. Hitomi zog das blutige Schwert aus dem toten Körper des Soldaten und blickte sich nach dem nächsten Gegner um.

"Sehr gut..." Berengar klatschte demonstrativ in die Hände. "Ihr habt nur noch vier Gegner vor Euch. Und außerdem habt Ihr wohl etwas vergessen..."

Er trat bei Seite und gab damit den Blick auf Sayuri frei. Das Mädchen stand zwischen Tysain und Sangera. Sangera hielt ihr die Arme auf dem Rücken fest, während Tysains Schwert an ihrer Kehle ruhte. Larik stand ebenfalls mit gezücktem Schwert daneben.

"Jetzt ist ein guter Zeitpunkt aufzugeben, Lady Hitomi... Ein sehr guter..." Berengars Lächeln wurde tiefer.

Hitomi seufzte leise und ließ das Schwert fallen. Sofort war Berengar bei ihr und zerrte ihr die Arme auf den Rücken.

"Nun, Majestät, fühlt Euch als Gefangene..." zischte ihr Berengar ins Ohr. "Und ich verspreche Euch, dass ich mich noch persönlich um Euch kümmern werde..." Er lächelte.

"Tysain! Ruf das Luftschiff!"

Augenblicklich zog der Soldat ein kleines Kommunikationsgerät hervor und gab Bescheid, dass sie ihre Mission erfolgreich beendet hatten.

"Und nun..." Berengar blickte Hitomi an und dann Sayuri. "Wo finden wir die Rebellen? WO?"

Seine Stimme hallte schmerzhaft in Hitomis Ohren wieder, doch die junge Frau blickte starr zu Boden und zeigte keine Regung.

"Du willst also nicht, hm?" Berengar sah zu Sayuri rüber. "Mal sehen, was du sagst, wenn wir deine Freundin foltern..." War er vorher noch relativ höflich gewesen, so kippte das Verhalten des Leutnants jetzt ins Brutale. Tysain zog mit einem Grinsen sein Schwert wieder hervor und trat zu Sayuri.

"Nein!" schrie das Mädchen auf einmal auf. "Ich weiß, wo sie sind! In den Bergen dort hinten!"

Sayuri wies mit einer heftigen Kopfbewegung die Richtung. Hektisch riss sie einen Arm frei und zeigte exakt die Richtung an, die ihr Hitomi erklärt hatte.

"Dort ist das Versteck!"

Entsetzt verfolgte Hitomi, was Sayuri tat.

"Sayuri... Was...?" Die Stimme der Königin von Farnelia klang tonlos.

"Es ist nicht meine Rebellion, Hitomi," sagte Sayuri fest. "Es ist deine, eure. Aber nicht meine! Es war doch nur Zufall, dass wir uns begegnet sind!"
 

Das Luftschiff traf einige Minuten später ein. Nachdem es gelandet war, wurden die beiden Gefangenen sofort an Bord gebracht und sicher verwahrt.

In dem Augenblick, als das Luftschiff abhob, kamen drei Guymelefs auf die Lichtung. Escaflownes Cockpit öffnete sich zischend. Van starrte dem Luftschiff nach, das ohne irgendeine Reaktion auf ihre Anwesenheit zu zeigen, davonflog. Plötzlich sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. An einem der winzigen Fenster konnte er Hitomi erkennen, die irgendetwas zu rufen schien.

"Hitomi!"

Van verwandelte seinen Guymelef augenblicklich in einen Drachen und folgte dem Luftschiff. Allen und Louvain blieben zurück.

51. Absturz

Der weiße Drache schraubte sich schnell in den Himmel und hatte das Luftschiff bald eingeholt. Doch was nun?

Hilflos blickte Van zu dem Fenster hinüber, hinter dem er Hitomis Gesicht gesehen hatte. Sie stand noch immer am Fenster und winkte ihm zu. Ihre Augen waren geweitet und sie schien Angst zu haben.

"Verdammt!" fluchte Van lauthals.

Hitomi! Ich verspreche dir, ich werde dich da rausholen!

Kurz entschlossen zerrte er an den Lenkleinen von Escaflowne und steuerte den Guymelef zum Dach des Luftschiffes. Wenn er eine Chance hatte, dann dort!
 

"Leutnant! Da fliegt jemand neben uns her!" Der Pilot blickte Berengar irritiert an. Obwohl Van nur recht kurze Zeit neben dem Luftschiff verharrt hatte, war er der Aufmerksamkeit der Arkadier nicht entgangen.

"So?" Berengar zog eine Augenbraue hoch und spähte aus dem Fenster. "Ich sehe niemanden!"

"Er war aber da, Herr," bestätigte Tysain die Worte des Piloten.

"Hm..." Nachdenklich rieb sich Berengar mit der Hand über das Kinn. "Dann lasst die beiden Greifen raus... Sie werden sich schon um unseren ,Begleiter' kümmern." Der Leutnant grinste breit.

"Und für den Fall, dass er mit denen fertig werden sollte, werden wir ihm auch noch Gesellschaft leisten..." Das Grinsen auf Berengars Gesicht vertiefte sich. Auf einmal verspürte er die Lust, wieder in einem Guymelef zu kämpfen - auf der Seite der Übermacht gegen einen schwächeren Gegner.

"Tysain! Larik! Ihr kommt mit mir!"

Mit grimmigen Gesicht stapfte Berengar zu den Guymelefs, die im Hangar standen.
 

Voller Hoffnung kauerte sich Hitomi auf der schmalen Pritsche in ihrer Zelle zusammen.

Van ist hier! Jetzt wird alles gut... Hoffentlich...

Sie spürte wieder die Gefühle in sich aufkeimen, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt auf Gaia gespürt hatte, wenn Van in der Nähe war. Er hatte sie jedes Mal gerettet.

Nachdenklich legte sie die Stirn in Falten.

Und wieder einmal ist es so... Ich bin hilflos und muss darauf warten, dass er mich rettet. Irgendwie ist das verdammt frustrierend...

Kurzentschlossen sprang sie auf und trat zur Tür. Aufmerksam begutachtete sie das Schloss genauer.
 

Einige Minuten nachdem Berengar den Befehl ausgesprochen hatte, wurden die Greifen aus der Luke ins Freie entlassen. Mit einem hellen Kreischen schraubten sie sich in den Himmel. Berengar sah ihnen aus der offenen Luke nach und beobachtete, dass die beiden Tiere zielstrebig das Dach des Luftschiffs ansteuerten. Dann drehte er sich um und kletterte in einen der drei bereitgestellten Guymelefs.
 

Als Van auf dem Dach gelandet war, verwandelte er den Drachen wieder in die Kampfmaschine.

"Dann schauen wir doch mal, wie dick das Dach ist..." murmelte er leise und schlug mit aller Kraft das Schwert durch die Metallplatten. Ein Funkenschauer fegte über das Dach und er sah, dass er eine tiefe Kerbe hinterlassen hatte. Ja, die Schwertspitze war sogar durch das Dach gedrungen und hatte dem Piloten einen kurzen Schreck versetzt.

"Na also..." Mit einem zufriedenen Grinsen wollte Van weiter auf das Dach einschlagen, als ihm plötzlich ein Greif von der Seite angriff.

Vor lauten Konzentration auf das Dach war er unaufmerksam geworden, was seine Deckung betraf.

Dummkopf! beschimpfte er sich selbst und wandte sich dem Greifen zu. Das Tier griff erneut mit einem wütenden Zischen an und nicht weit hinter ihm konnte Van einen weiteren Greifen erkennen, der zielstrebig auf ihn zuhielt.

Der erste Greif schien noch jung zu sein und stürzte sich mit jugendlichem Wagemut in den Kampf. Fast tat es Van ein wenig Leid, als der Kadaver des geflügelten Tiers über das Dach rutschte und zu Boden fiel. Viel Zeit sich über das Leben Gedanken zu machen, blieb ihm jedoch nicht, da Greif Nr. 2 bereits bei ihm angekommen war und ihn weitaus besonnener und ruhiger attackierte. Dieses Tier hatte offenbar etwas mehr Erfahrung...
 

Hitomi fluchte leise vor sich hin. Wie zum Geier sollte sie dieses Schloss denn knacken können? Noch nicht einmal die klassischen Methoden wie ,Haarnadel' oder ,Kreditkarte' konnte sie anwenden, da sie beides nicht besaß.

"Das kann doch echt nicht wahr sein..." murmelte sie entnervt. Wütend verpasste sie der Tür einen Tritt. Doch anstatt damit irgendetwas in Sachen ,aufspringen', ,wackeln' oder ähnliches zu bewirken, tat ihr nur der Knöchel weh.

Bleibt mir nichts, als auf Van zu warten... Mit einem leisen Seufzer zog sie sich wieder auf die Pritsche zurück. Sie zog die Knie an und betete inständig, dass Van sie bald befreien würde.
 

Nur mit Mühe konnte Van dem zweiten Greifen beikommen. Schließlich erwischte er das Tier jedoch am Flügel, sodass es sich schmerzerfüllt kreischend und fauchend zu Fuß an die Kante des Daches zurückzog.

"Also dann..."

Gerade wollte Van erneut mit dem Schwert auf das Dach einschlagen, um sich einen Weg in das Innere zu bahnen, als zwei Guymelefs über den Rand kletterten und sofort mit gezückten Schwertern auf ihn zukamen. Einen Moment später folgte ihnen ein dritter Guymelef.

Langsam etwas entnervt seufzte der junger Krieger und bezog mit Escaflowne Position. Für den Augenblick wirkte es so, als wenn er einen Angriff der Drei abwarten würde, doch gerade in dem Augenblick, als er davon ausgehen konnte, dass sie sich in Sicherheit wiegten, stürmte er los.

Larik hatte trotz all seiner Erfahrung keine Chance. Berengar und Tysain wehrten Vans Attacke zwar ab, doch Larik, der hinter ihnen stand, sah den Guymelef von Isparno zu spät auf sich zukommen. Mit einem gezielten Stoß zerstörte Van den Energiekristall des feindlichen Guymelefs. Im gleichen Atemzug wirbelte er herum und stellte sich den anderen beiden Angreifern.

Berengar wechselte einen kurzen Blick mit Tysain und der Untergebene verstand. Der helle Guymelef stand bereits sehr dicht an der Kante und diese Chance konnten sie vielleicht für ihre Gunsten nutzen...
 

Van merkte sofort, dass ihn die beiden Guymelefs immer weiter auf die Kante zutrieben. Einen winzigen Moment bevor er abstürzte, verwandelte er Escaflowne erneut in einen Drachen und schwang sich in die Luft.
 

"Der weiße Drache!" keuchte Berengar überrascht.

"Escaflowne!" Tysain erkannte den berühmten Guymelef ebenfalls. Aus dem Fenster heraus hatte er vorhin nicht genau erkennen können, was dort neben ihnen geflogen war, doch jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es rankten sich schließlich genügend Geschichten um den Guymelef von Isparno. Keiner von ihnen hatte jedoch damit gerechnet, ihn jemals in Aktion zu erleben.
 

Krachend landete Escaflowne hinter den beiden Guymelefs, verwandelte sich zurück und griff erneut an. Nun kam Berengar selbst an der Dachkante ins Taumeln, konnte sich jedoch doch einen waghalsigen Sprung nach vorne vor einem Sturz in die Tiefe retten. Er rempelte Escaflowne an und gemeinsam rutschten sie über das Dach, prallten gegen den funktionsuntüchtigen Guymelef von Larik und stießen ihn über die gegenüberliegende Kante hinunter. Laut schlug er in dem Wald unter dem Luftschiff auf.

"Tysain!" Berengars Stimme gellte über das Luftschiff. Taumelnd kam der Leutnant wieder auf die Beine.

Van hatte Escaflowne gerade ein weiteres Mal verwandelt, als ihn der feindliche Guymelef ansprang und ihn in einer tödlichen Umarmung mit hinunter riss.

Verdammt!

Verzweifelte versuchte Van den klammernden Griff des Guymelefs zu lockern, indem er Escaflowne hin- und herwand, erreichte damit jedoch nichts.

Als letzte Lösung blieb ihm nur noch die Flucht. Entschlossen sprang er von Escaflownes Rücken und breitete seine Flügel aus. Er blickte zurück, während ihn der Wind packte und von den beiden Guymelefs fortschleuderte. Escaflowne verwandelte sich wieder zurück und gemeinsam schlugen die beiden Guymelefs im Wald auf.

Van konzentrierte sich darauf, seinen Flug zu steuern, doch die Aufmerksamkeit, die er dem Fall der beiden Kampfmaschinen geschenkt hatte, verlangte nun seinen Preis. Er prallte schmerzhaft gegen die Äste einiger hoch gewachsener Bäume, da er sich nicht mehr rechzeitig hochschwingen konnte. Ein Ast schlug krachend gegen einen seiner Flügel und er konnte hören, wie der Knochen brach. Mit einem gellenden Schmerzschrei, der weit hinaufhallte, stürzte er, immer wieder von Ästen aufgefangen und weitergereicht, dem Boden entgegen.

52. Trümmerhaufen

Allen und Louvain brauchten zwei Stunden, bis sie Van im Wald gefunden hatten. Die beiden hatten sich entschlossen, dem Luftschiff zu Fuß zu folgen, für den Fall, dass es landen würde oder Van es zum Absturz brachte. Aus der Ferne hatten sie dann jedoch den Absturz von Escaflowne mit ansehen müssen. Besorgt hatten sie sich beeilt, den jungen Kämpfer aufzustöbern und jetzt hatten sie Van endlich gefunden.

Allen sprang aus dem Cockpit von Scheherazade und rannte zu dem Freund, der zusammengekrümmt und blutend auf dem Waldboden lag. Vans Atem ging flach, aber regelmäßig.

"Allen..." Van schenkte dem blonden Ritter ein schiefes Lächeln. Als Louvain neben dem Ritter auftauchte, begrüßte Van auch diesen auf die gleiche Art.

"Hitomi... Sie haben... Hitomi..." Der schwarzhaarige Mann keuchte leise. Das Sprechen strengte ihn mehr an, als er sich selbst eingestehen wollte. Jedoch spürte er, dass er keine ernsthaften Verletzungen davon getragen hatte - nur einige schmerzhafte Prellungen und Abschürfungen.

"Van... Wir müssen dich zurückbringen. Wo ist Escaflowne?" fragte Allen.

Langsam richtete sich Van auf und ließ sich dann von seinen Freunden auf die Füße ziehen.

"Irgendwo da..." Der König von Farnelia zeigte mit dem Arm ostwärts in den Wald.

"Meinst du, er ist noch zu gebrauchen?" erkundigte sich Louvain sorgenvoll.

"Keine Ahnung..." murmelte Van leise und taumelte mehr schlecht als recht in die Richtung, in der er Escaflowne vermutete.

"Natürlich ist er noch zu gebrauchen!" knurrte Allen. "Denk an den Blutpakt zwischen den beiden. Wenn es Van einigermaßen gut geht, dann Escaflowne auch!"

Damit reichte er Van seinen Arm, damit dieser sich darauf stützen konnte und Van nahm das Angebot stillschweigend an.

"Was ist passiert, Van? Wir haben nur gesehen, wie du abgestürzt bist..." Allen zog Van Schritt für Schritt mit sich mit.

"Ich wollte Hitomi befreien... Und wurde von zwei Greifen und drei Guymelefs angegriffen... Einer der Guymelefs hat mich in die Tiefe gerissen..."

Louvain eilte bei dem Wort ,Guymelef' voraus, um die Lage zu sichten, während Allen bewusst langsamer ging. Sie wollten nicht alle zugleich in einen feindlichen Guymelef hineinlaufen. Selbst wenn dieser beschädigt war und sich unter den eng stehenden Bäumen kaum bewegen konnte, würde er doch einen gefährlichen Gegner darstellen.

"Ich habe sie!" Da Louvains Stimme laut und kaum zu überhören durch den Wald hallte, nahm Allen sofort an, dass keine Gefahr mehr in der Nähe sein konnte, und steigerte das Tempo wieder. Van keuchte leicht und hielt sich seine Rippen, sagte aber nichts.

Einige Augenblicke später erreichten sie den Landepunkt der beiden Guymelefs. Der arkadische Gigant war vollkommen zerschmettert. Überall lagen Teile von ihm - ein Stück des Schwertes steckte knapp hundert Meter entfernt in der Erde, ein Arm hing über einem Ast. Der Mann darin hatte nicht überlebt.

Van starrte die Trümmerstücke an und fragte tonlos: "Und Escaflowne?"

"Ich sehe grad nach!" Louvain zerrte einige Trümmerstücke von Vans Guymelef herunter, der sich tief in die Erde gebohrt hatte.
 

Der schmerzvolle Schrei, in dem sie Vans Stimme unzweifelhaft erkannt hatte, gellte noch immer in Hitomis Ohren.

"Van..." Tränen standen ihr in die Augen und sie schluchzte leise. Sie betete nur, dass er überlebt hatte, was auch immer geschehen war.

Rastlos sprang sie auf und versuchte, durch das Fenster etwas zu erkennen, doch mehr als Bäume unter und blauen Himmel über sich, konnte sie nicht sehen.

"Verdammt!" Wütend schlug sie mit der Hand gegen das Glas. Einen Augenblick später presste sie sie gegen die Brust und unterdrückte nur mit Mühe ein leises Schmerzgeheul.

"Ach, Van..." Sie lehnte die Stirn gegen das kalte Glas. Alles erschien ihr so hoffnungs- und aussichtslos.
 

Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht schritt Berengar auf die Brücke.

"Alles erledigt!"

Der Pilot nickte nur und konzentrierte sich wieder auf den Kurs. Bald würden sie das Basislager erreichen.

Einen Moment lang stand der Leutnant schweigend auf der Brücke, dann wandte er sich abrupt um, griff nach einer Karte der Umgebung und marschierte in den Zellentrakt zurück. Ihm war eine Idee gekommen...

Vor der Tür zu Sayuris Unterkunft blieb er stehen. Er setzte ein falsches Lächeln auf und trat ein. Sayuri saß teilnahmslos auf dem Bett. Als sie den Kopf hob, stand in ihren Augen ein vorwurfsvoller Ausdruck.

"Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nichts mit dieser verdammten Rebellion zu tun habe! Ich bin unschuldig!"

Sie sprang auf. Schmal und zierlich stand sie vor Berengar, der sie nur abschätzig ansah und sich dann auf ihrer Bettkante niederließ.

"Das fällt schwer zu glauben... Du hast uns die Richtung gezeigt, wo wir das Lage finden können. Du weiß also etwas. Und nun... Zeig mir auf der Karte, wo genau das Lager ist." Er zog die Karte hervor und breitete sie auf Sayuris Bett auf.

"Ich weiß es aber nicht!"

"Mädchen, das ist keine Bitte! Das ist ein Befehl! Und du machst es, wenn du weiterleben willst!" Berengars Stimme hallte wie ein Donnerschlag durch den Raum. Er packte Sayuri am Arm und zog sie zu sich herunter.

"WO?"

Zitternd vor Angst schloss Sayuri die Augen. Sie konzentrierte sich auf das, was sie bisher in ihrem Leben immer gekonnt hatte: Informationen finden. Aus irgendeinem Grund hatte sie die Begabung, dass ihr Wissen, das sie dringend brauchte - insbesondere, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben davon abhing - zuflog. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und sich zu konzentrieren. Doch diesmal funktionierte es nicht. Sie stieß nur auf ein nebeliges, graues Nichtwissen, eine Wand, die verhinderte, dass sie das Wissen erlangte, das sie brauchte.

"Bitte..." stammelte sie leise. "Bitte..."

Tränen der Erschöpfung und Verzweiflung rannen ihr über die Wangen und sie konzentrierte sich noch mehr. Ihr Geist tastete diese neblige Wand immer wieder ab, immer verzweifelter und hektischer, jedoch immer noch ohne Ergebnis.

Plötzlich drängte sich eine sanfte, fast liebevolle Stimme in Sayuris Gedankenwelt.

"Weil du nicht von hier bist... Weil du nicht hier sein solltest... Weil es nicht dein Kampf ist...." wisperte die Stimme und gab Sayuri den Blick frei.

Hektisch schlug das rothaarige Mädchen die Augen auf und presste den Finger auf einen einzelnen Punkt auf der Karte.

"Es ist ein Höhleneingang. Gesichert mit einer getarnten Holztür..." flüsterte sie leise.

Dann verließen sie ihre Kräfte und sie sackte ohnmächtig zusammen. All ihre Energie hatte sie auf diese geistige Suche verwendet. Berengar schenkte ihr noch einen kurzen Blick und markierte die angezeigte Stelle auf der Karte. Danach stand er auf und verließ den Raum. Bayliss würde sich über diese Information mehr als nur freuen - und Berengar hatte nicht die Absicht, sie ihm über Jarrow zukommen zu lassen.

53. Zwischenstopp

Das Luftschiff landete knapp eine Stunde später in dem Lager der arkadischen Soldaten. Obwohl Jarrow bereits über die Gefangennahme Hitomis unterrichtet worden war, freute er sich darüber, dass seine Ahnung richtig gewesen war und er die gefangene Königin von Farnelia persönlich zu seinem Herrscher bringen konnte. Direkt nach der Landung rief er Berengar zu sich in sein Zelt, um das weitere Vorgehen, abzusprechen.

"Herr." Steif stand Berengar mitten im Raum und weigerte sich, sich zu verbeugen, wie es sich seinem vorgesetzten Offizier gegenüber gehört hätte.

"Berengar, Ihr werdet das Lager leiten, so lange wie ich unterwegs bin, um dem Kaiser höchstpersönlich unsere Beute zu bringen..." Jarrow lächelte leicht.

"Herr." Das kurze Wort war die einzige Reaktion des Leutnants.

"Was habt Ihr über den Aufenthaltsort der Rebellen herausgefunden?" Jarrow runzelte angesichts der Schweigsamkeit seines Untergebenen die Stirn.

Vielleicht habe ich ihn doch zu sehr niedergehalten und eingeschränkt...

"Nicht viel, Herr." Berengars Stimme klang kalt und ausdruckslos.

"Das ist bedauerlich..." Jarrow seufzte leise. "Ich möchte nämlich, dass Ihr Euch um das weitere Vorgehen in dieser Region kümmert. Führt weitere Suchaktionen durch - und wenn ihr das Versteck findet, dann ruft die Armee zusammen und greift an."

Jarrow begann in dem Zelt auf und ab zu laufen und hielt schließlich inne.

"Wenn Ihr natürlich neue Informationen hättet, dann könnten wir die Armee bereits jetzt zusammenziehen und damit deutlich Zeit sparen. Es ist schließlich schon fast Abend - und ein Angriff auf die Rebellen sollte möglichst bald und möglichst überraschend erfolgen..."

Ein leichter Hauch von Bedauern lag in der Stimme des Kommandanten.

Berengar befand sich nun in einem Zwiespalt. Jarrow würde so oder so bei dem Angriff nicht anwesend sein, was bedeutete, dass ihm - Berengar - aller Ruhm bei der anstehenden Schlacht gebühren würde. Allerdings: Wenn Jarrow jetzt den Befehl übermittelte, würde man ihm den Gewinn dieser Information zurechnen - zugleich würde das aber auch eine schnellere Bewegung der Truppen bedeuten. So schnell, dass sie vermutlich morgen Nacht angreifen konnten... Der hünenhafte Elitekrieger kam zu einem Entschluss.

"Zweitausend Soldaten sollten reichen, Herr. Ruft die Armee zusammen. Wir wissen, wo sie sich aufhalten," sagte der Leutnant schließlich und behielt dabei seine starre, ausdruckslose Haltung bei.

"Das werde ich..." Jarrow lächelte. "Ich wünsche Euch viel Erfolg für Euer Unternehmen..."

Damit wandte er sich um und betätigte das Kommunikationsgerät.
 

Mit einem freudestrahlenden Ausdruck im Gesicht lief Bayliss durch die Gänge der fliegenden Festung zu dem Thronsaal. Sein Kopf war gerettet, da er Tassilo nun endlich den Erfolg ihrer Mission melden konnte.

Bayliss stürmte derart in den Thronsaal, dass er bei seiner Verbeugung auf die Knie fiel und bis vor die Stufen rutschte, die zu dem Thron empor führten.

Tassilo, der sich gerade wieder mit Mignon beschäftigt hatte, hob überrascht den Kopf.

"Du wirkst heute sehr euphorisch, Bayliss..." Der rothaarige Kaiser zog eine Augenbraue hoch. "Was ist der Anlass?"

"Herr, wir haben die Königin von Farnelia gefasst. Sie ist bereits zusammen mit Kommandant Jarrow auf dem Weg hierher. Wir rechnen damit, dass sie im Laufe des morgigen Tages ankommen wird."

"Das ist ausgezeichnet Bayliss!" Tassilo sprang freudig auf und klatschte in die Hände. Mignon griff die Geste sofort auf und tanzte klatschend und lauthals singend durch den Saal. Der Kaiser schenkte dem Kind jedoch keine weitere Aufmerksamkeit, sondern konzentrierte sich ganz auf Bayliss.

"Noch glücklicher wäre ich, wenn die Rebellen gefasst würden..." Sein Lächeln gewann sofort etwas Unangenehmes.

"Herr, das wird in der morgigen Nacht der Fall sein. Leutnant Berengar hat in Erfahrung gebracht, wo sich das Lager befindet und zieht gerade die Armee zusammen. Morgen Nacht wird der Angriff beginnen." Bayliss hielt den Kopf krampfhaft gesenkt. Ihm fehlte der Mut, Tassilo in die Augen zu blicken.

"Bayliss, das ist wundervoll!"

Tassilo ergriff den Arm des Generals und zog ihn hoch. Er lächelte Bayliss freundlich und beinahe schon liebevoll an.

"Und jetzt geh, mein Sohn. Ich denke, du hast viel zu tun. Ich werde deine guten Dienste aber nicht vergessen..." Damit drückte er dem vollkommen überraschten Bayliss einen Kuss auf die Wange. Sofort danach wandte sich der Diktator wieder Mignon zu.
 

"Es ist so weit!" Mit einem zufriedenen Knurren beobachtete der Manticor das Geschehen. "Wir werden sie bekommen und siegen!" Er lachte grollend.

"Tassilo! Sorge dafür, dass die Drachenkinder und meine Tochter nicht verletzt werden! Lass sie zu dir bringen - und damit auch zu mir!" befahl er seinem menschlichen Verbündeten.

Im gleichen Moment zuckte er jedoch zusammen, als wenn er Schmerzen hätte. Die unbändige Energie, die ihm die Herrin vom See gebracht hatte, wollte sich noch nicht ganz fügen - er hatte sie noch nicht gänzlich absorbiert. Doch sobald das der Fall war, würde er tun, weswegen er die Allianz mit dem menschlichen Herrscher überhaupt eingegangen war.

"Ja...." Trotz seiner Schmerzen lächelte der Manticor wieder. "Und dann werde ich allein über Gaia herrschen..."
 

"Ich glaube, es sieht gar nicht so schlimm aus..." Louvains Stimme klang zuversichtlich aus dem Trümmerhaufen hervor.

"Wirklich?" Van zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Auch wenn Allens Worte über den Blutpakt zutreffend waren und er selbst deutlich schwerer verletzt hätte sein müssen, wenn Escaflowne ernsthaft beschädigt worden war, konnte er sich nicht vorstellen, dass dem nicht so war.

"Nun ja..." Der vollkommen verdreckte Löwenmann schob sich aus dem Haufen an Guymeleftrümmern. "Das hier oben ist alles von dem Arkadier... Escaflowne ist ein bisschen verkratzt- aber das scheint es auch schon zu sein..." Louvain lächelte zuversichtlich. "Wir müssen ihn nur noch hier herausbekommen."

"Tja..." Allen rieb sich mit der Hand über das Kinn und betrachtete die Szenerie. "Wir müssen das Cockpit frei räumen und dann muss Van Escaflowne steuern. Es hilft nichts - das scheint die einzige Lösung zu sein..."

Louvain nickte zustimmend.

"Allerdings... Du solltest dich jetzt ausruhen, Van. Allen und ich werden das Cockpit in der Zwischenzeit frei legen."

Van nickte langsam und ließ sich unter einem Baum nieder. Keuchend vor Schmerzen presste er die Hand gegen die geprellten Rippen.

Prellungen und Schürfwunden - nur kleine Verletzungen, aber schmerzhaft ohne Ende...

Er seufzte leise. Während er körperlich einigermaßen Ruhe fand, tobten seine Gedanken. Wie es Hitomi gehen mochte? Lebte sie noch?

All diese Ungewissheit machte den jungen Krieger fast wahnsinnig, jedoch sah er sich im Moment nicht in der Lage, irgendetwas zu tun, um die Dinge zu verbessern. Im Moment musste sein primäres Ziel sein, Escaflowne zu bergen und seine Verletzungen einigermaßen zu heilen - und dann würde er Hitomi befreien.

54. Sorgen

"Sie bleiben lange fort..." murmelte Merle leise. Sie stand in einem Spalt des großen Holztores und blickte die Hügel hinab. Die Nacht kroch langsam über die Wiese und hüllte alles in ihr dunkles Gewand.

"Mach dir keine Sorgen, Merle," sagte Milerna hinter ihr leise. "Sie werden wieder kommen. Alles wird wieder gut."

Die Katzenfrau drehte sich um und lächelte die blonde Prinzessin an. "Ich hoffe es..." Sie seufzte leise auf ihre katzenhafte Weise.

"Vertrau ihnen, Merle. Vertrau Louvain, Allen und Van..." Doch obwohl Milerna versuchte, zuversichtlich zu klingen, war auch ihre Stimme schwach und müde.

"Ihr solltet beide schlafen gehen..." Eries' strenge Stimme rüttelte die beiden Frauen aus ihrer Sorge. "Ihr könnt noch stundenlang hier draußen stehen - und niemand kann euch eine Garantie geben, dass etwas geschehen wird. Kommt."

Energisch fasste sie sowohl Merle als auch Milerna am Arm und zog die beiden von der Tür weg. Dann nickte sie dem diensthabenden Soldaten zu, der das Tor nun schloss.

"Wir werden jetzt etwas essen und danach gehen wir alle drei ins Bett..."

"Ach, Eries..." Milerna seufzte leise. "Wieso musst du nur so streng sein?"

"Weil ihr morgen gebraucht werdet. Deswegen." Die Königin von Asturia zog ihre Begleiterin mehr oder weniger liebevoll mit sich mit.
 

Merle und Milerna waren nicht die einzigen Angehörigen der kleinen Rebellenschaft, die sich Sorgen machten. Es herrschte eine allgemeine Unruhe in den Tunneln und Höhlen. Dass sowohl Van Farnel als auch Allen Schezar und Louvain noch nicht zurückgekehrt waren, hatte sich schnell herumgesprochen und sorgte für die wildesten Spekulationen. Nicht gerade selten fiel der Verdacht, dass sie gefangen genommen worden wären.
 

Ivory hockte auf der Bettkante von Alexanders Krankenlager im Lazarett. Sie hielt seine Hand und streichelte sie beständig, obwohl sie nicht wusste, ob er ihre Berührungen spüren konnte. Die Wolfsfrau seufzte leise. Immer noch wusste Milerna nicht, ob Alexander durchkommen würde und bis auf einen ruhigen Schlaf, hatte sich sein Zustand kein bisschen gebessert. Nun, Milerna hatte betont, dass Schlaf das Beste für Alex' geschundenen Körper war, doch Ivory hatte viel darum gegeben, wenn ihr Freund sie nun ansehen würde.

Erneut seufzte Ivory leise. Die Tatsachen, dass Hitomi verschwunden war, dass Van, Allen und Louvain ausblieben und besonders dass Alexander um sein Leben kämpfte, machten ihr zu schaffen. Auch fragte sie sich, ob mit Hitomis Guymelef wirklich alles in Ordnung gewesen war, oder ob sie als Mechanikerin irgendeine Schuld an Hitomis Zurückbleiben traf.

Verdammt... Die Dinge werden immer schlimmer... Und nichts scheint die Entwicklungen aufhalten zu können...
 

Auriana und ihre beiden Kinder lagen zusammen in einem Bett. Eng aneinander gekauert, versuchten sie sich gegenseitig Halt zu geben. Laures und Lauria hatte das plötzliche Verschwinden ihres Vaters mehr mitgenommen, als sie irgend jemanden eingestanden hätten. Lauria kuschelte sich enger an Laures, der sie sanft mit seinen Armen umfing und an sich zog. An Laures' Rücken wiederum drückte sich Auriana, auf der Suche nach etwas Wärme und Geborgenheit. Auch die blonde Prinzessin sorgte sich um Van. In ihrem Inneren tobten verschiedene Gefühle, wenn sie an ihn dachte. Einerseits war sie wütend und verletzt, weil er sie mit seiner Zurückweisung verletzt hatte, andererseits hatte sie aber mit genau diesem Verhalten gerechnet und verzieh ihm. Ja, sie machte sich vielmehr Vorwürfe für ihr eigenes Verhalten.

Er liebt seine Hitomi nun einmal so sehr...

Auriana seufzte leise. Sie brachte Van eine Menge Zuneigung entgegen, doch sie wusste auch, dass diese niemals an Hitomis Liebe zu ihm heranreichen konnte. Vielleicht war sie Hitomi gegenüber deswegen immer so reserviert gewesen.

Eifersucht? Nein! Oder doch?

Schweigend starrte Auriana in die Dunkelheit des Quartiers. Ihre Gedanken wanderten von Van zu Hitomi und wieder zurück. Sie ahnte nichts Gutes. Dass Van so lange fort blieb, bedeutete für sie, dass etwas geschehen sein musste. War er gefangen genommen worden? Hatte er Hitomi gefunden und trieb sich nur herum? War er im Kampf gefallen?

Irgendwann hielt die blonde Prinzessin es nicht mehr aus und stand auf. Leise verließ sie den Raum. Laures und Lauria blieben allein zurück und kuschelten sich nun, da ihre Mutter die Zweisamkeit nicht mehr störte, nur noch enger aneinander.
 

Van war unter dem Baum eingeschlafen. Allen stand mit einem leichten Lächeln vor ihm und betrachtete den jungen Krieger.

"Ich wünschte, wir könnten ihn schlafen lassen. Er braucht so dringend Ruhe..." murmelte der Ritter leise.

"Ich weiß." Louvain atmete schnaufend aus. "Aber wir müssen uns auf den Weg zurück machen. Vans Verletzungen müssen versorgt werden. Und wir müssen uns überlegen, was wir jetzt unternehmen sollen. So oder so: Wir müssen zurück. Und je eher, desto besser..."

Allen nickte nur, ging auf die Knie und berührte Van sanft an der Schulter.

"Van, es ist so weit... Du kannst jetzt in Escaflowne steigen und sehen, ob du deinen Guymelef frei bekommst..."

Schlaftrunken blickte der junge König den Ritter des Himmels an.

"Ja, ja..." Mühsam rappelte er sich auf und konnte im ersten Moment nur mit Louvains und Allens Hilfe das Gleichgewicht halten.

"Meinst du, dass du das schaffst?" fragte Louvain besorgt.

"Ich muss." Van grinste schief. "Welche andere Möglichkeit gibt es denn?"

Damit taumelte er mehr als er ging zu dem Trümmerhaufen hinüber und kletterte in das freigelegte Cockpit seines Guymelefs. Mit einem lauten Krachen und Rumpeln von herunterstürzenden Guymelefteilen richtete sich Escaflowne auf. Schrammen zierten seinen grauen Panzer, einige Verzierungen waren vollständig zerstörte worden und der rot-blauer Mantel war nur noch ein Fetzen. Dennoch stand der Guymelef von Isparno beinahe unbeschädigt zwischen den Bäumen.

"Gib uns fünf Minuten, dann sind wir mit Scheherazade und Castillo bei dir!" rief Allen Van zu und gemeinsam mit Louvain rannte er los.

55. Im Gange

"Bayliss..." Tassilo trat näher zu seinem General, welcher wiederum unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Der Kaiser hatte Bayliss zu sich rufen lassen, um den Auftrag des Manticors weiterzugeben.

"Diese hier müssen verschont werden..." Der bluthaarige Mann drückte dem General eine Liste in die Hand. "Ich will sie lebend!"

Bayliss nickte. Noch immer standen dem alternden General die Bilder der letzten Begegnung mit seinem Kaiser vor Augen. Was würde dieses Mal geschehen?

Tassilo wandte sich ab und schritt zu seinem Thron zurück.

"Geh schon!" Ungeduldig winkte er mit der Hand und Bayliss kam dieser Aufforderung mit einem unterdrückten Seufzer nach.

Er wird mir immer unheimlicher... dachte er, während er durch die Gänge zum Kommunikationsraum eilte. Berengar musste schnellsten über diese Liste unterrichtet werden.
 

Die Nachricht erreichte Berengar, als er gerade seine Truppen zusammenzog und alles für den Angriff in der nächsten Nacht vorbereitete.

"Was für ein Idiot!" grollte er, als er die Liste überflog. "Da sind ja alle Anführer der Rebellen drauf!" Empörte knüllte er die Liste zusammen und warf sie durch das gesamte Zelt. "Was für ein Schwachsinn! Sie sollten bluten und im Dreck liegen, anstatt in unsere Gewalt zu kommen!"

Tassilo hatte auf diese Namensliste nicht nur die vom Manticor gewünschten Drachenkinder gesetzt, sondern alle adligen Anführer, die die Rebellen besaßen. Der Diktator befand, dass es ihm zustand, diese später öffentlich hinrichten zu lassen, um diese unsinnige Rebellion endgültig zu brechen. Solch eine Demonstration von Macht und Grausamkeit fand er weitaus sinnvoller, als sie einen Märtyrertod im Kampf gegen ihre ,Unterdrücker' sterben zu lassen.

"Argh!" brachte der Elitesoldat noch hervor, dann grabschte er nach dem zerknüllten Blatt und strich es wieder glatt.

"Befehl ist Befehl..." murmelte er leise und seufzte. Er würde ihm nachkommen, auch wenn er diesen Befehl grundsätzlich ablehnte.

"Saiya!" brüllte er und ein schmaler junger Mann, der vielleicht gerade fünfzehn Jahre alt war, stürmte ins Zelt. "Vervielfältige das und sorg dafür, dass jeder Bescheid weiß, von wem er die Finger lassen soll!"

"Aye Sir!" Der Junge salutierte stramm und schoss sofort davon.

"Was für ein Mist..." knurrte Berengar leise und ließ sich in einen Stuhl fallen. Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. Sein Kopf dröhnte.

Während er sich langsam mühsam entspannte, fiel ihm etwas ein. Er hatte vergessen, sein Versprechen gegenüber der Königin von Farnelia wahr zu machen. Er hatte sich nicht um sie ,gekümmert'.

Ein Schatten der Enttäuschung huschte über sein Gesicht, dann griff er nach seinem vollen Weinbecher und schleuderte ihn wütend gegen die weiße Zeltwand. Rot ergoss sich die Flüssigkeit darüber und gab ihm einen Vorgeschmack auf das bald fließende Blut.
 

Hitomi starrte vor sich hin. Sie war müde und erschöpft, doch sie verbot sich zu schlafen. Ihr Quartier war leer. Außer der fest an der Wand verschraubten Pritsche gab es hier nichts. Noch nicht einmal etwas zu essen oder zu trinken hatte man ihr seit den Stunden ihrer Gefangennahme gebracht. Nicht, dass sie Appetit gehabt hätte. Aber sie verspürte dennoch langsam bohrenden Durst. Irgendwie überraschte sie diese Behandlung nicht. Das war genau das, was sie den arkadischen Soldaten zutraute.

Plötzlich sprang die Tür auf und ein Mann trat herein. Er war groß und breitschultrig, wenn auch bei weitem nicht so groß wie der Soldat, der sie festgenommen hatte. Rötliches Haar hing ihm in die Stirn und seine grauen Augen hätten warm wirken können, wenn dort nicht dieser Schein von Stahl gewesen wäre.

"Königin Hitomi, willkommen an Bord. Ich bin Kommandant Jarrow und werde Euch zur fliegenden Festung bringen." Er verbeugte sich knapp.

Überrascht nahm Hitomi diese Höflichkeit war. Das hatte sie nicht erwartet.

"Wir sind nicht alle wie Berengar," sagte Jarrow mit einem leichten Lächeln. "Hier ist etwas zu Essen, falls Ihr Hunger haben solltet. Verzeiht, dass Ihr kein Besteck bekommt. Das ist uns zu riskant."

Auf seinen Wink hin stellte ein Soldat einen Becher Wasser und einen Holzteller mit einem seltsamen Brei und etwas Brot ab. Dann verließen die beiden den Raum.

Hitomi seufzte leise. Eigentlich hatte sie weder Appetit noch Lust, dieses seltsame Zeug zu essen, aber es brachte niemandem etwas, wenn sie sich selbst schwächte. Sie ließ sich neben dem Teller auf die Knie sinken und begann mit den Händen zu essen. Obwohl das Zeug reichlich seltsam aussah, schmeckte es wenigstens einigermaßen. Sie hatte in der Schulmensa deutlich schlimmeres gegessen.
 

Van, Allen und Louvain schlugen sich weiter durch den Wald. Sie kamen wenigstens einigermaßen voran. Als sie endlich die Steigung erreichten, die zu ihrem Versteck empor führte, war die Sonne längst über den Horizont gekrochen und stand schon hoch.

"Wir haben lange gebraucht..." murmelte Van leise. Sein ganzer Körper schmerzte und er musste all seine Kraft aufbringen, um nicht hier, so kurz vor dem Ziel, aufzugeben.

"Es geht." Louvain grinste schief. "Für unseren Zustand sind wir verdammt gut."

Allen nickte zustimmend.

"Kommt, den Rest schaffen wir jetzt auch noch..." Ein wenig Aufmunterung lag in Allens Stimme. Der blonde Ritter hielt es schon beinahe für ein Wunder, dass sie überhaupt hier angekommen waren. Er verstand immer noch nicht so genau, warum Escaflowne bei diesem Sturz nichts geschehen war - aber er hatte eine Vermutung. Die Situation erinnerte ihn daran, wie sich Escaflownes Schäden auf Van übertragen hatten. Diesmal schien es umgekehrt gewesen zu sein - Van war geflogen und hatte den Boden einigermaßen heil erreicht und so vielleicht Escaflowne vor der Zerstörung gerettet. Das war eine gewagte Theorie, aber eindeutig dafür sprach, dass sich Escaflownes Kratzer und Vans Schrammen verblüffend entsprachen. Allen fragte sich nur, was mit Vans gebrochenem Flügel war - Würde Escaflowne auch nicht mehr fliegen können?

Als Escaflownes Faust an die mittlerweile sehr gut mit Farbe und Gestrüpp getarnte Tür hämmerte, wurde sie erst nach einer ganzen Weile geöffnet. Van blickte hinein und sah fast der gesamten Rebellenschaft entgegen.

"Van! Louvain!" Merles Stimme gellte über die gesamte Menge und blitzschnell war die Katzenfrau bei den ankommenden Guymelefs.

"Allen!" Milerna stand ihr in Sachen Lautstärke kein bisschen nach.

"Sie sind wieder da!" Der Ruf verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Rebellen.

56. Hitomis Traum

Irgendwann hatte die Erschöpfung gesiegt und Hitomi war eingeschlafen. Sie träumte unruhig von den Geschehnissen des Tages: von dem endlosen Weg durch den Wald, von ihrer Flucht, dem toten Soldaten, Sayuris Verrat und immer wieder von Vans lautem Schrei. Mitten in einem weiteren Traum, in dem sie hilflos Vans lauten Schrei hörte und ihm beim Sturz in den Tod zusehen musste, kippte die Szenerie und Hitomi fand sich auf einmal auf einem Hügel vor den Toren Farnelias wieder. Sie blickte hinab auf eine teils grasbewachsene, teils bewaldete Ebene. Einige Kinder des nahen Bauernhauses spielten im Gras und nicht weit von ihnen entfernt ästen ein paar hirschähnliche Waldtiere. Vögel zwitscherten und ein kleiner Bach gluckerte leise vor sich hin. Die Szenerie war der Inbegriff der absoluten Idylle.

Wind griff in Hitomis Haar und zerrte an den Strähnen, während die junge Frau dieses Wirklichkeit gewordene Abziehbild betrachtete.

"Warum kann es nicht immer so sein?" fragte eine leise Stimme neben ihr.

Hitomi drehte sich zur Seite und sah ein wunderschönes, menschenähnliches Wesen neben ihr stehen. Es hatte bodenlanges, silbern glänzendes Haar und eine eigentümlich schimmernde, goldene Haut. Hitomi wollte es für einen Menschen halten, doch alles an seiner Ausstrahlung hinderte sie daran. Diese Gestalt mochte einem Menschen ähnlich sehen, aber sie war niemals einer.

Der Wind wehte sanft durch sein prächtiges Haar und zupfte spielerisch an seinem langen, weißen Gewand. Die Luft um die Gestalt flimmerte in den verschiedensten Farben. Hitomi war sich nicht sicher, ob dieses Wesen männlich oder weiblich war, da es vollkommen androgyn wirkte.

"So viel Frieden... Und dort draußen gibt es nichts als Krieg und Hass..."

Das sanfte Gesicht verdüsterte sich.

"Die Welt ist nun einmal nicht perfekt," sagte Hitomi leise.

"Warum nicht?" Mit schräg gelegtem Kopf blickte die schöne Gestalt Hitomi fragend an. Das silberne Haar fiel ihr wie ein glänzender Wasserfall über die Schultern.

"Ich weiß nicht... Vielleicht weil die Menschheit nicht perfekt ist. Sie zerstört immer alles, giert nach Macht und begreift nicht, wo die Grenzen liegen..." Nachdenklich starrte Hitomi vor sich hin.

"Wäre es also ohne die Menschen besser?"

Hitomi zuckte ratlos mit den Schultern. "Aber das Leben entwickelt sich weiter und irgendwann gibt es vielleicht eine Rasse, die den Menschen ähnlich ist. Das Leben findet immer einen Weg..."

"Liegt es dann am Leben?"

Das Wesen machte keinerlei Bewegung, die den plötzlichen Wechsel ihres Ortes ankündigte und befahl, aber Hitomi wusste trotzdem sicher, dass es irgendetwas getan hatte. Denn jetzt standen sie auf den Klippen von Asturia und Hitomi blickte auf das Meer hinab.

"Das Leben an sich ist nicht schlecht. Gras und Bäume - auch das ist Leben. Und Bäume führen keinen Krieg."

Hitomi breitet die Arme aus, als wenn sie die ganze Welt umfassen wollte.

"Also sind es die Tiere..."

"Nein! Welchen Krieg führen Kaninchen? Jedes Tier hat seinen Platz und seine Funktion. Alles ist perfekt aufeinander abgestimmt..."

"...bis der Mensch sich einmischt, Bestien schafft und Kriege führt," sprach das Wesen weiter.

"Ja..." Hitomi nickte traurig. "Irgendwie sind es doch immer die Menschen."

"Und alte Feinde, die nicht von einander lassen können, obwohl sie sich damit selbst zerstören. Wie können sie nur so blind sein? Ich habe sie aneinander gekettet, damit sie aufhören, doch das tun sie nicht. Ich habe sie gewarnt und mit ihrer Vernichtung gedroht, doch sie lassen nicht ab. Sie werden erst aufhören, wenn sie endgültig gestorben sind..."

Seine Stimme klang fest und entschlossen, aber gleichzeitig auch weich und betrübt, als ob der Gestalt diese Entscheidung nicht leicht gefallen wäre.

"Du sprichst von Drache und Manticor."

Hitomis Worte waren keine Frage, sondern eine Feststellung.

"Ja..." Das Wesen lächelte Hitomi sanft an. "Sie sind unverbesserlich und dabei sollten doch gerade Wesen wie sie anders sein. Weiser. Überlegter. Nicht so unendlich blind."

"Möglicherweise sind sie ja einfach auf ihre Art beschränkt. Vielleicht brauchen sie noch mehr Zeit, um zu lernen..."

"Wie lange denn noch?" Der Satz flog wie ein Donnerschlag über das Meer. Die Wellen bebten kurz und schlugen dann so ruhig wie zuvor an den Strand.

"Ich habe ihnen Äonen gegeben. Geduldig habe ich gewartet und gewartet. Jahrtausend um Jahrtausend. Mir bedeutet Zeit wenig - ungleich weniger als ihnen, doch sie haben nichts verstanden. Sie sind gestorben und wieder auferstanden. Wieder und wieder. Und jedes Mal haben sie sich von Neuem aufeinander gestürzt. Wieder und wieder.

Am Anfang war meine Geduld endlos, doch jetzt ist ihr Ende erreicht!"

Hitomi ließ diese Worte auf sich wirken und lauschte dem leisen Echo, das sie im Wind bewirkten. Die Erde unter ihren Füßen bebte leicht.

"Warum sprichst du mit mir darüber? Deine Entscheidung steht doch längst fest. Und du... Du bist unglaublich viel mächtiger als ich. Gegen dich bin ich unbedeutend. Ein Nichts. Warum suchst du meinen Rat?" fragte Hitomi nachdenklich.

"Weil du nicht von hier bist und ich deine Sicht hören wollte. Du bist betroffen von dem Krieg und hasst ihn so wie ich."

"Und warum nicht Sayuri?"

Hitomis Stimme klang leicht zornig. Über die Anwesenheit dieses Mädchens war sie immer noch verwirrt - und über ihren Verrat mehr als wütend.

"Weil sie nichts von diesen Dingen weiß. Und weil sie nicht hier sein sollte."

Das Wesen streckte sich etwas und lächelte Hitomi an.

"Ich danke dir für das Gespräch. Bleib noch ein wenig hier und genieße den Traum. Deine eigenen sind reichlich düster."

Damit verschwand es und die junge Frau blieb allein zurück.

Hitomi ließ sich ins Gras sinken und stützte das Kinn in die Hände.

"Seltsam... Woher kenne ich nur seine Aura?" murmelte sie leise.

57. Verhallende Warnung

Schweigend stand Auriana in der Menschenmenge und sah zu, wie Van, Allen und Louvain begrüßt wurden. Als sie Vans Verletzungen sah, erschienen tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn.

Natürlich... Du hast wieder kein bisschen auf dich selbst geachtet, nicht wahr? Alles was für dich zählte, war Hitomi... Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen. Aber das ist gut so. Gut so. Gut so...

Fast schien es ihr, als wenn sie sich selbst davon überzeugen wollte.

Aufmerksam sah sie zu, wie Van von Milerna schließlich unter lautstarken Protesten ins Lazarett gebracht wurde. Nachdenklich glitt ihr Blick über die Rebellen und sie fragte sich auf einmal, wie lange es noch so ruhig bleiben würde. Wie lange es noch dauerte, bis der Sturm los ging. Dass dies hier alles die Ruhe vor dem Sturm war, daran zweifelte sie auf einmal kein bisschen. Etwas würde geschehen. Und zwar bald. Vielleicht konnte sie Schlimmeres verhindern, nur: Wer würde ihr glauben?

Ihr Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie es offenbar verdient hatte.

"Beruhige dich, Mutter," sagte eine dunkle Stimme hinter ihr. Auriana musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es ihr Sohn Laures war, der sprach. Genauso wenig musste sie sich umdrehen, um zu wissen, dass seine Schwester neben ihm stand.

"Die Dinge gehen den Lauf..." erklang auch schon Laurias helle Stimme.

"...den sie gehen müssen," vervollständigte Laures.

So langsam hatte sich die saryanische Prinzessin an den ewigen Wechselgesang ihrer Kinder gewöhnt, dennoch besaß er immer wieder etwas befremdliches. Er hatte den Klang einer Prophezeiung und das gefiel ihr nicht.

"Vielleicht," gab sie brüsk zurück. "Aber man kann eine Änderung wenigstens versuchen!" Damit rauschte sie Richtung Lazarett davon.

"Sie wird scheitern," stellte Lauria trocken fest und schmiegte sich enger in Laures' Arm.

"Zweifellos."
 

Auriana stand unschlüssig in der Tür zum Lazarett. Ivory saß dort drinnen an Alexanders Bett. Der junge Mann war immer noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen und Prinzessin Milerna konnte auch weiterhin nicht sagen, wann dies möglicherweise der Fall sein konnte. Ja, sie wusste immer noch nicht genau, ob Vans Neffe überhaupt überleben würde.

Auf dem Lager neben Alexander lag König Van von Farnelia. Seine Augen waren geschlossen, die Stirn und sein nackter Oberkörper bandagiert. Das rechte Hosenbein war abgeschnitten und das Bein darunter ebenfalls von einem Verband bedeckt. Auriana musste unwillkürlich schlucken.

"Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht," sagte Milerna hinter ihr plötzlich. "Es sind nur Schrammen und Prellungen. Nichts lebensgefährliches." Die Prinzessin mit den violetten Augen schenkte Auriana ein freundliches Lächeln.

"Danke." Auriana lächelte unsicher zurück und trat dann schließlich zögernd an Vans Bett.

Als sie sich auf der Bettkante niederließ, öffnete der junge Mann die Augen und sah sie an.

"Hey..." sagte er leise und bemühte sich einigermaßen zuversichtlich zu lächeln. Er war müde und erschöpft, doch gleichzeitig interessierte es ihn auch, was Auriana zu ihm geführt haben mochte. In ihren Augen stand ein besorgter Ausdruck, den er von ihr nicht kannte.

"Van... Etwas wird geschehen... Es ist... Die Ruhe vor dem Sturm sozusagen," begann Auriana langsam und brach schließlich wieder ab. Sie fand einfach nicht die richtigen Worte, um auszudrücken, was ihr im Kopf herumging, was sie spürte.

"Was meinst du?" Stirnrunzelnd setzte sich Van auf.

"Etwas wird geschehen. Ich weiß nicht genau was, aber ich spüre es. Etwas schreckliches." Auriana hielt inne und sammelte ihre Gedanken. Dann sprach sie weiter. "Als ich vorhin bei den anderen in der Eingangshalle stand, da habe ich es gespürt. Das Gefühl, als wenn ich viele nie wieder sehen würde. Als wenn es das letzte Mal war, dass sie so friedlich zusammen kamen.

Etwas wird geschehen, Van. Wir sind hier in akuter Gefahr. Wir müssen fort!" Jetzt hatte sie ausgesprochen, was sie als einzige Lösung sah.

Van ließ sich mit einem leisen Seufzer in das Kissen zurücksinken und starrte zur Decke empor.

"Das können wir nicht, Auriana. Wo sollen wir denn hin? Wohin?" Er lachte heiser. "Was auch immer du spürst, was auch immer auf uns zukommen mag, wir müssen es wohl oder übel durchstehen. Aber du..." Er hob den Kopf wieder und sah ihr direkt in die Augen. "Du kannst gehen. Dies hier war" - mit einer Handbewegung umfasste er kurzerhand die Gesamtheit ihrer dürftigen Rebellion - "nie dein Plan und er ist es auch jetzt nicht. Es wird dich niemand aufhalten. Rette dich, Auriana. Das ist mein Ernst."

Die blonde Prinzessin schwieg und lächelte Van schließlich schwach an. "Du hast Recht, es war nie mein Plan. Aber ich werde nicht davonlaufen. Ich werde an eurer Seite bleiben, an deiner Seite."

Damit stand sie auf und verließ den Raum. Nachdenklich sah Van ihr nach.

Sie hat sich verändert... Sie ist...gewachsen...

"Glaubst du ihr?" Ivorys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Die Wolfsfrau blickte zu Van hinüber und in ihren roten Augen stand tiefe Sorge.

"Ja," antwortete er schlicht. "Aber wir können nichts tun. Eine Evakuierung würde zu lange dauern und uns zu einer leichten Beute machen. Wir können nicht fort. Wir können nur dem ins Gesicht sehen, was auf uns zukommt." Er musste husten und griff nach einem Glas Wasser.

"Beruhige dich, Ivory. Wir werden es schaffen. Wir müssen einfach." Van versuchte zuversichtlich zu sein, doch er war sich nicht sicher, ob ihm das gelang, denn er war sich selbst viel zu unsicher.

58. In der Höhle des Löwen

Hitomi wurde unsanft dadurch geweckt, dass sie jemand von der Pritsche hoch zerrte.

"Beweg dich, wir sind da," schnarrte eine scharfe Stimme.

Im Halbschlaf kam sie auf die Beine und sofort wurden ihr die Arme auf den Rücken gezerrt. Verwirrt blinzelte Hitomi den Sprecher an und erkannte zwei Soldaten. Der eine hatte sie angeschnauzt und der andere wollte ihr gerade die Hände fesseln. Beide waren vielleicht zwanzig Jahre alt.

"Das ist nicht nötig!" Eine Stimme wie ein Peitschenschlag durchbrach das Geschehen. Jarrow stand in der Tür. "Seit wann habt ihr Angst vor einer Frau?"

Dann traf sein Blick Hitomi und er trat bei Seite.

"Nach Euch, Mylady. Eure Freundin erwartet Euch schon draußen."

"Sie ist nicht meine Freundin!" fauchte Hitomi und schritt hoch erhobenen Hauptes an dem Kommandanten vorbei. "Sie ist ein Miststück!"

Jarrow zog nur eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Es interessierte ihn herzlich wenig, wie die Beziehung zwischen Hitomi und dem anderen Mädchen, das den seltsamen Namen Sayuri trug, aussah. Ihm ging es nur um das Prestige, das er durch die Gefangennahme der Königin von Farnelia gewonnen hatte. Die kleine Verräterin an ihrer Seite betrachtete er nur als eine nette Beigabe.

Im Flur trafen sie auf Sayuri, die von zwei Soldaten flankierte wurde. Aus rot verquollenen Augen blickte sie Hitomi an, doch diese sah durch das Mädchen mit den rotschimmernden Haaren hindurch, als wäre es Luft.
 

Es dauerte nicht lange, dann eilte die kleine Gruppe durch die verwirrenden Gänge der fliegenden Festung. Überall liefen Soldaten herum und viele blieben für einen Augenblick stehen, um sie zu betrachten. Es hatte sich herum gesprochen, dass man die Königin von Farnelia gefangen genommen hatte, aber fast jeder fragte sich, warum diese junge Frau so wichtig und interessant sein sollte. Sie sah eher unscheinbar aus mit ihrem zotteligen, hellbraunen Haar, dem Dreck an Gesicht und Kleidung und den abgelaufenen Stiefeln. Allein ihre grünen Augen schienen etwas königliches zu haben, aber das war es auch schon.

Das andere Mädchen mit seiner eigenartigen Kleidung war da schon interessanter. Es sah fremdartig aus mit seinen rotschimmernden schwarzen Haare und den rotbraunen Augen und seine Kleidung war faszinierend. Mochte ein Jogginganzug auf der Erde wenig Aufsehen erregen, so war er auf Gaia doch das Ungewöhnliche schlechthin.

Vor der Tür zum Thronsaal erwartete General Bayliss sie.

"Jarrow." Der General nickte dem Kommandanten kurz achtungsvoll zu und Jarrow erwiderte den Gruß ebenso knapp.

Bayliss atmete einen Moment durch, dann nickte er.

"Gehen wir."

Er stieß die Tür schwungvoll auf, ging einige Schritte weit und fiel auf die Knie.

"Majestät, hier sind die Gefangenen. Königin Hitomi Kanzaki und..." Er stockte angesichts des fremdartigen Namens einen Moment lang. "Sayuri... Sayuri Yanagiba."

Hitomi und Sayuri wurden direkt hinter Bayliss auf die Knie gedrückt und ihr Kopf wurde von den Wachen niedergehalten.

"Steht auf. Und lasst mich sie sehen." Die dumpfe Stimme hallte durch den ganzen Saal. Hektisch wurden die beiden Frauen wieder auf die Beine gezerrt und nach vorne geführt. Dann sprangen alle Soldaten bei Seite.

Hitomi sah sich blinzelnd um. Die Lichtquelle des Raumes lag direkt hinter dem Thron und so konnte sie nicht sehen, wer dort oben war. Sie sah nur zwei Schatten. Einen großen, breiten, der wahrscheinlich zu einem Mann gehörte und einen schmalen, der nur von einem Kind stammen konnte. Aber was sollte ein Kind hier im Zentrum der Macht zu suchen haben? Hitomi runzelte leicht die Stirn und versuchte mehr zu sehen.

Eine Handbewegung des größeren Schatten bewirkte, dass das Licht hinter dem Thron ausgeschaltete und die Saalbeleuchtung aktiviert wurde. Noch immer blinzelnd konnte Hitomi nun mehr erkennen. Ein Mann stand vor ihr. Sein blutrotes Haar reichte bis zu seinen Hüften hinunter und seine Augen hatten den gleichen blutigen Farbton.

"Tassilo..." kam es ihr schwach über die Lippen.

"Wie wahr." Der Diktator lächelte sie an. "Willkommen, Königin Hitomi. Willkommen in meinem Thronsaal." Sein Lächeln wurde breiter und gewann einen seltsamen Zug von Wahnsinn.

"Und Ihr, wunderschöne junge Dame, wie war Euer Name noch gleich?" Wohlerzogen und aufmerksam wandte er sich plötzlich an Sayuri, die ihn zitternd betrachtete. Ihre Angst war beinahe greifbar.

"Sa... Sayuri," stammelte sie.

"Ein wundervoller Name." Formvollendet küsste er ihre Hand und lächelte, als er ihre Reaktion sah. Sayuris Augen waren vor Überraschung geweitet und ihr Atem ging schneller. Letzteres weniger vor Angst als vielmehr vor Erregung. Nie hatte sie ein Mann so behandelt und auf diese Weise ihre innersten Wünsche und Hoffnungen angesprochen.

Vollkommen sprachlos verfolgte Hitomi, was geschah.

Was...? Warum umwirbt er sie? Was will er von ihr?

Tausende Fragen stürmten durch ihren Kopf, doch keine einzige konnte sie beantworten. Angewidert wandte sie sich von diesem Flirtschauspiel ab und betrachtete das Kind, das bis gerade noch neben dem Thron gehockt hatte und nun springend und tanzend die Treppen hinunter kam. Seine Haut besaß einen eigentümlichen Goldschimmer und sein Haar glänzte wie reines Silber. Jede seiner Bewegungen war voller Eleganz und Anmut. Was Hitomi jedoch am meisten stutzig machte war, dass sie nicht sagen konnte, ob es sich um ein Mädchen oder um einen Jungen handelte.

Das Kind blieb vor ihr stehen und lächelte sie strahlend an. Plötzlich kam es Hitomi sehr bekannt vor und sie fragte sich, woran das liegen mochte. Prüfend musterten sie einander.

"Mignon!" Tassilos Stimme unterbrach ihre gegenseitige Betrachtung. Er bedeutete dem Kind, das es wieder zum Thron zurückkehren sollte, doch es schüttelte widerwillig den Kopf. Dann hopste es an seine Seite und schmiegte sich in seinen Arm. Seufzend ließ er es gewähren.

Überrascht sah Hitomi dem zu. Und noch überraschter war sie, als das Kind auf einmal mit klarer Stimme zu singen begann.

"Von einer fernen Welt

kommst du her

in dieses fremde Land

kennst nichts

und wagst doch eine Wahl
 

bist immer gesprungen

von Seite zu Seite

auf der Suche

nach dem Stärksten
 

bist immer gerannt

von hier nach dort

auf der Suche

nach der sicheren Seite
 

Verrat und Betrug

Misstrauen und Verlassen

säen niemals

Liebe und Freundschaft
 

öffne die Augen

lass Wut und Schmerz ziehen

und finden wirst du

deinen stärksten Freund"
 

Sayuri blickte zwischen dem singenden Kind, Tassilo und Hitomi hin und her. Dann erkannte sie, was Mignon ihr offenbar sagen wollte und lächelte den arkadischen Kaiser strahlend an.

"Sie wird meine Frau." Tassilos Entschluss duldete keine Widerworte, aber zu seiner Überraschung und der aller anderen Anwesenden kam keiner. Sayuri trat nur vor und legte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken. Tassilos Lippen waren zu einem zufriedenen Lächeln verzogen, als er das Mädchen vom Mond der Illusionen küsste. Nur Hitomi sah, wie Mignon mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen den Kopf schüttelte.

59. Streitgespräch

Man hatte Sayuri und Hitomi nach ihrer seltsamen Audienz beim Kaiser des Arkadischen Reichs, wie regelrecht ganz Gaia nun genannt wurde, nicht wieder getrennt, sondern gemeinsam in einem Quartier untergebracht. Zu Hitomis Überraschung handelte es sich um keine Zelle, sondern um ein reich ausgestattetes und geschmücktes Zimmer.

Verblüfft sah Hitomi sich um, während Sayuri nur ihre Schuhe abstreifte und schon im angrenzenden Bad verschwand. Einen Augenblick später hörte man Wasser rauschen.

Eine Dusche... Ich wusste gar nicht, dass diese Festung so etwas hat...

Neugierig besah sich Hitomi das Zimmer, dann ließ sie sich mit untergeschlagenen Beinen auf einer weichen Couch nieder und wartete auf Sayuri. Sie war noch immer wütend auf das Mädchen, sah aber keinen Sinn darin, ins Bad zu stürmen und sie dort zu bedrängen. Das würde nichts bringen. Gleichzeitig war sie auch noch wegen Tassilos Verhalten verwirrt. Er hatte mal eben so beschlossen, Sayuri zu heiraten. Warum? Und was dachte Sayuri darüber? Und was hatte der Gesang dieses seltsamen Kindes zu bedeuten?

Als Hitomi an das Kind zurückdachte, rann ihr ein Schauer über den Rücken.

Es erinnert mich an jemandem... Jemanden, den ich schon mal gesehen und gesprochen habe... Aber an wen? Diese Aura...

Die Dusche hörte auf zu rauschen und wenig später kam Sayuri wieder ins Zimmer zurück. Sie trug ein schweres Brokatkleid und ließ sich ziemlich achtlos damit auf dem großen Himmelbett nieder. Auch sie schlug ihre Beine unter und blickte Hitomi mit einem seligen Lächeln im Gesicht an.

Wieder war Hitomi verblüfft, aber keineswegs sprachlos.

"Was ist denn mit dir los? Findest du das etwa toll, dass er dich zu seiner Frau machen will?" platze sie los.

"Natürlich!" Sayuris Augen strahlten Hitomi an. "Er liebt mich - ich liebe ihn! Das ist doch perfekt! Und er macht mich zu einer Prinzessin!"

"Königin," korrigierte Hitomi gereizt. "Wieso sollte er dich lieben? Wie kann er das denn nach so einem kurzen Moment? Und wie kannst du ihn lieben?"

"Schon mal was von Liebe auf den ersten Blick gehört?" gab das Mädchen vom Mond der Illusionen schnippisch zurück. "Man sieht sich und liebt sich - Peng! So einfach ist das." Sie grinste zufrieden.

"Nein, so einfach ist das nicht." Hitomi sah Sayuri forschend an und erkannte in ihren rötlichen Augen nur das, was vorher schon da gewesen war: totale Verzückung.

"Halloho, er ist ein Tyrann! Er unterjocht gerade ganz Gaia!"

"Nein, er ist eben stark und selbstbewusst. Er ist kein Tyrann, nur der geborene Herrscher," gab Sayuri mit einem sanften Lächeln zurück, fast so wirkte es so, als wenn sie mit einer Debilen sprechen würde.

"Ähm, entschuldige, wenn ich dich darauf hinweise, aber ich lebe schon etwas länger hier auf Gaia und habe einiges mehr gesehen. Du machst dir gerade doch was vor! Vorhin hattest du doch noch Angst vor ihm!

Dieser Mann liebt nicht. Er beherrscht! Er hat dich doch noch nicht einmal gefragt, ob du ihn heiraten willst. Er hat es doch noch nicht einmal zu dir gesagt, sondern zu seinen Handlangern! Du interessierst ihn nicht! Ich habe keine Ahnung, was er in dir sieht, aber er sieht nicht dich!"

Hitomis Stimme überschlug sich. Sie versuchte ruhig zu bleiben, aber es gelang ihr nicht.

"Er musste mich nicht fragen, denn er wusste, was ich antworten würde. Wir verstehen uns blind. Wir sind Seelenverwandte." Sayuri strahlte weiter vor sich hin.

"Ja, beide giftige, hinterlistige Nattern..." murmelte Hitomi und stand auf. Sie begann im Raum auf und ab zu laufen. Kurz versuchte sie, ob die Tür offen war, aber man hatte sie eingeschlossen.

"Seit wann muss man seine Braut denn einschließen?" fragte sie süffisant.

"Zur Sicherheit. Wir sind doch im Krieg. Außerdem bist du hier und du gehörst zum Feind..." Sayuris Stimme klang etwas unsicherer.

"Ja... Hey, warum hat man mich hier gelassen? Glaubt dein Zukünftiger etwa, dass wir Freundinnen sind?"

"Möglich..." Sayuris Antwort kam zögernd. "Nun, ich werde ihn bei seinem nächsten Besuch darauf hinweisen, dass du eher in eine Zelle gehörst." Sie wirkte wieder selbstsicherer.

"Die Belohnung dafür, dass ich dir geholfen habe..." Hitomi verdrehte die Augen. "Aber du scheinst ja sowieso für meine Hilfe unendlich dankbar zu sein. Erst verrätst du uns an den Feind und dann willst du den großen Diktator heiraten - du bist klasse, echt."

Langsam musste sie an sich halten, um sich nicht auf Sayuri zu stürzen und dem naiven Mädchen etwas Verstand in den Schädel zu prügeln.

"Das ist der falsche Weg, Sayuri. Der falscheste, den es nur geben kann..." sagte sie schließlich leise und ließ sich wieder auf die Couch sinken.

"Wieso?" Sayuri war verwirrt. "Das Kind hat es doch in seinem Lied gesungen. Ich soll meine Augen öffnen und meine stärksten Freund finden. Und Tassilo ist mein stärkster Freund. Er ist der mächtigste Mann auf dem Planeten - wer könnte stärker sein?"

"Wahre Freunde... Hast du dem Kind eigentlich richtig zugehört? Es sprach auch von der Suche nach der sicheren Seite - hey, die hast du ja bei Tassilo jetzt gefunden -, und von Verrat und Betrug. Verraten und betrogen hast du nur mich.

Bist du dir eigentlich bewusst, dass du durch deinen Verrat 200 Männer und Frauen in den Tod geschickt hast? Einfach so? Meinen Mann dazu - und meine beiden kleinen Kinder."

Hitomis Stimme war leise, aber scharf.

"Aber das kümmert dich nicht. Nein, was dich interessiert ist einfach nur, dass du sicher bist. Dass dir niemand etwas tut. Du drehst dein Fähnchen einfach nach dem Wind. Weißt du, solche Gestalten kenne ich vom Hof, dort sind es immer die, die einen bei Gefahr als Erstes verlassen und die Seite wechseln. Oder aber so lange mit ihrer Flucht warten, bis klar ist, wer der Stärkste ist. Das sind nichts weiter als erbärmliche Feiglinge, die sich nicht trauen, eine Ansicht zu haben."

"Hey! Pass auf, was du sagst!" Sayuri sprang empört auf. "Ich bin kein Feigling! Ich habe eine Meinung! Aber wie kann ich hier eine fassen, wenn ich die Umstände nicht kenne?"

"Du hast aber eine gefasst - und eine schwerwiegende Entscheidung getroffen... Du hast den letzten Rest Freiheit auf dieser Welt umgebracht..."

Hitomi blickte Sayuri anklagend an.

"Hör auf! Halt den Mund!" kreischte Sayuri und warf sich auf das Bett. Den Kopf versteckte sie unter dem Kissen, das sie sich fest auf die Ohren presste.

Mitleidig blickte Hitomi auf sie herab.

"Wenn du nicht so ein Biest wärst, könntest du einem glatt Leid tun..." murmelte sie leise.

Müde lehnte sie sich auf der Couch zurück und schloss die Augen. Augenblicklich konnte sie nichts tun, nur warten - und hoffen.

60. Machtgewinn

Der Manticor hörte auf, sich auf dem Boden zu winden. Der Schmerz in seinem Inneren war vergangen. Die Kraft der Herrin vom See war erfolgreich absorbiert und floss nun pulsierend durch seine Adern. Er seufzte zufrieden.

Weitere Opfer würden im Moment nicht notwendig sein. Nein, er peilte sogar etwas ganz anderes an. Hungrig blieb sein Blick an Tassilo hängen. Oh ja, er würde es wagen. Er würde den unsicheren Faktor ihrer Allianz vernichten und selbst alle Kontrolle in seiner Hand halten. Er lachte grollend. Und nichts würde ihn aufhalten können.

Ruhig schloss er die Augen und konzentrierte sich.
 

Ungeduldig rannte Berengar im Lager auf und ab. Die Dämmerung fiel langsam. Seine Truppe begann sich allmählich in Bewegung zu setzen. Der Angriff rückte näher und näher.

Berengar sprang schließlich in seinen Guymelef und schloss sich der vorrückenden Armee an. Sie würden nicht mit leeren Händen zurückkehren. Nein, sie würden diejenigen mitbringen, die ihr Herrscher haben wollte, aber alle anderen würden sterben.

Berengar begriff die Rebellen seit ihrem dreisten Angriff auf Jarrows Lager und der langwierigen Verfolgungsjagd auf Königin Hitomi als seine persönlichen Feinde. Feinde, die bis auf den letzten vernichtet werden mussten...

Mit einem erwartungsvollen Glitzern in den Augen lief er in seinem Guymelef durch die Dämmerung.
 

"Es dämmert bereits..." murmelte Shid leise und spähte durch einige Sichtschlitze in dem großen Tor nach draußen.

"Hm..." machte Admiral Vitguer neben ihm leise.

"Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl," fuhr Shid fort. "Als wenn da etwas aus der Dunkelheit auf uns zukommt." Mit großen Augen blickte er den alternden Admiral an.

"Ach, mach dir keinen Kopf, Neffe," brummte Torian und fuhr dem blonden Jungen durch die Haare.

"Hey!" Shid wehrte sich mit einem unterdrückten Lachen.

"Alles wird gut werden." Torians Stimme klang bestimmt, so, als wenn der König von Asturia nicht zulassen würde, dass etwas anderes geschah. In diesem Moment begriff Shid, warum sich Eries für diesen Mann entschieden hatte. Er war stark - und seine Stärke lag in seiner Ruhe und Bestimmtheit. Nur diese Art von Stärke würde ihnen im Moment wenig nützen. Sie brauchten eher mehr starke Schwertarme...

"Ich hoffe, du hast Recht..." murmelte Shid.

"Hat er," brummte Vitguer zu Shids und auch zu seiner eigenen Beruhigung. Der alte Admiral spürte ebenfalls, dass etwas im Anzug war, aber auch er war sich nicht sicher, was es war. Es war eine dumpfe Vorahnung, nichts, was er genauer bestimmen konnte. Es konnte auf einen drohenden Angriff hinweisen, aber genauso gut konnten es auch einfach nur seine Nerven sein. Er wusste es nicht und war daher, trotz all seiner Kampferfahrung, unschlüssig.

"Asha!" brüllte er schließlich.

"Ja, Sir?" fragte der Leutnant und salutierte. Er keuchte noch von dem Sprint durch die gesamte Eingangshalle.

"Geh mit Cedil und Miguel raus. Schaut euch mal ein wenig um... Ich habe da so ein ungutes Gefühl..."

"Herr... Haltet Ihr das wirklich für notwendig?"

Vitguer zog eine Augenbraue hoch. "Würde ich dich sonst dazu auffordern?"

Asha nickte nur, rief den jungen Soldaten und den schwarzhäutigen Leibwächter von Prinzessin Auriana zu sich. Stumm fragte er sich, warum er ausgerechnet letzteren mit sich nehmen sollte, doch als sie nach draußen in die fallende Nacht traten, begriff er. Miguels dunkle Haut gab ihm einen ungeheuren Vorteil in Sachen Tarnung und gleichzeitig war er leise - leise, wie ein Windhauch.
 

Der Manticor streckte sich und ließ seine geisterhaften Muskeln spielen.

"Tassilo! Komm her..."

Schweigend trat der rothaarige Kaiser an die Glasscheibe und blickte hinein. In dem Spiegelbild lag der Manticor vor dem Thron und blickte ihn aus seinen bodenlosen Augen herausfordernd an.

Wie ein Schoßkätzchen... dachte Tassilo spöttisch. Wenn er die Macht das Manticors nicht gebraucht hätte, um die Greifen im Griff zu halten, hätte er sich schon längst von diesem Geist abgewandt. Aber so lange der Manticor den Anführer der Greifen, ihren so genannten ,König', Rudelführer oder was auch immer, auf der Traumebene gefangen hielt, waren die Tiere fügsam.

Der Manticor musterte Tassilos Gesicht aufmerksam, dann sprang er auf, schoss vor und stach mit seinem Skorpionstachel zu. Seine Spitze durchstieß die Grenze zwischen Traum und Realität und traf Tassilo mitten ins Herz. Blut sickerte durch sein Hemd und verblüfft starrte er auf die lange, scharfe Spitze, die in seiner Brust steckte.

"Was...?" brachte er noch hervor, dann sank er auf die Knie. Der Skorpionsstachel rutschte quälend langsam aus der Wunde und hinterließ eine wie Feuer brennende Spur aus Schmerz in Tassilos Körper. Dann verschwand die Spitze des Skorpionsschwanzes wie ein schlechter Traum aus der Realität und zurück blieb nur ein Riss in der Scheibe.

"Du bist mein..." raunte der Manticor leise und spürte, wie sich sein Gift in dem Körper des Menschen ausbreitete. Zufrieden lächelte er, als er sah, wie Tassilo verzweifelte nach Luft schnappte und sich seine Hände krampfartig öffneten und schlossen.

"Ja..."

Langsam verschwand die Manticorgestalt im Spiegelbild. Gleichzeitig riss der rothaarige Mann seine Augen vor Erstaunen weit auf. Die Wirkung des Giftes ließ nach. Es war nichts weiter als der Wegbereiter für einen viel tief gehenderen Angriff gewesen. Der Manticor breitet sich selbst in Tassilos Körper aus. Seine Geistergestalt verschmolz mit der menschlichen Gestalt des arkadischen Kaisers.

"Nein..." kam es Tassilo schwach über die Lippen. "Nein..."

In diesem Moment tat der Manticor den letzten Schritt. Seine Kraft durchflutete längst jedes einzelne Gefäß dieses sterblichen Körpers, aber noch war nicht genug Platz in ihm. Das Bewusstsein des Menschen störte ihn noch.

Mit einem sanften Lächeln saugte der Manticor Tassilos Energie in sich auf und vernichtete den Geist des Diktators. Zurück blieb eine menschliche Hülle, die zwar wie Tassilo aussehen mochte, die aber vom Manticor beherrscht wurde. Er besaß endlich wieder einen Körper.

61. Angriff

Die Rebellen hatte eine Art stille Wachsamkeit ergriffen. Sie gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach, was schlicht und ergreifend bedeutete, dass sie jetzt, nachts, zum größten Teil schliefen. Jedoch hatte jeder seine Waffen in der Nähe und schlief in seiner Kleidung. Van hatte eine knappe Rede gehalten und alle alarmiert. Er sah zwar keine Möglichkeit, Aurianas Aufforderung zur Flucht zu folgen, aber wenigstens konnten und sollten sie vorbereitet sein. Das war das Einzige, was sie tun konnten, und so würden sie es tun.

Eigentlich sollte Van nun auch schlafen, aber er fühlte sich viel zu angespannt und wach, um das zu können. Er saß in der Nähe des großen Tores und starrte vor sich hin.

Seine Gedanken trieben umher, kreisten mal um Hitomi, mal um die Zukunft, mal um ihre Kinder.
 

Berengar lächelte zufrieden, als sie den Hang erreichten, der direkt auf das Versteck der Rebellen zuführte. Endlich war es so weit.

"Herr, ich sehe nichts," raunte ein Soldat seines Elitetrupps.

"Oh, sie sind da..." Berengar flüsterte ebenso leise zurück. "Glaub mir, sie sind da. Und du wirst gleich genug von ihnen sehen."

Etwa lauter wandte er sich an einen speziellen Trupp, der mit einem riesigen Rammbock ausgestattet war. An jeder Seite standen drei Guymelefs, bereit mit diesem Gerät das versteckte Tor einzurennen.

Der Erkundungstrupp kam in diesem Augenblick zurück und erstattetet Bericht.

"Das Tor ist gut versteckt, aber es ist da. Zwischen den beiden verkrüppelten Bäumen." Der junge Soldat wies in die Dunkelheit hinaus.

"Ihr habt es gehört," brummte Berengar. "Angriff!"

Damit stürmten die Guymelefs mit dem Rammbock den Berg empor. Wenn alles glatt ging, würden sie das Tor mit dem ersten Streich zerschmettern.
 

Die Vorhut, die Vitguer in weiser Voraussicht nach draußen geschickt hatte, kauerte in der Nähe der Angreifer im Gebüsch.

"Und nun?" Cedils Stimme klang zittrig.

"Wir sind nie im Leben schnell genug, um sie zu überholen..." murmelte der schwarzhäutige Miguel leise.

"Wir müssen es aber versuchen!" knurrte Asha entschlossen, wandte sich um und stürmte los.

Die beiden anderen folgten im auf dem Fuße. Gemeinsam rannten sie auf das Tor zu und gleichzeitig um ihr Leben. Die Guymelefs mit dem Rammbock waren ihnen dicht auf den Fersen.

"Bei Seite!" fauchte Asha, als sie das Tor fast erreicht hatten und die feindlichen Guymelefs nur noch einen Herzschlag entfernt waren. Alle drei warfen sich in das Gebüsch neben dem Tor. Dann explodierte es und es regnete Trümmer.
 

Das Dröhnen der herannahenden Guymelefs warnte die Rebellen zwar, aber sie hatte dennoch zu wenig Zeit, um vorbereitet zu sein. Plötzlich explodierte das hölzerne Tor in einem Regen aus Holzsplittern und sechs feindliche Guymelefs mit einem Rammbock in den Händen stürzten in die Halle. Bei ihrem brutalen, unaufhaltsamen Durchmarsch bis zur nächsten Felswand, zerquetschten sie einfach ein halbes Dutzend Rebellen, die sich in der Halle aufgehalten hatte.

Van wurde von einem großen Trümmerstück bei Seite gefegt und prallte mit einem schmerzhaften Aufstöhnen gegen eine Wand. Er keuchte leicht, als er genau mit der Stelle am Rücken Bekanntschaft mit dem Fels machte, unter der sich sein gebrochener Flügel befand. Er hatte seine Schwingen zwar eingezogen, damit sie schneller heilen würden - eine Tatsache, die er instinktiv spürte -, aber exakt diese Stelle, unter der seine Flügel ruhten, tat höllisch weh. Schmerz ließ sich durch diese Methode leider nicht verhindern.
 

In dem Moment, als die sechs Guymelefs hindurch waren, stürzten Asha, Miguel und Cedil sofort hinein und machten sich kampfbereit.

"Sie kommen!" Ashas Stimme gellte durch das Chaos. Er verriet damit aber nichts, was die anderen nicht schon wussten.
 

"Wir werden angegriffen!"

Die Schreie gellten durch die Gänge. Der Alarmgong wurde so lange geschlafen, bis einer der Angreifer den Rebellen, der für diesen zuständig war, erschlug.
 

Berengar stürzte durch das Tor und sah sich um. Von seinem Guymelef aus hatte er einen guten Überblick über das Geschehen, aber er sah nichts weiter als herumwimmelnde Menschen und Guymelefs, die viel zu groß und starr für den Kampf in den Höhlen waren.

"Lasst die Guymelefs draußen!" fauchte er ungehalten und drängte die nachfolgenden einfach wieder zurück.

"Lasst die Greifen auch draußen! Stellt Wachen auf, die verhindern, dass irgendwer die Guymelefs klaut!"

Damit sprang er auch schon aus dem Cockpit und stürmte erneut nach drinnen - diesmal zu Fuß.
 

Die ersten arkadischen Soldaten drangen in die Gänge des Verstecks ein. Wer nicht zu denjenigen gehörte, die auf der Liste der zu gefangen nehmenden Personen stand, wurde möglichst in einem überraschten Zustand abgeschlachtet. Diese Chance bot sich den Angreifern jedoch nur überaus selten. Der Alarmgong hatte mittlerweile alle Rebellen geweckt und dafür gesorgt, dass diese kampfesbereit in die Gänge stürmten und sich den Arkadiern mutig entgegen stellten. Überall brachen Gefechte aus.
 

Einige Soldaten stürmten in das Zimmer, in dem Merle neben ihrem Kind und denen Vans und Hitomis hockte. Entsetzt starrte sie fünf Soldaten an und riss gleichzeitig einen Dolch von ihrem Gürtel.

"Rührt uns nicht an!" fauchte sie und ihr Fell sträubte sich.

"Ach, Süße... Mit deinem Zahnstocher wirst du uns wohl kaum etwas tun..." Herablassend lächelte sie der Anführer des kleinen Trupps an. "Greift sie! Das ist eine von der Liste."

Seine vier Gefährten sprangen vor und sekundenschnell waren Merle die Hände auf den Rücken gefesselt. So schnell der Kampf auch gewesen war, er hatte doch auch einen Tribut, wenn auch einen winzigen, von den Arkadiern gefordert. Merle hatte gekratzt und so liefen einem Soldaten blutige Striemen quer über das Gesicht und ein anderer konnte eine eindrucksvolle Bissverletzung am Handgelenk vorweisen.

"Nehmt sie mit - sie kommt ins Luftschiff, wo sie auf die anderen warten kann."

Erst jetzt fiel der Blick des Anführers auf die Kinder. "Sieh an... Und noch zwei von der Liste." Er grinste breit.

"Die Kinder auch."

Die beiden verletzten Soldaten bückten sich und hoben die beiden Babys auf.

"Was ist mit dem da?" Ein Arkadier zeigte auf Merles Kind. Die Katzenfrau wimmerte leise.

Der Wortführer zögerte einen Moment. Es mochte Krieg sein, aber er war nicht unmenschlich. Wenn sie es hier ließen...

Ein Seufzer kam über seine Lippen. "Das auch."

Er hoffte nur, dass Berengar nicht herausfinden würde, dass er dieses überflüssige Kind mitnehmen ließ.

62. Im Kampf

Van stürzte sich mit einem wütenden Knurren auf den Mann, den er als Anführer der Angreifer ausgemacht zu haben glaubte.

Berengar war von dem harten Angriff mehr als überrascht. Es war reines Glück, das dafür sorgte, dass er rechtzeitig sein Schwert hochriss und er somit nicht direkt geköpft wurde. Van war einen ganzen Kopf kleiner als er und auch deutlich schmaler, aber was dem farnelianischen König an Kraft fehlen mochte, machte er durch seine Entschlossenheit problemlos wett.

Funken sprühend prallten ihre Klingen aufeinander. Schweiß vermischt mit Blut aus einer der zahlreichen Schnittwunden, die ihm die herumfliegenden Trümmer zugefügt hatten, lief Van über das Gesicht. Sein Atem ging keuchend und sein Gesicht war verzerrt.

Berengar dagegen war unverletzt. Mit tänzelnden, leichtfüßigen Schritten wich er aus und brachte Van schon allein durch seine gewaltige Kraft in arge Bedrängnis. Dazu kam, dass Berengar ein ausgezeichneter Schwertkämpfer war - nicht umsonst war er schließlich Anführer einer Elitetruppe geworden. Der arkadische Leutnant zweifelte keine Sekunde lang an seinem Sieg. Seine einzige Sorge war, wie er es schaffen sollte, Van lebendig gefangen zu nehmen und damit dem Wunsch seines Kaisers nachzukommen.
 

Shid, Torian und Vitguer, die sich nahe des Tores aufgehalten hatten, als die Arkadier ihr Versteck stürmten, wurden sie mit Splittern und Trümmern des Tores überschüttet. Ohne weiter drüber nachzudenken, warf sich der alte Admiral vor Torian und Shid und schützte sie mit seinem Körper.

Nun richtete er sich langsam auf und ließ sich unter sich hervorkrabbeln.

"Danke..." murmelte Shid leise und stand auf. Torian tat es ihm gleich und auch Vitguer wollte aufstehen, als ihm plötzlich ein brennender Schmerz durch den Körper raste. Seine Beine knickten weg und der alte Admiral sackte wie in Zeitlupe zusammen.

"Vitguer!" Torian kniete besorgt neben ihm nieder und blickte dem grauhaarigen Mann ins Gesicht. Blut lief ihm über die Lippen und seine Augen verschleierten sich bereits.

Was Torian nicht sehen konnte, erblickte Shid in diesem Moment. Ein gutes Dutzend langer dolchartiger Holzsplitter hatte sich in Vitguers Rücken gebohrt.

"Kämpft..." murmelte der Admiral leise. "Kämpft!" Dann brachen seine Augen.

"Shid, was..." Torian blickte fassungslos zu dem Herzog von Freyd empor.

"Sieh." Der blonde Junge zeigte schweigend auf Vitguers Rücken.

"Oh..." Torian starrte die tödlichen Verletzungen an und riss sich dann mühsam von dem Anblick los. Sanft schloss er dem alten Admiral die Augen.

"Komm, die Schlacht wartet auf uns. Kämpfen wir für die Freiheit!" Torians Stimme erhob sich über den Kampfeslärm und Seite an Seite stürzten sich der König von Asturia und der Herzog von Freyd in die Schlacht.
 

Allen und Louvain stürmten Seite an Seite durch die Gänge. Sie jagten drei arkadische Soldaten. Als sie jedoch um eine Ecke bogen, sahen sie sich auf einmal dreißig Arkadien gegenüber.

"Oh, oh..." kam es über Allens Lippen. Er sah den Löwenmann nur kurz an, dann wandten sie sich um und hetzten in die entgegengesetzte Richtung davon.

Genau in dem Augenblick, als sie die Gänge entlang rannten, trat Auriana aus ihrem Quartier und prallte mit Louvain zusammen. Beide gingen zu Boden.

"Kommt schon!" brutal zerrte Allen die Prinzessin auf die Beine, während Louvain schon wieder aufsprang und das Schwert einsammelte, das er fallen gelassen hatte.

"Was ist los?" fragte Auriana verblüfft, während sie von Allen mitgezerrt wurde.

"Hast du etwa den Gong überhört? Wir werden angegriffen!" antwortete der Ritter entnervt.

"Und dann lauft ihr weg?"

"Dreißig gegen zwei - wir sind eindeutig im Nachteil," kommentierte Louvain bissig. Auriana schwieg betroffen und rannte mit - auch wenn sie nicht wusste wohin.
 

Die ersten Arkadier erreichten das Lazarett. Milerna wurde von brutalen Händen von einem Verletzten weggezerrt und gefesselt.

"Mitnehmen!" Der höchstrangige Soldat der Gruppe gab den Befehl fast beiläufig. Die Verletzten hier interessierten ihn nicht - sein Blick galt vielmehr der Wolfsfrau mit dem weißen Fell und den rot glühenden Augen, die sich ihm mit einem wütenden Knurren in den Weg stellte. Bevor sich die Soldaten auf den Angriff gefasst machen konnten, sprang die Wolfsfrau vor und riss das Schwert hoch. Mit einem schmerzerfüllten, seltsam blubbernden Keuchen ging der Wortführer zu Boden. Blut spritzte ihm aus der tödlichen Bauchwunden und strömte über seine Lippen.

Überrascht angesichts dieser Kampfeswut wichen die Soldaten zurück, zückten ihre Waffen - und zögerten. Als Gruppe fühlten sie sich zwar stark, aber Gruppen besitzen auch immer das Problem, dass ohne einen klaren Anführer jeder darauf wartet, dass ein anderer anfängt. Ivory hatte dieses Problem nicht. Noch immer knurrend sprang sie vor und ein weiterer, vollkommen überraschter Arkadier ging zu Boden.

"Kämpft!" brüllte jetzt einer von ihnen und warf sich vor. Sein Schwert prallte auf Ivorys und die beiden blickten sich aus funkelnden Augen an. Dann traf etwas Ivory in die Seite und sie wurde gegen die Wand geschleudert. Etwas brach mit einem lauten, unüberhörbaren Knacken und die Wolfsfrau blieb bewegungslos liegen.

"Das war's dann wohl..." murmelte einer der Soldaten und stieß sie vorsichtig mit seinem Schwert an. Als keine Reaktion kam, beließ er es dabei. "Sie ist tot."

Dann richtete die Gruppe ihre Aufmerksamkeit auf Alexander, der noch immer bewusstlos in dem Bett lag.

"Das ist einer von der Liste..." murmelte derjenige, mit dem Ivory gerade noch gekämpft hatte leise.

63. Erwachen

"Folken!" Die Stimme des schwarzen Drachen schlug wie ein Peitschenknall in den Traum, in dem sich Folken und sein Sohn Alexander aufhielten. Gedanken lösten sich auf und zurück blieb nur noch die graue Traumebene.

Verwirrt sah Alexander sich um.

"Was...?" brachte er hervor, doch Folkens Hand bedeutete ihm ruhig zu sein.

"Herr?"

Der schwarze Drache kristallisierte sich langsam aus einer flimmernden Luftverzerrung heraus. Er sah müde aus - und besorgt.

"Sie greifen an. Sie... Er wird nicht überleben, wenn..." Das gewaltige Geschöpf brach ab und seufzte leise.

Folken runzelte leicht die Stirn. Das, was der Drache in diesen wenigen Worten ausgedrückt hatte, klang nicht wirklich gut. Nein, überhaupt nicht gut.

"Was geschieht mit mir?" fauchte Alexander plötzlich und trat vor. "Werde ich sterben? Oder bin ich schon tot?"

"Nein... Du liegst nur im Koma," antwortete Folken abweisend und konzentrierte sich wieder auf den Drachen. "Was tun wir?"

"Ich übertrage ihm einen Teil meiner Kraft, dann wird er aufwachen... und überleben. Er ist wichtig."

Folken nickte ruhig.

"Hallo! Ich bin anwesend und ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man über mich spricht, als wenn ich nicht da bin!" explodierte der schwarzhaarige Junge.

Der schwarze Drache seufzte leise und blickte Alexander aus seinen gelben Augen an.

"Die Leute des Manticor greifen an. Sie überfallen euer Versteck... Sie wollen dich fortbringen... Und wenn du nicht aufwachst und einigermaßen gesund bist, wirst du diesen Transport nicht überleben. Reicht dir das?" Spott schwang in seinen letzten Worten mit.

In Folkens Augen blitzte es auf. Ihm missfiel, wie der Drache seinen Sohn behandelt.

Ein Mittel zum Zweck, nicht mehr... Das waren sie für den Drachen und das war etwas, womit sie sich wohl oder übel abfinden mussten. Nun, er würde es tun, so lange sein Sohn leben würde.

"Tu es endlich! Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit!" Folkens Stimme überschlug sich fast. Der Drache nickte stumm und rückte näher zu Alexander. Eine seiner Krallen schoss hervor und zog den Jungen zu sich heran.

Angstvoll riss Alexander die Augen auf und hatte das Gefühl, sich in den riesigen gelben Drachenaugen zu verlieren.

"Nimm..." Leise und kaum hörbar kamen die Worte von dem Drachen und im gleichen Moment spürte Alexander, wie sich etwas in seinem Inneren ausbreitete. Wärme durchströmte ihn, eine seltsame Wärme, wie er sie noch nie so deutlich gespürt hatte. Und doch war sie ihm vertraut. Irgendwo tief in seiner Seele erkannte er das Gefühl. Es war ein Empfinden von Heimat, Nähe und Fliegen. Eine seltsame Mischung, die für ihn jedoch Sinn machte. Keuchend fiel er auf die Knie, als der Drache die Verbindung beendete.

"Und nun geh..." Die Stimme des Drachen verhallte auf der Traumebene und er und Folken verblassten langsam.

"Vater..." Alexander streckte seine Hand aus, doch sie glitt nur durch Folkens Arm hindurch. Der grauhaarige Mann lächelte traurig.

"Überlebe..." flüsterten seine Lippen stumm.
 

Mit einem lauten Schrei fuhr Alexander in dem Bett hoch. Entsetzt und überrascht sprangen die arkadischen Soldaten zurück.

Angesichts der plötzlichen Helligkeit musste der junge Mann blinzeln und konnte so kaum etwas von seiner Umgebung erkennen. Der lange, komatöse Schlaf hatte seine Gliedmaßen steif gemacht und es fiel ihm unendlich schwer, seine Hand zu heben, um sich über die Augen zu reiben.

"Greift ihn!" fauchte der Anführer. Sein Befehl wurde sofort befolgt, wenn auch etwas zögerlich.

Abrupt wurde Alexander aus dem Bett gezerrt.

"Was...?" murmelte er leise und spürte dabei, wie trocken und aufgerissen seine Lippen waren. Fahrig ging er mit seiner Zunge hinüber und versuchte gleichzeitig, etwas mehr von dem Geschehen um ihn herum zu erkennen.

"Ins Schiff mit ihm!"

Verwirrt und noch immer geschwächt ließ sich Alexander mitziehen. Er wäre nicht in der Lage gewesen, sich gegen diese Übermacht zu wehren. In seinem Kopf gellten noch immer Folkens Worte: "Überlebe..."

Mehr getragen werdend als gehend wurde er durch die dunklen Gänge des Rebellenverstecks geführt.

Der Anführer des kleinen Soldatentrupps warf noch einen kurzen Blick durch den Raum und seine Augen ruhten für einen Moment auf dem weißen Fellbündel, das in der Ecke lag.

"Hier gibt es nichts mehr! Abmarsch!"
 

Eries schlich langsam durch die Gänge. Sie bemühte sich im Schatten zu bleiben und wenig aufzufallen. Sie hatte keine Ahnung von dem Führen einer Waffe, was sie jetzt bedauerte und als ein unentschuldbares Verfehlen ansah. Eine Rebellion mitzumachen, ohne kämpfen zu können - wie konnte man nur so blöd sein?

Eries schüttelte angesichts ihrer eigenen Naivität den Kopf. Das peinlichste war, dass das ausgerechnet ihr hatte passieren müssen - ihr, die doch immer an alles dachte!

Sie fluchte leise vor sich hin, während sie sich weiterhin bemühte, unsichtbar zu bleiben. Leider mit wenig Erfolg.

"Ihr solltet nicht hier sein, Mylady."

Die Königin von Asturia wirbelte herum und blickte Miguel, dem dunkelhäutigen Mann ins Gesicht, der zusammen mit Auriana bei ihnen angekommen war.

"Solltest du nicht auf Patrouille..." setzte sie an und brach dann ab, als ihr klar wurde, wie dumm das war.

"Folgt mir, Mylady," sagte Miguel nur knapp und fasste sie am Arm, damit sie ihm auch wirklich hinterher kam.

"Wohin?"

"Weg. Möglichst in Sicherheit." Miguels Stimme war leise und angesichts des Lärms, der durch die Gänge bebte kaum zu verstehen.

Plötzlich standen ihnen zwei Dutzend arkadische Soldaten gegenüber.

"Die sind aber auch überall..." Miguel verdrehte die Augen und zog sein Schwert. Dann stürmte er vor und hieb wild um sich. Die Arkadier wichen zuerst zurück und ließen ihn in ihre Reihen eindringen, dann schlossen sie einen Ring um ihn und griffen selbst an.

"Ihr da!" fauchte der Kommandant der kleinen Gruppe, "Schnappt sie!"

Sofort stürmten fünf Soldaten auf Eries zu. Einen Moment lang zögerte sie, weil ihr unwohl dabei war, Miguel im Stich zu lassen, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie nichts für ihn tun konnte. Sie konnte nicht kämpfen. Und er... Sogar er, ein solch ausgezeichneter Schwertkämpfer würde diesen Kampf nicht überleben. Widerwillig drehte sie sich herum und rannte los. Sie kam zwanzig Meter weit, dann griffen starke Arme nach ihr und hielten sie fest.

64. Leben und Sterben

Die Elfen kämpften mit all ihrer Kraft, doch sie hatten den arkadischen Soldaten am allerwenigsten entgegenzusetzen. Erschöpft von der letzten Schlacht und entkräftet von dem Weg hierher, hielten die meisten nicht lange durch.

Sola, die Anführerin, warf sich todesmutig zwischen einen angreifenden Arkadier und eine ihrer Stammesangehörigen.

Fast beiläufig wurde sie beiseite gewischt und prallte gegen eine Wand. Die Elfe, die sie hatte beschützen wollen, brach tödlich getroffen zusammen.

"Insektenzeugs..." brummte einer der Soldaten herablassend und verpasste der toten Elfe noch einen letzten Tritt.

Mit einem wütenden Schrei schoss Sola vor und bohrte ihr kleines, silbernes Schwert durch sein Auge.

Schreiend fiel der Soldat zur Boden. Im gleichen Augenblick spürte auch die Elfe, wie Schmerz durch ihre Glieder raste. Sie keuchte leise auf und fiel zu Boden. Blut rann ihr aus dem Mundwinkel. Schmerzerfüllt tat sie noch zwei weitere Atemzüge, dann senkte sich ihr Brustkorb zum letzten Mal.
 

Laures und Lauria wurden durch den Kampfeslärm aus ihrem Quartier gelockt. Sie hatten zwar den Gong gehört, aber ihm wenig Beachtung geschenkt. Die übersinnlich begabten Geschwister ahnten längst, wie die Schlacht ausgehen würde. Die Dinge würden den Lauf gehen, den sie gehen musste. Und das Ende lag nicht hier in diesem Kampf.

"Hey!" Eine Horde arkadischer Soldaten blieb stehen und starrte die beiden an.

"Die gehören dazu!" brüllte schließlich einer von ihnen.

"Schnappt sie!"

Laures legte den Kopf schief und betrachtete die heranstürmenden Kämpfer wie interessante Tiere.

"Sie sind..." begann er.

"Übereifrig." vollendete Lauria.

Sie strich sich das goldene Haar aus dem Gesicht und blickte abwartend zu den Arkadiern hinüber, die angesichts der Tatsache, dass die beiden keinerlei Anstalten machten, zu kämpfen oder wegzulaufen, verunsichert waren.

"Die Dinge müssen..."

"Ihren Lauf nehmen."

Der seltsame Wechselgesang der Geschwister trug nicht wenig zur Verwirrung der Soldaten bei.

"Gehen wir, Geliebte, Schwester."

"Folgen wir dem Pfad des Schicksals." Lauria lächelte leicht und hakte sich bei Laures unter. Gemeinsam traten sie auf die Arkadier zu.

"Wohin?" fragte Laures so sanft, als wenn er mit einem Kind sprechen würde.

"Äh... Draußen, das Luftschiff..." stammelte der angesprochene Soldat.

"Gut," Lauria nickte ihm zu und mit einer Eskorte von vollkommen verwirrten und überforderten Soldaten verließen sie das Rebellenversteck.
 

"Hab ich dich!" Eine Hand schnellte plötzlich vor, brachte Auriana aus dem Tritt und zerrte sie zu einer Nische hinüber. Sie kreischte auf.

Allen hielt inne und wirbelte herum. Mit gezogenem Schwert sprang er vor und schlug nach dem Arkadier, der Auriana festhielt.

In dem Moment stürmten ihre Verfolger um die Ecke.

"Da ist er! Krümmt der Frau und dem Blonden kein Haar!"

Plötzlich war der Gang angefüllt von Arkadiern und Allen sah sich vollkommen in die Enge gedrängt. Er konnte kaum erkennen, wie sich Louvain gegen die Übermacht zu wehren versuchte.

"Hab ihn!" brüllte auf einmal jemand an seinem Ohr und schlug ihm einen Schwertgriff gegen den Kopf. Schwärze griff nach Allen und er sackte zusammen. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an, ohnmächtig zu werden.

"Tötet diesen verdammten Löwen endlich!" gellte eine Soldatenstimme über die Menge.

"Louvain! Verschwinde!" schrie Allen noch, dann siegte die Dunkelheit.

Louvain sah verzweifelt mit an, wie der Ritter des Himmels zusammenbrach und weggezerrt wurde, genauso Auriana. Seltsamerweise hatten sie die beiden nicht direkt umgebracht, was wohl bedeutete, dass sie noch gebraucht würden. Nun, auf ihn schien diese Schonfrist aber nicht zuzutreffen. Schwerter sausten auf ihn zu und an ihm herab und nur mühsam konnte er ihnen ausweichen. Er fand kaum noch eine Möglichkeit der Übermacht irgendwie entgegen zu treten, ohne direkt abgestochen zu werden. Mit einem wütenden Fauchen sprang er plötzlich vor und fegte mit einem berserkerhaften Rundumschlag, in den er fast all seine verbliebene Kraft legte, die verbliebenen Arkadier um. Dann wirbelte er herum und rannte davon.

"Lasst ihn..." brummte einer der Soldaten, der gerade wieder auf die Beine kam. "Er ist nur einer - und nicht weiter wichtig." Keiner von ihnen hatte große Lust, sich diesem wahnsinnigen Löwenmenschen noch einmal in den Weg zu stellen.
 

Ivory rappelte sich langsam auf. Ihr Kopf dröhnte und immer wieder zuckten silbrige Blitze vor ihren Augen. Sie streifte die Bruchstücke des Nachttischs ab, der unter ihrem Aufprall zerbrochen war und stützte sich anschließend an der Wand ab, um nicht umzukippen. Keuchend sog sie die Luft ein. Blut von einer Platzwunde auf der Stirn klebte in ihrem weißen Fell.

"Verdammt..." entfuhr es ihr, als sie sah, dass die feindlichen Soldaten Alexander mitgenommen haben mussten. Ihr war danach, sich zusammenzukauern und einfach loszuheulen, doch das ließ sie nicht zu. Sie war ein Wolfsmensch und würde sich von nichts unterkriegen lassen! Vor allem nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Soldaten!

Ein wütendes Knurren entwich ihr. Ihre Waffe lag noch neben ihr. Man musste sie für tot gehalten haben, ansonsten hätte man ihr das Schwert niemals gelassen.

"Totgesagte leben länger. Mal schauen, was dran ist..." grollte sie, hob das Schwert auf und verließ das Lazarett. Sie fühlte sich noch ein wenig schwach auf den Beinen, aber ihre Wut würde im Kampf alles wett machen, was sie an Nachteilen litt.

65. Überleben

Rücken an Rücken kämpften Torian und Shid, doch die Übermacht wurde immer drückender. Schließlich wichen sie Schritt für Schritt zurück und fanden sich in einer Ecke der großen Eingangshalle wieder.

„Das ist nun der richtige Zeitpunkt, um eure Waffen fallen zu lassen...“ höhnte eine Stimme und die arkadischen Soldaten machten Platz um einen der Elitesoldaten Berengars hindurchzulassen.

Shid und Torian sahen sich an.

„Sollen wir?“ raunte der Junge leise.

„Umbringen werden sie uns so oder so... Aber vielleicht... Gibt es irgendeine Chance für uns...“ In Torians Stimme lagen Zweifel. Er wusste nicht, was das Richtige war. Vitguer hatte gesagt, sie sollten kämpfen und ihm zu Ehren hatten sie gekämpft wie noch nie zuvor in ihren Leben. Aber nun? Was tat man, wenn man verloren hatte?

Langsam ließ der König von Asturia seinen Blick über die Eingangshalle schweifen. Nur ein einziger, erbitterte Kampf wurde am anderen Ende der Halle ausgefochten und er meinte, Vans schwarzen Haarschopf zu sehen. Ansonsten war die Halle vollkommen in der Hand der Arkadier. Vermutlich lebten kaum noch welche von ihren Rebellen. Er seufzte leise. Dann ließ er ganz langsam sein Schwert sinken.

„Es ist vorbei, Shid,“ sagte er langsam und sein Stiefneffe nickte schwach. Ja, es war vorbei. Wenigstens für sie.
 

Gardes und seine Crew hatten um sich einen kleinen Strom aus Flüchtlingen gesammelt. Die Schlacht war verloren, das war nicht zu übersehen. Im Moment konnten sie jedoch nicht nach draußen flüchten, also drangen sie immer tiefer in das Katakombensystem ein. Sie hatten die verhallenden Kampfgeräusche schon lange hinter sich gelassen und in der Stille war unüberhörbar, dass sie nicht verfolgt wurden.

„Da vorn ist Licht!“ Gardes’ Stimme gab den knapp zwei Dutzend Menschen, die ihm folgten, neuen Mut. Langsam drang er weiter vor und kam schließlich zu einem Höhlenausgang. Sie standen auf einem Plateau knapp über dem Boden der Schlucht, die ihrem Haupteingang am nächsten gewesen war.

„Versteckt euch in den umliegenden Höhlen,“ kommandierte Gardes und spähte selbst den Hang hinauf. Wenn er dort hochkletterte, würde er vielleicht den Haupteingang im Blick haben können, ohne dass er selbst gesehen würde.

„Katz, Kiro, ihr kommt mit mir,“ befahl er zweien seiner Crewmitgliedern und kletterte dann dicht gefolgt von diesen den Hang empor.
 

Van kämpfte erbittert gegen Berengar. Ihre Schwert prallten wieder und wieder aufeinander. Um sie herum war es still geworden.

Nur zwei weitere Rebellen kämpften noch in der Nähe gegen die erdrückende Übermacht – Cedil und Asha. Und Cedil brach gerade mit einer tödlichen Bauchwunde zusammen.

Van bekam das jedoch nicht mit. Er war zu sehr damit beschäftigt, Berengars immer schneller kommenden Schlägen auszuweichen. Wenigstens kam es ihm so vor, als wenn der feindliche Soldat sein Tempo gesteigert hatte. In Wirklichkeit war es so, dass Van müde geworden war. Sie kämpften nun schon so lange, dass er einfach erschöpft war.

Keuchend warf er sich wieder herum und versuchte erneut die Deckung des hoch gewachsenen Mannes zu durchbrechen und erneut scheiterte er.
 

Ivory schob sich langsam durch die leeren Gänge. Ihr waren nur noch wenige Soldaten begegnet und die wenigen, die sie gesehen hatten, hatten die Begegnung nicht überlebt. Ihr weißes Fell war mit Blut bedeckt, das zum größten Teil nicht von ihr selbst stammte. Neben ihrem eigenen Schwert trug sie nun auch noch einen Dolch am Gürtel. Man konnte schließlich nie wissen.

Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch stieg sie über die Leichen, die überall in den Gängen lagen. Ihre Kameraden waren darunter – und auch ihre Feinde. Sie seufzte leise. All diese Toten... War das notwendig gewesen? Hatte das so enden müssen? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sich das alles überhaupt nicht gut anfühlte.

Leise ging sie weiter und blieb schließlich stehen, als sie das Weinen eines Kindes hörte.

„Wo bist du?“ flüsterte sie leise, doch das Kind gab keine Antwort. Es weinte nur.

Sie schlich weiter und bog schließlich in einen kleinen Raum ab, aus dem das Geräusch zu kommen schien. Zwei Frauen lagen tot auf dem Boden. Es waren die Kindermädchen, die sich um die Rebellenkinder gekümmert hatten. Ivory wurde schlecht. Selbst wehrlose Flüchtlinge hatten die Arkadier dahingeschlachtet. Zorn blitzte in ihren Augen auf. Dann weinte das Kind wieder.

Sie wirbelte herum und suchte den düsteren Raum mit den Augen ab.

„Wo bist du? Ich tue dir nichts.“

„Hier...“ kam es wimmernd aus einer Ecke. Vorsichtig trat sie darauf zu und erkannte in dem schwachen Lichtschein der Fackeln des Ganges einen Jungen. Er war bleich und hatte große, violette Augen.

„Drayos, komm her.“ Sie streckte die Hand aus und zog den Jungen sanft an sich. Milernas Sohn war ihr schließlich nicht unbekannt. Zitternd kroch Drayos in ihre Arme. Während die Wolfsfrau dem Jungen über den Rücken strich und er sich langsam beruhigte, erkannte sie im Schatten noch eine Gestalt. Ein kleines Mädchen, das sie aus aufgerissenen Augen anblickte und unter Schock zu stehen schien.

„Ayres, komm her. Komm...“ Sie streckte eine Hand nach dem Mädchen aus, bekam es an der Schulter zu fassen und zog es sanft hervor. Ayres war noch blasser als ihr Halbbruder und blickte nur starr vor sich hin. Sie schien es gar nicht mitzubekommen, dass sich Ivory um sie kümmerte.

„Kommt, ihr Lieben, ich bringe euch hier raus.“ Ivory stand auf und nahm die kleine Ayres auf den Arm. Drayos reichte sie ihre Hand. Dann trat sie auf den Gang hinaus und suchte nach einem Ausgang, der nicht von Arkadiern belagert war.

66. Niederlage

Van spürte, wie seine Kraft langsam aber sicher nachließ. Er konnte nicht mehr. Sein Körper war schweißüberströmt und jeder einzelne Muskel tat ihm weh. Dazu kamen der schwache, aber nachdrückliche Schmerz von mehreren Dutzend leichten Schnittwunden und diese verdammten Rückenschmerzen, die von seinem gebrochenen Flügel herrührten. So langsam hatte er das Gefühl, sich kaum noch bewegen zu können.

Was will er denn noch? Er hat mich doch am Ende! Warum macht er nicht Schluss? schoss es Van durch den Kopf, als er sich unter einem weiteren Schlag Berengars hindurch duckte und nur schwankend auf den Füßen blieb.
 

Berengar beobachtete aufmerksam, wie Vans Kräfte langsam nachlassen. Bald hatte er ihn so weit... Es war schwer, der Versuchung zu widerstehen und den König von Farnelia nicht auf der Stelle zu töten, doch seine Befehle lauteten nun einmal anders. Wobei... Ein kleiner Unfall könnte sicherlich passieren. Er grinste leicht. Was machte es schon, wenn einer dieser dummen Rebellen von dieser noch dümmeren Liste hier starb? Welche Rolle spielte denn ein Einzelner? Er wollte Blut sehen.

Mordlust blitzte in seinen Augen auf. Er schlug schneller mit dem Schwert nach Van und sah mit Genugtuung, dass der schwarzhaarige Mann nur noch wenig Kraft hatte. Berengar selbst war auch schweißüberströmt und blutetet aus unzähligen kleinen Wunden, aber das schwächte ihn nicht. Im Gegenteil – es trieb ihn noch mehr an. Das hatte seine Ausbildung als arkadischer Elitesoldat mit sich gebracht.
 

Van sah das Glimmen in Berengars Augen und musste sich mit einem langen Hechtsprung vor dem nächsten Schwerthieb in Sicherheit bringen. Jetzt schien der Feind also ernst zu machen. Jetzt, wo er selbst vollkommen erschöpft war. Diverse Schimpfwörter gingen ihm durch den Sinn, doch er hatte nicht die Kraft, sie dem Arkadier entgegen zu schleudern.

Mit Mühe kam er wieder auf die Füße, wich zurück und stolperte. Berengars Schwert sauste heran...

Wie in Zeitlupe erlebte er das, was als nächstes geschah. Eine vertraute Gestalt warf sich auf einmal in sein Blickfeld, Blut spritzte auf, die Gestalt fiel ihm auf seine Brust und presste ihm die Luft aus den Lungen. Sein Schwert wurde bei Seite geschleudert.

„Was...?“ stammelte er und erkannte auf einmal, dass es Leutnant Asha war, der sich in den Schlag hineingeworfen hatte, um ihn zu schützen. Asha musste sich beim Kämpfen irgendwie in ihre Nähe gebracht haben. Wie, das konnte sich Van nicht vorstellen. Berengar bückte sich und hob Vans Schwert auf. Schweigend und mit einem herablassenden Grinsen stand er da und blickte Van an.

Mühsam schob Van den Kameraden von sich hinunter und drehte ihn auf den Rücken. Der Blick in seinen Augen war gebrochen.

Der schwarzhaarige Mann blickte auf und erkannte, dass es vorbei war. Sie hatten verloren. Es war so ausgegangen, wie es bei diesem Machtverhältnissen hatte ausgehen müssen. Sie waren untergegangen. Zwar mit wehenden Fahnen, aber zu einem hohen Preis. Einem verdammt hohen Preis. Er blickte wieder auf den blonden Leutnant hinab, der sein Leben ohne zu zögern für seinen König gegeben hatte. Sanft schloss er ihm die blauen Augen und stand langsam und zögerlich auf.

Grobe Hände packten ihn und zerrten ihm die Arme auf den Rücken.

„Abzug! Wir haben alles, was wir wollten!“ brüllte Berengar und die Arkadier verließen das vernichtete Rebellenversteck.
 

„Sie haben Van,“ flüsterte Gardes leise, während er, Katz und Kiro das Geschehen beobachteten.

„Ja, aber wir können nichts tun,“ raunte Katz zurück.

„Nein, wir können gar nichts mehr tun,“ stimmte der dunkelhaarige Mann ihm zu. Kiro gab nur ein zustimmendes Grunzen von sich.

„Deprimierend...“ Katz seufzte leise und strich sich durch das kurze, blonde Haar.

Schweigend beobachteten sie, wie die Arkadier abzogen. Sie ließen noch nicht einmal Soldaten zur Bewachung zurück.

„Überhebliche Idioten...“ knurrte Kiro.

„Ist doch besser so – wir können nach Überlebenden suchen!“ wies Gardes ihn zurecht.

Das Luftschiff der Arkadier hob als erstes ab. Danach wurde die Kriegsmaschinerie wieder in Gang gesetzt und langsam aber sicher zogen die Guymelefs und die verbliebenen Fußsoldaten ab. Zurück blieb nur ein schaler Geruch von Krieg und Tod.
 

Aus einer Nische in der Nähe der Eingangshalle heraus beobachteten Ivorys rote Augen das Geschehen. Sie musste ein erleichtertes Seufzen mit Gewalt unterdrücken, als die Arkadier endlich abzogen. Auch als sie sah, dass sie fort waren, wartete sie noch eine Weile in ihrem Versteck, bevor sie sich hervor traute.
 

„Hey!“ Eine dumpfe Stimme ließ Louvain herumwirbeln. Sie kam aus einer dunklen Nische direkt hinter ihm. Vor lauter Leichen hatte er sie gar nicht gesehen.

Knurrend zog er sein Schwert.

„Das ist... nicht nötig...“ kam hustend die Reaktion aus der Dunkelheit.

„Wer bist du?“ fragte der Löwenmann misstrauisch, noch lange nicht bereit, das Schwert sinken zu lassen.

„Miguel...“ Nur weiße Augen waren in der Schwärze zu erkennen.

Louvain steckte das Schwert wieder weg, riss eine der Fackeln aus ihrer Verankerung und leuchtete in die Nische. Miguels dunkle Sachen waren Blut verklebt. Eine Platzwunde auf seiner Stirn war bereits verkrustet und sein rechtes Auge schwoll langsam zu. Er hatte die Hände auf eine breite Schnittwunde quer über seiner Brust gepresst.

„Du bist verletzt.“

„Ist nicht schlimm...“ gab der verwundete Krieger zurück. „Hilf mir auf...“

Louvain streckte seine Hand aus und zog den schwarzhäutigen Mann auf die Füße. Taumelnd suchte Miguel Halt an der Wand.

„Scheiße...“ murmelte er leise, während sie auf den Gang hinaus traten und dabei über arkadische Soldaten steigen mussten.

„Es scheint vorbei zu sein...“ meinte Louvain schließlich, während sie langsam Richtung Eingangshalle gingen. „Hier ist niemand mehr.“

„Doch,“ gab Miguel finster zurück. „Der Tod.“

67. Unterwegs

„Herr.“ Bayliss verneigte sich vor dem Thron und hielt den Kopf weiterhin gesenkt. „Berengar hat gemeldet, dass der Angriff ein voller Erfolg war. Es wurden alle Personen gefangen genommen, die Ihr hier zu sehen wünscht.“

Tassilo nickte nur stumm. Es war also bald so weit... Er konnte sich rächen – und die Kinder des Drachen endlich töten.

„Und Herr... Eure Braut wünscht Euch zu sehen.“ sprach Bayliss langsam weiter.

Tassilo hob den Kopf. Seine Augen leuchteten seltsam dunkel und schienen fast wie schwarze Löcher aus unendlicher Dunkelheit.

„Meine... Braut.“ Tassilos Stimme klang dumpf und düster. Sie war deutlich tiefer als zuvor. Die Worte kamen ihm seltsam über die Lippen. Verwirrt sah Bayliss auf. Als ihn der Blick aus den bodenlosen Augen seines Kaisers traf, zuckte er zusammen. Ein Schauer rann ihm über den Rücken.

Natürlich hatte er den Diktator vorher schon gefürchtet, aber jetzt... Jetzt umgab ihn eine Aura solcher Dunkelheit und Gefahr, dass Bayliss trocken schlucken musste.

„Bring mich zu ihr.“ Der Kaiser stand von dem Thron auf und schritt die Treppen hinunter. Seine Bewegungen waren seltsam – meist ging er katzenhaft geschmeidig, doch manchmal schien er auch ins Stolpern zu kommen.

Einen Moment lang war Bayliss versucht, sich nach dem Befinden seines Kaisers zu erkundigen, doch gerade rechtzeitig kam ihm in den Sinn, was Tassilo wohl mit ihm anstellen würde, wenn er dessen Gesundheitszustand anzweifeln würde. Der General schluckte hart. Er würde schweigen – aber seine Gedanken konnte ihm niemand nehmen.
 

Das arkadische Luftschiff mit den Gefangenen näherte sich langsam aber sicher der fliegenden Festung ihres Kaisers, doch noch waren sie eine halbe Tagesreise entfernt. Die männlichen Gefangenen hatte man in einem separaten Teil des Frachtraums untergebracht. Man hatte Ketten an die Wände geschweißt und die männlichen Gefangenen damit gefesselt. Die Frauen und Kinder waren in anderen Quartieren untergebracht worden.

Van hatte sich gegen die Wand gelehnt und brütete vor sich hin. Er machte sich Vorwürfe, nicht auf Aurianas Ratschläge gehört zu haben. Ja, wenn er die Rebellen hätte evakuieren lassen, dann könnten sie vielleicht noch leben... Ja, sie würden noch leben!

„Van, hör auf,“ sagte Allen, der neben dem farnelianischen König angekettet war, leise. „Es bringt nichts, wenn du dir Vorwürfe machst.“

Van blickte den Freund verblüfft an. „Wie... Wie kommst du darauf?“

„Dein Gesicht ist ein offenes Buch,“ gab der blonde Ritter trocken zurück.

„Oh...“ Der schwarzhaarige Mann senkte den Blick. „Es ist... Auriana hat mich gewarnt... Wenn ich auf sie gehört hätte, dann... Dann hätten wir fliehen können...“

„Wirklich?“ mischte sich nun Alexander ein, der mehr schlecht als recht an seinen Fesseln baumelte. Trotz aller Kraft, die ihm der schwarze Drache übertragen hatte, fühlte er sich müde und erschlagen. Dauernd dröhnte ihm der Kopf und er hatte das dumpfe Gefühl, dass er sich irgendetwas eingefangen hatte. Zumindest hatte er den Eindruck, dass er etwas in sich trug. Wie Recht er damit hatte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

„Wäre es uns möglich gewesen so schnell zu verschwinden? Wann hat dich Auriana gewarnt? Am frühen Abend?“ Er lachte spöttisch und musste einen Augenblick später husten. Seine Lungen brannten.

„Beruhige dich, Alexander,“ meinte Laures bestimmt. Fast teilnahmslos hatte Vans Sohn die letzten Stunden an der Wand gelehnt und noch nicht einmal probeweise an seinen Ketten gezerrt. Seine schwarzen Augen wanderten von Alexander zur Van.

„Vater, die Dinge mussten so kommen. Du trägst keine Schuld. Es ist geschehen, was geschehen musste. Und es wird weiterhin geschehen, was geschehen muss...“ Seine dunkle Stimme klang seltsam prophezeiend.

„Du sprichst in Rätseln,“ knurrte Van ungehalten.

„Das ist eben meine Art.“ Laures lächelte ihn sanft an. Sein Blick wurde leer, als er fortfuhr: „Wir sind unterwegs, um unsere Bestimmung zu erfüllen. Alles wird Sinn machen...“

Die anderen lauschten Laures’ dumpfer Stimme mit einem Gefühl der Verwirrung. Was für den jungen Mann mit den langen schwarzen Haaren eindeutig war, ergab für sie keinen Sinn.
 

Tassilos Schritte wurden mit jedem Meter, den er zurücklegte, sicherer. Langsam gewann der Manticor ein besseres Gefühl für seinen neuen Körper. Wütend und unruhig durchwühlte er die menschlichen Synapsen nach verbliebenen Erinnerungen des rothaarigen Mannes. Die Worte von seinem Untergebenen über eine Braut hatten ihnen vollkommen überrascht.

Ob er den Charakter Tassilos angemessen wiedergab oder nicht, war ihm herzlich egal. Aber jetzt, wo er an diese menschliche Gestalt gebunden war, waren einige seiner Fähigkeiten eingeschränkt. Er war verwundbar und seine Sinne waren deutlich schwächer geworden. Er schnaubte unwillig. Irgendwie waren bei der Übernahme des Körpers doch alle Erinnerungen des Menschen verloren gegangen. Nun gut, dann würde es eben so gehen.

Tassilo hob stolz den Kopf und schenkte Bayliss, der ihn auf dem Augenwinkel beobachtete, einen herablassenden Blick.

„Wir sind da, Herr.“ Bayliss verneigte sich und deutete auf die Tür, vor der sie nun angekommen waren. Zwei Wachen standen rechts und links neben der Tür.

Tassilo nickte nur stumm. Die Tür sprang auf und er trat ein.

68. Erkenntnisse

„Tassilo!“

Mit einem strahlenden Lächeln fiel Sayuri dem rothaarigen Mann um den Hals. Hitomi, die nicht weit entfernt auf einem Sofa saß, betrachtete die Szene mit Kopfschütteln, sagte jedoch nichts.

„Endlich bist du hier!“ Sayuri schmiegte sich eng an ihren Bräutigam.

Der Manticor musste lächeln. Das hatte dieser Mensch also ausgeheckt. Er wollte ein Mädchen vom Mond der Illusionen heiraten. Nur – wieso? Hatte er erkannt, welche Macht von diesem Mond kam? Über welche Macht dieses Mädchen hier auf Gaia gebieten konnte?

Eine Antwort auf diese Fragen würde er wohl nie bekommen.

Gedankenverloren glitt Tassilos Hand über Sayuris rotschimmerndes, schwarzes Haar.

Es gab keinen Grund, Tassilos Plan abzuändern. Nein, gar nicht. Im Gegenteil: Der Manticor würde sich dieses Mädchen aneignen. Und gemeinsam würden sie eine neue Rasse gründen. Er lächelte und hauchte einen sanften Kuss auf Sayuris Stirn. Ihre rotbraunen Augen blickten ihn vertrauensselig an.

Oh ja... Denn seine alte Rasse war seiner Aufmerksamkeit nicht mehr würdig. Sie hatten ihn verraten. Doch mit seinen neuen Kindern würde das niemals mehr geschehen.
 

Hitomi beobachtete Tassilo und Sayuri mit einem gewissen Argwohn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das, was dort geschah, irgendetwas mit Liebe zu tun hatte. Es widerte sie an, wie diese beiden Menschen, die sie so grausam behandelt hatten, vertraulich mit einander umgingen. Nun gut, Tassilo mochte sie nicht direkt verletzt haben, aber war doch derjenige, der diesen Krieg ausgelöst hatte.

Sie stutzte. Irgendetwas brachte sie zum Innehalten.

Was...?

Verwirrt runzelte sie die Stirn. Irgendetwas umgab den rothaarigen Mann, das sie an jemanden erinnerte.

Verdammt! fluchte sie innerlich. Der Gedanke, die Erinnerung entschlüpfte ihr immer wieder.
 

„Wir werden noch heute heiraten,“ flüsterte Tassilo leise. „Und wir werden eine Hochzeit feiern, wie sie der neuen Zeit würdig ist.“ Ein düsteres Lächeln huschte über seine Lippen.

„Das ist wundervoll...“ hauchte Sayuri und blickte zu ihrem künftigen Ehemann empor. „Einfach wundervoll.“

Tassilo zog sie sanft an sich. Im Moment gefiel es ihm, sie in Sicherheit zu wiegen. An ihrer Angst und ihrem Schmerz würde er sich später weiden können. Dann, wenn sie endgültig sein war. Sein Lächeln vertiefte sich.

Erst jetzt ließ er den Blick weiter durch den Raum wandern.

Der Blick aus seinen bodenlosen Augen traf sich mit den aus Hitomis leuchtend grünen.

„Du!“ Die Worte kamen der Königin von Farnelia über die Lippen, bevor sie sie verhindern konnte. Diese dunklen Augen würde sie immer und überall wieder erkennen. Diese Augen, die ihr einmal vorgespielt hatten, dass sie ihr Freund waren. Diese Augen, die den Tod bringen wollten.

„Sieh an... Hitomi.“ Er sprach ihren Namen eigentümlich aus, sodass er fast wie ein Fluch klang.

„Wie... Wie hast du...?“ Ihre Stimme brach und sie starrte den Manticor in dieser menschlichen Gestalt an.

„Das ist doch nicht wichtig.“ Er sah sie herablassend an. „Wichtig ist nur, dass ich hier bin.“ Er schob Sayuri sanft bei Seite und kam langsam auf Hitomi zu. Die braunhaarige Frau sprang auf und wich langsam zurück. Schließlich stand sie mit dem Rücken zur Wand.

„So große Angst vor mir?“ Spott klang in Tassilos Stimme mit.

„Nein.“ Hitomi reckte trotzig das Kinn vor und funkelte ihn wütend an.

Die Miene des Mannes verdüsterte sich sichtlich. „Oh, oh... Das ist aber unklug von dir. Äußerst unklug...“

Sanft und beinahe zärtlich fuhr er mit dem Finger über ihre Wange hinab bis zu ihrer Kehle und umschloss sie fest mit der Hand. Erschrocken keuchte Hitomi auf.

„Oh ja... Es gibt nichts, was mich daran hindern könnte, dich hier und jetzt zu töten. Gar nichts.“

Langsam drückte er zu. Hitomi schnappte nach Luft und ging langsam in die Knie.

„Gar nichts...“

Plötzlich ließ er los und sie brach zu seinen Füßen zusammen.

„Du wirst noch früh genug sterben. Früh genug. Und dann wirst du deine Kraft der meinen hinzufügen.“ Er wandte sich ab.

Zusammengekauert hockte Hitomi auf dem Boden und rieb sich den Hals.

„Das werde ich nicht!“ stieß sie heiser hervor.

„Oh doch, das wirst du. Die Herrin vom See hatte auch keine Wahl. Und doch hat mich ihre Kraft zu dem hier gemacht.“ Er drehte sich mit einem strahlenden Lächeln und ausgebreiteten Armen zu ihr um.

„Nein!“ Hitomi starrte ihn entsetzt an. „Du hast sie ermordet!“

„Aber ja doch.“ Er schüttelte angesichts ihrer Empörung leicht den Kopf. „Was hast du denn erwartet? Wir leben im Krieg. Hier gibt es keine Gnade. Weder für dich, noch für deine Freunde – noch für den Drachen.“ Seine Stimme wurde lauter und eindringlicher, als er weitersprach.

„Hast du wirklich erwartet, dass ihr mich besiegen könntet? Dass ich eure dumme Idee nicht durchschauen würde? Das Ritual der Allianz – wie erbärmlich. Und wie undurchführbar ohne eine Macht vom Mond der Illusionen.“

Hitomi kam langsam wieder auf die Beine und starrte Tassilo schweigend an.

„Ist sie deshalb hier? Um diese Allianz zu deinen Gunsten zu prägen?“

Sie deutete auf Sayuri, die das Geschehen schweigend und mit blasser Miene verfolgte.

„Oh nein... Sie kam nur zu einem Zweck: Um dich zu verunsichern. Das gelang ihr ja nicht so, wie ich es mir vorstellte, aber sie hat alles wieder wett gemacht. Alles, indem sie euch verraten hat.“ Er trat zu Sayuri und legte ihr besitzergreifend den Arm um die Schultern. „Und nun wird sie meine Frau. Sie wird meine Kinder zur Welt bringen. Es ist Zeit, sich Sorgen zu machen, Hitomi.“ Er lachte dunkel auf.

69. Einsicht

Hitomi starrte den rothaarigen Diktator fassungslos an. Sayuri blickte noch immer verliebt zu dem Kaiser empor. Hatte dieses dumme Mädchen überhaupt begriffen, was der Manticor ihr antun würde? Was geschehen würde?

Die Königin von Farnelia schüttelte den Kopf. Alles war so aussichtslos. So unglaublich aussichtslos.

„Geliebter, was bedeutet das alles, was du zu Hitomi gesagt hast?“ Sayuris dünne Stimme durchschnitt die düstere Stille in dem Raum.

„Nichts weiter, meine Liebe. Nichts weiter.“ Tassilo presste das Mädchen fest an sich.

„Nein, das hat etwas zu bedeuten.“ Brüsk machte sie sich aus seiner Umarmung frei. „Warum kennst du sie auf einmal so gut? Du hast sie doch vorher keines Blicks gewürdigt! Was ist das für eine Rede von Drachen – und von Morden?!“

Ihre Stimme gewann einen hysterischen Klang.

„Ja, genau, erklär es ihr,“ mischte sich nun auch Hitomi ein. „Sag diesem Kind, was du mit ihm vorhast! Sag ihr, was sie an deiner Seite erwartet, du Monster!“

Tassilo blickte mit einem unmenschlichen Knurren von Sayuri und dann zu Hitomi.

„Was denn? Angst?“ Die Königin von Farnelia lachte spöttisch auf. „Das passt nicht zu dir, du verdammter Tyrann!“

„Halt den Mund!“ Tassilo stürzte plötzlich auf sie zu, griff sie an den Armen und schleuderte sie mit schier übermenschlicher Kraft einmal quer durch den Raum. Mit einem hellen Aufschrei prallte Hitomi gegen einen Spiegel. In einem Scherbenregen landete sie auf dem Boden. Splitter schnitten ihr in die Haut und sie bekam durch diesen heftigen Aufprall kaum Luft.

„Was tust du?!“ Sayuris Stimme überschlug sich. Nackte Panik war darin zu hören. Blitzschnell wirbelte der rothaarige Mann herum und fasste sie grob an den Oberarmen.

„Du hältst jetzt besser den Mund – ansonsten geht es dir wie ihr! Glaub nicht, dass ich vor dir halt machen würde!“ fauchte er zornig.

Blass und ängstlich nickte Sayuri. Tränen der Angst rannen ihr über die Wangen.

Keuchend richtete sich Hitomi auf. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte sie sich einige Splitter von den Schultern. Als sie eine sehr lang gezogene und fast schon dolchartige Scherbe berührte, durchzuckte sie eine Idee.

„Das kannst du ihm getrost glauben, Sayuri,“ höhnte sie. „Er macht vor niemandem Halt. Auch vor dir nicht. Weder jetzt noch in Zukunft. Wach auf, Schätzchen, du bist in der Hölle gelandet.“

Sayuri zuckte bei ihren Worten zusammen. Mit einem leisen Grollen stieß Tassilo das Mädchen von sich, wirbelte herum und strebte auf Hitomi zu.

„Du sollst schweigen!“ brüllte er, beugte sich vor und griff nach der jungen Frau. In diesem Moment zog sie die Scherbe hervor und stieß zu.
 

„Wie lange es wohl noch dauert?“ fragte Shid leise. Die Stimme des jungen Herzogs klang schwach. Es war unübersehbar, dass er mit seinen Kräften langsam am Ende war. Wie ein Häufchen Elend hing er in seinen Ketten.

Allen sah ihn besorgt an. Seinem Sohn ging es sichtlich schlecht. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, ergriff Laures das Wort.

„Es wird nicht mehr lange dauern. Halte durch.“ Seine dunkle Stimme klang seidigweich und seltsam beruhigend. „Glaubt daran, dass alles gut werden wird und dann wird es das.“

„Denkst du das wirklich?“ Van zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Erneut zerrte er an seinen Ketten und erneut musste er einsehen, dass sein Aufbäumen nichts brachte.

„Ja, das tue ich.“ Laures blickte seinen Vater aus den dunklen Augen an.

Weißt du denn nicht, wie es ausgehen wird?“ fragte Alexander plötzlich provozierend. „Du tönst doch die ganze Zeit davon, dass geschieht, was geschehen muss. Was kann denn dann so ein verdammter Glaube ändern? Du musst doch dann auch wissen, was geschehen wird.“

Dank Alexanders Worten besaß Laures nun die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Gefangenen in diesem Frachtraum. Vans Sohn lächelte wissend und schon fast etwas herablassend.

„Viel davon ist nur ein Gefühl,“ erklärte er sanft. „Ein Gefühl, dass das, was geschieht, richtig ist – oder falsch. Dass es Sinn macht. Dass es unausweichlich ist. Genauso ist es jetzt. Ich weiß, dass es nicht mehr lange dauert. Alles strebt zu dem Ort, an dem das letzte Gefecht ausgetragen wird. Ich weiß nicht, wer gewinnen wird, ich weiß nur, dass ich mein Schicksal erfüllen werde. Was danach kommt...“ Ein leichtes, unergründliches Lächeln spielte um seine Lippen. „Was danach kommt, ist nach mir und für mich bedeutungslos.“

Schweigen folgte auf seine Worte. Jeder versuchte irgendwie Sinn in ihnen zu finden.

„Moment mal!“ Vans Stimme überschlug sich fast. „Heißt das etwa, dass du sterben wirst?“ Hemmungsloses Entsetzen war in das Gesicht des Königs von Farnelia geschrieben.

„Ach, Vater...“ Laures blickte ihn mit einem leichten Bedauern in den Augen an. „Ich sagte doch, ich weiß nicht, was geschehen wird. Vielleicht werde ich leben. Vielleicht sterben. Welche Rolle spielt das denn schon?“

„Eine verdammt große!“ knurrte Van. „Ich will nicht einen Sohn verlieren, den ich gerade erst gefunden habe. Und den ich noch nicht einmal richtig kenne!“

Verblüfft schaute Laures den jungen Krieger an. Mit solchen Worten hatte er nicht gerechnet. Niemals. In seinen Augen begann es, verdächtig zu glitzern.

„Vater... Das ist... Danke,“ stammelte er und schenkte Van zum ersten Mal, seit er denken konnte, ein warmes, liebesvolles Lächeln.

70. Blut

Dass sich die scharfe Spiegelscherbe nicht direkt in Tassilos Herz bohrte, lag allein daran, dass sich sein Arm vor der Brust befand, als Hitomi zustach. Die Scherbe drang tief in den Arm ein und Blut sprudelte hervor. Der rote Strom bespritzte nicht nur den Diktator, sondern auch Hitomi. Der Manticor stieß einen unmenschlichen Schrei aus.

Hitomi starrte ihn fassungslos an. Sie hatte versagt – und wahrscheinlich gerade ihr Leben verspielt. Blutverschmierte Hände schlossen sich um ihren Hals und drückten erbarmungslos zu. Sie schnappte verzweifelt nach Luft.
 

Sayuri stand mit ausdrucklosem, bleichen Gesicht dabei. In ihren Gedanken arbeitete es. Sie wurde benutzt. Nichts weiter als benutzt. Es geschah genau das, was sie so oft mit anderen getan hatte. Sie hatte sie benutzt, ausgenutzt und weggeworfen, wenn sie die anderen nicht mehr gebraucht hatte. Doch jetzt wurde sie benutzt. Und dieser Mann würde sie niemals wegwerfen. Sie würde sein Spielzeug sein – bis ans Ende ihres Lebens. Was sie an endlosen Grausamkeiten erwartet, konnte sie zwar nur erraten, aber allein das reichte aus, um sie fast panisch werden zu lassen.

In ihr reifte eine Entscheidung. Die einzige Quasi-Verbündete, die sie hatte, war Hitomi. Hitomi kämpfte gegen den Mann an, der sie – Sayuri – versklaven würde. Also musste sie an Hitomis Seite treten. Aber dennoch musste sie den Schein wahren, wollte sie nicht ihr Leben verlieren.

Sayuri sprang vor, griff nach Tassilos blutverklebten Händen und zerrte daran.

„Lass sie los! Deine Wunde ist wichtiger! Du musst sie verarzten!“ Helle Panik klang in ihrer Stimme mit. Panik, die sich gut darauf beziehen ließ, dass sie sich um Tassilo sorgte, obwohl sie in Wirklichkeit nur Angst hatte, dass die Einzige, die ihr beistehen konnte, starb.

„Tassilo!“ Sayuris Stimme überschlug sich. „Lass los!“
 

Verzerrt nahm Hitomi war, was geschah. Sayuri half ihr? Oder wollte sie den Manticor retten? War sie so verblendet, dass sie immer noch nichts verstand?

Plötzlich ließ der Druck auf ihre Kehle nach. Irgendwie musste Sayuri es geschafft haben, Tassilo von ihr fortzuzerren. Keuchend lehnte Hitomi den Rücken gegen die Wand und strich sich die Haare aus der Stirn. Überall war Blut. Tassilos Blut. Das Blut des Manticor.
 

Sayuri zerriss ihren Rocksaum und band damit die Wunde an Tassilos Arm notdürftig ab.

„Du musst zu einem Arzt. Das muss genäht werden,“ sagte sie bestimmt. „Verdammt, du verblutest sonst!“

Aus dem Augenwinkel registrierte sie zufrieden, wie Hitomi sich aufgerichtet hatte und wieder ruhiger atmete. Glücklicherweise schien die junge Frau keine schweren Verletzungen davongetragen zu haben.

Tassilo starrte aus seinen nachtschwarzen Augen fassungslos auf das Blut hinab. Er begriff erst jetzt, wie unglaublich zerbrechlich dieser menschliche Körper war. Er spürte in sich noch immer die brodelnde Wut darüber, dass es dieses Menschenmädchen geschafft hatte, ihn zu verletzen, doch durch diesen dumpfen Zorn hatte er auch Sayuris Stimme, ihr Flehen gehört – und begriffen, dass sie Recht hatte. Er wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, dass er mit seinem Leben gezahlt hätte, um Hitomi umzubringen. Und das war sie nun definitiv nicht wert.

„Ja...“ sagte er leise und stand auf. Sayuri stützte ihn dabei. Behutsam führte sie ihn zur Tür.

Kaum hatten sie den Flur betreten, als auch schon zwei völlig fassungslose Wachmänner an ihrer Seite erschienen.

„Herr, was ist geschehen?“

„Sie hat mich... angegriffen.“ Der Schock über die Verletzung saß immer noch tief in Tassilo.

„Sie?“ Sofort griffen die beiden Soldaten nach ihren Schwertern und wollten sie auf Sayuri richten.

„Nein!“ Abwehrend hob Tassilo eine Hand. „Die andere...“ Er hielt inne und schien einen Moment nachzudenken. „Du, bring sie in eine Zelle. Und du, bring uns zur Krankenstation,“ befahl er. Die Soldaten nickten knapp.
 

Hitomi saß noch immer erschöpft auf dem Boden mitten in den Scherben des Spiegels, als der Soldat hereinkam. Er hatte einiges erwartet, aber nicht diesen Anblick. Die junge Frau schien in Blut getaucht worden zu sein. Ihr Gesicht war blass und sie schnappte dann und wann nach Luft.

Einen Moment lang zögerte der Soldat, dann beugte er sich vor und griff Hitomi am Arm. Erst jetzt bemerkte sie ihn. Aus glasigen Augen sah sie ihn an. Fast willenlos ließ sie sich auf die Beine ziehen.

„Ich habe versagt,“ murmelte sie leise. „Ich habe versagt...“ Ihre Stimme war heiser und seltsam dumpf. Ein leichter Schauer rann dem Soldaten über den Rücken. Diese Frau musste wahnsinnig sein – ansonsten hätte sie es niemals gewagt, den arkadischen Kaiser anzugreifen. Und ihre Worte sorgten nicht gerade dafür, dass sich der Krieger in ihrer Nähe wohler fühlte. Gegen feindliche Soldaten zu kämpfen war eins, aber sich mit offenkundig durchgeknallten Weibern abzugeben etwas gänzlich anderes.

71. Besuch

„Hier, wisch dir wenigstens das Blut aus dem Gesicht!“

Grob wurde Hitomi ein nasser Lappen zugeworfen. Sie fing ihn auf und rieb sich langsam das Gesicht ab. Der Soldat hatte sie in eine kleine Zelle gebracht. Dort war sie von einem weiteren Soldaten in Empfang genommen worden, einem schlaksigen Mann mit grauem Haar, der sich zwangsweise ein wenig um sie kümmerte. Hier, auf dieses Abstellgleis in den Kerkern abgeschoben, war er ganz froh darüber, wenn er etwas zu tun hatte. Angeblich war er ja zu alt, um noch viel im aktiven Dienst leisten zu können – nur auf Gefangene aufpassen konnte er. Der Soldat verdrehte die Augen und beobachtete, wie Hitomis Gesicht unter der langsam schwindenden Blutkruste zum Vorschein kam.

„Na, jetzt siehste wieder ganz passabel aus.“ Er grinste Hitomi freundlich an.

„Danke...“ murmelte sie und warf ihm den Lappen zurück.

„Schon gut. Würd dir ja auch andere Klamotten geben, hab aber keine. Hier unten wird man leicht vergessen...“ Grummelnd verschränkte er die Armee vor der Brust und begann, auf seinem Stuhl herumzukippeln. Dabei kaute er auf irgendetwas herum, von dem Hitomi gar nicht wissen wollte, was es war.

Sie ließ sich auf die schmale Pritsche sinken, die die Hälfte ihrer Zelle einnahm. Müde rieb sie sich mit den Händen über die Augen.

„Wenn was ist, sag Bescheid,“ brummte der Soldat noch. „Bin übrigens Dast.“

Schweigend nickte die Königin von Farnelia.
 

Irgendwann ging die Tür zum Kerker auf und eine schmale Gestalt schob sich hinein. Dast blickte von seiner Zeitung auf und musterte den Besucher kurz. Es war Mignon, das seltsame Kind, das seit einiger Zeit frei in der Festung herumspazierte und des Kaisers Liebling war. Beinahe gelangweilt las Dast weiter – das Kind war keine weitere Aufmerksamkeit wert. Erstens war es harmlos und zweitens war es der Liebling des Kaisers und konnte eh tun und lassen, was es wollte.

Langsam trat Mignon an Hitomis Zelle heran. Die Königin von Farnelia war eingeschlafen und lag eng zusammengerollt auf der Pritsche. Stumm musterte das Kind sie. Sein Blick glitt über die blutverschmierte Kleidung, die hier und da immer noch mit einigen Scherben gespickt war, wanderte zu den Würgemalen an ihrem Hals und den verklebten Haaren. Der Ausdruck in seinen Augen wurde traurig.

Abrupt erwachte Hitomi und setzte sich auf. Sie starrte das Kind an, als wenn sie ein Gespenst gesehen hätte. Mignons goldene Haut schimmerte in dem schwummrigen Licht und sein Haar schien wie reinstes Silber.

„Wer bist du? Wer und was bist du?“

„Ich habe viele Namen. Aber hier heißt man mich Mignon...“ antwortete das Kind mit einem Lächeln.

„Ich kenne dich,“ fuhr Hitomi leise fort und musterte das Kind aufmerksamer. Ihr entging nicht dieses seltsame Funkeln in seinen Augen und diese vertraute, aber zugleich auch vollkommen fremde Aura, die es umgab. „Ich kenne dich – und doch kann ich mich nicht erinnern woher. Oder wer du bist. Dabei ist es zum greifen nahe.“

Sie brach ab und ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber das bist du gewohnt, nicht wahr?“

Ein rätselhafter, wissender Gesichtsausdruck war die einzige Antwort, die sie bekam.

„Was tust du hier, Mignon?“

„Zuversicht geben,“ antwortete es und streckte die Hand durch die Gitterstäbe.

Hitomi stand wie hypnotisiert auf und ergriff seine Hand. Sie fühlte sich warm an. Lebendig und menschlich. Und doch so anders.

„Was bist du nur?“

„Eine Antwort wirst du bald bekommen. Alle werden sie bekommen.“

„Warum sprichst du mit mir? Warum... redest du nicht in Rätseln? Wie bei Sayuri? Sie hast du nur mit einem Lied angesprochen...“

„Lieder haben ihre Zeit, Gespräche eine andere.“

Das Kind zog seine Hand langsam aus Hitomis zurück und strich der jungen Frau sanft über die Wange.

„Verlier die Hoffnung nicht.“

Damit wandte sich Mignon ab und ließ Hitomi allein zurück.
 

Nachdenklich blickte die Königin von Farnelia dem Kind nach. Diese Aura verwirrte sie grenzenlos. Diese Vertrautheit war so greifbar... Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass es sich bei Mignon um ein vollkommen fremdes Wesen handelte. Ein Wesen, vergleichbar Drache und Manticor und doch – vielleicht sogar noch ungleich mächtiger.

Sie strich sich durch die verklebten Haare und zupfte gedankenverloren an einer Strähne. Konnte es sein, dass dieses Kind und dieses seltsame Wesen, das sie im Traum besucht hatte, ein und das selbe waren? Konnte es sein, dass dieses Kind ein Geheimnis verbarg, dass für die Zukunft Gaias elementar wichtig war? Konnte es sein, dass dieses Kind Drache und Manticor die Stirn bieten würde? Aber warum war es dann hier? Warum stand es hier neben dem Manticor? Waren sie Verbündete? War das Schicksal Gaias schon so gut wie besiegelt?

Fragen über Fragen – doch auf keine würde sie hier eine Antwort bekommen.

72. Bald

Dast musterte die Gefangene über den Rand seiner Zeitung. Hitomi Farnel. Wenn es eine Frau gab, die es auf Gaia zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte, dann sie. Vom Mond der Illusionen stammend, alle Standesgrenzen überschreitend war sie Königin geworden – und kämpfte diesen ziemlich aussichtslosen Kampf. Der alternde Soldat musste sich eingestehen, dass er einen gewissen Respekt für sie hegte. Immerhin kämpfte sie. Nicht wie er, der er schon längst aufgegeben hatte...

Er seufzte leise. Aber was konnte er schon tun? Er war nur hier und schob Wache. Als Kindermädchen sozusagen. Wie er das hasste! Wie er diesen verdammten arkadischen Idioten hasste, der sich Kaiser schimpfte!

Hatte er das jetzt wirklich gedacht? Nun, es schien so – und beruhigenderweise konnte man ihn für Gedanken nicht bestrafen. Ansonsten säße er jetzt nicht mehr hier...

Sein Blick wanderte wieder über Hitomi, die zusammengekauert auf der Pritsche hockte. Verdammt, er wünschte sich, dass sie gewann. Dann würde wenigstens dieses erbärmliche Kerkerdasein ein Ende haben.
 

„Es wird Zeit...“ Tassilo hatte sich mittlerweile wieder gefangen. Sein Blut schien zu kochen, aber nach außen hin war er ruhig. Er würde dieses dumme Menschenmädchen bestrafen. Sie würde sie alle sterben sehen – und erst als Letzte würde sie ihren letzten Gang hinter sich bringen. Den auf seinen Altar, um ihm ihre besondere Kraft zu geben. Der rothaarige Mann lächelte leicht.

Sayuri schenkte ihm einen unsicheren Blick. Seit sich ihr zukünftiger Gatte wieder in der Gewalt hatte, war er ihr unheimlicher als je zuvor. Er war still und brütete doch vor sich hin. Und wenn sie sich nicht sehr täuschte, dann waren das keine besonders positiven Gedanken. Eher das Gegenteil. Wahrscheinlich sann er darüber nach, wie er Hitomi umbringen würde...

Verdammt! Sie ist meine einzige Chance! Ohne sie...

Sayuri schluckte leicht. Sie hatte Angst. So große Angst, dass sich ihr die Kehle zuschnürte und sie nicht mehr klar denken konnte. Wenn diese verdammte Eheschließung nicht verhindert werden würde, dann würde sie Tassilos Spielzeug sein. Etwas, das ihr mittlerweile so absolut nicht mehr erstrebenswert erschien. Na gut, am Anfang, da war er verlockend. Ein Kaiser, ein erwachsener, mächtiger Mann und kein solch ein Bübchen, wie sie in ihrer Schule herumliefen. Und noch dazu schien er auf der richtigen Seite zu stehen – auf der Seite der Gewinner. Aber jetzt... Sie wollte kein verdammtes Wegwerfspielzeug sein – und keine Gebärmaschine! Gerade letzteres schien es doch zu sein, was er wollte...

Sayuri strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ein bohrender Blick richtete sich auf sie.

„Es wird Zeit,“ wiederholte Tassilo ungeduldig.

Sie blickte ihn fragend an.

„Die Hochzeit – lass dich ankleiden.“ Mit einer leichten Handbewegung schickte er sie fort.

Unsicheren Schrittes folgte sie den beiden Soldaten, die sie in ihr mittlerweile wieder hergerichtetes Quartier zurückführten. Es war also bald so weit. Und sie würde nicht entkommen können. Bisher hatte sie sich immer aus Schwierigkeiten herauswinden können, aber dieses Mal? Dieses Mal sah es ganz und gar nicht danach aus...
 

Das Luftschiff legte an der fliegenden Festung an.

„Los, aufstehen!“ Grobschlächtige Soldaten zerrten die Gefangenen aus dem Frachtraum heraus.

„Hey!“ knurrte Van ungehalten, als jemand Alexander brutal hinter sich herschleifte. Der junge Mann konnte sich nicht auf den Beinen halten. Noch immer geschwächt konnte er nur darauf achten, so wenig von den Wänden, Türen und ähnlichem abzubekommen.

Für seine vorlaute Bemerkung erhielt der König von Farnelia nur einen kurzen Schlag zwischen die Schulterblätter und wurde weiter vorwärts geschubst.

Kaum waren sie auf dem Landedeck angekommen, wurden sie getrennt. Die Gruppe um Allen wurde sofort in die tiefen der Festung gebracht, während Van, Laures und Alexander zurückblieben.

„Wo bringt Ihr sie hin?“ Van warf sich ungehalten gegen die Wächter, die ihn festhielten.

„Weg – sie werden noch nicht gebraucht.“

Ein Soldat mit grau meliertem Haar antwortete ihm knapp und kurzangebunden.

„Die Frauen da hinten noch,“ befahl der Mann noch im gleichen Atemzug und deutete auf Auriana und Lauria. „Und die Kinder.“

Die Zwillinge Vargas und Varie wurden den Frauen kurzerhand in die Arme gedrückt. Diese wurden daraufhin zu den anderen Gefangenen gebracht.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren – seine Majestät wartete bereits ungeduldig auf seine Gäste.“
 

Auriana drückte Vargas sanft an sich und schritt gehorsam aus. Sie passte sich dem Tempo an, um möglichst wenig von den Grobheiten der Soldaten zu spüren zu bekommen. Es war also so weit – sie würden ihm gegenüber treten müssen.

Es war definitiv nicht Tassilo, der ihr Sorgen machte. Nein, dieser Mann machte ihr keine Angst. Höchstens etwas Sorge. Vor dem Manticor fürchtete sie sich. Und die Tatsache, dass die Verbliebenen um sie herum alle die Gene des Drachen oder des Manticor in sich trugen, sorgte nicht gerade dafür, dass sie sich wohler fühlte. Im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, dass ihnen schon sehr bald etwas Schreckliches bevor stand. Etwas Großes – und Schreckliches.
 

„Los, beweg dich!“

Die Tür zu der Zelle wurde aufgestoßen und ehe Hitomi richtig begriff, was los war, hatten sie schon zwei Paar Hände gepackt, von der Pritsche hochgehoben und aus dem Kerker geschleift. Sie fing noch kurz einen Seitenblick des wachhabenden Soldaten Dast auf, in dem sie so etwas wie Hoffnung lesen konnte, dann war der Moment auch schon vorbei und sie fand sich auf dem Gang wieder. Beständig geschubst stolperte sie den düsteren Gang entlang. Wohin brachte man sie? Sie wollte nachfragen, doch als sie in die Gesichter der beiden Soldaten spähte, entschied sie sich doch lieber dagegen. Die beiden sahen bedingt gesprächig aus – und noch mehr Schubser brauchte sie wirklich nicht. Es war ja so schon schwierig genug für sie, auf den Beinen zu bleiben und das Tempo zu halten, das von ihr verlangt wurde.

73. Wiedersehen

Sayuri zupfte an ihrem Kleid herum. Rot? Blutrot für eine Hochzeit? Das erschien ihr unpassend, aber andererseits kannte sie sich mit den Sitten auf Gaia nicht aus. Vielleicht war das hier normal. Was wusste sie schon?

Ja, was wusste sie? Gar nichts, um das einmal auf den Punkt zu bringen. Überhaupt nichts. Und dennoch hatte sie sich angemaßt, eine Entscheidung zu treffen. Sich auf eine Seite zu stellen. Wie blöd konnte man eigentlich sein?

„Die Hoffnung lebt,“ flüsterte eine Stimme neben ihr.

Sayuri wandte den Kopf und blickte dem seltsamen Kind ins Gesicht, das Tassilo stets umgeben hatte und ihn seit kurzer Zeit doch eher zu meiden schien. Es wirkte seltsam entspannt, ja beinahe schon fröhlich.

„Hoffnung – was bedeutet das schon?“ erwiderte Sayuri bitter.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Mignon legte den Kopf schief und strich dem Mädchen vom Mond der Illusionen sanft über die Wange. Ein leichtes Prickeln durchfuhr Sayuri und erschreckte sie. Was war das für ein seltsames Kind?

„Wie kann ich denn noch hoffen?“ fragte das Mädchen leise.

Das Kind antwortete nicht, sondern lächelte nur weiter.
 

Die Tür zu dem Saal wurde aufgestoßen. Zwei Soldaten kamen mit Hitomi in ihrer Mitte herein. Ihnen folgte Leutnant Berengar.

Mit einer knappen Geste schickte er die beiden Wächter wieder weg, fasste Hitomi selbst am Arm und zog sie zur Seite. Die Hand fest in ihrer Schulter vergraben bezog er an einem Punkt in dem Saal Stellung, von wo sie problemlos den großen Altar mit den tiefen Rinnen als auch den Rest des Saales gut sehen konnte. Besonders die Eingangstür.

„Ruhig. Keine Bewegung oder du bereust es.“

Hitomi blinzelte kurz über ihre Schulter in das Gesicht des Mannes, der sie im Wald besiegt hatte. Der kalte Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er es Ernst meinte. Er würde nicht zögern und sie hier und jetzt umbringen. Auch wenn das seinem Kaiser wenig gefallen mochte...

„Ach?“ Trotzig blickte sie ihn an. „Auch, wenn du deinen Kopf damit riskierst?“

Ohne ein Wort zu sagen, holte Berengar auf und schlug sie. Hitomis Kopf wurde in den Nacken geworfen und ihre Lippe platze auf. Sie schmeckte Blut. Mit einer Hand wischte sie es sich vom Mund und blickte Berengar an.

„Keine Schonung, hm?“ murmelte sie leise.

Ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf Berengars Gesicht ab. „Man kann viel tun, ohne dass jemand stirbt. Das Einzige, was interessiert, ist, dass du lebst... Also fordere nichts heraus.“

Hitomi wandte sich ab. Noch immer war die Hand des Leutnants fest in ihrer Schulter vergraben. Seine Finger bohrten sich schmerzhaft hinein, doch sie würde nichts sagen. Genauso wenig, wie ein Schmerzlaut für den Schlag über ihre Lippen gekommen war. Diese Befriedigung gönnte sie ihm nicht.
 

Noch lange bevor der Gefangenentrupp den Zeremoniensaal erreicht hatte, hörte man sie. Stolpernde Füße, leise Flüche, harsche Befehle. Hitomi spitzte die Ohren. Wer kam da? Wer?

Anspannung machte sich in ihr breit, unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, ohne das richtig zu bemerken. Van? War Van dabei? Und ihre Kinder? Ihre Freunde? Waren sie hier?
 

Die Antworten auf ihre Fragen bekam sie einen Moment später. Van wurde als erster in den Saal gestoßen. An der Schwelle kam er ins Stolpern und schlug lang hin.

„Van!“ Hitomis Stimme überschlug sich. Sie wollte zu ihm eilen, doch Berengar hielt sie unnachgiebig fest.

„Du wirst zusehen,“ zischte er ihr ins Ohr. „Nichts weiter als zusehen!“

Verzweifelt sah Hitomi zu, wie Van ihr einen kurzen, besorgten Blick zuwarf und dann wieder auf die Beine gezerrt wurde.

Von zwei Soldaten flankiert, blieb er gegenüber von Hitomi stehen. An seiner Seite fanden sich kurz darauf Alexander, Laures, Lauria und Auriana an. Die beiden Frauen trugen noch immer die Kinder.

„Varie, Vargas...“ Hitomi flüsterte die Namen ihrer Kinder leise. Am liebsten wäre sie zu den beiden gestürmt, aber die scheinbar eiserne Hand schloss sich unnachgiebig um ihre Schulter.
 

„Hitomi...“ Der Name kam Van beinahe lautlos über die Lippen. Er war erleichtert, dass sie lebte, aber gleichzeitig fragte er sich, was sie hier tat. Und was dieser ganze verdammte Aufmarsch hier sollte. Sein Blick wanderte durch den Raum. Hitomi und ihr Wächter standen ihm gegenüber. Die anderen waren an seiner Seite. Die Front des Saales nahm ein Podest mit einem Altar ein. Daneben stand eine junge Frau, eher noch ein junges Mädchen in einem leuchtend roten Kleid und daneben ein Kind, undefinierbaren Alters und Geschlechts mit silbrigem Haar und goldglänzender Haut.

Bevor er es noch näher in Augenschein nehmen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit Richtung Tür gezogen. Mit einem leisen Summen auf den Lippen betrat eine Prozession weißgewandeter Priester den Saal. Sie schritten auf den Altar zu und stellten sich daneben. Gerade als Van dachte, dass es vorbei war, kam noch jemand den Saal.

In sein blutrotes Zeremoniengewand gekleidet schritt Tassilo hinein. Sein rotes Haar wehte wie eine blutige Fahne hinter ihm her, während er an den Gefangenen vorüberging. Van rann ein leichter Schauer über den Rücken. Das war der arkadische Kaiser. Die Aura, die ihm umgab, triefte nur so vor Dunkelheit und Gefahr. Der König von Farnelia schluckte schwer. Gut, er hatte geahnt, dass sie in Schwierigkeiten waren, aber gerade gewann er den Eindruck, dass ‚Schwierigkeiten’ dafür eine gelinde Untertreibung war....
 

Tassilo war neben dem Altar angekommen und wandte sich den Menschen im Saal zu.

„Willkommen, meine Gäste.“ Leichter Spott klang in seiner dunklen Stimme mit. Seine bodenlosen Augen glitten über die Gefangenen und blieben mit einem Lächeln an Auriana hängen. Die blonde Prinzessin schrak zusammen. Sie erkannte ihn. Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht und ihre Knie wurden weich.

„Willkommen zu meiner Hochzeit!“ Er breitete die Arme aus. „Willkommen zu eurem Tod!“

74. Bedrohung

„Tod?“ Sayuris Stimme war kaum hörbar und sie schlug die Hand vor den Mund. Grenzenloses Entsetzen stand in ihren Augen.

Mignon musterte sie kurz und legte ihr dann die Hand auf den Arm. Das Mädchen sah das seltsame Kind an und flüsterte dann tonlos: „Das habe ich nicht gewollt. Das habe ich nie gewollt...“

Das Kind erwiderte nichts, sondern blickte die Braut nur unverwandt an. Sayuri hatte urplötzlich das Gefühl, dass dieses Kind nicht das war, was es zu sein schien. Es schien ungleich älter zu sein. So alt wie die Welt...
 

In einem Schatten hielten sich Jarrow und Bayliss an die Wand gedrückt. Diese Zeremonie wollten sie sich nicht entgehen lassen. Bayliss schlug zwar das Herz bis zum Hals, aber er würde sich nicht von seiner eigenen Angst abhalten lassen. Um irgendwann einmal einen Chance gegen diesen Diktator zu haben, mussten sie wissen, was geschah. Jarrow dagegen wollte sich nichts entgehen lassen, an dem Berengar teilhatte. Es gab schließlich genug Gründe, ihm auf den Fersen zu bleiben, musste der Kommandant doch ständig mit einer heimtückischen Aktion des Elitesoldaten rechnen. Abgesehen davon trauten sie einander kein bisschen und würden entsprechend den Teufel tun, den anderen hier und jetzt allein zu lassen.
 

Hitomi keuchte unterdrückt auf. Tassilo würde sie also alle umbringen! Tassilo? Nein, der Manticor! Das hier mochte einmal der arkadische Kaiser gewesen sein, doch nun war er nur noch die Hülle für das bösartige Wesen in seinem Inneren.

Hitomi tauschte einen kurzen Blick mit Van, der sie mit schreckgeweiteten Augen ansah. Ihre Lippen formten ein Wort, das Van jedoch nicht verstand, und bevor er darüber rätseln konnte, wurde seine Aufmerksamkeit wieder von Tassilo angezogen.

Die Stimme des rothaarigen Mannes dröhnte weiter durch den Raum.

„Meine Lieben, ihr wart niemals würdige Gegner für mich. Zu dumm habt ihr euch angestellt. Und jedes einzelne Mal habt ihr nur so etwas wie einen ‚Sieg’ davon tragen können, weil euer intriganter Freund an eurer Seite stand. Weil er euch jedes Mal den Hals gerettet hat – weil es in seinem Interesse stand. Weil er euch benutzt hat. Jedes Mal war euer Leben gleichgültig, solange er an mich herankommen konnte. Ihr seid armselige Figuren in seinem Spiel gewesen. Jedes Mal aufs Neue. Und jedes Mal habt ihr euch darauf eingelassen. Wieder und wieder. So wie Lemminge beständig in ihren Tod zu rennen versuchen.“

Bleiche Gesichter sahen sich an. Auch wenn sie wussten, dass er log, fraßen sich seine Worte doch in ihre Seelen. Waren sie nur Spielfiguren gewesen?

Laures schüttelte stumm den Kopf. Synchron tat es ihm Lauria gleich. Nein, sie hatten sich gewehrt und trugen ihr Schicksal nun in ihren eigenen Händen. Sie würden ihren Weg vollenden, ohne ihm dabei zu Diensten zu sein. Weder ihm noch dem Drachen. Keinem der beiden.
 

Alexander gaben die Knie nach. Etwas in seinem Inneren drängte nach draußen und da er diesen Ausbruch mit aller Macht verhinderte, breitete sich unsäglicher Schmerz in seinem Inneren aus. Die Pein ließ ihn zu Boden sinken. Keuchend hielt er die Hände an die Schläfen gepresst. Sein Kopf schien ihm zu explodieren.

„Alex!“ Van wollte zu seinem Neffen, stürmen, doch unbarmherzig wurde er festgehalten. Er konnte nichts weiter tun, als den Sohn seines Bruders besorgt anzustarren. Auch die anderen wurden brutal daran gehindert ihm beizustehen.

Unter stummer Qual wand sich der junge Mann mit leichenblassem Gesicht auf dem Boden. Was geschah mit ihm?
 

Tassilo beachtete den jungen Mann gar nicht, als er langsam auf die Gefangenen zutrat. Vor Auriana blieb er stehen und strich ihr zärtlich ein paar wirre, blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Unterlippe zitterte leicht und nackte Panik stand in ihren Augen.

„Aber, aber... Mein Kind, du wirst doch keine Angst vor mir haben.“ Tassilos Mund lächelte, doch seine Augen blieben kalt.

„Warum solltest du auch Angst haben?“

Langsam schlang sich seine Hand um ihren Nacken. Urplötzlich griff er hart zu und zog ihren Kopf bei Seite. Auriana entwich ein heller Aufschrei.

„Du hast mich verraten!“ zischte der Diktator. „Du hast mich verraten und dafür wirst du bezahlen! So teuer, wie du es dir jetzt noch nicht vorstellen kannst.“

Abrupt ließ er die junge Frau los und während Auriana noch um so etwas wie Fassung rang, nahm er ihr Vargas ab. Der kleine Junge blickte ihn aus großen Augen an, gab jedoch keinen Laut von sich.

„Was...?“ flüsterte Hitomi erschrocken. Was wollte dieses Monster mit ihrem Kind?

Mit zwei Schritten war der Kaiser bei Lauria und nahm ihr Varie ab. Die beiden Kinder im Arm trat er zu dem Altar und legte sie nieder.

„Nein...“ Hitomi war fassungslos.

„Nein!“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie wollte losstürmen, doch Berengar griff in ihren Haarschopf und riss ihren Kopf in den Nacken.

„Sieh zu. Schrei so viel du willst, aber du wirst nur zusehen,“ raunte ihr der Soldat ins Ohr.

Er würde sie nicht loslassen. Niemals. Und es schien ihm regelrecht ein Vergnügen zu sein, die Verzweiflung und das Leid in diesem Raum zu sehen.

Als Berengar seinen Griff einigermaßen gelockert hatte, warf Hitomi einen kurzen Blick zu Van hinüber. Das frische Blut, das ihm über die Unterlippe lief, war Hinweis genug, dass auch er nicht widerstandslos bereit war, anzusehen, was Tassilo ihren gemeinsamen Kindern antat.
 

„Diese beiden werden als erstes ihr Leben lassen und ihre Kraft zu der meinen hinzufügen,“ deklamierte Tassilo, während drei der Priester die Nachkommen des farnelianischen Königspaars an den Altar banden. Noch immer waren Varie und Vargas still. Beinahe zu still. Sie konnten nur unter Schock stehen, ansonsten hätten sie längst geweint.

„Ihr Blut wird das Band zwischen mir und meiner Kaiserin besiegeln!“

Sayuri riss den Kopf hoch und starrte Tassilo erschrocken an. Das Blut dieser Kinder?

„Komm zu mir!“ Er streckte die Hand nach ihr aus und wie betäubt, ja, nahezu willenlos schritt sie auf ihn zu.
 

„Lass mich frei... Vertrau mir...“

Sanft raunte die Stimme in Alexanders Gedanken. Er kannte sie und er vertraute ihr. Ganz vorsichtig wagte er es, sich zu entspannen. Augenblicklich ließ der Schmerz nach. Bevor er darüber jedoch Erleichterung verspüren konnte, verlor er die Kontrolle über seinen Körper.

An den Rand des Bewusstseins gedrängt erlebte er, wie sein Körper aufstand und mit gellender Stimme aufschrie. Einer Stimme, die nicht die seine war.

„Wag es nicht!“

75. Enthüllungen

Die Augen sämtlicher Anwesenden richteten sich auf Alexander. Während in Tassilos bodenlosen Augen unverhohlener Hass und brodelnde Wut lagen, stand in denen von Alexanders Freunden nichts als Unverständnis. Es war Van, der als Erster – und noch vor Tassilo – seine Sprache wiederfand.

„Alex?“ fragte er zögerlich, obwohl er die Antwort auf seine Frage schon erahnte. Dass das hier nicht mehr Alexander Dazéra Farnel war, verrieten die leuchtendgelben Augen. Ein kurzes, weiches Lächeln huschte über das Gesicht von Folkens Sohn.

„Nein, mein Kind.“

Leichte Belustigung klang bei seinen Worten mit. Eine Belustigung, die gerade Hitomi und Van nur allzu vertraut war.

„DU!“ Tassilo brüllte los und sprang die Stufen von dem Altar herunter.

Sekundenbruchteile später rangen die beiden Erzfeinde miteinander. Fassungslos sahen die anderen zu. Alle, bis auf einen.

Mignon hatte leise begonnen, ein Lied zu summen. Langsam füllte seine Stimme den Raum und die letzten Zeilen schrie es geradezu heraus.
 

„Lass mich scheinen,

bis ich werde

lass mich scheinen,

bis ich bin

lass mich scheinen,

bis ich werde

lass mich endlich sein!“
 

Die Welt schien zu explodieren. Licht erfüllte den Zeremoniensaal. Regenbogen spannten sich und brachen wieder zusammen. Nach einer Ewigkeit, die nur wenige Sekunden anhielt, verging die sengende Helligkeit wieder, doch noch hatten sich die Augen der Anwesenden nicht an die relative Dunkelheit gewöhnt.

Hitomi war eine der ersten, die wieder etwas sehen konnte. An Stelle des seltsamen Kindes stand nun ein erwachsener Mensch. Nun, wenigstens hatte dieses Wesen menschliche Züge. Dass es nicht menschlich war, hatte es ja gerade zu genüge bewiesen. Es trug ein weißes, bodenlanges Gewand. Sein silbriges Haar fiel bis auf den Boden und schimmerte wie der Regenbogen. Seine Haut leuchtete golden. Das Gesicht wirkte jung und alt, männlich und weiblich und nur die durchdringenden, schillernden Augen verrieten, dass es alt war. Wahrhaft alt.

„Es reicht!“ Seine Stimme hallte dröhnend durch den Saal und seine Aufmerksamkeit galt allein den beiden noch immer ringenden Gestalten von Tassilo und Alexander.

„Versteckt euch nicht länger in diesen menschlichen Hüllen!“

Einen Lichtblitz später standen sich Manticor und Drache in ihren altvertrauten Körpern gegenüber. Der Mann, der Tassilo di Arkadia gewesen war, sackte tot zusammen, da dieser Körper nun vollkommen leer war, hatte der Manticor doch seinen Geist vollständig vernichtet. Alexander dagegen kam wankend und noch etwas benommen auf die Beine. Das fremde Bewusstsein aus seinem Kopf war verschwunden und er besaß wieder die Kontrolle. Einen Augenblick später brach der junge Mann kraftlos und erschöpft zusammen.

„Ich habe genug von euch! Seit Äonen kämpft ihr gegeneinander. Ihr, die ihr Brüder und Freunde sein solltet Ihr, die ihr für diese Welt da sein solltet!“

Manticor und Drache blickten sich mit unverhohlenem Hass an. Sie ignorierten die donnernde Stimme des androgynen Geschöpfes und sahen nur sich. Einen Lidschlag später stürzten sie sich mit lautem Gebrüll aufeinander.
 

„Sie werden es nie lernen...“ flüsterte Hitomi leise. Grenzenlose Traurigkeit lag in ihrer Stimme und ihre Augen glitzerten verdächtig, während sie dem Kampf der beiden Giganten zusah. Verstohlen verschwanden die meisten arkadischen Soldaten und auch die Priester nutzten den Kampf, um sich ungesehen aus dem Staub zu machen.

„Nein, das werden sie nicht.“

Hitomi brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass das Wesen neben ihr stand, das sie in ihrem Traum getroffen hatte und das einmal Mignon gewesen war.

„Wer bist du?“ fragte Hitomi, während sie langsam den Kopf drehte und in die alten Augen blickte.

„Ich bin... der Geist dieser Welt. Ich bin das, was ihr Gaia nennt.“

Gaia – das erklärte, warum ihr die Aura dieses Wesens so vertraut war. Es war diese Ausstrahlung, die der gesamte Planet besaß. Eine Ausstrahlung, die man vielleicht nur spüren konnten, wenn man nicht von diesem Planten stammte.

Hitomi nickte und fragte tonlos weiter: „Und was wirst du jetzt tun?“

„Es beenden. Endgültig. Sie nahmen alle meine Warnungen nicht ernst. Dieses Mal hätten sie es tun sollen. Ich habe es ihnen deutlicher gesagt als jemals zuvor. Sie spielen mit ihren Leben – und sie haben sie gerade verspielt. Ihre Leben – und das gesamte Leben auf dieser Welt!

Ich kann Leid und gewaltsamen Tod nicht mehr sehen! Wie Brüder Brüder töten, wie Freunde einander vernichten! Jeder Schwertschlag, jeder Fausthieb, jeder einzelne Biss traf meine Seele und mein Herz. Und das werde ich nicht länger dulden!“

Bevor Hitomi die Tragweite dieser Worte begreifen konnte, trat Gaia vor – direkt zwischen die beiden Kämpfenden.

„ES REICHT!“ Ihre Stimme glich einem Donnerschlag. Wie gelähmt blieben die beiden Kontrahenten stehen und sahen sie an.

„Ich hatte euch gewarnt! Dieses Mal ist es endgültig vorbei! Nicht nur für euch, sondern für diese gesamte Welt!“

Gaia breitete ihre Arme aus und warf den Kopf in den Nacken.

„Bitte, nein...“ wimmerten Drache und Manticor gleichzeitig, doch für ihr Flehen war es längst zu spät.

Dunkelrote, nahezu schwarze Flammen lösten sich von Gaias Händen und schossen Drache und Manticor direkt ins Herz. Einen Moment lang bäumten sich die beiden Giganten auf, dann brachen sie langsam zusammen. Doch noch ehe die beiden Körper den Boden berührten, lösten sie sich auf. Gaia hatte ihre Warnung wahr gemacht.
 

Hitomi spürte einen brennenden Schmerz in ihrem Herzen und fiel auf die Knie. Erst als sie niemand zwang, auf den Beinen zu bleiben, bemerkte sie, dass Berengar längst nicht mehr da war. Er war es vorhin schon nicht mehr gewesen, als sie mit Gaia gesprochen hatte.

Seltsam, was man so denkt...

Hitomis Hand presste sich krampfhaft auf ihr Herz. Sie hatte das Gefühl, als wenn mit den beiden Mächtigen auch ein Teil von ihr starb. Der Teil, der sie an den schwarzen Drachen gebunden hatte.

Und während Hitomi nach Luft rang, rasten die schwarzen Flammen der Zerstörung um die Welt und vernichteten jedes Leben...

76. Wiedergeburt

„Die Welt...“

„Kann nichts...“

„Für deinen Schmerz.“

Laures und Lauria gingen langsam auf Gaia zu.

„Was wisst ihr schon? Ihr seid nur Staubkörner im Angesicht der Ewigkeit! Ihr seid nicht als das Zwinkern eines Sterns!“

Grenzenlose Wut verzerrte Gaias schönes Gesicht.

Laures antwortete nicht, sondern streckte nur die Hand nach seiner Schwester aus. Diese ergriff sie. Die Geschwister stellten sich neben Gaia und berührten sich nun auch mit den freien Händen. Der Kreis um sie war geschlossen.

„Was tut ihr?“ Gaias Stimme überschlug sich.

„Den Staub...“

„Der Ewigkeit opfern.“

Die Geschwister lächelten sich an. Zeitgleich breiteten sie ihre Schwingen aus.

Laurias silberne Flügel entfalteten sich mit hellem Glanz. Die vier verkrüppelten schwarzen Schwingen von Laures breiteten sich nur mäßig aus. Schief zusammengewachsen, die dünne Haut des einen Flügelpaares zerfetzt und die Federn des anderen fast vollständig ausgefallen. Schwarzes Licht breitete sich hinter ihm aus. Langsam überlagerte diese unnatürliche Dunkelheit das Licht. Gaia schloss die Augen. Beruhigende Wärme erfüllte den Raum und der Schmerz in Körpern und Seelen verschwand. Auch der Schmerz in Hitomis Brust ließ nach. Erleichtert sog sie die leicht angewärmte Luft in ihre Lungen.
 

„Lass uns...“

„Dieser Welt...“

„Ein neues Leben...“

„Schenken.“

„Unser...“

„Leben.“

Die Stimmen der Geschwister durchbrachen die Stille.

„So sei es.“ Gaia senkte den Kopf und stimmte zu.

Licht flutete aus der Dunkelheit. Doch es ging nicht von Lauria aus, die immer für das Licht gestanden hatte, sondern von Laures.

Er bringt Licht. Licht aus der Dunkelheit... schoss der Gedanke Van durch den Kopf. Sein Sohn kam der Erfüllung seines Schicksals nach und schmerzlich wurde Van bewusst, dass er diesen Sohn und diese Tochter niemals würde kennen lernen können.
 

Eine Woge aus Licht durchflutete den Raum und breitete sich aus. Sie folgte den schwarzen Flammen der Zerstörung und hob deren Wirkung auf. Sie brachte Leben zurück, wo gerade noch der Tod geherrscht hatte.
 

Gaia trat aus dem Kreis der Geschwister. Hochachtung stand in ihren Augen – und Sanftheit.

Langsam lösten sich die Konturen von Laures und Lauria auf.

„Und die Äonen stehen auf nichts weiter als Staub...“ sagten die beiden leise und lächelten sich an. Ihre Lippen trafen sich zu einem letzten Kuss, dann verblasste das Licht und die Geschwister waren verschwunden. Sie hatten ihr Schicksal erfüllt.
 

Vorsichtig rappelte sich Hitomi auf. Tiefe Traurigkeit erfüllte sie. Der Drache fehlte ihr – egal, welche Unzulänglichkeiten er besessen hatte. Und sie bedauerte den Tod der beiden Stiefkinder, die sie niemals hatte kennen lernen können. Etwas entfernt hörte sie Auriana leise schluchzen. Van kauerte neben Alexander und tauschte einen kurzen Blick mit Hitomi, um sich zu vergewissern, dass mit ihr alles in Ordnung war. Sie lächelte ihm kurz zu und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf Gaia.

„Sie waren großherziger als diejenigen, die sie erschaffen haben,“ sagte das Wesen leise.

„Du warst auch großherzig. Du vergisst dein Leid und gibst uns eine weitere Chance,“ erwiderte Hitomi.

„Ich bezweifle, dass ihr es diesmal besser machen werdet.“ Ein spöttisches Grinsen huschte über Gaias Gesicht. „Ihr Menschen...“

„Wir können lernen,“ widersprach Hitomi.

„Wir werden sehen.“ Gaia nickte ihr zu und richtete dann ihren Blick auf Sayuri. „Kehr nach Hause zurück, Kind der Terra...“

Bevor Sayuri etwas sagen konnte, erfasste sie eine Lichtsäule und trug sie zur Erde zurück. Auch Gaia verschwand.

Zurückblieben Hitomi, Van, Alexander, Auriana sowie Varie und Vargas. Auf ihren Schultern lastete nun offenbar die Aufgabe, diesen Krieg zu Ende zu bringen, ihre Freunde zu befreien und nicht in weitere ‚Schwierigkeiten’ zu geraten.
 

Hitomi eilte zu dem Altar und befreite ihre beiden Kinder. Glücklich schloss sie sie in die Arme.

„Und jetzt?“ fragte die Königin von Farnelia, während sie mit den Zwillingen auf dem Arm zu Van und Alexander ging. Kommentarlos nahm ihr Auriana eines der Kinder ab. Der Prinzessin war deutlich anzusehen, dass sie der Verlust ihrer eigenen Kinder tief getroffen hatte.

„Gute Frage...“ brummte Van. „Wir sind zu viert – die beiden Kleinen zählen ja nicht – an Bord einer feindlichen fliegenden Festung.“

„Feindlich?“ Aus dem Schatten löste sich ein Mann. Er war groß gewachsen, besaß rötliches, grau meliertes Haar und trug die Uniform eines arkadischen Generals.

„Herr, Ihr seid der rechtmäßige Kaiser, habt Ihr doch den alten im Zweikampf besiegt.“ Der General sank vor Alexander auf die Knie.

„Äh... Was?“ Alexander sah ihn verwirrt an.

„Etwas anderes ist doch kaum geschehen, nicht wahr? Oder würdet Ihr irgendjemandem von einem Kampf der Giganten und der Erscheinung von Mutter Gaia berichten wollen?“

Der General sah ihn an und in seinen Augen stand ein verschwörerisches Funkeln.

„Wo Bayliss Recht hat, hat er Recht,“ mischte sich ein weiterer Arkadier ein. Er hielt ein blutiges Schwert in der Hand und wischte es beiläufig an seinem Mantel ab. Die beiden waren überein gekommen, dass ein neuer Kaiser die beste Lösung für diese Misere war, in die sie Tassilos Tod gebracht hatte. Weder konnten sie einen von ihnen beiden auf den Thron lassen – das hätte der jeweils andere niemals geduldet –, noch einen Bürgerkrieg riskieren. So blieb noch Alexander, der die deutlichen Spuren des Zweikampfes mit Tassilo noch im Gesicht trug und an dessen Legitimität die wenigsten Zweifel aufkommen mochten.

„Wer seid Ihr?“ fragte Alexander verdattert, aber dennoch bemüht, so etwas wie Autorität aufzubringen.

„Verzeiht, mein Name ist General Bayliss. Ich war die rechte Hand des Kaisers und bin nun die Eure.“ Bayliss verneigte sich erneut.

„Mein Name ist Kommandant Jarrow. Verzeiht das Schwert.“ Hastig steckte er die Waffe bei Seite. „Ich hatte nur gerade die Gelegenheit etwas zu tun, was ich längst hatte tun wollen...“ Er deutet mit dem Ellbogen Richtung Tür, wo zusammengekrümmt und offenbar äußerst leblos Leutnant Berengar lag. Hitomi seufzte erleichtert auf. Sie hielt vom Töten nicht viel, aber dass Berengar nicht mehr war, erfüllte sie doch mit Erleichterung.

„Nun, mein Kaiser, was werdet Ihr nun tun?“ hakte Bayliss nach und sah Alexander erwartungsvoll an.

„Friedensverhandlungen aufnehmen, denke ich.“

77. Epilog

Hitomi stand zusammen mit Varie und Vargas auf den Zinnen der Stadtmauer der farnelianischen Hauptstadt. Nachdem Alexander Kaiser von Arkadien geworden war, hatte der Frieden Gaia erreicht. Alexander hatte sich bewusst dafür entschieden, die eroberten Königreiche wiederzuerrichten und den Kriegsgeschädigten Wiedergutmachung zu leisten. Es war ein langer, steiniger Weg gewesen. Nicht überall hatte man ihn mit Freude empfangen und nicht alle Begünstigten waren so dankbar gewesen, wie sie es hätten sein sollen. Er war an seiner Aufgabe gewachsen.

Mittlerweile waren alle Königreiche wiedererrichtet worden. Arkadien besaß noch immer die weitaus größte Armee, sah sich aber nicht als Herrscher über ganz Gaia, sondern als einen Friedensgaranten. Ein wenig erinnerte Hitomi dieser Zustand an die Vereinigten Staaten von Amerika auf der Erde. Sie hoffte nur, dass Arkadien nicht auch den Hang dazu entwickelte, sich als Weltpolizei zu sehen.
 

Hitomi blickte über die Stadtmauer zu den Wiesen vor dem Tor hinab. Ihre Hand wanderte, wie so oft in der letzten Zeit, zu der Stelle, an der sich einmal ihre Drachentätowierung befunden hatte. Diese war zusammen mit dem schwarzen Drachen und dem Manticor verschwunden. Geblieben war von diesen beiden Mächtigen nichts mehr, nur noch die Legenden. Ihre Kinder würden sich mit dem normalen Volk auf Dauer vermischen und am Ende würden auch sie nichts weiter sein als Erinnerungen...

Aber das war gut so – manche Fehden mussten so beendet werden.
 

„Sieh mal, Mama!“ rief Vargas und deutete auf ein schemenhaftes, weißes Tier auf der Wiese. Hitomi trat zu ihm und half Varie, über die Mauer zu sehen. Im ersten Moment hielt sie das Tier für einen Hirsch, doch dann sah sie genauer hin.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie es erkannte. Die Einhörner waren nach Gaia zurückgekehrt...
 

ENDE



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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  Lampow
2006-05-30T04:30:05+00:00 30.05.2006 06:30
Das Ende ist ur schön geworden. Schade, dass es schon vorbei ist. Aber vielleicht können wir etwas neues von dir irgendwann mal wieder lesen.
Cu, Saturn - chan
Von:  ChiChi_18
2006-05-28T14:30:38+00:00 28.05.2006 16:30
Och süß. Es gibt wieder einhörner.......
Also nochmal, die ff (alle Teile) hast du wirklich Klasse geschrieben. Bin wirklich begeistert davon. *träum*

Ja, du musst unbedingt noch ne VoE ff schreiben. Aber bitte wieder Hitomi X Van, versteht sich, näh!!!
Falls es soweit kommen sollte, kannst mir ja ne ens schreiben!!!! Ich schau dann gleich mal vorbei *versprochen*

Bis dahin alles gute und man schreibt sich wieder!!
Hab dich lieb *bussy*
ChiChi_18
Von:  ChiChi_18
2006-05-25T13:17:00+00:00 25.05.2006 15:17
Also ich muss schon sagen, ich hätte jetzt mit allem gerechnet nur nicht damit das Alexander "den Kaiser besiegt und den Thron besteigt"^^
Wobei mir Laures und Lauria doch schon Leid tun. Ich konnte die beiden zwar von anfang an irgendwie nicht leiden (liegt wohl daran das sie zwar die Kinder von Van sind, Hitomi aber net die Mutter ist^^ XDD) aber so ein Schicksal ist doch mal total unfair. Was hatten die denn für ein Leben? Erst jahrelang auf dieser komischen Insel und dann noch für die Menschheit opfern....tzs
Naja, ich bin ja mal auf den Epilog gespannt.
Wirklich echt schade das die saga hier endet *im normalfall* Hab die Story nämlich regelrecht geliebt. Vielleicht lässt du dich ja dazu durchringen eine fortsetzung oder ähnliches zu schreiben. NAtürlich nach dem Motto Van x Hitomi
Würd mich echt freuen und mein Kommi hätteste sicher!!

Also hab dich lieb *bussy*
ChiChi_18
Von:  ChiChi_18
2006-05-22T16:50:37+00:00 22.05.2006 18:50
Ahhhhhhhhhh
ich werde sehr wohl aus dem Fenster springen!!!!
Das ist ja wahnsinn o_O
Hab dich lieb *bussy*
ChiChi_18

PS: Wie immer: Beeilung Beeilung Beeilung *hehe*
Von:  ChiChi_18
2006-05-20T16:24:30+00:00 20.05.2006 18:24
1+
mehr sag ich dazu wirklich net!!! Die armen Kinder *heul*
Beeil dich unbedingt, sonst hast du einen Mord auf dem Gewissen. Ich werde vor Spannung und Neugierde bald verrückt und hüpfe aus dem Fenster........

Hab dich trotzdem lieb *bussy*
ChiChi_18
Von:  ChiChi_18
2006-05-17T19:03:11+00:00 17.05.2006 21:03
ahhhhhhhhhhhhhhhh ein so goiles Kappi. Van und die anderen haben Hitomi wieder gesehen......
Willkommen zu meiner Hochzeit, willkommen zu eurem Tod, oh gott mir läufts da eiskalt den Rücken hinunter!!!
Und darüber das du so wenig Kommis hast, will ich etz gar nimma reden, das amcht doch nur die Stimmung kaputt!! TZS
Wie ungerecht die Welt doch ist, nyo also bis zum nächsten Kappi
Deine Treue Kommentatorin (oder so)
Hab disch lüb *bussy*
ChiChi_18
Von:  ChiChi_18
2006-05-13T12:32:22+00:00 13.05.2006 14:32
Ich werde immer neugieriger, das gibts ja gar nicht. Was hat der Depp von Kaiser bloß genau mit ihnen vor?
Ich flehe dich an *auf Knien rumrutsch* erlöse mich von den Qualen und beende die Story so schnell du kannst. Ich halt des nimma aus.............*dich traurig anguggt*
Hab dich lieb *bussy*
ChiChi_18
Von:  Lampow
2006-05-10T09:48:00+00:00 10.05.2006 11:48
Kann mich Chichi nur anschließen. Sag, ist diese Mignon vielleicht die Mutter vom Drachen und Manticor? Wäre ja lustig, wenn der Manticor seinen Untergang direkt bei sich hat.
Cu, Saturn - chan
Von:  ChiChi_18
2006-05-09T19:18:30+00:00 09.05.2006 21:18
Note 1+
Hitomi wird ihre Antwort sicher bald bekommen^^ XDD
Hab Dich lieb *bussy*
ChiChi_18
Von:  ChiChi_18
2006-05-05T16:10:55+00:00 05.05.2006 18:10
Wieder echt klasse das Kappi!!!
Aber das weißt du ja sciher schon....XDD
Das regt mich sowas von auf das du nicht mehr Kommis bekommst. Die Welt ist schon echt ungerecht!!!!
Hab dich lieb *bussy*
chiChi_18


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