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Die Sackpfeife des Teufels

Eine In Extremo-Story
von

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Verdammt noch mal, wie war ich hier her gekommen? Mit beiden Händen hielt ich mir meinen brummenden Schädel und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Leider hatte ich nicht viel Erfolg damit - kein einziger noch so kleiner Lichtstrahl erhellte die Umgebung. Die Luft roch feucht und modrig und erinnerte mich an wenig an den Geruch auf Friedhöfen. Ich stemmte mich hoch. Unter meinen Händen fühlte ich kalten, rauen Stein. Ich richtete mich so weit auf, das ich in der Hocke da saß. Die scharrenden Geräusche, die dabei verursacht wurden, hallten leise wieder. Ich schien mich in einem großen Raum oder einer Höhle zu befinden. Vorsichtig stand ich ganz auf und machte einen tastenden Schritt. Erst, als ich sicher war, dass der Boden fest hielt und mich keine unliebsamen Überraschungen erwarten würden, setzte ich meinen Fuß auf und machte den nächsten Schritt. So tastete ich mich weiter vor, bis meine Fingerspitzen schließlich gegen eine Wand stießen. Ich zählte im Kopf die Schritte, die ich zurückgelegt hatte. Es waren neun gewesen. Wo immer ich war, es war wirklich groß. Nach kurzem Überlegen, ob ich nicht doch in die andere Richtung gehen sollte, entschloss ich mich dazu der Wand zu folgen. Das erschien mir doch am Sichersten zu sein. Zentimeter für Zentimeter arbeitete ich mich vor. Als ich bereits einige Meter zurückgelegt hatte stieß ich plötzlich auf einen anderen Untergrund. Zuerst konnte ich ihn nicht identifizieren, aber dann erkannte ich altes Holz. Vermutlich stand ich vor einer Holztür. Ich dachte nicht darüber nach, zu welchem Sinn und Zweck diese Tür gebaut worden war - ich war einfach nur froh, etwas gefunden zu haben, das mir wie ein Weg hier heraus erschien. Etwa einen halben Meter weiter war ein massiver, eiserner Türgriff eingearbeitet. Teile blätterten ab, als ich darüber striff; der Rost musste schon eine ganze Weile daran nagen. Prüfend drückte ich die Klinke hinunter. Allerdings ging die Tür nicht wider Erwarten auf. Es rührte sich nichts. Offensichtlich hatte sie die Zeit ganz gut überstanden. Ich drückt mit ein wenig mehr Kraft und merkte, wie sich das Schloss knirschend in seiner Fassung bewegte. Nach weiterem kräftigen Drücken und zwei schmerzhaft abgebrochenen Fingernägeln hatte ich es schließlich geschafft. Mit einem kreischenden Quietschen bewegte sich die Klinke nach unten und die rostigen Angeln bewegten sich laut protestierend nach außen. Licht flutete in den Raum. Geblendet von so viel Helligkeit schloss ich die Augen und hielt die Hände davor. Schließlich, nach einigen Sekunden, hatten sich meine Augen so weit an den Schein gewöhnt das ich etwas erkennen konnte. Ich stand an der Schwelle zu einem weiteren, doch wesentlich kleinerem Raum. Unzählige Kerzen und Fackeln erleuchteten ihn, obwohl weit und breit keine lebende Menschenseele zu sehen war. In der Mitte stand eine Art Altar: ein schwarzer Basaltblock, auf dem etwas lag. Ich trat näher, um etwas besser sehen zu können. Als ich mich hinabbeugte erkannte ich, was es war. Auf der glattpolierten, schwarz glänzenden Oberfläche lag eine altertümlich aussehende Sackpfeife. Die einzelnen Pfeifen waren aus dunklem Ebenholz geschnitzt und der Sack aus dunkelrotem Brokat genäht. Obwohl das Instrument von seiner Machweise her sehr alt wirkte, schien sie doch vom Zustand her fast neu zu sein. Der Holzlack glänzte wie frisch poliert und der Stoff wies kein Zeichen von Abnutzung auf. Ich streckte die Hand aus. Meine Finger schwebten nur Zentimeter über der Sackpfeife, doch ich wagte es nicht, sie zu berühren. Also zog ich die Hand wieder zurück. Kaum hatte ich den Basaltblock unter mir gelassen, drang ein hoher, durchdringender Ton an meine Ohren. Zuerst leise, dann immer lauter werdend, bis er schließlich zu einem durchdringenden Summen geworden war. Ich hielt mir die Ohren zu, doch es nützte nichts. Meine Trommelfelle fingen an zu schmerzen. Staub und kleine Steine rieselten von der Decke vor meine Füße. Der Boden bebte leicht. Der Raum war dabei, einzustürzen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Irgendetwas schien mich festzuhalten. Erst, als das Beben immer stärker wurde, riss ich mich von dem unheimlichen Bann los. Ich hechtete auf die Tür zu. Doch ehe ich sie erreichte bekam ich einen schmerzhaften Schlag auf den Hinterkopf und die Welt versank in Schwärze...
 

"Hey, wach endlich auf!" Jemand rüttelte unsanft an meiner Schulter. Unwillig drehte ich mich weg und versuchte die störende Hand wegzudrücken, aber mein Wecker ließ nicht locker. Schließlich gab ich nach und öffnete entnervt die Augen. Die Gesichter meiner Freunde und Bandkumpanen Micha, alias das "Letzte Einhorn" und Marco, auch "Flex, der Biegsame" genannt, tauchten vor mir auf. "Was ist denn?", nuschelte ich schlaftrunken. "Nichts. Du hast nur wie am Spieß geschrieen, deswegen dachten wir, ist es besser, dich zu wecken. In drei Stunden ist übrigens Soundcheck." Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, die auf einer Ablage im Tourbus lag. Tatsächlich war es gerade mal ein Uhr mittags - keine halbe Stunde her, seit ich eingeschlafen war. Die vorherige Nacht war recht anstrengend gewesen. Nach der letzten Zugaben hatten wir uns noch daran gemacht unser Equipment zusammenzupacken und zu verstauen und waren anschließend fast die ganze Nacht durchgefahren. Deswegen hatte ich mich kurz nach dem das Nötigste erledigt war und wir noch ein wenig Freizeit hatten dazu entschlossen, mich aufs Ohr zu hauen. Jetzt, kurz nach dem Aufwachen merkte ich auch, dass ich noch nicht lange geschlafen hatte. Die Müdigkeit kehrte schlagartig zurück. Noch einmal hinlegen wollte ich mich allerdings nicht. Der Traum hatte jegliche Lust darauf zu Nichte gemacht. Also quälte ich mich hoch und stiefelte den Gang entlang. Ich kam an Reiner "Morgenstern" vorbei, der in seiner Koje lag und in einem Buch schmökerte. Ein Stockwerk über ihm hockte Kay Lutter und schrieb bereits wieder am Tourtagebuch. Als ich den Bus durch die Vordertür verließ traf ich auf Sebastian "der Lange" und Andrè, alias Dr. Pymonte, die sich unterhielten. Sie warfen mir nur einen kurzen Blick zu und führten ihr Gespräch dann leise fort. Es war bereits Mitte Oktober und damit schon empfindlich kalt. Das stellte auch ich fest, als ich im T-Shirt auf dem Parkplatz vor der Burg stand. Also lief ich mit einem stummen Seufzen zurück und kramte einen Pullover heraus. Nachdem ich mir mit dem zusätzlichen Kleidungsstück etwas mehr Wärme verschaffen hatte ging ich wieder nach draußen. Tief atmete ich die kühle Luft ein und fühlte mich schon etwas wacher. Als ich mich streckte meldete sich mein Magen in unüberhörbarer Lautstärke zu Wort. Richtig, ich hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Über Flex' Gesicht huschte ein Grinsen. "Sind wir nicht auf dem Weg hier her an einer Imbissbude vorbeigefahren?", fragte er. Ich überlegte. Ja, da war tatsächlich etwas, das danach ausgesehen hatte. Ich warf einen fragenden Blick in Einhorns Richtung. Dieser nickte zustimmend. Wir fragten die anderen vier, doch diese lehnten dankend ab. Sie hatten sich auf einem Zwischenstopp mit Essbarem eingedeckt. Also marschierten wir zu Dritt los Richtung Dorfmitte. Der Ort, in dem wir uns befanden, war nicht besonders groß, hatte jedoch einen recht mittelalterlichen Flair. Ein Teil der Häuser waren kleine, hergerichtete Fachwerkhäuser, was den Eindruck noch verstärkte.

Die Imbissbude entpuppte sich als Straßenverkauf einer kleinen Metzgerei, was uns sehr gelegen kam. Der Besitzer bot nicht nur das übliche Imbissbudenessen an sondern darüber hinaus viele selbstgemachte Spezialitäten. Wir bestellten drei große Portionen Schaschlik, die auch prompt kamen. Während wir mit großem Appetit aßen unterhielten wir uns über das bevorstehende Konzert. Wir sollten auf der Burg spielen, die am Rand des Städtchens auf einem Hügel ruhte. Die Karten waren restlos ausverkauft und trotz der Kälte schien die Sonne. Es sah so aus, als würde der Abend recht vielversprechend werden. Insgeheim genoss ich es nach der anstrengenden Tour durch die Großstädte einmal wieder in einem kleineren Ort zu spielen. Der Ablauf war der übliche: Um vier Uhr Soundcheck, dann noch drei Stunden zum Ausruhen, ehe es gegen acht Uhr zur Sache ging.

Als wir mit dem Essen fertig waren und uns langsam auf den Rückweg machten, blieb Micha plötzlich stehen. "Seht euch das mal an." Links neben uns war ein kleiner, geduckter Laden, der zwischen den hohen Hausfassaden fast verschwand. Ein Schaufenster, ausgestellt mit allerlei alten Sachen. Ein Schild in der Ecke verriet: "An- und Verkauf von Antiquitäten, Instrumenten und Altgold." Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal vor so einem Laden gestanden war. Aber eine innere Stimme flüsterte mir zu, das ich dieses Geschäft unbedingt betreten musste. Ich legte eine Hand auf die Türklinke, zögerte einen Moment und drückte sie dann mit einem Ruck herunter. Eine altmodische Glocke bimmelte, als ich die Tür aufstieß und eintrat.

Im Inneren war es dunkel. Es roch nach Möbelpolitur, Staub und Alter. Aber gerade das machte diesen Laden so anziehend. Die Regale waren bis unter die Decke vollgestopft und der wenige freie Platz war ebenfalls mit Kram zugestellt. Ich hielt nach jemandem Ausschau, dem Besitzer oder einem Verkäufer, doch ich sah niemanden. Hinter mir hörte ich, wie Micha und Marco den Laden betraten. Auch sie ließen ihren Blick über das staubige Inventar streifen. Unschlüssig standen wir drei da und wussten nicht so recht, was wir nun tun sollten. Irgendwie kam es mir albern vor, unbedingt diesen Laden betreten zu müssen. "Verschwinden wir lieber wieder. Es wird langsam Zeit.", meinte Flex schließlich. Micha, welcher der Tür am nahesten stand, drückte bereits die Klinke und öffnete die Ladentür, wobei wieder die Glocke bimmelte. Ich wollte mich umdrehen und meinen Bandkollegen folgen, als meine Augen plötzlich etwas im Dämmerlicht einer Ecke entdeckten. Schlagartig war die Aufbruchstimmung vergessen und ich stürzte regelrecht auf den Gegenstand zu, sowie es die enggestellten Möbel und Antiquitäten zuließen. Auch die beiden anderen waren stehen geblieben und beäugten mich mit einer Mischung aus Argwohn und diesem "Jetzt-dreht-er-völlig-durch"-Blick. Aber ich ignorierte sie. Fassungslos stand ich vor einer Sackpfeife, die an der Wand hing. Die Pfeifen schimmerten trüb, von einer dünnen Staubschicht überzogen, und der dunkelrote Brokatsack wirkte im Zwielicht schäbig. Trotzdem hatte ich keine Zweifel: Es war genau jene Pfeife, von der ich geträumt hatte!

Ein Räuspern erklang hinter mir. Widerwillig drehte ich mich um, in der Annahme das es Micha oder Flex waren, die mich zur Eile antreiben wollten. Doch zu meiner Verwunderung stand ein alter, gebeugter Mann hinter mir. Er war etwa einen Kopf kleiner als ich, was wahrscheinlich an seiner Körperhaltung lag denn er ging - wie schon gesagt - gebückt. Sein Gesicht war mit zahllosen Runzeln durchzogen. Auf dem Schädel war er kahl, nur ein Kranz weißer Haare zog sich noch um sein Haupt. Diese waren jedoch sorgsam gelegt. Ach seine Kleidung war, wenn auch schon etwas älter und bieder, mit bedacht angezogen. Er musterte mich mit seinen kleinen Augen, die hinter einer Nickelbrille vorblinzelten. Genau die Erscheinung eines Antiquitätenhändlers, schoss es mir durch den Kopf. "Kann ich die haben?", fragte ich ohne Umschweif. Die Worte platzten einfach so aus mir heraus. Der Mann lächelte, doch seine Augen blieben ernst. "Ja ja, ein sehr schönes Stück.", murmelte er, wie ein Vater, der über seinen Sohn redete. Dann räusperte er sich erneut. "Tut mir leid. Sie ist unverkäuflich."

Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und wollte im hinteren Teil des Ladens verschwinden. Doch meine Hand schnellte vor und hielt den Alten an seiner Jacke fest. "Entschuldigen Sie. Ich bin Musiker und schon lange auf der Suche nach solch einem Stück. Der Preis spielt keine Rolle, ich bezahle, was sie wollen." Moment mal, was redete ich da? Auch Micha und Marco, die noch immer bei der Tür standen, sahen mich verwundert an. Unser Equipment an Instrumenten war durchaus reichhaltig und ich hatte schon seit langem ein und den selben Dudelsack, den ich hegte und pflegte. Warum also wollte ich so ein altes Teil? Vielleicht, weil er mir meine Träume versaut hat und jetzt plötzlich hier auftauchte? Etwas zerrte an meinem Griff und ich sah, das ich den Mann noch immer festhielt. Meine Hand hatte sich richtig in den Stoff verkrampft und es sah so aus, als wollte ich ihn nicht mehr loslassen. Hastig öffnete ich meinen Griff und ließ ihn los. Sofort trat er einen Schritt zurück, um Sicherheitsabstand zwischen uns zu bringen. "Wie ich schon sagte, es geht nicht." Wieder wollte er gehen, aber diesmal hielt ihn der Klang meiner Stimme ab. "Bitte, verkaufen sie mir das Instrument." Ich klang geradezu flehentlich. Der Mann blieb sah mich an, atmete tief ein und meinte dann: "Sind Sie sicher?" Ich nickte. "Na schön. Sie bekommen ihn." Es hörte sich an, als hätte er gerade den Kampf seines Lebens verloren. So schlurfte er zur Kasse und ich folgte ihm. Bei dem Gedanken an den horrenden Preis, den er mir gleich nennen würde, wurde mir jedoch etwas mulmig. Nicht, das ich nicht genug hätte, aber dieser Laden schien nicht einmal annähernd über ein Scheckkartensystem zu verfügen. "Ich überlasse Ihnen die Sackpfeife für... fünfzig Euro." Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. Er hatte sicherlich fünfhundert gemeint. Aber als ich ungläubig nachfragte, meinte er nur: "Fünfzig. Oder sie nehmen ihn gar nicht." Verwirrt griff ich in die Gesäßtasche meiner Jeans, zog meinen Geldbeutel hervor und blätterte zwei Zwanziger und einen Zehner auf den Tresen. "Danke. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag." Sprachs und verschwand hinter einem Vorhang im hinteren Teil des Raumes. Endlich kamen wir dazu, den Laden zu verlassen.

Draußen an der frischen Luft fühlte ich mich noch immer wie belämmert. Micha warf einen schrägen Blick auf den Dudelsack und meinte: "Im Laden hat er übler ausgesehen." Flex meinte nur: "Was hast du jetzt damit vor?" "Ich spiele heute Abend darauf.", verkündigte ich, worauf ich meinem Bandkumpanen nur ein spöttisches Grinsen entlockte. "Mit anderen Worten, du lässt mir und Py heute den Vortritt." Ich strafte ihn mit Missachtung. Gleichzeitig schien mir der Gedanke irre, auf einem Instrument zu spielen, das bereits seit etlichen Zeiten in einem Antiquitätenladen verstaubte und sicher Jahrzehnte nicht mehr gespielt wurde. Wahrscheinlich brachte ich darauf keinen einzigen Ton heraus. Aber gleichzeitig wusste ich, dass dem nicht so war. Ohne ein weiteres Wort über das zu verlieren, was geschehen war, machten wir uns auf den Weg zurück zum Tourbus.
 

Die Aufbauarbeiten in der Halle liefen auf Hochtouren. Das Gewölbe der Burg lud geradezu ein, zu spielen. Die Akustik schien für das alte Gemäuer erstaunlich gut und die Atmosphäre hätte nicht passender sein können. Trotzdem konnte ich mich nicht recht daran erfreuen. Die gute Stimmung, die mich am Mittag noch ergriffen hatte, war weggeblasen. Ich hockte auf dem Rand der Bühne, die bereits aufgebaut war und starrte auf den Becher dampfender Kaffee, der neben mir stand. Die ortsansässigen Roadies Matz und Felix schienen einen Wettstreit daraus gemacht zu haben, wer mehr Kaffee auf einmal kochen konnte. Sie hatten den Tourbegleitern den Job gänzlich abgenommen und lieferten einen Liter nach dem anderen von dem schwarzen Gebräu. Die Crew, vor allem unser Tontechniker, schüttete das Zeug begeistert in sich hinein, doch ich fand keine Muse daran. Irgendwie schien der Inhalt der Tasse aus zähem Teer zu bestehen und so ließ ich den Becher stehen und erhob mich. Mit gemäßigtem Schritt schlenderte ich zu den Instrumenten, die bereits aufgebaut waren. Zwischen den Sackpfeifen von Flex und Dr. Pymonte hing mein Neuerwerb. Die Pfeifen waren geputzt, der Sack entstaubt. Es sah beinahe aus wie neu. Einen Moment stand ich reglos davor und bewunderte es im Stillen, dann streckte ich langsam die Hand aus. Das heißt, meine Finger machten sich langsam selbstständig und krochen auf gespenstische Art und Weise auf das Instrument zu. Ich versuchte meine Hand zurück zu ziehen, doch es ging nicht. In meiner Kehle hatte sich ein Kloß gebildet, der weiter anwuchs, um so näher ich kam. Kurz bevor ich die größte Pfeife berühren konnte, schlug mir jemand auf die Schulter und brach den unheimlichen Bann. So schnell, als hätte ich ein giftiges Tier vor mir, zog ich die Hand zurück. "Du kannst es heute wohl gar nicht erwarten.", brummte Kay, der seinen Bass umhing und ein paar Saiten anschlug. Meine Kollegen schienen von dem Vorgang nichts mitbekommen zu haben. Ich schielte zu Flex und Micha hinüber, doch die waren anderweitig beschäftigt. Mit einer entschlossenen Bewegung schnappte ich mir die Sackpfeife. Insgeheim erwartete ich irgendwas - keine Ahnung, Blitze, Grollen, oder sonst ein Anzeichen für eine geheimnisvolle Macht, doch es passierte nichts. Na gut, um so besser. Ich klemmte mir das Mundstück zwischen die Lippen und pumpte kräftig, um Luft in den Sack zu bekommen. Dann versuchte ich probehalber ein paar Töne zu spielen. Ich war mehr als überrascht, als ich die reine Tonfolge hörte, die erscholl. Es war als ob nie jemand aufgehört hätte darauf zu spielen. Ich hatte damit gerechnet, dass der Klang schräg war oder nur noch teils vorhanden, aber er war astrein.

Mittlerweilen waren auch die anderen so weit. Der Lange spielte ein paar Akkorde und stimmte dann "Spielmannsfluch" an. Der Rest stieg darauf ein und spielte mit. Ich fühlte mich vom Anhören allein schon verzaubert. Ich spielte kräftig wie nie zuvor und meine Finger flogen förmlich über den schlanken Flötenhals. Nun setzte der Refrain ein. Flex und Pymonte machten sich wie immer einen Spaß daraus, quer in allen möglichen grotesken Formationen über die Bühne zu jagen. Aber das alles kam mir vor wie eine Vision - ich hörte auf einmal die anderen Instrumente nicht mehr. Mein Kopf und meine Ohren dröhnten vom Spiel des Dudelsackes. Ich griff immer hastiger, wurde schneller und schneller. Am Rand nahm ich war das die anderen aufgehört hatten und mir sonderbare Blicke zuwarfen. Ich sah, wie Micha auf mich zutrat und den Mund bewegte - es trat jedoch kein Laut über seine Lippen. Eine Ekstase hatte mich befallen, der ich mich nicht mehr entziehen konnte. Das Donnern in meinen Ohren steigerte sich weiter, füllte meinen Kopf aus und verhinderte jeden Denkansatz. Von weit her drang nun doch eine schwache Stimme an meine Ohren: "Nun steh ich hier, ich armer Spielmann, und die Krähen auf den Bäumen sie lachen mich aus. Doch ein neuer Sommer wird den Winter vertreiben und ich will spielen, spielen, spielen...ein Jahr mehr oder weniger, was macht's..." Ein leises Kichern wehte hinterher. Dann explodierte plötzlich die Welt in Farben und Formen, ehe sie anfing in Schwärze zu versinken. Meine Beine wurden schwer und gaben nach. Ich merkte noch, wie mich zwei Arme auffingen, dann verlor ich endgültig das Bewusstsein.
 

Schwärze. Die erste Wahrnehmung, die ich hatte. Noch nie war ich in so absoluter Finsternis gestanden, wie nun. Es schien nicht einmal den Ansatz von Helligkeit zu geben. Meine Augen begannen bereits zu schmerzen, weil sie dieses Dunkel nicht ertragen konnten. Was war hier los? Wo war ich und wie kam ich überhaupt hier her? Verschwommen jagten Fetzen durch mein Gedächtnis: Bunte Scheinwerfer, Musik, Instrumente, rauer Bretterboden. Aber sie waren zu schnell weg, als das ich sie behalten konnte. Nur eines ließ sich nicht vertreiben: Ein hohes, meckerndes Geräusch, das ein Kichern oder hämisches Lachen war. Einen Moment lang versuchte ich es zu ignorieren, bis ich begriff, dass es real war. In einem plötzlichen Anflug von Hoffnung warf ich mich herum und rannte in die Richtung, aus der es kam. Zumindest denke ich, dass ich gerannt bin - immerhin spürte ich meine Beine nicht, ebenso wie der Rest meines Körpers nicht zu existieren schien. Trotzdem kam der Laut näher. Und auf einmal war da ein Funken vor meinen Augen. Er schwebte wie ein Glühwürmchen dahin, wurde größer, begann zu pulsieren und zerbarst in einem Licht- und Farbenregen, der zwar schwach, aber in dieser Dunkelheit fast schon unerträglich grell war. Als meine Augen wieder etwas mehr erkannten als bunte Flecken, bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine war.

"Wer bist du?", fragte ich perplex. Mein Blick haftete an der merkwürdigen kleinen Gestalt, die vor mir stand. Sie ging mir gerade mal bis zur Brust und durch ihre gebeugte Haltung wirkte die noch kleiner. Das Haar hing grau und zottelig vom Kopf herunter. Die Wangenknochen ragten spitz aus dem eingefallenen Gesicht hervor, eine große Hakennase bildete die Mitte zwischen zwei kleinen tückischen Augen. Der Körper war hager und wirkte ausgemergelt, was durch die weiten, aus Flicken bestehenden Kleider nur noch verstärkt wurde. Ich hatte noch nie so eine merkwürdige Gestalt gesehen. Sie erwiderte meinen Blick, sagte jedoch nichts auf meine Frage. Ich wiederholte sie noch einmal, wieder ohne eine Antwort zu bekommen. Schließlich wurde es mir zu bunt. "Kannst du endlich mal sprechen?!", fuhr ich ihn ruppig an. Der Kobold - etwas anderes fiel mir bei seinem Anblick nicht ein - verzog die Lippen zu einem Grinsen. Er entblößte eine Reihe schlechter Zähne, von denen bereits etliche fehlten. "Ich an deiner Stelle würde mich zügeln, Menschlein." Er stieß ein meckerndes Lachen aus. Seine Stimme erinnerte an eine heisere Krähe: Hoch und fistelnd mit einem krächzenden Unterton. Aber er verstand mich wenigstens. Vielleicht konnte er mir ja hier heraushelfen - wobei meine Zuversicht nicht mehr all zu groß war. "Hast du einen Namen?", fragte ich nun etwas ruhiger. "Nenn mich... Liam." Wieder kicherte das Koboldwesen schadenfroh. Ich runzelte die Stirn. Merkwürdig - die Stimme, die ich zuletzt gehört hatte, sprach "Poc Vecem". Und nun tauchte Liam auf. Ich begriff, das es sich hierbei um die Reihenfolge der Setliste handelte. Aber das konnte doch kein Zufall sein... ich war verwirrter als je zuvor.

"Wie komm ich hier her und was soll das ganze?" "Menschen, Menschen! Ihr könnt immer nur Fragen stellen, ja, ja, immer nur unnütze Fragen!" Ich merkte, wie ich schon wieder wütend wurde. Mein Gefühl sagte mir, das mir keine Zeit für Spielchen blieb. "Sag mir, was es mit der Sackpfeife auf sich hat.", verlangte ich nun in nachdrücklichem Ton. Der Gesichtsausdruck des Kobolds änderte sich - der Spott wich aus seinen Augen und machte einem lauernden Ausdruck platz. "Sie ist verflucht. Und du bist dazu ausersehen, den Fluch zu tragen." Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Das klang nun wirklich zu fantastisch. "Das dachte ich mir", nickte Liam. "Aber es ist so. Ihr Menschen seid so dumm und arrogant, das ihr die Welt nicht mehr seht. Und nun zahlen wir es euch heim." Bösartiges Gelächter. "Du wirst sie spielen, ob du willst oder nicht. Und mit jedem Spiel wird deiner Lebenskraft schwinden. Aber du stirbst nicht, oh nein, du wirst spielen, spielen, spielen... ein Jahr mehr oder weniger, was machts?! Hahahaha!" Ich traute meinen Ohren kaum. Aber etwas sagte mir, das dieses Kerlchen die Wahrheit sagte. Eiskalte Schauer jagten mir über den Rücken. "Was kann ich tun?", fragte ich leise. Liam sah mich an, dann prustete er erneut los. "NICHTS, GAR NICHTS!", johlte er, während er an seinem eigenen Gelächter fast erstickte. "Du wirst mein sein, auf ewig. DU wirst mich ernähren mit deinem Spiel! Vergiss mich nicht, denn ich bin von nun an dein Begleiter..." Die Umrisse des Kobolds verschwammen, flossen nebelhaft auseinander. "Bist ein Narr geblieben, einer von euch Sieben...", säuselte die Stimme noch einmal, dann wurde der letzte Rest von ihm in erneuter Dunkelheit verschluckt.
 

Zuerst spürte ich die Schläge, die mir jemand ins Gesicht verpasste. Es waren nur leichte Klapse, doch mein Bewusstsein weigerte sich noch, vollends zurück zu kehren. Erst, als die Ohrfeigen stärker wurden, schaffte ich es meine Augen zu öffnen. Allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, denn ich blickte genau in das grelle Licht eines Scheinwerfers, so das ich sie schnellstmöglich wieder zukniff. Aber dies schien ausgereicht zu haben, denn wer auch immer mit seiner Hand mein Gesicht bearbeitete, hörte auf damit. Dann hörte ich eine Stimme, die an mein Ohr drang: "Komm schon, wach endlich auf." Ich erkannte die Stimme von Flex. Als ich noch einmal und mit viel mehr Vorsicht die Augen öffnete erkannte ich die Gesichter meiner Freunde um mich herum. Stimmengewirr erfüllte die Halle. Alle schienen in Aufruhr zu sein. Rechts neben mir kniete Dr. Pymonte, die Hand noch halb zum Schlag erhoben. "Ist ja gut, ich bin da. Prügel mich nicht zu Tode.", nuschelte ich, worauf er zum Glück die Hand sinken ließ. Umständlich versuchte ich mich aufzurappeln, aber ein Gewicht im Brustbereicht drückte mich wieder zurück. Ich schielte nach unten und erkannte den Dudelsack, der noch immer auf mir lag. Ich schob das Instrument zur Seite und richtete mich endlich auf. Mein Schädel dröhnte wie ein Bienenkorb und ich fasste mir mit einem unterdrückten Stöhnen an die Schläfen. "Geht's wirklich?", fragte Kay. Die Besorgnis in seiner Stimme war nicht zu überhören. "Ja, schon ok." Vorsichtig stemmte ich mich hoch, bis ich schließlich wieder auf meinen Füßen stand. Mit unsicheren Schritten ging ich zu dem kleinen Tischchen am Rande der Bühne, auf dem ein paar Pappbecher mit Kaffee standen. Wahllos schnappte ich mir einen und schüttete das mittlerweile lauwarme Gebräu diesmal kommentarlos in mich hinein. Es schmeckte so grässlich, wie es aussah, aber immerhin weckte es etwas in mir das man wohl als ,Lebensgeist' bezeichnen konnte. Auf alle Fälle verschaffte mir der bittere Geschmack und die Koffeinüberdosis wieder einen halbwegs klaren Kopf. Ich atmete tief durch und drehte mich nun wieder zu den Jungs um. Den sechs stand eine Frage ins Gesicht geschrieben: Was war das? Zu dumm nur, dass ich die Antwort selbst nicht kannte. Also zuckte ich ein wenig hilflos die Achseln und meinte: "Wahrscheinlich einfach zu wenig Schlaf." Ich wusste selbst, dass es nicht die überzeugendste Antwort war. Wir hatten bereits öfters Nächte durchgemacht und mir war so etwas noch nie passiert. Andererseits gab es immer ein erstes Mal.

"Ich hau mich noch ne Runde aufs Ohr. Weckt mich rechtzeitig." Mit diesen Worten verschwand ich schnell aus der Halle - allerdings nicht, ohne noch einen Blick auf die Sackpfeife zu werfen. Plötzlich erschien mir das Instrument in einem anderen Licht. Der Balg hatte die Farbe von geronnenem Blut. Die Schlitze und Löcher der Pfeifen schienen sich zusammen zu ziehen und mich hämisch anzugrinsen. Ich ging, ohne ihn mit zu nehmen. Ich hatte es sogar mit einem Mal sehr eilig, aus der Reichweite dieses Teufelswerkzeuges zu kommen.

Draußen atmete ich tief durch. Die Luft schien noch ein wenig kälter geworden zu sein und sie schmeckte nach Spätherbst. Aber es hatte etwas Beruhigendes. Ich setzte mich in Bewegung, allerdings nicht in Richtung Tourbus, wie ich gesagt hatte. Meine Füße führten mich den selben Weg entlang, den wir Mittags genommen hatten.

Ich blieb erst stehen, als ich vor dem Antiquitätengeschäft angekommen war. Die Glöckchen bimmelten im wilden Stakkato, als ich die Tür aufriss und regelrecht in den Laden stürzte. Der Alte saß hinter dem Tresen und blickte missmutig auf. "Was fällt Ihnen ein, einfach so hier rein zu stürmen? Das hier ist ein Antiquitätenladen und keine Rennbahn!" Anscheinend hatte er mich nicht sofort erkannt, denn als er ein zweites Mal hinsah weiteten sich seine Augen ein wenig. "Sie?" Er stand auf und nahm seine Brille ab. Sein Gesicht hatte einen merkwürdig bestürzten Ausdruck. "Was wollen Sie?" Ich kam näher. Vor der Theke blieb ich stehen und kam mir plötzlich verrückt vor. Sollte ich dem Mann wirklich erzählen, dass ich seltsame Träume hatte und eine teuflische Sackpfeife mir die Lebensenergie abzapfen wollte? Es klang ja in meinen eigenen Ohren skurril genug. Allerdings musste ich gar nichts sagen, denn mein Gegenüber kam nun herum und meinte: "Setzen Sie sich doch bitte. Ehrlich gesagt sehen Sie nicht gut aus." Ich nahm auf dem angebotenen Stuhl platz und knetete meine Finger. Wie sollte ich bloß anfangen? "Es ist das Instrument, nicht wahr? Es hat zu Ihnen gesprochen.", sagte der Alte und nahm mir damit erneut die Entscheidung ab. "Ja.", antwortete ich schlicht. "Das dachte ich mir. Ich wusste es bereits, als sie den Laden betreten haben." Seine Schultern sanken noch mehr herab und es schien, als liege eine tonnenschwere Last auf ihm. "Ich wollte es Ihnen sagen, doch Sie hätten mich wahrscheinlich als alten Spinner abgetan. Damit wären Sie nicht der Erste gewesen." "Es stimmt also, was der Kobold gesagt hat?", sagte ich leise. Der andere nahm seine Brille ab und poliert sie an einem Taschentuch - eindeutig, um Zeit zu schinden. Als er sie wieder aufsetzte blickte er mich an und antwortete: "Ja. Vor ihnen waren noch andere da. Ich muss es wissen - ich bin der Hüter dieses Teufelsding. Wie alt schätzen Sie mich?" Ich zuckte die Schultern. "Siebzig, Fünfundsiebzig?", meinte ich. "Nächstes Monat werden es zweihundertdreiundachtzig Jahre.", erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Ich zweifelte keinen Augenblick daran. "Diese Sackpfeife wurde von den Händen meines Vater gefertigt, ehe er sie an mich weitergab. Er war das erste Opfer. Mich billigte der Dämon - er erwählte mich zu seinem Wächter und gab mir das ewige Leben. Zuerst schien es verlockend, doch mit dem Alter ging das vorbei. Ich sah nicht nur meine Frau und meine Kinder wegen dieses Instrumentes sterben, sondern auch meine Kindeskinder, Urenkel und alle Nachfolgenden. Irgendwann war meine Familie ausgelöscht. Ich bin der Letzte." Ein tiefer Seufzer drang über seine Lippen. Jedes Wort schien ihn anzustrengen und noch einmal altern zu lassen. Nun kannte ich zwar sein Schicksal, aber das Entscheidende hatte er mir noch nicht verraten. "Wie kriege ich diesen Fluch wieder los?" Er lächelte bitter. "Im Normalfall gar nicht. Wen die Pfeife einmal erwählt hat, den lässt sie nicht mehr los." "Aber warum ausgerechnet ich?" "Nun, Sie wissen es nicht. Aber Sie stammen von einem alten Spielmannsgeschlecht ab. Diese Abstammung reicht etliche Generationen zurück, bis in die Tiefen der Frühgotik oder noch weiter. Und kaum einer kennt seinen Stammbaum so weit. Mittlerweilen dürfte nur noch ein Bruchteil des Blutes, welches dieses Geschlecht hatte, ihn Ihren Adern fließen, aber das reicht leider aus um die Sackpfeife zu rufen." Ich hatte die mittelalterliche Musik immer als ein Hobby angesehen, etwas, das in der heutigen Zeit anders und aufregend war. So weit zu überlegen, ob da mehr war, hatte ich ernsthaft nie getan. "Die Sackpfeife bevorzugt diese Art der Abstammung, denn nur, wer Spielmannsblut in sich trägt, der kann sie auch zum Klingen bringen. Wenn Sie das geschafft haben, dann sind die Beweise unumstritten." In knappen Worten beschrieb ich den Vorfall, der sich während des Soundchecks ereignet hatte. Der Alte wiegte den Kopf hin und her. "Ja, das klingt ganz danach. Mit jedem Spiel stielt sie einem ein wenig mehr vom Leben. Anfangs sind es nur wenige Stunden, dann Tage, Wochen und schließlich Jahre. Die meisten sterben vor den Jahrzehnten." "Moment mal...", unterbrach ich ihn, "dieses Kerlchen meinte, ich könnte nicht sterben." "Der Körper schon, aber der Geist nicht. Dafür bleibt der Seele die Ruhe verwehrt. Es ist ein grausames Leben oder auch Nichtleben - im Prinzip kommt es auf das selbe hinaus. Das Fegefeuer muss eine Erlösung sein." Ich schluckte schwer. Irgendwie klang das überhaupt nicht verlockend. "Und was kann ich dagegen tun?" Der Ladenbesitzer seufzte. Seine Augen schienen noch trüber zu werden. "Ich weiß es nicht. Mit mir hat er, wie gesagt einen Pakt geschlossen, nach dessen Wollen ich nie gefragt wurde. Die anderen irren noch immer als verlorene Geister umher - keiner hat es geschafft, den Dämon zu besiegen." Fabelhaft. Mein Blick fiel auf eine alte Standuhr, die an der Wand hinter der Theke stand. Die Zeiger zeigten bereits dreiviertel Fünf. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Der Gedanke, in die Burg zurück zu kehren und dort ein Konzert zu spielen, gefiel mir zum ersten Mal, seit ich meine Musikerkarriere begonnen hatte, nicht. Allerdings brachten Ausreden auch nichts. Ich stand auf. "Tja, das war es dann wohl." Ich nickte dem Alten zu, der sich ebenso erhob. "Tut mir Leid." Er legte eine Hand auf meinen Unterarm und drückte kurz zu. In seinen Worten lag so viel Aufrichtigkeit, das mir ganz schwindelig wurde. Dann ließ er mich los und schlurfte in den hinteren Teil des Ladens zurück.

Die Glöckchen bimmelten, als ich den Laden zum zweiten Mal an diesem Tag verließ. Mit widerwilligen Schritten ging ich die Straße hinauf. Der Weg war mir länger vorgekommen, jetzt mündete er viel zu rasch auf den Parkplatz wo der Tourbus stand. Von den anderen war nichts zu sehen. Ich trat an den Bus heran, öffnete die Tür mit dem kleinen Hebel an der Seite und stieg ein.

Drinnen fand ich lediglich Basti vor, der sich in seiner Koje zusammengerollt hatte und noch ein Nickerchen hielt. So leise es ging bewegte ich mich an ihm vorbei, bis ich mein Bett erreicht hatte. Für einen Moment spürte ich bleierne Müdigkeit in meinen Knochen. Doch die Erinnerung an den grinsenden Kobold, der mich in meinen Träumen wieder heimsuchen könnte, verdarb mir die Lust darauf. Also zog ich lediglich meinen Pullover aus und warf ihn auf die Decke, ehe ich unser fahrendes Domizil verließ. Draußen begab ich mich zu dem Nebeneingang, der in die Umkleideräume führte. Ein schmaler Gang bildete den Weg zur Bühne. In dem kleinen Gewölberaum, der von Andrè am Anfang gleich den Spitznamen "Gemeinschaftsecke" bekommen hatte, fand ich den Rest der Band. In der einen Ecke stand ein Sofa mit Tisch, davor zwei gemütlich aussehende Sessel. Die Fünf hatten sich so gut es ging darauf verteilt. Micha trug bereits die Bühnenjacke und lümmelte in einem der Sessel. Morgenstern hatte sich in die Setliste vergraben und las aufmerksam. Bei meinem Eintreten blickten sie kurz auf. "Na, wieder besser?", fragte Kay. Ich nickte bloß. Keiner machte eine Anspielung auf den Vorfall. Vielleicht hatte ich sie ja doch von meiner Geschichte überzeugen können.

Ich schnappte mir einen Hocker, der neben der Tür stand, und gesellte mich zu ihnen. Ich warf einen kurzen Blick in die Liste, was jedoch überflüssig war - ich kannte sie bereits. Also ließ ich meine Augen zur Decke wandern, wo sie eine Weile verharrten. Ich hatte keine sonderliche Lust, ein Gespräch zu beginnen und war froh, das keiner der anderen Anstalten machte, eines anzufangen.

Also erhob ich mich und verließ kommentarlos den Raum. Mir war etwas eingefallen. Obwohl es mir widerstrebte ging ich in die Halle zurück. Ich sah die Sackpfeife nicht an, sondern schnappte sie mir mit einer entschlossenen Geste und nahm sie mit nach draußen. Sie schien mit jedem Schritt schwerer zu werden, aber ich ignorierte dies. Vor dem Burgtor hatte jemand einen Container hingestellt, in dem alles mögliche an Bauschutt und Metallteilen lag. Der hintere Teil der Anlage wurde renoviert, um ihn für Besucher zugänglich zu machen. Mit einem Ruck warf ich das Instrument über den Rand und hörte das Scheppern, als die hölzernen Pfeifen auf Gestein trafen. Eine fast grimmige Befriedigung erfüllte mich. Mit einem letzten Blick überzeugte ich mich davon, das sie tatsächlich drin lag, dann ging ich zurück.

Nun ja, als der Kobold mich einen Narren nannte hatte er vermutlich recht. Denn als ich die Halle durchquerte hing das verfluchte Instrument wieder genau dort, wo ich es abgelegt hatte. Ein leises Aufstöhnen drang über meine Lippen, als ich es sah. In diesem Moment wurde mir bewusst, das es viel zu einfach gewesen wäre. Und wenn ich es nicht benutzte? "Du hast ein Versprechen gegeben... nun spiele...", ertönte gleichzeitig eine leise, jedoch hartnäckige Stimme in meinem Kopf. Ärgerlich schüttelte ich mich ein paar Mal, um sie weg zu bekommen. Langsam aber sicher kam ich dem Wahnsinn immer näher. Die Müdigkeit war schon lange verschwunden, stattdessen war ich von rastloser Unruhe ergriffen worden. Die Zeit verging zu schnell, in wenigen Stunden hatten wir den Auftritt. Schon jetzt standen draußen auf dem Parkplatz einige Autos mit meist schwarz gekleideten Konzertbesuchern.

Mit hängenden Schultern schlich ich weiter durch das Burggelände. Ein breiter Gang führte an der Halle vorbei. An seinem Ende wand sich eine steile Treppe mit ausgetretenen Stufen in die Höhe. Ich ging die Stufen hinauf und gelangte in den Teil, der renoviert wurde. Das Dach des kleinen Turmes war entfernt worden und der Wind pfiff leise um die Zinnen. Ich blieb einen Augenblick stehen und blickte in das Tal hinab. Der Abhang fiel an dieser Stelle steil ab und ging in eine weite Waldfläche über. Wie ein graues Band schlängelte sich die Hauptstraße hindurch. Ab und an fuhr ein Auto vorbei, ansonsten war die Gegend nicht sehr belebt.

Ich schreckte auf, als hinter mir Schritte erklangen. "Eigentlich dürften Sie ohne Genehmigung nicht hier oben sein. Das ist Baugelände." Hinter mir war eine Frau aufgetaucht, die nun langsam auf mich zuschritt. Dunkles Haar wallte ihr über die Schultern. Gekleidet war sie in ein langes, schlichtes Kleid von dunkelblauer Farbe. Ihr hellen Augen blitzten, als sie auf mich zutrat. Ein großes Amulett schmückte ihren Hals. An verschiedenen Fingern steckten Ringe und um ihre Handgelenke klingelten Armreifen. Als sie nun einen weiteren Schritt machte erkannte ich, das ihre Füße in ledernen Schnabelschuhen steckten, die an der Spitze ein kleines Glöckchen hatten. Alles in allem machte sie auf mich den Eindruck einer Konzertbesucherin, deswegen fragte ich mich, wie sie hier heraufkam. Eigentlich gab es hier nur einen offiziellen Eingang, und der dürfte von den Leuten der Security abgesperrt worden sein. "Was ist mit Ihnen? Haben Sie eine Genehmigung?", fragte ich zurück. Mein Tonfall klang dabei etwas schroffer als gewollt, aber sie ging nicht darauf ein. "Ich weiß, was Sie hier oben suchen. Sie suchen eine Antwort." Ich runzelte die Stirn. Es stimmte, ich suchte nach einer Antwort, aber sie konnte unmöglich davon wissen. Nicht einmal die anderen wussten von den genauen Geschehnissen. "Er ruft Sie, andauernd. Ich kann ihn hören." Ihre Stimme klang leicht verbittert, als sie an die Zinnen trat und in das Tal blickte. Nun erstaunte sie mich doch. "Sie können...", begann ich, wurde aber durch ein Nicken ihrerseits unterbrochen. "Ja." Sie blickte mich wieder an. "Ich kann ihn hören, so wie wir alle ihn hören können." Sie trat näher und fasste meinen Arm. "Es gibt eine Tonfolge, die den Bann brechen kann. Dabei ist ein einzelner Ton entscheidend, so hoch, das man ihn nicht mehr hören kann. Nur dieser kann den Dämon stoppen." Ich blickte sie an, unfähig, mich zu rühren. "Welche ist es?", fragte ich atemlos. Sie schüttelte traurig den Kopf. "Es ist der Beginn eines neuen und doch sehr alten Liedes. Jedes Mal wurde es neu geschrieben, immer unter einem anderen Namen und doch gibt es dieses Lied schon sehr sehr lange. Der Dämon gibt Hinweise darauf, doch die meisten haben sie nicht entschlüsselt." Hinweise? Ich hatte jede Menge Hinweise auf Lieder aus unserem Programm bekommen. Welcher war nun richtig? "Poc Vecem" war zweifelsohne alt, aber war es neu geschrieben worden? Ansonsten blieben nur "Spielmann" und "Liam" übrig. Sollte ich es probieren? Mein Kopf dröhnte, die Fragen drehten sich im Kreis. "Kannst du mir nicht noch einen Hinweis geben?", fragte ich sie darum. "Vielleicht habe ich etwas herausgefunden, was die anderen nicht wussten: Er benutzt die Liebe." Das war doch etwas! Ich musste es mit "Liam" probieren. Zwar gehörte das Intro Flex, aber dann musste ich eben einmal eingreifen. Zum Glück kam der Song ziemlich am Anfang. Ich musste nur ein wenig durchhalten.

Als ich aufblickte um mich bei der Fremden zu bedanken war sie verschwunden. Ich stand alleine auf der Turmplattform. Mittlerweilen hatte es zu Dämmern begonnen und ich machte mich eiligst auf den Weg nach unten. Drunten war jede Menge los: Die Techniker prüften noch mal die Anlage, Kisten wurden verschoben um den Weg zur Bühne frei zu machen. Die anderen Sechs hatten sich bereits umgezogen, als ich atemlos in die Garderobe kam. "Na endlich - wir wollten schon nen Suchtrupp losschicken.", brummte Micha. Ich beeilte mich mit dem Umziehen und war kurze Zeit später fertig. Noch mal tief durchatmen, Glück wünschen, und dann raus auf die Bühne. Die Scheinwerfer waren ausgeschalten, nur ein einziges Licht ruhte auf dem Schlagzeug, das im hinteren Teil der Bühne mittig aufgebaut war. Morgenstern machte den Anfang, dann folgten Kay und Basti. Als nächstes waren Pymonte, Flex und ich dran. Ich packte die Sackpfeife fester, nahm das Mundstück zwischen die Zähne und pumpte Luft in den Balg. Dann war es schon soweit. Von zwei Seiten kommend betraten wir die Bühne. Der Raum war, soweit ich es erkennen konnte, bis auf den letzten Meter gefüllt. Es waren mal wieder sehr viele Leute da. Ich konzentrierte mich auf die anderen und mein Spiel. Nun betrat Micha die Bühne schnappte sich das Mikro und legte mit "Raue See" los. Ehe ich mich versah war das Konzert im vollen Gange. Die Leute vor der Bühne kamen in Bewegung, tanzten, klatschten und sangen mit. Für einen kurzen Moment vergaß ich die Misere. Das wurde mir fast zum Verhängnis. Meine Finger führten einen wahren Veitstanz auf dem Flötenhals aus und ich hatte Mühe, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber es gelang mir mit einiger Kraftanstrengung, sie in den gewohnten Takt zu versetzen. Das Lied kam mir dieses Mal ziemlich lang vor, ehe es endlich zuende ging und wir nach einer Beifallsbekundung sofort mit "Spielmannsfluch" weitermachten. Damit brachten wir die Menge vor uns endgültig zum Kochen. Schon nach kurzer Zeit begannen Flex und Pymonte mit ihrer all abendlichen Bühnenjagd, an der ich mich allerdings nicht wirklich beteiligte. Mir fiel es so schon schwer dabei zu bleiben, da kam das Gehopse nicht in Frage. Das Lied schien - dieses Mal nach einer Ewigkeit - zuende zu gehen. Für einen Moment setzte ich die Sackpfeife ab, um wieder zu Atem zu kommen. Ich fühlte mich total aus der Puste. Noch zwei Lieder, ehe "Liam" kam. Zum Glück machte Micha erst mal eine Ansage, was mir ein paar Minuten Luft verschaffte. Ich warf einen Blick in die Runde und fing den von Kay auf. In seinen Augen konnte ich deutlich die Frage nach meinem Befinden lesen, doch ich schüttelte leicht den Kopf und rückte die Pfeife zurecht. Ich musste das jetzt durchziehen.

Die nächsten Stücke waren die längsten, die ich je gespielt hatte. Ich bekam nicht mit, was folgte. Ich spielte ganz automatisch, hatte jedoch Mühe, den Takt zu halten. Die Zeit rann zäh wie Sirup dahin. Auf meiner Stirn stand feiner Schweiß und ich biss die Zähne zusammen, bis meine Kiefer schmerzten. Der Zuschauerraum verschwamm öfters vor meinem Blick und die Lichter wurden zu einem bunten, wirren Gemenge. Statt mich wie sonst auf der Bühne zu bewegen blieb ich steif an meinem Platz stehen und spielte. Ich bekam weder was von der Show, noch von den besorgten Blicken mit, die meine Kollegen mir immer häufiger zuwarfen. Zum Glück schienen die Zuschauer nichts zu merken - oder zumindest nur ein paar wenige. Noch ein paar letzte Töne, dann war es geschafft. "Liam" war das nächste Stück. Zu meiner Verwunderung jedoch ging Flex nicht zur Seite, um den irischen Dudelsack zu holen, der das Stück einleitete. Stattdessen kündigte Micha auf einmal etwas ganz anderes an. Das konnte nicht sein! Wir konnten das Stück doch nicht ausfallen lassen! Panik ergriff mich. Noch ehe er geendet hatte, trat ich nach vorne, nahm das Mundstück in den Mund und fing das Spielen an. Es klang anders als sonst, aber ich kannte das Intro in und auswendig. Die anderen blickten mich verwundert an. Keiner rührte sich, während ich mein Solo gab. Sogar die Zuschauer waren still. Alle Blicke ruhten auf mir, während ich weiterspielte. Die Pfeife in meiner Hand vibrierte. Plötzlich schien das Instrument Tonnen zu wiegen, doch ich hielt es eisern fest. Mein Kopf fing wieder an zu pochen und zu dröhnen, und dazwischen konnte ich ein heiseres Keifen und Schreien verstehen. Der Pfeife gefiel nicht, was ich spielte, sie entwickelte fast ein Eigenleben. Doch statt ihr nachzugeben wiederholte ich die Tonfolge ein ums andere Mal, immer ein wenig höher, bis es nicht mehr höher ging. Ich holte tief Luft und blies mit aller Macht hinein, während ich jedes bisschen Luft aus dem Balg drückte und alles in diesen einen höchsten Ton jagte. Die Atmosphäre rund herum schien zu beben. Tatsächlich war nichts zu hören, nur ein ohrenbetäubender Schrei zerriss die Stille. Ich hörte den Dämon jaulen und wimmern, doch irgendwann wurde es leiser und leiser, bis es schließlich gänzlich verstummte. Ohne es zu merken hatte ich die Augen geschlossen. Als ich sie nun wieder öffnete merkte ich, das tatsächlich noch immer totenstille herrschte. Die Sackpfeife in meinen Händen hatte aufgehört zu spielen. Der Balg hing schlaff unter meinem Arm, ein langer Riss zog sich quer durch den Stoff. Auf diesem Instrument würde keiner mehr spielen können. Die Enden der Pfeifen waren geborsten. Ich warf einen Blick ins Publikum und meinte achselzuckend: "Tja, heute habe ich wohl etwas übertrieben." Damit drehte ich mich um, gab Marco, der noch immer versteinert da stand, einen Wink und ging hinter die Bühne. Dort warf ich die nutzlose Pfeife in den nächsten Mülleimer, schnappte mir meinen eigenen, heißgeliebten Dudelsack und wollte zurück auf die Bühne gehen. Da entdeckte ich in einer Nebentür stehend die unbekannte Frau. Sie lächelte mich an. Ihre Lippen formten ein lautloses "Danke". Ich nickte ihr zu. Endlich verstand ich, wer diese Frau war - keine Geringere als die des Antiquitätenhändlers - und was sie für mich getan hatte. Nun hatte ich ihr Frieden gegeben, und es machte mich froh.

Mit einem Kopfnicken zeigte sie zur Bühne, wo die Show Gott sei Dank weiterging und ich zögerte nicht ihrer Geste zu folgen. Schließlich war der Abend noch lang und ich wollte dafür sorgen, das es doch noch ein schönes Konzert wird. Vielleicht nahmen die Fans es als ungewohnte Einlage hin. Was soll's.

Der Rest des Konzerts verlief ohne Zwischenfälle. Ich spielte in bester Laune, wirbelte umher und benahm mich total aufgekratzt. Schließlich endete die letzte Zugabe und wir verabschiedeten uns von den Leuten.

Hinter der Bühne wurde ich von Flex aufgehalten. "Okay, und jetzt mal alles schön der Reihe nach." Ich schüttelte den Kopf. "Vergiss es. Du glaubst mir eh nicht. Und das nächste Mal lass ich dir wieder den Vortritt, keine Bange." Sprachs und ließ ihn einfach stehen. Und schwor mir im selben Moment, nie wieder auf Traumgespinste zu hören und eine andere Sackpfeife zu spielen als meine.
 

- Ende -



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Trollfrau
2008-11-03T11:11:40+00:00 03.11.2008 12:11
Auch wenn du vielleicht schon nicht mehr damit gerechnet hast: Hier nun ein Kommentar von mir für dich :-)
Thema und Kommentarlosigkeit stachen mir sofort ins Auge
Ich bin leider noch nicht in den Genuss gekommen, einem ihrer Konzerte zu frönen.
Dein Schreibstil hat mich sofort gefesselt. Wenn es Leute wie dich gibt, die sich auf diese Art inspirieren lassen, ist die Welt noch nicht verloren.
Ich bin schwer beeindruckt.

LG
Die Trollfrau


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