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Die Weiße Schlange

von

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Prolog

Kennt ihr das Märchen von der Weißen Schlange?

Vielleicht.

Der eine oder andere unter euch möglicherweise.

Es handelt sich um eine alte chinesische Sage. Sie ist wunderschön, aber auch traurig. Hexen, Zauberer und Dämonen kommen darin vor, und sagenumwobene Orte, voller Schönheit und längst vergangenem Glanz. Aber auch Hass, Neid und Missgunst sind Bestandteil dieser Geschichte.

Und Liebe...
 

Die Erzählung handelt von einem jungen Mann, der vor langer, langer Zeit

einmal in einer klaren Vollmondnacht an einer Quelle in einem tiefen, dunklen Wald ein unglaublich hübsches Mädchen sah und sich sofort in sie verliebte. Diese Liebe war jedoch hoffnungslos. Denn der eifersüchtige Vater des Mädchens hatte einen Fluch über seine schöne Tochter gelegt, dass sie bei Tage das Dasein einer schneeweißen Schlange fristen musste, damit kein Mann daherkäme, um sie ihm wegzunehmen. Sie war sein größter, sein wertvollster Schatz und den wollte er mit niemandem teilen. Doch der junge Mann hatte ebenfalls unter einem bösen Fluch zu leiden. Eine schwarze Hexe hatte seine Liebe erringen wollen, doch als er diese zurückwies, da verwünschte sie ihn und so wurde er jede Nacht zu einem verbitterten und räuberischen schwarzen Raben, der sich voller Gram in die Dunkelheit zurückzog, damit ihn niemand in dieser Gestalt sehen würde. Doch das Mädchen konnte von Beginn an hinter die Fassade, hinter die Maske blicken und hatte auch keine Angst vor dem großen Vogel, der sie an der Quelle beobachtete.

So lebten die beiden Liebenden, denn das Mädchen erwiderte die Gefühle des

jungen Mannes, in zwei getrennten Welten. Sie waren sich nah - und doch so fern. Würden sie die Grenzen ihrer beider Welten überwinden können und zueinanderfinden?

Hatte ihre Liebe eine Chance?
 

Ich will euch die Geschichte eines Mädchens erzählen, dem es ähnlich erging.

Sie überschritt die Grenze in eine andere Welt, in eine andere Zeit – und dort wurde sie gebraucht. Dort wartete jemand auf sie, ohne es indes zu wissen. Und dieser Jemand hatte eine Seele, die war vergiftet von Hass und so schwarz wie die Nacht, schwarz wie das Gefieder des Raben. Und das Mädchen brachte das Licht zurück in sein Leben. Sie war seine Weiße Schlange.

Doch auch hier gab es Hexen und Dämonen, böse Menschen, die nichts anderes als Zwietracht säen konnten. Es gab Kriege, Blut und Tod. Und die Kluft zwischen beiden Welten, zwischen der des Mädchens und der ihres Geliebten, war sehr groß, auch wenn nicht wirklich sichtbar. Kann eine solche Kluft wirklich dauerhaft überwunden werden?
 

Folgen wir den Erinnerungen und halb vergessenen Worten hinein in jene

vergangene Zeit, in jene andere Welt und finden heraus, was aus der Schlange und ihrem Raben wurde. Rückt ruhig ein bisschen näher zusammen und hört gut zu. Es ist eine schöne, romantische und heldenhafte Geschichte - aber auch eine traurige. Und vielleicht findet sich der eine oder andere in der Persönlichkeit der jungen Madoka wieder - oder in der des tapferen Samurai Takeo. Wer kann das sagen?

Dies ist ihre Geschichte.

Eine schwarze Seele

Das Land war in Aufruhr.

Der Umbruch war nicht mehr aufzuhalten. Das alte, vorherrschende System der Shogunate begann zu zerfallen und mehr und mehr von innen heraus zerstört zu werden. Abgelöst wurde das herkömmliche System der Kasten durch die sogenannte Restauration: Die Meiji-Ära hatte begonnen. Und mit ihr kamen die Besatzer, Ausländer, allen voran die Briten. Und die Attentäter.

Zahlreiche heimatlose Samurai, früher einer starken und ehrenhaften Kriegerklasse angehörig, streiften nun ziel- und heimatlos durch das Land. Das Recht, Waffen zu tragen war ihnen per Gesetz verboten worden. Und dennoch - und gerade auch deshalb - gab es unter ihnen welche, die sich von der neuen Regierung anheuern ließen, um die Restauration voranzutreiben. Auf der anderen Seite gab es natürlich auch ehemalige Schwertkämpfer, die sich auf die Seite des Shogun stellten, um gegen die Restauration vorzugehen. Viele kamen freiwillig, weil sie Geld brauchten und überleben wollten. Aber manche wurden auch gezwungen. Zum Beispiel indem man ihre Familien als Geiseln

hielt.
 

Yamazaki Takeo war noch sehr jung gewesen, als all diese Unruhen begannen.

Gerade einmal zwölf Jahre alt hatte er mit ansehen müssen, wie man seine Familie, Vater, Mutter und auch seine zwei jüngeren Schwestern, brutal vor seinen Augen schändete und umbrachte. Seinen älteren Bruder, Mamoru, verlor er damals aus den Augen in der Annahme, er sei ebenfalls umgekommen. Ein grausames Schicksal wollte es, dass sich die beiden Geschwister sehr viel später wiederbegegneten - als Feinde - was Takeo sich zuvor niemals hätte vorstellen können.

Kleine Scharmützel zerrissen das Land und ließen es praktisch ausbluten. Wenn man Takeo heute fragte wie er damals der Hölle in seinem Dorf entkommen konnte, dann wusste er hierauf keine eindeutige Antwort.

Das nächste, was er bewusst wahrgenommen hatte war, dass er ein Pferd stahl und blindlings geflohen war. In einem Vorort der heutigen Stadt Kyoto hatte er die alte Mähre zuschanden geritten und diese war zusammengebrochen, hatte das Kind unter sich begraben.

Doch Takeo wurde gerettet.

Der damals schon steinalt wirkende Muto Koji, ein außergewöhnlicher Veteran in der Kunst des klassischen Kendo, der einen bekannten Dojo führte und zahlreiche zu dieser Zeit namhafte Schwertkämpfer ausgebildet hatte, fand den Jungen und das tote Pferd, als er die Stadt gemeinsam mit seiner Frau verlassen wollte. Selbst vor der alten Kaiserstadt machten die Aufrührer und

Plünderer nicht Halt. An zahlreichen Stellen brannte es und vor dem dunklen Nachthimmel wirkten die Flammen beinahe blutrot. So blutrot, wie das Haar des Kindes, das Muto Koji nun in seinen Armen geborgen forttrug. Fort von der Stadt, in der er sein gesamtes Leben verbracht hatte und in welcher er Herz und Seele an jenem Tag zurückließ.
 

Takeo war bei den Mutos aufgewachsen, die in einer einsamen Hütte in den Wäldern rund um Kyoto Schutz gesucht und gefunden hatten. Er wurde zu einem begnadeten Schwertkämpfer, unterrichtet vom Meister persönlich. Doch so abgeschieden die Hütte auch lag, der Bürgerkrieg ging auch hier nicht spurlos vorüber.

Ein berittener Tross der Shinsengumi, der Samurai-Schutztruppe des Shogun, welche die konservative Seite vertrat und mit brutalsten Mitteln gegen die Restauration kämpfte, hatte sich eines Tages ausgerechnet die Lichtung als Rastplatz ausersehen, auf welcher die Mutos zu jener Zeit völlig zurückgezogen lebten. Takeo hatte im Wald trainiert und plötzlich schwarzen Rauch über den Bäumen dahinziehen sehen, ein düsteres Omen in einer noch dunkleren Zeit. Als er zum Haus zurücklief sah er gerade noch, wie die letzten Reiter die Lichtung verließen.

Die Hütte brannte lichterloh. Und vor dem Eingang lagen die bis zur Unkenntlichkeit zerrissenen Leichen von Muto Koji und seiner Frau - Takeos Zieheltern. Die Shinsengumi hatte keinen Hehl

daraus gemacht, dass sie die kleine Familie für Sympathisanten der Revolution hielten. Ein mit Blut geschriebenes Blatt, dem alten Schwertmeister mit einem Messer in die Brust genagelt, kündete davon, dass die hier "hingerichteten" Menschen Verräter und Volksverhetzer seien.
 

Von da an wandelte sich das Leben des zuvor so sanftmütigen und liebenswerten jungen Mannes vollkommen. Er sann auf Rache und schloss sich den Revolutionären an, um für sie als Auftragskiller zu arbeiten und zu einem der namhaftesten Ninja-Kämpfer zu werden, die zu jener Zeit gelebt

hatten. Doch zugleich verlernte er es zu lachen, wurde zu einem eiskalten und gnadenlosen Mann. Unter der Hand sagte man sich, dass der "Rote Schatten", wie man Takeo nun nannte, ein erbarmungsloser und lautloser Mörder war, der selbst vor Frauen und Kindern nicht Halt machte, wenn es ihm aufgetragen wurde sie zu töten. Und er solle ein unglaubliches Talent dafür haben, sich beinahe unsichtbar zu machen und seine Opfer völlig überraschend zu stellen, sodass an Gegenwehr überhaupt nicht mehr zu denken war. Vor und auch nach ihm gab es immer wieder berüchtigte Attentäter, aber er war zu seiner Zeit der gefürchtetste.

Dieser Mann, der den Tod unter die Anhänger des alten Systems brachte, hätte niemals auch nur entfernt daran gedacht, dass er in seinem Leben noch einmal etwas anderes tun würde, als für andere zu töten. Er hätte wahrscheinlich bis zu seinem Ende Rache an im Grunde Unschuldigen genommen.

Doch etwas sollte sein Leben erneut - und dieses Mal sehr nachhaltig - verändern.

Zurück in die Meiji-Zeit

Madoka spürte die warmen Strahlen der Sonne auf ihrem Gesicht lange bevor sie das erste Mal an diesem Morgen die Augen aufschlug. Sie seufzte und räkelte sich wohlig in dem weichen Gras, das noch immer etwas feucht vom Morgentau war.
 

Gras?

Morgentau???
 

Erschrocken öffnete die junge Frau die Augen und blickte unversehens durch das Geäst eines mächtigen, alten Laubbaumes hinauf in einen makellos blauen Himmel!

Sekundenlang lag sie einfach so da und starrte hinauf, fühlte eine seichte Brise ihre Wangens streicheln und versuchte verzweifelt zu begreifen, was da vor sich ging. Wie war sie hierher gekommen? Und - vor allem - wo war "hier"?

Sie war am vergangenen Abend zu Bett gegangen, so wie sie es mit beinahe ermüdender Regelmäßigkeit immer getan hatte - und jetzt war sie hier. Wie konnte das sein? Oder träumte sie noch?

Vorsichtig setzte sie sich auf und sah sich auf der kleinen Lichtung um, auf der sie sich befand. In einiger Entfernung floss ein kleiner Bach vorbei - dieser verursachte also dieses beständige, unterschwellige Geräusch, das sie die ganze Zeit unbewusst wahrgenommen hatte. Sie hob die Hand und kniff sich fest in den Arm - eine reichlich geistlose, aber wirksame Methode um festzustellen, ob sie nun noch schlief oder nicht.

Sie schlief NICHT.

"Au!", entfuhr es ihren Lippen und auf ihrer Haut begann sich ein roter Fleck zu bilden.

Wo zum Teufel war sie hier?

Noch hatte sie keine Angst. Sie war einfach nur verwirrt.

Erneut strich der Wind über die Lichtung und ließ sie - trotz der wärmenden Strahlen der Morgensonne - plötzlich spüren, dass sie nur mit ihrem dünnen und reichlich kurzen Nachthemd bekleidet war. Fröstelnd zog sie die Beine an den Leib und schlang die Arme um sie.

Gut, sie konnte hier nicht ewig so sitzen bleiben.

Nachdem die Sonne etwas höher über die Baumwipfel geklettert war, erhob sie sich vorsichtig. Wie ein witterndes Reh sah sie sich um und ging zunächst auf den kleinen Bachlauf zu. Sie kniete sich nieder und schöpfte mit beiden Händen das klare, jedoch eiskalte Wasser in ihr Gesicht und trank. Die Kälte klärte ihren Kopf ein bisschen - hatte jedoch zur Folge, dass sich nun doch eine leise Furcht in ihr breit machte.
 

Sie KANNTE diesen Wald nicht. Es war nicht etwa so, dass sie alle Wälder ihrer Heimat kennen würde und aufgrund dessen sagen konnte, dass sie noch nie hier gewesen war. Aber die Vegetation hier war auch anders. Nicht auf den ersten Blick vielleicht, doch wenn man genau hinschaute fiel einem die... Urtümlichkeit der Pflanzen und Bäume auf. Uralte, knorrige Stämme wechselten sich mit dichtem Unterholz ab. Es gab am Ufer des Baches Blumen, die Madoka noch nie zuvor gesehen hatte. Alles wirkte so unberührt, als wäre sie auf einem ganz anderen Planeten, der nie zuvor einen Menschen gesehen hatte. Nicht genug damit, so hatte sie mit einem Mal auch das Gefühl, als würde der Wald um sie herum innehalten und den Eindringling mißbilligend betrachten, der es gewagt hatte den Frieden hier zu stören. Verrückt, aber genau so fühlte es sich an.

Es war jedoch auch möglich, dass der Wald aus einem anderen Grund so still war:

Sie war nicht allein.

Madoka konnte deutlich, jedoch noch weit entfernt, ein Geräusch hören, das sie an Hufschlag erinnerte. Als es näher kam bestätigte sich ihr erster Gedanke: Da kam ein Pferd auf sie zu - und zwar ungeachtet des dichten Unterholzes sehr schnell. Nur Sekunden später war das Trommeln der

Pferdehufe heran, begleitet von einem unaufhörlichen Bersten und Krachen, als es rücksichtslos das Dickicht durchbrach.
 

Dann spie der Waldrand am gegenüberliegenden Ende der Lichtung einen schwarzen Dämon aus! Ein riesiges, nachtschwarzes Pferd mit wehender Mähne und hocherhobenem Schweif preschte auf sie zu. Auf seinem Rücken ein leibhaftiger Teufel mit langem, flammendrotem Haar.

Madoka blieb wie erstarrt stehen und riss die Augen auf. Wie ein totbringender Orkan jagte das albtraumhafte Geschöpf auf sie zu. Sie erkannte nun, dass es KEIN Teufel war, der tief über den Hals des Schlachtrosses gebeugt heranjagte. Es war ein Mann. Er wirkte beinahe zierlich auf dem mächtigen Rücken des Tieres. Das rote Haar, zu einem hohen Zopf gebunden, war beinahe so lang wie er selbst groß war und als er näher heran kam, konnte Madoka mit Schrecken erkennen, dass der junge Mann schwer verletzt sein musste. Seine Kleidung starrte vor Schmutz und hing in Fetzen herab. Die Brust und die linke Seite seines Gesichtes waren blutüberströmt. Seine rechte Hand umklammerte den Griff eines unglaublich langen, schlanken Schwertes, an dessen Klinge ebenfalls dunkles Blut klebte.

Das Pferd jagte mit unvermindertem Tempo direkt auf sie zu.

Madoka war komplett unfähig sich zu rühren.

Ein Pfeil zischte aus dem Dickicht zu ihrer Rechten hervor und streifte den Rücken des rothaarigen Reiters. Der junge Mann bäumte sich im Sattel auf und auch das Pferd wieherte verängstigt und stieg auf der Hinterhand. Madoka sah es kommen, war aber immer noch nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Der Krieger verlor den Halt und stürzte rücklings von seinem Reittier. Er prallte hart auf dem Boden auf und blieb reglos liegen, während das Pferd herumfuhr und in wildem Galopp davonjagte. Sie hörte es berstend und krachend im Wald verschwinden.

Ein weiterer Pfeil flog heran und bohrte sich direkt vor Madokas Füßen in die Erde. Dann konnte sie von dort, wo der Pfeil aus dem Wald gekommen war, wilde Kampfgeräusche hören: Das charakteristische Klirren von Schwertern und das Schreien von Männern.

Madoka versuchte vergeblich zu begreifen, was um sie herum vorging. Wo war sie hier?

Oder sollte sie vielmehr fragen: WANN?

Ein unterdrücktes Stöhnen riss sie in die Wirklichkeit (Wirklichkeit?) zurück. Mit ungläubig geweiteten Augen verfolgte sie, wie der junge Krieger sich ächzend und taumelnd erhob, wobei der sein Schwert zuhilfe nahm. Er hustete qualvoll und dunkles Blut lief aus seinem Mundwinkel.
 

Madokas Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Sie kannte diesen Mann nicht. Aber sein Leid berührte etwas tief in ihrem Inneren. All ihre Sinne schrieen ihr zu, dass sie laufen sollte so schnell sie konnte, fliehen, all diesen Schrecken hinter sich lassen sollte. Doch eine Stimme tief in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, dass sie bleiben sollte. Dass sie bleiben MUSSTE. Dass dieser junge Mann vor ihr mehr war, viel mehr als nur ein blutrünstiger Krieger.

Wieder dieser Schmerz tief in ihrer Brust. Was war das nur?

Endlich erwachte sie aus ihrer Lethargie und lief - ungeachtet der Tatsache, dass womöglich noch ein dutzend Pfeile auf sie oder den Rothaarigen abgeschossen werden konnten - auf ihn zu. Sie streckte die Hände nach ihm aus, um ihn zu stützen und verharrte mitten in der Bewegung, als er den Kopf hob und sie durch das dichte Haar, welches ihm ins Gesicht gefallen war, ein Blick aus eisblauen, unerbittlichen Augen traf.

Dieser Blick war so hart, so voll von Hass und zugleich einem so unvorstellbaren Leid, dass Madoka beinahe wie unter einem körperlichen Hieb zusammenfuhr und zurücktaumelte.

Sie war... erschüttert. Irritiert und erschrocken.

Dieser Blick... Er schien wie ein Pfeil durch all ihre Sinne zu jagen. Und doch... für den Bruchteil einer Sekunde nur, fühlte es sich beinahe vertraut an. Nicht der Hass in seinem Blick, nein. Der Blick an sich. Ihr eigenes Spiegelbild in seinen blauen Augen... Wie das Aufblitzen eines Lichtes in der Dunkelheit, ein Sekundenbruchteil in der Ewigkeit des Seins.

Es war, als wenn etwas eingetreten war, was genauso hatte kommen sollen, hatte kommen müssen.

Es war wie ein Begegnung mit dem Schicksal.

Seltsam...

Woher kamen diese befremdlichen und doch so vertraut wirkenden Gefühle mit einem Mal? Wie gesagt: Sie wusste weder wo sie hier war, noch wer der junge Mann vor ihr sein sollte. Und doch blieb sie, obwohl sie Angst hatte, obwohl auch ER ihr Angst machte...

Dieser Blick.

Dieses... Leid...
 

Der Kopf des Kriegers zuckte herum, als der Kampfeslärm aus dem Wald jäh abbrach und ein weiteres, diesmal hellgraues Pferd mit Reiter aus dem Dunkel auftauchte. Auch dieses war ein außergewöhnlich schönes Tier. Es hatte eine weiße Mähne und einen weißen Schweif. Der Reiter auf seinem Rücken war ein wahrer Riese, jedoch schlank, allerdings mit breiten Schultern. Er trug ein

weißes Stirnband. Sein Haar war von einer dunkelbraunen Farbe, ähnlich wie ihr eigenes, und stand wild in alle Richtungen ab. Er zügelte das Pferd unmittelbar vor dem rothaarigen Krieger und sprang aus dem Sattel. Madoka selbst beachtete er zunächst gar nicht. Sein markantes, jedoch durchaus hübsches Gesicht, war von tiefer Sorge gezeichnet, als er sich zu dem jungen Mann hinabbeugte.

"Takeo? Takeo! Kannst du aufstehen? Wir müssen hier weg! Sie sind los und holen mit Sicherheit Verstärkung!"

Der Angesprochene erhob sich ächzend vollends auf die Füße, taumelte jedoch unter der sichtbaren Anstrengung. Der große Mann stützte ihn. Endlich fiel der Blick des Dunkelhaarigen auf Madoka.

Er wirkte... irritiert.

Erschrocken wurde sie sich einmal mehr der Tatsache bewusst, dass sie hier halb nackt mitten in einem ihr völlig fremden Wald (in einer ihr völlig fremden Zeit?) vor zwei jungen Männern stand!

Auf der Stelle fühlte sie heißes Blut in ihre Wangen schießen.

"Wer ist sie?", fragte der Große, anscheinend an den jungen Krieger gewandt, der nun seinerseits den Blick wieder auf Madoka richtete. Unter diesem Blick wandt sie sich wie ein Insekt unter der Linse eines Mikroskopes.

"Ich... kenne sie nicht..."

Die Stimme des Rothaarigen klang matt, aber fest.

"Es könnte eine Falle sein.", sann der Dunkelhaarige. "Ich habe gehört, dass die Shinsengumi ihre eigenen Kurtisanen haben, die sie auch mit auf längere Reisen nehmen. Vielleicht ist sie eine von ihnen. Und soll uns die Sinne verwirren..."

Madoka konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte!

"Ich bin KEINE Kurtisane! Ich bin...", sie brach entrüstet und zugleich hilflos ab. Ja, das war die Frage. Wer war sie? Hier?

Sie musste einen solch hilflosen und verwirrten Eindruck machen, dass sie gerade dadurch den Dunkelhaarigen wohl vom Gegenteil überzeugte.

"Nein. Ich denke auch, du bist keine Kurtisane. Du stammst nicht einmal von hier, oder Mädchen?"

Er wartete ihre Antwort gar nicht ab und wandte sich wieder an den jungen Samurai, half ihm umständlich auf das graue Pferd zu steigen.

"Ich habe dir doch gesagt, Takeo, diese Schweine betreiben Handel mit Menschen. Die lassen sich exotische Mädchen aus Übersee einschiffen und verkaufen sie dann hier als... Lustmädchen oder Dienerinnen."

Madoka öffnete den Mund, um auch hier zu widersprechen, schloss ihn aber dann schnell wieder. Vielleicht war es besser, sie beließ die Zwei zunächst in dem Glauben, dass sie ein hilfloses Opfer war. Und SO weit war das ja nun auch nicht hergeholt...

Da sie nicht antwortete fasste es der Dunkelhaarige wohl als Zustimmung auf. Nachdem er den jungen Krieger auf das Pferd bugsiert hatte, wandte er sich wieder Madoka zu. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen war nicht unfreundlich.

Er seufzte.

"Ich kann dich so nicht hier zurücklassen. Die Shinsengumi kommt bald und mit noch mehr Männern zurück. Was diese Bande dir antun würde, wag ich gar nicht zu denken..."

Er zuckte mit den Schultern. Dann neigte er - zu Madokas Verblüffung - leicht den Kopf.

"Mein Name ist Kanzaki Shido. Du kannst mich Shido nennen."

Madoka antwortete beinahe ohne ihr zutun: "Sakurai. Sakurai Madoka."

Erneut (wie unglaublich höflich!) neigte er den Kopf.

"Madoka. Es ist mir ein Vergnügen."

An den Krieger gewandt fuhr er fort: "Du stimmst mir doch zu, Takeo-kun? Wir können das Mädchen unmöglich hier lassen"

"Bei uns bleiben kann sie auch nicht.", sagte der junge Samurai hart und ohne sie anzusehen.

Madoka zuckte zusammen.

"Ja, ja...." Shido seufzte erneut und sah Madoka beinahe verzeihungsheischend an.

"Das ist Yamazaki Takeo. Mein Freund. Normalerweise ist er nicht... ganz so gereizt. Nun ja, er ist auch verletzt. Verzeih seinen..."

"Du musst dich nicht für mich entschuldigen, Shido-san."

Takeo erhob die Stimme nicht einmal. Aber plötzlich schwang ein beinahe gefährlicher Unterton in ihr mit, sodass Shido das Thema nicht weiter verfolgte.

"Wie dem auch sei, ich werde sie nicht zurücklassen."

Er winkte Madoka zu sich heran.

"Komm. Wir werden in der nächsten Herberge, an der wir vorbeikommen, Halt machen und Takeos Wunden versorgen. Dort kannst du sicher vorerst auch bleiben. Der Besitzer ist uns gut bekannt."

Madoka sah skeptisch zu Takeo hinauf. Dieser vermied es jedoch, auch nur in ihre Richtung zu schauen.

Mit einem Mal fühlte sie sich von starken Armen umfasst und hoch hinter den verletzten Schwertkämpfer in den Sattel des Pferdes gehoben.

"Halt dich gut fest!"
 

Dieser Ratschlag kam nicht von ungefähr, wie Madoka zu ihrem Leidwesen gleich darauf erfuhr.

Kanzaki-san legte selbst zu Fuß ein unglaubliches Tempo vor. Das Pferd lief am Zügel hinter ihm in einem scharfen Trab. Madoka war noch nie geritten. Jedenfalls war sie nie über das obligatorische Ponyreiten für Kinder auf Jahrmärkten oder im Zoo hinausgekommen. Voll jähen Schreckens klammerte sie sich hinterrücks an Takeo, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie konnte regelrecht fühlen, wie er sich unter ihrer Berührung versteifte und (ob nun gewollt oder intuitiv) so weit wie möglich nach vorn und von ihr fortrückte. Dieses Verhalten versetzte ihr innerlich einen leichten aber nachhaltigen Stich. Sie bemühte sich, ihren Griff zu lockern und dennoch nicht vom Pferd zu fallen.

Dann kam, was kommen musste.

Zwei, drei Pfeile schossen hinter ihnen heran und schlugen federnd in die Baumstämme rechts und links von ihnen ein. Ein weiteres Geschoss traf ihr Pferd in eine der Hinterbacken. Angstvoll wiehernd wollte das verletzte Tier sofort Reißaus nehmen, doch Shido warf sich in die Zügel und verhinderte,

das es durchging. Das Pferd warf den Kopf zurück und bleckte die Zähne. Das Weiße in den Augen wurde sichtbar.

Madoka klammerte sich nun doch wieder voller Angst an Takeo.

"Das hat keinen Sinn, Takeo! Reite du mit dem Mädchen vor! Ich versuche sie aufzuhalten!", rief Shido atemlos. Und wo in einem billigen Samurai-Movie, von der Art, wie sie Madoka gesehen hatte, der Held wahrscheinlich gezögert und das Vorhaben seinem Freund voll Sorge auszureden versucht hätte, da schnappte sich der junge Mann ohne Umschweife die Zügel, die ihm Shido hinhielt und gab dem Pferd so prompt die Sporen, dass Madoka um ein Haar wirklich rücklings vom Pferd gefallen wäre.
 

In wildem Galopp jagten sie durch den Wald.

Madoka hatte Takeos Haar im Gesicht. Sie versuchte, es zur Seite zu streichen, aber sofort peitschte eine neue Strähne in ihre Augen. Als sie an seiner Schulter vorbei nach vorn lugte, gewahrte sie mit jähem Schrecken, dass sie auf eine Gruppe umgestürzter Bäume zupreschten. Er wollte doch nicht...?

Das Pferd war lahm! Und es trug zwei Personen!

Madoka fügte sich in ihr Schicksal und vergrub das Gesicht wimmernd an Takeos Schulter.

"Halt dich fest.", hörte sie mit einem Mal seine Stimme. "Hab keine Angst."

Wie war das?

Das waren ja ganz neue Töne?

Gehorsam schlang die junge Frau die Arme um seine Taille und presste ihr Gesicht in sein wehendes Haar. Dann konnte sie spüren, wie das Pferd die gewaltigen Muskeln anspannte und sich mit einem Ruck vom Boden abstieß. Gemeinsam segelten sie durch die Luft und landeten vergleichsweise sanft auf der anderen Seite, wo das Pferd sofort zu einem erneuten Anlauf ansetzte:

Der nächste, noch größere Baumstamm ragte vor ihnen auf.

"Uuuuhhmmmm...", machte Madoka.

Dann fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer. Sie umschloss fest ihr Handgelenk. Madoka war so überrascht, dass sie kaum merkte, wie sie erneut Bodenkontakt verloren. Diesmal kam das Tier beim Aufprall ins Straucheln und Takeos Griff um ihren Arm wurde augenblicklich fester. Madoka rutschte tatsächlich nach hinten. Wenn er sie nicht zusätzlich gehalten hätte...

Dann ging die Jagd mit unvermindertem Tempo weiter. Madoka verlor jegliches Zeitgefühl.
 

~~~oOo~~~
 

Irgendwann, Stunden später, denn es dämmerte bereits der Abend mit einem orangeroten Leuchten, welches den ganzen Himmel (und Takeos glutrotes Haar) in einen sanften Schimmer hüllte, wurde das Pferd endlich von sich aus langsamer. Auch lahmte es nun merklich auf der linken Hinterhand.

Madoka war sehr müde. Noch nie zuvor hatte sie einen ganzen Tag im Sattel verbracht. Sie fühlte sich wund und buchstäblich jeder Knochen im Leib tat ihr weh.

Als Takeo das Pferd endlich zügelte, war Dunkelheit über den Wald und das kleine Häuschen gekommen, das nun umgeben von kleinen Trauerweiden, überbrückten Bächen und steinernen Laternen vor ihnen aufgetaucht war. Ein paar Lampions, die nach außen hin auf den Veranden im leichten Abendwind schaukelten, verströmten mildes, warmes Licht.

Bevor Madoka auch nur einen Muskel rühren konnte, um sich an den Abstieg aus scheinbar schwindelerregender Pferderücken-Höhe zu machen, sackte Takeo plötzlich zur Seite weg, schneller als sie hätte reagieren können, und fiel hart zu Boden. Er blieb reglos liegen. Madoka sog erschrocken die Luft ein.

Hastig - und reichlich unbeholfen - schwang sie sich vom Pferd und rief um Hilfe. Sie sank neben dem jungen Krieger auf die Knie.

"Hallo? Ist jemand da? Wir brauchen Hilfe!"

In der Diele des Hauses wurde Licht gemacht. Sekunden später traten zwei dunkle, schlanke Gestalten auf die Veranda. Eine trug ein Windlicht, die andere mehrere Tücher und eine Schale, in der wohl Wasser war. Takeo schien diesen Leuten wahrhaftig nicht nur bekannt zu sein. Er tauchte wohl nicht zum ersten Mal in einem solchen Zustand hier auf.

Madoka beugte sich über die reglose Gestalt des jungen Mannes. Vorsichtig drehte sie ihn auf den Rücken. Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen. Getrocknetes, dunkles Blut klebte in seinem Mundwinkel. Ohne nachzudenken strich Madoka das lange, kupferfarbene Haar aus dem schmalen, blassen Gesicht. Fasziniert schaute sie auf ihn hinunter. Er hatte ein fein geschnittenes Kinn und hohe Wangenknochen. Die Pupillen bewegten sich unter seinen geschlossenen Lidern, als würde er träumen. Und er besaß eine lange, schmale Narbe, die sich quer über seine rechte Wange zog. Seine Kleidung an Schulter und Brust war feucht und dunkel von Blut.

Wieder dieser Schmerz in ihrer Brust. Als könnte sie seinen Schmerz auch am eigenen Leib spüren. Und eine Vertrautheit, die eigentlich nicht da sein durfte. Denn jetzt, wo sie die Zeit hatte ihn genauer zu betrachten, da war sie sich nun ganz sicher: Sie hatte diesen jungen Mann nie zuvor gesehen.

Und doch kam ihr etwas an ihm... vertraut vor. Als wären sie sich in einem anderen Leben und zu einer anderen Zeit bereits schon einmal begegnet...

Das war völlig unmöglich und nebenbei auch ziemlich unsinnig.Es erschreckte und verwirrte sie, dass sie plötzlich überhaupt solche Gedanken hatte. Aber die Sorge um ihn überwog alles. Er hatte ihr letztenendes das Leben gerettet. Und nun lag er vor ihr... Das Blut floss aus seinen Wunden und sie konnte nur hilflos zusehen. Sie kämpfte mit plötzlich aufkommenden Tränen.
 

Madoka streckte die Hand nach seinem Gesicht aus, da waren die zwei Gestalten jedoch bereits heran und verscheuchten sie mit hektischen Handbewegungen. Es waren zwei junge Frauen mit rabenschwarzem Haar, wohl Bedienstete des Hauses. Sie machten sich sofort und sehr effektiv an Takeos Wunden zu schaffen. Ein wahrer Hüne von Mann, der einen weißen Kittel trug und daher auf Madoka sofort den wohl nicht allzu falschen Eindruck eines Kochs machte, kam nun aus dem Haus. Ohne viel Federlesens bückte er sich und hob den Verletzten auf seine muskulösen Arme. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf seinem polierten Glatzkopf. Er wandte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort ins Haus.

Madoka blieb etwas unschlüssig zurück.

Eines der Mädchen (diejenige, die den Lampion trug) griff nun nach den Zügeln des Pferdes und führte es fort, wohl in einen Stall auf der gegenüberliegenden, völlig im Dunkeln liegenden Seite des Hofes. Das andere verneigte sich fast bis zum Boden vor Madoka und bedeutete ihr dann ins Haus

zu folgen.

Madoka neigte ebenfalls den Kopf. Mit einem sehr merkwürdigen Gefühl folgte sie der jungen Frau in eine behagliche Diele. Da sie ohnehin barfuß war, konnte sie der Frau gleich bis zu einer hölzernen Treppe folgen, die in einem flachen, langen Winkel zu einer Luke führte, die wohl den Durchgang zum oberen Stockwerk darstellte. Oben angekommen wandte sich die Dienerin nach links und schob eine papierne Wand zur Seite, setzte sich dann vor die Tür und verneigte sich erneut - eindeutig auffordernd. Madoka war im höchsten Maße irritiert. Wenn schon nicht draußen und auf der wilden

Verfolgungsjagd hierher, so fiel ihr doch hier sehr deutlich auf, dass sie wahrhaftig nicht nur den Ort, sondern wohl auch die Zeit gewechselt hatte.

Aber wie war das möglich? Wieso war sie nun in einem Japan gelandet, in welchem es anscheinend noch umherziehende Samurai und dienstbare Geishas gab? Wie war sie nur hierher geraten?

Ihr Kopf schwirrte.

Sie war so verwirrt, dass sie nicht einmal mehr wirklich Angst verspürte.
 

Vorsichtig betrat sie den Raum, den ihr die Dienerin zugewiesen hatte. Erst dann hob die Frau den Kopf wieder, den sie an ihre aneinandergelegten Hände am Boden gelegt hatte. Madoka betrat einen hellen, freundlichen Raum, in dem es jedoch außer eines am Boden ausgerollten Futon, einer papiernen, am Boden stehenden Laterne und einem nach außen und bis zur Erde reichenden, geöffneten Fensterladen nichts gab. Allerdings war das Zimmer auch nicht sehr groß. Vielmehr hätte auch nicht hineingepasst. Dennoch wirkte die Einrichtung nicht spartanisch. Die Laterne vertrömte mildes, gelbes Licht.

"Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?"

Madoka wandte sich zu der Dienerin herum. Sie hatte den Raum ebenfalls betreten und hatte nun - woher auch immer - plötzlich einen wunderschönen, blütendweißen Kimono über dem Arm, den sie Madoka hinhielt. Als die junge Frau zögerte nickte sie auffordernd.

"Nehmen sie. Ich hole Wasser. Und Tee, wenn Sie dies wünschen."

Die Vorstellung von heißem Tee und - vor allem - von warmer Kleidung, ließ Madoka ihre Ängste und Zweifel zunächst vergessen. Wer auch immer hier der Hausherr war: Man meinte es wohl gut mit ihr. Sie wäre dumm, würde sie die ihr angebotene Hilfe ablehnen.

"Das... wäre wunderbar.", sagte sie deshalb. Sie nahm den Kimono an sich. Die Dienerin lächelte, neigte schon wieder den Kopf und verließ den Raum, zog die Tür hinter sich zu. Madoka trat an das Fenster. Die kühle Nachtluft kam herein und ließ die junge Frau frösteln. Sie wollte soeben die Läden

schließen, als sie erneut das Geräusch von einem herannahenden Pferd hörte.

Sie musste sich nicht lange gedulden.
 

Es war Shido-san.

Er ritt auf dem nachtschwarzen Pferd, auf welchem Madoka Takeo das erste Mal gesehen hatte. Shido musste es auf seiner Flucht wiedergefunden haben. Oder das Pferd hatte IHN wiedergefunden.

Als der junge Mann das Tier nun vor dem Haus zügelte sah Madoka ihren ersten Eindruck vom Vormittag bestätigt: Kanzaki-san war wahrhaftig nicht klein. Aber im Sattel dieses Pferdes wirkte selbst er zierlicher, als er in Wahrheit war. Das Tier war riesig. Und einfach nur wunderschön. Mit geblähten Nüstern tänzelte es auf der Stelle. Seine Flanken, von weißem, flockigem Schaum bedeckt, bebten ob der hinter ihm liegenden Anstrengung. Lang fiel die schwarze Mähne über seine Augen und der Schweif peitschte nervös durch die Luft.

Auch jetzt waren sofort die dienstbaren Geister des Hauses zur Stelle, halfen Shido beim Absteigen und führten das Pferd fort.

Madoka ließ den Kimono fallen und lief zur Schiebetür.

Sie konnte ohnehin noch nicht schlafen - zu vieles war in zu kurzer Zeit geschehen - und den Tee konnte man ihr auch woanders servieren - oder später... Sie stürmte hinaus auf den Flur und die Treppe hinunter, wo sie um ein Haar tatsächlich die junge Frau mit ihrem Tee umgelaufen hätte, schickte ihr ein verzeihungsheischendes Lächeln hinterher, mit der Bitte den Tee später zu servieren, und kam schwer atmend unten in der Diele an, wo Shido gerade vom Hausherren begrüßt wurde.
 

Es MUSSTE der Herr dieses Hauses sein.

Er war hochgewachsen, trug Gewänder aus goldschimmerndem Brokat und Damast (das prachtvollste Gewand, was Madoka je gesehen hatte), dazu eine Schärpe aus rotem Samt. Zwei Schwerter, das eine lang, das andere kurz, hingen an seiner Seite. Sein schwarzes, langes Haar trug er zu einem hohen Zopf gebunden in der Art, wie auch Takeo es tat.

Madoka blieb wie angewurzelt am Treppenabsatz stehen. Auch wenn sie den Mann nur von hinten sah, konnte sie doch erkennen, dass er sehr groß sein musste. Er überragte sogar Shido-san um beinahe eine Haupteslänge (was, mit anderen Worten, nichts weiter hieß, dass sowohl Madoka selbst, als auch Takeo-kun neben ihm wie zierliche Zwerge wirken mussten...). Zudem stellte sie

überrascht fest, dass er noch recht jung sein musste. Madoka schätzte sein Alter auf Anfang dreißig. (In dieser Zeit mochte dies aber schon ein stattliches Lebensalter darstellen, sagte sie sich.) Überrascht wandte er sich herum, als er ihre polternden Schritte hörte und auch Shido sah sie

aufmerksam an.

Madoka wurde schon wieder rot. Sie hätte sich wenigstens die Zeit nehmen sollen, den Kimono anzuziehen. Deutlich wurde sie sich der Blicke der beiden Männer bewusst. Sie trug immer noch nichts anderes am Leib, als das dünne Satin-Nachtkleid. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper - und machte es damit sicher nicht besser. Sie bemerkte das Lächeln auf Shidos Gesicht, noch bevor sie wirklich hinsah. Es war jedoch kein anzügliches Lächeln. Er wirkte lediglich ein wenig schadenfroh.

Auch der Ältere wirkte weder sehr überrascht noch erzürnt. Er sah sie erwartungsvoll und mit leicht erhobenen Augenbrauen an.

"Ist sie das?", fragte er dann ruhig. Seine Stimme klang tief und voll, gar nicht wie die Stimme eines Dreißigjährigen. Shido nickte hinter ihm, bis er sich anscheinend bewusst wurde, dass der

Mann dies ja nicht sehen konnte. "Ja.", antwortete er deshalb mit einiger Verspätung.

Als niemand Anstalten machte, auf den jeweils anderen zuzukommen, trat Shido nun vor.

"Darf ich vorstellen? Sayan Shigeru-sama, der Herr dieses Hauses. Lord Sayan? Sakurai Madoka."

Lord Shigeru neigte leicht und galant den Kopf.

"Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.", sagte er umständlich. "Ich möchte, dass es Ihnen an nichts fehlt. Ist Ihnen das zugewiesene Gästezimmer Recht?"

Er sah sie durchdringend an.

"Ist alles in Ordnung? Sie sehen blass aus."

Madoka zitterte. Sie erwiderte den beinahe väterlich besorgten Blick der sanften braunen Augen ihres Gegenübers und fühlte ihre Selbstbeherrschung nun endgültig dahinschwinden.

"Wie bitte?", hauchte sie. Und dann, lauter:

"WIE bitte? NICHTS, absolut GAR NICHTS ist in Ordnung! Wissen Sie, als ich gestern Abend zu Bett ging, da WAR alles noch in bester Ordnung! Ich würde am nächsten Morgen wie immer aufstehen und zur Arbeit gehen, später Freunde treffen, vielleicht ins Kino gehen oder auch ein wenig shoppen. Dachte ich... Und dann... wache ich praktisch mitten in der Wildnis heute Morgen auf, mit nichts am Leib als meinem Nachthemd, weiß weder wo ich bin, noch WANN, habe eine unheimliche Begegnung mit einem leibhafigen, verletzten Samurai und wilden, durchgehenden Pferden, werde von schießwütigen Kriegern verfolgt und lande am Ende des Tages in einem - durchaus hübschen - Haus, das aus dem vorvorvorletzten Jahrhundert zu stammen scheint - und SIE fragen MICH, ob alles in Ordnung ist?", brach es aus ihr heraus.

Sie war den Tränen nahe.

"Ich will einfach nur noch nach Hause! Aber ich scheine nicht nur den Ort, sondern auch die ZEIT gewechselt zu haben - es ist mir völlig unbegreiflich, wie das passieren konnte!"

Beide Männer, sowohl Shido, als auch Lord Sayan sahen sie nun voller Erstaunen an. Shido kratzte sich am Kopf.

"Mein Lord Shigeru. Das Mädchen scheint schlimmer verletzt worden zu sein, als es den Anschein hat."

Shigeru nickte leicht.

"Vielleicht."

Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und er trat näher an Madoka heran, die nun wirklich leise vor sich hin weinte - jedoch hastig die Hände über ihren Ausschnitt legte, als er ihr

zu nahe kam.

"Aber ich bin davon überzeugt, dass sie es ernst meint. Sie glaubt, was sie da sagt."

"Ja, das denke ich auch. Aus diesem Grund muss sie ja schlimm verletzt worden sein.", antwortete Shido voller Überzeugung. Madoka schüttelte nur den Kopf.

"Bitte, ihr müsst mir glauben! Ich sage die Wahrheit! Welches Jahr schreiben wir?"

"Das dritte Jahr der Meiji-Ära.", lautete die überraschte Antwort.

Madoka nickte betrübt.

"Ja... So ungefähr habe ich mir das gedacht." Sie seufzte. "Samurai, die eigentlich keine Schwerter tragen dürfen, eine Revolution gegen das althergebrachte Regierungssystem und Kyoto als Sitz der Kaiserfamilie. Und Tokyo..."

"Tokyo?", fragte Shido verständnislos.

Madoka sah ihn an und schwieg betroffen. Ihm zu sagen, dass die ihnen als Edo bekannte Stadt späterhin Tokyo genannt wurde, hätte wenig Sinn gehabt.

Sie winkte ab. "Ist nicht so wichtig."

Shido sah sie weiter stirnrunzelnd an.

Lord Sayan klatschte kurz in die Hände. Sofort tauchten aus dem Nebenzimmer zwei der jungen Dienerinnen auf, die anscheinend nur auf ein solches Zeichen gewartet hatten.

"Ich finde auch, dass all dies noch warten kann und jetzt nicht so wichtig ist. Hier in diesem Haus bist du jedenfalls in Sicherheit. Und ich denke, wir sollten uns nun zurückziehen und ausruhen."

Er warf einen bezeichnenden Blick in Madokas Richtung. Ihr war nicht entgangen, dass er plötzlich vom förmlichen "Sie" zum vertrauteren "Du" übergegangen war. Aus welchem Grund, das konnte sie jedoch nur raten. Vielleicht hatte sie den Lord mit ihren Aussagen mehr verwirrt als ihm selbst lieb war...

"Nach einer erholsamen Nacht sieht die Welt manchmal schon ein klein wenig anders und besser aus. Ich würde dann morgen gern diese Unterhaltung fortsetzen. Du bist... eine sehr interessante junge Dame."

Er lächlte, verbeugte sich zum Abschied und zog sich den Gang hinunter in die hinteren Gemächer des Erdgeschosses zurück. Kanzaki-san neigte ebenfalls den Kopf.

"Eine angenehme Nachtruhe, Sakurai-san.", sagte er - ein leicht ironischer Unterton schwang in seiner Stimme mit. Er wollte sich herumdrehen und gehen, aber Madoka hielt ihn zurück.

"Madoka."

Er wirkte irritiert. "Wie?"

"Ich möchte nur Madoka gerufen werden. Nicht mehr."

Erstaunt erwiderte er ihren Blick und nickte dann leicht. "Wie du meinst. Madoka."

"Sag, was für ein... Haus ist das hier? Das ist doch keine normale... Herberge?", fragte sie dann.

Shido lachte leise. "Du hast scharfe Augen, Mädchen."

Jetzt war es an Madoka, irritiert dreinzuschauen.

"Ursprüglich dient dieses... Etablissement der puren Lust und dem Vergnügen der fleischlichen Liebe. Das Haus ist voll von den hübschesten Kurtisanen des gesamten Landstrichs. Namhafte Männer aus Regierung und Wirtschaft kommen aufgrund des sagenhaft guten Rufes und der hoch gelobten Verschwiegenheit der Angestellten hierher und genießen die erlesene Schönheit der willigen jungen Damen im Schutze völliger Anonymität."

Shido grinste anzüglich.

"Du siehst, du bist hier bestens aufgehoben. Und in Sicherheit. Auf ein Mädchen mehr oder weniger wird hier nicht so geachtet. Falls sich ein zahlungsfreudiger Kunde in dein Zimmer verirren sollte: Ruf nach mir. Ich werde meine Besitzansprüche gern deutlich machen."

Er feixte jetzt regelrecht.

Madoka starrte ihn an. Sie fand das nicht im Geringsten lustig.

Shido wurde ernst. "Ernsthaft. Wenn es Probleme geben sollte, dann ruf nach mir."

"Wenn das ein... ein solches Haus ist, wie du sagst: Wo sind denn dann die Kunden? Ich habe nicht eine Menschenseele hier gesehen außer uns und den Dienerinnen."

Shido wirkte ein wenig ertappt. Unbehaglich kratzte er sich im Nacken.

"Sie... kommen in der Regel alle zugleich und bleiben nur ein paar Tage..."

Das klang so sehr nach einer Ausrede, dass Madoka nicht einmal etwas sagen musste, sondern ein einziger Blick ausreichte, Shido zum Einlenken zu bewegen.

"Okay, okay. Ich kann dir nichts vormachen."

Er trat nah an die junge Frau heran und beugte sich zu ihrem Ohr hinunter.

"Wie du vorhin schon so treffend bemerkt hast: Es herrscht Krieg. Dieses Haus ist einer der Treffpunkte einer Gruppe von Revolutionären, namhaften Männern, die alle unerkannt bleiben wollen und die Tarnung dieses... Hauses nutzen, um nicht in Verdacht zu geraten, mit den Besatzern gemeinsame Sache zu machen. Sie kommen auch NICHT alle zugleich. Momentan sind nur eine Hand

voll Männer hier. Sayan-sama führt uns an."

"Euch?"

Shido nickte.

"Welche Rolle spielen du und der junge Samurai dabei?"

"Takeo? Er ist... unabhängig. Und er erledigt Aufträge nur für Shigeru persönlich."

Das klang ausweichend. Aber Madoka hatte wahrscheinlich auch nicht das Recht, danach zu fragen. Sie wollte momentan auch nicht wissen, was für "Aufträge" das waren. Sie interessierte etwas ganz anderes.

"Wie es ihm wohl geht? Er war so schwer verletzt... Er wird es doch wohl überleben?"

Kanzaki sah nachdenklich aus.

"Ich hoffe es. Sehr."

"Er hat gekämpft, nicht wahr?"

Shido nickte nur.

Sie drang nicht weiter in ihn.

"Ich... Nun ja. Vielleicht kann ich ihn morgen..."

"... besuchen?", vollendete er. "Mit Sicherheit. Ich denke, ein wenig Damenbesuch tut ihm auch gut."

Darauf ging sie lieber nicht weiter ein. Ihr war auch nicht zum Scherzen zumute.

"Ich... Ich habe mich noch gar nicht bedankt. Ihr habt mir das Leben gerettet. Die Verfolger hätten wahrscheinlich kurzen Prozess mit mir gemacht..."

"Wahrscheinlich Schlimmeres.", meinte Shido. "Gern geschehen. Wir wären keine Menschen, wenn wir dich deinem Schicksal überlassen hätten."

Madoka nickte nur. Sie kämpfte erneut innerhalb weniger Minuten um ihre Selbstbeherrschung. Da stand sie hier und plauderte mit einem Mann, dem sie bis vor Kurzem noch nie begegnet war. Dabei hatte sie heute Dinge erlebt, die sie sich nie zuvor auch nur in ihren schlimmsten Träumen vorstellen

hätte können. Schlimmer noch: Um ein Haar wäre sie vielleicht selbst umgebracht worden!

Wo war sie nur?

Wie war sie hierher gekommen?
 

Zum wahrscheinlich hundertsten Mal an diesem Tag stellte sie sich diese Fragen - und musste schon wieder gegen die aufkommenden Tränen ankämpfen.

Shido schien zu merken, dass seine flapsige Art bei ihr momentan nicht wirkte, trat einen Schritt auf sie zu und hob mit der Hand sanft ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste.

"Hey, wir finden schon noch heraus, was mit dir geschehen ist. Hab keine Angst. Hier bist du zunächst sicher."

Das mochte eine Lüge sein - aber momentan war es genau das, was Madoka hören wollte und auch brauchte. Sie begann nun doch zu weinen und haltlos schluchzend warf sie sich an die riesige, muskulöse Brust des jungen Mannes, der völlig überrumpelt auf sie hinunterschaute. Nach ein paar Sekunden legte er tröstend die Arme um ihre bebenden Schultern.

Eine ganze Weile standen sie so da: Sie haltlos schluchzend und er etwas unbeholfen und hilflos dreinschauend. Dann fing sie sich wieder. Schniefend trat sie einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Verlegen trat sie auf der Stelle, wagte es nicht mal mehr den Kopf zu heben.

"Tut... tut mir Leid... Ich... werde dann mal nach oben gehen..."

Shido war nicht minder verlegen. Das machte ihn stutzig. Er hatte noch NIE vor irgendetwas Angst gehabt, sich noch nie richtig geschämt und war auch noch nie wirklich verlegen gewesen. Aber dieses Mädchen - hilflos und schutzbedürftig wie es da in seinem Nachtkleid vor ihm stand und zitterte -

berührte etwas tief in seinem Inneren und brachte seinen untrüglichen Beschützerinstinkt hervor. Ihre Nähe verwirrte und... berauschte ihn zugleich. Er fand keinen Ausdruck dafür, außer: Verlegenheit. Er war buchstäblich sprachlos. Das war ihm noch nie passiert - und er war ansonsten wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen.

Madoka eilte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, einen gemurmelten "Gute Nacht"-Gruß auf den Lippen. Shido sah ihr noch nach, als ihr Schritte längst auf den Stufen verhallt waren.

Waffenstillstand

Am nächsten Morgen brauchte Madoka Hilfe beim Anziehen des Kimonos. Nie zuvor hatte sie ein solches Kleidungsstück getragen. Sie hatte - nachdem sie die enge Einschnürung und Wickelei über sich ergehen lassen musste - einen höllischen Respekt vor den Damen dieses Zeitalters, die beinahe

AUSSCHLIEßLICH im Kimono einhergegangen waren. Kein Wunder, dass ihre Haltung immer sehr gerade und beinahe graziös aussah. Nicht einmal richtig bücken konnte man sich. Zumindest Madoka nicht. Sie hatte erhebliche Probleme. Hinzu kam, das der Stoff des Kimonos sehr steif und wenig anschmiegsam war. Sie fühlte sich ein wenig, als würde sie eine gusseiserne Glocke um die Beine herum tragen.

Die Dienerinnen fummelten anschließend auch noch eine ganze Weile an ihrem Haar herum. Madoka war noch viel zu müde, um Einwände zu erheben. Morgen würde sie sich durchsetzen und um andere, westlich geartete Kleidung bitten - wenn es nicht anders ging würde sie sogar Männerkleidung tragen. Diese Schnürerei engte sie zu sehr ein. Zum Schluss wurde ihr eine weiße Lilie in das Haar gesteckt. Da es nirgendwo einen Spiegel gab, konnte sie nicht sehen, was die Damen aus dem unausgeschlafenen, verheulten Mädchen mit den völlig wirren Haaren gemacht hatten, das heute Morgen um kurz nach fünf Uhr geweckt wurde. Anhand der Reaktion der anwesenden - vor allem der männlichen - Gäste konnte Madoka jedoch erahnen, dass sie wohl gute Arbeit geleistet haben mussten. Wahrscheinlich hätte sie sich selbst nicht wiedererkannt, wie sie so in dem

safrangelben und weißen Kimono den Frühstücksraum betrat.
 

Der große Raum war angefüllt mit flachen Tischen. Um sie herum gruppierten sich zahlreiche Sitzkissen, auf denen bereits ein paar Männer (tatsächlich NUR Männer) am Boden Platz genommen hatten und speisten. An einem der hinteren Tische erkannte sie den breiten Rücken von Shido.

Die Dienerin, die Madoka hierher geleitet hatte, verneigte sich und bedeutete ihr, sich einen Platz zu suchen. Sie verschwand - wahrscheinlich um das Essen zu bestellen.

Madoka ging langsam auf den Tisch zu, an welchem Shido saß und das Essen nur so in sich hinein schaufelte. (Anders konnte man das nicht nennen. Sie hatte noch nie einen solch gesunden Appetit gesehen...)

Köpfe drehten sich nach ihr herum, als sie vorüberging. Und Blicke, die sie lieber ignorierte, wurden ihr nachgeworfen. Als sie den Tisch erreichte und Shido aufsah fiel ihm beinahe das Essen aus dem Gesicht. Er starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Eine Nudel hing ihm lang aus dem linken Mundwinkel.

"Ist hier noch frei?", fragte Madoka leise.

Fast mechanisch nickte der junge Mann und räumte hastig seine Schüsseln

zusammen, um Platz zu schaffen. Endlich kam er dazu auszukauen. Er schluckte lautstark. Dann sah er sie erneut, diesmal noch eingehender an.

"Du siehst... anders aus.", krächzte er - und räusperte sich heftig.

Anders... Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.

"Ja... Aber ich fühle mich nicht sonderlich wohl in dieser Kleidung.", sagte sie wahrheitsgemäß, während sie sich umständlich ihm gegenüber niederließ.

"Das mag ja sein... Aber... Wahnsinn! Du bist wunderschön! Weißt du, dass du unglaubliche Ähnlichkeit mit der Tochter des obersten Daimyo von Kyoto hast?"

Das verschlug Madoka nun doch die Sprache.

Shido nickte heftig. "Doch, im Ernst.", sagte er dann, als hätte sie etwas erwidert.

"Ich habe sie mal gesehen. Ich..."

Er unterbrach sich, als ihr das Essen gebracht wurde. Bratnudeln mit gebackenem Fisch und gedünstetem Gemüse. Wenn es so etwas schon am Morgen zu essen gab, was gab es dann mittags?

Madoka hatte kaum Appetit. Zum einen, weil der Kimono so eng war und zum anderen aus dem ganz banalen Grund, dass sie Fisch nicht sonderlich mochte - vor allem nicht zum Frühstück. Sie aß nur ganz wenig. Die ganze Zeit verspürte sie Kanzaki-sans bewundernde Blicke auf sich ruhen und wurde verlegen. Er hatte kein Wort mehr gesagt, blieb aber noch lange nachdem er sein Mahl beendet hatte bei ihr sitzen. Sie fühlte sich beobachtet. Sie wusste, dass er es nicht böse meinte, aber sie konnte keinen Bissen runterbringen unter diesem Blick.
 

Sie war beinahe erleichtert, als jemand an ihren Tisch trat. Wohl die Dienerin, um das Geschirr abzuräumen. Aber sie täuschte sich.

Lord Sayan höchstpersönlich stand neben ihrem Tisch. Er wirkte... beunruhigt. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, Madoka ebenfalls einen bewundernden, überraschten Blick zuzuwerfen. Er verneigte sich höflich in ihre Richtung, wandte sich dann jedoch ohne Kommentar (wofür sie ihm im Stillen sehr dankbar war) an Shido-san.

"Es gibt... Probleme. Yamazaki-san. Er lässt sich einfach nicht behandeln. Weder durch meinen Leibarzt, noch durch irgendjemanden sonst. Er.."

Er unterbrach sich und warf Madoka einen kurzen, undeutbaren Seitenblick zu.

"Er ist bereits wieder aufgestanden."

"Er ist WAS?", fragte Shido empört. "Wieso hat man ihn nicht daran gehindert? Ahhh... Sagen sie nichts. Ich weiß schon. Es ist sehr schwer diesen sturen Bock von irgendetwas abzubringen. Ich kümmere mich selbst darum."

Der junge Mann erhob sich rasch und auch Madoka stand nun auf.

"Wie kann er bei solch schweren Verletzungen überhaupt aufstehen?", fragte sie besorgt.

"Darf ich sie begleiten?"

Shigeru sah sie abschätzend an.

"Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Er ist nicht gut auf sie zu sprechen - aus was für Gründen auch immer."

Madoka erwiderte seinen Blick entschlossen.

"Ich würde dennoch gern mitkommen. Ich möchte mich persönlich auch bei ihm für meine Rettung bedanken. Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann."

"Nun, dann folgt mir."

Shigeru ging voran und Madoka und Shido-san folgten ihm in jene Gemächer im hinteren Teil des Hauses, die der Lord gestern Abend schon aufgesucht hatte.
 

Doch als sie Takeos Zimmer betraten war der junge Schwertkämpfer nirgends zu sehen. Die Decken auf dem Futon waren zerwühlt und zeugten davon, dass er hier gelegen haben musste. Die Türläden waren weit geöffnet.

Als sie alle hinaustraten , konnten sie Takeo auf der Veranda stehen sehen, das Heft seines Katana mit beiden Händen hoch über seinen Kopf erhoben, die Augen konzentriert geschlossen. Das lange, glutrote Haar flutete lang und offen über seinen Rücken. Sein nackter Oberköper war beinahe komplett unter mit hellrotem Blut getränkten Verbänden verschwunden. Das Schwert zitterte

nicht, er stand so fest wie ein Felsen, ein leichter Windhauch bauschte das Haar um ihn herum. Sowohl Madoka als auch ihre Begleiter standen einige geschlagene Sekunden einfach nur da und starrten ihn an. Kanzaki überwandt seine Überraschung als erster. Wütend lief er auf seinen

Freund zu.

"Was, zum Teufel, glaubst du, was du da tust?"

Er griff nach Takeos Arm, doch dieser ließ im selben Moment und in einer so unglaublich schnellen Bewegung, dass Madoka ihr mit bloßem Auge kaum folgen konnte, die Klinge heraubsausen, drehte sich halb um die eigene Achse und ging gleichzeitig leicht in die Knie. Plötzlich lag die im Licht gleißende Schneide an Shido-sans Kehle, ritzte sie jedoch nicht einmal. Dennoch hielt der Hüne erschrocken die Luft an; die Hand immer noch halb erhoben blieb er wie erstarrt stehen.

"Was..."

"Ich trainiere. Was glaubst du denn, was ich tue?", fragte der junge Schwertkämpfer ruhig.

Madoka sog erschrocken die Luft ein. Eine oder mehrere seiner Wunden mussten wieder aufgebrochen sein. Beängstigend schnell wechselte die Farbe der Bandage um seiner Brust von einem hellen in einen sehr dunklen Rot-Ton, als frisches Blut den Stoff tränkte.

Yamazaki wandte ihr das Gesicht zu und trat endlich einen Schritt von Shido zurück.

"Was macht sie noch hier?"

Nicht gerade freundlich wies er mit der Spitze des Katana in Madokas Richtung.

"Sie kann hier nicht bleiben. Das weißt du, Sayan-san."

Madoka zuckte unter dem kalten Ton zusammen, erwiderte jedoch stur den undeutbaren Blick aus den dunkelblauen Augen. Shigeru setzte zu einer scharfen Antwort an, doch Kanzaki-san kam ihm zuvor.

"Das ist doch jetzt völlig nebensächlich, Takeo! Du verblutest ja! Was willst du denn beweisen? Kurier dich gefälligst aus!"

Shido trat entschlossen neben seinen Freund.

"Wenn du das tust vergesse ich vielleicht die kleine Szene von gerade eben."

Takeo sah ihn schräg von unten an. Wie er da so neben seinem hünenhaften Freund stand wirkte er klein und zerbrechlich. Neben Shido-san sah jedoch wahrscheinlich die Hälfte aller Männer der Welt

zierlich aus.

"Ich bin nicht so leicht umzubringen."

"Das weiß ich doch. Aber du solltest deine Grenzen kennen, mein Freund."

Es war Shigeru, nicht Shido-san, der nun sehr ruhig antwortete. Takeos Blick schoss in seine Richtung.

"Ich habe keine ZEIT mich auszukurieren... Unsere Verfolgung war weiß Gott nicht unauffällig gewesen! Sie müssten schon blind und taub sein, um zwei und zwei nicht zusammenzählen zu können! Spätestens bei Einbruch der Nacht ist hier der Teufel los, Shigeru! Du kennst sie! Sie werden alles niederbrennen, wenn sie auch nur den VERDACHT hegen, dass wir hier sind!"
 

Madoka verstand kaum ein Wort von dem, was er gesagt hatte, wohl aber, dass sie ihre Verfolger NICHT abgeschüttelt hatten.

"Sie... kommen hierher? Diese... Krieger von gestern?"

Plötzlich hatte sie wieder Angst.

Takeo sah ihr direkt in die Augen.

"Shido-san. Könntest du das Mädchen in die nächste Stadt bringen? Hier ist sie nicht sicher. Genauso wenig wie alle anderen. Aber es gibt wichtige Dokumente hier, die es zu verteidigen gilt. Das ganze Anwesen gilt es zu verteidigen. Ich schlage vor, dass die Männer hier bleiben und eine Verteidigung organisieren. Die Mädchen und Dienerinnen sollen alle von Shido-san in die Stadt geleitet werden."

Die Art wie er sprach machte deutlich, dass er es gewohnt war zu befehlen. Madoka war wütend, dass er von ihr sprach, als würde sie nicht da sein, vermied es jedoch aus naheliegenden Gründen einen entsprechenden Kommentar abzugeben.

"Du solltest auch nicht hier bleiben, Takeo-san. Deine Verletzungen sind diesmal zu schwer.", sagte Shigeru bestimmt.

"Ich halte es für klüger, wenn DU die Damen in die Stadt begleitest. Shido kann hier mit mir die

Verteidigung - wenn denn eine notwendig sein sollte - organisieren."

Shido seufzte. "Das ist prinzipiell genau das, was ich auch vorgeschlagen hätte. Aber... nun, wir kennen den guten Takeo..."

Er sah seinen Freund schräg an. Takeo hatte die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammengepresst. Madoka hielt es für klüger nichts zu sagen, obwohl sie die Meinung von

Shido-kun und Shigeru-sama teilte.

"Ich werde hier bleiben." Takeo sah Shigeru fest an.

"Wir haben dich in diese Lage gebracht. Wir haben dein Haus in Gefahr gebracht, vielleicht dein

Leben. Ich werde hier bleiben und kämpfen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann."

"Du bist so ein sturer Hund, weißt du das?", knurrte Shido.

"Ja.", sagte Takeo toternst.

"Ernsthaft, Takeo. Ich bitte dich in die Stadt zu gehen. Nimm Madoka mit. Ihr könntet sicher bei Kanoe unterkommen, bis das alles hier vorbei ist." Shigeru blieb hartnäckig.

"Außerdem wüsste ich keinen besseren Krieger, um die Leben der jungen Frauen zu verteidigen, sollte plötzlich ein Trupp der Shinsengumi auftauchen."

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.
 

Madoka konnte nicht mehr an sich halten.

"Ich möchte euch nicht zur Last fallen. Ich werde mich auch irgendwie allein bis zur Stadt durchschlagen können. Ich bin manchmal zäher - und sturer - als ich aussehe. Sagt mir nur die Richtung und wie weit es ist. Ich..."

"Das ist doch kompletter Unsinn, Madoka-chan.", fiel ihr Shido harsch ins Wort.

"Wenn du wirklich nicht von hier kommst, dann kannst du nicht wissen, wie gefährlich es zur Zeit in den Wäldern ist. Plünderer und Banditen lauern überall. Takeo-kun WIRD dich begleiten. Ich lege ihn übers Knie, wenn er's nicht tut."

Takeo schnaubte abfällig. "Du?"

"Ja, ich. Dass du so angeschlagen bist müsste ich glatt mal ausnutzen um dir ein wenig Respekt vor anderen Personen einzubläuen."

Shigeru schritt nun ein.

"Ich werde keine weiteren Diskussionen zulassen. Takeo, du wirst die Mädchen nach Kyoto begleiten. Kanzaki, ich erwarte dich in einer halben Stunde in meinem Zimmer."

Er drehte sich würdevoll herum und ging ins Haus zurück.
 

Takeo wollte auffahren, aber Shido hielt ihn am Arm zurück.

"Jetzt reg dich nicht künstlich auf. Als wenn das nun so schlimm wäre ein paar äußerst hinreißende Damen zu beschützen."

Er warf einen bezeichnenden Blick in Madokas Richtung.

"Ich mache dich persönlich verantwortlich, wenn der Kleinen etwas passiert."

Takeo war ausmanövriert worden. Blitze schossen aus seinen dunklen, blauen Augen.

"Na schön...", meinte er wütend. "Ganz wie ihr wollt."

Er wollte herumfahren und ins Haus laufen, doch Madoka stellte sich ihm in den Weg. Nicht minder wütend fauchte sie:

"Genau: Na schön! Ich habe dich nicht darum gebeten mich nach Kyoto zu bringen. Da es aber nun mal so sein soll, möchte ich dich doch bitten, nicht die ganze Zeit deinen Frust an mir oder den

anderen Frauen auszulassen! Darauf können wir verzichten, denke ich. Es..."

Sie war immer leiser geworden und verstummte, als Takeo sich herumgedreht hatte und ihr beinahe gelassen in die Augen sah. Sein Zorn schien so schnell verraucht zu sein, wie er entstanden war.

Madokas Augen weiteten sich. Was war... in sie gefahren? Sie schlug die Hand vor den Mund.

Sie hatte nicht das Recht...

"Und?", fragte er in provozierend gelangweiltem Ton.

"Ich... Ich meine..." Sie kam sich mit einem Mal unglaublich dumm vor. Was dachte sie sich eigentlich dabei, diesen Leuten Vorhaltungen zu machen? Sie KANNTE sie ja nicht einmal. Entschuldigend versuchte sie zu lächeln - was kläglich misslang.

"Gomennasai..." Verlegen sah sie auf ihre Füße hinab.

"Eigentlich bin ich hier hergekommen, um... mich bei dir zu bedanken. Du... ihr habt mir das Leben gerettet. Gestern, meine ich..."

Sie stotterte und brach ab.

"Sei lieb zu ihr, Takeo-kun!", ertönte Shidos Stimme hinter ihnen. "Oder ich versohle dir den Hintern."

Zu Madokas grenzenloser Überraschung bemühte sich der junge Mann tatsächlich. Ein verkniffenes Lächeln umspielte seine nun doch sichtlich vor Schmerz zusammengepressten Lippen. Und auch wenn es dadurch reichlich verunglückt wirkte, so konnte sie doch die positive Absicht dahinter

erkennen.

Sie war sprachlos. Wie hypnotisiert starrte sie auf seine Lippen und konnte nicht glauben, was

sie da sah. Das Lächeln erreichte seine Augen. (UN-GLAUB-LICH!)

"Genug geschaut?"

"Wie...?" Madoka blinzelte verwirrt, als würde sie aus einem Traum erwachen - und wurde sofort (und wieder einmal) rot, als sie bemerkte, dass sie ihn angestarrt hatte.

"Oh! Tut mir Leid. Ich wollte nicht unhöflich..."

Er winkte ab und ging an ihr vorbei zur Tür.

"Wir werden wohl eine Weile miteinander auskommen müssen und in einem Punkt stimme ich dir zu: Es hat wenig Sinn die ganze Zeit zu streiten. Ich will niemanden vor den Kopf stoßen..."

Madoka war erneut und noch nachhaltiger überrascht. Hatte das gerade wirklich jener rothaarige Teufel gesagt, der auf seinem nachtschwarzen Dämonenpferd wie ein Orkan über jene Lichtung hereingebrochen war? Jener rothaarige Krieger, der gerade eben noch so abfällig über ihre Anwesenheit gesprochen hatte?

Jener junge Mann, dessen Blut sie auf ihrer Haut gespürt und dessen verletzten Körper sie im Arm gehalten hatte...

Und wieder war es so, als würde ein Hauch aus der Vergangenheit, aus einem anderen Leben, über ihre Seele streichen. Es fühlte sich so vertraut an in seiner Nähe zu sein, obwohl sie Takeo bis gestern nie zuvor gesehen hatte. Eine leichte Gänsehaut überzog ihre Arme, ließ die feinen Haare in ihrem Nacken kräuseln.

Er war in der Verandatür stehen geblieben und streckte ihr nun die Hand entgegen.

"Nenn mich Takeo.", murmelte er leise.

Er hatte sich vielleicht dafür entschieden, das Kriegsbeil zu begraben - das bedeutete aber wohl

nicht zwangsläufig, dass es im LEICHT fiel freundlich zu sein...

"M... Madoka.", antwortete sie - nicht weniger befangen.
 

Und sie legte ihre Hand in seine. Sie spürte, wie sich die langen, schlanken Finger warm um ihre schlossen und es war... wie ein Schock, der durch alle ihre Nerven jagte, wie eine Antwort auf die Stimme ihres Herzens und ihrer Seele. Es war wie das Ankommen an einem Ziel nach langer und ermüdender Reise. Noch wusste sie nicht genau, wie dieses Ziel wirklich aussah, das nun zum Greifen nahe vor ihr lag. Doch sie war bereit, es herauszufinden.

Zaghaft erwiderte sie den Händedruck. Immer noch ungläubig schaute sie auf.

"Na schön, Madoka. Dann sollten wir uns für die Reise bereitmachen. Bitte sage den Damen Bescheid. Sie sollen das Nötigste zusammenpacken. Ich werde den Koch bitten uns Proviant für zehn Leute und für mindestens drei Tage einzupacken. Ich will in spätestens einer halben Stunde hier fort sein, damit wir noch ein gutes Stück des Weges schaffen, bevor es dunkel wird."

Es kam beinahe einer Flucht gleich, so hastig ließ er ihre Hand plötzlich los und stürmte in sein Zimmer hinein. Als hätte er sich verbrannt.

Madoka sah ihm fassungslos nach.

Und dann begann sie leicht zu lächeln...

Eine unheimliche Begegnung

Das Pferd war atemberaubend schön - und ein schwarzer Dämon aus einer Nachtmar. Mit schäumenden Nüstern bäumte es sich wiehernd auf die Hinterhand auf und riss den reichlich verzweifelt aussehenden Stallburschen um ein Haar die Zügel aus der Hand. Wild warf es den Kopf herum, die schwarze Mähne flog und der lange Schweif peitschte durch die Luft.

Madoka stand auf dem Hof vor dem Stall und konnte die Augen nicht abwenden von diesem wundervollen und zugleich furchteinflößenden Tier. Es war riesig. Erst jetzt, wo sie direkt neben dem Pferd stand konnte sie sehen, WIE groß es war. Sie selbst machte sich daneben sehr klein und verloren aus. Sie trat respektvoll noch ein Stück weiter zurück. Die Stallburschen hingen zu zweit mit ihrem Gewicht in den Zügeln und hatten wirklich Mühe das Tier zu halten.

Madoka hatte nicht bemerkt, dass Takeo hinter ihr aus dem Wohnhaus getreten war.

"Ruhig, mein Schwarzer. Ganz ruhig. Gleich kannst du wieder laufen, Akuma. (Anm. d. Redaktion^^: Akuma = japan. "Teufel") Noch ein wenig Geduld, mein Schöner."

Der junge Mann trug Kampfausrüstung und sah wie ein leibhaftiger Samurai aus, zumal das flammend rote Haar nun zu jenem strengen Zopf zurückgebunden war, wie sie es von zahlreichen Illustrationen und aus Büchern in ihrer Zeit kannte. An seinen Seiten das lange Katana und zwei etwas kürzere Kodachi. Geformte Lederplatten schützten Hände, Arme und Beine, dennoch waren sie nicht so eng zusammengefügt, dass es seine Mobilität einschränken würde. Vor der Brust trug er gar eine Art Hornpanzer mit orientalischen Ornamenten und Ziselierungen. Er sah sehr eindrucksvoll aus in dieser Art Rüstung und Madoka konnte nicht umhin, ihn wieder einmal unverhohlen anzustarren...

Takeo beachtete sie jedoch gar nicht. Er trat an ihr vorbei auf sein schwarzes Pferd zu und hob beruhigend die Hand.

"Still, Großer. Still. Es ist gleich soweit. Geduld."

Und das Tier reagierte auf den Klang seiner Stimme. Mit bebenden Flanken stand es da. Die Augen, in denen man vorher das Weiße hatte sehen können, waren ruhig auf ihren Herrn gerichtet. Es schnaubte leise, senkte dann den Kopf und stieß ihn mit den weichen Nüstern sanft vor die Brust. Die Burschen überreichten nur zu gern die Zügel und suchten schleunigst das Weite. Takeo legte eine Hand auf den Hals des Tieres und flüsterte leise beruhigende Worte. Madoka hatte ihn noch nie so sanft und freundlich gesehen.

Sie war so sehr in die Betrachtung dieses Bildes vertieft, dass sie erst jetzt merkte, dass die Hausmädchen und Dienerinnen ebenfalls das Haus verlassen hatten und nun in Reisekleidung mit ihrem Gepäck dastanden. Sänften wurden herangetragen. Madoka schaute befremdlich auf das altmodische Fortbewegungsmittel, das neben ihr abgestellt wurde.

"Ahh.. Ist es vielleicht möglich, dass ich ebenfalls reite?"

Es war zwar schon eine ganze Weile her, dass sie mal geritten war (genauer gesagt war sie da noch RICHTIG klein gewesen), und schon gar nicht professionell, aber sie wollte lieber an der frischen Luft bleiben, als sich in einem dunklen Holzverschlag hin und herschaukeln zu lassen, wo ihr womöglich grottenschlecht wurde.

"Haben sie noch ein...", sie warf einen bezeichnenden Blick auf das schwarze Pferd. "... umgänglicheres Reittier?"

Der Stallbursche, der die Sänfte mitgetragen hatte, schaute sie groß an.

"A... Aber, werte Dame, Sie.. Das geht nicht... Ich..." Er wirkte unglaublich hilflos.

"Damen reiten nicht in diesem Teil des Landes, Sakurai-san.", vernahm sie nun Takeos angenehme Stimme. Er kam heran und führte sein Pferd am Zügel.

"Bring ihn und vor allem den Hausherren nicht in Verlegenheit und nutze die Sänfte."

Madoka schaute ihn erst ungläubig, dann trotzig an.

"Ich denke nicht, dass..."
 

Sie brach abrupt ab, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und erschrocken gleichzeitig zwei Dinge feststellte - alles in einer einzigen langgezogenen, schrecklichen Sekunde. Erstens, dass sie selbst und womöglich das ganze Grundstück umstellt waren und zweitens, dass mit Pfeil und Bogen auf sie geschossen wurde! Einer dieser besagten Pfeile zischte in dieser Sekunde nur fingerbreit an ihrer Wange vorbei und bohrte sich federnd in die Seitenwand der Sänfte, der zweite folgte einen Sekundenbruchteil später und hätte Takeo an der Schulter getroffen, hätte die junge Frau sich nicht geistesgegenwärtig nach vorn geworfen und ihn grob zur Seite gestoßen. Takeo

taumelte, fing sich mit der Hand an der Sänfte ab und zerrte in der Bewegung die Zügel seines Pferdes grob herum. Das Tier stieg wiehernd. Takeo verlor nun vollends das Gleichgewicht, fiel gegen die Sänfte und zu Boden, die Zügel entglitten seiner Hand. Dennoch lief das Pferd nicht weg. Stampfend und schnaubend blieb es dicht bei seinem Herren, schien ihn sogar vor dem

Pfeilhagel, der nun über die Gruppe hereinbrach, abschirmen zu wollen.

Madoka war durch den eigenen Schwung nach vorn und ebenfalls zu Boden gerissen worden - was ihr womöglich das Leben rettete. Ein halbes Dutzend nachtschwarzer Pfeile flog sirrend über sie hinweg - und dieses Mal trafen die Pfeile nicht nur auf Holz. Sie hörte Schreie und das Wimmern von Frauen. Sie selbst hatte Mühe überhaupt wieder auf die Füße zu kommen. Der Boden an

dieser Stelle war weich, feucht und morastig und sie rutschte immer wieder aus. Zudem hinderte sie der enge Kimono - wahrhaftig keine Reisekleidung - daran aufzustehen. Und natürlich gab sie so auch ein wunderbar unbewegliches Ziel für die unbekannten Bogenschützen ab...
 

Der Pfeil traf sie oberhalb der rechten Brust mit solcher Wucht, dass sie herum und rücklings in den Morast geschleudert wurde, aus dem sie sich soeben mühsam befreit hatte. Das erste was sie daraufhin empfand war Ungläubigkeit und Verblüffung. Aus irgendeinem Grund hatte sie BIS EBEN

GEGLAUBT (und sei es auch nur in einer winzigen Ecke ihrer Gedanken), dass dies alles hier ein Traum war und sie zu Hause in ihrem Bett aufwachen und feststellen würde, dass dies alles nicht wahr war. Und jetzt...

spürte sie den Schmerz. Es tat WEH. Keuchend und nach Luft ringend wollte sie sich auf die Ellenbogen aufrichten, sich jede Sekunde bewusst, dass sie hilflos dalag und weiterhin ein einfaches Ziel bot. Sie stöhnte vor Schmerz. Ihr wurde schwindelig.

"Madoka!"

Durch einen Schleier der Benommenheit, der gnädigerweise auch alle Geräusche um sie herum zu dämpfen schien, nahm sie wahr, dass um sie her zumindest die bewaffneten Leibdiener, welche den Tross hatten begleiten sollen, ihre Überraschung überwunden hatten und schreiend die Schwerter zogen, um auf die nur als schwarze Schatten im umgebenden Dickicht erkennbaren Feinde

einzustürmen. Es roch nach Blut, Schweiß und Angst.

"Madoka!" Sie spürte einen Arm und griff blindlings zu, klammerte sich daran fest, wie an einen Rettungsring.

"Madoka, steh auf! Sofort!"

Sie erkannte Takeos Gesicht vor sich durch einen Vorhang aus grauen Schlieren vor ihrem Blick.

Madoka versuchte es. Wirklich. Sie stützte sich auf seinen Arm und kämpfte darum, hochzukommen. Doch irgendwie konnte sie ihre Beine nicht mehr richtig spüren und die grauen Schlieren wurden zu großen, schwarzen Flächen. Sie sackte in sich zusammen.

Takeo fluchte ungehemmt.

"Verdammt! Wo steckt Shido?"

Mit dem letzten Rest ihres Bewusstseins konnte sie nun spüren, wie er sie kurzerhand auf die Arme hob und mit ihr loslief - sie wusste nicht wohin. Es war ihr auch gleich. Fühlte es sich SO an? Das Sterben? Der Tod?

Sie fühlte Blut warm an ihrer Seite herablaufen und ihre Kleidung tränken, während der junge Samurai mit ihr durch einen sirrenden Regen aus Pfeilen lief.

"Akuma!" Er rief nach seinem Pferd. Dann war auch Shido plötzlich da. Er trug keine Waffe, hatte aber Handschuhe mit eisernen Nägeln angezogen, die voll von dunklem Blut waren.

"Takeo! Was ist mit Madoka?"

"Sie lebt." Wie in einem Traum konnte sie Takeos Stimme gepresst antworten hören.

"Du musst sie hier fortbringen, Shido! Ich kümmere mich um Shigeru-sama!"

"Du bist verrückt! Lass uns fliehen! Sie sind überall!"

Madoka hustete qualvoll. Voller Erstaunen schaute sie auf das Blut hinab, dass sie gespuckt hatte. Ihr Kopf klärte sich langsam, aber dafür nahm der Schmerz zu.
 

Sie alle hörten plötzlich eine laute, männliche Stimme, die einen scharfen Befehl rief. In der darauf folgenden, schon beinahe gespenstische Stille, in welcher alle angstvoll die Luft anzuhalten schienen, ertönte das Peitschen von Dutzenden gespannter Bogensehnen, die annähernd gleichzeitig

losgelassen wurden. Ebenso viele brennende Pfeile flogen aus dem Dickicht rund um das Anwesen heran und schlugen auf dem Dach des Wohnhauses und dem des Stalles ein. Es hatte längere Zeit nicht geregnet, daher fing das aus Holzschindeln bestehende Dach sofort Feuer. Die Schreie waren auf einen Schlag wieder da - ungleich lauter als zuvor. Grellorangener Feuerschein tauchte den ganzen Hof in ein seltsames Licht. Dieser Eindruck wurde durch das vergossene Blut überall auf der Erde noch verstärkt.

"Verflucht! Sayan-sama ist noch da drin!"

Takeo sprang auf und wollte sofort loslaufen, als erneut dieser scharfe Befehl ertönte. Shido fiel seinem Freund in den Rücken und brachte ihn damit zu Fall. Eine neue Salve nachtschwarzer Pfeile jagte über sie dahin und schlug in Wänden und Dach des Anwesens ein, um dort sofort alles in Brand zu setzen.
 

Und dann konnten sie plötzlich Shigeru sehen. Eine dunkle Silhouette, hoch aufgerichtet und mit erhobenem Schwert, stand inmitten des Flammenmeeres, in welches sich der Eingangsbereich des Haupthauses verwandelt hatte. Jetzt erst konnte Madoka, die schweratmend und völlig erschöpft in Shidos Armen lag, erkennen, dass auch dieser Mann ein Samurai sein musste. Er gab eine äußerst beeindruckende Figur ab in seiner scharlachroten Rüstung und mit dem langen, schwarzen Haar, dass er, ähnlich wie Takeo, zu einem hohen Zopf gebunden trug.

Der Pfeilregen hörte abrupt auf und aus dem Dickicht trat ein wahrer Hüne von einem Mann hervor. Dabei war er nicht einmal sonderlich breit. Aber er musste an die zwei Meter messen. Er trug ein annähernd mannsgroßes, mächtiges Schwert. Sein Haar war schwarz wie die finsterste Nacht und er

hatte ein unheimliches, lauerndes Gesicht mit schmalen Augen und unzähligen Narben auf den bleichen Wangen.

"Der Wolf von Mibu...", flüsterte Shido - und sein Gesicht hatte auch noch das letzte bisschen Farbe verloren. Wie ein Echo auf seine Worte hörten sie nun Shigeru-samas Stimme: Laut, klar und ohne die geringsten Anzeichen von Beunruhigung oder gar Furcht.

"Saito Hajime. Ich hätte mir denken können, dass du es bist."

Der Angesprochene verzog den linken Mundwinkel zu etwas, das er wohl für ein verkniffenes Lächeln hielt.

"Shigeru. Es freut mich auch dich zu sehen - nach all der Zeit. Willst du nicht herüberkommen und mich willkommen heißen?"

Seine Stimme klang wie das Geräusch von rostigen Schrauben, die in ihrem alten Gewinde gedreht wurden: Rau, heiser, der Tonfall war unangenehm und schien direkt aus den Tiefen der Hölle zu kommen. Dennoch klang sie leicht amüsiert. Der "Wolf von Mibu" schien keine Antwort erwartet zu haben, denn er fuhr sogleich fort:

"So lange war ich dir auf den Fersen. So lange habe ich den Kopf der Widerstandsbewegung gesucht. Bis ich feststellen musste, dass es mein bester Freund war, der mir nun als Feind gegenüberstand. Und dann... habe ich dich verfolgt. Ich habe mir geschworen, dass ich dich in die Finger bekommen werde - und wenn es das Letzte sei was ich täte. Du solltest mir nicht entkommen. Und dann habe ich deinen... Schoßhund getroffen. Er führte mich hierher."

Er wandte nicht den Kopf. Er sah nicht zu ihnen hinüber. Aber Takeos Blut begann zu kochen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Shido trat vorsichtshalber einen Schritt nach vorn und schräg vor ihn, damit er nicht etwas Unbedachtes tat. Es war klar, wen Saito meinte.

"Erbärmlich. Und ihn nennt man den "Roten Schatten"? Er ist der Nächste, den ich mir vornehmen werde."

"Bastard!", zischte Takeo wütend durch zusammengebissene Zähne. "Elender Bastard, ich werde..."

"... gar nichts tun!", vollendete Shido den Satz leise. "Du bist verletzt! Lass es sein!"

Shigeru blickte nun zu Takeo und den anderen hinüber. Als hätte er seine Gedanken gelesen oder seine Stimme bis auf den Hof gehört sagte er:

"Flieh, Takeo! Ich werde mich dieser Sache allein annehmen. Ich kenne ihn."

Ein abfälliges Geräusch kam über Saitos Lippen.

"Verlass dich nicht darauf, mein Freund. Viele Jahre sind vergangen. Und ich bin besser als je zuvor."

"Ich weiß.", antwortete der Samurai ruhig. "Ich habe davon gehört."

Saitos Augen begannen gefährlich zu leuchten.

"Genug geredet. Lassen wir Taten folgen. Um der guten alten Zeiten Willen lass ich dir den ersten Schritt."

Sein Kopf ruckte herum.

"Lasst sie nicht entkommen!" Er nickte in die Richtung, in welcher Takeo und die anderen standen. Unter die Männer, die immer noch hinter ihrem Anführer standen, jedoch zurückgeblieben waren, kam Bewegung. Erneut und sehr viel eindringlicher befahl Shigeru:

"Flieht! Bringt euch in Sicherheit!"

Takeo stand ganz ruhig da. Äußerlich war ihm nicht anzumerken, dass er in Wahrheit vor mühsam zurückgehaltenem Zorn bebte. Langsam reichte er die Zügel den Pferdes an Shido weiter. Er sah seinen Freund dabei nicht an, ließ den "Wolf von Mibu" nicht eine Sekunde aus den Augen.
 

Dies war er also. Saito Hajime. Hundertfacher Mörder im Auftrage der alten Regierung. Hier standen zwei Seiten eines Ganzen. Licht und Schatten, doch trotzdem gar nicht so verschieden. Voller Hass und Zorn aufeinander und auf die Welt, die Ihnen so übel mitgespielt, ihnen Freunde genommen und geliebte Menschen hatte sterben lassen. Und BEIDE waren nicht besser als der jeweils andere. BEIDE waren Mörder - eiskalt und gnadenlos. Und BEIDE wussten es...

Takeos Hände schlossen sich um die Griffe der beiden Kodachi-Schwerter an seinen Seiten.

"Geh. Bring das Mädchen in Sicherheit, Shido."

Shido, der Madoka soeben über den breiten Pferderücken gelegt hatte (sie war nun wirklich bewusstlos), schüttelte ungläubig den Kopf.

"Ich..."

"Geh! Ich wiederhole mich ungern!"

Shido sah man an, dass ihm das nicht schmeckte. Aber er schluckte hinunter, was er hatte sagen wollen, und schwang sich hinter Madoka auf das Pferd.

"Sturer, alter Hund..." murmelte er böse.

Als er das Tier antraben ließ drehte er sich nicht um, aber er konnte deutlich das Geräusch vieler Füße und Hufe hören, die sofort die Verfolgung aufnahmen. Aber sie kannten Shido nicht. Und vor allem: Sie kannten nicht den Teufel von einem Pferd, auf welchem er ritt.
 

Takeo machte sich keine Gedanken mehr um seinen Freund. Er würde entkommen. Mit Sicherheit.

Saito Hajime erwiderte nun seinen Blick. Eisiges Blau traf auf stahlhartes Grau.

Der "Wolf" grinste.

"Ich nehme es auch mit euch BEIDEN auf! Ich bin nicht wählerisch!"

"ICH bin dein Gegner, Hajime!", rief Shigeru plötzlich und schoss nach vorn, die blankgezogene Klinge direkt auf Saitos ungeschützte Kehle gerichtet. Beinahe spielerisch lenkte dieser den Schlag der Waffe mit seiner eigenen Klinge ab und brachte Shigeru damit aus dem Gleichgewicht. Als dieser an ihm vorbeitaumelte ließ er die Faust wuchtig in seinem Magen landen. Shigeru krümmte sich vor Schmerz und keuchte. Aber er dachte nicht daran zu Boden zu gehen. Täte er es, wäre er wahrscheinlich schon tot.

"Ich hätte mit dem Schwert zuschlagen können, Shigeru.", sagte Saito nun ruhig und mit einem Mal auch ohne jede Häme.

"Ich will dich nicht töten. Ich habe gesagt, dass ich dich in die Finger bekommen will, ja. Aber ich wollte dich niemals töten. Wenn du dich ergibst garantiere ich dir einen fairen Prozess. Du warst einmal mein Freund. Daher will ich dein Leben schonen."

"Wie... großmütig... von dir...", keuchte Shigeru und wische sich Blut aus dem Mundwinkel.

"Dann werde ich eben NACH dem "fairen Prozess" getötet. Wo liegt der Unterschied?"

Hajime kam ganz nah an ihn heran.

"Ganz einfach. Dann werde nicht ICH es sein, der dich tötet."
 

"Und ICH würde sagen, dass wir hier ein klassisches Patt haben.", erklang Takeos Stimme hinter Saito. Dieser drehte sich nicht herum. Das brauchte er nicht. Das lodernde Feuer hinter ihnen warf den Schatten der zwei scherenförmig an seinem Nacken liegenden Kodachi-Schwerter deutlich vor ihm auf Shigerus Gesicht und Kleidung. Ein schmales, süffisantes Lächeln glitt über seine Züge.

"Du hast einen Fehler gemacht, Saito. Lasse nie deinen Gegner aus den Augen!", zischte Takeo gepresst. Saito bewegte den Schwertarm.

"DENK nicht mal dran!", sagte Takeo grob. Die Schneiden berührten bereits die Haut des großen Mannes und ein einzelner Blutstropfen lief daran herunter, fing das Licht des flackernden Feuers ein.

"Du bist zu LANGSAM, Schoßhündchen!"

Und schneller als für das Auge erkennbar fuhr er in einer einzigen Bewegung zurück und herum, führte mit der rechten Hand einen täuschenden Schlag mit seinem Schwert aus, mit welchem er auch die Kodachi abwehrte, und stieß gleichzeitig mit der linken von schräg unten einen kleinen, blitzenden Dolch in Takeos Unterleib!

Der junge Samurai taumelte.

Eher überrascht und verblüfft als wirklich vor Schmerz keuchte er und krümmte sich erschrocken. Noch nie zuvor hatte jemand so seine Deckung durchbrochen! Noch nie zuvor war er so verletzt worden! Von Pfeilen und aus der Ferne, ja, aber niemals im Nahkampf! Er war ein begnadeter

Schwertkämpfer - vielleicht einer der besten die es zur Zeit gab. Und dann das! Wie konnte das passieren? WER zum Teufel war dieser "Wolf von Mibu" überhaupt? Er war UNGLAUBLICH schnell!

Saito stand mit erhobenem Schwert über ihm.

Doch dann war Shigeru da.

Er warf sich auf den hünenhaften Mann und riss ihn mit sich zu Boden. Der um sie aufsteigende Staub, und das verwirrende Spiel von Licht und Schatten auf dem von Flammen nun beinahe umschlossenen Hof, machten es Takeo unmöglich mehr als wirbelnde Gliedmaßen und blitzende Klingen wahrzunehmen. Wenn er überhaupt eine Chance hatte ungesehen zu fliehen, dann jetzt. Aber er wäre nicht Takeo gewesen, hätte er dies getan. Er stand da, eine Hand auf die Wunde gepresst und in der anderen locker sein Schwert, und wartete ab, wann er die Gelegenheit bekam, dazwischen zu gehen.

Wind kam auf. Glühende Funken wurden über den Hof und hinüber zum Dickicht getragen, der einzigen Seite vom Anwesen, die noch nicht in Flammen stand.
 

Und dort...

Takeo bemühte sich, nicht zu auffällig hinüberzusehen. Er presste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte mehr als den Schatten auszumachen, der sich als deutlicher Umriss vor dem noch dunkleren Hintergrund abzeichnete.

Eindeutig. Da stand jemand und beobachtete sie. Und wer wusste wie lange schon.

Als wäre das alles noch nicht merkwürdig genug, trat die Gestalt nun in das flackernde, rote Licht des Feuers und...

Takeo erstarrte.

Er hatte von den Legenden gehört, die sich um diesen Wald rankten. Legenden, die man Kindern erzählte, damit sie nicht zu weit von den gekennzeichneten Wegen abkamen und genügend Respekt vor dem Unbekannten zeigten. Gerüchte von Dämonen, Hexen und bösen, dunklen Wesen der Nacht.

Aber das waren GESCHICHTEN. Erfunden. Nicht wahr.

Doch die Gestalt, die nun hoch aufgerichtet und vollkommen ruhig am Waldrand stand war WIRKLICHKEIT!

Der Wind fuhr durch langes, weißes, seidig schimmerndes Haar, das ihm bis zu den Kniekehlen reichte. Ein langes, rotes Gewand umhüllte einen Körper, der durchaus menschlich und ziemlich muskulös zu sein schien. Die nackten Füße und auch die Hände, die leicht geöffnet an seinen Seiten hingen, trugen keine Nägel, sondern Krallen. Das Gesicht... Takeo hatte nie zuvor solch ein Gesicht gesehen. Auf den ersten Blick auch dies menschlich, so war der Ausdruck in den bernsteingelben Augen... der eines Raubtieres: Lauernd, aufmerksam und gefährlich. Aber das absolut Verblüffendste an der Gestalt waren die Ohren. Es waren die weißen Ohren eines Wolfes oder Hundes. Nervös zuckten sie hin und her. Nichts schien ihnen zu entgehen.

Takeo war so entgeistert in die Betrachtung des Wesens versunken, dass er nicht merkte, dass der Kampf hinter ihm nun zum Höhepunkt kam. Die Schreie seines Mentors Shigeru - verzweifelt und voller Pein - rissen ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück.

Takeo blinzelte.

Vielleicht war er einer vorübergehenden Sinnestäuschung unterlegen. Aber die Tatsache, dass Shigeru starb war Realität. Er verschwendete nicht einen weiteren Gedanken an die seltsame Gestalt am Waldrand, fuhr herum und wollte auf die zwei Kontrahenten zustürzen - Shigeru lag nun über und über mit Blut bedeckt am Boden und Saito führte soeben den letzten, vernichtenden

Schwertstreich - als Takeo sich plötzlich mitten in der Bewegung an der Schulter gepackt und herumgerissen fühlte. Leichtfüßig, schnell und vollkommen lautlos war der Hundedämon hinter ihm aufgetaucht und verhinderte, dass er in seinen sicheren Tod lief.

"Bist du wahnsinnig? Er wird dich töten, du Narr! Du bist verwundet und zu schwach ihn zu stellen!", zischte eine Stimme dicht an seinem Ohr.

"Los, folge mir! Schnell!"

"Den TEUFEL werd ich tun!", Takeo, nicht minder erbost, riss sich los und wollte weiterlaufen - aber zu spät, viel zu spät. In einer furchtbaren letzten Sekunde sah er Shigerus Blick direkt auf sich gerichtet - einen verzeihungsheischenden Ausdruck im Gesicht - dann sauste Saitos blitzende Klinge in einem perfekten Halbkreis herab. In letzter Sekunde drehte der "Wolf von Mibu" seine Waffe und Shigeru wurde mit voller Wucht mit der Breitseite des Schwertes an der Schläfe getroffen. Er war sofort bewusstlos.

Takeo riss sein eigenes Schwert mit einem Wutschrei in die Höhe und stürmte wie ein Besessener furchtlos auf den hünenhaften Krieger zu. Er ignorierte den reißenden Schmerz in seinem Unterleib. Sein Herr! Der "Wolf" hatte seinen Herren und Freund geschlagen!

Saito sah ihm gelassen entgegen. Seine Klinge war dunkel von Blut. In seinem Zustand hatte Takeo nicht die Nerven, über eventuelle Finten oder Winkelzüge des Gegners nachzudenken. Er bevorzugte den gradlinigen Kampf. Saito allerdings weniger... Er war bekannt für seine etwaige Heimtücke und

Listigkeit.
 

Und scheinbar hatte sich das auch bis zu einem Hundedämon herumgesprochen. Dies, oder ein völlig anderer, bislang im Dunkeln liegender Grund, ließen den weißhaarigen Fremden nun handeln. Ein roter Schemen wischte rechts an Takeo vorbei (und er lief beileibe nicht langsam! Waren denn heute alle Menschen - Menschen? - schneller als er?) und sprang!

Der "Wolf von Mibu" mochte noch so listenreich sein - aber DAMIT hatte er nicht gerechnet.

Der Dämon prallte mit einem wilden Schrei auf seinen Gegner und ging mit ihm zu Boden. Direkt neben dem bewusstlosen Shigeru nagelte er den verblüfften Riesen förmlich an der Erde fest und zog seine langen Krallen über seinen Körper, seine Kleidung, sein Gesicht.

Und so unfassbar das auch war: In Hajime Saitos Augen glomm Erkennen auf! Der Mann KANNTE seinen Gegner!

"Du?", flüsterte er heiser. Und dann, lauter, wilder, wütender: "Du schon wieder! Ich werde dich töten!"

Er wollte sich unter dem langen, schlanken Leib, der auf ihm hockte, aufbäumen - aber dieser gegenüber Saito so schmal aussehende Hundedämon in der Tarnung eines menschlichen Körpers schien unglaubliche Kräfte zu besitzen, denn er konnte sich nicht aus dessen Griff befreien.

Der Dämon lachte. Böse und voller Verachtung.

"Saito! Noch ein paar Narben mehr? Kein Problem!"

Und erneut schossen die erbarmungslosen Krallen vor und zogen blutige Spuren über das Gesicht des Kriegers. Mit diesen Klauen hätte er nicht einmal Mühe gehabt, seine Kehle aufzuschlitzen. Saito stöhnte. Aber er kauerte sich nicht zusammen. Er schloss nicht die Augen. Er biss die Zähne zusammen und schlug die Arme des Dämons zurück wo er nur konnte. Ein wildes Handgemenge entstand. Aber der Hundedämon gewann. Saitos Kopf fiel nach einem besonders heftigen Hieb zurück und schlug hart auf dem Boden auf. Er teilte das Schicksal Shigerus und verlor das Bewusstsein.

Der Hundedämon war von einer Sekunde zur anderen an Takeos Seite, der immer noch nicht fassen konnte, was er da gerade gesehen hatte. Er hätte gelacht, wenn die Situation nicht so bitter ernst gewesen wäre. Da hockte eben ein Mensch mit Hundeohren auf einem ihn um beinahe drei Köpfe überragenden Gegner und schlug wie eine räudige Katze unablässig fauchend auf sein Gesicht

ein.

Takeo war... irritiert. Gelinde ausgedrückt.

"Kommst du nun mit, oder was?", fragte das Wesen neben ihm ungehalten.

"Oder muss ich dich vielleicht auch erst bewusstlos prügeln? Deine Freunde haben mich... gebeten, dich zu holen..."

Takeo erwiderte den Blick des Halbdämons das erste Mal direkt. Er hatte das Gefühl, dass diese Augen bis auf den Grund seiner Seele blicken konnten. Alles, was eben noch seltsam und vielleicht sogar belustigend ausgesehen hatte, dieses Katzenhafte, war verschwunden und vor Takeo stand wieder dieser unnahbare, gefährliche Fremde, den er zuvor am Waldrand stehen sehen hatte.

"Du weißt, wo Shido-san ist?", fragte er.

"Heißt er so?", antwortete der andere mit einer Gegenfrage. "Ja, ich weiß wo er ist."

Er stapfte an ihm vorbei und wollte schon im Wald verschwinden, als er wie gestochen zu Takeo herumfuhr und ihn unvermittelt anbrüllte:

"Was glotzt du so?"

Takeo, der tatsächlich unablässig auf die seltsamen Ohren des Wesens gestarrt hatte, blinzelte ertappt.

"Wie? Ich...", er verhaspelte sich und musste neu ansetzen. Noch nie in seinem Leben war er so verwirrt gewesen.

"Wer bist du? WAS bist du?"

Der Halbdämon seufzte und verdrehte die Augen.

"Kann ich dir das unterwegs erklären? Der Alte regt sich bereits wieder."

Takeo sah zurück auf den immer noch hellerleuchteten Platz. Ein Bild des Chaos und der Gewalt. Überall lagen tote Menschen in ihrem Blut. Doch eine der Gestalten, Saito Hajime, begann sich langsam wieder aufzurichten. Dann waren Stimmen zu hören. Viele Stimmen, die sich von Ferne zu nähern schienen und die scharfe Befehle brüllten. Die Verstärkung der Shinsengumi musste jede Minute hier sein. Saito bewegte sich mühsam auf den am Boden liegenden Shigeru zu. Er band dem Bewusstlosen die Hände auf den Rücken.
 

Der junge Samurai stellte keine weiteren Fragen. In einem Punkt musste er dem Halbdämon Recht geben. Er WAR verletzt und geschwächt. Und jetzt, wo der erste Schreck nachließ, da konnte er beinahe spüren, wie mit jedem Tropfen Blut, den er verlor, die Kraft aus ihm wich.

"Es tut mir leid, Sayan-sama...", flüsterte er traurig.

Er folgte seinem unfreiwilligen Begleiter in den Wald, doch schon nach den ersten paar Schritten verließen ihn endgültig die Kräfte, und er brach zusammen. Nun war es der Halbdämon der fluchte.

"Verdammt, reiß dich zusammen, Mann!"

Aber Takeo antwortete nicht mehr. Geschwächt und völlig am Ende seiner Kräfte, hatte nun auch er gnädigerweise das Bewusstsein verloren. Yasha seufzte schicksalsergeben. Er warf das lange Haar zurück und hob den leblosen Körper auf seine Arme.

"Ist denn heute der Tag der Bewusstlosen? Die Glücklichen...", grollte er.

Dann verschmolz seine Gestalt mit den Schatten in der frühen Dämmerung des Waldes, so schnell war er verschwunden.

Die Yosei

Madoka erwachte aufgrund eines stechenden Schmerzes in ihrer Schulter. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken und die Schmerzen einordnen konnte. Jemand machte sich an ihrer Wunde zu schaffen. Als sie vorsichtig die Augen aufschlug, sah sie zunächst alles undeutlich und verschwommen: Das grüne Dach des Waldes über sich, die sie umgebenden, dunklen Baumstämme und den weißen Schemen eines Gesichtes, das sich über sie beugte und umrahmt war von einer Flut dunkelroten Haares. Sie schloss die Augen kurz wieder, als der Schmerz beinahe unerträglich wurde - und dann abrupt erlosch, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Madoka lag ganz still und genoss das Gefühl, welches sich nach vergangenen Schmerzen einstellte.

'Bloß nicht bewegen!', dachte sie und hoffte, dass dieser Zustand noch eine ganze Weile anhielt. Dann blinzelte sie vorsichtig. Aus dem hellen Fleck über ihr wurde ein Gesicht.
 

Madoka war irritiert. Aufgrund der rötlichen Haarpracht hatte sie automatisch angenommen, dass es

Takeo war, der sich über sie beugte. Aber es war nicht Takeo. Es war nicht einmal jemand, den sie kannte.

Eine hübsche, junge Frau sah besorgt auf sie herab und legte soeben einen festsitzenden Verband um ihre Schulter an. Sie hatte große, smaragdgrüne, ausdrucksstarke Augen in einem fein geschnittenen Gesicht mit makellos weißer Haut. Die dunkelroten, glänzenden Haarsträhnen fielen ihr lang und offen über Schultern und Rücken. Sie hätte Takeos Schwester sein können.

Aber etwas an ihren Augen... Es war seltsam, dass sie so etwas dachte, aber sie konnte nicht umhin zu bemerken, dass ihre Augen etwas... "Nichtmenschliches", beinahe Überirdisches an sich hatten.

'So muss es sein, wenn man einer Elfe begegnet...', dachte Madoka mit einem seltsamen Gefühl in der Brust. Irgendetwas wurde durch den Blick dieser jungen Frau in ihr angerührt, etwas Altes, Zeitloses, etwas, dass es schon gegeben hatte, bevor sich ihr Körper rund um dieses Gefühl entwickelt hatte. Etwas Gütiges und Weises. Dieser Blick beinhaltete die ganze Welt - von ihrer

Entstehung an bis jetzt und alle Orte, die es auf ihr geben mochte, alle Zeiten und jedes Gefühl, das je entstanden war. Madoka starrte in diese Augen und fühlte sich mit einem Mal - das erste Mal überhaupt seit sie in diese merkwürdige Welt oder auch Zeit geraten war - auf seltsame Weise

getröstet und vollkommen sicher.

Wer war diese Frau? Und wieso fühlte sie sich so... wohl in ihrer Gegenwart?

Dann hörte sie Schritte näherkommen - rasch. Shido-sans Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Seine großen braunen Augen blickten sehr besorgt.

"Sie ist wach?", fragte er unsinnigerweise an die Fremde gerichtet.

"Madoka-chan! Bist du in Ordnung?" Er beugte sich jetzt über sie.

Madoka erwiderte seinen Blick und versuchte sich mühsam aufzusetzen. Jetzt sprach die Fremde zum ersten Mal. Ihre Stimme war angenehm und ruhig, wie das Raunen des Windes, der durch die Zweige belaubter Bäume fährt.

"Sei vorsichtig. Bewege dich nicht zu schnell. Die Wunde könnte sonst wieder aufbrechen."

Madoka schaute erst sie, dann Shido an. Shido fasste den Ausdruck ihrer Augen wohl richtig auf, denn er sagte:

"Madoka, das ist Aurinia. Sie hat deine Wunde gesäubert und genäht."

Madoka sah Aurinia an und lächelte verlegen.

"Ich... danke dir."

Aurinia lächelte ebenfalls. Es war, als würde die Sonne aufgehen.

"Du brauchst mir nicht zu danken. Ich hätte das für jede verletzte Seele getan."

Madoka konnte nicht umhin, sie weiterhin anzustarren. Aurinia lächelte jetzt noch eine Spur wärmer.

"Du hast noch nie eine Yosei gesehen, nicht wahr?"

"Eine... Yo... Nein, das habe ich nicht.", antwortete Madoka beinahe mechanisch.

"Bist du... eine Elfe?", fragte sie zaghaft, fast so als hätte sie Angst vor dem Spott der nun vielleicht folgte. Und tatsächlich warf die Yosei den Kopf zurück und lachte leise - aber nicht verletzend oder

gehässig. Es klang wie Hunderte kleiner Glöckchen im Wind.

"Nun, sagen wir einfach, wenn du mich als solche siehst, dann ist das nicht falsch."

Sie sah Madoka wieder mit diesem fürsorglichen Blick an, der eine solche Wärme und Geborgenheit vermittelte, dass die junge Frau erschauerte. Aurinia hob die Hand und strich ihr ganz sacht über das Haar.

"Armes, kleines Mädchen. Du hast Angst, nicht wahr? Dies ist nicht deine Welt. Nicht einmal deine Zeit. Alles ist dir fremd, unangenehm und erscheint dir allzu grausam. Ist es nicht so?"

Wie war das möglich? Konnte diese Frau in ihr Herz sehen? Das waren so genau ihre Gedanken und Gefühle, welche die Yosei da schilderte... Es war... unheimlich...

Obwohl sie nicht älter aussah als sie selbst hatte Madoka das Gefühl, mit einem zeitlosen Geschöpf zu sprechen, einem Wesen, das älter als sie alle zusammen war. Und vielleicht war das ja auch gar nicht so weit hergeholt...
 

"Jemand kommt!", meldete sich Shido wieder zu Wort, der ebenso fasziniert war von dem, was er soeben gehört und gesehen hatte, dass er die ganze Zeit in beinahe ehrfürchtiges Schweigen gehüllt dagesessen hatte. Doch nun war er aufgestanden und half nach kurzem Zögern und einem besorgten Blick, welchen die junge Frau aber mit einem energischen Nicken beiseite wischte, auch Madoka auf die Füße. Sie verzog das Gesicht. Es schmerzte doch nicht unerheblich wenn sie sich bewegte.

Jedoch, was nun folgte, schmerzte sie beinahe noch mehr...

Irgendwo raschelte es im Gehölz und mit einem Mal sprang ein Dämon aus den Schatten des Waldes heraus auf die kleine Lichtung, auf der sie sich befanden.

Madoka starrte zum zweiten Mal an diesem Tag mit unverhohlener Neugier und sogar einer Spur von Schrecken. Der Dämon war nicht viel größer als sie selbst und hatte langes, schneeweißes Haar. Im Kontrast dazu leuchtete das Rot seines Gewandes. Und er hatte krallenbewährte Hände und Füße. Er war annähernd menschlich - bis auf die Ohren. Nie hatte sie solche Ohren gesehen! Es waren sie Ohren eines Wolfes. Oder eines Hundes...

UND er trug Takeo auf seinen Armen!

Madoka keuchte erschrocken und Shido war mit einem einzigen Satz an ihr vorbei und bei seinem Freund.

"Verdammt, ich habe dem Idioten gesagt, dass er...", er schluckte seine letzten Worte hinunter, als ihm der Hundedämon ohne viel Federlesens den leblosen Körper grob in die Arme drückte! Dann rauschte er an dem verblüfften jungen Mann vorbei, kletterte gewandt und sehr schnell am Stamm des nächsten Baumes empor und blieb dort grummelnd auf einem der unteren Äste hocken. Aurinia schob sich an Madoka vorbei und blickte zu dem Halbdämon auf.

"Komm sofort da runter, Yasha! Was sind das für Manieren?"

"Ich habe getan, worum du mich gebeten hast, oder? Also lass mich in Ruhe!"

Yasha knurrte leise.

Madoka war viel zu entsetzt, um an irgendetwas anderes zu denken, als an den jungen Samurai, der erstaunlich viel Blut verloren hatte und dennoch halbwegs bei Bewusstsein war. Seine Kleidung war einmal mehr von dunkelrotem Blut getränkt. Und wieder war es so, als könne sie den Schmerz des jungen Kriegers am eigenen Leib spüren. Mehr noch, viel mehr noch als ihren eigenen in der Schulter.

"Lass mich runter.", beschwerte Takeo sich schwach bei seinem Freund.

"Ich bin kein Kleinkind!"

"Nein, aber man könnte es denken - so stur wie du bist!"

Dennoch stellte Shido ihn vorsichtig wieder auf seine Füße.

"Hättest du auf mich gehört..."

"Takeo?" Eine leise, entsetzte Stimme.

Shido brach ab und sah Madoka verdutzt an. Sie war kreidebleich geworden. Ihre Augen schreckgeweitet. Sie stand neben ihm und hatte die Hand leicht erhoben, zögerte jedoch, den jungen Schwertkämpfer zu berühren, als hätte sie Angst ihm dadurch nur noch mehr Schmerzen zuzufügen.
 

Takeo selbst, der bislang den Kopf gesenkt gehalten und sich schweratmend auf Shido-sans Schulter gestützt hatte, sah langsam und mit einer irgendwie mühsam wirkenden Bewegung auf - und begegnete wohl zum ersten Mal einem Blick, der ihn bis ins Mark, bis auf den Grund seiner Seele berührte. Wie ein Pfeil durchdrang ihn Madokas Blick - und er stand einfach nur da und starrte zurück, ohne indes auch nur einen Finger rühren zu können.

War er blind gewesen? Diese junge Frau starb beinahe vor Angst. Und zwar wegen IHM! UM ihn!

Etwas von dem schwarzen Panzer, der undurchdringlichen Mauer, die sein Herz seit den schrecklichen Ereignissen in seiner Kindheit und Jugend umgab, brach unter diesem Blick zusammen wie ein Kartenhaus - und ließ einen völlig verwirrten jungen Mann zurück.

Nein... Er durfte nicht zulassen... Er durfte sie nicht hinter seine Fassade blicken lassen. Sie hatte keine Ahnung, wer er wirklich war. WIE er wirklich war.

Und doch spürte er seinen inneren Widerstand langsam bröckeln.
 

Takeo taumelte - doch diesmal war es Madoka, die sofort an seiner Seite war um ihn zu stützen.

"N... Nicht...", wehrte er kraftlos ab, als er ihren Leib nah an seinem spürte. "Das Blut..."

"Das ist nicht wichtig.", sagte sie einfach nur und hielt ihn weiterhin fest.

Sie war ihm nun so nah wie noch nie zuvor. Seine Augen... schmerzerfüllt und voll von dunklen Vorahnungen, waren groß und wunderschön. Sie waren so blau wie die Kornblumen, die bei ihr zu Hause an der Straße blühten, gleich dort, wo die Auffahrt zu dem Haus war, in dem sie eine kleine Wohnung über der ihrer Eltern ihr Eigen nannte... Aus irgendeinem Grund musste sie plötzlich mit den Tränen kämpfen.

"Komm, setz dich erst mal.", versuchte sie ihre Traurigkeit zu überspielen und bugsierte Takeo vorsichtig unter den Baum, unter welchem sie zuvor auch schon gelegen hatte.

Als sie sich erhob und suchend nach Aurinia umsah, schloss sich mit einem Mal eine warme Hand um ihr Handgelenk. Sie erstarrte.

"Madoka.. Es tut... es tut mir Leid."

Sie wusste, was er meinte.

Alles. Er entschuldigte sich bei ihr gerade für ALLES was bisher geschehen war - ob es nun seine Schuld gewesen war oder nicht. Und ganz egal, was sie zu Anfang vielleicht auch über ihn gedacht oder welche Angst ihr sein Verhalten auch gemacht haben mochte, diese wenigen Worte reichten aus, in ihr eine Wärme und Freude auszulösen, die sie noch nicht bereit war einzuordenen, sich noch nicht traute sie zu benennen.

Sie zitterte unmerklich.

Madoka drehte sich wieder zu ihm herum.Sie legte langsam ihre andere Hand über seine und konnte nun nicht mehr verhindern, dass ihr eine Träne über die Wange lief. Takeo wirkte betroffen. Er missverstand ihre Tränen - und vor allem das traurige Lächeln, das sie dennoch zeigte.

"Ich... WIR werden dir helfen, einen Weg zurück nach Hause zu finden. Ich... verspreche es.", sagte er leise. Der Druck seiner Finger um ihrem Handgelenk verstärkte sich. Und während sie aus tränenverschleiertem Blick auf ihn herabsah, in ein Gesicht, das sie tatsächlich und wider aller Vernunft in kürzester Zeit sehr lieb gewonnen hatte, da war sie plötzlich - zum ersten Mal überhaupt - hin- und hergerissen in ihren Gefühlen und wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie WOLLTE zurück! Diese Welt war GRAUSAM, SCHRECKLICH, BRUTAL und VÖLLIG anders, als ihre - aber in dieser Welt gab es Takeo...

Sie fragte sich ganz nüchtern und ernsthaft: Liebte die ihn?

Das war im Grunde einfach nicht möglich, denn sie kannte den jungen Mann einfach noch nicht gut genug, um das beurteilen zu können. Vielleicht war sie in gewisser Weise verliebt in das Bild, das er ihr von sich bislang gezeigt hatte - besonders in das Bild von eben. Doch LIEBE konnte man das beileibe noch nicht nennen. Eine Verliebtheit also? Warum wankte sie dann in ihrem Entschluss auf jeden Fall und so schnell wie möglich wieder einen Weg zurück nach Hause zu finden? Warum wollte sie in seiner Nähe sein so oft es ging, ihn am liebsten immerzu ansehen? Warum ertrug sie es nicht, wenn er Schmerzen litt? Und vor allem Anderen: Warum hatte sie so ein vertrautes und zugleich verwirrendes Gefühl, wann immer er ihren Blick erwiderte?

Sie verschob diesen Gedanken. Vorerst. Es gab wichtigere Dinge zu tun. Doch während sie zu Aurinia hinübereilte, um sie bei der Versorgung von Takeos Wunden um Hilfe zu bitten, da nagte es in ihr und sie konnte die kleine, nachhaltige Stimme in sich nicht ganz verdrängen, die immer wieder fragte:

"Nur mal angenommen... Gesetzt den Fall, dass du dich tatsächlich verliebt hast. Wärst du bereit ALLES aufzugeben? Deine Welt, deine Zeit? Du KENNST ihn nicht einmal!"

Wohin sie sich innerlich auch drehte und wendete - es war einfach zu früh, um darauf eine klare Antwort zu finden.
 

Aber da war auch noch immer eine ganz andere, vielleicht momentan auch vorrangigere Frage.

Wie und warum war sie hier hergekommen?

War es Zufall? Oder hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen?

Unerwartete Hilfe

Als sie Aurinia erreichte fand sie diese zu ihrer Überraschung in ein angeregtes Gespräch mit dem seltsamen Halbdämon vertieft vor. Sie unterbrachen die Unterhaltung als Madoka zu ihnen trat.

"Ah... Ich wollte dich bitten, ob du dir Takeos Wunden ansehen könntest?", fragte sie an Aurinia gewandt - die sie mit einem Ausdruck in ihren grünen Augen betrachtete, als könne sie SÄMTLICHE ihrer soeben gedachten Gedanken verfolgen. Und tatsächlich stahl sich ein schmales, feines Lächeln in ihre Mundwinkel, sodass kleine Grübchen auf ihren Wangen sichtbar wurden. Sie sah erst hinüber zu Takeo, dann Madoka an und nickte.

"Natürlich."

Sie entfernte sich und Madoka fand plötzlich ihre Füße ungeheuer interessant. Sie starrte zu Boden und konnte die Blicke des Halbdämons auf sich spüren. Schließlich sagte sie das Erstbeste, was ihr einfiel:

"Ich... Danke, dass du ihn gerettet hast."

"Hnn...", machte Yasha kurz und drehte sich demonstrativ zur Seite.

"Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen."

"Trotzdem: Danke.", beharrte Madoka und sah in scheu und zugleich neugierig von der Seite an.

"Was starrst du denn so?", fauchte er und seine Ohren zuckten wütend.

"Noch nie einen Hanyou gesehen, oder was?"

Madoka sah ihn verständnislos an. Schüttelte dann aber den Kopf und sagte verwirrt:

"Ja, ich habe noch nie jemanden wie... dich gesehen..."

Zum ersten Mal sah Yasha sie nun an. Er hatte erstaunliche Augen in einem sanften, bernsteingelben Farbton. Er runzelte die Stirn - und begann plötzlich laut und vernehmlich zu schnüffeln. Er beugte sich sogar vor und roch an ihrem Haar! Madoka trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

"Du... stammst nicht von hier."

Das war eine Feststellung, keine Frage. Er schnüffelte weiter.

"Du stammst nicht einmal... Ich kann den Geruch nicht einordnen..."

Yasha trat nun selbst wieder zurück und musterte die junge Frau in dem völlig verdreckten Kimono vor sich von oben bis unten.

"Du siehst zwar aus, wie jemand von hier - aber du BIST es nicht! Wer bist du? Woher kommst du?"

Bildete sie sich das nur ein, oder schwang da wirklich ein sehr misstrauischer Unterton in seiner Stimme mit?

"I.. Ich... Das ist eine lange Geschichte."

Yasha verschränkte die Arme vor der Brust und sah demonstrativ zu dem nun wohl doch wieder bewusstlosen Takeo hinüber - ER würde zumindest längere Zeit nirgendwo hingehen können...

"Wir haben wohl etwas Zeit.", sagte er deshalb kurz angebunden.
 

Madoka seufzte.

Sie gingen zurück zu Aurinia, Takeo und Shido-san und Madoka setzte sich ins Gras. Yasha nahm auf dem Ast über ihnen Platz. Und die junge Frau begann zu erzählen. Nicht alles - nichts über den Fortschritt ihrer Zeit oder Ähnliches, was ihre Begleiter nur unnötig verwirrt hätte - aber schon, dass sie Studentin war und in Kunstgeschichte promovierte (oder dies zumindest vorgehabt hatte), dass sie noch bei ihren Eltern lebte und eine jüngere Schwester hatte, dass sie ein ganz normales Leben geführt hatte - bis sie eines Morgens in dieser Zeit und an diesem seltsamen Ort aufgewacht war und sich nicht erklären konnte, wie sie hierher gekommen war. Und dann schilderte sie kurz die Ereignisse, die sie hier erlebt hatte, was Shido-san hin- und wieder bestätigte. Als sie geendet hatte herrschte lange Zeit Schweigen.

Von ihnen allen schien Aurinia jedoch diejenige zu sein, die am wenigsten beeindruckt war von dem, was sie soeben gehört hatte.

"Das überrascht mich nicht. Ich habe bereits gewusst, dass du nicht von hier stammst."

"Und ICH habe es gerochen!", fügte Yasha von oben herab hinzu. Aurinia lächelte nachsichtig zu ihm hinauf. Madoka jedoch starrte sie an. Also hatte sie vorhin TATSÄCHLICH ihre Gedanken gelesen?

Aurinia sah sie mit einem geheimnisvollen Ausdruck in ihren Augen an.

"Ich kann dir helfen, wenn du das möchtest. Ich werde versuchen, den Rückweg in deine Zeit für dich ausfindig zu machen. Dazu musst du mich allerdings an die Stelle führen, wo du zum ersten Mal hier erwacht bist."

Das kam alles so... plötzlich, dass Madoka einfach weiter starrte und gar nichts sagte. Die Erkenntnis dessen, was die Yosei soeben gesagt hatte, sickerte nur ganz, ganz langsam in ihr Bewusstsein - doch dann traf es sie wie ein Schlag!

"Du... kannst mir wirklich helfen? Ich komme nach Hause?"

Madokas Stimme begann sich zu überschlagen wie die eines Kleinkindes, das unter dem Weihnachtsbaum sein erstes Geschenk in die Hand gedrückt bekommt. Yasha lachte.

"Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Sie hat gesagt, dass sie den Weg für dich SUCHEN wird, nicht, dass sie ihn gefunden hat!"

"Hör nicht auf ihn, er ist manchmal ein ganz schöner Kindskopf. Wir WERDEN einen Weg finden wie du zurück nach Hause kommst, ich verspreche es dir."

Und in Aurinias Stimme lag so viel von der Zuversicht und der Entschlossenheit, die Madoka im Augenblick so verzweifelt brauchte, dass ihr mit einem Mal ein Kloß im Hals saß und die Tränen in die Augen stiegen. Ohne ein weiteres Wort fiel sie der Yosei um den Hals und fühlte, wie ihre Angst, ihre Anspannung und die Ungewissheit wie ein schwerer Mantel von ihren Schultern glitt. Sie weinte nun hemmungslos, während Aurinia sie sanft wiegte und immer wieder über ihr Haar strich.

"Einen Moment, du meinst also, das was Madoka behauptet... ist wahr?", fragte Shido nun vollkommen erstaunt.

"Sie kommt aus einer anderen Zeit? Aus der... Zukunft? Aber wie...?"

Madoka schoss einen kurzen, bösen Blick in seine Richtung ab, seufzte dann aber gleich darauf ergeben. Wie konnte sie auch erwarten, dass ihr auch nur IRGENDJEMAND glaubte? Dass diese... Yosei es tat grenzte ja bereits an ein Wunder. Aurinia lächelte geheimnisvoll.

"Wie so etwas geschieht kann ich euch auch nicht sagen. Ich weiß nur, es IST möglich und es kam zu jeder Zeit in der Geschichte der Menschheit vor."

Shido schaute verdattert, während Madoka vergeblich versuchte, diesen Worten mehr als nur den lapidaren Sinn zu entnehmen, sie hinzuhalten. Aber das konnte sie sich von der feengleichen Frau einfach nicht vorstellen. Warum sollte sie das tun?

"Wo bin ich da nur wieder hineingeraten...", murmelte Yasha von seinem Platz auf dem Baum aus. Dann sprang er geschmeidig wie eine Katze herab.

"Vielleicht ist es unter gegebenen Umständen besser, wenn wir für eine Weile untertauchen... Aurinia?"

Die junge Yosei nickte leicht.

"Was habt ihr vor?", fragte Shido misstrauisch.

"Folgt mir.", sagte Aurinia schlicht. Sie half Madoka aufzustehen, drehte sich, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass es dem Mädchen etwas besser ging, herum und schritt ohne ein weiteres Wort in die Schatten des Waldes hinein. Yasha schaute sich nicht um und verschwand raschelnd im Unterholz.
 

Seufzend hob Shido seinen Freund auf die Arme. Takeos Kopf fiel zurück und das lange, rote Haar floss lang über Shido-sans Arme und hinab bis auf die Erde.

"Sollen wir ihnen trauen?"

Madoka sah ihn unsicher an.

"Ich weiß, dass diese... Yosei uns nichts böses will. Das fühle ich einfach. Was den Halbdämon angeht..." Sie zuckte die Achseln.

"Naja, zu verlieren haben wir ja kaum noch etwas.", meinte der junge Mann dann mit einem resignierten Unterton in der Stimme.

"Kümmerst du dich bitte um Akuma?"

Er wies auf den nachtschwarzen Schatten des Pferdes, welcher im Dunkel des Waldes beinahe nicht zu sehen war. Sie hatte das Pferd völlig vergessen! Als Shido ihren entsetzten Gesichtsausdruck gewahrte, sagte er schnell:

"Du brauchst ihn lediglich am Zügel zu führen. Du musst ihn nicht reiten."

Aber auch HIERVOR hatte Madoka gehörigen Respekt. Sie trat vorsichtig auf Akuma zu, unablässig beruhigenden Unsinn vor sich hinmurmelnd, und griff dann nach den Zügeln.

"Komm, mein Schöner.", flüsterte sie, so wie sie das auch bei Takeo beobachtet hatte.

"Es geht weiter."

Als sie, das Pferd im Schlepptau, wieder auf die Lichtung trat, lächelte Shido sie offen und sehr warm an.

"Siehst du? Es ist doch gar nicht so schlimm."

Madoka sah ihn mit jenem undeutbaren Gesichtsausdruck an, der dem Verziehen der Mundwinkel bei dem Genuss einer Zitrone vorausging. Sie ging einfach an ihm vorbei, Aurinia nach, und eine Weile später folgte auch Shido ihnen ins Dickicht.

Traum und Wirklichkeit

Der Wasserfall vor dem Höhleneingang rauschte so laut, dass eine Unterhaltung völlig unmöglich wurde. Tief hinein waren sie Yasha und Aurinia in den Wald gefolgt und hatten nun den Unterschlupf der Yosei erreicht. Sie ließen Akuma, Takeos Streitross, unmittelbar am Höhleneingang angebunden

zurück. Das Tier zeigte sich zwar wenig begeistert davon, fügte sich jedoch nach ein paar beruhigenden Worten Shidos in sein Schicksal. Madoka wusste nicht, was sie erwartet hatte - aber irgendwie passte dieser Ort nicht ganz zu Aurinia. Doch als sie tiefer in das Höhlensystem eindrangen, das Brausen des Wasserfalls hinter sich zurückließen, nur geführt durch das Licht der einzigen Fackel, die am Eingang deponiert gewesen war und die Aurinia nun vor sich hertrug, da konnte Madoka eine beständige Veränderung ihrer Umgebung wahrnehmen. Es wurde wärmer, je tiefer sie in die Erde vordrangen - aber es war keine unangenehme Wärme, wie man sie im Erdinneren vielleicht erwarten mochte, sondern eine angenehme, sanfte Brise. Irritierenderweise duftete es mit einem Mal ganz sacht nach Blumen. Die Wände rechts und links des Ganges veränderten sich ebenfalls. Aus Gestein und nacktem Erdreich wurden nach und nach mit Lehm verputzte Wände, in die seltame Ornamente

eingelassen waren. Es wurde heller, nicht etwa, weil da mehr Fackeln oder andere Lichtquellen aufgetaucht wären, sondern aus unbestimmter, allgegenwärtiger Richtung.
 

Und dann öffnete sich der Gang unvermittelt zu einer großen Kammer, die einfach nur wunderschön war. Die gesamte Halle war mit Teak-Holz verkleidet. Gewundene Säulen in den warmen Farben des dunklen Holzes von Kirschbäumen stützten die Decke, die an vielen Stellen mit wunderschönen

Malereien verziert war. Überall im Raum fand man große, weiche Sitzkissen, umgeben von Stellwänden, deren weißes Pergament mit denselben wundervollen Malereien längst vergangener Epochen geschmückt waren wie die Decke. Niedrige Tische, mit großen Schalen angefüllt mit Obst, standen da und dort wo Aurinias Bett sein musste, hingen von der Decke weiße, hauchdünne Schleier herab und bildeten einen dreieckigen Baldachin, der sich ab und zu in einem Windhauch bewegte. Aber am Schönsten war wohl das große, mit himmelblauem Mosaik ausgelegte Bassin, dass sich am gegenseitigen Ende der Halle erstreckte. Ein kleiner Zulauf plätscherte verträumt dahin und

erstreckte sich über die gesamte Länge des Raumes, bis er sich schließlich in das Wasser ergoss. Die Wände rund um das Becken waren naturbelassen worden und zwischen den riesigen Felsbrocken wuchsen tatsächlich Farne und Moos, obwohl sich Madoka einfach nicht vorstellen konnte, wie das ohne Sonnenlicht möglich sein konnte. Auf dem Wasser schwammen Hunderte von Blütenblättern in allen nur erdenklichen Farben. Überall standen große Vasen mit den schönsten Blumengestecken, die Madoka je gesehen hatte. Sie war komplett sprachlos.

So musste es im Paradies aussehen.

Und Aurinia passte hierher. Anders: Die Umgebung passte zu ihr. Sie konnte sich kein anderes Domizil für die Yosei vorstellen.
 

Während Madoka staunend stehen geblieben war, um den Anblick erst mal in sich aufzunehmen, so trat Shido bereits nach kurzem Zögern hinter Yasha und Aurinia in den Raum, folgte der Yosei zu einer Liegestatt und legte Takeo vorsichtig darauf nieder.

"Während ich mich nun um Takeos Wunden kümmere, könnt ihr euch ruhig ein Weilchen ausruhen.", schlug Aurinia vor. Sie sah Madoka an und lächelte.

"Ich möchte mir nur kurz noch deine Verletzung ansehen. Die Kräuter, die ich auf die Wunde gelegt habe müssten die Blutung allerdings gestoppt haben. Ich möchte nur sicher gehen."

Sie trat auf die junge Frau zu und schob ihren Kimono etwas auf, um sich die behelfsmäßig bandagierte Schulter anzusehen. Shido-san sah zur Seite und wurde leicht rot.

Es war kein Blut durch den Stoff gedrungen. Die Yosei nickte zufrieden und sie schloss den Kimono wieder. Dann warf sie Madoka einen prüfenden Blick zu.

"Du siehst sehr müde aus." Sie deutete auf das Bett.

"Legt euch schlafen. HIER werden wir bestimmt nicht entdeckt."

Madoka fand die Einladung allzu verlockend. Sie verspürte zwar einen großen Hunger wenn sie das Obst sah, aber ihr Körper verlangte mit Macht nach seinem Vorrecht auf ausreichend Ruhe. Sie nickte dankbar.

"Du auch, Shido-san.", sagte Aurinia an den jungen Mann gewandt. Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.

Shido beobachtete unsicher, wie Madoka den Schleier um das riesige Bett anhob und darunter verschwand. Zögernd folgte er ihr. Es gab außer der Liege, die Takeo nun beanspruchte, keine weitere Liegestatt in dieser Höhle. Shido sagte nichts, aber seine großen, braunen Augen blickten fragend, als Madoka zu ihm zurückschaute. Sie machte eine einladende Handbewegung.

"Das Bett ist wirklich groß genug."

Shido nickte und kletterte auf die andere Seite des Bettes. Madoka streckte sich lang aus und seufzte entzückt. Das war schon etwas anderes, als auf einer Matte am Boden zu liegen. Und mit einem letzten Gedanken an Takeo schlief sie endlich ein.
 

~~~oOo~~~
 

Als sie erwachte war es sehr still - das war das Erste, was ihr auffiel, als sie die Augen aufschlug. Das Plätschern des künstlich angelegten Baches hatte aufgehört. Aber irgendetwas hatte sie geweckt.

Madoka starrte das Dach aus Vorhängen über sich an und lauschte mit angehaltenem Atem, aber da war nichts. Kein Geräusch, nichts was sie hätte wecken können.

Sie hob den Kopf - und hielt überrascht inne. Shido-san lag direkt neben ihr. Ihr Kopf hatte praktisch an seiner Schulter geruht. Und er hatte den Arm um sie gelegt... Sie blickte ein wenig perplex an sich hinab und schob den Arm dann vorsichtig und sehr langsam von sich herunter, um ihn nicht aufzuwecken. Shido murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Und dann hörte sie es: Ein leises Stöhnen, das sofort wieder verstummte, und das so leise war, dass Madoka es mehr spürte als wirklich hörte. Mit einem Ruck schwang sie die Beine vom Bett, arbeitete sich durch die Vorhänge nach draußen, und eilte barfuß quer durch die Halle hinüber zu Takeos Liege. Sie hatte richtig vermutet. Der junge Samurai sah furchtbar aus und musste grässliche Schmerzen haben. Sein Gesicht war kreidebleich, feiner Schweiß perlte von seiner Stirn und unter seinen geschlossenen Lidern glitten die Augen unablässig hin und her. Er atmete flach. Der Verband um seinen Unterleib hatte sich dunkelrot gefärbt.

Madoka schaute voller Angst auf ihn hinunter und legte schließlich die Hand auf seine Stirn: Er glühte regelrecht!

"Mein, Gott!" Madoka sah sich hektisch um. Wo war Aurinia?

Sie konnte jedoch weder die Yosei noch den Halbdämon irgendwo sehen. Hilflos drehte sie sich im Kreis und fasste schließlich einen Entschluss. Sie löste die Kordel, die ihren Kimono zusammenhielt und zog die straff angelegten Stoffbahnen darunter aus, die sie ohnehin nur eingeengt hatten. Sie gestattete sich einen kurzen befreiten Seufzer, als der Stoff raschelnd zu Boden fiel. Sie wickelte den Kimono wieder um sich und schloss ihn mit der Kordel wieder. Sie lief mit dem Stoff hinüber zu dem Bach - nur um feststellen zu müssen, dass der Zulauf tatsächlich versiegt war. Stattdessen lief sie nun zu dem Pool hinüber und tauchte die Bandage ins Wasser. Sie kam zu Takeo zurück, gerade als er sich wieder einmal leise wimmernd krümmte. Madoka starrte auf ihn hinunter und verspürte einen tiefen Stich in der Brust. Er litt so sehr. Und sie tat es auch...

Sie legte den feuchten Stoff auf seine Stirn. Dann kniete sie sich neben die Liege und begann mit dem anderen Ende der langen Stoffbahn Takeos Arme und seine Brust abzureiben. Sie hoffte, durch die Feuchtigkeit würde sein Fieber etwas zurückgehen.
 

Gedankenverloren glitt ihre Hand über seinen heißen, schweißnassen Oberkörper - und verharrte dann unvermittelt. Madoka beugte sich vor. Allein der Oberkörper des jungen Mannes trug etliche zwar bereits längst verheilte, aber teilweise sehr große Narben. Sie war erschüttert. Was führte dieser Mann, der noch nicht einmal so alt war, für ein Leben, dass er nun schon so entstellt war? Nicht, dass es Madoka abstoßend fand, sie war lediglich zutiefst betroffen über diese Tatsache.

Ganz vorsichtig ließ sie den Finger über eine der weißen, langen Narben gleiten.

"Was... hat man dir nur angetan..."

Wie zur Antwort stöhnte er erneut leise und warf den Kopf zurück, sodass der Stoff von seiner Stirn rutschte. Madoka beugte sich über ihn, legte ihm das Tuch wieder zurecht

- und verharrte über seinem Gesicht mitten in der Bewegung. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihren Wangen. Seine Lippen waren aufgesprungen und bewegten sich unablässig, als murmelte er etwas oder als hätte er böse Träume. Madoka war... wie paralysiert. Sie wusste nicht mehr, was sie tat - sie wusste nur, was sie wollte. Und ihr Körper reagierte auf diesen Zustand OHNE ihr Wissen. Sie näherte ihr Gesicht dem seinen. Sie nahm alles mit einem Blick in sich auf, seine langen Wimpern, seine hohen Wangenknochen, sein feines Kinn und die Narbe auf seiner rechten Wange. Sie schloss die Augen. Nie hatte sie etwas so sehr gewollt wie jetzt. Es war RICHTIG. Es war, wie es sein sollte...

Und im selben Moment, als zum allerersten Mal ihre Lippen unendlich sanft die seinen berührten, als sie seinen Mund wie einen leichten Hauch ihren eigenen berühren fühlte - schlug er die Augen auf!
 

Seine Augen, groß und tiefblau, blickten sie direkt an. Und sie waren nicht etwa vom Fieber getrübt - er erkannte sie sehr genau (und wohl auch, was sie vorgehabt hatte!). Madoka erstarrte.

Takeos Augen weiteten sich überrascht.

Eine endlose Sekunde starrten sie sich gegenseitig in die Augen. Dann schreckte Madoka zurück. Sie hatte butterweiche Knie und sofort schoss das Blut heiß in ihre Wangen. Dann sank sie neben der Liege zu Boden und blieb mit dem Rücken zu ihr sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben. Es war zu peinlich! Was war nur in sie gefahren?

Sie hörte, wie Takeo sich hinter ihr mühsam aufsetzte.

"Madoka?" Seine Stimme klang heiser und schwach. Dann spürte sie seine Hand warm auf ihrer Schulter. Ein Schauer überlief sie. Sie nahm die Hände jedoch nicht herunter.

"Madoka."

Sie reagierte nicht.

Seine Hand löste sich von ihrer Schulter und Sekundenbruchteile später fühlte sie, wie sein Handrücken sanft über ihre Finger strich, mit denen sie noch immer ihr schamgerötetes Gesicht verbarg. Sie hörte, wie er von der Liege glitt und sich vorsichtig neben sie kniete. Immer noch ging sein Atem sehr schnell und seine Haut war so heiß, dass sie die Wärme auch auf geringe Entfernung auf der eigenen spüren konnte. Er löste ihre Finger von ihrem Gesicht und nahm ihre Hände herunter, ließ sie jedoch nicht los. Ihre Augen, groß, dunkel und voller Angst vor dem, was er ihr nun sagen konnte, blickten überall hin - nur nicht in sein Gesicht.

"Madoka, sieh mich an."

Sie zitterte nun beinahe genauso wie er, doch bei ihr wurde dies durch eine andere Art von Fieber hervorgerufen. Als sie immer noch nicht von allein reagierte, löste er seine Finger aus ihren und hob sanft ihr Kinn an - so musste sie seinen Blick erwidern.

"Was sollte das?", fragte er leise, aber nicht unfreundlich. Es klang ein wenig... belustigt? Madoka blinzelte. Leugnen hätte wohl schrecklich wenig Sinn. Sie schloss die Augen und murmelte nur:

"Es tut mir Leid.... ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Ich hatte solche Angst, dass du..."

Weiter kam sie nicht. Seine Finger glitten zärtlich über ihr Gesicht, über ihre Lippen. Madoka

öffnete die Augen. In seinem Blick fand sie nichts von dem, wovor sie Angst gehabt hatte, keine Ablehnung und auch kein Misstrauen. Nur...

Liebe?

Aber... Er kannte sie doch nicht einmal! Und sie? Kannte ihn doch ebenso wenig!

Aber das war alles plötzlich nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, dass er sie berührte. Seine Hand glitt in ihren Nacken und er zog sie sanft zu sich heran. Madoka konnte es nicht glauben! Träumte sie?

Seine Lippen öffneten sich leicht zu einem Kuss. Madoka schloss die Augen. Und dann -

unterdrückte er plötzlich ein lautes Stöhnen, krümmte sich unter einer neuerlichen Schmerzattacke und sackte an ihrer Schulter zusammen. Madoka fing ihn entsetzt auf.

"Ta...!"

Es war das erste Mal, dass sie ihre Sprache wiederfand, …
 

~~~oOo~~~
 

...erwachte und erstaunt in Shidos erschrecktes Gesicht blickte.

"...keo...", hauchte sie leise und vollkommen irritiert...

Shido lag neben ihr auf jenem gigantischen Himmelbett und hatte sich besorgt über sie gebeugt.

"Madoka... hast du geträumt? Hast du Schmerzen? Du hast im Schlaf... gestöhnt...", sagte der junge Mann vorsichtig.

Sie sah sich mit wachsender Verwirrung um. Verständnislos blickte sie in Shidos Gesicht. Dieser sah sie immer noch mit jenem seltsamen Gesichtsausdruck an. Es war alles so... real gewesen. Hatte sie wirklich nur geträumt? Es musste wohl so sein, denn jenseits der Vorhänge konnte sie erkennen, dass

sie alles andere als allein waren in der Halle: Da waren Aurinia und Yasha, beide kamen soeben aus einer angrenzenden Höhle und trugen Schalen mit dampfend heißem Wasser und Handtücher auf den Armen. Der kleine künstliche Bach plätscherte vor sich hin. Dann waren da noch zwei, drei hübsche Mädchen in orientalisch anmutender Kleidung und mit langem, schwarzen Haar, die sich

um Takeo bemühten, der allerdings tatsächlich noch auf seiner Liege lag. Madokas Herz machte einen Sprung und begann dann doppelt so schnell weiterzuschlagen.

Jetzt wurde ihr wieder klar, WAS GENAU sie geträumt hatte. Erneut (und diesmal wirklich) schoss ihr das Blut in die Wangen und sie wandte beschämt den Kopf ab. Shido ließ das nicht zu. Seine Hand griff unter ihr Kinn und er zwang sie ihn anzusehen.

"Bist du wirklich in Ordnung?", fragte er misstrauisch.

"Du hast so... verzweifelt geklungen."

Bei seinen letzten Worten glitt sein Blick hinüber zu seinem Freund - und Madoka hatte das plötzlich unbestimmte Gefühl, dass er genau wusste was sie geträumt hatte. Blödsinnig.

Aber dennoch hartnäckig, dieser Gedanke...
 

Mit einem Mal wurde Shidos Blick warm, sein Gesichtsausdruck beinahe traurig.

"Ich verstehe...", flüsterte er leise.

Madoka verstand NICHT.

Shido ließ ihr Kinn los, strich ihr kurz sanft über die Wange und setzte sich dann auf. Sie starrte - unfähig ein Wort hervorzubringen - seinen Rücken an. Was war das gerade?

"Habe ich dir erzählt, wie Takeo und ich uns kennenlernten?" Shido drehte sich nicht herum.

Schweigen.

Es schien so, als würden selbst die Geräusche außerhalb der Vorhänge rund um das Bett einfach ausgeblendet.

"Nein..."

"Es ist... es WAR vielleicht vom Schicksal so gewollt, dass wir uns genau an jenem Tag trafen, als Takeo feststellte, dass sein Bruder, von dem er angenommen hatte, dass er während des großen Feuers in Kyoto damals genau wie der Rest seiner gesamten Familie umgekommen war, noch lebte."

Er schwieg kurz und schien zu überlegen, wie er am Besten fortfahren sollte. Dann erzählte er Madoka zunächst von Takeos schrecklicher Kindheit, das, was er von seinem Freund darüber gehört hatte - und Madoka fühlte, wie das Blut, das ihre Wangen gerötet hatte, sehr schnell wieder aus ihrem Gesicht wich. Ihre Augen weiteten sich, als sie von dem grausamen Mord an Takeos

Pflegeeltern erfuhr.

Schlimmer noch erschütterte sie, dass er sich nach dem gewaltsamen Tod seiner Zieheltern zu einem rachsüchtigen und grausamen Auftragsmörder entwickelt hatte, was ihr im erstem Moment absurd vorkam. Das konnte doch nicht sein? Takeo? Ein Auftragskiller?

Doch dann fiel Madoka wieder jenes allererste Zusammentreffen mit Takeo und Shido im Wald ein, jener erste Blick, der sie eiskalt und voller Zorn aus jenen dunkelblauen Augen getroffen hatte. Sie sah auch wieder jenen Teufel von einem Mann auf einem wahren Dämon von Pferd mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Dickicht brechen und rücksichtslos auf sich zupreschen.

Und sie sah auch wieder das Blut an der blanken Schneide von Takeos Schwert...

Ja. Es war wie Shido gesagt hatte. Sie spürte, dass es die Wahrheit war. Warum sollte er auch lügen?

Es erschütterte sie bis ins Mark. Doch es machte ihr seltsamerweise kaum Angst. Im Moment jedenfalls.

Takeo war ein Mörder von Hunderten, von vielen teilweise auch unschuldigen Menschen. Das war schlimm, grausam und furchtbar. Und doch konnte die tief in sich auch irgendwo nachvollziehen, warum er so geworden war, warum er es getan hatte. Das entschuldigte nicht die Tat an sich. Aber für Madoka wurde es verständlicher und damit auch erträglicher. Sie selbst wusste, dass er ihr nichts antun würde. Ebensowenig wie Shido-san oder Aurinia.

Dieser Mann war nicht von Geburt an ein Mörder. Die Welt hatte ihn erst zu einem solchen gemacht. Und sie konnte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welch einen schrecklichen inneren Kampf er jedes Mal mit sich selbst ausfechten mochte, wenn er seine Klinge gegen jemanden erhob...

Dann sagte Shido:

"Er hatte einen Auftrag in Kyoto zu erledigen und wurde in eine Falle gelockt. Der angebliche Auftraggeber entpuppte sich selbst als Untergebener der Shinsengumi. Takeo wurde festgenommen und vor das Oberhaupt der Gruppe geführt: Yamazaki Mamoru."

"Seinen... Bruder...", flüsterte Madoka.

"Ja.", Shido sah auf seine Hände hinunter. "Er erfuhr am selben Tag zwei Dinge: Die freudige Überraschung, dass sein lange vermisster Bruder tatsächlich noch lebte und die ernüchternde und niederschmetternde Tatsache, dass dieser Bruder sein Feind geworden war. Mamoru kannte keine Gnade. Er hat ihn praktisch zu Tode foltern lassen."

Madoka war fassungslos.

"U... und wie... Ich meine, wann hast du..."

Shido lachte rau.

"Wie ich ihn dann kennen lernte?"

Jetzt drehte er sich herum - und sie erschrak beinahe vor seinem Blick. Dieser Blick war so ganz anders als der, den sie sonst von diesen sanften, braunen Augen gewohnt war: Hart und voller

Bitterkeit.

"Ich bin selbst ein Mitglied der Shinsengumi gewesen, Madoka. Ich habe Saito und Hijikata, sogar Mamoru bei ihren Grausamkeiten UNTERSTÜTZT! Erst als Yamazaki selbst vor seinem eigenen Fleisch und Blut nicht Halt machte und Takeo beinahe zu Tode foltern ließ, wachte ich auf. Ich weiß bis heute nicht, welcher Teufel mich geritten hat, der Shinsengumi beizutreten. Ich weiß auch, dass sie andernorts wohl wirklich dem Ruf einer Schutz-Truppe, einer Art Elite-Garde, nachkommen. Aber nicht hier. Nicht in Kyoto. Nicht unter Yamazaki Mamoru, Hijikata Toshizo und dem "Wolf von Mibu"... Mamoru hat da seine ganz eigenen Vorstellungen eines "geordneten" Staates, so scheint mir. Nun ja, lassen wir das.

Jedenfalls konnte ich nicht länger mit ansehen, wie sie diesem so zerbrechlich wirkenden Körper immer noch mehr Wunden zufügten. Im Schlaf verfolgen mich noch heute manchmal seine verzweifelten, qualvollen Schreie - und nicht nur seine... Ich habe Takeo befreit und floh gemeinsam mit ihm in die Wälder. Fortan wurde natürlich auch ich verfolgt."

Madoka schwieg. Sie wartete ab. Er würde von sich aus weitererzählen, das spürte sie.

"Über Takeo lernte ich die Widerstandsbewegung kennen, die hier in Kyoto von Sayan Shigeru geführt wird. Ich... beschloss bei ihm zu bleiben. Niemals wieder soll er so verletzt werden. Ich werde nicht von seiner Seite weichen. Ich werde ihn beschützen. Was auch passiert..."

Madoka sah den jungen Mann mit wachsendem Erstaunen an. Sie konnte erkennen, wie er die Fäuste ballte und so fest zudrückte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Stimme klang hart und entschlossen. Sie hatte nie zuvor einen Menschen gesehen, der so sehr meinte was er da gerade gesagt hatte. Ihr wurde klar, dass Shido für Takeo sterben würde, sollte dieser es von ihm verlangen...

Sie konnte die Tiefe dieser Gefühle nicht nachvollziehen - aber sie verstand, dass er an Takeo wiedergutmachen wollte, was er als Mitglied der Shinsengumi unter Yamazaki Mamoru getan hatte. Und sie begriff, dass die beiden Männer eine starke, unerschütterliche Freundschaft verband, die wohl durch nichts wirklich zerstört werden konnte.

Absurderweise empfand sie nun so etwas wie Neid. Solch eine Freundschaft hatte sie niemals kennengelernt.

"Ich... verstehe...", sagte sie. Doch in Wahrheit verstand sie nicht ganz, warum er ihr das jetzt erzählt hatte.

"Ich möchte, dass du das alles weißt, bevor..." Er sah ihr nun direkt in die Augen.

"...bevor deine Gefühle für ihn ernsthafter werden."

Madoka blinzelte.

"Bevor... was?", echote sie dümmlich. In ihren eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme dünn und schwach an. Shido antwortete auch nicht gleich darauf. Es war an sich auch nicht notwendig. Er griff nach ihrer Hand.

"Ich habe gesehen wie du ihn ansiehst..."

Madoka widerstand dem Impuls die Hand zurückzuziehen. Entgegen ihrer inneren Stimme, die immer wieder schrie, das Leugnen keinen Sinn ergab und sie sich nur lächerlich machte, sagte sie: "Ich? Wie soll ich ihn denn ansehen? Er ist... grob, gemein und... einfach nur unfreundlich! Ich täte besser daran einen... einen FISCH im Aquarium anzusehen, als IHN! Der ist zwar auch kalt

- aber nicht so gefühllos!"

Shido lächelte. Sonst nichts. Er saß nur da und lächelte sie an. Die junge Frau resignierte.

"Ich... Es tut mir Leid. Ich weiß ja nun, warum er so ist wie er ist. Warum er sich so... benimmt..."

Shido drückte ihre Hand.

"Dann hab Geduld. Durch den Bürgerkrieg ist er anders geworden. Er kann grausam sein, aber etwas von dem alten Takeo, jenem Kind von damals, muss noch tief in ihm schlummern. Jetzt bin ich mir sicher: Er wird sein Herz noch ein Mal öffnen. Demjenigen, dem er vollstes Vertrauen schenkt. Wenn du dies dann annimmst, dann möchte ich nur, dass du dir klarmachst, was das bedeutet."

Er schüttelte leicht den Kopf.

"Ich habe ihn noch nie zuvor lächeln sehen. Und dann tauchst du auf und..."

Täuschte sie sich, oder hörte sie tatsächlich eine leise Verbitterung in seiner Stimme? Warum?

Shido räusperte sich, ließ ihre Hand abrupt los und streckte den Rücken.

"Ich möchte nur nicht, dass ihm noch jemand wehtut... Bitte versteh das."

"Ich verstehe..", sagte sie leise. Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie er aufstand, sich durch die Vorhänge nach draußen arbeitete und auf die Liege mit seinem Freund zuging.
 

Und dann spürte sie, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Es tat weh. Aber sie würde beherzigen, was sie soeben gehört hatte. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, was sie geträumt hatte. Vielleicht

hatte sie sich in den jungen Samurai verliebt und selbst die Tatsache, dass er ein Mörder war, konnte diese Gefühle in ihrem Inneren nicht zurückdrängen. Aber ob dies nun so war oder nicht - sie würde Takeo niemals ihre Gefühle offenbaren. Denn sie gedachte nicht hier zu bleiben. Was machte sie sich überhaupt Gedanken? Dies alles hier würde mit etwas Glück bald ihrer Vergangenheit angehören.

Und dann würde sie auch Takeo vergessen müssen. So war es das Beste. Für ihn und für sie selbst. Sie musste dieses vertraute Gefühl, das sie immer in seiner Nähe empfand, ignorieren. Und sie musste auch den Traum vergessen. Es war wirklich besser, die Ereignisse hier nicht zu nah an sich heranzulassen.

Dennoch...

Während sie aufstand und sich nun selbst einen Weg durch die Vorhänge bahnte hörte ihr Herz nicht auf zu schmerzen. Und sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sich das auch nicht mehr ändern würde.

Vielleicht so lange sie lebte...

Schwert mit "verkehrter Klinge" - Reverse blade sword

"Madoka..."

Sie hielt inne und drehte sich herum. Hinter ihr stand der Halbdämon, Yasha. Er sah verlegen aus. In den Händen trug er frische Verbände, die er wohl gerade von irgendwo geholt hatte.

"Ich... wollte nicht unhöflich sein. Aber ich... habe den Rest eures Gespräches eben mit angehört..."

Er wartete kurz ab und warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. Dann sah er zu den anderen hinüber und bedeutete ihr mit einem knappen Kopfnicken, ihm zu folgen, weiter von der Gruppe fort. Überrascht und mit einem flauen Gefühl im Magen kam sie der Aufforderung nach.

"Ich will mich nicht einmischen. Sicher nicht. Was ihr Menschen tut oder lasst ist mir gleich. Aber... der Junge da...", er wies mit dem Kinn zu Takeo hinüber, der sich unter den Händen seiner Pfleger soeben stöhnend und mit vor Schmerz verzerrten Gesichtszügen aufbäumte (insofern hatte Madokas

Traum wohl die Wahrheit gezeigt...).

"Er... Nun wie soll ich sagen..."

Madoka konnte sich - obwohl sie sich erst so kurze Zeit kannten - nicht vorstellen, warum dieser Halbdämon jemals um Worte verlegen sein sollte. Aber er war es. In diesem Augenblick trat er von einem Fuß auf den anderen und vermied es sogar, sie direkt anzusehen.

"Ich will dir nicht weh tun. Und auch dem... seinem Freund nicht. Aber... Nun..."

"Jetzt reicht es aber. Du machst mir Angst! Was ist mit Takeo?"

Madoka trat vor und fasste Yasha am Arm. Dieser sah mit einem Ruck auf - und sie erkannte tatsächlich so etwas wie einen leichten Schmerz in seinen bernsteinfarbenen Augen.

"Aurinia fürchtet, dass er schwerer verletzt ist, als wir alle angenommen haben. Er wurde in letzter Zeit oft verwundet, oder?"

Er wartete eine Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:

"Er hätte sich mehr schonen sollen. Sein Körper... ist zwar nicht schwach, aber doch eher... Was ich sagen möchte ist einfach, dass er sich umbringt, sollte er so rücksichtslos mit seinem eigenen Leben und Körper umgehen wie bisher. Er ist kein Dämon. Wenn nicht dieses Mal, so wird er auf JEDEN Fall einen seiner nächsten Kämpfe nicht überleben, sollte er erneut so schwer verletzt werden."

Madoka hatte die Augen aufgerissen und hörte die Worte wie aus weiter Ferne. Ihr schwindelte. Es war so, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen oder einen körperlichen Hieb verpasst. Takeo starb?

Jetzt?
 

Yasha trat zu ihr und stützte sie.

"Aurinia tut was in ihrer Macht steht, um ihm zu helfen. Glaube mir, wenn es jemanden gibt, der ihn retten kann, dann ist das Aurinia. Vertrau ihr!"

Madoka sah aus tränenverschleierten Augen in Yashas Gesicht und krallte verzweifelt die Hände in sein rotes Gewand. Mörder oder nicht, zurück nach Hause oder nicht... Der Gedanke Takeo zu verlieren... DAS tat ZU weh. Und Madoka erkannte mit gelindem Schrecken die Antwort auf ihre Frage von vorhin im Wald: Ja, anscheinend WAR sie verliebt. Wider ALLEN Regeln der Vernunft.

"Madoka, sieh mich mal an. Ich möchte nur nicht, dass es dich völlig unerwartet trifft, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. Wir alle stehen euch bei."

Als sie auffahren wollte machte er eine beschwichtigende Geste und fuhr fort:

„Aber wie gesagt, es steht ja nicht fest, dass es dazu kommen muss. Aurinia kämpft um sein Leben. Und vielleicht hilft es Takeo ja bereits zu wissen, dass er… gebraucht wird…“

Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu.

Madoka starrte den Halbdämon entgeistert an. Nachdem sie sich so... "unverblümt" kennen gelernt hatten und sie den Halbdämon von ihrem ersten Eindruck her als sehr starrsinnig, launisch und

manchmal sogar aggressiv einschätzte, hätte sie SOLCHE Worte niemals von ihm erwartet. Doch in diesem Moment war er so ernsthaft, wie man es nur sein konnte, und sah wirklich mitfühlend aus, während er sie so stützte. Madoka konnte es nicht glauben. Stand sie wirklich hier und ließ sich von einem Hundedämon Mut zusprechen?

Nichtsdestotrotz fühlte sie, wie sie schon wieder errötete.

"Aber... ich kenne Takeo doch erst... Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt..."

Yasha zuckte mit den Schultern und schaute hinüber zu den anderen, die rund um Takeos Liegestatt saßen.

"Du musst natürlich selbst wissen, was du tust. Ich kann und will dir da nicht reinreden. Ist womöglich auch nicht das Beste, sich einem Hitokiri so zu öffnen. Aber vielleicht… Nun ja, was weiß ich denn schon. Ich bin ja bloß ein Hundedämon…", brummelte er. Er drehte sich um und schritt zurück zur Liege Takeos.

Und gegen ihren Willen musste Madoka bereits wieder lächeln. Dann folgte sie dem Halbdämon.
 

Sie hatten das Krankenlager erreicht. Aurinia sah mit einem ermutigenden Lächeln zu ihnen auf. Madoka hatte das Gefühl zu wissen, wer hinter Yashas plötzlicher Sanftmut und seinem mit

einem Mal aufgetauchten Einfühlungsvermögen stecken könnte. Die Yosei wischte sich die Hände an einem Tuch sauber und erhob sich seufzend.

"Schau nicht so entsetzt, Madoka-chan."

Sie kam ihr entgegen und legte den Arm um ihre Schultern.

"Oder was hat dir das kleine Hündchen erzählt?"

Sie sah liebevoll in Yashas Gesicht, der wütend die Lippen zusammenpresste - und Madoka wusste mit plötzlicher Sicherheit, dass diese beiden MEHR waren als nur Freunde. Da war etwas in ihren Augen...

Dann sah sie Madoka direkt an.

"Yamazaki wird nicht sterben. Nicht heute Nacht."

Sie lächelte sanft.

„Du kannst ein wenig bei ihm bleiben, wenn du das möchtest.“

Madoka war einmal mehr komplett sprachlos.

Was ging hier vor? Woher konnte sie wissen…?

Aurinia lächelte jetzt über das ganze Gesicht und klatschte in die Hände.

"Ihr könnt jetzt gehen. Es ist gut.", sagte sie an die Dienerinnen gewandt, die sich gleich darauf erhoben und mit zahlreichen Verbeugungen leise kichernd den Raum verließen. Es war Madoka völlig unverständlich, wie man in Anwesenheit eines tödlich Verwundeten so albern sein konnte. Aurinia beugte sich zu Shido-san hinunter, der besorgt neben Takeos Liege kniete, und legte ihm die Hand auf die Schulter.

"Komm, lass uns gehen. Möchtest du nicht das Pferd - wie war noch sein Name? Akuma? - holen? Es fühlt sich mit Sicherheit wohler, wenn es in einer unserer trockenen Höhlen stehen kann. Yasha kann dir zeigen, wo die Verschläge sind."

Widerwillig - und mit einem eindeutig vorwurfsvollen Blick in Madokas Richtung - ließ sich Shido fortführen.
 

Und dann stand die junge Frau allein neben der Liege. Ganz wie in ihrem Traum.

Nein, nicht ganz...

Sie war zwar wirklich äußerst besorgt um Takeo, der neben ihr auf der Liege unruhig zu schlafen schien, aber... sie war auch so durcheinander, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Plötzlich war ihr einfach nur noch nach Hinhocken und Heulen zumute. Sie wollte nach Hause. Jetzt so sehr wie noch nie zuvor, seit sie diese seltsame "Welt" betreten hatte. Und sie sollte nun jemandem Mut zusprechen? Jemandem sagen, dass sie ihn brauchte, obwohl sie möglicherweise nur aus Furcht überhaupt so reagierte und für den erstbesten, dahergelaufenen Menschen Zuneigung zu

empfinden glaubte, damit sie sich auch ja nicht allein fühlen musste? Mut. Ja, dass war es, was sie jetzt brauchte. Am besten gleich für zwei.

Sie sah hinunter auf Takeos hübsches Gesicht und versuchte sich EINDEUTIG über ihre Gefühle klar zu werden. Es war unmöglich Liebe, was sie für diesen jungen Samurai empfand.

Mitleid? Ja, ganz sicher.

Verliebtheit? Das lag auf der Hand.

Aber Liebe?

Sie fand die Antwort in sich, als er plötzlich unter einer qualvollen Hustenattacke zusammenzuckte. Er spie Schleim und Blut und verschluckte sich beinahe daran. Madoka war sofort bei ihm, ignorierte wieder einmal den Schmerz, den sie am eigenen Leib zu spüren schien, als sie ihn so sah. Hier und jetzt war Takeo nichts als ein leidender Mensch, der ihr viel bedeutete. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Mann ein Mörder sein sollte und er litt Qualen, wie es jeder andere Mensch in seiner Situation auch tun würde. Behutsam drehte sie seinen Kopf zur Seite und säuberte mit einem der Tücher, die in einer Schale neben dem Bett standen, seinen Mund. Er hustete noch mehr. Seine Hand schoss hinauf und schloss sich um ihr Handgelenk, so fest, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte.

"Takeo..."

Dunkles Blut färbte den soeben angelegten Verband um seinen Unterleib rot. So ging das nicht. Er schien keine Luft mehr zu bekommen. Er musste sich aufsetzen.

"Takeo! Wach auf, komm schon! Du MUSST aufwachen!"

Angst um ihn schnürte ihr die Kehle zu. Sie rüttelte an seinen Schultern. Dann griff sie ihm einfach kurzentschlossen unter die Achseln und setzte ihn selbst in eine aufrechte Position, wobei sie sich allerdings neben ihm niederlassen musste, um seinen Oberkörper abzustützen.
 

Takeo war jetzt wach.

Er beugte sich weiter vor, hustete noch einmal sehr heftig - und erbrach sich dann über die Decke und den Boden. Schwer atmend und vollkommen ausgelaugt saß er mit bebenden Schultern da und schluckte mühsam. Madoka hatte schon das eine oder andere Mal dabei gestanden, wenn sich jemand übergab. Und jedes Mal war ihr selbst schlecht geworden. Doch dieses Mal war es anders. Die Sorge ließ sie den Ekel, den sie vielleicht empfinden mochte, vergessen. Sie hob die Hände und strich das lange Haar des jungen Mannes zurück und aus seinem Gesicht. Dann stand sie kommentarlos auf und machte sich daran, die Decke zusammenzunehmen und den Boden zu säubern. Als sie alles notdürftig gereinigt hatte und zu ihm aufsah, hatte Takeo scheinbar beschämt den Kopf gesenkt. Sie setzte sich vorsichtig neben ihn, streckte die Hand nach ihm aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.

"Wie fühlst du dich?", fragte sie stattdessen.

"Ich... ein wenig besser."

Takeo fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, sah sie jedoch immer noch nicht an.

"Was auch immer diese Frau mir verabreicht hat - ich habe es nicht vertragen. Mir war so schlecht..." Er brach ab. Eine Weile lang sagte niemand etwas. Dann:

"Es tut mir leid.", murmelte er verlegen.

Madoka sah ihn von der Seite her an - und wenn sie sich selbst in diesem Moment hätte beobachten können, dann hätte sie den Ausdruck in ihren Augen gesehen und auch ihre Frage von kurz zuvor wäre beantwortet gewesen. Sie hätte sich nicht mehr so quälen müssen.

"Das muss dir nicht leid tun.", antwortete sie ruhig. In ihrer Stimme schwang etwas von der Besorgnis mit, die sie trotz seiner Worte immer noch empfand. Er hob den Kopf - und Madoka konnte nichts anderes tun, als den Blick dieser großen, dunkelblauen Augen zu erwidern. Ihr Kopf war mit einem Mal wie leergefegt.
 

Der Moment verging. Er sah wieder auf seine Hände hinab. Die junge Frau räusperte sich verlegen.

"Ah... du solltest dich wieder hinlegen. Auch wenn du dich besser fühlst, versuche ein wenig zu schlafen, Takeo-san."

Sie stand auf und schüttelte geschäftig sein Kissen auf, damit er ihr Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte. Anschließend bugsierte sie ihn sanft in die Kissen zurück.

"Wie sieht es mit dem Fieber aus?", fragte sie und legte prüfend eine Hand auf seine Stirn. Sie war immer noch schweißnass, aber ihres Erachtens nach nicht zu heiß. Mit ehrlich empfundener Erleichterung wagte sie es nun ihn wieder anzusehen. Der Blick seiner Augen war undeutbar. Bevor sie sich fragen konnte, ob es Trauer, Wut, Hilflosigkeit oder irgendetwas in dieser Art sein könnte schloss er mit einem erleichterten Seufzen die Augen.

Eine ganze Weile lang geschah gar nichts. Er schien endlich eingeschlafen zu sein.

Madoka wollte sich gerade erheben, um ihn nun schlafen zu lassen, als sie erneut seine Hand spürte. Er legte sie über ihre. Als sie nun aufsah waren seine Augen offen und er sah sie direkt an.

"Geh nicht weg. Bitte."

Das war alles.

Er sagte nichts mehr - und das für Tage nicht mehr, denn er sollte nun tatsächlich durchschlafen.

Aber Madoka saß da und fühlte, wie diese Worte in ihr tiefstes Inneres vordrangen und sich dort einbrannten wie ein heißes Feuer, das niemals auch nur eine Sekunde verlöschen würde. Sie saß da wie betäubt, spürte die Wärme seiner Hand auf ihrer und wünschte, dieser Moment würde ewig anhalten. Und in diesem Augenblick wurde ihr endgültig klar, dass sie sich etwas vormachte

wenn sie glaubte, dass sie Takeo NICHT lieben würde...

Sie hatte ihre Antwort gefunden.

Zumindest auf EINE Frage.
 

~~~oOo~~~
 

Tage vergingen, an denen sich die unfreiwilligen Gefährten ausruhen konnten und während denen sich der Zustand des jungen Samurai beständig besserte. Tage, während denen Madoka mit sich und ihrem Schicksal haderte, an denen sie versuchte schlau aus sich selbst und ihren Gefühlen für Takeo zu werden. Alles WAS sie wusste war, dass diese Gefühle mit jedem einzelnen Tag der verging zunahmen - wo auch immer das hinführen mochte.

Sie erkannte sich selbst kaum wieder.

So war sie nicht. Nein. Sie gehörte für gewöhnlich nicht der Art von Frauen an, die sich sofort und unwiderruflich verliebten. Liebe auf den ersten Blick? Sie war immer der Meinung gewesen, dass es so etwas nur in Romanen gab. Und jetzt das.

War das möglich?

Was zog sie so an, an diesem jungen Mann?

Dieses Gefühl der Vertrautheit, dass sie in seiner Nähe empfand, war nicht gewichen. Es nahm sogar immer mehr zu. Es war, als wenn es so hatte kommen müssen, als wäre es ihr hier und in dieser Zeit BESTIMMT auf Yamazaki zu treffen und sich in ihn zu verlieben. Es war ein durch und durch unwirkliches, seltsames Gefühl und wäre es nicht so lächerlich, so würde sie denken, dass eine höhere Macht sie sowohl in diese Zeit, als auch genau hierher, an diese Stelle und an die Seite des jungen Mannes geschickt hatte.

Sie hatte einige Male versucht mit Aurinia darüber zu sprechen. Doch die junge Yosei gab sich als erstaunlich wortkarg, wenn es um solche Themen ging. Das fand Madoka zwar eigenartig, doch sie drang nicht weiter in sie.
 

Einige Tage nach ihrer Ankunft in den Höhlen sah Madoka Takeo bereits wieder trainieren. Sie liebte es ihm dabei zuzuschauen, sich leise irgendwo hinzusetzen und heimlich das Spiel der langen, straffen Muskeln unter seiner Haut, die feinen Schweißperlen auf seiner Brust, die das Licht in der Höhle einfingen und wie kleinste Diamanten zurückwarfen, und das fliegende, lavafarben-schimmernde Haar zu bewundern, wenn er seine Schwertkampftechniken übte. Die Schwerelosigkeit, die Grazie, die er dabei an den Tag legte war manchmal einfach nur atemberaubend. Der Schwertkampf war tötlich. Doch diese Übungen waren einfach nur wunderschön und faszinierend anzusehen.

Manchmal leistete Shido-san Madoka beim Zuschauen Gesellschaft, wobei er ihr hin- und wieder äußerst seltsame Blicke zuwarf. Madoka bildete sich ein, eine unterschwellige Warnung darin zu lesen: Wenn du ihm wehtust werde ich dafür sorgen, dass du ihm nicht mehr zu nahe kommst. Wo sie sich zuvor blendend mit Kanzaki-san verstanden hatte, kühlte die Temperatur zwischen ihnen in genau dem gleichen Maße ab, wie sich sein Freund Takeo langsam für Madoka erwärmte. Wenn Takeo die junge Frau jetzt bemerkte und feststellte, dass sie ihm zusah, dann schickte er ihr nicht einen von jenen fürchterlich kalten und abweisenden Blicken mehr zu, sondern nickte nur kurz oder grüßte auf andere Weise, ließ sie jedoch ansonsten völlig in Frieden. Er war zwar so wortkarg wie zuvor, aber Madoka fühlte sich nicht mehr so unwohl und "ungewollt" wenn sie an seiner Seite war, wie noch vor einigen Tagen. Wahrscheinlich war das für den jungen Samurai schon ein riesengroßer Schritt und ein großes Entgegenkommen.

Sie verlangte gar nicht mehr. Sie wusste nun, dass sie ihn sehr gern hatte. Aber sie war zufrieden, wenn sie in seiner Nähe sein konnte. Vielleicht sollte sie dies auch Shido-kun sagen. Dann hörten die giftigen Blicke möglicherweise auch auf.

Sie gedachte nicht, Takeo weh zu tun.
 

An diesem Tag trainierte Takeo zum ersten Mal wieder mit seinem Langschwert. An Akumas Sattel war ein Bambusschwert befestigt gewesen, mit dem er ab und zu trainierte, wie Shido ihr einmal auf eine Frage hin erzählte. Und auch hier, in den letzten zwei Tagen nach seiner Genesung, hatte er zunächst mit dem Bambusschwert geübt. Doch das eigentliche Training begann erst mit dem richtigen Schwert, dem Katana.

Während er die blanke Klinge durch die Luft wirbeln ließ fiel Madoka zum ersten Mal auf, dass die Schneide nicht so makellos glänzte, oder vielmehr ANDERS aussah, als sie das beispielsweise aus alten Samurai-Filmen kannte. Etwas daran irritierte sie. Die Klinge wirkte... matter. Sie fragte auch dies den neben ihr sitzenden Shido.

Der ließ sich mit der Antwort Zeit, löste sein Stirnband und versuchte es neu zu wickeln. Madoka fand sich schon damit ab keine Antwort mehr zu bekommen, als er ruhig sagte:

"Takeo will nie wieder einen Menschen töten. Die Schwerter, die er benutzt haben eine "verkehrte Klinge". Alle. Auch die Kodachi. Das bedeutet, dass die geschliffene Schneide auf der Innenseite der Klinge ist."

Madoka starrte ihn verblüfft an. Sie konnte sich zwar einen Reim darauf machen, nachdem sie von Takeos schrecklicher Kindheit und seinem Dasein als Attentäter erfahren hatte, und sie hatte schon von Kriegern mit solch einem Schwert gehört, aber dass er mit stumpfen Klingen gegen beinahe übermächtige Feinde kämpfte... Wollte er sein Leben wegwerfen?

Ihre Gedanken mussten ihr deutlich anzusehen sein, denn Kanzaki fuhr fort:

"Ich weiß, was du jetzt denkst, aber genau das ist der Fehler, den auch seine Feinde begehen: Sie halten ihn dadurch für schwach. Sie unterschätzen ihn. Aber hier liegt auch sein absoluter Vorteil: Er kann die Gegner vollkommen überraschen, indem er sie vom Gegenteil überzeugt. Takeo ist nach wie vor einer der talentiertesten Schwertkämpfer die es gibt - ob nun mit oder ohne scharfe Klinge. Er beherrscht Techniken des Hiten Mitsurugi-Kampfstils, von denen seine Feinde nur träumen können. Ich habe ihn kämpfen sehen. Wenn er losschlägt ist er wie ein Sturm, der über seinen Feinden hereinbricht, und unglaublich schnell."

"Und dennoch willst DU ihn beschützen?", fragte Madoka skeptisch und mit wohlwollendem Spott.

"Es kommt vielleicht irgendwann einmal der Tag, an dem er meine Hilfe benötigt. Dann werde ich bei ihm sein. Das habe ich mir geschworen.", antwortete Shido bitter. "Du verstehst das nicht."

Er erhob sich und ging.

Madoka sah ihm nachdenklich hinterher. Die Beziehung zwischen diesen beiden Männern war tatsächlich etwas, das sie nicht vollkommen verstand.
 

~~~oOo~~~
 

Und dann kam der Tag, an dem Takeo den anderen mitteilte, dass er zusammen mit Shido-san aufbrechen wollte, um die verstreuten Reste der Gruppe um Shigeru-sama in Kyoto und der Umgebung aufzuspüren.

"Ich habe vor, die Organisation aufrecht zu erhalten. Falls Sayan-sama tatsächlich tot ist, haben wir uns um ihre Zukunft zu kümmern und ein neues Oberhaupt zu wählen. Jetzt sind wir als Gruppe schwach und angreifbar, da führerlos und ohne Konzept wie es weitergehen soll. Die Shinsengumi ist

nicht dumm. Sie werden uns Fallen stellen, uns aufreiben wollen, jetzt noch mehr denn je."

"Einen Vorteil haben wir.", führte Shido den Gedanken weiter.

"Vorerst sind sie gar nicht in der Lage uns wieder anzugreifen. Unsere Gruppe ist zur Zeit so versprengt, dass selbst wir Schwierigkeiten haben dürften, die verbliebenen Mitglieder zu finden. Wir wollen sie natürlich trotzdem suchen gehen. Wir brauchen jeden Mann."

Alle schwiegen. Die einzige Reaktion auf diese Worte war das nervöse, vielleicht auch ein wenig missbilligende, Zucken von Yashas Ohren.

"Und du glaubst, dass du sie VOR der Shinsengumi finden kannst."

Er sah bei diesen Worten nicht Shido, sondern Takeo an. Dieser zuckte mit den Schultern.

"Wir müssen es versuchen."

Er erhob sich und bat Aurinia um ein wenig Proviant. Auch Shido erhob sich. Er gab an, dass er sich um das Pferd kümmern würde und verschwand in eine der angrenzenden Höhlen, in welcher Madoka die Verschläge für Pferde wusste. Momentan war jedoch nur eine Box belegt: Die von Akuma.

Aurinia sprach leise auf Takeo ein, als Madoka zu ihnen trat.

"Ich möchte, dass du dich nicht überanstrengst. Ich will dir nicht vorschreiben, was du zu tun oder zu lassen hast. Aber du solltest deine Kräfte nicht überschätzen. Dein Körper ist noch immer geschwächt. Sei einfach vorsichtiger."

Takeo, der nebenbei die Schwerter an seinen Seiten verstaute und sich die Lederplatten-Rüstung anlegte, verzog nicht eine Miene.

"Takeo! Nimm es nicht auf die leichte Schulter! Es nützt niemandem etwas, wenn du dich umbringst!"

Die sonst so ruhige und gelassene Yosei wurde nun doch langsam ungehalten. Dieser Mensch war tatsächlich genauso stur wie der Halbdämon. Aber sie wusste auch, dass er nicht auf sie hören würde. Ein Teil von ihr... rechnete sogar damit...

"Niemand sagt, dass ich das will.", entgegnete er ruhig. Er warf das lange Haar zurück und zog die ledernen Gurte um seine Handgelenke fest. Aurinia seufzte, verdrehte kommentarlos die Augen und ging Shido entgegen, der soeben mit Akuma am Zügel herankam. Das nachtschwarze Pferd wirkte erfrischt und ausgeruht. Wachsam hatte es die Ohren aufgestellt, als würde es alles mitbekommen, was um es herum geredet wurde.
 

Madoka trat auf Takeo zu, als dieser seine Beinpanzer festzog. Sie wollte so viel sagen, brachte nun aber kein Wort heraus. Alles was sie tat war ihn nach wie vor fasziniert anzusehen. Der junge Samurai richtete sich auf und drehte sich zu ihr herum. Ja, wahrhaftig. Er war nun ein Samurai. Schon lange kein Hitokiri mehr.

Madoka hatte keine Ahnung, dass ihre Gefühle in diesem Moment deutlich in ihrem Gesicht zu lesen waren, so offen wie in einem Buch. Takeo schwieg. Er erwiderte ihren Blick lange und mit einer Intensität die sie schaudern ließ. Das war neu. Er hatte sie noch nie so bewusst lange angesehen. Es war jedoch ein äußerst angenehmes Gefühl. Und während sie in seine Augen sah, erkannte sie plötzlich etwas sehr Erschreckendes und Beunruhigendes: Er hatte nicht vor zurückzukommen. Dies hier war für ihn ein endgültiger Abschied.

Ihre Augen weiteten sich.

"Du... hast nicht vor zurückzukommen, oder?", sprach sie mit zitternder Stimme aus was sie dachte.

Takeo schwieg. Er hielt ihrem Blick jedoch stand.

"Dann... dann nimm mich mit! Ich werde..."

Der junge Schwertkämpfer trat so nah an sie heran, dass sie nur noch eine Handspanne voneinander trennte.

"Du bleibst hier, bei Yasha und Aurinia. Solange ich weiß, dass du hier bist, brauche ich mir nicht auch noch Sorgen um deine Sicherheit machen."

Madoka presste stur die Lippen zusammen.

"Ihr wollt mich hierlassen?"

"Madoka, überleg doch einmal. Aurinia hat versprochen für dich einen Weg zurück in deine Welt zu finden. Wenn dir überhaupt jemand helfen kann, dann sie. Ich bin sicher, dass ist genau das, was du auch willst. Ist es nicht so?"

War es so? Sie sah in sein Gesicht, ein Gesicht, das sie sehr liebgewonnen hatte, und in blaue Augen, die noch vor einigen Tagen kalt wie Eis auf sie herabgesehen hatten und nun mit einer Wärme erfüllt waren, die Madoka gänzlich einzuhüllen schien. Allein das war schon unglaublich.Und sie hatte keine Ahnung, was sie erwidern sollte.

Sie WOLLTE zurück in ihre Zeit, ja natürlich. Aber... Herrgott noch Mal! Warum war das Schicksal so grausam zu ihr, dass sie ausgerechnet hier, in einer fremden Zeit, an einem völlig fremden Ort, den

Menschen kennen lernte, dem sie bedingungslos vertrauen wollte? Den sie liebte? Sie leugnete nicht mehr. Sie wollte bei ihm bleiben! Immer!

Aber sie gehörte nicht hierher.

Der junge Mann, der vor ihr stand, hatte vor langer Zeit gelebt und nur der Zufall (oder was auch immer) hatte es ermöglicht, dass sich ihre Wege kreuzten. Vielleicht war er sogar um hundertfünfzig Ecken mit ihrer Familie verwandt, ihr Urururururahne - sozusagen. Ihr schwindelte. Es war verrückt auch nur darüber nachzudenken.

Nein. Sie konnte, sie DURFTE ihm ihre Gefühle niemals gestehen, so einfach war das. Diese Bürde würde sie bis zum Ende selbst tragen müssen. Sie seufzte tief und hoffte, dass man ihre widersprüchlichen Gefühle nicht allzu deutlich in ihrem Gesicht ausmachen konnte.

"Ja, ich will zurück nach Hause...", sagte sie mit einiger Verspätung.

"Na, siehst du." Takeo legte eine warme Hand auf ihre Schulter.

"Und du WIRST auch zurückkehren. Glaub daran. Und deine neue Freundin wird dir helfen. Mach dir keine Sorgen."

DARÜBER machte sie sich auch keine Sorgen...

Madoka legte ihre Hand leicht auf seine. Sie konnte nicht anders.

"Sei vorsichtig...", sagte sie leise.

Er blinzelte. Ein seltsam melancholischer Ausdruck erschien in seinem Blick. Dann drückten die Finger seiner Hand leicht ihre Schulter.

"Ich werde mich bemühen..."

Ein leichtes, ganz leichtes Lächeln, glitt über seine Züge.

Madoka verspürte wieder einen tiefen Stich in ihrem Inneren, dort wo sich ihr Herz befand. Die Legende vom Herzschmerz war zwar rein medizinisch gesehen kompletter Unsinn - aber hier spielten Körper und Seele zusammen und für die junge Frau war dieser Schmerz gerade sehr real.

Takeo ließ ihre Schulter los, ihre Hand glitt herab, und er drehte sich herum - zumindest wollte er es.
 

Ihre Hand schoss vor und hielt ihn am Arm zurück.

"Warte!"

Sie hob die Hände hinter ihren Kopf, begann in ihrem Nacken zu nesteln und löste die dünne Silberkette, die sie immer um den Hals trug und die sie, seit sie sie damals von ihrem Vater bekam, nicht ein einziges Mal abgelegt hatte. Sie besaß einen fingernagelgroßen Anhänger in Form einer kleinen, aufgerichteten Schlange.

"Trag das. Bitte."

Sie hielt ihm die äußerst feingliedrige Kette hin und er starrte verständnislos darauf, rührte keinen Finger. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den anderen.

"Eigentlich ist es purer Aberglaube - aber ich denke doch, dass sie Glück bringt."

'Schließlich hat sie mich letztendlich auch zu dir geführt...', fügte sie in Gedanken hinzu.

Der junge Krieger hob die Hand und berührte das Silber. Sein Daumen strich über die dünne, filigrane Kordel.

"Legst du sie mir an?"

Kein "Was soll ich damit?" oder "Ich glaube nicht an so einen Blödsinn." Die junge Frau hatte alles erwartet - nur nicht, dass er sie anstandslos annehmen würde.

Er drehte sich herum und hob seinen langen Zopf. Madoka trat mit klopfendem Herzen an ihn heran. Ihre Finger zitterten leicht, als sie um seinen schlanken Hals herumfasste und ihm die Kette umlegte. Sie bekam den Verschluss nicht zu.

"Ahh... Verdammt... Warte, es klemmt irgendwie..."

Lauter und lauter schlug ihr Herz - so meinte sie. Er MUSSTE es einfach hören. Sein Haar duftete schwach nach Honig und den Blüten, die hier allgegenwärtig und selbst im Wasser waren. Endlich - endlich! - hatte sie es geschafft und den Verschluss geschlossen. Erleichtert trat sie zurück.

"Okay...", sagte sie.

"Okay?", echote er verständnislos.

Madoka starrte blödsinnig zurück. Was meinte er? Dann klingelte es bei ihr.

"Ach so, das ist ein Ausdruck, den wir in meiner Zeit dafür benutzen, wenn wir etwas in Ordnung finden.", erklärte sie lächelnd.

"In deiner Zeit..." Er betonte dies sehr merkwürdig. Dachte etwa auch Takeo über die Unterschiedlichkeit ihrer "Welten" nach? Dann bewegte er den Kopf, als würde er einen Gedanken abschütteln und lächelte sie schräg an.

"Ich... danke dir." Seine Hand wanderte unwillkürlich wieder hinauf zu der Kette.

"Vielleicht hast du die Möglichkeit, sie mir irgendwann wiederzugeben. Wenn du mir nun zusagen würdest, dass du sie für mich aufbewahren und... nun ja, wenn du sie mir eben irgendwann... vielleicht... wiedergeben willst, dann weiß ich, dass ich dich..."

Sie brach hilflos ab.

"...vielleicht wiedersehen werde?", half Shido aus. Madoka fuhr ertappt zusammen. Der große, junge Mann war hinter ihnen herangekommen und blickte sie nun mit undeutbarem Ausdruck in seinen dunklen Augen an. Er hatte sie überrascht. Nichtsdestotrotz hatte er genau ihre Gedanken wiedergegeben: Das, was sie hatte sagen wollen und doch nicht hatte formulieren können.

"Mach dir keine Sorgen, Mado-chan.", sagte Kanzaki jetzt.

"Ich werde auf ihn aufpassen. Das habe ich IMMER getan."

Er nickte ihr zum Abschied zu. Mehr nicht.

Takeo lachte leise. Es war überhaupt das erste Mal, dass sie ihn lachen hörte! Ein wohliger Schauer jagte ihr den Rücken hinunter.

"Lass gut sein Shido-kun. Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen."

Zu Madoka gewandt sagte er:

"Vielleicht sehen wir uns wieder, Madoka-chan. Und wenn es so sein sollte, dann wirst du die Kette bei mir finden. Immer."

Die junge Frau verspürte einen mächtigen Kloß im Hals. Wenn er nicht gleich verschwand, würde sie wie ein Kleinkind plärrend an seiner Schulter landen.
 

Und dann tat Takeo etwas, das Madoka über die folgenden Tage, sogar Wochen begleiten sollte, wie ein wunderbarer Sonnenstrahl, der eigens für sie vom Himmel gefallen war und nun einzig und allein ihr gehörte. Er lächelte noch ein letztes Mal, hob den Arm und strich ihr, noch während er bereits losging, leicht mit dem Handrücken über die Wange - so wie er es auch in ihrem Traum getan hatte!

Madoka wollte die Hand heben, sie wollte seine Finger berühren, ihn festhalten und nie wieder gehen lassen - und als er endlich auf das Pferd stieg und so von Shido-kun aus der Halle geführt wurde, ohne dass er sich noch einmal umsah, als er endlich außer Sicht war, da fühlte sie sich plötzlich, als hätte jemand einen Schleier von ihren Augen, ihrem Bewusstsein, genommen. Die starrte noch sekundenlang in die Richtung, in welcher Takeo und Shido verschwunden waren, und fühlte sich mit einem Mal sehr verlegen. Wie benahm sie sich denn überhaupt?

Wie ein kleiner, verknallter Teenie! Was um Himmels Willen war in sie gefahren?

Sie HASSTE beispielsweise Romane, in denen genau solche Situationen auf die ausgeschmückteste Art und Weise beschrieben wurden! Sie HASSTE Schnulzen! Und sie benahm sich gerade original so wie eine Protagonistin aus einer dieser Geschichten: Völlig kindisch, abgedreht und unfähig, einen klaren Gedanken fassen zu können, wenn der Mann den sie liebte in ihrer Nähe war.
 

Denn sie liebte ihn.

Dass er mit einem Mal so freundlich zu ihr war machte es nicht leichter. Im Gegenteil - jetzt würde es RICHTIG schwer werden, die Gefühle für sich zu behalten. Nun gut, vielleicht hatte sie ihn ja auch gerade zum letzten Mal gesehen - dann hatte sich DIESES Problem von selbst erledigt. Auch dieser Gedanke tat erstaunlich weh.

Sie schüttelte unwillig den Kopf. Sie sollte sich darauf konzentrieren nach Hause zu kommen. Sie MUSSTE ihre Gefühle wenn schon nicht vergessen, dann doch zurückstellen. Himmel noch mal, sie musste wieder KLAR DENKEN! Sie benahm sich wie ein Kleinkind!

Als sie sich nun umdrehte stand Aurinia hinter ihr. Madoka war nicht wirklich überrascht. Auch nicht über das sanfte, jedoch merkwürdigerweise leicht sorgenvoll wirkende, Lächeln, das fortan um die Lippen der hübschen Yosei spielte, wann immer sie sich sahen.

Die Liebe eines Hitokiri

Das Geräusch der Hufe auf dem steinernen Boden hallte laut von den Wänden des Hohlweges wider. Akuma suchte sich, von Shido am Zügel geführt, einen Weg durch Schutt und Geröll auf der Erde. Rechts und links des Weges ragten Wände aus Erdreich und Gestein empor, an denen Farne wuchsen und die Bäume auf den Wällen schienen zusätzlich noch das Licht des ohnehin recht trüben Tages zu schlucken. Es nieselte.

Beide hatten kein Wort gesprochen seit sie aufgebrochen waren. Allzu lange waren sie allerdings noch nicht unterwegs. Shido schüttelte das feuchte Haar und fuhr sich mit der Hand über den Mund.

"Spürst du das auch?", murmelte er leise, hielt den Kopf jedoch weiterhin gesenkt.

Takeo hatte schon längst bemerkt, dass sie verfolgt wurden. Er antwortete auch nicht darauf, hatte nur den Kopf leicht schräg gelegt und die Augen geschlossen. Jemand kam.

Und dann raschelte es rechts über ihnen im Gebüsch. Sekunden später sprang der Halbdämon Yasha zu ihnen herunter. Shido blieb stehen und ließ auch das Pferd halten.

"Lasst euch bloß nicht aufhalten.", sagte Yasha dann und begann vor ihnen den Weg entlangzugehen, als würde er einen Spaziergang machen.

"Was willst du?", fragte Kanzaki-san geradeheraus.

"Von dir bestimmt nichts, Igel-Kopf.", meinte der Halbdämon spöttisch und drehte sich dann zu Takeo herum.

"Mit DIR will ich sprechen."

"Es gibt nichts, was ich mit dir besprechen muss, das nicht auch mein Freund hören darf.", antwortete Takeo schlicht. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten. Schweigend gingen sie alle eine Weile Seite an Seite weiter. Dann räusperte sich Yasha.

"Dieses... Mädchen...", er brach ab, überlegte wohl, wie er fortfahren sollte. Shido hatte aufmerksam den Kopf gehoben während der junge Samurai einfach nur weiter stur geradeaus blickte.

"Madoka. Du solltest ihr nicht... zu viele Hoffnungen machen."

Jetzt wandte Takeo doch den Kopf. Einen Augenblick lang wusste er wirklich nicht was er denken, geschweigedenn sagen sollte. Wollte sich denn alle Welt in sein Leben einmischen? Und überhaupt: Was ging das einen Halbdämon an?

"Ich wüsste nicht, was dich das angeht.", sprach er den letzten Gedanken laut aus. Er verzog keine Miene.

"Was mich...?" Yasha schnaubte. "Ich habe ihr gesagt, dass du mir so kommen würdest... Aber NEIN... Ich wüsste schon, wie ich es dir zu sagen hätte... Was für eine ausgezeichnete Idee."

Er schüttelte unwillig sein langes Haar, wie ein Hund, dem es zu nass geworden war. Dann nieste er leise.

"Aurinia hat dich geschickt?", fragte Shido überrascht.

"So ist es. Ich wäre niemals FREIWILLIG noch einmal mit diesem... Sturkopf zusammengetroffen, wenn sie mich nicht darum gebeten hätte."

Shido lächelte breit.

"Für die Kleine würdest du wohl alles tun, oder?"

Yasha sah ihn schräg von unten mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen an. Er sagte nichts.

"Wenn du nur gekommen bist, um mir das zu sagen, dann hättest du dir den Weg sparen können.", sagte Takeo nun.

"Ich lasse mir von NIEMANDEM vorschreiben, was ich tun oder lassen soll. Schon gar nicht von einem räudigen Halbdämon."

Yasha knurrte leise.

"Gut, das war wohl die Retour-Kutsche für gerade eben... Aber es ändert nichts an den Tatsachen, Yamazaki. Dieses Mädchen LIEBT dich. Du solltest sie nicht wiedertreffen. Du weißt ja, dass sie in ihre Zeit zurück muss. Lass sie einfach in Frieden."
 

Takeo blieb stehen. Er kam so nah an das Gesicht des Hundedämons heran, dass sich beinahe ihre

Nasen berührt hätten.

"Das ist ja fabelhaft. Dann richte deiner süßen Aurinia aus, dass ich bereits von selbst auf diesen glorreichen Gedanken gekommen bin. Ich gedenke nicht sie wiederzusehen."

Yasha glotzte.

"Warum streiten wir dann? Mach doch, was du willst! Sturkopf!", zischte er. Und mit einem gewaltigen Satz war er den Wall hinaufgesprungen und wieder zwischen den Farnen verschwunden, als wäre er nie hier gewesen. Takeo ging weiter.

Shido beeilte sich ihm nachzukommen. Eine Weile folgten sie dem Pfad, der nun zu einem breiteren Waldweg wurde, in unbehaglichem Schweigen. Dann sagte Kanzaki leise:

"Was ist mit dir los, Takeo?"

Der andere antwortete nicht.

"Ernsthaft. Ich KENNE dich so gar nicht. In den letzten Tagen bist du so... anders geworden. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, dass du mit einem Mal gesprächiger bist als zuvor oder auch mal lächeln kannst. Ich hatte schon geglaubt, dass du das vollkommen verlernt hast... Aber... Wenn es wirklich an der Kleinen liegt..."

Der junge Schwertkämpfer sah sich nicht zu ihm um.

"Fängst du jetzt auch damit an?"

"Es ist nur das, was mir aufgefallen ist, Takeo-kun! Was ALLEN aufgefallen sein dürfte.", er hob beschwichtigend die Hände.

"Ich will damit nur sagen: Sei vorsichtig. Lass dir nicht von ihr den Kopf verdrehen. Es könnte sein, dass sie sonst Wunden bei dir hinterlässt, vor denen ich dich nicht schützen kann."

Takeo seufzte leise. Und alles was er sagte, so leise, dass sein Freund es nicht hören konnte,

war:

"Dafür ist es bereits zu spät, Shido-san..."

Sie setzten ihren Weg fort. Nur das beständige Geräusch des leichten Regens auf dem Blätterdach hoch über ihnen begleitete sie.
 

~~~oOo~~~
 

Und dies war nun Yamazaki Takeo:

Ein außergewöhnlicher Schwertkämpfer. Ein gnadenloser Gegner und brutaler Mörder, ein Hitokiri. Hunderte hatte er sterben sehen. Dieselbe Anzahl hatte er mit eigenen Händen getötet. Er hatte unglaubliches Leid erlebt - und selbst Leid unter die Menschen gebracht. Er hatte gehofft seinen Frieden finden zu können indem er Rache nahm. Aber die geliebten Menschen aus seiner Vergangenheit wurden dadurch nicht wieder lebendig. Sie kehrten niemals zurück. Er war allein.

Nach wie vor allein.

Und in einem Regen aus Blut GAB es keinen Frieden zu finden. Keinen Frieden - und keine Vergebung.

Was hatte er nur getan? Schon lange quälte ihn die Gewissheit, dass er für viele tausende Menschen

den Inbegriff des Bösen darstellen musste. Nur aus diesem Grund hatte man ihm den Namen "Roter Schatten" gegeben. Und wo auch immer er hinkam, wo man ihn erkannte, da sah er die Angst in den Augen der Leute. Und das Schlimmste war, dass er dies auch nachvollziehen konnte. Wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, dann hätte er all das, was er getan hatte, ungeschehen gemacht. Aber er konnte es nicht. Und so würde er sein Leben lang mit der Gewissheit leben müssen, unzählige Familien zerstört, Väter und Söhne, ja sogar Frauen und Kinder einfach ausgelöscht zu haben, aus dem blinden Glauben heraus, dass er es im Namen der Gerechtigkeit und für den Frieden getan hatte und allein dadurch schon Vergebung erlangen würde.

Er hatte sich etwas vorgemacht.

Wenn er jetzt tötete, dann nur noch, weil er sich verteidigen wollte - das hatte er sich jedenfalls geschworen. Wenn es irgendeine Möglichkeit gab, einen Kampf OHNE Opfer zu beenden, dann würde er sie suchen und finden, dann würde er diese Möglichkeit wahrnehmen und nutzen. Er wollte niemals wieder mutwillig töten.
 

Und dann trat sie in sein Leben.

Madoka.

Er hatte gehofft, die Stimme in seinem Inneren ignorieren zu können, die ihm immer wieder zuflüsterte, dass es dieses Mädchen war, das er beschützen wollte, für das er kämpfen würde, egal was für Opfer dabei gebracht werden mussten. Er hatte keine Ahnung, wo diese intensiven Gefühle so plötzlich hergekommen waren. Es war überhaupt das erste Mal, dass er so fühlte. Vielleicht war es das, was die fahrenden Dichter immer meinten, wenn sie von Liebe sprachen. Er hatte es nie verstanden.

Doch dann war sie mit einem Mal da, diese... Liebe. Zum ersten Mal hatte er es bereits gespürt, als sie gemeinsam auf dem Pferd vor der Shinsengumi geflohen waren. Er hatte es seinerzeit jedoch noch nicht einornen können. Es verunsicherte ihn nur. Sie war noch nie geritten - das hatte er sofort gemerkt. Und sie hatte sehr große Angst gehabt. DESHALB hatte er Shido auch nicht widersprochen, als dieser vorschlug, dass sie vorausreiten sollten. Er wollte sie beschützen - von Anfang an hatte er das gewollt. Von dem Moment an, als er ihr zum ersten Mal in die Augen geblickt hatte, hatte er gewusst, dass er sie beschützen wollte.
 

Er hatte damals nicht gewusst, wie er mit diesen neuen Gefühlen in sich umgehen sollte, die ihn so... verletzlich machten. Daher war er abweisend und kalt zu ihr gewesen. Er hatte einfach gehofft, dass es irgendwann verschwinden würde, dieses Gefühl, oder dass SIE wieder verschwinden, gehen würde - wohin auch immer, nur fort von ihm. Beides war nicht eingetreten. Und er merkte schnell, dass auch seine ruppige Art nichts an seiner Einstellung ändern konnte.

Ja, diese Liebe - wenn sie es denn nun war - machte ihn verwundbar. Sollte ihr etwas passieren, würde er nicht zögern und wahrscheinlich ohne groß nachzudenken losstürmen, um sie zu schützen, zu retten oder - wenn es sein musste - zu rächen. Er würde sich vergessen. So einfach war das - und

die absolute Wahrheit. Jetzt, wo er endlich bereit war, einem Menschen sein Herz zu öffnen, jetzt,

wo er bereit war, seine Vergangenheit hinter sich zurückzulassen, da wusste er, dass dies zugleich auch seine größte Schwäche werden konnte. Jetzt war er angreifbar geworden.

Sollte dies irgendjemand mitbekommen, dann hätte Madoka keine Chance. Man würde sie verfolgen, genau so wie man auch ihn verfolgte. Das wollte er nicht. Um keinen Preis.

Also würde er seine Gefühle für sich behalten. Das war tatsächlich auch für sie besser. Da hatte Aurinia schon Recht. Es ärgerte ihn bloß, dass sie ihm ihr Schoßhündchen hinterhergeschickt hatte,

um ihn mit der Nase auf etwas zu stoßen, auf das er bereits selbst gekommen war - und das ihm erstaunlich weh tat, wenn er auch nur darüber nachdachte.
 

Liebte er sie wirklich?

Er wusste es nicht. So etwas wie Liebe hatte er niemals wirklich kennengelernt - außer vielleicht die Zuneigung, die seine Mutter damals für ihn und seine Geschwister empfunden hatte und später dann die freundliche Fürsorge, die die Kojis ihm entgegenbrachten. Aber Liebe?

Konnte ein Hitokiri überhaupt lieben?

DURFTE er lieben?

Er hatte keine Antwort auf all diese Fragen. Alles was er wusste, war, dass er ihn gefunden hatte:

Den Menschen, für den es sich lohnte weiterzuleben, für den er kämpfen und den er beschützen würde. Sollte dieser Mensch wieder aus seinem Leben verschwinden, so würde es um einiges ärmer sein.

Madoka hatte das Lächeln auf seine Lippen zurückgebracht. In gewisser Weise hatte sie ihn vor sich selbst gerettet. Und er war dankbar dafür. Egal was die Zukunft für sie beide bereithielt.

Er würde ihr immer dankbar dafür sein.

Überfall!

Es war bereits einige Tage her, dass Yamazaki und Kanzaki-san sie verlassen hatten und während dieser Zeit hatte es beinahe ununterbrochen geregnet. Madoka hatte es nur an dem beständigen Murmeln von kleinen Wasser-Rinnsalen erkennen können, die durch zahlreiche Spalten und Öffnungen in der Decke der Wohnhöhle in dafür bereitgestellte Krüge tröpfelten. Rund um diese

natürlichen Öffnungen wuchsen Moose und Farne in üppigem Maße und machten aus dem gesamten Gewölbe stellenweise einen wunderschönen, natürlich gewachsenen Baldachin.

Ab und zu hatte Aurinia die junge Frau in dieser Zeit trotz des Dauer-Regens auf ihre Erkundungsausflüge draußen im Wald mitgenommen. Gemeinsam versuchten sie jenen Ort, jene Lichtung, wiederzufinden, auf welcher Madoka vor knapp zwei Wochen plötzlich in dieser ihr wildfremden Zeit erwacht war. Die Yosei wusste von so einigen seltsamen Plätzen, wo - wie sie es ausdrückte - die natürlichen Energien einen Knotenpunkt bildeten und buchstäblich ALLES möglich war. Madoka war zwar schleierhaft, was sie damit meinte, aber dass sie NICHT auf natürliche Weise in diese Welt geraten war, war ihr auch klar. Also war sie bereit jede nur mögliche Lösung zu akzeptieren - wenn sie nur wieder nach Hause zurückkehren konnte.

Während die Yosei nebenher auch immer körbeweise Pilze, Beeren und Kräuter sammelte - und Madoka so ganz nebenbei eine Menge über Heilpflanzen, genießbare und ungenießbare Pilze lernte - führten die beiden Frauen oft stundenlange Gespräche, in denen Madoka regelrecht aufging. Im Grunde redete ausschließlich sie, wie sie im Nachhinein immer wieder verblüfft feststellte. Die Gegenwart der Yosei schien bei Madoka den Effekt zu haben, dass sie sich ihr von Mal zu Mal weiter offenbarte. Sie war so erleichtert, dass es jemanden gab dem sie ihr Herz ausschütten konnte, dass sie ihr wirklich ALLES erzählte, von ihrer Kindheit an bis jetzt, alles was sie erlebt und getan - oder auch nicht getan - hatte. Sogar von ihren widersprüchlichen Gefühlen in Hinsicht auf Takeo erzählte sie ihr. Sie wusste auch nicht, ob die Yosei das alles wirklich interessierte. Aber diese unterbrach sie auch nie und hörte immer zu. Allerdings sagte sie auch niemals, was sie von einer Sache hielt und gab auch nie Ratschläge oder Anregungen. Aber das störte Madoka nicht weiter - jedenfalls nie in jenen

Momenten, in denen sie beisammen waren. Und die junge Frau fühlte sich nach jedem Ausflug etwas besser - auch wenn sie jene besagte Lichtung bis jetzt noch immer nicht wiedergefunden hatten.

Dennoch...

Da war etwas an Aurinia, das Madoka zugleich auch ein wenig misstrauisch machte. Sie glaubte zu spüren, dass die Yosei ihr etwas verheimlichte - oder ganz bewusst verschwieg. Vielleicht würde sie es ihr eines Tages ja selbst sagen.
 

Heute hatte Madoka jedoch tatsächlich einmal ohne Aurinia die Höhle verlassen. Sie hatte gar nicht vorgehabt, sich weit zu entfernen. Sie wollte nur einmal für sich sein und in Ruhe nachdenken können. Außerdem hatte es endlich aufgehört zu regnen, wenn es auch noch weit davon entfernt war schön und sonnig zu sein. Dicht hing der weiße Nebel zwischen dunklen, vom Regen schwer herabhängenden Tannenzweigen und waberte in Schwaden über der tiefschwarz daliegenden Fläche des Sees. Das Rauschen des Wasserfalles wirkte seltsam gedämpft. Die Sonne war nur als münzgroßer, verwaschener Fleck am Himmel auszumachen und es war alles andere als warm. Aber Madoka fühlte sich erfrischt, als sie die Höhle verließ. Ein feiner Film aus winzigen Tröpfchen legte sich über ihr Gesicht, als sie an das Ufer des Sees trat und sich auf einem gewaltigen Felsbrocken niederließ.
 

"Ich habe doch gesagt, dass du nie allein die Höhle verlassen sollst!"

Madoka fuhr zusammen und drehte sich dann zu Yasha herum, der sich hinter ihr mit wütend in die Seite gestemmten Händen aufgebaut hatte. Wo sie sich endlich an die ständige Gegenwart des Halbdämons gewöhnt hatte, war sie nun doch wieder erschrocken, als er so drauflos polterte. Trotzig starrte sie zurück in die funkelnden, gelben Augen.

"Dir hätte wer weiß was passieren können!", fuhr Yasha nun in rechthaberischem Ton fort.

"Jetzt hör mal! Ich bin kein Kleinkind mehr! Ich bin doch nicht weit gegangen. Ich wollte nur kurz... frische Luft schnappen.", erwiderte Madoka etwas irritiert, aber bestimmt. Warum regte er sich so auf?

"Trotzdem wär es schön, wenn du vorher sagst, was du vorhast - Aurinia hat sich Sorgen gemacht..."

"... und mir ihr Schoßhündchen hinterhergeschickt?", vollendete sie leicht schadenfroh. Yashas Blick wurde finster. Dieses Wort hörte er in letzter Zeit ein wenig zu oft...

Zu Madokas Überraschung verzichtete der hitzköpfige Halbdämon jedoch auf eine Antwort und ging stattdessen vor ihr in die Hocke. Er legte den Kopf auf die Seite und blickte ihr forschend ins Gesicht.

"Du gehst mir nicht zufällig aus dem Weg, oder? Hast du Angst vor mir?"

Beinahe - aber auch nur beinahe - hätte Madoka gelacht, aber dann hätte sie es sich mit dem Halbdämon wahrscheinlich endgültig verscherzt. Wie er so vor ihr hockte und den Kopf schief hielt, die Ohren aufmerksam nach vorn gestellt, da musste Madoka mit Macht den Impuls unterdrücken die Hand auszustrecken, um ihn hinter dem Ohr zu kraulen.

"Nein. Ich habe keine Angst vor dir. Nicht mehr... Man hat immer nur Angst vor etwas, das man nicht kennt."

"... und du meinst, du würdest mich nach nur ein paar Tagen kennen?"

Yasha lachte leise und erhob sich dann.

"Spaß beiseite, Madoka. Ich - und natürlich auch Aurinia - möchten nicht, dass dir etwas zustößt. Also sei bitte vorsichtig und geh möglichst nie allein in den Wald. Es treibt sich einiges an zwielichtigem Gesindel dieser Tage hier herum."

Madoka erhob sich ebenfalls und trat ganz nah ans Wasser. Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild.

"Was beschäftigt dich so?"

Yasha lief zu ihr und sie begannen Seite an Seite ein Stück am Ufer entlangzugehen, wobei er sich ihrem Tempo anpasste.

"Sag nicht dass es dieser... Sturkopf von einem Schwertkämpfer ist, der dir im Kopf herumspukt."

Madoka blieb stehen und sah ihn an.

"Sag, Yasha, liebst du Aurinia eigentlich?"

Yasha erwiderte ihren Blick verwirrt.

"Was hat das denn DAMIT zu tun?"

Madoka schwieg nur und sah ihn weiterhin fragend an. Der Halbdämon seufzte.

"Ich... Ja, sie bedeutet mir sehr viel. Sie fehlt mir, wenn sie nicht da ist und..."

"Dann weißt du nun, wie ich mich fühle. Genauso empfinde ich für Takeo. Und ich habe... ich habe Angst um ihn. Vor allem jetzt, da ich weiß, dass ich ihn womöglich nicht wiedersehe. Nein..., vor allem davor, DASS ich ihn nie wieder sehen könnte..."

Noch während sie es aussprach erkannte sie, dass dies die reine Wahrheit war.

"Auf der anderen Seite will ich nur nach Hause. Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll..."

Sie blickte hinunter und hoffte, dass er ihre Tränen nicht sah. Sie HASSTE sich für diese Tränen und für ihre Schwäche, konnte jedoch nichts gegen sie tun. Yasha sah sie sehr nachdenklich an.

"Ich verstehe...", sagte er leise und plötzlich sehr ernst.

"Ich weiß nicht, was ich ohne Aurinia tun würde... Ich verstehe deine Gefühle - aber nicht, warum es ausgerechnet dieser sture Hund sein muss, dem du sie entgegenbringst..."

Er seufzte erneut.

"Ist auch nicht wichtig. Und wer weiß, vielleicht WIRST du ihn wiedersehen. Allerdings solltest du es nicht hoffen. Das würde vielleicht bedeuten, dass wir den Rückweg in deine Zeit nach wie vor nicht gefunden haben... Ich..."
 

Er brach plötzlich ab und hob wachsam den Kopf. Seine Ohren zuckten nervös.

"Was...", wollte Madoka fragen, aber er hob hastig die Hand und bedeutete ihr zu schweigen. Er schloss die Augen und schien Witterung aufzunehmen. Konzentriert sog er die Luft durch die Nase.

"Was auch geschieht, du wartest hier!", flüsterte er erregt und mit ein, zwei riesigen, aber dennoch lautlosen, Sätzen war er zwischen den dunklen Tannen verschwunden. Der Nebel schlug hinter ihm zusammen, als hätte es ihn nie gegeben.

Und über Madoka schien sich die plötzliche Stille zu verdichten. Das Rauschen des Wasserfalles wurde beinahe vollständig vom immer dichter werdenden Nebel verschluckt. Wo sie zuvor zwar leicht gefröstelt, sich aber trotzdem erfrischt und wohl gefühlt hatte, so FROR sie nun richtig.

Schaudernd zog sie den von Aurinia geliehenen Umhang aus weichen Fellen enger um die Schultern.

Was mochte den Halbdämon so aufgeschreckt haben?

Die Sonne war nun endgültig wieder hinter grauen Wolkenschleiern verschwunden. Der Wind frischte auf. Über der schwarzen Oberfläche des Sees kräuselten sich die Nebelschwaden und rissen auseinander, das jenseitige Seeufer schien näher zu kommen. Madoka stand wie erstarrt da.

Sie konnte es spüren. Etwas näherte sich. Sie fühlte sich eindeutig beobachtet.

Und die Dunkelheit verdichtete sich.

Madoka fuhr auf dem Absatz herum und begann zu laufen, auf den Wasserfall und die Höhle zu. Doch sie hatte die Strecke noch nicht einmal zur Hälfte zurückgelegt, als sich rechts von ihr drei Gestalten aus den Schatten des Waldes lösten und auf sie zuliefen. Sie verdoppelte ihre Anstrengung und wurde schneller - aber sie wusste bereits, dass sie es nicht schaffen würde, als sie nur noch einen Steinwurf vom Wasserfall entfernt war. Einer der Schatten streckte im Laufen einen Arm aus und packte sie an der Schulter, riss sie in vollem Lauf mit sich zu Boden. Die anderen zwei waren ebenfalls sofort zur Stelle. Und noch während Madoka zu Boden ging erkannte sie die hellblauen Umhänge der Shinsengumi wieder, welche die Männer trugen. Dann war sie auf der Erde und wurde vom Gewicht ihres Angreifers förmlich in den weichen Uferschlamm des Sees gepresst.

Wo war Yasha bloß?
 

Madoka bekam keine Luft. Sie arbeitete sich hektisch unter dem Körper ihres Angreifers hervor - und hielt dann erschrocken inne, als sie den kalten Stahl einer Klinge an ihrer Kehle spürte.

"Keine falsche Bewegung, Mädchen!"

Sie KANNTE diese Stimme aus einem weit zurückliegenden Fiebertraum der Bewusstlosigkeit - kalt, gefühllos und rau. Über ihr stand Saito Hajime, der "Wolf von Mibu", mit gezogenem Schwert. Er MUSSTE es sein. Narben verunzierten sein schmales, scharfkantiges Gesicht.

"Fesselt sie. Wenn sie hier ist, kann Yamazaki nicht weit sein."

Der Mann hinter Madoka zwang ihr brutal die Arme auf den Rücken und fesselte ihre aneinandergelegten Handgelenke, riss sie anschließend grob auf die Füße. Madoka war über und über mit Schlamm besudelt.
 

"Lasst auf der Stelle das Mädchen los!", schnitt eine klare, kalte Stimme durch die Luft.

Madoka und auch alle anderen drehten sich überrascht herum. Hinter ihnen, hoch aufgerichtet und vollkommen verändert, stand Aurinia. Madoka erkannte die Yosei lediglich an ihrem feuerroten Haar und an ihren funkelnden, entschlossenen Augen. Wie hatte sie sich verändert! Madoka starrte sie an - und die Männer der Shinsengumi ebenfalls. Genau wie Madoka schienen auch sie nie zuvor etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Ein dunkelgrünlich schillernder Panzer oder eine Art Schutzhaut hüllte ihren gesamten Körper ein. Sie wirkte sehr viel gefährlicher als Madoka sie kannte. Beinahe lauernd stand sie da, leicht in die Knie und nach vorn gebeugt - eindeutig eine Angriffshaltung. Auch ihre Hände zeigten nun lange, scharf aussehende Krallen, die sie drohend erhoben hatte. Sie sah dermaßen fremdartig aus, das Madoka mehrmals überrascht blinzeln musste.

"Und wen haben wir hier? Eine kleine Wald-Hexe?"

Saito trat hinter seinen Männern hervor und ging langsam auf Aurinia zu. Diese duckte sich, scheinbar sprungbereit. Ihr Gesichtsausdruck wurde noch wilder. Saito schien nicht beunruhigt - eher amüsiert.

"Was geht dich dieses Menschen-Weib an, Hexe?"

Aurinia fauchte leise, wie eine Katze, die sich ihrer Beute bereits sicher war.

"Gib sie einfach heraus!", sagte sie böse. Ihre Stimme klang auch komplett anders: Rauer und sehr viel tiefer als Madoka sie in Erinnerung hatte. Der "Wolf von Mibu" blieb stehen. Provozierend langsam hob er sein Katana.

Auffällig an Saitos Kampfstil war, dass er die Klinge mit der linken Hand führte. Er nahm die für ihn so berüchtigte Gatotsu-Stellung ein, hob das Schwert waagerecht und mit weit zurückgezogenem Arm in Schulterhöhe, die Schneide wies gen Himmel, bereit zuzustoßen. Den rechten Arm streckte er nach vorn an der Klinge entlang, um sie ruhig zu halten und zu zielen.

"Komm her, kleine Katze, wenn du sie haben willst."

Die Yosei sprang. Sie war sehr schnell und geschmeidig in ihren Bewegungen - aber nicht schnell genug für Saitos Gatotsu. In derselben Sekunde, in der Aurinia voranstürmte und sich vom Boden abstieß, um sich auf ihn zu stürzen und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, war der "Wolf von Mibu" schon an ihr vorbei. Seine Bewegungen waren so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum zu

sehen waren. Da er sein Schwert wieder in die Ausgangsstellung gebracht hatte, sah es beinahe so aus, als hätte er überhaupt nicht angegriffen, sondern hätte lediglich den Ort gewechselt, wie bei einer Teleportation. Es war einfach unglaublich wie schnell sich dieser Mann bewegen konnte!

Madoka hielt entsetzt den Atem an.

Aurinia war hinter ihm wieder zu Boden gegangen. Sie stand leicht gekrümmt aber vollkommen bewegungslos da. Sie schien nicht einmal mehr zu atmen. Dann ging ein jäher Ruck durch ihren schlanken Leib und an ihrer Schulter wurde eine klaffende bis auf den Knochen reichende saubere Schnittwunde sichtbar. Dunkles Blut lief an ihrer Seite herunter. In den Augen der Yosei standen

Überraschung und vollkommene Fassungslosigkeit. Nie zuvor war es jemandem gelungen ihre Schutzhaut zu durchdringen!

Saito drehte sich noch immer nicht herum. Er erhob sich aus der knienden Position und ließ sein Katana in einer formvollendeten Bewegung in der schwarzen Scheide verschwinden, die an seiner rechten Seite baumelte. Er lachte. Sehr leise und sehr böse.

"Es geht nichts über die Klinge eines japanischen Schwertes. Kein anderes Schwert der Welt ist so scharf, so prachtvoll. Hast du ernsthaft geglaubt gegen mich bestehen zu können, Mädchen? Ich habe zahlreiche Menschen auf dem Gewissen, darunter die berüchtigtsten der Hitokiri. Und den kleinen rothaarigen Dämon, der sich selbst auch zu diesen Attentätern zählt, werde ich auch noch besiegen und seiner gerechten Strafe zuführen."

Madoka zuckte zusammen. Was für eine seltsame Umschreibung für einen Mord.

Saito drehte leicht den Kopf und sah zu ihr zurück.

"Und DU wirst mich zu ihm führen - oder sagen wir: Ihn zu mir."

Er lachte wieder.

"Niemals! NIEMALS!", schrie Madoka wütend und halb wahnsinnig vor Angst. Sie bäumte sich in den Armen der Männer auf, die sie immer noch fester hielten als eigentlich notwendig war. Langsam verlor sie das Gefühl in ihren Händen, so brutal waren ihr die Arme auf den Rücken gedreht und die Hände gefesselt worden.
 

Aurinia keuchte schmerzerfüllt und zog so die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Madoka sah gerade zur rechten Zeit hinüber, um sie in sich zusammensinken zu sehen. Ihre Augen weiteten sich.

In die Gruppe der Männer kam Unruhe. Dann trat eine kleine, schmale Gestalt zwischen ihnen hindurch. Beinahe weiblich wirkte der junge Kämpfer, wie er nun leise lächelnd vor Aurinia stand. Doch dieses Lächeln wirkte so falsch, wie es nur sein konnte. Mit sehr sanfter, leiser Stimme, die völlig im Widerspruch zu seinen Worten stand, sagte er:

"Tötet sie. Wir haben keine Verwendung für Hexen."

Madoka keuchte vor Schreck.

"Jawohl, Okita-sama!"

Tatsächlich ließ einer der Männer von ihr ab und trat hinter die am Boden kauernde Yosei. Er zog sein Schwert und hob es hoch über den Kopf um auszuholen. Im nächsten Moment lag er neben ihr und die Klinge wirbelte in hohem Bogen davon. Die Yosei hockte praktisch auf seinem Brustkorb. Blitzschnell hatte sie ihm, der sich seines hilflosen Opfers bereits sehr sicher gewesen war, die Beine weggetreten und die Waffe aus der Hand geschlagen. Trotz ihrer Verletzung war sie immer noch sehr schnell. Der Schmerz schien sie sogar noch aggressiver gemacht zu haben. Ein Hieb ihrer mächtigen Klauen raubte dem Mann auf der Stelle das Bewusstsein.

Im selben Moment - es bedurfte nicht einmal einer Aufforderung Saitos oder Okitas - stürzten sich die Männer der Shinsengumi zu dritt auf die Yosei. Madoka fand sich allein am Ufer des Sees wieder.

Sie war lediglich an den Händen gefesselt. Die junge Frau sah zu Saito und dem jungen Okita hinüber, die scheinbar gelangweilt dem Kampf mit Aurinia zusahen. Sie setzte den Männern gehörig zu. Und abermals fragte sie sich, wo Yasha wohl steckte.

Wenn sie überhaupt eine Chance hatte zu fliehen, dann jetzt. An dieser Stelle war es nicht weit bis zum Waldrand. Langsam erhob sie sich - um dann herumzuwirbeln und so schnell zu laufen, wie sie konnte. Sie MUSSTE entkommen! Sie musste Yasha finden! Aurinia brauchte Hilfe!

Sie hatte die ersten Schatten des Waldes beinahe erreicht, als sie hart am Arm zurückgerissen wurde.

"Wo möchtest du denn hin?", hörte sie Saitos leise Stimme dicht an ihrem Ohr. Wie um alles in der Welt war er so schnell hierher gekommen? Madoka hätte vor Wut schreien können. Er musste sie sehr genau im Auge behalten haben. Saito zog sie zurück zum See.

"Bleib doch noch ein wenig bei uns."
 

Und dann brach am jenseitigen Ufer des Sees Tumult los. Madoka konnte sehen, dass der Halbdämon Yasha, gefolgt von unzähligen schwarzen Schatten, aus dem Wald brach. Er schrie und schlug wild um sich, aber es waren einfach zu viele Männer, die ihn umzingelt hatten. Allesamt in das helle Blau der Shinsengumi gekleidet, wichen sie nicht einen Schritt zurück. Das Blitzen von gezogenen Schwertern drang zu ihnen hinüber.

Und Madoka wurde klar, dass Saito und dieser seltsame Okita sie selbst und auch Aurinia nur mit einem Bruchteil ihrer Männer in Schach hielten. Die WAHRE Streitmacht befand sich dort drüben und schickte sich an, einen Halbdämon zu töten - feige gingen sie mit zwanzig oder mehr Männern und gezogenen Klingen auf ihn los. Aber Yasha riss sich immer wieder los, kämpfte sich frei und jagte, gefolgt von seinen Angreifern um den See herum. Es schien beinahe so, als wolle er die Männer die ihn verfolgten verschonen, denn er griff gar nicht richtig an, wich eigentlich hauptsächlich den Angriffen aus.

Saito sah sich das alles still und ohne jeden Kommentar mit an. Okita schien sogar ein wenig amüsiert.

Fast hatte die Gruppe sie erreicht. Mittlerweile hatten die Männer die verwundete Yosei überwältigt. Sie lag bewegungslos am Boden, das lange rote Haar verdeckte ihr Gesicht, sodass Madoka nicht erkennen konnte ob sie noch bei Bewusstsein war, geschweigedenn noch lebte. Die Schutzhaut - oder was immer es auch war - hatte sich zurückgezogen, war einfach verschwunden, und Aurinia lag vollkommen unbekleidet da. Einer der Männer erbarmte sich, sie zumindest in einen der blauen Umhänge zu hüllen. Madokas Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Nein! Das durfte nicht sein! Bitte, bitte, das KONNTE einfach alles nicht wahr sein!

Im selben Moment, in dem Yashas Blick auf Aurinias leblosen Körper fiel schien er mit einem Mal jeglichen Kampfgeist zu verlieren. Er blieb entsetzt stehen, seine Hände fielen herab. Die Männer waren sofort über ihm. Sie entrissen ihm das Schwert, das er bislang unberührt an seiner Seite

getragen hatte - ein wirklich altes, abgegriffenes Ding, das Madoka auch noch nie bewusst an ihm wahrgenommen hatte. Wieso trug er so ein altes, nutzloses Schwert? Und warum benutzte er es nicht, wenn er es denn nun schon einmal hatte?
 

Fragen. Einfach zu viele Fragen in einem Moment, wo sowieso viel zu viele schreckliche Eindrücke auf Madoka einstürmten. Sie schloss gequält die Augen, als sie auch Yasha niederrangen. Erst jetzt ließ sich der junge Okita zu einem Kommentar herab, und dieser hatte nicht einmal etwas mit dem Angriff zu tun.

"Es wird langsam dunkel.", meinte er heiter mit einem prüfenden Blick in den schiefergrauen Himmel hinauf.

"Es wird auch bald wieder regnen. Wir sollten gehen. Fesselt sie! Wir brechen auf. Hijikata und Yamazaki warten mit Sicherheit schon auf unseren Bericht."

Die letzten Worte klangen ein wenig spöttisch.

Madoka riss erstaunt die Augen auf. YAMAZAKI? Also war Takeos Bruder einer der Befehlshaber geworden? Was ging hier nur vor? Die junge Frau war verwirrt, setzte sich jedoch gehorsam in Bewegung, als sie grob nach vorn gestoßen wurde. Im Vorübergehen bemerkte sie mit grenzenloser Erleichterung, dass die Yosei noch lebte. Sie war schwer verletzt und wurde von den sie flankierenden Männern eher gezogen und getragen, als gestützt - aber sie lebte. Auch Yasha hatte dies bemerkt.

"Hey! Hast du hier das Kommando, Alter?", fragte er an Saito gewandt. Dieser reagierte nicht und die Gruppe ging langsam weiter, hinein in die Schatten des Waldes. Okitas androgynes Gesicht wurde erneut von einem amüsierten Lächeln überzogen.

"Er redet mit dir, Saito-san.", sagte er heiter.

"Ich werde mich nicht auf ein Gespräch mit einem... HALBdämon einlassen...", lautete die unterkühlte Antwort.

"Ich möchte mit der Yosei sprechen.", verlangte Yasha, ohne darauf einzugehen. Dann verlegte er sich aufs Nuscheln: "...bitte..."

Jetzt sahen ihn sowohl Saito, als auch Okita doch von der Seite her an. Leises Erstaunen war im Blick des "Wolfes" zu erkennen.

"DU hast mich gerade um etwas GEBETEN? Was ist geschehen, Halbdämon? Du hast dich verändert. Du warst früher nie so... umgänglich."

Yasha knurrte.

"Das kann sich sehr schnell wieder ändern, Saito! Das weißt du sehr genau. Ich will nur kurz mit ihr reden, weiter nichts!"

Saito legte den Kopf schräg.

"Die kleine Hexe bedeutet dir doch nicht wirklich etwas, oder?"

Er seufzte, als würde er mit einem uneinsichtigen Kleinkind reden.

"Hätte ich das gewusst, dann hätte ich doch schon viel früher ein Mittel gewusst, um dich gefügig zu machen."

Und er deutete mit dem Kopf in Richtung der Männer, die Aurinia stützten. Einer von ihnen nickte - und schlug ohne Umschweife hart mit der geballten Faust auf ihre Wunde! Die Yosei sog vor Schreck und Schmerz die Luft zwischen den Zähnen ein und schloss die Augen.

"Aurinia!", schrie Madoka entsetzt.

"Du... MONSTER!"

Yasha wollte sich ohne Umschweife auf Saito stürzen, doch dieser schüttelte nur leicht den Kopf.

"Ah, a, a... Was passiert wohl, wenn das Hündchen unartig ist?"

Yasha erstarrte. Er sah die erhobene Hand des Mannes neben der Yosei und beschloss, den Angriff auf einen günstigeren Zeitpunkt zu verlegen.

"So ist's brav."

Saitos Augen wurden ganz klein, als er jetzt sein breites, falsches Lächeln zeigte.

"Was meinst du Soji? Jetzt darf das Hündchen die kleine Hexe doch auch fragen, was es wollte." Okita Sojis Lächeln war unerschütterlich.

"Du bist ein Monster, Saito.", sagte er ruhig. Saito lächelte böse zurück. An Yasha gewandt fuhr er fort:

"Doch glaub nicht, dass ich dich auch nur eine Sekunde lang aus den Augen lasse. Ich kenne dich mittlerweile gut."

Yasha ließ ihn nicht einmal ganz zu Ende sprechen. Mit einem Satz war er bei der Yosei, nahm ihr Gesicht in beide Hände und zwang sie, ihn anzusehen. Die Männer, die sie festhielten ließen alarmiert die freien Hände jeweils auf ihren Waffengürtel sinken. Sie entspannten sich wieder, als sie hörten, dass er ihr nur leise Mut zusprach und nach ihrer Verletzung fragte. Dann beugte sich der Halbdämon vor, flüsterte Aurinia etwas ins Ohr - und war im nächsten Moment aufgesprungen, stieß die Männer in unmittelbarer Nähe einfach zu Boden und entfloh in die Dunkelheit des Waldes! Madoka starrte ihm fassungslos hinterher. Doch Saito - zeigte sich nicht im Mindesten überrascht.

Die Männer zogen erneut ihre Schwerter und schickten sich an, sofort die Verfolgung aufzunehmen, doch Okita rief sie zurück.

"Lasst ihn. Lasst ihn laufen."

Beinahe gelangweilt zog der "Wolf von Mibu" einen seiner weißen Handschuhe zurecht.

"Es läuft alles genau nach Plan."

Und Madoka lief es eiskalt den Rücken hinunter als ihr klar wurde, dass sie Yasha absichtlich entkommen ließen.

Der Tross setzte sich wieder in Bewegung. Madoka ging neben Saito, der sich gerade eine Art Zigarillo angezündet hatte und genussvoll rauchte. Die freie Hand hatte er leicht auf ihre Schulter gelegt - das genügte für ihn wohl, um sie am Fortlaufen zu hindern. Aber Madoka hatte auch nicht vor zu fliehen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass man es ihr nicht so leicht machen würde wie Yasha gerade. Denn zu LEICHT war die Flucht allemal gewesen. Die Shinsengumi war bekannt dafür keine Fehler zu machen. Und die nächste Aussage Saitos bestätigte ihre Vermutung.

"Machen Sie sich keine Sorgen, junges Fräulein. Sie werden sie alle bald wiedersehen, wenn es das ist, was Ihnen Sorgen bereitet. Den Hund, den rothaarigen Bastard und das igelköpfige Großmaul. Denn IHR...", er wies auf sie und auf Aurinia, die neben Okita mit gesenktem Kopf ging, "... ihr werdet sie zu uns führen. Es gibt in unseren Reihen jemanden, der sich außerordentlich auf eine Begegnung mit der Verwandtschaft freut."

Er blickte stur geradeaus, während er sprach. Dennoch klang seine Stimme tatsächlich eine Spur weniger eisig, als er nun fortfuhr:

"Und Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir stehen vielleicht auf unterschiedlichen Seiten -

aber Hijikata Toshizo und Yamazaki Mamoru sind keine Unmenschen. Sie werden euch nichts tun..."

"... solange wir stillhalten und zusehen, wie sie Mamorus Bruder in die Falle locken.", vollendete Madoka bitter. Es war das erste Mal seit längerer Zeit, dass sie wieder sprach und ihre Stimme hörte sich zittrig und nur halb so höhnisch an, wie sie es gern gehabt hätte.

Saito neigte leicht den Kopf, wie um dies zu bestätigen. Das eiskalte Lächeln kehrte auf seine Züge zurück. Sagen tat er jedoch nichts mehr. Für eine lange, lange Zeit nicht mehr.

Kriegsrat

Takeo schlug mit der flachen Hand auf die vor ihm ausgebreitete, vergilbte Karte, welche die Umgebung von Kyoto bis ins kleinste Detail wiedergab, sodass der kleine Tisch mit einem hörbaren Knirschen auf die grobe Behandlung reagierte. Die Männer um ihn herum sahen erschrocken auf.

"Verdammt noch mal! Das kann so nicht weitergehen!"

Er und Shido hatten beinahe zwei Wochen lang die kleinen Orte und Bergdörfer in der Umgebung durchkämmt und tatsächlich einige der Männer zusammenrufen können, die auch früher schon für die Durchsetzung der Restauration und gegen das System der Shogunate gekämpft hatten. Sie hatten sich zur Beratung in ein unscheinbares Dorf namens Ginta zurückgezogen, das sich gänzlich dem Anbau von Reis widmete. Wenn es nicht wieder so geregnet hätte, dann wäre die unmittelbare Landschaft rings um das Dorf mit ihren Reisterassen und kleinen Häuschen einfach nur wunderschön anzuschauen gewesen. So aber war Ginta beinahe gänzlich von einem Sumpf eingeschlossen, da selbst die Wege nun von dem tagelangen Regen überflutet waren. Jener Regen trommelte auch beständig auf das Strohdach, das die kleine Hütte überspannte, in welche sich die Männer zurückgezogen hatten.
 

Takeo, nach wie vor eine stattliche Erscheinung in seiner Samurai-Rüstung, beugte sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab. Er schloss gequält die Augen.

"Ysidro...", flüsterte er leise. "Es hätte nie so weit kommen dürfen..."

Vor ungefähr zehn Minuten war Shido gemeinsam mit einem ihrer Verbündeten aus Kyoto eingetroffen. Kanzaki war von Takeo gebeten worden, in der Stadt die Lage abzuschätzen und Nachrichten mit einigen Informanten auszutauschen. Der Mann, den er nun mitgebracht hatte, war ein reicher Kaufmann, der sich bereit erklärt hatte sich immer ein wenig für die neue Regierung in der Stadt umzuhören. Doch die beiden brachten schlechte Neuigkeiten.

Ysidro Itoshi, eine sehr einflussreiche politische Persönlichkeit, die auf Seiten der Restauration für die Durchsetzung der Meiji-Regierung gekämpft hatte, war brutal auf offener Straße ermordet worden. Eine Gruppe von wild aussehenden Ronin, herrenlose Samurai, hatten ihn am helllichten Tage

überfallen und vor den Augen der Passanten niedergestochen. Niemand war eingeschritten - dazu sei es viel zu schnell gegangen, hatte der Kaufmann Takeo berichtet. Und niemand konnte erkennen, wer die Angreifer gewesen waren. Allerdings gab es in der gesamten Stadt wohl niemanden, der daran Zweifel hatte, wer so eine feige Tat befehlen würde. Yamazaki Mamoru hatte sich unter der Hand von Kommandant Kondo und später unter Hijikata zu einem wahrhaft skrupellosen Mann entwickelt. Und dies wusste Takeo bereits, seit er damals durch seine Hand gefoltert worden war - direkt vor den Augen jenes dunklen Vorgesetzten seines Bruders.

Der junge Samurai ballte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten.

"Was verspricht er sich davon? Es wird einen Nachfolger für Itoshi-san geben. Will er auch diesen einfach umbringen? Glaubt er, so die neue Regierung aufreiben zu können? Das ist doch Irrsinn. Er kann nicht einfach wild drauflos morden! Er muss das wissen. WAS also bezweckt Mamoru damit?"
 

Kanzaki Shido trat hinter ihm aus den Schatten, welche die kleine Petroleumlampe, die auf dem Tisch stand, in die Ecken den Raumes drängte.

"Ich weiß nicht, was die Shinsengumi an sich mit uns vorhat. Aber auf mich wirkt es ganz so, als wolle dein Bruder auf sich aufmerksam machen. Er will, dass die Leute sehen wie unzulänglich ein Staat ohne den Schutz von waffentragenden Elitesoldaten ist, wie es die Samurai waren. Er will, dass die Leute ihren Fehler sehen und zurückkehren in das alte, wohlsortierte Kastensystem, in dem die einfachen Leute zwar geschützt, jedoch praktisch entmündigt waren, keine Entscheidung allein treffen konnten - es sei denn ihr Lehnsherr, Daimyo oder wer auch immer hätte ihnen erlaubt eine eigene Meinung zu haben um dies zu tun. Kurz: Er will das alte System wieder einsetzen - und zwar indem er die vermeintlichen Unzulänglichkeiten des neuen für jeden sichtbar macht."

Shido hielt inne, blickte langsam von einem zum anderen.

Takeo nickte langsam, verstehend. Er überlegte laut:

"Im Falle von Herrn Ysidro soll das wohl heißen 'Seht her! Früher wäre das niemals passiert! Erstens hätte es überhaupt gar keine Ronin gegeben, da alle Samurai Lehnsherren gehabt hätten, die diese mit Freuden unter Vertrag nehmen würden, und zweitens wäre ein so bedeutender Mann niemals ohne Schutztrupp der damals noch offiziellen Polizei-Garde, der Shinsengumi, aus dem Haus gegangen.'

Sinn und Zweck dieser ganzen Aktion ist wahrscheinlich in erster Linie Protest gegen die eigene Ohnmacht etwas wirklich Sinnvolles im Rahmen der Politik zu bewegen. Anders gesagt: Es hört ihm sonst niemand zu."

Die Männer schauten schweigend.

Takeo runzelte die Stirn.

"Das passt zu ihm...", fügte er dann noch so leise an, dass es außer Shido-san wohl kaum jemand verstand. Tief in dem dunklen Blau seines Blickes lagen ein Schmerz und eine Trauer verborgen, die an Tiefe alles übertrafen, was Shido bis dato bei einem Menschen gesehen hatte. Er trat hinter seinen Freund und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Eine einfache Geste, die Takeo dennoch

sehr viel Trost spendete. Er legte seine Hand über die des Freundes und seufzte.

"Es kommt der Tag, da ich meinem Bruder wieder gegenüberstehe. Bei unserer letzten Begegnung sagte er zu mir, dass wir uns das nächste Mal als Feinde gegenübertreten würden... Ich... weiß wirklich noch nicht, was ich tun werde. Aber SO kann das nicht weitergehen. Und seid gewiss - falls es nötig sein sollte muss und werde ich vergessen, dass ich mit diesem Menschen verwandt bin."

Sein Blick glitt durch die Runde, die Männer erwiderten diesen Blick, einige nickten.

"Wir stehen hinter dir, Hitokiri Yamazaki-san.", erklang eine Stimme. Takeo zuckte zusammen.

"Und nennt mich nicht mehr so. Ich habe den Attentäter hinter mir gelassen. Wenn es irgendwie möglich ist vermeide ich das Töten."

Jemand lachte spöttisch. Eine andere Stimme:

"Das wird sich wohl bei einem Gegner wie Yamazaki Mamoru nicht vermeiden lassen."

"Wir werden sehen.", wischte der junge Mann diesen und mögliche weitere Einwände mit einer Handbewegung beiseite. Er wollte momentan einfach nicht weiter darüber nachdenken.

"Wir werden seinen... Unterschlupf in Kyoto ausmachen und ihn dort stellen, bevor es zu noch weiteren schrecklichen Verbrechen kommt."

"Bedenke, dass wir Saito, Hijikata, Okita und auch Mamoru schon recht lange als führende Köpfe der Shogunatstreuen suchen. Selbst die Polizei in Kyoto ist da gescheitert. Man sagt sich, dass es sogar Männer der Shinsengumi in den Reihen der hiesigen Polizei gibt, was natürlich erklären würde, warum die Ermittlungen in dieser Richtung nicht vorankommen. Der "Wolf von Mibu" und seine Männer sollen zudem ständig den Standort wechseln, was es auch nicht gerade einfach macht.", sagte nun der Mann rechts von Takeo. Er war der Älteste in der Runde und ein Veteran aus der blutigen Bakumatsu-Ära. Sein Name lautete Izuka Shizen. Takeo vertraute ihm, denn er kannte ihn schon recht lange. Er diente - ebenfalls völlig freiwillig - unter Sayan Shigeru-sama, genau wie es Takeo tat. Oder getan hatte...
 

Der junge Schwertkämpfer hoffte inständig, dass sein Mentor noch lebte. Darüber hatte Shido leider nichts in Erfahrung bringen können. Der Kaufmann, der bis eben geschwiegen hatte, räusperte sich nun beinahe verlegen.

"Ich... habe Saito, Okita und Hijikata, die Anführer der Kyotoer Einheiten der Shinsengumi, vor kurzem im Stadtteil von Nogushi gesehen, einer ärmlicheren Wohngegend von Kyoto, in die man sich auch bei Tage nicht unbedingt allein wagen sollte. Saito zeigt sich sonst nicht gern. Ich weiß nicht... Aber... ich werde das Gefühl nicht los, dass er jetzt gesehen werden WOLLTE."

"Der Wolf von Mibu...", Takeos Stimme zitterte vor zurückgehaltener Wut.

"ER hat meinem Bruder diese... diesen Unsinn eingeredet..."

"Wenn das so ist, dann will man uns womöglich nach Nogushi locken.", sinnierte Shido.

"Oder es ist eine ABSICHTLICH gelegte falsche Fährte, die uns in die Irre führen soll. Vielleicht..."
 

Er wurde jäh durch lauten Tumult vor der Tür der Hütte unterbrochen. Entsetzte Schreie wurden laut. Und dann wurde die Tür einfach aus ihren Angeln gefegt, als ein roter Wirbelwind mit weißer, ungebändigter Mähne hereinstürmte! Yasha blieb zitternd stehen. Er hielt den Kopf gesenkt. Um ihn herum regneten Holzsplitter der Tür herab, die jetzt hinter ihm nur noch zur Hälfte vorhanden war, hinweggefegt von messerscharfen Klauen. Der Halbdämon war vollkommen durchnässt. Doch seine Augen brannten vor Zorn und mühsam zurückgehaltener Wut, als er nun den Kopf hob, um zunächst die eindeutig entsetzten Blicke der anderen Männer und dann den von Shido und Takeo zu erwidern.

Für den Bruchteil einer Sekunde erschien es Takeo so, als seien seine Augen von einem düsteren, unheilverkündenden Rot erfüllt, Schatten von dunklen Malen zogen sich quer über seine Wangen... Dann verging der Moment und vor ihm stand ein lediglich völlig erboster und erregter Halbdämon, der sich wild zu schütteln begann, um wenigstens die gröbste Nässe loszuwerden.

Die Männer wichen bis an die Wände zurück. Sie hatten solch ein Wesen wohl auch noch nie zu vor gesehen. Doch Shido hob die Hand, als einer der Männer zu seiner Waffe greifen wollte.

"Lasst nur. Wir kennen ihn."

Die Männer sahen ihn groß an. Aber niemand sagte etwas.

"Was ist geschehen, Yasha?", fragte Takeo alarmiert. Er hatte mit einem Mal eine böse Vorahnung. Mit den nächsten Worten bestätigte der Halbdämon auch seine schlimmsten Erwartungen.

"Sie haben uns überfallen! Direkt am See! Es waren ungefähr dreißig oder vierzig Mann – die Mädchen...", er brach ab. Seine Stimme überschlug sich schon wieder, so viel wollte er auf einmal sagen. Takeo fühlte sich, als hätte ihn jemand heftig in den Unterleib getreten. Er konnte nicht mehr atmen.

"Was ist passiert?", fragte er gepresst.

Yasha sah ihn nun direkt an. Er zitterte - ob vor ohnmächtiger Wut oder vor Kälte vermochte der junge Mann nicht zu sagen. Vermutlich wegen beidem.

"Saito!", stieß der Hundedämon hervor und ein dunkles Grollen entrang sich seiner Brust.

"Saito und noch ein anderer Kerl namens Okita haben sie entführt und zu Hijikata und Yamazaki gebracht."

Shido war sofort bei ihm, packte ihn am Kragen und zerrte ihn so nah an sich heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

"Und du... Du allein bist entkommen? Das kannst du mir nicht erzählen! Du hast nichts getan, um ihnen zu helfen! Du... elender Feigling! Ich bring dich um!"

Takeo trat mit zwei schnellen Schritten an ihn heran und packte ihn am Arm.

"Shido! Hör auf! Lass ihn erklären!"

Er wandte Yasha sein Gesicht zu und der Halbdämon erschrak. Takeo ließ zwar Aggressionen nicht so freien Lauf, wie es Shido tat - aber der Blick aus seinen schmalen, nun sehr dunklen Augen war nicht mehr der des jungen Takeo, den er kennen gelernt hatte. Dies waren die Augen des Hitokiri Yamazaki: Kalt, berechnend und unheilverkündend.

"Was genau ist vorgefallen."

Auch seine Stimme klang nun anders. Irgendwie dunkler - und ein drohender Unterton schwang darin mit.

"Saito und seine Männer sind wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ich habe sie zuvor gewittert und wollte ihnen den Weg abschneiden, konnte jedoch nicht ahnen, dass sich die Gruppe aufgespalten hatte. Während der eine Teil Madoka am See überfiel, nahm ich mir den anderen Teil vor. Ich habe niemanden getötet.", sagte er rasch, als er das erschrockene Flackern im Blick seines Gegenübers gewahrte, das wieder so gar nicht zu dem Image eines Hitokiri passen wollte, dessen Leben das Töten war.

"Ich habe mein Schwert nicht einmal gezogen. Normalerweise kann ich mich Menschen gegenüber ausreichend mit meinen Krallen verteidigen - aber die Männer schossen mit Pfeilen und jagten mich quer durch den Wald zurück zum See. In der Zwischenzeit war Aurinia Madoka zu Hilfe gekommen - sie ist als Yosei nicht ganz so wehrlos müsst ihr wissen. Doch Saito hat sie verwundet. Sie nahmen uns alle gefangen. Nur ich konnte fliehen um euch alles zu berichten. Wir müssen die beiden retten!"
 

"Na, wunderbar...", brummte Shido durch zusammengepresste Kiefer.

"Deine Aktion wird sie direkt hierher geführt haben. Würde mich nicht wundern, wenn sie einen Spähtrupp hinter dir hergeschickt haben."

"Das hätte ich bemerkt, Gockelkopf!", brauste Yasha wütend auf.

"Zumindest können wir davon ausgehen, dass sie dich absichtlich haben entkommen lassen. Dies ist ganz offensichtlich eine Falle.", meinte Takeo düster. Ohne es selbst zu bemerken war seine Hand hinauf zu der Kette gewandert, die er um den Hals trug.

"Sie plädieren darauf, dass wir die Frauen retten wollen und dann werden sie uns mit voller Kraft angreifen. Du kennst doch Saito, nicht wahr, Yasha? Was ist er für ein Mann? Was plant er?"

Der Halbdämon ließ die drohend in Shidos Richtung erhobenen Klauen sinken.

"Ich... nun. Tatsache ist, dass ich diesen selbsternannten "Wolf" von Kindesbeinen an kenne. Von SEINEN Kindesbeinen an - versteht sich. Zum Höhepunkt der Bakumatsu Zeit, der Zeit er Bürgerkriege, habe ich eines Tages ein Kind im Wald gefunden. Es war vollkommen allein und über und über blutbesudelt. Es hatte den abgetrennten Kopf seiner Mutter im Schoß und weigerte sich ihn loszulassen, selbst noch als ich dem Jungen versprach ihn wohlbehalten zum nächsten Dorf zu bringen. Ich weiß nicht, was passiert war. Wahrscheinlich hatte den Jungen dasselbe grausame Schicksal ereilt, das damals so viele Menschen erleiden mussten und er hatte alle die ihm nahe standen im Krieg verloren. Jedenfalls verlor er nicht eine einzige Träne. Er war auch nicht etwa vor Entsetzen verstummt oder gelähmt.

Nein, er war... eiskalt... Schon damals. Ich weiß nicht, ob er schon immer so war oder ob ihn die schlimmen Ereignisse des Krieges so haben werden lassen. Jedenfalls lautete jedes zweite Wort, das aus seinem Mund kam "Rache" oder "Töten". Ich bin ein Halbdämon, lebe schon sehr lange und habe

EINIGES gesehen in meinem bisherigen Leben. Aber dieser Junge ist mir im Gedächtnis haften geblieben, wie ein dunkler Schatten, der einen sein Leben lang verfolgt."

Yasha erschauerte.

"Jahre später trafen wir uns wieder. Er war ein junger Mann im Dienste der Shinsengumi, der Schutztruppe des damaligen Shogun Tokugawa. Er erkannte mich, da bin ich ganz sicher. Aber er ging sofort auf mich los. Dämonen sind für ihn BÖSE. Und sein Motto lautete schon damals - und ich werde nie vergessen, wie er diese Worte schrie, bevor er angriff - 'Böses muss betraft werden!'. Ich musste mich verteidigen - auch wenn ich immer noch das Gesicht des kleinen Jungen vor mir sah, der festentschlossen den Kopf seiner Mutter an sich presste - ich musste mich wehren! Er hat Narben in seinem Gesicht, die von meinen Krallen stammen. Und sein Hass mir gegenüber, ALLEM seiner

Ansicht nach Bösen gegenüber, ist ungebrochen. Wenn ihr mich fragt kann ich euch nur sagen, dass Saito Hajime ein Mann ist, der unerschütterlich seine Interessen vertritt, unbeirrbar seinem Weg folgt und seinem Feind am liebsten von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Er hasst Unehrlichkeit. Ihm ist jedes Mittel Recht, um jene zu bestrafen, die in seinen Augen Verräter sind. Aber er ist auch ungnädig gegenüber Menschen, die gefehlt haben - zum Beispiel gegenüber denen, die in seinen Augen sinnlos Menschen ermordet haben. Mörder, die im Auftrag der Kaisertreuen töteten..."

Yashas gelbe Augen richteten sich auf Takeo. Dieser erwiderte den Blick ruhig und sehr nachdenklich.

"Was er plant?", fuhr Yasha fort, als niemand etwas sagte.

"Ich weiß es nicht, ehrlich. Dass Yamazaki-san für ihn oder mit ihm arbeitet ist für ihn selbst und die anderen Mitglieder der Shinsengumi wahrscheinlich nur zweckdienlich - mehr nicht. Sobald sie erreicht haben, was sie wollen - was auch immer das ist - werden sie Yamazaki die kalte Schulter zeigen. Das ist meine Meinung. Und so schätze ich Saito ein. Er lässt sich von niemandem etwas vorschreiben und wird seine ganz eigenen Pläne haben."

"Womit wir wieder beim Anfang wären.", sagte Shido-san trocken.

"Wir wissen nicht, was er plant."

"Er wird den Mädchen nichts tun, da bin ich mir ziemlich sicher. Er will uns mit dieser Aktion aus der Defensive locken, dass ist alles."

Takeo ballte die Hand zur Faust und hob sie vor sein Gesicht, die Fingerknöchel traten weiß hervor. "Und bei Gott, wenn er und mein Bruder es so haben wollen, dann sollen sie es auch bekommen. Ich werde mich Mamoru stellen. Und ich werde ihn besiegen. Und wenn es das letzte ist, was ich tue!"

Shido sah besorgt zu seinem Freund hinüber. Die Verbissenheit in seiner Stimme kündete von der grausamen Entschlossenheit eines zu allem fähigen Hitokiri.
 

Was würde geschehen, wenn Takeo seinem Bruder gegenüberstand? Würde er in sein "altes Selbst" zurückfallen? Würde er wieder morden?

Nein.

So weit würde es nicht kommen, dachte Shido bei sich. Er würde da sein, um es zu verhindern.

"Dann lasst uns keine Zeit verlieren!", sagte er grimmig. "Auf geht's!"

Takeo sah ihn schräg von der Seite an. Shido bemerkte erleichtert, dass sein Freund wieder fast der Alte war. Sein Blick war klar und bar jeden Hasses, als hätte es den Hitokiri in ihm nie gegeben oder war nur ein böser Geist, der durch das reale Gefühl von Freundschaft und Zuneigung vertrieben werden konnte - oder zumindest zurückgedrängt wurde.

"Was schaust du denn so?", schnaubte Kanzaki.

"Natürlich lasse ich dich nicht allein gehen! Was hast du denn gedacht? Dass ich hier bleibe und Däumchen drehe?"

"Gut, dann wäre das ja geklärt.", meine Yasha aufgeräumt.

"Dann gehen wir zu dritt. Ich habe nicht nur eine Rechnung mit Saito zu begleichen! Aber den knöpfe ich mir als Ersten vor. Der Typ hat mir mein Schwert weggenommen! Der kann was erleben!"

Und er stürmte voran aus der Hütte, während ihm die verdutzten Blicke der anderen folgten.

Kyoto

Madoka erwachte mit dem Gefühl sengender Kopfschmerzen hinter der Stirn und einem bitteren Geschmack im Mund. Ihr schwindelte und es dauerte eine ganze Weile, bis sie einordnen konnte, warum das so war. Der Boden unter ihr schwankte. Mühsam öffnete sie die Augen - und sah gar nichts. Wo auch immer sie sich befand, es war komplett dunkel um sie herum. Ihre Hände fühlten Holz unter sich und anhand des regelmäßigen Schaukelns vermutete sie, dass sie in einer Art Sänfte getragen wurde.

Mit dieser Erkenntnis kehrte auch langsam die Erinnerung zu ihr zurück. Es war tatsächlich eine Sänfte, in der sie sich befand. Die Shinsengumi hatte Aurinia und sie selbst aus dem Wald hinausgeführt und Madoka war sehr überrascht gewesen, als zwei Sänften für sie herangetragen

wurden. Ein Teil der Männer, bestehend aus Dienern und Sänftenträgern, war wohl am Waldrand zurückgeblieben um hier zu warten - aber woher hatte man wissen können, dass zwei Sänften benötigt wurden? Oder war das Zufall?

Madoka stand diesem Wort seit einiger Zeit eher skeptisch gegenüber. Nervös verschob sie diesen Gedanken. Beschäftigen tat sie nämlich noch ein ganz anderer.
 

Wer oder was war ihre neue Freundin Aurinia wirklich?

Eine Yosei. Was hieß das überhaupt genau? Madoka hatte nicht die blasseste Ahnung. Sie war beeindruckt von der Kampfkraft und Wendigkeit der jungen Frau. Und einen Schutzpanzer (oder eben eine Schutzhaut), wie ihn Aurinia plötzlich getragen hatte, hatte sie bislang noch nie zuvor gesehen. Es erinnerte sie ein wenig an eine Comic-Verfilmung, die sie zu Hause und in ihrer Zeit einmal im Kino gesehen hatte. Nur, dass diese schillernde Schutzhaut bei der Yosei dunkelgrün gewesen war und auch sehr viel realistischer gewirkt hatte. Aus was sie bestand hatte Madoka nicht ausmachen können. Es musste ein unglaublich anschmiegsames und dennoch sehr robustes Material sein. Es hatte eigentlich überhaupt nicht wie ein Kleidungsstück ausgesehen - viel mehr wie eine richtige zweite Haut, die natürlich gewachsen war. War so etwas überhaupt möglich?

Nun, in einer Welt oder Zeit, in welcher es auch Halbdämonen wie Yasha gab sollte sie eigentlich nichts mehr überraschen. Es war trotzdem... beunruhigend. Vorsichtig ausgedrückt.

Dies war nicht ihre Zeit. Das spürte sie deutlich, denn sie fühlte sich beinahe permanent unwohl und

fehl am Platz - was ja auch nicht weiter verwunderlich war wenn man bedachte, dass sie erst in beinahe zweihundert Jahren auf die Welt kam... Ihr schwindelte - diesmal aus anderen Gründen. Der Gedanke war einfach zu abstrakt.
 

Die Frage war nach wie vor: Konnte sie Aurinia oder auch Yasha, ja selbst Shido und - ja, auch hieran hatte sie bereits gedacht - Takeo überhaupt trauen? Sie war diesen Menschen - Menschen? - auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie kannte sich hier nicht aus, die wusste an sich überhaupt nichts über diese Zeit. Und sie MUSSTE irgendjemandem vertrauen. Ihr blieb gar nichts anderes übrig.

Aber war es richtig?

Gerade auch Aurinia war immer ausnehmend freundlich und unvoreingenommen liebenswert ihr gegenüber gewesen. Und Yasha... nun... genau genommen war er doch auch einfach nur nett zu ihr gewesen - zwar etwas ruppig, aber ebenfalls freundlich. Und Takeo... Und Shido-san...

Ach, es nutzte niemandem etwas, wenn sie nun misstrauisch wurde. Jetzt, wo sie Freunde und Hilfe so bitter nötig hatte, da war sie froh ÜBERHAUPT Bekanntschaften - Freundschaften - geschlossen zu haben in dieser rauen, befremdlichen Zeit.

Und Takeo? Würde er kommen um sie zu retten? Oder würde er, als Hitokiri der er nun einmal war, auch DIESEN Teil seines Lebens hinter sich lassen, die Tatsache, dass er Madoka kennengelernt

hatte einfach vergessen und wie ein weiteres Kapitel seiner Lebensgeschichte einfach schließen? Vielleicht weil er, wie es Shido auch betonte, niemals wieder so verletzt werden wollte, wie er es schon so oft erlebt hatte?

Madoka setzte sich auf. Sie sollte sich auf ihre jetzige Situation konzentrieren. Im Grunde, wenn sie genau darüber nachdachte, war es ihr auch gleichgültig wer oder was ihre neu gewonnenen Freunde nun waren. Fest stand, sie hatten sich gegenseitig nun schon mehrfach geholfen und beigestanden. Solange sie auch nur einen von ihnen an ihrer Seite wusste hatte sie auch noch Hoffnung lebend aus diesem Alptraum - denn für sie war es, trotz der wenigen schönen Augenblicke, für die sie auch sehr dankbar war, nichts anderes gewesen als ein Alptraum - herauszukommen.

Sie würde Aurinia nicht fragen, was es mit ihrer Identität auf sich hatte. Sie würde es Madoka schon selbst sagen, wenn sie dies wollte.
 

Sie mussten die Stadt Kyoto nun erreicht haben. Madoka konnte es an der Vielzahl von Gerüchen und Geräuschen erkennen, die nun zu ihr vordrangen. Es war tatsächlich recht laut um sie herum. Hunderte von Menschen mussten sich buchstäblich auf den Straßen aufhalten. Sie hörte leise Musik, das Schlagen eines Gongs, irgendwo lachte jemand lang und anhaltend und das Murmeln unzähliger gedämpfter Unterhaltungen umgab sie wie das beständige Raunen eines Flusses. Ein Kind weinte und irgendwo wurde ein schwerer Karren gezogen, dessen Räder ächzten und knarrten.

Eine ganze Weile verging, in welcher sie sich beständig weiter fortbewegten und Madoka bemerkte, dass ihr langsam aber sicher übel wurde von dem Hin- und Herschaukeln der Sänfte. Die Geräusche wurden jedoch nicht leiser.

War es hier immer so laut? Madoka hatte ja keine Ahnung, wie es in einer Großstadt zu der Zeit, in der sie sich nun befand, für gewöhnlich zuging. Doch als sie endlich anhielten und einer der Shinsengumi den Verschlag öffnete, ihr sogar die Hand beim Aussteigen reichte, konnte Madoka endlich den Grund für den Tumult sehen: In Kyoto gab es gerade eine Art Volksfest. Überall standen Buden und es wurden allerlei verschiedene Waren und Lebensmittel angeboten. Die Straßen - natürlich noch unbefestigt - glichen einem bunten, überfüllten Rummelplatz. Gaukler führten ihre Kunststückchen vor und beladene Karren, gezogen von großen Ochsen, Pferden oder auch

Maultieren schienen die ohnehin hoffnungslos überfüllten Gassen vollkommen zu blockieren. Farbige Wimpel und Lampions tanzten lustig im Wind und direkt neben dem stattlichen Ansehen, vor dem die Gruppe Halt gemacht hatte, spielte ein Mann auf seiner Shamisen eine wunderschöne, wenn auch recht traurige Melodie.
 

Sie waren vor dem riesigen, verzierten Tor zum stehen gekommen. Madoka sah mit Erleichterung, dass man Aurinia wohl notdürftig verbunden hatte. Sie schien sich erstaunlich schnell wieder zu erholen. Die Yosei war zwar sehr blass, als sie nun ihre Sänfte verließ, aber sie konnte aus eigener Kraft stehen und trug nun einen Verband über ihrer Wunde.

Niemand schenkte ihnen Beachtung - was aber auch wirklich nicht weiter verwunderlich war bei der Vielzahl an unterschiedlichen Menschen die es hier gab. Das Tor wurde geöffnet, noch bevor jemand von ihnen vortreten und um Einlass bitten konnte. Madoka konnte Okita und den "Wolf von Mibu" nirgends sehen. Sie hatten sich wohl bereits zuvor von der Gruppe getrennt.

Sie wurden durch das Tor in einen wunderschönen japanischen Garten geführt, der mit seinen kunstvoll angelegten Blumenbeeten und künstlich angelegten Bächen, die von kleinen steinernen Brücken überspannt wurden, sehr an jenen Garten erinnerte, der auch Shigeru-samas Haus umgeben hatte. Auch hier gab es kleine Laternen, ebenfalls aus Stein, die soeben von Hausdienern angezündet

wurden. Es hatte zu dämmern begonnen.

Zwei ganz in schwarz gekleidete Männer, die beinahe das Aussehen von Ninjas hatten, nahmen die "Gefangenen" in Empfang. Während die Männer, mit denen sie hergekommen waren, nun in anderer Richtung über den Hof verschwanden, bedeuteten ihnen die beiden Schwarzgekleideten ihnen zum größten Gebäude auf dem beachtlich großen Grundstück zu folgen. Sie gingen eine breite Treppe aus sündhaft teurem weißen Marmor empor. Die große, prachtvoll mit ziselierten Goldarbeiten verzierte Flügeltür schwang wie von Geisterhand vor ihnen auf.

Auch die Empfangshalle, oder wie auch immer man den riesigen Raum, den sie nun betraten, nennen mochte, war nur noch als prachtvoll zu bezeichnen. Der "Glanz des Westens" hatte hier eindeutig bereits Einzug gehalten. Wenn auch vorwiegend alles aus Holz gefertigt worden war, so konnte man doch deutlich die Einflüsse der westlichen Welt ausmachen, sei es nun durch die von den Decken herabhängenden, schweren Vorhänge mit Goldkordel, welche anstelle von Türen die Durchgänge in angrenzende Räume verhüllten, die in geringen Abständen an den Wänden stehenden Tischchen und Couchen oder die Kronleuchter unter der Decke. Madoka fand das alles ein wenig ZU prunkvoll.

Und Aurinia schien sich regelrecht unwohl zu fühlen in dieser zwar fantastisch anzuschauenden, jedoch auch kalt und statisch wirkenden Umgebung.

Seltsam. Hieß es nicht, dass Takeos Bruder und die anderen Männer der Shinsengumi der westlichen Welt und ALLEM was dazu gehörte feindlich gegenüber standen? Waren sie es nicht, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die neue Regierung und deren neu aufgebaute wirtschaftliche Beziehungen zum Westen rebellierten? Warum dann all der Prunk? Warum dieses Haus?

Sie verstand es nicht.
 

Sie folgten einem der Gänge, die vom Eingangsbereich zu den nach hinten liegenden Räumen des Hauses führen mochten. Ab und zu kamen ihnen Männer in den hellblauen Roben der Shinsengumi entgegen. Aber auch die schwarzgekleideten Riesen, die die beiden Frauen begleiteten, schienen hier

nicht allein zu sein, wenn auch nicht alle von jenen seltsam verhüllten Männern, bei denen sogar das Gesicht verdeckt war und nur die Augen noch herausschauten, so groß und breit waren wie ihre Wächter. Sie wurden in ein Gemach mit bis zum Boden reichenden Fenstern im romanischen Stil

gebracht. Der Raum beherbergte persische Teppiche, die auch nur mit den Schwarzen Schiffen hergebracht worden sein konnten, und die bekannten Sitzkissen rund um einen großen, aber sehr flachen Tisch am Boden. Zudem befand sich noch ein Bett in dem Zimmer, das von dunkelblauen Vorhängen verhüllt und von einem Baldachin überspannt wurde. Die - ebenfalls dunkelblauen -

Vorhänge an den Fenstern, diesmal jedoch aus einem sehr leichten Stoff, bauschten sich im Wind, denn die Läden standen offen und boten einen Blick auf den auch hinter dem Haus einfach wunderschön anzuschauenden Garten.
 

Auf der Veranda stand ein Mann.

Madokas Herz schien einen Schlag lang auszusetzen - nur um dann doppelt so schnell weiterzujagen. Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen. Madoka zuckte bei dem Geräusch erschrocken zusammen, konnte jedoch den Blick nicht von der Gestalt draußen wenden.

"Ta... keo?", hauchte sie fassungslos.

Aurinia sah erst sie, dann ebenfalls die Gestalt an. Sie wollte etwas sagen, erkannte jedoch, dass ihr die junge Frau gar nicht zuhören würde. Natürlich handelte es sich bei jenem jungen Mann, der sich nun langsam herumdrehte, einen der blauen Vorhänge zur Seite schob und dann zu ihnen hereintrat, NICHT um Takeo - dass erkannte Madoka allerspätestens, als sie in das Gesicht ihres Gegenübers blickte. Aber ihr Herz raste trotzdem. Es WAR nicht Takeo. Aber der junge Mann vor ihr hatte dieselben, dunkelblauen Augen, dieselbe gerade Nase, denselben schmalen Mund, dieselben hohen

Wangenknochen und vor Allem: Dasselbe glutrote Haar. Allerdings trug Mamoru es kürzer, zwar auch zu einem Zopf gebunden, doch ein paar Strähnen fielen ihm zu den Seiten des Gesichtes lediglich bis zum Kinn herab.

Es WAR Yamazaki Mamoru, da gab es überhaupt gar keinen Zweifel. Madoka brachte keinen Laut über die Lippen. Sie glichen sich so sehr, dass sie als Zwillinge hätten durchgehen können. Vielleicht waren sie das ja auch. Und Madoka schnürte diese Ähnlichkeit einfach die Kehle zu. Sie war unfähig sich zu rühren.

Mamoru erwiderte Madokas Blick ruhig. Aurinia trat nun vor und ganz bewusst so hin, dass sie den Blickkontakt der beiden unterbrach.

"Yamazaki Mamoru nehme ich an? Natürlich. Es ist nicht zu übersehen..."

Bedächtig richtete der Angesprochene seinen Blick nun taxierend auf die junge Yosei. Er musterte sie kurz und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder Madoka zu, trat um die verblüffte Aurinia herum. Er griff - zur allseitigen Überraschung - nach der Hand der jungen Frau und führte sie galant an seine Lippen.

Die Berührung auf ihrer Hand war hauchzart und kaum zu spüren - dennoch durchfuhr es sie wie ein Blitz und sie erstarrte praktisch zur Salzsäule, starrte ihr Gegenüber aus weit aufgerissenen Augen an.

Mamoru schenkte ihr nun jenes strahlende Lächeln, das sie bei Takeo immer zu sehen gehofft hatte.

"Mein Bruder hat Geschmack, das muss man ihm lassen. Sakurai Madoka nehme ich an? Und die Yosei, die immer mit diesem lächerlichen Hundedämon zusammen ist. Wie wunderbar. Dann kann es nicht mehr lange dauern bis sie hierher kommen. Was meinst du, Soji-kun?"

Madoka war so verwirrt, dass es sie gar nicht weiter wunderte, dass er ihren Namen kannte. Und jetzt musste sie feststellen, dass sich noch eine Person mit ihnen im Raum befand. Dies beantwortete dann auch ihre Frage von vorhin, wo die betreffende Person abgeblieben war, als sie hier ankamen.
 

Okita Soji, das jüngste Mitglied der Shinsengumi, das jemals eine Einheit anführen durfte, schlank, zierlich und doch drahtig trat aus den Schatten eines der Vorhänge im hinteren Teil des Zimmers - selbst so lautlos wie ein dunkler Schemen. Er musste sich umgezogen haben, denn anstatt der blauweißen Robe trug er nun eine einfache, baumwollfarbene Yukata, die nur lässig gebunden war. Erst hier, als er ins Licht trat, konnte Madoka erkennen, WIE jung dieser Samurai noch sein musste. Er konnte noch keine achtzehn Jahre zählen. Sein Gesicht war immer noch das eines unbedarften, ewig sanft lächelnden Jungen - ohne indes tumbe oder gar einfältig zu wirken. Im Gegenteil: Er war für einen Mann außergewöhnlich schön, androgyn - beinahe wie ein junges Mädchen sah er aus, mit dem langen, im Nacken zum Zopf gebundenen Haar, welches dieselbe kastanienbraune Farbe hatte wie das von Madoka. Dennoch... Trotz des hübschen, ebenmäßigen Gesichtes hatte er etwas... Lauerndes an sich.

Mamoru trat neben Okita und legte vertraulich den Arm um die schmalen Schultern, drückte ihn an sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Soji leise lachte. Selbst dieses Geräusch klang bei ihm außergewöhnlich schön. Seine dunkelbraunen Augen richteten sich auf Madoka - und wurden schmal, als würde er sie abschätzen.

Laut sagte Mamoru nun: "Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Yamazaki Mamoru - das hast du dir sicher bereits gedacht."

Er ignorierte Aurinia nach wie vor völlig.

"Und euren Mienen entnehme ich, dass ihr Okita Soji-kun bereits kennt. Der - wie sagen sie auf den Straßen? - "gefährlichste Mann der Shinsengumi"?" Er lachte.

"Nun, ich würde sagen, die Leute haben Saito und vor allem Hijikata noch nie kämpfen sehen. Okita ist unser bester Mann - keine Frage. Aber hier gibt es AUSSCHLIEßLICH die besten Männer. Und er kann es kaum erwarten, einem alten Freund wiederzubegegnen, nicht wahr?"

Bei den letzten Worten warf er Okita einen solch... lüsternen Blick zu (anders konnte man das nicht ausdrücken), dass Madoka übel wurde. Dieser erwiderte den Blick gelassen und neigte leicht den Kopf, um die Worte zu bestätigen.

"In der Tat. Kanzaki Shido wird mit dem Leben dafür bezahlen, dass er die Shinsengumi verraten hat."

Madoka zuckte zusammen. Aurinia reichte es jetzt.

"Was soll das? Wollt ihr das Mädchen einschüchtern? Bravo! Das ist euch grandios gelungen. Könntet ihr sie nun bitte in Frieden lassen?"

Mamoru sah sie an.

"Wer hat dich gefragt, Yosei?"

So wie er das Wort aussprach klang es wie ein Fluch.

"Ich verstehe das alles nicht...", flüsterte Madoka verwirrt und entsetzt zugleich.

"Seid ihr nicht Anhänger des ehemaligen Tokugawa-Regimes und des Shogunats? Warum dann dieser... Prachtbau? Warum das alles?"

Yamazaki kam ihr wieder irritierend nahe. Er hob mit spitzen Fingern ihr Kinn.

"Weil es das ist, was man zuletzt erwartet. Dieses Haus gehörte Ysidro Itoshi, einem der bedeutendsten Führer der Kaisertreuen. Er... weilt nicht mehr unter uns - ergo benötigt er dieses Haus nicht mehr. Wir haben es uns... zunutze gemacht. Es ist die perfekte Tarnung. Niemand würde uns in diesem Palast vermuten."

"Ihr seid ziemlich einfältig wenn ihr glaubt, dass die Regierung nicht darauf kommt, wo ihr euch versteckt habt. Es ist beinahe dreist zu denken, dass sie nicht zuerst in dem Haus nachsehen werden, in welchem das Opfer gelebt hat. Natürlich werden sie hier zu allererst Nachforschungen anstellen und..."

"Sei unbesorgt. Wir haben zuverlässige Männer bei der hiesigen Polizei, die sich DIESES Problems annehmen können."

Mamoru wandte sich Okita zu.

"Könntest du unseren Gästen ihre Zimmer zeigen? Sorge dafür, dass es ihnen an nichts fehlt - sie aber auch nicht fliehen können."

Er lächelte schräg.

"Und komm danach wieder zu mir..."

Madoka beobachtete ungläubig, dass der junge Soji das Lächeln erwiderte und flüchtig zwinkerte. Die beiden Männer schienen tatsächlich etwas miteinander zu haben.

Ihr drehte sich beinahe der Magen um. Doch ihr blieb keine Zeit länger darüber nachzudenken. Sie wurden hinausgeführt.
 

Man brachte sie in ein ganz ähnliches Zimmer wie das, in welchem sie Mamoru getroffen hatten - mit einem entscheidenden Unterschied: Die Fenster hier waren vergittert und auch vor der Tür waren zwei Männer postiert - schwarze, riesige Kerle wie die, von denen sie auch hergeführt worden waren.

Als die Tür hinter ihnen verriegelt worden war ließ sich Madoka seufzend auf das riesige Bett fallen, das auch in diesem Zimmer nicht fehlte, allerdings in anderen Farben bezogen war.

Aurinia ließ sich auf die Erde sinken und rollte sich auf einem der großen Sitzkissen zusammen. Keine von beiden sagte etwas. Und Madoka hatte endlich Zeit nachzudenken. Über EINES war sie sich in den letzten Stunden und Tagen klar geworden: Sollte sie noch länger in dieser Zeit weilen, würde sie lernen müssen sich zu verteidigen. Sollte sie je hier herauskommen und sie alle diese furchtbare Geschichte überleben, dann würde sie Takeo oder Shido bitten ihr beizubringen, wie man sich verteidigte. Und dann würde sie nicht mehr so schwach sein. Dann würde sie selbst kämpfen können.

Sie blickte kurz zu Aurinia hinüber und war plötzlich einfach nur froh nicht allein hier zu sein. Sich der tröstlichen Nähe einer Freundin gewiss schlief sie schließlich tatsächlich irgendwann erschöpft ein.

Hijikata Toshizo

Takeo, Shido, Yasha und der alte Izuka Shizen hatten Kyoto zusammen mit einem Trupp ausgesuchter Kämpfer bereits am Mittag des folgenden Tages erreicht. Sie hatten sich aufgeteilt, um Nachforschungen im Stadtteil Nogushi anzustellen, waren allerdings nirgends auch nur auf die kleinste Spur der Shinsengumi gestoßen. Yasha musste zu diesem Zweck in eine Verkleidung schlüpfen, die ihm so ganz und gar nicht zusagte: Er sah mit dem weiten, sackleinenen Lumpengewand, dem bis in die Stirn gezogenen Kopftuch und mit der gebeugten Haltung, in der er sich fortbewegte, wirklich so aus wie ein greises Mütterchen, das nicht mehr die Kraft hatte gerade zu gehen. Es hatte die beiden jungen Männer all ihre Überredungskünste gekostet, Yasha dazu zu bringen diese Sachen anzuziehen. Letztendlich war aber auch dem sturen Halbdämon klar, dass er nicht einen einzigen Schritt in die Stadt hätte setzen können, wenn er seine lange Mähne - ganz zu schweigen von den doch recht auffälligen Hundeohren - NICHT verhüllt hätte.
 

Frustriert und erschöpft fanden sie sich am frühen Abend in einer billigen Absteige ein, um ihre Lage zu besprechen. Sie verteilten sich möglichst weitläufig über den gesamten Schankraum, damit ihre Zusammengehörigkeit wenigstens auf den ersten Blick nicht allzu sehr auffiel.

Takeo hatte das Gesicht in beide Hände gestützt und hatte sicher seit zwanzig Minuten nicht ein Wort mehr gesagt. Er vermied es an Madoka zu denken. Und wenn er es doch tat, spürte er eine rasende, kochende Wut auf ihre Entführer in sich aufsteigen, die ihm selbst Angst machte. Er bemühte sich ruhig zu bleiben, konnte jedoch nicht verhindern, dass seine Hände nervös zitterten, als er nun nach der flachen, kleinen Schale mit Sake vor sich griff.

Nur Shido-san fiel auf, wie es seinem Freund wirklich ging. Er war sehr besorgt, wollte ihn zugleich aber auch nicht bedrängen oder gar bemuttern. Daher schwieg er, aber GEFALLEN tat ihm Takeos Zustand nicht. Sollte er Madoka dafür nun hassen? Er erforschte seine Gefühle und stellte fest: Nein. Das konnte er nicht.

Und unwillkürlich drängte sich ihm ein Bild auf: Madoka, wie sie am ersten Abend nach ihrer Ankunft weinend in seinen Armen lag... Ihm wurde mit einem Mal ganz warm und er bemühte sich, nur auf seine Hände hinunterzuschauen. Dann schüttelte er den Kopf und zugleich den Gedanken ab. Es gab nun wahrhaft wichtigere Dinge, die es zu bedenken galt.

Yasha hatte auch lange Zeit nichts gesagt - wohl aber aus dem offensichtlichen Grund, eben NICHT als Mann oder gar das aufzufallen, was er wirklich war. Der einzige der halbwegs normal dreinschaute, beinahe gelangweilt, war Izuka-san. Der alte Mann bestellte sich nun schon den zweiten Krug Sake. Shido bewunderte insgeheim die Trinkfestigkeit des alten Haudegens.

"Ich würde mir keine Sorgen machen.", sagte er gerade ruhig.

"Wenn es wirklich so ist, dass dein Bruder es darauf anlegt dich zu sehen, dann werden sie UNS finden. Wir brauchen sie nicht zu suchen."

"Mpf...", machte Yasha unter seiner Kapuze hervor. "Weshalb haben sie dann die Mädchen entführt? Sie hätten doch einfach lieb darum bitten können, dann hätten wir ihnen bestimmt ohnehin einen Besuch abgestattet..."

"Gaaanz bestimmt...", brummte Shido sarkastisch. "Du bist so naiv."

"WER ist hier naiv, Gockelkopf?", fauchte der Halbdämon böse.

"Es liegt doch auf der Hand warum er die Frauen entführt hat.", ließ sich nun doch auch Takeo vernehmen. Der junge Samurai sah zwar in Shidos Richtung, der ihm direkt gegenüber saß, sein Blick schien jedoch durch ihn hindurchzugehen.

"Sie wollen uns wütend machen, rasend vor Wut. Wir sollen leichtsinnig werden..."
 

Jemand klatschte in die Hände - langsam und demonstrativ provozierend.

Plötzlich wurde es in dem verrauchten Raum des Gasthauses sehr still. Alle Blicke richteten sich auf die schlanke, hochgewachsene, ganz in einen schwarzen Kimono gehüllte Gestalt, die an der rückwärtigen Wand neben dem Durchgang zur Küche im Schatten lehnte. Als sich die Person sicher war, sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, trat sie effektvoll ins Licht - und Izuka sog erschrocken die Luft ein.

"Hijikata! Hijikata Toshizo!"

Sofort brach Tumult in dem Schankraum aus. Sämtliche Personen im Raum, die NICHT zu Takeos Gruppe gehörten, sprangen auf und versuchten wild durcheinanderlaufend hektisch die Tür zu erreichen, um am besten alle zugleich nach draußen zu drängen. Angstvolle Blicke wurden zurückgeworfen, hektisch geflüsterte Stimmen behaupteten, das dies der gefährlichste, schlaueste und gerissenste Kämpfer der Shinsengumi war.

Hijikata war sehr schlank und sehr groß. Sein Haar, dass er zu einem hohen Zopf gebunden trug, war ebenso schwarz wie sein Kimono, und fiel ihm lang und glänzend über die Schulter. Sein Gesicht war blass, die Augen schmal und ein beinahe lauernder Ausdruck darin verhinderte, dass man mehr als nur dunkle Pupillen, beinahe schon schwarze Abgründe, erkennen konnte. Er hatte steile Augenbrauen und eine beständige Zornesfalte schien seine Stirn zu verunzieren. Dennoch: Auch dieser Kämpfer der Shinsengumi war alles andere als schlecht aussehend. Er war vielleicht Mitte dreißig, wirkte zwar äußerst bedrohlich - aber er war nicht hässlich. Er hatte das Gebaren und Aussehen eines grazilen, schwarzen Panthers auf der Jagd.

Jetzt hatte er ihren Tisch erreicht und blickte auf Takeo hinunter. Er ignorierte Izuka-san, der ihn immer noch mit großen Augen anstarrte.

"Das ist gar nicht so falsch gedacht, Kleiner.", sagte er leise - seine Stimme schnitt dennoch mühelos durch jedes andere Geräusch, das zu hören war.

"Mamoru-san möchte schließlich den berühmt-berüchtigten Hitokiri treffen - nicht den verweichlichten Jammerlappen von einem Mann, der du jetzt bist. Da ist es doch nur nachvollziehbar, wenn er dich ein wenig... sagen wir "wütend" machen möchte..."

Ein süffisantes, falsches Lächeln stahl sich auf seine Züge. Takeo erwiderte den Blick aus den schwarzen Augen vollkommen regungslos, als wolle er die letzten Worte des Mannes Lügen strafen. Dafür war Shido wohl nahe daran, dem Fremden an den Kragen zu springen.

"Ganz und gar wunderbar. Wir haben jemanden gefunden, der für uns den Fremdenführer mimt.", zischte er böse, seine braunen Augen blitzten.

"Ist es nicht so, Toshi-SAN?"

Er betonte die letzte Silbe dermaßen überzogen, dass es einer Beleidigung gleichkam, und fuhr unbeirrbar fort:

"So sehen wir uns also wieder. Schön. Dann werden wir nun zweifellos den Mann hinter den letzten... "Übergriffen" kennen lernen, oder? Seit wann tanzt die Shinsengumi nach der Pfeife irgendeines dahergelaufenen größenwahnsinnigen Emporkömmlings wie Yamazaki Mamoru?"

Für eine Sekunde blitzte es gefährlich auf in jenen schwarzen, grundlosen Augen, doch dann blickte Hijikata auf Shido hinunter, als hätte er ein besonders ekliges oder doch zumindest lästiges Insekt entdeckt, das nicht einmal lohnte zertreten zu werden. Er ließ sich auch nicht zu einer Antwort herab, wandte den Kopf und sah nun doch Izuka an.

"Dass wir uns noch einmal begegnen hätte ich auch niemals für möglich gehalten, Shizen-san."

Sein Blick wurde schmal.

"Alt bist du geworden. Was hast du dir nur dabei gedacht, mit diesen Kindern hier herzukommen? Du weißt, dass du nicht lebend aus dieser Geschichte herauskommst - wo auch immer sie hinführen mag. Ich werde dich nicht gehen lassen."

"Und du? Scheinst immer noch genau der kleine, unvernünftige Junge von einst zu sein. Du hast dich überhaupt nicht verändert, bist noch genauso böse, wie du es schon als Kind immer warst. Einfach nur böse. Dazu hast du nie einen besonderen Grund gebraucht. Dir hat es einfach immer schon gefallen, andere Menschen zu quälen."

Izuka schüttelte den Kopf. Dann fügte er ohne Angst in der Stimme hinzu:

"Ja, ich weiß, dass ich noch einen Kampf in meinem Leben auszufechten habe und von dem Moment an, als ich dich zum ersten Mal sah, wusste ich, dass dieser Tag irgendwann kommen würde da ich dir gegenüberstehen werde und wir beide auf verschiedenen Seiten kämpfen. Aus diesem Grund bin ich hier. Vielleicht war mir das von Anfang an bestimmt."

Er erwiderte den Blick des schwarzhaarigen Hünen fest. Shido sah mit wachsender Verwirrung von einem zum anderen. Was hier vor sich ging musste auf ein Ereignis aus der Zeit zurückgehen, BEVOR er selbst zur Shinsengumi gestoßen war, vielleicht aus der Bakumatsu-Ära, der Zeit der Bürgerkriege.

"Alter Narr!", zischte Hijikata böse. "Du weißt nicht was du sagst. Der Tod ist nicht das erlösende Schicksal, das du dir erhoffst! Das ist der Tod nie!"

"Da hast du etwas falsch verstanden, Toshizo. Der Tod ist die Erlösung. Immer. Das STERBEN ist das, wovor der Mensch Angst hat. Aber selbst DIESE Angst habe ich im Krieg hinter mir gelassen..."

"Sehr gut. Dann lass es uns doch jetzt gleich hier hinter uns bringen. Das hätte ich schon lange tun sollen."
 

Hijikata trat einen Schritt zurück und zog das längste Schwert, das zumindest Yasha je gesehen hatte - wie man an seinem ungläubigen Blick unschwer erkennen konnte. Mannsgroß und äußerst biegsam, nichtsdestotrotz jedoch sehr scharf, fing seine Klinge die tanzenden Lichter der Laternen im Schankraum ein. Und jetzt erinnerte Shido sich wieder: Hijikata Toshizo, Vize-Kommandant der Shinsengumi von Kyoto, war ein Meister im Umgang mit dem No-Dachi. Hierfür war er bekannt und gefürchtet.

Allerdings hatte er selbst ihn nie zuvor - auch nicht, als er noch selbst ein Mitglied der Shinsengumi war - damit kämpfen sehen. Wie es aussah würde sich das jetzt ändern.

Hijikata schien sich nicht darum zu kümmern, dass er eigentlich gar nicht genug Platz hatte das Schwert zu ziehen, geschweigedenn es zu führen, aber er war wohl wild dazu entschlossen eine alte Rechnung zu begleichen, von der die übrigen Anwesenden nichts wussten.

Der sonst so besonnene, alte Izuka erhob sich langsam, schien wohl tatsächlich auf die Forderung eingehen zu wollen. Er zog in einer betont langsamen Bewegung sein Schwert. Hijikata hob die Klinge über seinen Kopf und ließ sie flach über sich kreisen, unmittelbar unter der Decke des Zimmers. Als die Schneide nach vorn zuckte traf sie plötzlich funkensprühend auf Widerstand.
 

Takeo stand direkt vor ihm und hatte den Schwung des riesigen No-Dachi mit seinem eigenen Schwert abgefangen. Sekundenlang standen beide Kontrahenten ganz still, sahen sich gegenseitig über die gekreuzten Klingen hinweg an, ein jeder den jeweils anderen abschätzend. Takeo war beileibe nicht klein - aber Hijikata war ein wahrer Riese. Er musste selbst Shido oder Saito an Größe noch überragen. Takeo musste aufsehen. Seltsamerweise tat das seinem eindrucksvollen Auftritt jedoch keinerlei Abbruch. Seine Haltung und Kleidung waren durch und durch die eines Kriegers und jeder in diesem Raum wusste, dass er nicht weichen würde, ganz unabhängig davon als wer er nun vor Hijikata stand: Einfach nur als ein entschlossener Samurai oder als ein zu allem fähiger Hitokiri.

Das schien Toshizo genauso zu sehen.

"Sieh an. Der "Rote Schatten". Ich hatte dich eben gar nicht erkannt. Interessant dich kennen zu lernen. Gar so schwach, wie Saito behauptet, scheinst ja nun doch nicht zu sein."

Er trat einen Schritt zurück, die Klinge wurde scharrend zurück in die Scheide geschoben.

"Aber gut, ich will es jetzt einmal dabei belassen. Man ist zu dem Entschluss gekommen, euch LEBEND zu fassen - daher möchte ich euch nun einfach bitten mir zu folgen. Dies ist zwar keine Bitte, doch bat man MICH wiederum, euch nichts zu tun, falls ihr ablehnen solltet - obwohl ich mir das in Anbetracht der überzeugenden Argumente, die sich momentan in unserer Obhut befinden, nicht denken kann."

Er warf Izuka einen kalten Blick aus seinen schmalen Augen zu.

"Aber merke dir eines, alter Mann, jener Tag, von dem du gesprochen hast, wird kommen. So oder so. Unsere Klingen werden sich einmal mehr kreuzen. Wenn nicht hier, dann eben an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Glaube mir, ich vergesse niemals etwas."
 

Er drehte sich geschmeidig auf dem Absatz herum und verschwand nach draußen, während die anderem ihm alle noch entgeistert nachblickten. Am überraschtesten war wahrscheinlich Izuka.

"Er... hat tatsächlich auf einen Kampf verzichtet? Ich kann es kaum glauben. Früher ließ er keine Gelegenheit aus..."

"Hör mal, Alterchen. Es ist mir eigentlich ziemlich egal woher du diesen unheimlichen Kerl kennst und was ihr früher erlebt habt, aber er ist unsere einzige Verbindung zu den Mädchen. Wir sollten ihm folgen. JETZT. Ich bin mir nicht sicher, dass er auf uns warten würde."

Shido hatte sich bereits erhoben und war schon an der Tür. Auch Takeo schob sein Katana zurück in die Scheide. Er wirkte erleichtert. Nicht, dass er Angst vor einem Kampf mit Hijikata verspürt hätte. Noch nie hatte er wirklich ANGST bei einem Kampf empfunden. Da waren immer viel zu viele andere Emotionen, die über die mögliche Angst triumphierten. Nein, Angst war es nicht, eher die Befürchtung, dass er in einem Kampf ohne Kompromisse wieder zum Mörder werden könnte. Es war unwichtig, dass er sich in diesem Moment nur verteidigen würde. Ein weiteres Mal stünde ein Leben auf dem Spiel - DAS war es, was zählte. Takeo zog auch nicht eine Sekunde lang die Möglichkeit in Erwägung SELBST zum Opfer werden zu können. Er sah immer nur den Mörder in sich und das Blut, das an seinen Händen klebte. Er war buchstäblich blind für alles andere. Das wusste er sehr wohl.

Und DAS machte ihm doch Angst. Er war froh, dass er nicht hatte kämpfen müssen.

Die Gruppe beeilte sich das Gasthaus zu verlassen. Zurück blieb ein in Schweiß gebadeter Wirt, der sich beinahe die Hose nass gemacht hätte, so erleichtert war auch ER, dass es nicht zum Kampf gekommen war. Seine Einrichtung war einmal mehr unversehrt geblieben. Er ließ den Fremden keinen Abschiedsgruß zukommen und verschwand dann, nachdem sie gegangen waren, sehr schnell im Hinterzimmer, wo er sein stilles Örtchen wusste und erstmal einen klaren Kopf bekommen konnte...

Falsche Liebe

"Was zum Teufel DENKT sich der Kerl eigentlich?"

Eine Kette, gefolgt von Ohrringen und Armbändern, dann sogar ein paar ausnehmend hübsche Schuhe, flogen durch die Luft quer durchs Zimmer und landeten lautstark an der gegenüberliegenden Wand, wo sie sich anschließend zu einem bereits am Boden zusammengeknüllten Etwas gesellten, das wohl eine Art Kleid in europäischem Schnitt darstellte.

Madokas Augen sprühten Funken. Sie stand, nur in Unterwäsche gekleidet, aufgebracht mitten im Zimmer und war umgeben von Kleidern und Stoffen aller nur möglichen Schnitte und Materialien. Die Dienstmädchen hatten sich respektvoll ein Stück von ihr zurückgezogen.

"Da sollen wir uns ausstaffieren lassen wie eine Barbie-Puppe und mit ihm zu Abend essen? Ich GLAUBE das einfach nicht. Ist der verrückt geworden? Was erhofft er sich davon? Wir sind seine GEFANGENEN!"

"Vielleicht sollten wir froh sein, dass wir so behandelt werden. Es hätte schließlich auch anders kommen können. Ich sage nur Folter, Vergewaltigung..."

Aurinia sammelte in aller Seelenruhe die Utensilien wieder auf, die Madoka in ihrer Wut in alle Teile des Zimmers befördert hatte.

"Wie kannst du nur so ruhig bleiben? Ich werde hier noch WAHNSINNIG..."

"Ich weiß, dass ich nicht lange hier bleiben werde."

Die Stimme der Yosei vermittelte eine Zuversicht, die Madoka nicht einmal ansatzweise verspürte.

"Und du solltest dir eigentlich auch nicht zu viele Gedanken machen. Takeo wird dich nicht im Stich lassen. Ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat."

Die Yosei kam zu ihr und drückte ihr eines von den Kleidern, die sie auf dem Arm trug, in die Hand. Es hatte einen wundervoll satten, roten Farbton und schwang weit aus, etwas, das in diesen Breiten gänzlich unbekannt oder doch zumindest sehr neu sein dürfte.

"Hier. Das steht dir sicher blendend."

Sie selbst hatte sich bereits umgezogen und sah - zugegebenermaßen - bezaubernd aus in ihrem laubgrünen Kleid. In Ihrem hochgesteckten Haar trug sie Spangen, die wie Efeublätter geformt waren. Murrend ließ sich Madoka von ihrer Freundin in das rote Kleid helfen.

"So. Und jetzt sieh dich an."

Aurinia zog sie vor den großen Spiegel im Zimmer, den man auf einem Holzgestell kippen konnte.

Madoka starrte sich selbst an, als würde sie sich nicht wiedererkennen. War das wirklich sie?

"Wundervoll.", sagte die Yosei. "Ich denke, Takeo wäre in jedem Fall sprachlos wenn er dich so sehen könnte."

Madoka war sich da nicht so sicher. Das Kleid war fantastisch. Sie hatte in den letzten zwei Wochen derart abgenommen, dass sie tatsächlich auch mal zufrieden mit ihrer Figur war. Sie war zwar immer noch nicht dünn, aber doch zufrieden. Und das Kleid... war in der Tat ein Traum. Allerdings sah sie am

Kopf aus, als wäre sie geradewegs durch einen Orkan gelaufen. Unglücklich zog sie an den verfransten Strähnen.

"Oh, das haben wir gleich. Ich werde das machen."

Aurinia nickte den Geishas zu, die sich unter Verbeugungen zurückzogen, und bedeutete Madoka sich zu setzen. Sie ließ sich hinter ihr nieder und begann sie zu frisieren. Als Okita sie abholen kam erkannte sich Madoka nun wirklich kaum noch wieder.

Sie fühlte dennoch... nichts. Sie würde alle Kleider der Welt und noch so viel mehr dafür hergeben, jetzt zu Hause zu sein. Oder bei ihm...

Okita stand auch geschlagene drei Sekunden da und sagte gar nichts. Sein Blick war eindeutig bewundernd. Doch er schwieg sich auch während ihres Weges zum Bankettsaal aus.

Anders konnte man den runden, großen Raum mit der stuckverzierten Decke, den Kronleuchtern, den mattgold gestrichenen Säulen und verspiegelten Wänden nicht nennen. In seiner Mitte stand dann auch ein riesiger, wenn auch ungedeckter Tisch. Madoka fühlte sich nicht mehr so, als wäre sie in Japan. Dies hier hätte auch gut in die Kulisse Neuschwansteins in Deutschland gepasst. Dieser Ysidro musste einen starken Hang zum Kitschigen und Pompösen gehabt haben. Und er musste steinreich gewesen sein. Es war alles so... unwirklich. Sie fror plötzlich.

Wenn sie sich so jemanden wie Takeo in seiner traditionell japanischen Kleidung hier in diesem Raum vorstellte... Sie ließ es lieber. Sie war in einem Traum innerhalb eines Albtraumes - so kam es ihr jedenfalls vor. Und sie wollte auch hieraus nichts anderes als Erwachen.

Okita blieb jedoch nicht stehen, sondern führte sie zu den großen, geöffneten Verandatüren. Dann ließ er ihnen den Vortritt hinaus auf eine steinerne Terasse, über Treppen hinab in jenen Garten, den man auch von Mamorus Zimmer aus schon hatte sehen können.

Und hier...

... war es einfach nur wunderschön. Wo sie drinnen der westliche Prunk beinahe erdrückt hatte, war es hier draußen, in diesem typisch japanischen Garten, der so gar nicht zu dem Haus passen wollte, traumhaft schön. Madoka stand auf der Treppe und schaute hinab auf den reich gedeckten Tisch, der auf der zweiten, etwas unterhalb der ersten angelegten Terasse aufgestellt worden war. Steinerne Laternen illuminierten den ansonsten in samtener Schwärze daliegenden Garten, kleine, verträumte Inseln aus Licht in der Dunkelheit, in denen man winzige Bäumchen, wunderschöne Blumenrabatten, steinerne Brücken und ruhig dahinplätschernde Bäche erkennen konnte. Und Glühwürmchen gab es hier. In der erstaunlich lauen Luft gaukelten unzählige der winzigen, leicht grün schimmernden Insekten und verliehen der gesamten Kulisse etwas Unwirkliches, und beinahe Überirdisches. Große Ständer mit langen Kerzen erhellten den Bereich rund um den Tisch.
 

Und neben der Tafel stand Mamoru. Er sah unglaublich gut aus.

Er trug einen dunkelblauen Kimono, darüber eine schwarze Schärpe und der weiße Stoff seines Untergewandes schaute effektvoll an Brust und Armen aus dem Oberteil hervor. Das Haar trug er nun offen. Es fiel ihm leicht, wenn auch längst nicht so lang wie das von Takeo, über die Schultern und schimmerte wie flüssiges Kupfer im Schein der Kerzen. An seiner Seite trug er ein Katana.

Er trat auf die Frauen zu. Formvollendet verneigte er sich und griff dann, ohne sich groß mit Floskeln

aufzuhalten, nach Madokas Arm, um sie zum Tisch zu führen. Aurinia blieb etwas pikiert zurück. Doch schon war der junge Okita wieder an ihrer Seite und hielt ihr auffordernd seinen Arm hin. Seufzend ergriff die junge Yosei den Arm des Jünglings. Sie war beinahe einen Kopf größer als er. Als sie um den Tisch herum Platz nahmen, zog sich Okita jedoch wieder zum Haus zurück. Einzig ein paar in schwarz gekleidete Männer blieben in einiger Entfernung rund um den Tisch stehen, die Gesichter mit schwarzen Tüchern verhüllt. Ihren wachsamen Blicken schien nichts zu entgehen.
 

Während des gesamten Essens, das zugegebenermaßen vorzüglich schmeckte und sowohl Reis mit Hühnerfleisch als auch in Blätterteig gebackene Meeresfrüchte und gedünstetes Gemüse, Sojasprossen und sogar Bambus, beinhaltete, sprachen sie alle kein einziges Wort. Mamoru schien sich ganz auf das Essen zu konzentrieren und winkte hier und da einem Diener, der dann wie von Geisterhand auftauchte, um mehr Sake zu bekommen.

Madoka war so viel Sake nicht gewohnt. Sie spürte schon jetzt ihren Kopf schwirren und gemahnte sich zur Vorsicht. Sie durfte sich auf keinen Fall betrinken. Nicht, dass sie das gewollt hätte, aber Mamoru ließ auch die Schalen der Frauen immer wieder auffüllen. Madoka hätte nicht zu trinken

brauchen. Ebenso wenig wie sie etwas essen musste - aber sie war dermaßen ausgehungert und hatte einen solchen Durst, dass sie dennoch tüchtig zulangte. Sie war zu schüchtern um nach einfachem Wasser zu fragen - und ärgerte sich wieder einmal über sich selbst deswegen.

Gegen Ende des Dinners hatte sie hochrote Wangen und glänzende Augen. Das sah zwar wirklich fantastisch aus und passte sehr gut zu ihrer Garderobe - zeugte aber eindeutig von einem schon mehr als nur kleinen Schwips. Sie hatte die letzten Runden Sake schon ausgelassen und bedeutend weniger getrunken als die anderen, aber sie war dieses Getränk einfach nicht gewohnt und hatte, wie bereits erwähnt, furchtbaren Durst. Seltsamerweise verlosch dieser Durst auch nicht, egal wie viel sie noch getrunken hätte.

Sie sah hinüber zu Aurinia, die immer noch unberührt und bewundernswert gefasst auf ihrem Stuhl saß. Hin und wieder warf sie einen forschenden, beinahe erwartungsvollen Blick in den dunklen Garten hinaus, als würde sie auf etwas warten. Madoka selbst fühlte sich sehr leicht und zugleich

hundemüde. Sie schaute heimlich zu Mamoru hinüber, der soeben der Dienerschaft einen Wink gab abzuräumen. Er sah... so gut aus.

Für einen kurzen Moment überschnitt sich das Bild von Takeo, das sie im Herzen trug, mit dem von Mamoru und die beiden Brüder wurden eins in ihrer Erinnerung. Sie fühlte ein seltsames Ziehen in der Brust und ihre Hände begannen zu zittern.

'Takeo... Wo bist du?', dachte sie.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und bemerkte erstaunt, dass ihre Stirn schweißnass war. Sie glühte ja regelrecht! Was ging hier vor?

Jetzt hatte Aurinia bemerkt, dass etwas nicht stimmte.

"Madoka? Madoka, was ist los?"

Madoka drehte den Kopf in ihre Richtung - sofort begann sich alles um sie herum leicht zu drehen. Sie lächelte hilflos.

"Ich fürchte, ich habe nen kleinen - HICKS! - Schwips. Pardon...", wandte sie sich dann an Mamoru.

Dieser sah nicht im Mindesten beeindruckt aus und schenkte ihr sein schönstes Lächeln.

"Ich bitte dich. Das ist doch nicht der Rede wert. Ich freue mich, dass du dich hier so wohl fühlst."

Wohlfühlen? Madoka fühlte sich alles andere als wohl. Sie fühlte sich seltsam - vorsichtig ausgedrückt.

"Was war in dem Sake drin, du Mistkerl?", schleuderte Aurinia dem jungen Mann über den Tisch hinweg entgegen. "Was hast du mit ihr gemacht?"

Mamorus Lächeln war unerschütterlich.

"Ich hätte wissen müssen, dass es bei dir nicht wirkt."

Er winkte kurz und hinter der überraschten Yosei traten zwei der schon bekannten,

schwarzgekleideten Riesen heran, völlig lautlos, und ergriffen die junge Frau an den Armen.

"Nun, das macht eigentlich nicht viel. Ich bin nur an dieser jungen Dame hier interessiert. Man hat mir geflüstert, dass sie meinem Bruder recht nahe steht - habe ich Recht, Madoka-chan?"

Mamoru drehte sich Madoka zu, die mittlerweile einen Zustand erreicht hatte, in dem sie zwar sehr wohl mitbekam, was um sie herum vor sich ging, es aber ausgesprochen erheiternd fand. Sie kicherte zur Antwort.

"Madoka!", schrie Aurinia entsetzt. "Komm zu dir! Siehst du nicht, was er mit dir macht?"

Die Angesprochene erhob sich leicht schwankend. Sofort war Mamoru neben ihr und stützte sie.

"Warum? Was tut er denn?", fragte sie mit schwerer Zunge und lächelte ihrer Freundin zu.

"Ich weiß nicht, was du meinst."

Aurinia bäumte sich in den Armen ihrer Wächter auf.

"Das kann doch einfach nicht... Ich glaube das nicht! Mamoru, lass das Mädchen in Ruhe! Was soll das!"

Mamoru schlenderte lässig auf die zu. Er beugte sich ganz nah zu ihr, sodass nur sie die Worte verstehen konnte.

"Was das soll? Ich denke, das wirst du noch früh genug erkennen. Allerdings bist du zu unwichtig für mich, um es dir jetzt schon zu verraten. Ich denke, dass das Rauschmittel bei dir zwar nicht dieselbe durchschlagende Wirkung erzielt wie bei deiner reizenden Freundin - aber deine Reaktionen dürften dennoch langsamer sein als zuvor. Lass es mich ausprobieren."

Dann lächelte er sie zuckersüß an - und schlug ihr unvermittelt mit der geballten Faust sehr wuchtig in den Leib.
 

Aurinia keuchte überrascht und bekam plötzlich keine Luft mehr. Die Wunde an der sorgsam verbundenen Schulter brach auf, das konnte die Yosei spüren. Der Schmerz raubte ihr nicht nur den Atem, sondern auch die Sinne. Sie sackte in den Armen ihrer Wächter zusammen.

"Bringt sie ins Haus.", sagte Mamoru kühl und ließ dann, ganz ähnlich wie die Yosei es zuvor auch schon getan hatte, den Blick langsam und sehr wachsam durch den Garten schweifen. Auch er schien auf etwas zu warten. Aber für all das hatte Madoka keinen Blick mehr.

Was auch immer Mamoru ihr in den Sake getan hatte, es wirkte schnell und es ließ Madoka alles vergessen - selbst was sie soeben gesehen hatte. Sie registrierte auch nur am Rande, dass man die bewusstlose Aurinia fortbrachte. Etwas in ihr schrie protestierend auf, wollte sich aufbäumen und auf Mamoru stürzen. Doch sie war einfach zu müde, um diese Gedanken umzusetzen.

Und dann drehte Mamoru sich herum.

Die meisten Kerzen waren durch den aufkommenden Nachtwind verloschen oder heruntergebrannt. Sein Gesicht lag im Schatten als er jetzt auf sie zukam. Aber seine Augen funkelten. Es war schwer, den Ausdruck darin zu deuten. Madoka hatte mit einem Mal ein ganz merkwürdiges Gefühl - noch nicht richtig Angst, aber doch eine Art... Unwohlsein und Argwohn. Allerdings verhinderte die ihr verabreichte Droge, dass aus dieser Ahnung eines Gefühls mehr wurde. Das Lächeln auf Mamorus Zügen war wie fortgewischt, wie sie nun erkannte als er näher kam.

"Verschwindet!", herrschte er seine Diener an, ohne indes den Blick von der zitternden Madoka zu wenden.

Er erreichte sie und hielt ihr den Arm hin.

"Möchtest du mich in den Garten begleiten? Vielleicht tut dir ein kleiner Spaziergang ganz gut, was meinst du, meine Süße?"

Seine Stimme war nun wieder sehr freundlich - und Madoka zu benommen, um die Häme und Ironie hinter diesen Worten zu erkennen. So nahm sie die Aufforderung an, hakte sich bei ihm ein und zusammen gingen sie die Treppen und über die flachen Terassen hinunter in den Garten. Sie genoss das Gefühl, an seiner Seite zu sein. Madoka war sich nicht bewusst, dass ihre Gedanken mehr und mehr verschwammen, Vergangenes und Gegenwart eins wurden. Mamoru war wieder der perfekte Gentleman, führte sie durch die parkähnliche Anlage, erzählte ihr belanglose Nichtigkeiten, die in ihrem Kopf zu einem beruhigenden, monotonen Kanon wurden. Sie wurde schläfrig.

"Es ist recht warm heute, findest du nicht auch, Madoka-chan?"

Der junge Mann blieb stehen. Er nestelte ein dunkles Band aus seinem Ärmel und reichte es der verdutzten Madoka.

"Mir ist sogar ein wenig ZU warm. Würdest du mir das Haar binden?"

Er drehte ihr den Rücken zu und nahm sein kupferfarbenes Haar zu einem Zopf zusammen.

Madoka stand da wie vom Donner gerührt. Sie starrte auf sein Haar, seine Hände, seine Schultern - und ihr wurde plötzlich ganz warm ums Herz. Sie taumelte ein wenig, als sie dicht hinter ihn trat und den Zopf band. Sie war in einer Art von Trance, in der sich Wahrheit und Wunschdenken einfach

vermischten.

"Takeo...", flüsterte sie leise, als sie zurücktrat. "Du hast wundervolles Haar..."

Sie spürte, wie sie rot wurde und kicherte verlegen - auch dies war wohl dem Einfluss der Droge zu verdanken, wovon sie natürlich nach wie vor keine Ahnung hatte. Dafür wuchs plötzlich noch etwas anderes in ihr heran. Der Wunsch, Takeo endlich zu sagen, wie sehr sie ihn liebte. Der Wunsch, diese wunderschön geschwungenen Lippen endlich zu berühren, diese Arme um ihrem Körper zu fühlen...

Ihr Blick verschwamm.

Sie taumelte erneut, wie ein Schmetterling in zu starkem Wind, und wäre gestürzt, wenn Mamoru nicht nach ihr gegriffen hätte. Natürlich hatte er es genau darauf abgesehen: Dass sie ihn für Takeo selbst hielt und so unvorsichtig wurde. Das Rauschmittel, das er ihr gegeben hatte, sollte sie ihm gefügig machen. Sein Bruder würde vor Wut kochen. Erneut stahl sich ein falsches Lächeln auf die Gesichtszüge, die denen des jungen Samurai Takeo zum verwechseln ähnlich sahen.

"Madoka... Geht es dir nicht gut? Du solltest dich vielleicht ein Weilchen ausruhen."

Er bugsierte sie zu einer der Brücken des Gartens und ließ sie sich am Geländer abstützen.

"Geht es?"

"Mmmmhh...", gluckste Madoka. Es klang erheitert.

"Ich fühle mich so... leicht! Alles ist so... Mmmm... Takeo-san?"

"Ja?", antwortete Mamoru arglos.

"Ich wollte dir eigentlich schon länger etwas sagen..."

Sie drehte sich herum und sah ihn an - versuchte zumindest ihren Kopf zu heben und ihn auch zu

halten, um in seine Augen zu sehen.

"Du musst nicht sprechen wenn du nicht willst, meine kleine Madoka-chan.", sagte er mit täuschend echter Sanftheit.

"Ich weiß ohnehin was du mir sagen möchtest."

Er kam näher und mit einem Mal konnte sie seinen Leib ganz nah an ihrem spüren. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich augenblicklich, ihr Herz jagte. Das war es! Das hatte sie sich immer gewünscht: Dass jemand ihre Gefühle erwiderte, dass jemand sie so liebte, wie sie war. Sie war so glücklich.

Mamoru hob mit spitzen Fingern ihr Kinn an. Und als er nun fest und voll Verlangen seine Lippen auf ihre legte, seine Zunge fordernd in ihren Mund eintauchen ließ, da wehrte sie sich nicht, sondern kam ihm entgegen, seufzte und stöhnte leise in seinen Mund, bewegte sich aufreizend an seinem Körper und schien geradezu nach mehr zu betteln...

Diese Droge war unglaublich. Mamoru spürte, wie sehr Madoka ihn erregte, wie sehr es ihn erregte, wenn sie sich ihm so willig hingab. Er hatte es ursprünglich gar nicht vorgehabt wirklich zu tun. Aber wenn sie ihn so heiß machte...

Und Madoka genoss die Berührungen und Liebkosungen ihres Gegenübers in dem blinden Glauben, sich Takeo hinzugeben. Sie war so erregt und berauscht wie nie zuvor in ihrem Leben.Und so blind für das, was wirklich geschah...

Als er seiner Hände fordernd über ihren Körper gleiten ließ und schließlich ihr Kleid raffte, um seine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten zu lassen verspürte Madoka zunächst nichts anderes als gelinde Überraschung (ging das immer so schnell?) und (DAS war eigentlich das vorherrschende Gefühl) ein immer stärker werdendes Verlangen. Ihr Körper reagierte sehr stark auf seine Berührungen.

"Ich will dich, Madoka. Das ist es doch, was du auch möchtest, oder?", flüsterte er rau an ihrem Ohr.

Die junge Frau stöhnte unterdrückt, als seine Hand in ihren Slip glitt.

Aber...
 

Etwas stimmte nicht. Sie spürte es mehr, als dass sie es wirklich wusste, aber etwas war nicht so wie es sein sollte. Sie verspürte Verlangen und sogar Lust - aber keine...

Liebe. Tatsächlich! Es war so, wie sie voller Überraschung feststellte. Hier fehlte eine wichtige Sache: Die Liebe. Es sah zwar so aus, als wäre es genau das, was sie sich insgeheim immer gewünscht hatte - aber das war es nicht. Es war nur ein Wunschbild. Es sah nur äußerlich nach Liebe aus - aber es war

nur Illusion. Seine Hände waren eine Spur zu...

Sie konnte es nicht in Worte fassen. Doch mit einem Mal zwang Madoka ihren Körper, sich zurückzuziehen - was angesichts der immer noch wirkenden Droge eine ungeheuere Kraftanstrengung darstellte.

"Was ist denn?", fragte Takeo (Takeo?) leicht unwillig.

"Was hast du, Madoka? Du liebst mich doch, oder?"

Madoka blinzelte.

"Es geht mir... zu schnell...", antwortete sie mühsam. Ihr Herz raste immer noch und ihr Körper wollte noch immer die Berührung seiner Haut auf der ihren spüren. Aber sie zwang sich noch weiter zurückzuweichen.

"Gib mir noch etwas Zeit..."

"Zeit? Du hattest alle Zeit der Welt, Schätzchen. Ich WILL nicht warten. Komm schon, du willst es doch auch! Das ist wieder so typisch für euch Frauen. Erst macht ihr uns rasend vor Verlangen - und dann geht es euch plötzlich zu schnell.", meinte der junge Mann ungehalten.

'Billig!', dachte Madoka. 'Das alles hier! Es ist BILLIG! Das KANN nicht Takeo sein.'

Und in dem Moment, in dem sie von dem Gedanken an Takeo Abstand nahm, in welchem sie ihr Gegenüber WIRKLICH ansah, erkannte sie ihren Irrtum endlich. Es war nicht Takeo - es war Mamoru, sein Bruder, der da vor ihr stand und seine Hand unter ihrem Kleid hatte! Angewidert stieß sie ihn von sich.
 

Und dann zeigte Mamoru sein wahres Gesicht.

Madoka erkannte das gefährliche Funkeln in seinen Augen und keuchte erschrocken, drehte sich herum, wollte laufen, rennen, fliegen... Sie taumelte nur, ihre Beine waren beinahe gefühllos. Doch es machte ihm offensichtlich Spaß, sie zu quälen, denn er ließ sie weiter in Richtung des Wohnhauses laufen, schlenderte seelenruhig hinter ihr her und lachte leise. Sie hatte die Treppen erreicht und kämpfte sich die Stufen zur ersten Terasse hinauf.

"Du kannst nicht vor mir weglaufen, Süße! Und langsam reicht es auch mit den Spielchen, meinst du nicht auch?"

Mit ein paar Sätzen hatte er sie nun erreicht und riss sie am Arm herum. Dann stieß er sie rücklings auf das breite, steinerne Geländer der Terasse und war sofort über ihr. Madoka hörte Stoff reißen.

"Findest du nicht auch, dass Brüder redlich teilen sollten, was ihnen gehört? Sag mir, Madoka, warum sollte ich nicht das nehmen, was auch mir zusteht?"

Seine Stimme, vollkommen verändert, rau und dunkel, erklang dicht an ihrem Ohr. Sie bäumte sich in seinem Griff auf, war aber immer noch zu benommen, um sich ernsthaft wehren zu können. Ein Teil ihres Bewusstseins erkannte sehr wohl, was hier vorging. Er würde sie vergewaltigen wenn nicht

gleich ein Wunder geschah. Aber zugleich war ihr Körper durch die Droge und den Alkohol, aber auch durch die Angst wie gelähmt. Sie wollte schreien und brachte keinen Ton heraus.

Mamoru packte grob ihr Kleid, riss es mit mehreren, wuchtigen Bewegungen von ihrem Leib und stieß sie zurück auf den Sims, zwang ihre Beine auseinander.

"Ich werde ihn so richtig wütend machen. Oh, ja. Er wird leiden, so wie ich gelitten habe! Ich WILL das er leidet! Ich will es sehen! Er wird herkommen. Und DANN werde ich den Hitokiri gebührend empfangen! Ich werde mit ihm kämpfen - endlich!"

Mamoru schien mit den Gedanken gar nicht hier zu sein. Mit beinahe mechanisch wirkenden, groben Bewegungen riss er der zitternden jungen Frau die letzten Fetzen des Kleides von den Schultern und griff dann nach ihrer Wäsche. Madoka zuckte zurück - und er schlug sie unvermittelt mit dem

Handrücken über die Lippen. Blut. Sie schmeckte Blut.

Nein. Das war nie und nimmer Takeo. Wie hatte sie nur so blind sein können? Wie hatte sie auf ihn hereinfallen können? Auch WENN sie unter Einfluss von Alkohol und vielleicht auch irgendeiner Droge stand, sie machte sich Vorwürfe, dass sie so dämlich gewesen war, das nicht zu erkennen. Dieser Mann war das genaue Gegenteil seines Bruders. Wo Takeos Bewusstsein, seine Präsenz in ihrer Gegenwart gestrahlt hatte wie das Licht der Sonne, das durch die dunklen Wolken eines Gewitters brach, so war die von Mamoru wie dieses Gewitter selbst: Dunkel, brutal und bedrohlich - unberechenbar.

Er öffnete seinen Kimono - darunter war er vollkommen nackt! Sie starrte entsetzt auf sein aufgerichtetes Geschlecht und versuchte sich verzweifelt klar zu machen, dass dies hier die bittere Wirklichkeit war und ihr gleich etwas sehr Abstoßendes angetan werden würde, wenn sie nicht ENDLICH aus ihrer Lethargie erwachte! Aber noch immer war sie unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Er drängte sich zwischen ihre geöffneten Schenkel und umfasste grob ihre Handgelenke, um sie daran zu hindern um sich zu schlagen.

Innere Dämonen

Madoka wimmerte vor Schreck und Schmerz - und es war nicht nur der körperliche Schmerz, den sie da verspürte. Sie blickte in das Gesicht des Menschen, den sie mehr liebte als ihr eigenes Leben - und doch wieder nicht. Der Blick DIESER Augen war grausam, eine verzerrte, beängstigende Karikatur dessen, was sie so an Takeo liebte. Alles, alles was sie für Takeo empfand, die Sehnsucht, die Leidenschaft, das Vertrauen - all das wurde nun mit Füßen und in den Staub getreten, ging in einem

Scherbenhaufen zu Bruch und würde womöglich niemals wieder herzustellen sein. Und diese Erkenntnis war es dann auch, die letztendlich dafür sorgte, dass sie zumindest ihre Stimme wiederfand.

Sie schrie. Mamoru lachte rau. Er versuchte weiterhin in sie einzudringen, doch Madoka fühlte nun endlich langsam ihre Kräfte zurückkehren und versuchte sich rücklings immer weiter von ihm zurückzuziehen, hing schon gefährlich weit über die Brüstung hinweg. Und dann...
 

... bekam sie unverhoffte Hilfe - allerdings von einer Person, von der sie es am Allerwenigsten erwartet hätte. Jemand klatschte in die Hände, langsam und voller Ironie. Madoka hörte ein leises, humorloses Lachen. Und dann erkannte sie Saito Hajime, der mit langsamen Schritten die Stufen der Freitreppe zu ihrer Rechten heraufkam. Er lehnte sich, bei ihnen angekommen, lässig gegen die Brüstung der Veranda und zündete sich in aller Seelenruhe einen von seinen übelriechenden Zigarillos an.

"Ein wirklich unterhaltsames Katz-und-Maus-Spiel. Ganz, ganz vorzüglich, Mamoru. Ein sehr geistreicher Einfall, sich den Hitokiri zum Feind zu machen. Aber, denkst du nicht auch, dass du dich da ein WENIG in etwas hineinsteigerst?", er lachte wieder, leise und abfällig. Der "Wolf von Mibu"

mochte, ebenso wie all die anderen Mitglieder der Shinsengumi, ein Bündnis mit Yamazaki eingegangen sein, schien ihm jedoch keinesfalls untergeben. Jedenfalls zollte er ihm keinerlei Respekt.

Und das erzürnte Takeos Bruder anscheinend über die Maßen. Mit einem wütenden Schnauben zog er sich von Madoka zurück und raffte seine Kleidung wieder um die Schultern.

"Saito! Wie könnt ihr es wagen in solch einem Ton..."

"Nun mal ganz langsam, Bürschchen. Ich denke nicht, dass DU mir etwas zu sagen hast. Nur weil du Kondos Liebling warst, nun Hijikatas Laufbursche geworden bist und hier schalten und walten kannst wie dir beliebt heißt das noch lange nicht, dass ich dir unterstellt bin. Ich habe schon gelebt und gekämpft als du noch in die Windeln gemacht hast. Erzähl mir also nicht, dass ich einem KIND

Respekt zu zollen hätte. Wir haben eine Vereinbarung, das ist richtig - aber nicht mehr und nicht weniger. Ich bin nicht dein Diener."

Saito war ganz ruhig und wirkte nicht im Mindesten von Mamorus Zorn beeindruckt. Genüsslich sog er an seiner Zigarre und blies den Rauch mitten in Yamazakis hochrotes Gesicht. Dieser sah wohl langsam seine Felle wegschwimmen: Die Situation drohte ihm zu entgleiten, er selbst vor einer Frau - einer Frau! - bloßgestellt zu werden! Das alles ließ Mamoru nach seinem Schwert greifen und es blitzschnell ziehen!

Madoka, die sofort, nachdem er sie freigegeben hatte, nach ihrer Kleidung gegriffen hatte, um zumindest die gröbste Blöße zu bedecken, erkannte mit Entsetzen, dass Mamoru Battojutsu - die Kunst des Schwertziehens - genauso schnell und präzise beherrschte wie sein Bruder. Zumindest hier stand er ihm wohl in nichts nach. Die blanke Klinge lag an Saitos Kehle, noch bevor dieser ganz zu Ende gesprochen hatte.

"Halte mich nicht zum Narren, Saito.", meinte er mit gefährlich leiser Stimme. "Unterschätze mich nicht. Ich mag jünger sein als du, aber ich mute mir durchaus zu mit dir und deinem Gatotsu fertig zu werden. Sei vorsichtig. Ich könnte es darauf ankommen lassen."

Saito blickte leicht konsterniert drein und beobachtete mit gelinder Überraschung, wie das Ende seiner Zigarre plötzlich, von einem sauberen Schnitt abgetrennt, herabfiel und eine glühende Funkenspur in der samtenen Dunkelheit hinter sich herzog. Madoka hatte die Bewegung nicht einmal

GESEHEN, mit der Mamoru dies getan hatte. Saito wirkte auch jetzt keinesfalls beunruhigt. Allerdings erschien eine steile Zornesfalte auf seiner Stirn.

"Beeindruckend. Doch. Recht beeindruckend. Allerdings wirst du mir die Zigarre ersetzen. Sie war sehr teuer. Und im Übrigen würde ich DIR dasselbe raten: Sei vorsichtig. Du findest den Wolf vorübergehend an eine Kette gelegt - aber diese Kette ist lang und lässt viel Spielraum. Ich denke, dass du nicht das Recht hast mir Vorhaltungen zu machen. Im Gegenteil, sei froh, dass du mit der Shinsengumi zusammenarbeiten kannst. MEINE Entscheidung war das jedenfalls nicht..." Saito schnippte den Zigarren-Rest in die Nacht hinaus und brach unvermittelt mitten im Satz ab.
 

Plötzlich stahl sich ein verschlagenes Lächeln auf die Züge des "Wolfes", die Zornesfalte verschwand. Er wirkte wie ein Kind an seinem Geburtstag in Erwartung der Geschenke.

"Wir brauchen nicht mehr zu warten. ER ist hier... Toshizo-san hat ganze Arbeit geleistet. Nur allzu bereitwillig sind sie in die Falle gegangen."

Von der den Garten rings umgebenden Mauer, die das Grundstück abgrenzte, hörten sie mit einem Mal Kampfgeräusche, Schreie und das Klirren von Metall.

"Nun, nicht gerade unauffällig... Hijikata kann die einmal angelockten Schäflein wohl nicht im Zaum halten. Ich hätte ihn für klüger gehalten. Es war zwar nicht ganz so geplant, aber... Auch gut, jetzt ist es Zeit zu spielen."

Saito zog unablässig lächelnd sein Katana. Ein Pfeil kam aus der Nacht herangeflogen und zischte direkt an Mamorus Arm vorbei, hinterließ einen Riss in seinem Ärmel. Madoka konnte fühlen, wie ihr Puls zu rasen begann.

Er war hier! Er war wirklich gekommen! Freude und Angst um Takeo schnürten ihr die Kehle zu und ließen sie mit weit aufgerissenen Augen verfolgen, was nun weiter geschah.

Saito nahm breitbeinig Aufstellung als mehrere bewaffnete Männer aus der Dunkelheit heranstürmten und sich ohne Umschweife auf den "Wolf von Mibu" stürzten. Madoka konnte es nicht glauben: Saito lachte! Der blanke Fanatismus in seinen Augen war furchterregend.

"Ihr werdet alle bestraft werden! Einem Mörder zu dienen! Ich werde euch lehren, was falsch und was richtig ist! HITOKIRI! WO BIST DU! KOMM HERAUS UND STELL DICH DEINEM RICHTER! ICH WERDE DICH TÖTEN!"

Er schrie und mähte nebenher die Männer um sich herum nieder, als wären sie nichts weiter als Halme auf einem Feld. Vollkommen blutbesudelt stand er über seinen Opfern und diese lagen ihm zu Füßen, wie Lämmer neben der Schlachtbank. Madoka hatte nie zuvor etwas Entsetzlicheres gesehen. In der Tat war das japanische Schwert eines der schärfsten auf der Welt. Mit beinahe schon chirurgischer Präzision waren Köpfe von Schultern, Arme und Beine abgetrennt worden, Leiber lagen zerschnitten da, die Organe lagen bloß... Madoka würgte. Das alles war unglaublich schnell gegangen.
 

"HITOKIRI!", schrie Saito. "Ich WARTE!"

"Hier oben, Saito!", ertönte eine Madoka wohl bekannte, wenn auch nun sehr raue und zornige Stimme. Und in der Tat war es Takeo, der unmittelbar über Saito aus der Luft herabkam. Ein ungeheurer Sprung trug seinen athletischen, schlanken Leib direkt über den Gegner.

"RYU-TSUISEN!", schrie er laut. Und wie ein leibhaftiger, rothaariger Dämon stürzte er sich auf seinen Gegner, sein Katana sauste mit unglaublicher Wucht direkt auf die empfindliche Stelle zwischen Hals und Schulter herab.

Takeo landete leichtfüßig, sein Haar fiel hinter ihm herab wie ein roter Vorhang, während Saito wie vom Blitz getroffen sekundenlang stocksteif stehen blieb, um dann ohne jedes Geräusch in sich zusammenzubrechen. Der junge Samurai atmete nicht einmal schwer. Sein Blick unter dem dicht herabhängenden Pony glitt hektisch hin und her - bis er Madoka entdeckte. Und bei ihr... Neben ihr...

Sein Blick flackerte.

"Mamoru..."

Seine Stimme klang dunkel vor Wut. Schnell bewegte er sich zu ihnen hinauf.

Takeo erreichte die Terasse, er blickte zu Madoka hinüber und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Zitternd und halbnackt stand sie da, Blut lief ihr aus dem Mundwinkel. Ihre großen Augen waren schreckgeweitet - und dennoch voller Hoffnung und Wärme auf ihn gerichtet. Takeos Hand schloss sich so fest um das Heft seines Schwertes, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er kochte vor Wut.
 

Als Madoka einen unbeholfenen Schritt in seine Richtung machte, war Mamoru mit einem schnellen Sprung zwischen ihnen.

"Takeo... Endlich. Sehe ich nun den berühmten Hitokiri vor mir? Oder ist es der entsagende Vagabund, als der du dich zur Zeit so gern tarnst? Fantastisch nicht wahr? Und so bequem, sein eigenes, innerstes Selbst einfach zu verleugnen und so zu tun, als wäre man jemand ganz anderes." Mamoru lachte böse.

"Ich WEIß, dass er hier ist, der Mörder, der Attentäter! Zeige ihn mir! Ich fürchte mich nicht! Ich habe dafür GELEBT den Mann zu treffen, der meinen Bruder Takeo ausgelöscht und nur noch ein seelisches Wrack zurückgelassen hat, der aus ihm EIN MONSTER GEMACHT HAT!"

Madoka starrte Mamoru erschrocken an. Täuschte sie sich, oder erkannte sie durch die ganze Wut und die Verbitterung einen Hauch von hilfloser Trauer in seinen Worten? Auch Takeos Blick hatte nun eindeutig schmerzliche Züge angenommen.

Das war nicht das, was Mamoru beabsichtigt hatte. Takeos Bruder schüttelte den Kopf und der Moment der Trauer schien vergessen. Seine stahlblauen Augen blitzten.

"Ich will ihn sehen, den Hitokiri! Muss ich dir erst in aller Ausführlichkeit schildern, wie wunderbar es mit deinem Mädchen war? Dass sie gestöhnt hat, wie ein kleine Hure, als..."

Weiter kam er nicht. Ein Schatten sprang vor ihn hin und schlug ihm jäh mitten ins Gesicht. Mamoru stolperte nach hinten und landete unsanft auf dem Hosenboden. Shido-san sah nicht einmal zu ihm hin, sondern richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf seinen Freund.
 

Takeo zitterte. Seine dunklen Augen schossen Blitze in die Nacht und das Schwert in seiner Hand vibrierte leicht. Vergessen war die Trauer, wenn da denn je wirklich welche gewesen war. Die unbezähmbare Wut, die nun in ihm aufwallte, war die des von Mamoru so sehnsüchtig erwarteten Hitokiri.

Er hatte sie verletzt. Er hatte Madoka verletzt. Er hatte sie missbraucht. Er hatte sie vergewaltigt. Mamoru... Dieser Mensch vor ihm... das war nicht mehr sein Bruder. Und er behauptete, er selbst, Takeo, sei ein Monster? WER war hier nun das Monster, fragte er sich, vor Wut überschäumend und zitternd. Es reichte. Mamoru war zu weit gegangen. Er hatte schon so viele Menschen ermordet oder töten lassen, die Takeo etwas bedeuteten. Und er arbeitete mit Männern wie Saito zusammen. Das und... Madoka... Was hatte er nur getan? Nein... Er musste dem hier und jetzt ein Ende setzen. Dies WAR nicht mehr sein Bruder.

Ganz langsam hob Takeo sein Schwert. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung des Gelenks drehte er es in der Hand, sodass die scharfe, blitzende Schneide nun nach vorn deutete, bereit zu töten. Bereit erneut Blut und Tod unter die Menschen zu schicken.

Aber Shido hatte sich geschworen, dass er es nicht so weit kommen lassen würde. Während Mamoru sich hinter ihm erhob, nach seiner Waffe griff und lautstark nach Verstärkung brüllte, hatte Shido nur Augen für Takeo. Er trat auf ihn zu.

"Takeo! Komm zu dir! Bitte! Erkennst du mich? Ich bin es, Shido!"

Takeos wunderschönes Gesicht war verzerrt von Hass, so wie es Madoka nie zuvor gesehen hatte. Er HÖRTE Shido nicht einmal. Sein Blick war auf Mamoru fixiert.

"Ich werde dich töten."

Seine Stimme.... Madoka jagte ein eisiger Schauer über den Rücken.
 

Der Anblick löste endlich ihre Erstarrung. Sie stürzte vorwärts und auf Takeo zu. Shido sog erschrocken die Luft ein. Er wollte nach ihr greifen, aber sie war schneller. Madoka flog an Takeos Brust und schrie immer und immer wieder:

"Takeo! Es geht mir gut! Es ist alles in Ordnung! Er hat mich nicht... berührt! Hörst du nicht? Ich bin hier, Takeo! Es ist in Ordnung! Es geht mir gut! Bitte komm zurück! Bitte..."

Der junge Samurai stand stocksteif da. Sein Blick flackerte. Dann - stieß er die junge Frau einfach von sich. Als sie sich an seinem Schwertarm festklammerte, schlug er sie nieder. Shido schrie entsetzt auf.

Madoka war wie betäubt. Alles um sie herum versank im Chaos ihrer Gefühle. Nichts war mehr wichtig, außer ihrem Schmerz, der sie schier zu verschlingen drohte - und es war nicht der Schmerz des Schlages an sich, den er ihr verpasst hatte. Sie lag am Boden und hatte nicht die Kraft, sich zu erheben. Sie wollte es auch gar nicht mehr. Alle Kraft hatte sie verlassen. Ihr Kopf sank auf den kalten Stein und sie hatte nicht einmal mehr die Tränen, um zu weinen und diese innere Qual hinauszuspülen. Sie wollte sterben. Hier und jetzt.

Denn alle Gefühle in ihr waren zu einem eiskalten, steinharten Klumpen erstarrt, der irgendwo, vielleicht in ihrer Kehle, steckte und sie am Atmen hinderte, der ihr Herz zu Eis erstarren ließ und sie innerlich komplett zugrunde richtete. Sollte sie doch sterben. Es war nicht mehr wichtig. Alles, wofür es sich gelohnt hätte durchzuhalten war ihr genommen worden.

Takeo war nicht mehr.

Vielleicht würde er nie mehr zurückkehren.
 

~~~oOo~~~
 

Der Hitokiri war schier unaufhaltsam. Mit Riesensätzen, ohne zurückzublicken, jagte er auf den verhassten Bruder zu, um den sich mittlerweile ein Ring aus schwarzgekleideten Ninja-Kämpfern gebildet hatte. In ihm tobte ein unglaublicher, unerbittlicher Kampf, der noch während des Gefechtes andauerte, und von dem niemand der Außenstehenden wusste. Doch das, was Takeo ausmachte, verlor den Kampf und machte einer bösartigen, wilden Furie Platz, einem schwarzen Dämon, der die Angst um das, was er am Liebsten hatte, ebenso beinhaltete, wie den abgrundtiefen Zorn auf seinen Bruder, der ihm dieses Liebste nehmen wollte, der zerstören wollte, was auch immer sich Takeo an einem Leben hatte aufbauen können - auch wenn es vielleicht nur eine Illusion des Friedens gewesen war: Er war glücklich gewesen! Warum musste Mamoru das zerstören? Warum hatte er Madoka, die er so sehr liebte, und von der er dennoch sehr genau wusste, dass sie seine Schwäche darstellte, warum musste er sie so verletzen?

Es war so gekommen, wie er gefürchtet hatte: Er hatte Angst. Unbändige Angst um sie. Das machte ihn rasend und unvorsichtig - doch er konnte und wollte sich nun nicht mehr zurückhalten. Denn der Zorn auf das, was man ihr angetan hatte überstieg diese Angst noch. Er war buchstäblich blind für die Wahrheit. Und es war ihm egal, ob er selbst verletzt wurde.

Auch Mamoru blutete jetzt aus einer hässlichen Platzwunde an der linken Schläfe. Er stieß einen scharfen Befehl aus und der Ring zog sich noch enger um ihn zusammen.

Doch Shido war fest entschlossen, seinen Freund nicht wieder zum Mörder werden zu lassen.

Unmittelbar vor dem feindlichen Ring holte er seinen Freund ein und warf sich ihm in den Arm, das Schwert wurde meterweit davongeschleudert und wirbelte singend durch die Luft, bevor es klirrend am Boden landete.

Takeo und Shido gingen schwer zu Boden. Madoka sah aus tränenverschleiertem Blick, wie Takeo sich schnell wieder erhob, um dann äußerst brutal und vollkommen besinnungslos auf seinen Freund einzuschlagen. Madoka konnte einfach nicht fassen, was sie da sah! Dies war kein Mensch mehr! Dies war ein... Tier... nein, ein anderes, noch viel gefährlicheres, unbekannteres Wesen, dunkel und so voller Hass auf alles, das lebte, dass Madoka es selbst hier, auf diese Entfernung, kaum ertrug hinzusehen.

Mein Gott! Er schlug ihn ja tot!
 

Als Shido sich nicht mehr rührte, sprang der Attentäter auf und lief los, um sein Schwert zu holen.

"Suchst du das hier, Hitokiri?"

Wie aus dem Boden gewachsen und völlig lautlos war vor ihm der junge Okita Soji erschienen und hatte nun das Schwert des Hitokiri in der Hand. Der junge Mann nickte zu der Gruppe rund um Mamoru hinüber.

"Wir werden uns nun des Problems annehmen, Yamazaki-san. Ziehen Sie sich ruhig zurück."

Mamoru hob sein Schwert.

"Ich werde NICHT fliehen! Wenn er mich töten will, dann soll er es nur versuchen!"

"Ihr seid zu… wichtig. Ihr dürft nicht euer Leben riskieren."

Okitas Stimme klang völlig unbeteiligt bei diesen Worten.

"Es nützt niemandem etwas, wenn ihr jetzt sinnlos sterbt. (Er schien wohl nicht daran zu zweifeln, dass dies geschehen würde, sollte Mamoru sich dem Kampf stellen...) Seid aber beruhigt: Wir versuchen ihn LEBEND zu bekommen."

"Ihr werdet mich niemals bekommen. Weder lebend, noch tot."

Der rothaarige Hitokiri stürzte sich ohne Vorwarnung auf Okita.Doch nicht umsonst sagte man dem jüngsten Anführer unter den Männern der Shinsengumi in Kyoto eine gottgleiche Geschwindigkeit nach. Noch ehe der Attentäter ihn wirklich erreicht hatte, war Okita schon hinter ihm - und stieß ihm sein eigenes Schwert in den Rücken!

Madoka schrie auf.

Ohne einen Laut sank Takeo langsam in sich zusammen und blieb dann in gekrümmter Haltung liegen. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich um seinen Körper aus.

Mamoru schrie. Es war der unmenschlichste Schrei, den Madoka jemals gehört hatte.

"Du verdammter... IDIOT! Was hast du nur getan? Das ist MEIN BRUDER! ICH werde ihn töten! Niemand sonst legt Hand an den Hitokiri! WIE KANNST DU ES NUR WAGEN!"

Er wollte sich ohne Umschweife auf Okita stürzen. Doch dieser machte nur eine träge Handbewegung - und zu ihrer aller Erstaunen gehorchten die schwarzgewandeten Ninja-Kämpfer nun ihm und nicht mehr Mamoru! Jedenfalls ergriffen ihn zwei von ihnen nun an den Armen und machten sich daran, ihn ebenso wie zu vor bereits Aurinia zurück zum Haus zu zerren.

"Es ist zu eurem Besten, Herr...", sagte Okita dann, wobei die Betonung des letzten Wortes einer Beleidigung gleichkam. Waren die Gefühle, die er vorhin so offensichtlich für Mamoru an den Tag gelegt hatte, nichts als Heuchelei gewesen? Wie konnte er jetzt so kalt und distanziert sein? Es drängte sich die Frage auf, WER hier wirklich das Sagen hatte...
 

Aber all das war im Grunde unwichtig - zumindest für Madoka. Sie bekam das alles auch nur am Rande mit. Sie sprang auf und wollte nun ihrerseits das tun, was Mamoru zuvor misslungen war und sich auf Okita stürzen.

"Was hast du getan! Ihr wolltet ihn LEBEND! Was hast du nur getan!"

Okita packte die junge Frau an der Kehle und drückte erbarmungslos zu. Madoka schlug um sich und versuchte sich zu befreien, aber es war zwecklos. Der junge Okita hatte wirklich erstaunliche Kräfte.

"Er lebt doch auch. Die Wunde, die ich ihm zugefügt habe ist nicht tödlich, keine Sorge. Aber sie wird ihn wirkungsvoll für einige Zeit außer Gefecht setzen."

Dann sah er mit einem bedauernden Gesichtsausdruck zu Shido hinab, der immer noch reglos am Boden lag.

"Ein Jammer. Da wird der gute Shido-san vom eigenen Freund außer Gefecht gesetzt. Dabei hatte ich doch noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen."

Er seufzte scheinbar todunglücklich - und ließ Madoka endlich los. Die junge Frau sank keuchend und nach Luft ringend in die Knie. Wie von Ferne her hörte sie Kampflärm heranwehen und erkannte erst nach ein paar Sekunden, dass die eigentliche Auseinandersetzung unten im Garten stattfand.

Auch Okita hatte dies bemerkt und sah belustigt hinab auf das Schauspiel, das sich ihm bot. Circa drei Dutzend Männer, angeführt von einem alten Kämpen, den Madoka nicht kannte, und einer verhüllten Gestalt, die auch nicht sehr zimperlich mit den Feinden umging, kämpften verbissen gegen eine Übermacht an schwarzverhüllten Ninja-Kämpfern. Allesamt Mamorus Männer. Zumindest hätte das Madoka noch bis vor wenigen Minuten gedacht.

Noch immer hatte die Shinsengumi nicht in den Kampf eingegriffen. Nur vereinzelt war eine blauweiße Robe zu sehen. Was ging hier vor?

Auch schien sich Okita seiner Opfer mehr als sicher, denn er schenkte sowohl Madoka, als auch Shido oder dem niedergestochenen Takeo keinerlei Beachtung mehr. Im Falle von Letzterem war das wohl berechtigt, wie Madoka mit Tränen in den Augen feststellte.
 

Aber nun reget sich Shido-san. Madoka huschte geduckt zu ihm hin und stützte ihn, als er sich erheben wollte.

"Shido! Shido, sie haben Takeo...", sie weinte. Shido, der den Arm um ihre Schultern gelegt hatte, sowohl um sich abzustützen, als auch um sie zu trösten, schüttelte den Kopf.

"Takeo lebt. Ich... weiß es..."

Er unterdrückte ein schmerzhaftes Stöhnen. Trotzdem bemühte er sich gleich darauf aus eigenen Kräften zu stehen.

"Wir müssen... Wir können ihn nicht hier lassen!"

Er taumelte auf die reglose Gestalt seines Freundes zu.

"Ich an deiner Stelle würde das lassen."

Shido wandte den Kopf und blickte in Saitos blutüberströmtes Gesicht. Sein Schwert war zerbrochen und er stand leicht schwankend da, aber sein Blick war nach wie vor äußerst gefährlich.

"Du kommst hier nicht mehr lebend weg."

Hinter ihm kamen jetzt der alte Izuka und noch ein paar andere Männer herangestürmt, doch auch aus dem Haupthaus kamen nun weitere schwarzgewandete Bewaffnete. Der Kampf verlagerte sich nun über die flach angelegten Terassen und Treppen, bis hinauf zum Saal. Madoka sah, wie sich einer der mit dem alten Kämpen herankommenden Männer noch im Laufen die Kleider vom Leib riss - darunter kam der rote Stoff von Yashas Kleidung zum Vorschein und er schüttelte seine lange,... SCHWARZE (?) Mähne. Er lief mühelos sehr viel schneller als die anderen und schrie zu ihnen zurück:

"Lasst mich das machen. Kümmert euch um Shido, Takeo und das Mädchen."

Noch im Laufen stieß er den verblüfften Saito zu Boden.

"Um DICH kümmere ich mich später!"

Nicht nur Madoka stutzte. Auch Shido und Izuka wirkten mit einem Male höchst irritiert. War das wirklich Yasha? Er sah ihm eindeutig ähnlich, die Kleidung, die Haarlänge, die Bewegungen. Aber die markanten Ohren fehlten. Sein Haar war tiefschwarz und auch die Krallen waren verschwunden. Was nun wie ein erboster Barbar auf die schwarzgewandeten Ninjas zustürmte war eindeutig menschlich! Und folglich nicht mehr ganz so wehrhaft, wie es sich der Halbdämon vielleicht gewünscht hätte...

Die Überraschung war jedoch auf seiner Seite. Nur diesem Umstand hatte Yasha es zu verdanken, dass er die ersten Männer mit purer Körperkraft außer Gefecht setzen konnte, ehe auch nur einer der anderen begriff, was überhaupt vor sich ging.

"Oh, nein!", ließ sich Shido neben Madoka vernehmen.

Izuka war neben ihnen zum Stehen gekommen.

"Ich habe noch einmal fünfzig Männer vor der Mauer postiert. Es sieht so aus, als könnten wir die Verstärkung jetzt gebrauchen. Ich bin müde, du und Takeo verletzt. Und der Halbdämon..."

...ging gerade unter den Hieben von einigen von Mamorus Männern zu Boden.

"Ihr verdammten Bastarde! Wo habt ihr Aurinia versteckt? Gebt sie heraus, oder es wird euch Leid tun!"

Er fauchte und grollte wie eh und je - allerdings standen seine Worte in gravierendem Kontrast zu seinem Zustand, der sich von Schlag zu Schlag, den die Feinde bei ihm landeten, verschlechterte. Doch Yasha prügelte wie besinnungslos auf sie ein, wehrte sich nach Kräften und verteilte trotz der nun scheinbar verlorengegangenen dämonischen Kräfte so manchen beeindruckenden Hieb. Auch Okita war auf ihn aufmerksam geworden. Er stieß einen schrillen Pfiff aus.

"Hierher, mein Hündchen! Du willst die kleine Yosei? Dann musst du zunächst an MIR vorbei!"

Izuka griff nach zwei brennenden Pfeilen, die in einer der Leichen steckten, und bückte sich nach dem Bogen eines seiner toten Männer, murmelte ein kurzes Gebet, zielte und schoss einen der Pfeile in einem steilen Winkel in den Nachthimmel hinauf. Noch in der Abwärtsbewegung, mit dem er den riesigen Bogen senkte, hatte er den nächsten Pfeil auf die Sehne gelegt. Der Pfeil jagte sirrend auf Okita zu. Dieser wurde in eben diesem Moment von einem wütenden, schwarzhaarigen jungen Mann angegriffen, der in seiner auffallend roten Kleidung wie die züngelnde Flamme eines heißen Vulkanfeuers auf ihn zuschoss.

"Ich bringe dich um, wenn du ihr etwas angetan hast! Ich werde dich töten!", brüllte Yasha - und Madoka hatte ein weiteres Mal an diesem Abend das Gefühl, einem leibhaftigen Dämon in Menschengestalt gegenüberzustehen, der jeden umbringen würde, der sich ihm in den Weg stellen mochte.

Der Pfeil streifte Okita am Oberschenkel und ließ ihn straucheln. Dann war auch Yasha heran. Er schlug dem jungen Mann einfach das Schwert aus der Hand. Ein verbitterter Kampf mit bloßen Fäusten begann.
 

"Shido-san, kannst du Yamazaki tragen? Wir müssen hier fort! Gehen wir den Männern entgegen!"

"Aber Yasha und Aurinia... Wir können sie doch nicht...", wollte Madoka einwenden.

Aber Yasha selbst brüllte in diesem Moment: "Lauft! Ich halte sie auf!"

Das war einfach nur lächerlich! Was immer mit dem Halbdämon passiert war: Er war jetzt ein Mensch und hatte keine Chance gegen kampferprobte Ninjas oder gar die berühmten Kämpfer der Shinsengumi. Dennoch lief Shido ohne Einwände zu erheben zu Takeo hinüber und lud sich den Freund auf die Arme. Er taumelte, blieb jedoch auf den Beinen und begann, die Treppen in den Garten hinunterzulaufen. Izuka zog Madoka hinter sich her. Gemeinsam jagten sie über die Terassen hinunter.

"Lasst sie nicht entkommen!", brüllte Okita. Es war überhaupt das erste Mal, dass Madoka den jungen Mann schreien hörte. Doch Saito, der "Wolf von Mibu", kam bereits mit Riesensätzen hinter den Flüchtigen heran.

Sie hasteten weiter. Der Boden war auch hier unten übersät mit leblosen Körpern. Es roch nach Blut und ab und an drang das schmerzvolle Stöhnen eines Verletzten an ihre Ohren. So schrecklich auch dieser Anblick wieder war - sie hatten keine Zeit sich um ihre Verletzten zu kümmern.

"Die Verstärkung muss jeden Moment hier sein!", rief Izuka über die Schulter zurück. Er legte ein für sein Alter ganz erstaunliches Tempo vor. Und als Madoka im Laufen den Kopf wandte, konnte sie sehen, dass auch Yasha nun die Treppen hinabstürmte. Von Okita oder den anderen Ninjas war keine Spur zu sehen.

Yasha holte Saito auf halber Treppe ein. Madoka konnte von hier aus nicht genau erkennen was geschah, dazu war es einfach nur zu dunkel. Aber sie glaubte doch zu erkennen, wie Saito seine Waffe freiwillig fortwarf, um sich dann mit Yasha im Faustkampf zu messen. Er mochte unbarmherzig und grausam sein - aber er war doch ehrlich. Zumindest, wenn ER es für richtig hielt...
 

Dann blieb Izuka so abrupt stehen, dass Shido um ein Haar von hinten in ihn hineingelaufen wäre. Madoka stützte Shido, als er das Gleichgewicht und Takeo aus den Armen zu verlieren drohte. Eine dunkle, große Gestalt trat aus den Schatten im Garten hervor. Das bereits bekannte süffisante Lächeln umspielte Hijikatas Lippen.

"Wie schön, es hat funktioniert. Ihr alle seid tatsächlich hier. Alle führenden Mitglieder der Widerstandsbewegung. Ihr seid tatsächlich hergekommen. Und das nur für ein paar Frauen."

Er lachte leise und das schien wirklich ein wenig ungläubig. Dann, eiskalt:

"Die Verstärkung ist bereits hier, alter Narr. Deine Männer sind den meinen direkt in die Arme gelaufen, als sie euch zu Hilfe kommen wollten. Sie sind alle tot. Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?"

Alle starrten den großen Shinsengumi-Kommandanten erschrocken an. Dies erklärte auch zumindest ansatzweise, warum es HIER kaum Kämpfer in den charakteristischen blauweißen Roben gab. Mein Gott... So viele Menschen tot...

Madoka hörte einen wütenden Schrei hinter sich.

"Dafür wirst du..."

Eindeutig Saitos Stimme. Sie erstarb in einem gequälten Stöhnen, um dann ganz zu verstummen.

"Was zum..."

Yasha schoss ohne Vorwarnung hinter Madoka und Shido-san heran und wollte sich, blutbesudelt und mit in Fetzen gerissener Kleidung, ohne Umschweife auch auf diesen neuen Gegner stürzen. Doch da war plötzlich eine Hand auf seinem Arm, die ihn zurückhielt, nicht einmal sehr fest, aber doch nachdrücklich.

Der alte Izuka Shizen sah Yasha nicht an, als er sich vor ihn schob. Sein Blick fixierte einzig Hijikata.

"Lass nur, Junge. Dies ist mein Kampf - und wenn es mein letzter sein sollte. Geht. Rasch!"

Yashas erster Impuls war, den Arm einfach abzuschütteln und sich dennoch selbst dem riesigen, schwarzgekleideten Schwertkämpfer zu stellen. Dann aber gewahrte er den zu allem entschlossenen Blick in Izukas Augen - und trat zurück.

"Na schön. Wir verlassen uns auf dich, Shizen-san."

Dieser verstärkte kurz den Druck seiner Finger um Yashas Arm und nickte ihm zu. Dann ließ er ihn gehen.
 

Yasha winkte Madoka und Shido zu sich. Sie verbargen sich in den Schatten eines riesigen, uralten Gingko-Baumes. Der Blick des Halbdämons glitt über den Kampfplatz und ein wütender Ausdruck stahl sich auf seine Züge. Shido sprach aus, was der andere denken mochte:

"Sie sind alle tot! So ein sinnloses Gemetzel habe ich noch nicht gesehen."

"Das werden sie bereuen.", zischte Yasha ebenso zornig.

"Wie bist du Saito entkommen?", wollte Shido misstrauisch wissen und schaute zurück zur Treppe.

Yasha grinste schadenfroh und ein wenig von dem alten Schalk kehrte in seine wütend funkelnden Augen zurück. "Nun ja... Da gab es einige Flaschen mit seltsamen Zeug in einem großen Behälter mit Eis. Den habe ich... versehentlich umgestoßen. Ich hörte nur wie der stolze Wolf hinter mir ins Stolpern und auf dem Eis ins Rutschen kam, dann ist er meines Erachtens... reichlich unsanft gefallen."

Dann wurde er jedoch sehr schnell wieder ernst. Sie hatten wahrhaft wichtigeres zu tun. Besorgt glitt sein Blick zurück zum Haus.

"Und wo ist Aurinia?"

Er wandte sich an Madoka, die sich etwas im Hintergrund gehalten hatte. Als sie nicht sofort antwortete, sondern sichtlich nach Worten rang, sprang er auf sie zu und begann, sie wie von Sinnen an den Schultern zu schütteln.

"Antworte! Was haben sie mit ihr gemacht? Ich werde nicht ohne sie hier weggehen!"

"Nun mach mal halblang, kleines Hündchen."

Shido schob sich schützend vor Madoka.

"Du tust ihr weh! Siehst du nicht, dass sie total verängstigt ist? Und überhaupt: So wie du aussiehst würdest du mit Sicherheit nicht noch einen Kampf überstehen. Gib ihr ein wenig Zeit ihre Gedanken zu ordnen."

Sein Blick glitt weiter und besorgt über die junge Frau. Was war hier nur passiert? Sie zitterte und war beinahe nackt. Und was war mit Yasha geschehen? Den letzten Gedanken sprach er laut aus.

Yasha seufzte und verdrehte die Augen.

"Tja, jetzt kennt ihr mein Geheimnis."

Er senkte unwillkürlich die Stimme.

"Bei Neumond verliere ich meine dämonischen Kräfte und werde leider nur allzu menschlich... Es gibt niemanden, dem das mehr zuwider ist als mir. Aber ich kann es nicht ändern. Wenn das bekannt würde... Ihr wisst schon." Shido schüttelte den Kopf.

"Von uns wird das niemand erfahren, mach dir keine Sorgen. Aber es war extrem leichtsinnig von dir, dann trotz deines Zustands in den Kampf einzugreifen."

Er blickte zu Madoka hinüber und auch die schüttelte den Kopf. Sie würde ebenso schweigen. Dann sah sie hektisch zurück zum Haus.

"Lasst uns jetzt GEHEN!"

Yasha schnaubte.

"Na, schön, aber nicht ohne..."

"Sie haben Aurinia ins Haus gebracht.", sagte Madoka leise.

"Was?", bellte Yasha.

"Sie ist dort drinnen."

Die junge Frau deutete auf das Haus. Bewegung war hinter die mittlerweile überall hellerleuchteten Fenster gekommen, Schatten bewegten sich hinter den Vorhängen.

"Verdammt!", sagte Shido. "Sie sammeln sich. Ich hatte mich schon gewundert, worauf sie warten.Da können wir jetzt nicht zurück! Das wäre Selbstmord! Wir sollten so schnell wie möglich fliehen! Falls wir uns verlieren sollten treffen wir uns im "Aka-Chochin" im Stadtteil Kikuto! Fragt nach Kanoe! Yasha? Wir holen deine Aurinia da raus, das verspreche ich dir. Aber nicht heute!"

'Und wer weiß, vielleicht lebt auch Sayan-sama noch und ist hier irgendwo gefangen.', führte er den Gedanken weiter.
 

Yasha wollte aufbrausen, doch zu ihrer aller Erstaunen ließ er seine geballten Fäuste sinken, nickte dann grimmig. Er sah wohl ein, dass er in seinem Zustand nicht viel ausrichten konnte. Bislang waren ja nicht einmal alle Männer der Shinsengumi in den Kampf eingeschritten. Der größte Teil der Krieger, so vermutete Shido, hatte sich nur darauf beschränkt aus der Ferne zu beobachten - was höchst seltsam war und blieb. Sie hätten jederzeit eingreifen können wenn sie nur gewollt hätten, das war allen hier klar. Dennoch war der Kampf am Haus und auf den Terassen auch ohne die Shinsengumi noch nicht beendet, das Geschrei der Männer noch nicht verstummt.

Shido sah besorgt auf Takeo hinunter. Er war bewusstlos und wieder einmal über und über mit Blut bedeckt.

"Er muss schnellstes zu einem Arzt. Diesmal werden die Heilkräfte einer Zauberin leider nicht ausreichen..."

Yasha knurrte leise.

Sie liefen los. Shido hatte sich herumgedreht und wollte dem alten Izuka noch ein paar ermutigende Worte zukommen lassen. Doch er blieb wie angewurzelt stehen. Auch Madoka schaute jetzt zu den beiden so ungleichen Kontrahenten hinüber, der eine sehr groß, schlank und dunkel mit einem wahrhaft gigantischen Schwert, der andere klein, gedrungen und in einen khakifarbenen Kimono gekleidet. Beide atmeten schwer, da der Kampf bereits begonnen hatte.

"Dann bringen wir es also hier zu Ende.", sagte Izuka gerade. Hijikata neigte leicht den Kopf, das schwarze, lange Haar fiel ihm nach vorn über die Schultern.

"Ich kann es kaum erwarten."

Und vollkommen unvermittelt stürzten beide Gegner gleichzeitig los. Das Klirren der aufeinanderprallenden Schwerter war ohrenbetäubend. Was auch immer diese beiden Männer zu Feinden gemacht hatte, es würde hier und jetzt enden. Und wohl nicht nur Shido wurde klar, dass der Sieger nicht der gute, alte Shizen sein würde. Alle sahen wie hypnotisiert zu was nun geschah, obwohl sie die kostbare Zeit zur Flucht somit verstreichen ließen.

Shido ließ Takeo zu Boden gleiten und bedeutete Madoka seinen Kopf zu halten.Entsetzt sah er zum Kampf hinüber.

"Was... tut er da nur! Er kämpft nicht mit ganzer Kraft! Das ist nicht der Izuka, den ich kenne! Was machst du da, alter Narr! Er wird dich töten!"

Die letzten Worte hatte er geschrieen und wollte sich soeben unbewaffnet zwischen die beiden Kämpfer werfen, da gewahrte er den Blick des Alten, der, noch während er die Klinge Hijikatas zurückdrängte, direkt auf ihn gerichtet war. Ganz leicht und - unglaublich, aber wahr - mit einem leisen Lächeln schüttelte er den Kopf.

Shido blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand geprallt. Izuka hatte gar nicht vor, sich zu wehren....

"NEIN!", brüllte Kanzaki. "Idiot!"

Hijikata Toshizo, Meister im Umgang mit dem No-Dachi, lächelte kalt und nutzte die Unachtsamkeit - ob sie nun absichtlich vorgetäuscht oder tatsächlich wirklich da war - des alten Schwertmeisters gnadenlos aus. Blitzschnell drehte er die immer noch am Schwert Izukas liegende Klinge des No-Dachi um die des Gegners, schlug sie zurück und stieß das Schwert schräg von unten durch Izukas Kehle, sodass sie hinten wieder austrat und eine Fontäne dunkelroten Blutes in die Nacht hinausschickte.

Madoka verbarg stöhnend das Gesicht in den Händen. Sie hörte Shido noch immer schreien. Aber es war zu spät.

In einem unglaublich brutalen Akt riss Hijikata das No-Dachi nach oben und spaltete den Schädel des alten Mannes. Der leblose Körper Izukas sank mit einem dumpfen Laut zu Boden.
 

Shido wollte sich ohne Umschweife auf Hijikata stürzen, aber Madoka warf sich ihm in den Weg.

"Nein! Komm, wir müssen fort! Du bist unbewaffnet! Er wird auch dich töten! Wir müssen Takeo retten! Das willst du doch auch!"

Shido wollte sie einfach zur Seite stoßen, aber sie hielt sich an ihm fest.

"Nicht! BITTE! Ich will dich nicht auch noch verlieren!"

Der junge Mann kochte vor Wut - aber er sah wohl ein, dass sie Recht hatte, denn er gab nach. Madoka war schon losgelaufen. Er kam ihr nach, klaubte Takeo vom Boden auf und lief weiter. Madoka war überrascht, aber als sie bemerkte, dass er mit seinen langen Beinen trotz des zusätzlichen Gewichtes und seiner Verletzungen dennoch beinahe schneller lief als sie es wohl überhaupt gekonnt hätte, beeilte sie sich ihre letzten Kraftreserven zu mobilisieren.

"Wir müssen schnell und leise sein. Wir dürfen den Männern draußen, die unsere Verstärkung getötet haben, nicht in die Arme laufen.", sagte Shido gepresst, während er weiterlief.

"Flieht nur!", lachte Hijikata hinter ihnen her.

"Es gibt keinen Ort in Kyoto, an dem ihr vor der Shinsengumi sicher seid, glaubt mir! Wir finden euch! Und wir bringen es zu Ende. Sagt das dem Attentäter, falls er wieder zu sich kommen sollte!"

Diese furchtbaren Worte hallten noch lange in Madokas Ohren nach, als sie schon längst über die Mauer geklettert, erschöpft ein paar Straßen weitergelaufen, immer wieder Spähtrupps ausgewichen und schließlich auf ein paar versprengte Überlebende ihrer Kampfgruppe gestoßen waren. Sie waren selbst auf der Flucht vor der Shinsengumi. Und sie hatten Takeos Pferd bei sich, das sie nun bestiegen.

Die Überlebenden ritten hinein in das nächtliche Kyoto, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her. Sie warfen nicht einen Blick zurück.

Schlaflos

Blut. Überall war Blut.

Es klebte an ihren Händen, an ihrer Kleidung, es bedeckte den sie umgebenden Boden und wenn sie aufblickte, dann würde sie Takeo sehen, das wusste sie. Sie durfte nicht aufsehen! Sie hatte es die letzten Male auch getan - und hatte es bitter bereut. Doch auch dieses Mal konnte sie einfach nicht anders, als den Kopf zu heben und den Blick auf das Unvermeidliche zu richten.

Da stand er.

Takeo.

Er war verletzt und zwar in solchem Maße, dass man hierfür beinahe ein neues Wort erfinden musste. Es schien nicht einen Zentimeter seiner Haut zu geben, der NICHT in irgendeiner Form verletzt war und blutete. Madoka wimmerte. Dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden. Weiter hob sie den Kopf - bis sie in sein Gesicht blickte. Ein totes, lebloses Gesicht, mit Augen ohne Pupillen, aus denen Blut wie ein endloser Strom von Tränen floss. Er hob die Hand flehend in ihre Richtung. Blut quoll über seine Lippen, als er nun mit einer tiefen, unmenschlichen Stimme zu ihr sprach:

"Madoka! Hilf mir! Bitte hilf mir!"

Und Madoka schrie. Sie schrie wie von Sinnen. Sie schrie, schlug blind um sich, weinte vor Qual -

und wachte jäh aus diesem immer wiederkehrenden Albtraum auf.
 

Sekundenlang tat sie nichts anderes als schweratmend die rote Decke über sich anzustarren, sich darauf zu konzentrieren langsamer zu atmen. Ihr Herz raste wie nach einem Hundert-Meter-Sprint, sie fühlte kalten Schweiß auf ihrer Haut und die Spur heißer Tränen auf ihren Wangen.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Wenn sie nicht gleich irgendetwas tat, um ihre Gedanken abzulenken, dann würden sie sich selbstständig machen und wieder zurückkehren zu dem entsetzlichen Traumbild, dass sie von dem jungen Samurai seit jener Nacht voll Kampf und Blut verfolgte. Und das wollte sie nicht.

Sie fühlte erneut Tränen in sich aufkommen und hielt sie mit Gewalt zurück. Es hatte keinen Sinn zu heulen! Konzentrierte sie sich besser auf das Hier und Jetzt, nicht auf das was war. Entschlossen, jedoch noch etwas fahrig, griff sie nach dem schlichten roten Kimono, den man ihr zur Verfügung gestellt hatte und zog sich an. Ihr Pulsschlag hatte sich noch längst nicht beruhigt als sie nun zitternd die Tür zu ihrem Zimmer aufschob und lauschte.

Draußen war es noch dunkel - natürlich. Wenn es so etwas wie Armband-Uhren in dieser Zeit schon gegeben hätte, dann hätte sie ihr Leben darauf verwettet, dass es dieselbe nachtschlafende Uhrzeit war, zu der sie auch in den letzten Nächten aus ihrem Alptraum erwacht war.

Das Haus war ruhig. Die meisten schliefen wohl tief und fest - und bis zum Morgengrauen würde es auch noch eine ganze Weile dauern. Dennoch wusste sie, dass sie nicht mehr schlafen konnte, wenn sie sich nun wieder hinlegen würde. Und sie wusste außerdem genau, was sie nun tun würde - ebenso wie in den letzten Nächten, in denen sie diesen Traum gehabt und die Furcht um Takeo ihr die Kehle zugeschnürt hatte.
 

Leise trat sie auf den Flur hinaus, nahm vorsichtshalber die Kerze aus ihrem Zimmer mit, und ging in die Richtung, in der sie das Zimmer des verletzten Schwertkämpfers wusste.

Das "Aka-Chochin" ("Die Rote Laterne") war genau das, was der Name vermuten ließ: Ein Luxus-Bordell - für damalige Verhältnisse jedenfalls. Da konnten auch nicht die sündhaft teure Einrichtung, die beinahe luxuriös ausgestatteten Zimmer oder die ausnehmend teuer aussehende Kleidung der Kurtisanen hinwegtäuschen. DIESES Mal, TARNTE sich das Haus nicht als Bordell, wie das bei Shigerus Anwesen der Fall gewesen war, sondern es WAR eines. Zwar - wie schon erwähnt - eben luxuriös, aber mit einem solch verschwenderischen Hang zum Kitschigen, dass es schon beinahe weh tat wenn man auch nur hinsah. Das Haus hatte seinen Namen nicht von ungefähr: Die vorherrschende Farbe in sämtlichen Räumen war Rot. Die Futons waren mit dunklen, roten Stoffen bezogen, die Wände mit etwas bespannt, das wie roter Samt aussah, die Laternen waren rot, die Vorhänge (sofern vorhanden) waren rot - ALLES war rot. Und dies hatte den unangenehmen Nebeneffekt in der jungen Madoka die Erinnerung an das was geschehen war nur umso deutlicher wieder aufleben zu lassen.

So viel Blut...

Er hatte so viel Blut verloren, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt noch lebte.

Der Leibarzt der Kurtisanen hatte beinahe vierundzwanzig Stunden in Takeos Zimmer damit verbracht, den jungen Mann zu versorgen. Er hatte Wunden gewaschen und genäht, er hatte aufgrund des mit dem Blutverlust einhergehenden, hohen Fiebers Takeo Wadenwickel angelegt und Salben aufgetragen. Er hatte Verbände buchstäblich so schnell wechseln müssen, wie er sie angelegt hatte und er hatte alles versucht, ihm mit blut- und schmerzstillenden Medikamenten die Ruhe zu verschaffen, die sein geschundener Körper so dringend brauchte.

Schon als Madoka in den Gang hineinbog, in dem Takeos Kammer lag, schlug ihr der Geruch von Heilkräutern und Öl-Essenzen entgegen.

Sie alle hatten gewartet. Viele Stunden gewartet und in banger Erwartung gehofft, gewünscht und gebetet. Dann war der Arzt herausgekommen. Mit vollkommen erschöpfter Miene hatte er ihnen mitgeteilt, das Takeo zwar genesen würde, aber niemals - und er betonte dies mehrfach und sehr eindringlich - NIEMALS wieder mit dem Schwert (oder überhaupt) kämpfen dürfe. Es wäre sein unabwendbares Ende, wenn er je wieder zum Schwert greifen sollte. Sein Körper habe nicht mehr die Kraft die dafür nötig sei, hatte der Arzt gesagt.

Niemals wieder kämpfen? Würde dies ein Mann, dessen Leben praktisch aus dem Kampf mit dem Schwert bestand, einfach so hinnehmen können? Madoka und wohl auch alle anderen konnten es sich nicht vorstellen und ihr Herz zog sich schon wieder schmerzhaft zusammen, wenn sie an Takeo dachte.
 

Takeo...

Bislang war er nur ein paar Mal aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht - jedes Mal dann, wenn Madoka gerade NICHT anwesend war. Und sie spürte mit Erschrecken, dass ihr das auch nur Recht war. Die junge Frau blieb kurz stehen, um ihren Atem zu beruhigen. Die Kerze zitterte in ihrer Hand.

Shido, der ein paar Mal bei ihm gewesen war als sein Freund bei Bewusstsein war, hatte ihr erzählt, dass er nicht mehr vom Attentäter besessen und wieder der Takeo gewesen sei, den sie kennen gelernt hatte - aber Madoka hatte dennoch Angst. Eine tief in ihr verwurzelte, schleichende und hässliche Angst, die ihre Gedanken umwölkte und sie blind für die Tatsachen werden ließ.

Sie hatte Angst vor Takeo.

Nie hatte sie ein schlimmeres Gefühl erfahren als dieses. Nie war sie innerlich derart zerrissen gewesen wie jetzt und nie hatte ihr etwas so sehr weh getan. Sie wusste, dass sie ihn liebte - mehr als sich selbst, mehr als alles andere, beinahe bis zur Besessenheit. Noch immer war ihr ein Rätsel, wie das hatte passieren können - und vor allem wie schnell. Die war sonst einfach nicht solch ein Mensch, der sich leicht verliebte. Aber Liebe auf den ersten Blick schien es WIRKLICH zu geben. Sie hatte sie erfahren. Sie WUSSTE nun, dass es sie gab. Und Leugnen hatte überhaupt keinen Sinn mehr. Es war möglich und sie war ihr eigener, lebender Beweis dafür. Sie liebte ihn. Es war, als wäre es niemals anders gewesen und es war auch nicht wichtig, was er zuvor in seinem Leben getan oder nicht getan hatte. Die Liebe hinterfragte nichts. Sie war einfach nur da, tief in ihr.

Doch zugleich sah sie wieder diese kalten, dunkelblauen Augen in einem von Hass verzerrten Gesicht vor sich, und die Hand, die auf sie herabfuhr, sie niederschlug und damit tiefer verletzte, als es je ein Schwert, ein Gewehr oder irgendeine andere Waffe hätte tun können. Und dass dies sie so schwer erschütterte war ja überhaupt erst möglich, WEIL sie ihn liebte...

Ein kleiner Teil von ihr wusste sehr wohl, dass ihm nicht klar war was er tat, dass er einfach nur besessen gewesen war - vielleicht von der Angst um sie, vielleicht aber auch von einem älteren, sehr viel tiefgreifenderen Hass auf seinen Bruder, der ihn alles hatte vergessen und wieder zum Attentäter hatte werden lassen.

Sie wusste es nicht. Es war auch gleich, denn es war nun einmal geschehen.

Und sie hatte Angst vor ihm. Sie liebte ihn - und hatte Angst vor ihm.
 

Sie wollte es nicht, aber sie hatte Angst, wieder in diese Augen zu sehen und womöglich wieder diese furchtbare Kälte, diesen zugleich auch flammenden Zorn darin zu erkennen und daran innerlich zu verbrennen. Sie würde nicht mehr sie selbst sein.

Aber sie hatte auch Angst UM ihn - eben weil sie ihn auch so verzweifelt liebte.

Deshalb war sie nun auf dem Weg zu ihm, um sich so wie die Nächte zuvor davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging. Es beruhigte ihr jagendes Herz und ihre verwirrten Gedanken ihn schlafend zu sehen, einfach nur zu betrachten wie er atmete, wie sich das Licht der Kerze in seinem dunkelroten, seidigen Haar fing und sanfte Schatten in sein schönes, schmales Gesicht zeichnete. Einmal hatte er sich schwitzend von seiner Decke befreit und lag beinahe nackt auf dem Futon. Nachdem Madoka anfangs gebührend errötet war, war sie dennoch näher getreten um ihn auch jetzt wieder zu betrachten. Ihr Blick war über Verbände und dunkles Blut geglitten, über den sanften Schwung seiner Muskeln und die perlenden Schweißtropfen überall auf seiner Haut, die im Schein ihrer Kerze schimmerten wie winzige Diamanten. Er schlief jetzt ruhiger als in den ersten Nächten. Auch das beruhigte sie. Und sie hatte sich immer wieder fortgeschlichen, bevor der Morgen graute und er womöglich erwachte. Madoka war einfach noch nicht bereit ihm unter die Augen zu treten. Sie wusste nicht einmal, ob sie dazu je wieder den Mut finden würde.
 

Shido-san war ein echter Gentleman gewesen.

Sie konnte spüren, dass er zum Teil recht wütend war - auf sie, auf die ganzen äußeren Umstände, die seinen Freund wieder zu jenem gefürchteten Attentäter hatten werden lassen. Aber er behielt sämtliche Vorwürfe, die er auch ihr hätte machen können, für sich und versuchte sogar nicht nur Takeo, sondern auch Madoka tröstend und als Freund zur Seite zu stehen. Das rechnete sie ihm hoch an.

Als sie nun zu Takeos Zimmertür trat und die zusammengesunkene, schlafende Gestalt davor gewahrte musste sie unwillkürlich lächeln. Yasha war trotz seiner Menschlichkeit in jener Nacht nicht halb so furchtbar verletzt gewesen wie Takeo. Allerdings mussten auch seine Wunden zunächst versorgt werden. Doch als er bei Sonnenaufgang wieder zu dem weißhaarigen Halbdämon wurde, den Madoka kannte, da dauerte es auch nicht mehr allzu lange, bis seine Wunden heilten - und zwar sehr viel schneller, als das bei einem Menschen der Fall gewesen wäre.

Und er hatte getobt. Er hatte geschrieen und wollte nichts anderes, als sofort losstürmen um seine Aurinia zu befreien. Madoka verstand ihn. Er liebte sie.

So wie sie Takeo liebte.

Dennoch hatten Shido und auch sie selbst auf ihn eingeredet, dass sie ein paar Tage abwarten und auf Takeos Genesung hoffen sollten. Doch Yasha war nicht zu beruhigen gewesen. Er hatte Angst um die junge Yosei, genauso wie Madoka es um ihre neu gewonnene Freundin auch hatte. Natürlich wollte auch sie nicht, dass ihr etwas geschah. Und sie hatte die Worte Mamorus noch im Ohr, wie er zu Aurinia sagte sie sei für ihn nicht wichtig...

Hätte sie dies Yasha gesagt, wäre er genauso besinnungslos in den Kampf gestürmt wie Takeo es getan hatte. Denn womöglich - und Madoka HASSTE sich für diesen Gedanken - war die Yosei bereits tot.

Aus welchem Grund, wenn sie denn so unwichtig für Mamoru war, sollten sie sie leben lassen? Die Antwort hierauf gefiel Madoka noch weniger als die Vorstellung, dass sie tot sei. Es gab bei weitem noch andere, schlimmere Dinge, die ein Mann einer Frau antun konnte. Sie hätte es beinahe am eigenen Leib erfahren.

Yasha war erst zur - zumindest äußeren - Ruhe gekommen, als er mit Takeo ein Gespräch unter vier Augen geführt hatte, als dieser für kurze Zeit wach gewesen war. Danach war er äußerst grimmig, jedoch um einiges besänftigter aus dem Krankenzimmer gekommen und hatte mitgeteilt, dass er bereit war noch weitere zwei Tage - nicht länger und nicht kürzer - zu warten, bis er etwas unternahm. Er hatte Shido um seine Mithilfe gebeten. Und dieser hatte zugesagt.
 

Shido hatte das "Aka-Chochin" verlassen, um die übriggebliebenen Männer zusammenzurufen und Sendboten in alle Teile des Landes zu schicken, die Anhänger der Reformatoren ausfindig zu machen und nach Kyoto zu beordern. Es ging hier nicht nur um die Befreiung Aurinias oder Sayan-samas (wenn sie denn noch lebten), es ging um die Existenz der einzigen Bewegung, die gegen die Anhänger des Shogunats etwas auszurichten vermochte. Die Polizei hatte der Shinsengumi leider nicht viel entgegenzusetzen - es gab Spione an allen Ecken und Enden und die ständig wachsende Gruppe der mit der neuen Regierung Unzufriedenen wartete nur darauf, die Kaisertreuen endgültig zu vernichten und die wahre Herrschaft über die Distrikte zurückzugewinnen. Sie wollten warten, bis die Männer, die Shido-san vor allem in Osaka vermutete, nach Kyoto gekommen waren und dann gemeinsam einen Plan für den Angriff auf das Hauptquartier der Shinsengumi ausarbeiten.

Doch sie alle wussten, dass ohne Takeo - Halbdämon Yasha hin oder her - ihre Chancen um einiges schlechter standen die Shinsengumi zu besiegen, als mit ihm. Denn er kannte einen ihrer Anführer - seinen Bruder.

Doch Takeo durfte nie mehr kämpfen. Nie mehr.

Madoka sah hinunter zu der Gestalt des Halbdämons. Yasha schlief. Er saß mit dem Rücken zur Wand, sein Kopf war nach vorn gefallen. Madoka lächelte wieder.

Er war zwar ein Sturkopf und in letzter Zeit wirklich ungenießbar - was sie jedoch vollkommen verstehen konnte - aber er ließ es sich nicht nehmen, Nacht für Nacht vor dem Zimmer seines neuen Freundes Wache zu halten. Oder es zumindest vorzugeben. Denn nun schnarchte er ganz leise und schien tief und fest zu schlafen.

Madoka hob die Hand und schob die Tür zu Takeos Zimmer auf. Sie trat ein und schloss die Tür sofort wieder hinter sich. Als sie zum Bett hinüberging drangen eine Vielzahl von Gerüchen an ihre Nase: Lavendel, etwas, das wie Pfefferminz roch und ein seltsam süßlicher Duft, wie von einem betörenden Moschus-Parfüm waren darunter.

Es gab nur eine einzige Person in diesem Haus, die ein derart aufdringliches Parfum benutzte.

Sie war also hier gewesen.

Sie.
 

Madoka fühlte, wie sich ihre freie Hand zur Faust ballte.

SIE war die gefragteste und teuerste der Edel-Kurtisanen dieses Etablissements. Ihr Name war Kanoe. Hirosaki Kanoe.

Sie war schön, keine Frage. Womöglich die schönste Frau, die Madoka je gesehen hatte. Schlank, hoch gewachsen mit einer Haut wie aus Elfenbein und rabenschwarzem Haar, das beinahe bläulich schimmerte wenn Licht darauf fiel. Sie trug nur die prächtigsten Kimonos und ihr Haar war stets mit Edelstein besetzten Kämmen hochgesteckt. Sie war älter als Madoka, wenn auch durch ihr immerwährend geschminktes Konterfei kaum festzustellen war, wie alt sie nun wirklich sein mochte.

Es war Madoka auch gleich. Schon als sie Kanoe am Tag ihrer Ankunft hier begrüßt hatte - sie hatte zugleich eine Art leitende Stellung in diesem Haus inne - gemahnte sich Madoka zur Vorsicht.

Sie war schön, ja. Aber auch eiskalt.

Die Männer hatte sie wohlwollend aufgenommen, Yasha sogar mit mehr als nur mäßigem Interesse, aber Madoka gegenüber war sie unterkühlt bis an die Grenze zur Unfreundlichkeit, wann immer sie miteinander zu tun hatten. Sie war äußerst bestürzt über Takeos Zustand gewesen - jedenfalls schien es so auszusehen. Madoka begann sich bald zu fragen, ob die Dame sich wirklich ernsthaft um Takeo sorgte - und nicht nur das. Es schien beinahe so, als ob sie außerdem ein engeres Verhältnis zu dem jungen Samurai hatte als Madoka lieb war.
 

Eines Tages, Takeo lag schlafend auf seinem Futon, hatte Madoka in einem Waschzuber, der im Zimmer eigens dafür bereit stand, Verbände ausgewaschen, als Kanoe hereinkam. Sie trug ein Tablett mit frisch aufgebrühtem Tee für den jungen Mann. Die Kurtisane maß Madoka mit einem mehr als unfreundlichen Blick und stellte das Tablett neben Takeos Liegestatt auf dem Boden ab.

Madoka, die es sehr ungehörig fand, dass sie nicht einmal gegrüßt hatte, tat es nun mit einem Hauch von Trotz in der Stimme ihrerseits:

"Guten Morgen, Hirosaki-san."

Kanoe drehte sich nicht einmal zu ihr herum.

"Für dich immer noch -SAMA, verstanden?"

Madoka war zusammengezuckt. Zuvor war Kanoe auch schon unfreundlich zu ihr gewesen – aber jetzt, wo sie das erste Mal allein aufeinander trafen, schien sie ihrer Maske überdrüssig und zeigte anscheinend ihre wahren Gefühle Madoka gegenüber. Das, was Madoka insgeheim immer schon gespürt hatte, trat nun hervor.

"Verlasse bitte das Zimmer. Ich will die Verbände wechseln."

Der Ton ihrer Stimme war kalt und entsprach eindeutig NICHT ihrer Wortwahl. Madoka war sprachlos. Bisher hatte die Verbände immer nur der Arzt gewechselt und sie sagte:

"Der Arzt hat gesagt, dass..."

"Es interessiert mich nicht, was der Arzt gesagt hat. Ich möchte, das du auf der Stelle gehst."

Madoka begann innerlich zu kochen.

"Ich werde NICHT gehen. Wieso reden Sie so mit mir? Sie haben gar nicht das Recht..."

"So, habe ich nicht?" Katzengleich hatte sich Kanoe nun doch zu Madoka umgedreht.

"Ich denke doch, Kleines." Ihre Stimme klang mit einem Mal gefährlich sanft. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Takeo zu, der unerschütterlich weiterschlief und von all dem nichts mitbekam - oder auch wieder bewusstlos war. ‚Der Glückliche…‘, dachte Madoka bitter.

Kanoe sprach nun weiter an Madoka gewand, allerdings in die Betrachtung von Takeos Körper versunken, den sie nun der Decke entledigte.

"Du scheinst noch Jungfrau zu sein, ist das so?"

Einmal mehr fuhr Madoka zusammen. Was hatte das nun damit zu tun?

"Du bist doch schon so alt, mh? Hast du bislang einfach nicht den richtigen Mann kennengelernt?"

Madoka war so perplex, dass sie einfach nur da stand und Kanoes Rücken mit wachsender Verwirrung anstarrte. Diese strich nun zärtlich über Takeos Wange.

In Madoka entstand ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Es brannte. Und es tat weh.

War das Eifersucht?

Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn nun sagte Kanoe etwas, dass in Madoka ein Gefühl weit jenseits dieses Schmerzes hervorrief - etwas, das so unendlich tief ging, dass sie dachte nun selbst jeden Moment zur Mörderin werden zu können.

"Mein armer, süßer Schatz.", sage sie und ihre schlanken, weißen Finger glitten weiter, hinab und über Takeos lädierte Brust. Sie kicherte unangemessen und umspielte mit den Fingern ihrer Rechten eine seiner Brustwarzen.

"Weiß sie denn nicht, dass du mir gehörst? Dass ICH die erste Frau war, die du hattest?"

Madoka begann zu zittern. Ihre Gefühle waren ein Mahlstrom zwischen den Mühlsteinen ihrer unendlich langsam kreisenden Gedanken und hörten nicht auf in alle Richtungen zu fließen. Es war ihr unmöglich ein klares Gefühl zu empfinden. Chaos. Das beschrieb ihren inneren Zustand wohl noch am Treffendsten.

Kanoe drehte sich um und lachte ihr ins Gesicht.

"Hast du gedacht, er hätte keusch einfach so vor sich hingelebt, Schätzchen? Wach auf, Süße! Er ist ein MANN! Und er ist gut darin!"

Jedes einzelne Wort war wie ein Peitschenhieb, der seine Wirkung nicht verfehlte. Madoka taumelte beinahe. Aber...

Hatte sie nicht Recht? Ein kleine, äußerst grausame Stimme flüsterte in ihrem Inneren: Hat sie nicht Recht? Warum hätte er noch nie eine Frau haben sollen? Aber sicher hatte er das. Es war nur natürlich. Aber warum tat es dann so weh?

Sie sah in Kanoes wunderschönes, kaltes Gesicht und eine plötzliche, innere Ruhe, an der Grenze zur Betäubung, breitete sich in ihr aus.

Ja, es tat weh. Aber wenn es denn so war wie sie sagte, dann konnte sie sowieso nichts mehr daran ändern. Stattdessen wuchs eine reine, säubernde Wut in ihr heran, die alles Andere in ihr verdrängte. Wut über die Art, wie Kanoe über etwas so Intimes, Persönliches sprach und darüber, wie sie es zur Schau stellte, als wäre Takeo nichts anderes als eine eroberte Trophäe.

Ebenso kühl wie Kanoe zuvor erwiderte sie:

"Schön für Sie, wenn es so war. Ich denke, er war überhaupt der einzige Mann in dem Haufen Gesindel, den Sie sonst so zwischen Ihre Beine lassen. Und ich denke, er hat nicht mehr empfunden für Sie, als momentane Lust beim Anblick eines weiblichen Körpers, den Sie ja nun mal genau zu diesem Zweck jedem zur Verfügung zu stellen haben. Im Grunde sind Sie ziemlich arm dran, wissen Sie? Sie schlafen mit so vielen Männern - und keiner von ihnen liebt Sie wirklich. Sie sind nur eine Hure. Warum sollte ich auf das hören, was Sie sagen?"

Und sie hatte den Raum verlassen und schnell die Tür hinter sich zugezogen. Sie wusste im Nachhinein selbst nicht mehr, was sie da geritten hatte SOLCHE Worte zu sagen. Sie war einmal mehr über sich selbst erstaunt.

Kanoe schäumte vor Zorn und brüllte so laut, dass selbst schlafende Götter davon erwacht wären. Sie brüllte, schrie und machte sich auch daran Madoka zu verfolgen - allerdings hatte diese das einzig Richtige getan und war zu Yasha geflüchtet, dem einzigen unter den momentanen Gästen des Hauses, bei dem Kanoe absolut handzahm wurde, wenn er auftauchte. Anscheinend hatte sie Gefallen an ihm gefunden. Sie konnte nicht wissen, dass auch sein Herz bereits vergeben war.

'Die Arme…', dachte Madoka voller Schadenfreude.

Yasha hatte Kanoe tatsächlich beruhigen und daran hindern können, Madoka etwas anzutun. Allerdings hatte er auch Madoka eine kleine Standpauke gehalten, da sie auf Kanoe als Gastgeberin durchaus angewiesen seien und sie nicht vollkommen verärgern durften. Madoka und Kanoe waren sich fortan aus dem Wege gegangen. Das war auch besser so - sonst wäre am Ende wirklich noch etwas passiert, was beide (oder zumindest Madoka) bereut hätten.
 

Madoka lächelte noch breiter, als sie nun auf den schlafenden Takeo hinabsah. Sie war sich vollkommen sicher: Er mochte mit Kanoe getan haben, was auch immer er wollte - aber er liebte die Kurtisane nicht. Ganz sicher nicht. Oder redete sie sich das nur ein?

Wenn er und Kanoe...

Nein. Schluss. Sie durfte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. In logischer Konsequenz hätte dies nämlich bedeutet, dass die aufkeimenden Gefühle für sie selbst, die sie in Aurinias Höhle bei ihrem Abschied in Takeos Augen gesehen hatte, nichts als eine Lüge gewesen wären. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Über gar nichts mehr.

Sie wollte nur hier stehen und den Mann ansehen, den sie liebte. Was auch immer geschah, gewesen war oder noch kommen würde: Sie liebte ihn. Ein reines, unerschütterliches Gefühl. Sie dachte nicht an ihr Zuhause, nicht daran, dass sie irgendwann zurückkehren würde, sie dachte nicht an Kanoe, sie dachte auch nicht an den Hitokiri in ihm. Auch die leise Angst vor dem Attentäter, die nach wie vor in ihr nagte, konnte diesem Gefühl nicht wirklich etwas entgegensetzen. Das alles war nebensächlich.

Hier und jetzt und für alle Zeit würde sie ihn lieben.

Takeos Entscheidung

Als er das erste Mal zu sich kam hatte Takeo das Gefühl zu schweben. Eine seltsame, schwerelose Leichtigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen und er spürte weder seine Verletzungen, noch die Tatsache, dass er auf einem weichen Futon gebettet lag.

Er war nicht allein. Doch es war wie mit den Gefühlen. Er registrierte zwar, dass da noch andere

Personen mit ihm im Raum waren, aber er tat es aus einer seltsamen Distanz heraus, so als wäre es nicht er, der hier lag und auf den die besorgten Gesichter hinabblickten. Und er glitt zurück in eine tiefe, traumlose Bewusstlosigkeit, bevor er erfassen konnte, wer die Personen bei ihm waren.

Als er das zweite Mal erwachte waren die Schmerzen da. Vielleicht waren sie sogar der Grund für sein Erwachen. Sein ganzer Körper bestand praktisch aus einem einzigen, nicht enden wollenden Schmerz - nicht nur äußerlich. Denn mit dem Schmerz und seinem vollen Bewusstsein kehrten auch die Erinnerungen zu ihm zurück. Die Tatsache, dass er im Kampf die Nerven verloren und erneut zum Hitokiri geworden war bedeutete nicht etwa, dass er sich nicht mehr seiner Taten entsann - es war vielmehr so gewesen, als wenn der Attentäter in ihm die Überhand gewonnen und den Vagabunden in ihm zurückgedrängt hatte. Dieser zurückgedrängte Takeo hatte hilflos mit ansehen müssen, was er sowohl seinen Feinden, als auch seinen Freunden hatte antun wollen - oder angetan hatte.

Er dachte an Madoka. Er hatte sie niedergeschlagen. Was mochte sie nun von ihm denken? Was musste sie empfunden haben, als er es getan hatte? Wenn Shido nicht gewesen wäre, hätte er sogar erneut getötet, dessen war er sich ganz sicher. War er psychisch wirklich dermaßen labil, dass er sogar Angst haben musste, seine engsten Freunde zu verletzen? Anscheinend war dem so. Und die für Takeo logische Konsequenz hieraus war, dass er so schnell wie möglich hier fort musste, fort von den Menschen, die ihm so wichtig waren, damit er ihnen nicht noch mehr schaden konnte.

Dieser Gedanke schmerzte ihn schlussendlich mehr, als es die äußerlichen Verletzungen jemals imstande gewesen wären.

Doch als er sich stöhnend aufzurichten versuchte, um gleich in die Tat umzusetzen, was er nun beschlossen hatte zu tun, da trat ein älterer, gebeugter Mann mit ergrauendem Haar an seine Liegestatt und drückte ihn sanft, aber bestimmt, in die Kissen zurück.
 

Wie er schon bald erfuhr handelte es sich um den Arzt der Kurtisanen des "Aka-Chochin", in dem er sich befand.

Und dann eröffnete ihm dieser Arzt beinahe beiläufig, dass er niemals wieder würde kämpfen oder ein Schwert führen können, wenn er nicht Gefahr laufen wollte selbst zu sterben. Das war einer der seltenen Momente im Leben des jungen Mannes gewesen, in denen er so erschüttert und verzweifelt war, dass er das Gefühl hatte ein schwarzer, bodenloser Abgrund würde sich vor ihm auftun, um ihn zu verschlingen.

Das Schwert war sein Leben. Hier ging es nicht darum, dass es sich in erster Linie um eine Waffe handelte, die Leben forderte. Schon seit seiner Kindheit liebte er es, dem Kendo, dem "Weg des Schwertes" zu folgen, genoss die pure Ästhetik und Reinheit der Bewegungen, die Art, sich von jedem Gedanken an weltliche Dinge zu lösen und inneren Frieden in der körperlichen Betätigung zu suchen und zu finden. Bushido. Mit allem in Gleichklang sein und eins werden mit der ihn umgebenden Welt. Stärker zu werden, nicht nur körperlich, sondern auch im Geiste. Stark genug jene zu schützen, die er liebte. Und jetzt...

würde er niemals wieder diesen Frieden, diese innere Ausgeglichenheit erfahren? Niemals wieder imstande sein, seine Freunde zu schützen? Erst später, zwar immer noch Kind aber doch bereits heranwachsend, als man ihm auf brutale Weise alles genommen hatte, was ihm etwas bedeutete, verlor er jene Ausgeglichenheit und innere Ruhe mit jedem Tag den er fortan als Attentäter tötete mehr und mehr aus den Augen, wurde zu einem anderen, sehr viel verbitterteren und unberechenbareren Menschen, zu jemandem, vor dem er sich selbst beinahe fürchtete. Wenn man ihm sein Schwert nahm, nahm man ihm auch die Möglichkeit jemals wieder zu seiner anfänglichen Rein- und Ausgeglichenheit zurückzufinden. Er würde nie wieder gutmachen können, was er getan hatte - das hätte er ohnehin niemals gekonnt, aber er hätte die Menschen nun schützen und für sie

kämpfen können, ein wenig - und hier war ihm auch bewusst, dass es im Grunde egoistisch war - sein Gewissen erleichtern können, um die Albträume, die ihn Nacht für Nacht quälten, eines Tages wenn schon nicht verschwinden, dann doch leichter ertragen lassen zu können.
 

Und dann...

tat sich der schwarze Abgrund vor ihm so lautlos wieder zu, wie er sich zuvor geöffnet hatte.

Es war ganz einfach. Er würde NICHT gehen. Er WÜRDE weiterkämpfen. Es war ihm gleich, was mit ihm geschah. Sollte er sterben. So würde er für seine Sünden sühnen. Und dies war der allergrößte Unsinn, den er überhaupt denken konnte. Denn nun war es ja nicht mehr so, dass er nur für sich selbst kämpfte. Sollte er tatsächlich sterben, dann würde er Menschen, die ihn liebgewonnen hatten,

sehr weh tun. Es wäre egoistisch zu glauben, dass er damit seine Schuld tilgen könne und dann alles gut wäre.

Madoka würde traurig sein. Und Shido-san... Der beste Freund, den er jemals gehabt hatte. Und dann dieser dickschädlige Halbdämon nebst seiner reizenden Gefährtin... Er KONNTE sie nicht im Stich lassen.

Auf der anderen Seite...

Madoka würde diese Epoche wieder verlassen. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde sie wieder aus seinem Leben verschwinden - und er wusste nicht, ob er ohne sie überhaupt noch leben WOLLTE...
 

Ihn überraschte die Intensität seiner Gefühle. Noch vor ein paar Tagen war er fest entschlossen gewesen, die junge Frau zu vergessen - schon um ihrer selbst willen. Aber er hatte sich etwas vorgelogen. Denn er konnte seine Gefühle für sie nicht verleugnen. Wenn sie ging nahm sie einen Teil von ihm mit - und ohne diesen Teil wäre er nicht mehr fähig dem Leben noch irgendetwas abzugewinnen.

Es galt noch einen einzigen, letzten Kampf auszufechten - und es würde der schwerste seines Lebens sein. Er würde seinen Bruder stellen. Zunächst würde er versuchen mit ihm zu reden - das schwor er sich. Sollte dies nicht genügen, um ihn zur Vernunft zu bringen, würde er mit ihm kämpfen. Und wenn er dabei starb und Mamoru, der, ebenso wie er selbst, so viel Leid über die Menschen gebracht hatte mitnahm, dann wäre sein Tod nicht umsonst. Und Madoka wäre frei zu gehen, könnte gehen ohne zurückzublicken. Nicht, dass er sie daran gehindert hätte, sollte er das Glück haben sein Leben neu zu beginnen. Aber er spürte, dass die innere, unsichtbare Bindung zwischen ihnen schon beinahe zu stark war, um sie zu durchtrennen. Sein Ende würde sie jedoch freigeben.

Und Shido? Und die anderen?

Doch er MUSSTE eine Entscheidung fällen. Die Alternative hätte bedeutet, nie wieder ein Schwert zu führen. Er würde vielleicht alt und grau werden - aber ohne SIE. Denn sie würde gehen.
 

Wie er es auch drehte und wendete, seine Gedanken kehrten immer wieder zu Madoka zurück. Er würde bei seinem ersten Entschluss bleiben, und ihr niemals sagen, was er für sie empfand. Er hatte sich nun innerlich mit der damit verbundenen Qual einer unerfüllten Sehnsucht abgefunden, denn so würde er sie nicht an sich binden. Sie würde in ihrer Zeit glücklich werden.

Sie hatte noch ein ganzes Leben vor sich. Er hatte nicht das Recht ihr das zu nehmen.

Und deshalb war es richtig, wenn er es zu Ende brachte. Wenn er mit sich und der Welt insofern ins Reine kam, als dass er zumindest seinen Bruder zu retten versuchte.

'Mamoru...

Mein Bruder... Du hast so viel durchlitten und ich habe dich im Stich gelassen. Verzeih mir. Auch wenn es zu spät ist. Verzeih...'

Sein Hass auf den Bruder war im selben Moment geschwunden, in dem der Hitokiri in ihm einmal mehr starb. Und Takeo wusste, dass er nicht mehr so leicht zurückkommen würde. Der Attentäter in ihm würde womöglich nie mehr wiederkehren. Er war in dem Moment gestorben, als er die Hand gegen die Menschen erhoben hatte, die er liebte: Madoka und auch Shido-san. In dem Moment, wo der innere Dämon ihn dazu getrieben hatte, seinen eigenen Bruder töten zu wollen, hatte er sich selbst der Handlungsgrundlage beraubt, war zum Ausdruck eines blinden Hasses geworden, den er vorschob, um seine wahren Gefühle und sein verletzliches Ich zu verbergen. Dieser Dämon hatte sich selbst getötet. Denn die Beweggründe, aus denen er geboren wurde, waren erschüttert worden. Er wollte beschützen und rächen - und hatte verletzt, diejenigen, die er schützen wollte ohne nachzudenken verwundet. Er würde für alles die Schuld auf sich nehmen, wenn Mamoru ihm letztendlich verzieh.

Diese Konfrontation hatte er noch vor sich - egal wie sie aussehen mochte. Er würde nicht davonlaufen, nur weil möglicherweise sein Körper zu schwach war den Kampf zu überstehen.

Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und er betete das erste Mal seit seiner Kindheit, dass die Götter ihm vergeben mögen. Was er getan hatte und auch was er noch tun würde.

'Madoka...

Ich muss es tun. Bitte verzeih auch du mir...'

Dann sank er erneut in einen dieses Mal sogar ruhigen und erholsamen Schlaf.

Verrat

Saito Hajime saß im Schneidersitz auf der Veranda des Gästehauses. Das Anwesen, das zuvor dem Politiker Ysidro gehört hatte und nun die Truppen der Shinsengumi unter Hijikata Toshizo und dem jungen Yamazaki beherbergte, bestand nicht nur aus jenem prachtvollen Haupthaus, das Saito persönlich einfach nur geschmacklos fand, sondern es hatte auch noch drei Gästehäuser, die allerdings in traditionell japanischem Baustil gefertigt waren. Die hölzernen Veranden standen zum Garten hin offen. Eine papierne Laterne schaukelte über Saitos Kopf in der samtenen Dunkelheit

und verströmte ein mildes, warmes Licht.

Saito rauchte eine seiner Zigarren. Das Licht der Laterne war so unzulänglich, dass man es nur anhand des leuchtend orangefarbenen Punktes, der ab und an in der Finsternis aufleuchtete, erkannte. Und anhand der Schwaden von dünnem, grauen Rauch, welche die kleine Insel aus Licht zu umschmeicheln schienen.

"Wo ist er jetzt?" Seine Stimme klang allenfalls mäßig interessiert.

"In seinem Zimmer. Er hat sich hingelegt.", antwortete eine körperlose Stimme aus den Schatten im Hintergrund. Saito gab ein Geräusch von sich, dass sich anhörte als würde er zugleich seufzen und abfällig lachen.

"Okita, mein Junge. Willst du dich nicht um ihn kümmern?", sagte er dann mit unverhohlener Häme in der Stimme. Okita Soji trat aalglatt hinter ihm heran.

"Ich tue nichts anderes, als mich um Yamazaki zu kümmern. So wie wir es vorgesehen haben."

In seinen kalten Worten schwang keinerlei Gefühl mit.

"Wie geht es ihren Verletzungen, Herr?"

Saito antwortete nicht gleich. Er bewegte prüfend die Schulter.

"Ich werde schon bald zu meiner alten Stärke zurückfinden. Ist die kleine Hexe noch drüben im Haupthaus?"

Okita verneinte.

"Hijikata hat sie in sein Haus gebracht."

"Shigeru ist auch dort?"

"Das ist korrekt, Herr. Hijikata-san hofft auf seine Weise über sie herauszufinden, wo sich die Verstecke der Gegner hier in der Stadt befinden."

"Folter?", fragte Saito langsam. "Ja, das ist in der Tat eine von Toshizos Spezialitäten."

Ein leichtes, süffisantes Lächeln umspielte die grausamen Lippen.

"Bis jetzt schweigen sich jedoch beide aus.", setzte Okita hinzu. Saito neigte den Kopf.

"Wir sollten uns keine Sorgen darum machen wie wir sie finden. Vertrau mir. SIE werden UNS aufsuchen - und zwar schon bald. Sie haben einen triftigen Grund dazu."

Bei seinen letzten Worten griff er hinunter und hob etwas auf, das vor ihm in der Dunkelheit gelegen hatte. Es war ein sehr altes Schwert in einer abgenutzten Scheide.

"Außerdem habe ich mit einem gewissen Halbdämon noch eine Rechnung zu begleichen. Er weiß das und ich weiß es."

"Eine interessante Waffe. Das denke ich nach wie vor."

Okita war näher herangetreten und sah ihm über die Schulter - auch wenn er nicht wirklich viel erkennen konnte.

"Sie hat eine deutliche, magische Aura, die sehr mächtig ist. Was auch immer dieses Schwert ist: Es ist nicht bloß eine geschliffene Klinge."

Er schwieg einen Moment und sann dann weiter:

"Und ziehen kann es hier auch niemand. Seltsam. Aus welchem Grund sollte ein kleiner Hundedämon solch ein nutzloses Schwert mit sich herumtragen?"

"Nutzlos? Sicher nicht für ihn.", meinte Saito langsam und ließ die dunkle Scheide nachdenklich zwischen seinen langen, schlanken Fingern hindurchgleiten.

"Im Grunde ist es nicht wichtig. Dieser räudige Kläffer wird sich mir OHNE dieses Schmuckstück stellen müssen. Und wir werden sehen, ob er mich besiegen kann, wenn ich NICHT von vorangegangenen Kämpfen geschwächt bin."

"Wie erklären sie sich seinen seltsamen Zustand bei unserer letzten Auseinandersetzung?", fragte Okita leise.
 

Jetzt wurde Saitos Lächeln hinterhältig und böse.

"Es gibt nur eine einzige Erklärung, die auch wirklich einleuchtend ist. An jenem Tag war Neumond. Ich kann mir nicht erklären, wieso es so ist, aber diese Tatsache muss sich negativ auf seine dämonischen Kräfte auswirken - vergleichbar vielleicht mit der Sage vom Werwolf, nur dass dieser natürlich nur bei Vollmond aktiv wird. Bei dem einen wird etwas unterdrückt was bei dem anderen erst durch einen bestimmten Mondstand hervorgerufen wird. Interessant, nicht wahr?"

Okita neigte den Kopf. "Wäre es nicht ratsam, sie in Ruhe auszuspionieren und dann beim nächsten Neumond anzugreifen?"

"Wie ich bereits sagte, kleiner Okita..." Saito erhob sich langsam. "SIE werden es sein, die UNS schon bald wieder aufsuchen. Aber ich denke, wir können uns unser Wissen durchaus noch irgendwann zunutze machen."

Er drehte sich Okita zu, ein unerschütterlich böses Lächeln auf den Lippen.

"Und nun geh zurück zu dieser Memme Mamoru. Besänftige und tröste ihn. Er darf keinen Verdacht schöpfen. Mach ihm klar, dass du nur zu seinem Besten gehandelt und den Kampf mit seinem Bruder abgewendet hast. Wenn wir den "Roten Schatten" und seine Männer haben, haben wir das Herz der kaisertreuen Bewegung getroffen - und brauchen Mamoru nicht länger. Sein Hass auf den Bruder ist uns sehr nützlich - mehr auch nicht. Ebenso wie seine ach so unbesiegbaren Ninja-Kämpfer. Sie alle sind entbehrlich. Wir werden dafür sorgen, dass das alte System wieder auflebt. Dem Kaiser wird am Ende nichts anderes übrig bleiben als der Übermacht der einzelnen Daimyo und ihrer Samurai-Elite,

die in neuem Glanz erstehen wird, nachzugeben. Er wird nur noch eine Schachfigur im großen Spiel um Macht und wiederhergestellte Ordnung sein."

Der Wolf von Mibu drehte sich herum, trat die paar Stufen hinunter in den Garten, und verschwand dann lautlos in der Nacht. Okita Soji neigte den Kopf und hielt ihn gesenkt, bis er verschwunden war.

"So wird es sein, Herr.", sagte er.

Hanyou - Halbdämon

Shido-san hatte lange mit sich gekämpft, aber er war zu dem Schluss gekommen, dass die junge Sakurai Madoka seinem besten Freund gut tat, dass sie seine besten Seiten hervorbrachte und als einzige imstande war, ihn zum Lächeln zu bringen.

Es tat weh. Denn er hatte sich eingestanden, dass er die junge Frau auch selbst sehr gern hatte. Mehr als ihm lieb war. Er hatte wütend auf sie sein wollen, dass SIE es - wenn auch ungewollt - gewesen war, die Takeo wieder zum Attentäter hatte werden lassen - allein dadurch, dass sie da war und ihm plötzlich so viel bedeutete. Er hatte wirklich zornig sein wollen, aber er konnte es nicht. Wenn er sie sah und den Schmerz in ihren Augen gewahrte, dann wusste er, dass sie bereits genug litt. Und er mochte sie zu sehr, als dass er sie noch mehr verletzen könnte.

Auf der anderen Seite liebte er Takeo wie seinen Bruder. Er würde ihm niemals wehtun können. Und die Tatsache, dass sie sein wundes Herz heilte machte ihn auch glücklich. Mit keiner Silbe würde er irgendjemandem gegenüber erwähnen, was in ihm vorging. Er war selbst zu verwirrt, um sich jemandem öffnen zu können.

Er lehnte an der Verandatür und blickte über den hölzernen Balkon hinunter in den Innenhof des "Aka-Chochin", wo Madoka gerade dabei war Wäsche auf kreuz und quer gespannte Leinen zu hängen. Er lächelte leicht. Sie und die Luxus-Kurtisane Kanoe lieferten sich Tag für Tag ein wortloses,

jedoch wahrhaft verbissenes Gefecht um die Gunst Takeos - wobei Madoka es sehr subtil angehen ließ. Sie legte es nicht darauf an ständig in Takeos Nähe zu sein, wie es Kanoe so auffällig tat. Aber gerade dadurch machte sie die teuerste und professionellste Kurtisane ganz Kyotos misstrauisch. Madoka versuchte Kanoe nicht zu beachten. Und das ärgerte die eitle Frau über die Maßen. Ständig spionierte diese Madoka hinterher und ließ die ihr unterstellten Mädchen die junge Frau im Auge behalten oder sie mit sinnvollen, wie manchmal auch sinnlosen, Arbeiten beauftragen. Und Madoka tat was sie konnte, um im Haus bei anfallenden Arbeiten zu helfen. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Shido wusste warum. Jede Nacht war sie es, die an Takeos Bett weilte - nicht Kanoe. Es genügte

der jungen Frau, in seiner Nähe zu sein. Shido hatte es bereits ein paar Mal beobachtet - aber sie schien wirklich zufrieden damit neben ihm zu sitzen, um seinen Schlaf zu bewachen. Einmal hatte er an der leicht geöffneten Tür zum Krankenzimmer gestanden und gesehen, wie sie an seinem Bett saß und unendlich vorsichtig mit einem feuchten Tuch den kalten Schweiß von seiner Haut tupfte, sanft über seine Stirn strich und leise beruhigende Worte sprach. Sein Herz hatte sich zusammengezogen. Hier saßen die beiden Menschen, die ihm auf der ganzen Welt das Meiste bedeuteten - und er empfand nichts als blinde, absurde Eifersucht! Er hatte sich gleich darauf sehr geschämt und kam sich ziemlich idiotisch vor. Es war nun einmal offensichtlich wo die Prioritäten der jungen Frau lagen. Doch allein in ihrer Nähe zu sein stimmte ihn auch schon wieder etwas weniger traurig.

Takeo wusste, dass Madoka des nachts bei ihm war. Er hatte es ihm gesagt.

"Warum zeigst du ihr dann nicht, dass du sie magst.", hatte er gefragt. Takeos Antwort bestand nur aus einem stummen Kopfschütteln und Shido glaubte zu verstehen: Er wollte sie nicht zu nah an sich heranlassen, weil sie früher oder später in ihre Zeit zurückkehren würde.
 

'Nun ja, vielleicht ist das auch besser so. Ihre Anwesenheit verwirrt mich. Und nicht nur mich...', dachte er jetzt und beobachtete, wie Madoka ihre Arbeit mit der Wäsche beendete, den leeren Korb aufnahm und auf ihn zukam. Sie trug einen schlicht-naturfarbenen Baumwoll-Kimono und sah einfach bezaubernd aus. Es mochte - auch und gerade in einem Haus wie diesem hier - sehr viel schönere Frauen geben, aber Madoka besaß eine ganz natürliche, erfrischend andere Art und die machte sie in seinen Augen beinahe noch attraktiver. Ihr Haar war hochgesteckt und etwas zerwühlt vom Wind, der an diesem Tag stetig wehte. Sie lächelte - und die Sonne ging auf.

Er nahm den Halm, auf dem er herumgekaut hatte, aus dem Mundwinkel und bedachte sie mit einem beinahe liebevollen Blick.

"Shido-san, wie lange stehst du hier schon?", fragte sie.

"Nuoh, ein Weilchen. Es ist schön zu sehen, das ein paar alltägliche Dinge sich einfach niemals ändern."

Sie lachte. "Du meinst Wäsche aufzuhängen? Nun, ich kann dir versichern, dass man das sogar in unserer Zeit noch genauso tut wie ihr jetzt."

Er griff nach dem an sich schon schweren Korb und nahm ihn ihr ab.

"Ich bring ihn in die Wäschekammer. Willst du nicht noch einmal nach Takeo sehen? Heute warst du noch gar nicht oben, oder?"

Sie wurde ernst. Von einem Moment auf den anderen trübte sich ihr Blick mit Sorge und einem Schmerz, der tiefer ging als alles, was er selbst je erfahren haben mochte.

"Ich... ich glaube nicht, dass..."

"Blödsinn!", fuhr er ihr freundlich über den Mund. "Jetzt sei mal nicht so furchtbar schüchtern. Der Junge mag dich so wie du bist. Geh hin und bleib bei ihm. Das ist es doch, was du wirklich möchtest."

Er spürte einen schmerzhaften Stich in seiner Brust, als ihre Augen leicht aufleuchteten. 'Ich bin ein IDIOT.', dachte er bitter. 'So ein IDIOT! Gott, wie sehr ich sie mag....'

"Wird er mir nicht böse sein, dass er wegen mir...", wollte sie zögernd fragen, doch er unterbrach sie erneut.

"Es war immerhin seine eigene Entscheidung dir und Aurinia helfen zu wollen. Mach dir keine Vorwürfe. Es ist vielmehr so, dass ER sich davor fürchtet DICH verärgert oder verschreckt zu haben. Immerhin hat er dich verletzt..."

Er ließ seine letzten Worte zusammenhanglos in der Luft schweben. Madokas Seufzen war das einer unglücklich verliebten Person.

"Es ist gut. Ich denke, ich werde mal nach ihm sehen.", sagte sie dann.
 

'Vorausgesetzt Kanoe-SAMA ist nicht wieder bei ihm...', fuhr sie ironisch in Gedanken fort.

Sie wollte sich soeben mit einem leicht säuerlichen Gesichtsausdruck, der deutlich ihre letzten Gedanken widerspiegelte, herumdrehen, als Yasha hinter ihnen über die Veranda herangestürmt kam.

"Sie kommen! Sie sind da! Männer aus Osaka und Tokyo! Sogar von der Westküste sind welche dabei! An die fünfhundert Mann, teilweise zu Pferd! Und es sollen noch mehr unterwegs sein! Soeben hat uns die Kunde vom Hafen erreicht, dass sie sogar teilweise mit Schiffen ankommen. Sie lassen Takeo wissen, dass sie in Gruppen nacheinander hier eintreffen werden. Die meisten Männer werden hierher kommen. Die anderen verteilen sich rings um und in der Stadt in anderen Unterkünften. Es riecht nach Krieg!"

Der Hundedämon wirkte ganz aufgeregt und seine Ohren zuckten andauernd vor Nervosität.

"Haben wir auch genug Platz im "Aka-Chochin" für so viele Männer?", fragte Madoka überrascht.

"Das wird schon gehen - irgendwie. Das "Chochin" hat so viele Zimmer wie es Kurtisanen hier gibt. Zur Not müssen die Mädchen eben alle im Speisesaal schlafen, damit die Zimmer für die Männer frei sind. Oder umgekehrt...", fügte er rasch hinzu, als er Madokas ungläubigen Blick bemerkte.

"Dann schlafen sie eben zu mehreren in einem Raum, das wird vorübergehend nicht anders zu regeln sein." Shido-san und überlegte schon, wie er alles organisierte.

Yasha sah ungehalten aus.

"Wenn die Männer hier sind werde ich mit einer Vorhut bereits heute Nacht das Gebiet um Yamazakis Anwesen auskundschaften. Mir wäre es wirklich lieb, wenn wir BALD angreifen könnten. Vielleicht können wir wertvolle Geiseln nehmen und einen Austausch organisieren..."

"Yasha, wir warten auf Takeos Anweisungen. Ist Lord Shigeru nicht hier hat er den Befehl über die Truppen in Kyoto - AUCH wenn es sich um Verstärkungseinheiten aus anderen Städten handelt." Shido wurde lauter als Yasha schon widersprechen wollte.
 

Und da platzte dem Halbdämon nun endlich der Kragen. Madoka hatte bislang seine Geduld bewundert. Aber er war nun einmal zur Hälfte ein Dämon. Und ein solcher ließ sich nur schwer bezähmen.

"Jetzt reicht es mir! Verdammt noch mal, wir sollen auf den Befehl eines HALB-TOTEN warten? Was erwartet ihr eigentlich von mir? Ich sollte gar nicht hier sein und euch zuhören! Ihr habt MIR gar nichts zu befehlen! Hätten wir euch nicht geholfen, wäre das alles nicht passiert und Aurinia

wäre noch..."

Er stieß ein lautes, bedrohlich klingendes Knurren aus - und mit einem Mal wirkte er gar nicht mehr so freundlich und beinahe schon niedlich, wie er es sonst schon aufgrund seiner Hundeohren vielleicht tat. Im Gegenteil. Etwas ging mit ihm vor sich. Und es war eine SICHTBARE Veränderung.

"Wenn ihr es wagt mich aufzuhalten..."

Das Knurren wurde zu einem Grollen, dass tief aus seiner Brust kam und sein ganzer Körper schien vor unterdrückter Wut zu beben. Madoka war erschrocken, wie schnell die plötzliche Veränderung gekommen war. Sein weißes Haar sträubte sich und die Ohren lagen flach am Kopf. Seine Augen hatten die Farbe geronnenen Blutes angenommen und funkelten wild und auf seinen Wangen zeigten sich seltsame violette Streifen, Male, die beinahe wie Narbengewebe aussahen.

Madoka erschauerte. Mit einem Mal hatte sie Angst. Shido trat einen erschrockenen Schritt auf Yasha zu und blieb verblüfft stehen, als eine krallenbewährte Hand knapp vor ihm die Luft teilte.

Yasha schien sich richtig hineinzusteigern in seinen Zorn und nahm buchstäblich kaum noch etwas wahr!

'Himmel nochmal, wie ist das möglich?', dachte Madoka entsetzt. ‚Eben haben wir noch geredet und jetzt sieht es beinahe so aus, als wenn er selbst unseren Tod in Kauf nehmen würde!‘

Was ging hier nur vor? Waren denn hier alle in irgendeiner Form besessen?

Shido-san drängte Madoka zurück zum Haus.

"Jetzt hör doch zu, Yasha! Gut, dann werden wir mit Takeo reden! Heute Nacht werden wir sicher einen Spähtrupp..."

Der Halbdämon knurrte noch lauter. Er schien die Fähigkeit zu sprechen verloren zu haben. Er fuhr herum und wollte davonlaufen, doch Shido sprang vor und ihm in den Weg.

"Sei doch vernünftig! Selbst für dich ist eine Einheit der Shinsengumi zu viel! Das schaffst du nicht allein! Bitte..."

Unvermittelt sprang Yasha ihn an. Sie gingen gemeinsam zu Boden und dann hockte der Halbdämon auf seiner Brust, bereit seine langen Krallen durch Shidos Gesicht zu ziehen, ähnlich wie er das bei Saito getan hatte.

"NEIN!", schrie Madoka erschrocken und warf sich in seine Arme. "Yasha! Hör auf! Bitte! Aurinia würde das auch nicht wollen! Komm bitte zu dir! Was ist denn nur in dich gefahren?!"
 

Als er den vertrauten Namen Aurinias hörte hielt Yasha tatsächlich inne. Er legte den Kopf zur Seite und schien zu überlegen. Madoka, die nun neben Shido am Boden hockte, glaubte auf dem richtigen Weg zu sein und fuhr fort:

"Aurinia! Denk an Aurinia! Sie würde nicht wollen, dass du uns etwas antust, geschweigedenn, dass du sinnlos in den Tod läufst! Bitte denk nach!"

Yasha taumelte wie unter einem unsichtbaren Hieb zurück. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und wimmerte. Als er in die Knie ging stellten sich seine weißen Husky-Ohren bereits langsam wieder auf. Madoka ließ einen Stoßseufzer der Erleichterung hören. Auch Shido rappelte sich langsam wieder hoch und half Madoka beim Aufstehen.

"Mein Gott, das hätte auch daneben gehen können.", murmelte er und kratzte sich verwirrt am Hinterkopf.

So schnell wie Yashas Gefühlsausbruch gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Madoka war vollkommen verwirrt.

"Es liegt an Tessaiga...", ließ sich nun Yashas gedämpfte Stimme vernehmen. Noch immer hielt er die Hände vor sein Gesicht, als traue er sich nicht mehr es zu zeigen oder als hätte er Angst vor sich selbst.

"Wie?", machte Shido einfallslos.

"Tessaiga. Sie haben es mir abgenommen."

Der Halbdämon lugte zunächst zwischen seinen Fingern hindurch und ließ dann zögernd, beinahe ängstlich die zitternden Hände sinken. Er atmete immer noch schwer, als wäre er gelaufen.

"Tessaiga? Was soll das sein?", fragte Madoka.

Er sah sie an und sie bemerkte mit Erleichterung, dass seine Augen wieder jenes milde Bernsteingelb angenommen hatten, dass sie an ihm kannte.

"Tessaiga ist mein Schwert."

"Was? Diese rostige alte Klinge bewirkt, dass du... zum Monster wirst?"

Shido sah ihn ungläubig an. Yasha erhob sich langsam, schüttelte seine lange Mähne.

"Es ist anders. Ich kann meine dämonischen Kräfte nicht zurückhalten wenn ich Tessaiga nicht bei mir trage. Sobald mein Leben oder das... der Menschen bedroht ist, die mir etwas bedeuten, schaltet sich mein Verstand ab und ich werde zu... dem was ihr eben gesehen habt."

Er fuhr sich verstört mit der Hand übers Gesicht.

"Mein Gott, ich hätte euch töten können...." Er flüsterte nur noch.

"Also handelt es sich bei dem Schwert um eine Art Siegel oder Bann?" Madoka musste mit Macht den Impuls unterdrücken, ihm nicht tröstend über das Haar zu streichen. Er sah so zerknirscht und schuldbewusst aus, dass man einfach Mitleid haben musste. Er nickte.

"Ich muss es zurückholen. Es fällt mir mit jedem Zornesausbruch schwerer, meine... dämonische Seite zurückzuhalten... Es... tut mir Leid."
 

Madoka, die ihre Hand bereits gehoben hatte um zu tun, was sie zuvor in Erwägung gezogen hatte, ließ sie langsam wieder sinken. Ihr wurde in diesem Augenblick etwas sehr deutlich bewusst: Takeo und Yasha waren sich sehr ähnlich. Viel ähnlicher als ihnen selbst bewusst sein mochte. Beide kämpften auf die eine oder andere Weise gegen ihre Besessenheit, ihren inneren Dämon an. Sie empfand plötzlich tiefes Mitleid. Beiden gegenüber.

"Ich rede mit Takeo.", meinte Shido jetzt. "Wir WERDEN dein Schwert und auch Aurinia, vielleicht auch Shigeru zurückholen. Wir helfen dir. Alle."

Yasha sah auf. Er nickte dankbar.
 

In diesem Moment öffnete sich das Haupttor, welches in den Innenhof des "Aka-Chochin" führte, und Männer auf Pferden kamen herein. Nach ihnen betraten auch noch etliche Männer zu Fuß den Hof. Sie trugen ihre Waffen zwar nicht offen, aber man konnte an ihrem gut verhüllten Gepäck erkennen, dass es sich um eine kleine Armee von Kriegern handelte, die sich zu wehren wusste. Madoka sah, wie sich die Tür im Haupthaus öffnete und Kanoe, gefolgt von gleich einem ganzen Bataillon an hilfreichen Geishas, den Ankömmlingen entgegen ging. Als sie einen Blick in die Runde warf blieb er an Madoka hängen - und der Ausdruck der kalten, braunen Augen war so eisig, dass Madoka unwillkürlich fröstelte. Dennoch hielt sie diesem Blick stand und sah mit - wie sie hoffte - angemessener Gleichgültigkeit zurück. Mehr und mehr war es ihr ein Rätsel, wie Takeo mit dieser kalten, unnahbaren Frau hatte schlafen können. Vielleicht war er betrunken gewesen? (Anmerkung d. Autorin: Ha ha ha...)

Shido bedeutete Yasha ihm zu folgen.

"Wir sollten mal schauen, ob wir auch helfen können. Wir müssen die Unterkünfte vorbereiten. Madoka? Könntest du Takeo Bescheid geben?" Er hatte sich schon einem jungen Reiter zugewandt, der soeben von der Gruppe her auf Shido zukam. Er hatte eine Glatze, nur an den Seiten seines Kopfes trug er einen Kranz aus schwarzen Haaren, die in seinem Nacken zu einem kleinen Zopf gebunden waren. Er verneigte sich ruckartig vor Shido.

"Sag ihm bitte, das Togakura vom Ensaki-Clan mit seinen Männern eingetroffen ist.", fuhr Shido ohne sich noch einmal zu Madoka herumzudrehen fort und riss dann den verblüfften jungen Mann kurz an sich.

"Mensch, Toga-kun! Schön, dass wir uns mal wiedersehen!"

Er verabreichte dem Angesprochenen eine gehörige Kopfnuss und führte ihn dann mit sich fort. Yasha folgte den beiden etwas verstört.

Madoka sah sich um. Kanoe unterhielt sich mit einem der angekommenen Krieger. In dem verhältnismäßig kleinen Innenhof herrschte nun zwischen den gespannten Wäscheleinen Hochbetrieb. Kanoe würde durchaus eine Weile mal NICHT an Takeo denken, vermutete Madoka sarkastisch.

Eifersucht

Als sie die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufging wurden ihre Schritte auf dem Weg zur Tür des Krankenzimmers immer langsamer. Sie fühlte ihr Herz jagen.

Sie freute sich natürlich ihn zu sehen - vielleicht war er auch das erste Mal bei Bewusstsein wenn sie ihn besuchte (und etwas in ihr sagte ihr, dass das der Fall sein würde). Aber sie war auch... verwirrt. Sie fühlte immer noch unterschwellig eine absurde Eifersucht auf Kanoe und das, was sie mit Takeo gehabt hatte. Dann war da noch immer ein wenig Furcht vor dem Attentäter, der nach wie vor in dem jungen Samurai schlummern mochte und nur darauf wartete erneut zuzuschlagen. Wer würde dort drinnen auf sie warten? Takeo oder der grausame Hitokiri?

Und dann noch diese schreckliche Sorge um ihn und seinen Gesundheitszustand. Der Arzt hatte nur gesagt, dass er vor allem Ruhe brauchte, dann würde er wieder gesund werden, wenn er auch niemals mehr in den Kampf ziehen durfte damit das auch so blieb. Aber Madoka war skeptisch. Dieses Mal war er noch sehr viel schlimmer verletzt gewesen als das letzte Mal. Er hatte so entsetzlich viel Blut verloren...
 

All diese Gedanken flogen ihr durch den Kopf, als sie die Hand nach der Tür ausstreckte und diese nach kurzem Anklopfen zögernd aufschob. Ihr Blick fiel auf Takeo, der aufrecht auf dem Rand seines Futons saß und ihr ruhig entgegen sah.

Und in diesem Moment waren sämtliche Gedanken wie fortgewischt und ließen nur noch Platz für ein einziges, überwältigendes und reines Gefühl: Liebe. Sie blieb wie angewurzelt in der Tür stehen und starrte ihn an, sah in diese wunderschönen, großen, dunkelblauen Augen und verstand einfach nicht, wie jemals so viel Hass und Zorn in ihnen gewesen sein konnte. Sie blinzelte nicht einmal.

Sie starrte ihn an und ihre Finger krampften sich so fest um den Holzrahmen der Tür, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Takeo saß nur da und erwiderte ihren Blick ruhig. Sein Oberkörper war nackt und der große Verband um seinen Torso war zu sehen. Sie gewahrte am Rande (und mit einem gehörigen Maß an Erleichterung), dass kaum noch Blut hindurchsickerte. Mit einem seltsamen Kribbeln deutlich unterhalb des Bauchnabels reagierte ihr Körper auf die Tatsache, dass er vollkommen nackt sein musste. Ein Stück der Decke verbarg zwar die entscheidenden Körperteile, aber man konnte doch sehen, dass er nichts weiter trug. Wahrscheinlich hatte er beim Geräusch der Tür nur schnell nach der Decke gegriffen und sich notdürftig bedeckt.

Sie war wieder einmal rot wie ein Hydrant - das konnte sie deutlich an der Hitze in ihren Wangen spüren. Am liebsten hätte sie sich ins nächstbeste Mauseloch verkrümelt. Schnell wollte sie wieder hinaustreten und die Tür mit einer gemurmelten Entschuldigung hinter sich zuziehen, als sie seine Stimme vernahm. Überhaupt das erste Mal, seit sie sich in Aurinias Höhle verabschiedet hatten, sprach er sie an.

"Bleib! Bitte, Madoka..."

Die junge Frau, die sich schon umgewandt hatte, fühlte eine Ader an ihrer Schläfe im Takt ihres raschen Herzschlages pochen. Ganz langsam drehte sie sich wieder herum und betrat nach kurzem Zögern den Raum ganz, zog die Tür hinter sich zu. Allerdings blieb sie auch genau dort stehen: An der Tür. Und sie machte auch keine Anstalten sich noch einmal zu rühren. Sie blickte überall hin, nur nicht zum Bett.
 

Schweigen.

Es gibt alle nur möglichen Arten von Schweigen und Stille. Die Stille vor dem Sturm, das Schweigen der Entrüstung oder auch die Ruhe der vollkommenen Zufriedenheit. Und dann gab es da noch das ängstliche Schweigen, bei dem zwei Menschen auf die Reaktion des jeweils anderen warten und sich nicht trauen den ersten Schritt zu wagen. Und genau diese Art von Stille herrschte nun zwischen der jungen Frau und dem Samurai. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Madoka, wie das durch die Lamellen der Markise vor dem Fenster hereinströmende Licht der Sonne sein langes, rotes Haar,

das sich wie ein Wasserfall über seine breiten, schmalen Schultern ergoss, stellenweise wie glühende Lava zum Leuchten brachte. Tausende und Abertausende von feinen Staubkörnchen tanzten in den Lichtstrahlen und Madoka bemühte sich, ruhiger zu atmen. Er sah wunderschön aus wie er da saß und sie anschaute.

'Oh, mein Gott. Ich kann ihn nicht einmal richtig ansehen! Was ist nur los mit mir!', dachte sie.

"Madoka...",sagte er so leise, dass sie es kaum hören, eher erahnen konnte.

"Sag, fürchtest du mich?"

Sie zuckte zusammen, wie unter einem Hieb.

"Sag bitte die Wahrheit."

Endlich, endlich sah sie ihn an - teilweise entrüstet, dass er so etwas überhaupt von ihr dachte, zum Teil aber auch schuldbewusst, dass er etwas angesprochen hatte, was tief in ihrem Inneren auch tatsächlich existierte. Er hatte den Kopf gesenkt.

"Nein!" Sie keuchte beinahe, so sehr wollte sie dieses eine Wort hervorstoßen.

"Niemals! Ich fürchte nicht dich, Takeo. Ich fürchte nur..."

" ...den Attentäter. Ja, ich verstehe."

Auch er sah nun mit traurigem Blick auf - und es zerriss ihr fast das Herz ihn so leiden zu sehen.

"Aber beide, der Samurai und der Hitokiri, sind untrennbar miteinander verbunden, Madoka. Er wird immer ein Teil von mir sein. Auch wenn er offen niemals mehr zu Tage treten sollte: ER verkörpert die dunkle Seite meiner Seele. Ich kann nicht vor mir selbst fliehen. Ich habe gelernt, dass ich meine Vergangenheit akzeptieren muss..."

"Takeo... ich..."

"Ich frage dich noch einmal: Fürchtest du mich, Madoka?"

Sie zitterte, aber jetzt wich sie seinem Blick nicht mehr aus.

"Nein. Und das weißt du."

Die Trauer in seinem Blick wich einer noch größeren Qual - und einer derart tiefen Zuneigung, dass ihr beinahe schwindelte. War ihr eigener Blick in diesem Moment von der gleichen Art?

"Ja. Ich weiß es.", sagte er schlicht. "Du wolltest mich sogar aufhalten. Du hattest keine Angst. Und ich habe dich verletzt..."

Seine Stimme versagte.
 

In Madoka zerbrach etwas. Sie stürzte vor und ihm zu Füßen, nahm sein Gesicht in beide Hände und versuchte nicht loszuheulen.

"Takeo! Hör auf! Hör auf solch einen Unsinn zu reden! Ja, du hast mich niedergeschlagen, aber das warst nicht DU! Nicht der Mann, den ich..."

Er zog sie an sich und küsste sie.

Fort waren die Bedenken, die er gehabt hatte. Egal war die Tatsache, dass sie nicht aus dieser Zeit stammte, dass er sie womöglich bald nie mehr wiedersah. Der Attentäter in ihm war vollkommen verstummt in dem Moment wo sich ihre Lippen trafen - das allein und ein plötzlich brennend heißes

Verlangen, diese Frau zu lieben, ließen sämtliche Ängste und Bedenken endgültig von ihm abfallen.

Madoka wurde sofort weich und gab sich dem verlangenden Kuss hin. Sie hatte keine Angst mehr. Der Attentäter war nicht hier. Kanoe war unwichtig. Ihre Heimkehr? In diesem Moment irreal und sehr weit entfernt. Sie spürte mit stetig schneller werdendem Pulsschlag, wie seine Lippen ihre

auseinander zwangen und seine Zunge heiß, feucht und süß ihren Mund zu erforschen begann. Sein Atem war warm und beschleunigte sich mit jedem Schlag ihres eigenen Herzens. Sie seufzte und neigte ihren Kopf leicht zur Seite, um ihn tiefer aufnehmen zu können, jeden seiner heißen Atemzüge auf ihren Wangen zu spüren und ihre eigene Zunge mit der seinen spielen zu lassen. Das Kribbeln in ihrem Unterleib wurde zu einem brennend heißen Verlangen.

Er umarmte sie fest und warm. Ihre Finger vergruben sich in seinem Haar. Die Welt um sie herum verschwamm, wurde unwirklich. Alles was zählte war seine Haut auf ihrer, waren seine Lippen auf ihren und seine Arme um ihrem Leib. Sie spürte ihre Angst vollkommen verschwinden und bemerkte mit gelinder Verwunderung, dass heiße Trännen ihre Wangen benetzten...

Sie schmiegte sich noch fester in seine Umarmung. Und aus jenem einen, langen und tiefen Kuss wurden viele, und noch mehr, immer mehr. Er flüsterte etwas an ihrem Mund, was sie nicht verstand, und das sofort vom nächsten Kuss verschlungen wurde. Es war auch nicht wichtig. Sie hörte, was er sagte. Sie hörte es tief in sich in ihrem Herzen. Und in diesem einen endlosen Moment war sie glücklich.
 

Dann wurde jäh die Tür aufgeschoben und Kanoe - natürlich - betrat den Raum.

"Takeo-kun? Die ersten Männer sind soeben aus Osaka..." Sie brach mitten im Satz ab und erstarrte. Madoka und Takeo fuhren wie gestochen auseinander. Madoka landete unsanft auf ihrem Hinterteil.

Erschrocken blickten sie zur Tür. Kanoe war wie vom Donner gerührt stehen geblieben. Blitze schossen aus ihren nun beinahe nachtschwarz schimmernden Augen. Einen Augenblick lang rang sie sichtlich nach Worten. Dann stürmte sie in den Raum hinein und zog Madoka grob auf die Füße.

"Raus! Du verlässt augenblicklich mein Haus!"

Sie war so aufgeregt, das noch durch die dicke Schicht von Schminke die roten Flecken in ihrem Gesicht sichtbar wurden.

Takeos Hand schoss vor und schloss sich wie ein Schraubstock um das Handgelenk der Kurtisane. Er war aufgesprungen, das Gesicht schmerzverzerrt, nichtsdestotrotz aber sehr wütend

- und sehr nackt...

Madoka schaute ein wenig einfältig der Decke hinterher, die an seinen langen Beinen herab und zu Boden rutschte. Alle drei sahen nun etwas betreten drein.

Takeo blickte errötend an sich hinunter und bückte sich dann hastig nach der Decke, woraufhin er einen Schmerzenslaut nicht mehr ganz unterdrücken konnte. Madoka beachtete das in ihre Wangen schießende Blut und ihre Scham gar nicht, bückte sich und hob die Decke für ihn auf. Verlegen nahm er sie entgegen. Kanoe japste nach Luft.

Mit einem Mal sah sie nur noch aus wie eine aufgeblasene, aufgetakelte und übergrell geschminkte Hure, nicht mehr wie die Luxus-Kurtisane des "Aka-Chochin".

"Das reicht! Ich KANN nicht mehr mit so einer Person unter einem Dach leben! Verlasse auf der Stelle mein Anwesen!"

Die Sache mit der Decke schien sie taktvoll zu übergehen und dort anzusetzen, wo sie aufgehört hatte. Takeo fand langsam zu seiner vorherigen Wut und Entrüstung zurück.

"Kanoe! Du hast nicht das Recht dazu sie so zu behandeln! Dieses Haus hat noch nie jemandem die Tür verboten!"

"Es sei denn, es handelt sich um Frauen! Du weißt, dass es eine absolute Ausnahme war, dass sie...", sie zeigte mit einem spitzen Finger auf Madoka, "...überhaupt hier bleiben konnte - und das, wo sie nicht einmal eine Kurtisane ist! So etwas ist nicht üblich! Und meine Geduld ist nun auch erschöpft!"
 

Kanoe steigerte sich regelrecht in ihren Zorn hinein. Takeo schien das auch so zu sehen, denn er verlegte sich auf einen ruhigen, beinahe gleichgültig klingenden Tonfall.

"Oh. Du bist eifersüchtig."

Kanoe kochte vor Wut.

"ICH? Ich habe es nicht NÖTIG auf IRGENDJEMANDEN eifersüchtig zu sein! Ich habe ALLES was ich will! Ich bin beliebt und gefragt, ich habe genügend Geld für meinen Lebensabend. Wieso sollte ich eifersüchtig sein? Noch dazu auf jemanden wie DICH! Erbärmlich."

"Nein.", sagte Madoka nun leise. "DU bist erbärmlich. Du bist eifersüchtig. Auf Takeo, auf mich und auf das, was wir miteinander teilen: Etwas, das du niemals kennengelernt hast. Und jetzt missgönnst du es uns."

Kanoe schäumte. "Was mischst du billiges Flittchen dich hier überhaupt noch ein?"

Beinahe hätte Madoka gelacht.

"Sie bleibt.", beendete Takeo die Diskussion auf seine Weise. "Und ich dulde KEINE weiteren Einwände!" Er wurde lauter als er merkte, dass Kanoe etwas sagen wollte. Etwas versöhnlicher fuhr er dann fort: "Wir werden nicht mehr lange deine Gäste sein. Die ersten Krieger sind eingetroffen, nicht wahr? Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch der Rest in der Stadt ankommt. Und dann wirst du uns nicht mehr wiedersehen müssen."

Kanoe verlegte sich nun auf einen mitleidigeren Ton.

"Ich... kann das nicht glauben. Takeo! Sie ist so... so... gewöhnlich!"

"Kanoe...", er seufzte. "Vielleicht tut das jetzt weh, aber es ist die Wahrheit und dürfte auch nicht neu für dich sein: Du bist nun einmal eine Kurtisane. Als ich damals, blutjung wie ich war, das erste Mal mit Shigeru hier war, hast du mich verführt. Du bist sehr professionell, das warst du schon zu jener Zeit. Und ich war ein Jungspund, der noch nie zuvor einen nackten Frauenkörper gesehen hatte. Du hattest leichtes Spiel mit mir. Ich kann und will mich nicht herausreden, aber ich bin nun einmal ein Mann und du wirktest äußerst anziehend auf mich. Aber, glaube mir, ich habe dich niemals geliebt. Du bist eine gute Freundin, die ich auch nicht missen möchte, aber ich habe dich nie..."

"NEIN!", schrie Kanoe und Tränen rannen über ihr Gesicht, ließen Spuren auf ihren weiß geschminkten Wangen zurück. "Nein, sag es nicht. Bitte..."

Und wie sie da nun so stand und die Verzweiflung und wahren Beweggründe ihrer hilflosen Wut zu Tage traten, eine gebrochene Frau, ein einsamer, wunderschöner Schwan, der seine Verzweiflung hinter einer schillernden Fassade zu verbergen gelernt hatte, da war Madoka plötzlich nicht mehr

zornig auf sie. Sie konnte es gar nicht mehr sein. Kanoe war eine Frau, die verzweifelt Liebe suchte wo es keine Liebe gab, sondern nur Geld und Körper, die man hiervon für ein kurzes Vergnügen kaufen konnte. Vielleicht hatte sie in Takeo gehofft das zu finden, was Madoka nun für ihn empfand.

Vielleicht hatte sie geglaubt, er würde ihre Gefühle erwidern. Jetzt war ihr diese Hoffnung genommen worden und sie schlug blind um sich, weil ihr weh getan worden war.

Madoka hatte beinahe Mitleid mit Kanoe.

Takeo schwieg. Traurig sah er die Kurtisane an.

"Es tut mir sehr Leid.", sagte er dann leise. "Aber, Kanoe, wenn du selbst sagst, dass du bereits jetzt genug für einen erträglichen Lebensabend gespart hast, warum hörst du dann nicht auf? Lass dich nicht weiter wie Ware behandeln. Geh hinaus, genieße das Leben und versuche zu vergessen. Vielleicht findest du dann, was du suchst. Ich kann dir nicht geben nach was du dich sehnst."

Kanoe, inzwischen wie ein Häuflein Elend am Boden kauernd, sah mit tränenüberströmtem Gesicht auf.

"Lasst mich in Frieden!", stieß sie hervor. "Lasst mich doch alle in Ruhe! Geht! Und ich will niemanden von eurer Bande je noch einmal wiedersehen, verstanden?"

Ihre Worte waren von derselben Art, wie die, die sie zuvor im Zorn gesprochen hatte - allerdings fehlte ihnen nun die nötige Schärfe und Lautstärke, war ihrer Stimme doch ein beständiges Zittern

anzuhören.

Madoka sah noch einmal traurig auf sie hinunter, dann wandte sie sich zur Tür. Takeo schlang sich die Decke wie einen Umhang um den Leib und trat hinter ihr aus dem Zimmer. Beide sagten kein Wort.
 

Erst als sie die Treppe zum Erdgeschoss erreichten blieb Madoka stehen und wandte sich erneut an Takeo.

"Warte, Takeo. Du... hast nicht vor nur Pläne zu schmieden, nicht wahr? Du willst selbst kämpfen..." Die Frage klang vorsichtig, beinahe ängstlich - nein, falsch, sie klang so, als wenn sie genau wusste was sie für eine Antwort erhalten würde. Takeo drehte sich zu ihr herum. Er seufzte leise.

"Madoka..."

"Verdammt, du hast gehört was der Arzt gesagt hat! Du könntest sterben, Takeo!"

Hilflose Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben.

"Bitte, lass es sein! Lass die anderen kämpfen..."

" ...und ich soll tatenlos zusehen?" Takeo wurde nicht lauter, aber in seiner Stimme lag plötzlich eine Entschlossenheit, die Madoka davon überzeugte, dass sie reden konnte wie ein Buch - er würde doch nicht auf sie oder den Arzt hören. Wie sie bereits geargwöhnt hatte: Der Schwertkampf war sein Leben. Ihm dies zu nehmen bedeutete, ihn seiner Lebensgrundlage zu berauben. Und seine nächsten Worte bestätigten diesen Gedanken noch.

"Ich kann und werde nicht einfach daneben stehen wenn es zum Kampf kommt! Lieber sterbe ich, als dass ich zulasse, dass meinen Freunden etwas passiert. Ich KANN helfen, Madoka! Auch du kannst mich nicht aufhalten. Es tut mir Leid."

Madoka verspürte einen tiefen Stich in ihrer Brust.

"Takeo... Ich will dich nicht verlieren.", sagte sie leise. Seine Hand fuhr hinauf zu der Kette um seinen Hals, seine Finger liebkosten den kleinen Schlangen-Anhänger. Er antwortete nicht - aber sein Blick sagte mehr als tausend Worte. Vielleicht hatte er sich ja vorgenommen, ihr niemals seine Liebe zu gestehen. Aber er konnte seine Gefühle, das, was ihn ausmachte und vollkommen ausfüllte, nicht einfach verleugnen. All seine Vorsätze... dahin. Er konnte nicht mehr. Und sollte ihnen nur eine kurze Zeit gemeinsam vergönnt sein, er liebte Madoka dennoch.Unvermittelt beugte er sich vor und hauchte einen zarten Kuss auf ihre geöffneten Lippen.

"Du hast mir wieder einen Sinn zu leben gegeben. Dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Und ich verspreche dir, dass ich gut auf dieses Leben aufpassen werde. Ich lasse dich nicht im Stich."

Seine Berührung und die geflüsterten Worte ließen Madoka einen angenehmen Schauer den Rücken hinabrieseln, verjagten jedoch nicht ihre anhaltenden Bedenken. Sie hatte Angst um ihn - daran würde sich wohl nie etwas ändern. Aber sie sah ein, dass sie ihn nicht zurückhalten konnte, was ihr unheimlich schwer fiel zu akzeptieren.

Takeo sah nun abermals etwas beschämt an sich hinunter.

"Ich... werde kurz zur Wäschekammer gehen und mir Sachen zum Anziehen heraussuchen. Sag unten bitte Bescheid, dass ich gleich da bin."

Sie lächelte leicht und seufzte, versuchte die nachhaltigen und unguten Gefühle in sich zu verdrängen.

"Wegen mir musst du dir keine Umstände machen.", sagte sie freundlich. Er lachte kurz - und ein wenig gequält.

"Ich denke, es ist besser, wenn ich etwas anderes als diese Decke am Leib habe, während wir über Schlachtpläne und Kämpfe reden..."

Er strich noch einmal über ihre Wange, wie er es in Aurinias Höhle getan hatte, dann verschwand er in der Wäschekammer gleich neben der Treppe.
 

~~~oOo~~~
 

Madoka war so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte sie gefunden: Jene Liebe, von der die Dichter sprachen, von der unzählige Lieder handelten und die in Hunderten von Spielfilmen so gern als etwas Selbstverständliches dargestellt wurde. Sie wurde geliebt wie sie war! Das war wohl die Tatsache, die sie am Meisten erstaunte.

Und Takeo... Gott, wie sie ihn liebte!

Dann, während sie die Treppe hinabstieg, fiel ihr jedoch wieder ein, wo sie war, wie sie hierher gekommen war. Ihre Freunde und Familie in ihrer Zeit kamen ihr in den Sinn. Sie machten sich sicher schon Sorgen um sie. Und Schuldbewusstsein wallte in ihr auf. Soeben hatte sie noch mit dem Gedanken gespielt, nun für immer bei Takeo zu bleiben - sie hatte vergessen, verdrängt, dass sie zurück musste. Zurück WOLLTE...

Ja, sie hatte noch immer Heimweh. Sie vermisste noch immer ihre Familie, die Menschen, die ihr in ihrer Zeit alles bedeuteten. Doch, wenn das überhaupt möglich war, so war ihr Zwiespalt, ihre Verwirrung, nun noch größer als je zuvor. Sie wollte ihr altes Leben wieder haben. Aber sie wollte auch bei Takeo bleiben. Wen liebte sie mehr? Ihre Familie oder Takeo?

Was hatte Aurinia ihr einmal gesagt? Sie würde den Weg nach Hause nur schwer wiederfinden können, wenn sie nicht von ganzem Herzen zurück in ihre Welt wollte? Nun, dann würde sie lange suchen müssen. Denn ein beträchtlicher Teil von ihr wollte NICHT mehr zurück - das erschreckte sie.

War sie bereit Takeo zuliebe auf alles zu verzichten? Auf ihr Zuhause? Auf ihr Studium? Auf die Menschen, die auf sie warteten und die sich um sie sorgten? Auf den Luxus, den ihre Welt ihr bot? Und wenn es auch nur fließendes Wasser oder Strom war?
 

Und woran zum Teufel DACHTE sie hier überhaupt? War es nicht ein wenig ÜBERvoreilig zu denken, dass Takeo sie überhaupt bei sich haben wollte? Dass er es akzeptieren würde, wenn sie blieb? Sie hatte davon gehört, dass sich zwei Menschen stark zueinander hingezogen fühlen konnten, wenn sie gemeinsam viel erlebt (oder durchlebt?) hatten, ungleich stärker, als wenn man sich auf "herkömmliche" Weise kennenlernte wie zum Beispiel bei Verabredungen, dass jedoch in dieser Art entstandene Beziehungen niemals von Dauer waren.

War es das? Waren ihre heftigen Gefühle nur darauf zurückzuführen, dass sie gemeinsam einiges erlebt hatten? Dass er ihr und sie ihm das Leben gerettet hatte? Dass sie ihn bewunderte?

Sie musste sich eingestehen, dass all diese Dinge eine wichtige Rolle dabei spielten. Aber da war noch mehr. Noch viel mehr. Sie verspürte ihm gegenüber eine derartig tiefe Verbunden- und Vertrautheit,

wie sie sie noch nie zuvor einem anderen Menschen gegenüber empfunden hatte. Sie wusste, dass sie sich ihm bedingungslos anvertrauen konnte.

Sie seufzte erneut. Es war so schwer eine Entscheidung zu treffen! Sollte sie hier bleiben? Sollte sie gehen?

Nun ja, vor allem sollte sie zunächst zusehen, heil aus dieser unsäglichen Geschichte herauszukommen - dann konnte sie sich immer noch Gedanken um ihre Zukunft machen.

Und plötzlich wurde ihr etwas klar. Sie hatte genau diesen Gedanken schon öfter verfolgt und sich dann gesagt, dass sie die Entscheidung später treffen konnte. Sie schob es eindeutig vor sich her. Und das machte es nur schlimmer.
 

Yasha kam ihr auf der Treppe entgegengepoltert.

Er riss sie aus ihren Gedanken: "Ich wollte mal nachsehen wo ihr bleibt. Shido-san hat eine Versammlung einberufen."

Der Halbdämon war stehengeblieben und schien nur schwer den Impuls unterdrücken zu können, sich die Hände zu reiben.

"Denen treten wir in den Hintern! Wir werden einen Schlachtplan entwerfen."

Madoka, unvermittelt aus ihren Grübeleien gerissen, blinzelte ihn nur verständnislos an. Dann, plötzlich, wurde Yashas Blick forschend und er trat demonstrativ schnüffelnd ganz nah an sie heran. Madoka wurde verlegen und versuchte sich auf der Treppe an ihm vorbeizuquetschen, doch er hielt sie am Arm zurück.

"Hmmm... Du riechst... nach IHM...", sagte er dann, während er unablässig weiterschnüffelte. Er hob den Kopf, sodass sein Gesicht nun ganz nah vor ihrem war. Feixend sah er ihr in die Augen.

"Ach, DESHALB hat das so lange gedauert..."

Madoka zog es vor, ihn zur Seite zu drängen und an ihm vorbei die Treppe hinunter in die Diele zu laufen. Sie sah nicht zurück, aber sie konnte das breite Grinsen des Halbdämons beinahe SEHEN, das er ihr hinterherschickte. Dann hörte sie, wie er ihr nachsetzte.

"Warte doch, Madoka-chan! Jetzt erzähl doch mal genau... Was hat der Idiot denn mit dir gemacht? Och los, komm schon! Ich werd auch bestimmt nicht wieder böse..."

Madoka beschleunigte ihre Schritte.

Mamoru

Das Feuer sengte sein rotes Haar an und ließ seine Kleidung schwelen. Überall regneten glühende Funken und verbrannte Asche nieder und die Luft war beinahe zu heiß zum Atmen. Um ihn herum herrschte ein wahres Inferno.

Die Stadt brannte. Hoch loderten die alles verschlingenden Flammen empor und färbten den Himmel dunkelrot. Schwarze Rauchsäulen bildeten eine undurchdringliche, unnatürliche Wolkendecke, welche die gesamte Stadt einzuhüllen schien.

Mamoru hörte Schreie. Es hatte eigentlich niemals aufgehört: Das Schreien der Verletzten und der

verzweifelt flüchtenden Menschen. Aber Takeo hatte ihm gesagt, dass er genau hier warten sollte. Er würde mit Hilfe zurückkommen. Und Mamoru vertraute seinem um wenige Minuten jüngeren Zwillingsbruder mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt.

Als das Dach der alten Gedenkstätte eingestürzt war, hatte Takeo noch versucht ihn zur Seite zu stoßen, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen - dennoch hatte ihn ein Teil der herabstürzenden Dachbalken gestreift und schwer am rechten Bein verletzt. Er konnte kaum noch laufen und die Menge an Blut, die er verlor, machte ihm Angst. Aber Takeo war bei ihm gewesen. Er hatte beruhigend auf ihn eingesprochen und gesagt, dass er ihn nicht im Stich lassen würde.

Beide hatten entsetzt mit ansehen müssen, wie man ihre Eltern tötete und ihre jüngeren Geschwister schändete, um sie dann ebenfalls umzubringen. Sie waren blindlings geflohen, hinein in das Flammenmeer, in das sich das vertraute Kyoto verwandelt hatte.

Nachdem Mamoru verletzt worden war hatte Takeo ihm eingeschärft hier, an dem kleinen Kanal, der die Stadt auf ganzer Länge teilte, auf ihn zu warten. Hier am Wasser war er zumindest vor der größten Wut der Flammen sicher.
 

Aber Takeo kam nicht.

Mamoru wartete. Viele Stunden. Er weinte und verstand einfach nicht, was seinen Bruder so lange aufhalten mochte.

Und dann, in den frühen Stunden des nächsten Morgens, in denen die Flammen kaum noch Nahrung fanden und die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt hatten, fiel ein Schatten über den kleinen Jungen, der zusammengekauert am Ufer des Kanals hockte. Als er sich herumdrehte stand hinter ihm ein Hüne von einem Mann. Es sah nicht so aus, als käme dieser furchterregende Kerl aus der Stadt, denn seine Kleidung war sehr fein und musste teuer gewesen sein. Zudem war nicht ein Hauch des Feuers sichtbar an ihm vorübergegangen: Er war völlig unversehrt. Mamoru starrte ihn mit großen Augen an - und sein ganzes Leben lang sollte ihn der Blick aus den grauen, kalten, gefühllosen Augen dieses Mannes verfolgen.

Der Hüne wandte den Kopf: "Hey, Kurosaki! Hier ist noch einer. Und der sieht auch noch ganz gesund aus. Für den werden wir ganz sicher einen guten Preis erzielen."

Mamoru lief bei diesen Worten ein eisiger Schauer über den Rücken, doch er war unfähig sich zu rühren oder gar zu wehren, als übermäßig stärke Hände nach ihm griffen und ihn fesselten. Sie warfen sich das Kind wie einen nassen Sack über die Schultern, und als der Junge nun doch aus seiner überraschten Lethargie erwachte und anfing zu schreien, da lachten sie nur und der Riese sagte mit kalter, unbeteiligter Stimme: "Schrei so viel du willst, hier hört dich ja doch niemand mehr. Sie sind alle tot oder geflohen."

Und Mamoru schrie. Er schrie und schrie den Namen, den er auf der ganzen Welt am meisten geliebt hatte und der zu einem Menschen gehörte, der ihn allein gelassen hatte, obwohl er versprochen hatte es niemals zu tun.

'Takeo...

Wo bist du?'
 

~~~oOo~~~
 

Schweißgebadet und mit jagendem Herzen fuhr Mamoru aus dem Schlaf. Sekundenlang lag er keuchend da, und versuchte krampfhaft seinen Atem zu beruhigen.

Takeo...

Es war alles Takeos Schuld. Er hatte ihn allein gelassen. Er hatte ihn im Stich gelassen. Es war seine Schuld, dass er damals in die Hände einer Verbrecherbande geriet, die mit Menschen handelte. Es war seine Schuld, dass sie ihn an ein Stricher-Haus verkauften, wo er den Kunden zu Willen sein musste, wo man ihn vergewaltigte, schlug und auf alle nur möglichen anderen Arten misshandelte.

In diesem Moment konnte er jede einzelne Narbe, die er damals davontrug, schmerzhaft brennen fühlen: Narben von Peitschenhieben, Narben von glühendem Eisen oder Zigarren, die man ihm in die Haut gedrückt hatte, Narben von Messern und Nadeln... Es war entwürdigend, grausam und

unmenschlich gewesen was man ihm angetan hatte. Und mit jedem einzelnen Peitschenhieb, mit jeder weiteren Brandnarbe, die man ihm zufügte, hatte er Takeo verflucht, hatte geschworen ihn zu finden und dafür büßen zu lassen, dass er ihn hier, in dieser seiner eigenen Hölle, im Stich ließ.

Ja, er HASSTE Takeo!

Aber er war auch verzweifelt unglücklich gewesen. Warum nur? Warum hatte er ihn verlassen?
 

Eines Tages war Mamoru dann seinen Häschern davongerannt, hatte sich tagelang versteckt, als man nach ihm suchte, und nur von Abfällen in der Gosse gelebt. Aber er hatte es tatsächlich geschafft zu fliehen. Später hatte ihn eine Einheit der Shinsengumi aufgegriffen. Da er in seinem damaligen Alter bereits ein gewisses Talent als Schwertkämpfer an den Tag legte, nahm man ihn bei der Samurai Schutztruppe auf und bildete ihn aus. Zu jener Zeit war die Shisengumi noch hoch angesehen. Die sogenannte Meiji-Restauration, welche die Abschaffung des Shogunat-Systems und damit verbunden natürlich auch das Ende der Shinsengumi zur Folge hatte, war gerade dabei bedrohliche Ausmaße

anzunehmen. Man war über jede helfende Hand froh, die bereit war sich gegen die neue Regierung zu erheben.

Und Mamoru genoss schon bald hohes Ansehen unter den Männern der Shinsengumi. Er war Kondo Isamis persönlicher Attachè, der wiederum Oberster Kommandeur aller Shinsengumi-Einheiten war - und wurde gar nach dessen Tod an der Seite von Hijikata Toshizo und Saito Hajime zum offiziellen Führer der Kyotoer Truppen ernannt.

Er hätte glücklich sein können. Er hätte vielleicht sogar vergessen können, was ihm angetan worden war. Aber die Restauration und ihre kaisertreuen Anhänger machten ihm einen Strich durch die Rechnung.
 

Es war bei einem Scharmützel am Hafen gewesen, als er seinem Bruder das erste Mal seit Jahren wieder gegenüberstand. Er war sein Feind geworden und kämpfte für die Restauration als Attentäter. Mamoru war ebenso überrascht gewesen ihn zu sehen, wie Takeo es auch bei seinem Anblick zu sein schien. Takeo hatte versucht mit ihm zu reden - aber Mamoru hatte ihn auf der Stelle festnehmen lassen. Endlich war die Zeit für seine Rache gekommen!

Und er ließ Takeo foltern - viele Tage lang. Er ergötzte sich an dessen Schreien und hörte in ihnen das Echo seiner eigenen, qualvollen Hilferufe, als man ihn geschändet und misshandelt hatte. Er schrie ihn an, warum hatte er ihn damals im Stich gelassen?

"Oh, Gott, Mamoru! Man sagte mir du seiest TOT! Ich bin so schnell zurückgekommen, wie ich konnte - aber du warst nicht mehr dort, wo ich dich zurückgelassen hatte! Da waren... ein paar Männer. Sie hatten deine Hakama gefunden - blutverschmiert! Sie sagten du seiest getötet und anschließend in den Kanal geworfen worden! Ich habe um dich getrauert, verdammt noch mal!"

Takeo war außer sich. Doch Mamoru hatte es nicht hören wollen. Er quälte ihn weiter. Er ließ Takeo bluten für die Tatsache, dass er zu spät gekommen war an jenem furchtbaren und ascheverhangenen Morgen in Kyoto. Und seine Qual, seine Schreie, waren Balsam für Mamorus geschundene Seele.

"Glaub mir, bitte!", schrie Takeo unter unsäglichen Schmerzen. "Ich dachte du seiest umgebracht worden!"

"Hätte man es doch nur getan!", brüllte Mamoru wie von Sinnen zurück.

"Dann wäre ich in eine freundlichere Hölle gekommen als in die, in welcher ich mich die folgenden zwei Jahre wiederfand! DU HAST KEINE AHNUNG WAS SCHMERZ BEDEUTET! ICH WERDE ES DIR ZEIGEN!"

Aber Takeo war befreit worden - von einem von Okita Sojis Männern. Mamoru hatte Kanzaki Shido nicht wirklich gekannt - wie das nun manchmal so war mit Vorgesetzten und Untergebenen. Aber der Name sagte ihm dennoch etwas, als man ihm eines morgens mitteilte, dass Kanzaki geflohen war und den Gefangenen mitgenommen hatte.

Einmal mehr schwor Mamoru bittere Rache. Und das nächste Mal, wenn er ihn sah, würde er Takeo töten.
 

Doch als sich Mamoru nun auf seinem Futon aufsetzte spürte er Tränen auf seinen Wangen.

Warum nur hatte es so weit kommen müssen?

"Takeo... Verdammt..."

In diesem Augenblick vernahm er leises Klopfen an der Tür. Hastig wischte sich der junge Mann die Tränen aus dem Gesicht.

"Wer ist da?"

"Ich bin es, Herr.", erklang die melodische Stimme von Okita durch die papierne Wand.

"Komm herein." Mamoru seufzte noch einmal schwer, um die letzten Nachwirkungen des Albtraumes von sich abzuschütteln, und schwang dann die Beine aus dem Bett. Wie spät war es überhaupt?

Okita Soji trat ein - und wie immer konnte Mamoru nicht umhin, seine geschmeidigen Bewegungen und seinen schlanken, beinahe weiblichen Wuchs zu bewundern. Er spürte erneut Erregung in sich aufsteigen und bemühte sich, sie zu unterdrücken, als er ihm nun entgegensah. Okita war der einzige Mann innerhalb der Shinsengumi dem er bedingungslos vertraute. Auch umgekehrt schien es so zu

sein, was ihn sehr freute. Während die anderen, allen voran dieser verdammte Saito, seine ihm von Kondo verliehene Autorität mehr und mehr in Frage zu stellen schienen, so war Okita immer an seiner Seite, mit Trost, Rat - und Liebe. Die heiße, leidenschaftliche Affäre, die sie beide verband, hatte Mamorus Vertrauen ihm gegenüber noch vertieft. Er sah Okita an und erinnerte sich an seine tiefen, zärtlichen Küsse und die geschickten, schmalen Hände, die ihn mühelos zum Höhepunkt zu bringen vermochten. Mamoru schluckte hart und verdrängte die letzten Gedanken mit Macht.
 

"Yamazaki-san, unsere Späher haben Schiffe am Hafen gesichtet, die eine große Anzahl Krieger hergebracht haben. Sie haben sich getarnt - aber nicht gerade gut. Wir vermuten, dass sie sich mit den Aufrührern treffen wollen."

"Sie rüsten also zum großen Kampf." Mamoru nickte, als hätte er genau dies erwartet.

"Wie viele?"

"An die zweihundertfünfzig Mann. Viele davon zu Pferd.", antwortete Okita. "Unsere Spione vermuten, dass noch mehr unterwegs hierher sind."

Mamoru stand auf.

"Also schön. Sag den Männern Bescheid. Wir werden die Bande gleich unten am Hafen aufreiben. Sie dürfen nicht mit Takeo zusammentreffen!"

Okita neigte den Kopf. "Natürlich."

An der Tür drehte sich der junge Samurai noch einmal herum.

"Was ist denn noch?", fragte Mamoru leicht ungehalten. Er hatte bereits seine Hakama gelöst und stand vollkommen nackt da, suchte sich aus dem Wandschrank auf der anderen Seite des Zimmers einen frischen, leinenen Kimono heraus.

"Was ist mit den Geiseln, Herr?"

Mamoru hielt inne und drehte sich nun seinerseits herum. Ein leichtes, falsches Lächeln umspielte seine Lippen.

"Wir nehmen sie mit. Sie könnten uns im Kampf als wertvolles Faustpfand dienen und uns etwas Luft verschaffen. Sag Hijikata Bescheid."

Okita verneigte sich und verließ den Raum.

'So, Bruder. Jetzt heißt es alles oder nichts. Und dieses Mal wird mich NIEMAND davon abhalten können, dich zu töten.', dachte Mamoru und band sein schulterlanges, glutrotes Haar zu einem strengen Zopf zusammen.

Und er lächelte immer noch kalt als er sich den Waffengürtel umschnürte und das Zimmer mit schnellen Schritten verließ.

Hingabe - Devotion

Madoka schwirrte der Kopf.

Nicht nur, dass die Männer während der letzten drei Stunden in dem viel zu kleinen Saal eine scheinbar endlose und lautstarke Debatte über die weitereVorgehensweise abgehalten hatten, sondern ihr Aufenthalt hatte natürlich auchetwas zur Folge, was bei vielen von der Reise

übermüdeten und verschwitzten Körpern, die auf engstem Raum zusammenhockten, nicht weiter verwunderte: Permanenten und vor allem penetranten Schweißgeruch. Madoka war am Ende beinahe schlecht geworden.

Yasha schien es da ganz ähnlich, wenn nicht gar schlimmer zu ergehen. Er hatte ja eine ungleich empfindlichere Nase als Menschen. Zudem hatte Shido-san es sich natürlich nicht nehmen lassen, Takeo gehörig den Kopf, bezüglich seines Entschlusses selbst in den Kampf einzugreifen, zu

waschen. Sie hatten sich allesamt angeschrieen - und waren doch keinen Schritt weitergekommen. Takeo ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Dies hatte zur Folge, das Shido-san vor Wut schäumend den Raum verließ.

Takeo und die anderen Männer besprachen ruhig, wie sie weiter verfahren sollten. Da am nächsten Tag bereits der zweite Trupp von Kriegern zu ihnen stoßen sollte, setzte der junge Schwertkämpfer den Angriff für den folgenden Abend fest. Anschließend wurden alle Gäste bewirtet und untergebracht - was einem wahrhaftigen Mammutprojekt gleichkam.

Madoka war noch nie so müde gewesen. Alle Muskeln in ihrem Körper machten sich schmerzhaft bemerkbar. Sie genoss am Ende des Tages das Bad in der hauseigenen heißen Quelle in vollen Zügen.

Danach fühlte sie sich erfrischt und auf eine Art und Weise wieder ausgeruht, die sie dann doch noch einmal die Treppe ins Obergeschoss in Angriff nehmen ließ. Bevor sie sich schlafen legte wollte sie Takeo noch einen Besuch abstatten - ihn noch einmal sehen.
 

Als sie auf ein leises Klopfen hin in sein Zimmer trat saß Takeo im Schneidersitz auf seinem Futon und las in ein paar riesigen Schriftrollen, die wohl Karten von der Stadt und der naheliegenden Umgebung, sowie Berichte aus anderen Städten über den Fortlauf des Krieges - denn um nichts anderes handelte es sich bei den pausenlosen Auseinandersetzungen zwischen Shinsengumi und den kaisertreuen Restauratoren - beinhalteten.

Er hatte sich ein wenig vorgebeugt, um das vergleichsweise schwache Licht der papiernen Laterne neben seinem Lager komplett auszunutzen. Die Läden vor den Fenstern waren im Gegensatz zum Nachmittag nun fest geschlossen, damit die kühle Nachtluft draußen blieb. Dennoch schien

irgendwo her ein leichter Luftzug zu kommen, der sacht die hellen Vorhänge zu Seiten der Fenster bewegte. Madokas Blick glitt über die dunkelroten, stoffbezogenen Wände, die Bildbahnen, die daran aufgehängt waren und sowohl japanische Schriftzeichen als auch mystische Motive von Drachen und Ähnlichem zeigten, über die Schwerter, die säuberlich auf einem dafür vorbehaltenen Ständer lagen und das Tablett mit Tee und Medikamenten, das neben dem Futon am Boden stand.

Takeo blickte auf, als er die Tür hörte. Er lächelte warm.

"Madoka! Gerade habe ich mich gefragt, ob du wohl schon zu Bett gegangen bist."

Sie lächelte zurück.

"Ich habe in der Quelle gebadet. Es war himmlisch..."

Er sog demonstrativ die Luft ein - ähnlich wie es Yasha so gern und oft tat.

"Und du bringst einen wahrhaft betörenden Duft mit."

"Lotus.", sagte sie lächelnd. "Ich hab einfach eines von den Ölen genommen, die für das Bad bereit standen."

"Das duftet... sehr gut."

Eine Weile lang sahen sie sich verträumt in die Augen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Er war jetzt, hier und heute so anders, als sie ihn kennengelernt hatte. In diesem Augenblick war er weder Hitokiri, noch Samurai. Er war einfach nur ein Mann. Und das Harte, Unnahbare, was ihn als Krieger in seiner Rüstung begleitete, die Stärke die er im Kampf zeigte, all das war im Moment einfach nicht da und Madoka kam es beinahe so vor, als hätte sie einen ganz anderen Menschen vor sich als den Teufel von einem Samurai, der auf seinem nachtschwarzen Ross vor noch gar nicht so langer Zeit mit einem Paukenschlag in ihr Leben getreten war - und ihr gehörig den Kopf verdreht hatte.

Wie hatte er jemals ein Hitokiri sein können? Mit diesem Schmerz, dieser Liebe in seinem Blick? Wie war es möglich gewesen, dass sie je ANGST vor diesem jungen, verletzten Mann verspüren konnte?
 

Dann fuhr sie beinahe schuldbewusst zusammen. "Gott, ich wollte doch eigentlich nach deinen Wunden sehen."

Sie kam auf ihn zu und ließ sich neben ihm auf dem Futon nieder. Nach einem kritischen Blick auf seine Brust bedeutete sie ihm, ihr den Rücken zuzudrehen und das Haar nach vorn zu nehmen.

"Jawohl, Frau Doktor...", sagte er mit leiser Ironie in der Stimme.

Madoka ließ sich nicht ablenken. Ihre Hand berührte die filigrane, silberne Kette, die um seinem Hals lag, strich gedankenverloren über die kleinen, wunderschön verarbeiteten Glieder. Sie lächelte leicht. Dann nahm sie jede einzelne seiner Narben in Augenschein und verspürte einmal mehr einen

dumpfen, inneren Schmerz bei dem Gedanken, was man ihm alles angetan hatte.

"Mein Gott... War das alles dein... War das alles Mamoru?", fragte sie leise und beklommen.

"Nicht alles. Aber er hatte doch den größten Anteil daran.", antwortete er.

In seiner Stimme schwang leichte Bitterkeit mit - und Resignation. Sie fuhr sanft mit den Fingerspitzen über bereits verheilte, helle Linien auf seiner Haut. Er hielt ganz still. Unter ihrer Hand konnte sie sacht sein Herz schlagen fühlen.

"Es tut mir Leid. Du musstest so viel durchmachen..."

Er antwortete nicht. Sie beugte sich vor und lehnte ihre Stirn sacht an seinen Rücken, die Hände

auf seinen Schultern. Sie schloss die Augen und genoss es einfach nur in seiner Nähe zu sein.

Er legte eine Hand über ihre rechte.

"Madoka...", seine Stimme klang leicht heiser und seltsam rau. "Bleib heute Nacht bei mir."

Sie hob den Kopf, öffnete überrascht die Augen und blinzelte. Mit einem Schlag war alles wieder da: Der jagende Pulsschlag und das Kribbeln und Ziehen irgendwo in ihrem Unterleib.

Er drehte sich herum und sah sie an. Noch nie war ein Blick so tief in sie vorgedrungen, wie dieser eine, lang anhaltende Blick aus meeresblauen Augen. Und sie sollte sich noch Jahre später an genau diesen Blick in genau jenem Moment erinnern.

"Madoka... Bleib bei mir..."

Er beugte sich vor und berührte unendlich sanft, beinahe forschend ihre Lippen mit den seinen. Madoka schloss wieder ihre Augen und genoss die zarte Berührung. Sie erwiderte den Kuss zärtlich und spürte, wie ihre Erregung langsam wuchs. Zum Teil war ihr das peinlich. Sie spürte wie Blut in ihre Wangen schoss. Ihr wurde warm. Und doch konnte sie nicht widerstehen, drehte sich nicht weg. Und warum auch? Sie war sich ihrer Gefühle noch nie so sicher gewesen wie in diesem Augenblick.

Ganz sanft, dann immer fester, fordernder, legte Takeo seine Lippen auf ihre. Seine warmen Fingerkuppen streichelten ihre Wangen, fuhren ihren Hals hinab und über ihren Nacken, liebkosten ihr Haar. Er zog sie an sich. Er wusste sehr genau, was er wollte.

Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte Madoka plötzlich ihre eigene Zungenspitze zärtlich seine Lippen umspielen. Er öffnete den Mund und gewährte ihr Einlass. Der Kuss wurde tiefer, inniger, ihrer beider Atem schneller. Ihre Zungen rieben wild und hungrig aneinander, umspielten einander. Und Madoka vergass alles um sich herum, schlang die Arme um seinen Hals. Ihre ganze Welt bestand nur noch aus ihm. Heiße Tränen traten ihr in die Augen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber. Es waren Tränen absoluten Glücks und sie kämpfte nicht gegen sie an.
 

Aus dem Kribbeln in ihrem Unterleib wurde ein Drängen und Hitze wallte von dort in schneller werdenden Intervallen durch ihren Leib, je tiefer der Kuss wurde. Seine Hände glitten weich über ihre Schultern, ihre Arme hinab, strichen neckend über ihre Brüste, legten sich um ihre Taille und wanderten zu dem Knoten, der ihren Kimono zusammenhielt. Sie hielt ihn nicht zurück als er sich daran machte ihn zu öffnen.

Seine Hände glitten unter den Stoff und zogen ihn auseinander. Wie pures Feuer brannten seine Berührungen. Es kam ihr vor, als würden seine Finger eine Spur heißer Asche auf ihrer Haut hinterlassen.

Er rückte näher an sie heran, hauchte liebevolle Worte in ihr Ohr und legte seine Hände dann vorsichtig um ihre Brüste. Seine Finger umspielten ihre vor Erregung aufgestellten Brustwarzen. Sie errötete wieder. Aber sie musste auch zugeben, dass sie seine Berührung genoss. Ihr Kimono glitt von ihren Schultern herab. Sie legte den Kopf zurück. Sein Atem strich warm über ihre Schulter, bevor er sanft die empfindliche Stelle zwischen Hals und Schulter liebkoste, um dann seine geöffneten Lippen zärtlich über ihre Kehle und weiter hinab bis zum Ursprung ihres Schlüsselbeins gleiten zu lassen. Er umspielte die Stelle, an der ihr Puls heftig zu spüren war, vorsichtig mit der Zunge. Madoka seufzte und versenkte ihre Hände in seiner Flut aus lavafarbenem Haar.

"Wir... sollten damit aufhören... Du... bist verletzt...", wagte sie es kurz einen verzweifelten Versuch zu unternehmen, von ihrer eigenen Erregung abzulenken und ihn zurückzuhalten.

"Mmnnnnhhh...", antwortete Takeo und legte sie unter sanftem Druck zurück in die Kissen. Jetzt kreiste seine Zunge über ihre Brüste und glitt dann tiefer, erreichte ihren Bauchnabel.

"Takeo... bitte..."

Er beugte sich jäh erneut über sie und verschloss ihre Lippen mit einem tiefen, verlangenden Kuss.

"Es ist nicht wichtig was war oder was sein wird, woher wir kommen oder was wir sind. Das Hier und Jetzt ist wichtig.", sagte er mit rauer Stimme. Seine Augen waren dunkel vor Leidenschaft.

"Ich will dich, Madoka. Jetzt."
 

Sie war wie in Trance. War das ein Traum oder tatsächlich wahr?

"Aber... deine Verletzung!", versuchte sie ein letztes Mal zu widersprechen.

Er schüttelte sacht den Kopf.

"Wenn ich sterbe, dann ist das der süßeste Tod, den man sich nur wünschen kann...", flüsterte er - und meinte es anscheinend todernst. Sie wollte ihm sagen, dass man darüber keine Witze machen sollte - aber da war er bereits wieder über ihr. Er schlang die Arme um ihren Leib und presste sie auf ganzer Länge fest und warm an sich.

Und dieses Mal ging sie voll auf den Kuss ein. Leidenschaftlich schlang sie erneut die Arme um seinen Hals und zog ihn noch enger an sich. Dann gingen seine Lippen wieder auf Wanderschaft, sanft biss er sie in die Schulter. Dann fühlte sie mit einem Mal, wie seine linke Hand über ihren Körper hinab und zielstrebig zwischen ihre Schenkel glitt.
 

Unwillkürlich fühlte sie sich an Mamorus Versuch sie zu vergewaltigen erinnert. Takeo konnte nichts dafür - aber für einen Moment versteifte sie sich unter seinen Berührungen und versuchte mit Macht die Erinnerungen an jene schreckliche Nacht zu verdrängen.

Er bemerkte ihr Zögern und sah sie fragend an.

"Was ist? Alles in Ordnung, Madoka?", fragte er leise und ein leichter Unterton von Sorge schwang in seiner Stimme mit.

Sie dachte: 'Nein, das hier ist Takeo. Dein geliebter Takeo. Nicht Mamoru. Jene Nacht ist vorbei - vorbei. Vergiss sie...'

Madokas Gedanken rasten. Als sie schließlich die Augen wieder öffnete, die sie zuvor gequält

zusammengepresst hatte, da sah sie wirklich das Gesicht des Menschen über sich, den sie über alles liebte und dem sie vertraute. Der silberne Schlangenanhänger tanzte leicht an der Kette um seinem Hals. Sie hatte nichts zu befürchten.

"Es ist schon gut...", flüsterte sie und streichelte zart seine Wange. "Bitte... hör nicht auf... Ich... liebe dich. So sehr..."

Takeos Blick flackerte und wurde dunkler, intensiver. Die Tiefe seiner Gefühle stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
 

Wieder küsste er sie.

Und dieser Kuss war anders.

Er schmeckte süß und warm und war genauso verlangend wie die anderen vor ihm - aber etwas war plötzlich anders zwischen ihnen. Dieser Kuss war... noch tiefer, noch wirklicher. Es war so, als wenn ihre letzten Worte etwas besiegelt hätten, was schon lange Zeit festgestanden hatte. Sie verlor ihre Angst und ihre Scheu. Sie waren hier. Liebende unter sich. Nichts war peinlich, nicht war unmöglich.

Seine warme Hand berührte die empfindliche Stelle zwischen ihren Schenkeln, die Bewegung seiner Finger rief ein beinahe elektrisierendes Gefühl in ihr hervor. Er vermochte mit seinen Händen genauso gut umzugehen, wie mit seinem Katana. Ihr Leib wölbte sich beinahe ohne ihr Zutun seinem Körper entgegen. Ihr Kopf fiel zurück. Sie atmete tief.

Weiter und immer weiter massierte er sie sanft und schaukelte sie somit an den Rand eines genussvollen Höhepunktes - dann ließ er ab von ihr. Madoka, schweratmend und beinahe ein wenig enttäuscht, sah, wie er sich aufsetzte um seine Hakama zu öffnen. Sie beugte sich aus einem Impuls heraus vor und half ihm den Knoten zu lösen.

Dann hob sie den Kopf und ließ nun ihrerseits sanft ihre Lippen über seinen Oberkörper gleiten. Er schmeckte nach Honig und einem Hauch von Pfefferminz - wohl eine Spur der Medikamente und Salben, die man ihm verabreicht hatte.

Sie saugte vorsichtig an seinen Brustwarzen, liebkoste sie mit der Zungenspitze, und hörte amüsiert wie er leise stöhnte. Sie ließ ihre Hände seine Hose hinunterziehen, strich sanft über sein wohlgeformtes Gesäß (*eieiei^^*) und versenkte ihre Zunge spielerisch in seinem Bauchnabel dicht unterhalb des Verbands. Er lachte leise.

Dann griff er ihr vorsichtig ins Haar, legte eine Hand auf ihre Brust und lehnte sie abermals sanft, aber bestimmt in die Kissen zurück. Sein Leib glitt zwischen ihre Schenkel, sie hob ihre Beine leicht an. Ihr Becken schmiegte sich an seine Hüften. Fragend blickte er ihr in die Augen und sie nickte nur kraftlos. Ihre Hände wanderten hinab, fassten sein hartes Glied und halfen ihm dabei in sie einzudringen.

Ganz, ganz langsam fand das erste In-sie-Hineingleiten statt. Es tat weh, doch als er nun vorsichtig sein Becken kreisen ließ, tiefer in sie vordrang und sich dann rhythmisch in ihr zu bewegen begann, hörte auch dieser Schmerz bald wieder auf.
 

Madoka biss sich auf die Unterlippe und schmeckte Blut.

Dieses Gefühl...

So musste süßer Wahnsinn schmecken.

Madoka hörte sich stöhnen und genoss den Anblick seines über ihr gewölbten Leibes, der sich in wunderbar monotoner Extase vor- und zurückbewegte. Am ganzen Körper brach ihr nun der Schweiß aus. Sie hörte Takeo keuchen, dann beinahe gequält stöhnen. Er senkte sein Gesicht, bis es ganz nah über ihrem war. Seine geöffneten Lippen berührten ab und an die ihren, während er sich unablässig weiterbewegte. Ihrer beider Atem wurde eins. Sie suchte und fand seine Hand, seine Finger umschlossen die ihren so schmerzhaft, dass sie einen unterdrückten Ausruf nicht ganz zurückhalten konnte. Sie hob ihm ihr Becken entgegen, ging auf seiner Bewegungen ein, sanft und kreisend.

Er fuhr fort damit, sich langsam in sie hineinzuschieben. Fordernd, sanft und rhythmisch floss er in sie hinein und glitt wieder hinaus, wieder und immer wieder. Die sanft schaukelnden Bewegungen brachten Madoka an den Rand der völligen Extase. Alles in ihr, ihr gesamter Körper, schien zu glühen und jede Stelle, die er mit seinen Lippen und Händen berührte brannte wie Feuer.

Sie schlang ihre Arme und Beine um seinen Leib und ließ sich von den Bewegungen weiter mittragen. Sie atmete jetzt schnell, genauso wie er. Auch ihr Puls raste und ihr Blut schien zu kochen, sie hörte es in ihren Ohren rauschen.

Takeo stöhnte wieder, diesmal tiefer, kehliger. Madoka ließ sich weiter zurücksinken und betrachtete seinen schweißnassen Oberkörper, der so viele Narben trug. Schweißperlen rannen sein Schlüsselbein entlang und glitten dann über seine Brust. Sein Haar war dunkel und feucht. Der Verband begann sich bedrohlich zu verfärben - aber sie hatte nicht mehr die Kraft oder den Willen ihn erneut zurückzuhalten.

Seine Bewegungen wurden nun fordernder, rascher. Madoka warf den Kopf zurück und bog sich ihm entgegen, um ihn noch tiefer in sich aufnehmen zu können. Jetzt beugte er sich wieder über sie. Sein Haar fiel über seine bebenden Schultern nach vorn und umfloss dunkelrot schimmernd sein fein geschnittenes Gesicht. Die Augen hielt er geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Er bewegte die Hüften wie ein Tänzer, fest, kreisend, hart. Sein Atem strich heiß über ihre Wangen.
 

Schließlich hielt er in seinen Bewegungen inne.

Es war beinahe qualvoll. Warum hatte er aufgehört sich zu bewegen, aufgehört sie auszufüllen, zu wärmen, zu vervollständigen? Ihr ganzer Körper schrie nach ihm.

Sie zitterte. BEIDE zitterten.

"Takeo...", hauchte sie. "Hör... nicht auf..."

Er öffnete die Augen. Sie waren dunkel vor Leidenschaft. Dann lächelte er.

Es war ein leicht schadenfrohes Lächeln.

Sie verzog das Gesicht.

"Es macht dir wohl Spaß mich zu quälen?"

Er grinste, antwortete jedoch nicht. Er küsste ihre Nasenspitze.

Dann begann er sich erneut zu bewegen, sehr langsam und sehr vorsichtig. Das Lächeln war aus seinen Zügen verschwunden. Er zog die Stirn kraus und schloss konzentriert die Augen. Wieder ein leises Stöhnen. Gott, wie sie ihn liebte!

Madoka hielt es nicht mehr aus. Sie ging nun nicht nur auf seine Bewegungen ein, sondern bestimmte selbst den Rhythmus. Sie hob die Beine weiter an und schlang die Arme um seinen Leib, zog ihn fester und noch enger an sich. Sie fühlte ihn in sich. Deutlich war seine Erregung zu spüren. Sein gesamter Körper war gespannt und hart wie eine Stahlfeder. Ein sehr heißer und tiefer Kuss, auf den sie wieder sofort einging. Dann berührten sich ihre Zungen neckend, lockend bei geöffneten Lippen. Sie bekam nicht genug von ihm.
 

Sie spürte ihre Erregung jetzt permanent und sehr schnell anwachsen. Sie hatte das Gefühl kaum noch atmen zu können und holte in tiefen, schnellen Zügen Luft, erkannte zugleich, dass auch sein Atem sich mehr und mehr beschleunigte. Er warf den Kopf zurück und setzte sich auf. Sein langes Haar flog durch die Luft, folgte getreulich der Bewegung, und fiel hinter ihm wie ein samtener Vorhang herab. Er war so wunderschön, dass es weh tat.

Jetzt waren seine Bewegungen in ihr sehr schnell geworden. Er atmete tief, mit offenem Mund. Seine Augen waren fest zusammengepresst. Er umfasste ihre Hüften. Madoka fühlte ihren Körper unter jedem einzelnen Stoß erbeben.

Dann kam er in ihr. Sie spürte die plötzliche Hitze in sich und biss sich auf die Lippen. Zugleich fühlte sie selbst wie die Realität vollkommen schwand und durch etwas Neues, vollkommen Einzigartiges ersetzt wurde. Eine Welt die nur aus Extase, Bewegung, Verlangen, tiefstem Vertrauen und ewiger Liebe bestand.

In einer einzigen, zerreißend langsamen Bewegung hoben sich ihrer beider Körper an und er floss in sie hinein. Zur selben Zeit spürte sie, wie sich etwas in ihr zusammenzog und dann unter den langsamen und sehr tiefen Bewegungen rhythmisch entspannte, was beinahe qual- und zugleich äußerst lustvolle Schauer durch all ihre Sinne und ihren Körper schickte.

Madoka bäumte sich auf und griff haltsuchend nach seinen Schultern. Sie versuchte einen befreiten Aufschrei an seiner Schulter zu ersticken, schaffte es jedoch nicht ganz. Takeo stöhnte leise und genussvoll in ihr Ohr, flüsterte ihren Namen. Und er bewegte sich immer noch weiter, nun zwar langsamer als zuvor, aber immer noch beständig. Nach einer Weile fühlte Madoka eine zweite Welle der lustvollen Extase herannahen. Sie erreichte sie in dem Moment, wo sie endlich wieder klar denken konnte und raubte ihr erneut alle Sinne. Jetzt schrie sie wirklich.

Sie warf ihren Kopf zurück. Das lange dunkle Haar flog ebenso durch die Luft, um dann hinter ihr herabzufallen, wie zuvor Takeos. Ihr Körper sank zurück auf den Futon, hilflos bebend unter seinen nun schwächer werdenden Stößen. Er beugte sich über sie, um ihren geöffneten Lippen einen leidenschaftlichen Kuss zu stehlen.
 

Er hatte aufgehört sich zu bewegen, blieb aber mit ihr vereint. Beide atmeten schwer und schnell. Als er sacht seinen Kopf auf ihre Brust legte, konnte sie den Puls an seiner Schläfe im selben Takt wie ihr Herz schlagen fühlen. Dann hob er den Kopf, um sie erneut, diesmal sehr sanft, zu küssen. Er stützte sich auf einen Ellenbogen und begann damit, zärtlich die Linien in ihrem schweißnassen Gesicht mit den Fingern seiner anderen Hand nachzuzeichnen, streichelte ihre Wangen, ihre Schläfen, ihre Lippen, ihr Haar. Er nahm sich Zeit dafür.

Ganz, ganz langsam fühlte Madoka, wie sich ihr Pulsschlag beruhigte und schwächer wurde.

Gott, nie zuvor hatte sie so etwas... Wundervolles erlebt. Immer noch liefen wohlige Schauer durch ihren Leib, wenn sie nur daran dachte. Die zarten Berührungen seiner Hand in ihrem Gesicht riefen eine leichte Gänsehaut bei ihr hervor.

Sie schaute in seine dunkelblauen Augen und sah nur Vertrauen und tiefste Zuneigung.

Ein Schweißtropfen glitt von seiner Schläfe hinunter zum Kinn, um dann seinen schlanken Hals hinabzugleiten und am Schlüsselbein hängen zu bleiben. Fasziniert sah sie dabei zu. Dann erhob sie sich selbst auf ihre Ellenbogen und legte ihn zurück in die Kissen. Sie beugte sich über ihn. Ihr Haar bedeckte ihn wie ein seidiger Vorhang. Ganz sacht ließ sie ihre Lippen über seine Brust gleiten und küsste jenen Schweißtropfen fort, den sie zuvor beobachtet hatte. Ihre Finger berührten sacht den Schlangenanhänger an seiner Silberkette. Die im Licht der Laterne beinahe weiß schimmernde Schlange schien sie direkt anzusehen. Dann hob sie den Kopf und blickte wieder Takeo an. Lange und sehr intensiv.

"Ich liebe dich...", war alles was sie sagte, jedoch voller Inbrunst.

Er bewegte die Lippen und sie las seine Antwort von ihnen ab, auch wenn er nicht wirklich gesprochen hatte.

Noch immer war er in ihr. Seine Erregung hatte abgenommen, war aber noch da und als sie sich nun von ihm trennen wollte hielt er sie zurück.

"Bleib..." flüsterte er.

Madoka fühlte heißes Verlangen und Wollen erneut in sich heranwachsen. Aber ihr Blick fiel auf seinen Verband - und schlagartig wich die Lust einem ebenso brennend heißem schlechten Gewissen.

Tatsächlich war der Verband um Takeos Torso nun wieder dunkelrot durchtränkt. Er selbst verzog jedoch keine Miene. Madoka sog erschrocken die Luft ein.

"Gott, ich... wollte nicht..."

Takeo legte kurz liebevoll einen Finger über ihre Lippen.

"Es ist gut - ich wollte es doch so."

"Wir müssen den Verband wechseln!", sagte sie bestimmt und ließ sich nicht von dem Gefühl irritieren, dass sein Finger auf ihrem Mund hervorgerufen hatte. Sie drehte sich herum und er glitt aus ihr heraus.

Eine winzige Sekunde lang fühlte sie ein beinahe absurdes Gefühl des Verlassenseins und eine unerklärliche Kälte stieg in ihr auf. Das Gefühl verging jedoch so schnell, wie es gekommen war.

Sie stand auf und machte sich daran, frische Verbände herauszusuchen.
 

Die folgende halbe Stunde verbrachte sie damit, ihn ausgiebig zu verarzten. Sie wollte nicht riskieren, dass er weiterhin so viel Blut verlor und bestrich die Wunde mit einer Salbe, welche die Blutgerinnung beschleunigte. Takeo sagte während der ganzen Zeit nicht ein Wort. Aber als sie fertig war und die Medikamente zurück auf das Tablett gestellt hatte, zog er sie zu sich heran.

"Schlafe heute nacht bei mir, Madoka..."

Sie wusste nicht, ob das eine so gute Idee war. Denn sie brauchte nur in seine Augen zu sehen, um erneut in Leidenschaft und Verlangen zu versinken.

Er schien ihre Gedanken lesen zu können: "Nur schlafen, Madoka."

Dann lächelte er leicht und küsste sie wieder sacht und neckend auf die Nasenspitze. "Bitte."

Madoka gab nach. Sie beugte sich vor und blies die Kerze in der Laterne aus. Dann kuschelte sie sich zu ihm unter die Decke, unendlich glücklich und unendlich müde. Er legte den Arm um sie und schmiegte sich an ihren warmen Rücken, den Kopf leicht an ihren gelehnt.
 


 

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*räusper*
 

*räusper nochmal*
 

Tja, äh... hähä...
 

Dieses Kapitel... Ich denke, ich sollte da noch ein Paar Dinge zu sagen.
 

1. Der Titel: Nicht umsonst trägt dieses Kapitel den Titel eines meiner Fanarts, das zu dieser FF entstand (ist hier auch auf der site zu sehen). Ich hatte die Szene schon ganz lange im Kopf - daher gabs auch erst das FA. Wie ich das "verpacken" sollte, wusste ich seinerzeit noch nicht...
 

2. Der Inhalt.... Also, ich hoffe mal, dass ich euch jetzt nicht total verschreckt oder anderweitig... eingeschüchtert habe... Jahaaaa, die merle ist ein "wenig" versaut - aber auch ziemlich verträumt. Denn SO läuft es in der Realität leider nicht ab... Es gibt eine noch sehr viel "verschärftere" Version des ganzen. Aber die ist nun wirklich net mehr jungendfrei und bleibt MEIN Eigentum^^... *rumträum* *seufz*
 

Hoffentlich empfindet ihr es nicht als zu kitschig. Ich habe so sehr versucht meine eigenen Worte dafür zu finden. Die Bilder hatte ich vor Augen - aber "ES" erstmal so beschreiben/UMschreiben können.... Uff... Es war schwer, aber ich bete echt, dass ihr es nicht zu abgedroschen findet.

Ich denke, meine Gefühle für einen gewissen Rotschopf sind Schuld daran, dass es so eeeewig lang geworden ist...^^
 

3. An meine Auri-chan: Diesmal - um auf den Punkt oben zurückzukommen - HABE ich es langsamer angehen lassen^^! Ich hoffe, es gefällt dir! Habe jedoch einiges rausgekürzt... Sonst ist es also NOCH länger. Viel "länger", wenn du verstehst, was ich meine... *blödsinniges kichern*^^
 

4. Abgedroschen aber wahr: Das Schreiben hat mich erregt.^^ Der Tag, wo ich dieses Kapitel geschrieben habe, wird mir EWIG in Erinnerung bleiben. Denn es ist ein ganz besonderer Tag gewesen für meinen Schatz Holger und mich^^. Ein GANZ, GANZ besonderer Tag...
 

Ich widme es daher diesmal meinem Freund.
 

Und ich werde Takeo ewig dankbar sein...
 

ICH LIEBE SIE BEIDE!
 

Mado-chan^^

Das Blut an meinen Händen

Die frühe Morgensonne, die durch die geschlossenen Läden schien, zeichnete Muster auf ihre Decke und Madokas nackte Haut. Ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten Takeo, dass sie wieder eingeschlafen war. Er stütze sich auf einen Ellenbogen und beobachtete sie. Hätte ihn in diesem

Moment jemand gesehen, so hätte dieser Jemand niemals geglaubt, wenn man ihm sagte, dass dies einmal der gefürchtete "Rote Schatten" gewesen war - ein Mörder und unbarmherziger Schwertkämpfer. Ganz sacht strich er mit den warmen Fingerkuppen seiner rechten Hand über die feinen Härchen auf ihrer Schulter - und drehte diese Hand dann herum, sah sie so eingehend an, als würde er sie das erste Mal überhaupt bewusst wahrnehmen. An dieser Hand, an seinen BEIDEN Händen, klebte so viel Blut. Er konnte es beinahe sehen.

Er schloss gequält die Augen.
 

Wie konnte sie ihn lieben? Wie hatte sie es geschafft, in nur wenigen Tagen nicht nur hinter seine Fassade zu blicken, sondern auch noch so vollkommen sein Herz einzunehmen, dass es bei jedem Schlag, während sie nicht bei ihm war, mehr weh tat als sämtliche Wunden, die ihm jemals eine Waffe hätte zufügen können?

Sie hatte tatsächlich ALLES erträglicher werden lassen. Er konnte nun mit seiner dunklen Vergangenheit umgehen, damit, was er einmal getan hatte. Zumindest hatte ihre Liebe ihn Geduld gelehrt - auch und gerade im Zusammenhang mit sich selbst. Er akzeptierte seine Vergangenheit und blickte, vielleicht das erste Mal seit Jahren überhaupt wieder, zuversichtlicher auf das was kam. Die Augen Takeos hatten sich verändert, sein Blick, seine gesamte Sichtweise, hatte sich in dieser einen, langen, wundervollen Nacht komplett gewandelt. Das musste Liebe sein.

Er strich zärtlich eine lange, dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Sie seufzte leise, wachte jedoch nicht auf.
 

Nachdem sie sich in den frühen Morgenstunden nochmals geliebt hatten – allen halbherzigen Protesten Madokas zum Trotz - war auch er kurz eingeschlafen. Doch es lag in seiner Natur bereits beim ersten Sonnenstrahl wach zu werden - unabhängig davon, wie spät er eingeschlafen sein mochte. So hatte er nur sehr wenig, allerhöchstens zwei bis drei Stunden geschlafen. Doch das machte ihm seltsamerweise nicht zu schaffen. Er fühlte sich so ausgeglichen und ruhig wie nie zuvor in seinem Leben.

Mit Kanoe war es anders gewesen. Er hatte nicht übertrieben als er tags zuvor gesagt hatte, dass sie ihn nach Strich und Faden verführt hatte. Aber das, was er mit Kanoe gehabt hatte, war einfach nur Sex gewesen. Heiß, wild, hungrig - und nichts weiter. Was ihn mit Madoka verband... ging so viel tiefer. Sicher, auch sie wollte er berühren, sich mit ihr vereinigen und sie bis zur Erschöpfung lieben. Aber er wollte DIESES Mädchen NIEMALS wieder loslassen. Da war eine schwarze, abgrundtiefe Leere in ihm, wenn sie nicht bei ihm war. Er wollte für sie da sein, sie beschützen und mit ihr alt werden. In der Tat waren dies genau seine Gedanken.

Und wieder kehrten seine Überlegungen zu etwas zurück, was ihm am Vortag schon bewusst geworden war: Wenn er auf den Schwertkampf verzichtete, KONNTE er alt werden. Aber... würde sie nicht früher oder später in ihre Welt zurückkehren? Aus welchem Grund sollte er dann noch alt werden wollen?

Und er beschloss, dass er hier und jetzt lebte, nicht in der Zukunft (die sollte nur kommen), nicht in der Vergangenheit, mit der er abgeschlossen hatte, sondern JETZT - und dass er sie hier und heute lieben wollte. Er musste das beste daraus machen. Er würde sie jetzt und für ein ganzes Leben lieben.

Und wenn das nicht reichte, würde er eben als Engel zu ihr zurückkehren.

Er lächelte. Nicht im Traum wären ihm solche Gedanken früher gekommen. Aber es waren angenehme, tröstliche Gedanken. Er beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Nasenspitze. Dann arbeitete er sich aus den Decken empor und stand leise auf.
 

~~~oOo~~~
 

Als er die Treppe ins Erdgeschoss hinabging, immer noch damit beschäftigt, den Knoten seiner Hakama zu binden, hörte er schon lautes Stimmengewirr aus dem Speiseraum herüberklingen. Obwohl es noch recht früh war, schienen viele der Gäste bereits auf den Beinen zu sein. Nun, dachte Takeo bitter, an einem solchen Tag war es auch schwer die nötige Ruhe für tiefen Schlaf zu finden - es sei denn, man hatte sich auf irgendeine Art und Weise sehr verausgabt. Er schüttelte die Erinnerung an Madokas an ihn geschmiegten, warmen Körper ab und trat in den großen Saal ein.

Yasha, der an einem der vorderen Tische gehockt hatte, kam ihm sofort entgegen.

"Ich wollte dich schon wecken gehen. Hast du Madoka gesehen? Sie war die ganze Nacht nicht..."

Und wie am Vortag bei Madoka, begann er nun an dem jungen Samurai herumzuschnüffeln. Dann begann er vielsagend und äußerst anzüglich zu grinsen. Seine Ohren zuckten verspielt. Takeo starrte ihn irritiert an.

"Was soll das?"

"Nichts, nichts. Jedenfalls nichts Schlimmes - nur... Du hättest das Mädchen schon viel früher haben können, weißt du? Sie..."

"Halt deinen Mund, Hundejunge! Ich dachte, wenn es nach dir ginge, hätte ich sie niemals anrühren sollen!"

Yasha lachte, ein wenig missglückt, aber er lachte. ,Hundejunge' war er nicht zum ersten Mal genannt worden. Und nicht jeder konnte das ungestraft ihm gegenüber tun... Er verdrängte diesen Gedanken. "Tja, es GEHT aber nicht nach mir - wie man sieht. War es schön?"

Takeos Blick war vernichtend. Er würdigte ihn keiner Antwort und ging hinüber zu dem Tisch, an dem auch Shido-san saß und ihm mit leicht besorgter Miene entgegensah.

"Alles in Ordnung, Takeo? Wie geht es dir heute Morgen?", begrüßte dieser seinen Freund kurz darauf.

"Es ging mir nie besser.", antwortete der junge Mann kurz angebunden. Auf Shidos ungläubigen und vielsagenden Blick in Richtung auf seinen Verband nickte Takeo nur bekräftigend.

"Glaub es, oder lass es sein. Ich fühle mich sehr gut. Ich bin bereit für den Kampf."

Shidos Blick wurde eindeutig säuerlich. Wenn er geglaubt hatte, dass sein Freund vielleicht über Nacht zur Vernunft gekommen war, dann sah er sich nun wohl getäuscht. Er hatte noch immer nicht verwunden, dass Takeo tatsächlich alle Ratschläge in den Wind schlagen und mit in den Kampf ziehen wollte. Er war auch immer noch ein wenig sauer. Er knallte eine mit dampfendem Reis gefüllte Schüssel viel unsanfter als notwendig vor Takeo auf den Tisch und zog es vor, woanders hinzublicken.

Yasha hatte sich wieder zu ihnen gesellt und sagte feixend: "Iß, Takeo! Du musst nach dieser Nacht sicher erstmal wieder zu Kräften kommen."

Und während Shido-san fragend, beinahe einfältig, von einem zum anderen blickte begannen sich Takeo und der Halbdämon bereits wieder lautstark zu streiten.

Was vom Morgen übrig blieb...

Aurinia schmeckte Blut auf ihren Lippen, als sie an diesem Morgen zu sich kam.

Sie befand sich, an Händen und Füßen gefesselt, auf einem von Ochsen gezogenen Karren. Der hintere Teil der Kutsche war von einer Plane überdacht, die das Sonnenlicht nur durch zahlreiche Ritzen und Spalten in dem Stoff durchsickern ließ. Aber sie war nicht allein. Der Mann, Sayan Shigeru, lag neben ihr, ebenfalls gefesselt. Er befand sich in einem sehr viel schlimmeren Zustand als sie selbst. Sie sah in den Schatten innerhalb des Wagens nicht wirklich viel, aber sie glaubte erkennen zu können, dass zu den zahlreichen Schnitt- und Brandwunden, die seinen nackten, muskulösen Oberkörper verunzierten, noch einige weitere hinzugekommen waren, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Schwarz und abgrundtief wallte Zorn in ihr auf, als sie an die vergangenen Tage zurückdachte. Hijikata Toshizo... Ein äußerst grausamer Mensch, wenn es darauf ankam, sich immer neue Foltermethoden für seine Gefangenen auszudenken. Anfangs hatte die junge Yosei noch geglaubt, dass er sie quälte, um an Informationen zu kommen - aber irgendwann war ihr klar geworden, dass es ihm gar nicht darauf ankam etwas von ihnen zu erfahren. Es machte ihm einfach nur SPAß sie zu misshandeln.

Als sie in Hijikatas Gästehaus gebracht worden war, hatte Sayan Shigeru, Oberhaupt der Freiheitsbewegung, schon am Ende seiner Kräfte in den Ketten gehangen, die ihn an der Wand festhielten. ER hatte einen ungleich längeren Weg durch die Hölle Hijikatas zurückgelegt als Aurinia selbst. Sie hatte versucht Gespräche mit diesem so stark wirkenden, noch recht jungen Mann mit seinem gebieterischen Blick, der trotz der Folter ungebrochen war, zu beginnen. Aber Shigeru war kaum in der Lage eine längere Unterhaltung zu führen. Alles was sie von ihm erfahren hatte war, dass er die Gruppe der Restauratoren in Kyoto anführte und dass er Saito Hajime persönlich kannte. Das war jedoch genug um Aurinia zu dem Schluss kommen zu lassen, dass es sich bei ihm um eine für die Shinsengumi wertvolle Geisel handeln musste, die sie nicht so leicht töten würden.

Anders als sie selbst...
 

Bis zum Schluss, bevor man sie heute Morgen auf diesen Karren geworfen hatte, lebte sie mit der unterschwelligen Angst, dass man sie umbringen würde. Schließlich war sie nicht wirklich wichtig für die Shinsengumi. Aber Saito und Hijikata schienen das anders zu sehen. Saito hatte, wie er ihr eines Tages mitteilte, noch eine Rechnung mit dem Halbdämon zu begleichen - und was machte diesen handzahmer als die Gewissheit, dass sich "sein Mädchen" in den Händen des Feindes befand?

Aurinias Zorn auf Saito wurde nur noch durch den auf Hijikata übertroffen - jener Mann, der es gewagt hatte Hand an sie zu legen. Sie hatte sich wie eine Furie gewehrt - aber die eisernen Ketten, an die er die junge Frau gelegt hatte, waren selbst für die Yosei zu stark gewesen. Völlig unbeteiligt hatte sie dann das Unvermeidliche hingenommen, ließ Hijikata mit ihrer Gleichgültigkeit wissen, dass er es nicht wert war überhaupt wahrgenommen zu werden.

Zudem hatte sie feststellen müssen, dass in dem Wasser oder in der Nahrung, die man ihr verabreichte, irgendeine Droge sein musste, die ihre Reaktionen verlangsamte und ihre Kampfbereitschaft, sowie ihre Fähigkeit, ihren Körper mit Hilfe des in ihr symbiotisch lebenden Wesens zu verwandeln, außer Kraft setzte. Und sie war auf Nahrung angewiesen, wenn sie wirklich bei Kräften bleiben wollte. Sie musste wachsam sein, auf ihre Gelegenheit zur Flucht warten. Sie wusste, dass Yasha auf irgendeine Weise versuchen würde sie zu retten - aber darauf durfte sie nicht warten. Denn so langsam begann sie sich nun auch noch Sorgen um ihren hundeohrigen Freund zu machen. Dass Yasha so verhältnismäßig lange auf sich warten ließ konnte eigentlich nur bedeuten, dass er selbst - oder jemand, der ihm viel bedeutete - so schwer verletzt worden oder anderweitig in Schwierigkeiten war, dass sie noch gezwungen waren abzuwarten oder entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Oder sie warteten auf Verstärkung.

Sie hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Hier lief so einiges nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte...

Und Madoka... Das arme Mädchen. Was mochte sie über diese grausame Welt denken? Nein, so hatte sich Aurinia das wahrhaftig nicht vorgestellt...
 

Dann war der heutige Morgen angebrochen. Und alles wurde anders.

Wie sie mitbekommen hatte machte sich mit ihnen gemeinsam ein großer Trupp von Männern auf den Weg durch die Stadt. Warum man die Gefangenen mitnahm und was sie überhaupt vorhatten war Aurinia schleierhaft. Sie roch jedoch schon bald wo ihr Ziel liegen musste: Am Hafen.

Es roch nach salziger Seeluft, Fisch und Meeresfrüchten. Zudem hörte sie das Geschrei von Möwen durch das Stimmengewirr der Menschen rund um das geschäftige Hafenviertel herüberklingen. Was um alles in der Welt hatte die Shinsengumi am Hafen zu suchen?

Mit einem Ruck, der durch alle ihre Knochen ging, blieb der Karren abrupt stehen. Die Plane über dem Wagen wurde heruntergezogen, Männer sprangen auf die Ladefläche und zwangen Aurinia und Sayan aufzustehen. Zumindest Letzterem war es völlig unmöglich aus eigener Kraft zu stehen, daher hievten sie ihn nach kurzer Diskussion wie einen nassen Sack vom Karren hinunter. Die Yosei wurde grob vom Wagen heruntergestoßen. Sie taumelte und landete unsanft auf den Knien. Doch den Schmerz spürte sie kaum - hatte sie doch in den letzten Tagen sehr viel Schlimmeres erfahren müssen. Eine Menschenfrau wäre mit Sicherheit an alldem zerbrochen. Nicht so die junge Yosei. Alles, was sie durchlitten hatte steigerte nur noch ihre Wut und ihre Entschlossenheit, diese Verbrecher nicht ungestraft davonkommen zu lassen. Wenn die Drogen erst aufhörten ihre Kräfte zu lähmen...
 

Als sich Aurinia vorsichtig aufrichtete, jeden Moment darauf gefasst, erneut geschlagen zu werden, da konnte sie im blendenden Licht eines klaren Vormittags das durchaus hübsche Hafenviertel von Kyoto sehen. Kleine, gedrungene Fischerhütten und Verkaufsläden reihten sich aneinander so weit

man schauen konnte. Dahinter, auf dem Hügel inmitten der Stadt, konnte sie weithin sichtbar die große Pagode des ehemaligen Kaiser-Palasts ausmachen. Ein frischer Wind kündete vom nahenden Herbst und gab sein Bestes, den beißenden Fischgeruch, der über dem Hafenbecken lag, zu vertreiben. Marktschreier boten ihre Waren feil und viele Menschen drängten sich um die Stände, teilweise mit schwer beladenen Karren oder auch mit Netzen, in denen die frisch gefangenen Fische zappelten. Direkt am Kai schaukelten unzählige kleinere Kutter und auch größere Schoner auf den Wellen. Draußen auf See konnte sie die Schatten von noch mehr Schiffen ausmachen. Ein leichter Brandgeruch lag in der Luft. Vielleicht wurden hier auch Fische geräuchert. Denn jetzt, wo sie darauf achtete, konnte sie auch schwarze, dünne Rauchschwaden ausmachen, die über den kleinen Hütten

dahinzogen. In jedem Fall fiel der Karren der Shinsengumi überhaupt nicht auf in dem Durcheinander, das hier herrschte.

Zwei Männer drängten sich rücksichtslos durch die Menge und rempelten Aurinia unsanft an, als sie an ihr vorbeistürmten. Sie sahen nicht zurück. Ihr Gesichtsausdruck kündete von tiefstem Schrecken. Die Yosei sah ihnen irritiert hinterher.

Seltsam...

Wenn sie ihren Blick nun langsam über das Treiben auf dem langen, breiten Kai gleiten ließ, so bemerkte sie nun, da sie darauf achtete, dass mehr und mehr Menschen beinahe panisch die Flucht ergriffen. Sie kamen aus Richtung der äußeren Anlegestellen, die dem offenen Meer am nächsten lagen. Das bunte, geschäftige Gewimmel täuschte - etwas ging hier vor sich, das nicht zu dieser spätsommerlichen Idylle passte.
 

Während sie sich das lange, rot-schimmernde Haar aus dem Gesicht strich, mit welchem der Wind anscheinend zu gerne spielte, konnte Aurinia aber auch noch etwas anderes erkennen. Ein Stück weiter entfernt, nur mit Beibooten zu erreichen, lagen drei größere Segler vor Anker. Sie trugen allesamt kein Wappen und machten auch sonst den Eindruck, als wenn sie sich alle Mühe gaben nur ja nicht aufzufallen. Aurinia kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen, konnte aber nicht mehr als schemenhafte Bewegung an Bord ausmachen. Ein paar kleinere Boote hatten sich um die mächtigen Schiffsrümpfe geschart, aber sie waren allesamt leer. Ihre Insassen mussten sich ebenfalls an Bord der großen Segler befinden. Sie glaubte zu ahnen, was die huschenden, wirbelnden Bewegungen auf den Decks bedeuteten.

"Mitkommen!", herrschte sie eine ungehaltene Stimme von hinten an, riss sie jäh aus ihren Gedanken - und Aurinia kam der Aufforderung zähneknirschend nach. Ihre Schritte waren unsicher, als sie mit unsanften Stößen in den Rücken in Richtung der äußeren Kais und Anlegestellen, welche den großen Seglern am nächsten lagen, getrieben wurde. Sie kamen um eine leichte Kurve - und jetzt konnte Aurinia auch sehen, woher der nun dichter werdende schwarze Rauch kam, den sie zuvor schon über dem Hafengelände bemerkt hatte.

An den unteren Kais wurde gekämpft! Momentan handelte es sich noch um nicht mehr als um ein größeres Handgemenge, in das allerhöchstens zwanzig Männer in den hellblauen Roben der Shinsengumi und die ungefähr doppelte Anzahl von unauffällig gekleideten Gegnern verwickelt waren und sie erkannte jetzt auch, dass ein, zwei Beiboote, die hier am Kai lagen, Feuer gefangen hatten, weil die Laternen im Heck der Boote umgestoßen worden waren. Die Übermacht jener fremden Kämpfer, in denen Aurinia richtigerweise kaisertreue Soldaten vermutete, würde nicht

lange halten - denn nun war die Gruppe von Männern, mit der sie selbst hierher gekommen war, heran. Augenblicklich warf sich der Großteil der Shinsengumi-Samurai ebenfalls in den Kampf, drängten die Männer zurück, die gerade an Land setzen wollten.
 

Lediglich drei Mann waren zu Aurinias und Shigerus Bewachung zurückgeblieben. Sie hatten sich zu den hier vorn beinahe verwaist dastehenden Hütten zurückgezogen. Passanten suchten entsetzt das Weite oder legten hastig mit ihren Booten ab. Schon gab es die ersten Opfer auf beiden Seiten zu verzeichnen.

Die Yosei sah ihre Chance zur Flucht gekommen. Wenn nicht jetzt, wann sonst? Sie machte sich bereit. Ihr athletischer Körper spannte sich und alle ihre Sinne waren geschärft. Sie wartete nur noch den passenden Augenblick ab.

Der Kampf beginnt

Unvermittelt flog die Tür zum Speisesaal auf und drei Männer in Samurai-Uniform kamen hereingestürmt.

"Angriff! Yamazaki-san, wir werden am Hafen überfallen! Die Shinsengumi hat uns überrascht!"

Takeos Kopf flog herum. Seine Augen blitzten. Verwirrte und erschrockene Stimmen wurden um sie herum laut. Yasha klatschte in die Hände und sprang auf.

"Ha! Dort unten am Hafenbecken können wir sie wunderbar einkreisen, das Meer im Rücken! Sie können nicht fliehen! Lasst uns gehen, worauf warten wir noch?"

Auch Shido-san und Takeo erhoben sich.

"Sattelt die Pferde! Shido, ruf die Männer zu den Waffen und schicke auch Boten zu den anderen Häusern. Wir dürfen unsere Verbündeten dort unten nicht im Stich lassen!"

Takeo war schon in der Diele. Sämtliche Bewohner des Hauses schienen mit einem Mal auf den Beinen. Alle riefen durcheinander und im Flur herrschte ein heilloses Durcheinander, als sämtliche Krieger ihre Zimmer aufsuchen wollten, um sich Waffen und Rüstungen anzulegen.

"Shido, warte draußen auf mich." Takeo wies mit einer knappen Geste die Treppe hinauf - und sein Freund verstand. Er nickte.

"Sag ihr was los ist. Und überzeuge sie davon, dass sie hier warten muss, wenn ihr nichts passieren soll. Ich werde Akuma für dich satteln."

Takeo stürmte mit großen Sätzen die schmale Treppe hinauf und hätte Madoka um ein Haar einfach umgelaufen, die verwirrt aus seinem Zimmer heraus und auf den Flur getreten war. Er lief an ihr vorbei und holte seine Schwerter aus dem Raum, in dem die zerwühlten Laken ihn augenblicklich - und unpassenderweise - an die wundervolle Nacht mit der jungen Frau erinnerten. Er steckte sich die Schwerter, das Katana und die beiden kleineren Kodachi, in seinen Gürtel und war so schnell

wieder auf dem Flur, wie er ihn verlassen hatte. Er trat auf Madoka zu, die ihm bis zur Tür nachgekommen war, und fasste sie an den Armen, sah ihr fest in die großen, dunklen Augen. Ihr Blick war voller Angst.

"Wir werden angegriffen!", sagte er hastig, noch bevor sie das Wort ergreifen konnte.

"Unten am Hafen. Die Shinsengumi scheint genau zu wissen wer mit den Schiffen hier angekommen ist. Wir werden unseren Verbündeten zu Hilfe eilen."

"Aber...", wollte die junge Frau einwenden, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

"Ich habe jetzt keine Zeit, es tut mir Leid, Madoka. Ich werde gehen. Ich KANN nicht kampf- und tatenlos zusehen, wie meine Freunde angegriffen werden. Ich werde kämpfen! Das haben wir doch schon einmal besprochen."

Genaugenommen hatte nur ER gesprochen und die Entscheidung gefällt, BEVOR er sie ihr unterbreitet hatte - Madoka selbst hatte ihn nicht mehr umstimmen können. Sie schüttelte den Kopf und wagte zu sagen: "Ich begleite dich!"

Im selben Moment, in dem sie dies aussprach, merkte sie bereits, dass sie dummes Zeug redete. Sie wäre ihm nur eine zusätzliche Last. Sie wünschte inbrünstig, dass sie noch Zeit gehabt hätte ihren Vorsatz wahr zu machen und Shido oder Takeo zu bitten, sie die Grundlagen des Schwertkampfes oder wenigstens der Selbstverteidigung zu lehren. Jetzt war es zu spät.

"Nein, Madoka. Bleib hier im "Chochin", ich bitte dich. Ich werde mir weniger Sorgen machen wenn ich weiß, dass zumindest du in Sicherheit bist. Versprich mir, dass du hier wartest!"

Madoka zögerte und kämpfte gegen ihre Tränen an - es waren Tränen hilflosen Zorns. Nein, sie war ihm wahrhaftig keine Hilfe...

"VERSPRICH ES MIR!", rief der junge Samurai und schüttelte sie mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt.

"Also schön, ich verspreche es. Aber dann musst du mir auch etwas versprechen!"

Takeo ließ sie los, sah sie fragend an. Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinunter.

Mit zwei schnellen Schritten war sie an ihn herangetreten, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn nun mit verzweifelter Inbrunst. Takeo versteifte sich kurz überrascht, dann gab er nach, umfasste sie mit beiden Armen. Beide küssten sich so heftig, dass ihre Zähne aneinanderschlugen.

"Komm zu mir zurück! Bitte! Lass dich nicht umbringen!", sagte sie dann atemlos.

Er umarmte sie, fest und lange. Ihr Haar duftete noch immer nach Lotus.

"Ich werde tun, was ich kann.", antwortete er leise - und zweideutig - nach einer langen Pause, in der sie schon annahm er würde nichts mehr sagen. Dann, ohne ihr noch einmal ins Gesicht zu blicken, drehte er sich herum und stürmte die Treppe wieder hinunter. Madoka sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Es war wie sie gedacht und befürchtet hatte: Er ließ sich nicht davon abbringen zu kämpfen. Auch nicht durch die Person, die ihn liebte...

'Pass auf dich auf, Takeo...', dachte sie und trat langsam in sein Zimmer zurück, wollte sich am liebsten irgendwo einbuddeln und nie wieder hervorkommen.
 

Shido hielt Akuma bereits am Zügel, als Takeo in den Hof trat, der beinahe vor Männern überzuquellen schien. Pferde wieherten und schnaubten. Alle redeten und schrieen durcheinander. Schwerter wurden poliert und scharf geschliffen, doch die meisten Krieger, die zu Pferde hier angekommen waren, saßen bereits im Sattel, warteten auf den Befehl zum Aufbruch. Ein Bote kam herangeeilt und teilte Shido mit, dass die anderen Häuser benachrichtigt worden seien und die Männer sich von dort ebenfalls auf den Weg zum Hafen machten, wo sie sich mit Takeos Trupp vereinen würden.

Der rothaarige Samurai schwang sich auf sein nachtschwarzes Ross. Shido hatte einen Falben, der nicht ganz so groß war wie Akuma. Dadurch sah der junge Mann auf seinem Rücken noch größer aus als er es ohnehin schon tat.

Yasha stand bereits am Tor. Als Takeo nach vorn ritt und neben ihm hielt streckte er die Hand zu ihm

herunter.

"Komm, steig auf. Du kannst bei mir mitreiten."

Yasha trat einen Schritt zurück und fauchte wie eine missgestimmte Katze.

"Niemals! Ich bin zu Fuß sowieso schneller als ihr auf euren Gäulen. Wir sehen uns dann unten am Hafen!"

Und bevor Takeo noch fragen konnte, ob er etwa Angst vor Pferden habe, wurden die Tore von außen geöffnet und Yasha entwischte durch den ersten Spalt hinaus. Er war bereits auf und davon als der Reiter-Tross auf die Straße hinausströmte, wo schon eine weitere Gruppe von Kriegern zu Pferde auf sie wartete. Takeo ließ sein Reittier wenden und sah seine Männer nun an. Auf der breiten Straße vor dem Anwesen hatten sie mehr Platz, als auf dem verhältnismäßig engen Hof des "Aka-Chochin". Der junge Samurai hob die Hand, es wurde still. Alle blickten ihn erwartungsvoll an.

"Wir teilen uns!", ließ sich Takeos Stimme laut vernehmen.

"Die Männer zu Pferde folgen mir. Vor dem Hafen treffen wir auf Verstärkung. Dann greifen wir

sofort an. Die Fuß-Soldaten folgen uns in einigem Abstand."

Er ließ seinen Blick über die stetig anwachsende Gruppe gleiten.

"Sie sollen zunächst glauben, dass sie es nur mit uns zu tun haben. Dann, auf mein Zeichen hin, greift ihr ein. Vielleicht wird sie das noch ein wenig überraschen - obwohl ich glaube, dass das kaum noch etwas ausmachen dürfte. Kämpft! Gebt euer Bestes! Der Kaiser - aber vor allem eure Freunde und Verbündeten, die nun dort unten kämpfen,...", er wies auf die Hafengegend, von wo aus dichter, schwarzer Rauch herüberwehte, "...werden es euch danken. Zeigen wir der Shinsengumi, dass sie der Vergangenheit angehört!"

Die Männer schrieen und brüllten durcheinander, machten sich gegenseitig Mut.

"Dann lasst uns gehen!"

Und Takeo ließ Akuma wenden. Dann ritten sie los, jagten dem Hafen entgegen - und ebenso ihrem Schicksal.
 

~~~oOo~~~
 

Dicht lag mittlerweile der Rauch über dem Hafengelände. Die meisten Menschen hatten inzwischen die Flucht ergriffen, zumal sich der Kampf nun immer mehr ausbreitete und mittlerweile auch schon die Marktzeile erreicht hatte, wo die Händler hastig versuchten, ihre Waren in Sicherheit zu bringen.

Pfeile zischten durch die Luft. Teilweise brannten sie und wurden von den großen Seglern draußen in der Bucht aus abgefeuert, teilweise aber auch vom Land aus. Jetzt waren auch unzählige Beiboote unterwegs, auf denen ebenfalls wild gefochten wurde. Es gab Boote, die eindeutig in Richtung Land flohen, und wieder andere, die direkt den Kampf auf See und an Deck der großen Schiffe ansteuerten.

An Land war das Chaos beinahe noch größer. Hijikata kniff die Augen zusammen und versuchte das Durcheinander an sich windenden und aneinandergeklammerten Leibern zu überblicken. Wo war Saito? Hatte er sich wieder dazu entschlossen lieber seinen eigenen Plänen nachzugehen?

Saito war... schwierig. Selbst Hijikata, Vizekommandeur der Shinsengumi in Kyoto, hatte Schwierigkeiten ihn unter seinem Befehl zu halten. Der "Wolf" tat eben nur das, was ER für richtig hielt. Toshizo trat beinahe spielerisch einen Schritt zurück und wehrte gelassen den Angriff

eines Feindes ab, der ihn von der Seite mit dem Schwert angreifen wollte. Blitzschnell zuckte Hijikatas langes No-Dachi vor und trennte sauber den Kopf vom Rumpf des Kriegers. Toshizo blickte dem fallenden Körper nicht nach.

Er fühlte sich seltsam berauscht. Er war in Hochstimmung. Dies hier war seine Welt: Der Kampf - nein, der KRIEG! Er liebte den Geruch von Blut, Schweiß und Angst beinahe. Und all dies gab es hier nun wahrhaft genug. Er konnte es gar nicht abwarten, bis der "Rote Schatten" mit seinen Männern

hier auftauchte. Er würde für den Aufstand, für die Revolution, die er angezettelt hatte, bezahlen. Sie ALLE würden bezahlen. Und die Shinsengumi würde über sie richten, so wie sie dies IMMER bei Straftätern getan hatte. Denn das waren die Widerständler in Hijikatas Augen: Straftäter. Menschen, die es gewagt hatten, das altehrwürdige Kasten- und Shogunatssystem zu unterwandern. Menschen, die sich mit Ausländern abgaben.

Ein wilder Schrei entrang sich seiner Kehle, als er sich mit seinem gewaltigen Schwert erneut mitten in den Kampf warf.
 

Das dumpfe Grollen, das aus keiner bestimmten Richtung, sondern aus allen zugleich zu kommen schien, hatte sich zu einem Donnern gesteigert und war nun fast heran. Wenn man ganz still stand konnte man den Boden leicht vibrieren fühlen - aber dazu hätte nicht einer der Kämpfenden, unabhängig für welche Seite er focht, den Nerv gehabt. Im Gegenteil - sie bemerkten nicht einmal, dass dort etwas auf sie zukam. Das Donnern wurde nun ohrenbetäubend, und zumindest die Männer in den hinteren Kampfreihen fuhren nun erschrocken zusammen und herum, versuchten den aufgewirbelten Staub mit Blicken zu durchdringen. Aber da war es bereits zu spät für sie, um noch mehr als blankes Entsetzen zu empfinden.

Die Schatten der umgebenden Straßen und die Nebel von Staub und Rauch spieen urplötzlich die dahinjagenden Leiber unzähliger Pferde aus! Als hätte der Rauch zuvor auch sämtliche Geräusche verschluckt konnte man jetzt auch das wilde Geschrei der herankommenden Krieger auf ihren Rücken vernehmen. An der Spitze der Gruppe von mindestens einhundertfünfzig Reitern preschte ein nachtschwarzer Dämon heran, ein wahrhaft riesiges Schlachtross, auf dessen Rücken ein rothaariger, scheinbar zu allem entschlossener Samurai saß und gleich zwei Schwerter schwang! Nicht genug damit, so erkannten die vor Schrecken erstarrten Kämpfer an der Seite dieses Nachtmars einen zweiten, etwas kleineren, jedoch nicht minder erschreckenden Halbdämon mit schneeweißer, langer Mähne! Er sprang so schnell dahin, dass er keine Mühe hatte mit den Pferden mitzuhalten. Beide Hände hatte er erhoben - und scharfe lange Krallen blitzten auf.

Zu mehr als einem flüchtigen Blick auf jene ersten zwei Angreifer hatten die Männer am Kai keine Gelegenheit mehr. Takeos rechter Arm schoss vor.

"Los! Wir greifen sie von hinten an! Treibt sie auseinander!"

Und dann prallten die ersten Pferde mit brutaler Gewalt auf die Linie der blaugewandeten Shinsengumi-Kämpfer. Sie wurden einfach niedergeritten, doch selbstverständlich kam der Vormarsch der Kavallerie nach einigen Dutzend Metern bereits zum Erliegen, denn die Shinsengumi, welche die Gruppe der Reiter nun in ihrer Mitte wähnte, begann sofort die Angreifer einzukreisen.

Takeo hatte dies erwartet - sogar erhofft.

So würde der Angriff der hinter ihnen herannahenden Fußsoldaten umso überraschender und wirkungsvoller ausfallen. Zudem erwartete er die zweite Gruppe der Kavallerie, die von der ganz anderen Seite der Stadt aus auf die Kais stürmen würde.

Takeo kämpfte verbissen, teilte rechts und links wütende, rücksichtslose Schläge mit seinen Schwertern mit verkehrten Klingen aus und brach sich Seite an Seite mit Shido und Yasha rigoros einen Weg zu den Anlegestellen, wo die neu mit den Schiffen angekommenen Soldaten verzweifelt um ihr Leben kämpften.

Soweit es Takeo überblicken konnte handelte es sich um zwei große Gruppen von Angreifern mit jeweils bis zu sechzig bis siebzig Mann unter der jeweiligen Führung von Saito und Hijikata, dazu noch die bereits bekannten schwarzen Ninja-Kämpfer, die Mamoru so gern um sich scharte. Beide Gruppen hatten die Erneuerer in die Zange genommen und drängten sie in erbitterten Gefechten unerbittlich zum Wasser zurück. Der Kai war schwarz von Männern, die dich an dicht verbissen fochten.
 

Und hier vorn erkannte Takeo nun auch Mamorus hellrotes Haar inmitten der Kämpfenden. Aber er war noch zu weit von ihm entfernt, um einen direkten Angriff wagen zu können.

Plötzlich hatte der junge Mann alle Mühe sich im Sattel zu halten, als er gleich von drei Seiten attackiert wurde. Natürlich war der Shinsengumi klar, wer die Erneuerer anführte - und sie versuchten Takeo gezielt anzugreifen. Shido schirmte ihn von rechts, Yasha von links ab.

Yasha kämpfte von ihnen allen wohl am verbissensten. Immer wieder warf er suchende Blicke um sich, versuchte etwas zu finden, von dem Takeo zu wissen glaubte was es war. Aber auch er hatte Aurinia noch nicht gesehen. Warum sollte sie auch hier sein?

Er wehrte einen erneuten Schlag ab, nahm den Treffer einer flachen Klinge am Bein hin. Akuma bäumte sich wiehernd auf, als das Kampfgetümmel sich um die Gruppe mehr und mehr zusammenzog. Die schwarzen Hufe wirbelten durch die Luft und mähten gleich mehrere der Angreifer nieder. Yasha brüllte. Wutschnaubend hatte der Halbdämon einen Krieger an der Kehle gepackt und schrie ihn an: "Wo ist sie! Aurinia, die kleine Yosei! WO?!"

Takeo blickte zu ihm zurück, versuchte Akuma wieder unter Kontrolle zu bringen. Natürlich, Yasha wollte nur seine Freundin retten. Etwas anderes interessierte ihn nicht. Das hatte er ja äußerst wirkungsvoll klar gemacht, wie ihm Shido erzählt hatte. Aber... da war auch mehr als nur Sorge um seine Freundin.

Er und Yasha waren vielleicht noch nicht richtig Freunde - würden es vielleicht niemals werden, so wie in dem Maße, wie es Takeo und Shido-san waren - aber als er kurz vor ihrem Angriff Yasha wartend am Eingang zum Hafenviertel vorgefunden hatte, da wusste er, dass der Halbdämon sie nicht im Stich lassen würde. Nicht die Angst, dass er womöglich sterben könnte, wenn er die Shinsengumi allein angriff, hatte Yasha auf die Reitergruppe Takeos warten lassen, da war sich der junge Samurai sicher. Er wollte primär die Yosei befreien, ja. Aber er würde noch ein paar der Feinde Takeos und Shidos mitnehmen, wenn er seine Krallen schwang und Tod und Vernichtung säte.

Takeo konnte nicht erkennen, ob Yasha mit seinen Drohungen Erfolg hatte, aber das war im Augenblick auch nicht die Frage, die ihn beschäftigen sollte.

Ein jäher Schmerz durchzuckte seinen Körper und erinnerte ihn nachhaltig daran, dass er eigentlich verwundet war und nicht kämpfen sollte. Verbissen ignorierte er das brennende Gefühl, dass sich über seinen Torso ausbreitete und ihm das Atmen erschwerte. Er hatte keine ZEIT für so etwas!

Er drehte sich auf dem Rücken seines Pferdes herum und gab mit seinem hoch erhobenen Schwert das Zeichen für den Angriff der zurückgebliebenen Fußsoldaten und der zweiten Kavallerie-Gruppe.

Doch noch bevor er erkennen konnte ob seinem Befehl Folge geleistet wurde, durchbrach Shidos gellender Schrei seine Gedanken.

"Takeo!"

Als er sich zu seinem Freund umwandte gestikulierte dieser wild mit den Armen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

"Sie haben Gewehre!"

Takeo fuhr erschrocken zusammen und erkannte, dass Shido Recht hatte. Etwa zwanzig Mann in den blauen Roben der Shinsengumi hatten hinter den Kämpfenden Aufstellung bezogen. Jeder von ihnen trug ein langes Gewehr, das er bereits gehoben und im Anschlag hatte. Sie zielten auf die Gruppe rund um Takeo.

Neben ihnen, hoch aufgerichtet und mit einem äußerst amüsierten Gesichtsausdruck auf den Zügen, stand Hijikata Toshizo.

"Verdammt!", ließ sich nun wieder Yashas Stimme hinter ihnen vernehmen.

"Wenn ich nur Tessaiga hätte!"
 

Hijikata hob ungerührt die Hand. Er genoss die Situation in vollen Zügen. Was die schwarzen Schiffe an Waffen und anderen Wunderwerken vom Festland hierhergebracht hatten, war nichts anderes als nützlich. Vor allem in Kampfsituationen wie diesen. Mochte der große, dunkelhaarige Samurai die Gaijin, die Ausländer, die in zunehmendem Maße ihre Welt beeinflussten, auch noch so verachten, er machte sich seinerseits jedenfalls auch ihre Vorzüge zu Nutze. Und die Gaijin konnten fantastische, effiziente Waffen fertigen, das musste man ihnen lassen. Hijikata war ein Mann des Schwertes. Aber in Situationen wie diesen war es angebracht nach drastischeren Mitteln zu greifen. Die Aufrührer waren wie Heuschrecken, die zertreten werden mussten. Für sie wäre die Ehre durch das Schwert zu sterben Verschwendung und völlig unangemessen.

Und mit vollkommen unbewegter Miene gab Hijikata seinen Männern den Befehl zu feuern.
 

Eine Salve von Gewehrschüssen übertönte laut das restliche Kampfgetümmel, traf jedoch beinahe lautlos ihre Ziele. Takeo hörte etwas dicht an seinem Ohr vorbeizischen, Akuma wieherte voller Angst und stieg erneut auf der Hinterhand. Er hörte Shido neben sich erschrocken keuchen und hoffte

inständig, dass seinem Freund nichts passiert war. Er hatte bereits im Kampf erleben können, was diese schrecklichen, westlichen Waffen mit einem menschlichen Körper anzurichten vermochten - und er hätte viel darum gegeben, es niemals wieder sehen zu müssen. Doch anscheinend wurden seine Gebete diesbezüglich nicht erhört.

Ein heilloses Chaos brach los, in dem das Eingreifen der Fußsoldaten und der berittenen Verstärkung, auf deren Erscheinen Takeos beträchtliche Hoffnungen gelegen hatten, vollkommen unterging.

Die Männer waren da - vergrößerten jedoch das Durcheinander eher nur. Die Pferde, die Gewehrschüsse nicht gewohnt waren, wurden panisch vor Angst und nicht wenige von ihnen gingen mit ihrem Reiter durch, liefen in alle möglichen Richtungen davon, rücksichtslos Freund wie Feind niederreitend. Reiter stürzten aus dem Sattel, Männer schrieen angstvoll oder voll Zorn

durcheinander - aber auch das Geklirr der Schwerter, das beim Auftritt der Artillerie kurz innegehalten hatte, ging weiter.

Takeo sah sich nervös um. Die Männer luden ihre Gewehre wieder nach. Es konnte nur noch Sekunden bis zur zweiten Salve dauern. War Hijikata denn übergeschnappt? Konnte er nicht sehen, dass er so auch seine eigenen Männer gefährdete?

Vielleicht wusste er es. Aber wenn, dann war ihm dieser Umstand mehr als gleichgültig. Einmal mehr verstand Takeo die Einstellung der Shinsengumi nicht.

Hektisch sah er sich um. Yasha war verschwunden - aber er konnte mit Sicherheit gut auf sich selbst aufpassen. Was er nun tun musste war klar: Diese Schützen durften einfach nicht weiter in das Kampfgeschehen eingreifen. Er musste sie aufhalten! Koste es was es wolle!

Neben ihm schien Shido-san genau dasselbe zu denken.

"Machen wir die Schweine fertig, mein Freund!"

Kanzakis Worte standen im krassen Gegensatz zu seinem Zustand. Takeo erkannte mit schreckgeweitetem Blick, dass ihn eine der Gewehrkugeln etwas oberhalb der linken Hüfte getroffen hatte. Sein gesamtes linkes Bein war bereits dunkel von seinem Blut. Takeo sog scharf die Luft ein und wollte protestieren, doch Shido tat etwas vollkommen Verrücktes. Während die gefürchtete zweite Salve über sie hinwegdonnerte und um sie her zahlreiche Opfer forderte, griff sich der hünenhafte Freund Takeos die Zügel von Akuma und jagte auf seinem Pferd, Takeo im Schlepptau, auf die verblüfft dreinschauenden Schützen zu!

Es sah nicht so aus, als wenn er vorhatte anzuhalten.

Kurz bevor Shidos Falbe die Männer einfach über den Haufen reiten konnte wirbelte eine schlanke, große, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt heran und schlug zu. Shido wurde von Hijikata mühelos aus dem Sattel gerissen, beide Männer landeten reichlich unsanft am Boden. Doch selbst wenn Shido-san verletzt war, so hatte er dem großen Shinsengumi-Kommandeur jetzt etwas voraus: Hijikata hatte sein Schwert bei dem Sturz aus der Hand verloren. Und Shido war ein Meister im japanischen Faustkampf...

Mit ein, zwei äußerst gezielten Schlägen in den Solarplexus, trieb der junge Mann Hijikata wirkungsvoll die Luft aus den Lungen, verhinderte hierdurch auch, dass er in den nächsten Paar Sekunden wieder welche holen konnte. Als letztes landete er noch einen wuchtigen Schlag unter sein Kinn, was Hijikatas Kopf in den Nacken fliegen und ihn rücklings zu Boden schleudern ließ.
 

Mühsam und ächzend rappelte sich Shido wieder auf. Er erkannte, dass Takeo die Männer mit den Gewehren bereits entwaffnet hatte. Der rothaarige Samurai kämpfte nun mit scharfen Klingen. Er hatte die Männer beim Nachladen überrumpelt und einmal mehr bewiesen, dass japanische Schwerter zu den schärfsten der Welt gehörten - indem er die Gewehrläufe mit beinahe chirurgischer Präzision durchtrennte. Die Schützen waren in panischer Angst geflohen. Diejenigen, die erschrocken nach ihren Schwertern greifen wollten, hatte er mit ein paar sehr genauen Schlägen mit der stumpfen Seite seiner Kodachi in die Bewusstlosigkeit befördert.

Hijikata war ebenfalls momentan ohne Bewusstsein, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich wieder erheben würde. Shido ging hinter seinem ehemaligen Kommandeur in die Knie und packte den Kopf mit dem langen, schwarzen Haar, bereit, ihm das Genick zu brechen - aber Takeo winkte ab.

"Lass gut sein. Du solltest so schnell wie möglich von hier verschwinden - du bist verletzt! Ich werde Mamoru suchen. Aus diesem Grund bin ich hier."

"ER würde nicht zögern uns zu töten!", protestierte Kanzaki wütend.

"Deine Zurückhaltung in allen Ehren - aber hier hört sie allemal auf! Auge um Auge, Takeo! Er muss sterben!"

"Ich sage NEIN!", schrie Takeo zurück. In seinem Gesicht arbeitete es.

"Wenn du einmal Blut an den Händen kleben hast, wirst du dieses Gefühl, diese Schuld, niemals wieder los! Ich weiß wovon ich spreche! Hast du schon einmal gemordet, Shido-kun?"

Shido war es Leid darüber zu diskutieren. In dieser Hinsicht war Takeo manchmal allzu halsstarrig, beinahe memmenhaft. Voll Zorn funkelte er den Freund an und in diesem Augenblick kochte auch all der Frust wieder in ihm empor, der sich über die letzten Wochen in ihm aufgebaut hatte. Die Wut

darüber, dass er den Freund nicht daran hatte hindern können in diesen irrsinnigen Kampf einzugreifen, obwohl er dadurch sein Leben gefährdete, brodelte immer noch in ihm. Und - völlig deplaziert und unnötig - auch die Eifersucht auf seine Liebe zu Madoka...

"Das ist MEIN Leben! Wage es nicht mir Vorschriften zu machen, Takeo! Du wirst mir eines Tages danken, dass ich den Mistkerl getötet habe!", giftete er wütend.

Takeo trat vor ihn hin, sah ihm fest in die Augen.

"Bitte, Shido. Geh. Geh zurück zum "Chochin". Du bist verletzt. Wenn schon nicht, um dich behandeln zu lassen, dann geh wenigstens zurück und bleib bei Madoka bis alles vorbei ist. Versprich mir das."

Shidos Blick flackerte.

"Du musst gerade reden! Wer hier wohl zuerst stirbt - allein dadurch dass er überhaupt kämpft, obwohl ihm gesagt wurde er solle es lassen! Du musst hierzu nicht einmal erneut verletzt werden. DU solltest zurückgehen, Idiot!"

Takeo wollte antworten - und sah dann mit trotzig zusammengepressten Lippen weg.

Sie hatten BEIDE Recht. Und das wussten sie auch beide...

Auch Shido kam sich - vor allem angesichts der momentanen Gesamtsituation - wieder einmal reichlich albern vor. Um ihn herum starben Menschen! Und er hatte nichts besseres zu tun als seinem besten Freund Vorwürfe zu machen - vielleicht sogar aus EIFERSUCHT! Und das hatte nun wirklich nichts mit dem Kampf zu tun...

"Pass auf!", gellte Takeos Schrei durch die rauchdurchwirkte Luft und Shido sprang in einer einzigen, fließenden Bewegung auf und wirbelte herum. Dennoch kam seine Reaktion um eine Winzigkeit zu spät.

Mit Wucht ließ Hijikata, der sich soeben unbeachtet hinter ihnen erhoben hatte, seine gefalteten Hände auf Shido-sans Nacken niedersausen. Wie vom Blitz gefällt fiel der junge Mann nach vorn, fing sich geistesgegenwärtig mit den Händen ab und rollte stöhnend zur Seite. Hijikata wollte sich ohne Umschweife auf ihn stürzen.

"Wir sind noch nicht miteinander fertig, Kanzaki! Wir von der Shinsengumi sind recht nachtragend, wenn es um Desertation geht!"

Toshizos langes Gesicht war wutverzerrt. Takeo kam heran und fiel ihm in die Arme. Er wurde einfach überrannt. Mit einem dumpfen Schmerzlaut ging der junge Samurai ebenfalls zu Boden.

Hijikata strauchelte, blieb aber auf den Beinen. Mit einem wilden Knurren riss er Takeo eines der Schwerter aus der Hand und wollte es umgehend in dessen Brust stoßen, doch der immer noch am Boden liegende Shido ergriff eines seiner Beine, riss daran und brachte den großen Mann nun doch aus dem Gleichgewicht. Die Klinge schrammte mit einem widerlichen Geräusch dicht neben Takeos Kopf über den Boden und schlug Funken. Beinahe in Zeitlupe kippte Hijikata zur Seite und fiel. Shido war augenblicklich über ihm. Wild begann er auf ihn einzuprügeln - die Ähnlichkeit mit Yasha, wenn dieser mit seinen Krallen einen Feind bearbeitete, war beinahe beängstigend.
 

Und dieses mal BRACH er ihm das Genick.

Er umfasste den Kopf Hijikatas und drehte ihn mit einem Ruck zur Seite. Das Knacken, mit dem die Wirbel heraussprangen, vermeinte Takeo noch über den Kampflärm hinweg zu hören - für Shido war es ungleich deutlicher zu spüren.

Takeo hatte Recht gehabt. Dieses Geräusch, das was er soeben getan hatte, würde ihn noch lange

verfolgen...

Shido stöhnte und hielt sich zusammengekrümmt die Seite. Takeo half seinem Freund kommentarlos auf die Füße und steuerte das nächstbeste, reiterlose Pferd an. Keiner von ihnen blickte zu der Leiche des Shinsengumi-Kommandanten zurück.

Noch immer ohne auch nur ein Wort zu sagen half Takeo Shido auf das Tier zu steigen. Vergessen war ihr Streit - und auch der Tod Hijikatas drang noch nicht wirklich bis in sein Bewusstsein vor. Alles was er spürte war die unmittelbare Angst um seinen besten Freund. Er gab dem Pferd einen leichten Schlag mit der flachen Hand, und während es sich in leichtem Trab entfernte rief er Shido nach:

"Und wehe, ich sehe dich nachher nicht im "Chochin" deine Wunden pflegen! Hörst du?"

Shido hatte nicht einmal mehr die Kraft zu antworten. Er war über den Hals seines Reittieres nach vorn gesunken und hatte die Augen geschlossen.

Er war mit einem Mal so müde.

Die Macht Tessaigas

Yasha hatte Aurinia endlich gefunden. Sie war neben dem Mann, den sie Sayan Shigeru nannten, zusammengesunken und scheinbar um ihn bemüht, da er sich nicht mehr rührte. Um sie her lagen drei bewusstlose Krieger am Boden. Anscheinend hatte sie sich nachhaltig gegen ihre Häscher gewehrt. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er mit Riesensätzen auf sie zujagte, diverse Gegner einfach niederrannte und rechts und links mit seinen krallenbewährten Händen beinahe

beiläufig Hiebe austeilte.

"Aurinia!"

Ihr Kopf flog herum, das lange, flachsfarbene Haar folgte schwungvoll der Bewegung. Ein strahlendes Lächeln verdrängte den sorgenvollen Ausdruck auf ihrem hübschen Gesicht, ihre grünen Augen leuchteten freudig auf. Dann war der Halbdämon endlich bei ihr, riss sie ungestüm in seine Arme. Mit

für ihn völlig untypischer, erstickter Stimme flüsterte er leise in ihr Haar:

"Gott, wie ich dich vermisst habe... Dir ist nichts passiert..."

'Nichts passiert'... Nun, das traf es nicht ganz. Aber sie war im Moment einfach zu glücklich, um noch an vergangene Qualen zu denken. Liebevoll strich sie ihm über die Wange und vergrub ihre Finger in seiner dichten Mähne, kraulte ihn unterhalb des linken Ohrs und zog ihn dann sanft zu sich hinunter, um ihn zärtlich zu küssen.

Inmitten dieses Chaos aus Gewalt, Blut und Tod war sie seine Insel aus Licht, sein Leben. Alles andere war nicht wichtig. Sie war hier und sie lebte. Und er liebte sie so sehr, dass es weh tat.

Die Yosei löste sich langsam wieder von ihm, sah ihm tief in die Augen - schon wieder leicht beunruhigt, woraufhin sich die unwirklich schöne Situation schon wieder verflüchtigte.

"Geht es dir gut? Wo sind die anderen? Was ist mit Madoka?"

Yasha schüttelte sein weißes, buschiges Haar, das stellenweise bereits rußgeschwärzt war.

"Madoka ist wohlauf, keine Sorge. Sie wartet in einer Herberge unweit von hier. Und die anderen... Ich habe sie aus den Augen verloren. Takeo war sehr schwer verletzt...", er brach ab und schaute eindeutig besorgt drein.

"Du machst dir Sorgen um Takeo? Kann es sein, dass du seit langer Zeit das erste Mal wieder freundschaftliche Gefühle an dich heranlässt? Seit der Sache mit..."

"NICHT! Sprich ihren Namen bitte nicht aus. Ich habe das hinter mir gelassen.", unterbrach sie Yasha grob. Etwas ruhiger fügte er hinzu:

"Na, schön, du hast mich insofern durchschaut, als dass ich wirklich ein wenig um den rothaarigen Sturkopf besorgt bin. Er... sollte nicht hier sein. Ich muss schnellstens Tessaiga wiederfinden und dann werde ich..."
 

"Sprichst du von DIESEM alten, rostigen Ding hier?", durchschnitt eine wohlbekannte, unangenehme Stimme die Luft. Yasha drehte sich betont langsam herum. Hinter ihm, beinahe lässig an einen Bootsanleger-Pfosten direkt am Ufer gelehnt, stand der "Wolf von Mibu". Und dieses Mal traf der legendäre Spitzname vollkommen zu - sein Grinsen war beinahe wölfisch zu nennen, ein einziges Zähnefletschen im Angesicht eines verhassten Feindes und in Aussicht dessen Todes. Er hielt Tessaiga in der linken Hand - allerdings noch in seiner Scheide. Anscheinend war es weder ihm, noch einem der anderen Idioten bei der Shinsengumi gelungen das Schwert zu ziehen.

Yasha lächelte böse. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte unerschrocken zurück.

"Saito. Na endlich. Wenn du genauso sehnsüchtig auf unser erneutes Zusammentreffen gewartet hast wie ich, dann sollten wir wahrhaftig nicht weiter Zeit mit belangloser Konversation vergeuden, meinst du nicht auch? Du hast etwas, das mir gehört wie ich sehe. Und ich werde es mir zurückholen!"

Der Wind frischte plötzlich auf und bauschte effektvoll Yashas langes, weißes Haar. Dunkle Wolken jagten über den Himmel im Osten heran. Es würde bald Regen geben. Und noch immer tobte der Kampf zwischen Shinsengumi und Erneuerern zu Land und zu Wasser ungebrochen.

Wie Aurinia nun erkennen konnte, stand jetzt auch einer der großen Segler draußen auf See in hellen Flammen. Die Schreie und der Kampflärm waren keineswegs leiser geworden. Aber angesichts der knisternden Aggression, die mit einem Mal beinahe greifbar in der Nähe des äußersten Landungssteges zwischen dem Halbdämon und dem Wolfsdämon in menschlicher Gestalt herrschte, trat alles andere zumindest für den Moment einfach nur in den Hintergrund.

Yashas boshaftes Lächeln war unerschütterlich.

"Du hast Recht.", antwortete Saito nun mit einiger Verspätung. "Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden. Hol dir doch dein Schwert, wenn du magst. Aber dazu musst du erst an mir vorbei fürchte ich."

Und mit einer beinahe gleichgültig wirkenden Handbewegung schwang er Tessaiga über das Hafenbecken hinaus und ließ es vor Yashas und Aurinias erschrockenen Augen ins Wasser hinunterfallen.
 

Yasha stürmte los.

Natürlich hatte Saito mit seinem Angriff gerechnet und glitt in einer schnellen Bewegung beinahe geschmeidig zur Seite, sodass der Halbdämon in seiner ungestümen Wut einfach an ihm vorbei und ein Stück weit hinaus auf den Steg taumelte. Saito lachte. Er half Yashas Vorwärtsbewegung mit einem Tritt in die Kniekehlen nach. Dies hatte zur Folge, dass der Hundedämon nun mit einem dumpfen Geräusch nach vorn auf die Holzplanken fiel. Aurinia lief ebenfalls los. Sie konnte sich noch immer nicht ihres Parasiten bedienen, um sich mit ihrer Schutzhaut zu rüsten, aber sie konnte noch

immer kämpfen! Sie entriss einem der am Boden liegenden Krieger im Vorbeilaufen das Schwert und war mit drei, vier federnden Sprüngen bei Saito angelangt. Sie schwang das Schwert, sich eines folgenschweren Treffers auf seinen Rücken sicher - und dann zog der "Wolf von Mibu" in einer einzigen, schnellen Bewegung seine eigene Klinge, drehte den Oberkörper und fing Aurinias Schlag funkensprühend ab. Durch die Wucht ihres eigenen Schlages und den Rückstoß durch Saitos Schwert wurde die junge Yosei heftig zurückgeschleudert und landete unsanft auf dem Boden.

Doch wenn Saito glaubte, das würde sie außer Gefecht setzen, dann kannte er die Kraft einer Yosei nicht. Mit einem wilden Knurren sprang sie wieder auf die Füße. Ihr eigenes Schwert hatte sie trotz des Rückstoßes nicht aus der Hand verloren.

"Na, Kätzchen? Wollen wir noch ein weiteres Tänzchen wagen? Erinnere dich an das erste Mal. Wenn ich mich nicht irre, sind ich und mein Schwert dir recht nahe gekommen, oder?"

Seelenruhig nahm Saito wieder die bei ihm so gefürchtete Gatotsu-Stellung ein, visierte mit dem rechten Arm, hob die Klinge mit dem linken bis weit hinter seinen Kopf zurück, die Spitze unbeirrbar auf das Gesicht der Yosei gerichtet.

Yasha schlich sich hinterrücks an ihn heran, um ihn zu überrumpeln - doch Saito war heute noch aufmerksamer - oder schneller - als sonst. Er tat einen schnellen Ausfallschritt zur Seite, als die Klauen des Halbdämons zugreifen wollten. Zugleich, und wahrhaft atemberaubend schnell, sprang er vor und verletzte die vollkommen überraschte Aurinia am linken Oberschenkel. Die junge Frau keuchte vor Schmerz, sank in die Knie.

Yasha brüllte voll Zorn und trat im Laufen nach ihm, während er bereits auf dem Weg zu der gefallenen Yosei war. Der Tritt beförderte Saito mit einem überraschten Ausruf ins Hafenbecken hinunter. Der Aufprall ließ Wasser die Kaimauer hinaufspritzen.

Yasha half seiner Freundin behutsam auf die Füße.

"Alles in Ordnung? Kannst du laufen?"

Sie nickte mit zusammengepressten Lippen, stand dann jedoch aus eigener Kraft.

"Es... geht schon wieder."

Er sah sie äußerst besorgt an. Die Wunde war nicht sehr tief, aber sieblutete recht stark.

"Bitte zieh dich zurück, Aurinia. Ich schaffe das hier allein."

Sie sah auf und lächelte schräg.

"Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht zu beschützen brauchst? Oft genug habe ich DIR das Leben gerettet, wie ich mich erinnern kann."

Er erwiderte ihr Lächeln, deutete dann aber auf den zweifelhaften Schutz der Fischerhütten jenseits des Kais.

"Bitte warte dort. Ich bin gleich wieder da."

"Und was hast du vor?", fragte sie alarmiert.

"Na, was schon. Ich werde ein Bad nehmen!"

Und mit einem Satz, der ihn weit über die Wasseroberfläche hinaustrug, sprang er. Hoch spritzte das Wasser auf, als er alles andere als geschmeidig eintauchte.

Aurinia zog sich natürlich NICHT zu den Hütten zurück, die ohnehin bereits teilweise in Flammen standen, die sich durch den Wind getragen bereits auf die angrenzenden Dächer und Häuser auszubreiten begannen. Während die ersten, schweren Regentropfen fielen, schaute die Yosei hinab in das dunkle, aufgewühlte Wasser. Aber weder von Saito, noch von Yasha war eine Spur zu sehen. Stellenweise brannte selbst das Wasser, dort, wo Lampenöl aus den zerbrochenen Bordlaternen im Kampfgetümmel ausgelaufen war.
 

Yasha tauchte tiefer und tiefer hinab. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass das Wasser hier am Hafen so tief war. Doch selbst hier unten, in dieser so eigenartig schlammigen Dunkelheit, die ihn mit einer Kälte umhüllte, die seine Bewegungen unaufhaltsam verlangsamte, halfen ihm seine Augen dabei

mehr zu sehen, als es einem Menschen je möglich gewesen wäre. Er gewahrte den hellen Schemen, der Tessaiga ausmachte, lange bevor er wirklich erkannte, um was es sich handelte, auf das er sich da mit kräftigen Schwimmstößen zubewegte. Seine Lungen schrieen bereits nachhaltig nach Sauerstoff, doch er ignorierte es wild entschlossen, da die Klinge nun zum Greifen nahe vor ihm lag. Der Griff hatte sich in Schlick und Algen verfangen, aber ein einziger, heftiger Ruck und er war frei.

So schnell wie möglich schwamm er zurück zur Oberfläche. Schäumend gischtete das Wasser auf, als er auftauchte und wild nach Atem rang. Eine Sekunde lang hatte er jedoch das Gefühl, gar nicht aufgetaucht zu sein - denn es hatte binnen Minuten so heftig begonnen zu regnen, dass er nur Nässe und Feuchtigkeit einatmete. Qualvoll hustend versuchte er nicht erneut unterzugehen.

Endlich nahm er den ersten tiefen Luftzug. Er schwamm zur Kaimauer und begann geschickt, aber langsamer als es ihm vielleicht ohne die glitschige Nässe auf dem Stein möglich gewesen wäre, an der Kaimauer hinaufzuklettern. Hastig duckte er sich jedoch wieder, als er erkannte, dass Saito erneut mit Aurinia kämpfte. Er musste auf der anderen Seite des Stegs aus dem Wasser geklettert sein und hatte die Yosei wahrscheinlich von hinten überfallen. Aurinia kämpfte gut - aber sie war geschwächt durch die Folter, die man ihr angetan hatte. Außerdem glaubte Yasha, dass sie zudem noch immer unter einer Art... "Zauber" stand, der es ihr unmöglich machte, ihre Schutzhaut, ihren Parasiten, heraufzubeschwören. Er fand keine bessere Beschreibung dafür. Wie hatte Madoka es genannt? Droge? Vielleicht litt seine Freundin noch immer unter den Nachwirkungen eines Rauschmittels.

Es war auch gleichgültig. Tatsache war, dass sie Hilfe benötigte - und dass er nun die Waffe wiederhatte, mit der es ihm gelingen würde, Saito ein für alle Mal vom Angesicht dieser Erde zu tilgen.

Es war vollkommen unwichtig, wie er und Aurinia in diese irrsinnige Geschichte, in diesen unsinnigen Kampf zwischen zwei machtgierigen, politischen Gegnern, hineingeraten waren. Es spielte keine Rolle. Jetzt nicht mehr. Denn mit Saito Hajime hatte er schon abrechnen wollen, lange bevor er Takeo und die anderen kennen gelernt hatte. Und ihr Kampf, ihre Fehde mit der Shinsengumi, ermöglichte es Yasha nun, es endlich zu tun.

Er zog sich mit einem Ruck die Kaimauer hinauf, sprang auf und zog sein Schwert Tessaiga.
 

Und welche Veränderung ging mit der schartigen, alten Klinge vor sich! Nun beinahe übermannsgroß pulsierte die ungewöhnlich breite Schneide in einem dunklen, unheilverkündenden Licht, als hätte sie ein Eigenleben und ein Herz, das rhythmisch zu schlagen begonnen hatte. Yasha hatte nicht die geringste Mühe, das riesige Schwert zu halten und drohend auf Saito zu richten.

"Aurinia! Auf den Boden! Schnell!", schrie er gegen den Lärm der Schlacht und den Regen an. Und die Yosei reagierte blitzschnell und äußerst professionell - wie er es von ihr gewohnt war. Sie wirbelte herum, lief so schnell sie konnte nach links, fort vom unmittelbaren Kampfgeschehen und suchte hinter ein Paar großen, übel nach Fisch riechenden Fässern in etlicher Entfernung Schutz. Auch Saito hatte sich nun zu dem Halbdämon herumgedreht - ein verächtliches Lächeln auf den Lippen. Er wollte dazu ansetzen, einen entsprechend herablassenden Kommentar zu Yashas Spielzeugwaffe abzugeben, als urplötzlich ein gewaltiger, vielfach verästelter Blitz das dunkle Firmament teilte und alles in unwirkliches, gespenstisches Licht tauchte. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten Yashas vom Wind wild zerzauste Mähne und die Klinge Tessaigas in einem Farbton auf, den Saito und selbst Aurinia noch nie zuvor gesehen hatten. Als der Blitz verschwunden war rollte der Donner heran. Mächtig und tief. Die Augen des Halbdämons glühten in einem dunklen, drohenden Gelb, als er langsam die Klinge hoch über seinen Kopf hob.

Scheinbar war Saito noch immer nicht bewusst, dass er in akuter Lebensgefahr schwebte. Der seltsame Hundedämon war doch mindestens dreißig Meter von ihm entfernt, was konnte er da schon ausrichten, außer wild mit dem Schwert herumzufuchteln. Er lachte laut auf - doch das Lachen erstarb auf seinen Lippen, als Yasha das Schwert herabsausen ließ. Die hieraus entstehende, mehrfach gebündelte, magische Energiewelle hatte die Wucht einer gigantischen Explosion.

"KAZE NO KIZU!", schrie Yasha durch das Brüllen und Tosen der entfesselten Energie. Grelle Lichtbahnen rasten mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Saito zu, rissen den Boden auf, ließen die Steine auf der Erde tanzen und nahmen allen Gegenständen und Personen im Umkreis von mehreren hundert Metern die Farben und Tiefe. Alles war nur noch in Schwarz und Weiß, Licht und Schatten unterteilt und sah aus, wie eine Reihe übereinandergeklebter Schablonen oder Scherenschnitte. Die Erde bäumte sich auf. Saito hätte nicht einmal mehr entkommen können, wenn er seine Überraschung in diesem Moment überwunden und NICHT weiterhin mit weit aufgerissenen Augen auf das nahende Unheil gestarrt hätte. Die Energiewelle erfasste ihn, wirbelte ihn davon, wie ein welkes Blatt im Herbststurm. Das Gleißen und Leuchten war so blendend, dass niemand wirklich sehen konnte, was weiter geschah. Die pulsierende Woge raste weiter, zerstörte die Fischerhütten auf ihrem Weg, zeriss sie, als wären sie nichts weiter als Kartenhäuser und ließ in weitem Umkreis einen wahren Regen aus Holzsplittern, Trümmerstücken und heißer Asche niedergehen. Dann, endlich verlor Tessaigas entfesselte Windnarbe an Energie, ebbte ab, das Leuchten ließ nach.

Von dem "Wolf von Mibu" war nicht eine Spur mehr zu sehen.

Die Stille, die sich nach Yashas Angriff über das Hafengelände gelegt hatte, war beinahe gespenstisch. Nur das Rauschen des Regens zeugte noch davon, dass hier Leben herrschte. Sämtliche Gesichter, Freund und Feind, hatten sich umgewandt und blickten beinahe ehrfürchtig ob des Wunders, dessen Zeugen sie soeben geworden waren. Wie erstarrt standen die Krieger da, hatten ihren

Kampf unterbrochen und konnten nicht glauben, was sie da gesehen hatten. Wieder zuckte ein greller Blitz aus den dunklen, nun sehr dicht und tief hängenden Wolken herab und erst das beinahe unmittelbar darauf folgende, ohrenbetäubende Donnergrollen holte sie alle in die Wirklichkeit zurück.

Erneut, noch heftiger und verbitterter, entbrannte der Kampf zwischen den beiden verfeindeten Gegnern. Der Lärm, Schreie, das gequälte Wiehern der Pferde und das Geklirr von Schwertern war unbeschreiblich nach diesem kurzen Moment der trügerischen Ruhe.
 

Yasha stand breitbeinig und schwer atmend da. Tessaiga pulsierte nach wie vor in seiner Hand, doch nun hob er es und schob es langsam zurück in die Scheide. Es nahm augenblicklich wieder das unscheinbare Aussehen eines schartigen, alten und nutzlosen Schwertes an. Tiefe Furchen hatte die

Windnarbe in der Erde hinterlassen. Dünne Rauchsäulen stiegen daraus hervor, die sofort vom Regen auseinandergetrieben wurden.

Ein Schatten huschte heran und dann erkannte Yasha müde, dass es Aurinia war, die da auf ihn zustürmte. Sie flog in seine Arme und dann hielten sie sich gegenseitig einfach nur fest umschlungen. Und während der Regen an ihren Körpern hinabrann, zog er sie noch enger an sich und sie versanken in einem langen, tiefen Kuss.

Ganz vorsichtig löste sich die junge Yosei nach einer Weile aus der starken Umarmung des Halbdämons, schaute ihm in die nun wieder sanft bernsteingelb schimmernden Augen. Sein Haar hing ihm in langen, feuchten Strähnen ins Gesicht. Er sah entsetzlich müde aus.

Auch Aurinia selbst begann nun nachhaltiger zu spüren, was sie alles durchlebt hatte und die Schmerzen aufgrund ihrer Verletzungen waren nun, nachdem der Schrecken und die Anspannung etwas nachließen, noch deutlicher zu spüren.

"Wir... müssen uns um Shigeru kümmern. Er befindet sich in noch sehr viel

schlimmerer Verfassung als ich."

Yasha gab ein leises Knurren von sich.

"Immer noch ganz mein Mädchen, eh? Denkt zuerst an andere, dann vielleicht mal an sich selbst. Was ist denn nun mit DEINEN Verletzungen?"

Er zog sie zurück zu sich und hauchte einen Kuss in ihr nasses Haar, das in der samtenen Dunkelheit wie geschmolzenes Kupfer leuchtete. Sie knuffte ihn freundschaftlich in die Seite, schüttelte den Kopf, antwortete jedoch nicht, sondern zog ihn hinter sich her, dorthin, wo sie vorhin den bewusstlosen Sayan Shigeru zurückgelassen hatte.

Tränen

Madoka war es leid warten zu müssen. Aber sie hatte es erstens versprochen und zweitens war ihr durchaus klar, dass sie bei dem Kampf, der unten am Hafen unablässig tobte, keine große Hilfe sein würde. Das änderte jedoch überhaupt nichts an der Tatsache, dass sie sich unendlich große Sorgen machte. Sie stand am Fenster ihres Zimmers im Obergeschoss des "Aka-Chochin", von wo aus sie einen guten Blick hinab auf das Hafenviertel hatte. Sie erkannte deutlich, dass das an mehreren Stellen ausgebrochene Feuer nun auch bereits auf die angrenzenden Wohnviertel übergegriffen hatte. Schwarze Ströme von Menschen flohen durch die Gassen und Straßen den Hügel hinauf in Richtung Kaiserpalast, hofften dort vor den gierigen Flammen zweifelhaften Schutz zu finden. Gigantische schwarze Rauchsäulen stiegen selbst vom Wasser auf, wo eines oder sogar zwei der großen Segelschiffe mittlerweile lichterloh brannten.

Nicht genug damit, so war innerhalb der letzten halben Stunde das Wetter derart umgeschlagen, dass der Regen nun in wahren Sturzbächen aus den dräuenden Wolken herabkam. Blitze zuckten und der Donner rollte tief und ohrenbetäubend dahin. Ein wahrhaftes Unwetter war über Kyoto

hereingebrochen, als würde selbst der Himmel ob des Krieges zürnen, den die Menschen hier austrugen. Und dunkel war es geworden, als wäre es bereits später Abend - und nicht etwa eine Stunde nach Mittag.

Madoka zog fröstelnd die Decke enger um ihre Schultern, als eine Windböe zu ihr hereinleckte, die Vorhänge bauschte und Papier, das hinter ihr auf der Erde lag, leise rascheln ließ. Sie hatte versucht etwas in den alten Schriftrollen zu lesen, die sie schon in Takeos Zimmer gesehen hatte - aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Ganz davon abgesehen, dass sie in einer derart altmodischen Sprache verfasst waren, dass sie ohnehin Schwierigkeiten beim Deuten der Texte gehabt hätte. Aber ihre Gedanken waren nicht hier. Sie waren bei Takeo.

Die ganze Zeit.

Ihre Sinne gaukelten ihr Kampflärm vor - was auf diese Entfernung hin vollkommen unmöglich war. Dennoch glaubte sie die Schmerzens- und Wutschreie, das Waffengeklirr und das Wiehern der Pferde beinahe zu hören. Ihr Blick glitt ruhelos über die Häuser und dunklen Straßen. Dann stutzte sie. Sie blickte konzentriert hinab in den regenverhangenen Innenhof des "Chochin". Hatte sich da nicht etwas bewegt? Ein dunkler, huschender Schemen? Und jetzt fiel ihr auch auf, dass das Haupttor zur Straße hin sperrangelweit offen stand! Von den Wachposten, die am Tor Aufstellung bezogen hatten, war keine Spur zu sehen. Was zum Teufel ging hier vor?

Eine eiskalte Hand schien ihr den Rücken hinabzustreichen. Alarmiert machte sie auf dem Absatz kehrt, ließ die Decke zu Boden gleiten, während sie schon loslief, aus dem Zimmer hinaus, die Treppe hinab und durch den nun verwaist daliegenden Speisesaal in Richtung Küche, von der sie wusste, dass sich Kanoe und ihre Bediensteten dort aufhalten mussten.
 

Als sie im Laufschritt die Küche betrat fand sie Kanoe und ein paar andere Frauen dabei vor, wie sie das heutige Abendessen vorbereiteten als wäre nichtsweiter geschehen. Der homosexuelle Koch des "Chochin", Kagushima Sanji, war ebenfalls anwesend und amüsierte sich gerade über einen von ihm selbst zum besten gegebenen Witz. Er warf den Kopf zurück und lachte, wobei eine Schmalzlocke seines strohblond gefärbten Haares nach vorn und über seine Augen fiel. Er war ein hagerer, hochgewachsener, immer etwas kränklich wirkender Mensch - mit dem schrägsten Humor, der Madoka je begegnet war. Und er war ein Schleimer. In Madokas Augen gab es beinahe nichts Schlimmeres.

Alle wandten sich ihr zu, als die junge Frau polternd die Tür öffnete und hereinkam. In Kanoes Augen blitzte es kalt auf. Sie enthielt sich jedoch jeden Kommentars.

"Das Haupttor vorn ist offen und die Wachposten sind verschwunden!", sagte Madoka atemlos in die nun eingekehrte Stille. Sanji blinzelte.

"Das ist nicht möglich." Sein Blick war geradezu einfältig.

"Wenn ich es euch doch sage! Wo sind die Wachen?" Madoka war nahe daran die Fassung - und auch ihre Geduld - zu verlieren. Sie wandte sich direkt an Kanoe.

"Wir müssen sofort..."

Bevor sie auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte hörten sie alle plötzlich einen markerschütternden Schrei. Dann fiel etwas sehr Schweres lautstark polternd direkt im Zimmer über ihnen um. Und das löste die Erstarrung, in die sämtliche Personen in der Küche bei Madokas Eintreten scheinbar gefallen waren. Kanoe und die Mädchen sprangen auf, Sanji griff nach der erstbesten Waffe, die ihm in die Hände fiel - genauer gesagt HATTE er sie schon in der Hand, wobei es sich auch nicht im eigentlichen Sinne um eine "Waffe" handelte: Ein langes Küchenmesser. Dennoch sah der junge Mann nicht wirklich wild entschlossen aus, sich damit auf einen Gegner zu stürzen. Aber Madoka fand die Idee gar nicht so schlecht. Während alle anderen bereits aus der Küche und in den Speisesaal hinauseilten, griff sie selbst ebenfalls nach einem der an der Wand

aufgereihten, scharf aussehenden Messer. Sie stürmte hinter den anderen her, doch als sie die Diele erreichte, da erkannte sie mit kaltem Entsetzen, dass die Eindringlinge, die auch die Wachposten am Tor ausgeschaltet haben mussten, bereits im Haus waren: Männer in den blauen Roben der Shinsengumi!
 

Mit weit aufgerissenen Augen war Madoka mitten in der Tür zur Eingangshalle stehen geblieben, versuchte zu verstehen, irgendwie zu verarbeiten, was hier geschah. Die Männer, deren Gesichter mit weißen Tüchern verhüllt waren, überfielen rücksichtslos die Frauen, die im "Chochin" zurückgeblieben waren.

Sie hörte Schreie, einige der Mädchen waren wohl die Treppe hinaufgeflohen. Doch ein halbes Dutzend der Schwertkämpfer war ihnen bereits auf den Fersen. Auch hier, direkt in der Diele wurde gekämpft, auch wenn man das nicht wirklich einen Kampf nennen konnte. Die Mädchen, die als erstes aus dem Saal gekommen waren, mussten den Angreifern buchstäblich ins Messer gelaufen

sein! Madoka sah überall Blut und inmitten dieses scharlachroten Gemäldes puren Chaos wanden sich die Körper schreiender Frauen und ihrer Peiniger, die sie auch noch zu schänden versuchten. Binnen Sekunden war auch Madoka blutbesudelt. Es war nicht ihr eigenes Blut. Sie starrte wie paralysiert auf die albtraumhafte Szene vor sich, war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Nie zuvor hatte sie etwas derart Grauenvolles gesehen!

Zwei der verhüllten Shinsengumi-Krieger wurden jetzt auf sie aufmerksam. Sie gaben sich Zeichen und näherten sich der jungen Frau von zwei Seiten. Madoka stand einfach nur da. Und obwohl sie sich sehr wohl der Gefahr bewusst war, in der sie schwebte, und obwohl sie die beiden Männer kommen sah, war alles was sie denken konnte: 'Warum...?' Wie in einer Endlosschleife immer nur dieser eine Gedanke: 'WARUM!? Welchen Sinn hatte dieser Überfall auf hilflose Frauen, wenn nicht...?'

Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie hätte Okita Sojis kaltes Lächeln nicht einmal sehen müssen, der in diesem Moment durch die Tür das Haus betrat, und auch seinen scharfen Befehl

nicht hören müssen, dass SIE es sei, die sie suchten - sie wusste in diesem Moment bereits, warum die Männer der Shinsengumi hier waren. Sie würden sie töten, ebenso wie die anderen, dessen war sie sich in diesem Augenblick sicher. Sie ließ das Küchenmesser fallen. Jetzt, viel zu spät, wollte sie sich zur Flucht wenden, hätte es aber niemals geschafft, wenn da nicht plötzlich Kanoes Gestalt wie aus dem Boden gewachsen vor ihr aufgetaucht wäre.

"Lauf, du dumme Gans! Was stehst du hier herum? Bring dich in Sicherheit!"

Madoka sah sie mit grenzenloser Überraschung ein langes Katana schwingen. Sie hatte sich breitbeinig vor der jungen Frau aufgebaut und ließ die Angreifer nicht aus den Augen, ein gefährliches, nicht minder kaltes Lächeln, als das von Okita, auf den Lippen. Gelinde Überraschung spiegelte sich in Okitas dunklen Augen wieder.

"Hirosaki Kanoe, wie ich meine. Schön und gefährlich - so hat man sie mir beschrieben. Und jedes Wort ist war."

Langsam zog er sein eigenes Katana und bedeutete den beiden Schwertkämpfern zurückzutreten.

"Ein so junges Küken wie dich verspeise ich zum Dessert.", ließ sich Kanoe verächtlich vernehmen.

"Oh, tatsächlich.", sagte Okita ruhig. "Vielleicht ist Ihnen nicht klar, mit wem Sie es zu tun haben. Aber ich war unhöflich und vergaß mich vorzustellen. Okita ist mein Name, wenn Ihnen das etwas sagt."

Kanoes Augen weiteten sich erschreckt - aber lediglich für den Bruchteil einer Sekunde. Sie hatte sich gut in der Gewalt. Allerdings schien sie nicht damit gerechnet zu haben, dass der berüchtigte Okita Soji noch ein halbes Kind war. Doch jetzt war es zu spät für sie, sich zurückzuziehen. Mit grimmiger Entschlossenheit erwiderte sie seinen Blick.

"Madoka! Jetzt verschwinde endlich!"

"Zu edel." Okitas Stimme war nur noch ein leises Flüstern. Er schnippte mit den Fingern und bedeutete seinen Männern, sich um Madoka zu kümmern, während er selbst auf Kanoe zutrat.

"In diesem Moment werden auch die anderen Häuser, in denen sich die Aufrührer verschanzt hatten, von uns eingenommen. Wir konnten ja nicht genau wissen, in welchem der Domizile sich die verehrte Sakurai Madoka befindet. Ich fürchte, ich kann die Kleine nicht gehen lassen. Das Mädchen ist Herrn Mamoru sehr wichtig."

Kanoe hob schwungvoll ihre Klinge. Sie schnitt den anderen Kriegern den Weg ab.

"Madoka! JETZT!"
 

Und Madoka, die noch immer nicht glauben konnte, dass Kanoe - ausgerechnet KANOE - ihr zuhilfe gekommen war, erwachte endlich aus ihrer Lethargie. Sie sprang auf und lief den Korridor entlang nach hinten aus dem Haus. Hinter sich hörte sie Schwerter aufeinanderprallen, dann einen Schrei. Sie

hoffte, dass es nicht Kanoe gewesen war, war sich jedoch nicht sicher. Wer hätte auch nur ahnen können, das so etwas geschah? Und wer hätte der Edel-Kurtisane die Fechtkunst zugetraut? Völlig unpassenderweise fragte sie sich kurz, ob wohl Takeo davon wusste.

Aus welchem Grund war sie der Shinsengumi, speziell Yamazaki Mamoru, so wichtig, dass diese so viele Menschen überfiel und tötete? Sollte es tatsächlich nur aus dem Grund so sein, weil sie mit Mamorus Bruder befreundet war? Sollte sie als Pfand gegen den "Roten Schatten" eingesetzt werden, damit man seiner endlich habhaft wurde? Oder war es Mamorus eigener Wunsch und Wille, sie für sich zu rauben? Madokas Gedanken rasten und sie fühlte lähmendes Entsetzen in sich aufsteigen, sollte es wirklich ihretwegen sein, dass so viele unschuldige Frauen und auch Männer sterben mussten, all die Menschen, die zurückgeblieben und nicht mit in den Kampf gezogen waren. Das KONNTE einfach nicht sein. Sie war doch so UNWICHTIG! Die Shinsengumi musste sich noch etwas anderes davon versprechen. Die Gruppe um Hijikata und Saito wollte möglicherweise Herz und Seele der Revolution treffen. Denn die Freunde der Erneuerer, die in den Unterkünften auf deren Rückkehr warteten, WAREN Herz und Seele dieser Männer, das, wofür sie unter anderem kämpften und für deren Zukunft sie sich einsetzten. Würde man sie töten, dann nahm man den Revoluzzern die Basis, den Grund, für den sie fochten.
 

Madokas Glück, dass ihr niemand den Weg verstellte, war wirklich nur von kurzer Dauer gewesen. Hinter dem Haupthaus des "Chochin" erstreckte sich ein kleiner Wandelgarten von der Art, wie sie ihn auch von Shigerus oder Ysidros Haus kannte. Als sie hinauslief und der hernieder prasselnde Regen sie binnen Sekunden bis auf die Haut durchnässt hatte erkannte sie, dass sie kaum eine

Chance haben würde zu entkommen. Denn auch hier war ein halbes Dutzend Männer damit beschäftigt, die Bewohner des Hauses zu verfolgen. Sie stolperte über etwas, fing sich gerade noch an der Hauswand ab und blickte zurück. Was hatte ihr im Weg gelegen?

Es war Kagushima Sanjis Leichnam. Der Koch war von oben bis unten aufgeschlitzt, beinahe halbiert, und lag in seinem eigenen Blut, die Augen weit und ungläubig aufgerissen. Absurderweise erinnerte er sie an einen ausgeweideten Seelachs. Der Regen ließ dünne Rinnsale aus Blut und Wasser in der Erde versickern.

Der Impuls kam schnell und war sehr heftig: Madoka fuhr herum und erbrach sich. Sie keuchte, war wimmernd vor der Wand in die Knie gesunken.

Madokas allererster Gedanke, dass Okita hier war um sie zu töten, nicht um sie gefangen zu nehmen, nahm nun doch wieder sehr viel intensiver Gestalt an. Der Beigeschmack von Panik haftete ihm an und auch Okitas Worte, dass sie Mamoru wichtig sei, änderten nichts an der lähmenden Angst um ihr nacktes Überleben, die ihre Kehle jetzt zuschnürte. Sie wusste nicht mehr, was sie noch denken sollte. Gott, diese Welt war so... grausam!
 

Etwas scharrte leise hinter ihr. Madoka drehte sich voller Angst herum - und sah in Okita Sojis hübsches Gesicht, das schmal, blass und vollkommen gleichmütig zu ihr hinabblickte. Also war Kanoe... Okita hatte sein Katana zurück in die Scheide gesenkt. Er richtete sich auf.

"Ich denke, für dich brauche ich kein Schwert."

"Du... du willst mich nicht...?", stammelte sie zitternd.

"...töten? Oh, doch. Ich WILL schon - aber leider hat man etwas anderes mit dir vorgesehen. Pläne, bei denen der "Rote Schatten" eine beträchtliche Rolle spielt."

Okitas Mundwinkel zuckten nach oben - vielleicht hielt er diese Grimasse für ein Lächeln. Wie konnte jemand das Gesicht eines Engels haben und so abgrundtief böse sein?

"So, und jetzt denke ich, dass du keinen Widerstand mehr leistest, nicht wahr? Sei ein braves Mädchen."

Er entfernte die Kordel, die unter seinem Umhang die Hose zusammenhielt. Es war ein kleines Wunder, dass sie daraufhin nicht rutschte. Madoka zuckte zurück.

"Komm schon. Keine Angst. Nicht das, was du denken magst."

Okitas Stimme klang beschwichtigend. Er griff nach ihren Handgelenken und fesselte sie.

"Ich habe kein Interesse daran..."
 

Etwas traf Okita mit Wucht am Hinterkopf. Mit einem überraschten Laut auf den Lippen taumelte Soji zur Seite, er fiel und fing sich mit einer Hand ab. Benommen blieb er einen Moment so, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Hinter Okita, hoch aufgerichtet und gegen den dunklen Himmel von ihrem Standpunkt aus nur als noch dunklerer Schemen zu erkennen, konnte Madoka nun die hünenhafte Gestalt eines ihr wohlbekannten jungen Mannes ausmachen. Der nächste Blitz erhellte sein Gesicht, das seltsam bleich und krank aussah.

Und im selben Moment erkannte Madoka, dass Shido schwer verletzt war. Die gesamte linke Körperhälfte war dunkel von seinem eigenen Blut. Der provisorische Verband, den er sich selbst angelegt zu haben schien, war bereits hoffnungslos durchtränkt. Er taumelte, die improvisierte Waffe, ein Holzscheit, entglitt seinen Fingern. Er flüsterte etwas, dass sich wie ihr Name anhörte.

Dann sank er gegen die Hauswand.

Mit einem Schrei war Madoka auf den Beinen. Sie wollte zu ihrem Freund eilen, aber Okitas Hand schoss vor und schloss sich wie ein Schraubstock um ihren Arm. Wie aus dem Boden gewachsen stand der junge Shinsengumi-Kommandant wieder neben ihr.

Ein einziger Blick auf seinen alten Schwertgefährten machte Okita jedoch klar, dass er seine Klinge nicht ziehen musste. Shido-san schien unglaubliche Schmerzen zu haben. Er atmete schwer, hatte die Augen geschlossen und hielt sich die linke Seite. Sein sonst in alle Richtungen abstehendes Haar hing ihm feucht und lang in den Nacken und klebte an seinen Wangen. Okita lachte kalt.

"Sieh an. Shido-san, mein alter Freund. Das trifft sich gut. Ein wenig schwach auf der Brust heute?"

Shido biss die Zähne zusammen. Und als er jetzt die Augen öffnete und den Blick seiner dunklen Augen auf Okita richtete, da waren eine Entschlossenheit und Wut darin zu erkennen, die Madoka erstaunte und den Shinsengumi-Samurai einen Augenblick sprachlos machte. Shido stieß sich von der Wand ab. Und obwohl es ihm unsägliche Pein bereiten musste stand er nun völlig frei und aus eigener Kraft da.

Madoka starrte ihn an. Wie kam er überhaupt hierher? War er nicht mit Takeo zum Hafen hinuntergeritten? Und wer hatte ihn so schwer verletzt? Woher nahm er die Kraft noch zu stehen? Hunderte von Fragen - und keine einzige Antwort. Okita pfiff leise durch die Zähne.

"Ich bin beeindruckt. Du bist nach wie vor ein zäher Bursche, Kanzaki. Doch wie ich sehe, hat man mir schon vorgegriffen, was deine Verletzungen betrifft." Er lachte leise und vollkommen gefühllos.

"Doch jetzt werde ich es beenden. Hab keine Angst, mein Freund. Dein Leiden hat gleich ein Ende."

Er lächelte Shido an - und trat ihm dann unvermittelt die Beine unter seinem Körper weg! Der junge Mann ging schwer zu Boden. Er krümmte sich, aber nicht ein Laut der Qual kam über seine Lippen.

"M... Madoka... Lauf... Geh zu... Takeo...", flüsterte er.

Doch Madoka, noch immer mit gefesselten Händen, stand hinter Okita und schaute mit blankem Entsetzen zu ihrem Freund hinunter. Etwas, von dem sie nicht so ganz verstand was es war, fand hinter ihrer Stirn statt. Ein Vorgang, der etwas vollkommen Irrsinniges zur Folge haben würde, wenn sie nicht auf der Stelle genau das tat, was Shido ihr geraten hatte und floh. Aber sie blieb, wo sie war, starrte mit weit aufgerissenen Augen hinab, während Okita erneut sein Schwert zog und es singend hoch über den Kopf schwang.
 

Und Shido öffnete die Augen.

Sein Haar wirkte beinahe schwarz und war ihm feucht über das Gesicht gefallen. Sein Stirnband hatte er verloren. Blut lief aus einer bösen Platzwunde an seiner Schläfe über die Wange und Lippen, lief ihm in dünnen Rinnsalen in den geöffneten Mund. Er stöhnte leise. Doch jetzt sah er sie direkt an. Unverwandt. Unbeirrbar. Sein Blick saugte sich an ihrem fest - und es stand so viel... verzweifelte Liebe darin...

Madokas Augen füllten sich mit Tränen.

"Es... tut mir Leid..., Madoka...", sagte er dann leise.

Und jetzt fühlte die junge Frau plötzlich einen Zorn in sich aufwallen, den sie zuvor noch nie empfunden hatte - und von dem sie auch nicht wirklich wissen wollte, woher er kam. Ohne nachzudenken sprang sie nach vorn, stieß Okita zur Seite, der jedoch nicht übermäßig überrascht wirkte. Er machte einen Ausfallschritt und hatte sofort sein Gleichgewicht wiedererlangt. Madoka

selbst, durch ihren eigenen Schwung nach vorn gerissen, taumelte ein gutes Stück an ihm vorbei, stolperte und fiel - direkt neben Sanjis Leiche und buchstäblich mit der Nase auf das große Küchenmesser.

Sie sah sich hektisch um und bemerkte, dass Okita sich wieder Shido-san näherte, der sich nun in eine halb sitzende, halb liegende Position aufgerichtet hatte.

"Stirb, du Verräter!", brüllte der junge Shinsengumi-Krieger.

Und Madoka schloss ihre gefesselten Hände um das Messer. Kühl und feucht fühlte es sich in ihrer Handfläche an. Sie erhob sich, wandte sich herum. Auch jetzt wusste sie kaum, was sie tat. Im Nachhinein versuchte sie später ständig zu rekonstruieren, was ihr bewusstes Selbst abgeschaltet und ihre Instinkte geweckt haben mochte. Sie war sonst nie der impulsive Typ gewesen. Und sie war schon gar kein gewalttätiger Mensch. Doch jetzt schien ihr das bisher vorhandene Gewissen abhanden gekommen zu sein. Sie sah nur noch Shido, wie er in seinem Blut dalag, unfähig sich zu rühren.
 

Sie lief los.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie in Shidos schreckgeweitete Augen - und auch Okita hatte noch Zeit herumzufahren und das Schwert zu senken. Doch zu mehr reichte es für den jüngsten Kommandanten, den die Shinsengumi je gehabt hatte, nicht mehr.

Madoka lief weiter, rammte ihm das Küchenmesser in vollem Lauf in den Bauch. Das Gefühl, mit dem die Klinge in das Fleisch eindrang, und auch der Schrei, der daraufhin dicht neben ihrem Ohr ertönte, würden sie ihr ganzes Leben lang verfolgen, das wusste sie.

Madoka stürzte. Ihre Hände waren voller Blut und sie starrte sie ungläubig an, konnte selbst nicht ganz glauben, was sie da gerade getan hatte.

Okita stand stocksteif da. Sein Blick glitt beinahe ebenso ungläubig wie der von Madoka an sich selbst hinunter, blieb an dem Griff des Messers hängen, der aus seinem Bauch hervorragte. Er blutete nicht einmal sehr stark. NOCH nicht.

Okita Soji hob mühsam den Kopf. Er sah Madoka an - vollkommen fassungslos. Schmerz schien er keinen zu empfinden oder aber er war für ihn derart unwichtig neben der Tatsache, dass...

"... ein... Mädchen...?", fragte der junge Mann flüsternd, scheinbar verwirrt, und Blut rann aus seinem Mund und über sein Kinn. Er konnte einfach nicht glauben, dass einer jungen Frau das gelungen sein sollte, was so vielen Schwertkämpfern bislang versagt geblieben war.Er brach lautlos in die Knie, fiel dann schwer zur Seite und blieb reglos in einer immer größer werdenden Pfütze seines eigenen Blutes liegen.
 

Madoka zitterte. Was hatte sie getan?

Der Regen ging flüsternd um sie herum nieder. Das Grollen des Donners schallte dumpf und nun von weiterer Ferne herüber. Auch die Blitze zuckten nicht mehr so oft. Es war, als würde das Unwetter für eine Sekunde innehalten, um dem Mädchen mit dem Blut an seinen Händen noch bewusster zu machen, was es gerade getan hatte und dass kein Regen der Welt seine Schuld mehr würde fortwaschen können. Madoka wimmerte leise.

War es das, was Takeo immer wieder empfunden hatte, als er so viele Leben auslöschte?

Sie begann, wie eine Besessene die Hände an ihrer Kleidung abzureiben, versuchte verzweifelt das Blut abzuwischen. Sie rieb und rieb, kroch auf allen Vieren und wie ein kleines Kind heulend zu einer Pfütze in ihrer Nähe, tauchte die Hände hinein und versuchte sich das Blut mit Erde und Wasser abzuwaschen. Es ging nicht.

"Es geht nicht!", jammerte sie, nur noch Nuancen davon entfernt zu schreien.

"Es geht nicht, es geht nicht... Mmmmnnhh... Ich... rieche es... Das Blut... Ich will es nicht! So... schmutzig! Ich wollte das nicht!"

Sie wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, ihre Tränen mischten sich mit dem Wasser des Regens auf ihren Wangen. Sie starrte ihre Hände an und wiederholte immer und immer wieder dieselben Worte: "Ich wollte das nicht! Ich will nicht!"

Shido hatte in stummem Entsetzen verfolgt was soeben geschehen war. Und Madokas Nervenzusammenbruch überzeugte ihn von einer Vermutung, die er schon früher von ihr gehabt hatte: Sie hatte noch nie zuvor einen Menschen getötet. Und das Gefühl, was sie nun empfinden mochte, ähnelte wahrscheinlich stark eben jenen Empfindungen, die er selbst gehabt hatte als ER zum erstem Mal Blut an seinen Händen fühlte, das nicht sein eigenes war...

Madokas Augen blickten starr. Sie war in eine Art Wahn verfallen. Unablässig stieß sie dieselben Worte hervor. Unablässig rieb sie ihre Hände im Dreck. Sie würde den Verstand verlieren, wenn er nichts unternahm.

Shido-san kroch - ebenso wie sie zuvor - auf allen Vieren langsam auf sie zu. Es war ihm gleichgültig, dass er sich dabei von oben bis unten mit dem Schlamm besudelte, in den sich mittlerweile die Erde des Hinterhofes verwandelt hatte, und es war ihm auch egal, dass die Wunde an seiner Seite einen reißenden, feurigen Schmerz durch seinen gesamten Körper schickte. Mit zusammengebissenen Zähnen kroch er zu Madoka hinüber. Als er sie erreichte richtete er sich mühsam in eine sitzende Position auf. Er ergriff ihre zitternden, zuckenden Hände.

"Madoka... Du... darfst jetzt nicht den Kopf verlieren! Madoka! Sieh mich bitte an!"

Seine braunen Augen waren groß und dunkel.

"Was du getan hast..., Madoka... Du... hast mir das Leben gerettet! Bitte! Was du getan hast... war nicht falsch..."

Jedenfalls war es das nicht von seinem Standpunkt aus. Er würde nicht mehr leben, hätte sie es nicht getan. Doch plötzlich hatte er Angst.

Die ganze Zeit, während des Kampfes am Hafen und auch hier, als er sich auf das Gelände des "Chochin" geschlichen hatte, hatte er nicht ein einziges Mal richtig Angst verspürt. Nicht einmal, als man ihn verwundete. Keine Angst um sich selbst, keine wirkliche Angst um seine Freunde, die um ihr Leben kämpften... Da war eine wilde Entschlossenheit in ihm gewesen, die alles andere zurückdrängte. Adrenalin hatte den Rest erledigt. Doch jetzt, zum ersten Mal, verspürte er wirkliche, handfeste, nackte Angst, als er in Madokas leere Augen blickte. Angst um sie.

Würde er sie verlieren?

Es war eine Angst, die er nie zuvor gekannt hatte. Und er hätte viel darum gegeben, sie nie kennen lernen zu müssen. Doch da war sie, die junge Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben - und verflucht sollte er sein, wenn er sie jetzt im Stich ließ! Er dachte an Takeo - und daran, was er dem Freund versprochen hatte. Er sollte sich um Madoka kümmern. Und er würde es verdammt nochmal tun. Auch wenn er sie liebte und es doch nie jemandem sagen konnte.

Nein, gerade WEIL er sie liebte!
 

Es tat beinahe körperlich weh ihren Schmerz zu sehen. Sein eigener trat vollkommen in den Hintergrund. Und ohne weiter darüber nachzudenken zog er sie in seine Arme, presste sie fest an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem regennassen Haar und flüsterte nur immer wieder ihren Namen, sprach beruhigend auf sie ein. Es war ihm gleich, ob da noch Soldaten der Shinsengumi waren, die ihn jederzeit von hinten angreifen konnten. Er vergaß alles um sich herum, seinen Schmerz, den Kampf, seine Freunde...

Was zählte war sie.

"Ich liebe dich, Madoka... Bitte bleib bei mir..."

Er weinte.

Er hatte noch nie geweint. In seinem ganzen Leben noch nicht. Aber jetzt konnte er es nicht aufhalten und schämte sich seiner Tränen auch nicht.

Ein leises Wimmern drang an sein Ohr. Als Shido den Kopf hob, da sah sie ihn an - noch immer furchtbar entsetzt und fassungslos und mit einer Kälte, die dort zuvor nie gewesen war, aber

doch ohne diese schreckliche Leere, die ihre Augen zuvor ausgefüllt hatte. Auch sie weinte.

Erneut und sehr viel heftiger schloss er sie in die Arme.

Und so saßen sie lange Zeit inmitten des herabströmenden Regens im Schlamm, hielten sich umklammert, als gelte es in dem Meer aus Chaos und Gefühlen, das sich um sie herum aufgetan hatte, nicht unterzugehen, und weinten, weinten bis sie keine Tränen mehr hatten. Um sie her mischte sich das Blut der Opfer mit dem Regen. Die restlichen Soldaten waren beim Tod ihres Anführers geflohen. Es war vorbei. Zumindest der Kampf in unmittelbarer Nähe schien durch Okitas Tod ein jähes Ende gefunden zu haben.

Absolution - Brother, where are though

Takeo hatte sich einen Weg bis zum Ufer des Hafenbeckens freigekämpft. Dort, so wusste er, focht sein Bruder Mamoru inmitten einer Gruppe schwarzgewandeter Ninja. Die Anzahl der Opfer in unmittelbarer Nähe dieser Kampfformation war beträchtlich.

Takeo stieg, während er sein Schwert wild um sich kreisen ließ, über die Leichen der vor ihm gefallenen Soldaten hinweg. Es war ein abgrundtief widerwärtiges Gefühl - mehr als einmal kam er ins Straucheln und konnte nur noch mit Mühe einen heimtückisch auf diese vorübergehende Schwäche abgezielten Angriff abwehren. Der unablässig herabströmende Regen und der böige Wind machten ihm zusätzlich schwer zu schaffen. Er blutete aus zahlreichen kleinen, jedoch auch zwei größeren Schnittwunden an Oberschenkel und Schulter. Seine Kampfausrüstung hing in Fetzen, den

Bein-Schutz auf beiden Seiten und den von seinem Schwertarm hatte er bereits verloren. Auch die Verletzung an seiner Brust war wieder aufgebrochen und machte dem jungen Samurai mehr zu schaffen, als er es zugeben wollte - als er zuzugeben bereit war. Er hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen.

Und mit grimmiger Entschlossenheit schlug er eine Schneise der Zerstörung in die Wand aus sich ihm entgegenstellenden Feinden. Die Tatsache, dass er mit verkehrter Klinge kämpfte bedeutete nicht, dass er seine Gegner verschonte. Takeo konnte diverse Knochen unter seinen wohlgezielten Hieben brechen hören und der eine oder andere Kämpfer brach vollkommen reglos zusammen. Doch auch der junge Samurai, dessen Kleidung und Haut nun dermaßen blutbesudelt waren, dass sie sich in der Farbe kaum von dem dunklen Rot seiner Haare unterschieden, hatte viele Hiebe und einige Treffer hinnehmen müssen.

Sein Atem ging schnell. Es hatte nicht sehr lange gedauert, bis er wieder in diesen ihm wohlbekannten Rhythmus von Zuschlagen, Parieren und Decken gefallen war, der ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Es war völlig unwichtig wie viel Zeit seit seinen Aktivitäten als Attentäter vergangen war - jetzt und hier kehrte Yamazaki Takeo zu seiner alten Stärke und Wendigkeit zurück. Er wurde vielleicht getroffen - und er war beileibe nicht unverletzlich oder gar unbesiegbar - aber die Gegner hatten meist kaum mehr Zeit als für einen einzigen Hieb.

Takeo mähte rund um sich her die Männer nieder, als wären sie nichts anderes als Kornähren, die er mit seiner Sense schnitt. Wer den "Roten Schatten" noch niemals kämpfen gesehen hatte, der wusste nicht, was einen wahren japanischen Schwertmeister ausmachte. Und doch - und das war ihm wichtig - war er vollauf bei Verstand. Es war nicht so, dass er als Hitokiri die Nerven verloren hätte - aber die Wut und der Rausch des Kampfes hatten ihn immer dermaßen beflügelt, dass er

weder Schmerz noch Tod gefürchtet hatte. Er hatte sich hinreißen lassen, hatte sich von seinem Zorn, den er damals für so gerecht hielt, mitreißen lassen. Und er war blind drauflosgestürmt, hatte niedergemetzelt was ihm im Wege stand - fortwährend die schmerzverzerrten Gesichter seiner so

schmachvoll ermordeten Zieheltern vor Augen.

Doch jetzt, Jahre später, verspürte er zwar auch Zorn - aber er war nicht so weltvergessen und alles verzehrend, wie das, was er damals empfunden hatte. Im Gegensatz zu seiner Zeit als Attentäter hatte er nun etwas, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnte - nicht nur bloße Rache.

Es war für Madoka. Es war für seine Freunde.

Und es war für Mamoru...

Für Madoka würde er kämpfen, für sie sterben, wenn es nötig sein sollte. Und er würde buchstäblich ALLES tun, um seinen Bruder zur Vernunft zu bringen, ihn als Menschen und als nächsten Verwandten wiederzugewinnen. Er war alles, was ihm von seiner glücklichen Kindheit geblieben war.

Alles, was ihn noch an seine Familie, seine Eltern erinnerte. Es war nicht mehr jene Bewegung von kaisertreuen Soldaten, die gegen die berüchtigte Shinsengumi und das Shogunat antrat, die sein Ansporn, sein Grund zum Schwert zu greifen darstellte. Nein, es waren diese ihm so wichtigen Menschen, die ihn zwar zum gefürchtetsten Schwertkämpfer auf diesem Schlachtfeld werden ließen, zugleich aber auch zu dem mit den vielleicht ehrenhaftesten und wichtigsten aller Absichten.

Er kämpfte um zu schützen. Nicht um zu töten.
 

Und als er das erkannte, unablässig weiterkämpfend, die blauen Augen fest auf den roten Haarschopf seines Bruders geheftet, da wusste er, dass er sein Ziel erreicht hatte. Seine Schuld würde niemals vollends getilgt sein. Aber sein Leben hatte wieder einen Sinn gefunden. Sein SCHWERTKAMPF hatte

wieder einen Sinn gefunden - oder überhaupt das erste Mal in seinem Leben. Wie hatte er auch nur EINE Sekunde daran denken können es aufzugeben, nur weil er dabei sterben könnte? Das hätte er vorher auch schon gekonnt.

Noch ein, zwei gewaltige, geschickt geführte Schwerthiebe - und dann stand er vor ihm. Genau wie damals, als Mamoru ihn festnehmen ließ. Und wieder war es der Hafen von Kyoto, der Zeuge der Auseinandersetzung werden würde. Es war, als würde der Kampf rings um sie her in den Hintergrund treten und tatsächlich leiser, unwichtiger werden.

Da standen sie nun. Zwei Brüder, wie sie sich ähnlicher nicht sein konnten - und die zugleich die unterschiedlichsten Wesen in sich bargen, die man sich nur vorstellen konnte. Zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Dunkel und hell.

Mamorus Gesichtsausdruck war unergründlich. Er sah Takeo schweigend entgegen. Auch Takeo schwieg. Er hatte sich trotz der nun starken Schmerzen hoch aufgerichtet, das Schwert auf die Brust seines Bruders gerichtet. Der Wind peitschte Takeos langes Haar und ließ die Klinge erzittern. Beide Männer waren vollkommen durchnässt und über und über mit Blut besudelt, ein Bildnis in schiefergrau und scharlachrot wenn ein Blitz die Szenerie erhellte.

Dann traten hinter Mamoru ein paar seiner Ninja-Kämpfer hervor, entschlossen sich auf den verhassten Feind zu stürzen - doch Mamoru hob die Hand.

"Haltet euch da raus!" Seine dunkelblauen Augen fixierten die des Zwillingsbruders, welche dieselbe Farbe hatten, jedoch einen gänzlich anderen Ausdruck zeigten.

"Dies ist mein Kampf."

Mamorus Blick zeugte von einer Wut und einem Hass, der tiefer gehen mochte, als man es sich vorstellen konnte, während Takeos Augen seine innere Zerrissenheit deutlich widerspiegelten: Würde er gegen den eigenen Bruder wirklich bis zum Tod kämpfen müssen? Gab es keinen anderen Weg, ihn zur Besinnung zu bringen?
 

Mamoru war nicht böse. Jedenfalls nicht nach Takeos Auffassung. Er war in seinem Leben misshandelt und auf übelste Weise enttäuscht worden, das hatte ihn verbittert und hasserfüllt werden lassen. Und er hatte sich das erstbeste Ziel für seine Wut gesucht, dass er kannte: Seinen Bruder. Takeo.

Und er selbst? Konnte Takeo jemals verzeihen, was Mamoru so vielen Menschen, darunter auch Madoka und Shido-san, angetan hatte? In seinem Zorn und seiner blinden Wut, entfacht durch Madokas verletzten Anblick und die Annahme, ihr niemals wirklich nahe sein zu können, hatte er damals, während der Auseinandersetzung bei Lord Ysidros Anwesen, die Beherrschung verloren. Wenn Shido ihn nicht zurückgehalten hätte wäre Mamoru jetzt tot. Doch nun, wo Takeo erfahren hatte, was wirkliche, wahre Liebe war, was es bedeutete für den anderen da zu sein, was VERZEIHEN bedeutete - denn er wurde geliebt TROTZ seiner vielen Fehler und seiner Vergangenheit - nun war er bereit auch Mamorus Vergangenheit, seine verzweifelten Taten, zu akzeptieren. Er wollte ihn nicht töten. Wenn er ihm vielleicht auch nie vergeben konnte - umbringen wollte Takeo ihn nicht.

Er war SEIN BRUDER. Sein EINZIGER noch lebender Verwandter. Und Blut war nun einmal dicker als Wasser.

"Mamoru...", sagte Takeo leise und im Toben des Kampfes und dem Heulen des Windes um sie herum verlor sich seine Stimme beinahe. "Mamoru, ich will nicht gegen dich kämpfen. Komm mit mir. Bitte. Lass und reden..."

Mamoru spie aus. Direkt vor Takeos Füße.

"Und ich will es zu Ende bringen, mein "lieber" Bruder! Alles was ich will ist, dich leiden zu sehen! Ich werde dich heute und hier, vor aller Augen, dafür büßen lassen, was du mir angetan hast!"

Seine Stimme klang rebellisch, jedoch seltsam heiser. Vor Zorn? Oder war da vielleicht noch etwas anderes... Etwas, was Takeos Bruder mühsam zu unterdrücken, zu verstecken versuchte?

"Was habe ich dir getan, außer vielleicht zu glauben, dass du tot seiest? Was habe ich denn getan, außer um dich zu trauern und mich Jahre später wild zu freuen, dass mein Bruder noch lebte? Ich frage dich: WARUM hasst du mich so, Mamoru? SIEH MICH AN, VERDAMMT NOCH MAL!"

Takeo war näher getreten und schleuderte ihm die Worte mitten ins Gesicht. Mamorus Lippen bebten. Seine dunklen Augen blitzten.

"DU hast mich im Stich gelassen!", war alles was er hervorstieß.

"Du hast mich allein gelassen, als ich dich am meisten brauchte!"

"Mamoru, ich wäre zu dir gekommen! Aber du warst nicht mehr dort wo ich dich in jener Nacht zurückließ als ich kam! Und sie sagten mir, dass du..."

"Du warst ZU SPÄT!", schrie Mamoru nun außer sich. Sein Gesicht war wutverzerrt. Regen strömte über seine und Takeos Züge, reflektierte das Licht der aus dem dunklen Himmel herabzuckenden Blitze, als hätten sie eine Art bizarrer Masken auf.

"VIEL ZU SPÄT! Und jetzt ist all das nicht mehr wirklich von Belang - denn nun bist du ohnehin mein Feind! Wir KONNTEST du nur die neue Regierung unterstützen? Was für einen Lohn versprichst du dir davon, wenn du Männern wie dem senilen und feigen Sayan Shigeru..."

Takeo trat ohne Vorwarnung vor und schlug ihm heftig über den Mund. Mamoru zuckte nicht zurück.

"Wage es nicht, schlecht von meinem Mentor zu sprechen!"

Erneut spuckte Mamoru aus. Diesmal sein eigenes Blut.

Erschrocken blickte Takeo auf seine erhobene Hand. Er war einfach zu impulsiv. Noch immer lauerte der Hitokiri in ihm, den er längst für Vergangenheit gehalten hatte. Irgendwo, in einer winzigen Ecke

seiner Seele wartete der Attentäter. Wartete auf seine Chance erneut hervorzutreten und Blut zu fordern. Er hatte wirklich geglaubt... Nachdem er Madoka...

Takeo schüttelte irritiert den Kopf. Er MUSSTE das hinter sich lassen!
 

Er ließ die Hand sinken.

Mamoru lachte. Es war ein leiser, äußerst herablassender Laut. Er stieß Takeo von sich und höhnte:

"Und du willst der "Rote Schatten" sein, von dem sie sprechen? Das ist einfach nur lächerlich. Ein paar Hiebe mit den Fäusten austeilen? Ist das alles was du drauf hast, mein "Bruder"?"

In seinen letzten Worten lag so viel Verachtung, wie sie Takeo noch nie bei einem Menschen gehört hatte.

"Du bist ein NICHTS! Ein Niemand!", schrie Mamoru, jetzt wieder vollkommen außer sich.

"Allein dich anzusehen macht mich krank! Kannst du mir vielleicht mal erklären, wen sonst auf der Welt ich hassen sollte, wenn nicht dich? Weißt du, was man mir angetan, was man mir genommen hat? Es geht hier nicht nur um die Misshandlungen, die man mir zufügte. Nicht einmal um die Vergewaltigungen und die Foltermethoden, denen man mich unterzog. Nein, man hat mir meine KINDHEIT genommen! Sag mir, warum habe ich, der ich mich aus der Gosse hochgearbeitet habe, nichts und du, der alles hätte erreichen, der ALLES hätte haben können, warum du dich dafür entschieden hast Leute im Auftrag einer völlig aus der Luft gegriffenen Regierung zu ermorden? Du

wurdest ja sogar berühmt für deine Taten!"

"Be... rühmt...? Mamoru, was REDEST du denn..."

Doch Takeo wurde sofort wieder unterbrochen. Mamoru schien sich in Rage geredet zu haben.

"Oh, doch berühmt, Takeo! ICH wollte so werden wie du. Das war bereits in unserer Kindheit so. DU warst mein Vorbild. Und du hast alles zerstört. Du hast dich zum Hampelmann der Revolution gemacht! Schwach, sehr schwach. Ich selbst habe mich dann bei der Shinsengumi als Samurai verdingt und bin in ihrer Hierarchie aufgestiegen - und was musste ich feststellen? Dass mein

"geliebter" Bruder für die Gegenseite kämpft und nicht nur das, nein, er war MAßGEBLICH an der Durchsetzung der verdammten Meiji-Gesetze verantwortlich! Diese Regierung verdankt dir ALLES, Takeo! Niemand beachtet jedoch was ICH für das Shogunat getan habe! Niemand zollt mir den Respekt, den ich verdiene! Dabei umfasst MEINE Lebenserfahrung weit mehr Bereiche und

Ereignisse, als dein kümmerliches Dasein als Hitokiri."

Schwer atmend stand er Takeo gegenüber.

"Ich werde dich töten. Nicht allein deshalb, weil du mich damals im Stich gelassen hast, nein. Sondern auch weil du jenes vollkommene, intakte Bild von dir zerstört hast, das ich in mir hatte. DU WARST IMMER MEIN VORBILD! Doch jenes perfekte Bild von dir, auf dem du für mich beinahe unerreichbar und unantastbar warst, ist zerstört worden. Für immer. DAFÜR hasse ich dich! Dafür, dass du trotz allem mehr Glück im Leben hast als ich. Dafür, dass du geliebt wirst, OBWOHL du so eine dunkle Vergangenheit hast. Dafür, dass du NIEMALS verstehen wirst, was ICH durchgemacht habe! Ich HASSE dich!"

Und Takeo erkannte mit schreckgeweiteten Augen, dass sein Bruder nahe daran war, in den Wahnsinn abzudriften. Er erkannte auch, wie unglaublich einsam jener Mensch sein musste, der hier vor ihm stand und ihm so ähnlich sah. Warum hatte er niemals etwas von dieser tiefen Verbitterung gespürt, wenn sie sich gegenüberstanden? Der Zorn und das Selbstmitleid hatten einen dunklen, abgrundtiefen Krater in seiner Seele entstehen lassen, in den der junge Mann nun abzustürzen drohte. Alles, was Mamoru antrieb war NEID. Der Blanke Neid auf ein Leben, dass er hatte führen wollen und es nicht gekonnt hatte, und von dem er nicht verstand, warum Takeo es nicht einfach geführt HATTE, der es jedoch sehr wohl gekonnt hätte...

Takeo KONNTE Mamoru nicht für diesen Neid hassen. Nein, er konnte ihn sogar verstehen. Aber was geschehen war, ließ sich nun einmal nicht mehr rückgängig machen. Wenn Mamoru JETZT nicht zur Besinnung kam, dann würde er schlicht und ergreifend verrückt werden. Wahnsinnig. Und vielleicht hätte Takeo seinen Bruder dann WIRKLICH und unwiderruflich verloren.
 

Er wollte vortreten, wollte Mamoru berühren, ihm irgendwie klar machen, dass er nicht allein war - dass er es in Wahrheit nie gewesen war. Aber Mamoru wich zurück. Sein Blick flackerte.

"Bringen wir es zu Ende!"

Und er hob die Klinge, wollte sich ohne Umschweife auf seinen verhassten Bruder stürzen - als wie aus dem Nichts plötzlich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt vor ihm auftauchte. Den Rücken zu Mamoru blieb er mit ausgebreiteten Armen stehen.

Er. Der "Wolf von Mibu".

Aber wie sah er aus! Saito war überhaupt nur daran zu erkennen, dass er sein Schwert auf der

rechten Seite seines Waffengürtels trug, da er Linkshänder war. Seine Kleidung hing nur noch in Fetzen. Und er trug so üble Verletzungen, dass sich Takeo wunderte, warum er überhaupt noch lebte. Stellenweise konnte man das rohe Fleisch unter seiner aufgeschlitzten, zerschundenen Haut erkennen. Sein Körper schien eine einzige verbrannte Fläche aus schwärenden Wunden und strömendem Blut zu sein. Sein Gesicht... war eine rote Maske aus Schmerz und Wut. Seine Augen

funkelten und zeugten eindrucksvoll davon, dass sich tatsächlich noch immer Leben in seinem Körper befand - und er nicht etwa ein Dämon oder eine Geistererscheinung war.

Jedoch... Takeo wich unwillkürlich zurück. Da war NOCH etwas in Saitos Blick. Etwas Unaussprechliches. Etwas, das der junge Samurai noch nie zuvor gesehen hatte und das ihm

tatsächlich Angst machte. Takeo senkte sein Schwert.

Saito lachte. Es war ein widerliches, irgendwie "feuchtes" Geräusch, und über seine Lippen rann ein dünnes Rinnsal von dunklem Blut. Der Ausdruck in seinen Augen... Flackerte der Wahnsinn in ihnen?

"Habe ich dich endlich gefunden, "Roter Schatten".", sagte Saito langsam und brachte das Kunststück fertig, trotz der höchstwahrscheinlich qualvollen Schmerzen die er verspürte, zu lächeln und zufrieden zu wirken.

"Saito!", rief Mamoru und wollte sich an ihm vorbeischieben. "Verschwinde! ICH werde Takeo..."

"Yamazaki...", unterbrach ihn Saito leise, beinahe lauernd. "Lass mich das erledigen. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass jemand wie du den Hitokiri besiegen könnte."

Zumindest in seinen letzten Worten lag unüberhörbarer Hohn. Mamoru knurrte wütend.

"Saito...", zog Takeo nun ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich.

"Geh. Das ist eine Sache zwischen mir und meinem Bruder."

Der "Wolf von Mibu" hob verächtlich eine Augenbraue.

"Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen. Du musst erst an mir vorbei."

Takeo trat vor.

"Erzähl mir nicht, dass du Mamoru beschützt, Saito. Ich kann mir nicht vorstellen, das jemand wie du je eine andere Person außer sich selbst schützt."

Erstaunlicher- und unerklärlicherweise schien dies Saito noch viel mehr zu erheitern als die Tatsache, dass er Takeo gestellt hatte. Er lächelte abgrundtief böse - zog ohne weitere Vorwarnung sein Schwert. Aber nicht, um es auf Takeo zu richten, wie der junge Samurai voll eisigem Schrecken bemerkte.
 

Plötzlich schien sich alles in Zeitlupe abzuspielen und hundertmal langsamerals normal, so als wäre er in seinem eigenen Albtraum gefangen und müsste hilflos zusehen, was sich vor seinen Augen abspielte. Er wollte sich bewegen - aber er kam kein Stück von der Stelle. Es war, als würde er versuchen durchein Meer aus klebrigem Sirup voranzukommen.

Saito drehte - scheinbar langsam - sein Schwert, um es in einer gewagten Bewegung unter seinem linken Arm hindurch mit beiden Händen nach hinten zu stoßen!

Mamoru hatte keine Chance.

Und noch während Takeo entsetzt den Mund öffnete, den Namen seines Bruders auf den Lippen, noch während die Zeit mit einem Mal wieder normal, beinahe sogar ZU schnell vor seinen Augen ablief, rutschte Mamoru von der Klinge, die sich tief in seine Brust gegraben hatte, und fiel schwer hinter Saito zu Boden. Er stöhnte gequält.

"Du hast Recht.", sagte Saito mit einem falschen Lächeln. "Ich beschütze Yamazaki nicht. Ich muss nicht einmal mehr so tun. Jetzt nicht mehr..."
 

Und in Takeos Seele raste der Attentäter heran. Er brach sich rücksichtslos einen Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins, verlangte brüllend und tobend nach RACHE. Schnell, brutal und unaufhaltsam. Takeo schrie. Es war der unmenschlichste Laut, den man sich vorstellen konnte. Pure Agonie und abgrundtiefer Hass sprachen daraus - und er riss sein Schwert empor, die geschliffene Seite nach vorn gerichtet, sprang vor und schlug nach Saito, der jedoch geschickt auswich.

"Ja!", brüllte Saito euphorisch.

"Ja! Hier ist er nun endlich! Der Hitokiri! Der Mörder! ENDLICH! Komm und zeig mir deinen Hass! KÄMPFE!"

Takeos Gesicht war nun nicht minder hassverzerrt, als es das seines Bruders noch vor wenigen Minuten gewesen war. Eine beängstigende, grobe und karikaturistische Fratze des Zorns. Abrupt ging er in die Knie.

"RYO-SHOSEN!", schrie der junge Samurai aus vollen Lungen. Dann stieß er sich mit jener für ihn so berüchtigten, unnachahmlichen Geschwindigkeit vom Boden ab, sprang geduckt auf den "Wolf" zu und führte einen vernichtenden Hieb gegen dessen Kehle aus, der diesen auf derStelle enthauptet hätte, wären seine Reflexe weniger schnell gewesen. Saito drehte den Oberkörper, doch die Klinge des Attentäters riss stattdessen seine Brust auf, schleuderte ihn zurück.

Doch der Hitokiri war noch nicht fertig mit ihm. Saito ging ein weiteres Mal in seinem Leben unter den wilden Hieben des Attentäters zu Boden, konnte nur noch sein Schwert als Deckung verwenden,

und es würde nur noch Sekunden dauern, bis der Hitokiri erreicht hatte, was er wollte und Saito endgültig starb. Doch...
 

"Ta... keo..."

Die Stimme war so leise, so voll von Schmerz und Scham, das sie eigentlich unmöglich zu hören sein durfte in all dem Chaos, das hier am Hafen herrschte. Aber Takeo hörte sie dennoch. Er hörte sie so laut und deutlich, als würde derjenige, der sie ausgesprochen hatte, direkt neben ihm stehen.

Er erstarrte, die blutige Klinge hoch erhoben, Regen und Wind peitschten ihm sein eigenes Haar ins Gesicht.

Er blinzelte. Und noch einmal hörte er die Stimme seines Bruders. Schwach und kraftlos, jedoch nun eindringlicher als zuvor.

"Takeo... Tu... es nicht. Bitte..."

Takeo atmete schwer. Er schloss die Augen. Und als er sie wieder öffnete, da war dieser brodelnde Hass in ihm einem hilflosen, aber gerechten Zorn gewichen, einer Wut, auf die er alles Recht der Welt hatte sie empfinden zu dürfen. Der Attentäter hatte sich grollend und um sich schlagend einmal mehr hinter die unsichtbare Grenze zurückgezogen, die Takeo ihm selbst auferlegt hatte. Er war noch da, und er würde nun vielleicht wirklich für immer bleiben, seine Seele vergiften und bei der kleinsten Gelegenheit aus ihm hervorbrechen - aber die unmittelbare Gefahr war gebannt.

Dank Mamoru...

Da Saito reglos am Boden lag und es keinen weiteren Grund für ihn gab noch an diesem Kampf teilzunehmen, ließ er die Arme nun sinken, das Schwert entglitt seinen kraftlosen Fingern, fiel klirrend zu Boden.

"Takeo..."

Takeo verspürte einen unaussprechlichen Schmerz in der Brust. Mit schweren, langsamen Bewegungen drehte er sich herum, ging neben seinem Bruder in die Knie.

"Takeo... Bist du es?"

Mamoru hustete qualvoll, spukte Blut.

"I... ich kann nichts sehen! Bist du hier? Takeo! Bitte... ich... kann dich nicht sehen..."

In Takeo zerbrach etwas. Er griff nach Mamorus kalter, blutbesudelter Hand, versuchte seiner Stimme, trotz der nun unablässig über seine Wangen rinnenden Tränen, einen zuversichtlichen, beruhigenden Ton zu verleihen, versuchte den grausamen Schmerz zu ignorieren, der ihn innerlich schier zu zerreißen drohte.

"Ja, Mamoru. Ich bin hier. Ich bin bei dir, Bruder."

Mamoru weinte.

"Ich habe Angst, Takeo! Ich... will nicht... sterben! Ich WILL nicht sterben!"

Takeos Griff um die Hand des Bruders wurde stärker.

"Takeo... Bruder ich bereue, was ich getan habe! Es tut mir Leid! Ich... weiß..."

Wieder dieses qualvolle Husten, und diesmal bäumte sich sein gesamter Körper zuckend auf. Der Schmerz musste unerträglich sein.

"Ich weiß, dass... ich niemals mehr ungeschehen machen kann, was ich... Aber..."

"Ruhig, Mamoru. Sprich nicht weiter. Ich weiß, was du mir sagen möchtest. Und es ist gut. Ich werde Hilfe holen und dann..."

"NEIN!" Der Schrei war so angstvoll und hilflos wie qualvoll.

"Nein! GEH NICHT FORT! BLEIB BEI MIR! BITTE, TAKEO!"

Der junge Samurai starrte auf den Bruder in seinen Armen hinab, sah, wie mit dem Strom dunklen Blutes auch unablässig das Leben aus ihm herausfloss. Selbst wenn er einen Arzt gefunden hätte - er war sich nicht sicher, dass dieser noch etwas hätte ausrichten können.

"Gut, Mamoru.", flüsterte er leise. "Ich bleibe bei dir. Ich werde dich nicht allein lassen. Niemals wieder."

Mamoru wimmerte. Seine Hände zitterten unkontrolliert und Takeo verbarg sie in seinen eigenen, hielt sie fest.

"Versprichst du... mir das?"

Takeo nickte, bis ihm wieder einfiel, dass Mamoru es ja nicht sehen konnte.

"Ja.", sagte er mit einiger Verspätung. "Ja, ich verspreche es dir."

Mamoru lächelte verkniffen.

"I... ich liebe dich, Bruder.", er flüsterte nur noch. "Ich habe dich IMMER geliebt. Doch du Idiot hast das nie bemerkt. Ich... habe nicht verstehen wollen, warum du nicht da warst, als ich dich so sehr brauchte, wo du... doch sonst IMMER bei mir warst. Ich habe dich so sehr geliebt, dass ich... nicht ertragen konnte..., dass... du ein Mörder geworden warst... Ich MUSSTE dich dafür hassen..."

Takeos Schultern zuckten. Er trauerte lautlos.
 

Er hatte es gewusst. Tief in Mamorus dunkler Seele, da weinte ein kleines, verletztes Kind, das

alleingelassen und enttäuscht worden war, das sich auf ihn, Takeo, verlassen hatte. Und das ihn in Wahrheit liebte. Er beugte sich vor bis seine Lippen nur noch Millimeter von Mamorus Ohr

entfernt waren.

"Ich liebe dich doch auch, Mamoru. Du bist mein Bruder! Nichts auf der Welt wird das je ändern können."

Mamoru hustete, krümmte sich und würgte. Rasselnd holte er Luft, womöglich das letzte Mal.

"Dann... verzeihst du mir? Ich war... so ein..."

Mamorus Körper bäumte sich auf. Seine Hände umklammerten die Takeos für ein paar Sekunden so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Dann fiel sein Leib zurück in Takeos Arme, der Kopf zur Seite, und die Hände erschlafften im Griff seines Bruders. Takeo ließ ihn behutsam auf den Boden gleiten. Er legte die leblosen Hände auf die stillstehende Brust, bedeckte sie dann mit seinen eigenen und beugte sich vor. Seine Stirn berührte die eigenen zitternden Finger.

"Ich... verzeihe dir, Mamoru..."

Und er weinte.

Er weinte und weinte, wie er noch nie zuvor geweint hatte und bis er glaubtekeine Tränen mehr zu haben. Er vermeinte sekundenlang einen seltsamen Widerhall seiner eigenen Trauer in der Luft und in sich selbst zu spüren, als würde jemand, der ihm nahe stand in diesem Augenblick ebenfalls trauern. Aber das Gefühl war zu schnell vorbei, um es wirklich einordnen zu können.

Er hob das Gesicht in den Regen, der seine Tränen abwusch, der seine hilflose Wut abkühlte und seinen Kopf klärte. Er wusste nicht, ob er jemals wieder würde lachen können.

Er schloss Mamoru die gebrochenen Augen, strich ihm sanft das blutrote Haar aus dem Gesicht.
 

"TAKEO!", gellte ein Schrei wie aus weiter Ferne zu ihm herüber. "TAKEO! HINTER DIR!"

Wie in Trance blickte der junge Mann auf und sah mit Riesensätzen, rücksichtslos die Kämpfer um sich herum zur Seite stoßend, Yasha auf sich zukommen. Er fuchtelte wild mit seinem Schwert, das irgendwie verändert aussah. Aber das alles registrierte Takeo nur am Rande, wie in einem Traum, dessen wirkliche und einzig relevante Handlung soeben geendet hatte und aus dem es dennoch kein Erwachen geben würde. Das alles war so... irreal.

Aus dem Augenwinkel nahm der junge Samurai nun einen Schatten war, der sich hinter ihm erhob und sich drohend über seinen Rücken, seine Schultern legte.

"Verrückter IDIOT!", schrie Yasha, hatte Takeo nun endlich erreicht und warf sich ohne auch nur eine Sekunde im Schritt innezuhalten auf jenen dunklen Schatten, den Takeo nun mit mäßiger Überraschung als Saito Hajime identifizierte. Er fragte sich, warum er immer noch leben konnte.

Aber die Frage hatte für ihn nicht mehr Relevanz, als es eine Frage nach dem Wetter gehabt hätte.

"SANKONTESSOU!"

Yasha hatte sich mit wehender Mähne auf Saito gestürzt und schwang seine Klauen. Sekundenlang hatte der wie erstarrt da hockende Takeo den Eindruck, als würden ihn dunkelrot glühende Augen aus Saitos misshandeltem Gesicht anstarren, dann fiel der Körper des "Wolfes" jäh über die Kaimauer und verschwand aus seinem Blickfeld. Er hörte nicht einmal einen Aufprall.

Yasha fuhr herum. Er wollte Takeo, der sich inzwischen erhoben hatte, anschreien, warum zum Teufel er seinem Feind so leichtfertig den Rücken hatte zudrehen können. Doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als er Mamorus leblosen Körper gewahrte.

Erst jetzt fiel ihm Takeos schmerzerfüllter, seltsam entrückter Gesichtsausdruck auf. Mit einem Satz war er bei ihm, schüttelte ihn grob an den Schultern.

"Takeo? Takeo! Los, komm schon zu dir! Wir müssen hier weg!"

Doch ohne Vorwarnung brach der junge Mann in Yashas Armen zusammen. Erschrocken fing der Halbdämon den Bewusstlosen auf.

"Yasha! Komm endlich! Wir müssen zurück!"

Das war Aurinias Stimme. Ohne viel Federlesens hob Yasha den Freund auf seine Arme und lief zu der Yosei hinüber, die neben einem bisher wie durch ein Wunder von den Flammen verschont gebliebenen Planwagen stehen geblieben war. Sayan Shigeru war an ihrer Seite. Sie hatte sich seinen Arm über die Schultern gelegt und stützte den Schwerverletzten, der augenscheinlich kurz davor stand erneut zusammenzubrechen.

Yasha legte Takeo auf den Wagen und half Aurinia dabei, auch Shigeru auf den Wagen zu setzen.

Dieser warf einen schmerzvollen Blick auf den jungen Mann, der ihm als Samurai im Dienste der Regierung treu ergeben gewesen war - auch wenn er sich selbst zu gern als unabhängig betrachtet hatte.

"Ist er...", wollte er mit brechender Stimme fragen, doch Yasha unterbrach ihn grob.

"Er lebt! Aber wir sollten hier schnellstens verschwinden, damit das auch so bleibt!"
 

Er stieß plötzlich einen schrillen Pfiff aus. Es dauerte nicht lange und der schwarze Schatten Akumas kam durch die Flammen auf sie zu. Das riesige Tier war ebenfalls offenbar unversehrt geblieben.

Aurinia warf Yasha einen fragenden Blick zu, den dieser jedoch geflissentlich ignorierte. Er bugsierte seine Freundin zu dem Pferd hinüber und bedeutete ihr aufzusteigen.

"Los! Es ist nicht genügend Platz für euch alle auf dem Wagen. Ich werde ihn ziehen!"

Und die Yosei sah ein, dass der Halbdämon Recht hatte. Um sie herum wütete das größte Feuer, dass Kyoto seit dem großen letzten Erdbeben vor ein paar Jahrzehnten erlebt hatte. Längst waren die Hütten in unmittelbarer Umgebung des Hafens zu Asche verbrannt. Die Flammen hatten sich gierig neue Nahrung gesucht und sie im Überfluss in den Wohnvierteln rund um das Hafengelände gefunden. In der dräuenden Dunkelheit des nach wie vor tobenden Unwetters leuchteten die Flammen gespenstisch und glichen einem Meer aus ineinander übergehenden Schatten und grellem Licht.

Auf See standen die großen Schiffe in hellen Flammen. Eines von ihnen sank und nur noch der Bug und einer der vorderen Masten ragten brennend aus den Wellen empor. Um sie her waren die meisten Kämpfe nun beendet. Der breite Platz des Kais war übersät mit Leichen, zuckenden Körpern und schreienden Männern, die das Leuchten der Flammen in blutiges Rot tauchte. Und überall war Blut. Der seltsam metallische Geruch und der Rauch stiegen Aurinia zu Kopf. Wie musste sich Yasha erst fühlen?

Hier und da rangen noch vereinzelt ein paar Schatten miteinander, Pferde strichen scheinbar verloren zwischen den blutbesudelten Leichen und abgetrennten Köperteilen umher. Als hinter ihnen berstend und krachend ein weiteres Haus einstürzte und einen Funkenregen über sie hinwegjagte, da schwang sich die Yosei entschlossen auf Akumas Rücken, beeilte sich Yasha zu folgen, der bereits die Deichsel des Wagens ergriffen hatte und sich einen Weg durch das Chaos bahnte.

Ja, es war wirklich besser wenn sie so schnell wie irgend möglich diesen Ort des Grauens verließen.

Was getan werden muss...

Madoka vermied mit aller Macht den Gedanken an die zurückliegenden Ereignisse, an das, was sie getan hatte.

Sie hatte sich nach ihrer Tat völlig in sich selbst zurückgezogen, schrie und weinte innerlich und zeigte nach außen hin verbissene Entschlossenheit in der Art, wie sie versuchte sich reinzuwaschen. Dass sie dies in dem Schlamm und der Erde auf dem Hinterhof des „Chochin“ versuchte war ihr nicht bewusst gewesen. Sie war vollauf damit beschäftigt, ihre Hände reinzuwaschen – und machte sie nur noch schmutziger dadurch. Wieso ging der Dreck nicht weg? So viel Blut! Verdammt! Es ging nicht weg!

Sie war Schuld.

Sie allein war Schuld. An allem.

Wäre sie nicht in diese Zeit gekommen, hätte sie Takeo und Shido-san nicht kennengelernt, dann wäre es niemals so weit gekommen und es hätte vielleicht auch nicht so viele unschuldige Opfer gegeben. Sie war Takeos Schwachpunkt und ihr wurde zum ersten Mal klar, warum er sie anfangs so gemieden hatte. Sie konnte es verstehen. Wäre er nur nie auf sie eingegangen…

Aber was klagte sie andere an? Wäre SIE doch nie auf IHN eingegangen! Wäre sie stark gewesen und ihm fern geblieben…

Sie war Schuld. Sie allein. So viele Menschen… So viele unschuldige Menschen waren ihretwegen getötet worden.

Und sie selbst hatte auch getötet… Sie selbst hatte…

Es war so grausam, so furchtbar, dass sie sich immer tiefer in sich selbst zurückzog. Ihr Äußeres wirkte in jenem Moment auf andere wie in Trance, wie in eine Art Wahn verfallen.
 

Als sie wieder klar denken konnte, hatte sie sich in Shidos Armen wiedergefunden,

verwirrt, verängstigt und unendlich traurig. Den klebrigen Fäden des Wahnsinns und der saugenden Schwärze der Verzweiflung war sie entkommen, dank der sanften, beruhigenden Worte Kanzakis, der sie in einer warmen Umarmung festhielt . Er sprach unablässig auf sie ein, sagte ihr, dass es nicht ihre Schuld gewesen sei, dass sie nicht anders hätte handeln können, dass es so oder so zu der Auseinandersetzung und zu diesem Bürgerkrieg gekommen wäre. Als könne er ihre Gedanken lesen fand er genau die richtigen Worte.

Letzten Endes war ihr auch selbst durchaus klar, dass sie wohl kaum anders hätte reagieren können als Okita anzugreifen, wenn sie nicht in Kauf hätte nehmen wollen, dass dieser erst

Shido-san und dann womöglich sie selbst tötete. Was sie getan hatte, war also nachvollziehbar. Vielleicht sogar gerechtfertigt. Aber in ihren Augen dennoch unentschuldbar.

Sie hatte gar keine Wahl gehabt. Dennoch wusste sie, dass Okitas gebrochene Augen sie ihr Leben lang verfolgen, vielleicht nicht einen Alptraum mehr auslassen würden, in denen sie sie anklagend ansahen. Sie hatte jetzt Blut an ihren Händen, das sie niemals mehr würde abwaschen können. Wie sollte sie jemals damit fertig werden?

Takeo tat es. Jeden Tag.

Er versuchte zu verarbeiten, hinzunehmen, was er getan hatte.

Ob nun einen Menschen oder viele: Sie hatten getötet. Das würde auch sie selbst von nun an ausmachen, ein Teil von ihr sein. Takeo lebte Tag für Tag um wieder gutzumachen, was er getan hatte, um zu sühnen und um zu schützen. Sie selbst musste ihren eigenen Weg finden, damit fertig zu werden.

Sie musste sich von dem Gedanken lösen, dass das was sie getan hatte falsch gewesen war. Im Gegensatz zu Takeos früheren Taten konnte man dies wirklich als Notwehr ansehen, da hatte Shido schon Recht. Doch BESSER machte es das trotzdem nicht. Mit Abscheu schaute sie auf sich sebst herab. War das noch die Madoka, die sie immer gekannt hatte? Sie hatte sich so verändert. Es hätte doch bestimmt auch einen anderen Weg gegeben…

Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte: Getan war getan. Sie konnte nicht rückgängig machen, was pasiert war. Sie musste nun lernen damit zu leben, genau wie Takeo es tat, nur auf ihre Art. Doch sie wusste, dass es noch eine sehr lange Weile dauern würde, bis sie das verarbeitet hatte. Vielleicht nie.
 

Shido und Madoka stützten sich gegenseitig, als sie langsam Seite an Seite die Straße entlangschritten. Nach wie vor strömte der Regen in wahren Sturzbächen vom Himmel. Jedoch blitzte und donnerte es nun nicht mehr so häufig wie noch vor kurzem.

Madoka war ein wenig verwundert, dass Shido sich noch so gut bewegen konnte. Er stützte sich zwar schwer auf die Schultern der jungen Frau, aber er ging dennoch aus eigener Kraft voran.

Sie hatte gehofft, dass wenigstens Kanoe noch lebte. Aber als sie auf die Straße hinausgetreten waren brannte das Haus bereits wie ein gigantischer Scheiterhaufen, aus dem es kein Entrinnen mehr geben konnte.
 

Shido stöhnte leise an ihrer Seite.

Was sie in Kanzakis Augen gelesen hatte, nachdem er sie in die Realität und aus dem Wahn, in den sie verfallen war, zurückholte, hatte sie über die Maßen irritiert. Und loslassen wollte er sie in diesem Leben anscheinend auch nicht mehr, denn sie musste schon beinahe mehr als sanfte Gewalt anwenden, um sich aus seiner Umarmung zu lösen. Danach hatte er recht verlegen ausgesehen - und sie hatte sich bemüht die Situation zu überspielen. Irgendwie.

Gemeinsam hatten sie das ohnehin bereits an vielen Stellen brennende "Aka-Chochin" verlassen. Sie hatten die grobe Richtung Hafen eingeschlagen, ohne indes wirklich zu wissen, wohin sie fliehen sollten.

Die Fehde, der Streit zwischen den beiden politischen Gegnern, war in einen Bürgerkrieg ausgeartet, in den auch unbescholtene Einheimische mit hineingezogen wurden. Die halbe Stadt brannte.

Und trotz des zu dieser Jahreszeit ohnehin bereits früher dämmernden Tages und der dunklen Wolkendecke am Himmel, herrschten beinahe grelle Lichtverhältnisse aufgrund der helllodernden Flammen, die sie umgaben. Es musste fast unmöglich sein jetzt noch zum Hafen durchzukommen.
 

Gerade als Madoka das Gefühl hatte nicht einen Schritt mehr weiterzukönnen und die Last von Shidos Gewicht sie niederzuringen drohte tauchten am anderen Ende der breiten und jetzt menschenleeren Straße einige Gestalten auf. Eine von ihnen zog einen Karren hinter sich her, jagte nichtsdestotrotz mit Riesensätzen dahin. Eine andere saß auf einem großen, nachtschwarzen Pferd.

Sie kamen schnell näher - und mit einem überraschten Ausruf erkannte Madoka den Halbdämon Yasha und ihre Freundin Aurinia.

Shido-san hob langsam den Kopf. Seine Augen schienen aufzuleuchten, als die Gruppe näher kam. Madoka ließ ihn los, überzeugte sich jedoch davon, dass er aus eigener Kraft stehen konnte.

Aurinia sprang von Akumas Rücken und lief auf Madoka zu. Die beiden Frauen umarmten sich kurz, aber sehr fest.

"Mein Gott, ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!", sagte Madoka

atemlos - und umarmte die Yosei gleich noch einmal. Aurinia lächelte.

"Dasselbe wollte ich auch gerade sagen. Yasha hat eure Herberge von weitem brennen sehen. Wir befürchteten schon das Schlimmste. Aber wie ich sehe bist du unverletzt."

"Was nicht unbedingt mir zu verdanken ist...", murmelte Madoka und schaute kurz zu Shido-san zurück. Aber sie hatte nicht vor, Aurinia von Okitas Tod zu berichten. Nicht jetzt - und vielleicht überhaupt niemals. Manche Dinge blieben besser ungesagt. Dies war eine Sache, die sie mit sich selbst und allerhöchstens noch gemeinsam mit Kanzaki-san auszumachen hatte.

So straffte sie sichtlich die Schultern und fuhr auf den fragenden Blick der Yosei hin nur fort:

"Ein Trupp der Shinsengumi hat uns angegriffen. Shido hat mich gerettet, bevor das Feuer das Haus vollkommen eingenommen hatte. Soweit ich das beurteilen kann, sind wir leider auch die einzigen, die entkommen konnten."

Aurinias Blick wurde schmerzlich. Sie sagte jedoch nichts. Madoka argwöhnte, dass die Yosei sehr wohl wusste, dass dies nicht alles war, was sie ihr erzählt hatte. Aber sie rechnete es ihrer außergewöhnlichen Freundin hoch an, dass sie nicht weiter in sie drang.

Yasha hatte den Karren abgestellt und kam zu ihnen herüber. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er das Mädchen ebenfalls umarmen wollen - doch er hielt sich zurück, nickte ihr nur zu.

Beide, sowohl Aurinia als auch der Halbdämon, sahen schrecklich aus: Verdreckt, blutbesudelt und rußgeschwärzt. Sie selbst dürfte hier jedoch keine Ausnahme machen.

Schuldbewusst fuhr sie zusammen und trat wieder an Shidos Seite, als sie bemerkte, dass er leicht schwankte.

"Shido-san ist schwer verletzt, wir sollten..."

"Ich sehe mir das mal an. Allerdings sollten wir zunächst aus der Stadt verschwinden. Legen wir ihn zu den anderen auf den Wagen und dann nichts wie raus hier!"

Aurinia trat ohne weitere Erklärungen an Shidos andere Seite. Yasha bedeutete Madoka, dass er sie ablösen wolle und half der Yosei dabei, den jungen Mann zum Wagen hinüberzuführen.

"Yasha, Aurinia, habt ihr Takeo gesehen? Wie ist es euch am Hafen ergangen?"

Madoka lief neben ihnen her und versuchte einen Blick in ihre Gesichter zu erhaschen - doch zumindest der Halbdämon wich ihr aus. Und Aurinia sah auch nicht gerade glücklich aus, als sie Madokas Blick erwiderte.

"Wieso... sagt ihr nichts? Was ist..."

Sie hatten den Karren erreicht und umrundet - und jetzt sog die junge Frau scharf die Luft ein.

Mit einem einzigen Satz war sie auf dem Wagen.

"Takeo! Um Himmels Willen! Takeo, was ist passiert!"

Sie hatte sich über ihn gebeugt, barg sein Gesicht in ihren Händen. Aurinia und Yasha halfen Shido dabei, sich auf den Karren zu setzen. Auch Shido-san hatte sich besorgt zu seinem Freund herumgedreht - wobei sein Blick auch auf den bewusstlosen oder schlafenden Shigeru fiel.

"Was ist mit...?"

"Sie leben. Beide.", unterbrach ihn Yasha. "Aber auch sie sind ziemlich schwer verletzt."

Er drehte sich herum, um erneut nach der Deichsel des Wagens zu greifen. Während er den Karren in Bewegung setzte murmelte er etwas, das sich anhörte wie: "Verletzt wie beinahe jeder hier von

uns..."

Rumpelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. Aurinia lief neben dem Karren

her, Akuma am Zügel. Madoka, die ob des beengten Raumes auf dem Wagen beinahe über Takeo hockte, permanent bemüht ihn ihr Gewicht nicht zu sehr spüren zu lassen, hatte keine Augen mehr für das, was um sie her geschah.

"Takeo...", flüsterte sie.

Shido sah zu ihr hinüber - und verspürte einen tiefen Schmerz irgendwo in seiner Brust, der nicht mehr aufhören wollte. Er ballte die Hände zu Fäusten.

Er durfte nicht darüber nachdenken.

Takeo war sein bester Freund. Er sollte sich lieber Gedanken über dessen Gesundheitszustand machen, als ihn um Madoka zu beneiden.
 

Doch erst als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, den dunklen Rand des nahen Waldes bereits vor sich, erlangte der junge Samurai scheinbar sein Bewusstsein wieder zurück. Takeo zuckte zusammen, als hätte er einen bösen Traum, und öffnete mit einem Ruck seine dunkelblauen Augen.

Madoka saß einfach da und starrte ihn an - unfähig sich zu rühren, so erleichtert war sie.

Takeo richtete sich mühsam auf seine Ellenbogen auf, schloss jedoch erneut gequält die Augen, als Kopfschmerzen ihn aus heiterem Himmel zu überfallen schienen. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte abgrundtief. Erst dann öffnete er erneut die Augen, sah sich aufmerksam um - bis sein Blick auf Madoka fiel.

Sie sahen sich an.

Es waren keine Worte nötig um das zu beschreiben, was sie nun empfanden oder um das auszudrücken, was sie sich nun sagen wollten. Takeo setzte sich vollends auf, ohne jedoch den Blickkontakt zu ihr abzubrechen. Er griff nach ihr und zog sie an sich.

Ihre Schultern zuckten, als sie stumm an seiner Brust weinte, zu erleichtert, um irgendetwas sagen zu können. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, flüsterte leise beruhigende Worte.

Dann küssten sie sich.

Sie küssten sich so heftig, als würde die Welt vor ihrem Untergang stehen und als gelte es, dem anderen noch ein allerletztes Mal zu zeigen, wie nahe man ihm sein wollte.

Mit säuerlicher Miene wandte Shido den Blick ab, sah nach vorn.
 

Als sie den Waldrand erreichten sprach Takeo Yasha an:

"Warte bitte, halt an!"

Ohne auf die Proteste seitens Madoka und auch Aurinia zu achten kletterte er vom Wagen und kam auf den Halbdämon zu, der tatsächlich stehen geblieben war.

"Wo ist Mamoru?"

Yasha sah ihn verständnislos an.

"Was?"

"Mamoru! Wo ist er? Du hast ihn doch wohl nicht am Hafen..."

"Jetzt hör mir mal sehr gut zu, Kleiner!", knurrte der Halbdämon äußerst ungehalten.

"Es galt dein Leben zu retten, falls du das verdrängt haben solltest. Denn Saito schien die unheimliche Version eines Steh-Auf-Männchens verschluckt zu haben und wollte dich just in dem Moment köpfen, als ich dich fand! Ich habe dich da rausgeholt, verdammt nochmal! Da konnte ich doch

nicht noch eine Leiche..."

Takeo trat vor und schlug ihm jäh die Faust ins Gesicht.

Doch Yasha wirkte nicht im Mindesten überrascht. Er wich nicht zurück. Im Gegenteil: Er hob die Hand und verpasste dem jungen Mann eine schallende Ohrfeige, dass sein Kopf herumgerissen wurde und das lange Haar nur so flog. Takeo taumelte und keuchte, jedoch eher vor Überraschung, als vor Schmerz. Yasha folgte ihm, riss ihn am Kragen zu sich heran, bis sich ihre Nasen beinahe berührten.

"Du bist so ein Vollidiot! Jetzt komm mal wieder runter! Was hätt ich denn machen sollen? Ich hatte die Wahl - du oder dein toter Bruder! Ich habe mich für dich entschieden! Und Saito..."

"Zum Teufel mit Saito! Ich werde meinen Bruder NICHT DORT UNTEN LIEGEN LASSEN, verstanden?", schrie Takeo zurück. Mit einem Ruck löste er sich von Yasha.
 

Madoka schaute entsetzt auf die Szene. Sie warf Aurinia einen fragenden Blick zu. Diese schüttelte nur leicht den Kopf. Später. Sie würde ihr später berichten, was sich am Hafen zugetragen hatte.

Madoka konnte es nicht fassen.

Mamoru war tatsächlich tot?

Hatte Takeo...

Nein. Sie warf nur einen einzigen Blick in sein von Trauer gezeichnetes, verzweifeltes Gesicht und wusste, er konnte es nicht gewesen sein der Mamoru getötet hatte. Nicht Takeo.

"Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Takeo.", sagte Yasha nun etwas ruhiger.

"Lass es gut sein. Wir können es nicht mehr ändern. Komm schon, wir werden im Wald Gelegenheit dazu haben eure Wunden zu versorgen und über alles zu reden..."

"Ich fürchte, du hast mich nicht verstanden.", unterbrach ihn Takeo, nun auch sehr viel ruhiger und mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die scheinbar nicht nur Madoka Angst einjagte.

Aurina trat vor.

"Takeo, bitte, lass es sein. Der Hafen... Es brennt buchstäblich überall dort unten! Selbst wenn du es schaffst dorthin zurückzukehren, so glaube ich kaum, dass dein Bruder nicht schon selbst ein

Opfer der Flammen geworden ist."

Takeo sah sie mit einem traurigen Lächeln an. Und nicht nur sie. Einen nach dem anderen sah er an mit einem Blick, der an Inbrunst und Trauer alles übertraf, was Madoka je gesehen hatte.

"Ich habe gar keine andere Wahl als zurückzukehren. Ich... habe es ihm versprochen. Ich bin es ihm schuldig. Ich darf ihn nicht schon wieder im Stich lassen..."

"Ich glaube, DU hast immer noch nicht verstanden, dass Mamoru tot ist! TOT!", sagte der Halbdämon nun heftig. "Es ist ihm wahrscheinlich völlig egal, was..."

"Seine Seele wird mich von diesem Tag an bis in alle Ewigkeit verfolgen wenn ich es nicht tue, Yasha!", unterbrach ihn Takeo mit grimmiger Entschlossenheit. "Ich schwöre, noch einmal werde ich ihn NICHT im Stich lassen!"

Yasha schwieg. Er schüttelte den Kopf.

"Du musst wissen, was du tust.", sagte er dann nur. "Aber komm nicht hinterher angelaufen und beschwer dich bei mir. Noch einmal werde ich dir den Arsch nicht retten."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah weg.
 

Takeo ging zurück zum Wagen, wo auch Akuma wartete. Da er sein Schwert am Hafen zurückgelassen hatte, richtete er seine beiden kürzeren Kodachi im Gürtel zurecht, machte sich bereit aufzubrechen.

Shido erhob sich. Mit schweren Schritten trat er neben das Pferd und legte eine Hand auf dessen

bebende Flanke.

"Ich komme mit dir."

Nicht nur Takeo blickte vollkommen verständnislos drein.

"Shido, du..."

"ICH KOMME MIT!", wiederholte er, diesmal noch nachdrücklicher, und als Madoka etwas sagen wollte fiel er ihr ins Wort:

"Und ich werde KEINEN WIDERSPRUCH AKZEPTIEREN!"

Takeo schüttelte den Kopf.

"Du wirst es wahrscheinlich nicht überleben, mein Freund.", sagte er leise, jedoch äußerst pragmatisch. Er sah es so, wie es nun einmal war - nicht anders.

"Das ist mir klar.", antwortete Shido-san und sein grimmiger Blick war direkt auf Madoka gerichtet. Diese stand stocksteif da, starrte ungläubig zurück.

Takeo war einen Moment lang irritiert. Er sah zu Madoka und wieder zurück zu seinem Freund. Was ging hier vor?

Madoka schüttelte in schwachem Protest den Kopf. Aber Shido kletterte bereits umständlich auf Akumas Rücken. Es bereitete ihm eindeutig Schmerzen - und ihm musste klar sein, dass er Takeo eher behindern würde, als dass er ihm half. Aber er schien beinahe fliehen zu wollen von diesem Ort - oder vor den Personen, mit denen er hier zusammen war...

Takeo runzelte die Stirn. Es hatte wohl keinen Sinn mehr ihm das ausreden zu wollen.

"Wie in alten Zeiten, Ta-chan. Komm schon.", meinte Shido durch zusammengebissene Zähne. Er reichte die Hand zu ihm hinunter, die Takeo wohlweislich ignorierte. Er würde seinen Freund eher vom Pferd herunterziehen als sich zum ihm hinauf.
 

Und dann kam natürlich was kommen musste.

Takeo hatte nicht geglaubt, dass eine Stimme solchen Schmerz in ihm verursachen konnte.

"Geh nicht hin, Takeo... Bitte..."

Ganz, ganz langsam drehte er sich zu der jungen Frau herum - und sie war ihm noch nie so entrückt, so schön vorgekommen wie jetzt, wo sie in das ferne Licht des Feuers getaucht zitternd vor ihm stand. Über und über mit Dreck und Blut bedeckt, das dunkle Haar fiel ihr lang und feucht über die großen, angstvollen Augen. Dennoch - er konnte nicht anders als sie schön zu finden. Auch in diesem einen, zeitlosen Augenblick.

Er liebte sie.

Und dennoch würde er ihr noch einmal wehtun müssen... Ohne Worte trat er auf sie zu und umarmte sie innig.

"Madoka, geh und suche die Lichtung, den Weg zurück nach Hause. Kehr zurück. Dies ist keine Welt in der du leben möchtest.", flüsterte er leise.

Madoka zuckte zurück.

"Hör auf dich zu verabschieden, Takeo!", erwiderte sie heftig. "Ich werde auf dich warten! VERSPRICH mir, dass du zurückkehrst!"

Takeo strich zärtlich eine Haarsträhne aus ihren Augen.

"Ich tue mein Bestes. Aber jetzt musst du mir auch etwas versprechen."

Er sah ihr tief in die Augen.

"Sollte ich dennoch nicht zurückkehren..."

"Hör auf! Hör auf so etwas zu..."

Doch Takeo ließ sich nicht beirren:

"SOLLTE ich nicht zurückkommen, versprich mir, dass du in deine Welt, in deine Zeit zurückkehrst. Geh zurück nach Hause, Madoka-chan. Du hast schon zu viel Leid erfahren müssen."

Er hob den Kopf und begegnete dem ernsten Blick Aurinias, eine stumme Frage in den Augen.

Aurinia nickte leicht. Sie würde Madoka helfen, den Rückweg zu finden.

Madoka weinte schon wieder.

Ach, diese ganze, verdammte Geschichte war ein wahrer Alptraum! Sie war eine erbärmliche Heulsuse! Aber dieses ganze Chaos hier raubte ihr wahrhaftig noch den letzten Nerv. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich voller Inbrunst jetzt in ihrem Bett zu Hause aufzuwachen und festzustellen, dass es wirklich nicht mehr gewesen war als ein Alptraum... Wieder in ihrer Zeit - sollte sie je zurückkehren - würde sie NICHTS mehr wirklich erschüttern können.

Sie hatte in dieser Welt die Tränen eines ganzen Lebens vergossen. Aber hier hatte sie auch erfahren, was es hieß wirklich zu lieben.

Takeo zog sie an sich und küsste sie sanft. Sie erwiderte die Berührung liebevoll, schmeckte Salz auf ihren Lippen, von dem sie sich nicht sicher war, ob es wirklich nur von ihren eigenen Tränen stammte.

"Takeo... Ich liebe dich. Ich werde so lange warten, bis ich weiß ob du zurückkommst oder... Ich... Ich würde bis zum letzten Tag auf dich warten."

Er strich ihr noch einmal zärtlich durchs Haar. Sie fasste nach oben, ihre Finger verflochten sich ineinander und er drückte ihre Hand. Dann drehte er sich mit sichtlicher Überwindung herum. Ihre Hände glitten auseinander, verloren einander, und sie sah ihm hilflos dabei zu, wie er sich in den Sattel Akumas schwang.

"Shido-san!", rief sie leise.

Der junge Mann wandte ihr sein regennasses Gesicht zu. Er glaubte zu wissen, was nun kam - und er wappnete sich.

"Bitte hilf ihm! Schütze ihn! Und seid vorsichtig..."

Ihre Stimme versagte. Doch Shido antwortet nicht. Er sah Madoka nur stumm an. Dann nicke er knapp. Als Takeo dem Pferd die Zügel gab und sie in Richtung Stadt verschwanden warfen beide nicht einen Blick zurück.

Schatten der Vergangenheit

Hier am Hafen der alten Kaiserstadt war das Feuer bereits erloschen.

Zwei Gestalten, am Zügel ein Pferd hinter sich führend, waren als flache Schatten in dem Nebel und Rauch zu erkennen, der in dichten Schwaden über das jetzt beinahe gespenstisch ruhig daliegende Schlachtfeld waberte. Der Regen war einem permanenten, nervenzehrenden Nieseln gewichen und das Gewitter war endlich weitergezogen. Hier und da riss ein schwacher Windstoß die Rauchschleier auseinander und enthüllte ein erschreckendes, beängstigendes Bild. Ruinen verbrannter Häuser ragten wie schwarze Schatten aus der Glut noch glimmender Asche empor. Überall lagen Menschen. Tot, mit gebrochenen Augen gen Himmel starrend, auf eine Gnade hoffend, die ihnen nun nicht mehr zuteil werden konnte. Abgetrennte Gliedmaßen lagen in einem Meer von dunklem Blut. Hier und da war das Stöhnen eines Leidenden oder Sterbenden zu hören - doch es waren einfach zu viele Opfer, um ausmachen zu können wer von ihnen noch lebte und wer nicht. Verendete Pferde waren ebenfalls in großer Zahl vorhanden.

Doch am schockierendsten war wohl die grausame Tatsache, dass auch etliche Zivilisten, Kinder - 'Gott, sind das wirklich Kinder?', fragte sich Takeo entsetzt - unter den Opfern zu finden waren.

Der Wind trug den widerlichen Geruch von Schweiß, Blut und Tod mit sich. Auch lag nach wie vor ein deutlicher Brandgeruch über der unwirklichen Szene.

Takeo und Shido bahnten sich vorsichtig einen Weg durch die leblosen Körper. Als sie die Kaimauer erreichten konnten sie sehen, dass die Wellen des Wassers träge und zäh gegen den Stein brachen. Blut hatte das Hafenbecken in unmittelbarer Nähe der Anleger dunkelrot gefärbt. Blasse, ungelenke Körper bewegten sich in der leichten Strömung. Draußen auf See brannte nach wie vor eines der großen Schiffe. Von den anderen beiden Seglern war keine Spur mehr zu sehen.

Takeo hörte den klagenden Schrei einer Möwe hoch über ihren Köpfen und ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Wenn er einen Blick den Hügel hinauf zurückwarf, auf dem Kyoto errichtet

worden war, dann konnte er sehen, dass das große Feuer nach wie vor wütete. Hier jedoch hatte es scheinbar nicht mehr genug Nahrung gefunden.

Schwarz hingen die Wolken über der Stadt und der junge Samurai fühlte sich unwillkürlich an seine Kindheit erinnert - an die Katastrophe von damals. Und an...

Mamoru.
 

Wo war Mamoru?

Wo hatten sie ihn zurückgelassen?

Takeo begann immer unruhiger direkt am Kai entlangzugehen, jeden Meter Boden nach seinem toten Bruder absuchend. Irgendwo... Er musste noch hier irgendwo...

Und dann verriet ihm das dunkelrote Haar, dass seinem eigenen so ähnlich war, wo sich sein Bruder befand. Halb unter der gefallenen Gestalt eines Shinsengumi-Kriegers vergraben konnte Takeo den blutbesudelten Leib Mamorus ausmachen. Er lief zu ihm hinüber und zerrte verbissen den toten Körper von ihm herunter.

Shido folgte ihm, blieb jedoch neben ihm stehen und rührte keinen Finger ihm zu helfen. Er hatte den ganzen Weg hierher nicht ein Wort gesagt und es war klar, was er von Takeos wahnwitziger Idee hielt noch einmal hier zum Hafen zurückzugehen. Aber er wollte ihn auch nicht allein gehen lassen. Seine ohnehin vollkommen... überflüssige Eifersucht wurde angesichts des Grauens hier am Hafen zu einem bedeutungslosen Nichts. Und im Vergleich zu der Qual, die er nun auf Takeos schmalen, blassen Gesichtszügen erkennen konnte, war sie sogar eher ein ausgesprochen LÄCHERLICHES Nichts... Betreten ließ Shido-san den Kopf hängen.

Takeos Gesicht zuckte - aber er vergoss nicht eine Träne. Behutsam strich er Mamoru das Haar aus den Augen. Kalt fauchte der Wind über den Kampfplatz, riss einmal mehr die Rauchschlieren auseinander und ließ die schräg in den Angeln hängende Tür einer nur noch zur Hälfte vorhandenen Fischerhütte schlagen.

Shido wollte sich soeben in Bewegung setzen, um seinem Freund, dessen traurigen Anblick er kaum noch ertragen konnte, nun doch zu helfen Mamoru zu bergen, als hinter ihnen eine Stimme leise und vollkommen gefühllos sagte:

"Ich wusste, dass du zurückkehrst. Nur du konntest so... dumm sein, hier wieder aufzutauchen, Yamazaki Takeo. Und dies wird dein letzter Fehler gewesen sein."

Auch ohne sich herumzudrehen wusste Shido wer da hinter ihm stand - auch wenn er es jetzt NOCH weniger glauben konnte, als noch beim letzten Mal.

Es war Saito. Der "Wolf von Mibu" war anscheinend einfach nicht tot zu kriegen.
 

Ungläubig, ja beinahe entsetzt drehte Shido sich nun doch herum, gewahrte jedoch aus dem Augenwinkel, dass Takeo nicht die kleinste Reaktion zeigte und nach wie vor nur Augen für seinen toten Bruder hatte. Der Anblick Saitos traf Shido wie ein Hieb in die Magengrube und ließ ihn

schlagartig vor Entsetzen die Luft anhalten. Er konnte FÜHLEN wie sein Gesicht auch noch das letzte bisschen Farbe verlor.

"T...Takeo...", flüsterte er krächzend. Er brachte keinen weiteren Laut hervor - war jedoch auch zugleich unfähig den Blick von der grauenhaft entstellten, beinahe nur noch karikaturistisch an einen Menschen erinnernden Gestalt zu wenden.

Saito Hajime, einer der größten und mächtigsten Männer in den Reihen der berüchtigten Samurai-Schutztruppe der Shinsengumi, lebte nicht mehr. Er KONNTE gar nicht mehr leben. Das war schlichtweg unmöglich. Dennoch stand dieses... Etwas mit vier an Arme und Beine erinnernden

Gliedmaßen direkt vor ihnen, ohne zu schwanken und hoch aufgerichtet.

Blut.

Überall war Blut. Blankes, bloßgelegtes Muskelgewebe blitzte unter Eiter und rußgeschwärzten Brandwunden hervor. Die Kleidung war praktisch nicht mehr vorhanden. Ebenso wenig wie das Haar.

Doch das Grauenhafteste überhaupt war sein Gesicht. Es war dermaßen entstellt, dass man Saito nur noch an seiner Stimme überhaupt erkennen konnte. Ein Auge fehlte. An seiner Stelle gähnte ein nässendes, dunkles Loch, aus welchem permanent Blut lief und das Gesicht in eine verwüstete

Kraterlandschaft aus hellen und dunklen Flächen verwandelte. Ein Teil der linken Wange war weggerissen und man konnte sehen, wie die Zähne dahinter mahlten.

Doch was Shido ein für alle Mal und vollkommen davon überzeugte, dass dieses Wesen, das einmal Saito Hajime gewesen war, TATSÄCHLICH noch lebte, war das übrig gebliebene Auge.

Es war das Auge eines Dämons.

Shido hatte diesen Blick, zumindest etwas ähnliches, schon einmal gesehen. Groß, mit geweiteten schwarzen Pupillen in einem Meer aus geronnenem Blut. Die Augen des Halbdämons Yasha hatten so ausgesehen, als seine dämonische Seite in ihm übermächtig wurde.

Und jetzt stand hier vor Shido und Takeo ein Mann, der keiner mehr war und in dessen Augen der Wahnsinn und der Blutdurst eines wahren Dämons wüteten. Shido sah sich außerstande auch nur einen Finger zu rühren. Wie ein Kaninchen beim Anblick des Fuchses war er wie versteinert stehen geblieben und starrte seinen Todfeind an. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen - und wollte es auch niemals wieder sehen, wenn er denn noch eine Wahl haben würde...

Es war... beängstigend. Unheimlich und grauenvoll...

Selbst diese Worte trafen es nicht wirklich. Kanzaki Shido litt Todesangst.

Er wusste genau: Dieses... Geschöpf vor ihm war jenseits von Tod oder Leben. Ein unglaublicher Wille schien ihm einen grausamen Streich zu spielen und dem ohnehin schon verwesenden Leib den Tod vorzuenthalten. Etwas hatte Besitz von Saito ergriffen.

Der "Wolf von Mibu" war besessen. Und Shido wollte um keinen Preis herausfinden, wovon...
 

Der junge Mann fuhr heftig zusammen, als er plötzlich, ganz leicht nur, eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken stieß er sie Luft aus, die er zuvor so krampfhaft angehalten hatte und blickte erstaunt in Takeos unbewegtes, ruhiges Gesicht. Die dunklen Augen des Freundes blickten nach wie vor traurig und noch tiefer in ihnen glaubte Shido eine Qual zu erkennen, die an die Grenzen des überhaupt Erträglichen reichte. Aber seine Gesichtszüge waren ruhig und unbewegt. Er lächelte sogar leicht. Shido konnte es einfach nicht fassen.

"Es ist gut, Shido-san. Geh. Überlass Saito mir."

Takeos Stimme war so ruhig und emotionslos wie sein Gesicht. Und Shido hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er hinter ihn getreten war.

Saitos blutunterlaufenes, glühendes Auge richtete sich auf Takeo, saugte sich an ihm fest - und mit einem Mal glaubte Shido zu ahnen, von was, vielmehr von WEM, der "Wolf" so besessen war. Saitos abruptes, böses Lächeln ließ Blut zu Boden regnen.

"Du bist ja geradezu versessen darauf zu sterben, Kleiner. Ich hab nicht vor dich zu schonen. Du bist der Dorn in meinem Auge, der Stachel in meinem Fleisch, das Geschwür im Gefüge des Shogunat-Systems. DU bist derjenige, der für die Vernichtung der Shinsengumi zahlen wird."

Shido wollte etwas sagen, doch Takeo ergriff ihn erstaunlich fest am Arm, führte ihn ein Stück zur Seite.

"Ich werde mich dir stellen, Saito.", sagte der junge Samurai über die Schulter an den "Wolf von Mibu" gewandt.

"Ich werde nicht mehr fliehen. Doch mein Freund hier hat nichts damit zu tun. Dies ist eine Sache zwischen dir und mir, die wir als letzte noch übrig sind von beiden gegnerischen Parteien."

Saito lachte gurgelnd. Es war ein Geräusch, das Shido einen Schauer über den Rücken jagte. Doch noch mehr beunruhigte ihn der entschlossene Gesichtsausdruck seines Freundes, als er ihn nun ansah.

Saito wartete tatsächlich ab. Das stand in gravierendem Kontrast zu der Mordlust in seinen Augen.

Doch Shido verstand nun mit einem heftigen Anflug von Angst um seinen Freund, dass dieser brennende Hass ausschließlich Takeo galt. Bevor er jedoch einen entsprechenden Kommentar abgeben konnte hatte Takeo ihn bereits zu der Leiche seines Bruders geführt.

"Kümmere dich bitte um Mamoru, Shido-kun. Bring ihn fort von hier und beerdige ihn an einem friedlicheren, ruhigeren Ort, ich bitte dich. Versprich mir, dass du alles tust, damit Mamoru die Ruhe findet, die er verdient."

Shido sah Takeo aus weit aufgerissenen Augen an.

"D... Das ist jetzt nicht dein Ernst, Takeo? Ich werde doch nicht..."

"Doch, das wirst du. Geh zurück zu den anderen und komm nicht wieder hierher zurück. VERSPRICH ES MIR."
 

Takeo hatte nicht wirklich die Stimme erhoben, aber er klang nun so eindringlich, dass Shido klar sein musste, dass Widerspruch zwecklos war. Aber er versuchte es dennoch - verzweifelt, traurig und völlig verwirrt.

"Aber... Takeo was soll das denn! Komm, lass uns dem Verrückten den Rest geben und dann verschwinden! Gemeinsam!"

Er trat vor und begann seinen Freund zu schütteln.

"Takeo! Lass uns gehen!"

Der junge Samurai schüttelte den Kopf und trat zurück. Shidos Arme fielen herab, als hätte ein sadistischer Puppenspieler beschlossen die Fäden durchzuschneiden, an denen sie hingen. Blankes Entsetzten spiegelte sich in seinem Blick.

"Was zum..."

"Es ist in Ordnung, Shido. Es gibt nur noch eine einzige Sache für mich, die ich erledigen muss. Das, was dort...", er deutete zu Saito hinüber, "... in diesem Mann wütet, was ihn am Leben erhält ist das, was mich zwingt hier zu bleiben und mich ihm zu stellen. Er würde mich verfolgen, wenn ich es nicht tue. Vielleicht nicht in dieser Gestalt, aber ganz sicher mein ganzes restliches Leben lang."

Shido schüttelte den Kopf. Er konnte, nein, er WOLLTE das alles nicht hören.

"Shido. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Aber ich werde keine Ruhe finden, wenn ich nicht das, was mich zum Mörder hat werden lassen, endgültig vernichte."

"Indem du WIEDER tötest?", schrie Shido außer sich. "Das kann nicht dein Ernst sein! Wenn du auch nur einen weiteren Mord begehst..."

"... kann es sein das ich nicht wieder zurückfinde und der Hitokiri in mir das verdrängt, was deinen Freund ausmacht. Ich würde vielleicht niemals wieder der sein, den du kennst."

Shido öffnete den Mund, schloss in dann wieder und schoss dann in seine Richtung:

"Du bist komplett wahnsinnig! Du bist ja völlig verrückt! Wenn du das schon weißt, Takeo, warum dann? WARUM? Du hast ein LEBEN, verdammt noch mal! Und du wirst gebraucht! ICH brauche dich! Madoka braucht dich! Findest du nicht, dass es einfach nur zu bequem ist sich als Sündenbock hinstellen zu lassen und zu büßen? Du bist doch nicht SCHULD an all dem Desaster! Der ganze, verdammte Krieg hätte auch ohne dich stattgefunden!"

Takeo sah ihn milde lächelnd an. Das machte Shido noch rasender.

"Du verstehst mich immer noch nicht, Shido-kun.", sagte Takeo jetzt. "Ich habe mit keiner Silbe erwähnt, dass ich mich für den Krieg verantwortlich mache. Es geht hier lediglich..."

"... um DICH!", schrie Shido und Tränen rannen ihm über das Gesicht. "Es geht IMMER nur um dich! Denk doch auch ab und zu an deine Mitmenschen, deine Freunde!"

Takeo schüttelte den Kopf.

"Es geht nicht um mich. Nicht nur. Es geht um die Menschen, die durch den Attentäter zu Tode gekommen sind. Ich hatte geglaubt, die Stimmen in mir, die nach Rache und Vergeltung verlangten, seien verstummt. Ich WOLLTE es glauben. Madoka hat mir gezeigt was es heißt, mit der Vergangenheit zu leben, sie zu akzeptieren als einen Teil meines Lebens. Sie hat mir beigebracht, wie ich dennoch mein Leben leben kann, wieder lachen kann. Sie hat mir Liebe gegeben, wo ich keine verdient hätte. Und ich... ich durfte erfahren wie es ist, jemanden so sehr zu lieben, dass man kaum atmen kann, wenn die geliebte Person mal nicht in der Nähe ist. Aber Madoka hat ein eigenes Leben.

Wir haben das Glück, das wir teilen durften, gestohlen. Sie weiß es. Ich weiß es auch. Und diese Welt ist nicht ihre Welt. Eines Tages wird sie froh sein, dass ich sie losgelassen habe."

Shido wurde zornig.

"Dann hättest du sie niemals so nah heranlassen dürfen! DU redest von Liebe - und tust dem Menschen, den du am meisten gern hast das größte Leid an, indem du dein Leben für falschen Stolz und schlechtes Gewissen aufs Spiel setzt!"

"Shido, ich KANN ihr nicht geben wonach sie sich sehnt, wenn ich JETZT nicht meine Vergangenheit ENDGÜLTIG abschließe und hinter mir lasse! Wenn ich mich diesem Hass, diesem Zorn, den Saito im Moment verkörpert, nicht stelle, dann wird das Leid NIEMALS EIN ENDE HABEN! Ich würde JEDES MAL wieder in mein altes Ich zurückfallen, zum Attentäter werden, selbst beim geringsten

Anlass! Mamorus Tod hat mir sehr deutlich gezeigt, dass ich mir etwas vorgemacht habe wenn ich dachte es sein vorbei. LIEBE REICHT NICHT AUS, UM MEINE SCHULD ZU SÜHNEN UND DEN ATTENTÄTER ZU VERNICHTEN!"

Beide standen schwer atmend voreinander.

"Du wirfst dein Leben weg.", sagte Shido bitter.

Takeo sagte längere Zeit nichts. Saitos Blick glitt erwartungsvoll von einem zum anderen. Er schien den Streit zu genießen - trotz der Qualen die er leiden musste. Aber weder Takeo noch Shido waren sich sicher, ob er das noch wirklich spüren konnte. Vielleicht war Saito schon nicht mehr genug Mensch, um so etwas wie körperliche Schmerzen zu empfinden. Eile schien er jedenfalls keine zu haben. Er war sich seines Opfers wohl sehr sicher.

"Vielleicht werde ich sterben, ja.", sagte Takeo nun langsam.

"Aber mit mir wird das vernichtet werden, was den Attentäter ausmacht. Ich werde nie wieder Gefahr laufen jemanden, den ich liebe, zu verletzen. Und der Zorn und Hass der Menschen, die ich um ihr Leben gebracht habe, wird mit mir vergehen, denn so etwas wie das dort...", erneut deutete er auf das, was einmal Saito Hajime gewesen war, "... wird es niemals wieder geben. Dies ist mein eigener, ganz persönlicher Geist, mein Alptraum - und er wird in dieser oder anderer Form immer wiederkehren und von mir Sühne verlangen, wenn ich mich jetzt nicht meinen Taten stelle."

Saito machte eine ungelenke, spöttische Verbeugung.

"Gestatten? Yamazakis persönlicher Alptraum - direkt aus der Hölle."

Er grinste - und Shido begann es zu glauben, denn sein beinahe bis auf den Knochen verbrannter Schädel wirkte wie ein mit blutigen Hautfetzen überzogener Totenkopf. Gott, das alles war so... surreal!

"Ich lasse dich nicht gehen, Takeo.", flüsterte Kanzaki leise.

"Shido..."

"Ich sagte, ich rühre mich hier nicht weg! Du bist verrückt und weißt nicht mehr was du tust! Ich werde mit dir gemeinsam kämpfen!"

"In deinem Zustand?", Saito feixte. "Das möchte ich sehen..."

Shido fuhr herum und wollte sich ohne Umschweife auf ihn stürzen, doch eine schmale, schlanke Klinge, die plötzlich an seiner Kehle lag, ließ ihn mitten im Schritt verharren.
 

Takeo hatte blitzschnell eines seiner Kodachi-Schwerter gezogen.

"Keinen Schritt weiter, Shido. Zwing mich nicht dich zu..."

"Was denn?", fauchte Shido böse. "Mich zu verletzen? Mich zu töten? Fängst du mit mir an und machst dann bei "deiner Vergangenheit" weiter? Ist ja praktisch ein Abwasch..."

Jetzt wurde der bislang immer ruhig gebliebene Takeo wirklich zornig.

"Shido, es reicht! Geh bitte! Und nimm meinen Bruder mit."

Kanzaki-san presste die Lippen so hart aufeinander, dass sie weiß wurden. Ohne ein weiteres Wort und mit verbissenem Gesichtsausdruck drehte er sich mit einem Ruck herum. Er ging zu Mamoru hinüber, bückte sich und hob den leblosen Körper auf seine Arme. Behutsam legte er den Leichnam über den Sattel des Pferdes und wollte ohne Umschweife ebenfalls aufsitzen, als er noch einmal

Takeos Stimme hörte.

"Bitte, versuche mich zu verstehen, Shido-kun. Ich muss es tun. Ich kann sonst nicht weiterleben."

Shido seufzte. Er drehte sich nicht herum.

"Bist du sicher, dass es nicht nur Rache für den Mord an deinem Bruder ist, die dich da antreibt? Vielleicht machst du dir selbst nur etwas vor."

Takeo trat näher.

"Vielleicht. Aber es läuft für mich auf dasselbe hinaus. Ich muss mich dem stellen."

Jetzt drehte sich Shido doch zu seinem Freund herum. Tränen hatten helle Spuren in dem Ruß und Schmutz auf seinen Wangen hinterlassen.

"Takeo... Was... soll ich nur Madoka sagen? Du MUSST zurückkommen! Du MUSST einfach!"

Der junge Samurai lächelte leicht. Er hob die Hände und löste die Kette von seinem Hals, reichte sie Shido-san.

"Gib ihr das zurück. Sage ihr, dass ich mich nicht verabschiedet habe und mein Bestes tun werde meine Vergangenheit und auch Saito zu vernichten. Aber falls ich nicht zurückkommen sollte..."

Er schwieg kurz und fuhr dann mit sichtlicher Überwindung fort:

"Sag ihr, ganz egal was passiert und was kommen wird, ich werde bei ihr sein. Immer."

Shido lächelte schief, doch seine Augen blieben ernst.

"Und ganz egal was du sagst: Das WAR gerade ein Abschied..."

Er schüttelte wieder den Kopf und schaute seinem Freund sehr lange und sehr intensiv in die Augen.

"Ich habe dir nicht den Hals gerettet, damit du dein Leben wegwirfst. Ich denke, das weißt du. Wenn du nun also diesen Kampf so unbedingt und allein ausfechten willst, dann glaube ich dir wenn du sagst, dass es für dich sehr wichtig, vielleicht lebensnotwendig ist. Ich vertraue dir, Takeo. Ich habe

es immer getan. Es tut mir Leid."

Shido schloss die Finger um die Kette mit dem silbernen Schlangenanhänger.

"Kümmere dich um Madoka, Shido. Bitte hilf ihr zurück in ihre Zeit zu finden. Wirst du das für mich tun?"

Shido sah in Takeos blaue, entschlossene Augen .

"Ich hoffe doch sehr, dass du ihr SELBST helfen wirst, Takeo-chan."

Der andere sagte nichts, sah ihn nur noch fragender an.

"Also schön, ja, ich WERDE ihr helfen. Aber bitte fass das jetzt nicht als Freifahrtschein zur Hölle auf. Wir erwarten alle, dass du es schaffen wirst. Du kannst es, ich weiß das. Du kannst es besiegen." Shido schaute über Takeos Schulter zu Saito hinüber, der scheinbar immer noch geduldig auf den

Showdown wartete und unablässig grinste.

"Und er dort...", Shido deutete mit dem Kopf in seine Richtung. "Er mag ein Idiot und vollkommen rachebesessen sein - aber eines muss man ihm lassen. Dass er uns diesen Moment geschenkt hat ist anständig von ihm."

Er blickte hinab auf seinen Freund, der gute eineinhalb Köpfe kleiner war als er selbst. Es schnürte ihm die Kehle zu ihn dort mit hängenden Schultern stehen zu sehen, das dunkelrote Haar stumpf und verklebt von Schmutz, die Kleidung in Fetzen. Der Verband rund um seinen Torso war dunkel von bereits wieder eingetrocknetem Blut.

Wortlos trat er vor und umarmte den Freund. Es war eine kurze, jedoch sehr warme und herzliche Umarmung.

'Also ist es wirklich ein Abschied.', dachte er traurig.

Und als Kanzaki Shido sich auf Akumas Rücken schwang und das Pferd sich durch das Meer von toten und verletzten Körpern einen Weg vom Schlachtfeld suchte, blickte er nicht zurück. Doch er wusste sehr genau: Er hatte seinen besten Freund womöglich soeben zum letzten Mal lebend gesehen...

Visionen

Die Visionen hatten begonnen, als sie vielleicht eine halbe Stunde durch die Schatten des Waldes gegangen waren.

Keiner von ihnen sagte etwas. Ihre Schritte und das Knacken eines hin und wieder brechenden Gehölzes waren lange Zeit die einzigen Geräusche, die die erschöpfte und dennoch immer weiter vorantaumelnde Gruppe begleiteten. Den Wagen hatten sie in den Wald nicht mitnehmen können, da das Gelände einfach zu unwegsam für so etwas wie einen Karren war, und so hatte Yasha sich kurzerhand den wieder in gnädige Bewusstlosigkeit gefallenen Sayan-san auf die Schultern geladen, trug ihn nun durch das Dickicht als würde er die zusätzliche Last überhaupt nicht spüren.

Madoka folgte wie benommen Yasha und der Yosei immer tiefer hinein in das Dunkel des Waldes. Der Wald bedeutete Schutz und zugleich Zuflucht vor eventuellen Verfolgern - doch Madoka fühlte sich, vielleicht das erste Mal überhaupt in ihrem Leben, plötzlich nicht mehr wohl, wenn sie an die

Dunkelheit unter den dicht an dicht stehenden Bäumen dachte. Das Rauschen und Wispern des Windes in den Zweigen schien sie zu verhöhnen und ihr böse, uralte Worte zuzuflüstern; die Blätter hoch über ihr schienen nicht das wohlbehütende Dach zu sein, das sie einmal für sie dargestellt hatten, sondern sie erdrückten sie regelrecht, machten ihr jeden Atemzug schwerer und ließen beinahe klaustrophobische Gefühle in ihr wach werden, etwas, womit sie zuvor noch nie Probleme gehabt hatte.

Hinzu kam, dass seit sie den Wald vorhin betreten hatten, seit sie sich von der Stadt entfernten, ein ständig intensiver werdendes Unbehagen in ihr heranwuchs, das jedoch nichts mit ihrer momentanen Umgebung zu tun hatte. Etwas... machte sie unruhig, ließ ihr Herz rascher schlagen, obwohl sie sich nicht wirklich anstrengte oder schnell lief. Sie fühlte fein perlenden Schweiß auf ihrer Stirn. Und je weiter sie sich von der Stadt entfernten, umso heftiger wurde dieses Gefühl. Sie konnte es noch immer nicht genau benennen, aber es nahm zu. Und es wurde konkreter, mit jedem Schritt den sie tat. Sie ließ sich nichts anmerken und folgte den anderen schweigend, aber es fiel ihr immer schwerer überhaupt klar zu denken, zu atmen und Ruhe zu bewahren.

Etwas kam.

Etwas näherte sich ihr mit der Unaufhaltsamkeit eines Schnellzuges - und auch genau so rasch. Sie FÜHLTE es. Und als es vor ihnen merklich heller wurde, sie anscheinend auf eine Lichtung zukamen, da schlug dieses Gefühl in nackte Angst um.

Aber wovor?

Warum?

Sie stolperte, fing sich mit einer Hand an einem Baustamm ab und hielt kurz inne, schloss die Augen, versuchte die jähe Panik die sie befallen hatte mit Macht niederzukämpfen. Dann zuckte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf.

Das Blitzen von Metall. Schwerter?

Dann Funken, als zwei Klingen aufeinander prallten. Der wilde, unmenschliche Schrei eines abgrundtief bösen Lebewesens.

Es war vorbei, noch bevor das Bild deutlicher werden konnte, aber sie hatte dennoch Schwerter und den Schimmer dunkelroten Haares ausmachen können. Panik schlug in schweren, alles verschlingenden Wogen über ihr zusammen, ließen ihren Herzschlag für eine Sekunde aussetzen und dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterjagen.

Aurinia hatte sich herumgedreht. Die Yosei sah sie besorgt an.

"Madoka? Halte durch, es ist nicht mehr weit."

Die Angesprochene schüttelte den Kopf, wie um einen wirren Traum loszuwerden. Sie atmete tief ein. Was sie gesehen hatte konnte nichts anderes als Einbildung gewesen sein. In ihrer Angst um den geliebten Menschen bildete sie sich ein, dass er auf Leben und Tod kämpfte. Wahrscheinlich gingen ihre Nerven langsam mit ihr durch bei all dem, was sie bislang erlebt hatte.

Sie versuchte zu lächeln und fühlte wie es kläglich misslang. Dann folgte sie der Yosei, die sie nicht mehr aus den Augen ließ, hinaus auf eine wunderschöne, kleine Lichtung. Ein Bachlauf schlängelte sich durch fast kniehohes Gras.
 

Madoka blinzelte und blieb so abrupt stehen, als wäre sie vor eine Wand gelaufen.

Das... Das… konnte doch nicht sein!?

War das wirklich..?

"Ja, Madoka, ich denke wir haben sie endlich gefunden. Die Lichtung. Hier bist du erwacht als du hierher gekommen bist, in diese Zeit.", sagte Aurinia ruhig.

Die Yosei sah hinaus auf die Wiese und ganz im Gegensatz zu gerade eben wich sie Madokas Blick nun aus. Der Tonfall ihrer Stimme war auch recht merkwürdig.

"Aber... wie ist das möglich...", hauchte Madoka vollkommen überrascht.

"Wir... haben doch so lange gesucht und jetzt..."

"... stoßen wir zufällig auf diesen Ort, ja. Das ist wirklich erstaunlich, nicht wahr? Aber nach all dem Leid das wir erfahren haben, das DU erfahren hast, ist dies wohl das Mindeste, was das Schicksal für uns tun kann."

Aurinia klang... seltsam. Nicht sehr überzeugt.

Verbarg sie etwas vor Madoka?

Nicht zum ersten Mal hatte Madoka diesen Gedanken und sah die zierliche, elfenhafte Yosei neben sich forschend an.

Madoka hielt die Tatsache, dass sie jetzt, nach so relativ kurzer Zeit, auf diese Lichtung gestoßen waren (und das obwohl sie nicht einmal nach ihr gesucht hatten) jedenfalls für alles andere, nur nicht für einen Zufall. Nur... wenn dies so war, warum hatte die Yosei sie dann zu der Zeit, als sie gemeinsam immer wieder nach der Lichtung gesucht hatten, zurückgehalten? Hatte sie vielleicht gewusst wo die Lichtung war und aus einem bestimmten Grund nicht gewollt, dass Madoka sie vor dem heutigen Tag fand? Hatte sie sie bewusst in die Irre geführt?

Sie beobachtete, wie Yasha Shigeru am Rande des Bachlaufes niederlegte. Der Regen hatte nun endgültig aufgehört und leichter Nebel lag über dem Gras. Doch bis auf das leise Murmeln des Wasserlaufs war nicht ein Geräusch zu hören, nicht ein einziger Vogel sang. Nicht einmal der Wind war noch zu hören.

Diese Lichtung...

Wieder hatte Madoka den Eindruck etwas ungemein Altem und... ja, beinahe Magischem gegenüber zu stehen. Dieser Ort war etwas Besonderes, hatte etwas Übernatürliches an sich. Und wenn sie selbst dies schon fühlen konnte, dann musste es für Yasha und auch für Aurinia überdeutlich zu spüren sein. Die Yosei hatte ihr gegenüber einmal erwähnt, dass sie solch magische Plätze aufspüren konnte, wo immer sie sich auch befanden. Sie musste zumindest GEAHNT haben, wo sich diese Lichtung befand. Warum also hatte sie Madoka nie hierher zurückgeführt?

Warum erst jetzt?
 

Als sie hinaus auf die Lichtung traten ließ Madoka diesmal Aurinia nicht mehr aus den Augen.

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Yosei sie absichtlich in die Irre geführt haben sollte.

Andererseits...

Sie kannte Aurinia eigentlich gar nicht richtig. Wer konnte schon sagen, was in diesem so viel älteren Wesen, als sie selbst es war, vorging?

Doch sie verschob all ihre Bedenken und eventuelle Anschuldigungen auf später - denn die Angst in ihr, lauernd und jederzeit darauf aus sie wie ein wildes Tier aus der Dunkelheit ihrer Seele heraus anzufallen, war nach wie vor da und verdrängte beinahe jedes andere Gefühl in ihr. Es war nicht wichtig, dass sie nun tatsächlich hier war.

'Takeo...', dachte sie schmerzlich. 'Hoffentlich geht es dir gut...'

In dem Moment, wo sie bewusst an ihn dachte, blitzte erneut eine Vision in ihr auf, klarer diesmal und sehr viel eindringlicher. Es war tatsächlich Takeo, den sie dort kämpfen sah. Er schwang seine zwei Kodachi mit der gewohnten Geschicklichkeit eines wahren Samurai-Kriegers, doch sie konnte sehr wohl erkennen, dass er ob seiner schweren Verletzungen immer langsamer in seinen Reaktionen wurde. Denn sein Gegner, ein... Wesen, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Menschen zu haben schien, drang unbarmherzig und immer verbissener auf ihn ein.

War es ein Dämon?

Madoka konnte es nicht richtig erkennen. Und sie hörte auch nichts. Es waren nur Bilder. Bilder die, gleich Fetzen einer längst vergangenen Erinnerung, in ihr aufleuchteten. Nur, dass sie genau wusste, dass dies keine Erinnerung war, sondern JETZT gerade passierte! Sie war sich ganz sicher, obwohl sie nie zuvor so etwas erlebt hatte: Dies war ein Blick auf etwas, dass sich in diesem Augenblick

zutrug. Oder in naher Zukunft...

Madoka keuchte und krümmte sich gequält als die Vision sie endlich, nach scheinbar endlosen Sekunden, wieder freigab. Diesmal war Aurinia an ihrer Seite, als sie wieder klar sehen konnte - und

Madoka hatte nicht einmal gemerkt dass die Yosei neben sie getreten war. Aurinia stützte die junge Frau, half ihr zu einem knorrigen, alten Baum hinüber unter dem es halbwegs trocken geblieben war. Sie setzten sich.

"Was ist los?", fragte die Yosei gerade heraus, aber Madoka schüttelte nur stumm den Kopf. Sie WOLLTE nicht darüber sprechen. Sie hatte Angst, wenn sie den Bildern Namen gab würde sich ihre Wahrheit nicht mehr verleugnen lassen. Vielleicht, hoffentlich, war dies alles ja doch nur Einbildung und ihrem erschöpften Zustand zuzuschreiben.

Aber eine beharrliche, durchdringende Stimme in ihrem Inneren behauptete das Gegenteil. Und im Grunde wusste sie auch, dass sie sich bloß gegen etwas Unabwendbares wehrte.

Aurinia runzelte die Stirn.

"Vielleicht bist du einfach nur erschöpft.", sagte die junge Frau dann langsam, als hätte sie einmal mehr Madokas Gedanken gelesen.
 

Aber Aurinia spürte eine unsichtbare Mauer zwischen sich und der Freundin entstehen, oder auch einen unüberwindlichen Graben. Es wäre ihr, selbst wenn sie es tatsächlich gewollt hätte, in diesem Moment nicht möglich gewesen in ihr Bewusstsein einzudringen. Und sie wusste, dass dieses Misstrauen, das Madoka ihr entgegenbrachte, sehr wohl auch ihr selbst zuzuschreiben war.

Doch noch hatte sie nicht vor irgendeine Erklärung abzugeben.

Madoka litt. Das konnte sie deutlich sehen. Sie wollte sie jetzt nicht bedrängen und auch nicht noch mehr verwirren.

"Ruh dich einfach ein wenig aus.", riet die Yosei der jungen Frau und erhob sich, um zu Yasha hinüberzugehen.
 

Madoka hatte gar nicht richtig gehört, was ihre Freundin gesagt hatte und auch nur am Rande registriert, dass sie nun wieder gegangen war. Denn mit gelinder Überraschung (eigentlich durfte sie hier, in dieser Zeit, ÜBERHAUPT nichts mehr überraschen...) hatte sie nun festgestellt, dass dies

genau der Baum war, unter dem sie vor, wie es ihr vorkam, so langer Zeit in dieser Welt, in dieser Vergangenheit, erwacht war. Vielleicht lag es an diesem Ort, an dieser kaum zu ignorierenden mystischen Kraft auf dieser Lichtung, dass sie nun so plötzlich für so etwas wie Visionen empfänglich war. Sie hatte keine Ahnung - und es war ihr auch alles gleich. Sie wünschte nur noch, dass Takeo lebend zu ihr zurückkam. War das zu viel verlangt?

Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.

Doch die nächste Vision ließ nicht lange auf sich warten.

Und sie war noch heftiger als alle davor.
 

~~~oOo~~~
 

Kanzaki Shido war ein gebrochener Mann.

Er trauerte um die Liebe, die er nicht leben durfte, und um die Freundschaft zu dem besten Freund, den er je gehabt hatte, und die er wohl für immer verloren hatte - selbst wenn Takeo diesen Wahnsinn überleben sollte. All das war so... Es kam ihm vor wie ein böser Traum, nicht wie die bittere Realität.

Takeos nachtschwarzes Pferd war in ein langsames Schritt-Tempo gefallen, sobald sie die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten. Es war so, als würde selbst Akuma trauern und sich nur widerstrebend immer weiter von seinem Herren entfernen.

Mit hängenden Schultern über die Leiche Mamorus gebeugt saß Shido-san da und hätte sich nicht einmal mehr gewundert, hätte sich in diesem Moment der Boden aufgetan und Satan leibhaftig ausgespieen, der kam um ihn zu holen.

Er machte sich Vorwürfe.

War es wirklich richtig gewesen seinen Freund allein zurückzulassen? Hätte Takeo ihn wirklich angegriffen, wenn er sich geweigert hätte zu gehen? Er wusste es nicht. Sein Freund war in einem solch merkwürdigen Zustand gewesen, dass er ihm buchstäblich alles zugetraut hätte.

Aber nicht Takeos Drohung hatte ihn schließlich nachgeben und umkehren lassen. Auch nicht Takeos Bitte sich um Mamoru zu kümmern. Einzig seine Sorge um Madoka und die Tatsache, dass er das Mädchen daran hindern musste eine Dummheit zu begehen, sollte Takeo WIRKLICH etwas zustoßen, hatten ihn schließlich kapitulieren lassen.

Langsam näherten sie sich dem dunklen Rand des nahen Waldes. Und als sie nach einer Weile die ersten Bäume erreichten war Shido nicht einmal wirklich überrascht die Yosei Aurinia dort stehen zu sehen. Geschmeidig trat sie ihm aus den Schatten entgegen.

Entweder war sie gleich zurückgeblieben, um den Nachzüglern den Weg zu weisen, oder sie war noch einmal allein zum Waldrand zurückgekehrt, als sie schon ihren Unterschlupf erreicht hatten. Jedenfalls konnte Shido keine Spur von Madoka oder dem Halbdämon ausmachen.

Er zügelte Akuma direkt vor der jungen Frau, die ihm mit undeutbarem Blick entgegensah, und schwang sich aus dem Sattel. Die heftige, ruckartige Bewegung rief einen scharfen Schmerz in seiner Seite hervor, der ihn nachhaltig daran erinnerte, dass er selbst auch nicht unerheblich verletzt war. Er hielt mit zusammengebissenen Zähnen die Luft an und führte die Bewegung etwas langsamer zu Ende, gab jedoch keinen Laut von sich.

Aurinia warf einen langen, forschenden Blick auf Mamorus Leichnam.

"Und Takeo?", fragte sie leise.

Shido senkte den Kopf. Seine Finger schlossen sich so fest um die Zügel des Pferdes, dass das Leder knackte.

"Er ist noch dort, nicht wahr?"

Noch immer antwortete Shido nicht. Er nickte nur.

Aurinia trat vor und legte leicht eine Hand auf seine Schulter, wobei sie sich sehr strecken musste. Shido-san überragte sie um gut zwei Köpfe.

"Du hast dir nichts vorzuwerfen, Kanzaki-san.", sagte sie ruhig.

"Es musste so kommen. Glaub mir. Es war so... Es war unvermeidlich..."

Shido war sich sicher, dass sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, aber er beließ es dabei.

Er hatte eine Bitte zu erfüllen. Genaugenommen sogar zwei.

"Wo ist Madoka?"

Aurinia seufzte.

"Folge mir."

Und während sie ein weiteres Mal in die Schatten des Waldes eintauchten dachte sie nur immer und immer wieder dasselbe:

'Ich habe nicht gewollt, dass es SO endet. Ich wollte das nicht. Nicht so...'
 

~~~oOo~~~
 

Yamazaki Takeo stand mit dem Rücken zum Hafenbecken, nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von dem Schritt ins Nichts, von dem Sturz in das blutgefärbte Wasser. Er atmete rasch, seine Brust hob und senkte sich sehr schnell und der Verband zeigte Spuren von frischem Blut. In seinen Händen hielt er die beiden Kodachi. Die Klingen wiesen nach hinten und Blut klebte an ihnen - ebenso wie an dem langen Katana seines Gegenübers.

Saito Hajime war in der heraufziehenden Dämmerung nur noch ein Schatten seiner selbst. Doch sein Kampfgeist schien ungebrochen.

"Ich bin deine Nemesis, Attentäter.", flüsterte er nun. "An mir gibt es keinen Weg vorbei."

Takeo bewegte nicht einen Muskel.

"Lass den Hitokiri zu Ende bringen, was der Vagabund nicht geschafft hat! Du wirst mich töten müssen." Saitos Stimme wurde wieder lauter.

Die letzten fünfzehn Minuten hatten sie im Kampf verbracht, einem wilden, rücksichtslosen Hin und Her aus Saitos erbarmungslosen Angriffen und Takeos ruhigem und dennoch effektivem Parieren. Trotzdem hatte der "Wolf" es sich nicht nehmen lassen, immer wieder gehässige Kommentare abzugeben und Takeo immer weiter zu verunsichern. Und auch wenn der junge Mann es bisher nicht

wirklich an sich herangelassen hatte, so musste er doch zugeben, dass ihn Saitos Worte zwar noch nicht wirklich ablenkten, aber doch seine Gedanken in Bahnen zwangen, die er nicht kontrollieren konnte. Seine Gedanken, vor allem seine Gefühle, schienen sich selbstständig zu machen.

Saito lachte leise, als wüsste er genau, was in Takeo vorging. Er begann ihn langsam und lauernd zu umkreisen. Takeo trat seitlich vom Ufer zurück, folgte der Bewegung und ließ Saitos Hände nicht eine Sekunde aus den Augen.

Der "Wolf", oder wer auch immer es nun war, der vom Körper des Shinsengumi-Kommandanten Besitz ergriffen hatte, trieb ein grausames Spiel mit ihm. Schon viele Male hätte er die Möglichkeit gehabt Takeo wenn schon nicht tödlich, dann jedoch zumindest so verheerend zu verletzen, dass der

junge Samurai kampfunfähig gewesen wäre. Warum tat er es nicht?

Warum?

Und Takeo selbst kämpfte auch nur aus der Defensive. Dieser Kampf konnte, auf diese Weise fortgeführt, noch Stunden andauern, bis sie eben beide vor Erschöpfung zusammenbrachen. Auch wenn Takeo argwöhnte, dass Saito, der alles Menschliche längst hinter sich gelassen zu haben

schien, von einer seltsamen Kraft beseelt war, die ihn bis in alle Ewigkeit auf diese Weise weiterkämpfen lassen konnte. In diesem Fall würde er, Takeo, eindeutig verlieren.

Die Frage war nur: Wann?
 

"Du bist ein erbärmlicher Feigling, weißt du das?", sagte Saito nun lauter.

"Auch du hättest mich doch längst besiegen können wenn du es gewollt hättest. Aber nein, du wählst ja lieber den langen, schmerzhaften Weg."

"Ich würde eher sterben als noch einmal dem Attentäter zu erlauben Macht über mich zu gewinnen.", antwortete Takeo ruhig.

"Ich werde ihn besiegen. Und ich werde dich dazu zwingen aufzugeben OHNE dich zu töten."

Saito spuckte aus.

"Worte. Nichts als schöne Worte. Wie willst du das anstellen: Mich zur Aufgabe zwingen ohne mir mit dem Tod zu drohen? Ich sage dir, du wirst mich nicht ohne den Hitokiri in dir besiegen. Ihr seid eins. Du KANNST ihn nicht aufhalten!"

Und abrupt machte er einen Schritt voran und zur Seite, sein Schwert zuckte so schnell nach vorn, dass es nur als verschwommener Schemen wahrnehmbar war - doch Takeo parierte auch diesen Angriff mit Leichtigkeit. Er nahm Anlauf und sprang. Er drehte sich in der Luft über Saito und kam

hinter ihm zum stehen, das alles in nur einer einzigen, langen Sekunde. Und noch währen der "Wolf" sich zu ihm herumdrehte schwang Takeo die Kodachi und ließ ihre Klingen mit Macht auf dem Boden aufschlagen.

"DORYU-SEN!"

Diese Technik machte sich die umgebende Luft zunutze. Durch den doppelten Aufprall entstand ein Vakuum, das die Erde wellenförmig anhob und aufbrach. Die Energiewelle raste auf Saito zu - eine weniger machtvolle Version der Technik Tessaigas, aber bei menschlichen Gegnern normalerweise

mehr als verheerend.

Nicht so bei Saito.

Noch während die Welle heranraste und die Splitter der zerbrochenen Kodachi-Schwerter in weitem Umkreis zu Boden regneten, hatte Saito sich bereits zum Sprung gespannt. Er stieß sich in dem Moment vom Boden ab, als die Welle unter ihm entlangdonnerte. Sie hätte ihn unweigerlich zerrissen oder zumindest nachhaltig außer Gefecht gesetzt. Doch Saitos Sprung hatte diesem das

Leben gerettet.

Noch nie zuvor hatte Takeo einen Menschen - Menschen? - so hoch springen sehen. Einmal mehr sah der junge Schwertkämpfer seine Gedanken bestätigt, dass kaum noch etwas Menschliches an Saito sein konnte.

Takeo schleuderte die nutzlosen Handgriffe der zerbrochenen Kodachi ins Meer. Er fasste nach dem wiedererlangten Katana an seiner Seite, das er zuvor aufgelesen und nach der Auseinandersetzung mit Mamoru hier verloren hatte. Doch auch dieses Schwert zog er so, dass die stumpfe Seite nach vorn wies. Er wollte um keinen Preis der Welt töten. Und wenn der Kampf ewig so weiterging.

Er würde nicht nachlassen.

Er würde ein für alle Mal die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen bringen.

Er würde die Vergangenheit hinter sich lassen und den Attentäter besiegen.

Endgültig.

Und wenn es das Letzte war, was er tat.

Er tat es nicht nur für sich. Er tat es für Madoka. Er tat es für Shido, ja sogar für Aurinia und Yasha, für Kanoe und Shigeru. Und er musste siegen - auch wenn es sein Leben kosten sollte.

'Madoka...', dachte er, während er sein Schwert hoch über den Kopf hob.

'Verzeih mir ein weiteres Mal. Ich muss kämpfen.'
 

~~~oOo~~~
 

Mit einem Ruck setzte Madoka sich auf.

Sie war tatsächlich vor Erschöpfung ein wenig eingenickt, wie sie mit leiser Verwunderung feststellte. Doch jetzt, gerade eben, hatte sie ganz deutlich Takeos Stimme gehört. Ein Widerhall seiner hervorgestoßenen Worte, kurz vor einem neuen Schlagabtausch mit jenem fürchterlichen, kaum erkennbaren Gegner, den sie schon in ihren Visionen gesehen hatte.

Und dies Bild glitt mit ihr hinüber ins Wachsein: Takeo mit hoch erhobenem Schwert und wehendem, roten Haar. Und das Gefühl, das etwas herannahte, unaufhaltsam, unabänderlich, war NOCH eindringlicher geworden.

Voll innerer Unruhe stand sie auf, schlug sich geistesabwesend den Dreck aus dem ohnehin hoffnungslos mit Blut und eingetrocknetem Schlamm besudelten Kimono. Und noch bevor sie sich ganz erhoben hatte sah sie auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung Aurinia und Shido aus dem Wald treten. Shido führte Akuma am Zügel. Und auf dem Pferd...

Madoka riss die Augen auf.

Nein. Das war unmöglich. Das konnte nicht Takeo sein. Bei all den Visionen die sie in der letzten Stunde gequält hatten, hätte sie es mit Sicherheit gesehen oder zumindest gespürt, wenn Takeo nicht mehr lebte.

Sie lief auf die kleine Gruppe zu und wunderte sich kurz, warum Aurinia mit Shido gekommen war, obwohl sie hier mit ihnen auf der Lichtung gewartet hatte. Vielleicht war sie eventuellen Nachzüglern vorsorglich entgegen gekommen. Es war auch unwichtig.

Madoka erreichte Shido und Aurinia mit wild jagendem Herzen. Ohne ein weiteres Wort trat sie an den beiden vorbei und streckte die Hand nach dem Gesicht des Toten auf Akumas Rücken aus, führte die Bewegung jedoch nicht zu Ende. Das Haar war so glutrot wie das von Takeo, jedoch nicht so lang wie das des jungen Samurai. Sie brauchte das Gesicht unter dem gnädigerweise herabgefallenen Vorhang aus roten Haarsträhnen gar nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich bei der Leiche um Yamazaki Mamoru handelte.

Und DASS er tot war, war offensichtlich. Die zerschundene Haut, die unter dem, was von der Kleidung übrig geblieben war, hervorsah, war schneeweiß, das Blut bereits eingetrocknet. Er rührte sich nicht und sein Brustkorb hob und senkte sich auch nicht mehr.
 

Vielleicht hätte Madoka in diesem Augenblick wenn schon nicht verhaltene Freude, so dann doch zumindest Gleichgültigkeit empfinden sollen. Aber sie empfand nichts anderes als tiefe Trauer.

Jetzt, wo sie den Menschen tot vor sich sah, den sie am Meisten hassen sollte nach all dem, was er ihr und vor allem seinem eigenen Bruder angetan hatte, jetzt, wo sich deutlicher als je zuvor der Gedanke in sie einbrannte, dass Takeo seinen einzigen noch lebenden Verwandten, seinen Bruder, verloren hatte, der ihm so ähnlich war, jetzt verspürte sie einen tiefen, allumfassenden Schmerz in sich, der dem von Takeo wohl kaum nachstehen konnte. Es war, als hätte sie selbst einen Bruder verloren. Und das war, nach allem was sie von Mamoru gehört hatte und auch selbst an ihm

kennengelernt hatte, wirklich erstaunlich.

Er tat ihr einfach nur Leid.

Sie verstand plötzlich, warum Takeo den Leichnam hatte zurückholen wollen. Mamoru sollte Ruhe finden. Wenn er es schon nicht zu Lebzeiten gekonnt hatte, dann sollte zumindest seine Seele Frieden und Ruhe finden, indem man seinem Körper ein richtiges Begräbnis zukommen ließ.

Auf die flüchtige Erleichterung Madokas, dass es nicht Takeos Leichnam war, den Shido dort mitgebracht hatte, folgte nun eine jäh auflodernde Angst.

"Wo ist Takeo?"

Sie drehte sich Shido-san zu, der es bislang vermieden hatte sie anzusehen. Doch nun wich er ihrem Blick nicht mehr aus, sah ihr fest in die dunklen, großen Augen, die beinahe ebenso traurig schauten wie die von Takeo vorhin. Er ließ Akumas Zügel fallen und näherte sich ihr.

"Madoka. Ich..." Er schluckte. "Er hat mir gesagt, dass du zurückkehren sollst in deine Welt. Hier wirst du kein Glück finden..."

"Du hast ihn... allein gelassen? Du hast ihn MIT DIESEM MONSTER ALLEIN GELASSEN?!", schrie sie ihn an.

"Wie konntest du nur? Warum..."

Doch noch während sie wieder einmal heiße Tränen, diesmal des Zorns, in sich aufsteigen fühlte, da wusste sie die Antwort. Sie konnte die Szene beinahe vor sich sehen, in welcher Takeo seinen Freund darum bat, Mamorus Leichnam fortzubringen, und in der er ihn bat, auch sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Der Hitokiri in ihm hatte ihr Angst gemacht.

Aber der selbstlose Takeo tat es beinahe noch mehr...

"Hat er... den Verstand verloren...?", flüsterte sie entsetzt.

Shido hatte die Stirn gerunzelt und sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den haselnussbraunen Augen an. Er sagte nichts, aber er fragte sich ernsthaft, woher die junge Frau wissen konnte, mit wem Takeo zur Zeit kämpfte und in welcher Gefahr er womöglich schwebte. Madoka schüttelte den Kopf, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass das alles nicht wahr sein konnte.

"Er ist... allein zurückgeblieben? In seinem Zustand..."

Wie ein Pfeil durchdrang ihr Blick den Shidos.

"Du hättest ihn aufhalten sollen!"

"Ich habe es versucht, verdammt nochmal! Ich hätte mein Leben gegeben, damit er mir folgt! Ich war bereit dazu sogar mit ihm zu kämpfen, um ihn zur Rückkehr zu zwingen! Allerdings... nun... ER hatte das Schwert..."

'Und ich nur meine Fäuste...', fuhr er bitter in Gedanken fort.

Madoka wandte sich von ihm ab.

"Madoka... Er weiß genau, worauf er sich einlässt, glaub mir. Er will es so..."

Das war nicht unbedingt das Tröstlichste, was er hätte sagen können - und Madoka zeigte auch keine sichtbare Reaktion. Aber unbeholfen wie er nun einmal war, versuchte er es erneut.

"Er wird es schaffen. Er kommt zurück..."

"Das kannst du nicht wissen!", fauchte sie und fuhr zu ihm herum.

Jetzt trat Aurinia, die bislang schweigend zugehört hatte, dazwischen.

"Madoka, beruhige dich bitte. Ich bin sicher..."

Aber die junge Frau hörte gar nicht hin. Sie alle konnten nicht wissen, was sie gesehen hatte, was für Visionen sie plagten. Dies war ein Kampf ums nackte Überleben. Takeos Gegner hatte nichts mehr zu verlieren.

Shido streckte nun seine Hand aus und hielt ihr etwas Kleines, Silbernes hin. Madoka blinzelte.

Es war die Kette, die sie Takeo gegeben hatte. Die kleine, silberne, aufgerichtete Schlange schien sie angreifen zu wollen.

"Was..."

"Er hat sie mir gegeben. Ich sollte sie dir zurückbringen, damit du sie für ihn verwahrst, bis er... zurückkehrt..."

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Aber er konnte die Verzweiflung in ihrem Blick nicht mehr ertragen. Er wollte, dass sie wenigstens die Hoffnung nicht aufgab.

Madoka hob ihre Hand und er ließ die Kette in sie hineingleiten. Fest schlossen sich ihre Finger um sie, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
 

Und in dem Moment, wo sich ihre Hand um die Kette schloss, suchte sie eine derart heftige Vision heim, dass sie erschrocken zurücktaumelte, sich krümmte und nur mit äußerster Mühe noch auf den Beinen halten konnte.

Schmerz.

Ihr ganzer Körper bestand aus einem einzigen, brennenden und qualvollen Schmerz. Sie keuchte, wehrte sich und konnte dennoch nicht verhindern, dass Bilder auf sie einstürmten, die sie zum Schreien brachten, die sie ihres Verstandes berauben wollten. Aurinia war sofort neben ihr, doch der glasige Blick ihrer Freundin verriet der Yosei, dass diese kaum merkte, was um sie her vorging.

Madoka weinte. Sie schrie.

Sie gebärdete sich wie wild in den Armen der Yosei.

Und sie sah...

Sie sah Takeo fallen.

Sie sah Blut. Zu viel Blut diesmal, um es noch überleben zu können. Und sie hörte das grausame Lachen des unmenschlichen Gegners, der eigentlich keine Existenzberechtigung mehr hatte.

'Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein!', hämmerte es immer und immer wieder in ihrem Kopf.

Und doch spürte sie seinen Schmerz, als wäre es ihr eigener.
 

Der Ruck, mit dem sie beinahe schon brutal in die Wirklichkeit zurückgeworfen wurde, ließ sie erneut taumeln.

Aber schon wenige Sekunden später riss sie sich aus den Armen ihrer Freundin los. Sie begann zu laufen, stolperte und fiel beinahe, fand dann jedoch in einen gleichmäßigen Laufschritt. Sie erreichte das nachtschwarze Pferd in dem Moment, wo sie ihre gerade zurückgekehrten Kräfte erneut zu verlassen drohten. Mühsam, aber mit einer entschlossenen Kraftanstrengung, zog sie sich schnell, wenn auch alles andere als elegant, auf den Rücken des Tieres.

Aurinia sog scharf die Luft ein und setzte augenblicklich zur Verfolgung an - sie ahnte, was nun kam - und auch Shido setzte sich in Madokas Richtung in Bewegung.

"Madoka! Nein!" Yasha kam mit einem unwilligen Gesichtsausdruck auf den Zügen ebenfalls mit großen Sätzen hinter ihr her.

"Was hast du vor? Glaubst du, du hilfst ihm, wenn du jetzt Hals über Kopf zu ihm rennst?", bellte der Halbdämon ungehalten. Aurinia hatte sie fast erreicht.

"Madoka, lass es sein. Bitte!", rief sie aufgeregt. "Ich glaube nicht, dass es das ist, was Takeo möchte. Er will, dass du hier in Sicherheit bleibst. Sei doch vernünftig!"

Ihre Stimme klang eindringlich. Aber Madoka antwortete nicht.

Ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken gab sie dem Pferd die Zügel und jagte Sekunden später in einer Gischt aus aufgewirbelten Regentropfen und Erde hinein in das lichtschluckende Dunkel des Waldes. Schon wenig später war sie den Blicken der vollkommen verblüfften Freunde entschwunden.

In my arms...

Saito lachte.

Ein grausames, abgrundtief böses und kaltes Lachen, das Takeo an diesem Tag bereits allzu oft hatte hören müssen. Der junge Samurai konnte sich nun kaum noch auf den Beinen halten. Nach jedem Schlagabtausch nutzte er seine Klinge als Stütze, um nicht schlichtweg zusammenzubrechen.

Saito belauerte ihn.

Er genoss Takeos Schmerzen und seine Erschöpfung in vollen Zügen. Er spielte mit ihm. Längst hätte er den jungen Mann töten können. Aber er tat es nicht.

Noch nicht.

Er wollte ihn leiden sehen. Er wollte den berüchtigten Mörder leiden sehen und ergötzte sich an seinem langsamen Zusammenbruch.

"Ich hatte mehr von dir erwartet, Hitokiri.", sagte Saito nun in gespielt verletztem Ton.

"Das kann unmöglich alles gewesen sein. So wirst du mich niemals besiegen. Schon gar nicht, wenn du nicht bereit bist ein weiteres Mal zu töten. Ich LASSE dich nicht gehen - und auch nicht sterben, bis du es nicht ein einziges Mal ernsthaft versucht hast."

Takeo hob in einer ungemein müde wirkenden Geste seinen Kopf. Er war so schwer. Das alles war so schwer.

Nichts war mehr wichtig. Bald würde es vorbei sein. Und seine Schuld getilgt.

"Mach dich nicht lächerlich, Saito.", sagte Takeo leise durch zusammengebissene Zähne.

"Ich WERDE sterben. Aber nicht als Hitokiri."

Plötzlich wurde der "Wolf von Mibu", vielmehr das, was von ihm übrig war, sehr ernst. Ganz langsam, mit gesenkter Waffe, trat er Takeo entgegen. Beinahe nachdenklich war der Blick in seinem einzigen, unergründlich dunklen Auge.

"Ich fürchte...", sagte er nun beinahe flüsternd, "... in diesem Punkt irrst du dich, Yamazaki."
 

~~~oOo~~~
 

Madoka jagte dicht über den Hals Akumas gebeugt durch den Wald dahin. Gehölz krachte und knackte unter den donnernden Hufen des Pferdes. Äste peitschten ihr ins Gesicht, ritzten ihre Haut - sie spürte es nicht einmal. Sie krallte sich in Akumas Mähne, verbissen darauf bedacht nicht den Halt zu verlieren bei dem wilden Galopp, den das Tier an den Tag legte. Es war, als könne das Pferd spüren, dass etwas nicht in Ordnung war und dass sein Herr in Gefahr schwebte.

"Lauf, Akuma! Bring mich zu ihm! Bring mich zu deinem Herren!"

Akuma schnaubte laut und steigerte noch einmal sein Tempo, als Madoka sich noch tiefer über seinen Hals beugte.

'Schneller! Bitte, schneller! Lieber Gott, lass es noch nicht zu spät sein...'
 

~~~oOo~~~
 

Takeo sah auf. Er begegnete dem Blick Saitos und hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was dieser ihm sagen wollte. Aus der Nähe betrachtet sah das Gesicht des ehemaligen Shinsengumi-Kommandanten noch schrecklicher, noch verheerter aus. Takeo wurde leicht übel, als er deutlich die Zähne hinter der aufgerissenen Wange sehen konnte. Die leere Augenhöhle schien ihn hämisch anzublinzeln. Wie konnte dieser Mensch... dieses Etwas noch leben?

"Du wirst mich töten. Als Attentäter. Ein Mal wird der Hitokiri noch kommen. Und dies wird dein Untergang sein. Wie passend, dass ich durch die Hand des Mörders sterbe, den ich erschaffen habe..."

Es dauerte eine Weile, bis Takeo sich der ganzen Tragweite dessen bewusst wurde, was er da gerade gehört hatte. Ungläubig sah er ihn an, während Saito wieder ein Stück zurücktrat, die Klinge zwischen sich und den Gegner hob.

"Was..."

"... ich damit meine?" Saito lächelte abfällig.

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich es dir jetzt schon sagen sollte. Ich hatte es mir für das "große Finale" aufgehoben. Bist du wirklich schon bereit für die Wahrheit, mein junger Freund?"

In Takeos Blick glomm völliges Unverständnis.

"Nun gut, nun gut. Ich sage es dir.", seufzte der "Wolf" ergeben, als hätte Takeo darum gebettelt es zu erfahren.

"Ich habe deinen Bruder getötet, nicht wahr? Das ist ja nicht neu für dich - obwohl es mich erstaunt hat, dass allein diese Tatsache nicht schon ausgereicht hat den Hitokiri erneut hervorzubringen."

Er machte eine kurze Kunstpause, in welcher er den Blick des jungen Samurai unerbittlich mit dem eigenen gefangen hielt.

"Aber... du kannst gar nicht wissen, dass auch ich es gewesen bin, der... nun... wie soll ich es besonders geschmackvoll ausdrücken..., der deinen Zieheltern die Kehlen durchgeschnitten hat. Und glaube mir: Auch wenn meine Berufung als Shinsengumi-Kommandant so manches Mal wahrlich kein Vergnügen mit sich brachte - DAS habe ich genossen..."
 

~~~oOo~~~
 

Madoka schoss auf dem Rücken des wie ein schwarzer Dämon dahinjagenden Pferdes aus dem Wald heraus. Binnen weniger Augenblicke hatten sie den Stadtrand von Kyoto erreicht und noch immer glomm ein orangener Feuerschein durch die hereinbrechende Dämmerung zu ihnen herüber.

"Schneller, Akuma!"

Sie glaubte nicht mehr atmen zu können. Das Gefühl, das etwas Unabwendbares herankam war nun direkt über ihr, in ihr. Es passierte.

Jetzt.

Und sie wusste, auch wenn es sie innerlich schier zu zerreißen drohte, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen konnte.
 

~~~oOo~~~
 

Takeo stand wie versteinert.

Er stand einfach nur da und starrte. Ohne zu blinzeln. Ohne zu atmen.

Der Schmerz war grauenhaft.

Wie die Faust eines Riesen, die sich um seine Eingeweide legte und erbarmungslos zudrückte fühlte es sich an. Alles Leben, das den jungen, unbedarften Takeo ausgemacht hatte, schwand dahin - und würde nicht mehr zurückkehren. Er wusste es.

Er versuchte sich dagegen zu wehren. Mit aller Kraft versuchte er das Kommen des Attentäters zu verhindern - und verlor den Kampf.

Mit jedem Schlag seines Herzens blitzten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Die Mutos, mit durchschnittenen Kehlen in ihrem Blut. Mamoru, blutüberströmt in seinen Armen.

Wieder und wieder.

Immer wieder diese grausamen, leeren Augen der Mutos und die Hand seines sterbenden Bruders, die sich um seine eigene klammerte, um dann leblos herabzufallen.

Und die Schläge seines Herzens wurden lauter, bis sie schließlich wie ein gewaltiger, zeremonieller Gong das Kommen des Hitokiri einläuteten.

Unaufhaltsam.

Und unabänderlich.

Takeo hob sein Katana und drehte es herum. Saito lächelte äußerst zufrieden.

"Und ich heiße willkommen den Mann, den ich ins Leben gerufen habe. Mein Feind und zugleich mein größter Fehler. Meine Aufgabe war es, das Volk von Kyoto zu schützen. Die Shinsengumi war nie etwas anderes, als die Schutztruppe für die Samurai und das gemeine Volk. Doch ich habe den größten Feind dieses Volkes selbst erschaffen. Ich war es, der Tod und Mord unter die Menschen brachte, indem ich zugelassen habe, dass du zum Attentäter wurdest. Ich hätte warten und dich gleich an jenem Tag erledigen sollen, als ich auch deine Zieheltern umbrachte. Diesen Fehler werde ich nun korrigieren. Spät, aber besser als niemals.

Jetzt, wo du die Wahrheit kennst, jetzt wo du mir wahrhaft als Hitokiri gegenüberstehst, jetzt kann und werde ich dich vernichten. Und sollte ich dabei sterben, dann ist dies MEINE Art Buße zu tun. Ich schätze, dass ich allein noch deshalb lebe, um dich mit mir in die Hölle zu nehmen. Und ich schwöre, ich werde es tun!"

Er hob sein Schwert.

Und mit einem unmenschlichen, markerschütternden Schrei warf sich Takeo auf den "Wolf von Mibu", begann der endgültige, letzte und alles entscheidende Kampf auf Leben und Tod.
 

~~~oOo~~~
 

Madoka konnte den Hafen unter sich sehen.

Akumas Hufe donnerten durch die Straßen Kyotos und die Häuser huschten so schnell an ihnen vorüber, dass sie nur als Schemen zu erkennen waren. Gemeinsam jagten sie den Hügel hinab, auf welchem die Stadt erbaut worden war, und die junge Frau hatte freien Ausblick auf das Hafengelände und die umliegenden Stadtviertel - vielmehr auf das, was von ihnen noch übrig war.

Das Feuer hatte sich verlagert.

Es handelte sich noch immer um einen Großbrand, aber er wütete nun in Höhe des alten Kaiserpalastes, hatte eine breite Schneise der Zerstörung hinter sich zurückgelassen. Das ehemals beinahe beschauliche Hafenviertel glich nun einer Alptraumlandschaft aus grauer Asche und schwarz-verkohlten Schutthaufen. Hier und da glomm noch ein kleiner Brandherd vor sich hin. Madoka konnte überwiegend Rauchsäulen und einen beständigen Ascheregen ausmachen, der es

ihr schwer machte überhaupt zu atmen. Akumas Hufe wirbelten die Asche auf, sodass es aussah als würde ein grauer Orkan herannahen.

Die Sonne war untergegangen. Dunkelheit zog herauf wie eine alles verhüllende Decke. Jeden Moment hatten die den Hafen erreicht.

Madoka wappnete sich.

Sie wappnete sich für den schlimmsten Anblick ihres Lebens.
 

~~~oOo~~~
 

Funkensprühend trafen sich blanke Klingen und trennten sich wieder, nur um noch verbissener, noch heftiger aufeinander zu prallen. Wieder und immer wieder, wie in einem wilden, unerbittlichen Tanz, drangen die Schwerter aufeinander ein, ihre Besitzer ständig auf der Suche nach einer Schwäche in der Deckung des Gegners.

Und sie waren schnell.

Beide, Takeo und auch Saito, waren wahrlich Meister des japanischen Schwertkampfes. Schlagabtausch auf Schlagabtausch erfolgte derart schnell, dass die Bewegungen einem schemen- und alptraumhaften Kräftemessen dunkler, fremdartiger Dämonen glich. Vor dem immer dunkler werdenden Hintergrund des Himmels schienen die schlanken Körper der Kombattanten in verbissener Wut miteinander zu ringen, wobei sich die Kampfstile der Männer jedoch gänzlich unterschieden.

Saitos Kampf war gradlinig, hart und schien genau berechnet, während Takeos Stil leicht und nicht vorhersehbar war. Saito kämpfte immer am Boden. Takeo jedoch sprang, umkreiste und drehte Saltos über den Gegner, um ihn unerwartet von oben oder der Seite angreifen zu können. In Punkto Schnelligkeit und Ausdauer nahmen sich beide Kämpfer kaum etwas - und dies war erstaunlich, wo Saito doch eher tot als lebendig aussah und Takeo aufgrund seiner starken Verletzungen eigentlich längst zusammengebrochen sein müsste.

Es sollte nie bekannt werden, woher die beiden Gegner ihre Kraft nahmen, um sich so lange und bis aufs Blut zu bekriegen.
 

~~~oOo~~~
 

Über Madokas Gesicht liefen Tränen.

Sie mochte sich einreden, dass es an dem Wind und der Schnelligkeit lag, in der sie voranstürmten.

Doch sie wusste innerlich, dass es Tränen der Hilflosigkeit, ja sogar des Zorns waren - denn auch wenn sie nun den Hafen direkt vor sich liegen sah, nur noch ein Paar hundert Meter entfernt, so ahnte sie doch mit immer größer werdender Gewissheit, dass sie nicht mehr verhindern konnte was nun geschah.

Und sie hatte plötzlich Angst davor den Kai zu erreichen.
 

~~~oOo~~~
 

Wunden, gerissen von blutbesudelten Klingen, die niemals mehr verheilen würden.

Langes, durch die Luft peitschendes, rotes Haar.

Schweißgebadete Körper, unter deren Haut stahlharte Muskeln unablässig arbeiteten.

Umherspritzendes, warmes und dunkles Blut.

Wut- und schmerzverzerrte, beinahe maskenhafte Gesichter.

Brennende Augen, den Tod direkt vor sich und doch unnachgiebig, und entschlossen.

Keuchender Atem aus zwei zum Schrei geöffneten Kehlen.
 

Takeo kannte keine Furcht mehr. Er kannte auch keinen Schmerz mehr - zumindest ließ er ihn nicht mehr an sich heran.

Sein Leben war zu Ende.

Er spürte es mit jeder Faser seines Körpers.

Der Hitokiri in ihm hatte gesiegt. Er würde niemals mehr der Takeo sein, den die Menschen kannten, den Madoka liebte, und der Shidos Freund gewesen war. Und er wollte nicht, dass man ihn so sah.

Was für Saito galt, das galt für ihn nicht weniger: Er würde vielleicht sterben. Aber er würde auch alles daransetzen, um den verhassten, lange gesuchten Feind mit sich in die Hölle zu nehmen. Es war gut, dass niemand von Takeos Freunden jetzt hier war, um Zeuge dieses letzten, blutigen Tanzes zu werden, Zeuge der Rückkehr des unbarmherzigen Mörders, den man den "Roten Schatten" nannte.

Und ein "Roter Schatten" - das war er wahrhaftig.

Über und über mit Blut besudelt, das Gesicht mit dunkelroten Schlieren überzogen, dass Haar schwer und feucht von Blut und Schweiß sah er aus, wie ein leibhaftiger Dämon, der aus den roten Feuern der Hölle gekommen war, um noch ein einziges Mal eine Seele zu fordern.

So, wie er nun aussah, gab er den abstrakten, jedoch passenden Gegenpol zu Saito ab, der mit seinem verbrannten, verheerten Körper beinahe unermüdlich schien, und sich scheinbar dazu entschlossen hatte, seine Seele möglichst teuer zu verkaufen.

Es wurde Zeit diese Farce zu beenden.

Es war Zeit für die ultimative und letzte Attacke, die Takeo kannte.

Auf diese Technik hatte er Jahre hingearbeitet und es hatte ihn wahrhaft viel Zeit und Selbstbeherrschung abverlangt sie zu meistern - aber letzten Endes war es ihm gelungen. Muto Koji, sein Ziehvater, hatte sie ihm gezeigt. Wie passend, sie nun seinem Mörder präsentieren zu können.

Grimmige Freude wallte in dem Attentäter auf der er war, als Takeo sich nun einige Schritte rückwärtsgehend von Saito entfernte.

Dieser hielt inne.

Leises Erstaunen war in seinem Blick zu erkennen.

Er beobachtete jede von Takeos Bewegungen sehr genau, als dieser nun die Hand auf das Heft seines Katana sinken ließ, die Battojutsu-Stellung einnahm - allerdings mit einem Unterschied: Er hatte den linken Fuß vorn, wo eigentlich der rechte vorn stehen sollte - und sich für einen neuen Angriff bereit machte.

Doch selbst Saito konnte spüren, dass sich nun etwas geändert hatte. Der Hitokiri wirkte ganz ruhig, längst nicht mehr so voll von blindem Zorn und Mordlust wie gerade noch vor ein Paar Augenblicken.

Was jetzt kam, war ein sehr genau überlegter und gezielter Angriff. Und der "Wolf von Mibu" begriff, dass er seinen Gegner wohl doch unterschätzt hatte - denn diese Technik war ihm gänzlich unbekannt.
 

Takeo schloss die Augen.

Er atmete tief und gleichmäßig.

Körper und Geist wurden eins: Ein Wille, ein Ziel. Und er spürte wie ihn eine Kraft durchströmte, die zwar nur geliehen war, jedoch auch nur noch ein einziges Mal benötigt werden würde.

Er spannte sich.

Die lichtgleiche Geschwindigkeit, die er nun entwickeln würde und mit der er gleich angreifen würde, lag jenseits all dessen, was an herkömmlichen Attacken bekannt war. Es war DIE Mitsurugi-Geheimtechnik. Wenn Saito schon nicht genau sehen konnte, was Takeo wirklich vorhatte, so ahnte er jedoch, dass nun ein ernst zu nehmender Angriff erfolgen würde. Vielleicht ein tödlicher.

Aber er war gewarnt. Gewarnt durch die eben etwas andere Ausgangsstellung, die der junge Hitokiri eingenommen hatte. Im Battojutsu war es üblich, auf dem rechten Fuß anzugreifen, damit man nicht Gefahr lief, sich beim Ziehen selbst zu verletzen.

Wieso sollte der Hitokiri auf dem linken Fuß angreifen? Er würde sich nur selbst behindern.

Saito nahm erneut die Gatotsu-Stellung ein. Leicht würde er es Takeo nicht machen. Auch er selbst hatte Varianten des Gatotsu-Angriffs entwickelt, die niemand kennen konnte außer ihm selbst. Er würde dem Attentäter ein kleines Präsent mit auf den Weg geben.

Sekundenlang standen sich beide Gegner schweigend und schwer atmend gegenüber. Sie konzentrierten sich.

Als der Angriff schließlich kam, da war es diesmal wahrhaftig so, dass man der Bewegung nicht mehr folgen konnte.

Takeo schoss vor, während Saito den Angriff ruhig erwartete. Ein schwarzer Schemen vor dem samtenen Dunkel des Abendhimmels - Yamazaki schien zu fliegen. Die Klingen blitzten, reflektierten das letzte Licht des sterbenden Tages.

Und jetzt erkannte der "Wolf", aus welchem Grund der Attentäter auf dem linken Fuß angegriffen hatte.
 

Die Zeit schien stehen zu bleiben.

In diesen wenigen Zehntelsekunden, schien Saito absurderweise klarer zu sehen als jemals zuvor. Takeo war mit dieser Art des Angriffs seinem Gegner von Anfang an und im wahrsten Sinne des Wortes einen Schritt voraus. Er drehte den Oberkörper und entwickelte ein derart atemberaubendes Tempo beim Ziehen der Klinge und gleichzeitigen Voranstürmen, als würde er wahrhaftig fliegen.

Und noch etwas erkannte Saito in diesem Augenblick - und verstand es nicht.

Takeo hatte sein Schwert wieder gedreht...
 

Der Moment verging und die Zeit lief nun scheinbar doppelt so schnell weiter. Das Geräusch mit dem Takeos Waffe auf Saitos Schwert traf war markerschütternd. Ein Kreischen und Schreien, gleißend stoben Funken in die kommende Nacht.

Das Geräusch berstenden Metalls.

Dann war Takeo auch schon an seinem Gegner vorbei, kam hinter ihm zum Stehen, all das so schnell, dass man den Eindruck hatte, er hätte sich von einem zum anderen Standort teleportiert. Er atmete nicht einmal schneller als vorher, stand wieder in der Battojutsu-Haltung da, als würde er sich noch immer auf die Attacke vorbereiten, nicht, als hätte er sie soeben durchgeführt.

Singend flog die Spitze von Saitos Katana davon, wirbelte blitzend durch das Dunkel und schlug klirrend auf dem Boden auf, wo es noch ein gutes Stück davonschlitterte.

Zunächst sah es nicht danach aus, als wäre Saito überhaupt getroffen worden. Dann jedoch, mit einem seltsam dumpfen, reißenden Geräusch, platzte die restliche Kleidung und die Haut über seiner Brust bis hinab zur Hüfte mit einem jähen Ruck auseinander, gab eine Fontäne dunklen Blutes Preis, einen Strom pulsierenden Lebens, der beständig aus ihm herausströmte.

Saito zuckte zusammen.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass auch eine stumpfe Klinge bei ausreichender Wucht solche Wunden herbeiführen konnte.

Er gab keinen Laut von sich. Und wie durch ein Wunder blieb er auf den Beinen. Doch noch während Takeo mit fliegenden Haaren zum Stehen kam hatte Saito seine Überraschung überwunden, folgte der Bewegung des Hitokiri und wirbelte unerwartet zu ihm herum - etwas, womit Takeo eindeutig nicht gerechnet hatte.

Noch nie zuvor war es vorgekommen, dass jemand nach diesem Angriff noch aufrecht stand. "Amakakeru-Ryo-No-Hirameku" war ein Angriff, den er selbst aus der von Muto Koji vermittelten Basis an Kampf-Techniken weiterentwickelt hatte. Hierbei war es nicht unbedingt notwendig zu töten. Takeo konnte die Heftigkeit des Angriffs variieren und zurücknehmen wenn er es wollte.

Der Hitokiri beherrschte nun sein Handeln vollkommen.

Doch ein letztes Mal hatte sich Takeo, der Vagabund, in ihm aufgebäumt und dafür gesorgt, dass er mit der stumpfen Klinge angriff und dass er so der Attacke die größte Wucht nahm. Der Attentäter in ihm schrie wütend auf, verlangte nach seinem Vorrecht, den Mörder seiner Zieheltern nicht zu schonen.

Doch für einen weiteren Angriff reichte die Zeit nicht mehr.
 

Saito, der weniger einem Menschen, als vielmehr nun einem leibhaftigen Dämon glich, war zwar - höchstwahrscheinlich tödlich - getroffen, dachte jedoch nicht daran zusammenzubrechen, sondern nutzte den Schwung seiner Drehung aus, sein zerbrochenes Schwert nach Takeos Rücken zucken zu lassen.

Die Klinge riss die Kleidung und Haut des jungen Samurai von der linken Schulter bis hinunter zum Rückrad auf. Saito beendete seine Drehung jedoch noch nicht, sondern sprang vor, wirbelte noch in der Luft erneut um die eigene Achse und stieß von oben herab auf Takeo zu. Eindeutig handelte es sich auch hierbei um Gatotsu - allerdings in abgewandelter Form. Scheinbar hatte nicht nur Takeo eine Geheimtechnik entwickelt.

Noch während Yamazaki versuchte, nach der ersten, schrecklichen Attacke nicht das Gleichgewicht zu verlieren und einen scheinbar schwachen Versuch unternahm, sich herumzudrehen und den Schwertarm zur Verteidigung zu heben, drang Saitos zerstörtes Katana bis zum Heft in seine Brust.

Vom eigenen Schwung nach vorn gerissen, war er nun so dicht vor Takeo zum Stehen gekommen, dass dieser den Wahnsinn im Blick des "Wolfes" erkennen konnte - den Bruchteil einer Sekunde, bevor Saito vollkommen überrascht zu keuchen begann.

Plötzlich trat Blut über seine verbrannten Lippen und Sekunden bevor seine Augen brachen flüsterte er leise, jedoch mit einem verkniffenen Lächeln:

"Böses... muss... bestraft werden. Ich nehme meine Strafe... an."

Er zitterte, seine Hand krallte sich in Takeos Kleidung.

"Wir... sehen uns in der... Hölle..., Takeo...“

Saito sackte in den Armen des Hitokiri zusammen, fiel zu Boden, nun nur noch Fleisch und Knochen und vollkommen ohne Leben.

Takeo zog sein Schwert aus dem Körper des Toten, in das Saito einfach hineingelaufen war. Er selbst blickte auf das Heft von Saitos Katana hinab, das mitten in seiner Brust steckte, und spürte, wie das Leben aus ihm wich. Er konnte seine Beine bereits nicht mehr spüren. Sein Blick verschwamm.

Gleich.

Gleich war es zu Ende.
 

~~~oOo~~~
 

Madoka schrie.

Sie flog beinahe von Akumas Rücken, als die den Kai erreicht hatte und sich ihr das so gefürchtete und doch nun grausame Realität gewordene Bild bot, vor dem sie so viel Angst gehabt hatte.

"NEIN! Takeo..!"

Sie konnte sehen, dass der junge Mann bei ihrem Schrei langsam den Kopf hob. Dann taumelte er, seine Beine gaben nach und er brach an Ort und Stelle zusammen. Madoka lief wie von Furien gehetzt zu ihm.

Sie erreichte ihn in dem Moment, als er endgültig in die Knie brach und sein Oberkörper nach vorn kippte. Mit weit ausgebreiteten Armen fing sie ihn auf.
 

~~~oOo~~~
 

Der Mond zog in diesen Tagen früh herauf.

Zu sehen war davon jedoch bis zum Einbruch jener einen, scheinbar nicht enden wollenden Nacht nicht viel. Zu schlecht waren die Wetterverhältnisse der letzten Tage gewesen.

Doch in dieser Nacht, jener einen Nacht, die auf so viel Tod, Verderben und Trauer herabsah, in dieser einen Nacht riss die Wolkendecke auseinander und gab einen Vollmond preis, der so hell strahlte, dass alles in silbernes Licht gebadet wurde. Verschwunden war das blutige Rot, in das alles um sie her getaucht gewesen war. Es gab nur noch die Schwärze tiefer Schatten und das Silber hellen Mondlichtes.

In Takeos Augen spiegelte sich dieses Licht, als würde er in weite Ferne schauen und dort etwas unbeschreiblich Helles und Strahlendes sehen, etwas, das im Stande war all die Schatten dieses Tages und auch der Vergangenheit endgültig zu verdrängen.

Madoka saß am Boden inmitten gefallener Krieger und getaucht in dasselbe Mondlicht, das Takeos Augen leuchten ließ. Sie hielt ihn im Arm.

Sie konnte spüren, wie mit der pulsierenden Wärme seines Blutes, dass ihren Kimono tränkte, auch das Leben aus ihm wich. Langsam, aber unaufhaltsam.

Sie wusste, dass er nicht überleben konnte.

Aber sie wollte ihn nicht verlieren. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Noch nicht jetzt. Und eigentlich auch niemals...

Sie weinte nicht.

Der Schrecken und die Verzweiflung, die von ihr Besitz ergriffen hatten waren jenseits aller Tränen und breiteten sich wie eine betäubende Welle in ihren Gedanken aus, schienen sie zu lähmen. Sie war momentan zu einfach nichts anderem fähig als dazusitzen, ihren Geliebten festzuhalten und sich

leise vor sich hin murmelnd vor und zurückzubewegen - den Verletzten scheinbar wie ein kleines Kind in den Armen wiegend.

Zärtlich strich sie ihm das lange Haar aus dem Gesicht.

Takeos Lippen bewegten sich leicht.

Er stöhnte.

"Es ist so still, Madoka... Ich höre sie nicht mehr. Die Stimmen... sie sind... fort...Die Stimmen all der Menschen, die ich..." Er lächelte.

Tatsächlich brachte er es fertig zu lächeln, obwohl die Schmerzen unerträglich sein mussten.

"Sie lassen mich gehen..."

Madoka zitterte.

Nicht vor Kälte, sondern aufgrund der beinahe schon überbordenden Gefühle, die sie gänzlich ausfüllten. Sie beugte sich hinab und küsste seine beängstigend kalten Lippen, dann lehnte sie ihre Stirn an seine und flüsterte:

"Bitte hör auf zu sprechen, Takeo... Du musst deine Kräfte schonen... Halte durch, ich bitte dich…"

Sie brach ab und presste die Lippen fest zusammen.

"Madoka... Ich kann dich... nicht um Verzeihung bitten. Nicht... für etwas, dass zu tun mir bestimmt... und unvermeidlich war. Aber..."

Er zuckte zusammen. Ein Schauer durchlief seinen geschundenen Leib und dunkles Blut trat auf seine Lippen. Er griff nach ihrer Hand, genauso wie es vor einigen Stunden Mamoru bei ihm selbst getan hatte.

"Auch, wenn es anmaßend ist... bitte vergib... mir trotzdem. Ich musste es tun."

Er keuchte plötzlich vor Schmerz, schloss gepeinigt die Augen. Als er sie wieder öffnete dauerte es eine Weile, bis er ihr Gesicht wieder fixiert hatte. Er blinzelte. Sein Blick verschwamm erneut und ungleich stärker als vorhin. Er konnte ihr Gesicht nur noch als hellen Schemen über seinem eigenen ausmachen.

"Jetzt... bist du frei. Kehre zurück... in deine Zeit, Madoka-chan."

Madoka drückte seine Hand.

"Wie kannst du so etwas sagen? Weißt du überhaupt, was in mir vorgeht? Ich liebe dich! Und ich werde dich nie vergessen, dich nie hinter mir lassen können und auch nie frei von dir sein! Ich WILL es auch gar nicht!"

Takeo hustete schwach. Es war, als könne sie seinen Schmerz am eignen Leib spüren. Sie strich sanft über seine Wange, über die Narbe.

"Ich werde... nie wieder jemanden so sehr lieben, wie..."

"Nein, Madoka..., das weißt du nicht. Du hast noch... ein ganzes Leben vor dir. Und ich... will das du glücklich wirst. Ich bin... ganz sicher, dass... es jemanden geben wird, der..."

Abrupt krümmte sich sein Körper unter einem neuen, nie gekannten Schmerz in ihren Armen - und sie konnte nur dasitzen und seine Hand halten. Entsetzt schaute sie auf Takeo hinab; ihr Verstand

hatte längst noch nicht begriffen, was hier geschah.
 

"Mamoru...?", hauchte Takeo plötzlich leise und ungläubig.

Madoka sah überrascht zu ihm hinunter. Sein Blick war an ihr vorbei auf einen unbestimmten Punkt gerichtet. Doch als sie hinter sich schaute, konnte sie niemanden sehen. Natürlich nicht.

"Mamoru! Warte! Bitte..."

Mit jähem Schrecken erkannte die junge Frau, dass ihr Takeo entglitt. Sie würde ihn verlieren. Nicht gleich, nicht in ein Paar Stunden oder Tagen, sondern JETZT.

Takeo starb.

Mit einem Ruck beugte sie sich vor und zwang sein Gesicht zu sich herum.

"NEIN! Takeo, bleib bei mir, hörst du? Du MUSST wach bleiben! Sieh mich an! Bitte sieh mich an! TAKEO!"

Noch immer keine Tränen. Allerhöchstens Hysterie. Panik. Nackte Angst.

Sein Blick klärte sich. Zum letzten Mal sah er die junge Frau direkt und bewusst an.

"Es ist gut so, Madoka. Du musst... mich gehen lassen. Ich danke dir. Für alles, was du mir... gegeben hast. Ich hatte es nicht verdient... Ich werde dir immer dankbar sein. Erst... in den letzten Wochen meines Lebens... habe ich wirklich und wahrhaftig... gelebt..."

Er wandte den Kopf. "Siehst du... Er ist hier. Er... ist gekommen."

Madoka sah überhaupt nichts.

Aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn jetzt waren ihre Augen so voll von ungeweinten Tränen, dass sie kämpfen musste sie fortzublinzeln. Sie WOLLTE jetzt nicht weinen.

Doch hinter ihr war auch nach wie vor niemand zu sehen.

Takeo streckte die Hand aus, ihre Finger entglitten seinen.

"Mamoru... Warte... ich..."

"TAKEO!" Sie schrie und schüttelte ihn, drohte wirklich den Verstand zu verlieren.

Dann sank er in ihren Armen zusammen, sein Körper fiel zurück und seine Augen, weit aufgerissen gen Himmel gerichtet, brachen, während seine Lippen noch die Worte formten, die Madoka noch nie laut von ihm hören durfte und doch immer so sehnlichst hatte hören wollen.

Sie beugte sich vor und hielt ihr Ohr über seinen leicht geöffneten Mund.

"I... ich... liebe... dich, Madoka..."

Der letzte Atem entwich seinen Lungen wie ein langgezogenes, erleichtertes Seufzen. Seine Qual hatte endlich ein Ende gefunden. Es war vorbei.
 

Madoka starrte ihn an.

Sie hasste ihn.

Sie hasste ihn dafür, dass er sie erst geliebt und dann allein gelassen hatte! Doch sie liebte ihn auch. Sie liebte ihn in diesem einen Augenblick noch um so viel mehr, als sie es ohnehin immer getan hatte und es war ihr, als risse ihr bei lebendigem Leibe jemand das Herz heraus, um es zu zertreten.

Nie hatte sie größeren Schmerz erfahren - und sie sollte auch nie mehr etwas Vergleichbares erleben.

Es tat so weh, dass sie nicht weinen, nicht atmen und sich nicht bewegen konnte.

Beim ersten Mal, als sie wieder einatmete, entrang sich ihrer Kehle ein Schrei. Langgezogen und so traurig, wie sie es von sich selbst nicht kannte.

Sie schluchzte und schrie, jedoch alles ohne auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Dabei zog sie seinen leblosen Körper an sich wie eine überdimensionale Puppe, streichelte sein Gesicht und presste sich so fest an ihn, als wollte sie seinen erkaltenden Leib mit ihrem eigenen wärmen.

Sie wollte sterben. Jetzt und hier.

Wenn er sich nicht gewünscht hätte, dass sie lebte, glücklich wurde und in ihre Welt zurückkehren solle... Doch im Grunde schuldete sie ihm nichts.

Dennoch würde sie ihm zuliebe durchhalten.

Sie MUSSTE.

Auch wenn ihr jetzt noch nicht klar war WIE.
 

Und ungerührt schaute der Mond auf sie hinab.

Ein kaltes, gefühlloses und unbarmherziges Auge am dunklen Nachthimmel, dem nichts entging.
 

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Und hiermit verabschiede ich mich von meinem geliebten Haupt-Chara... *schnief* Ich habe lange mit mir gerungen, aber ich hielt es letztlich doch so für am Besten, da Madoka wahrscheinlich - und das hatte ich von Anfang an so geplant - auch wieder in ihre Zeit zurückkehrt . JETZT hat sie ja erst Recht nen Grund dazu...

Jedenfalls--- *räusper*----hoffe ich doch sehr, dass es nicht allzu schwülstig geworden ist??? Ich mein, klar, das ist ein echt trauriger Moment und dementsprechend MUSSTE ich ja praktisch auf die Tränendrüse drücken - sowas tu ich gern, ich gebs ja zu *seufz*, aber ich hoffe euch ist das nicht zu viel und ging euch so an die Nieren wie mir selbst, die ich ja schon beim Schreiben beinahe geheult habe.

Doch was nun folgt ist möglicherweise dem einen oder anderen NOCH schwülstiger, noch trauriger. Jetzt kommt die Trauer. Hier natürlich insbesondere Madokas. Und die wollte und will irgendwie (auch bei mir selbst) nicht so schnell aufhören....
 

Gruß von eurer momentan leider recht gestressten Mado-chan^^
 

PS: Meinen treuesten Lesern ein DICKES Bussi! Es macht gleich nochmal so viel Spaß, wenn man so liebe Leute kennt, die das auch lesen wollen! DANKE!^^ *umarm*

Trauer

Sie wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war.

Die abgrundtiefe Verzweiflung, die sie um den Verstand zu bringen und sie mit schwarzen Schwingen zu ersticken gedroht hatte, war einer erneuten, diesmal noch größeren Betäubung gewichen. Da hatte sich ein schwarzer, bodenloser Abgrund in ihr aufgetan. Und momentan ging sie an dessen Rand entlang, noch unschlüssig ob sie springen oder zurücktreten sollte.

Irgendwann, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, hatte sie Takeos Körper zu Boden gleiten lassen. Sie rief nach Akuma und das treue Tier war nur Sekunden später bei ihr. Sie hatte keine wirkliche Ahnung, wie sie es geschafft hatte das Pferd dazu zu bewegen, sich auf den Boden zu legen. Nur auf diese Weise war es ihr wohl gelungen, Takeos Leichnam auf seinen Rücken zu heben.

Jetzt, wo sie sich in einem langsamen Schritt-Tempo von der Stadt und damit auch vom letzten Feuerschein, der zu ihnen herüberdrang, entfernten, war sie mit einem Mal unendlich müde. Tief über Takeos Leichnam gebeugt saß sie auf dem Rücken Akumas, dessen nachtschwarzes Fell nahtlos mit der Umgebung zu verschmelzen schien. Helle Schleierwolken zogen vor dem Mond dahin und

ließen es wieder dunkler werden.

Als sie den Waldrand erreichten, der in vollkommener Schwärze vor ihnen lag, flüsterte Madoka dem Pferd leise Worte ins Ohr.

"Bring mich zurück, Akuma. Bitte. Bring mich zu Shido und den anderen..."

Sie beugte sich vor und legte den Kopf an seinen Hals. Akuma schnaubte leise.

Madoka schloss die Augen. Nur am Rande bekam sie mit, dass das Pferd sich nun einen Weg durch das Dickicht des Waldes zu suchen begann.
 

Stimmen.

Da waren Stimmen. Und verschwommene Bilder um sie herum. Hände griffen nach ihr und sie wurde in irgendetwas Warmes gebettet. Sie hörte ein Pferd wiehern. Dann herrschte wieder Dunkelheit. Und als Madoka wieder zu sich kam war es heller Tag. Die Sonne schien durch die Zweige des Baumes über ihr, der zwar deutlich weniger Blätter trug als das letzte Mal, als die darunter wach wurde, jedoch noch immer genug Schutz bot, sodass Madoka nicht gegen die jähe Helligkeit blinzeln musste.

Und dann schlug die Erinnerung wie eine alles erstickende Woge über ihr zusammen. Und es tat weh.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf, fühlte eine Ader an ihrer Schläfe hektisch und unangenehm pulsieren. Die alte Decke, in die sie gehüllt gewesen war, rutschte von ihren Schultern.

Es konnte noch nicht lang nach Sonnenaufgang sein. Tautropfen bedeckten das hohe Gras auf der Lichtung und Früh-Nebel waberte in feinen Schwaden über den Boden.

Sie hörte jemanden verhalten weinen. Als sie nach rechts, in Richtung des Wasserlaufes sah, konnte sie an dessen Ufer eine zusammengesunkene Gestalt kauern sehen.

Es war Shido-san. Seine Trauer war beinahe greifbar.

"Er hat die ganze Nacht nach dir gesucht.", sagte eine sanfte Stimme neben ihr und als Madoka den Kopf wandte konnte sie Aurinia sehen. Die Yosei saß neben ihr ihm Gras und schaute traurig hinüber zu Shido-san.

"Dann hat er sich auch noch verirrt. Wenn Yasha ihm nicht gefolgt wäre..."

Madoka ließ ihren Blick langsam über die Lichtung schweifen. Sie fand Yasha nicht weit entfernt bei Sayan-sama unter einem anderen Baum sitzen. Er schien zu dösen, hatte sein Schwert Tessaiga neben sich und die Stirn leicht gegen das Heft gelehnt.

Dann fiel ihr Blick auf zwei mit löchrigen, alten Decken verhüllte Körper, die nur wenige Schritte neben ihnen im Gras lagen. Der Schmerz nahm augenblicklich zu, als sie einen dunkelroten Haarschopf unter einer der Decken hervorschauen sah. Ihr schwindelte und sie bemerkte gar nicht, dass ihre Hände zu zittern begonnen hatten. Eine Million ungeweinter Tränen verlangten nach ihrem Vorrecht - doch Madoka konnte nicht weinen. Sie, die sie immer schon ein sehr emotionaler Mensch gewesen war, sie konnte plötzlich keine Gefühle mehr zeigen. Sie WOLLTE keine Gefühle mehr zeigen - denn alles, was man mit der Öffnung seines Herzens, der Offenbarung seiner Gefühle, erreichte war verletzt zu werden. Da entstanden Wunden, so nachhaltig und tiefgründig, dass sie niemals mehr

verheilen würden.

Madoka versuchte des Chaos in ihrem Inneren Herr zu werden. Sie wusste einfach nicht, ob sie je wieder würde lachen können. Momentan war die Welt für sie schwarz. Eine Schwärze in allen nur möglichen Schattierungen. Ihr Herz existierte nicht mehr.

Es hatte scheinbar gemeinsam mit Takeos aufgehört zu schlagen.

Aurinia schien zu wissen, dass es vollkommen gleich war, was sie nun an tröstenden Worten hervorbrachte - es würde den Schmerz der Freundin nicht lindern können. Aber sie wollte ihr zeigen, dass sie in diesem Moment nicht allein war. Daher rückte sie nun näher an die junge Frau heran und legte den Arm um sie.

"Es ist in Ordnung, Madoka-chan. Du darfst jetzt loslassen. Weine ruhig, wenn dir danach ist. Ich bleibe hier bei dir."

Madoka schüttelte in stummem Trotz den Kopf und presste die Lippen zusammen, ließ es jedoch zu, dass Aurinia sacht die Hand hob und ihren Kopf mit sanftem Druck an ihre Schulter lehnte, ihr immer wieder tröstend durchs Haar strich. Lange Zeit sagte niemand von ihnen ein Wort.

"Aurinia...?", flüsterte Madoa schließlich - und erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die brüchig und wie die einer alten Frau klang.

"Ich möchte nach Hause. Ich... kann hier nicht bleiben, wo mich alles an... an ihn erinnert..."

... und jeder Schritt den sie tat Schmerz bedeutete, einen Schmerz, der dem der Meerjungfrau gleichkam, die ihres Liebsten zuliebe zum Menschen wurde und als Bezahlung für die Verwandlung bei jedem Schritt den sie tat Messer in ihre Füße schneiden fühlte, um fortan blutige Fußabdrücke zurückzulassen wohin auch immer sie ging.

Der Vergleich war gar nicht so weit hergeholt. Sie hatte das Gefühl zu bluten - denn ihr Leben schien aus ihr herauszufließen, wie aus einer körperlichen Wunde das Blut fließen würde.

"Ich... verstehe.", war alles was Aurinia erwiderte. Sie sah ihre Freundin von der Seite her an.
 

Traurig wandte Madoka den Blick ab. Sie sah zu den beiden abgedeckten Körpern hinüber und verspürte erneut einen tiefen Stich in der Brust. Diese... Körper... Das waren weder Takeo noch Mamoru. Diese Körper waren bloß nur noch eine Hülle dessen, was die beiden jungen Männer ausgemacht hatte, und die zurückgeblieben war als es verschwand. Wohin auch immer.

Manchmal war das Schicksal grausam. Sie, die sie hier geblieben war, litt nun unerträgliche Qualen.

Aber was auch geschah, sie konnte noch immer das sanfte Lächeln auf den Lippen Takeos vor sich sehen als er starb und war sich sicher, wohin auch immer er gegangen war - es konnte dort nicht schlecht sein. Und ihm war verziehen...

Takeo hatte seine dunkle Seite besiegt. Letztenendes hatte er die Schatten seiner mörderischen Vergangenheit aus seinem Herzen vertrieben und die Stimmen, die nach Rache verlangten, zum Verstummen gebracht. Kurz vor seinem Tod war er wahrhaftig frei gewesen. So frei, wie es der kleine Junge gewesen sein musste, den damals Muto Koji bei sich aufgenommen hatte.

Und er hatte Mamoru wiedergesehen im Augenblick seines Todes. Er war nicht allein. Und - Madoka war sich sicher - er war erleichtert, vielleicht sogar glücklich.

Doch dadurch fühlte sie sich bedauerlicherweise nicht besser. All dieses dumme Gerede, dass man die geliebte Person für immer im Herzen tragen würde und sie dadurch weiterlebte... Konnte das wirklich der Gedanke sein, der sie über die Einsamkeit, die Kälte und den Schmerz des Verlustes

hinweg tröstete? Es waren nur Worte! Sie vermochten sie nicht zu halten, zu wärmen oder zu trösten. Welcher Idiot hatte sich bloß diesem MIST ausgedacht? Würde dieser brennende, beinahe schon körperliche Schmerz je enden? Madoka wusste, dass ihre Gedanken eine gefährliche Richtung einschlugen. Wenn sie zuließ, dass die Verzweiflung sie übermannte, dann konnte sie gleich von

der nächsten Klippe springen.

Noch immer haftete ihr Blick auf den zwei Decken und sie konnte fühlen, wie ihr Herz wieder schneller schlug. Sie fühlte etwas in sich heranwachsen. Doch noch immer war sie nicht bereit für die befreienden Tränen.

"Wir werden sie begraben. Hier, unter diesem Baum.", flüsterte Aurinia leise, als sie ihrem Blick folgte. Madoka erwiderte nichts. Was sollte sie auch sagen.

Leere und Schwärze. Das war alles, was sie empfand und was sie umgab. Würde sie je wieder das

Licht der Sonne sehen?

Sie wollte tatsächlich etwas sagen, öffnete den Mund - und schloss ihn dann wieder. Sie wusste, sie würde eine innerliche Barriere überschreiten, wenn sie nun ihre Gefühle in Worte kleidete, eine Barriere, die bislang erfolgreich dafür gesorgt hatte, dass sie nicht weinte. Jetzt, wo sie ihre Gefühle das erste Mal überhaupt in Worte zu fassen versuchte, wo sie auch nur daran GEDACHT hatte es zu tun, fühlte sie den Knoten in sich abrupt heranwachsen, der ihr tatsächlich sowohl das Atmen, als auch das Reden erschwerte. Sie schloss gepeinigt die Augen und krümmte sich leise wimmernd zusammen, eine Hand scheinbar hilfe- und haltsuchend um Aurinias Handgelenk geklammert. Sie WOLLTE einfach nicht weinen.
 

Die Yosei legte ihre andere Hand über die der Freundin und musste plötzlich selbst mit den Tränen kämpfen. Sie setzte sich auf und zog Madoka in ihre Arme. Und Madoka... konnte noch immer nicht weinen. Sie rang nach Luft und atmete für einige Sekunden beinahe hektisch, doch sie verlor nicht eine Träne.

Aurinia fühlte sich hilflos, ungleich hilfloser als in dem Moment, wo sie in Hijikatas Gewalt gewesen war. Es konnte nicht gut sein, dass Madoka ihre Trauer nicht herausließ. Die Yosei konnte mit heimtückischen Angriffen umgehen, selbst mit Krieg und Folter wurde sie fertig - und auch mit einem gewissen, manchmal unberechenbaren, Halbdämon. Was sie jedoch nicht konnte - zumindest noch nie hatte tun müssen - war, jemandem in Trauer zur Seite zu stehen. Sie tat ihr Bestes - aber Worte fand sie keine. Vielleicht war dies jedoch auch nicht das, was Madoka jetzt brauchte.

Angesichts dieser auch körperlich sichtbaren, abgrundtiefen Verzweiflung kapitulierte selbst die ruhige Ausgeglichenheit einer Yosei. Sie spürte, wie ihr selbst plötzlich doch die Tränen über die Wangen liefen.

Hilflos sah Aurinia auf die Freundin in ihren Armen hinab und fragte sich einmal mehr, warum sie nicht von Anfang an allem Einhalt geboten, alles abgewendet hatte. Sie hätte es gekonnt.

Letztendlich kümmerte sie es doch einen Dreck, welche Auswirkung diese Ereignisse auf die Zukunft haben mochten, aus der Madoka stammte. Wenn sie in das Gesicht ihrer Freundin schaute und die tiefe Verzweiflung in ihren Augen gewahrte, dann war sie sich sicher, dass es dies alles niemals wert

gewesen sein konnte.

Takeos Tod war unvermeidlich gewesen. Aber Madoka... Gott, sie hätte die junge Frau niemals...

Es tat ihr unendlich Leid.

Doch noch gab es Hoffnung... Wenn nur...

Wie eine besorgte Mutter bei ihrem kranken Kind legte Aurinia der Freundin nun die flache Hand auf die Stirn, fühlte ihre Körpertemperatur an Stirn und Wangen. Madoka hatte kein Fieber, doch sie atmete immer noch flach und sehr rasch. Aurinia redete beruhigend auf sie ein. Dann legte sie die Handfläche auf ihr Herz, lauschte dem hysterischen, flatternden Schlag. Sie musste sich beruhigen!

Aurinia schloss die Augen und legte ihre Hände sacht an die Schläfen der Freundin. Ihre gemurmelten, ruhigen Worte wurden zeitweilig lauter, eindringlicher. Madoka wehrte sich nicht.

Beinahe augenblicklich konnte die Yosei spüren, dass sich der Pulsschlag der jungen Frau beruhigte. Er war zwar noch immer schnell, aber er jagte nun nicht mehr an der Grenze eines Nervenzusammenbruches entlang. Aurinia war sich nicht einmal sicher, ob Madoka diese kleine Untersuchung wirklich mitbekam.

Schließlich ließ die Yosei ihre Hand auf dem Unterleib der Freundin ruhen, runzelte konzentriert die Stirn. Möglicherweise...

Madoka fuhr zusammen und Aurinia zog beinahe erschrocken die Hand zurück. Doch die junge Frau sah sie nicht einmal an. Mit einer unbewusst unwilligen Geste wehrte sie die Yosei ab und stand plötzlich recht abrupt auf. Sie ging leicht schwankend hinüber zum Bach.
 

Sie fror. Die Sonne schien durch die Zweige und gewann an Kraft, doch die Kälte in ihr rührte nicht von außen, sondern sie kam aus ihrem Inneren. Dort, wo ihr Herz gewesen war, war nun ein eisiger, steinharter Klumpen, der schmerzhaft und beständig wachsend ihr gesamtes Inneres auszufüllen begann.

Sie ließ sich schwer am Ufer nieder, beugte sich vor und schöpfte mit beiden Händen eiskaltes Wasser in ihr Gesicht. Der Schock, als das kalte Nass ihre heißen Wangen berührte, hätte ihren Kopf

klären sollen. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Mit einem Mal ließ der Druck in ihrem Inneren nach und sämtliche Schleusen in ihr öffneten sich, ließen die Tränen nun endlich zu, die sie zuvor

beinahe krampfhaft zurückgehalten hatte. Doch jetzt... jetzt...

Noch in der Hocke taumelte sie nach vorn, fiel und fing sich mit einer Hand im Wasser ab. Ihr Körper krümmte sich wie unter schmerzhaften Krämpfen. Die Tränen fluteten nur so über ihr Gesicht, fielen ins Wasser. Sie rang nach Atem und konnte dem ersten, verzweifelten, seltsamerweise jedoch völlig lautlosen Schluchzen nichts entgegensetzen. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie presste die andere Hand auf ihre Brust, krallte die Finger in den vor Nässe triefenden Stoff des Kimonos als wolle sie sich allein dadurch Luft verschaffen und den brennenden, unaufhörlichen Schmerz in ihrem Inneren zum Verstummen bringen, indem sie sich die Kleidung vom Leib riss.

Dann, endlich, endlich, konnte sie einatmen. Das tat beinahe noch mehr weh - aber nun konnte sie alles herauslassen. Sie weinte wie nie zuvor in ihrem Leben.

Jetzt zeriss ihr lautes Schluchzen die Stille auf der Lichtung, langgezogen und so traurig, dass es einem Schauer über den Rücken jagte.

Schließlich fühlte Madoka starke Arme, die sie ergriffen und scheinbar mühelos aus dem Wasser hoben, sie behutsam am Ufer niederlegten. Sie wusste nicht, wer das war und es war ihr auch gleich.

Als die Arme sie an eine breite und warme Brust zogen vergrub sie ihr Gesicht in der Kleidung und schrie und weinte ihren grenzenlosen Schmerz hinaus, schlug wild mit den Fäusten um sich. Die Arme legten sich so fest um sie, dass sie erneut kaum Luft bekam - aber auch das registrierte sie nur am Rande.

Und in den Schatten der Bäume stand Aurinia. Auch über ihre Wangen liefen Tränen. Sie sprach leise Worte in einer fremdartigen, uralten Sprache, die ungehört in dem Raunen und Wispern der Blätter und Zweige um sie herum verklangen. Ein Totengesang der Yosei, der so alt sein mochte wie die Welt selbst.

"Mein Körper gehört dieser Erde. Aber meine Seele gehört nur dir. Auch wenn mein Leben endet, meine Seele wird dich ewig beschützen. Auch von der nächsten Welt aus..."
 

~~~oOo~~~
 

Es mochten Stunden vergangen sein und Madoka meinte keine Tränen mehr zu haben, die sie weinen konnte. Nach wie vor lag sie in den Armen der Person, die sie aus dem Wasser geholt

hatte. Ab und zu strich sie ihr liebevoll durchs Haar. Madoka starrte mit leerem Blick und vollkommen ausdruckslos...

"Es... tut weh...", flüsterte die junge Frau plötzlich.

"Ja.", erwiderte die Stimme Shido-sans sehr leise und ganz nah an ihrem Ohr. Die Wärme seines Atems streichelte sie. "Es ist grauenvoll..."

"Oh, nein..., grauenvoll...", Madoka schüttelte den Kopf ohne aufzusehen, "… grauenvoll... ist nicht das richtige Wort. Ich... ich würde am liebsten sterben, so weh tut es..."

Die Tränen stürzten erneut aus ihren Augen. Ihre kalten, schlanken Finger krallten sich hilflos in seine Kleidung.

"Ich bekomme keine Luft, Shido... Ich habe das Gefühl, als würde ich ersticken..."

Sie weinte und weinte, als würde sie alle Tränen der Welt an diesem einen Tag und in diesem einen Moment weinen wollen. Der Schmerz war noch da und vielleicht würde er niemals ganz vergehen.

Aber sie konnte fühlen, wie mit jeder Träne, die sie weinte, der saugende Abgrund in ihr, die Schwärze und die Dunkelheit langsam wichen. Und sie machten noch etwas anderem, vielleicht schlimmerem Platz: Resignation.
 

~~~oOo~~~
 

Der Wind war kalt geworden. Zwar fing es den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal mehr an zu regnen, aber der im Gegensatz zu den vorherigen Tagen wieder ungetrübte Sonnenschein konnte nun nicht mehr über den nahenden Herbst hinwegtäuschen.

Madoka stand am Grab Takeos. Mamoru hatten sie schon beigesetzt und der Hügel von dunkler Erde schien wie ein schweres Grabtuch oder gar ein Sargdeckel über der Leiche des jungen Mannes zu liegen. Gedankenverloren strich sich Madoka das Haar aus den Augen, mit dem der Wind spielte.

Taktvoll hatten Aurinia, Yasha und Shido ihr den Vortritt beim endgültigen und letzten Abschied gelassen. Sie standen in einiger Entfernung und schauten traurig zu, wie die junge Frau nun bei Takeos Leichnam niederkniete, der neben dem für ihn ausgehobenen Grab lag.

Lange saß sie nur da und schaute auf sein ruhiges und friedliches Gesicht hinab. Shido hatte sich die Mühe gemacht und das Blut von seiner Haut gewaschen. Furchtbar tiefe Wunden waren dadurch sichtbar geworden. Aber Takeo würde sie nicht mehr spüren müssen.
 

Madoka hasste Abschiede. Und lange Abschiede hasste sie noch mehr.

Der Schmerz war ohnehin unerträglich genug. Man musste ihn nicht unnötig verlängern, indem man die geliebte Person tot vor sich liegen sah und diesen Moment auch noch hinauszögerte. Behielt sie ihn besser so in Erinnerung, wie sie ihn kennengelernt hatte: Als einen wilden, rothaarigen Teufel auf einem nachtschwarzen Pferd, als einen begnadeten Schwertkämpfer und dennoch zärtlichen Liebhaber.

Sie beugte sich hinab und küsste sanft die gesprungenen, kalten Lippen.

"Ich liebe dich, Takeo. Immer. Wo du auch bist.... ich werde dich nie vergessen."

Sie strich durch sein dunkles, rötliches Haar.

"Leb wohl..."

Sie stand auf und drehte dem Körper, der nicht mehr Takeo war, und dem Grab augenblicklich den Rücken zu. Sie taumelte mehr als dass sie ging, als sie sich auf den kleinen Bachlauf zubewegte, wo sie vorhin ihren Nervenzusammenbruch in Shidos Armen durchlebt hatte. Doch wirklich sehen, wohin sie ging, tat sie nicht. Alles war gleichgültig geworden. Sie wollte nur noch heim.

Nach Hause.

Absurderweise wünschte sie sich gerade innig, sich bei ihrer jüngeren Schwester ausheulen zu können. Oder bei ihrer besten Freundin... Sie fühlte, wie ihre Beine nachgaben und sank in die Knie.
 

~~~oOo~~~
 

Der Übergang war fließend und nicht nachvollziehbar.

Selbst wenn sie sich im Nachhinein unzählige Male noch ins Gedächtnis zurückrief, was nun geschah, dann konnte sie sich nicht erinnern irgendetwas Außergewöhnliches gespürt oder tatsächlich gefühlt zu haben.

Von einer Sekunde zur anderen war sie zurück. Eben noch gaben ihre Beine nach, kapitulierte ihr Körper vor der Wucht und Schwere der Traurigkeit, die sie niederringen wollte, und im nächsten Moment kam sie mit den Knien auf dem Teppich in ihrem Schlafzimmer auf, verlor das Gleichgewicht nach vorn und fing sich mit einer Hand am Boden ab, um nicht schlichtweg vornüber auf der Nase zu landen vor Überraschung. Ungläubig blieb sie einige Sekunden in dieser unmöglich Pose, sah vollkommen fassungslos, wie ihre Hand in dem weichen, tiefen Teppich versank, mit dem ihr Zimmer in der Gegenwart ausgelegt war. Sie konnte ihr Herz heftig schlagen hören und spürte ihren Puls jagen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und an ihrer Schläfe begann eine Ader nervös zu pochen.

Was zum Teufel...?

Wie war das möglich?

Dermaßen unvermittelt ihren momentan innigsten Wunsch erfüllt zu sehen erfreute Madoka keineswegs - sie war einfach nur entsetzt! Was für... eine Macht konnte SO ETWAS bewerkstelligen? Wie um alles in der Welt...

Sie blinzelte und hob endlich den Kopf, beinahe schon darauf wartend, dass es sich hierbei um nichts anderes als um eine Halluzination handelte und sie sich wieder auf der Lichtung befand umgeben von unendlich alten, knorrigen Bäumen. Doch das Bild blieb dasselbe.

Sie war wieder zu Hause. Wusste der Himmel wie und warum - aber sie war zurück.

Zitternd setzte sie sich auf und blickte an sich herab. Wenn alles was sie erlebt hatte nur ein Traum gewesen war, dann ein sehr realistischer - denn ihre Kleidung, ein ehemals blütendweißer Kimono, war nach wie vor blut- und dreckbesudelt, zerrissen und rußgeschwärzt.

Blutbesudelt.

Takeos Blut...

Ihre Hände krampften sich in den Stoff des Kimonos.

Jetzt, wo sie zurück war, so vollkommen unerwartet und ohne sich von ihren neuen Freunden verabschieden zu können, war sie einfach nur vollkommen verwirrt. Herausgerissen aus der einen und unvermittelt in die andere Zeit zurückgeworfen wusste sie einfach nicht was sie nun tun sollte, wie sie sich verhalten sollte.

Wie viel Zeit war hier inzwischen vergangen? Hatte man nach ihr gesucht? War vielleicht sogar die Polizei auf der Suche nach ihr? Oh Gott, was würden ihre Eltern sagen, wenn sie urplötzlich und in dieser Aufmachung aus ihrer kleinen Wohnung unter dem Dach und die Treppe zur Wohnung ihrer Eltern herunterkommen würde?

Doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen.

Polternde Schritte drangen von draußen herein und dann wurde die Tür zu ihrem Zimmer so heftig aufgerissen, dass das Türblatt der Person, die nun im Türrahmen abrupt stehen blieb, zitternd aus der Hand gerissen wurde und gegen die Wand flog.

Es war Madokas Schwester.

Rhyan stand einfach nur da und riss Mund und Augen auf, starrte sie an, als wäre sie ein Geist. Ihre Lippen formten Worte, die sie noch nicht im Stande war auszusprechen.

Madoka sah ihre Schwester an und erst jetzt, erst jetzt begann sie WIRKLICH zu realisieren, dass sie wieder zu Hause war. Ihr schossen die Tränen in die Augen. Sie sprang im selben Moment auf, in dem Rhyan loslief. Madoka war sich nicht sicher, aber sie glaubte auch ihre Schwester weinen zu hören, als sie sich heftig um den Hals fielen. Sie umarmten sich fest und sehr lange, Madoka schluchzend, Rhyan etwas vor sich hin murmelnd, was wohl nicht einmal sie selbst verstand.

Dann fand sie wohl anscheinend ihre Stimme wieder, ließ Madoka jedoch nicht los und sprach praktisch in ihr Haar hinein als sie nun mit bebender Stimme sagte:

"Madoka... Mein... Was... Wo WARST du denn nur? Es... Eben hörten wir ein Geräusch von oben und ich hab Mam gesagt dass ich mal nachsehen werde... Wir… haben uns solche Sorgen gemacht! Und nach all der Zeit dachten wir... Ich bin so froh! Ich bin so froh, dass du wieder da bist!"
 


 

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
 


 

Höhöö...^^
 

Hallo, ihrs^^!

Ich wollte mit der überbordenden Trauer von Madoka-chan ausdrücken, wie unendlich viel ihr Takeo bedeutet hat. Trauer dauert oft Wochen, Monate, Jahre an. Ich konnte ihre Trauer einfach nicht in ein paar Sätzen abhandeln. Also verzeiht mir die ganze Heulerei, ja?^^

Und zum Schluss ein kleines Schmankerl für meine Rhyan^^. Oder würdest du als Chara lieber anders heißen??? Sags mir, ich änders noch^^.

Ist ja nur ein Spaß.

Ich dachte mir so, dass unsere Mama vielleicht eine Japanerin und unser Papa ein Europäer ist? So erklären sich vielleicht auch unsere so unterschiedlichen Namen^^.

Wünsch euch was!

Und NEIN hiermit ist es auch IMMER noch nicht zu Ende!

Denjenigen, denen die Rückkehr zu abrupt war kann ich sagen, dass das Ende noch eine völlig andere Richtung einschlagen wird. Ich hab den Übergang so abrupt gemacht, da ich Zauberkram wie einen Knall, eine Rauchwolke oder ähnliches einfach zu lächerlich gefunden hätte in diesem Zusammenhang.
 

Grüße!

Mado-chan^^

Das Herz einer Yosei

"Wo ist sie!?"

Shidos Augen loderten, als er Aurinia an den Schultern ergriff und wild zu schütteln begann, dass ihr rotes Haar nur so flog.

"He! Halt dich gefälligst zurück, Gockelkopf!"

Yasha fiel ihm in die Arme und brachte die beiden wieder auseinander.

"Jetzt komm mal wieder runter! Beruhige dich..."

"Beruhigen?" Shido schrie beinahe. "Verdammt nochmal, sie war doch eben noch hier! Und jetzt..."

Yasha wollte etwas sagen. Auch er wirkte mehr als nur verwirrt, seit die junge Madoka vor ihrer aller Augen einfach so verschwand. Aber er hatte sich besser in der Gewalt, als der junge Mann, der nun mit hochroten Wangen und zutiefst verzweifeltem Gesichtsausdruck vor ihnen stand. Aurinia kam Yasha jedoch zuvor. Sie seufzte. Und dies tat sie so abgrundtief und traurig, dass beide, sowohl Shido-san, als auch der Halbdämon, verdutzt zu ihr hinübersahen.

"Ich... denke... Ich bin euch eine Erklärung schuldig. Wir sollten..."

"Wieso...?", Shidos Augen weiteten sich. "Willst du damit sagen, dass du GEWUSST hast was passieren wird?"

Für eine Weile war er komplett sprachlos. Er starrte sie an.

"WER bist du?", hauchte er schließlich.

"Es würde einfach zu lange dauern, das jetzt... Lasst uns später..."

"Na, schön! Spitze!"

Shido gewann seine Selbstbeherrschung zurück - oder das, was noch davon übrig war.

"Wenn du über alles so gut Bescheid weißt, dann SAG MIR ENDLICH, WO MADOKA IST!"

"Sie ist zurückgekehrt."

Es war nicht die Yosei, die auf seine Frage antwortete.

"Sie ist in ihre Zeit zurückgekehrt, ist es nicht so, Aurinia-chan?"

Die Yosei blickte Yasha aus unergründlichen, grünen Augen an. Sie nickte leicht.

"Was...? Nein... Das kann nicht..." Shido taumelte zurück wie unter einem Hieb. Er fuhr sich mit der Hand zerstreut durchs Haar, hatte offensichtlich Mühe, das Ganze zu verstehen.

"Einfach... so...", flüsterte er.

"Ich hatte keinen Einfluss auf den Zeitpunkt oder die Art und Weise ihrer Rückkehr. Das hatte ganz allein sie selbst in der Hand. Aber mir war klar, dass sie eines Tages zurückkehren würde.", sagte Aurinia leise und traurig. Plötzlich sah der junge Mann auf. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen blieb unverwandt auf den der Yosei gerichtet. Er kam auf sie zu - Yasha spannte sich, bereit erneut einzugreifen, wenn dies nötig sein sollte. Doch Aurinia winkte ihn zurück. Sie sah Shido-san ruhig entgegen. Yasha warf seiner Freundin einen merkwürdigen Seitenblick zu. Wusste sie etwa bereits wieder, was nun folgen würde?

"Mir ist egal, was oder wer du wirklich bist. Aber..."

Shido schwieg einen Moment. Er schien einen Entschluss zu fassen, und sah dann mir einem Ruck auf.

"Aber, wenn es in deiner Macht steht... Ich will zu ihr. Ich will zu Madoka."

Yasha riss ungläubig Mund und Augen auf.

"Bist du völlig...?"

Aurinia unterbrach ihn.

"Yasha, es ist gut. Lass mich mit ihm reden."

Shido zitterte. Seine Augen waren groß, dunkel und hoffnungsvoll.

"Ich habe nicht die Macht dazu, dich in ihre Zeit zu schicken, Shido-kun.", sagte die Yosei nun leise.

"Aber..." Shido verlor bereits wieder die Fassung.

"Es MUSS doch einen Weg geben! SIE hat es doch auch geschafft! Ich... Ich will ihr folgen! Ich MUSS!"

Der junge Mann hatte in seiner Verzweiflung bereits wieder die Hände in ihre Richtung gehoben, doch er ließ sie sinken, ohne Aurinia berührt zu haben - und das lag nicht an dem drohenden Blick Yashas hinter ihr. Es schien, als hätte er von einem Moment zum anderen sämtliche Kraft verloren und stünde nur noch, weil das Schicksal so grausam gewesen war, ihn genau in dem Moment all seiner Kräfte zu berauben, indem er hier vor ihnen und aufrecht stand. Es sah nicht so aus, als würde er auch nur noch einen Schritt tun können.

"Wenn ich... nicht bei ihr sein kann..." Er schluckte.

"Ich... Ich liebe sie..."

Es war erneut an Yasha, ungläubig den Mund aufzureißen - aber auch dies schien Aurinia nicht zu überraschen. Natürlich nicht.

"Shido...", ihre Stimme klang schmerzlich.

"Was...?", der junge Mann blickte angriffslustig auf.

"Ist es... so abwegig, dass ich sie liebe? Die Freundin meines besten Freundes? Takeo ist TOT! Ich hätte... niemals... meine Gefühle so offenbart, wenn Takeo nicht..."

Eine lange Zeit sagte niemand etwas. Nur der Wind rauschte durch die nun spärlicher belaubten Zweige der umstehenden Bäume.

"Wenn es... wirklich dein Wunsch ist zu ihr zu gehen,...", sage Aurinia schließlich in die Stille hinein. "... dann kannst auch nur du selbst den Weg zu ihr finden."

Shido-san blickte sie an. Lange. Ohne wirkliche Überraschung konnten der Halbdämon und die Yosei Spuren von Tränen auf den Wangen des so hünenhaften und unerschütterlich wirkenden jungen Mannes erkennen. In diesem Moment wirkte er so hilflos wie ein kleines Kind.

"Ich... habe nichts mehr, was mich hier hält.", sagte er nun leise.

"Ich werde meinen Weg zu ihr finden. Und wenn ich... mein Leben damit verbringe ihn zu suchen."

Yasha schüttelte unwillig seine lange, weiße Mähne.

"Ist dir klar, dass das Mädchen, selbst wenn es dir gelingen sollte in ihre Welt zu gelangen, vielleicht niemals deine Gefühle erwidern wird?", gab der Halbdämon nun zu bedenken. Er schien seine Überraschung weitestgehend überwunden zu haben und verlegte sich ausnahmsweise einmal auf rationales Denken.

Shido nickte schwach.

"Das ist mir bewusst. Ich... ich will... nur bei ihr sein... Immer..."
 

~~~oOo~~~
 

Und auch hier, beim Verschwinden Shidos, ging alles sehr schnell, vollkommen unvermittelt und übergangslos vonstatten. Von einem Moment zum anderen war der junge Mann einfach nicht mehr da. Yasha KONNTE sich einfach nicht daran gewöhnen. Verdattert starrte er auf die Stelle, wo Kanzaki-san soeben noch gestanden hatte. Völlig unspektakulär und lautlos war nun also auch Shido verschwunden. Und Yasha hatte mit einem Mal, vielleicht das erste Mal überhaupt seit er sie kannte, ein ganz merkwürdiges Gefühl Aurinia gegenüber. Jetzt, wo er hier allein neben ihr stand, war es nicht wie sonst zwischen ihnen. Diese Vertrautheit, das blinde Vertrauen, war... etwas anderem gewichen. Und Yasha fragte sich einmal mehr: Wer war Aurinia wirklich? Wer war diese Frau, die er so sehr liebte?

Es tat weh, überhaupt so zu denken. Er liebte sie wirklich. Doch... wer war sie? Über was für Kräfte gebot sie? Er hatte keine Angst vor ihr. Nicht wirklich. Aber er fragte sich, was dieses schlanke, beinahe grazil wirkende Wesen noch so vor ihm verbergen mochte. Traute sie ihm nicht?

Aurinia drehte sich herum und schaute hinüber zum Waldrand. Der Wind hatte aufgefrischt und auch die Sonne war wieder hinter grauen Wolkenschleiern verschwunden. Das dunkelrote Haar der Yosei umfloss sie wie ein Mantel, umspielte ihren schlanken Leib.

"Warte hier. Bitte.", bat sie plötzlich schlicht und war mit schnellen, lautlosen Bewegungen in Richtung Waldrand verschwunden, noch ehe der Halbdämon überhaupt begriff, was vor sich ging.

Jetzt war er GANZ allein. Er fragte sich, was an diesem so seltsamen Tag wohl noch alles geschehen mochte.
 

~~~oOo~~~
 

Aurinia musste nicht weit laufen. Sie kannte den Weg.

Hier, zu Füßen des mächtigsten und ältesten Baumes des Waldes, hatte sie bereits als Kind gespielt. Dies war viele hundert Jahre her. Der Baum war nicht von dieser Welt. Er hatte die Gezeiten überdauert, so wie es das Volk der Yosei getan hatte - und immer waren sie in gegenseitigem Einvernehmen Hüter und zugleich Bewohner dieses Waldes gewesen. Doch nun hatte sich vieles verändert. Viele vom Volke der Yosei waren fortgezogen. Nicht einmal die Zurückgebliebenen wussten wohin sie gegangen waren. Aber die Menschen breiteten sich in ihren großen, übelriechenden Städten immer weiter aus, verdrängten die Völker des Waldes an die Grenzen der hiesigen Welt und der Zeit. Und das Schlimmste war: Die Menschen wussten nicht einmal, dass es Yosei oder Dämonen gab. Sie hatten begonnen zu vergessen. Und nicht nur Aurinia wusste, dass dies ein fortlaufender Prozess war.

Sie war eine der wenigen Yosei gewesen, die sich auch nach der rigorosen Ausbeutung der Natur und des Lebensraumes der Naturvölker dazu bereit erklärt hatte mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die Beziehungen zwischen ihren Völkern, wie sie fremdartiger und faszinierender nicht sein konnten, aufrecht zu erhalten und sie positiv zu beeinflussen.

Doch sie waren nur noch wenige. Die meisten waren fortgegangen. Verschwunden. Und mit ihnen das, was das Herz der Wälder ausgemacht hatte.

Aurinia trat an den mächtigen Stamm des uralten, knorrigen Baumes heran, den selbst ein Dutzend Yosei nur mit Mühe umspannen konnten, und lehnte die Stirn an die kühle, feuchte Rinde. Sie schloss die Augen.

"Es ist getan.", flüsterte die junge Yosei, die im Grunde bereits sehr alt war, nun leise.

"Ich habe es gesehen, meine Tochter."

Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer hochgewachsenen, strahlenden Gestalt. Ihre Konturen schienen permanent in Bewegung zu sein, zu verschwimmen, sodass es nicht möglich war mehr als nur dies zu erkennen. Es war die älteste und weiseste Yosei des Waldes.

In Aurinias Volk gab es keine Herrscher und keine Beherrschten. Sie alle waren gleichgestellt. Doch dieses Wesen war älter und weiser als sie alle zusammen, älter noch als die Zeitrechnung, ja vielleicht älter als diese Welt und zeigte sich ihnen nun in dieser Gestalt. Und das Volk der Yosei wandte sich seit altersher an sie, wenn sie Rat und Hilfe suchten.

Weiß und strahlend stand die Yosei vor Aurinias geistigem Auge. Sollten die Menschen jemals - durch Zufall oder von den Yosei gewollt - solch ein Wesen gesehen haben, dann erübrigte sich die Frage, woher die Legende der Engel kam...

Fließend, weiß und lang war das Haar der Ältesten, deren Gesicht, das nun deutlicher zu erkennen war, ohne Alter und vollkommen emotionslos wirkte. Aurinias geistiges Ich hatte Mühe, dem Blick aus diesen brennend kalten und wissenden Augen standzuhalten.

"Was du getan hast, Tochter, war gut getan."

Aurinia merkte überrascht, dass sie weinte. Nicht oft noch war es einem aus ihrem Volk vergönnt, die Älteste zu sehen.

"Aber... es gab so viele Opfer…", hauchte sie.

"Die Menschen haben es selbst so gewollt. Es war nur wichtig, das Kind zu retten und in die neue Zeit zu bringen. Dies ist geschehen."

So wie das Gesicht der Ältesten zeitlos wirkte, so hörte sich ihre Stimme, die Aurinia nur in ihrem Kopf mehr spüren als wirklich hören konnte, geschlechtslos und ausdruckslos an. Machtvoll, weise und uralt.

"Ja, das Kind ist gerettet.", sagte sie leise.

"In der Zukunft dieser jungen Frau wird das Kind, das sie bekommen wird, den Geist zweier Völker vereinen. Und es wird womöglich der einzige Mensch sein, der noch an die Existenz der Naturvölker glaubt."

"Warum seid ihr so sicher, dass dieses Kind der Schlüssel für unsere Rettung ist?", wagte es Aurinia zu fragen.

"Wie kann ein einzelner Mensch den Geist eines gesamten Volkes beeinflussen und ändern?"

"Das können wir nicht sagen. Was wir wissen ist, dass dieses Kind die Wende bringen und unser Volk nicht ausgelöscht werden wird. Glaube mir wenn ich sage, es war wichtig und notwendig dies alles auf dich zu nehmen, meine Tochter."

Aurinia schüttelte den Kopf.

"Ich verstehe es nicht..."

Und nun kam die Älteste auf sie zu, umfasste sanft ihr Gesicht mit beiden Händen, ohne dass die junge Frau indes auch nur den Hauch einer Berührung verspürte.

"Selbst uns bleiben die Wege des Schicksals oft verborgen. Selbst wir haben kaum Einfluss auf das, was kommen wird. Doch wir können dazu beitragen, dass die Welt ein wenig ausgeglichener wird und zu ihren Wurzeln zurückfindet. Wir können nicht vorhersagen, was die Bestimmung oder die Aufgabe dieses Kindes in der Zukunft sein wird. Doch es wird mit dem Geist des Samurai und der inneren Stärke und den Erinnerungen seiner Mutter einen Weg finden, den Menschen wieder die Augen für das Wesentliche zu öffnen. Und es wird glauben. An uns, an das was war. Allein dadurch ist bereits unsere Existenz in der Zukunft gesichert. Und wenn es nur noch einen einzigen Menschen auf der Welt geben sollte, der glaubt, dann werden wir leben - und gemeinsam die Kraft finden unseren Lebensraum zu erhalten. Unsere und ihre Welt haben sich längst miteinander verbunden.

Wir, die wir zurückgeblieben sind, müssen die Kraft haben zu bleiben, zu akzeptieren - mit allen Konsequenzen die das mit sich bringen mag. Wir müssen lernen, uns gegenseitig zu respektieren und den Freiraum zu geben, den wir brauchen. Und wir müssen dafür sorgen, dass man die Natur nicht mit Füßen tritt. Denn sonst sind auch WIR verloren."

Aurinia fühlte heiße Tränen über ihre Wangen hinabrinnen.

"Aber wir haben mit dem Leben UNSCHULDIGER gespielt! Wir haben sie BENUTZT! Wir haben nicht das Recht dazu, unsere eigenen Bedürfnisse über die der Menschen zu stellen, selbst wenn es dabei um unsere Existenz geht! Dieses Mädchen... Sie hat geliebt! Wisst ihr, was dies bedeutet? Sie hat mit Herz und Seele geliebt - und ist innerlich zu Grunde gegangen beim Tod der Liebe ihres Lebens. War es das wert? Mussten wir sie so verletzen? Dass ein Krieg und eine politische Auseinandersetzung, vielleicht sogar der Tod des Hitokiri, unvermeidlich waren ist mir klar. Doch wir hätten NIEMALS mit dem Leben einer unschuldigen, jungen Frau solch ein grausames Spiel treiben dürfen!"

Ihre Tränen hatten sich in weißglühenden Zorn verwandelt. Aurinias Augen brannten. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, so mit der Ältesten zu sprechen. Aber sie verspürte keine Angst. Vielleicht war auch die Zeit der Ältesten vorüber.

"Es war ihre eigene Entscheidung zu lieben. Unsere Zukunft wäre verloren gewesen, hätte sie es nicht getan, aber... Sie wurde nicht gezwungen zu lieben."

Die Weiße Yosei zog sich von ihr zurück, wurde blasser. Sie war nicht zornig, wirkte nur ein wenig traurig. Aurinia riss die Augen auf.

"Ihr hattet... die Möglichkeit, dass sie sich NICHT verliebt und alles umsonst gewesen sein könnte mit EINKALKULIERT?"

Sie wandte sich ab. Bitter klang ihr Stimme als sie nun sagte:

"Was die Menschen tun ist ohne jeden Verstand und nicht richtig. Doch was IHR tut... ist ebenfalls falsch. Ich will mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich die perfekte Lösung für alles hätte, doch dies kann sie nicht gewesen sein. Vielleicht wäre unsere Zeit einfach gekommen gewesen. Vielleicht hätten wir tatsächlich gehen sollen. Alle. Vielleicht ist unsere Zeit herum und wir wehren uns mit Macht gegen etwas, das ohnehin unausweichlich feststeht."

Und vielleicht, so dachte sie, ist dieses alte Wesen nicht so weise, wie wir alle angenommen hatten.

Nichts und niemand war unfehlbar. Vielleicht war dieses Geschöpf bereits ZU alt, um noch die Geschicke der Welt und ihren ständig schneller werdenden Wandel zu verstehen. Von welcher Seite man es auch betrachten wollte, Aurinia hatte nicht mehr die Kraft und den Willen der Ältesten zu folgen, was oder wen auch immer sie nun verkörpern mochte. Sie konnte sich mit ihrer Denkungsweise nicht mehr identifizieren. Und sie fasste einen Entschluss, den sie schon viel früher hätte fassen müssen.

Die Älteste war nun nur noch ein blasser Schemen in ihren Gedanken, pulsierend und schwach.

"So wendest also auch du dich von mir ab, meine Tochter. Und ich kann es dir nicht verdenken. Vielleicht hast du Recht und unsere Zeit ist unwiederbringlich vorbei. Dennoch glaube ich, dass es wichtig ist, wenn auch die Nachwelt von uns weiß, wenn man uns und die Natur nicht vergisst."

Aurinia öffnete die Augen, trat von dem Baum zurück und blickte hinauf in die mächtige, ausladende Krone, in deren Zweigen schon seit Jahrhunderten die Melodie des Windes zu hören war.

"Das werden sie nicht. Ich... hätte bereits viel früher eingreifen sollen. Ich hätte, wenn ich das Leid der jungen Frau nicht ertragen konnte, bereits viel früher etwas tun müssen, um dem Einhalt zu gebieten.“

Sie hielt kurz inne. In der Tat hatte sie einen schwachen Versuch unternommen Takeo zu warnen, indem sie ihm damals, nach dem Aufenthalt in ihrer Höhle, Yasha hinterhergeschickt hatte. Es war ein Alibi-Versuch gewesen, den Ereignissen noch irgendwie eine andere Wendung aufzunötigen. Doch sie hatte bereits zu jener Zeit erkannt, oder dies zumindest geglaubt, dass es zu spät war. Anhand von Madokas Reaktion bei Yamazakis Fortgang war deutlich abzusehen gewesen, wie es enden würde. Trotzdem hatte sie sich kurz aufgelehnt gegen ein Schicksal, dass bereits vorgegeben gewesen war, hatte versucht die Liebenden zur Vernunft zu bringen – und selbst eigentlich schon gewusst, wie unnütz dies war. Dennoch… wenn sie es WIRKLICH gewollt hätte…

„Es hätte in meiner Macht gelegen“, fuhr sie bitter fort.

„ Ich hätte meinen Überzeugungen folgen sollen. Doch ich habe es nicht getan. Man mag behaupten, dass ein Menschenleben im Vergleich zu dem von Vielen, im Vergleich zum Leben vieler hundert Yosei oder Dämonen, nicht viel wert ist. Doch ich teile diese Meinung nicht. Wenn ich auch nur einem einzigen Menschen, auch nur einem einzigen Wesen, Leid ersparen kann, so sollte ich es tun - und nicht zögern, nur, weil es eine "höhere Macht" mir befiehlt. Ich nehme die Schuld auf mich. Ich werde mit ihr Leben müssen. Ich habe nur zugesehen. Ich hätte handeln müssen. Es tut mir Leid. Aber ich muss nun meinen eigenen Weg gehen. Ich will versuchen, es wieder gutzumachen. Und dazu brauche ich deinen Einfluss nicht mehr."

Erneut spürte sie Tränen in sich aufsteigen. Ein Jahrhunderte andauernder Abnabelungsprozess hatte nun seinen Höhepunkt erreicht.

"Du hast uns durch die Zeiten mit weiser, starker Hand geführt. Ich werde mich immer an dich erinnern und beherzigen, was du mich bereits als Kind alles gelehrt hast. Doch nun trennen sich unsere Ansichten, unser Verständnis und letztendlich auch unsere Wege."

Sie legte eine Hand auf die knorrige Baumrinde.

"Lebe wohl... Mutter..."
 

~~~oOo~~~
 

Als Aurinia zurück zu der Lichtung ging, wo ein reichlich verwirrter Halbdämon auf ihre Rückkehr wartete, tat sie in Gedanken Abbitte. Nicht alles, was die Älteste zu bedenken gegeben hatte war falsch. Und Aurinia war klar, dass auch ihre eigene Existenz gefährdet gewesen wäre, wenn sie nicht diesem Weg gefolgt wäre, wenn sie Madoka tatsächlich bereits kurz nach ihrer Ankunft in dieser Zeit den Rückweg gezeigt und alles verhindert hätte. Dass es nun ausgerechnet Madoka getroffen hatte... Nun, die Wege des Schicksals waren oft unbegreiflich. Aber was auch geschah, sie hätte selbst den Untergang ihres Volks akzeptieren können, wenn sie dafür das endlose Leid dieses einen Menschen hätte verhindern können. Die Menschen nannten dies späterhin Ethik. Sie selbst nannte es Mitgefühl. Mitleid.

Der Krieg würde in die Geschichte eingehen. Der Tag, an dem die Eliteeinheit der Shinsengumi endgültig zerschlagen und die gerade erst neu etablierten Truppen der Kaisertreuen ebenfalls beinahe bis zur vollständigen Auflösung aufgerieben wurden, würde niemals in Vergessenheit geraten. Das große Opfer eines einzelnen Menschen, einer einzigen jungen Frau, wahrscheinlich sehr wohl.

Aurinia wollte niemals wieder nur danebenstehen und zusehen. Sie würde nun ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie würde den Menschen auf ihre Weise helfen. Vielleicht konnte sie so eine Brücke zwischen den Völkern schlagen. Vielleicht, wenn sie selbst ohne Vorurteile an die Menschen heranging, so wie bisher, vielleicht, wenn sie selbst den Menschen zeigte, was sie besser oder anders machen könnten, vielleicht wurde sie dann als eine der ihren akzeptiert.

Alles was sie wusste war, dass sie nun kein Zuhause mehr hatte. Sie war keine Angehörige des Volkes der Yosei mehr.

Dennoch... sie lebte und würde ihren Weg finden. Egal ob sie nun von den Menschen akzeptiert werden würde oder nicht.
 

Yasha sprang von seinem Platz auf, an dem er neben dem schlafenden Shigeru gesessen hatte, als er die Schritte der Yosei gewahrte, lange bevor er sie wirklich sah. Und er sah ihrem wunderschönen, beinahe zeitlos wirkenden Gesicht sofort an, das etwas sehr Bedeutsames vorgefallen sein musste.

Dennoch, und das rechnete sie ihm sehr hoch an, sagte er zunächst kein Wort, sondern ging ihr lediglich entgegen und schloss sie fest in seine Arme.

Lange Zeit standen sie so da. Der leichte Wind umwehte sie, fuhr in ihre Haare und ließ sie miteinander verflechten, sich umspielen. Schließlich löste sie sich sanft aus seinen Armen. Der Blick

ihrer grünen Augen war unergründlich.

"Ich... werde dir nun etwas über mich erzählen, was du noch nicht weißt, Yasha."

Und während sie langsam über die Lichtung schritten, sich schließlich am Ufer des Flusses niederließen, erzählte sie ihm alles.

Die Yosei berichtete alles über Madokas Erscheinen, über ihre eigenen Aufgaben, über ihr Wissen und ihre Unfähigkeit zu Handeln. Sie berichtete auch über die Älteste und wie das Volk der Yosei ihr seit altersher nachfolgte. Sie erzählte ihm vom Schicksal und von der Absicht, es zu ihren Gunsten beeinflussen zu wollen.

Sie erzählte ihm von ihrem Bruch mit dem eigenen Volk.

"Der Krieg, Takeos und Mamorus Schicksal, die Liebe zwischen Takeo und Madoka, unser Zusammentreffen, der Tod so vieler Unschuldiger... Das alles ist untrennbar miteinander verbunden - auch wenn der Krieg ohnehin, auch ohne das Auftauchen des Mädchens, stattgefunden hätte. Doch nun sind wir alle Teil der Geschichte geworden, ob wir es nun wollten oder nicht. Wir haben die Zukunft beeinflusst. Es war nicht mein Wille - doch es ist geschehen, weil ich... es nicht verhindern konnte. Ich hatte der Richtigkeit des Handelns der Ältesten vertraut - und dabei etwas ganz Entscheidendes außer Acht gelassen: Jeder muss seinen eigenen Weg finden und ihn konsequent beschreiten. Wenn ich mit dem Plan der Ältesten nicht einverstanden war, hätte ich von Anfang an den Mut haben müssen es zu sagen und etwas zu tun. Man muss für seine eigenen Überzeugungen einstehen. Ich hatte nicht die Kraft dazu. Ich werde diese Schuld mein Leben lang mit mir tragen. So wie Takeo mit dem Mord an so vielen Unschuldigen leben musste."

Sie schaute auf und begegnete Yashas Blick. Und was sie in seinen bernsteingelben Augen sah, hatte sie noch nie zuvor darin sehen können. Da war ein solch tiefes... Verständnis und ein unerschütterliches Vertrauen, eine so tiefe Liebe zu ihr, dass ihr schwindelte. Sie hatte dieses Vertrauen nicht verdient. Nicht nachdem, was sie ihm alles verschwiegen hatte.

Doch Yasha konnte ihren inneren Kampf, ihre Verzweiflung und Trauer genau spüren. Er wusste, dass sie genug litt. Er würde ihr nie wehtun können.

Er wollte ihr beistehen. Jetzt - und für alle Zeiten.

Er griff nach ihrer Hand.

"So bist auch du nun eine Ausgestoßene deines Volkes. So wie ich nur ein Halbdämon bin und weder von den Menschen, noch von den Dämonen als solcher akzeptiert werde, so wirst du von nun an weder Mensch noch Yosei sein. Es ist sehr mutig von dir, dich deinem Volk zu widersetzen, deinen eigenen Weg zu gehen. Doch sei versichert: Ich verstehe dich. Ich liebe dich so wie du bist. Und ich werde dich unterstützen auf dem Weg, den du gewählt hast weiterzugehen. Ich bleibe bei dir, wenn du das möchtest. Für immer. Meine kleine Aurinia..."

Sanft strich er über ihre Wange. Tränen stürzten aus ihren Augen. Aurinias Hand schloss sich so fest um die des Halbdämons, dass es BEIDEN weh tun musste. Sie war unfähig zu sprechen, unfähig sich zu rühren. Noch nie zuvor hatte ihr jemand solche Worte gesagt. Er akzeptierte sie. So wie sie war. Mit all ihren Fehlern. Dafür würde sie ihn ewig lieben.

Immer noch sprachlos beugte sie sich vor und ließ sich erneut von ihm in seine Arme ziehen. Seine Hand glitt zärtlich durch ihr Haar und er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Irgendwann, nach langer Zeit, war sie endlich wieder in der Lage den Kopf zu heben und ihn anzusehen.

"Ich liebe dich, Yasha. Es gibt keine Worte die... beschreiben könnten... wie sehr..."

Er zog sie an sich und küsste sie. Zunächst zart und forschend, dann fester, drängender, verlangender. Und sie ließ sich mit einem leisen Seufzen zurück in das hohe Gras sinken, als er sich nun über sie beugte und sie leidenschaftlich zu lieben begann.
 

~~~oOo~~~
 

Die Lichtung lag verlassen da.

Der Frühtau ließ das Gras wieder feucht in der noch schwachen Morgensonne funkeln. Der Wind hatte sich gelegt. Der Bach murmelte in seinem Bett, wie er es schon seit Menschengedenken tat.

Es herrschte eine tiefe, allumfassende Stille.

Die uralten, mächtigen Bäume schauten nun wieder auf eine Lichtung hinab, auf der nichts mehr davon zeugte, dass hier vor kurzen noch Reisende genächtigt hatten. Zwei frisch aufgeschichtete Erdhügel unter einem der mächtigsten und größten der alten Bäume verrieten nur, dass sie etwas zurückgelassen hatten. Hier ruhten die Körper zweier Menschen, die nun in tiefer Stille die Vergebung und Ruhe fanden, die sie im Leben nicht gefunden hatten. Wie seltsame und uralte Wächter der Zeiten umstanden die großen, in herbstliches Laub gekleideten Riesen die Lichtung und lauschten den schwächer werdenden Stimmen, die sich von hier entfernten.
 

Die Morgensonne stand tief als sie den Waldrand erreichten.

Doch sie hatten den Wald in anderer Richtung verlassen, sodass ihr Blick nun über eine weite Ebene mit Reisfeldern, unbefestigten Straßen, kleinen Wäldern und Flüssen glitt, nicht über eine brandverheerte Stadt. Kyoto lag nun weit hinter ihnen.

Entschlossen nahm Yasha die Zügel Akumas auf. Das nachtschwarze Schlachtross von Takeo trug die zusammengesunkene Gestalt des verletzten Sayan Shigeru auf seinem Rücken.

Aurinia trat an seine Seite. Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Einer noch unbekannten, möglicherweise jedoch besseren Zukunft entgegen. Ihre Körper waren nur als Schatten vor der orangenen Scheibe der aufsteigenden Sonne auszumachen, als sie langsam hügelabwärts und weiter, immer weiter gingen.

"Meinst du, wir werden irgendwo etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf finden? Shigeru braucht einen Arzt.", sagte Yasha.

Aurinia zuckte mit den Schultern.

"Wir werden jemanden finden der uns hilft. Vielleicht können wir uns unser Essen ja erarbeiten."

Ihre Stimmen wurden leiser.

"Mmmmhh... Ich frage mich... was Shido, der alte Gockelkopf, jetzt wohl treibt..."

"Ich weiß es nicht.", konnte man die Yosei antworten hören.

"Ich... denke, aufgrund seines starken Willens und der festen Entschlossenheit Madoka zu finden, wird er schon bald sein Ziel erreicht haben. Aber er hätte sich wenigstens noch von mir verbinden lassen können... Nun ja, er ist stark. Er schafft es sicher trotzdem."

Sie Stimmen waren vom leichten Wispern und Flüstern des Windes in den Wipfeln der Bäume nun kaum noch zu unterscheiden, wurden undeutlicher.

"Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du einen unerschütterlichen Optimismus hast?" Yasha schnaubte. Aurinias helles, leichtes Lachen klang von Ferne herüber.

"So etwas kann man lernen..."

Und so gingen sie dahin.

Ihre Schatten wurden kleiner - und verschwanden schließlich ganz, als sie dem Horizont entgegengingen.

Und der Wald lag wieder verlassen, still und in vollkommenem Frieden.
 

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Haaaallöchen!^^
 

Und hier verabschiede ich mich nun von zwei (bzw. DREI - Sorry, Shigeru-san, hätt dich fast vergessen...) weiteren Lieblingscharakteren von mir. Yasha und Aurinia.

Ich hoffe, das ganze Gesülze von wegen Naturschutz und so ödet euch nicht an... Ich hatte hin und her überlegt, wie ich Aurinias Rolle enden lassen sollte, und ich habe mich für die Rebellin entschieden, die, die sich gegen ihr Volk auflehnt. Ich fand die Idee irgendwie reizvoll, zumal jetzt beide, sowohl Yasha als auch sie selbst nun "Außenseiter" sind.^^

Was "das Kind" angeht... Nun ja, sicher haben bereits einige von euch zu dem Zeitpunkt geargwöhnt dass Madoka schwanger ist, als Aurinia ihr die Hand auf den Unterleib legte um dies halt nachzuprüfen.

Ich wollte Madoka UNBEDINGT ein kleines "Taschentuch" mit auf den Weg geben - naja, und das ist es dann geworden...

Ich denke, jetzt kommen noch so zwei Kapitel, dann ists endgültig vorbei.

Und mit jedem Kap trenne ich mich nun von liebgewonnenen und ans Herz gewachsenen Charas... *schnief* *heul*

Hätt nicht gedacht, dass mir das so nah geht...

Nyo, ich hoffe, ihr bleibt mir bis zuletzt gewogen - auch wenn ihr die Pointe nun bereits kennt. Aber es sollte schließlich auch klar herausgestellt werden, dass das Kind von langer Hand geplant war.
 

Bis denne!
 

Eure Mado-chan^^
 

PS: Keine Sorge. Ihr erfahrt noch genau, was mit Shido-san geschah^^. *zwinker*

Schöne, neue Welt...

Ihr fragt euch nun sicherlich, was mit Shido-san geschah.

Doch hierzu muss ich zunächst weiter ausholen. Schließlich ist dies die Geschichte der jungen Sakurai Madoka. Wir wollen zunächst sehen, wie es IHR erging, nachdem sie nun so abrupt zurück in ihre Zeit fand.

Nun, Rhyan, ihre Schwester, sollte die einzige Person sein, die jemals die ganze Wahrheit erfuhr. Denn nur ihr erzählte Madoka die ganze Geschichte, alles, was sie in der Vergangenheit erlebt hatte.

Es fiel Rhyan außerordentlich schwer ihrer Schwester zu glauben. Sie wusste, Madoka würde wahrscheinlich nicht lügen nur um solch eine hanebüchene Geschichte zum Besten zu geben. Doch womöglich war sie ja überfallen und verschleppt worden, vielleicht war sie auch gestürzt oder geschlagen worden und wurde am Kopf verletzt - so blöd das auch klingen mochte - und nun halluzinierte sie.

Doch da war... etwas in ihren Augen, was Rhyan stillschweigend bis zum Ende zuhören ließ. Und das Blut auf ihrer Kleidung... nicht zuletzt auch der Kimono selbst, sowie Ereignisse, die sich später erst zutrugen, ließen Rhyan ihre Zweifel vergessen und ihr zumindest im Augenblick glauben - zumindest glaubte sie, dass Madoka davon überzeugt war, dies alles erlebt zu haben.

Ihr müsst wissen, dass die Beziehung der beiden Schwestern immer sehr gut gewesen war. Belogen hatten sie sich gegenseitig noch nie - und gestritten hatten sie zwar schon als ganz kleine Kinder sehr gern, aber sie waren immer ehrlich miteinander umgegangen - und daher vertraute Rhyan Madoka auch. Wenn sie ihr sagte, dass es so gewesen war - dann war es wohl auch wirklich so. Auch wenn da immer noch irgendwo tief in Rhyan eine Stimme behauptete, dass so etwas schlichtweg unmöglich sei...

Doch auch ihre letzten Zweifel sollten schon bald zerstreut werden.

Zunächst war es nun an Madoka zu zweifeln. Und sie tat es ernsthaft.

Denn als sie aus dem Mund ihrer eigenen Schwester erfuhr, dass sie beinahe vier MONATE, nicht etwa angehend vier WOCHEN, fortgewesen war, glaubte sie tatsächlich an ihrem Verstand zu zweifeln.

Vier Monate?

In jener anderen Zeit waren niemals mehr als knapp vier Wochen vergangen - wenn überhaupt...

Die Zeit verlief also in der Gegenwart sehr viel schneller, als in der Vergangenheit - warum auch immer, es schien so zu sein.

Entsetzt sah sie aus, die arme Madoka. Doch ihre Schwester beruhigte sie, wo sie konnte, half ihr aus den verdreckten Klamotten und steckte sie unter die Dusche, erleichtert, dass das Blut tatsächlich von jemand anderem stammen musste, denn Madoka war nicht verletzt.

Während sie unter dem heißen Strahl der ihr nun äußerst luxuriös vorkommenden Dusche stand, konnte Madoka draußen auf dem Flur aufgeregte Stimmen hören. Es wunderte sie ohnehin, dass ihre Eltern erst jetzt hier heraufkamen, um nach dem Rechten zu sehen. Immerhin hatte sie knapp zwei Stunden damit verbracht Rhyan alles zu erzählen.

Erst später sollte sie erfahren, dass ihre Schwester nach ihrem Verschwinden sehr häufig wieder bei ihren Eltern weilte und oft Stunden in Madokas Zimmer zubrachte, einfach nur dasitzend und abgrundtief traurig, und dass die Eltern ihr dann die Zeit gönnten, sie nicht störten, denn irgendwann war sie immer von allein wieder heruntergekommen.

Madoka genoss die heißen Wasserstrahlen, die ihre Kopfhaut sanft massierten. Sie fühlte, wie die Entspannung kam. Aber mit ihr... löste sich auch die Aufregung und Anspannung, welche die bislang recht verhaltene Freude über ihre Rückkehr in ihr hervorgerufen hatte. Und die Trauer kehrte zu ihr zurück, wie ein alter, geduldeter, unangenehmer Freund, den man nicht mehr los wird.

Sie schloss die Augen, lehnte sich gegen sie Wand der Duschkabine und merkte nicht einmal, dass sie an ihr herabrutschte. Und sie konnte auch nicht die heißen Tränen fühlen, die sie nun wieder weinte. Sie wurden sofort vom Wasser fortgespült.
 

Die Freude der Eltern, als sie Madoka endlich wieder in die Arme schließen konnten, war unerschöpflich. Ihre Mutter weinte den ganzen restlichen Tag vor Freude und konnte einfach nicht aufhören sie dauernd fest zu umarmen. Und ihr Vater war sehr ruhig, viel ruhiger als sonst. Auch in seinen Augen glänzte es mehrmals verräterisch und ab und an schüttelte er den Kopf, als könne er das Glück nicht fassen, das ihm seine Tochter wieder zurückgegeben hatte.

Von ihren Eltern erfuhr Madoka auch, dass groß nach ihr gesucht worden war. Man hatte sogar ein Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen. Doch als man auch nach zwei Monaten noch auf keinerlei Hinweise auf ihr plötzliches Verschwinden gestoßen war, hatte man den Fall für abgeschlossen erklärt. Nicht einmal Entführer meldeten sich, um Forderungen zu stellen. Sie galt weiterhin als vermisst und wurde gesucht, indem man über gewisse Medien nach Hinweisen fragte, doch offiziell hatte sich der Rummel um ihr Verschwinden nach zwei Monaten gelegt - wenn auch ihre Eltern niemals aufgegeben und auch selbst mit Flugblättern und durch Zeitungsannoncen weiter nach ihr gesucht hatten.

Madokas Schwester, die bei der örtlichen Polizei arbeitete, schöpfte alle ihr gegebenen Möglichkeiten aus, um Madoka doch noch zu finden. Doch alles Suchen war vergebens. Sie war und blieb verschwunden. Auch wenn man sie noch nicht offiziell für tot erklärt hatte, so gingen später, nach knapp vier Monaten, die Leute davon aus, dass die junge Frau nicht mehr leben konnte.

Auch wenn ihre Eltern beteuerten, niemals damit aufgehört zu haben daran zu glauben, dass sie zurückkehren würde, so sagten die Tränen in ihren Augen und die unendliche Erleichterung in ihren Stimmen etwas ganz anderes aus.

Es war, als sei sie von den Toten wieder auferstanden.

Natürlich freute sich auch Madoka wieder zu Hause zu sein. Das war es, was sie immer gewollt hatte.

Doch.. auch den anderen fiel auf, dass sie ernsthafter und schweigsamer, nachdenklicher geworden war.

Nicht nur ihre Eltern, auch die Presse und andere Medien interessierten sich natürlich in den folgenden Tagen dafür, was Madoka denn nun wiederfahren war und sie so verändert hatte.

Doch Madoka, die mit ihrer Schwester eine Vereinbarung getroffen hatte, blieb bei ihrer Aussage, dass sie sich an nichts mehr erinnern könne. An gar nichts mehr. Sie sei in ihrem Bett eingeschlafen und vier Monate später wieder im Haus ihrer Eltern aufgewacht.

Diese Geschichte klang zwar äußerst unglaubwürdig - und die wildesten Spekulationen machten die Runde, von Menschenraub bis hin zur Entführung durch Außerirdische. Doch die Wahrheit hätte Madoka ohnehin niemand geglaubt, da waren sie und Rhyan sich sicher.
 

Es vergingen knapp drei Wochen, in denen der Wirbel um Madokas Rückkehr durch alle Zeitungen ging und auch noch den letzten Reporter davon überzeugten, dass die junge Frau entweder den Verstand verloren hatte oder einer Gehirnwäsche unterzogen worden sein musste, bis sich die Wogen endlich ein wenig glätteten und es ruhiger um die Familie Sakurai wurde.

Es würde zwar noch eine ganze Weile dauern, bis Madoka wieder ein normales Leben führen konnte - doch von diesem Gedanken hatte sie sich ohnehin längst verabschiedet.

Sie hatte circa eine Woche nach ihrer Ankunft festgestellt, das ihre Blutung ausblieb.

Madoka war schwanger.

Wenn nicht schon durch das Erlebte, so würde sich jedoch auf jeden Fall durch dieses Kind ihr Leben grundlegend ändern.

Madoka reagierte mit gemischten Gefühlen auf diese Überraschung, die eigentlich keine sein durfte.

Sie freute sich natürlich. Ein Teil von Takeo war mit ihr durch die Zeit zurück in die Gegenwart gekommen. Da wühlte noch immer diese verzweifelte, bohrende Trauer in ihr und sie hoffte inständig, dass durch dieses neue Leben, das in ihr eigenes treten würde, die Bürde endlich etwas leichter zu tragen war und ihre Traurigkeit gemildert wurde. Auf der anderen Seite fragte sie sich jedoch, wie sie DAS nun wieder ihren Eltern, den Menschen, die ihr nahe standen, beibringen sollte - geschweigedenn der Presse, die irgendwann darauf aufmerksam werden MUSSTE. Sie hoffte, dass sie bis dahin das Interesse an ihr in dem Maße verloren hatten, dass die Schwangerschaft niemandem auffiel.

Ihre Schwester hatte gelacht, als sie von dem Kind erfahren hatte. Feixend hatte sie darauf hingewiesen, dass es Verhütungsmittel wie Kondome und dergleichen zu jener Zeit damals ja einfach noch nicht gegeben habe und sie dadurch schon entschuldigt sei - dass sie aber durchaus auch auf andere Weise hätte verhindern können, was nun geschah. Doch Rhyan war nun auch klar, mit letzter und endgültiger Sicherheit: Madoka hatte sich all diese Ereignisse nicht bloß ausgedacht. Sie hatte geliebt - und jetzt war das Resultat auf dem Weg ins Leben. Ganz gleich WIE sie diese Liebe erfahren hatte, es war nun einmal wirklich geschehen - und die mussten nun damit leben.

Rhyan war dabei, als sie es ihren Eltern mitteilte.

Doch die reagierten wieder einmal ganz anders, als Madoka es für möglich gehalten hätte. Sie hatte Skepsis erwartet, Fragen, Stirnrunzeln. Nichts dergleichen sah sie nun in den leuchtenden Augen ihrer Eltern. Als sie bemerkten, dass ihre Tochter dieses Kind behalten wollte und dass sie sich darauf freute schoben sie alle Zweifel beiseite und umarmten die junge Frau, nahmen das ungeborene Kind schon jetzt in die Familie auf.

Sie sahen es ähnlich wie Rhyan. Madoka hatte etwas Bedeutsames erlebt, hatte jemanden geliebt. Und selbst, wenn dies nicht wirklich so gewesen sein sollte - sie WOLLTE dieses Kind. Und das allein zählte und überzeugte die Eltern von der Liebe, die sie tatsächlich erlebt haben musste und noch immer empfand.

Doch auch jetzt beharrte sie, dass sie sich an den Vater nicht erinnere. Sie müsse sich verletzt haben und aufgrund dessen an einer Amnesie leiden. Bei dieser Geschichte blieb sie - denn die Wahrheit hätten wahrscheinlich nicht einmal ihre Eltern verkraftet.

Und so, mit dem kleinen und doch so großen Unterschied, dass sie nun ein neues Leben unter dem Herzen trug, kam ganz, ganz langsam die Routine zurück in Madokas Leben.

Die junge Frau war reifer, ernster und verantwortungsbewusster geworden. Sie nahm ihr Studium noch ernster als zuvor und warf sich mit Feuereifer in die Arbeit, nur um nicht zu eingehend über Vergangenes nachdenken zu müssen, um nicht erneut in Trauer zu versinken.

Das musste aufhören. Sie musste lernen nur an die schönen Momente gemeinsam mit Takeo zu denken und aufhören etwas Unwiederbringlichem hinterherzuweinen. Das Leben ging weiter. Sie konnte es buchstäblich am und im eigenen Leib spüren.

Sie sollte sich darauf freuen. Es war der einzige Weg heraus aus den Tränen. Und vor allem Nachts waren diese Tränen noch immer allgegenwärtig. Nie vermisste sie ihn so sehr wie des nachts, wenn sie nicht schlafen konnte und sie beunruhigende Träume quälten. Traurig dachte sie an ihre Freunde. Was mochten Aurinia, Yasha und auch Shido-san jetzt tun?

Der arme Shido...

Nun hatte er niemanden mehr...
 

~~~oOo~~~
 

Es war ein grauer, kalter Morgen und Regenschleier hingen über den Straßen des kleinen Vorortes von Kyoto, in welchem Madoka und ihre Familie lebten. Es war so dunkel, dass man meinen mochte es sei noch mitten in der Nacht, so tief hingen die Wolken über den Häusern, die sich zu ducken und aneinander zu drängen schienen, als würde ein Unwetter nahen.

Etwas mehr als vier Wochen war es nun her, dass die junge Frau zurückgekehrt war.

Madoka stand vor dem Spiegel im Badezimmer und legte die Bürste zur Seite, mit der sie soeben ihre langen, dunklen Haare gebändigt hatte. Seufzend schaute sie in ihr übernächtigtes Gesicht. Wieder einmal hatte sie nicht schlafen können. Wieder einmal hatten sie Alpträume geplagt, in denen schreiende Krieger, blitzende Klingen und dunkles Blut eine Rolle spielten. Hinzu kam, dass ihr neuerdings morgens immer gehörig übel wurde. Nicht selten kam es vor, dass sie das Frühstück sofort auf dem Wege wieder herausbrachte, auf dem es in ihren Magen hineingekommen war, sodass sie sich an diesem Morgen dafür entschied, das Essen ausfallen zu lassen.

Müde verließ sie das Bad, zog sich in der Diele Schuhe und Jacke an und machte sich daran das Haus zu verlassen. Leise verließ sie ihre Wohnung und ging die Treppe hinunter. Um diese Zeit waren ihre Eltern zwar meist schon wach, doch da sie heute aus der unteren Wohnung noch kein Geräusch vernahm, bemühte sie sich noch leiser zu sein.

Heute hatte Madoka eine Lesung, die sehr früh begann. Das kam nicht oft vor und kam ihrer Angewohnheit, gern auch mal länger zu schlafen (vor allem, wenn sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte wie heute), meist entgegen. Nur an diesem Morgen eben nicht.

Sie verließ das Haus und stand sofort und unvermittelt im Regen.

Sie verzog das Gesicht.

Wunderbar. Sie hätte sich das Kämmen sparen können.

Sie wühlte vor sich hin murmelnd in ihrer Tasche herum und beförderte einen kleinen Schirm zu Tage, den sie nun aufspannte. Natürlich war sie in der Zeit, die sie brauchte um dies zu tun, schon klatschnass - es regnete buchstäblich wie aus Eimern.

Sie folgte dem Weg durch den Vorgarten und öffnete das eiserne Tor am Eingang.

Sie wollte sich bereits ohne Umschweife nach rechts, in Richtung Stadtbahn wenden, als ihr Blick an einer Person hängen blieb, die zusammengesunken an der linken Säule neben dem Eingang kauerte.

Sie blieb stehen und runzelte die Stirn.

Die nächste Straßenlaterne war noch einige Dutzend Meter entfernt, sodass sie nicht erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Doch Madoka war sich sicher, dass es sich nur um einen Bettler oder Landstreicher handeln konnte, der ausgerechnet ihren Hauseingang als Schlafplatz gewählt hatte. Er musste vollkommen durchnässt sein, wenn er hier die ganze Nacht gelegen hatte.

Wenn es denn ein "er" war...

Madoka beugte sich vor. Sie wollte die Person wecken und fortschicken. Sollte sie sich doch bei der Untergrundbahn ein Dach über dem Kopf suchen. Die meisten Clochards die sie sah taten genau das.

Doch dieser hier schien entweder besonders dumm oder einfach nur fremd in der Stadt zu sein, sonst hätte...

Madoka stutzte.

Etwas... an der Person kam ihr.. merkwürdig vor. Seltsam... vertraut.

Jetzt, wo sie näher herankam, bemerkte sie auch wie außergewöhnlich GROß dieser Mensch sein musste.

Und dann, ganz langsam und mühevoll, hob der junge Mann den Kopf und sah sie an.

Es traf sie wie ein Hammerschlag.
 

Schlagartig stockte ihr der Atem. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.

Der Schirm glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Wie in Zeitlupe verfolgte sie, wie der Schirm sich neigte und dann ihren plötzlich kraftlosen Fingern entglitt, um dann kopfüber auf dem Boden aufzuprallen.

Dann sah sie wieder auf, begegnete erneut dem Blick Kanzaki Shidos - und fühlte sämtliches Blut aus ihrem Gesicht weichen.

Das war doch...

... einfach...

... nicht möglich...

Wie...?

Ein Paar geschlagene Sekunden stand sie einfach nur da und starrte auf ihn hinab. Sie war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren.

Oh, ja, sicher... Wenn SIE sich nur durch einen Wunsch hierher zurückbefördern konnte, dann hatte ER das ja vielleicht auch gekonnt... Oder? Aber... er war noch nie zuvor hier gewesen! Aus welchem Grund sollte er... Warum um alles in der Welt...?

Mit einem Ruck sah sie auf, ihre Augen weiteten sich. Was... hatte er nur getan?

Shido-san (ja, es war ganz eindeutig der junge Mann, den sie an der Seite von Takeo kennengelernt hatte) erhob sich nun schwerfällig und sehr langsam. Sie hatte Recht gehabt: Er WAR vollkommen durchnässt. Das sonst in alle Richtungen abstehende Haar lag nun lang und glänzend an seinem Kopf, umrahmte das abgehärmte und erschöpfte Gesicht. Dennoch stahl sich ein müdes Lächeln auf seine blassen Züge, als er sie ansah.

Es war auch nicht sie, die zuerst sprach. Sie stand noch immer wie zur Salzsäule erstarrt da und war sich nicht sicher, ob sie überhaupt je wieder einen Ton hervorbringen konnte.

"Madoka..."

Seine Stimme! Ja, oh Gott, das war seine Stimme! Sie hatte KEINE Halluzinationen, wie sie zunächst beinahe verzweifelt angenommen hatte. Er war WIRKLICH hier!

"Madoka-chan... Ich habe dich... endlich gefunden. Eure... diese Stadt ist... sehr groß. Ich wusste nicht, dass es so viele Familien mit dem Namen Sakurai gibt..."

Er verstummte, blickte hoffnungsvoll.

"Madoka?"

Die junge Frau zitterte.

"Was... Wie... kommst du hierher...?", brachte sie schließlich flüsternd hervor.

"Ich bin dir gefolgt. Was sonst?", lautete die schlichte und wahrheitsgemäße Antwort.

"Aber... WARUM, Shido-san? WARUM?", fragte sie vollkommen verblüfft.

Und jetzt kam er auf sie zu. Ganz nah blieb er vor ihr stehen, sodass sie den Kopf beinahe in den Nacken legen musste, um ihm in sein regennasses Gesicht zu blicken. Das Wasser strömte auf sie nieder, doch es kümmerte weder sie noch ihn. Er griff nach ihren zitternden Händen und barg sie in seinen großen Handflächen.

"Warum? Du willst also wissen, warum ich dir durch die Zeit gefolgt bin, obwohl ich nicht wissen konnte was mich hier erwartet? Du willst wissen, warum ich dich seit vielen Stunden, ja Tagen, in dieser Stadt suche, warum ich kein Auge zugetan, nichts gegessen und nicht geruht habe, ehe ich nicht wusste, wo du bist? Du willst es wirklich wissen?"

Madokas Blick verschleierte sich. "Shido...", flüsterte sie.

"Ich liebe dich, Madoka. Und weiß der Himmel, ich habe es IMMER getan. Seit ich dich das erste Mal auf jener Lichtung sah. Doch ich sah deine Liebe zu meinem Freund wachsen und brachte es nicht über mich es dir zu sagen.

Madoka, ich... vermisse Takeo genau so sehr wie du. Du hast deine Liebe, ich meine Seele verloren. Und ich würde niemals sein Andenken beschmutzen wollen. Daher ist es mir Recht, wenn du sagst, dass du meine Liebe nicht erwidern kannst. Doch bitte ich dich, Madoka, lass mich bei dir bleiben. Ich will mein Leben an deiner Seite führen. Ich möchte für dich da sein, dich schützen und dir helfen, wo ich kann. Ich bin es zufrieden, dich zu sehen. Doch ich würde... niemals mehr einen Sinn im Leben finden, wenn ich nicht bei dir sein könnte, Madoka. Ich verliere den Verstand, so sehr liebe ich dich... Verzeih... mir bitte... Ich.. kann nicht anders... Ich will dich nicht bedrängen..."

Er kam ins Stocken und brach schließlich hilflos ab. Atemlos hatte die junge Frau diesen Worten zugehört.

Ja, sie hatte es gewusst - zumindest geahnt. Shido hatte es niemals ausgesprochen, aber mit einem Mal ergab alles einen Sinn, all die kleinen, eifersüchtigen Gesten und Blicke, die er ihr oder auch Takeo zugeworfen hatte. Doch sie fühlte auch, dass sie noch nicht wieder in der Lage war, sich erneut zu öffnen. Sie wusste tatsächlich nicht, ob sie je wieder Liebe empfinden würde.

Vielleicht...

Irgendwann...

Jedoch würde dieses Gefühl wohl niemals wieder so stark entflammen und leuchten, wie für den jungen Samurai.

Sie blickte hinauf in Shidos trauriges, erschöpftes Gesicht, sah in seine haselnussbraunen Augen und fühlte mit einem Mal eine wunderbare Wärme in ihrem Inneren, die auch der kalte Regen nicht mehr fortzuspülen vermochte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die feuchten, zitternden Lippen.

Es war nur ein Hauch.

Eine zunächst nur freundschaftlich anmutende Geste, die jedoch möglicherweise den Keim für eine wachsende Beziehung beinhalten mochte. Dann, abrupt und sehr heftig, fiel sie ihm um den Hals.

Mit tränenerstickter Stimme sagte sie immer und immer wieder:

"Shido.. Ich bin so froh dass du da bist. Ich bin so froh, dass du hier bist..."

Und er schlang die Arme um sie, hielt sie ganz fest.

"Heißt das, ich kann bleiben?", fragte er leise.

"Ja..", antwortete sie. "Ja. Bleib bei mir! Es war völlig verrückt hierher zu kommen - aber jetzt bist du da...."

Sie löste sich von ihm und strahlte, vielleicht das erste Mal wirklich seit sie zurückgekehrt war, über das ganze Gesicht.

"Ja, bitte bleib. Wenn du bei mir bleibst, kannst du Takeos Kind aufwachsen sehen - und wer weiß: Vielleicht wirst du einen neuen Freund fürs Leben finden."

Shido blinzelte.

"Ta... keos KIND?"

Madoka sagte nichts mehr. Sie lächelte nur weiterhin.

Und anscheinend vergaß er nun völlig, was er ihr gerade alles gesagt hatte und dass er sie nicht unter Druck setzen wollte, ihnen Zeit geben wollte. Denn er trat mit einem schnellen Schritt an sie heran, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie so lange, heftig und leidenschaftlich, als hätte sie ihm soeben mitgeteilt, dass ER der Vater des Kindes sei.

"Das ist wundervoll! Einfach wunderbar!", flüsterte er immer und immer wieder fassungslos an ihren Lippen. Er weinte. Sie schmeckte das Salz seiner Tränen auf ihrer Zunge.

Ungestüm riss er sie erneut in seine Arme, presste sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb.

(Daran mussten sie noch arbeiten... Er musste lernen seine unbändige Kraft zu kontrollieren...)

Sie taumelten, stützen sich gegenseitig, lachten und weinten zur gleichen Zeit.

Der Regen strömte über ihre aneinandergeschmiegten Körper - doch sie beachteten es nicht.

Es war nicht wichtig.
 

Lange nachdem er seinen Freudentaumel überwunden, sie ihn ins Haus gebracht und ihren erstaunten Eltern ihren neuen Freund vorgestellt hatte (sie waren ja mittlerweile einige Überraschungen gewöhnt - sie reagierten auch dieses Mal äußerst verständnisvoll... Madoka argwöhnte, dass diesmal jedoch die Fragestunde nur aufgeschoben, nicht etwa aufgehoben war und sie sich eine gute, passende Geschichte zurechtlegen musste, wo sie den jungen Mann mit den seltsamen Klamotten und der beträchtlichen Verletzung an seiner Seite kennengelernt hatte...) und lange nachdem sie ihn verarztet, gewaschen und in warme Decken gehüllt hatte kam jedoch auch der Moment, wo sie ihm klar sagen musste, wie sie empfand.

Er saß ganz still auf ihrem Bett, eingehüllt in die Decken, die Haare verstrubbelt und noch feucht von der Dusche (Er hatte zunächst sogar Angst vor dem Duschkopf gehabt! Oh je, sie würde noch viel zu tun haben...) und hörte ihr zu.

Sie sagte ihm, dass sie seine Gefühle momentan nicht erwidern konnte.

"Es tut mir Leid, Shido. Ich... kann das im Moment noch nicht wieder... Bitte sei nicht traurig..."

Er schüttelte langsam den Kopf.

"Nein, Madoka, es ist, wie ich es sagte: Ich werde warten. Wenn es so sein soll, dann eben mein ganzes Leben lang. Aber ich werde warten. Immer. Ich weiß, dass ich nur dich will. Ich liebe dich wirklich. Und ich bin froh hier zu sein..."

Madoka umarmte ihn.

"Bist du wirklich ganz sicher...?"

"Ja. Es gab dort nichts mehr, was mich in der anderen Zeit gehalten hat.", antwortete er leise und strich ihr sanft durch das lange Haar - etwas, was er schon immer mal hatte tun wollen. Sie wich nicht zurück.

Und so saßen sie schweigend lange Zeit und engumschlungen.

Und Madoka wusste: JETZT konnte sie womöglich endlich die Kraft finden die sie brauchte, um ein neues Leben zu beginnen.
 


 

*********************************************************************************
 

Soooohooooo! Faaast fertig.^^

Ich glaube, solche Worte, wie sie der gute Shido-san hier zu Madoka sagt, bringt in Wirklichkeit auf der ganzen Welt kaum ein männliches Wesen zu Tage - wenn überhaupt... Traurig, gell? Aber man darf ja wohl träumen^^.

Es folgt noch ein bisschen was. Lasst euch überraschen.

Oder auch nicht. Denn eine WIRKLICHE Überraschung kommt jetzt auch nicht mehr.

Bis demnächst.
 

Eure Madoka^^

Einige Jahre später

Es gab überhaupt gar keinen Zweifel daran, dass es der Baum war.

Sie hatte ihn sofort wiedererkannt.

Einer der knorrigen, uralten Äste hatte sich so tief heruntergeneigt, als wolle er vorübergehende Menschen zum Schaukeln einladen. Und dieser Ast war auch früher schon dort gewesen. Nur war der Baum in der Vergangenheit, die Madoka kennengelernt hatte, noch nicht ganz so breit und ausladend gewesen wie jetzt. Heute war er noch viel größer, noch hundert Mal beeindruckender als damals.

Der kleine Park war nicht einmal sehr weit von ihrem Haus entfernt. Wenn man es genau nahm war es allerhöchstens ein Fußmarsch von fünf Minuten, der sie hierher und zurück in die Vergangenheit trug. Kyoto war damals natürlich noch nicht so groß gewesen, wie es das heute war. Der kleine Vorort, in dem Madoka heute lebte, erstreckte sich genau dort, wo vor langer Zeit der Wald gewesen war. Jener Wald und jene Lichtung, auf der Madoka in der Vergangenheit erwacht war. Jene Lichtung, auf welcher Takeo und Mamoru ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Natürlich war von den Gräbern nichts mehr zu sehen. Aber Madoka konnte spüren, dass sie hier waren. Dass ER hier allgegenwärtig war.

So wie der Wind, der nach wie vor leise wispernd durch die Zweige und Blätter des alten Baumes fuhr. Er würde immer hier sein.

Madoka war schon oft hier gewesen. Sie konnte lange Zeit, manchmal Stunden, damit zubringen unter dem Baum zu sitzen und ihre Gedanken schweifen zu lassen. Sie fand Trost und wundervolle Erinnerungen unter der Krone des alten Baumes.

Auch heute war sie wieder hier, um Takeo und seinen Bruder zu besuchen.

Sie kniete nieder und grub ein kleines Loch in die Erde zwischen den großen Wurzeln des Baumes.

Sie hob die Hand und öffnete sie. Auf ihrer Handfläche glitzerte eine filigrane, wunderschöne Silberkette. Der Anhänger glich einer aufgerichteten, fein gearbeiteten Schlange.

"Ich möchte, dass du sie behältst, Takeo.", flüsterte sie leise und ließ die Kette in das Erdloch gleiten, bedeckte sie mit Erde und Gras.

"Sie gehört dir. So wie ich dir gehöre. Immer. Ich liebe dich..."

Und wieder, auch nach all der Zeit, fühlte sie Schmerz und Tränen in sich aufkommen. Doch da fuhr eine Windböe rauschend und flüsternd durch die Bäume des Parks, schien ihr Gesicht, ihre Wangen zu liebkosen und mit ihrem Haar zu spielen, bevor sie weiter ihres Weges zog. Sie schloss die Augen.

Mehr denn je konnte sie ihn spüren, seine Gegenwart fühlen, als stünde er direkt neben ihr und lächelte sie an.

Sie erhob sich.

Plötzlich schob sich eine kleine, vertrauensvolle Hand in ihre und drückte sie leicht.

"Mama, wo sind wir hier? Was machst du?"
 

Und vorbei war der Schmerz, die Tränen versiegten, noch bevor sie die Oberhand gewinnen konnten, und eine wunderbare Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus. Und Liebe. Eine ganz andere Liebe, als sie sie je vorher in ihrem Leben erfahren hatte, und die sich ihr nur durch dieses eine, wunderbare kleine Leben für sie offenbarte, dass sie zur Welt gebracht hatte.

Sie drehte sich ihrem Sohn zu. Der kleine Takeo war mit seinen acht Jahren ja nun schon ein großer Junge. Jedenfalls behauptete er das allzu gern von sich selbst. Und er glich seinem Vater wie ein Ei dem anderen. Die großen, dunkelblauen Augen schauten jedoch mit einer kindlichen Naivität in die Welt, die sie bei ihm unbedingt erhalten wollte. Niemals sollte er so viel Leid erfahren müssen, wie sein Vater es getan hatte. Das Haar war etwas dunkler, hatte jedoch, im Gegensatz zu ihrem eignen, einen deutlichen Kupferschimmer. Der kleine Takeo trug einen Pferdeschwanz - und hatte ständig sein kleines Bambusschwert dabei, mit dem er oft wilde Scheinkämpfe ausfocht.

Manches Mal, so wie jetzt gerade, als er zu ihr aufblickte, mit all dem Vertrauen und all der Liebe, die nur ein Kind der Mutter entgegenbringen konnte, traf es sie wie ein dumpfer Schlag, wie ein kleiner Blitz, so sehr ähnelte er seinem Vater. Die Art, wie er sich bewegte, manchmal den Kopf drehte und lächelte... Ja, da war Takeo. Ganz eindeutig.

Takeo war immer noch bei ihr. Er würde immer da sein, dass wusste sie nun, so oft sie ihren Sohn ansah. Milde lächelte sie zu ihm herab.

"Was meinst du denn, was ich tue?"

"Naja... Ich weiß nicht. Du... bist irgendwie so komisch."

Madoka lachte leise.

"Komisch? Nun ja, ich bin... ein bisschen traurig, weißt du? Ich hab dir doch mal von deinem Vater erzählt, oder?"

Takeos Augen leuchteten auf.

"Ja, das war doch der tolle Schwertkrieger! Der, der alle schlagen konnte, so stark war er! Ich will auch mal so stark werden!"

Madoka strich ihm liebevoll durch das Haar.

"Aber sicher wirst du das. Ganz bestimmt. Denn dein Vater schaut dir ganz sicher vom Himmel aus zu, von dort, wo seine Seele ist. Und wenn dir danach ist, dann kannst du hierher kommen und ihn besuchen, weißt du? Sein Körper wurde nämlich hier begraben."

Sie deutete unter den alten Baum.

Der kleine Takeo schaute plötzlich nicht mehr ganz so fröhlich drein.

"Warum ist hier kein Grab?", fragte er dann.

"Wenn hier ein so großer Schwertkämpfer begraben liegt, warum ist hier dann kein Grab? Wo sind denn die Blumen?"

"Oh, er hat doch diesen Baum, Takeo. Der schützt ihn und wacht über ihn. Es ist der älteste und schönste Baum des Parks, findest du nicht?"

Als er nicht antwortete fügte sie hinzu:

"Du kannst ja das nächste Mal Blumen mitbringen, wenn du es möchtest."

Schon strahlte er wieder. Kinder waren so leicht zu erfreuen. Zumindest manchmal...

"Ja, das nächste Mal werd ich Blumen mitbringen! Oder nein, noch besser: Ich mach ihm ein Bambusschwert! Onkel Shido hat mir gezeigt wie man das macht! Was soll ein Schwertkämpfer schon mit Blumen anfangen."

Sie nickte. "Das klingt... durchaus logisch."

Aus einem Impuls heraus zog sie ihn dann in ihre Arme und hob ihn hoch. Sie drückte ihn fest an sich.

Einige Passanten drehten sich lächelnd zu ihnen herum.

"Mamaaa...", quengelte Takeo.

Sie küsste ihn und setzte ihn wieder auf den Boden, wo er sich umgehend die Wange abwischte und lautstark "Bähh!" machte.

"Takeo, du weißt hoffentlich, dass ich dich sehr doll lieb habe?", sagte sie nun leise uns ließ sich in die Hocke sinken, sodass sie ihm direkt in die Augen sehen konnte.

"Ich liebe dich. Du kannst immer zu mir kommen, wenn dich etwas bedrückt, hörst du?"

Takeo nickte. "Klar.", sagte er schlicht.

Dann sauste er davon, zurück zu Shido-san, der es sich auf einer Bank in der Nähe bequem gemacht hatte und Zeitung zu lesen versuchte. Madoka hatte Shido zwar das Lesen beigebracht - doch der junge Mann hatte nach wie vor Schwierigkeiten damit vor allem lange Texte zu verstehen. Er brauchte oft Stunden für eine Tageszeitung - wenn er denn überhaupt so viel Geduld aufbrachte.

Meist spielte er ohnehin am liebsten mit dem kleinen Takeo. Es war wie Madoka gesagt hatte: Er hatte einen neuen Freund gefunden.

Madoka sollte niemals erfahren, warum gerade SIE es gewesen war, der all diese Dinge wiederfuhren. Allerdings war das auch jetzt nicht mehr wichtig. Alles was zählte war, dass sie nicht eine Minute von dem, was sie erlebt hatte, bereute. Der kleine Takeo war all das wirklich wert gewesen.

"Dies ist dein Sohn, Takeo.", flüsterte sie und sah lächelnd dabei zu, wie Shido und der Kleine fangen spielten.

"Kannst du ihn sehen? Er ist wie du. Wir sollten beide über ihn wachen, nicht wahr?"

Der Wind nahm zu und herabgefallene Blätter begannen unter dem Baum einen wirbelnden Tanz aufzuführen. Eine besonders heftige Windböe erfasste sie, trug sie zum Himmel hinauf, wo sie taumelnd und schaukelnd weitergetragen wurden, hinein in den spätnachmittäglichen Himmel, hinein in den sanften, orangeroten Schein der untergehenden Sonne.

Epilog

Und so hatte die Weiße Schlange die Seele der Schwarzen Krähe gerettet.

Nie zuvor hatte die Krähe erfahren, was es hieß, wahrhaftig zu lieben, was es bedeutete, wenn einem wahrhaftig verziehen wurde, wenn hinter die grausame Fassade geblickt und der wahre Kern eines Wesens erkannt wurde.

Und so war es auch mit der jungen Madoka und ihrem Samurai.

Sie hatte den Menschen in dem grausamen Attentäter erkannt und gerettet, ganz einfach, indem sie ihm verzieh und ihn so liebte wie er war. Sie hatten Kriege, Hass und Tod überwunden. Über die Grenzen der Zeit hinaus hatte ihre Liebe Bestand.

Was die Bestimmung des Sohnes anging... Nun... Niemand weiß genau welcher Art sie nun wirklich war. Dass er für Großes bestimmt war, stand außer Zweifel.

Und er glaubte. Er glaubte an Yosei, an Dämonen, an Halbdämonen und an Waldgeister. Und wenn er einmal nicht gehorchte bekam er (mit einem Augenzwinkern) zu hören, dass der grausame Geist von Saito Hajime nur darauf wartete des nachts hervorzukommen, um unartigen Kindern die Seelen zu stehlen. Er GLAUBTE an all diese Dinge.

Vielleicht war tatsächlich allein dadurch ihre Existenz gesichert. Auf die eine oder andere Weise.

Ähnlich den Feen in dem Märchen "Peter Pan", die nur so lange auch wirklich existierten, wie man an sie glaubte.

Nun ja, in jedem Fall ist diese Geschichte hiermit an ihrem Ende angelangt.

Es ist spät geworden. Das Feuer ist erloschen.

Wenn ihr mal wieder Lust auf eine Geschichte habt, dann kommt zu mir, ich bin sicher, da lässt sich etwas machen. Bis - vielleicht - zum nächsten Mal.

Und vergesst nicht: Tut niemals etwas Unartiges oder gar Böses. Sonst kommt der "Wolf von Mibu" eure Seele zu holen.

Böses muss schließlich bestraft werden...

... oder?
 


 

Ende
 

****
 

It's the last night on earth

before the great divide.

My hands are shaking,

time was never on our side.

And there's no such thing

as a beautiful goodbye,

as an ordinary day.

I prayed for you a thousand times...
 

It's never enough,

no matter how many times I try to tell you this is love.
 

If tomorrow never comes

I want you to know right now that I,

I'm gonna love you until the day I die.

And if tomorrow falls asleep

can you hold me first,

I'm gonna love you like it's the last night on earth.
 

It's never enough,

no matter how many miles stand between us

this is love.
 


 

***
 

I am broken,

When I'm open

I don't feel like

I am strong enough.

I am broken,

When I'm lonesome

And I don't feel right

When you're gone away.
 

You gone away.

You don't feel me

Any more...
 


 

***
 

Good times,

Bad times,

There's nothing I'll forget.

The sun shines on our life lines,

There's nothing I'll regret.
 

Hold me

And feel me

And wrap your arms around,

'cos when you love me I'm quite clear

that heaven is here.
 

Hear my

Confession,

We meant to be as one.

Lead me

To the mystery

Of happiness to come.
 

Touch me,

I'll give you

My blessing and desire,

'cos when you feel eternal fire

than heaven is here.
 

Send me

An angel

An wrap your love around,

'cos when it all comes down you know

that heaven is here
 

***
 

I won't go,

I won't sleep,

I can't breathe,

Until you resting here with me.

I won't leave,

I can't hide,

I cannot be,

Until you resting here with me
 


 

****
 

So, meine Lieben...
 

*räusper*
 

Es ist vollendet. Und es war gerade auch am Schluss echt harter Tobak. Wieviel sollte ich von der Zukunft des kleinen Ta-chan nun verraten, wieviel verschweigen? Ich hab es bei Andeutungen belassen. Vielleicht, irgendwann mal, werde ich mich an eine Fortsetzung trauen, in welcher dann Takeo junior seine Abenteuer in der heutigen Zeit erlebt. Oder aber er findet seinen eigenen Weg zurück in die Vergangenheit und trifft dort Yasha und die Yosei... (Erinnert mich gerade herbe an "Narnia"... Er "findet seinen eigenen Weg zurück in jene Welt"... uiuiuiiii^^). Das ist aber alles noch sehr vage und ich weiß nicht, ob ich das überhaupt mache. Ich habe nämlich gesehen, wie lange ich HIERFÜR gebraucht habe - und es war neben dem Job doch schon etwas schwierig, das alles so zu bewerkstelligen, wie mans gern möchte...

Und hier und da bin ich auch nicht ganz zufrieden mit der Story - aber wat solls?! Is ja nur für mich (und diejenigen hier, dies halt interessiert.^^). Ich wills ja net veröffentlichen oder so.

Ich denke, jedwedes Hinauszögern des Endes und noch eingehendere Ausführungen über Baby-Takeos Zukunft hätten einiges kaputt gemacht - kaputter, als es jetzt schon ist mein ich. Ich mag es halt geheimnisvoll. Soll sich doch jeder selbst ein Bild von der Zukunft des Lütten machen^^.

Zu der Geschichte inspirierten mich vielerlei Dinge. Vor allem natürlich Nobuhiro Watsukis "Rurouni Kenshin" - von dem ohne Zweifel Takeo seinen Charakter hat (wenn er auch deutlich größer ist als der winzige, süße Samurai^^). Dann natürlich "InuYasha". Ich mag die Serie sehr gern und das Einführen der Charaktere von Yasha und Aurinia sind gewisserweise mein Tribut, meine Hommage, an die Serie von Takahashi - und an meine beste Freundin auf dieser I-Net-Seite: Aurinia-chan alias Sina-Schatz!^^

Sonst inspirierten mich auch die Bücher von Lian Hearn, die mit ihrer Saga um den "Clan der Otori" ein wahres Meisterwerk geschrieben hat, wie ich finde. Den Namen Takeo habe ich übrigens dort her. Er klingt einfach klasse mein ich.

Shido-san ist vom Charakter her zwar dem guten Sanosuke Sagara, Kenshins bestem Freund, recht ähnlich, dennoch diente mir jemand anders als Vorlage für seine Art und Weise: Shido Fuyuki aus "GetBackers", der "Animal-Master". Der ist genau so ein Hau-Drauf wie Sano, hat aber noch mehr feinfühlige, nachdenkliche Seiten an sich als dieser.

Den Rest der Charaktere habe ich mir (bis auf die Männer der Shinsengumi wie Hijikata, Okita und sogar Saito, die WIRKLICH und NACHWEISLICH existiert haben) selbst ausgedacht. Natürlich sind auch Takeo und Co. "von mir erdacht" und lediglich angelehnt an die eben erwähnten bekannten Charas.

Unheimlich gern hab ich mich beim Schreiben auch von ganz unterschiedlichen Musikstücken beeinflussen lassen. Apokalyptika hab ich z.B. viel gehört, hier vor allem "Farewell" und "Ruska". Green Day habe ich auch eine Zeit lang echt verschlungen, vor allem natürlich "When September ends". Weitere Songs die mich inspiriert haben waren "Here with me" von Dido, "Heaven is here" von Sarah Brightman, "Hard letting you go" von Bon Jovi, "Turn the page" von Metallica, "Broken" von Seethers und allem voran "Lost without you" und "Last night on earth" von Delta Goodrem, auf die ich nur durch meine beste Freundin Steffi überhaupt aufmerksam wurde.^^

Es gab noch unzählige weitere Faktoren, die meine Geschichte beeinflusst haben, aber das würde jetzt echt mal zu weit führen. Ich labere ja schon ohne Ende... Ich kann mich wohl nicht trennen... *schnief*

Zu guter Letzt - last, but not least - natürlich ein RIIIIIESENgroßes DAAAAANKESCHÖÖÖÖÖN an meine treuen Leser, vor allem natürlich meiner süßen dragonrider-sis "Rhyan", die trotz des Stresses in ihrem Job immer noch die Zeit für aufmunternde Worte fand und der lieben Auri-chan, die selbstverständlich als Vorlage für die Aurinia meiner Story herhalten musste und mich immer wieder aufgebaut hat, wenn ich mal down war, sowie natürlich noch allen anderen, die sich echt die Mühe gemacht und die Zeit genommen haben DAS HIER zu lesen!!!

Ich bin euch allen sehr dankbar - daher möcht ich die Story euch auch widmen.^^

Ich denke, ich werde das ganze demnächst nochmal auf Fehler (inhaltlich und pro forma) querlesen. Dann wars das endgültig.
 

Oder auch nicht... Mal sehen, was die Zukunft bringt...
 

Hab euch alle lieb!
 

Dolle, dolle!
 

Eure merle, alias Anne, alias Madoka-chan... Jep, ganz genau^^. Und ich werd Ta-chan IIIIMMER lieb haben tun^^...
 

Tschö^^

Devotion (Uncut/Uncensored)^^

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  WolfsDream
2007-09-24T23:49:29+00:00 25.09.2007 01:49
(...)
Meine Fresse! Wo is der nächste Kerl?! *ihn anfallen will*
*wild um sich schaut*
Keiner da!*drop*
Muss also wieder die (eis)kalte Dusche herhalten.^^
Oh, Mann! O.o Im wahrsten Sinne des Wortes!
Erwarte jetzt bloß keinen vernünftigen Kommie von mir, Gehirn hat sich gerade verabschiedet.^^
Hehrem... *räusper* Muss aber trotzdem wieder dein geniales Schreibtalent loben!
Eine solche Szene so genau zu beschreiben, ohne dass es obszön wirkt ist wirklich eine Kunst!
Mehr fällt mir im Moment dazu nicht ein. Bin ja schon froh, dass ich überhaupt noch weiß, wie eine Tastatur funktioniert!^^
Lg *knuddel dich*
Von:  Neria-Auro
2007-07-10T18:25:19+00:00 10.07.2007 20:25
Hey ich finde deine FF echt klasse sie ist mit so viel gefühl und trauer ich musste an verschiedenen stellen echt heulen aber mach weiter so und es were echt schön wenn es eine fortsetzung zum kleinen Takeo geben würde :)

MfG das Kätzchen
Von:  WolfsDream
2007-05-14T21:27:10+00:00 14.05.2007 23:27
Ich... bin völlig sprachlos!

Domo arigato gozaimasu!!
Von:  WolfsDream
2007-05-14T10:39:13+00:00 14.05.2007 12:39
Seeehr schön!*seufz* Würd ich niiie so hinbekommen! Und zu deinem eigenen Kommentar: das hier ist eine FanFIKTION da darf man ruhig perfektioniern! Also meinetwegen jedenfalls gerne!
Weiß dein Holger eigentlich wem er das glück verdankt *g*?
Wollte mir eigentlich auch die uncensored Version angucken, aber mein Perso wird irgendwie net akzeptiert! Menno!
Von:  WolfsDream
2007-05-13T13:47:37+00:00 13.05.2007 15:47
Hallöchen du!
Hab endlich deine Geschichte angefangen! Hatte ja schon so einiges Positives gehört und muss sagen, dass trifft voll und ganz zu!! Schreibe dir auch erst zu diesem Kapitel nen Kommi weil ich mich vorher echt nicht losreißen konnte! Nicht mal fürn paar Sekunden! Hätte die FF vermutlich in einem Rutsch durchgelesen, wenn nicht meine Freundin angerufen hätte wo ich bleibe! Mein typisches Problem bei guten Texten: Ich lese mich grundsätzlich Fest und vergesse die komplette Welt um mich herum, bzw. blende sie aus! Wollte dir aber unbedingt noch nen Kommentar hinterlassen, mwas ich ja jetzt hiermit tue.
Die Charaktere sind sehr gut beschreiben, man kann sich in jeden, so unterschiedlich sie auch sind, hinein fühlen!
Und ich bin total fasziniert ( und neidisch) wie du es schaffst die verschiedenen Ätmosphären zu beschreiben! EInmal die wundervoll friedliche in Aurinias Höhle und dann die düster-bedrohliche im Nebel am Waldsee und natürlich die Hitzig-hektische und zum Schluss ebenfalls seeehr, wie soll ichs sagen? Naja mein Sofa hat jetzt ein paar Kratzspuren und Fingernagelabdrücke mehr... *gg*
Wenn du verstehst..
Aber hoffentlich gibst ein HAppyend! Biitte! Sag mir, dass es ein HAppyend gibt!!!
Ich kann doch Geschichten die traurig enden nicht ertragen! HAb sooo nah am Wasser gebaut! *grummel, schniff*
Fürchte ich muss aber egal was is weiterlesen! Wenn kein HAppyend gibt müsst ihr mich dann halt gemeinsam wieder aufbauen!*g*
LG
Von:  Rogue37
2007-04-28T15:31:57+00:00 28.04.2007 17:31
Nice <lach> Naja, nice dürfte nicht das richtige Wort sein, hm? Okay, aber nachdem ich nun die Version kenne, gebe ich dir vollkommen REcht, dagegen war die andere ja wirklich jugendfrei ^^ Wer hätte das gedacht?

Also das hier hat wirklich Feuer und Intensivität, wie ich sie zuvor selten gelesen habe. Ach SChmarrn, was lüg ich denn, du weißt so gut wie ich, dass ich so was gerne lese und daher ne Menge Vergleiche hätte, aber ich finde das hier bedarf keines Vergleiches. ES ist sehr intensiv und schön beschrieben. Hat Spaß gemacht zu lesen, wie immer. Und hai, prickeln tut es mit Sicherheit. Ausdauer haben die beiden. Ich dachte die ganze ZEit über nur, Gott, das wird den Kerl wirklich umbringen <lach> Aber gut, er hats ja überlebt. Aber welch eine Ausdauer. Meine Güte, REspekt, werter Herr. Kenshin äh Takeo eben, nicht wahr? Nett, seeeehr nett. ICh weiß nicht, warum ich immer wieder auf das Wort zurückkomme. Naja, nimm es als ein Nett mit Unterton und vielsagendem Blick. ICh sag ziemlich häufig, nett, auch wenn ich was anderes meine. <lach> WAs red ich hier eigentlich? Naja, erwarte nach so etwas kein vernünftiges Kommi von mir.

Ehrlich, sehr anschaulich, plastisch und gut beschrieben. Ich mag die uncensored Version und bin einmal mehr sehr dankbar, dass ich schon in solch illustrem Alter bin, das lesen zu können. Und mich dafür nicht mal mehr schämen zu müssen. Früher hat man ja immer verlegen gekichert bei so was. Erinnerst du dich daran noch? heutzutage ist man frau genug das offen gut zu finden, oder? Wer hätte nicht gern so nen Kerl, der so lieben kann. Ich jedenfalls schon.

Und unterlass das Wort Schundroman bitte, ich mag das nicht. Und ich les das ziemlich gerne, daher find ich Schundroman so abwertend. Was ist dabei, wenn es bei so was wirklich intensiv um so was geht? Männer schaun einschlägige Filme, wir lesen. Ich find Phantasie ist was tolles ^^

Okay, genug geredet. Wieso muss ich jetzt grad an Kyo und Shinta denken <pfeiff> ...
Von:  Schalmali
2007-03-19T21:48:10+00:00 19.03.2007 22:48
Das Geschichtenerzähler Ende wie passen... hattest so ähnlich ja auch angefrangen *grins* Und nun hab ich erstmal genug gelesen schöne Geschichte :)
Von:  Schalmali
2007-03-19T21:46:10+00:00 19.03.2007 22:46
Hach wie süß... mehr gibts dazu schon gar nicht zu sagen :)
Von:  Schalmali
2007-03-19T21:41:06+00:00 19.03.2007 22:41
Ach wie süß... Madoka hat wenigstens von ihrer Schwester die Unterstützung damit sie nicht alle für durchgeknallt halten. Dem Rest gaukelt sie zu Recht was vor was nicht ist. Takeos Kind ich habs mir doch gedacht ^^ Und nun ist Shido auch noch da perfekt und süß. Ehrlich gesagt, fand ich Shido von Anfang an sympatisch und hätte es gern gehabt dass die zwei zusammenkommen ^^
Von:  Schalmali
2007-03-19T21:20:12+00:00 19.03.2007 22:20
Rofl ich hatte mir schon fast gedacht dass das bisschen auf Thema Naturschutz abzielt aber erst als du es am Ende schriebst war ich mir sicher *grins* War wirklich schön alles *seufz* aber auch sehr traurig irgendwie das ganze...


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