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Abweisung!

von

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Nicht mehr alleine!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai / Yaoi

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Kommentar: Ich freue mich wirklich, dass du den Weg zu mir und meiner Story gefunden hast. Ich hoffe, dir gefällt, was du nun zu lesen bekommst, und ich würde mich freuen, wenn du auch bei den nächsten Parts (oder meinen anderen Geschichten) gerne wieder vorbeischauen wirst.
 

Abweisung – Part 01
 

Suche nicht nach der schnellen Nummer,

sondern einen Menschen, mit dem man

eine gemeinsame Zukunft aufbauen kann.

Chris, 23, 1.82 m, blond, hat das lockere Leben

satt und möchte endlich nicht mehr alleine sein.
 

Als ich die gedruckte Anzeige das erste Mal las, fand ich sie schön formuliert, beim dritten Mal noch passend und beim siebten Mal, fragte ich mich ernsthaft, wie ich so einen Gefühlsscheiß nur schreiben, geschweige denn in einer Ausgabe der Gaynight umzingelt von zahlreichen Sexangeboten bringen konnte.

Die Unmengen von Zuschriften auf meine, eben diese Anzeige ließen mich dann aber doch hoffen. Vielleicht gab es ja doch den ein oder anderen, dem es genau so ging wie mir, jemanden, der auch endlich eine ernsthafte Beziehung eingehen wollte. Aber bei den meisten wurde ich enttäuscht… Schon nach einigen gelesenen Sätzen konnte man bei den Zuschriften deutliche Anspielungen erkennen, manche schrieben auch gar nicht erst um den heißen Brei herum und wogen sofort mit explizierten Sexangeboten auf. Andere taten ihre Absichten lauthals bei Telefongesprächen kund und am Ende blieben gerade mal vier Auserwählte über, bei denen ich ein persönliches Treffen in Erwägung zog.
 

~ * ~
 

Es war Samstag und der leichte Regen versuchte angestrengt, sich in den für die Jahreszeit üblichen Schnee zu verwandeln. Ich stand nervös vor dem großen Brunnen in der 47igsten Straße.

Dem ersten Treffen zugesagt, war ich mir auf einmal nicht mehr ganz so sicher, ob ein Blinddate wirklich das Richtige für mich war. Aber was sollte ich sonst tun?

Wieder durch die Schwulenszene ziehen, wo man dir mehr auf den Arsch als ins Gesicht schaut? Nein, das war nicht meine Welt. Und in den sogenannten normalen Kneipen versuchte jeder noch so schwule Gast seine Vorlieben zu verstecken, sodass auch nur der kleinste Annäherungsversuch in einem Chaos endete.

Um es einfach auszudrücken: Ich war am verzweifeln!

Meine letzte richtige Beziehung lag 4 Jahre, der letzte Sex, der in einem Darkroom stattgefunden hatte, 7 Monate zurück. Für mich, für einen Menschen, der nicht gut alleine sein konnte, war das ein halbes Leben.

Freunde, aber besonders meine Schwester hatten immer wieder versucht, etwas Passendes für mich zu finden, was aus den verschiedensten Gründen immer wieder in die Hose ging und als ich vor einem halben Jahr aus dem Loch, das ich Wohnung schimpfte, auszog, sah ich die Leute aus meiner alten Umgebung nicht mehr so häufig wie zuvor, was die Abnahme dieser Verkupplungsversuche zur Folge hatte. Nicht, dass sie jemals hilfreich gewesen wären, aber fehlen taten sie schon.

Weit weg zog ich nicht, trotzdem fand sich kaum die Zeit, sich ins Auto zu setzen und die 45 Minuten Fahrt hinter sich zu bringen.

Ich mochte die kalte Jahreszeit, die Weihnachtszeit. Alles veränderte sich, alles nahm so einen verträumten Beigeschmack an. Vielleicht ließ auch nur die kaltfrische Luft den Kopf ein wenig klarer werden und uns das Leben intensiver wahrnehmen... ich wusste es nicht genau.

Ich beobachtete die Menschen um mich herum. Ja, es war anders in den Wochen vor Weihnachten. Man sah viel mehr Lachen, sah viel mehr Freude auf den einzelnen Gesichtern. Man blieb öfter einmal stehen und schaute sich etwas an, wofür man sonst niemals genügend Zeit hatte... man schaute öfter in den Himmel hinauf.

Und dann, einen Tag nach den Feiertagen war alles wieder vorbei.
 

Ein Blick auf die Uhr, noch 5 Minuten. Ich war mal wieder viel zu früh, eine Angewohnheit, die ich nicht lassen konnte. Ich hasste Unpünktlichkeit.

Ein weinendes Kind zu meiner Linken, ein Glockenspiel zu meiner Rechten, in diesen Wochen wurde die Stadt selbst zu so später Stunde niemals müde.

Ich drehte mich ein wenig zum Glockenspiel, welches meine Aufmerksamkeit mehr als das weinende Kind erreckt hatte, da erblickte ich den gelben Schirm, den mein Blinddate als Zeichen angegeben hatte.

Ich wusste, dass es ein wenig feige von mir war, auf der anderen Straßenseite zu sein, erst abchecken zu wollen, mit was ich es zu tun bekommen würde, jedoch konnte ich sein Gesicht durch den Schirm und den feinen Schneeregen nicht wirklich erkennen, und so überquerte ich nun doch die Straße mit dem nächsten Grün, auf halbem Wege stockte ich.

Das konnte doch nicht sein? War das wirklich noch…?

Ich war noch gut zehn Meter von ihm entfernt, als er aufschaute und mich direkt ansah. Ich drehte mich ohne zu zögern um und ging wieder auf den Brunnen zu. Dort angekommen, blieb ich erneut stehen, schaute mich nochmals um und erschrak, als er mir immer noch hinterher sah.

Mein nochmaliges Umschauen hatte mich verraten, und so trat er an die mittlerweile rote Ampel heran, schien ungeduldig auf das ersehnte Umschalten zu warten. Ich dagegen machte mich schnell aus dem Staub.

Das konnte doch alles nicht wahr sein... wie alt mochte der gewesen sein? 14, doch höchstens 15… Gott, wollte ich vielleicht als Kinderschänder enden? Vielleicht hätte ich den Punkt Altersvorstellungen in meiner Anzeige doch noch kurz erwähnen sollen.

Gerade noch sehend wie die Ampel umsprang, flüchtete ich in eine kleine, schmale Gasse, durch die ich, wenn ich mich nicht total irrte, geradewegs auf der 52igsten landen müsste.

Meter um Meter wurde es immer dunkler um mich herum. Ich tastete mich vorwärts, während ich den ätzenden Geruch von Müll und Urin aufnahm. Ich rümpfte die Nase und im nächsten Augenblick fand ich mich genau inmitten des ätzenden Gestankes wieder.

„Ah, scheiße verdammt.“

Ich rappelte mich wieder auf, trat in der Dunkelheit nach dem Gegenstand, über den ich gestolpert war, um ihm nicht noch einmal zu erliegen.

„Verdammter Drecksmüll“, unterstützte ich meinen Tritt.

Ein dumpfes Geräusch ließ mich daraufhin zurückschrecken, ich drückte mich gegen die Wand, wenigstens hoffte ich, dass es nur eine ganz normale Wand war.

„Ist... ist da jemand...?“

„Mein Gesicht ist weiter links, wenn du vorhast, das auch noch zu treffen“, durchdrang eine ruhige Stimme die Dunkelheit.

„Ich... es... sorry, ich konnte ja nicht ahnen... ich dachte, es wäre nur Müll.“

„Na, passt doch, alle anderen halten auch nicht viel mehr von mir.“

Ich drückte mich von der Wand ab. Es war ein wenig unheimlich mit jemanden zu sprechen, denn man nicht sah, von dem man nicht einmal die kleinste Vorstellung hatte.

„Ich wollte Sie nicht beleidigen. Wirklich, es tut mir Leid“, antwortete ich höflich.

„Ok, ich hab’s notiert.“

„Oh, warten Sie, ich müsste da noch etwas Kleingeld haben.“

Ich fing an, meine Taschen nach Münzen abzusuchen.

„Kleingeld? Willst mich verarschen? Ich brauch dein Geld nicht. Wenn du mir helfen willst, dann gib mir nen Platz zum Schlafen.“

„Einen Platz zum Schlafen?“, reagierte ich wohl ein wenig schockiert.

Was dachte der sich denn, dass ich einfach so einen Penner von der Straße mit nach Hause nehmen würde? Hatte der denn keine Ahnung davon, in was für einer Welt wir heutzutage lebten?

Doch warum hatte ich zwei Stunden lang meine Wohnung blitzblank geputzt? Warum hatte ich Wein im Kühlschrank, warum meinem Bett neue Bettwäsche zugesprochen? Hatte ich nicht unter Umständen auch vorgehabt, mein Blinddate mit nach Hause zu nehmen?

Wäre er denn nicht auch ein Fremder gewesen, hätte er nicht ebenso ein Verbrecher sein können, wie jeder andere auch?

Meine Mutter sagte mal zu mir: „Die Menschen, die auf der Straße leben, wären keine Verbrecher, sonst würden sie wohl kaum dort leben.“

Das plötzliche Aufflackern eines Feuerzeuges ließ mich wissen, wo sich sein Gesicht befand, erkennen konnte ich es dennoch nicht besonders gut. Ein Auflodern der Glut, das Geräusch entweichenden Rauches.

„Es ist kalt geworden, niemand ist da gerne auf der Straße.“

Ich schaute weiter in seine Richtung und wusste nicht wirklich, was ich darauf antworten sollte. Das Einzige, was mir einfiel, war:

„Bei mir wird nicht geraucht.“
 

Knapp eine halbe Stunde später kamen wir bei mir zu Hause an.

Mir war es peinlich gewesen, mit ihm U-Bahn zu fahren. Er war dreckig, stank und schleppte drei Rücksäcke, in denen wohl seine ganze Habe war, mit sich durch die Gegend. Ich bezahlte die Tickets und lehnte mich gegen die geschlossene Tür, während er sich einen Platz suchte und lauthals in ein Taschentuch schnäuzte. Ich war froh, dass er nicht neben mir stehen geblieben war, und wog die Möglichkeit ab, ob ich bei der nächsten Station kurz bevor sich die Türen schließen würden einfach aus dem Zug springen sollte. Natürlich hatte ich es nicht getan.

Vor der Haustür, trafen wir auf Mr. Jones aus 2B, der meinen Begleiter einen verachtenden Blick zuwarf und mich anschaute als wolle er sagen: „Na, nichts besseres bekommen heute Nacht.“

Ich schloss die Wohnungstür auf und legte meinen Schlüssel nicht wie gewohnt auf die kleine Ablage neben der Tür, sondern steckte ihn in die Hosentasche zurück.

„Du kannst deine Sachen erst mal hier lassen“, deutete ich auf eine kleine Ecke im Flur und schaute ihm dabei zu, wie er sich aus drei Lagen Wäsche, einem Mantel, einer Mütze und einem Schal, der ihm weit über die Nase reichte, wühlte.

Bis jetzt hatte ich nur einen kleinen Teil seines Gesichts zu sehen bekommen, und so war mir meine Überraschung über sein noch sehr junges, relativ gutes Aussehen bestimmt ins Gesicht geschrieben. Ich schätze ihn so auf 18 bis 20.

„Du willst bestimmt erstmal duschen?“

„Baden wäre mir lieber... wenn das möglich ist?“

„Kein Problem.“

Er folgte mir ins Bad und für einen kurzen Moment überkam mich ein wenig Angst. Immerhin hätte er mich jetzt ganz einfach von hinten überwältigen und meine Wohnung leer räumen können. Ein klein wenig erleichtert, als dies nicht geschah, drehte ich den Wasserhahn der Wanne auf und zeigte ihm wo er frische Handtücher fand. Ich holte einen Jogginganzug aus meinem Schrank, reichte ihn ihm und ließ ihn anschließend alleine.

Ich konnte immer noch nicht glauben, was ich mir da angelacht hatte. Wie konnte ich nur einen von der Straße mit nach Hause nehmen, so viel Hilfsbereitschaft Fremden gegenüber, war doch sonst nicht meine Art.

Mein Blick blieb für einige Sekunden an die im Flur liegenden Rücksäcken hängen... ob ich?... nein!

Die Toilettenspülung, das Abstellen des Wasserhahns... und nun?

Der Tag hatte mich ganz schön fertiggemacht, erst das plötzlich einberufene Meeting heute Vormittag im Büro, der Einkaufsbummel mit Ally, da sie es ja auf keinen Fall verschieben wollte, unserer Mom ein passendes Weihnachtsgeschenk zu kaufen, die Sache mit dem Blinddate, und jetzt das hier. Ich war fertig für die nächsten zwei Wochen.

Eine Runde Schlafen war allerdings auch nicht drin, wie stellte ich mir das überhaupt vor? Ich konnte ihn doch nicht unbeaufsichtigt lassen, und wo dachte ich eigentlich, dass er schlafen sollte? Auf der Couch, im Arbeitszimmer? Auf keinen Fall in meinem Bett!

Die stählende Kühlschranktür verschaffte meinem Kopf ein wenig Abkühlung.

„Du bist ein solcher Idiot, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

Ich öffnete den Kühlschrank und fischte eine Flasche Bier heraus, ungewöhnlich lange starrte ich sie an.

„Freund oder Feind? Los antworte mir, du langhalsiges, kaltes Scheusal.“

Die ungeöffnete Flasche gab natürlich keinen Mucks von sich. Ich stellte sie ab und fing an, den Kühlschrank zu durchwühlen, er wird doch bestimmt Hunger haben, oder?

Im Tiefkühlfach fand ich Unmengen an Reste von Thanksgiving, aber das wäre wohl ein wenig zu dick aufgetragen, also entscheid ich mich für den Hackbraten, der von gestern übrig geblieben war.

Das Telefon klingelte, ich ging ran.

„Corban!“

„Warum bist du abgehauen?“

Das Blinddate.

Ich legte ohne groß zu überlegen auf. Den hatte ich schon wieder ganz vergessen. Wie konnte er für sein Alter nur so eine erwachsene Stimme haben?

Das Telefon meldete sich erneut, und ohne lange zu überlegen zog ich einfach den Stecker aus der Wand, das brauchte ich jetzt in der Tat nicht auch noch.

Zurück in der Küche kümmerte ich mich ums Essen und versuchte mir vorzustellen, was einen so jungen Typen auf die Straße brachte. Auf Anhieb fielen mir acht Dinge ein.

Im Badezimmer erklang der Fön.

Ich beeilte mich mit dem Essen und war gerade rechtzeitig fertig, als er aus dem Badezimmer trat. Für einen Moment hielt ich inne.

Gott, er war wirklich, kurz gesagt, ein klasse Typ. Seine Haare hatten einen kastanienbraunen Ton und seine Augen waren strahlend grün, so wirklich strahlend. Seine Nase war ganz fein, nicht so ein klobiger Zinken, wie es die meisten Kerle hatten, aber was mir am besten gefiel, waren seine Lippen. Er hatte sie garantiert von seiner Mutter geerbt, sie waren so was von schön, dass man am liebsten sofort hinein beißen würde.

„Hast du Hunger? Ich habe etw-“

„Nein danke, ich will mich nur hinhauen.“

„Aber es ist schon fertig, du könntest-“

„Nein, wirklich nicht“, unterbrach er mich erneut. „Kann ich mich hier hinlegen?“

Er deutete auf die Couch.

„Klar.“

Ich stellte den Herd aus, zog den Topf herunter. Er hätte ja wenigstens ein bisschen was essen können, da ich mir schon die Mühe gemacht hatte.

Er kauerte sich auf der Couch zusammen und sofort machte ich mich auf, ihm die Decke vom Gästebett zu holen.

„Bitte“, reichte ich sie ihn.

„Danke.“

Er fror, obwohl es eigentlich ziemlich warm in der Wohnung war. Ich setzte mich ihm gegenüber und schaute zu, wie er sich langsam entspannte. Was sollte ich denn bitteschön sonst tun?

Kein größeres Anzeichen von Leben kam von seiner Seite, und auch mir fielen immer wieder die Augen zu, obwohl ich mich noch gar nicht entschieden hatte, wo und wie oder besser gesagt, ob ich überhaupt diese Nacht schlafen sollte.

„Was willst du wissen?“

„Bitte?“, war ich sofort wieder hellwach.

„Na, du starrst mich doch die ganze Zeit an.“

Seine Augen blieben beim Sprechen geschlossen.

„Wie alt bist du eigentlich?“, war die erste Frage, die mir einfiel.

„22, und selbst?“

„23. Ich bin Chris, hast du auch einen Namen?“

„Chris? Ist das von irgendwas die Abkürzung?“

„Nein, einfach nur Chris.“

Ich dachte erst, er wollte mit dem vorgespielten Interesse die eigene Namensfrage umgehen.

„Ryan, ich heiße Ryan.“

„Warum lebst du auf de-“

„Sorry Chris, aber ich bin kaputt. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt echt gerne schlafen.“ Sein plötzlicher Blickkontakt ließ mich verstehen. Er wollte nicht darüber reden und ich hatte ja eigentlich auch gar kein Recht nachzuhaken.

„Ok.“

Es dauerte noch einige Minuten, bis ich mir reichlich blöd vorkam, hier zu sitzen und ihn sozusagen nicht aus den Augen zu lassen. Ich stand auf und ging in mein Schlafzimmer. Ich horchte noch einige Minuten an der Tür, ob sich irgendetwas im anderen Raum tat, er vielleicht doch anfing meine Wohnung nach Diebesgut zu durchforsten. Als nichts geschah, zog ich mich aus und legte mich ins Bett. Ich schlief ungewöhnlich schnell ein, keine Ahnung warum ich plötzlich keine Bedenken mehr hatte.
 

Am nächsten Morgen, war er weg.

Ich fand einen Zettel auf dem stand: Danke! PS: Mehr kann ich leider nicht entbehren. Neben den Zettel lagen drei einzelne Dollarnoten.

Das er einfach so gegangen war, fand ich schon unter aller Sau, aber das er mich für meine Hilfsbereitschaft entlohnen wollte, ließ mich beinahe ausrasten.

Der Jogginganzug sowie die Decke lagen ordentlich gefaltet auf der Couch, seine Habseligkeiten waren verschwunden, nichts deutete darauf hin, dass er jemals hier gewesen war. Ich fühlte mich komisch alleine.

Zuerst schnappte ich mir den Jogginganzug und die Decke und steckte sie in die Waschmaschine. Man weiß ja schließlich nie. Darauf folgte der gewohnte Gang ins Badezimmer und in die Küche. Einige Minuten später fragte ich mich schon, ob es vielleicht nur ein Traum gewesen war.

Ich sollte doch froh sein, dass alles so schnell und einfach über die Bühne gegangen war. Keine Ausraubung, keine unnötigen Kosten, um irgendwas zu ersetzten, was störte mich nur an den Gedanken?

Den Gedanken an den Gedanken, schüttelte ich schließlich ab und verließ kurz darauf die Wohnung.
 

~ * ~
 

Es dauerte genau zwei Tage, bis ich wieder an ihn denken musste. Die Decke, welche sauber und trocken war, lag in meiner Hand. Ich verstaute sie wieder im Arbeitszimmer und fragte mich, wo er wohl die letzten zwei Nächte geschlafen hatte. War noch jemand so blöd gewesen ihn mitzunehmen?

Mein Gesicht wand sich zum Fenster, dicke Schneeflocken fielen herab. So ein Leben auf der Straße war bestimmt kein Zuckerschlecken, selbst wenn man es sich selber ausgesucht hatte. War man da nicht irgendwie auf das Mitleid anderer angewiesen. Hieß es nicht überall, dass man seinen Mitmenschen, die es nicht so gut hatten, wie man selber, helfen sollte, wo man nur kann?

Ich zuckte zusammen… nein, ich wollte doch jetzt nicht tatsächlich darüber nachdenken, ihn für den Winter einen Platz zum schlafen zu geben, oder? War ich jetzt wahrhaftig verrückt geworden? War es wirklich schon so schlimm, dass ich sogar einen Penner aufnahm, nur um jemanden zum nicht-alleine-sein zu haben?
 

Erfolgreich hatte ich die Gedanken an ihn erneut abgeschüttelt. Die Arbeit lenkte mich größtenteils ab. Alles im Büro lief auf Hochtouren, ein Projekt musste nach einigen Aufschüben endlich sein Ende finden. Es war zu einer richtigen Last der ganzen Mannschaft geworden. Ein erleichtertes Seufzen durchzog die Räume, als der Auftragsteller endlich zufrieden gestellt war.

Als die Arbeit dann schwand, in der Mitte der Woche, bröckelte nun auch diese Ablenkung langsam dahin und als die Temperaturen noch mehr fielen und der Schnee sich immer dicker auf den Grund der Stadt ausbreiteten, warf es mich vollends zurück. Die Nachrichten über immer mehr Tote unter den Obdachlosen beruhigte meinen Kopf natürlich auch nicht, eher das Gegenteil war der Fall.

Aber was war es, das mich einfach nicht losließ? Dass ich mir Sorgen um ihn machte? Faszinierte mich auf eine komische Art sein Lebensstil? War da vielleicht doch die Neugier, warum er mich mit diesem eindringenden Blick von der Frage abwarf, warum er dort lebte? Oder hatte ich vielleicht einfach nur Mitleid?

Wollte ich ihm ein Zuhause anbieten, einen Platz wo er leben könnte, einen Platz, damit auch ich nicht mehr so alleine war? Und würde er überhaupt hier sein wollen?

„Verdammte Scheiße... hör auf“, schrie ich mich selbst an. Es konnte doch nicht sein, dass ich diese Möglichkeit wirklich in Betracht zog…
 

~ * ~
 

Am Freitagabend machte ich mich jedoch auf den Weg zur 47zigsten.

Die Gasse, war verlassen. Zuerst hatte ich mir gedacht, dass ich einfach mal vorbei schauen wollte, ihn vielleicht etwas Geld anbieten oder einfach mal fragen, wie es so geht. Doch die verlassene Stelle vor mir, strafte mich sofort Lügen. Innerlich wusste ich auf einmal genau, weswegen ich wirklich hier war.

„Suchst du was?“

Vor Schreck stolperte ich über eine leere Bierflasche, er packte mich am Arm und hielt mich fest.

„Gott, musst du mich so erschrecken?“

„Was machst du hier? Das ist kein Ort für dich.“

„Ich....“

Ich überlegte, während ich mir einen festen Stand suchte.

„Also?“

„Ich wollte dir das zurückgeben.“

Blöde Ausrede. Ich streckte meine Hand aus und hielt ihm die vor Schreck zerknüllten drei Dollarnoten hin. Er schaute erst sie, dann mich an.

„Wenn ich sie dir nicht hätte geben wollen, wären sie noch in meiner Tasche“, drehte er sich weg.

„Ich wollte aber kein Geld von dir.“

Ich griff nach seiner Hand, dass erste Mal, dass ich ihn berührte und drückte ihm die Scheine hinein. Seine Hand war kalt, nicht einmal ein paar Handschuhe bedeckten seine Finger. Verlegen ließ ich ihn schnell wieder los. Sofort fiel das Geld in den Dreck, er ließ es einfach fallen.

„Was willst du wirklich, Chris?“

„Ich wollte dir nur das Gel-“

Er dreht sich weg und ging. Ich stockte sofort.

„Ryan!“

Ich stolperte abermals über die Bierflasche, schaffte es aber diesmal selbst, mich abzustützen und wieder auf die Beine zu kommen. Wie doof musste man eigentlich sein?

„Ryan, warte.“

Ich holte ihn ein und wir blieben beide stehen.

„Ich lebe auf der Straße, höre täglich hunderte von Lügen, da brauche ich nicht auch noch einen reichen Pinkel, der versucht, mich für dumm zu verkaufen. Also, sag was du sagen willst oder geh.“

Reicher Pinkel? Doch in der nächsten Sekunde war seine Aussage unter seinen wütenden Ausdruck schon wieder vergessen. Doch was sollte ich ihm jetzt sagen… so einfach war das nämlich gar nicht. Er lief wieder los, nachdem ich es nicht geschafft hatte, anzufangen.

„Warte.....“

Er blieb abermals stehen.

„Ich möchte, dass du bei mir einziehst.“

Auf einmal war es raus und Gott, hörte sich das blöd an. Er drehte sich um.

„Warum zum Teufel solltest du das wollen?“

„Ich... ich weiß auch nicht...“, stotterte ich vor mich hin.

„Du kennst mich doch gar nicht.“

„Ich weiß.“

„Ich bin nicht schwul, Chris.“

Ich schluckte fest und gewiss waren meine Augen vor Erstaunen weit geöffnet... woher wusste er es?

„Das... das habe ich auch nicht angenommen.“

„Ich werde es auch niemals sein.“

„Das habe ich auch nicht verlangt.“

Dachte er etwa, dass ich deswegen hier war? Er schaute mich prüfend an.

„Gut, dann lass uns gehen.“

Irritiert stand ich da, während er in Richtung Metro ging.
 

~ * ~
 

„Ryan, ich gehe... denk bitte an den Handwerker.“

„Geht klar.“

Ich hob noch kurz die Hand in seine Richtung und war dann auch schon aus der Wohnung verschwunden. Heute fuhr ich zur Abwechslung mit dem Auto zur Arbeit, es ging aus der Stadt heraus. Ein neuer Auftrag, eine Brücke. Es war so etwas ganz Neues für mich.

Natürlich hatte ich die ein oder andere schon einmal aus Spaß entworfen, aber ein richtiger Auftrag in dieser Größenordnung war selbst für mich etwas ziemlich Aufregendes.

Mein Job war mein Traumberuf, ich zeichnete für mein Leben gerne, auch wenn ich am Anfang nicht gerade damit gerechnet hatte, in einem Architektenbüro zu landen.

In den Wochen, die Ryan jetzt schon bei mir lebte, hatte sich einiges in meinem eigenen Leben verändert. In vielen Bereichen, war das Zusammenleben mit ihm ein reiner Glücksgriff gewesen. Er kochte, räumte auf, erledigte Besorgungen und war immer da. Immer!

Oft wurde ich aus den Leuten meiner Umgebung gefragt, ob ich eine neue Beziehung hätte, oder ob irgendwas in meinem Leben passiert wäre. Ich lächelte dann meistens nur und schwieg. Was hätte ich ihnen auch sagen sollen? Dass ich mir einen Penner von der Straße als Haushaltshilfe und als Einsamkeitsbewältigung hielt? Wenigstens würden die meisten es so auffassen, doch für mich war Ryan ein ziemlich wichtiger Mensch in der letzten Zeit geworden. Wenn ich ehrlich war, wollte ich mir nicht einmal vorstellen, dass der Frühling irgendwann einzog und damit alles wieder vorbei sein könnte.

Viele würden es wahrscheinlich auch gar nicht verstehen können oder falsche Motive hinter meinem Tun ziehen. Natürlich… hatte ich schon mal daran gedacht, wie es wäre, ihn zu küssen, diese tollen Lippen, die er sein eigen nannte, und ja, auch von ihm geträumt hatte ich schon einmal, aber das war doch irgendwie normal, oder? Immerhin war ich schwul und lebte mir einem ziemlich attraktiven Menschen zusammen. Aber mehr war es zu diesem Zeitpunkt nicht.

Stundenlang konnten wir zusammen über irgendwelche Entwürfe und Modellen sitzen, daran herumfeilen, bis die Bleistifte glühten. Ich konnte mit ihm lachen und ich fühlte mich ziemlich wohl in seiner Nähe. Er hörte mir zu, wenn mich irgendwas nervte und versuchte dem Grund dafür auf die Schliche zu kommen. Es war fast wie in einer Beziehung, nur eben ohne Beziehung. Er kannte mich bald in- und auswendig.

Von seinem Leben allerdings wusste ich immer noch so gut wie gar nichts. Ein oder Zweimal hatte ich versucht ihm etwas zu entlocken, aber schnell wimmelte er ab. Er wollte, ganz klar, nicht darüber reden.
 

Die Arbeit vor Ort machte Spaß, aber trotzdem konnte ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Obwohl ich genau wusste, dass er da sein würde und mich erwarten würde, spielte ich immer mit dem Gedanken, dass es vielleicht irgendwann nicht mehr so sein könnte. Dass ihn vielleicht die Freiheit, die Straße wieder zurückfordern würde, sobald sich das Wetter wieder gebessert hatte und ich irgendwann nach Hause kam und er war, einfach nicht mehr da. Nur ein weiterer Zettel, auf dem er sich bei mir bedankte und ein paar lumpige Dollar als Entschädigung.

Es war mir selbst unbegreiflich, wie schnell ich mich an ihn gewöhnt hatte, ihn anfing zu vermissen, wenn mir bewusst wurde, dass er nicht im Zimmer nebenan war, ich nicht mit ihm reden konnte, wenn mir gerade danach war.
 

Abends gingen wir oft ins Kino oder schauten uns einen Film aus der Videothek an. Wir hatten, abgesehen von einer Ausnahme denselben Geschmack was Filme oder Musik anging, auch hier hatte sich also wieder ein Stück gefunden.

Ich dachte, dass es ewig so weitergehen könnte. Zufrieden, jemanden, mit dem man ein wenig weniger alleine war, als es wirklich zu sein.

Liebe und körperliche Zuneigung, war das denn wirklich so wichtig, wenn alles andere stimmte? Oft hatte ich mir diese Frage mit „Ja“ beantwortet, doch gegen die menschliche Schwäche, welche meist ziemlich unerwartet kam, konnte man in den meisten Fällen nicht viel unternehmen…..

Der ausgesuchte Film war diesem Mal ein grauenhafter Reinfall, nichts besonderes, ziemlich ziehend und ich spürte, dass ich nicht alleine mit dieser Meinung war, da sich Ryans Kopf an meine Schulter drückte.

„Ryan?“, flüsterte ich. „Hey, schläfst du?“

Eine blöde Frage, auf die ich natürlich keine Antwort erhielt.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde mir durch viel zu viele Haare verwehrt. Ich hatte ihn noch nie schlafen gesehen, da er immer früher als ich auf den Beinen war. Sein schlafendes Ich, gerne wollte ich mehr davon zu Gesicht bekommen.

Ich rutschte aus diesem Grunde etwas tiefer, verweilte sofort still, als er sich bewegte, rutschte erneut, bis ich ihm seitlich gegenüberlag und ihn endlich anschauen konnte.

Er sah richtig niedlich aus, auch wenn seine tollen Augen nicht zu sehen waren. Mein Blick haftete sich an seine Lippen. Was würde ich dafür geben, sie nur einmal berühren zu dürfen. Sie waren vollkommen, nicht der kleinste Makel. Ob er es merken würde, wenn ich... Keiner würde es wissen und es würde nichts zu bereuen geben, oder? Ich würde auch nur ganz vorsichtig... er würde es bestimmt nicht merken.

Doch so auf seine Lippen fixiert, merkte wiederum ich nicht, wie nah ich ihm schon gekommen war, ebenso wenig wie ich nicht gemerkt hatte, dass seine Augen mittlerweile wieder leicht geöffnet waren.

„Was tust du da?“

Ich fiel vom Sofa, stieß mir den Kopf am Tisch.

„Ahh... scheiße.“

Er setzte sich auf.

„Ich habe gefragt, was du da im Stande warst, zu tun?“

„Ich... ich wollte nur...“

Was sollte ich ihm verdammt noch mal sagen?

Er stand ohne auf Antwort zu warten auf, schaute kurz zu mir hinunter und ging in sein Zimmer.

Toll gemacht, wirklich toll. Ich stand ebenfalls schnell auf meinen Füßen und klopfte an die geschlossene Tür, keine Antwort.

„Ryan! Es tut mir leid... wirklich.“

Ich hatte schon damit gerechnet einen Aufstand vor der Tür hinlegen zu müssen, zu schreien, zu weinen, mich selbst zu verfluchen, aber stattdessen drang nur ein leises: „Tu es nie wieder, ok?“ durch die Tür.

„Ich verspreche es!“

Erleichtert ließ ich mich zu Boden gleiten, und fragte mich, ob ich denn wirklich nichts Besseres zu tun hatte, als alles kaputt zu machen.
 

Am Morgen danach schien alles vergessen.

„Ach übrigens, der Handwerker konnte nichts feststellen. Er meint, die Verstopfung müsste von woanders her kommen.“

Er setzte sich neben mich, eine heiße Tasse Kakao in der Hand. Irgendwas versuchte mich zu überreden, noch mal auf Gesternabend einzugehen. Ich wollte mich noch einmal von Angesicht zu Angesicht für mein Fehlverhalten entschuldigen.

„Ich werde einen Zettel ans Brett hängen, sollen die anderen sich halt drum kümmern“, antwortete ich stattdessen.

Ich zwinkerte ihm zu, er lächelte und sofort verwarf ich mein Vorhaben ganz. Ich hatte einfach zu viel Angst, dass es sich ins Schlechte abwenden könnte.

„Fährst du heute wieder raus oder bleibst du in der Stadt?“, fragte er.

„Wieder raus, wieso?“

„Ich dachte, du könntest mich ein Stück mitnehmen.“

Überrascht schaute ich von meinem Müsli auf.

„Wo willst du denn hin?“

Bis jetzt war er noch nie irgendwo, abgesehen von Einkäufen hingegangen.

„Nichts besonderes, nur eine alte Freundin besuchen.“

„Alte Freundin?“

Er stand auf, spülte seine Tasse aus und stellte sie in den Geschirrspüler.

„Ja, hast du keine alten Freunde?“

„Doch, schon...“

„Ok, ich zieh mich dann mal um.“

„Beeil dich aber, ich will gleich los.“

Alte Freundin also, schon die Bezeichnung ließ mir die Kehle zuschnüren. Warum aber... hatte nicht jeder ein paar „alte Freunde“, das musste doch noch lange nichts heißen, oder? Nur weil er mal jemanden aus der Vergangenheit besuchte, hieß das doch nicht direkt, dass ich ihn verlieren würde, oder?

Verlieren?

Ich besaß ihn doch nicht einmal!
 

Konzentration war an diesem Tag ein eher seltener Begleiter, immer wieder musste ich an Ryan und an das denken, was er vielleicht gerade tat. Packte er vielleicht gerade seine Sachen und verschwand? War seine ganz normale Art nur ein Spiel gewesen, um mich in den Glauben zu lassen, dass alles in Ordnung war, während er versuchte sich eine andere Schlafgelegenheit zu suchen? Überzeugend fand ich meine Überlegungen nicht, trotzdem machten mich die Gedanken innerlich um.

Ich wollte diesen Tag nur noch schnell hinter mich bringen, wollte nach Hause fahren, wollte ihn sehen. Oder war es vielleicht etwas ganz anderes? War es vielleicht… Sex? Wollte er mit jemand schlafen, war er deswegen zu ihr gefahren?

Zum ersten Mal spürte ich wirkliche Eifersucht. Eifersüchtig auf etwas, was ich nicht bekam, aber das er bereit war, jemand anderen zu geben und das ich bis jetzt nicht einmal von ihm gewollt hatte. Nicht mal in Erwägung gezogen hatte. Woher kam dieses Denken auf einmal?
 

Die Zeit bis zum Abend zog sich nur so, und, für mich eigentlich total unüblich, ignorierte ich einige Verkehrsregeln. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, ihn sehen... ich musste ihn sehen!

Aus der Puste stolperte ich zur Tür herein, riss die Tür zum Arbeitszimmer auf... nichts. Im Bad... nichts. Wohnzimmer... nichts.

„Was zum Teufel ist denn in dich gefahren?“

Er trat aus der Küche, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab.

„Ich... seit… seit wann bist du wieder hier“, versuchte ich sprechen und hechelnd Luft holend zugleich.

„Seit wann ich wieder da bin?“

„Ja, verdammt. Seit wann bist du wieder zu Hause?“, schrie ich ihn an... unbewusst, ich wollte es eigentlich gar nicht tun.

„Ganz ruhig, Chris. Ich weiß zwar nicht was in dich gefahren ist, aber komm erst mal wieder runter.“

Er ging zurück in die Küche und ließ mich im Flur stehen.

Was war bloß los mit mir? Was hatte ich versucht in seinem Blick zu sehen? Was wollte ich nicht sehen? Nein, das konnte nicht wahr sein… das konnte es nicht sein, ich war nicht bereit mir diese Möglichkeit tatsächlich auch nur für kurz vor Augen zu führen. Das dürfte einfach nicht passieren.
 

An diesem Abend ging ich Ryan aus dem Weg und verkroch mich in meinem Schlafzimmer. Ich konnte selbst nicht verstehen, wie ich so blöd und unkontrolliert handeln konnte... ich verstand meine Eifersucht nicht, auch wenn mir mein Gehirn eine logische Erklärung dafür bieten wollte, die ich aber noch nicht bereit war, mir einzugestehen.

„Chris?“ Es klopfte. „Darf ich reinkommen?“

Ich antwortete nicht, stellte mich schlafen.

„Ich komm rein, ok?“

Die Tür öffnete sich und ich versuchte mein Gesicht so gut es ging zu bedecken, damit er es nicht sah. Er ging neben dem Bett in die Hocke.

„Chris? Essen ist fertig.“

„Ich habe keinen Hunger“, antwortete ich, mit dem Wissen, dass er eh nicht aufgeben würde.

„Ist heute was passiert, gab's Probleme auf der Arbeit?“

„Nein.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein.“

„Möchtest du darüber reden?“

„Nein.“

„Willst du... dass ich dich mal in den Arm nehme?“

„Nei... würdest du das tun?“

„Klar, wenn es dir dann besser geht... und es nicht zur Gewohnheit wird.“

Ein kleines Lachen. Und ehe ich wirklich über diese Möglichkeit der Zuneigung nachdenken konnte, abwiegen, ob dies wirklich gut für mich war, spürte ich schon sein Gewicht auf der Matratze und als nächstes, ihn ganz nah bei mir.

Er zog mich ein Stückchen hoch, nahm mich in den Arm und ich hielt mich in seiner Umarmung fest, weiter war ich nicht bereit zu gehen. Ich durfte nicht weiter gehen.

Die Gerüche, die von meinen Badutensilien stammten, vermischt mit seinem eigenen Geruch, noch nie hatten sie so gut gerochen, noch nie konnte ich dem so nahe sein. Die Wärme, die von seinem Körper ausging, die leichten Berührungen seiner Finger. All das und die Einsicht, dass ich genau das haben wollte, zerrissen mich ohne Vorwarnung.

Ich würde all das... niemals haben können.
 

~ * ~
 

Manchmal fragte ich mich, ob er es spürte... ahnte... wusste? Konnte man wirklich mit jemand zusammenleben und nichts von den Gefühlen des anderen erkennen? War es so leicht, blind zu sein?

Die Gefühle in mir, hatten sich immer tiefer in mich gegraben und irgendwann, nach andauernd neuen Versuchen, sie wieder in den Untergrund zu verschieben, fand ich mich mit der einfachen Tatsache ab, dass ich ihn liebte.

Ich hatte geschafft es über Wochen hinweg zu verbergen, mich selbst zu verleugnen... aber tat ich das auch gut genug? Und was wäre, wenn er es wüsste? Was würde mit uns geschehen?
 

Für Freitag hatte sich Ally mit einigen Freunden angemeldet. Sie war geschockt und enttäuscht, dass ich ihr meine momentane Wohnkonstellation gute vier Monate verschwiegen hatte. Aber wie bitte schön erklärte man einer verwöhnten Primadonna, dass man einen Penner von der Straße aufgelesen hatte und ihn darüber hinaus auch noch liebte?

Im Punkto verwöhnt, machte ich ihr ja keinen Vorwurf, immerhin waren es unsere Eltern, die sie so verzogen hatten. Schöne Klamotten, Empfänge, Opernbesuche und der ganze Schnick-Schnack. Für mich war das nie wirklich was, ich wollte raus, mich mit Freunden raufen, Fußballspielen und auf Bäumen klettern.

Als ich meinen Eltern mit 17 von meinem Schwulsein erzählte, erstaunte mich mein Dad und enttäuschte mich meine Mom. Ich wollte ihre Unterstützung, ihr Geld nicht mehr haben... und hielt mich mit zwei Jobs neben dem College über Wasser. Ich hauste in einem Drecksloch und ernährte mich vorzüglich von irgendeinem Billigfraß. Aber ich stand zu dem, was ich tat... und was ich war.

Nach zwei Jahren schmiss ich das College und lernte durch meine Grandma den Leiter eines Architektenbüros kennen. Er fand meine Arbeiten klasse und nahm sich mir sofort an, auch ohne einen Abschluss.

Monate später starb meine Grandma. Ich erbte ihr ganzes Vermögen, was nicht gerade kleinlich war. Meine Eltern, sowie meine Schwester bekamen nichts, da sie sich außer an den Feiertagen nie hatten blicken lassen. Es störte sie auch nicht wirklich, Geld gab es in unserer Familie mehr als genug.

Und heute sollte es soweit sein, bettelarm traf verwöhnte Snobs. Ich dachte, ich hatte irgendwie meine Gründe gehabt, es so lange zu verheimlichen.
 

Schon am Donnerstagabend kümmerte ich mich um einige Vorspeisen für das Essen. Ich kochte mit Leidenschaft.

Ryan schaute mir zu, schälte unter Anleitung das ein oder andere Gemüse in die richtige Form und fragte mich einige Male, wofür ich so einen Aufwand fabrizierte, man könne doch genauso gut in einem Feinkostladen was bestellen.

„Das wäre aber nicht dasselbe, außerdem mache ich es gerne“, antwortete ich ihm und wirbelte weiter durch die Küche.

Morgen hätte ich neben der Arbeit nicht mehr genügend Zeit, um alles zu schaffen, da musste ich heute wohl oder übel schon einiges vorbereiten.

Mit einer Vielzahl von Gedanken ging ich ins Bett und stieg am Morgen mit noch einer weitaus größeren Anzahl wieder hinaus. Ich hoffte inständig, dass der Abend nicht in einer vollkommenen Katastrophe enden würde.
 

Mit einigen Instruktionen an Ryan gerichtet, verließ ich am Morgen das Haus.

Die Arbeit war überraschend schnell vorbeigegangen und nach Feierabend besorgte ich noch einige Zutaten für das Dessert.

Zu Hause angekommen, stellte ich die Tüten in der Küche ab und ging unter hektischen Schritten auf mein Arbeitszimmer, welches mit der Zeit aber mehr und mehr zu Ryans Zimmer mutierte zu. Die Türklinke hinunterdrückend und mir gleichzeitig die Schuhe von den Füßen streifend, öffnete ich die Tür.

Ich wusste nicht genau, was mich zuerst störte... das in die Höhe gestreckte Frauenbein, die weichen Brüste, das lange blonde Haar oder einfach die Bewegungen, das Stöhnen, das Zusammen an sich.....

Ich weiß auch nicht wie ich es überhaupt fertig gebracht hatte, mich zu bewegen, meinem Schuh dabei zuzuschauen, wie er durch den Raum flog, genau auf Ryans Körper traf.

Entdeckt, geschockt, entblößt... ich verließ den Raum.

Das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Ich bereitete ein Essen für meine Freunde vor und dieser Arsch vergnügte sich mit einer blonden Schlampe in meiner Wohnung.

Ich eilte zurück in die Küche, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Wie lange ging das schon so… war ich die ganzer Zeit der Blinde gewesen?

„Chris!“

Er tauchte hinter mir auf, halbnackt und ich versuchte in die Küche zu flüchten, aber er versperrte mir den Weg. Ich drehte mich um, lief schnellen Schrittes ins Wohnzimmer, ich wollte ihn nicht sehen.

„CHRIS!“

Er packte mich beim Arm, drehte mich um.

„Was verdammt ist los mit dir?“

Das schlug dem Fass den Boden aus.

„Was mit mir los ist?“, schrie ich ihn an. „Mit mir? Ich bin nicht derjenige, der mit diesem blonden Gift ins Bett hüf-“

„Na und? Seit wann ist es mir verboten, Sex zu haben wann und wie ich will? Habe ich irgendwas verpasst?“, unterbrach er mich.

„Da merkt man mal wieder, wo ich dich gefunden habe, keinen Anstand der Herr, wenigstens ein wenig könnte man ja verlangen, wenn man bedenkt, was ich alles für dich getan habe. Aber nein, stattdessen besudelst du mein Bett mit... mit... na du weißt schon was ich meine...“

Meine kleine Attacke wurde von dem Zuschlagen der Wohnungstür unterbrochen und plötzlich war es still um uns herum. Er schaute mich an.

„Ich kann nichts dafür, dass du niemanden hast, der dich liebt.“

Erst wollte ich trotzig auf diese Aussage reagieren, aber ich bekam kein Wort heraus, stattdessen spürte ich Nässe auf meinen Wangen und versuchte erst gar nicht, sie zu verbergen. Auch wenn ich es nicht sofort gemerkt hatte, aber seine Aussage hatte... nicht genau... es hatte einfach Klick gemacht... so als wäre alles vorbei… vorbei, was niemals angefangen hatte.

„Nicht, das wollte ich nicht.“

Er schaute besorgt.

Es nützte nichts, es folgten immer mehr Tränen, immer mehr Trauer stieg in mir auf. Ich konnte ihn kaum noch sehen, aber ich spürte ihn. Seine Hände, die sich auf meine Augen legten, ein komisches Gefühl. Er wollte es nicht sehen, aber genau dieser Schutz, den er mir gab, ließ mich noch mehr aus mir herausgehen, ließ mich noch mehr meiner Trauer offenlegen.

„Psst... bitte nicht. Ich hab's nicht so gemeint, ehrlich nicht. Es tut mir leid.“

Ich konnte ihm nicht antworten, auch wenn ich wollte...

Seine Finger verkrampften sich leicht auf meiner Haut, fuhren über die nassen Stellen hinweg und dann... spürte ich das, wonach ich mich all die Zeit gesehnt hatte.
 

Part 01 – Ende

Ich kann es nicht verstehen!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai / Yaoi

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 02
 

Was war da nur bei ihm passiert. Was verdammt, hatte ihn denn bitteschön dazu gebracht so zu handeln und weshalb hatte er danach so reagiert? Warum dieser unverstandene, abwertende Blick, nachdem ich seinen Kuss versucht hatte, zu erwidern? Immerhin war er es do-

„Chris?“

Warum hatte er überh-

„CHRIS?“

„WAS DENN?“, zischte ich zurück.

„Gott, was hat dich denn heute wieder gebissen?“

Sie schaute mich durchdringend an, stützte sich auf der Spülmaschine ab. Natürlich war es nicht ihre Schuld, dass ich gerade so gar nicht bei der Sache war. Sie war nicht der Grund warum sich Fragen in meinen Kopf bohrten, aber sie war es, die meine Gedankengänge nervig unterbrach.

„Also, wo ist denn nun dieser Ryan?“, fragte Ally zum bestimmt vierten Mal an diesem Abend.

„Das wüsste ich auch gerne“, sprach ich mehr zu mir selbst. „… und nenn ihn nicht so.““

„Bitte?“

„Du sprichst von ihm, als wäre er eine nervende Bazille. Etwas, dass deine Gesellschaft nicht wert ist.“

Ich warf einen prüfenden Blick auf den Hauptgang des heutigen Essen, und zog ihn anschließend vorsichtig aus dem Backofen heraus. Immer noch war ihr Blick auf mich gerichtet. Innerlich hoffte ich, sie würde sich einfach in Luft auflösen, diese ganzen Menschen in meinem Wohnzimmer würde sich einfach in Luft auflösen. Ich hörte sie reden, lachen und miteinander herumalbern. Ich ertrug es gerade so gar nicht.

„Ich habe keine Ahnung was du meinst“, zuckte sie mit den Schultern und verließ den Raum.
 

Abwertend wurde an diesem Abend noch viel gesprochen. Es wurde über alte Bekannte und ihre neuen Beziehungen gelästert, Eltern und Chefs wurden gnadenlos in den Boden gestampft, und passend zur Situation wurden eine menge Pennerwitze gerissen... oder war mir die hohe Anzahl deren vorher nur nie aufgefallen?

Einige Male wurde nach Ryans Abwesenheit gefragt, immerhin wäre er doch einer der Gründe ihres heutigen Daseins.

„Er hat noch was zu erledigen“, war meine Standartausrede. Was hätte ich auch anderes sagen sollen, ich wusste ja auch nicht wo er war und ob er überhaupt noch vorhatte heute hier auszutauchen.

Das Essen selbst war natürlich ein voller Erfolg... obwohl ich hätte schwören können, beim Hauptgang irgendwas falsch gemacht zu haben. Drei Gänge für sechs Personen brauchten natürlich viel Aufmerksamkeit und beim Abräumen der letzten Teller gab ich die Hoffnung auf, Ryan in den nächsten Stunden zu Gesicht zu bekommen. Oder besser gesagt, ich hoffte, dass es nur die nächsten Stunden sein würden. Was wenn Tage, Wochen oder wenn ich ihn gar nicht mehr wieder... nein. Immerhin waren ja noch all seine Sachen da, ohne die könnte er doch nicht, oder?

Doch er könnte sie holen, wenn ich auf der Arbeit war…

„Was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

„Das frage ich dich.“

Ich ließ seicht Wasser über die Teller laufen, stellte sie in die Spülmaschine, während David die Küche durchschritt. Nachfolgend spürte ich seinen Blick auf mir.

„Also?“

„Nerv nicht.“

„Na komm schon, sag's dem alten Dav.“

Ich schmunzelte leicht. Mit seinen 26 Jahren war er nicht gerade ein älteres Vorbild für mich, obwohl ich ihn damals schon sehr bewundert hatte, regelrecht fixiert auf ihn war.

„Es gibt nichts zu erzählen“, log ich.

„Du meinst, du willst nicht?“

„Kommt das nicht aufs selbe raus?“

Ein Schulterzucken, ein weiterer besorgter Blick. Die Küchentür wurde aufgerissen.

„Seid ihr bald soweit? It’s Playtime.“

„Wir kommen gleich“, antwortete David, und Simon verschwand.

Noch ein oder zwei Minuten schaute er mir bei meiner Tätigkeit zu, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich mich ihm doch noch öffnen würde, danach verließ auch er wortlos die Küche.
 

Wir spielten irgendeines dieser neumodischen Frage- und Antwortspiele, keine Ahnung wie es hieß. Ein klein bisschen schaffte es sogar, mich von meinen Gedanken abzulenken.

„Hey Chris... nächste Frage.“

„Bin ganz Ohr.“

„Also gut... waaahh, das weißt du garantiert: Wie hoch ist der KTHI-Fernsehmast in Fargo?“

Sofort flogen einige Kissen, begleitet von lauten Protesten über den Tisch.

„Spinnst du, so was kannst du einen Architekten doch nicht fragen!“

„629 Meter“, war meine korrekte Antwort darauf.

„Richtig, nächste Frage: Nenne die drei theologischen Tugenden.“

„Bitte was?“

„Kannst das noch mal wiederholen?“

„Nenne die drei theologischen Tugenden.“

Ich gab mir nicht wirklich Mühe, nach der Lösung in meinem Kopf zu forschen, sondern schaute einfach nur ein wenig überlegend drein und hoffte, dass ich nach ein paar weiteren Sekunden, diese Frage als ungelöst abgeben konnte.

„Keiner?“

Allgemeines Kopfschütteln, und ehrlich gesagt interessierte mich die Antwort auch nicht wirklich.

„Glaube, Hoffnung und Liebe“, erklang es plötzlich von der Tür her, woraufhin sich Simon an seinem Bier verschluckte und wild zu husten begann. Unter diesen Umständen wäre es mir wahrscheinlich gar nicht einmal aufgefallen, doch er blockierte störender Weise mein Blickfeld.

Ich stand auf, damit ich ihn sehen konnte.

Ich weiß nicht, wie lange ich ihn einfach nur anstarrte, dort stehend im Türrahmen, sich nicht sicher war, wie er sich jetzt verhalten sollte. Ich war so froh, dass er wieder da war, dass ich alles andere um mich herum vergaß.

„Dann musst du wohl Ryan sein, nicht wahr?“, stellte sich Sarah ihm selbst vor, da ich anscheinend nicht dazu in der Lage war.

Nacheinander wurde mir von jedem hier Anwesenden der Blick auf Ryan verwehrt, und schließlich wurde er von Matthew auf die Couch gedrückt. Fast schon apathisch schloss ich mich ihm an.

Ich saß ihm gegenüber und während alle wie blöde auf ihn einredeten, versuchte ich mich innerlich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er war hier, das war doch schon mal ein gutes Zeichen, oder? Na ja, wenigstens war es nicht schlecht... aber vielleicht war er auch nur gekommen, um seine Sachen zu holen und da er von dem Besuch wusste, konnte er sich sicher sein, dass er sich nicht auf eine Konversation mit mir einlassen musste.

„...habe schon gegessen.“

„Wo denn, in dem Obdachlosenheim in der 33zigsten?“, steuerte Simon wieder einmal eine seiner provokativen Aussagen bei.

„Simon!“, ermahnte ihn Sarah, musste aber doch über dessen Aussage kichern.

„Du siehst gar nicht aus wie ein Penner“, legte Simon noch eins drauf.

Sarah kicherte abermals.

„Was erwartest du denn, immerhin wohnt er doch bei unserem kleinen Perfektionisten. Er wird ihn schon gehegt und gepflegt haben“, schloss sich Ally mit einem verzogenen Grinsen an.

„Hört auf mit dem Scheiß“, mischte sich nun David ein und reichte Ryan ein Glas Wein.

Dieser lehnte die kleine, freundliche Geste mit einer Handbewegung allerdings ab. David lächelte, und stellte das unerwünschte Glas auf den Tisch.

Was ist? Wäre es denn so schlimm gewesen, es trotzdem anzunehmen, auch wenn er gar keinen Durst hätte, einfach als ein freundliches Entgegenkommen?

Die ganze Zeit über hatte Ryan kaum ein Wort gesprochen, schaute eigentlich nur zu mir herüber. Erwartete er irgendetwas von mir oder gerade nicht? War er alleine im Stande, sich zu verteidigen, oder wollte er nur sehen, wann es mir reichte und ich für unsere Freundschaft einstehen würde?

„Und an der Theorie, dass man das Zeitgefühl verliert, wenn man auf der Straße lebt, ist wohl auch was dran-“

„Vielleicht hat er nur keine Uhr“, unterbrach ihn Matthew, wissend, worauf Simon hinaus wollte.

Wie auf Kommando schauten alle, einschließlich mir, auf Ryans Handgelenk.

„Du hat gewonnen, Matt.“

Ich suchte wieder Ryans Blick, den er mir aber nun verwehrte, da sich seine Augen schlossen. Er atmete tief aber ruhig einige Mal ein und aus.

„Oh Gott, jetzt fängt er an zu meditieren“, durchzog ein weiterer Kommentar den Raum, worauf ein schallendes Gelächter begann. Doch als Ryan sich von der Couch erhob, verklang es schnell. Ich rechnete in diesem Moment mit allem, doch er schaute mich nur wieder an.

„Ich weiß nicht, wie du unter soviel Dummheit überleben konntest, Chris.“

Und nicht nur ich schien für diesen Moment mehr als baff, es herrschte allgemeine Stille, die Ryan ausnutzte.

„Warte...“

Ich sprang auf, griff nach seinem Arm. Ich war bereit alles zu tun, nur damit er blieb. Ich wollte meine so genannten Freunde mitsamt meiner Schwester vor die Tür werfen, da sie sich wie die größten Volltrottel in diesem ungerechten Spiel benommen hatten. Ich wollte ihnen sagen, dass sie sich hier nicht mehr blicken lassen müssten, solange sich ihre Entstellung nicht geändert hätte. Ich wollte dies alles tun, doch ich kam zu nichts...

Ryan schlug meinen Arm weg und dann eskalierte es.

Ich weiß nicht genau, was David in Ryans Geste sah, aber mir war klar, dass er mir niemals absichtlich hätte wehtun wollen.

„Wir wollen doch alle ganz ruhig bleiben“, unterstützte David den festen Griff, mit dem er Ryans Arm festhielt.

„Lass mich los verdammt“, zischte dieser ihn an.

„Wenn du dich beruhigt hast, gerne“, konterte er.

„Ich sagte...“ Ein kleines Handgemenge entstand, wobei David auf jeden Fall im Vorteil war. „...lass mich los!“

Was war passiert? Ich wollte doch einfach nur ein schönes Abendessen, einen gemütlichen Abend mit meinen Freunden und mit dem Menschen, den ich liebte. Sie sollten sich nicht gegenseitig fertig machen oder verprügeln. Hatte ich wirklich zu viel von ihnen erwartet? War es wirklich so schwer, sich einen Abend lang vernünftig zu verhalten?

„LOSLASSEN! LASS IHN LOS!“, schrie ich auf.

Sofort ließ David von ihm ab und alle schauten mich entgeistert an, so als wäre ich verrückt, durchgedreht. Und das Schlimmste, genau so fühlte ich mich im Moment. Was war denn falsch an meinem Vorhaben gewesen? Warum konnten sie sich denn nicht einfach alle verstehen?

Ohne ein Wort, ohne einen weiteren Blick verließ Ryan das Zimmer. Zu spät entschloss ich mich, ihm hinterher zulaufen... zu ungeschickt, versperrte mir ein Tischbein den Weg, ich fiel.

Ich glaubte nicht an Schicksal, ich glaubte nicht an irgendwelche Zeichen, aber sollte es dennoch so sein? Sollte es einfach nicht sein?

„Komm schon hoch, Mann.“

David half mir auf, doch auf halben Weg drückte ich seine Hand weg.

„Lass mich.“

Ich glitt wieder zu Boden.

Hinter mir ging das Gerede wieder los: Wie verrückt die Situation war, was diesem Typen nur einfiel, so mit ihnen zu reden. Dass es für den weiteren Verlauf dieses Abends nur positiv wäre, dass er jetzt gegangen war.

„Raus!“

„Hast du was gesagt?“

„Ich sagte raus“, kam es leise über meine Lippen.

„Ist das dein Ernst?“, fragte mich Ally, die plötzlich neben mir aufgetaucht war, als ich mich aufraffte.

„Raus!“, wiederholte ich.

„Kommt Leute, hier hat wohl jemand jetzt ganz den Verstand verloren.“

„Geht... geht verdammt noch mal endlich hier raus!“

Ich versuchte alles, um meine Stimme nicht zu erheben… fühlte mich als wäre mir alle Kraft genommen. Nicht einen weiteren Ton von ihnen hätte ich mehr ertragen.

In sekundenschnelle waren alle an der Tür, fast alle.

„Ich bleibe.“

„Ich will alleine sein“, gab ich trotzig zurück.

„Nein, das denke ich nicht.“

Die Tür schloss sich, David und ich waren alleine. Mit dem Schließen der Tür, kamen die Tränen, sie tropften einfach so, eine nach der anderen auf den Boden.

„Diese Sache... er.. es ist dir wirklich ernst?“

Ich nickte leicht, wenigstens glaubte ich, dass ich eine Reaktion auf seine Frage zeigte.

„Du machst Sachen.“

Er drehte mich zu sich um und nahm mich in den Arm. Und gerade weil es ein gutes Gefühl war, sich beschützt, geborgen zu fühlen, ließ ich noch mehr Trauer den Weg hinaus finden.
 

Spät, sehr spät ging ich ins Bett, natürlich alleine.

David schlief auf der Couch. Er war so hetero, wie ich schwul. Er zählte sozusagen zur Familie, seit er vor gut acht Jahren mit meiner Schwester zusammen kam. Ich war damals 15 und entdeckte gerade meine etwas andere Sexualität.

David war einer der ersten, die es erfuhren, und er war oft für mich da wenn ich Probleme hatte. Als er und meine Schwester sich nach zwei Jahren Beziehung im Streit trennten, brach eine Welt für mich zusammen, da er einer meiner wichtigsten Ansprechpartner geworden war. Ich reagierte ein wenig zu schockiert darauf, und aus Wut offenbarte ich meiner Familie kurzerhand meine Homosexualität, die natürlich erst einmal alles andere als erfreut waren.

Einige Tage später suchte David von selbst den Kontakt zu mir, da auch ich ihm eine Menge zu bedeuten schien, auf rein platonischer Art natürlich.

Wir unternahmen einiges zusammen und für wenige Wochen teilten wir uns sogar seine Wohnung, als ich es mit meiner Mom wegen Streitigkeiten über mein Sexualleben nicht mehr aushielt. Er war wie ein großer Bruder für mich.

Später vertrugen auch er und Ally sich wieder, aber zusammen kamen sie nicht noch einmal. Heute sind sie gute Freunde, was bei Davids super Charakter auch nicht wirklich schwer fällt.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen durchzog ein angenehmer Duft den Weg zur Küche. Im ersten Moment natürlich die Hoffnung hegend, das Ryan wie jeden Morgen in der Küche aufzufinden war, wusste ich genau, dass es diesmal nicht der Fall sein würde.

„Ich wusste nicht mehr, was du magst, da habe ich einfach alles aufgedeckt.“

Der Tisch quellte schon beinahe über von sämtlichen Dingen, die man nur zum Frühstück essen konnte.

„Danke“, entgegnete ich schwach.

„Komm, setz dich.“ Ich wurde auf einen Stuhl gedrückt. „Möchtest du Kaffee?“

Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Nein.. nein, danke.“

Er setzte sich ebenfalls an den Tisch, beobachtete mich intensiv, so dass ich mir einen Bagel nahm, nur aus dem Zwang heraus, irgendetwas machen zu müssen.

„Geht’s wieder?“

Er klang besorgt.

„Ich denke.“

„Du warst gestern ganz schön fertig.“

„Kann sein.“

„Nix kann sein, so habe ich dich noch nie erlebt.“

Ich erwiderte nichts darauf, sondern riss ein Stück Bagel ab und fing an, lustlos darauf herumzukauen.

„Ist er diesen ganzen Stress denn wirklich wert?“

„Ja“, kam es prompt. Ich wusste zwar nicht genau, was er meinte: Streit mit meinen Freunden, ein Bruch mit der Familie... vielleicht gedemütigt zu werden… traurig zu sein... verletzbar... aber egal was es war, ich würde jede dieser Fragen mit „Ja“ beantworten.

„Weiß er es?“

Ich riss ein weiteres Stück des pappigen Gebäcks ab, steckte es aber nicht in den Mund, sondern ließ es von einer Hand in die andere wandern.

„Also nicht“, deutete er mein Schweigen.

Ich ließ den Bagel auf den Teller gleiten.

„Du solltest es ihm sagen.“

„Das kann ich nicht.“

„Wieso?“

„Er hat von Anfang an die Fronten geklärt. Er ist nicht schwul, David.“

„Du kennst doch meine Meinung dazu: Niemand kommt schwul auf die Welt! Weder denke ich, dass es eine Sache der Gene ist, für welche Sexualität man sich entscheidet, noch dass dein Leben von Anfang an vorprogrammiert sein soll. Nur weil man sein Leben lang mit Frauen gevögelt hat, heißt das noch lange nicht, dass man sich nicht irgendwann in einen Mann verlieben kann. Rede dir das ja nicht ein.“

„Und wenn ich damit alles kaputt mache?“

„Was denn kaputt machen? Kann es denn noch schlimmer kommen?“

Natürlich, er könnte mich verlassen, einfach weggehen. Aber sah es im Moment nicht sowieso danach aus... Das alles bald ein Ende finden würde?
 

Einen Kaffee später verabschiedete sich David. Seine Umarmung mit der verbundenen Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde, tat gut und gab mir für den Moment einen Riesen Powerschub.

Noch schlimmer aber war, dass sie von der Person, welche plötzlich im Türrahmen auftauchte, wahrscheinlich mehr als falsch interpretiert wurde.

Wo ich allerdings den Mut dazu hernahm, Ryan dieses Mal sofort hinterherzulaufen, ihn festzuhalten und in die Wohnung zu ziehen, wusste ich nicht so genau.

„Wegen gestern, es tut mir leid“, entschuldigte sich David bei Ryan, als er merkte, dass ich noch nicht in der Lage war zu sprechen, den Mann neben mir, einfach nur am Ärmel festzuhalten.

„Kannst dir deinen Schmus sonst wo hinstrecken.“

„Gott, was für ein Temperament“, grinste David, ließ seinen Arm um Ryans Schultern greifen und nahm ihn auf freundlichste Art in den Schwitzkasten, meine Hand rutschte hinweg.

„Hör mir mal kurz zu...“ Er drückte Ryan feste an sich. „...du wirst jetzt mal schön brav sein und hier ne Runde mit meinem Freund quatschen, ist das klar? Wenn nicht, komm ich nämlich noch mal wieder.“

Er grinste und kniff Ryan, wie eine Großmutter ihren Enkel in die Wange, woraufhin sich Ryan befreien konnte.

„Und du... ruf an, wenn was sein sollte, ok?“

Ich nickte, woraufhin David die Wohnungstür hinter sich schloss.

Und da standen wir nun, blöde dreinschauend. Es dauerte nicht lange, bis ich mich fing.

„Mir... mir tut es leid... das wegen gestern, diese Idio-“

„Nein, vergiss sie. Mir muss es leid tun. Ich habe mich wie ein Kleinkind benommen. Ich hätte nicht... dich nicht-“

Seine Stimme versagte und seine Wangen empfingen eine rötliche Färbung.

„Du redest von dem Kuss?“

„Ja verdammt, keine Ahnung, was über mich gekommen ist. Du hast geweint und ich war schuld daran, ich wusste nicht, was ich tun sollte, verdammte Scheiße... und da...“

„Da küsst du mich einfach?“

„Ja....“

„Und dann war ich so blöde dich zurückzuküssen und da hast du erst wirklich realisiert, was du da tust, und das du es gar nicht wolltest, dass dich das alles anekelt, und dann hast du mich weggestoßen, mich angeschaut, als wäre ich das Abartigste, was du je zu Gesicht bekommen hast, und bist einfach aus der Wohnung gerannt, einfach so?“

„Ja... nein... ich-“

„Ja! Nein! Was?“, unterbrach ich ihn barsch.

Komischerweise steigerte ich mich plötzlich wie wild rein, diesbezüglich sah ich mich irgendwie als Opfer. Wie konnte man nur so blöd sein und jemandes Kuss einfach so erwidern?

„Ich...“

„Ich, was? Was, verdammt noch mal? Erklär es mir!“, hob sich meine Stimme unkontrolliert weiter an.

„Angst verdammt, ich hatte Angst!“, konterte er in demselben lauten Ton wie ich.

Angst? Er hatte Angst? Vor was denn, vor mir? Vor dem Kuss?

„Angst?“, fragte ich nach.

„Ja, denn... es war nicht so, dass… dass es mit nicht gefallen hätte.“

Was? Hatte ich das jetzt richtig verstanden?

„Sag das noch mal.“

„Das kann ich nicht“, sprach er so leise, dass seine Stimme kaum zu hören war. Und auf einmal war da eine ganz neue Furcht in mir, nicht mehr die Panik, ihm meine Gefühle nicht sagen zu können, sondern die Angst, dass er sich gerade über mich lustig machte. Verarschte er mich jetzt etwa?

„Ryan, schau mich an.“ Ich drehte seinen Kopf in meine Richtung. „Du hast wirklich das gesagt, was ich glaube? Dir... hat der Kuss gefallen?“

Stille ummantelte uns.

„Ryan?“

Ein Nicken, was die Röte in seinem Gesicht noch verstärkte.

„Ich weiß auch nicht, wie das kommen konnte... und dann… ich weiß einfach nicht, was los war. Ich versteh einfach nicht, was ich gerade fühle soll.“

Die Angst, sich selbst nicht verstehen zu können, machte ihn anscheinend fertig. Nur zu gut konnte ich dieses Gefühl nachvollziehen. Ich hatte es schließlich selber schon einmal erlebt. Kurz dachte ich sogar, er würde anfangen zu weinen, aber dies war dann doch nicht der Fall.

„Was soll ich jetzt tun?“

Seine Frage war nicht wirklich eine Frage. In seinem Gesicht lag ein verzweifelter Ausdruck, als wünschte er sich ein Heilmittel von mir.

„Ich weiß es nicht.“

Was sollte ich ihm auch raten?

Und während in meinem Kopf Tonnen von verrückten Gedanken mein Gehirn durchstreiften, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mit keinem Wort von meinen Gefühlen zu ihm gesprochen hatte.

Ryan wusste immer noch nicht wie ich für ihn empfand... war es ratsam, es ihm jetzt zu erzählen?

„Ich würde es gerne noch einmal tun“, holte er mich auf meinem Gedankengang zurück.

„Was?“

„Dich küssen?“

Die Luft zum Atmen blieb mir im Hals stecken.

„Bitte?“

War das denn jetzt zu fassen? Ich wollte ihm meine Liebe gestehen und hoffte inständig, dass sich solch eine Situation jemals ergeben würde, und er bat mich regelrecht, ihn zu küssen?

„Ich weiß wirklich nicht...“, versuchte ich meine Gedanken auf ein neues Level zu ordnen.

„Nur ein Kuss... der tut doch nicht weh, oder?“, gab er mir zynisch preis.

Was versuchte er hier bitteschön zu tun oder zu beweisen? Oder versuchte er sich nur über die Frage bewusst zu werden, ob er vielleicht doch schwul sein könnte?

„Nein, das tut es nicht“, gab ich verdattert zur Antwort.

Ich schaute ihn fest an und fragte mich, ob er mit diesem weichen, bettelnden Blick auch seine weiblichen Begleitungen ins Bett kriegte? Und warum verdammt sträubte ich mich denn plötzlich so sehr? War das nicht genau das, was ich die ganze Zeit wollte, ihn küssen? Störte mich so sehr der Gedanke, dass er mich nur als Versuchsobjekt ausnutzen wollte, oder war da noch etwas anderes, was ich gerade nur nicht im Stande war, zu begreifen? Warum war es ihm auf einmal so wichtig?

„Einverstanden“, willigte ich plötzlich ein, gar nicht bewusst darüber, meinem Gehirn die Erlaubnis dafür erteilt zu haben.

Er kam ohne weiteres auf mich zu, und ich bekam Angst, ja Angst. Hatte er denn überhaupt keine? Ich hatte Angst, ihn zu berühren, Angst davor, er würde zerbrechen, wenn ich ihn irgendwo anfassen würde... in vielen kleinen Scherben, hier in meinem Flur. Er war immer so perfekt für mich gewesen, was wenn sich das alles in Nichts auflösen würde?

„Nicht hier“, stoppte ich ihn.

Ich drehte mich um, ging in mein Schlafzimmer und er folgte mir. Ich spürte ein beklemmtes, ungewohntes Gefühl im Rücken. Vielleicht ging ich diesen langen Weg aber auch nur, um ihn noch einmal die Möglichkeit zu geben, sich wieder darüber klar zu werden, dass er dies doch eigentlich gar nicht wollte. Meine Hände wurden schwitzig und ich fühlte ein beunruhigendes Gefühl in der Bauchgegend. Ob er sich wirklich darüber bewusst war, worauf er sich da einließ?

„Und du bist sicher, dass du das willst?“

„Ja.“

Wir blieben vor dem Bett stehen und ich zögerte nicht lange und drückte ihn vorsichtig in die Kissen hinunter. Ich erkannte in seinen Blick ein wenig Unsicherheit darüber, dass ich ihn wohl auf diese Art festnageln wollte.

„Keine Angst“, streichelte ich leicht über sein Gesicht und legte mich neben ihn, um ihm mehr das Gefühl von Sicherheit zu geben. Strich über die Nasenspitze, sacht über seine Lippen hinweg. Er schloss instinktiv die Augen.

„Wie fühlt sich das an?“

„Schön, denke ich.“

Ich lächelte verlegen.

„Versuch nicht zu denken wie es sich anfühlt... versuch es einfach nur zu fühlen. Lass es einfach zu, es zu fühlen.“ Ich hörte mich an wie einer dieser Ratgeber im Fernsehen.

Ich streichelte weiter über sämtliche Partien seines Gesichtes und eroberte mir auch ein wenig von Hals und Nacken hinzu. Seine Augen blieben geschlossen, vielleicht stellte er sich jemand anderen vor, der ihn berührte?

„Wie fühlt es sich nun an?“

Er sollte meine Stimme hören, um sich bewusst zu sein, dass ich es war, der ihn berührte.

„Ebenfalls Schön.“

„Und das?“

Seinen Nacken hinauf, vergrub ich meine Finger in seinen Haaren.

„Das ist auch schön.“

Komischerweise, war ich so auf ihn fixiert, dass ich nur immer für kleine Augenblicke daran denken konnte, wie ich mich bei dem Ganzen eigentlich fühlte.

Ich zog ihn näher an mich heran, und während ich ihn die ganze Zeit über beobachtete, traute er sich dies wohl nicht zu.

Ich küsste ihn. Besser gesagt, ich legte meine Lippen auf die Seinen. Für ein paar Sekunden, war mir das erst mal genug, bis ich langsam anfing mich zu bewegen, meine Zunge ins Spiel brachte, den Kuss mit Streicheleinheiten in seinem Nacken und Schulterbereich ergänzte.

Ich hatte schon so oft geküsst, aber niemals zuvor war ich so zaghaft, so einfühlsam vorgegangen, und noch nie hatte es so lange gedauert, bis ein Kuss erwidert wurde.

Schon damit gerechnet, dass dies gar nicht mehr geschehen würde, dass dieses Miteinander gleich ein Ende haben sollte, aber dann spürte ich ihn. Erst war es nur ein leichter Druck, ein Auflegen seiner Hand auf meinem Arm und schließlich, spürte ich seine Gegenwart in meinem Mund.

Es war wie eine grüne Ampel, wie das Go bei einem Videospiel, alles ließ darauf wissen, loszudreschen, Vollgas zu geben... aber ich traute mich nicht.

Ich hatte soviel Angst ihn zu verschrecken, irgendetwas zu tun, was er nicht mochte, dass ich darüber hinaus mich selbst ganz vergaß. Ich ließ ihn genießen, jede Berührung, jedes erneute Aufeinaderlegen der Lippen... es musste ihm gefallen, dass alleine sollte mein Ziel sein.

„Schön?“

„Ja.“

Ich wollte ihn schon erneut küssen, als ein „Warte!“ erklang und ich dachte, nun wäre alles vorbei. Aber er setzte sich nur ein wenig auf und befreite sich von seinem Shirt.

Wie weit wollte er gehen? Wie weit war ich bereit zu gehen? Ich zog ebenfalls mein Hemd aus.

„Alles ok?“

Abermals war sein Gesicht mein Ziel, ich schob ein paar Haare aus dem Weg.

„Ja, alles bestens“, beruhigte er mich.

Ich beugte mich wieder hinab, um ihn ein weiteres Mal zu küssen, hielt aber inne, als das erste Mal Haut auf Haut traf. Sofort durchzog mich ein kleines Zittern, und sein Blick zeigte mir, dass ihn das auch nicht unberührt ließ.

Ich küsste ihn, wieder und wieder.

Irgendwann verfiel ich dem Wahn... ich wollte nie mehr von ihm ablassen. In der Zukunft würde es mir reichen, ihn einfach nur an zusehen, einfach nur mit ihm vor dem Fernseher dazuliegen, aber jetzt wollte ich soviel haben, wie er mir bereit war zu geben. Auch wenn es niemals Liebe sein würde, die uns verband, so wäre ich bereit, das zu akzeptieren.

Meine Finger wanderten vom Hals zur Brust hinab, und meine Lippen folgten ihnen wenig später. Wie schön es war ihn zu berühren, wie gut er sich anfühlte... Gott, wenn das alles nur ein Traum war, würde ich nach dem Aufwachen über ihn herfallen, ganz gleich, was er davon halten würde.

Ein kleines, unterdrücktes Stöhnen, als ich über seine Brustwarzen glitt, mich seinem Bauch näherte. Ich ließ meine Zunge in seinem Bauchnabel sinnliche Bewegungen vollbringen... so zärtlich und dennoch vorsichtig, wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Mit jeder Sekunde liebte ich ihn mehr. War es zuvor nur der Mensch an sich, denn ich liebte, so war es jetzt auch der Körper, den ich verwöhnen, verehren und lieben wollte, und das wollte ich ihm zeigen und vielleicht, auch noch sagen.

Ich zog meine Bahnen weiter seinen Unterleib hinab, streichelte mit meinen Fingern über seine Brust, und balancierte mich geschickt zwischen seine Beine. Ich spürte seine Erektion unter meiner Schulter und drückte mich ihr vorsichtig entgegen, abermals ein Aufstöhnen, das zu unterdrücken versucht wurde.

Mein Arm wanderte abwärts, strich der Länge nach über seinen Schritt, ein scharfes Lufteinziehen.

Ich glitt leicht über den Bund seiner Hose hinweg, ertastete mir den ersten der insgesamt fünf Knöpfe, die darauf warteten, geöffnet zu werden…

„HALT! Stop!“

Erschrocken wich ich zurück, während sich Ryan an mir vorbeidrückte.

War ich zu weit gegangen? Ohne jegliche Erklärung stand er auf und verließ er das Zimmer.
 

Part 02 – Ende

Ohne Dich!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai / Yaoi

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 03
 

Vollkommen leer, wenigstens für die ersten Schockminuten.

Weder schaffte ich es mir selber Vorwürfe zu machen, noch, mir zu sagen, dass ich doch eigentlich gar nichts falsch gemacht hatte.

Danach wurde mir schnell bewusst, dass weder irgendwelche Vorwürfe seinerseits, noch das Zuschlagen der Tür, mit dem er sein Weggehen demonstriert hätte, an mein Ohr gedrungen waren.

Er war also immer noch hier.

Mein Verstand befahl mir aufzustehen, nach ihm zu sehen, ihn zu fragen, was passiert war… doch mein Körper konnte nicht. Ich fühlte mich schwer, viel zu schwer, um auch noch irgendeine Art von Schuld auf mich nehmen zu können. Ich konnte nicht, ich wollte nicht… Ich stand auf.
 

Bevor ich das Schlafzimmer verließ, hob ich mein Hemd vom Boden auf, zog es mir wieder an. Mit leisen Schritten durchstreifte ich die Wohnung, fand ihn schließlich im Badezimmer, vor dem Spiegel stehend, mit den Armen auf dem Becken abgestützt. Wie in einem schlechten Film, dachte ich noch bevor ich das Badezimmer betrat, mich irgendwas verriet und unsere Blicke sich trafen.

„Es war ein Fehler.“

Sein Kopf drehte sich wieder zum Spiegel. Ich erwiderte nichts darauf.

Was auch? Dass es für mich das ganz und gar nicht war, dass ich mir die ganze Zeit über nichts sehnlicher gewünscht hatte, als ihn zu küssen, ihn zu berühren.

„Das alles, es war ein riesen Fehler.“

„Was meinst du?“, fragte ich nun doch verunsichert nach.

„Alles verdammt!“ Er stieß sich vom Becken ab, drehte sich zu mir um. „Ich dürfte gar nicht hier sein. Was mache ich eigentlich hier? Mich von dir durchfüttern lassen, es mir einfach machen?“

Fragend schaute er mich an, so als könne ich ihm die Antwort darauf liefern.

„Wart mal, ic-“

„Scheiß drauf. Was tu ich denn schon? Seien wir doch mal ehrlich, ich nutze dich aus, mehr nicht! So ist es doch.“

„Red doch nicht so einen Scheiß, das, das habe ich nie behaupte-“

Er unterbrach mich erneut, kam auf mich zu. „Du würde-“

„Halt mal“, war ich nun der unterbrach. „Ich war noch nicht fertig, lass mich gefälligst aussprechen.“ Er verstummte. „Du hast mich niemals ausgenutzt! Es war meine Entscheidung, ich wollte, dass du hierher kommst und überhaupt… ich dachte… wir wären mittlerweile Freunde geworden und Freunde helfen sich doch schließlich.“

„Ja, schöne Freunde. Siehst ja, wo uns das hingeführt hat.“ Ein abwertender Blick. „Ich sollte jetzt verschwinden.“

Ich lief ihm hinterher, als er das Bad verließ, einen seiner Rücksäcke aus der kleinen Kammer im Flur zog und damit in sein Zimmer verschwand. Ich sah ihm zu, wie er anfing, seine Sachen in den Rucksack zu stopfen, doch auch wenn ich es mit eigenen Augen beobachtete, konnte ich es nicht wirklich verstehen. Was passierte hier gerade eigentlich? Wollte er wirklich gehen, einfach so?

Sollte all das, die gesamte Zeit mit ihm nur ein Traum gewesen sein, aus dem ich jetzt mit Gewalt hinausgeschleudert wurde?

Ich durfte das nicht zulassen, ich musste verhindern, dass dies passierte. Ich packte sein Handgelenk, hielt ihn in seiner Bewegung auf.

„Wo willst du denn hin?“

„Egal, wen kümmert es.“

Mein Griff wurde stärker, als er sich versuchte, von mir zu lösen.

„Mich kümmert es.“

Seine Augen entfachten ein wenig Hoffnung in mir.

„Du bist viel zu gut für diese Welt.“ Eine warme Hand, die sich leicht um meine schloss, behutsam meine Finger von seinem Arm löste. „Und jetzt lass los.“

Meine Hand beobachtend, wie sie langsam zurück an meinen Körper glitt, schrie eine laute Stimme in meinem Inneren immer wieder: Nein!

Warum tat er mir das an, wollte er wirklich gehen? Mich alleine lassen?

Hatten ihm die letzten Monate denn gar nichts bedeutet? Das durfte doch nicht passieren, ich wollte das nicht, wollte nicht alleine sein, er durfte nicht gehen…

Mit heftigem Ruck stieß ich den schon gefüllten Rucksack zu Boden, ihn auf das Bett.

„Nein, du darfst nicht gehen!“, schrie ich ihm entgegen, heftete ihn unter mir fest, nicht wissend, wo ich die Kraft dafür hernahm. Doch eigentlich brauchte ich sie gar nicht, denn er wehrte sich kein bisschen gegen meinen Aufstand, den ich hier wie wild praktizierte.

„Du darfst nicht gehen“, schüttelte ich leicht den Kopf, während er mich nur weiterhin ansah. „Ich lass es nicht zu… bitte“, verließ es ziemlich leise, flehend meine Lippen.

Er schloss die Augen, drehte den Kopf zur Seite.

Ich hatte verloren…

Seine Geste zeigte es mir, und so konnte ich nichts mehr tun, um ihn aufzuhalten. Und das war es, was am meisten schmerzte, die Gewissheit darüber… zu wissen, dass eigentlich, egal was man machen würde, es sowieso nicht helfen könnte. Aussichtslos… ohne Hoffnung….

Ungestoppt tropften die Tränen auf seine immer noch nackte Brust, verschmolzen mit der warmen Haut. Alles in mir verkrampfte sich und meine Hände ließen von ihm ab, wollten nur noch mir selber schützend beistehen.

Ich fühlte mich machtlos… nein, ich fühlte mich, als hätte ich niemals Macht besessen. Mein Kopf legte sich an seine Schulter, mein Körper fiel leicht zur Seite. Wann war es eigentlich geschehen, wo hatten wir angefangen, alles zu zerstören? Mit dem Kuss? Dadurch, dass ich mich in ihn verliebte, oder hatte diese Zusammenkunft von vornherein keine Chance?

Vorsichtige Bewegungen neben mir, Berührungen an meiner Wange. Ich fühlte sie deutlich, doch wollte ich sie nicht spüren, wollte ihnen keinen Möglichkeit geben, mich noch mehr zu verletzten.

„Du bist ein total lieber Mensch…“ Nein, fang nicht so an, den Spruch kannte ich schon. Ich wollte ihn nicht hören, wollte seine Stimme nicht hören. Ich hatte sie immer so geliebt… ich liebte sie immer noch… „…du wirst schon jemanden finden, de-“

Wie von irgendwas gestochen sprang ich aus dem Bett, mit meiner plötzlichen Bewegungen ihn zweifelsohne in seinen Worten stoppend. Mehr Tränen als zuvor rannen mir über die Wangen und eigentlich wollte ich nur aus diesem Zimmer fliehen, hatte nicht vorgehabt, ihn anzuschreien, hatte nicht vorgehabt, ihn anzusehen, wollte nicht erkennen, wie seine Lippen leicht zitterten… ich wollte doch nur eines und das würde ich nicht bekommen.

„Ein lieber Mensch? Ein lieber Mensch? Ich bin kein lieber Mensch, wie du so schön formulierst.“ Er stand ebenfalls vom Bett auf. „Schau sie dir doch an, meine Freunde, meine Familie, denn genauso ein Mensch bin ich. Bis vor kurzen war ich genauso oberflächlich wie sie, habe mich auch über den Penner an der Ecke lustig gemacht… und schau mich jetzt an… hier steh ich und bettle dich an. Dich, einen Penner von der Straße, bettle darum, dass du bei mir bleibst, welche Ironie, nicht wahr? Rollentausch im ganz großen Stil. Aber vielleicht ist es ja gerade das, was dir den Kick gibt…Weißt du was, geh ruhig. Geh, verdammt noch mal!“

Mit dem Verklingen der letzten Silbe drehte ich meinen Kopf dem Fenster entgegen. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, sollte er doch nur endlich verschwinden. Mir doch egal, obwohl eine kurze Unentschlossenheit seinerseits auf meine ausgesprochenen Worte genau zu erkennen war.

Vielleicht hatte er ja Recht, vielleicht war das alles ein großer Fehler. Möglicherweise sollte er wirklich nicht hier sein. Eventuell hätte ich schon längst jemand anderen gefunden, meine Zeit nicht mit ihm verschwenden sollen.

Nervöse Bewegungen, das schnelle Überwerfen eines Hemdes, das Aufheben des Gepäckstückes.

Noch ein paar Kleinigkeiten hineingepackt, ging er schließlich an mir vorbei, die Tür war sein Ziel und ich schaffte es doch nicht… Ich griff nach ihm, hielt ihn abermals fest.

„Nein, bitte geh nicht.“

Was in mir drinnen war nur so verdammt schwach? Warum konnte ich ihn einfach nicht gehen lassen, war es doch garantiert das Beste für alle.

„Ich werde gehen… Bitte bleib noch...“

Auf seinen verwirrten Ausdruck hin erklärte ich mich schnell. „Lass uns nichts Unüberlegtes tun. Bleib hier… schlaf noch mal drüber… ich werde heute nicht wieder kommen.“

Ohne ihn noch einmal anzusehen, verließ ich das Zimmer, schlüpfte in Jacke und Schuhe, schnappte mir Aktentasche und Schlüssel und verließ die Wohnung.
 

Erst im Auto hatte ich das Gefühl, wieder Atmen zu können, doch war es das, was ich mir in der folgenden Stunde, in der ich einfach nur auf die Armaturen starrend da saß, am wenigsten wünschte.

Als ich dann endlich den Wagen in Gang setzte, war ich mir nicht einmal sicher, wohin er mich überhaupt bringen sollte. Langsam fuhr ich aus der Tiefgarage heraus, bog nach Links ab und fuhr dann einfach weiter.

Durch viele kleine Nebenstraßen verließ ich Philadelphia, bog irgendwann dann doch auf die 422. Was wollte ich hier, warum ausgerechnet dieser Weg?
 

~ * ~
 

Im Schritttempo fuhr ich am Haus meiner Eltern vorbei. Ich hatte kein bisschen den Drang dazu anzuhalten, hineinzugehen, einen von ihnen zu sehen.

Die Gegend hatte sich mal wieder kein bisschen verändert. Das hatte sie nie, würde sie nie. Vielleicht war es gerade deswegen so wichtig für mich gewesen, hier wegzukommen. Ich hatte mich einfach zu sehr verändert, um hierbleiben zu können.

Minuten später ließ ich ebenso Davids Haus hinter mir.

Natürlich hätte ich aussteigen können, mit ihm reden, ihn von meinen Sorgen erzählen, aber… würde mir das irgendwie helfen?

Ich verließ Pottstown so leise und unerkannt wie ich gekommen war.
 

Knapp eine Stunde später fiel die Aktentasche mit einem lauten Knall auf meinen Schreibtisch im leeren Bürokomplex.

Stunden hatte ich hier an einem Zeichenbrett oder an speziellen Computerprogrammen verbracht, doch heute kamen mir die bekannten Büroräume wie eine kleine verlassene Welt vor. Den fehlenden Kaffeegeruch, das Schrillen des Telefons, ja sogar Peters ewiges Rumgenörgel wünschte ich mir gerade mehr als alles andere herbei. Abgesehen natürlich von ihm.

Ich starrte das Telefon an. Ob ich mal anrufen sollte? Vielleicht brauchte er irgendetwas?

Blödsinn!

Was hätte ich denn schon groß getan? Angerufen und dann schnell wieder aufgelegt, wenn er dran gegangen wäre? Ja, wirklich schlau und kein bisschen auffällig.

Dass er vielleicht gar nicht mehr da war, schon längst seine Sachen gepackt und gegangen war… daran wollte ich gar nicht denken. Wie sollte ich nur ohne ihn weiter machen?

Nein! Ich schüttelte diese Gedanken ab, schnappte mir das Telefon und drückte eine der eingespeicherten Nummernplätze. Eine ganze Zeit lang war das nervige Tuten zu hören, bis sich schließlich doch die recht junge Stimme am anderen Ende der Leitung meldete.

„Hier Manson, wer da?“, kam es, mir ein wenig zu fröhlich.

„Hi Aaron, ich bin’s Chris.“

„Oh Hallo. Ist irgendwas passiert?“

„Nein nein, ich wollte nur mal fragen, ob du nicht Lust hast, an dem Denzler Projekt weiterzuarbeiten?“

Ich griff nach einem Kugelschreiber aus dem silbernen Stifthalter.

„Jetzt?“, kam es irritiert.

„Ja, aber wenn du keine Zeit hast, ist das auch okay.“

Nervös ließ ich den Stift zwischen meinen Fingern hin und her gleiten.

„Doch, eigentlich habe ich schon Zeit. Ich wunderte mich nur…. na, ist ja auch egal. Bist du noch zu Hause?“

„Nein, schon im Büro.“

„Gott, dir scheint es ja echt langweilig zu sein. Ich bin dann so… in 30 Minuten da.“

„Ok.“

Ich legte auf. Der Kugelschreiber erhielt einen Freiflug durch den Raum.

Sollte er mich doch für verrückt halten, dass ich an einem Sonntagabend arbeiten wollte. Ablenkung war jetzt das, was ich brauchte, und alleine hier herumsitzend würde das nicht funktionieren.
 

~ * ~
 

Die Nacht und der darauffolgende Tag waren die Hölle.

Nicht, dass es mit der Ablenkung nicht ganz so gut geklappt hatte wie gehofft, oder die nervende Müdigkeit, die mich immer mehr davon abhielt, rational zu denken… Nein, am schlimmsten war der folgende Gang nach Hause.

Würde mich jemand fragen, würde er zur Antwort bekommen, dass ich das Gebäude, vor dem ich stand, nicht kannte. Schon allein der Anblick des teuren Wohnblocks, an dem sich der Besitzer durch Verkauf und Vermietung einen guten Lebensstil halten konnte, schien der Todfeind Nr. 1 zu sein.

Die Haustür, der Weg hinauf, die Wohnungstür… wie sehr betete ich dafür, dass ich ihn dahinter vorwinden würde.

Mit viel Überwindung und schnell klopfendem Herzen steckte ich den kleinen, silbernen Gegenstand ins Schloss, bewegte ihn vorsichtig zur Seite.

Ich trat in die Wohnung, ließ meinen Schlüssel lauter als sonst auf die kleine Kommode fallen. Er sollte wissen, dass ich zu Hause war, kein überraschtes Aufeinandertreffen. Aber wie sollte ich mich jetzt geben, wenn ich ihm gegenüberstand, was würde mich überhaupt erwarten?

Mein erster Blick durchstreifte die Küche, wie eigentlich immer, wenn ich nach Hause kam, da er meistens hier vorzufinden war. Doch er war nicht hier und das Weitersuchen konnte ich mir getrost sparen.

Ich entfernte die drei Magneten, die einen etwas größeren, weißen Umschlag an der Kühlschranktür festhielten. Die Schlüssel darin ertastete ich sofort, den weiteren Inhalt wollte ich nicht kennen…
 

~ * ~
 

Ich stand auf, ging zur Arbeit, kaufte ein, ging nach Hause, machte mir etwas zu essen und ging wieder ins Bett. Bevor ich allerdings einschlief, hing mein letzter Gedanke an dem immer noch ungeöffneten Umschlag, der nun an meiner Schlafzimmerwand hing.

Montag, Dienstag, Mittwoch… die gesamte Woche sah so aus. Ändern wollte ich nichts daran. Weder am Montag, am Dienstag, am Mittwoch… noch an der restlichen Woche… mit einem Unterschied: Den Samstag und Sonntagvormittag verbrachte ich nur mit Essen, Schlafen und anstarren des weißen Umschlages.

Am Nachmittag wurde diese sinnvolle Beschäftigung allerdings unterbrochen.

„Sag mal, was soll der Scheiß?“

Desinteressiert ließ ich David in der geöffneten Tür stehen, schleifte mich wieder in Richtung Schlafzimmer. Ich hörte die Tür hinter mir ins Schloss fallen, seine Schritte, die mir folgten. Mit einem dumpfen Geräusch ließ ich mich zurück auf das Bett fallen und drehte mich in die Richtung Wand.

„OK! Was ist los? Ich habe bestimmt 20 Mal in dieser verfickten Woche bei dir angerufen und du bist kein einziges Mal ans Handy gegangen. Was verdammt noch mal ist mit dir los, Chris?“

„Lass mich in Ruhe“, gab ich daraufhin zur Antwort.

Eins, zwei Schritte… er ging vor dem Bett in die Hocke, sein Blick lag auf mir.

„Glaub mir, wenn du mir nicht sofort sagst, was hier los ist, werde ich das auch tun“, drohte er mir ganz offensichtlich und als ich zuließ, dass sich unsere Blicke trafen, hätte ich weinen können. Das Gefühl war vorhanden, doch floss nicht eine einzige Träne über meine Wangen hinweg.

„Also?“

„Er ist weg“, erklärte ich tonlos, drehte mich in die andere Richtung.

„Ryan?“ Ich spürte wie er wieder aufstand. „Du redest von Ryan, oder?“, kam es in einer seltsamen Tonlage, die mit dem nächsten Satz ins verärgerte umschwang. „Bist du eigentlich total bescheuert? Weißt du wie viele Sorgen ich mir gemacht habe. Deine Eltern, deine Schwester… wir dachten, es wäre dir was passiert und du treibst hier seelenruhig in deiner Depriphase rum, weil es schon wieder mal mit einem Kerl nicht geklappt hat? Ist das wirklich dein Ernst?“, schrie er die letzte Frage.

Ich antwortete nicht darauf. Besser gesagt, ich war wie erstarrt von seinem ungewohnten Gefühlsausbruch. Natürlich war es ein wenig unvernünftig von mir gewesen, mich tot zu stellen, aber konnte er mich denn kein bisschen verstehen?

„Weißt du was? Ich geh jetzt und ruf mich erst wieder an, wenn du erwachsen geworden bist.“

Er verließ die Wohnung.

„Entschuldige“, flüsterte ich ihm leise hinterher.
 

Ein wenig später öffnete ich endlich den Umschlag.

Ich wollte wissen warum ich einen meiner ältesten Freunde verärgert hatte und betete dafür, dass mir Ryan keine offensichtlichen Schuldzuweisungen unterbreitet. Natürlich war alles meine Schuld gewesen, doch würde ich es nicht ertragen können, würde er es mir dies sagen.

Der Brief war nicht besonders lang, doch musste ich mir eingestehen, dass ich den Schreiber verstehen konnte. Vielleicht hatte ich zu vieles nur aus meiner Sicht heraus betrachtet, vielleicht gab es da zu vieles, das ich nicht verstand.

Dennoch, warum hatte er mir das nicht persönlich sagen können, warum nicht versuchen können, alles wieder in Ordnung zu bringen… und warum gab es da das beängstigende Gefühl, ihn niemals wiederzusehen?
 

~ * ~
 

Wochen waren mittlerweile vergangen…

Die ersten Entwicklungsphasen abgeschlossen, schaffte es das Brückenprojekt nicht mehr, mich wenigstens tagsüber abzulenken. Es gab im Allgemeinen gerade nicht viel zu tun, und so drängten sich wieder vermehrt die Erinnerungen und Wünsche, die ich mit Ryan verband, in den Vordergrund.

Nicht das kleinste Lebenszeichen hatte ich in den Wochen von ihm erhalten, ihn nicht finden können, während ich des Öfteren die Innenstadt nach seiner Anwesenheit absuchte. Nichts, er blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Ich vermisste ihn schrecklich, dass versuchte ich gar nicht erst, vor mir selbst zu leugnen.

Ich vermisste ihn. Einfach nur ihn.

Liebe?

Nein, die vermisste ich nicht.

Ich vermisst seine Anwesenheit, seine Stimme, das Einfache: „Hi, wie war dein Tag?“, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam.

Ich liebte ihn immer noch, auch das wollte ich nicht leugnen.

Doch würde ich das alles tief in mir begraben, würde er nur wieder zurückkommen. Eine Chance, dass alles wieder so war wie zuvor.

Aber spürte ich immer mehr, dass ich keinen Versuch mehr bekommen würde, ihn darum bitten zu können, ihn zu bitten, zurückzukommen.
 

Die Meisten wären wahrscheinlich schnell an den Punkt gelangt, wo sie sich selber sagten, dass es vorbei war, dass es keinen Sinn mehr hatte, dass es nur vergebene Liebesmüh wäre, noch darüber nachzudenken.

Ich war an diesem Punkt noch lange nicht angekommen, doch war ich selber nicht in der Lage, groß etwas an dieser Situation zu ändern, und so engagierte ich schließlich einen Privatdetektiv.

Ich erzählte ihm alles was ich von Ryan wusste. Sein Geburtsdatum und ein Bild waren die besten Hinweise, die ich ihm geben konnte. Er machte mir nicht gerade Mut, hoffte aber anhand der Geburtsdaten etwas herausfinden zu können, und so vergingen tatsächlich nur ein paar Tage, bis ich eine Adresse von ihm bekam.

Er konnte mir allerdings nicht garantieren, ob es sich wirklich um die Angehörigen handelte, da ich persönliche Kontaktaufnahme zu den Familienmitgliedern strikt abgelehnt hatte.
 

~ * ~
 

Am darauffolgenden Wochenende setzte ich mich in einen Flieger nach Ohio.

Dort angekommen, mietete ich mir einen Wagen, ließ mich zwecks Wegbeschreibung eingehend beraten und mir einen Straßenplan aushändigen.
 

Das große helle Haus mit dem blauen Dach war nicht gerade schwer zu finden.

Ich parkte, stellte den Motor aus und stieg ins Freie. Was nun? Einfach anklopfen und fragen, ob hier ein Ryan Byncks zu Hause war?

Byncks! Ob es wirklich sein Name war? Ungewohnt, irgendwie falsch…

Ich lief um den Wagen herum, betrat den Gehweg. War das wirklich ein Platz, den er hunderte von Malen in seinen Leben betreten hatte? Doch viel Zeit darüber nachzudenken bleibt mir nicht, da eine unerwartete Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ein Mann klettert aus einem Loch mitten im Garten des Hauses mit dem blauen Dach. Zuvor war es mir gar nicht aufgefallen, wahrscheinlich von der Hecke verdeckt.

„Scheiß Rohre“, kam es mit genervter, bekannter Stimme.

Er stand auf, ging einige Schritte auf das Haus zu, warf eine kleine Schaufel von sich. Kurz darauf wieder in der Hocke fummelte er an irgendwas rum.

Ohne Erlaubnis betrat ich das fremde Grundstück, ging auf den Mann zu, mit dem ich monatelang alles geteilt hatte, dem ich meine Liebe schenken wollte.

Ich stand wenige Schritte hinter ihm, sah ihm einfach nur zu. Bemerkt hatte er mich noch nicht, und so hefteten sich meine neugierigen Blicke auf ihn.

Diese Veränderungen… ich konnte sie nicht verstehen. Und damit meinte ich nicht sein Haar, das ein wenig kürzer geschnitten wurde, sondern viel mehr, dass er hier, in einer ganz normalen Familie, in einem ganz normalen Haus lebte. Aber wer lebte eigentlich hier? Seine Eltern, seine Frau, vielleicht sogar schon Kinder?

Erst als Nässe auf meinen Handrücken traf, nahm ich es wirklich wahr. Was sollte das… nicht weinen. Das half nicht, verdammt…

„Oh…“

Bemerkt, drehte sich Ryan zu mir um, stand auf.

„Hallo“, kam es freundlich. Er lächelte und mir schossen noch mehr Tränen in die Augen. Ich wollte ihn um den Hals springen, ihn an mich drücken, küssen… ihn nie wieder loslassen, doch war ein kleines „Hi“ das Einzige was ich im Moment über die Lippen bekam.

„Entschuldigung. Kann ich Ihnen helfen? Was ist denn passiert?“

Bitte? Ich schaute in sein besorgtes Gesicht, erkannte wirkliche Sorge. Was verdammt noch mal sollte das?

Er streckte die Hand nach mir aus, wollte mich am Arm berühren. Ich wich zurück. Er folgte mir, sprach auf mich ein. Ich sah wie sich seine Lippen bewegten, doch konnte mein Verstand kein einziges der ausgesprochenen Worte verarbeiten.

Warum tat er mir das an, warum wollte er mich nicht mehr kennen? Musste er sein Gesicht wahren, den braven Sohn oder Hausmann spielen… für wen veranstaltete er diese Scharade?

Ich wich weiter zurück, da er weiterhin versuchte, mir näherzukommen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, seine Worte schienen energischer zu werden… warum konnte ich sie bloß nicht verstehen…
 

Er war nicht Ryan. In den Armen der mir fremden Person liegend verstand ich es endlich. Er war nicht Ryan.

„Hey, alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja… sorry… ich…“

„Sie wären beinahe in das Loch da gefallen, es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“

Ich trennte mich von dem Körper, den ich geküsst, geliebt und begehrt hatte, der aber trotzdem nicht derselbe zu sein schien. Ihm gegenüber auf dem Boden sitzend konnte ich nicht anders als ihn neugierig anzusehen.

„Wirklich alles in Ordnung“, fragte er noch einmal besorgt, mit dieser wunderschönen Stimme.

„Ja.“

Ich wurde leicht rot. Diese ganze Situation, wie peinlich.

„Darf ich fragen, wer Sie sind… wie ist Ihr Name?“

„Ich… mein Name ist Lienn Byncks.“ Er streckte mir die Hand hin. „Und wer sind Sie?“
 

Part 03 – Ende

Deine Vergangenheit!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai / Yaoi

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 04
 

Einige Minuten verweilte ich alleine in dem großen Raum und konnte es nicht verhindern, mir neugierig die vielen Bilder an den Wänden anzusehen.

Die meisten waren mit strahlenden Kinderaugen bespickt. Ryan, Lienn und ein mir fremdes Mädchen sah man an Festtagen in glücklichen Posen in die Kamera lächeln, doch bald gab es nur noch Bilder von Lienn und Ryan und irgendwann nur noch Bilder von Lienn, wenigstens vermutete ich, dass es sich dabei um ihn handelte.

Lienn war ein sehr freundlicher Mensch, schnell hatte er mir angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen, und in der kurzen Zeit, in der ich nun hier war, konnte ich ihnen etwas schenken, das kein anderer in den letzten Jahren geschafft hatte: die Gewissheit, dass Ryan noch lebte.

Diese unerwartete Neuigkeit trieb Mutter und Bruder Tränen der Freude in die Augen. Ich hatte ihnen von dem Kennenlernen mit Ryan erzählt, von meinem Angebot, ihn bei mir aufzunehmen und immer wieder wurden meine Erzählungen unterbrochen, konnte man nicht glauben, wie es um Ryan gestanden hatte, besser gesagt wahrscheinlich wieder stand.

Die Monate, in denen wir zusammenlebten, die Sache, die alles zerstörte und meine immer noch währende Liebe zu ihm, all dies hatte ich ihnen erzählt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie hätten ein Recht es zu erfahren. Natürlich ließ ich das ein oder andere Detail aus, doch im Großen und Ganzen erzählte ich unsere vorhandene Geschichte.

Besonders auf letzteren Punkt reagierte die Dame des Hauses nicht gerade erfreulich, aber mit nichts anderem hatte ich gerechnet. Die Mutter erinnerte mich sehr an meine eigene.
 

Ein Geräusch hinter mir, schnell setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Lienn betrat den Raum.

„Sie ruht sich jetzt ein wenig aus.“

„Ich wollte nicht…“

„Schon gut, es war wohl alles ein wenig zu viel für Sie. Lass uns ein Stück gehen.“

Ich folgte ihm zur Hintertür des Hauses, wo wir in den riesigen Garten traten.

Wir liefen einfach nur schweigend nebeneinander her. Was sollte er auch noch groß sagen? Seine Fragen waren, so weit ich es konnte, beantwortet, er kannte meine Geschichte, aber ich selber hatte noch so viele Fragen.

„Vielleicht hätte ich es nicht erwähnen sollen“, fing ich an, nur um irgendwas zu sagen.

„Was?“

„Das mit dem Schwulsein und so… deine Mutter schien schon ganz schön geschockt.“

„Ach quatscht. Glaub mir, sie war seit langem nicht mehr so glücklich wie heute. Außerdem, sollte sie sich langsam damit abgefunden haben.“

„Womit?“

Wir setzten uns auf eine Bank, die am Ufer eines kleinen Sees stand. Mein Blick schweifte kurz übers Wasser, es war richtig schön hier. Ein toller Ort, um aufzuwachsen.

„Ryan war damals 14, als er damit ankam. Unsere Mutter, ziemlich gläubig sollte ich hier wohl erwähnen, ist beinahe tot umgefallen. Aber das hat ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil, er fand es fast schon amü-“

„Halt mal, ich komm nicht mehr mit“, unterbrach ich seinen Ausflug in die Vergangenheit. „Was meinst du mit „damit“ ankam?“

„Dass er schwul ist, was hast du denn gedacht, wovon ich rede?“

Blitzschnell schoss ich in die Höhe.

„Das ist nicht wahr? Er ist nicht schwul!“, entgegnete ich.

„Sorry, aber jetzt komme ich nicht mehr mit. Du hattest doch was mit ihm oder nicht, also warum bist du jetzt so überrascht darüber?“

„Überrascht ist gar kein Ausdruck!“

Ich ließ mich wieder auf die Bank fallen.

„Ich bin nicht schwul, Chris. Ich werde es auch niemals sein.“

„Er ist nicht schwul“, gab ich noch einmal von mir, versuchte dieses Mal überzeugender zu klingen.

„Natürlich ist er.“

Nein, das konnte nicht sein. Es waren nie irgendwelche Anzeichen da, im Gegenteil, er hatte immer gesagt, dass er es nicht sei. Und dann der Sex mit dieser blonden Tusse in meiner Wohnung. Seine Worte…

„…ich weiß einfach nicht, was los ist… Ich versteh es nicht…“

Was sollte das alles?

„Das alles, es war ein riesen Fehler. Siehst ja, wo uns das hingeführt hat.“

„Ich wusste nicht, dass er schwul ist. Ich dachte immer, dass genau hier das Problem lag, dass er genau deshalb gegangen ist.“

„Glaub mir, er war… ist schwul.“

„Warum hat er dann gelogen, es verheimlicht?“

„Sorry, keine Ahnung. Ich… ich kenne ihn schon lange nicht mehr“, kam es mit gesenkter Stimme. „Ich weiß gar nichts. Sieben Jahre lang habe ich nichts von ihm gehört, ihn nicht gesehen.“ Lienn bückte sich, hob einige Steine auf, die kurz darauf auf die Wasseroberfläche perlten.

„Wie er jetzt aussieht? Klar, dass ist das Einzige worüber ich Gewissheit habe. Ich brauche ja schließlich nur in den Spiegel zu schauen… aber sonst? Ich glaube auch nicht an diesen: Oh, wir sind Zwillinge und haben einen super Draht zueinander Quatsch, aber irgendwie wusste ich immer, dass er noch lebt. Bei meiner Mutter war es da ganz anders.“

Ich hing regelrecht an seinen Lippen, und das nicht aus dem Grund, dass sie genauso schön aussahen, wie jene, die ich immer küssen wollte.

„Ryan wollte immer bei allem der Erste sein“, fuhr er fort. „Alles zuerst haben, alles zuerst machen. Er fuhr als erstes Rad, er war der Erste, der ins Wasser sprang, der Erste, der auf den großen Baum kletterte und der Erste, der ein Mädchen küsste. Nicht, dass ich selber feige war oder so“, kam es mit einem Lächeln, seine Augen schauten verträumt übers Wasser hinweg. „Er wollte nur immer alles zuerst, wollte alles ausprobieren, was es auszuprobieren gab… Rauchen, Drogen, Sex… er war ziemlich frühreif würde ich einfach mal behaupten.

Mit 14 zog dann Mitchell in unsere Straße. Er war ein kleiner Unruhestifter und Ryan ließ sich nicht zweimal bitten, wenn es darum ging, irgendeinen Scheiß anzustellen. So sind Kinder halt in diesem Alter, meinte meine Mutter manchmal, wenn die Nachbarn sich wieder einmal beschwerten, doch hätte sie geahnt, wozu Mitchell Ryan noch verführte, hätte sie dieser Freundschaft wohl Einhalt geboten.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich sie in der Garage vorfand. Ryan, keuchend, mit den Rücken an die Wand gepresst und Mitchell, der vor ihm kniete und na ja… Gott, war ich geschockt, sag ich dir.“ Ein helles Auflachen.

Ich lächelte leicht, konnte ich mir das Bild nur zu gut vorstellen. Trotzdem, etwas in mir störte es, dies zu hören, etwas in mir schrie danach, diesen verlogenen Bastard in die Finger zu bekommen und ihm gehörig die Meinung zu sagen.

„Natürlich verriet ich ihn nicht bei unserer Mutter, doch konnte ich ihm tagelang nicht anschauen, zu peinlich war mir die ganze Situation. Zu der Zeit hatte ich noch nicht einmal ein Mädchen geküsst, und er ließ sich von einem Jungen einen blasen… das musste erst einmal verdaut werden.

Wie dem auch sei, das Ganze ging dann knapp ein halbes Jahr im Verborgenen weiter, bis Ryan die Schnauze voll hatte und es unserer Mutter und der halben Nachbarschaft lauthals bei einer ihrer berühmten Dinnerpartys auf die Nase band. Er machte sich nach dieser Verkündung natürlich schnellstmöglich aus dem Staub und ich musste mich statt seiner einer stundenlangen Befragung stellen. Immer wieder wollte sie von mir wissen, ob ich es ebenfalls sei, fragte mich aus, was Ryan betraf. Ich schwieg größtenteils, versicherte ihr allerdings, dass ich nicht schwul sei. Ihre Freundinnen machten den fehlenden väterlichen Einfluss dafür verantwortlich… mein Dad ist gestorben, da waren Ryan und ich elf, wusstest du das?“

Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Die Zeit nach seinem Tod war für uns alle kein Zuckerschlecken, aber wir Kinder schafften es schneller darüber hinwegzukommen, ich denke, Claire musste an diesen Verlust am meisten leiden, Mutter klammerte danach wie eine Klette an ihr.“

„Claire?“

„Claire ist unsere kleine Schwester, sie war vier als unser Dad starb, wahrscheinlich hätte sie sich nach ein paar Monaten nicht mal mehr an ihn erinnert, hätte Mutter sie nicht andauernd mit Fotos und Geschichten von ihm überhäuft.“

„Das kleine Mädchen auf den Bildern?“

Er schaute mich fragend an.

„Die Bilder an den Wänden“, erklärte ich mein Wissen.

„Ja, das ist Claire… besser gesagt, sie war es.“

„Oh… das tut mir leid.“

Ich suchte seinen Blickkontakt, auch wenn es mir peinlich war in diesem Moment.

„Das muss es nicht… es ist ja nicht deine Schuld. Aber… es ist seine“, kam es mit fester Stimme und man konnte das Fünkchen Wut ganz deutlich mitschwingen hören und ohne nachzuhaken, wusste ich, wen er damit meinte.

Ob er da nicht ein wenig übertrieb, so was war doch immer schnell dahin gesagt, doch ich traute mich nicht zu fragen, und so blieb es eine Weile einfach nur still.

„Es ist ein schöner kleiner See, nicht wahr?“

Mein Blick schweifte über das Wasser. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der Oberfläche wieder und interessante Pflanzen konnte man am Ufer erkennen.

„Ja, er ist wirklich schön“, stimmte ich zu.

„Als Kinder waren wir oft darin schwimmen, verbrachten eine Menge Zeit hier, sogar angeln konnte man, obwohl wir die Fische immer wieder zurückwarfen, nicht einen hatten wir jemals getötet und gegessen.

Claire war damals acht, es war Winter, kurz vor Weihnachten. Unsere Mutter war zu einem Wohltätigkeitsding und Ryan sollte auf Claire aufpassen bis ich um Vier von meinem Training kam. Nicht ganz Vier, wenn man es genau nahm… der Bus kam immer um acht Minuten nach an der Haltestelle an und ich brauchte dann noch ca. drei Minuten.

Als ich an diesem Tag nach Hause kam, wunderte ich mich schon ein bisschen, dass Ryan und Claire nicht aufzufinden waren. Ich ging in den Garten, zum See, aber nichts zu sehen von den beiden. Ich war zwar ein wenig sauer, da ich extra eine Verabredung abgesagt hatte, doch machte ich mir keine Sorgen oder so… warum auch, Ryan hatte Claire anscheinend mitgenommen. Zwar komisch, da er mit Mitchell ja Dinge tat, wo ein kleines Mädchen nicht gerade der beste Zuschauer war, doch was noch dran ändern? Ich machte mir was zu Essen, haute mich vor den Fernseher und dachte nicht weiter darüber nach.

Gegen sechs kam Mutter dann nach Hause und war ziemlich wütend darauf, dass Ryan Claire mit zu Mitchell genommen hatte. Dass sie nicht gerade gut auf ihn zu sprechen war, kann man sich ja vorstellen. Sie schickte mich los, Claire abzuholen, und so durchstreifte ich einige Anlaufplätze bis ich Ryan schließlich fand. Ja, Ryan fand ich, aber nicht Claire.

Zuerst verstand er gar nicht was ich genau von ihm wollte, doch als uns dann beiden bewusst wurde, dass hier etwas nicht stimmte, kroch die Angst in uns hoch. Wir rannten wie die Irren nach Hause… ich kann mich bis heute noch genau daran erinnern, wie sehr meine Lunge schmerzte, durch die kalte Luft, die ich beim Rennen einsog.

Die Stunden danach kann ich gar nicht mehr richtig beschreiben, sie waren die reinste Hölle. Claire fand man schließlich im See. Sie war wohl aufs Eis gegangen und eingebrochen… niemand hat es gemerkt, niemand hat ihr Schreien gehört… ihre verzweifelten Versuche sich zu… zu ret…ten… Ihr Körper war ganz blau, leblos… dieser Anblick... ich... wer... de…“

Dass seine Stimme brach, er anfing zu weinen, konnte ich gut nachvollziehen. Zu gerne hätte ich irgendetwas getan, ihn in den Arm genommen, irgendetwas gesagt, was ihm Trost spenden würde… doch ich traute mich nicht, es zu tun, und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.

Schneller als gedacht beruhigte er sich wieder, es schien ihm selbst ein wenig peinlich zu sein, vor einem Fremden seine Gefühle so deutlich zu zeigen.

„Ryan hat sie allein gelassen“, kam es hart. „Zehn Minuten, mehr nicht. Zehn Minuten, die er nicht warten konnte, um zu seinem Fick zu kommen. Zehn Minuten, mit denen er das Leben von Claire wegwarf. Zehn Minuten, die er brauchte um unsere Familie zu zerstören. Zehn Minuten, mehr nicht…“

Er stand auf und mein Blick schweifte noch einmal über das Wasser hinweg. Mit ein paar Worten hatte der See all seine Schönheit verloren.

Lienn ging wieder Richtung Haus. Für einen Moment war ich mir unschlüssig, ob ich ihm wirklich folgen sollte, vielleicht wollte er jetzt alleine sein, doch als er stehen blieb, zurückblickte, zeigte er mir ganz deutlich, ihm zu folgen.

„Meine Mutter hat ihm natürlich die Schuld an allem gegeben“, fing er wieder an, nachdem ich ihn eingeholt hatte. „Ihm und seinem Schwulsein. Gott habe ihn dafür betraft, hat sie ihm immer wieder hinterher geschrieen. Und so sehr ich ihn eigentlich liebte, war es die Wahrheit: Es war seine Schuld. Ich hasste ihn, verfluchte ihn, doch strafte ich ihn nicht mir Vorwürfen, die bekam er schon von Mutter und vielen anderen genug zu hören. Ich verletzte ihn damit, dass ich ihn nicht mehr wahrnahm, nicht mehr mit ihm sprach, ihn nicht mehr sehen wollte, keinerlei Notiz von ihm nahm.

In der Schule wurde er vorwurfsvoll angestarrt, niemand wollte mehr mit ihm befreundet sein, sogar Mitchell drehte ihm den Rücken zu, obwohl es doch seine Verabredung war, weshalb Ryan Claire alleine ließ. Ryan war gebrochen, verzweifelt und alleine. Zu Anfang freute ich mich regelrecht ihn darunter leiden zu sehen, ich wusste genau, wie viel Schmerz es ihm bereitete.

Doch dann… Zu oft hörte ich ihn weinen, immer wieder gab mir mein Verstand zu sagen, dass es doch nicht seine Absicht war, dass dies alles passiert ist, doch konnte ich mich nicht einfach wieder drehen… Ich fühlte mich als Verräter, wenn ich darüber nachdachte, ihm zu verzeihen, mir wünschte, ihn einfach in den Arm nehmen zu können und ihm zu sagen, dass alles wieder gut werden würde. Ich wusste, dass er so nicht leben konnte, irgendwann würde er total daran zerbrechen. Und so lief es schließlich darauf hinaus, dass er knapp einem Monat später, eines Nachts plötzlich an meinem Bett hockte.

Ob er wusste, dass ich wach war, ihn hörte, weiß ich nicht einmal. Er sagte mir, dass er mich lieb hat, er versicherte mir, dass er das alles nicht gewollt hatte, und dass er nie wieder jemanden verlieren wolle, den er liebt. Das waren seine letzten Worte an mich, am nächsten Morgen war er weg.“

Wir gingen durch die Küche zurück ins Haus.

„Möchtest du sein Zimmer sehen?“

„Ich weiß nicht“, gab ich überrascht von mir. Der plötzliche Themenwechsel warf mich ein wenig zurück.

„Du kannst dort schlafen, wenn du magst.“

„Schlafen?“

„Ja, es ist schon spät. Ich denke nicht, dass du noch einen Flug nach Philadelphia bekommst, wenigstens heute nicht mehr.“

„Ich denke, ich schlafe lieber in ei-“

„Einem Hotel?“, unterbrach er mich. „Kommt gar nicht in Frage, immerhin haben wir dir einiges zu verdanken. Du schläfst hier, keine Widerrede.“

Ein Lächeln, ein kleiner Wink in Richtung Treppe. Ich folgte ihm, doch mit jeder Stufe fühlte ich mich unwohler. Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Das Zimmer eines 15jährigen, eines Jungen, den ich nicht kannte?

„Nein, warte“, hielt ich ihn in dem Vorhaben auf, die Klinke hinunterzudrücken. „Kann… gibt es nicht einen anderen Raum, in dem ich schlafen könnte?“

„Doch schon, ich dachte nur…“

Er schien ein wenig verwirrt.

„Ich finde es nicht richtig“, entschuldigte ich mich. „Er hat mir nie etwas über sich erzählt… vielleicht wollte er ja gar nicht, dass ich irgendetwas weiß. Und nun kenne ich seine halbe Lebensgeschichte, ich finde es einfach nicht gut, wenn ich ohne sein Einverständnis noch mehr erfahre.“

„Gott, wie nobel“, grinste er. „Ich denke, ich wäre da eher der neugierige Typ.“ Er lächelte, stupste mich leicht an. „Na komm, ich zeig dir das Gästezimmer.“

Es wäre so einfach gewesen, mehr über Ryan zu erfahren. Wie er früher war, was er gerne mochte. Vielleicht würde ich es irgendwann bereuen, diese Chance nicht wahrgenommen zu haben, aber jetzt hielt ich es für das Richtige.

„Kommst du?“

Ich stieß mich vom glatten Holz ab, folgte Lienn ein paar Türen weiter.

„Tadaa, das ist dann also das Gästezimmer.“

Er stieß die Tür auf, ließ mich hineinblicken.

„Ok, danke.“

„Nichts zu danken, der Herr. Haben Sie sonst noch irgendeinen Wunsch?“

„Nein, alles bestens“, lächelte ich.

„Ach, Chris….“

„Ja?“

Ich drehte mich um.

„Darf ich… diesen Abschiedsbrief mal sehen?“

Sofort fing mein Herz an zu rasen, vollkommen unklar, warum dies passierte.

„Natürlich.“ Ich kramte in meiner Jackentasche, ließ besagten Gegenstand zum Vorschein kommen. „Bitte.“

„Danke.“

Er nahm ihn mir ab und starrte eine Weile einfach nur hinauf.

„Ist was?“

„Verrückt, nicht wahr? Da habe ich nach sieben Jahren etwas von ihm in der Hand und was ist es? Ein Abschiedsbrief!“ Sein gequältes Lächeln konnte ich nur schwer erwidern. „Macht es dir was aus, wenn ich ihn hier lese?“

„Nein, gar nichts. Wenn du willst, kann ich ihn dir auch als singendes Telegramm vortragen, mittlerweile kenne ich ihn in- und auswendig.“

Ich ließ mich auf den kleinen Sessel am Tisch fallen, Lienn setzte sich mir gegenüber aufs Bett. Ich beobachtete ihn, wie er noch eine Weile auf den Umschlag starrte. Seine Hände zitterten leicht, als er es endlich in Angriff nahm, das Geschriebene aus seiner Hülle zu befreien. Und dann fing er plötzlich an die Zeilen laut vorzulesen. Nicht damit gerechnet, stockte mir für einen Moment der Atem. Seine Stimme verbunden mit den geschriebenen Worten, ließen mich ihn schmerzlich anstarren.
 

Ja, tue es ruhig, denn ich weiß genau, dass dir im Moment danach ist.

Verfluche mich! Hasse mich!

Es ist OK!
 

Es hört sich vielleicht nicht richtig für dich an, aber glaube mir, dass ich gut nachvollziehen kann, wie du dich jetzt fühlst.

Ich wollte nie, dass es soweit kommt, wollte dir niemals wehtun.

Ich wollte nicht, dass du dich in mich verliebst, doch spürte ich schon lange, wie du wirklich empfindest, wochenlang schleppte ich dieses Wissen mit mir rum.

Irgendwie wusste ich schon als ich dich kennenlernte, dass es dazu kommen würde, und mit jedem Tag, der verging, betete ich dafür, dass es endlich wieder aufhörte, dass wir einfach nur Freunde sein könnten.

Ich versuchte damit klarzukommen, aber letztendlich schaffte ich es nicht. Ich konnte es nicht ertragen, von dir geliebt zu werden, nein, besser gesagt, überhaupt geliebt zu werden, auch wenn es manchmal das war, was ich mir am sehnlichsten wünschte.
 

Ich trage viele Geheimnisse und Lügen mit mir herum, aber ich denke, dass dir das irgendwie schon klar ist.

Ich danke dir dafür, dass du niemals versucht hast, mehr über mich zu erfahren, mich niemals bedrängt hast, dir etwas über mich zu erzählen. Ansonsten hätte ich dich nämlich schon viel früher verlassen müssen. Und eigentlich war das das Einzige, worin ich mich sicher war, es nicht zu wollen.
 

Es tut mir leid! Entschuldige, für alles was du durchgemacht hast, noch durchmachen wirst, bis du endlich schaffst, zu vergessen…
 

Ryan
 

~ * ~
 

Am Abend danach saß ich stundenlang auf meiner Couch, schüttete den besten Wein, den ich zu Hause hatte, in mich rein und las seinen Brief immer und immer wieder.

Mit dem neuen Wissen hatte ich zwar vieles erfahren, doch war mir immer noch nicht klar, warum er so gehandelt hatte, warum hatte er mich all die Zeit über belogen?

Ich machte ihm keinen Vorwurf wegen Claire. Es war jung, unbekümmert, er hatte einen Fehler gemacht… das kam täglich tausende von Malen auf der Welt vor…

Das Telefon klingelte.

Schwerfällig erhob ich mich, was erwarte ich auch nach der zweiten Flasche Wein?

„Corban“, kam es mit einer schon lange nicht mehr ertönten Stimme.

„Hi Chris, ich bin’s…“ Das kann nicht sein, warum ausgerechnet jetzt? „...Lienn.“

„Kannst du… mal kurz warten?“

„Na klar.“

Ich schaltete Lienn in die Warteschleife, musste für einen Moment all meine Kraft zusammennehmen um nicht umzukippen. Mein Atem ging schwer… ich…

„Scheiße verdammt!“ Mit voller Wucht traf das Glas samt Inhalt auf die gegenüberliegende Wand. Ich folgte der Flüssigkeit ihren Weg zum Boden hinab… wenigstens war es ein Weißer gewesen.

Ich nahm den Hörer wieder auf, stellte die Verbindung wieder her.

„Ja?“

„Hast du Besuch? Stör ich gerade?“

„Nein, ich habe nur ne kleine Sauforgie mit mir als alleinigen Gast abgehalten.“

„Oh…“

„Also, was gibt es?“

Meine Beine schwankten leicht, ich stützte mich auf der Kommode ab.

„Ich wollte fragen, ob es dir was ausmacht, wenn ich rüber komme?“

„Rüber komme?“

„Ja, ich weiß, dass du mir zwar sofort bescheid sagen würdest, wenn du etwas Neues hörst, aber jetzt… ich will, will ihn selber suchen Chris. Ich kann einfach nicht blöde hier rumsitzen, nachdem ich weiß, dass er noch lebt. Verstehst du das?“

„Ja… ja natürlich verstehe ich das.“

Ein Schwindelgefühl überkam mich.

„Also nichts dagegen?“

„Nein, wieso sollte ich? Immerhin ist er dein Bruder, du hast wohl mehr recht nach ihm zu suchen als ich.“

„Ok, dann werd ich wohl am Mittwoch fliegen.“

„Soll ich dich abholen, am Flughafen mein ich?“

„Das wäre Klasse. Ich ruf dich dann noch mal wegen der Uhrzeit an.“

„Ok.“

„Chris?“

„Ja?“

„Wir werden ihn finden… wir müssen.“

„Müssen wir?“

Mir wurde schlecht.

„Ja.“

Doch was wollte ich ihm sagen, fragen, wenn ich ihm gegenüberstehen würde?
 

Part 04 - Ende

Auf der Suche!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 05
 

Blitzblank verließ ich am Mittwochnachmittag meine Wohnung. Zwei Tage hatte ich jeden noch so kleinen Winkel gewienert.

Wofür? Ehrlich gesagt hatte ich nicht die geringste Ahnung. Hier kam wohl nur wieder mal meine Perfektionistenader zum Vorschein.

Zum Glück war im Büro noch nichts von einem neuen Großauftrag zu erwarten, denn so konnte ich mir genügend Zeit für Lienn und die Suche nach Ryan nehmen. Kleinere Arbeiten konnte ich auch zu Hause erledigen.

Was ich mir von der Suche versprach? Ehrlich gesagt nicht gerade viel. Zu oft hatte ich mich schon selber auf die Suche nach ihm gemacht und Orte aufgesucht, an denen ich mir vorstellen konnte, dass er Unterschlupf gefunden hatte... Aber ich würde jeden einzelnen noch einmal aufzusuchen, wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, ihn wiederzusehen.
 

Ich mochte Flughäfen nicht besonders, keine Ahnung wieso. Vielleicht wegen der Masse an Menschen, dem Geruch, der Hektik, welche überall lauerte.

Das Fliegen allerdings liebte ich sehr. Als Kind war ich mal mit meinem Dad in einem Segelflugzeug geflogen... es war der reinste Wahnsinn gewesen.

Eine Durchsage folgte der nächste und während ich auf die Richtige wartete, kaufte ich mir einiges, das ich nur hier bekommen konnte, natürlich immer die Augen offen, schließlich konnte Ryan genauso hier wie an jedem anderen Ort der Welt sein.

Die Durchsage erfolgte, ich machte mich auf zu der passenden Empfangshalle. Es war schon ziemlich ironisch jemanden zu begrüßen, den man eigentlich wie verrückt suchte. Wenigstens brauchte ich in Lienns Anwesenheit kein Bild mehr von Ryan mit mir rumtragen, einfach nur auf ihn deuten und fragen: Haben sie diesen Mann gesehen?
 

Auf den Weg zu mir nach Hause kauften wir noch einige Lebensmittel, da ich zuvor keine Ahnung gehabt hatte, was Lienn so an Nahrung bevorzugte. Dass er ebenfalls auf diese ekligen Geleebonbons stand, verwunderte mich kein bisschen, Ryan konnte gar nicht genug davon bekommen.

„Eine schöne Wohnung, muss man dir lassen.“

Sein erster Rundumblick war nur oberflächlich.

Ich betrat die Küche, stellte zuerst die Tüten mit den Lebensmitteln ab und führte ihn dann ein Stückchen den Flur hinunter.

„Du kannst hier schlafen“, deutete ich auf das Arbeitszimmer, bei welchem es mich heute Morgen ziemlich viel Überwindung gekostet hatte, hineinzugehen und das Bett frisch zu überziehen.

„Danke, ich mach mich kurz frisch, ok?“

„Das Bad ist direkt hier“, zeigte ich auf die nächste Tür. „Hunger?“

„Ja, gerne.“

Er lächelte und in meinem Inneren zog sich alles zusammen.

War es wirklich eine so gute Idee gewesen, ihm anzubieten, bei mir zu wohnen? Vielleicht hätte ich doch dem Hotelvorschlag zustimmen sollen? Na ja, jetzt war es eh zu spät, ich konnte ihn ja schlecht wieder vor die Tür setzen, nur weil mich sein Lächeln ziemlich durcheinander brachte.
 

Den Rest des Abends verbrachte ich damit, mir Anekdoten aus Ryans Kindheit anzuhören, und auch ich selber konnte die ein oder andere zum Besten geben. Doch schwieg ich lieber und hörte Lienn zu.

Es war schon ein ziemlich seltsames Gefühl, hier mit ihm auf meiner Couch zu sitzen, doch umso mehr er sprach, umso genauer ich ihn beobachtete, fielen mir immer mehr Unterschieden zwischen ihm und Ryan auf. Gestiken, das komische Stirnrunzeln, welches Ryan öfters von sich gab, wovon aber bei Lienn nicht die kleinste Spur zu sehen war, oder die hektischen Handbewegungen, die Ryan niemals machte. Es waren nur Kleinigkeiten, doch halfen mir diese sehr, nicht verrückt zu werden.
 

~ * ~
 

Am nächsten Tag suchten wir zuerst den Ort auf, an dem ich Ryan damals aufgegabelt hatte. Natürlich glaubte ich nicht, dass er hier jemals auftauchen würde, außer er wollte gefunden werden. Doch ich schaffte es nicht, Lienn von dieser Befürchtung zu erzählen, ihm jetzt schon die Hoffnung zu nehmen.

Natürlich trafen wir ihn hier nicht an, fragten noch den ein oder anderen Bewohner der Umgebung, ob er Ryan gesehen hatte und zogen mit einigen komischen Angaben, die uns aber kein bisschen weiterhalfen, weiter.

Systematisch wollten wir vorgehen, und so gingen wir zur Stadtinformation und holten uns die Anschriften von allen Obdachlosenheimen und irgendwelchen Essenseinrichtungen, die die Stadt zu bieten hatte.

Die Liste war ziemlich lang. Ich hatte nie damit gerechnet, dass es so viele Anschriften dieser Art in der Stadt gab, und ich folgte Lienn in den nächsten zwei Tagen zu jeder Einzelnen von ihnen.

Viele gaben uns die Info, Ryan schon mal gesehen zu haben, aber nicht wussten, wo er sich momentan aufhalten würde. Einer behauptete, dass er jetzt in einer hübschen Apartmentwohnung eines Architekten leben würde... na, wer mochte das wohl sein?

Als nächstes fragten wir bei der Polizei nach, ob irgendjemand in Haft sitzen würde, auf den Ryans Beschreibung passt, eigentlich hätten wir damit anfangen sollen. Aber irgendwie glaubte ich nicht daran, dass er straffällig auffallen würde.
 

„Morgen sind dann die Krankenhäuser dran.“

„Gott, meine Füße bringen mich um... sag mal, was machst du eigentlich beruflich? Bist du Bergsteiger oder so etwas in der Art?“

„Ich bin in einer Anwaltskanzlei tätig.“

„Wirklich? Ist das nicht ein wenig trocken... ich meine, du kommst mir gar nicht so vor…wie ein Bürokratenhengst. Im Garten machst du eine viel bessere Figur.“

Ein schelmisches Grinsen überrannte meine Lippen.

„Du lachst, aber wenn du es wissen willst, würde mir das auch viel besser gefallen.“

„Warum dann Jura?“

„Ich dachte mir, wenigstens einer von uns, sollte doch Moms Wünsche erfüllen können.“

Eine bedrückende Stille trat ein.

„Lass uns schlafen gehen“, klopfte ich mir selber auf die Knie. „Morgen wird wieder ein langer Tag.“

„Nichts dagegen.“

Doch von Schlafen war bei mir nicht die Rede. Wie auch die Nächte zuvor, lag ich stundenlang im Bett, wälzte mich von einer Seite auf die andere und dachte immer wieder über die letzten Monate nach. Besonders irritierte mich aber immer noch die Tatsache, dass Ryan mich wegen der Sache mit dem Schwulsein angelogen hatte.

Weshalb? Ich meine, auch wenn er nichts von mir gewollte hätte... wieso war er nicht ehrlich zu mir gewesen und sagte einfach: „Sorry, aber du bist nicht mein Typ... aus uns wird nichts.“ oder irgendwas in der Art? Doch stattdessen kam er mit dem Geschwätz von wegen „Lieber Kerl“.

Ich wollte nicht lieb sein, ich wollte das haben, was ich mir wünschte, auf keinen Rücksicht nehmen müssen, um es zu bekommen... ich wollte ihn.
 

~ * ~
 

Ein Krankenhaus nach dem anderen strichen wir von unserer Liste. Meistens gab man uns die Auskunft, dass man uns keine Auskunft geben konnte. Wirklich hilfreich war das natürlich nicht, aber wir dachten uns, wenn Ryan in einer der Stationen liegen würde, hätte man uns bestimmt nicht so einfach wieder gehen lassen. Immerhin würden sie sich bestimmt darüber freuen, wenn jemand die Krankenhausrechnung bezahlen könne.

Wir betraten das Central Hospital, ein eher am Stadtrand liegendes Gebäude. Vor einem Jahr hatte unser Architektenbüro die neue Kuppel des Krankenhauses entworfen. Wir waren gerade erst einige Schritte hinein getreten, als uns ein freundliches Lächeln entgegen geworfen wurde.

„Hi Ryan.“

Nicht nur mir zog der Schrecken durch die Gliedmaßen. Ich griff nach dem Arm, der in einer rosa Uniform steckenden Krankenschwester.

„Heeeyyy...“, beschwerte sie sich über meinen ungewollten Kontakt.

„Entschuldigung, aber...“, ich ließ ihren Arm wieder los. „Kennen Sie dieses Mann“, deutete ich auf Lienn, verwirrt schaute sie mich an. Ihr Blick blieb an Lienn hängen, als stelle sie die Frage: „Soll ich sagen, dass ich dich kenne?“

„Wir suchen ihn... Ryan.“

Natürlich ließ der verwirrte Ausdruck mit dieser Aussage nicht wirklich nach, verstärkte sich eher noch.

„Das ist sein Zwillingsbruder... wir sind wirklich ganz dringend auf der Suche nach Ryan“, flehte ich.

„Bitte, wenn Sie wissen, wo mein Bruder ist, dann...“, mischte sich nun auch Lienn ein.

„Ich... nein, ich weiß leider nicht, wo er ist.“

„Woher kennen Sie ihn denn, war er hier Patient?“, forschte ich nach.

„Nein, ich kenne ihn vom Blutspendedienst aus der 22sten. Ich arbeite dort zweimal in der Woche freiwillig und Ryan kenne ich... na, halt vom Blutspenden.“

„Können Sie uns sagen, wann Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?“

„Muss man dort keine Anschrift abgeben?“

Wir waren Feuer und Flamme.

„Nein, keine Anschriften und das letzte Mal, sah ich ihn vor… gut fünf Wochen, wenn ich mich nicht irre.“

„Fünf Wochen? Warum sollte er... da war er doch noch bei mir?“

„Ach so... dann müssen Sie Chris sein?“

Ihr Gesicht erhellte sich freudig.

„Ja“, antwortete ich verblüfft.

„Es freut mich wirklich, Sie mal kennenzulernen, Ryan hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ihre Freundlichkeit, dass Sie ihn einfach so aufgenommen haben und so... ich war sichtlich beeindruckt, dass es noch solche Menschen auf der Welt gibt. Es sollte mehr wie Sie geben“, strahlte sie immer noch mit sich selber um die Wette.

„Können Sie uns denn irgendetwas sagen, das uns weiterhelfen kann, ihn zu finden?“, fragte Lienn.

„Nein, aber in einer Woche sind wieder sechs Wochen um. Ryan kam alle sechs Wochen zum Spenden. Vielleicht schauen Sie einfach mal vorbei... vielleicht haben Sie ja Glück.“
 

Mit einer Adresse verließen wir wenig später das Central wieder. Es fühlte sich komisch an, ihm so nahe zu sein, jemanden gefunden zu haben, der mehr von ihm wusste als nur wie er aussah, und sie wusste über mich bescheid, er hatte von mir erzählt... Aber warum war er weiterhin dorthin gegangen? Sparte er Geld zusammen, hatte er schon länger vorgehabt zu gehen?
 

~ * ~
 

Tage, die nur so dahin schlichen. Zwar machten wir weiterhin unsere Runden durch die Stadt, doch hatten wir unsere ganze Hoffnung auf diese zwei Tage gelegt, an denen Ryan laut seinen Gewohnheiten beim Blutspendedienst auftauchen sollte.

Wenn wir einmal nicht durch die Stadt hetzten oder gerade einen interessanten Punkt erreicht hatten, verbrachten wir ein wenig Zeit mit Essen gehen, einem Museumsbesuch oder sogar einmal Kino. Es fühlte sich fast so an, als würden wir eine riesige Stadtrundfahrt mitmachen, die niemals enden wollte.
 

Wieder einmal daheim, erwarteten mich vier Meldungen auf meinem Anrufbeantworter. Drei Mal fand meine Mom es nötig, sich bei mir zu melden, um mich an die Hochzeit von Tante Susan in zwei Wochen zu erinnern, der andere Anrufer war David.

Ich hatte mich schon ziemlich lange nicht mehr bei ihm gemeldet, aber ich wollte ihm im Moment nichts erklären müssen, keine Rechenschaft über mein Tun ablegen... also rief ich ihn nicht an.

Ich fischte die Reste vom gestrigen Essen aus dem Kühlschrank, erwärmte sie in der Mikrowelle.
 

„Was willst du ihm eigentlich genau sagen, wenn du ihn wieder siehst“, fragte ich mit halbleerem Mund.

„Keine Ahnung, ich habe mir nichts zurecht gelegt, wenn du das meinst. Er ist mein Bruder, irgendwie hoffe ich, dass es nicht wirklich nötig ist, viele Worte zu benutzen.“

„Denkst du, er will wieder nach Hause kommen?“

Meine Gabel glitt wieder abwärts. Wenn es so kam, würde ein Zusammensein mit ihm auch unmöglich für mich werden.

„Nein, dafür hatte er zu viel Freiheit, um nun wieder mit unserer Mom unter einen Dach leben zu müssen. Aber ich hoffe, dass er wenigstens ab und zu mal vorbei kommt, anruft, uns wissen lässt, dass es ihm gut geht... mehr nicht... Und du? Was erhoffst du dir?“

„Alles und gleichzeitig gar nichts. Einerseits wünsche ich mir natürlich, ihn auch von einer anderen Seite kennenzulernen, andererseits bin ich mir eigentlich sicher, dass es niemals so kommen wird.“

„Wieso gehst du so negativ an die Sache ran?“

„Was soll ich sonst tun? Wenn er sich irgendwas mit mir hätte vorstellen können, dann wäre er doch nicht weg gegangen, oder? Er hatte doch die Gewissheit, dass ich ihn wollte. Wenn er es also…wäre er doch nicht gegangen.“

„Ich weiß nicht...“

„Lass uns nicht darüber spekulieren“, wurde ich ein wenig schroff, es hatte doch sowieso keinen Sinn darüber nachzudenken.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht verärgern.“

„Schon ok... Ich mach dann mal den Abwasch.“

Ich stand auf, sammelte die Teller ein.

„Soll ich dir helfen?“

„Nein, schon gut... ist fast so wie ne Art Therapie für mich.“
 

~ * ~
 

Punkt 8.00 Uhr am nächsten Morgen standen wir vor dem Eingang des Blutspendedienstes. Den ganzen Tag über konnte man hier vorbei kommen und anderen Leuten mit einer Spende vielleicht das Leben retten und dafür Geld und eine Mahlzeit einheimsen. Also stellten wir uns auf einen langen Tag des Wartens ein.

Maggy, die Schwester aus dem Krankenhaus, die ebenfalls heute hier war, spannte uns auch direkt als Hilfskräfte mit ein, und wir durften irgendeine Brühe, die sich Suppe schimpfte, auf Schüsseln verteilen. Ich kam nicht drum herum, dass komisch aussehende Gebräu zu probieren. Angeekelt verzog ich das Gesicht.

„Und?“

„Ekelhaft... ich komm gleich wieder.“

Ich ging nach hinten und durchwühlte die Küche nach etwas brauchbaren.

„Was tust du?“

Lienn schaute mir perplex zu.

„Nicht fragen, schälen“, drückte ich ihm eine Knolle in die Hand.

„Was soll das denn werden?“, fragte nun auch die Dame nach, die für diesen Götterfraß zuständig war.

„Ein kleines, menschliches Experiment.“

Nur ein kleines „Pfff“ bekam ich darauf zur Antwort, ehe sie sich wieder umdrehte und verschwand. 20 Minuten später hatte ich es tatsächlich geschafft, dieses Zeug genießbar zu machen.

Und gerade in diesem Moment, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und Ryan stand im Raum.

Ich stieß meinen Nachbarn leicht in die Rippen, bis auch er seinen Blick in Richtung Tür wendete.

„Gott, das gibt’s ja nicht“, sprach er seine Verblüffung vor mir aus, denn genau wie ich selber, hatte er, trotz allen Hoffens, nicht wirklich mit dieser Möglichkeit gerechnet.

Doch was jetzt?

Was ihm sagen, fragen... was sollten wir eigentlich tun? Doch eh ich mich überhaupt für irgendwas entscheiden konnte, lief Lienn um die Theke herum, streifte sich das blöde Haarnetz vom Kopf und ging auf Ryan zu. Ich wartete nicht lange, folgte ihm.

Und es passierte alles in Sekunden: Ryan sah Lienn, konnte den Kontakt vor Verwunderung wohl erst einmal nicht abbrechen. Dann traf sein Blick auf mich, als ich neben seinem Zwilling zum Stehen kam... und dann, rannte er einfach hinaus.

Panik stand in seinen Augen geschrieben und ich wollte ihm noch hinterher rufen, schaffte aber nicht, auch nur einen Ton herauszubringen. Dafür war es Lienn, der ihm wie wild hinterher schrie, sagte, dass er nicht vor ihm wegrennen solle.

Endlich schaffte auch ich mich zu rühren und wir folgten ihm, traten wie er auf die Straße. Ungläubig schaute er sich zu uns um, pure Verzweiflung war in ihm zu erkennen, während ich das Motorrad auf ihn zurasen sah...
 

Part 05 – Ende

Eine neue Chance?

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 06
 

Wir kamen nur Minuten später beim Krankenhaus an. Die Notaufnahme war gerappelt voll, aber weit und breit war keine Hektik oder Aufregung, verursacht durch einen Verkehrunfall, wahrzunehmen.

„Gerade ist ein Verkehrsunfall reingekommen“, stürzte ich zur Anmeldung vor.

„Wir haben zwei Verletzte. Fahrer ode-“

„Nein, der andere.“

„Wie lautet der Name des Mannes?“, wollte die Frau wissen.

„Ryan. Sein Name lautet Ryan Byncks.“

„Sind Sie mit dem Patienten verwandt oder waren beim Unfall beteiligt?“, sprach man ruhig von der anderen Seite der Theke und vielleicht war es gerade diese Ruhe, welche mich zum Ausflippen brachte.

„Sagen Sie mal, sind Sie blind, Sie blöde Kuh. Dies ist sein Zwillingsbruder, haben Sie keinen Augen im Kopf?“, deutete ich auf Lienn, der knapp einen Schritt hinter mir stand.

„Sir, Sie müssen wahrlich unter Schock stehen, aber dies ist noch lange kein Grund, beleidigend zu werden“, kam es wieder in diesem unbesorgten, ruhigen Ton. Am liebsten wäre ich ihr an die Gurgel gesprungen, aber mein bisschen funktionierender Verstand verriet mir, dass ich damit nur noch weniger erreicht hätte.

„Bitte füllen Sie dieses Formular aus.“

Sie legte ein Klemmbrett mit Stift vor mir auf den Tresen, drehte sich weg und flüsterte etwas einer anderen Schwester zu.

„Wo ist er?“, schrie ich ihr hinterher. „Geht es ihm gut?“

Sie kam wieder zurück.

„Bitte schreien Sie hier nicht so herum. Er wird gerade untersucht. Bitte füllen Sie jetzt das Formular aus“, schob sie dieses noch einige Zentimeter näher an mich heran.

Ich nahm mich des Klemmbrettes an. Doch schon alleine das erste Kästchen, das Hineinschreiben seines Namens, brachte meine Hand nicht fertig. Sie zitterte so heftig, dass ich es nicht einmal schaffte, einen einzigen Buchstaben auf das Papier zu bringen. Konzentrier dich… komm schon… doch vor Wut auf mich selbst landete das Klemmbrett laut schmetternd an der gegenüber liegenden Wand.

„Ich darf doch sehr bitten. Zwingen Sie mich nicht, den Sicherheitsdienst zu rufen!“, wurde die ruhige Stimme endlich aus ihrer Reserve gelockt.

„Entschuldigung“, ging ich hinüber und nahm das Klemmbrett wieder an mich. Zu meiner Entlastung war das Zittern verschwunden, und so machte ich mich daran, die Informationen einzutragen. Jedoch stoppte ich schon wieder nach einigen Worten unwissend …

„Wie ist seine Blutgruppe?“, fragte ich immer noch aufs Blatt schauend. Als ich keine Antwort bekam, schaute ich auf, neben mich.

„Lienn? Wie ist seine Blutgruppe?“

Das Entsetzen in seinen Augen nahm ich erst jetzt war. Zuvor hatte ich es wahrscheinlich wegen meines eigenen Zustands nicht mal bemerkt. Auch wurde mir erst jetzt klar, dass er seit dem Unfall kein einziges Wort gesprochen hatte, sich auf keinste Weise ausgedrückt.

„Lienn?“, legte ich das Klammbrett ab. „Komm schon“, zog ich ihn an mich. „Es wird bestimmt alles wieder gut“, verschluckte ich mich beinahe an meinen eigenen Worten und unterdrückte die aufkommende Verzweiflung. Wenigstens einer von uns musste das hier jetzt durchziehen. „Aber wir müssen das jetzt ausfüllen… danach erfahren wir bestimmt mehr…“

„Was mache ich nur, wen-“

„Dazu wird es nicht kommen, hörst du… Und jetzt, sag mir seine Blutgruppe.“

Ich ließ von ihm ab. Eigentlich hatte ich mit Tränen gerechnet oder wenigstens mit einem traurigem Ausdruck in seinem Gesicht, aber da war nichts… rein gar nichts. Er sah mich nur an als würde er zwischen hier und einer ganz anderen Welt gefangen sein.

„A… A positiv“, sprach er dennoch. „Genau wie ich“, fügte er noch hinzu.

Ich übertrug das neue Wissen aufs Blatt. Fragen zu Vorkrankheiten, Drogen, Aids und der idiotischen Frage, ob er homosexuell war, ignorierte ich einfach.

„Hat er Allergien?“

„Nein.“

Als Adresse gab ich einfach meine eigene an, wer im Notfall zu unterrichten war, ebenfalls mich und bei der Art der Versicherung notierte ich meine Kreditkartendaten. Fertig, zog ich Lienn mit mir zum Tresen.

„Vielen Dank“, nahm man die Daten entgegen.

„Können Sie uns schon Näheres sagen?“

„Das ist eigentlich Aufgabe des Doktors. Aber… es besteht keine Lebensgefahr zu diesem Zeitpunkt und-“

„Was meinen Sie damit, zu diesem Zeitpunkt?“, erhöhte die Furcht meine Stimmlage.

„Tut mir leid, aber ich kann nun einmal nur Informationen mitteilen, die mir bewusst sind… Er wurde in der Notaufnahme erstversorgt und stabilisiert und geht gleich in die erste Etage zum Röntgen und zur Computertomographie ho-“

„Können wir zu ihm?“, schnitt ich ihr ins Wort.

„Erst wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind. Aber Sie können gerne im Warteraum in der ersten Etage warten, in die Notaufnahme kommt er eh nicht mehr runter. Ich werde oben bescheid sagen, dass Sie kommen.“
 

Im Warteraum in der ersten Etage wurden die Lücken, welche durch die Ruhe des Raumes entstanden waren, wieder mit anderen Gedanken gespeist.

Der Unfall, immer wieder sah ich ihn vor mir. Wie das Motorrad auf ihn zuraste, er es im letzten Moment sah und versuchte ihm auszuweichen, indem er sich bückte… Warum war er nicht zur Seite gesprungen? Es wäre so einfach gewesen.

Der Fahrer hatte keine Zeit oder Möglichkeit gehabt dem auszuweichen, knallte genau auf den gebückten Körper. Durch den Aufprall wurde die Maschine führerlos, fiel zu Boden, doch das angetriebene Hinterrad drehte sich seitwärts und streifte an der sich bietenden Haut entlang. Bilder… nie wieder werden sie verschwinden… die Knochen… sie ragten aus seinem Bein hinaus. Blut, verschmiert mit den Resten der zuvor vorhandenen Kleidung. Doch das Allerschlimmste war, dass er sich nicht mehr bewegte, einfach nur dalag… still!

Warum war er nur weggerannt? War das alles meine Schuld? Er hatte Lienn gesehen und sich nicht bewegt, ihn nur entgeistert angesehen. Erst als ich dazu kam, rannte er weg. Hätte ich nur Sekunden länger gezögert, wäre das Motorrad an dem Gebäude vorbeigefahren, ohne das irgendetwas passiert wäre…

Fragen über Fragen, Vorwürfe, Schuldzuweisungen… endlose Grübelei, welche erst endete, als zweieinhalb quälende Stunden später ein Arzt auftauchte.

„Sind Sie die Angehörigen von Mr. Byncks?“

„Ja.“

„Das Beste natürlich zuerst: Mr. Byncks schwebt nicht in Lebensgefahr, ist schon wieder zu sich gekommen und auch ansprechbar.“

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, ich hätte anfangen können zu weinen.

„Im Unterschenkel des linken Beines haben wir eine komplizierte offene Fraktur mit geringer Weichteilbeschädigung. Außerdem im Oberschenkel desselben Beines eine weitere geschlossene Fraktur. Eine gebrochene Rippe auf der linken Seite, sowie mehrere großflächige, tiefer liegende Hautabschürfungen auf der gesamten linken Körperhälfte und eine Gehirnerschütterung. Im Großen und Ganzen hatte er eine menge Glück.

„Und… was bedeutete das jetzt alles?“

Mit dem linken Bein gehen wir heute noch in den OP. Wir werden im oberen Bereich mit Schrauben und einer kleineren Platte arbeiten, da wir wegen dem Unterschenkel auf einen Gipsverband verzichten müssen. Am Unterschenkel werden wir mit einer Interfragmentären Kompression mit Zugschrauben und einen äußeren Spanner vorgehen, um das Bein auf lange Sicht wieder voll funktionstüchtig zu kriegen.“

Wieder funktionstüchtig zu kriegen? Was sollte das bedeutet? Konnte er nicht laufen, könnte es sein, dass er an den Rollstuhl gefesselt sein würde?

„Was uns allerdings noch ein wenig Sorgen bereitet“, fuhr er fort. „…ist ein kleines Blutgerinsel. Wir konnten die Quelle noch nicht ausfindig machen aber zum Glück scheint es sich nicht zu vergrößern. Wir werden es genau beobachten, haben aber gute Hoffnung, dass es sich von alleine wieder auflöst. Sollte es sich allerdings verschlimmern, werden wir auch hier operativ vorgehen müssen. Wenn Sie noch irgendwelche Fragen haben, wird sich Schwester Horris gerne um Sie kümmern. Ich muss jetzt zum Patienten in den OP.“

Und damit verließ uns der mächtige Mann in weiß.

„Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?“

Die Schwester trat an uns heran.

„Wann können wir zu ihm?“, versuchte ich alle anderen Gedanken zu verdrängen.

„Die Operation wird bestimmt einige Stunden dauern und darüber hinaus sind die Besuchzeiten für heute schon vorüber. Es ist das Beste, wenn Sie nach Hause gehen würden und sich etwas ausruhen. Morgen zwischen acht und sechs können sie jederzeit wiederkommen.“

„Aber-“

„Glauben Sie mir“, legte sich ihre Hand auf meinen Arm. „Es ist wirklich besser, wenn Sie nach Hause gehen und sich ausruhen würden.“

Sie lächelte, und als sie sich wegdrehte, hielt ich sie auf.

„Bitte…“, zog ich eine Visitenkarte von mir hervor. „Wenn irgendetwas ist, irgendetwas… rufen Sie mich bitte an.“

„Versprochen“, nahm sie die Karte entgegen.

„Vielen Dank.“
 

Mit dem Taxi am Apartment angekommen, schlugen schon wieder die vorwerfenden Gedanken um sich. Am liebsten würde ich irgendetwas zerstören oder schreien, jedoch hielt mich die Anwesenheit von Lienn zurück.

Ich fragte mich, während wir wie angewurzelt im Wohnzimmer standen, weshalb ich nicht schneller gewesen war. Warum hatte ich ihn nicht noch wegstoßen können, wieso musste er es sein? Warum war es mir nicht erlaubt, jetzt dort zu liegen?

Apathisch folgte ich den Flur entlang, ich schaffte es nicht mehr, mich aufrecht zu halten. Ich wollte nur noch fallen, tief fallen. Mit letzter Kraft erreichte ich mein Bett und stürzte hinauf. Neben mir gab es ebenfalls eine Bewegung, während ich die Augen schloss und wenigstens kurz der Hoffnung erliegen konnte, nun einfach einzuschlafen und wenigstens bis zum nächsten Morgen alles zu vergessen. Doch nur Sekunden später brachten mich aufschluchzende Laute dazu, mich umzudrehen und die trauernde Person in meinem Bett an mich zu drücken.

Natürlich ging es mir nicht gerade gut dabei, schon allein weil ich das Gefühl hatte, nicht selber diesen Weg gehen zu können, stark zu sein, damit sich ein anderer besser fühlte. Aus anderer Sicht war es aber auch ein Zeichen, dass er endlich wieder zurück gefunden hatte, nicht mehr nur mit starrendem Blick aufwartete.

„Ich… ka… nn ihn… doch nicht auch…. noch ver… lieren“, brach seine Stimme immer wieder. „Dad, Claire und jetzt…“

„Psst“, streichelte ich ihm durchs Haar. „Du hast doch gehört… es geht ihm soweit gut“, versuchte ich auch mich selber zu beruhigen.

„Und was wenn nicht?“, löste er sich von mir und schrie urplötzlich auf. „Was wenn sich dieses Blutgerinsel vergrößert, sie nicht… was dann?“, flossen ihm die Tränen die Wangen hinunter.

„Nichts dann“, zog ich ihn wieder zurück. „Das wird niemals passieren“, presste ich ihn so feste an mich, dass mir schon selber die Knochen schmerzten. Das durfte einfach nicht passieren, ich hatte ihm noch so viel zu sagen.
 

~ * ~
 

Dass die Nacht den wahren Horror abzeichnete, brauchte ich beim Frühstück nicht zu erwähnen. Zu genau wussten wir beide, dass keiner von uns genügend Schlaf erhalten hatte. Mager fiel unser Frühstück aus, nur ein paar Cornflakes schaffte ich mir hineinzuwürgen. Zu groß war die Nervosität, ihn nach der mir endlos erschienenden Zeit wiederzusehen. Ihm gegenüberzustehen mit so vielen Fragen in mir drin und nicht zu wissen, womit ich sofort aufwarten sollte und welche besser wären, erst einmal nicht gefragt zu werden.

„Hast du deine Mom angerufen?“, versuchte ich mich abzulenken.

Ein leichtes Kopfschütteln als Antwort, den Blick gesenkt. Wenn es mir schon so schlecht ging, wie musste es ihm dann erst gehen?

„Soll ich es tun?“

„Nein…“ Er blickte auf und es fiel mir schwer, ihn anzusehen. Seine Augen waren gerötet, er sah müde, angespannt aus. Vermutlich genau wie ich selber. „Sie soll es noch nicht erfahren… es ist besser so. Sie würde es nicht schaffen, ein Krankenhaus zu betreten.“ Er stand auf. „Ich schaffen es ja kaum.“ Er stellte seine Schüssel in die Spüle und rieb sich leicht über den Bauch. „Dad… er lag mit Krebs im Krankenhaus. Endstadium als es entdeckt wurde. Zwei elfjährige Jungen und ein kleines Mädchen dazu verdammt, wochenlang im Krankenhaus bei ihrem sterbenden Vater zu verweilen, dafür zu beten, dass alles vielleicht doch noch eine gute Wendung nimmt. Mit anzusehen zu müssen, wie er Blut spuckte, wie er versuchte, um Luft zu ringen… mit jedem Tag ein wenig mehr dahinraffte. Mein Gott, wie waren kleine Kinder…“ Er spielte nervös mit seinen Fingern. Schaute sich beinahe so um, als würde er nach einem Fluchtweg Ausschau halten.

„Und dann Claire… Mutter weigerte sich das Krankenhaus ohne den Autopsiebericht zu verlassen, verlangte jegliche Art von Test. Sie konnte es nicht verstehen, wie Gott, an welchen sie so sehr glaubte, ihr noch einen geliebten Menschen nehmen konnte. Zwei Tage verbrachten wie im Krankenhaus bis sie erschöpft zusammenbrach.“

Mittlerweile war ich näher an ihn heran getreten und hatte meine Schüssel ebenfalls weggestellt.

Ich hätte Mitleid für ihn empfinden müssen, ihm etwas sagen, damit es ihm besser ging, doch ich war zu müde, zu erschöpft, erdrückt und immer noch geschockt. Dutzende von Synonymen könnte ich für meine Situation finden…

„Machen wir uns auf den Weg“, forderte ich ihn auf und er nickte.
 

Im Krankenhaus landeten wie nach einigem Hin und Her im Nordflügel, 3. Etage, Zimmer 241, doch weiter als vom Flur aus auf besagte Tür zu schauen, drangen wir nicht vor.

„Mr. Byncks wünscht niemanden zu sehen. Weder Familie, Freunde oder sonst wem“, erläuterte uns eine Schwester auf der Station. „Doch wurde mir erlaubt kurz auf seinen momentanen Gesundheitszustand einzugehen. Soll ich fortfahren?“

Innerlich kochte ich vor Wut. Was bitteschön dachte er sich bei dem Scheiß? Gut, dass er mich nicht sehen wollte… irgendwie hatte ich sogar damit gerechnet, dass dies der Fall sein würde. Aber seinen Bruder?

Lienn hatte sich weggedreht, lief einen kleinen Kreis ab und murmelte leise etwas vor sich hin.

„Ja“, wandte ich mich wieder der Schwester zu.

Sie blätterte in ihren Unterlagen und gab bereitwillig Auskunft über die Operation, welche gut verlaufen war. Sie erzählte von dem Blutgerinsel, welches sich bereits fast aufgelöst hatte, und erklärte, dass es keinerlei Sorge um den Patienten gäbe.

„Sagen Sie ihm“, sprach ich, als sie ihre Ausführungen beendet hatte. „Dass ich nicht weggehen werde.“ Ihr Blick wurde intensiver. „Ich werde hier sein, jeden Tag… Sagen Sie ihm das?“

Sie nickte.
 

Der Freitag verlief zunächst mit weiteren Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen in jeglichen Richtungen meines Denkens und mein Blick starr auf die Tür von Zimmer 241 gerichtet.

Jedes Mal, wenn sie sich öffnete und eine Schwester oder ein Pfleger hinein oder hinaus ging, hoffte ich auf einen kleinen Blick, wollte ihn sehen und bat innerlich darum, dass jemand auf mich zukommen und mir eine Nachricht überbringen würde. Doch nichts geschah bis zum Ende der Besuchszeit.
 

Das Wochenende verlief nicht groß anders. Die mitleidenden Blicke der Schwestern ließen allerdings langsam nach und niemand fragte mehr, ob man uns behilflich sein konnte. Wir waren fester Bestandteil des Warteraums auf der Station geworden.

Die Zeit, in der wir bei mir zu Hause waren, wurde nur noch zum Schlafen, Umziehen und etwas warmes Essen genutzt, und mit den vergangenen Tagen schaltete Lienn wieder auf normal, und auch ich fühlte mich von Tag zu Tag wieder besser. Es war ein nervenaufreibendes Vorhaben. Nicht nur ein Mal hatte ich den Wunsch, vor Ungeduld alles hinzuschmeißen und zu gehen, doch etwas in mir drin sagte mir, dass ich damit alles zerstören würde. Ich würde die letzte Verbindung zu ihm abbrechen, könnte ihn endgültig verlieren. Also blieb ich.
 

Den Montag gestaltete ich mir ein wenig abwechslungsreicher, indem ich mir etwas Arbeit mit ins Krankenhaus nahm, und auch Lienn deutete an, dass er irgendwann mal wieder zurück nach Hause müsse. Ewig konnte er sich auch nicht frei nehmen.

Wir ließen Ryan Nachrichten überbringen, hofften, dass er nur ein wenig Zeit benötigte und irgendwann schon mit uns reden würde. Er sollte wissen, dass wir immer noch da waren, bei ihm sein wollten.

Eine etwas andere Abwechslung bot sich, als eine Schwester an mich heran trat und mich in die Rechnungsabteilung bat: „Es fehlen wohl noch einige Unterschriften.“

Doch Lienn hielt mich auf und wollte die Angelegenheit selber regeln.

„Unsere Mom hat es nicht fertiggebracht, Ryans Krankenversicherung zu kündigen. Die wird sich schon um die Angelegenheit kümmern“, versicherte er mir und machte sich auf den Weg in die Rechnungsabteilung.
 

Am Mittwochabend, gerade zurück aus dem Krankenhaus, eröffnete mir Lienn, dass er morgen wieder nach Hause fahren würde. Seine Mutter müsse endlich erfahren was los sei, und auch der Arbeit könne er nicht länger fernbleiben.

„Außerdem…“, fuhr er fort, „scheint dies hier ja eh nicht viel Sinn zu machen.“

Natürlich wollte ich ihm widersprechen, damit in mir drin die Hoffnung nicht erstarb. Ich wollte ihm begreiflich machen, dass er wahrscheinlich nur ein wenig Zeit brauchte, jedoch brachte ich kein Wort heraus.

Ich versprach mich zu melden, sobald sich irgendetwas ergab, dass eine Nachricht wert sei, und betrat am Donnerstagmorgen alleine das Krankenhaus. Zuvor war ich noch kurz im Büro vorbeigefahren.

Angekommen ließ ich Ryan die Mitteilung zukommen, dass Lienn wieder zurück nach Hause geflogen sei. Keine Ahnung, warum mir dies wichtig erschien… vielleicht hoffte ich auch nur, dass es nun einfacher für ihn sein würde, mir gegenüberzutreten und mich zu ihm vorzulassen.

Jedoch hoffte ich den ganzen Tag vergebens, starrte ohne erwartete Erleichterung auf Tür 241, und am Abend fühlte ich mich leer wie schon lange nicht mehr.

Es war nicht nur die Abweisung an sich oder überhaupt zu wissen, allein zu sein… dazu kam noch dieses ohnmächtige Gefühl, nichts tun zu können, was die Situation verbessern würde. Und dieses lange, vergebene Warten, das einen innerlich fertig machte… irre werden ließ. Ich weinte mich in den Schlaf.
 

~ * ~
 

Den Freitag hielt ich unglaublicher Weise ziemlich gut durch. Vielleicht hatte mir das Weinen der vergangenen Nacht dabei geholfen, wieder neue Kraft zu finden. Ich fühlte mich wenigstens wie von schweren Lastern befreit.

Meiner Mutter hatte ich ein für allemal zu Verstehen gegeben, dass ich kein Interesse an der bevorstehenden Hochzeit hatte und auch David versicherte ich, dass soweit alles in Ordnung mit mir sei. Mehr gab ich nicht preis und hielt mich ziemlich kurz.
 

Am Samstag brachte ich frische Donuts für die Schwestern der Station mit. Mittlerweile kannte man sich, erzählte voneinander und scherzte miteinander. Gegen Mittag brütete ich gerade über dem neuen Flügel eines Museums, als Nancy an mich herantrat.

„Chris?“

„Ja?“, ließ ich den Bleistift sinken.

„Er will Sie jetzt sehen“, lächelte sie mich an.

Zuerst wollte ich nachfragen, ob sie sich gerade einen schlechten Scherz mit mir erlaubte, doch in ihrem Blick konnte ich deutliche Freude erkennen.

„Wirklich?“, fragte ich dennoch nach.

Sie nickte.

„Ich…“

Ich schaute aufs Blatt, hantierte ungeschickt mit Papier und Stiften herum.

„Geben Sie her“, entnahm sie mir die Utensilien. „Ich passe schon drauf auf. Gehen Sie nur“, lächelte sie erneut und ich stand auf.

Meine Beine fühlten sich schwer an, so als würden sie Unmengen dieser Beingewichten an sich hängen haben… als wollten sie diesen Gang nicht gehen wollen. Trotzdem setzte ich Schritt für Schritt fort, eine weitere Schwester schenkte mir ebenfalls ein freundliches Lächeln, welches ich nicht schaffte zu erwidern. Angst war kein Ausdruck, eine regelrechte Panik erfasste mich.

Warum wollte er mich jetzt sehen? Was wollte er mir sagen… was sollte ich ihm sagen? Was würde ich zu sehen bekommen, wenn ich durch Tür 241 trat, was zu hören? Würde auch er mir Vorwürfe machen? Würde er mich verfluchen, weil ich es gewagt hatte, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen?

Ich kam vor der Tür zum Stehen, spürte einige Blicke auf meinem Rücken. Ich schluckte so hart, dass ich das Gefühl hatte, würgen zu müssen, und obwohl ich anfing zu zittern, schaffte ich es, die Türklinke zu ergreifen und sie hinunterzudrücken. Vorsichtig stieß ich die Tür auf, beließ meinen Blick gesenkt, durchschritt die Tür und ließ sie leise wieder ins Schloss fallen. Ich atmete tief ein und hob den Blick.

Zuerst nahm ich das leicht nach oben angewinkelte Bein wahr, das am unteren Teil von einem stählernen Eisengerüst umzingelt schien. Des Weiteren nur eine aufgebäumte Bettdecke und ein Kopf, welcher in Richtung Fenster schaute. Dass er mich nicht ansah, machte mich plötzlich wütend, wenigstens dies war er mir doch schuldig, oder? Immerhin war ich hier, wollte für ihn da sein.

Ich ging näher heran, mit jedem Schritt darauf gefasst, vielleicht neue Verwundungen zu erkennen. Mich davor mahnend, nicht darauf erschrocken reagieren zu wollen, kühl zu wirken und wenigstens zu erfahren, warum er mich die ganze Zeit über angelogen hatte.

Als ich das Bett erreichte, wandte er sich blitzartig um. Aus dem Schrecken heraus wollte ich zurücktreten, doch seine Hand griff nach meinem Arm. Seine Augen funkelten mich ernst und entschlossen an und seine ausgetrockneten Lippen formten auffordernde Worte:

„Du musst mich hier raus holen!“
 

Part 06 – Ende

Wieder da...

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 07
 

„Du musst mich hier raus holen!“, sollte das wirklich alles sein, was er mir zu sagen hatte?

„Lass mich los“, erwiderte ich ihm darauf und seine Hand glitt zurück auf die Bettdecke.

Erst jetzt kam ich dazu, mir ein genaueres Bild von ihm zu machen. Die großflächige Verkrustung auf seiner linken Gesichtshälfte, die Haare etwa ein Drittel nach oben wegrasiert. Das Gerüst um sein Bein herum… Metall bohrte sich in das Fleisch hinein. Mir wurde flau im Magen, ich drehte mich weg.

„Bitte“, interpretierte er mein Wegdrehen wohl als Davongehen.

Ich versuchte tief einzuatmen, meinen Magen zu beruhigen, doch ließ ich alles nur noch schlimmer werden. Der penetrante Geruch von Krank fraß sich in mich hinein. Gerüche von Jod oder irgendetwas anderem ließen mich dumpf aufstoßen. Das Bild vor Augen von durchbohrtem Fleisch… es drehte sich alles…
 

„Chris? Chris… geht es wieder?“

Ich öffnete sprungartig die Augen.

„Was ist passiert?“

„Ganz ruhig“, drückte man mich zurück nach unten.

„Wo bin ich?“

Verwirrt schaute ich mich um. Grelles Licht, weiße Wände, die bekannten Deckenlampen… Ich war immer noch im Krankenhaus, aber nicht mehr…

„Sie sind in der Schwesternstation. Geht es denn wieder?“, half man mir nun vorsichtig auf.

„Ich bin umgekippt?“

„Ja, wahrscheinlich der Stress und das schlechte Essen der Kantine“, versuchte man witzig zu sein.

Man bot mir ein Glas Wasser an, welches ich dankend annahm.

„Bleiben Sie erst einmal noch ein wenig hier sitzen. Wir werden Ihnen dann gleich auch noch eine kleine Spritze geben, damit sich Ihr Blutdruck stabilisiert.“

„Danke.“

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, mir den ganz normalen Krankenhausalltag einmal von der anderen Seite des Tresens anzuschauen. Medikamente mussten vergeben werden, Anweisungen unterzeichnet, Röntgenbilder abgeheftet und immer wieder Rücksprachen mit zuständigen Ärzten abgehalten werden. Ich versuchte alles andere erst einmal zu ignorieren, immer wenn ich mich gedanklich zurück in dieses Zimmer bringen wollte, wurde mir schlecht.

„Ich möchte mit seinem Arzt sprechen“, durchfuhr es mich schließlich.

Besorgt wurde ich angeschaut.

„Kann ich bitte mit den Arzt von Mr. Byncks sprechen?“

„Ist es ein Notfall?“

„Nein, ich möchte Ryan mit nach Hause nehmen.“
 

Zwei Stunden später hatte der zuständige Arzt endlich Zeit für mich. In der Zwischenzeit hatte ich mich nicht noch einmal überwinden können, zu ihm zu gehen.

„Sind sie sicher, dass er das Krankenhaus auf eigene Verantwortung verlassen möchte?“

„Ja, aber ist das denn überhaupt möglich? Braucht er nicht noch irgendetwas, das er nur hier bekommen kann?“

Innerlich betete ich vielleicht sogar um diese Möglichkeit. Die Abneigung, die ich gerade gegen ihn verspürte, verstand ich nicht, aber sie war da. Mein Gefühl flüsterte mir zu, dass ich das nicht wollte, doch mein Kopf verschloss sich dem und entschied zu seinen eigenen Gunsten.

„Natürlich sähen wir es lieber“, durchblätterte man eifrig die Akte. „…wenn er weiterhin hier bleiben würde. Sein Bein braucht absoluten Stillstand und wir können immer noch nicht ausschließen, dass sich eine der Wunden vielleicht noch infiziert… Das Blutgerinsel hat sich aufgelöst“, durchforstet er ein weiteres Blatt. „Und Nachwirkungen der Gehirnerschütterung konnten wir auch nicht mehr feststellen. Bei strikter Bettruhe und sagen wir… zwei Blutabnahmen die Woche, wofür eine Schwester zu Ihnen nach Hause kommen könnte, kann ich nicht besonders viel dagegensprechen.“

„Also kann ich ihn mitnehmen?“

„Lassen Sie uns am Montag noch einmal alle Routinechecks durchgehen und am Dienstag können Sie ihn dann, wenn keine bedenklichen Befunde vorliegen, mitnehmen. Einverstanden?“

„Ja. Danke Doktor.“

„Mrs. Kilmer wird Sie noch informieren, worauf Sie besonders zu achten haben und was vielleicht in den nächsten Wochen ganz nützlich wäre.“

Ich wendete mich der Schwester an meiner Seite zu und hatte mir knappe 20 Minuten später alles notiert, worauf ich achten und wie ich darauf reagieren sollte.

„Am praktischsten wäre es, wenn Sie sich sterile Bettwäsche besorgen würden“, gab sie mir einen weiteren Tipp.

„Wo bekomme ich die?“

„Ich gebe Ihnen eine Karte von einem Geschäft hier in der Nähe. Aber es ist natürlich eine kostspielige Sache, da Sie die Bettwäsche täglich wechseln müssen und jede Garnitur nicht mehr als ein Mal benutzen sollten. Für die Wundheilung ist es ein teures aber sehr gutes Mittel, um Infektionen zu vermeiden.“

„Geld ist kein Problem.“

„Dann sollte natürlich ein Rollstuhl vorhanden sein, um auf die Toilette zu können. Im besten Fall natürlich nur für die großen Bedürfnisse, damit das Bein so selten wie möglich bewegt wird. Für den Urin sollten Sie am besten Bettflaschen kaufen. Die bekommen Sie auch in dem Laden mit der Bettwäsche. Und na ja….“

Ich stoppte kurz in meiner Schreibtätigkeit und schaute zu ihr auf.

„Sie sollten vielleicht wirklich darüber nachdenken, jemanden einzustellen, der Ihnen hilft. Es ist kein Zuckerschlecken, sich um eine kranke Person den ganzen Tag kümmern zu müssen.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versicherte ich ihr.

„Ich gebe Ihnen einfach auch mal hier eine Karte mit.“

„Vielen Dank.“
 

Mit zwei schnell hin gekritzelten Seiten an Informationen saß ich danach kurze Zeit unentschlossen im Warteraum, einem Raum, von dem ich mich jetzt verabschieden konnte. Wenn ich wollte, konnte ich jetzt einfach nach Hause gehen.

Mein Blick schritt schräg den Gang zu Tür 241 hin, auch sie würde ich jetzt bald nicht mehr sehen müssen. Ich würde den Tagen, die ich als Horror beschimpft hatte, entfliehen können, nur um mich einem anderen, vielleicht größeren zu stellen. Mal schauen wie begeistert Josh sein würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich nun wochenlang kaum noch im Büro sein würde.

Ich stand auf und betrat Ryans Zimmer.

Er schien es wieder nicht für nötig zu halten, mich anzusehen. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre sofort wieder gegangen. Aus dem Zimmer, dem Flur und dem Gebäude.

Die Tür hinter mir ließ ich einen großen Spalt offen stehen, und ich zwang mich dazu, weder sein Bein noch ihn direkt anzuschauen.

„Warum hast du mich die ganze Zeit belogen?“, bogen sich meine Finger in eine Faust zusammen. „Warum?“, spürte ich wie die ganze Anspannung der letzten Wochen hinaus wollte. Doch ich konnte nicht schreien und nicht weinen. Ich wollte Antworten haben und sei es nur auf diese einzige Frage. „Sag es mir und ich hol dich hier raus.“

Meine Finger fingen vor Aufregung an zu zittern und so presste ich sie nur noch stärker zusammen.

„Dann lass es halt bleiben“, antwortete er darauf.
 

~ * ~
 

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, endlich mal wieder einen Tag so richtig auszuschlafen, jedoch verbrachte ich den Sonntagmorgen damit, mich im Bett rumzuwälzen und mich zu fragen, wie ich mir die nächsten Wochen nur zumuten konnte, warum ich mich verpflichtet fühlte, das zu tun? Verlangte Liebe wirklich alles von einen ab, konnte man nicht einfach sagen: „Stopp! Warum sollte ich dir helfen, wenn du mich wie den letzten Dreck behandelst?“

Anscheinend nicht!

Nach dem Aufstehen räumte ich auf, stellte meine Wohnung ein wenig um, um für einen Rollstuhl Platz zu schaffen, und schrieb Einkaufslisten. Eine für die Krankenhausdinge und eine andere mit Lebensmitteln, die Ryan gerne aß und die mir mittlerweile ausgegangen waren.
 

Der Montag fing auch sogleich damit an, geschriebene Listen abzuarbeiten. Zuerst belastete ich meine Kreditkarte mit einer gewaltigen Summe für Rollstuhl, Bettwäsche und sämtlichen anderen Kleinkram, der heute Abend frei Haus geliefert werden würden. Bei den Preisen sollte man das auch erwarten können.

Als nächsten unterrichtete ich Josh über den Verlauf der nächsten Wochen, der natürlich nicht gerade rosig auf mich zu sprechen war.

„Wie kannst du mir das antun, Chris? Gerade jetzt, wo das Wetter wieder besser wird und die halbe Welt mit Aufträgen ankommt.“

„Ich bin doch nicht aus der Welt. Rund um die Uhr kann ich arbeiten, ich kann halt nur nicht im Büro sein. Du kannst mir nen Boten schicken, wir können übers Internet quatschen oder telefonieren. Ist ja nicht so, als würden wir immer noch mit Rauchzeichen arbeiten.“

„Werd mir ja nicht patzig.“

„Sorry“, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Meine Hände schlugen sich auf meinem Gesicht nieder.

„Wer ist der Typ eigentlich?“

„Was?“, suchend schaute ich mich um.

„Der Kerl, der jetzt wochenlang von dir bedient wird. Wer ist das… ein neuer Lover?“

„Schön wär’s!“, rutschte es mir heraus. Entweder vor Müdigkeit oder es war mir langsam nur egal, was die Leute von mir dachten und für wie verrückt sie mich hielten.

„Mich würde schon interessieren, für wen du den ganzen Scheiß auf dich nimmst.“

Ich ließ die Arme sinken, mein Blick schoss ihm entgegen. „Ich liebe ihn, so einfach ist das.“

„Und du bist wirklich sicher, dass es das ist? Normalerweise sollte man dann doch glücklich sein, oder?“
 

Endlich wieder daheim verstaute ich zunächst die mitgebrachten Einkäufe in die passenden Schränke. Ich verschlang einen Donut mit anderthalb Bissen und in meinem Kopf projizierte ich ein Bild vom Wohnzimmer, veränderte es. Mit der Fantasie durch, setze ich das Vorgestellte in die Realität um.

Das Bett aus dem Arbeitszimmer schleifte ich über den Paketboden ins Wohnzimmer. Ich verstellte Sofa, Sessel, Tisch und ein Regal, damit alles noch eine gewisse Ordnung behielt, selbst mit dem nun neu angesiedelten Bett.

Dreißig Minuten widmete ich mich der Dusche, konnte mich nicht erinnern, wann ich ihr jemals so viel Zeit zugesprochen hatte. Jedoch war es nicht nur ein ausgesprochen intensiver Sauberkeitsdrang, dem ich unterlag, auch ließ ich mich für einen Moment fallen. Kurze Zeit, die nur mir gehörte, in der ich mich berührte und mich zum Orgasmus brachte. Wie lange war es eigentlich schon wieder her gewesen?
 

Der beruhigende Zustand, es endlich geschafft zu haben, ohne große Probleme einzuschlafen, wurde durch die Lieferung der gekauften Ware zunichte gemacht. Die Kartons einen nach dem anderen untergebracht galt meine Aufmerksamkeit als nächstes dem Rollstuhl. Natürlich gab es für mich, wie für die meisten anderen Menschen auch keinerlei Gründe zu wissen, wie man einen Rollstuhl korrekt zusammenbaute. Ein kleiner Blick auf die Anleitung ließ das geschulte Architektenauge aber schnell zum gewünschten Erfolg kommen.

Unheimlich konnte man diese Begegnung nennen. Es war so unrealistisch, so hoffend, dass man niemals damit in Berührung kommen würde, und jetzt stand er da, fertig und einsatzbereit in meinem Flur.

Ich tauschte die Matratze des Bettes aus, befestigte eine Haltestange an der Wand hinter dem Bett und eine an der Wand neben dem Klo. Daraufhin fing ich an, das Chaos, welches durch die ganzen Arbeitgriffe entstanden war, wieder zu beseitigen.

Kurz nach zehn Uhr abends sah die Wohnung zwar anders aber blitzblank aus.

Ich schaltete den Fernseher an, hörte irgendeinem Lebensmittelskandal halbwegs zu und horchte in mich, wann es an der Zeit wäre, Lienn von den neusten Entwicklungen zu erzählen. Am Samstagmorgen hatten wir das letzte Mal telefoniert. Hier war noch alles beim alten gewesen.

Er würde sich sicherlich bald von allein melden, redete ich mir ein. Erfahren würde er es durch die Krankenhausrechnung ja sowieso. Und Ryan? Wollte er eigentlich wieder Kontakt zu seiner Familie haben? Was wenn Lienn kommen, sie sich vertragen und er wieder mit ihm nach Hause gehen würde?

„Ach, verdammte Scheiße“, warf ich die Fernbedienung quer durch den Raum. „Was verdammt noch mal willst du eigentlich?“

Nachdem mir bewusst wurde, dass ich anscheinend ziemlich gerne Dinge durch die Gegend warf, griff ich nach dem Telefon, doch war es nicht Lienn, den ich anrief. Eine kurze Erkundigung über die heute stattgefunden Untersuchungen garantierte mir, dass alles wie geplant verlaufen sollte. Unruhig legte ich wieder auf.
 

~ * ~
 

Gegen Mittag machte ich mich auf ins Krankenhaus. Unsicherheit begleitete mich. Was wenn ich dem nicht gewachsen war, mich überforderte, es mir zu viel wurde? Einfach zurück war nicht. Der Situation nicht gewachsen sein und auf und davon, sobald es mir zu viel wurde? Ging nicht!

Aber auch die andere Seite, ob ich denn nicht jetzt froh wäre, ihn wieder zu haben. Eine Chance, Zeit mit ihm zu verbringen, uns vielleicht endlich wirklich kennenzulernen… auch hier fand ich ebenso wenig Antworten, denn es war eine aufgezwungene Situation. Von alleine wäre er nicht wieder zu mir zurückgekommen.

Das Betreten des Aufzuges kam mir wie der Weg zur Hinrichtung vor. War es vielleicht jetzt an der Zeit, meine Gefühle noch einmal einer Prüfung zu unterziehen? Ich stieg in der ausgewählten Etage hinaus. Die Schwestern auf der Station schenken mir freundliche und aufmunternde Blicke. Ich klopfte zum wahrscheinlich letzten Mal gegen Tür 241 und trat hinein.

Er schaute mich nicht an, aber wenigstens schaute er auch nicht weg. Sein Blick war starr auf den Fernseher vor ihm an die Wand gerichtet. Kurz überlegte ich, ob ich nicht einfach genau hier stehen bleiben sollte. Solange, bis er sich dazu entschließen würde, mich anzusehen oder zu fragen, warum ich da so blöde rum stünde. Oder natürlich, bis mir jemand von außen die Tür in den Rücken knallte.

„Der Krankentransport kommt in etwa einer Stunde.“ Eine kurze Bewegung und auf dem Bildschirm war nur noch schwarz zu sehen. „Soll ich dir bei irgendwas helfen? Sachen packen oder so?“

„Ich habe keine Sachen.“

Die Freude darüber, dass er endlich mal mit mir sprach, verschleierte ich gekonnt. „Wie meinst du das? Wo sind denn deine ganzen Klamotten?“ Ich erinnerte mich auch nicht daran, dass er sie beim Unfall bei sich trug.

„Ist das wichtig?“

Er wand sich zu mir um.

Ich forderte mich auf, ihm in die Augen und nicht auf die verkrusteten Stellen zu schauen. Würden Narben bestehen bleiben? Würde er anders aussehen, wenn alles soweit verheilt wäre?

„Na ja, wenn du sie wieder haben möchtest“, überspielte ich weiterhin, was in mir vorging. Dieses Mal war es aber keine Freude, sondern ein unwissender Zustand, der mich ängstigte.

„Ich bin seit anderthalb Wochen hier drin, mittlerweile haben sie sich in alle Windrichtungen verteilt.“

„Gibt es irgendetwas anderes, was ich tun kann?“

„Die Unterlagen und Medikamente da drüben…“, er wies auf einen Tisch. „Ansonsten…“

„Ja?“, fragte ich nach, als er nicht weiter sprach und seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster galt.

„Danke!“
 

Kurzlebige zwei Stunden später chauffierten sich die Männer vom Krankentransport selber aus meiner Wohnung hinaus. Jetzt waren wir also wieder hier, jedoch blieb mir bereits zu Anfang nicht viel Zeit für irgendwelche komischen Gedanken. Besser gesagt, ich ließ mir keine Zeit dazu. Ich versuchte alles, um meine Nervosität und meine Unsicherheit zu überspielen. Ob mir dies wirklich gelang?

„Ist alles soweit ok? Brauchst du noch irgendwas? Hast du Hunger?“

„Alles Bestens.“

„Ok“, lächelte ich ihn an, doch sein Gesicht blickte schon wieder in eine andere Richtung. „Ich muss noch etwas arbeiten, aber wenn du etwas brauchst, benutz das hier.“ Ich hob ein kleinen Walky Talky vom Tisch auf, das ich bei Walgreens gekauft hatte, und legte es auf seine Bettdecke. „Ja, ich weiß, es ist ziemlich kindisch. Aber mir ist nichts Besseres eingefallen.“

Er schaute nur kurz auf das kleine schwarze Gerät.

„Ich bin müde. Ich werde wohl etwas schlafen.“

„Tu das…“, stand ich noch kurz unschlüssig da, verschwand dann aber geschwind aus dem Raum.

Schnell aber lautlos schloss ich die Tür meines Arbeitszimmers, nachdem ich darin Zuflucht gefunden hatte.

„So weit, so gut“, sprach ich zu mir selbst.

Ich durchquerte den Raum, setzte mich an mein Zeichenbrett und griff nach einem der unzähligen Bleistifte. Jedoch legte ich ihn wieder beiseite, nachdem mir zwei Minuten später kein einziger Strich in den Sinn gekommen war. Ich versuchte es mit einem weicheren Stift, der mit einem spiralförmigen Muster bedruckt war. Durch meine Finger ließ ich ihn gleiten, die Spirale sich immer wieder selber treffend, fast schon hypnotisierend, doch auch diesen Stift legte ich schnell wieder ab. Konzentration war gerade Mangelware.

Das kleine Gerät auf dem Tisch zog mich in seinen Bann.

Ich versicherte mich, ob es auch wirklich angeschaltet war. Am liebsten hätte ich einen kurzen Testdurchlauf gemacht, aber ich verzichtete darauf, obwohl mir natürlich vollkommen klar war, dass Ryan kein bisschen ans Schlafen gedacht hatte. Was ihm wohl gerade durch den Kopf ging? War er auch nur irgendwie froh darüber, wieder hier zu sein, oder war ich wirklich nur die einzige, gerade noch akzeptable Möglichkeit gewesen, um dem Krankenhaus zu entkommen?

Ich begab mich zum Schrank gegenüber und kramte darin herum. Zum Vorschein kam ein ganzes Bündel an Zeichnungen, Zeichnungen, auf denen sein Angesicht prangte. Ganz vorsichtig schwebten meine Finger über das weiche Gesicht. Alles, was ich so an ihm gemocht hatte… war es jetzt überhaupt noch vorhanden?

Als mir bewusst wurde, dass ich ihn liebte… es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Wir waren Freunde, konnten viel miteinander teilen, hatten uns gut verstanden, konnten miteinander lachen und wussten immer, dass jemand da war.

Und dann… in der ganzen Zeit des Suchens, des Wartens, des Hoffens… war da eigentlich noch genug übrig geblieben? Seine Einstellung, sein angefressener Stolz, seine Undankbarkeit. Dass er es nicht für nötig hielt, sich mal bei mir zu melden, einfach so zu verschwinden, mich anzulügen… sollte das wirklich alles sein, was ich von ihm zu erwarten hatte? Was er aus dieser Zeit mitgenommen hatte? Sollte es so jemand eigentlich wert sein, von mir geliebt zu werden?

Ich stand auf, ging zum Zeichenbrett hinüber und radierte wie wild drauf los. Ich zeichnete neue Striche, veränderte das Bild. Am Ende war der jetzige Ryan zu sehen… ein Mensch, dessen Charakter zu seinem Bild passte.
 

Beim späteren Essen versuchte ich zum ersten Mal alles in einem anderen Licht zu betrachten. Vielleicht hatte mich die Wiedersehensfreude so blind für alles andere gemacht, dass ich es nicht wahrhaben wollte, und vielleicht trug mein Mitleid und meine Schuldgefühle, an denen ich aber mittlerweile anfing zu zweifeln, das Restliche dazu bei. Ich versuchte das in ihm zu sehen, was er eigentlich für mich war: Ein Fremder. Jemand, den ich so gut wie gar nicht kannte, noch weniger als gar nicht, wenn Lienn mich nicht aufgeklärt hätte.

„Möchtest du eigentlich mit Lienn sprechen?“, fiel mir der wartende Bruder wieder ein.

„Nein!“

„Möchtest du, dass ich ihm irgendeinen Grund dafür nenne oder soll ich ihm einfach nur ein knappes Nein hinwerfen?“

Es wurde sich weggedreht und überhaupt nicht mehr gesprochen. Nach den Abendnachrichten ging ich ins Bett. Ich hielt es in seiner Nähe gerade einfach nicht mehr aus.
 

Irgendwann in der Nacht wurde ich von einem Geräusch geweckt. Es nicht zuordnen könnend, stand ich auf und betrat kurz darauf das Wohnzimmer.

„Was verdammt noch mal tust du da?“, trat ich schnell an ihn heran.

Er stand neben dem Bett, das Glas mit Wasser lag zersprungen zu seinen Füßen. Zuerst wollte ich nach ihm greifen, ihn stützen, aber er schien einen, wenn auch etwas angewinkelten, sicheren Stand zu haben.

„Was soll der Mist?“, versuchte ich nochmals Antwort zu erhalten.

Wollte er sich etwas in seinem Zustand aus dem Staub machen?

„Leg dich wieder hin!“

„Ich muss aufs Klo.“

„Was?“

„Ich muss pinkeln.“

Ich sah mich um, die Bettflasche hing immer noch unbenutzt in ihrer Halterung. „Warum benutzt du nicht die?“, griff ich danach und wedelte vor seinem Gesicht damit herum. Innerlich war ich schon in der Küche um einen Lappen für das Wasser zu meinen Füßen zu holen.

„Ich muss wirklich auf die Toilette.“

„Dann hier“, drückte ich ihm die Bettflasche gegen die Brust.

„Es geht nicht mehr“, ließen mich meine Ohren aufhorchen. Seine Stimme klang irgendwie gequält und sein Gesicht war von einer irritierenden Anspannung geprägt.

Nur Bruchteile einer Sekunde darauf passierte es dann. Unmöglich… ging nicht… ein Traum… alles nur eine verrückte Einbildung. Trotzdem griff ich nach dem Kopfkissen, als die Flüssigkeit über seine nackten Beine lief und gefährlich nahe der verwundeten Stelle kam. Ich ging auf die Knie und presste das Kissen gegen die Quelle, ließ den weißen Bezug sich gelblich färben. Nichtsdestoweniger war ich wohl erst vollends davon überzeugt, dass dies der Wirklichkeit entsprach, als ich mittendrin hockte.

Ich hätte vielleicht irgendwie darauf reagieren sollen, ihn anschreien oder für verrückt erklären sollen, doch mein Kopf sagte mir nur immer wieder, dass ich ins Bett gehen und schlafen sollte.

Als ich mir sicher war, dass alles raus gekommen war, das raus wollte, legte ich das Kissen neben mich. Ich vermied es, mich am nassen Boden abzustützen und stand auf. Auf gleicher Höhe war sein Blick mir abgewandt, trotzdem konnte ich die Scham darin erkennen, der Kopf, der eher einer Tomate glich. Und da mir nichts, aber auch wirklich gar nichts einfiel, was ich jetzt schlaues von mir geben sollte, umarmte ich ihn. Ich drückte ihn zärtlich an mich und streichelte ihm durchs Haar.
 

Part 07 – Ende

Routine!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 08
 

Dreckiges Wasser floss vom Eimer in den Ausguss und ich wusch den benutzten Lappen immer wieder mit heißem Wasser aus. Ordentlich zusammengefaltet legte ich das Stück Stoff schließlich präzise auf den Rand des nun leeren Plastikgefäßes. In den letzten Minuten hatte ich mich sozusagen daran festgeklammert, mir eingeredet, dass es gerade nichts anderes zu tun gab, nichts, worüber ich mir Gedanken machen musste.

Doch was hatte ich getan? War ich eigentlich total durchgeknallt oder war mir wirklich nichts Besseres eingefallen?

Mit dieser doch eigentlich harmlosen Geste schien ich die Situation nur noch verschlimmert zu haben… Was hatte ich mir auch vorgestellt? Etwa ein romantisches Liebesgeständnis in einer Lache von Urin?

„Soll ich dir wirklich nicht helfen?“, drehte ich mich um.

Den Moment noch weiter hinauszuzögern, hätte rein gar nichts gebracht. Mein Blick lag nicht wirklich auf ihm, auch nicht auf den Rollstuhl, in dem er gefesselt galt. Meine Hand durchfuhr das warme Wasser im Waschbecken. Waschlappen und Seife lagen am Beckenrand bereit.

„Etwas zum Anziehen…“

„Oh ja natürlich, ich bring dir sofort was.“

Ich verließ den Raum, schon beinahe erleichtert darüber. Im Schlafzimmer angekommen schloss ich vollkommen unnütz die Tür hinter mir, folgen würde er mir garantiert nicht… wie auch? Tief einatmend nahm ich den durchdringenden Geruch nun an mir selber wahr. Ich fing fast schon panisch an, mir die Sachen vom Körper zu reißen und erlaubte mir erst wieder zu atmen, als ich vollkommen nackt in Raum stand. Jedoch überkam mich ein würgendes Gefühl.

Frische Luft, ich brauchte frische Luft. Ich wollte das Fenster aufreißen, doch solange hielt ich es erst gar nicht aus. Ich griff nach einem der Kissen und presste es mir aufs Gesicht, erst dann schaffte ich es die wenigen Meter zum Fenster hinter mich zu bringen und es aufzustemmen.

Meine Haare wurden von dem leichten Wind und mein Körper von einer wohltuenden Kälte erfasst.

„Komm schon, beruhig dich… was ist denn auf einmal los mit dir?“, stieß ich das Kissen von mir.

Meine Finger pressten sich in mein Gesicht, auch an ihnen haftete der intensive Geruch. Ich ließ sie sinken und drehte mich vom Fenster weg. Stieß ich wirklich jetzt schon an meine Grenzen?

Ich drückte mich vom Fenstersims ab und trat durch das Zimmer, welches mir plötzlich ziemlich klein vorkam, wie ein Gefängnis. Ich kniete am Schrank nieder und kramte aus der untersten Kiste ein Shirt hervor, das irgendein Typ mal hier vergessen hatte. Danach machte ich mich auf die Suche nach der Packung Boxershorts, welche noch nicht in den Genuss gekommen waren, von mir getragen zu werden.

Gefunden, zog ich eine davon selber an und schlüpfte außerdem in eine Trainingshose und ein neues Shirt. Der folgende Weg zurück war nicht einfach zu bewältigen und irgendwie musste ich mir zwangsläufig eingestehen, dass die meisten meiner Wege gerade nicht einfach waren. Doch woran lag dies wohl in erster Linie? Machte ich es mir selber unnötig schwer? Hätte ich schon vor langem einfach aufgeben und mein Leben einfach weiterleben sollen?

Ich stockte im Türrahmen. Das Krankenhaushemd bedeckte nicht mehr seinen Oberkörper und sein Schritt würde nur durch die Hilfe eines Handtuches vor neugierigen Blicken verschont. Natürlich war dies trotzdem eine der ersten Regionen, die ich anstarrte. Als nächstes starrte ich ziemlich unbeholfen auf die verkrusteten Stellen seiner Haut. Es war schwer, sich davon wieder abzuwenden.

„Ich… ich weiß nicht recht, wie… das klappen soll“, stammelte ich hervor und deutete auf die Boxershorts in meiner Hand.

Irgendwie schien mir jede Stelle seines Körpers eines Hinschauens unakzeptabel. Sein Schritt: unmöglich, seine Wunden: zu neugierig und in sein Gesicht, den Blickkontakt herstellen wollte ich schon einmal überhaupt nicht. Also starrte ich wieder zum Waschbecken und empfand das heftige Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Um dies nicht zu tun, schielte ich zur Ablage hinüber, auf der mir die Schere fast schon schreiend entgegen sprang.

„Warte kurz.“ Ich verließ abermals das Bad, durchschritt die Wohnung und kramte in meinen Nähutensilien. Mit zwei silbernen Sicherheitsnadeln kehrte ich wieder zurück.

„Einen Moment…“, griff ich nach der Schere und schnitt an einer der Seiten die Shorts durch. „…so geht’s.“

Ich hielt ihm Shorts und Nadeln hin und… ich weiß nicht, vielleicht hatte ich auf ein „Gut gemacht“ oder „Toller Einfall“ gehofft, aber natürlich kam nichts dergleichen.

„Ich geh dann mal die Sachen wegbringen“, war ich nicht bereit, diesen Moment noch länger hinauszuzögern. Ich fühlte mich so unwohl in seiner Nähe, dass ich nur noch weg wollte. Auf dem Weg hinaus hob ich das feuchte Hemd vom Boden auf.

Die Tür schloss ich nicht ganz zu, ein minimaler Spalt sollte mir Sicherheit geben. Das Hemd stopfte ich zu dem triefenden Kissen und den Handtüchern, mit welchen ich den größten Teil des Unglückes aufgesaugt hatte, in den Müllbeutel. Ich nahm mich meines Schlüssels an und verließ die Wohnung.

Nicht gerade bedacht darauf, schnell wieder zurück zu sein, drehte ich dem Fahrstuhl den Rücken zu und benutzte seit langem mal wieder das Treppenhaus. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, auf jede Stufe folgte noch eine und noch eine… doch irgendwann kam ich zu meiner Missgunst unten an, irgendwann musste jeder Weg ja zwangsläufig einmal zu Ende sein.

Ich trat hinaus ins Freie, die Nachtluft war überaus angenehm. Der Müllcontainer widersetzte sich mir wie die vielen Male zuvor. Es brauchte einiges an Feingefühl, um die verrostete Lade aufzustemmen. Den Müll endlich losgeworden, driftete mein Blick nach oben, zur einzigen Wohnung, in der noch Licht zu sehen war.

Ich wand mich erst ab, als ich dem fernen Leuchten eines vorbei fliegenden Flugzeuges nachjagte. Urlaub, mal wieder raus aus der Stadt, Sonne, Strand… wie damals, als ich mit Jeremy einfach alles liegen gelassen hatte und abgehauen war. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen. Wie es ihm wohl ergangen war in der letzen Zeit?

Ohne es zu merken, fing ich an, über meinen Ringfinger zu streichen. Ich schloss die Augen und versuchte mir für einen Moment vorzustellen, dass es nicht aus mit uns wäre, dass ich nicht den Schwanz eingezogen hatte, als es ernst wurde, ihm nicht gesagt hätte, ich wäre noch zu jung, bräuchte meine Freiheiten. Was würde ich gerade dafür geben, dies alles ungeschehen zu machen und mit ihm ein gemeinsames Leben zu führen?

Mit einem lauten Knall verschloss ich den Container und begab mich wieder ins Haus. Hinauf nahm ich den Fahrstuhl, langsam übermannte mich die Müdigkeit. Alles in mir verlangte nur noch nach Ruhe.

Zurück in der Wohnung erwartete mich Ryan im Flur. Er trug Shirt, sowie Shorts am Leib und vermied genau wie ich selber den direkten Blickkontakt.

„Ich bin müde“, ließ ich ihn wissen. „Musst du noch einmal aufs Klo?“

Ein Kopfschütteln, also begab ich mich zu seinem Bett. Er folgte mir, ein wenig umständlich in dem Umgang mit dem Rollstuhl. Ich wartete geduldig und half ihm anschließend ins Bett hinein.

„Wenn was ist…“, warf ich ihm das Walky-Talky zu. „…sag mir dieses Mal bitte rechtzeitig bescheid.“

Selber noch der Toilette einen Besuch abgestattet, ließ ich das Wasser aus dem Waschbecken und ging zu Bett. Ich kuschelte mich feste in meine Bettdecke ein und versuchte nur an Jeremy zu denken. An ihn und mein Leben, dass ich hätte haben können.
 

~ * ~
 

Am nächsten Morgen setzten wir erste Maßstäbe für die kommende Routine: Nachdem ich ihm in den Rollstuhl geholfen hatte, bereitete ich das Frühstück zu, bezog sein Bett mit frischer Bettwäsche und verabreichte ihm seine Medikamente. Alles nur mit dem Nötigsten an Gesprächstoff. Er wusch sich und ich schmierte zu guter Letzt die Wunde am Bein ein.

Wieder in seinem Bett, ließ ich ihn allein und konzentrierte mich, um das eigentlich schon für Dienstag fertig sein sollende Projekt zu beenden. Als dies dann gegen frühen Mittag auch endlich der Fall war, verließ ich die Wohnung.

Zum Glück war Josh nicht im Büro und so musste ich mich dieses Mal nicht einem Kreuzverhör stellen. Mein nächster Weg führte mich zur Apotheke, dann zum Fresh Market.

„Chris… hey, Chris!“, hörte ich es hinter mir erklingen.

So verwundert ich mich umgedreht hatte, umso schneller tat ich es wieder in die andere Richtung. Mein Schritt beschleunigte sich, nahm mehrere Abzweigungen zwischen den unzähligen Tischen mit Obst und Gemüse, doch vergebens. Er hatte mich eingeholt.

„Hey, was rennst du denn vor mir weg?“, baute Steven sich vor mir auf. „Du bist doch nicht etwa immer noch sauer?“

Ich versuchte einen anderen Fluchtweg zu finden. Nein, worauf sollte ich auch sauer sein? Darauf, dass er meinen Wagen zu Schrott gefahren hatte, während er sich von einen anderen Typen einen Blasen ließ?

„Ach komm, Chris“, stellte er sich mir abermals mit diesem überaus großzügigen Grinsen in den Weg.

Ich drückte ihn beiseite und machte mir Platz.

„Ich habe gehört, dass du jetzt auf der Cansey wohnst“, wurde seine Stimme langsam leiser.

Trotzdem zuckte ich zusammen. Woher hatte er nur diese Information?

„Vielleicht komm ich dich ja mal besuchen.“
 

Ich erblickte David vor dem Haus und kam neben ihm zum Stehen. Demonstrativ lehnte er sich gegen seinen Wagen. Sein Blick suchte nach Antworten, eine Entschuldigung dafür, dass ich mich so lange nicht gemeldet hatte.

„Darauf habe ich jetzt gar keinen Bock“, wendete ich mich von ihm ab und ging aufs Haus zu. Schnell holte er mich ein, seinem Griff wich ich aus, blieb aber dennoch stehen.

„Was erwartest du, Chris? Dass ich einfach gar nichts tue, bis du dich wieder eingekriegt hast?“, wurde Blickkontakt hergestellt. „Bei der Arbeit sagt man, dass du dich da im Moment nicht blicken lässt, wegen privater Angelegenheiten, und seit fast drei Wochen, nachdem ich dich, um es noch einmal kurz zu erwähnen, zu Tode betrübt auf deinem Bett zurückgelassen habe, gab es kein Lebenszeichen mehr von dir. Was ist nur los mit dir?“

„Er ist wieder da.“

„Wer? Ryan?“

„Ja“, wand ich den Blick ab. Es war mir fast schon peinlich.

„Na, das ist doch gut… oder nicht?“, deutete er anscheinend meinen Gesichtsausdruck, und die nächste halbe Stunde verbrachte ich natürlich damit, ihm alles von den letzten drei Wochen und was ich über Ryan erfahren hatte, zu erzählen.

„Gott, dass muss man erst einmal verdauen“, setze er sich neben mich auf den Mauervorsprung.

In seinem Kopf schien es gewaltig gearbeitet zu haben und ich konnte den Drang, mir seine Sicht der Dinge mitzuteilen, förmlich spüren. Natürlich lag ihm irgendwie daran, mich zu beschützen, mir mit gutem Rat zur Seite zu stehen, aber andererseits, hatte ich mich bereits entschieden und wir wussten beide, dass da im Moment nicht viel zu machen war. Aus dem ein oder anderen Grunde heraus nicht. Ich war ihm mächtig dankbar dafür, dass er seine Ansicht der Dinge für dieses Mal für sich behielt.

Wir verabschiedeten uns an seinem Wagen. Irgendwie kam es mir gerade nicht passend vor, ihn mit hinauf zu nehmen.

„Sag mal, hast du noch Kontakt zu Jeremy?“, hielt ich ihn davon ab, den Autoschlüssel herumzudrehen.

„Ja, wieso fragst du?“

Ich wollte etwas sagen wie: „Bestell ihm Grüße.“ oder „Sag ihm, er soll mal von sich hören lassen.“ Erfahren, was er so machte, wie es ihm ging und ob er mittlerweile jemanden gefunden hatte, der seinen Antrag nicht auf bescheuerte Weise abgelehnt hatte.

„Ach, nicht wichtig… nur so“, lächelte ich und stemmte mich vom Wagen ab. „Fahr vorsichtig.“

„Mach ich. Ruf an, wenn was ist.“

„Ok.“

Eine Weile blieb ich noch stehen und schaute die Straße hinunter. Es war schon spät, ich war fast ganze zwei Stunden weg gewesen. Cassy stürmte gerade mit ihrem Rottweiler aus dem Haus. Ich wich einen Schritt zur Seite, obwohl ich eigentlich keine Angst vor Hunden hatte.

„Hey Chris“, winkte sie mir im Dauerlauf zu.

Ich winkte nur kurz zurück und griff nach der Tür, bevor sie wieder ins Schloss fiel.
 

Den Rest des Mittwochs verbrachte ich mit Essen kochen, aufräumen und endlich mal die Ablagen in meinem Arbeitszimmer auszusortieren. Ryan schlief, und wenn er nicht schlief schaute er fern oder las etwas. Ich versuchte erst gar nicht, mit irgendwelchen unnützen Themen ein Gespräch anzufangen. Weshalb sollte ich auch derjenige sein, der versuchte, für eine angenehme Stimmung zu sorgen, tat ich nicht schon genug für ihn?

Gegen Abend meldete sich das Telefon, hätte ich mir vielleicht kurz Zeit genommen, um die eingehende Nummer auf dem Display zu überprüfen, wäre ich vielleicht gar nicht erst rangegangen.

„Warum sollte er mich nicht sehen wollen?“

„Woher soll ich das denn wissen?“, verlor ich nach diskutierenden Minuten langsam die Nerven.

„Ich werde trotzdem am Wochenende kommen.“

„Wie du willst.“

„Wer sagt mir denn, dass es überhaupt seine Entscheidung ist, mich nicht sehen zu wollen?“

„Jetzt hör aber auf“, versuchte ich seinen Vorwurf abzublocken. Er war sauer, dass ich ihm nicht schon früher bescheid gesagt hatte… gut, das konnte ich verstehen, aber mir solche Hinterhältigkeit vorzuwerfen ging mir wirklich zu weit. „Was hätte ich denn bitteschön davon?“

„Du hast Angst, dass ich ihn wieder mit nach Hause nehme, ganz einfach.“

„Weißt du was…“, keifte ich in den Hörer und schritt mit festen Schritten den Flur hinunter. Die Irritation aus Ryans Gesicht galt natürlich nur mir, als ich vor seinem Bett zum Stillstand kam. „Frag ihn doch selbst“, schmiss ich das Telefon auf die Bettdecke und kehrte dem Ganzen den Rücken zu. Das war mir einfach zu blöd.

Nimm ihn doch mit… los, tu es doch… vielleicht würde dann endlich wieder alles… ja was denn? Aufhören? Zur Ruhe kommen? Vorbei sein? Würde es? Denn immerhin hatte seine vorige Abwesenheit auch nicht gerade dazu beigetragen.

Ich knallte die Schlafzimmertür hinter mir zu.
 

~ * ~
 

Der Donnerstag fing ziemlich früh an. 4.47 Uhr ließ mich der Wecker wissen, nachdem ich die Stimme aus dem kleinen, schwarzen Gerät vernommen hatte. Ich raffte mich auf und trat an sein Bett heran.

„Sorry, ich muss aufs Klo.“

„Schon in Ordnung“, half ich ihm aus dem Bett und in den Rollstuhl hinein.

Er fuhr in Richtung Bad hinfort und ich setzte mich wartend auf die Bettkante. Standhaft nicht der Verführung zu unterliegen, mich einfach hinzulegen. Um mich erfolgreich aufrecht zu halten, fing ich an, kleine Teile der abgefallenen Kruste vom Bettlaken einzusammeln. Beim glattstreichen dieses kam mir das Telefon entgegen. Die Leitung war immer noch offen, er hatte es nicht einmal versucht.

Ich legte auf, synchron mit dem Geräusch der Toilettenspülung.
 

Gegen zwei Uhr mittags war der Tag in meinen Augen so gut wie vorbei. Ich hatte mich um Ryan gekümmert, war einkaufen gewesen, hatte gekocht, Wäsche gewaschen und wieder alles sauber gemacht. Selbst beim neuen Entwurf, den ich am Morgen im Büro abgeholt hatte, gab es schon Erfolge zu verzeichnen. Ich konnte also ganz mit mir zufrieden sein…

Ich setzte mich auf die Couch und schaute ihm dabei zu, wie er ein Kreuzworträtsel löste. Natürlich ließ sich aus gut drei Metern nicht wirklich was erkennen, aber mir viel nichts ein, was ich sonst hätte machen können. Auch als er das Heft beiseite legte und den Fernseher anschaltete, sah ich ihn weiterhin an. Mich interessierten wieder die Nachrichten noch die Sportzusammenfassung der Woche. Ich sah ihn einfach nur an.

Er schaltete den Fernseher nach einigen Minuten wieder aus, schloss die Augen. Innerlich fand ich es belustigend, dass er sich nicht auf die mir abwendende Seite drehen konnte, um meinem Blick zu entgehen. Denn genau dies versuchte er und vielleicht hatte ich gerade deswegen so ein Vergnügen daran, ihn weiterhin anzustarren.

Doch nach gut zwei Stunden wurde das Spiel langweilig. Ich stand auf.

Sein Bett war nur einige Schritte entfernt, ich schaute nun aus nächster Nähe auf ihn hinab. Er hatte immer noch die Augen geschlossen, obwohl ich mir sicher war, dass er nicht schlief.

Auf seiner Haut erblicken immer mehr kleine, zartrosa Flecken das Licht der Welt. Auf der Kopfhaut wurden die meisten Krustenteile schon von den heranwachsenden Haaren übernommen, langsam versuchte alles wieder den Normalzustand zu erreichen. Ob wir dazu auch jemals in der Lage wären?

Ich sank tiefer.

Seine Lippen waren noch genau so schön wie zuvor, der Unfall hatte ihnen nichts anhaben können. Und ich unterwarf mich ohne Zögern dem Drang, sie zu berühren. Sein Zucken hielt mich nicht davon ab, meine Hand auf seine Haut zu legen. Auch schaffte es nicht sein Blick.

„Warum tust du das?“, hauchte er leicht gegen meinen Daumen.

„Was tue ich denn?“

„Du berührst mich“, hielten wir fest an unseren Blicken. Jeder versuchte in dem anderen zu lesen.

„Tue ich dies nicht schon seitdem du hier bist?“

Ich lächelte leicht.

„Du weißt genau, was ich meine“, drehte er den Kopf weg. Meine Hand rutschte hinunter.

„Ja, das weiß ich… aber, sag mir…“ Ich beugte mich ein wenig tiefer zu ihm heran. Unter all dem Krank und Cremen, war er immer noch da. „..was wäre so schlimm daran, es einfach drauf ankommen zu lassen?“

Ich küsste ihn.

Es war weder ein zärtlicher noch ein romantischer Kuss, es war einfach nur die Probe auf Exempel. Und genau wie ich vermutet hatte, setzte dem nichts nach. Seine Augen blickten mich nur weiterhin starr an und in seinen Lippen war nicht die kleinste Regung zu spüren.

„Vergiss es“, zog ich mich wieder zurück.

Ehrlich gesagt, konnte ich nicht einmal sagen, warum ich es getan hatte, denn mit einem wirklichen Effekt hatte ich eh nicht gerechnet. Wenigstens hatte es nicht in einem Fiasko geendet und wegrennen hätte er eh nicht gekonnt. Ich hatte einen schwachen Moment, es versucht, mehr nicht.
 

~ * ~
 

Aufwachen, Bett beziehen, Essen machen, sich gegenseitig anstarren, ignorieren und nur das Nötigste miteinander austauschen. Ein ganz normaler Tag, willkommen Routine.

Den ganzen Tag über zog sich diese super Atmosphäre durch, bis es am Abend unerwartet an der Tür klingelte.

„Es ist dein Bruder“, rief ich durch den Flur und hängte den Hörer der Gegensprechanlage wieder in seine Vorrichtung. Ich war nicht wirklich überrascht darüber, dass Lienn gekommen war.

Ich drückte die Haustür auf und entfernte mich von dem leicht geöffneten Spalt.

Am Eingang des Wohnzimmers blieb ich stehen und blickte Ryan an.

Wegrennen oder Verstecken war nicht, obwohl ich diesen Wunsch ganz deutlich in ihm ausmachen konnte. Nervosität umspiegelte sein gesamtes Sein, er hatte Angst. Nun war er gekommen, der Tag, an dem er sich wenigstens seiner Familie stellen müsste.

Ob ich darüber erfreut war, verängstigt? Ich konnte es immer noch nicht sagen. Wusste nicht, welchen Weg ich mir mehr wünschte. Es war so ein unsinniges, chancenloses Spiel. Ich konnte doch eh nur verlieren, warum also überhaupt spielen?

„Was?“

Für einen Moment geschockt blieb ich im Flur stehen. Nicht nur Lienn kam durch die Wohnungstür, ihm im Schlepptau war Steven.

„Er ist im Wohnzimmer“, konnte ich Lienn nur kurz zunicken, während ich auf die Beiden zuging. „Was tust du verdammt noch mal hier“, richtete ich mich sofort darauf an Steven und zog ihn wieder zur Tür.

Mich abgeschüttelt, schlüpfte er an mir vorbei und blickte Lienn neugierig hinterher.

„Ich sagte doch, dass ich mal vorbeikommen wollte“, lächelte er mich übertrieben an. „Ich wusste nur nicht genau in welchen von den Häusern du wohnst, aber anscheinend habe ich genau die richtige Person angesprochen.“

„Verschwinde!“, deutete ich auf die Tür.

„Warum denn?... Was treibst du hier eigentlich?“

„Das geht dich einen Scheißdreck an“, schob ich ihn nun unter ein wenig mehr Gewalt anwendend durch den Flur, in Richtung Ausgang. Doch er ließ sich nicht so leicht abwimmeln und drückte sich mit Füßen und Händen an der Wand ab.

„Komm schon, wir könnten doch ein wenig Sp-“ Die Türklingel unterbrach ihn. Ehe ich aber selber darauf reagieren konnte, öffnete er mit einer kleinen Bewegung auf den Schalter die Haustür. „Noch ein Gast? Du scheinst ziemlich gefragt zu sein“, grinste er, während er sich weiterhin wand.

Ich ließ von ihm ab. Damit nicht gerechnet, landete er auf dem Boden.

„Jetzt komm schon, mach dich vom Acker. Ich habe keinerlei Interesse zwischen uns irgendetwas aufzufrischen.“
 

Ich öffnete ihm die Tür, während er sich wieder aufraffte. Hoffend, dass er jetzt einfach verschwinden würde und ich endlich an anderer Stelle präsent sein könnte. Doch bevor es weder zu dem einen noch zu dem anderen kam, stockte ich ein zweites Mal in diesen wenigen Minuten.

„Hi“, traf mich ein Lächeln vom Türrahmen her.

„Hi“, kam es schwach von mir zurück.

Weshalb war er hier?

„Nicht so schüchtern, komm nur rein“, öffnete Steven die Tür um ein großzügiges Stück und ließ Jeremy ins Innere treten.

Obwohl ich auf der einen Seite total geschockt von seinem Auftauchen war, nutzte ich diese Gelegenheit, um Steven mit einem kräftigen Stoß hinauszubefördern.

„Er wollte eh gerade gehen“, kommentierte ich meine Tat.

Ich ließ die Tür ins Schloss fallen, ehe ein Widerstand von draußen zu vernehmen war.

„Jemand Wichtiges?“

„Nein, ganz und gar nicht. Aber… was tust du denn hier?“, setzte ich automatisch einen Schritt vor den anderen, durchschritt den Flur.

Mein Augenmerk wanderte kurz zu den weiteren Personen in der Wohnung, dann wieder auf ihn. Er hatte sich kein bisschen verändert, sogar der Haarschnitt war immer noch gleich. Ich hatte es immer so gemocht, zwischen den etwas zu langen Zotteln mit den Fingern zu streifen, ihn im Nacken zu kraulen, ihn zu küssen. Oh ja, ich hatte ihn so abgöttisch gerne geküsst.

„Oh, du hast Gäste?“

„Nein, nein“, winkte ich ab. „Also, sag schon, warum bist du her gekommen?“

„David sagte, dass du nach mir gefragt hast.“

„Deswegen bist du den ganzen weiten Weg gefahren?“, unterbrach ich ihn.

Ich wollte David töten, wenn ich ihn das nächste Mal zu Gesicht bekam. Was hatte er ihm bloß erzählt?

„Wie kommst du darauf. Ich wohne drei Blocks von hier. Hat dir das noch niemand verraten?“

„Nein“, und ich fragte mich sofort, warum dies so war. Schnell nahm ich seine Hände ins Visier, kein Ring.

„Ich bin vor zwei Monaten her gezogen.

„Wirklich? Ich hatte keine Ahnung.“

Drei Blocks? Das war ja fast schon um die Ecke… Man könnte mal zusammen etwas unternehmen, ins Kino gehen, etwas trinken… Zeit miteinander verbringen

„Sag mal, störe ich wirklich nicht?“, deutete Jeremy ins Wohnzimmer, wo Lienn sich gerade nicht mehr halten konnte und seine Stimme erhob: „Ich kann auch ein andermal wieder kommen?“

Nein, bitte geh jetzt nicht…

„Oder wir treffen uns mal irgendwo außerhalb?“

Nein! Ich wollte nicht, dass er geht. Einige Meter von uns entfernt wurde es noch ein wenig lauter, aber ich schaute nicht einmal hin. Gerade war es mir einfach nur egal. Er war extra hergekommen… zu mir. Ich war ihm anscheinen immer noch wichtig.

„Ich meld mich wieder, ok?“

Er berührte mich am Arm, lächelte und ich zog ihn an mich und küsste ihn.
 

Part 08 – Ende

Auf Abwegen!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 09
 

Die Wärme seiner Lippen… Ich wollte mich dem hingeben, meine Augen schließen, genießen… Stille…

Nicht einmal halb geschlossen, gingen meine Lider ruckartig wieder hinauf. Was hatte ich bloß getan? Und warum schaffte ich es nicht, mich schnell und irritiert abwendend wieder von ihm zu lösen? Denn das genaue Gegenteil war der Fall. Mit so viel Vorsicht, so langsam, dass ich dachte jedes einzelne Hautpartikelchen würde sich noch persönlich verabschieden wollen, lösten wir uns voneinander.

Mich überkam ein kleines Schwindelgefühl und ich wollte sofort mehr davon, nicht aufhören. Doch weiter, verspürte ich innerlich das Bedürfnis, zur Seite zu schauen, schaffte es jedoch nicht. Sie schauten uns an, hatten es gesehen. Ich spürte es ganz deutlich auf meinem Körper liegen, doch die Angst vor der möglichen Abweisung in seinen Augen hielt mich auf.

Oder vielleicht mehr die Befürchtung davor, dass es ihm schlichtweg egal sein könnte, was ich gerade getan hatte. Mit beidem hätte ich in diesem Augenblick nicht leben können, weshalb ich einfach nur an dem zärtlichen Blick direkt vor mir hängen blieb. Ich schaute Jeremy einfach nur an, während ich mir innerlich wünschte, dass man sich im Raum einfach nur wieder anfing zu streiten und uns vergaß.

Die Hand an meiner Hüfte entfernte sich und legte sich einige Sekunden später auf meiner Wange nieder, streifte über mein Ohr hinweg und durch mein Haar.

„Ich freue mich auch, dich wiederzusehen“, lächelte er mich an.

Und was machte ich?

Mir war unerwartet nach weinen zu mute. Meine Nase kribbelte wie verrückt, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte und ich wollte mich gegen ihn lehnen und ihm sagen, wie gut es tat, dies zu hören. Jedoch wand ich mich ab, um die aufkommenden Tränen besser unterdrücken zu können. Warum fühlte ich mich plötzlich wie ein hungerndes Kätzchen, welchem man eine abgeknabberte Gräte zugeworfen hatte?

Ich wollte nicht schwach wirken, nicht jetzt und vor allem nicht hier… Während ich meinen Blick wand, stieß ich auf Ryans. Zeit, seinen zu analysieren, gab er mir allerdings nicht, drehte sich sofort weg. Und schwups, war das klitzekleine gute Gefühl in mir drin auch schon wieder verbannt.

Einen Schritt wich ich zurück.

„Lass uns raus gehen“, ging ich voran auf die Wohnungstür zu.

Ich wusste nicht, wie ich meine Situation gerade einschätzen sollte, doch ich wollte um keinen Preis der Welt länger direkt vor Ryans Augen stehen bleiben. Jeremy und ich traten auf den Flur hinaus und ich schloss die Tür hinter uns.

„Es tut mir leid.“

„Wenn du den Kuss meinst… das muss es nicht“, lehnte er sich an die Wand mir gegenüber.

Es war mir peinlich, das alles. Warum hatte ich das nur getan? Er stand hier vor mir, einfach so, als lägen keine vier Jahre hinter uns, als wäre nicht er der Mensch, welcher mich zuletzt bedingungslos geliebt hatte. Ich hielt mich davon ab in schlechte Angewohnheiten zu verfallen, indem ich meine Finger in die Hosentaschen steckte.

„Was hat David dir eigentlich erzählt?“

„Du meinst über dich und Ryan?“, las er meine Gedanken und verriet mir damit auch schon, dass er etwas mehr über die Situation wusste als mir lieb war. Ich konnte nur nicken, irgendwie fühlte ich mich ertappt.

„Einiges…aber du weißt doch, ich habe noch nie viel von Gerede gehalten.“ Er ließ die Wand hinter sich und überwand den gerade mal knappen Meter zu mir. „Ich hör mir auch gerne deine Seite der Geschichte an“, berührte er mich am Arm.

Er war schon immer ein Mensch, der ziemlich viel berührte. Damals, in der Öffentlichkeit, hatte ich es gehasst. Na ja, nicht wirklich gehasst, aber ich hatte Panik davor, wie andere auf uns reagieren könnten, wenn sie mitbekamen, was wir waren.

„Ich-“

Die Tür neben mir wurde aufgestoßen. Lienn stürzte wütend heraus und schritt an uns vorbei.

„Warte, was-“

„Du kannst ihn haben. Viel Spaß!“, war er auch schon im Treppenhaus verschwunden. Erst dachte ich daran, Lienn hinterherzulaufen, aber im gleichen Moment fragte ich mich: Für was?

Für einige Sekunden schaute ich gedankenverloren auf die Wand mir gegenüber, als erhoffte ich mir irgendwelche Antworten von ihr.

„Ich denke, ich muss da mal wieder rein“, kam es fast hoffend auf Erlösung über meine Lippen.

„Ist doch okay“, machte es mir Jeremy noch schwerer. Am liebsten wäre ich hier auf dem Flur geblieben, mit ihm.

Er folgte mir als ich Wohnung und Wohnzimmer betrat. Die abgewandte Haltung von Ryan war nichts Neues, weswegen ich mir auch nicht sicher sein konnte, was sie hervor brachte. Sein typisches Verhalten, die Konfrontation mit seinem Bruder oder vielleicht doch die Anwesenheit von Jeremy? Trotzdem schämte ich mich dafür.

„Was war los?“, versuchte ich es zuerst in einem neutralen Ton. „Kommt er noch mal wieder?“, versuchte ich es erneut. Ich ging ums Bett herum und baute mich vor ihm auf, zwang ihn mich wahr zu nehmen. „Ryan…?“

Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht einfach gut sein lassen, aber gerade in diesem Moment…

„Jetzt spuck es schon endlich aus“, keifte ich ihn an und völlig unerwartet schrie er zurück:

„DAS GEHT DICH EINEN SCHEIßDRECK AN!“

Im ersten Moment war ich schlichtweg platt. Jedoch baute sich im zweiten eine schier unendliche Wut gegen ihn und gegen diese ganze Situation auf, dass ich buchstäblich das Gefühl hatte, platzen zu müssen.

„GEHT ES NICHT? Sag mal, wo lebst du denn bitteschön? Wer bitte füttert dich, schmiert deine Wunden mit dieser stinkenden Salbe ein und wischt deine Pisse vom Boden auf? WER VERDAMMT NOCH MAL… WER?“

Eine Hand berührte mich am Arm. „Chris...“

„Nein“, schnellte ich herum und schlug Jeremys Hand weg. „Ich will mich nicht beruhigen. Ich hasse das, ICH HASSE DIESEN GANZEN VERDAMMTEN SCHEIß!“

Dies ausgesprochen floh ich in mein Schlafzimmer, doch nur Augenblicke hatte ich Zeit, mich zu fragen, ob es wirklich der richtige Zeitpunkt für diese Aussage gewesen war. Es wurde mir einfach zu viel, das alles hatte doch gar keinen Sinn, führte mich nirgends hin. Ich wollte doch nur…

Als Jeremy mir wieder gegenüber stand, war es mir auf einmal egal, was ich all die Monate in Ryan für Hoffnungen gesetzt hatte. Ich wollte leben, ich wollte geliebt werden, gehalten und für jemanden etwas besonderes sein.

„Bleib heute hier“, bat ich und presste mich gegen ihn.

„Hörst du dir überhaupt zu?“, beendete er den von mir aufgezwungenen Kuss und legte seine Stirn gegen meine.

„Ja, natürlich…“, drückte ich mich von ihm weg.

Ich wollte keine Süßholzraspelei, keinen Beschützer. Ich wollte Sex. Harten, geilen Sex.

„Wenn du nicht willst, dann lass es halt“, reagierte ich ungewöhnlich aggressiv.

Er zog mich zurück in seine Arme.

„Das willst du nicht wirklich.“

Sein Blick lag fest auf meinen.

„Sag mir nicht, was ich nicht will“, versuchte ich ihn erneut weg zu drücken, doch ohne Erfolg. Eine Weile blieb die Standhaftigkeit noch erhalten, dann lächelte er leicht. Sacht berührten seine Lippen meine Nasenspitze. „Lass uns morgen zusammen frühstücken.“

„Bei dir oder bei mir?“, drückte ich mich zwischen seine Beine, versuchte es abermals.

„Bei mir, nachdem jeder von uns brav in seinem eigenen Bettchen geschlafen hat.“
 

Nachdem Jeremy gegangen war, zeigte ich Ryan überdeutlich, dass er mich heute ja nicht mehr blöd von der Seite anzumachen brauchte. Das Fass war immer noch kurz vorm überlaufen und ich wusste, wenn ich es jetzt zu einer Eskalation kommen lassen würde, könnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich würde Dinge sagen, die mir im nachhinein Leid tun würden. Ich würde… nicht mehr zurück können.

Aber wo war vorne, wo hinten und wo war ich in all dem Durcheinander? Gab es da überhaupt ein Ich? Oder wurde ich wirklich nur als Krankenstation á la „Machen wir es uns doch einfach“ angesehen?

So war er nicht, so hatte ich ihn nicht kennengelernt. Ich hatte einen ganz anderen Ryan kennengelernt. Einen, der nicht Byncks hieß, der keinen Zwillingsbruder hatte und der nicht schwul war. Ryan, der gerne diskutierte. Ryan, mit dem man reden konnte. Ryan, mit dem man Lachen und stundenlang über Filme sinnieren konnte. War das alles weg, nur weil ich jetzt über ihn bescheid wusste? Oder weil ich es gewagt hatte, mich in ihn zu verlieben? Auch wenn er vieles durchgemacht hatte, es hatte nichts mit mir zu tun, ich habe ihm nichts angetan, ich hatte es nicht verdient, von ihm auf diese Weise behandelt zu werden.
 

~ * ~
 

Nach der morgendlichen Routine, fiel es mir schwer, auf das Eintreffen der Krankenschwester zu warten. Ich wollte nur noch raus aus der Wohnung, weg aus seiner Nähe. Ich spülte das Geschirr mit der Hand ab, nachdem die Spülmaschine damit fertig geworden war, und sortierte den Schrankinhalt neu, um ja nicht aus der Küche heraustreten zu müssen.

Als sie endlich eintraf, ließ ich alles stehen und liegen.

Während sie Ryan Blut abnahm und einen Blick auf die Heilung seiner Wunden warf, stand ich nervös im Türrahmen. Sie erzählte vom gestrigen Notfall, warum sie ihren Termin bei uns nicht hatte wahrnehmen können und ich lächelte sie dabei an. Ich vermied, es Fragen zu stellen, Interesse zu zeigen, damit sie ja schnell wieder verschwand, denn ich hatte das gleiche vor. Verschwinden, einfach nur weg hier.

Sie endlich zur Tür begleitet, fragte ich Ryan nur noch kurz, ob er noch etwas brauchen würde oder wohin müsse. Nach einem undefinierbaren Laut, welchen ich als nein deutete, verließ ich die Wohnung.
 

Zu Fuß ging ich die Straße hinauf, um einige Ecken herum, um schließlich vor einem Haus stehenzubleiben, an dem ich schon einige Male zuvor vorbeigekommen war. Ich kannte es… irgendwie. Nie hatte es zuvor eine Bedeutung für mich gehabt, welche würde es jetzt bekommen?

Zögern durchfuhr mich. Warum war ich eigentlich hier? Wollte ich mit ihm schlafen, mit ihm zusammen sein? Würden wir ein Paar, glücklich werden? Wollte ich das… und was würde dann aus Ryan werden? Sollte mich das kümmern? Sollte es das?

Meine Hand stieß vor, machte aber erneut Halt vor dem kleinen, runden Ding, welches mein Dasein preisgeben würde. Was war bloß los mit mir? Warum konnte ich mir nicht endlich eingestehen, dass da nichts war… niemals sein würde. Er wollte mich nicht, noch viel weniger, ihm schien meine Nähe regelrecht zu missfallen, also warum machte ich mir Gedanken um ihn? Und warum fing ich nicht endlich an, nur mal an mich selbst zu denken… Mein Finger drückte dem Widerstand entgegen. Still und ohne mich zu Atmen trauend, blieb ich stehen, bis Jeremys Stimme aus der Gegensprechanlage erklang.

Ich antwortete, er öffnete die Tür und ich betrat das Haus. Jeder Stufe ließ mich schwerer werden, mehr Unsicherheit hochfahren, doch als ich ihm gegenüberstand, war dies alles mit einem einzigen Lächeln von ihm fürs Erste verbannt.

Er nahm mir die Jacke ab und ich fühlte mich plötzlich auf eine ganz andere Art nervös. Genauso als würde man einem Blinddate gegenüber stehen.

„Schöne Wohnung“, sagte ich daher.

„Sie ist noch nicht ganz fertig, einiges wollte ich noch anders machen.“

Er lächelte wieder und ich folgte ihm daraufhin in die Küche.

„Also, worauf hast du Lust?“

„Lust?“

„Zum Frühstück?“

„Ach so…“

Ich schielte an ihm vorbei in den geöffneten Kühlschrank. Gestern hätte ich mich ihm ohne weiteres hingegeben und nun wurde ich schon von einem unschuldigen Wort so aus dem Ruder geworfen.

„Wie wäre es mit einem Omelett?“, registrierte ich Eier und Champignons.

Eigentlich hatte ich gerade überhaupt keinen Hunger.

„Gute Wahl“, fing er sofort an, die Zutaten zusammenzusuchen. „Sie sind wirklich gut“, reichte er mir die Champignons. „Hier um die Ecke kann man spitzen Gemüse kaufen.“

„Ja, ich weiß.“

Ich lächelte, er lächelte und es trat einer dieser Augenblicke ein, in denen man nicht wirklich wusste, wohin man sich als nächsten wenden sollte. In meinem Kopf baute sich die Phantasie auf, dass er auf mich zukommt, mir die Champignons aus der Hand schlagen, mir die Klamotten vom Leib reißen und mich heftig auf dem Küchentresen nehmen würde. Doch stattdessen nahm ich das angebotene Messer an mich.

Ich wand mich zum Spülbecken und ließ Wasser über die Pilze laufen. Und wieder traf mich die Frage, ob ich wirklich hier war, um mit ihm zu schlafen. Denn mein Körper schien ohne mein eindeutiges Einverständnis dafür bereit zu sein.

„…mst du?“

Ich erschrak, ließ das Messer fallen.

„Was tust du denn?“ Aufgeregt wurde nach meiner Hand gegriffen und erst da erkannte ich den mir zugefügten Schnitt im Finger. Ein Stück Stoff legt sich hinüber, bevor ich überhaupt in der Lage war, genaueres zu sehen. „Komm hier rüber“, wurde ich zu einem Stuhl gezogen und hinauf gesetzt. „Tut es weh?“

„Nein.“

Und das tat es auch nicht.

„Ok, dann lass uns mal schauen.“ Er hob das Handtuch vorsichtig hoch. Ein wenig Blut klebte daran. „Nur ein kleiner Schnitt… ist ja noch mal gut gegangen. Bleib sitzen.“

Er stand auf und verließ den Raum. Es war wirklich nur ein minimaler Schnitt, mit scharfen Papierkanten hatte ich mir schon größere Verletzungen zugezogen.

Mit einem Erste-Hilfe-Set kam er zurück.

„Das ist doch wirklich nicht nötig.“

„Na, sei brav zum lieben Onkel Doktor.“ Er säuberte die Wunde und fixierte ein Pflaster präzise über den Schnitt. „Oh halt, da fehlt doch noch was“, zog er einen Stift hervor. Er verzog das Gesicht, streckte mir seinen Daumen entgegen, als wäre er ein angesehen Künstler, welcher für ein wichtiges Portrait Maß nehmen wollte und malte einen lächelnden Smiley auf das Pflaster. „Damit du nicht mehr so traurig schaust“, wechselte sein Ausdruck von Ernst in Lächelnd und danach wieder in eine ernstere Miene.

Ich wollte sagen, dass ich doch gerade gar nicht traurig war, jedoch wäre dies gelogen. Ich wollte ihm sagen, dass ich doch froh war, ihn wiederzusehen, hier zu sein… doch das wäre nicht ganz richtig. Ich wollte nicht weinen, doch ich tat es und er hielt mich fest.
 

Zum Frühstücken waren wir gar nicht erst gekommen und auf Fragen wie: „Möchtest du darüber reden?“ oder „Kann ich irgendwas für dich tun?“ schüttelte ich erst einmal nur wage mit dem Kopf. Ich war doch hierher gekommen, um den ganzen Stress mit Ryan hinter mir zu lassen, zu vergessen und was tat ich? Darüber verzweifeln in den Armen eines anderen.

Ein weiteres Mal streifte er durch mein Haar, glitten seine Fingerspitzen über meinen Nacken hinweg. Ich konnte seinen Puls an meinem Ohr spüren, seine Haut riechen, seine Wärme fühlen. Hatte ich eigentlich noch irgendeine Erinnerung daran, wie Ryan ohne das ganze Krank roch?

Ich stemmte mich leicht auf. Er schaute mich an, als wolle er fragen: „Ist alles in Ordnung?“ Doch ich wollte sein Mitleid nicht.

„Warum hast du mich damals verlassen?“, wollte ich wissen.

„Ich habe dich nicht verlassen…“, strich er mir durchs Haar. „Ich habe nur das College gewechselt, nachdem du mir unmissverständlich zu verstehen gegeben hast, dass du nichts von einer gemeinsamen Zukunft halten würdest.“

„Wir waren 19 und du hast nur immer davon geredet, abzuhauen, nach Las Vegas zu fahren und zu heiraten. Wir waren nicht mal alt genug, um in die Casinos zu kommen oder Alkohol zu trinken, wie konntest du da von mir verlangen, mich für immer zu binden?“

„Ich habe gar nichts von dir verlangt. Ich wollte nur, dass wir… na ja…“ Er drehte sich leicht weg. „… für immer zusammen bleiben.“

Es war ein großartiges Gefühl, so etwas zu hören.

„Küss mich.“

Ein fester Blick, ein Druck im Nacken.

Seine Lippen waren warm, weich… alles war gerade so… so wie es eigentlich sein sollte. Es fühlte sich gut an. Ich presste mich näher an ihn heran, spürte ihn, verlangte danach.

„Bist du dir sicher?“

„Ja, natürlich“, hauchte ich ihm entgegen.

„Es ist noch nicht zu spät… bis jetzt ist noch nichts passiert.“

Ich küsste ihn erneut. Er sollte ruhig sein. Ich wollte nichts hören, ich wollte ihn jetzt nur noch spüren.

„Chris?“

„Psst, lass es doch einfach passieren“, fummelte ich an seinem Shirt herum.

„Lass uns do-“

„Ach verdammte Scheiße“, sprang ich ruckartig von der Couch auf. „Was hast du denn für ein Problem?“

„Keines… und du?“

Während er sich gerade hinsetzte, brachte er das Shirt wieder an den richtigen Platz.

„Nein… nein, nein, nein“, fuchtelte ich mit dem Finger hin und her. „Ich bin es bestimmt nicht, der hier ein Problem hat. Wenn hier jemand eines hat, dann ist es dieser sture, egoistischer Typ, der in meinem Wohnzimmer haust.“ Ich wies in Richtung Fenster. „Der mich ausnutzt, mich anlügt, mich hintergeht, verletzt und ignoriert. Der behauptet hat, ein Freund zu sein und mich trotzdem wie den letzten Dreck behandelt, obwohl ich alles nur Erdenkliche für ihn tue.“ Ich stoppte, nicht nur weil ich endlich Luft holen muss, sondern auch, weil ich bemerkte, dass sich meine Stimme mit jedem Wort mehr erhob. „Aber andersherum, hast du Recht“, fuhr ich fort. „Es ist mein Problem, nicht wahr? Denn ich lasse mir all das von ihm gefallen. Schaffe es nicht, mich dagegen zu wehren, nicht ihm die Hilfe zu verweigern. Ich sollte ihm sagen, dass ich das nicht mehr will und nicht mehr einsehe. Dass er sich von mir aus zum Teufel scheren kann, mit seiner eingefressenen Art, welche ihm verbietet glücklich zu sein. Von mir aus zu Grunde gehen an seiner Vergangenheit, das sollte ich sagen, richtig?“ Nach Antwort suchend, sah ich ihn an.

„Ich kann dir nicht sagen, was du ihm sagen sollst“, stand er auf. „Aber was es auch ist, du solltest das alles nicht mir, sondern ihm selber sagen.“

„Tut mir leid“, wich für den Augenblick der Zorn in mir. Wieso erzählte ich ihm das alles?

„Am besten gehst du jetzt nach Hause...“ Er blieb vor mir stehen und zupfte auch mein Shirt zurecht. „….sonst fange ich vielleicht doch noch an, mich wieder in dich zu verlieben.“

Seine Worte lagen weich in der Luft und wahrscheinlich deshalb, schaffte ich es nicht, ihn direkt anzusehen. In mir wühlte sich ein unangenehmes Gefühl hindurch. Ich wollte sagen, dass es mir Leid tat… dass es nicht richtig von mir gewesen war, ihn zu küssen, hierher zu kommen. Gerade in diesem Moment wusste ich es. Wie viel Abweisung ich auch ertragen musste, aus welchem Grund ich bis jetzt nicht geschafft hatte, endlich einmal meine Gefühle ehrlich hervorzubringen… Angst, Unsicherheit und so vieles andere. Eines wusste ich jetzt, oder besser gesagt, wusste ich schon die ganze Zeit über: Ich liebte Ryan.

Vielleicht hatte ich es durch Unannehmlichkeiten oder aus Enttäuschung für kurze Zeit beiseite geschoben. Hatte versucht es zu verdrängen… aber es ließ sich auf große Sicht hinaus nicht verscheuchen. Es war da, es wollte raus, es war das, was ich im Moment fühlte.

„Nun geh schon“, drehte er mich um und gab mir einen Stups zur Tür entlang.

Ich strauchelte, fing mich und schaute mich um. Knappe zwei Meter hinter mir stand er und lächelte mich an. Es fiel mir schwer zurückzulächeln, doch ich schaffte es schließlich, bevor ich mich selbstständig fortbewegte.

„Und wehe, ich werde nicht zum nächsten Spieleabend eingeladen“, hielt er mich noch einmal auf.

Mich umzudrehen schaffte ich jedoch nicht noch mal. Ich nickte, bevor ich zur Tür hinausging.
 

Den Weg zurück gerannt, kam ich Minuten später vor Ryans Bett zum Stillstand.

„Kannst es wohl gar nicht erwarten mich rauszuschmeißen und mit deinem neuen Lover ein glückliches Leben zu beginnen.“

Ein zynisches Aufflammen, gepaart mit dem ruhigen Umblättern der Zeitschrift.

Das weitere Ringen nach Luft ließ eine ebenfalls missmutige Antwort darauf aussetzen, wahrscheinlich hatte mein Kopf gerade deswegen die Möglichkeit seiner Aussage einem kräftigeren Halt zu verleihen: Es war ihm doch nicht egal! Und plötzlich saß ich wieder mit David am Küchentisch:

„Ist er es denn wirklich wert?“

„Ja“, hatte ich damals gesagt. Damals war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass, egal was kommen möge, was mir auch in den Weg gestellt würde, ich trotzdem dafür kämpfen wollte, bei ihm sein zu dürfen.

„Ich würde es gerne noch einmal tun.“

„Was?“

„Dich küssen?“

Er hatte es auch gewollt. Auch wenn er nur für einen Augenblick schwach geworden war, geschafft seine Vergangenheit für einen kurzen Moment in den Hintergrund zu drängen… er hatte sich ganz von alleine dazu entschlossen. Wieso also sollte es nicht möglich sein?

„Wie fühlt es sich an?“

„Schön.“

„Und das?“

„Das ist auch schön.“

Und es hatte ihm sogar gefallen.

Innerlich musste ich mich zusammenreißen, die Szene wieder aus meinem Kopf zu verbannen. Ich würde alles dafür geben, es ihn noch einmal sagen zu hören. Ich wand meinen Blick zu Boden.

„Es war ein Fehler.“

„Was meinst du?“

„Alles verdammt!“

Was war sein Fehler gewesen? Ich?

„Wo willst du denn hin?“

„Egal, wen kümmert es.“

„Mich kümmert es.“

Die klägliche Hoffnung, dass ich ihn aufhalten konnte. Dass es ihm vielleicht irgendwo wichtig war, wie es mir dabei ging. Monatelang hatte ich mir Sorgen um ihn gemacht, hatte mir die Schuld für alles gegeben. Mit dem Kuss zu weit gegangen? Ha, guter Witz. Doch die ganze Zeit über hatte ich mir diesen Vorwurf gemacht, dass ich damit alles zerstört hatte.

„Ich bin nicht schwul, Chris. Ich werde es auch niemals sein.“

Und dann, die ganze Wahrheit, alles zu erfahren…

Endlich schaffte ich es wieder aufzuschauen. Die Zeitschrift lag flach auf der Decke, sein Blick war auf mich gerichtet. Zweifelsfrei fragte er sich, was jetzt kommen würde. Worauf ich nicht die richtigen Worte fand, während ich blöd vor seinem Bett stand.

Ich versuchte damit klarzukommen, aber letztendlich schaffte ich es nicht. Ich konnte es nicht ertragen, von dir geliebt zu werden, nein, besser gesagt, überhaupt geliebt zu werden, auch wenn es manchmal das war, was ich mir am sehnlichsten wünschte.

Diesen kurzen Zeilen aus seinem Brief hatte eigentlich alles verraten, was ich hätte wissen müssen, doch wurden sie falsch interpretiert. Ich konnte es damals noch nicht verstehen, wusste nichts von seinem Leben. Doch auch wenn, hätte ich mich einfach so damit abgefunden?

„Du weißt, dass ich dich liebe, oder?“

Keine Gefühlsregung in seiner Gestik.

„Ich meine, ich habe es dir nie gesagt, aber du weißt es do-“

„Ich weiß es“, winkte er ab.

„Und du bist deswegen gegangen, richtig?“, versuchte ich tonlos und ruhig zu sprechen, jedoch zog sich in mir alles zusammen bei den Gedanken.

„Ich möchte nicht darüber reden.“

Eine bekannte abgewandte Bewegung folgte.

„Ich möchte aber darüber reden und wenn ich mich nicht irre, bleibt dir wohl gerade nicht viel anderes über, als mir zu zuhören“, blieb ich immer noch ruhig, auch als sein schon fast abwertender Blick mich traf. „Denkst du denn wirklich, dass deine Schwester gewollt hätte, dass du als Penner auf der Straße lebst, dich deiner Familie abwendest und nie wieder im Leben glücklich sei-“

„HÖR AUF!“, schrie er gegen meine Worte.

„NEIN, das werde ich nicht“, brachte ich mich näher in Stellung. „Ich möchte hier und jet-“

„Hör auf, habe ich gesagt.“

„Warum sollte ich?“

„Weil… du hast sie nicht gehört.“

„Wen habe ich nicht gehört?“

Ich wollte ihn berühren, ihm Schutz geben, doch zögerten meine Finger.

„Alle... die ganze Stadt. Meine Schwester musste für meine Sünden büßen, haben sie gesagt und mein Bruder und meine Mutter haben mich genau so angeschaut, wie alle anderen. Voller Scham und Ha-“

„Es war nur die Trauer, die aus ihnen sprach. Sie wollten dir bestimmt nicht wehtun“, unterbrach ich ihn.

„Lass es… du hast ja keine Ahnung….“

Wieder und wieder wand er sich ab, wohin ich auch ging. Ich war bereit ihn zu trösten, wollte ihn in den Arm nehmen und sagen, dass alles wieder gut werden würde. Dass der Schmerz irgendwann vorüber gehen würde und er noch einmal ganz von vorne anfangen könnte, doch dann sagte er Worte, die mich zu keiner Handlung fähig sein ließen:

„Hättest du mich doch nur sterben lassen.“
 

Part 09 – Ende

Nach vorn und wieder zurück!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 10
 

Ich war im Garten hinter unserem Haus und acht Jahre alt gewesen. Ungefähr zwanzig andere Kinder hatten die große Rasenfläche mit Leben erfüllt. Man konnte das Lachen und Singen die ganze Straße hinunter hören.

Es war ein schöner Tag gewesen. Die Sonne schien uneingeschränkt vom Himmel, Blumen blühten, alles schien sich von seiner besten Seite zeigen zu wollen, schließlich war es der Geburtstag meiner Schwester. Sogar die überwältigende Anzahl an Blütenpollen schien sich für dieses Ereignis so richtig rausgeputzt zu haben. Sie tänzelten und hüpften durch die Luft, ein Leuchten umgab sie, und eine dieser Pollen wand sich direkt an Joey Pelzers Gesicht.

Wer die Situation zuvor nicht miterlebt hatte, hätte annehmen können, dass genau dieses unschuldige, kleine Ding verantwortlich sein würde für seinen baldigen Ausbruch, doch ich wusste es besser. Ich hatte immer noch vor Wut geschnaubt, mein ganzer Körper zitterte heftig. Doch dies ließ schnell nach, und Angst loderte in mir auf, immerhin war Joey Pelzer ganze drei Jahre älter als ich und bekannt dafür, dass er nicht gerade auf der liebenswerten Seite des Lebens wandelte. Würde er mich ebenfalls schlagen, mir vielleicht weitaus Schlimmeres antun?

Ich hatte zwar Angst gehabt, aber andererseits war es mir gleich. Er hatte meiner Schwester wehgetan und ich, als ihr Bruder, musste sie beschützen. Und als dann besagte Polle auf seiner Wange landete, gerade dort, wo ich zuvor zugeschlagen hatte, hielt ich den Atem an. Ich malte mir aus, wie er sie aus seinem Gesicht wischte, hämisch grinste und danach auf mich zugestürmt kommen würde, wie er mich schlug, mir wehtat und ich anfangen würde, vor Schmerzen zu weinen. Doch nichts von alledem war passiert, im Gegenteil. Er war es, der anfing zu weinen.

Zum Sieger erkoren, ließ mich sein Anblick allerdings nicht in Stolz schwelgen. Es tat mir leid, was ich getan hatte. Ich hatte Mitleid und ich fühlte mich schuldig an seinem Schmerz. Am liebsten wäre ich zu ihm rüber gegangen und hätte ihn getröstet, jedoch war ich nur starr auf meinem Platz stehen geblieben und fing ebenfalls an zu weinen.
 

Mein Körper streikte augenblicklich, meine Hand starr in der Luft. Sie kribbelte stark, schmerzte, verriet mir, dass es nicht nur ein Traum oder irrationales Wunschdenken war, sondern dass ich es tatsächlich getan hatte.

Wir blickten uns an. Schon Ewigkeiten hatten wir es nicht mehr geschafft, uns gegenseitig so lange in die Augen zu sehen, und ich persönlich wollte nur noch weg schauen, schämte mich.

Wie konnte es nur so weit kommen, es passieren, dass ich meine Hand gegen ihn erhob? Gegen einen Kranken, jemanden, den ich dazu noch liebte? Es kribbelte weiterhin in der gesamten Handfläche. Wie fühlte es sich wohl bei ihm an, auf der verletzten Gesichtshälfte, wo ich reflexartig zugeschlagen hatte?

Ich wog natürlich nicht die prozentualen Chancen ab, ob er genau wie Joey Pelzer anfangen würde zu weinen, ich ihn in den Arm nehmen könnte und ihm vergewissern, dass schon alles wieder gut werden würde… doch mir war beinahe zumute danach. Nicht nur wegen gerade diesem Moment.

Meine Hand hatte sich mittlerweile ohne mein Merken gesenkt.

„Es tut mit leid“, schaffte ich es endlich, mich von seinem Blick zu lösen.

Es war ein harter Blick seinerseits, nichtssagend, einfach ausdruckslos. Mich in Bewegung zu setzen war dagegen nicht ganz so einfach, aber auch dies gelang mir bald. Ich wollte nur noch raus aus dem Zimmer, mich in einem Raum außerhalb seiner Sichtweite verkriechen.

„Mach dir keinen Vorwurf. Es war nur eine Frage von Zeit, bis es dir zu viel wird.“

Ich stoppte oberhalb seines Bettes.

„Was?“, fragte ich nach, obwohl ich ihn zuvor eigentlich sehr gut verstanden hatte.

Ich schaute auf den Boden vor mir, obwohl ich ihn doch eigentlich entrüstet hätte ansehen sollen. Schon alleine mein Blick hätte ihn davor warnen sollen, weiter zu sprechen.

Natürlich war es falsch gewesen, was ich getan hatte, aber hatte er nicht auch seine Schuld daran, wo er mich geradewegs dahin getrieben hatte?

„Machen wir uns doch nichts vor“, schwang ein lachender Unterton in seiner Stimme. „Irgendwann musstest du doch von dem ganzen Scheiß hier genug haben.“

Ich nahm eine schnelle Bewegung im Augenwinkel wahr und irgendetwas fiel klirrend zu Boden. Er sprach weiter und ich kämpfte innerlich mit mir, nicht schreiend über ihn herzufallen, auf ihn einzuschlagen, bis er endlich die Klappe hielt. Alleine die Vorstellung daran gab mir einen Funken Befriedigung.

„Leck mich doch!“, presste ich hart zwischen meinen Lippen hervor und ging weiter um sein Bett herum, um zum Flur zu gelangen. Schnell war mein Schritt, ich wollte nicht doch noch in Versuchung kommen.

„Hast du gerade etwas gesagt?“, hielt er mich am Saum meines Shirts auf.

Zuerst wollte ich seinen Arm weg schlagen, sah aber noch im letzten Augenblick, dass es sein verletzter war. Stattdessen beugte ich mich ein wenig zu ihm herüber und wiederholte meine Worte noch einmal. Schön deutlich und langsam dazu.

Die Anspannung lag fühlbar zwischen uns.

„Lass mich los!“, fügte ich noch bei, und kurz hatte ich auch das Gefühl, dass er darüber nachdachte, es zu tun.

„Nein, lass es hier und jetzt endlich mal gesagt sein.“ Er zog mich noch einige Zentimeter näher ans Bett heran. „Sag endlich, dass du genug von der ganzen Scheiße hast, dass es dir zu viel wird, ich abhauen soll, und dass du mich nicht mehr in deinen Leben haben möchtest. Sag es, verdammt noch mal! Sag es!“

Seine Stimme war lauter geworden und immer wieder wurde energisch an meinem Shirt gezogen. Sein Blick machte mich ziemlich unsicher, was er gerade wirklich von mir erwartete, und obwohl ich diese Gedanken, die er gerade ausgesprochen hatte, mit mir rum trug, war ich nicht bereit, sie über meine Lippen zu bringen.

„Lass mich los, habe ich gesagt.“ Energisch zog nun ich an meiner Kleidung. Er hielt mittlerweile mit beiden Händen fest. „Ich will, dass du-“

Mit einer galanten Verbeugung zog ich meinen Oberkörper aus seinem Gefängnis, der Kopf folgte und ich war mir schon fast sicher, ihm entkommen zu können. Jedoch wickelte er blitzschnell meine Arme um den überflüssigen Stoff und zog mich wieder näher heran.

Alles ging so verdammt schnell. Ich hatte noch versucht, mich irgendwie abzustützen, schon alleine, um nicht auf seinen verletzten Körper zu treffen, doch er war stärker.

„Vergiss es.“

Es war mehr ein Fauchen, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.

Nur kurz flackerte ein Gefühl von Schmerzen in seinem Blick auf, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte und mich intensiv fixierte. Ich war ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Ich konnte ihn spüren, ihn riechen, sogar zum küssen hätte ich mich nur noch ein wenig mehr vorbeugen müssen.

„Ich liebe dich, verdammt noch mal!“, platzte es aus mir heraus.

Ich erwartete alles und doch gar nichts. Ich wollte hören, dass er es erwiderte, oder dass er mir sagte, dass er nichts für mich empfand. Ich wollte ihn küssen und hoffte gleichzeitig, dass er selbiges Verlangen hatte und es von sich aus tat. Ich wollte ihn berühren, leicht mir meinen Fingern durch sein Gesicht streicheln. Seine Verletzungen waren für meinen Blick nicht mehr vorhanden, doch meine Hände entzogen sich immer noch meiner Kontrolle. Was war so schwer, was so falsch daran?

„Ich liebe dich“, wiederholte ich noch einmal.

Es verunsicherte mich sehr, dass gar nichts, rein gar nichts bei ihm zu erkennen war. Weder Belustigung, noch Abscheu oder Zustimmung. Einfach nichts.

Sein Griff lockerte sich.

„Verschwinde.“

Sein Kopf drehte sich so weit weg, wie es ihm mit meinem Gewicht auf seinen Brustkorb möglich war. Vorsichtig erhob ich mich und wickelte meine Hände frei. Ich streifte einige Mal über sie hinweg, um wieder Gefühl in ihnen zu erlangen. Ich wollte nicht einfach so gehen, zögerte den Moment hinaus.

„Ich werde nicht verschwinden“, versicherte ich in den Raum hinein, mein Blick lag immer noch auf meinen Händen. „Ich werde vielleicht mal nicht in deiner Nähe sein oder… woanders… damit ich dir nicht an die Kehle springe, aber ich werde nicht verschwinden. Hörst du?“, sah ich ihn an.

Doch wie erwartet kam weder eine körperliche noch sprachliche Erwiderung, darauf. Ich drehte mich ihm ganz zu. Meine Finger fanden von allein sein Gesicht, streichelten behutsam über die verkrusteten Stellen. Dunkel waren sie geworden, eigentlich dürfte es nicht mehr lange dauern, bis sie sich ablösten. Ich schob einige Haarsträhnen hinters Ohr und fuhr leicht die Konturen nach, dann stoppte ich, nahm meine Hand aber nicht weg.

„Ich hätte es nicht ertragen, wenn du gestorben wärst.“

Innerlich wie körperlich überkam mich die Ahnung, bald die Kontrolle zu verlieren. So, wie wenn man seine Tränen nicht halten kann oder man einfach losließ und zu Boden glitt.

Ich zog meine Hand weg und verließ den Raum.
 

~ * ~
 

Es war nicht leicht, meine Gedanken zu ordnen oder ihm Zeit zu geben, über Situation oder Gesagtes alleine nachzudenken, da wir aus der Notlage heraus immer wieder aufeinander prallten. Vielleicht hätte ich meine Gefühle auch besser für mich behalten, denn ihm war nicht einmal die Möglichkeit des Weggehens gegeben. Er saß fest, in der Falle… ob er wollte oder nicht.

Umso mehr freute ich mich, meiner Wohnung für eine kurze Zeit entkommen zu können, als ich mich am Sonntagmittag mit David beim Mexikaner an der Ecke traf. Es war nicht einfach, nicht an Ryan zu denken, über andere Dinge zu sprechen… Ich hielt es ganze 18 Minuten durch.

„Vielleicht sollte ich Dr. Cally um Rat bitten?“

Ich blickte ihn hilfesuchend über den Salz- und Pfefferstreuer an.

„Ich denke nicht, dass er einen Psychiater braucht. Was er braucht, ist nur mal eine feste Umarmung von seiner Familie. Er sollte sich da dringend aussprechen gehen.“

Den Blick gesenkt, fummelte ich, wie so oft in der letzten Zeit, an dem Pflaster an meinem Finger herum. Ich hatte es immer noch nicht entfernt, der Smiley allerdings war durch einiges Händewachen nur noch schwach zu erkennen.

„Ich hab Jeremy getroffen.“

„Ich weiß. Er hat es mir erzählt.“

Er winkte die Kellnerin heran und bestellte sich noch eine Cola. Eine drückende Luft lag im Raum, beinahe schon erstickend.

„Warum hast du mir nicht erzählt, dass ihr wieder so engen Kontakt habt?“

Ich griff nach meinem Glas Wasser, trank aber nicht.

„Wäre das irgendwie von Bedeutung gewesen?“

„Wer weiß“, stellte ich es wieder ab, bevor ich es erneut aufnahm. „Also?“

„Hör bloß auf, den Gekränkten zu spielen. Wenn du ihn wirklich erreichen hättest wollen, dann wäre dir das auch ohne meine Hilfe ganz gut gelungen.“

Ich schwieg. Er hatte Recht und das wusste ich. Irgendetwas sollte mich nur ablenken, auch wenn es ein kleinlich provozierter Streit mit David war. Doch erdrückte er dies im Keim und erkannte zu schnell die Situation. Er redete auf mich ein, sodass ich überhaupt keine Chance mehr hatte, zu Wort zu kommen. Am Ende unseres Treffens versicherte er mir abermals, dass er immer für mich da sein werde, wenn ich etwas bräuchte, und riet mir, mich mal wieder bei der Familie zu melden.

Ich kehrte zurück ins Exil. Ich half meinem Schützling in den Rollstuhl, aus diesem wieder hinaus, brachte ihm etwas zu Essen und sah mir mit ihm zusammen die Spätnachrichten an. Vom Wetter hatte ich ihm erzählt und von meinem versalzendem Essen beim Mexikaner.

Er hatte nichts zu sagen.
 

Am darauffolgenden Montag flüchtete ich mich für zwei Stunden in die Arbeit… Ich brauchte das einfach. Andere Menschen, Trubel und Hektik um mich herum. Ich konnte endlich einmal wieder richtig durchatmen. Jedoch driftete ich zu oft ab.

Zu Ryan, zu Jeremy und zu dem, was David gesagt hatte. Ich überwand mich wenig später und rief Lienn an. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, noch einmal mit Ryan das Gespräch zu suchen, erklärte ihm, dass es wichtig für ihn wäre, auch wenn er es im Moment vielleicht nicht sähe. Dennoch stellte er auf stur. Wütend legte ich auf und ging nach Hause.

„Ich bin wieder da“, betrat ich das Wohnzimmer.

„Hi“, kam es schüchtern.

Vor Schreck blieb ich einige Sekunden wie angewurzelt im Raum stehen. Ryans Aufmerksamkeit galt den Karten, die er vor sich auf der Bettdecke verteilte und dann spielgehörig zuordnete. Solitär!

„Brauchst du etwas?“, fragte ich zaghaft nach, während ich näher ans Bett heran trat.

Meine Hand legte sich auf die Matratze. Er schüttelte den Kopf. Aber ich wollte bei ihm sein. Mein Blick spielte Interesse an den Karten vor, damit er mich nicht wegschickte. Klammheimlich setzte ich mich auf den Rand des Bettes. Seine Finger glitten schnell über die Karten hinweg, ich konnte dem Wechsel kaum folgen.

„Interesse?“

„Bitte?“, hob ich verwirrt den Kopf. Eine Karte wurde mir entgegen gestreckt.

„Möchtest du spielen?“

„Mit dir?“

„Du musst nicht, wenn du nicht magst.“

Seine Hand verschwand und legte die darin liegende Karte ordnungsgemäß ab.

„Doch!“, eröffnete ich laut, seine Bewegung hielt inne.

Kurz sah er mich an, bevor er die Karten zusammenkratzte und sie zu mischen anfing.

„Poker?“

„Mit Einsatz?“

„Ich habe nichts anzubieten.“

Er teilte aus und ich unterdrückte meine Antwort darauf. Ich hätte ihm viel zu vieles vorzuschlagen was er zum Einsatz hätte bringen können, jedoch beließ ich es. Ich wollte dies hier nicht direkt wieder mit meinem Wunsch nach Antworten kaputt machen. Es war das erste Mal seit langem, dass so etwas wie ein normales Miteinander von statten ging, auch, wenn nur das Nötigste gesprochen wurde und ich immer wieder schnell auf meine Karten schaute, wenn er aufsah.

MEHR
 

~ * ~
 

Die nervige Krankenschwester kam am frühen Dienstagmorgen. Sie erzählte mal wieder, ohne dass man groß Interesse dafür zeigte, das Neuste aus ihrem Leben. Ich versuchte, mich abzulenken und ihrem Gequatsche nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu widmen, bis sie auf das Wesentliche zu sprechen kam.

„Am Donnerstag um halb Zehn, wenn es Ihnen passt?“

„Klar, kein Problem“, bestätigte ich den Termin der Röntgenuntersuchung.

„Wenn die Fortschritte gut sind, werden wir am Freitag operieren.“

„Operieren?“, ertönten Ryans und meine Stimme zugleich.

„Das Monstrum hier entfernen…“ Sie tätschelte auf das Gerüst um Ryans Bein. „…und einen normalen Gipsverband anlegen. Dafür wird er aber einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Wir müssen nach der Abnahme erst einmal das Bein ein wenig beobachten, ehe wir es wieder zugipsen.“ Sie hatte ihre Sachen zusammen gepackt und reichte mir die Hand. „Also, bis Donnerstag.“
 

Der Rest des Morgens verlief wie jeder andere Tag auch. Bett neu beziehen, Medikamente, Frühstück und die Morgentoilette. Dass Ryans Stimmung sich verschlechtert hatte, merkte ich erst gar nicht. Immerhin war sie die ganze Zeit über nicht gerade gut gewesen, wenn wir es jetzt mal vorsichtig ausdrückten. Ins Grübeln kam ich, als er das Mittagessen unberührt wieder von sich schob.

„Möchtest du etwas anderes haben?“, zweifelte ich zuerst an meiner Auswahl.

„Ich habe keinen Hunger.“

„Mal was ganz Neues.“

Ich nahm das Tablett weg und versuchte erst gar nicht, die Nachteile einer Unterernährung mit ihm zu diskutieren. Das Essen verpackte ich in Plastikschüsseln und verstaute sie im Kühlschrank, das Geschirr spülte ich ab. Daraufhin parkte ich mich im Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Kurz zappte ich durch die Kanäle und blieb an einer nervigen Sitcom hängen.

Die Ablenkung war schnell dahin, und so erhielt der Fernseher zwar meinen Blick, jedoch fegten meine Gedanken schon wieder woanders hin. Um genau zu sein, zirka drei Meter nach links.

Meine Gedankenwelt schob sich zurück an den gestrigen Nachmittag. Die kleinen, rechteckigen Karten waren unser einziger Zusammenhalt gewesen und doch war es viel mehr als eine lange Zeit zuvor. Ich konnte noch gut das kleine Lächeln auf seinen Lippen sehen, als er mich zum vierten Mal in Folge besiegte, das kurze Gefühl, dass dort vielleicht der Wendepunkt in dieser vertrackten Situation entstehen könnte. Doch zum Ende musste ich mir eingestehen, dass es doch nur das war, was es war: Ein Kartenspiel.

Ich wand mich zu ihm. Wollte ich einen Kontakt herstellen? Wenn schon… sein Blick war wieder mal ganz woanders, nicht auf der entgegen gesetzten Seite oder gesenkt, nein, dieses Mal war sein Blick wie in sich selbst gekehrt als träume er vor sich hin. Es sah halt nur nicht so aus, als würde er dies tun.

Etwas Neues lag auf ihm, möglicherweise hatte ich es aber auch nur zuvor noch niemals gesehen. Ich schob mich kurz zurück an den Anfang, als er gerade bei mir eingezogen war und wir langsam anfingen, uns zu unterhalten, miteinander leben zu lernen, ja, uns sogar gegenseitig zu ergänzen. Gemeinsame Videoabende, Gespräche und das stundenlange Grübeln über meiner Arbeit, was ihn richtig fasziniert hatte… und auf einmal machte es “Pling“.

Ich nahm an, dass ich wie diese Comicfiguren nun eine riesengroße, leuchtende Glühbirne über meinem Kopf tragen müsste.

Ich stand langsam und gelangweilt auf, so, als wüsste ich gerade nichts mit mir anzufangen.

„Möchtest du noch schauen?“, bot ich ihm die Fernbedienung dar und legte sie, ohne wirklich auf Antwort zu warten, die ohnehin ausblieb, wieder auf den Tisch. Natürlich nachdem ich den Fernseher ausgeschaltet hatte.

Ich ging in mein Arbeitszimmer, nur um Minuten später mit voll beladenen Händen wieder am Wohnzimmertisch zu erscheinen. Ich breitete alles vor mir aus und tat so, als wäre ich ganz in meinem Element. Gespielt nach Lösungen suchend, plapperte ich leise vor mich hin. Ich drehte das Blatt da rum, schob es wieder zurück und kämpfte hier und da mit dem Lineal, fluchte, überlegte, sinnierte… Seine Aufmerksamkeit war mir gewiss.

„Ein neues Projekt?“

Es lag viel Neugierde in seiner Stimme. Wie bei einem Kind, das ein neues Spielzeug zu Weihnachten erhalten hatte, aber noch nicht wirklich wusste, wie es funktionierte.

„Nicht wirklich.“

„Was ist es?“

Ohne ihn direkt anzuschauen, konnte ich erkennen, wie er sich grade aufsetzte, versuchte, mehr davon zu erkennen, was auf dem großen Stück Papier vor sich ging.

„Scheiße ist es.“

Ich schmiss mich nach hinten in das Sofa und ließ den Stift mit ein wenig zu viel Kraft auf den Tisch fallen. Er hüpfte davon und ging zu Boden. Ich rieb mir mit den Händen über die Augen, gab mich genervt.

„Kann ich mal sehen?“

Ich war froh, meine Hände immer noch auf meinem Gesicht zu haben, denn unter ihnen konnte ich das kleine Lächeln auf meinen Lippen wunderbar verbergen. Ich schüttelte es ab und spielte weiter meine Rolle.

„Ach, ist schon ok“, fing ich an, meine Utensilien wieder zusammen zu scharen. „Ich werde mich einfach am Wochenende ran setzten, dann fällt mir schon was ein.“

Dass dieses Projekt überhaupt nicht zu meiner Arbeit gehörte, verschwieg ich mal eben. Es handelte sich dabei um eine Aufgabe, die wir damals auf dem College aufbekommen hatten. Innenarchitektur. Ich hatte es nie fertig gemacht, weil ich kurz nach Beginn den Kurs wechselte.

„Zeig doch mal her“, bat er, als ich am Bett vorbei ging.

„Sicher?“

„Klar.“

Er strich seine Decke soweit es ging glatt und streckte seine Hand nach dem Papier aus. Ich trat heran und reichte es ihm. Schon ihm dabei zuzusehen, wie er es voller Ungeduld auseinanderfaltete, war das ganze Schauspiel wert gewesen.

„Was ist das?“

„Ein alter Wasserturm.“

„Ein Wasserturm?“

Er war irritiert. Schnell legte ich mir eine gute Geschichte zurecht.

„Ein Freund des Büros hat ihn sich gekauft“, fing ich an.

„Wer kauft sich denn einen Wasserturm?“

Seine Augen huschten weiterhin darüber.

„Er. Und unsere Aufgabe ist es, ihn bewohnbar zu machen. So richtig mit allem drum und dran.“

Denn genau dies war die Aufgabe gewesen: Richtet den Wasserturm ein.

„Der Durchmesser liegt bei fünf Metern?“

„Ja… aber hier…“ Ich beugte mich zu ihm, automatisch rutschte er ein wenig zur Seite, um mir Platz auf dem Bett zu geben, und wie von selbst setze ich mich auf die freigewordene Stelle, war ihm nahe. „… sieht du? Die Treppe windet sich durch den ganzen Wasserturm und nimmt im Durchmesser noch einmal 1,2 Meter weg.“ Mein Finger glitt über das Papier.

„Vier Ebenen…“, sprach er mehr zu sich selbst.

„Ich dachte, man könnte hier die Küche einrichten, weil die Decke so schön hoch ist. Stahlseile, mit denen man ein gerades Brett… hier längs… fixiert-“

„Für Hängeschränke“, verstand er.

„Ja, was anderes ist mir nicht eingefallen. Oder wie würdest du eckige Schränke an einer runden Wand befestigen?“

„Nein, nein, es ist eine tolle Idee. Aber du solltest es besser hier rüber ziehen…“ Er fixierte das Lineal auf dem Grundriss und bot mir somit seine Gedanken an.

„Du hast Recht.“

Er lächelte leicht.
 

Nachdem gut zwei Stunden vergangen und drei der Ebenen so gut wie fertig eingerichtet schienen, machten wir eine kurze Pause. Ich wärmte das Essen auf, das er zuvor nicht anrühren wollte, und schaute ihm dabei zu, wie er aß und gleichzeitig mit den Augen weiter über das Projekt huschte. Irgendwann fiel mir das lose Stück Kruste an seiner Wange auf.

Meine Hand schnellte vor und sein Kopf, sobald er dies bemerkt hatte, ein Stück zurück.

„Entschuldige, da ist…“

Wie konnte mir nur so ein Fehler passieren? Gerade jetzt, als es so gut lief.

„Was ist da?“

Er versuchte es selber zu erkennen und stierte mich fragend an.

„Darf ich?“, erhob ich abermals meine Hand, die ich zuvor natürlich in Windeseile wieder zurückgezogen hatte.

Prüfend war sein Blick.

„Ok.“

„Ja?“

„Nun mach schon“, schien er ungeduldig zu werden, nicht wissend, auf was ich eigentlich zielte. Vielleicht dachte er an ein Tier, eine Spinne oder ein Haar, das irgendwo verwachsen war.

Ich rutsche ein wenig vor und ich fragte mich, ob ich überhaupt in der Lage wäre, mich auf den zirka zentimetergroßen Punkt zu konzentrieren. Würde meine Hand vielleicht zu zittern anfangen? Würde ich ihm wehtun, es unangenehm sein?

Meine Hand legte sich fest auf sein Gesicht, stützte die zwei Finger ab, die sich langsam vorwagten, bis sie das Gemisch aus abgestorbenen Blut und einigen Hautzellen zwischen sich fühlten. Ich blickte ihm kurz in die Augen, wieder zurück und behutsam ließ ich meine Finger zurückgehen.

Millimeter um Millimeter entfernte ich die Kruste von seiner Hautschicht, ich war mir sogar sicher, ein ganz leises Geräusch dabei wahrnehmen zu können.

Irgendwann hatte ich zentimeterweise von ihr entfernt, bis ich an einen festen Teil kam und es gut sein ließ. Die halbe Wange erstrahlte nun in einem Gemisch von leicht rosa und weiß. So, als würde er unter einer extrem blassen Haut leiden, die einen leichten Sonnenbrand bekommen hatte. Im Gegensatz zu seiner restlichen Haut war der Unterschied ziemlich hervorstechend. Ich konnte nicht anders, als ihn dort mit meinen Fingerspitzen zu berühren.

„Du tust es schon wieder“, drang seine Stimme in meinen Kopf.

„Ich weiß…“ Meine Finger glitten weiter zu seinem Ohr, seinem Nacken. „… ich kann nicht anders.“

Ich sah ihn an und in mir drin barst irgendetwas auf. Etwas, das Nähe verlangte, das sich nach Zärtlichkeit sehnte.

„Findest du es denn gar nicht schön, wenn ich dich berühre?“

Ich spürte ein bekanntes Kribbeln in meiner Nase, Tränen würden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Innerlich wies ich mich an, wenigstens so lange zu warten, bis er seinen Kopf wieder einmal angewidert von mir abgewandt hatte, doch dieses Mal passierte etwas ganz Neues.

Seine Hand legte sich über meine und drückte sie näher an seine Haut. Er schaute mich immer noch an, wenn sein Blick auch nicht gerade aufschlussreich war.

„Doch…“, kam es leise über seine Lippen. „Das Problem ist nur...“, fuhr er fort und hielt meine Hand noch ein wenig fester. „… dass es für dich wahrscheinlich etwas anderes bedeutet als für mich.“

Seine Hand glitt wieder hinab.
 

~ * ~
 

Wie ich den Mittwoch überlebte, weiß ich nicht mehr so ganz genau. Ich könnte es nicht einmal mit “einerseits“ oder “irgendwie“ beschreiben, es war einfach nicht möglich. Es fühlte sich an, als wäre mein Gehirn von einem dichten Nebel umgeben, in dem ich nur kraftlos herumirrte.

Ein wenig Konversation durchbrach den Tag, doch stimmte sie mich nicht glücklich. Wenn ich ihn berührte, um ihn aus dem Bett zu helfen oder wieder hinein, kam ich mir dabei ziemlich heuchlerisch vor. Keine Ahnung wieso, ich versuchte so wenig Körperkontakt wie möglich entstehen zu lassen. Ich war an einem neuen Tiefpunkt angelangt.
 

Am Donnerstag fuhren wir ins Krankenhaus. Die Röntgenaufnahmen sahen gut aus, er wurde operiert. Er bekam ein Zimmer zugewiesen und ich räumte seine Wäsche in den Schrank ein.

Als ich damit fertig war, erörterte er mir, dass ich nicht bleiben bräuchte. Ich solle mir mal ein paar Tage für mich nehmen, waren seine Worte. Er würde anrufen, wenn sich was ergäbe oder er etwas bräuchte.

Ich sagte ihm, dass ich ihn lieben würde und küsste ihn auf die Stirn.

Dann ging ich.
 

Part 10 – Ende

Kontrolle!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 11
 

Nicht den Nerv auf die Ankunft des Fahrstuhls zu warten, hetzte ich die Treppen hinab. Ich wollte wieder einmal einfach nur raus. Irgendwie kam es mir gerade so vor, als würde ich in meinem Leben nichts anderes mehr tun, als wegzulaufen.

Außer Atem verließ ich das Treppenhaus und schlängelte mich an Schwestern und Patienten vorbei, starr auf Richtung Tür getrimmt. Ihre erschrockenen und irritierten Blicke hielten mich nicht auf, erst bei der unerwarteten Erwähnung meines Namens, blieb ich stehen, sah mich um.

„Was tust du hier, Chris?“

Schnell überwand er die Distanz.

„Ich habe n-“

„Ist irgendetwas mit Ryan passiert?“, ließ er mich nicht aussprechen.

Seine Hände legten sich besorgt auf meine Arme. Ich schüttelte nur den Kopf.

„Stimmt irgendwas bei dir nicht?“

Er schaute schnell an mir hinab und wieder hinauf.

Ob etwas mit mir nicht stimmte? Ja, ganz sicher stimmte bei mir so einiges nicht.

„Ich…“

„Was denn? Nun sag schon“, wurde er ungeduldig, als ich nicht weiter sprach.

„Es geht nicht mehr!“, dröhnte es in meinem Kopf. „Du bist mit deinen Kräften am Ende!“, schrie eine Stimme in mir. „Ein Wrack, fertig, kaputt!“, ließ sie mich wissen. Aber das traute ich mich nicht auszusprechen, denn dann wäre ein Fünkchen mehr Wahrheit in all dem gewesen. Stattdessen sackte ich einfach nur zusammen. Ich machte mir keine Sorgen darum, ob er mich fing oder nicht. Es war mir in dieser kurzen Zeitspanne einfach egal.

Aber natürlich landete ich nicht mit unbeschreibbarer Wucht auf den harten Fliesen, deren Farbe so gar nicht zu den Wänden passte, sondern in seinen Armen. Er drückte mich an sich und für einen Moment war alles in mir ruhig. Nichts dröhnte in meinen Kopf, nichts sagte mir, dass ich versagen würde. Es war einfach nur ruhig und angenehm.

„Bist du mit dem Wagen da?“, klang seine Stimme wie ein weit entferntes Echo.

Ich nickte und er führte mich immer noch an seine Brust gepresst aus dem Gebäude. Wind stieß mir ins Gesicht und ich drückte mich noch näher an ihn.

Er führte mich zum Parkplatz. Ich wies nur schwach mit dem Finger in die richtige Richtung, und am Auto angekommen nahm er mir die Schlüssel ab und setzte sich selbst hinters Steuer.

„Ich fahr dich nach Hause.“

„Da will ich aber nicht hin“, drehte ich mich ihm zu. Ich nahm einen seltsamen Geruch von den Bezügen der Sitze auf. Hatte ich sie jemals gewaschen, seit ich sie aufgezogen hatte?

„Gut, dann kommst du mit zu mir.“

Ich schwieg. Alles war besser als jetzt allein zu Hause zu sein.

Die gesamte Fahrt über sah ich ihn an. Ich nahm einzelne Bewegungen wahr, aber er schien mir mehr wie eine dünne Illusion.

Wir entfernten uns vom Krankenhaus und mit jedem weitern Meter, schien mein Herz langsamer zu schlagen. Wäre es stehengeblieben, wenn ich weit genug entfernt gewesen wäre oder beruhigte es sich einfach nur?
 

Bei Jeremy angekommen nahm er mich bei der Hand und führte mich zum Sofa. Mit leichtem Druck platzierte er mich darauf und ging vor mir in die Knie. Seine Hände lagen wieder auf meinem Armen. Es war ein durchdringendes Gefühl, ein bekanntes Gefühl... ein schönes Gefühl. Immer noch war die Besorgnis fest in seinem Blick verankert.

„Also… was war jetzt? Ich meine, im Krankenhaus?“

Mehrere Finger strichen mir durchs Haar.

„Ryan musste zur Untersuchung. Er bleibt einige Tage da.“

Es kam fast schon mechanisch. Kurz fragte ich mich, ob ich wirklich gesprochen oder ob ich mir nur im Kopf die Worte zusammen gereimt hatte.

„Gott sei Dank. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

Jeremy ließ von mir ab und glitt zur Seite. Sein Körper drängte sich an die Sofafront. Die Stellen, an denen er mich zuvor berührt hatte, blieben kalt zurück.

„Und was hast du im Krankenhaus gemacht?“, wird mir der eigenartige Zufall jetzt erst richtig bewusst.

„Gearbeitet, was sonst.“

„Du arbeitest in diesem Krankenhaus?“

„Ja, hatte ich das nicht erzählt?“

„Nein.“

Er stand auf. Beim genaueren Hinsehen konnte ich nun auch die Müdigkeit in seinem Gesicht erkennen. Er rieb sich über die Augen, versuchte die Steifheit aus den Schultern zu drücken.

„Ich schmeiß mich mal kurz unter die Dusche. Kommst du hier klar?“

„Ja.“

Er lächelte halbherzig und verließ den Raum. Ich blickte ihm hinterher und kaum hatte er das Zimmer verlassen, ergriff mich Einsamkeit, ich fühlte mich als wäre ich verlassen worden.

Ich folgte meinem Instinkt, als ich langsam den Flur entlang ging und konnte gerade noch die Tür vor mir erkennen, wie sie ins Schloss gezogen wurde.

Die Wände hier hatten einen angenehmen Ton, fast schon beruhigend. Das Geräusch von aufbrausendem Wasser drang an mein Ohr. Die geschlossene Badezimmertür hielt mich fürs erste auf.

Meine Hand presste sich gegen das Sperrholz, ich lauschte den Geräuschen. Ich stellte mir den Raum vor. Seine Größe, den Standort der einzelnen Möbel und Armaturen, das Wasser, welches hart auf seinen Körper traf. Man konnte es beinahe mit anhören. Jeden einzelnen Strahl… wie er brach, sich weiter über den nackten Körper perlte. Ich kannte dieses Geräusch und ich kannte auch den angenehmen Körper dazu.

Ich öffnete die Tür, trat hinein und feuchte Luft umgab mich.

Während ich durch den Raum lief, landete ein Kleidungsstück nach dem anderen von mir auf dem Boden. Mir war so warm, aber dies war nicht der Grund, warum ich meine Kleidung von mir warf. Nackt erreichte ich schließlich den Duschvorhang.

Das laute Geräusch beim Zurückziehen schreckte ihn auf, ungläubig schaute er mich an. Ein Gemisch von Wasser und Schaum lief seine braungebrannte Statur hinunter. Sie gab mehr Muskeln preis als ich in Erinnerung hatte. Seine Haare klebten im Gesicht und die schaumbedeckten Hände schwebten unschlüssig in der Luft.

Ich stieg zu ihm in die Dusche.

„Was tust du?“, raunte es an mein Ohr, als ich mich ihm näher drückte.

Ich verstand ihn kaum, das Wasser hatte mich eingenommen, betäubte mich beiläufig. Doch auch durchs Wasser und die wenigen Luft spürte ich ihn. Er war mir so nah, so unglaublich nah, und genau das brauchte ich in dieser Sekunde.

„Nichts.“

Außer genüsslich die Luft um mich herum einzuatmen und das Wasser auf meinen Körper zu spüren. Zu wissen, dass ich mich nur fallen lassen müsste, um nicht mehr allein zu sein, um Geborgenheit zu empfangen… Liebe.

Meine Finger schlossen sich um seine starken Arme, drängte ihn ein wenig zurück. Ich berührte seine Schulter mit meinen Lippen, das Wasser glitt mir dabei an meinem Mundwinkel vorbei. Unbeholfen saugte ich an seiner Haut.

„Chris… bitte…“

Finger ergriffen mein Kinn, zogen es in eine andere Richtung. Ich musste mit einem festen Blick kämpfen, da mir Wasser in die Augen stieß. Er sah mich an als wollte er mir sagen, dass wir das hier besser nicht tun sollten. Was auch sonst?

„Willst du mich denn nicht?“, konterte ich, bevor er seinen Einwand gelten machen konnte. Sein Blick blieb konstant. Seine Hand hob sich und wischte mir nasse Haare aus dem Gesicht.

„Darum geht es doch gar nic-“

Seinen Widerstand brach ich mit feuchten Lippen. Es war eine Aufforderung, welcher er nicht entkommen konnte. Verlangend und energisch. Doch nicht nur unsere Lippen sprühten dies aus, auch unser Hände glitten über die Haut des jeweils anderen, rutschig und geschmeidig verschmolz alles miteinander.

Schieres Verlangen. Pure Lust. Und doch… obwohl jeder einzelne Kuss atemberaubend schön war, brannte es wie Feuer. Überall, wo mich seine Lippen berührten, mich seine Hände streiften, stieß der kurze Schmerz zu. Wunderschön und zugleich eine Qual, als würde alles Leben aus mir gezogen.

Wir pressten uns gegeneinander, küssten uns immer wieder. Seine Lippen glitten auf meine Brust, an meinen Hals, nur um kurz darauf wieder an meinen Lippen zu landen. Heiseres Aufstöhnen schaffte ich nicht zu unterdrücken. Ich spürte seinen Körper gegen meinen gepresst, alles konnte ich spüren… alles… und plötzlich wurde mir klar, dass ich das hier doch nicht wollte.

Ich wollte nicht verbrennen, ich wollte nicht um jeden Preis leer in mir drin sein… und so stieß ich ihn zurück, wobei sein Körper gegen die kalte Wand schlug.

Was tat ich nur, war ich von alles guten Geistern verlassen?

Irritiert schaute er mich an, als wisse er noch nicht, ob meine Handlung zu dem erregenden Vorspiel gehören würde oder nicht. Sein Blick veränderte sich und seine Hände versuchten, nach mir zu greifen, als ich wie von Sinnen aus der Dusche sprang.

Auch als ich stolperte und hinfiel, war er neben mir. Doch ich stieß ihn abermals weg, schrie nur, dass es mir Leid täte und verstand nicht, was er mir zu verstehen geben wollte. Ich musste nur noch raus.

Boxershorts und Shirt hatte ich noch zu fassen gekriegt, ebenfalls meine Jacke, welche ich von der Sofalehne riss. Die Wohnung verließ ich nackt. Erst im Flur schlüpfte ich in Jacke und Unterwäsche, beeilte mich, denn mir war klar, dass er mir folgen würde, sobald er konnte. Halbnackt überquerte ich die Straße und sprang ins Auto. Meine Finger zitterten, trotzdem schaffte ich es, den Motor anzulassen.

War ich jetzt vollkommen durchgeknallt?

„Aber warum denn nicht?“, meldete sich die innere Stimme wieder. War ich irgendjemanden verpflichtet? Hatte ich jemandem Treue geschworen? Weil Ryan nicht wollte, sollte ich nun auf der Strecke bleiben?

Sofort strafte ich mich Lügner. Dies war nicht meine Ausgangsposition gewesen, nicht deswegen war ich zu ihm in die Dusche gestiegen. Lautes Hupen, Reifenquietschen und Bremsspuren.

Nur Zentimeter trennten mich von einer anderen Karosserie, die Frau auf dem Fahrersitz schien der Ohnmacht nahe.

Mein Atem ging tief, nachdem ich ihn wiedergefunden hatte. Für eine Schreckenssekunde blieb mein Herz fast stehen. Ich ließ meinen Kopf leicht auf das Lenkrad schlagen, und ich befahl mir innerlich, wieder ruhig zu werden. Das, war es ganz sicher nicht wert.

Oh nein, soweit wollte ich doch nicht gehen.

Ich setzte den Weg unter empörten Rufen anderer Autofahrer fort. Mit einem Mal fror ich bis aufs Mark. Mein Körper sendete Signale aus, als hätte ich tagelang kein Auge zugemacht, ich verspürte Unkonzentriertheit, Müdigkeit und leichten Schwindel. Ich war erleichtert, als ich endlich zu Hause ankam.

Gerade zur Tür herein, klingelte auch schon das Telefon. Die Nummernanzeige ließ mich Jeremy erkennen, ich ging natürlich nicht ran. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Er musste mich wirklich für einen total Irren halten. Doch tat ich dies nicht schon selber seit geraumer Zeit? Was war bloß mit mir? Warum machte mich die ganze Sache nur so kaputt, ich war doch vorher auch nie so dermaßen labil gewesen. Und überhaupt, verlangte ich wirklich zu viel vom Leben?

Das Telefon klingelte erneut. Der Anrufbeantworter zeigte mir acht Meldungen an, zweifelsfrei alle von ihm. Nahezu zeitgleich mit dem nächsten Ton zog ich das Kabel aus der Wand… Ruhe!

Eine kleine Ewigkeit stand ich hölzern vor dem Telefon und schaute hinauf. So einfach war es also.

Ich wand mich zum Bett um.

Leer, so wie gerade alles in mir. Ich konnte das nicht, nicht ohne ihn… meine Finger krallen sich in die Laken. Ich hatte sie heute noch nicht frisch bezogen. Energisch drückte ich mein Gesicht ins Kissen, ich wollte ihn riechen, wenn ich ihm schon nicht nah sein konnte. Jedoch übermannte mich erneut die Kälte statt eines schönen Gefühls und ich presste mich auf die Matratze und zog mir die Decke über den Kopf… Überall lag sein Geruch verborgen, er schloss mich von allein Seiten ein und sollte keinen Platz mehr für andere Dinge lassen. Ich drückte mich dem so fest entgegen, wie es mir möglich war und schloss krampfhaft meine Augen.
 

Nur Sekunden schaffte ich es, mich fallen zu lassen, mein Handy allerdings durchbrach diesen ersehnten Sinneseindruck. Zur Jacke geeilt, sprang mir auf dem Display jedoch nur die bekannte Nummer unter die Nase: Jeremy.

Warum konnte er es nicht endlich gut sein lassen? Ich drückte den Anruf weg. Sekunden später klingelte es erneut, wieder er. Und abermals drückte ich ihn weg, und erneut rief er an. Ich wollte nicht mit ihm reden, verstand er das denn nicht? Doch dem Handy den Saft abdrehen war nicht drin. Ryan oder das Krankenhaus könnten versuchen, mich zu erreichen. Also blieb mir nichts anderes über als immer wieder erneut aufs Display zu starren, sobald es den ausgewählten Ton von sich gab. Und schneller als vermutet verlor ich die Geduld.

Einfach rangehen, ihm sagen, dass er aufhören sollte, anzurufen… gerade nicht in der Lage war, mit ihm sprechen zu können… Ich schaffte es nicht. Stattdessen presste ich meine Arme gegen das gutgefüllte Bücherregal und stieß es zu Boden.

Der laute Knall und das splitterndes Holz… ich erschrak. Aber nur kurz.

Schnell hatte die Zerstörung sich als Befriedigung angefühlt, als würde eine tonnenschwere Last von mir genommen. Doch welche Last war es, die in diesen Sekunden von mir fiel? Die Wut darüber, dass ich wieder einmal Mist gebaut hatte, oder übertönte der laute Knall nur die Einsamkeit, die ich gerade angefangen hatte zu verspüren? Mir dessen nicht bewusst, aber auch gleichfalls egal, wollte ich dieses Gefühl um nichts in der Welt so schnell wieder hergeben. Also folgte beim erneuten Aufschreien des Handys die Glasvitrine. Es schepperte noch lauter als zuvor, intensiver und auf meinen Lippen spiegelte sich ein befriedigender Ausdruck.

Daraufhin folgte der Tisch, die Bilder an der Wand, das Sofa schmiss ich um. Erst als ich ein Buch vom Boden aufhob und damit auf den Fernseher zielte, hielt ich inne.

Das darauffolgende dumpfe Auftreffen des Buches auf dem Boden kam zeitgleich mit dem Klopfen an der Tür. Und als wäre mir erst jetzt bewusst geworden, was ich getan hatte, schaute ich mich eingeschüchtert um.

Es klopfte erneut, dieses Mal gefolgt von einem Ruf.

„Chris? Alles in Ordnung bei dir?“

Cassy! Ihre Wohnung lag direkt unter meiner. Natürlich war ihr der Krach nicht entgangen.

Einen weiteren umrundenden Blick, dann ging ich zur Tür.

Sie hatte die Hand schon wieder zum Klopfen gehoben, als ich ihr mit einem gespielten Grinsen die Tür öffnete und ihr ein fröhliches „Hi!“ hinüber warf.

„Ähm… Ist alles in Ordnung bei dir?“

Ihre Hand ließ sie fallen, tätschelte damit den großen Hund an ihrer Seite.

„Du meinst den Krach?“, brach mein Lächeln nicht ab. „Ach, ich renoviere nur ein wenig.“

„Es hört sich an, als würdest du Kleinholz aus der Wohnung machen“, schien ich sie nicht überzeugt zu haben. Ihr Blick versuchte, an mir vorbei ins Wohnungsinnere zu gelangen.

„Ich war die alten Möbel einfach leid.“

Eine gelangweilte Handbewegung sollte dies unterstreichen. Sie schaute mich prüfend an.

„Ist auch wirklich alles in Ordnung?“

Ihr rechtes Auge fing nervös an zu zucken. Ich wusste zwar nicht genau, was sie sich gerade vorstellte, aber ihr Versuch, mir auf geheime Art eine Botschaft zukommen zu lassen, ließ mich tatsächlich ehrlich auflachen.

„Ja, wirklich“, versicherte ich erneut.

Sie versuchte wiederholt einen Blick in die Wohnung zu erhaschen und streichelte ihrem Hund beruhigend über das Fell.

„Na gut. Aber wenn die Polizei morgen deine Leiche in Stücken in deinem Badezimmer findet, werde ich ihnen sagen, dass ich alles menschenmögliche getan habe, um dies zu verhindern.“

Ihr Blick war noch einmal prüfend.

„Einverstanden.“

„Gut, also… bleib sauber.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging den Gang zum Treppenhaus entlang. Die Tür schloss ich erst, als ich hinter mir das Handy hörte. Natürlich wieder Jeremy.

Ich drückte den Anruf weg und ging, ohne mich zum demolierten Wohnzimmer zu wenden, ins Bad. Das gute Gefühl war natürlich schon längst wieder verschwunden. Was dafür an seine Stelle getreten war, konnte ich nicht hervorsehen.

Das Wasser lag angenehm kalt auf meinem Gesicht, mein Kopf wurde ein wenig klarer. Alles gute Anzeichen dafür, dass ich mich wieder unter Kontrolle hatte, doch als ich durch das Spiegelglas die Tränen auf meinen Wangen sah, rastete ich erneut aus.

Ich schlug mit aller Kraft auf den Spiegel ein und mein Fuß setzte unter dem Waschbecken dem Mülleimer so richtig zu.

Ich wollte das nicht. Wollte aufhören, als meine Hand anfing zu schmerzen, ich immer wieder auf den Fliesen wegrutschte, wenn ich nach dem Mülleimer trat, doch es ging nicht.

Es dauerte einige Minuten, bis ich mich keuchend auf den Boden wiederfand.

Nur einige Atemzüge später klingelte es an der Tür. Fast zeitgleich meldete sich das Handy, welches irgendwo auf dem Boden lag. Als ich es endlich fand, eröffnete mir eine SMS folgenden Wortlaut: „Wenn du mir nicht sofort die Tür öffnest, rufe ich David an.“ Erpressung via SMS, wie fortschrittlich.

Da mir nicht viel übrig blieb, wenn ich David nicht auch noch im Nacken sitzen haben wollte, ging ich zur Tür. Es klingelte erneut, bevor ich dort angekommen war. Ich betätigte den Hausöffner und ließ die Wohnungstür einen Spalt weit geöffnet. Ich wand mich wieder dem Wohnzimmer zu, hier konnte ich eh nichts mehr verbergen. Aber vielleicht noch die Hand? Man konnte der entstehenden Schwellung regelrecht zuschauen.

Ich wollte mich gerade umdrehen, um mir etwas zum Verbinden zu holen, da stand er auch schon hinter mir. Die Tür wurde hart geschlossen.

Meine Hose, Socken und Schuhe legte er auf der Garderobe im Flur ab, dann kam er auf mich zu. Sein Blick lag nur kurz auf meinem Gesicht, dann schaute er an mir vorbei.

Vielleicht war ihm einfach nur kein passender Satz eingefallen, denn er schüttelte nur leicht mit dem Kopf, als mich sein Blick erneut traf. Seine Finger berührten meine verletzte Hand. Ich zuckte schmerzhaft zusammen, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Wenigstens muss es nicht genäht werden“, verkündete er nach kurzem Hinaufschauen. Er drückte noch einige Male herum, um mich dann wissen zu lassen, dass sie wohl auch nicht gebrochen sei.

Es schien ihm nicht leicht zu fallen, sie wieder loszulassen.

„Wo hast du deinen Erste-Hilfe-Kasten?“

Ich zeigte in Richtung Bad und sofort wünschte ich mir, dass ich ihn woanders aufbewahrt hätte. Er ging und ich folgte ihm, wie auch zuvor an diesem Tage. Nur war es dieses Mal mein Badezimmer und wir standen uns nicht nackt in der Dusche, sondern einem Scherbenhaufen gegenüber. Ein missbilligendes Geräusch kam über seine Lippen und er zog mich zur Dusche herüber, wo er meine Hand unter einen seichten Wasserstrahl legte. Ich hielt vollkommen still, obwohl es furchtbar brannte.

Jetzt wo er hier war, wollte ich ihm sagen, dass es mir Leid tat, dass ich total verrückt und unüberlegt gehandelt hatte, und dass ich ihn mit meinem Vorgehen nicht hatte verletzen wollen, wenn ich dies getan hatte. Ehrlich gesagt, war ich mir immer noch nicht so ganz sicher, wie viel er für mich eventuell empfand… Und ich wollte ihm sagen, dass ich es verstehen könnte, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.

Er verband mir die Hand, professionell und distanziert. Danach verließ er das Bad wieder. Im Gehen streifte er sich die Jacke vom Körper und durchquerte das Gebiet der Verwüstung. Ich schaute ihm dabei zu, wie Kaputtes in eine Ecke geworfen wurde und Ganzes auf den Tisch gestellt, den er zuvor wieder aufgerichtet hatte.

„Du musst das nicht tun.“

„Ich weiß.“

„Warum tust du es dann?“

„Ich habe gerade nichts Besseres zu tun, und ich dachte man hilft Freunden, wenn sie Probleme haben.“

Das Wort Freunde ließ mich zusammenzucken, doch wieder ließ ich den optimalen Zeitpunkt, mich zu entschuldigen, vorbei streifen. Ich kniete nieder und half ihm beim Sortieren.
 

Es fing schon leicht an zu dämmern, als wir endlich fertig waren. Das halbe Wohnzimmer war jetzt leer, die kaputten Möbel hatten ihr Schicksal in dem großen Müllcontainer im Hof gefunden. Das ganze Miteinander hatten wir schweigend verbracht.

„Danke“, flüsterte ich nun.

Wir saßen uns auf dem Teppichboden gegenüber. Eine einsame Scherbe verlangte nach meiner Aufmerksamkeit. Ich pulte sie gerade aus dem Gemisch von Baumwolle und Synthetik, als mir ein Gähnen entwich.

„Du solltest schlafen gehen“, kam es prompt.

Ich antwortete nicht darauf. Ich konnte mir gerade überhaupt nicht vorstellen, alleine zu sein.

„Na komm…“

Er stand auf und reichte mir die Hand. Ohne sie in Beschlag zu nehmen, stand ich auf.

Kurz trafen sich unsere Blicke, ehe er in den hinteren Teil der Wohnung vordrang. Natürlich folgte ich ihm.

Im Schlafzimmer blieb er an der Wand neben der Tür stehen und kurz tat ich dasselbe, nur mitten im Raum. Er bemerkte mein Zögern.

„Ich geh dann mal“, stieß er sich an der Wand ab und trat in Richtung Tür.

Eine tiefe Stimme in mir wies mich zurecht, dass es nicht in Ordnung wäre, ihn zu bitten zu bleiben. Wie sehr ich mir auch wünschte, im Moment nicht allein zu sein, sollte ich ihn damit nicht belästigen. Gerade jetzt nicht, wo ich schon so vieles falsch gemacht hatte.

„Oder soll ich noch bleiben?“

„Was?“

Er drehte sich wieder zu mir. „Nur als Freund.“

Pure Erleichterung durchdrang mich. Mir war zum Weinen zumute, doch ich hatte mittlerweile genug von dem immer wiederkehrenden Nass auf meinen Wangen.

„Hey…“ Er kam einen Schritt auf mich zu. Mein Kopf schüttelte sich. „Komm her“, ließ er weiteren Abstand hinter sich, den ich wiederum vergrößerte, bis ich gegen das Bettende stieß.

„Klar! Wie oft soll ich den gleichen Fehler denn noch machen?“

„Nein, ist schon gut.“ Eine sachte Handbewegung. „Na los…“

Er drückt mich vorsichtig an sich. Seine Hände glitten warm auf meinen Rücken, streichelten beruhigend hinüber. Ohne es wirklich mitzubekommen, lag ich kurzerhand auf meinem Bett, in seinen warmen Armen.

„Schlaf jetzt.“

„Aber ich-“

„Schlaf einfach.“

„Ic-“

„Psst!“

Ich ließ mich nicht noch einmal dazu hinreißen, es zu versuchen, und nach einigen Minuten überkam mich tatsächlich ein ziemlich ruhiger Schlaf.
 

~ * ~
 

Als ich die ersten Vorboten des neuen Tages spürte, lag ich nicht mehr in seinen Armen, und obwohl ich ihm nicht einmal zugewandt war, konnte ich seine Anwesenheit deutlich spüren. Kurz durchdachte ich, ob ich mich vielleicht noch bei ihm entschuldigen sollte, war mir aber sofort bewusst, dass er das gar nicht hören wollte.

„Weißt du…“, durchdrang seine Stimme das Zimmer. Was hatte mich verraten? „… früher… wenn du nur so bei mir lagst, oder mich in den Arm genommen hast, gestreichelt oder geküsst hast… das waren die schönsten Momente für mich.“

Ich versuchte den aufkommenden Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, traute mich nicht, meine Lage zu verändern.

„Du warst immer so zärtlich. Du konntest mich alles vergessen lassen, wenn ich genervt von der Schule oder meinen Eltern war. Ich habe mich immer so geborgen in deiner Nähe gefühlt.“ Kurz schien er in seiner Erinnerung zu verweilen. „Vielleicht…. solltest du Ryan etwas mehr von dieser Art spüren lassen.“

Was? Wie um alles in der Welt kam er jetzt dazu, mir helfende Ratschläge in dieser Richtung zu geben? Nachdem ich in regelrecht verarscht hatte?

„Verstehst du, was ich meine?“

Mein krampfhafter Versuch, nicht lauthals aufzuschluchzen, wurde wohl als „Ja“ interpretiert, obwohl ich gerade nicht ganz mitkam.

„Alles andere hast du doch schließlich schon versucht… du hast ihm ein Zuhause gegeben, warst ein Freund, hast ihn gepflegt, ihm geholfen, wo du nur konntest und ihm deine Liebe gestanden. Ich denke, wenn es irgendwo in ihm ein Fünkchen geben sollte, das bereit dazu wäre, deine Liebe zu erwidern, dann wirst du es bestimmt nicht mit weiteren Gesprächen hervorlocken. Zeig ihm einfach auf die schönste Art, die du kannst… was du für ihn empfindest. Und wenn das auch nicht hilft… dann gib endlich auf.“

Seine letzte, mit harter Stimme kommende Aussage ließ mich die heftigen Atemgeräusche nicht mehr halten, und ich rechnete damit, jeden Moment von ihm in den Arm genommen zu werden. Doch er bewegte sich ebenfalls kein Stück.

„Es ist es nicht wert“, redete er weiter. „Und jede Woche deine Wohnung zu renovieren, ist auch nicht gerade ein willkommener Zeitvertreib.“ Er lachte leicht.

Ich wollte es ihm gleichtun, in sein Lachen einstimmen. Doch ich verschluckte mich heftig und noch mehr Tränen traten hervor. Ohne darüber nachzudenken, drehte ich mich zu ihm und krallte mich an seinem Körper fest.
 

~ * ~
 

Den halben Samstag streiften wir auf der Suche nach einem Bücherregal und einer Glasvitrine, die meinen früheren ähnelten, durch die Kaufhäuser. Nach dem vierten Geschäft hatten wir alles und noch viel mehr ins Auto gestopft.

Jeremy half mir beim Aufbauen der neuen Sachen und beim Abbauen des Krankenlagers. Das Bett sollte zurück ins Arbeitszimmer, wo es hingehörte. Die Jogginghosen, zwei Nummern größer, damit sie über das Gipsbein passten, räumte ich auf einer Seite meines Kleiderschrankes ein. Auch Ryans weitere Habe fand dort ihren Platz.

Am frühen Abend verließ Jeremy mich mit der Aufforderung, ihn auf dem Laufenden zu halten und mich zu melden, wenn ich irgendwas aus dem Herzen hätte. Mein letzter Versuch „Es tut mir leid!“ oder „Danke!“ zu sagen, blieb hinter den Lippen verborgen, als er mir seinen Finger hinaufdrückte und sagte: „Schon gut.“

Als er weg war, schleifte ich mich zum Telefon und wählte. Gespannt wartete ich auf die ersten Worte am anderen Ende der Leitung.

„Ja?“, kam es zaghaft. Wahrscheinlich hatte er nicht mit einen Anruf gerechnet.

„Wie geht es dir?“

„Gut, aber…“

„Was?“, frage ich nach, als er sich anscheinend nicht dazu durchringen konnte, weiterzusprechen. Diese wenigen Worte von ihm waren wie Balsam für meine Seele.

„Nicht so wichtig.“

„Wirklich nicht?“

Was bedrückte ihn?

„Nein, schon ok.“

„Gut…. Weshalb ich anrufe…“ Ich hielt mich noch einmal flüchtig auf. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht aufgeben werde.“

Es blieb still am anderen Ende der Leitung.

„Hörst du?“

Es dauerte wiederum einige Sekunden bis ein schüchternes „Ja.“ folgte.

„Ich liebe dich wirklich“, presste ich aufrichtig durch die Leitung.
 

~ * ~
 

Am Montagmittag stolzierte ich mit einer der neuen Jogginghosen bewaffnet ins Krankenhaus. Ich wollte so selbstsicher wie möglich vor ihm auftreten, nichts sollte an meinem Entschluss rütteln. Den Vormittag hatte ich zur Abwechslung mal wieder im Büro verbracht und mir einiges an Arbeit mit nach Hause genommen.

Ryan saß fertig in einem der Krankenhausrollstühle. Wie ein Paket, das zu lange auf seinen Empfänger warten musste. Ein schneeweißer Gips bedeckte nun sein Bein.

„Hi!“, trat ich auf ihn zu. Meine Finger strichen leicht sein Haar von der Stirn und ich küsste ihn auf die nun freie Stelle seiner Haut. Er zuckte zusammen, sagte aber nichts. Sein Blick war ein wenig abgewendet… Gut so, denn sonst hätte er die gehemmte Röte in meinem Gesicht erkannt.

„Ich habe dir eine Hose mitgebracht. Möchtest du?“

Ich reichte ihm den Stoff.

„Ich möchte einfach nur hier raus“, kam es leise.
 

Im Auto erlaubte ich mir einen genaueren Blick auf ihn. Er besetzte mit seinem Gips die ganze Rückbank, doch den Spiegel hatte ich so gedreht, dass ich sein Gesicht gut erkennen konnte. Die Verkrustungen dort waren fast alle verschwunden. Seine Haut schimmerte, wahrscheinlich hatte man im Krankenhaus eine fettende Salbe hinaufgeschmiert. Seine linke Hand sah ebenfalls deutlich besser aus und das hindernde Metallgestell war endlich entfernt. Nach über drei Wochen, lag wohl das Schlimmste hinter ihm.

Nur sein Blick schien mir keine Verbesserung zu versprechen.
 

Den Weg nach oben legte er mit Krücken zurück. Das Angebot, den Rollstuhl herunterzuholen, lehnte er kategorisch ab. Wir brauchten knapp zehn Minuten bis wir es endlich geschafft hatten. Das erste, was ihm auffiel, war das fehlende Bett.

„Ich zwinge dich nicht, bei mir zu schlafen“, sänftigte ich seinen alarmierten Blick. „Du kannst auch gerne wieder in das Arbeitszimmer gehen, so wie früher.“

Ich half ihm auf die Couch und streifte beim Gehen sanft über seine Schulter hinweg.

„Möchtest du etwas essen?“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Fernsehen?“

„Nein.“

„Bist du müde?“

„Nein.“

„Gibt es irgendwas anderes, was du brauchst?“

Ich rechnete natürlich mit einem weiteren „Nein“, doch stattdessen kam: „Ich würde gerne mal wieder duschen.“

„Duschen?“

Kurz loderte vor meinem inneren Auge eine nicht ganz so erfrischende Szene auf. Schnell versuchte ich, das Bild wieder loszuwerden.

„Der Arzt meinte, solange der Gips nicht nass wird, ist es okay, und nach knapp 3 ½ Wochen wäre es auch wirklich mal wieder nötig.“

Als ich ihn ansah, setzte sich eine gewaltige Röte in sein Gesicht. Uns beiden war klar, dass er dies ohne meine Hilfe nicht bewerkstelligen könnte. Aber anscheinend war sein Verlangen nach Sauberkeit größer als die Scham mir gegenüber.

„Ok, wenn das dein Wunsch ist.“

Ich ging in die Küche und kramte nach den größten Müllsäcken. Gefunden, ging es weiter zum Werkzeug, wo ich eine dicke Rolle Klebeband herauszog. Ich wedelte mit den Materialien in der Luft herum, als ich wieder ins Wohnzimmer trat.

„Jetzt sofort?“

Er wirkte verängstigt.

„Wenn du willst, können wir auch später…“

Durchdringend auf der einen, beschämt auf der anderen Seite schaute er mich an.

„Ich werde brav sein“, versprach ich, da ich mir vorstellen konnte, in welche Richtung seine Gegenwehr ging, und kam gleichzeitig näher.

Vorsichtig half ich ihm wieder auf die Beine. Ich zog behutsam den Mantel aus, welchen ich ihm zur Fahrt ins Krankenhaus geliehen hatte, und den er, seit er es verlassen hatte, straff an sich band. Darunter zum Vorschein kamen nur eines der üblichen Krankenhaushemden, eine meiner selbstgebastelten Boxershorts und ein leicht zitternder Körper. Ich wusste nicht genau, was ihn erzittern ließ, trotzdem verspürte ich den Drang, ihn in den Arm zu nehmen.

Ich tat es nicht, sondern ging zu Boden und zog die Müllsäcke zu mir heran. Mit ein wenig Hilfe seinerseits streifte ich den Sack über sein gesamtes Bein. Ohne ihn anzusehen versiegelte ich die Öffnung mit dem Klebeband. Ich verdrängte es, zu durchdenken, wer jetzt aus welchem Grunde mehr von der Berührung eingenommen war.

Als ich fertig war, reichte ich ihm die Krücken und folgte ihm wortlos ins Badezimmer. Ich kam mir vor, als würde ich ihn zur Schlachtbank exekutierten.

Was zweifelsfrei folgen musste, war klar… Er würde sich ausziehen müssen.

Zögernd und wieder mit meiner Hilfe fiel nun auch das Krankenhaushemd zu Boden. Ich verbot es mir, über die vielen kleinen Narben auf seinem Rücken hinwegzustreifen, auch wenn sie eine unglaubliche Anziehungskraft ausstrahlten. Meine Finger wanderten tiefer.

Auf Krücken und ohne festen Halt wäre es ihm niemals möglich gewesen. Eine Sicherheitsnadel nach der anderen öffnete ich, bis auch das letzte Kleidungsstück an ihm fiel. Und wieder musste ich mich zwingen, ihn nicht auf erotische Weise anzuschauen, mich nicht zu fragen, wie es sich wohl anfühlen würde, mit den Fingern über seinen Hintern zu streicheln.

Er trat einen Schritt vor, ich ihm nach. Er ließ die Krücken zurück, versuchte sich, an der Wand und der Duschstange Halt zu verschaffen, doch das gegipste Bein, welches nun ein wenig länger war als sein gesundes und gleichzeitig noch durch die rutschige Folie beschichtet, machte ihn einen Strich durch die Rechnung.

Er konnte sich zwar halten, hatte aber somit keine Hand frei, um sich zu waschen. Es war nicht schön mit anzusehen, wie er mit sich kämpfte, sauer auf seinen Zustand wurde.

Ohne groß darüber nachzudenken, streifte ich mir Schuhe und Socken von den Füßen und stieg zu ihm in die Dusche. Mein Eintreten hatte sämtliche Bewegung zum Stillstand gebracht, anscheinend rechnete er mit dem Schlimmsten.

Wirkte ich wirklich so furchteinflößend auf ihn?

Ich wollte ihm gerne sagen, dass ich nichts Böses im Schilde führte, doch wusste ich gerade nicht, ob ich damit eine Lüge aussprechen würde. Also griff ich einfach nur nach dem Duschgel, drückte mir eine gute Portion aus der Flasche und fing reserviert an, seinen Rücken zu waschen. Die verlockenden Narben waren unter der gleitenden Schicht des Duschgels nicht herauszuspüren.

Ich wusch ihm die Haare, die Arme, den Oberkörper und die Beine, während die durchnässte Kleidung an meinem Körper immer schwerer wurde. Bizarre Stellen ließ ich aus. Immer mehr entspannte sich sein Körper unter den Berührungen. Er genoss das Wasser, das Gefühl von Frische. Als ich fertig war, legte ich meinen Mund sanft auf seinen Nacken.

Bevor er aber darauf reagieren konnte, stellte ich das Duschgel vor ihm ab und drückte meine Arme unter seine. Ich stützte ihn, damit er sich an den übrig gebliebenen Stellen waschen konnte.

Als dies endlich geschafft war, streifte ich mir die nassen Sachen bis auf die Boxershorts vom Körper. Dann half ich ihm aus der Dusche heraus, wickelte ihn in mehrere große Handtücher ein und platzierte ihn auf einen Stuhl.

Ich lächelte leicht, als ich ihm das zersauste Haar durchkämmte. Es war ein entspannender Moment.

Er schaute nur neugierig, als hätte er zuvor noch nie eine Bürste zu Gesicht bekommen.

Seine folgende Frage traf mich wie ein elektrischer Schlag: „Darf ich bei dir schlafen?“
 

Part 11 – Ende

Merkwürdige Veränderung!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 12
 

Ich stand vor ihm, immer noch mit der nassen Boxershorts am Leibe. Wo meine Hand samt Bürste war, konnte ich, würde man mich danach fragen, nicht beantworten. Vermutlich hing sie schlaff an meinem Körper herab.

„Wenn es dir nicht recht ist-“

„Nein, nein…“, unterbrach ich ihn und legte die Bürste auf die Ablage. „Ich bin nur ein wenig… überrascht.“

Traf es dieses Wort? Bei weitem nicht!

Ich suchte seinen Blick und wurde wie erwarten nicht schlau daraus. Vielleicht wusste er selber nicht genau, warum er diese Frage über die Lippen gebracht hatte und wie viele Monate hatte ich mich danach gesehnt, eine solche zu vernehmen?

Nach einem kurzen Blick an sich hinab, versuchte er mit Hilfe der Krücken aufzustehen, schnell streckte ich meinen Arm aus und half ihm hoch. Das Handtuch um seine Schulter rutschte leicht hinunter, die Wärme seiner Haut wollte mich zurückschrecken lassen.

Als er stand waren wir uns unbeschreiblich nah und sofort ummantelte mich der Geruch seines Körpers, gemischt mit dem wohlriechenden Shampoo, dem erfrischenden Duschgel.

„Ich habe jetzt ein wenig Hunger“, erklang es leise.

„Ok.“ Ich widerstand dem Drang, mich nach vorne zu beugen und ihn einfach zu küssen. „Ich… will nur eben noch duschen, ist das in Ordnung?“

„Natürlich.“

Sein Blick hatte sich schon vor einigen Atemzügen abgewandt, wahrscheinlich als ihm klar geworden war, was er da eigentlich ausgesprochen hatte, nun tat es auch sein Körper.

Ich erklärte ihm noch kurz, wo er seine Kleidung fand, woraufhin er sich mühevoll auf den Krücken hinaus schleppte. Ich schloss die Tür, sobald er die Schwelle hinter sich gelassen hatte.
 

Ich duschte schnell, ziemlich schnell. Ehrlich gesagt, konnte ich mich nicht erinnern, jemals weniger Zeit mit dieser Tätigkeit verbracht zu haben. Und natürlich holte ich mir den Klang seiner Worte noch einmal zurück:

„ Darf ich bei dir schlafen?“

Es waren leise, schüchterne Worte gewesen. Wäre ich ihm nicht so nah gewesen, hätte ich sie vielleicht gar nicht richtig verstanden. Doch warum… was hatte ihn dazu verleitet, sie auszusprechen?

Irgendwie kam es mir vor, als würde ich in eine Falle tappen, als verstünde ich gerade den Zusammenhang nicht so ganz. Jedoch… hatte ich, wenn man es genau nahm, gar keine wirkliche Zusage gegeben.

Sollte ich dies vielleicht noch tun?

Mit nichts als einem Handtuch bekleidet verließ ich das Bad und machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer. Die Türklinke sollte mir gerade ihren Dienst leisten, als sie sich von anderer Seite her senkte; abrupt ließ ich sie wieder los und wich einen Schritt zurück.

Der Blickkontakt hielt nur eine knappe Sekunde an. Ich trat an die Wand zurück, als er mit den Krücken an mir vorbei ging, sein Blick hob sich nicht noch einmal; schweigend ging er den Flur hinauf.
 

Beim Essen wollte ich ihm dagegen nicht still gegenüber sitzen, also erzählte ich ihm von Jeremy.

Ich erzählte ihm von unserer gemeinsamen Zeit, seinem Heiratsantrag und unserer Trennung. Weiter gab ich ungefragt Auskunft darüber, was in den letzten Tagen zwischen uns geschehen war und wie er mir geholfen hatte, das Chaos in meiner Wohnung zu beseitigen. Nur Kleinigkeiten ließ ich aus, z.B. wie verzweifelt ich genau gewesen war oder was der ausschlaggebende Grund, warum ich neue Möbel gebraucht hatte.

Irgendwie hatte ich gehofft, kleine Veränderungen in Ryans Ausdruck lesen zu können, etwas, was mir zeigte, dass es ihm nicht gefiel, dass ich mit Jeremy zusammen gewesen war, aber entweder interessierten ihn dieser Punkt nicht wirklich oder er war ganz einfach nur ein guter Schauspieler.

Als ich endlich am Ende meines Berichtes angekommen war, hätte ich am liebsten gefragt: „Und wie war das mit dir und Mitchell?“

Warum ich es nicht tat, lag wohl glasklar auf der Hand. Dabei befürchtete ich besonders, dass er sich wieder in sich kehren würde, wenn ich anfing, von seiner Vergangenheit zu sprechen.

Ich vermied ebenfalls das Thema Lienn, dass er mich die ganze Zeit über angelogen hatte und auch alles weitere, was seinen Stimmungspegel wieder senken würde. Die Situation war nicht optimal, aber wenigstens wand er sich nicht ab, hörte mir mindestens zu und gab uns somit ein kleines Stückchen Normalität zurück.

Mich irritierte nur immer noch, was ihn bewogen hatte, den Zustand zu ändern. Sein ganzes vorheriges Verhalten passte nicht mit dem jetzigen zusammen. Der Wille, mir nah zu sein, noch weniger.

Ich konzentrierte mich darauf, ihn nicht zu intensiv anzuschauen; versuchte dem ganzen einen ungezwungenen Tatsch zu verleihen. Ob es mir gelang, konnte ich nicht einmal erahnen. Wahrscheinlich ließ mich die Fixierung, was ich unterlassen sollte, eher noch krampfhafter wirken.
 

Bis zum Abend hin wartete ich regelrecht darauf, dass er sich doch anders entscheiden und sich mit dem Arbeitszimmer als Schlafplatz begnügen würde. Doch auch beim letzten Toilettengang kam immer noch keine Andeutung in diese Richtung, und so folgte ich ihm irritiert in mein Schlafzimmer.

Erst bei diesem Gang fragte ich mich, was oder ob er irgendetwas von mir erwartete? Nicht, dass ich nicht innerlich zu allem bereit war, aber wollte meine Nähe überhaupt? Was wollte er mit dieser Aktion beweisen… Wollte er überhaupt etwas beweisen?

Ich hatte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal in diese Richtung gedacht, da für mich irgendwie klar gewesen war, dass es nicht wirklich dazu kommen würde, dass wir uns ein Bett teilten. Mein Kopf war einfach noch nicht bereit für diese Annahme gewesen, und nun stand ich der Tatsache gegenüber, schaffte es kaum mehr, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Ich sah das Bett, ich sah ihn; und Panik war da bei weitem noch ein zu geringeres Wort. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich jetzt verhalten sollte.

Ich schlug,mit gespielt lockerem Gesichtsausdruck die Bettdecken zurück und bauschte mein Kissen auf, bevor ich dann aber doch nur wieder steif vorm Bett stehen bleiben konnte.

„Brauchst du noch irgendwas?“

Es war lediglich der klägliche Versuch, etwas in Erfahrung zu bringen. Ich war froh, dass meine Stimme einigermaßen fest klang.

„Nein, danke“, bekam ich als Antwort, worauf er sich auf die Bettkante niederließ und die Krücken zwischen Bett und Nachtischschränkchen einklemmte. Ich starrte weiter in den Raum, versuchte ihn nicht anzuschauen, denn meine Erinnerungen verrieten mir nur zu deutlich, wann er das letzte Mal hier gelegen hatte…

Ich konnte mich noch so genau erinnern; Wie sich seine Lippen anfühlten, die Haut, seine Muskeln, es war mir so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen, als er… mich verlassen hatte.

Erst als er sich hingelegt hatte, konnte ich meinem Kopf befehlen, klarer zu denken. Ich ging zum Fenster, öffnete es einen Spalt breit, so wie ich es jeden Abend tat, und schaltete das Licht mit einem kleinen Fingerschnipsen aus.

Sicher ging ich ums Bett herum, blieb neben der leeren Betthälfte stehen und zog mich bis auf die Boxershorts aus. So wie ich es auch jeden Abend machte… Komischerweise konnte ich mir schon nicht mehr vor Augen führen, welche Kleidung Ryan getragen hatte, bevor er sich unter der Bettdecke verkrochen hatte. Ich legte mich hin und versuchte dabei so wenig Bewegung wie möglich über die dreifach gestärkte Federkernmatratze fließen zu lassen.

Steif und unnatürlich lag ich da, starrte zur Decke. Ich war ein erwachsener Mann und fühlte mich auf einmal wie ein kleines Kind… wartend, ob irgendetwas passieren würde, mich fragend, ob ich meinen Beitrag bringen sollte, damit irgendetwas passierte…

Ich lauschte in das Dunkel, aber außer den gleichmäßigen Atemzügen und einen gelegentlichen Rascheln der Decke war nicht viel zu vernehmen. Nach Minuten des Wartens drehte ich mich ihm ein wenig zu.

„Bist du noch wach?“

„Ja.“

Es hatte ein wenig gedauert, beinahe war ich schon der Vermutung unterlegen, dass er wirklich eingeschlafen war.

„Ist dir kalt? Ich kann das Fenster auch schließen.“

„Im Gegenteil.“ Ein für die bisherige Stille tosendes Geräusch durchzog den Raum, er stieß die Decke von sich. „Mir ist scheiße heiß.“

„Soll ich die Klimaanlage anstellen?“

Ich setzte mich ein wenig im Bett auf. Das bisschen Licht, welches durch den Spalt Fenster drang, ließ mich seine freiliegende Silhouette gut erkennen. Ich wog kurz ab, ob es sinnvoll wäre, ein Gespräch anzufangen, aber auch wenn ich mich dazu durchringen können würde, fiel mir beim besten Willen kein Thema ein, das nicht in die darüber-solltes-du-besser-nicht-reden-Schublade gehörte.

„Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?“

„Klar“, verschluckte ich mich beinahe an der Schnelligkeit meiner Antwort. Entweder war es wirklich verdammt warm im Raum oder das Bevorstehende erhöhte meine Temperatur um ein deutliches Maß.

„Warum hast du seinen Heiratsantrag nicht angenommen?“

Für die erste Minute lag Sprachlosigkeit über mir, wer hätte denn schon mit dieser Frage gerechnet? Meine Beine zog ich näher zu mir heran, umschlang sie leicht mit den Armen und äußerte die Antwort, die ich mir immer wieder selber auf diese Frage gegeben habe; denn ich hatte mich dies im Nachhinein, weiß Gott, ziemlich oft gefragt.

„Ich war damals noch nicht so weit, denke ich.“

„Hast du ihn nicht geliebt?“, folgte rasch die nächste Frage.

Am liebsten hätte ich diese Frage prompt ignoriert, es kam mir einfach falsch vor, jemandem den ich liebte, zu sagen, dass ich jemand anderes geliebt hatte. Irgendwie kindisch, aber hier hatte ich einfach zu viel Angst, mit jedem nicht vorher geprüftem und kleinlich analysiertem Wort alles kaputt zu machen.

„Natürlich habe ich das, aber... ich war gerade mal 19 Jahre alt und außer Jeremy hatte ich noch kaum Erfahrungen gemacht, nicht dass ich danach suchte, oder so. Aber wir wussten doch noch nicht einmal, wie wir unser Leben abgesehen von unserer Beziehung gestalten wollten und darüber hinaus…“

„Was?“, hakte er nach.

„Hat er alles getan, um seine Eltern zur Weißglut zu treiben. Auch wenn ich mir sicher war, dass er mich liebte, hatte ich doch damals sehr das Gefühl, dass dieses ganze Heiratsgerede nur ein weiterer Schachzug im Krieg gegen seine Erzeuger sein sollte.“

„Denkst du heute immer noch so?“, ließ er mir keine Sekunde zum Grübeln.

„Dass er seine Eltern ärgern wollte?“

„Ja.“

„Nein“, konnte ich ehrlich zugeben.

Um ehrlich zu sein, galt dieser damaligen Vermutung vielleicht ein Prozent, aber es war vielleicht ganz gut, diesen Umstand trotzdem zu erwähnen.

„Empfindet Jeremy immer noch etwas für dich?“

Es hörte sich irgendwie falsch an, wenn er seinen Namen aussprach.

„Ich… ich denke…“

„Er ist Arzt, nicht wahr?“

„Ja, er steckt gerade in seinem ersten Assistenzjahr.“

„Er ist großzügig, freundlich, hilfsbereit, du kannst ihm vertrauen?“

„Bitte?“

Plötzlich verstand ich die Richtung, in die er mich mit diesem Gespräch führen wollte.

„Er könnte dir eine glückliche Zukunft bieten, oder etwa nicht?“, setzte er noch eins drauf.

Ich befreite mich aus meiner Pose und schob mich vorsichtig in seine Richtung, tastete vorwärts. Natürlich sah oder hörte er mich kommen, denn ansonsten wäre mir eine erschrockene Geste auf meine Berührung gewiss gewesen. Immer noch bedacht sicherte ich meine Position, meine Hand kroch von der Schulter zu seinem Gesicht hinauf. Die Haut unter meinen Fingern fühlte sich warm und durch die Verletzungen gespannt an. Sein Atem traf mich, als ich noch näher kam.

„Du wirst es nicht schaffen, mich in eine andere Richtung zu weisen.“

Meine Finger gingen Richtung Ohr und meine Lippen berührten sacht die seinen.

Ich hätte den Kontakt gerne länger aufrechterhalten oder intensiviert, biss mir aber imaginär auf die Zunge und wich schnell wieder einige Zentimeter nach hinten.

„Schlaf gut“, hauchte ich ihm entgegen, dann zog ich mich zurück.
 

Abweisung - Part 12 - Ende

Richtungswechsel!

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Part 13
 

Die einzelnen Utensilien, welche zu einem ausgewogenen Frühstück gehören, wanderten wie von Geisterhand auf den Tisch; ich ging nur beiläufig in meinem Kopf die Liste derer durch, die noch fehlten, widmete den Pancakes nur halb so viel Aufmerksamkeit, wie es normalerweise der Fall gewesen wäre. Ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, wenn ich abermals an den Tisch trat und etwas darauf abstellte.

Die letzte Nacht hatte ich nicht alleine mit Schlaflosigkeit zugebracht, die Müdigkeit stand auch ihm unverhohlen im Gesicht geschrieben. Über was hatte er sich wohl den Kopf zerbrochen? Über sich, sein Leben, uns? Oder wie er es schaffen würde, mich erfolgreich in Jeremys Armen zu drängen?

Wie konnte er auch nur im Ansatz denken, dass er mich auf diese Weise aus seinem Leben befördern könnte? War ihm diese Idee letztlich spontan gekommen, nachdem ich ihn von Jeremy erzählt hatte, oder spukte diese Möglichkeit schon länger in seinem Kopf herum? Überhaupt, war er, nachdem er aus dem Krankenhaus gekommen war, nicht mehr derselbe gewesen?

„Hast du Orangensaft?“

„Ähm, ja…ich denke schon.“

Schnell hatten mich meine Füße zum Kühlschrank getragen. Ich schob einen Milchkanister zur Seite, um an den Saftkarton zu gelangen. Im Gehen überprüfte ich das Haltbarkeitsdatum des Getränkes, denn ich konnte mich bei weitem nicht daran erinnern, den Saft überhaupt gekauft zu haben. Vielleicht hatte ich dies ja auch gar nicht, denn mir wurde plötzlich bewusst, dass ich nicht gerade viel von Orangensaft hielt.

„Bitte“, schenkte ich ihm ein Glas ein und setzte mich anschließend Ryan gegenüber.

Mein Blick wanderte kurz über sein Gesicht. Abgesehen von der Müdigkeit gab es einen ruhigen Ausdruck preis; nichts von dem bekannten quatsch-mich-bloß-nicht-an-Blick war darin enthalten. Wieder einmal forschte ich krampfhaft nach einem Gesprächsansatz, während ich Butter auf meinen Bagel verteilte und kurz an der Erdbeermarmelade hängen blieb, die den Strahlen der Sonne ausgesetzt war. Ich überlegte, ob ich die Marmelade zur Seite schieben sollte, aber dann wäre unter Umständen die Butter dem Schein ausgesetzt...

„Was denkst du, sollte ich meinem Elternhaus einen Besuch abstatten?“

Mein Kopf schoss in die Höhe.

Ich hatte erwartet, mit seinem Blick konfrontiert zu werden, dabei lag dieser sanft auf dem Löffel, mit dem er in seinen Müsli rührte; die hellen Strahlen trafen auch ihn. Ich blickte wieder hinab auf meinen Teller.

„Hast du das denn vor?“

Es lag ein rauer Unterton in meiner Stimme, er erinnerte mich stark an den Rechtsanwalt meiner Großmutter. Ich konnte ihn noch genau vor mir sehen; ein altes Gesicht, modische Anzüge und immer einen Stift zwischen den Fingern. Sogar den Rauch der teuren Zigarren konnte ich noch aus meiner Erinnerung hervorzaubern. So vertrauenswürdig ihn seine Aufmachung auch wirken lassen sollte, hatte ich keinen netten Charakterzug an ihm erkennen können.

„Nein, eigentlich nicht.“

Ein Geräusch, ähnlich eines Lachens, drang von ihm herüber, was mich ihn wieder ansehen ließ, und was ich sah, gefiel mir irgendwie nicht, denn es war der heimliche Wunsch es zu tun, auch wenn er felsenfest etwas anderes behaupten würde.

„Du solltest es tun.“

Ich führte meine Tasse an den Mund und ließ den Geschmack von warmer Schokolade in mich eindringen. Als Kind hatte er mich immer glücklich gemacht, jetzt hielt er mich eigentlich nur davon ab, irgendetwas Unkluges von mir zu geben, denn, um ehrlich zu sein, wollte ich nicht, dass er ging. Was, wenn er nicht wieder kommen würde, durchdrang es meine Gehirnwindungen. Doch es war nicht mein Leben, es war seins und ich wusste, dass es eigentlich das Richtige war, wenn er diesen Weg gehen würde.

„Warum?“

Er legte den Löffel beiseite und sah mich an.

„Um… euch auszusprechen.“

Ich zuckte leicht mit den Schultern und entschloss mich soeben, Marmelade sowie Butter einige Zentimeter zu verschieben.

„Soll das etwa irgendwas wieder gut machen?“

„Ich weiß es nicht“, gab ich zurück und sofort erkannte ich, dass ich mich geradewegs in ein Gespräch vertiefte, dass ich nicht führen wollte. Diese Art Gespräche hatten immer die Angewohnheit zu eskalieren, Wut zu entfachen, und da ich neben ihm als einzige Person gerade anwesend war, würde ich zweifelfrei davon erfasst werden.

„Wenn du es genau wissen willst, bin ich auch nicht gerade ein Vorzeigebeispiel, wenn es darum geht, mit der Familie gut klar zu kommen, und im Grunde genommen, kann ich dir nicht sagen, was du tun oder lassen sollst. Aber wenn du tief in dich blickst und etwas findest, was sich wünscht, deinen Bruder und deine Mom wiederzusehen, dann kann ich dir nur raten, es zu tun, bevor es vielleicht zu spät ist. Man kann schließlich nie wissen, was das Leben für einen im Petto hat.“

Wütend auf mich selbst, biss ich von meinem Bagel ab und verschluckte mich beinahe an dem zu großen Stück.
 

Den Rest des Frühstückes dominierten alltägliche Themen. Aus verschiedenen Gründen heraus, wollten wir wohl beide nicht intensiver auf Ryans Familie eingehen. Während es bei ihm wohl meine Worte waren, hoffte ich nur, dass mir genau diese nicht zum Verhängnis werden würden. Vielleicht sollte ich noch einmal versuchen, Lienn zu einem Besuch zu überreden, oder dachte ich dabei einfach zu egoistisch?

Nach dem Frühstück verließ ich die Wohnung und machte eine kleine Stippvisite ins Büro, nahm neue Aufträge mit nach Hause und lieferte ab, was ich fertig hatte. Natürlich war man immer noch nicht von meinen unregelmäßigem Kommen und Gehen begeistert und eigentlich hätte ich diesem Zustand, da sich Ryan ja mittlerweile ziemlich selbstständig bewegen konnte, auch Einhalt gebieten können, doch etwas in mir schien sich immer wieder zu sagen, dass mir die gemeinsame Zeit mit Ryan langsam durch die Finger rann. Ich nahm mir vor, ihn in den nächsten Tagen noch mal auf die Familie anzusprechen und mich gegebenenfalls mit Lienn in Verbindung zu setzen.
 

Gerade das Haus betreten, stieg Jeremy aus dem Fahrstuhl.

„Hey, was machst du denn hier?“

„Ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schau mal vorbei.“

„Sorry, ich war nur kurz im Büro… willst du?“ Ich deutete nach oben.

„Nein, ich muss zurück zum Dienst.“

Er lächelte und mir fiel es plötzlich schwer, es zu erwidern. Wie lange war er hier gewesen und hatte Ryan ihm irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt? Vorstellen könnte ich es mir allemal.

„Wir sehen uns.“

Er lächelte weiterhin und hob die Hand zum Gruß. Ich tat es ihm gleich, doch kaum war er außer Sichtweite, stürmte ich auf den Fahrstuhl zu. Die einzelnen Stockwerke konnten gar nicht schnell genug vorbei gehen.

Ich atmete fest ein, bevor ich die Wohnungstür aufschloss und hinein trat.

„Jeremy war hier, du hast ihn nur knapp verpasst“, erreichte mich die Auskunft, gerade die Tür ins Schloss geworfen.

Ich fand Ryan auf dem Sofa sitzend. Vor ihm lagen irgendwelche Zeitschriften, welcher Art war mir gerade so was von egal.

„Wollte er etwas Bestimmtes?“, fragte ich mit gleichgültiger Stimme. Ich war selbst erstaunt, dass es mir so gut gelang.

„Keine Ahnung. Ich denke, er war einfach nur in der Nähe und wollte kurz vorbeikommen, wenigstens hat er sonst nichts erwähnt.“

„Hast du ihn rein gelassen?“

Ich legte meine Arbeit auf dem Küchentresen ab und spielte ein wenig auf Desinteresse, fing an, die Aufträge durchzusehen, obwohl ich genau wusste, was in ihnen verlangt wurde.

„Ja.“

Er mühte sich auf und lehnte sich etwas später neben mich an den Tresen, um die angestrengte Haltung unter den Krücken zu entlasten. Ich schwang in Richtung Kühlschrank davon und suchte nach irgendetwas Kaltem. Er folgte mir.

„Ihr habt also geredet?“

„Ja… soll ich dir ein ausführliches Protokoll erstellen oder reicht dir die Erklärung, dass es dabei nicht um dich ging?“

Ich stoppte in meiner Bewegung. Seine Aussage ließ mich auf erfrischende Weise wissen, dass ich wieder einmal zu leicht zu durchschauen war. Ich drehte mich ihm zu.

„Was dachtest du denn, dass ich tun würde?“ Er hüpfte einige Meter näher an mich heran. „Ein Six-Pack und ein Saisonticket der Yankees drauflegen, wenn er dich hier und jetzt nehmen würde?“

Seine Augen verrieten enormes Missfallen und dummerweise stimmte mein Kopf langsam in ein Nicken ein.

„Tzzz“, zischte es zwischen den Zähnen hindurch. „Du verkaufst dich weit unter Wert.“

Er fischte über den Tresen hinweg nach seiner zweiten Krücke und schwang sich mit ihrer Hilfe um; das leise Auftippen der Gummiköpfe kurbelte meinen Herzschlag auf unnatürliche Weise an.
 

Der Tag verging und ich verbrachte ihn wie schon so oft; ich hing halbherzig über meiner Arbeit, während mein Kopf sich in ganz andere Richtungen wand.

Unruhe umgab mich, ein unbeschreibliches Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein Schmierentheater, alles nur vorgegaukelt, bis der große Knall kam. Was war im Krankenhaus passiert? Warum diese plötzliche Veränderung? Wo war die Widerspenstigkeit geblieben, wo die Kälte hin? Und warum tat er jetzt so auf verärgert, nachdem er mir zuvor noch eine gemeinsame Zukunft mit Jeremy verkaufen wollte?

Als sich die Dunkelheit über uns legte, fühlte ich mich zum ersten Mal an diesem Tag unbeobachtet. Ich wollte nur noch schlafen und über nichts mehr nachdenken müssen… doch wie sie oft, wenn man sich sehnlich etwas wünscht, kommt es ganz anders.

Ich riss unter der Berührung die Augen auf, seine Hand legte sich auf meinen Körper. Das Rascheln der Bettdecke hatte ich zwar vernommen, aber mehr damit auch nicht in Verbindung gesetzt.

Der Schrecken ließ mich unkontrolliert aufatmen, mein Körper hielt jedoch still. Ein weiteres Rascheln durchzog die Luft, ich spürte, wie sein Körper näher rutschte. In seiner Bewegung versteckte ich leichte Atemzüge, seine Hand bewegte sich. Sie fuhr hoch und kurz darauf wieder hinab; ich spürte ein leichtes Vibrieren in seinen Fingern.

Sein gebrochener Atmen streifte meine Haut und ich schloss die Augen wieder, versuchte mir vorzustellen, wo genau sein Gesicht lag, sein Körper und was ich fühlen würde, wenn ich meine eigene Hand in eine bestimmte Richtung ausstrecken würde.

Oh Gott, wie sehr wünschte ich mir es einfach tun zu können. Ihn zu berühren und zu fühlen… ich wollte es doch schon immer… jedoch hielt mich die Tatsache, dass seine Finger immer stärker zitterten, davon ab. Sie glitten zwischen Brust und Unterleib entlang, doch sie machten mich alles andere als glücklich; sie beunruhigten mich geradezu.

Ich hasste mich selber dafür, als ich seine Hand ergriff und ihn damit zum Aufhören bewegte. Abgesehen von seinen Atemzügen, die kurz ausgesetzt hatten, war es totenstill im Raum. Kurz wartete ich auf eine groteske Erklärung seinerseits, jedoch übernahm ich das Sprechen letzten Endes.

„Warum tust du das?“

Ich drückte seine Finger leicht zusammen, loslassen wollte ich ihn nicht.

„Was meinst du… Gefällt es dir denn nicht?“

„Doch, aber das beantwortet nicht meine Frage.“

Ich hielt seine Hand von einer weiteren Bewegung ab, keine Ahnung, ob er sie einfach nur wegziehen oder mich erneut berühren wollte.

„Möchtest du wirklich eine Antwort auf diese Frage?“

Er kam näher. Seine freie Hand stützte sich auf der Matratze ab, er rutschte noch einige Zentimeter heran. Kurz vernahm ich einige Haarspitzen an meiner Wange, sogar die kleinen Risse in seinen ausgetrockneten Lippen konnte ich mir nun vorstellen… Ich spürte seinen Atem nur einen Fingerbreit weit entfernt. Es wäre so leicht gewesen, uns beide für einige Stunden vergessen zu lassen…

„Ehrlich gesagt…“ Meine Augen versuchten die Finsternis zu durchdringen. Ihn ansehen, erkennen, was in ihm vorging… „Ja, genau das möchte ich.“

Ohne mir eine Antwort zu gewähren, wollte er die Lücke zwischen uns schließen; ich wich zurück.

Vorsichtig rutschte ich unter ihm und aus dem Bett heraus. Hätte er nicht diesen beschissenen Gips wäre ich zweifelsohne in Versuchung gekommen, ihn mit einem kräftigen Tritt aus dem Bett zu befördern.

Meine Finger befahlen dem Licht, seinen Dienst zu tun, und ich trat ans Fenster, um es zu schließen; immerhin musste nicht die ganze Nachbarschaft mitanhören, was ich zu sagen hatte.

„Was soll das ganze Theater?“, wand ich mich ihm schließlich zu. „Mal abgesehen von den Lügen und alles was du mir so verschwiegen hast in der ganzen Monaten, sind wir doch immer auf den gleichen Wissenslevel gewesen, oder? Nämlich, dass ich…“ Ich untermalte meine Aussage mit einem kräftigen Fingerzeig auf meine eigene Person. „…dich liebe und du…“ Mein Finger glitt in seine Richtung. „…kein Interesse an mir hast. Ich meine, wenn ich von meinen Gefühlen gesprochen oder sie dir in irgendeiner Form gezeigt habe, hast du mit Abneigung reagiert und fingst an, mich zu ignorieren. Oder mich irgendwie anders auf die Palme zu bringen. Nicht gerade schön, aber gut… musste ich mit leben. Und ehrlich…“ Ich schüttelte leicht den Kopf. „…die letzten Tage weiß ich einfach nicht, was mit dir los ist und nun das hier…“

Ryan zog sich vorsichtig in die Höhe, die Decke rutschte tiefer uns ließ seinen nackten Oberkörper erkennen. Ob es wohl blöd kommen würde, wenn ich schreiend den Raum verlassen hätte?

„Wie soll ich das verstehen?“, fuhr ich, deutend auf ihn, fort. „Soll ich dich einfach machen lassen und morgen früh tun wir beide so, als wäre nichts geschehen? Oder soll ich mir erst Hoffnungen machen, woraufhin ich dann wieder wie der letzte Dreck von dir behandelt werde? Ryan…“ Plötzlich erkannte ich, in welchem Aufzug ich vor ihm stand, übereilt tastete ich nach meiner Hose und zog sie mir über. „Bitte… ich kann das nicht mehr. Natürlich wäre ich glücklich darüber, wenn etwas zwischen uns passieren würde, aber ich habe Angst davor, dass du danach wieder eine Kehrtwende machst, dir danach wieder alles egal ist und ich wieder…“ Mich überkam der Wunsch einfach eine Ach-leck-mich-doch-Geste zum Besten zu geben. „Versteh doch… ich kann einfach nicht mehr.“

Ich ließ meine Hände fallen, mit denen ich zuvor doch einiges an Gestiken verschickt hatte, und blickte Ryan fast schon hilfesuchend an. Eigentlich war es für ihn doch ganz einfach, das Dilemma mit ein paar Worten zu beenden; auf die eine oder andere Weise.

„Ich denke du hast Recht…“ Er zog die Decke hinauf. „…ich sollte wirklich mal nach Hause fahren.“
 

„Du weißt, dass ich das hier nie wollte.“

Mein Gesicht schweifte über unsere Umgebung hinweg. Lächerliche drei Tage hatten wir gebraucht, um alles für seine Abreise zu organisieren. Selbst die Beschaffung seiner Geburtsurkunde und Ausstellung eines vorläufigen Reisepasses war unglaublich schnell in die Wege geleitet worden.

„Ich weiß, aber du hattest Recht… mit allem.“

Mein Blick hing fragend an seinen grünen Augen. Wie geheimnisvoll sie aussahen, wurde mir erst jetzt bewusst.

„Es kann so einfach nicht weitergehen. Ich will dir nicht noch mehr zumuten.“

„Und indem du gehst, soll alles besser für mich werden?“

Wir saßen an einem Tisch, nahe dem gesicherten Bereich. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis er dahinter verschwinden würde.

„Ich weiß es nicht, aber darauf kann ich gerade einfach keine Rücksicht nehmen. Ich muss erst einmal mein Leben versuchen, wieder in Ordnung zu bringen.“

Ich griff nach seiner Hand. „Warum lässt du mich nicht dabei helfen?“

„Du hast mir schon mehr als genug geholfen.“

Seine gefangen genommene Hand drängte zu meinem Gesicht vor. Ich berührte seine Finger kurz mit meinen Lippen, ehe ich ihm gestattete, sich zu befreien. Sanft war seine Berührung daraufhin und ich konnte nicht anders, als mich ihr entgegen zu lehnen. Ich fragte mich kurz, ob es die erste, wirkliche Berührung von ihm war.

Seine Augen hielten intensiven Blickkontakt mit mir, bis unter erneutem Dröhnen die gefürchtete Lautsprecherdurchsage zu vernehmen war. Seine Hand stoppte und entfernte sich.

„Das ist meine“, erhob er sich.

Ich tat es ihm gleich und half ihm, den Rucksack anzuziehen.

„Ich meld mich, ok?“

Mein Körper brachte zunächst nur ein Nicken zu Stande, doch bevor er sich umdrehen und weggehen konnte, hielt ich ihn an einer der Krücken fest. Mein Kopf signalisierte mir einen schweren Verlust… Trauer… Sehnsucht…

„Wirst du zurückkommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Ich wusste, dass er mir gegenüber nur ehrlich sein wollte und eigentlich hatte ich auch mit keiner anderen Antwort gerechnet, doch ich hatte mich so nach einer Lüge gesehnt. Ihm fiel es schwer, den Blick aufrecht zu erhalten, und ich wollte die Krücke nicht loslassen…

Ich stürzte nach vorn und presste sein Gesicht mit meiner freien Hand an mich… ich hatte doch sowieso nichts mehr zu verlieren.

Es war nur ein kurzer Protest, nichts was einem wirklich dazu brachte, von seinem Gegenüber abzulassen. Ein blinder Versuch eines Sehenden, also ließ ich von der Krücke ab und sperrte sein Gesicht zwischen meinen Händen ein, ließ mir Einlass gewähren.

Es sollte kein vorsichtiger, sanfter Kuss sein. Nein, dass sollte nicht meine letzte Erinnerung sein, falls sie es sein würde. Ich wollte ihm zeigen, dass ich ihn wollte, nach ihm verlangte… und für einen Augenblick lang schenkte er mir das Gefühl, dass wir uns beide nach demselben sehnten.
 

Ich schaute ihm noch zu, wie er hinter der Passkontrolle verschwand, dann drehte ich mich um und ging mit erhobenem Kopf den Weg zum Parkhaus ab. Ich schaute nicht zurück, verlangsamte nicht meinen Schritt.

Am Auto angekommen nahm ich den verschlossenen Umschlag, der auf dem Beifahrersitz lag, in die Hand. Er hatte sich nicht gerade geschickt angestellt, ihn unbemerkt zu hinterlassen. Kurz schaute ich hinauf, drehte ihn einige Male, bis ich ihn kopfschüttelnd und mit einem Lächeln auf den Lippen ins Handschuhfach warf.

„So einfach mache ich es dir dieses Mal nicht.“

Ich startete den Wagen und verließ das Parkhaus, ordnete mich auf der richtigen Spur ein und überlegte mir, welche Pose ich wohl für mein erstes Bild wählen werde.
 

Abweisung - Part 13 - Ende

Epilog

Autor: littleblaze

E-Mail: little_blaze_2000@yahoo.de
 

Warnung: Shonen Ai

Disclaimer: Alle Rechte an den Charakteren und der Storyline gehören mir und die Geschichte darf nicht ohne meine vorherige Zusage auf anderen Seiten, Portalen oder Foren gepostet werden.
 

Abweisung – Epilog
 

Mein Geburtstag liegt ganze zwei Tage zurück, und dass ich diesen in Ohio, in Gegenwart meiner Mutter und meines Bruders verbringen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten.

Es war kein schöner Geburtstag, aber weit besser, als die Geburtstage der letzten Jahre, die ich meist allein, in einer kalten, mit Urin getränkten Gasse verbracht habe. Überhaupt waren die vergangenen Wochen in Ohio nicht gerade eine sehr schöne Zeit gewesen. Auf der Straße hatte ich weitaus glücklichere Momente gehabt.

Die Stimmung war kalt, die Umgebung fremd, trotz der vielen Dinge, die immer noch an demselben Platz standen wie in den Jahren meiner Kindheit; selbst in meinem früheren Zimmer fühlte ich mich fehl am Platz … eingesperrt und isoliert. Es war nicht mehr mein Zuhause, kein Ort mehr, an den ich zurückkehren wollte. Ein Museum voller Erinnerungen, die ich krampfhaft versuchte zu verdrängen…

Ich zucke auf, als der Pilot unseren baldigen Landeanflug bekannt gibt. Schnell schließe ich das Fotoalbum, das mir Lienn mitgegeben hat, und verstaue es in meinem Rucksack. Noch mehr Erinnerungen, die nicht mehr zu meinem Leben gehören.

Ich drücke mich in den Sitz zurück und spüre wie mein Herz schneller anfängt zu schlagen. Der Flug ging fiel zu schnell vorüber… war es wirklich okay so? Denn auch in dieser Stadt bin ich nicht wirklich zuhause. Nur aus dem Zufall heraus bin ich damals in ihr hängen geblieben und ein noch viel größerer war es, dass ich jemanden getroffen hatte, für den ich nun bereit war, dorthin zurückzukehren. Doch war ich das…? Bereit?

Immer noch bin ich mir nicht sicher, ob es richtig oder falsch ist. Zu viel Zeit habe ich damit verbracht, mich zu fragen, ob ich wirklich in dieses Flugzeug steigen soll. Viele Zweifel hat besagte Zeit aufgeworfen, denn wie man es auch dreht und wendet, reicht Liebe oft nicht aus, um glücklich zu sein. Darüber ist sich die Menschheit schon zu oft bewusst geworden.

Fast schon belustigt muss ich mir eingestehen, dass ich mit diesem Gedanken weit mehr Zeit verbracht habe, als mit dem Versuch, mein zerstörtes Verhältnis zu meiner Familie wieder zu kitten. Dass ich mich in ihnen nicht mehr wieder erkannte, konnte ich den beiden nicht einmal zur Last legen, was in Bezug auf meinen Bruder schon irgendwie witzig klingt. Vielleicht hatte ich zu viel erlebt, um so einfach zurückzukehren?

Das Anschnallsignal leuchtet auf, ein hektisches Gemurmel beginnt. Selber trifft mich diese Unruhe nicht, da ich den Gurt nicht einmal gelockert habe, seit ich in den stählernen Bauch der Boing 767 gestiegen bin; ich bin noch nie begeistert vom Fliegen gewesen.

Ich nehme mein Handy von dem kleinen Tisch vor mir, lasse es in den Rucksack zu meinen Füßen gleiten und schiebe den Tisch in seine Vorrichtung zurück. Ein dumpfes Gefühl lässt mich erkennen, dass wir in den Sinkflug gehen.

Ich versuche gerade mich auf etwas anderes als meinen Magen zu konzentrieren, als mein Gehstock in Richtung Boden gleitet. Auf halbem Weg fange ich ihn auf und klemme ihn mir wieder zwischen die Beine.

Die Dame, welcher ich den ganzen Flug über keine Aufmerksamkeit geschenkt habe, lächelt mich entschuldigend an, nur zögernd erwidere ich ihr Lächeln, drehe mein Gesicht dann wieder zum Gang hin.

Es prägt einen, ganz offensichtlich, wenn man über Jahre hinweg nur mir Argwohn und Misstrauen angeschaut wurde, wenn Mütter ihre Kinder in sicheren Abstand ziehen, nur weil man ein verwüstetes Aussehen birgt und keinen Wohnsitz sein eigene nennen kann. Verurteilt als schlechter Mensch, nur weil man ein armseliges Leben führt.

Doch nicht die verängstigten Blicke der Mütter oder die herablassenden der Anzugträger stachen mir dabei ins Herz, sondern die Blicke derer, die ich mit meinen früheren Leben verband. Menschen, die mich von klein auf kannten, die mir Weihnachtsgeschenke mitgebracht haben, wenn sie zur großen Feier eingeladen waren. Nette Damen, die mir sagten, wie groß ich doch schon geworden sei, und mich in die Wangen zwackten und mir Bonbons schenkten…

Die Nachricht meiner Rückkehr hatte sich schnell herum gesprochen und viele kamen, um auf den abtrünnigen Sohn einen Blick zu werfen. Sie versuchten Freundlichkeit vorzutäuschen, die vornehmen Damen aus meinen Kindertagen, doch nicht einmal ein Drittel von ihnen überwand sich, mir die Hand zu reichen. Nicht ein ehrlicher Blick hat mich erreicht; sie sahen immer noch den Schwulen, den Mörder, und meine Mutter teilte ihren Blick.

Habe ich mit etwas anderem gerechnet? Gewiss nicht!

Man könnte vermuten, dass dieser Zustand vielleicht dazu beigetragen hat, dass ich mir schnell darüber klar war, dass dies nicht mehr mein Zuhause sein konnte, aber weder die Blicke, noch die aufkommende, penetrante Abneigung meiner Mutter gegen „meinen Lebensstil“ hat irgendetwas damit zu tun. Doch was lässt mich dann so sicher sein?

Die meisten Menschen haben furchtbare Angst davor, dass sie, nach jahrelanger Abwesenheit, nach Hause kommen und sich alles verändert hat. Ich denke, bei mir war es eher der umgekehrte Fall. Es kam mir vor, als wäre die Zeit in einem kleinen Teil von Ohio einfach stehengeblieben und ich hielt einfach still, saß die meine ab, bis mein Bein soweit genesen war, dass ich mich wieder auf den Weg machen konnte. Wohin er mich allerdings führen sollte, war mir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht bewusst. Nicht einmal jetzt bin ich mir vollkommen sicher diesbezüglich.

Ich hatte ihn vermisst, weiß Gott, wie sehr ich das habe. Aber bin ich soweit, zurückzugehen? Bin ich überhaupt fähig, eine Beziehung zu führen? Ich will meine Vergangenheit zwanghaft hinter mir lassen, aber sie verarbeitet habe ich noch lange nicht…

Lienns gutgemeinten Rat, einen Psychiater aufzusuchen, um mit meiner Vergangenheit wieder ins Reine zu kommen, ist an sich keine schlechte Idee gewesen, wenn die einzige Praxis in der Nähe nicht zu Mandy Pekellys Familie gehört hätte.

Mandy; ich kann mich noch gut an sie erinnern. Sie hat rotes Haar, welches sie zu einem langen Zopf gebunden hatte, und Unmengen an Sommersprossen im Gesicht. Ihr Lachen lag immer irgendwie schief auf ihrem Mund, weshalb man automatisch mitlachte, wenn sie es tat. Sie war ein nettes Mädchen gewesen, voller Träume, nur, dass sie jetzt nicht mehr Pekelly sondern Hutton hieß. Mandy Hutton… so wie: Mitchell Hutton.

Warum ich mich an meinem letzten Tag in Ohio auf den Weg machte und mich auf die gegenüberliegende Straßenseite von Mitchells Haus stellte, war wohl eher neugierdebedingt. Ich wollte wissen, wie er sich in den letzten acht Jahren verändert hatte, wenigstens redete ich mir das ein; ob es der wahre Grund war… woher sollte ich das schon wissen?

Ich stand drei Stunden vor dem Haus, bevor er mit Mandy vorgefahren kam. Der Schmerz in meinem Bein war inzwischen ins Unermessliche gestiegen, aber ich wollte nicht weichen, bevor ich einen Blick auf ihn geworfen hatte. Ungerührt blieb ich stehen und starrte hinüber, als Mandy das Auto verließ; einen runden Babybauch trug sie vor sich her. Sie entdeckte mich als erstes.

Ihr Gesicht war zu weit entfernt, um es deuten zu können, jedoch schien sie verwirrt und verängstigt. Natürlich wusste sie wie jeder andere auch, was damals passiert war. Wovor hatte sie aber solche Angst?

Es gab eine kleine Diskussion, bevor sie ins Haus wankte und er sich auf dem Weg über die Straße machte. Sein Gesicht war um einiges markanter geworden. Die Augen hatten viel von ihrem Glanz verloren… aber vielleicht hatte beides auch nur etwas mit meiner Anwesenheit zu tun. Seine Statur war immer noch ziemlich schmächtig; sie hatte auch schon früher nicht zu seinem draufgängerischen Auftreten gepasst.

Als er vor mir stehen blieb, hatte ich schon die Lust an diesem Treffen verloren. Ich hatte damit gerechnet, irgendetwas zu fühlen, aber da war rein gar nichts, weder positiv noch negativ. Mein schmerzendes Bein fragte mich, wozu das Ganze jetzt gut gewesen sei, und im selben Moment sprach er mich an:

„Was willst du hier?“

Sein Tonfall sollte vielleicht barsch klingen, doch auch hier erkannte ich Angst. Innerlich lächelte ich darüber.

Vielleicht hätte ich irgendwie darauf antworten sollen, doch nicht mal das war es mir wert.

Ich versuchte mir den Schmerz, den mein Bein verursachte, nicht anmerken zu lassen, als ich mich umdrehte und einfach meines Weges gehen wollte.

„Ryan!“

Abrupt blieb ich stehen, nicht mein Name war es gewesen, der mich dazu veranlasste, sondern der Klang, wie er ihn ausgesprochen hatte. Es war verrückt, dass ich plötzlich nicht mehr in der Lage war, mich ihm zuzuwenden.

Ich hörte die wenigen Schritte auf dem Gehsteig, wusste, dass er nur einen knappen Meter hinter mir stand. Mein Herz hatte wie wild angefangen zu schlagen.

„Es tut mir leid… das alles… ich…“

Und plötzlich hatte ich die Kontrolle über meinen Körper zurück. Ich wollte ihm ins Gesicht schreien, dass er sich seine Entschuldigung in den Arsch schieben könnte, dass er das Letzte war. Ich drehte mich zu ihm um, sah ihm ins Gesicht und erkannte mit einem Male etwas, was mich viel mehr befriedigte…

Ich sah es in ihrem Gesicht, hinter der Fensterscheibe, und ich sah es in seinen Augen, die sich mit meinen über eine so kurze Distanz verbanden. Sie hatten Angst, denn er war nicht dafür gemacht; nicht für dieses Leben, in das ihn Mandy gerne halten wollte.

Er konnte sie auf gewisse Art lieben, vielleicht befriedigte ihn der Sex sogar und das Kind würde sie zweifelsfrei fester zusammen binden, doch sie waren sich beide darüber bewusst, dass er etwas anderes begehrte. Er hatte sich nach dem Zwischenfall wahrscheinlich einfach nur verbiegen lassen, sich vielleicht als armes Opfer aufgespielt, damit er in Ruhe sein Leben leben konnte, und nun war er gefangen, gefangen in einem Leben, in dem er eigentlich nicht sein wollte.

Ich grinste ihn nur breit an und ging…

„Gleich haben Sie es geschafft.“

„Bitte?“, wende ich mich meiner Sitznachbarin zu.

„Die Landebahn ist schon in Sichtweite“, deutet sie aus dem Fenster heraus.

Ich nicke nur kurz und wende den Blick wieder ab.

Was soll ich ihm nur sagen?, drängen mich meine Gedanken nun auf den Flughafen hinunter.

Er wird da sein, ganz sicher wird er das, obwohl ich ihn erst gestern darüber informiert habe, dass ich wieder in die Stadt komme. Aber was wird sein, nach der wochenlangen Trennung, in der ich es nicht einmal für nötig gehalten habe, mit ihm am Telefon zu sprechen?

Will er es überhaupt noch? Bin ich dazu eigentlich fähig? Oder hat Jeremy es doch noch geschafft, sein Herz zurückzugewinnen?

Würde mir jemand das Steuer in die Hand drücken, wäre ich gewillt, das Flugzeug eine volle Kehrtwende machen zu lassen.

Ich habe Angst; Angst vor dem ersten Blickkontakt, vor dem ersten Wortwechsel… Angst davor, dass sich seine Gefühle geändert haben und ich nicht mehr die Chance erhalte, zu versuchen, sie zu erwidern. Ich will wieder sehen, wie seine blauen Augen konzentriert über ein Blatt wandern, wie versessen er darauf beharrt, dass Gemüse längs geschnitten wird, und ich möchte ihn berühren. Ich habe mir durch meine Verbohrtheit immer wieder die Chance dazu verbaut und dabei wollte ich es so gerne tun; so oft habe ich mich gefragt, wie es sich wohl anfühlen mag…

Das Aufsetzen der Maschine holt mich wieder zurück. Ich versuche nicht daran zu denken, was gleich passieren wird, denn Kontrolle habe ich darüber sowieso kein Stück. Ich habe nicht das Recht, um irgendetwas zu bitten oder zu verlangen.

Ich stehe mit hundert anderen Passagieren auf, als das Flugzeug endlich seinen Stillstand erreicht hat. An meiner Jacke befühle ich die Innentasche, der Briefumschlag mit einem Bündel Geldscheine ist immer noch vorhanden. Wenigstens dies bin ich ihm schuldig, da ich nun zu dem Geld des Treuhandfonds meines Vaters Zugang habe.

Der Ausstieg ist die reinste Zerreißprobe, nur Millimetersprünge geht es vorwärts und die Tür ist noch gut zehn Meter entfernt. Ich schaue mich um, versuche hässliche oder schöne Dinge an den Menschen in meiner Umgebung zu finden, nur nicht über das Gleich nachdenken.

Jedoch kommt dies schneller als erwartet.

Ich gehe durch einen kleinen Tunnel, einige Treppen hinunter und bleibe an der Gepäckausgabe stehen. Auch hier geht alles viel zu schnell; mein Koffer ist schon bei den ersten zehn Gepäckstücken dabei. Kurz überlege ich, ob ich ihm eine Ehrenrunde gestatten soll, beuge mich dann aber doch vor und hieve ihn hinunter auf den Boden. Nicht einmal die Zollabfertigung nimmt sich mir, einen leicht lädierten Passagiers an.

Ich trete durch die letzte Tür, bleibe auf der kleinen Anhöhe stehen und überblicke die wartende Menschenmenge. Einige Kinder ziehen ungeduldig an den Händen ihrer Eltern und junge Menschen warten wahrscheinlich auf die Ankunft ihres Liebsten, jedoch suche ich nach blondem Haar; so blond, dass es fast dem alten Bucheschreibtisch gleicht, den ich als Kind hatte.

Die wenigen blonden Haarschöpfe sind schnell ausgemacht und mit einem resignierenden Gefühl muss ich feststellen, dass er nicht unter ihnen ist; er ist nicht hier!

Kann man es wirklich spüren, wenn einem das Herz bricht? Ist es ein schmerzhaftes Gefühl oder ein dumpfes… ist es wie ein Schockzustand oder ist es einfach nur etwas, was einen zur Kapitulation zwingt?

Ich empfange einen Stoß von hinten, falle nach vorne, bis ich mir an dem kleinen Geländer Halt verschaffe; von meinem Stock lasse ich ab, er fällt hinunter.

„Entschuldigung“, dröhnt die dunkle Stimme des übergewichtigen Mannes an mich heran und ich presse mich näher an das Gelände, ziehe meinen Koffer näher an mich heran.

Er ist nicht da!

Lachen dringt langsam durch die Ankunftshalle, freudige Rufe. Ich will gehen, doch mein Stock liegt einen Meter unter mir auf den Boden. Alles in mir schreit danach diesen Ort der Freude zu verlassen, ich gehöre nicht hier her.

Warum ist er nicht da?

Die wenige Kraft, die ich momentan mein eigen nennen kann, verlässt mich schlagartig. Mein Bein fängt an zu zittern. Ich will dem nachgeben, mich einfach auf den kalten Boden setzen, mich in eine Ecke verziehen... Jemand berührt mich am Arm, verhindert, dass ich zu Boden gehe. Er redet auf mich ein, doch ich will es nicht hören. Als mein Gesicht unerwartet gegen einen Körper gepresst wird, verschlägt es mir den Atem.

Obwohl meine Augen die ganze Zeit über geöffnet waren, schaffte ich es nicht zu sehen. Erst jetzt erkenne ich die fransigen Strähnen von blonden Haaren, entdecke den bekannten Duft, der durch meine Nase strömt. Meine Finger krallen sich in den kühlen Stoff. Ist er wirklich da?

„Du warst nicht da“, stammle ich hervor. Erschrocken werden mir die Tränen auf meinem Gesicht bewusst.

„Der Verkehr. Es tut mir leid.“

Er versucht mich ein wenig von sich zu drücken, wahrscheinlich, um mich ansehen zu können, jedoch bin ich gerade nicht bereit dazu. Ich will nicht, dass er mich so sieht, so bemitleidenswert. Ich schüttle mit dem Kopf und drücke uns wieder mehr zusammen.

„Halt mich fest...“, bitte ich. „… nur noch ein bisschen, bitte.“

„Natürlich!" Seine Lippen berühren meinen Hals. „Solange du möchtest.“
 

Abweisung - Epilog - Ende



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Von: abgemeldet
2011-06-03T21:14:34+00:00 03.06.2011 23:14
Ich habe diese Geschichte schon soo oft gelesen & bin immer wieder begeistert.Ich weiß das du es oft hörst,aber du hast es echt drauf.Hut ab!
Von: abgemeldet
2010-02-26T23:11:52+00:00 27.02.2010 00:11
WOW*_*
Es gibt Momente in denen kann man Begeisterung nicht in Worte fassen&so geht es mir gerade.
Die Geschichte von Ryan hat mich so mit genommen;
Tränen ohne Ende.
Unglaublich Gefühlvoll.
Ich weiß nicht was ich sagen soll:)
Toll gemacht(Y)
Von:  MaiRaike
2009-12-01T00:27:13+00:00 01.12.2009 01:27
Eine wunderbare Geschichte.
Sehr einfühlsam geschrieben.
Ein nicht vorhersehbarer Handlungsverlauf (zumindest für mich nicht).
Und ein wundervolles Ende ohne ins Kitschige abzurutschen.
Wirklich eine Meisterleistung!

Wenn du noch mehr schreibst, kannst du mir gerne Bescheid sagen, ich werde mit Begeisterung wieder zu deinen Lesern gehören!

Lg
Von: abgemeldet
2009-10-25T15:34:50+00:00 25.10.2009 16:34
hey :-)!
ich bin ganz zufällig auf diese story gestoßen und wollte sie mir eigentlich nur ganz kurz ansehen, aber dann habe ich angefangen zu lesen und konnte irgendwie nicht mehr aufhören^^.

du schreibst wirklich toll, dein schriebstil gefällt mir sehr.
deine charaktere sind lebensecht und die geschichte sehr spannend und fesselnd, obwohl sie es nicht darauf anlegt. mir gefällt, dass du dich nicht in ellenlange gefühlsbeschreibungen stürzt, die situation und die athmosphäre aber trotzdem unheimlich ausdrucksstark zeichnen kannst. ich habe die ganze zeit sehr mit chris mitgefühlt. hut ab :-).
hier und da habe ich einen rechtschreib- oder kommafehler gefunden, sonst ist deine orthographie aber tadellos. ein paar metaphern und redewendungen haben mir besonders gefallen. du hast wirklich tolle einfälle :-).

dieser kommentar ist zwar nicht umwerfend, aber da ich schwarzleser nicht besonders schätze, wollte ich dir sagen, dass ich deine geschichte mag und sie bestimmt weiterlesen werde. ich setze sie auf meine favoritenliste, damit ich es nicht vergesse :-).

noch einen schönen sonntag und liebe grüße,
lung :-)
Von: abgemeldet
2009-10-11T21:08:51+00:00 11.10.2009 23:08
Hallöle ^^

einfach genial...^^
ich hab wieder ganz doll mit gelitten...T^T
du bist die beste...^^
*knuffz*
Von: abgemeldet
2009-10-04T14:08:14+00:00 04.10.2009 16:08
heey =)

also ich hab deine geschichte heute durchgelesen und ich bin wirklich begeistert :D
sie ist echt total schön und mitreißend. wirklich toll.
dein schreibstil hat mir auch außerordentlich gut gefallen, obwohl ich hie und da ein paar tippfehler entdeckt habe, aber die haben auch nicht weiter gestört ^^
am meisten hab ich mich natürlich über das ende gefreut! einfach sooo schön! ich liebe happy-ends. und ich bin froh dass ryan sich für einen "neuanfang" entschlossen hat =)
ich wünsche den beiden wirlich alles gute und ich hoffe, dass sie endlich glücklich miteinander werden können ^^

GLG mizuki
Von: abgemeldet
2009-10-01T18:36:17+00:00 01.10.2009 20:36
ein wirklich grandioses ende...ich bin traurig dass es vorbei ist aber auch endlich erleichtert dass es gut ausgegangen ist
vielen dank für solch ein tolles fanfic^^

Von:  Miwako22
2009-09-23T01:57:41+00:00 23.09.2009 03:57
Ein super schönes Ende hast du da hinbekommen :)

Ganz ganz toll geworden ich bin richtig gerührt.

Ich hoffe du schreibst noch mehr so schöne Geschichten.

lg
miwa
Von: abgemeldet
2009-09-16T20:34:48+00:00 16.09.2009 22:34
Tolles ende :D
traurig das es jetzt vorbei ist
war echt ne tolle ff
lg
Nicicat
Von:  AliceWunderlich
2009-09-13T21:54:33+00:00 13.09.2009 23:54
Unglaublich!
So schön und süß und toll das Ende..könnte es immer wieder lesen!
Nur leider ist es das Ende =((
Hoffentlich höre ich mal wieder etwas von dir!!!
=)



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