◊ Kapitel eins
Ungeduldig klopfte ihr rechter Fuß in einem schnellen Tempo auf den Boden. Sie sah zum wiederholten Male auf ihre Armbanduhr, die ihr lediglich anzeigte, dass man sie nur noch länger warten ließ. Warum verabredete man sich, wenn man nicht vorhatte, sich an die Uhrzeit zu halten? Es waren zwar gerade mal zwanzig Minuten vergangen, aber da sie unter Zeitdruck standen und von ihren Eltern erwartet wurden, wurde sie nicht nur immer unruhiger, sondern auch noch wütend darüber, so versetzt zu werden.
Erneut sah sie auf die Uhr, während die letzten Fußballspieler das Gebäude mit den Umkleiden und Duschräumen verließen. Nur einer war immer noch nicht aufgetaucht: Ihr Bruder Gregor.
Wütend stampfte Elsa mit dem Fuß auf den Boden. Bei all ihrem Verständnis und ihrer Unterstützung für die ungebrochene Leidenschaft für Fußball, verlor sie langsam die Geduld mit ihm. Es war der Hochzeitstag ihrer Eltern, sie hatten in einem beliebten und oft ausgebuchten Restaurant einen Tisch für die Familie reserviert. Wenn sie zu spät erschienen, würde ihr Tisch anders vergeben werden!
Als Gregor ihr berichtete, dass ausgerechnet an diesem Tag ein „wichtiges“ Fußballspiel für seine Mannschaft anstand, hatte sie zuerst Nein gesagt. Elsa selber musste schließlich all ihre Lesungen schmeißen, um pünktlich da sein zu können, doch Gregors große Augen hatten sie regelrecht angefleht und so hatte sie zugesagt.
Unter einer Bedingung: „Direkt nach dem Spiel gehst du direkt duschen, dich umziehen und wir treffen uns fünf Minuten später am Ausgang des Gebäudes. Ich hole dich mit dem Auto ab und wehe, du lässt eine Verlängerung, oder ein Elfmeterschießen zu! Sorge dafür, dass ihr eindeutig gewinnt!“
Gewonnen haben sie das Spiel. 5 – 2 für Gregors Mannschaft, so viel hatte Elsa noch mitbekommen und seitdem wartete sie auf ihren jüngeren Bruder, der schon immer nichts anderes im Kopf hatte, als seinen Fußball.
Elsa stampfte erneut mit dem Fuß auf den Boden und gab ein wütendes „Gregor“ von sich, ehe sie sich in Bewegung setzte und das Gebäude betrat. Sie ging wütend den Flur entlang. So wütend, dass es kein Wunder gewesen wäre, wenn die Erde unter ihren Schritten gebebt hätte. Sie hielt auf die Umkleide der Fußballmannschaft ihres Bruders zu, die ein Heimspiel hinter sich hatte, also prangerte der Name der Mannschaft in großen Schriftzeichen an der Tür. Trotz angestrengten Lauschens war nichts zu hören, bis auf ihren rasenden Herzschlag. Sie schnaufte wütend und aufgebracht und stieß die Tür mit einem wütenden „Gr-e-gor!“ auf. Sie machte Godzilla sicherlich alle Ehre, so wie vor etlichen Jahren in ihrem Kinderzimmer beim Spielen.
Sie hielt inne und innerhalb eines Wimpernschlages war ihre gesamte Wut verschwunden. In der Umkleide befand sich tatsächlich noch eine Person, jedoch war es nicht der erwartete Gregor, sondern vor ihr stand, lediglich mit einer Shorts bekleidet, Mario, der Torwart und Captain der Kickers, der Mannschaft an der Grundschule, die sie besucht hatten. Elsa lief auf der Stelle dunkelrot im ganzen Gesicht an und drehte sich hektisch um. Zeitgleich realisierte Mario was da gerade geschehen war.
Sie hörte Stoff rascheln, wahrscheinlich zog er sich eilends an.
»E-es tut mir s-so-so leid«, stammelte sie. »Ich wusste ja nicht das du noch hier bist …« Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er hier sein könnte. Sie hatte schließlich keine Ahnung mehr, wer in Gregors Mannschaft spielte. »Es ist mir so unangenehm.«
»Schon gut«, sagte Mario hinter ihr. Seine Worte klangen gedämpft, weil er sich sein T-Shirt über den Kopf zog. »Das … Es … Ich denke, wir sind nun quitt.«
Elsas Wangen verfärbten sich zart rosa und sie musste unbewusst lächeln, als sie sich an ihre Zeit in der Grundschule erinnerte und auch daran, wie Mario aus Versehen in der Mädchenumkleide gelandet war, während sie sich gerade umgezogen hatte. »Das war die gleiche Situation.«
»Ja«, sagte Mario in seiner gewohnten ruhigen Art. Seine Stimme war mittlerweile tiefer, aber immer noch so angenehm. Er schulterte seine Sporttasche und trat neben sie. »Kann ich dir helfen? Du suchst doch sicherlich Gregor, stimmt’s?« Er trug immer noch eine Basecap wie damals. Es gehörte einfach zu ihm.
»Ja, wir waren verabredet, aber er ist noch nicht aufgetaucht, deswegen dachte ich, er würde hier noch herumtrödeln, weil er sich zu sehr über euren Sieg gefreut hat.«
Verwundert sah Mario sie an. »Verständlich, aber … Gregor war, der erste der vom Feld gerannt ist. Er hat gesagt, dass er eine wichtige Verabredung hat und direkt losmuss. Ich dachte ja, dass er sich mit Conny trifft, mit dir habe ich gar nicht gerechnet, seitdem du...«
»Nach Tokio gezogen bin?«, sie lächelte schuldbewusst. Das war damals passiert, nachdem sie die Oberschule abgeschlossen hatte. Seitdem hatte sie auch gar keinen Kontakt mehr zu Mario gehabt. Seit der Mittelschule hatten sie sich kaum noch gesehen, doch über Gregor hatten sie immer hin noch hin und wieder miteinander zu tun gehabt, aber auch dieser flüchtige Kontakt war mit ihrem Umzug komplett abgebrochen. »Ja … Ich bin extra hierhergekommen, damit wir mit unseren Eltern essen gehen können und-« Es traf sie wie ein Blitzschlag: Sie kamen zu spät. Sofort wurde sie wieder hektisch. »Aber wenn er zeitig raus ist, dann muss er doch bei mir am Ausgang vorbeigekommen sein.«
»An welchem?«
»An welchem?«, wiederholte Elsa und sah fast schon geschockt Mario neben ihr. »Es gibt weitere?«
»Nur einen, das ist der kürzeste hinaus zum Parkplatz«, erklärte er. »Wahrscheinlich ist er gleich dahin gegangen.«
Elsa nickte. Dann hatte sie wahrscheinlich am völlig falschen Ort gewartet als ihr Bruder. Hektisch raufte sie sich die Haare und ärgerte sich nun über sich selbst. »Es tut mir leid«, sagte sie, ob sie sich jetzt schon bei ihrem Bruder für ihre Wut entschuldigte, oder bei Mario, weil ihr wiedersehen so kurz war, war nicht klar. »Ich muss jetzt schnell los.« erklärte sie und wollte lossprinten, doch Marios Stimme ließ sie innehalten: »Elsa!«
Mit geröteten Wangen drehte sie sich wieder zu dem Torwart um.
»Es hat mich gefreut dich wiederzusehen und … ähm …«, er wandte seinen Kopf ab und der Schirm seiner Cap verdeckte sein Gesicht. »Ich würde dich gerne … nochmal wiedersehen, wenn du noch Zeit hast.«
Elsa lächelte. »Ich bin noch ein paar Tage hier, vielleicht … wenn du morgen Zeit hast …«
Mario sah sie erstaunt an, als hätte er gar nicht damit gerechnet, dass sie zusagen könnte. »Ja … Natürlich … wann und wo?«
»Warte kurz«, Elsa zog aus ihrer Handtasche ein kleines Notizbuch und einen Bleistift heraus. Sie hatte immer etwas zum Schreiben dabei. Sie kritzelte eilig etwas auf das erste freie Blatt des Buches, das sie entdeckte, riss die Seite heraus und reichte sie Mario. »Meine Telefonnummer«, kommentierte sie. »Schreib mir einfach und dann klären wir alles Weitere.«
»Oh … Ja … Natürlich … das mache ich gerne.«
Elsa lächelte. »Gut, wir sehen uns dann morgen.«
»Ja, bis morgen.«
◊ Kapitel zwei
Elsas Zimmer bei ihren Eltern hatte sich seit ihrem Auszug nicht verändert und das obwohl sie ihnen erlaubt hatte, alles was sie zurück ließ zu entsorgen. Deswegen fühlte sie sich auch nicht so als wäre sie zu Besuch, sondern einfach wieder nach Hause gekommen. An den Wänden und den Regalen standen und hingen eine viel zahl von Leichtaltethikpreisen und Fotos die sie aufgrund der Anzahl zurück gelassen hatte. Manchmal vermisste sie ihre Zeit im Sportclub ihrer Schule und auch das gemeinsame Lauftraining mit Gregor. Vielleicht hatte sie sich auch gerade deswegen mit ihm zum Joggen am nächsten Morgen verabredet.
Mit ihrem Bruder hatte sie sich noch eingehend unterhalten und ihm regelrecht den Kopf gewaschen, weil sie so viel Zeit vertrödelt hatten.
»Du hast mir gar nicht erzählt das du noch mit Mario zusammen spielst«, hatte Elsa gesagt, nachdem sie sich beruhigt hatte. Das überraschende Wiedersehen mit Mario hatte sie gefreut, doch sie versuchte es zu vermeiden, es offen zu zeigen.
»Das stimmt gar nicht«, hatte Gregor gesagt.
Sie saßen in Elsas Auto und fuhren zusammen zum verabredeten Treffpunkt mit ihren Eltern.
»Spielt er nicht? Aber er war doch da.«
»Ja, aus Freundschaft. Er spielt nicht mehr bei uns und hat uns einfach nur bei dem Spiel ausgeholfen.«
»In welcher Mannschaft spielt er denn nun?«
Gregor hatte zum Fenster hinausgesehen und bedrückt gewirkt, das hatte Elsa zumindest im Augenwinkel so wahr genommen.
»Mario spielt nun seit einem Jahr in einem professionellem Nachwuchsclub.«
Elsa hatte sofort verstanden was ihren kleinen Bruder bedrückte. Sein Freund Mario war vor ihm und vor allem allein aufgestiegen. »Du schaffst das auch noch … Du bist schon immer gut gewesen.«
»Hehehe … Findest du?«
»Natürlich. Du wirst schon sehen und dann spielst du wieder mit Mario zusammen.«
Mit Mario zusammen. Elsas Gesicht begann zu glühen und sie drückte eben dieses in ihr altes Plüschtier in Form einer blauen Katze. Sie lag auf ihrem Bett und wand sich, die Plüschkatze auf ihr Gesicht drückend, schreiend hin und her. Erst als sie sich wieder beruhigt hatte – zwangsweise, weil ihr langsam die Luft ausging – hob sie wieder ihren Kopf an. Sie war froh darüber gewesen das Glück gehabt zu haben Mario zufällig begegnet zu sein. Hätte sie Gregor gleich getroffen, wäre das mit Sicherheit nicht geschehen.
Elsa drückte die blaue Plüschkatze an sich. Sie hatte weiße Flügel auf dem Rücken und einen dümmlichen Gesichtsausdruck, in den sich Elsa damals auf dem Sommerfest verliebt hatte. Sie war mit Gregor und Mario da gewesen und bei einem Stand gab es diese Katze , neben anderen, zu gewinnen. Sie hatte zwar nicht den Wunsch geäußert, dieses Plüschtier haben zu wollen, jedoch hatte Mario irgendwie auch ohne Worte ihren Wunsch erkannt und ehe Elsa überhaupt realisiert hatte, was er da tat, hatte Mario schon den ersten versuch gestartet um das Plüschtier zu gewinnen.
Und nun lag sie hier, mit der blauen Plüschkatze, der man trotz ihrem relativ jungen Alters ansah, wie gern Elsa sie hatte. Und trotzdem hatte sie diese Plüschkatze bei ihrem Auszug hier gelassen. Warum nur hatte sie es nur zurück gelassen, als sie nach Tokio gezogen war?
Elsa kam gar nicht dazu sich weiter darüber Gedanken zu machen, denn das stumme Leuchten ihres Smartphones weckte ihre Aufmerksamkeit. Eine Nachricht von Mario wurde angezeigt, die ihr Herz schneller schlagen ließ: „Ich freue mich schon auf morgen.“
◊ Kapitel drei
Nach dem gemeinsamen Joggen mit Gregor war sie noch einmal kurz bei ihren Eltern zu Hause gewesen um sich frisch zu machen, ehe sie sich zu ihrem Treffen mit Mario auf machte. Es war kurz vor 12 Uhr und ihr kleiner Bruder hatte sich nicht davon abhalten lassen, sie bis zu dem Treffpunkt an ihrer ehemaligen Grundschule zu begleiten. Es war ein wenig komisch, schließlich hatten Mario und Elsa damals entschlossen, dass es besser war sich nicht weiter zu treffen um die Freundschaft zwischen Gregor und Mario nicht zu gefährden und nun begleitete dieser Gregor sie zu dem Treffpunkt.Sie hatte sich laut stark dagegen gewährt, ihn aber nicht davon abbringen konnte. Elsa konnte ihrem Bruder lediglich das Versprechen abringen, sie nur bis zum Gelände zu begleiten und dann weiter zu ziehen.
Gregor hatte zugestimmt und versprochen weiter zu seinem alten Freund Kevin zu gehen, der ebenfalls gerade zu Besuch bei seinen Eltern war. Er hatte es ebenfalls geschafft in eine höhere Liga aufzusteigen und hatte nur noch hin und wieder Zeit um nach Hause zurück zu kommen. Kevin – so erzählte Gregor – hatte vor als jüngster Japaner überhaupt ins Ausland zu wechseln.
»Du triffst dich mit Mario«, sagte Gregor plötzlich. Er wirkte unsicher, als wäre es ihm unangenehm das Thema anzusprechen.
»Ja«, erwiderte Elsa lediglich. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Es war sein bester Freund mit dem sie sich traf.
»Das ist gut!« Gregor grinste breit und verschränkte seine Arme lässig hinter seinem Kopf. Er wirkte beinahe schon erleichtert. »Ich habe mich eh gefragt, warum ihr euch plötzlich nicht mehr verabredet habt.«
Es wahren Frühlingsferien und der Parkplatz der Lehrer ihrer ehemaligen Grundschule war bis auf drei Autos komplett leer. Elsa parkte ihr Auto und sie stiegen aus. Gregor verabschiedete sich kurz und eilte dann auch schon weiter.
»Er wird nie erwachsen«, murmelte Elsa, während sie ihm lächelnd nach sah. Korrekter wäre gewesen, das Gregor sich nie verändern würde, egal wie viel Zeit vergehen würde. »Mein kleiner Bruder.« Sie driftete kurz in angenehme Erinnerungen an ihre Kindheit hier im Ort ab, doch dann schlug mit einem Mal ihre Nervosität zu. Sie würde sich seit Jahren wieder mit Mario treffen. Mit Mario. Mit diesem Mario. Mit Mario. Mario.
Vor Schreck und Scharm ging Elsa neben ihrem Auto in die Hocke, als würde sie sich vor jemanden verstecken. Am aller liebsten würde sie sich wieder in ihren Wagen setzen und einfach wieder nach Hause fahren, doch genauso sehr wollte sie Mario wiedersehen und deswegen blieb sie.
»Elsa?« wurde sie skeptisch gefragt und sie wusste ganz genau wem die Stimme gehörte: »M-mario … Ha-hallo«, murmelte sie verlegen und schielte nur über ihre Schultern. Da stand er und sah sie mit einer Mischung aus Sorge und Verwunderung an.
»Was machst du da auf dem Boden?«
»Was ich hier mache?« fast schon panisch suchte sie nach einer Ausrede für ihr Verhalten. Schließlich steckte sie ihre Hand in ihre Tasche und zog ihren Schlüssel heraus. Sie hielt ihn hoch. »Mir ist mein Schüssel heruntergefallen und ich habe ihn gesucht. Hier ist er ja zum Glück.« Schwungvoll erhob sie sich, in der Hoffnung das ganze vertuschen zu können. »Du bist früh hier«, sagte sie.
»Naja«, fing Mario an. »Ich hatte eigentlich vorgehabt vor dir hier zu sein.«
»Das«, sie lächelte und trat einen Schritt auf ihn zu. »Hat leider nicht funktioniert.«
Elsa war immer noch nervös und ihr Herz klopfte wie wild, während sie Mario gegenüber stand, doch die Freude und Aufregung übertraf alles. Einfach alles. »Gehen wir ein wenig spazieren? Und dann vielleicht ein Eis essen?«
»Ja … Warum nicht.« Es war nicht so, dass Mario kein Interesse daran hatte mit ihr spazieren zu gehen, oder nur Zeit mit ihr zu verbringen. Er war einfach schon immer zurückhaltender gewesen wenn es um Mädchen ging, fast schon schüchtern.
»Gut«, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Sie gingen nebeneinander die Straße entlang, ohne ein klares Ziel vor sich zu haben, das über „Zeit gemeinsam zu verbringen“ hinaus ging. Elsa war diejenige die am meisten erzählte. Wie es ihr erging und wie ihr neues Leben war, wie ihr Alltag aussah und warum sie sich für diesen Schritt entschieden hatte. Sie fragte Mario unendlich viele Löcher in den Bauch, die dieser mit knappen Sätzen beantwortete. Auch er würde sich wohl niemals verändern und das war gut so.
Ihr zusammen sein fühlte sich nicht so an, als hätten sie sich vor Jahren schon getrennt, sondern als wäre das niemals passiert. Als hätten sie sich nicht mehr als ein paar Wochen gesehen. Und irgendwie hatte sie Angst, dass sie einfach wieder auseinander gingen. Sie hatte ihn vermisst, das wurde ihr nun klar, als sie über belangloses redeten.
Plötzlich ertönte ein schrilles Hupen und ein Ruck ging durch ihren Körper. Es ging alles so schnell. Das Hupen wurde schriller, Reifen quietschten und sie stürzte. Als Elsa realisierte, dass sie auf dem Boden lag, schien sich alles zu drehen. Mario lag unter ihr und ein fremder Mann brüllte wütend auf sie ein, sodass sie kaum in der Lage war die Szene zu realisieren und zu ordnen.
»Pass doch mal auf du verdammte Göre«, brüllte die fremde Männerstimme. Die sonst immer so wortgewandte Elsa war jedoch nicht in der Lage etwas zu erwidern, weil sie sie Szene selbst noch nicht verstand. Dafür aber Mario: »Sie sind doch selber viel zu schnell gefahren.« Ruhig, aber dennoch eindeutig wütend.
Er hielt sie sanft und beschützend in seinen Armen, während sie sich nicht wagte sich zu bewegen. War das wirklich passiert? Lag sie tatsächlich in seinen Armen? Langsam begann sie die Situation zu verstehen. Allen Anschein nach war sie in Gedanken versunken auf die Straße gegangen, ohne auf den Verkehr zu achten – egal ob der Fahrer nun zu schnell war, oder nicht – und Mario hatte sie zurück gezogen, so dass nichts schlimmes passieren konnte und sie nun auf ihm lag. Auf ihm. »Mario!«
Mario und der Fremde unterbrachen ihre Auseinandersetzung, aufgrund ihrer aufgebrachten und lauten Stimme.
Elsa setzte sich auf und sah auf ihn hinab. »Geht es dir gut? Was ist mit deinem Kopf? Bist du irgendwo verletzt? Deine Beine? Dein Rücken? Wie geht es dir?!«
Er lächelte. »Mir geht es gut, alles okay. Wie ist es bei dir?«
Tränen, die gefühlt die Größe von Perlen hatten, quollen aus ihren Augenwinkeln und sie warf sich um seinen Hals. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht!«
»A-aber …«, fing Mario an. Eigentlich wollte er etwas sagen wie „Aber du wärst doch beinahe von einem Auto angefahren worden“, doch er schwieg und ließ Elsa sich bei ihm ausweinen, bis sie sich beruhigt hatte.
Irgendwann – der Autoraser war schon abgehauen – saßen sie auf dem Gehweg und unterhielten sich. Sie ließen die Passanten an ihnen vorbei gehen und ignorierten ihre verwirrten Blicke. Sie nahmen nur sich wahr. Sie saßen so dicht beieinander, Händchenhalten, dass man sich fragen konnte, wer eigentlich bei wem auf dem Schoß saß.
»Wie lange wirst du noch in der Stadt sein?«, fragte Mario plötzlich ernst.
Elsa sah weg. »Morgen muss ich zurück«, sagte sie. Sie hatten nur diesen Tag miteinander. Sie ließ seine Hand los und rutschte von ihm weg. Elsa wollte aufstehen, doch Mario hielt sie in der halben Bewegung fest. Sie hielt inne und sah auf ihn hinab. Der Schirm seiner Basecap verhinderte, dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte.
»Was ist?«, fragte sie fast schon ängstlich. Warum auch immer.
»Ich möchte nicht, dass du einfach wieder verschwindest.«
Elsas Herz fing laut an zu pochen, als hätte man es an einen Verstärker angeschlossen.
»Bitte, ich möchte dich anrufen und dir schreiben dürfen.«
Es war erneut wieder alles so schnell, dass es ihr so vorkam als wäre sie eine außenstehende. Ihr Körper schlang sich erneut um ihn und sie küsste ihn, ehe sie es realisieren konnte. Als das, wenige Augenblicke später, geschehen war, wich sie von ihm weg, als hätte sie sich an ihm verbrannt. »E-es tut mir leid … E-es ist einfach … Ich …« Sie schluckte.
»Schon gut«, sagte er. Sie konnte seinen Tonfall nicht deuten. War er ihr böse? War er wütend? Er hasste sie doch, oder?
»Bleiben wir in Kontakt?«
Sie nickte zögerlich.
»Ich werde dich sicherlich besuchen kommen, so oft es geht.«
Elsa sah zu ihm. Seine Wangen waren rötlich gefärbt und sein Blick wich ihr aus. »Ja«, sagte sie und nahm seine Hand in die ihre. »Ich bitte darum.«
Während die beiden da saßen und sich in die Augen sahen, wiegten sich über ihnen Zweige mit Maikätzchen im sanften Frühlingswind. Es sah aus, als würden sie im Sonnenlicht für die beiden tanzen.