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Rot wie das Leben

Eine Tragödie in fünf Akten
von

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Mit voller Überzeugung


 

A K T

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MIT VOLLER Überzeugung

 

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»Ohne Tod gäbe es kein Leben. Und ich will überleben

Cloves Worte ziehen den Schlussstrich unter eine Konversation, derer sie schon seit Monaten überdrüssig ist. Sehr zum Missfallen der anderen am Tisch, aber an der Entscheidung hindern kann sie niemand. Nicht heute, denn sie wird erwartet, und genauso wenig in vier Wochen. Wenn darauf keine Strafe stünde, dann würde ihr Vater sie liebend gerne in der Werkstatt einsperren, zwischen staubigen Poliermaschinen und Kisten voller Gestein. Aber das hier ist Panem und die Teilnahme an der Ernte für alle von elf bis achtzehn verpflichtend.

Clove ist sechzehn und überzeugt. Leben heißt Überleben. Die Existenz, die ihre Eltern pflegen, ist kein Leben. Höchstens der bloße Schatten dessen. Tagein, tagaus Marmor für die Architekten des Kapitols bearbeiten, die damit Böden und Wände ihrer Prunkbauten bedecken – das ist kein Zustand, sondern eine Zumutung.

Mit vierzig an einer Staublunge zu versterben, ohne etwas für die Nachwelt zu hinterlassen, außer kaltem Marmor in einer kalten Welt, wäre in Cloves Augen nur das Hinauszögern des Unvermeidlichen. Ein Tod auf Raten, eine Illusion von Freiheit – ein kaltes Leben. Aber nicht mit ihr. Lieber verlischt sie wie Feuerwerk am Himmel des Kapitols. Mit einem Knall.

Sie lässt ihre Eltern, die Unterhaltung und schließlich das Haus hinter sich. Läuft die Straßen ihres Viertels entlang, von denen sie jede Unebenheit kennt; jedes Steinchen, das sich durch die Sohlen ihrer ausgetragenen Turnschuhe drückt und jedes Loch, über das sie springen muss. Sie läuft, bis das Shirt an ihrem Körper klebt, aber sie hält nicht inne. Ihr Herz schlägt, die Muskeln brennen und ihr Blut kocht. Sie lebt, mit jedem Schritt ein bisschen mehr.

Anstatt in die Zahnradbahn zu steigen, die in den Kessel hinabfährt, folgt sie den Schienen Richtung Innenstadt zu Fuß. Ihre Schuhe kennen diesen Weg ebenso gut wie sie und von der Last des Denkens befreit, breitet sich endlich, endlich Leere in ihrem Kopf aus. Keine Echos ihrer Eltern mehr, die ihr die Entscheidung ausreden wollen. Die Ruhe vor dem Sturm, weil sie ihrer Meinung nach ins Verderben läuft, und die sie Atemzug für Atemzug genießt. Wenn die Luft bloß nicht so staubig wäre.

Cloves ganzer Weg ist gesäumt von den Gründen, ihren Wohnort zu hassen. Die gedrängten kalkfarbenen Häuser, der flirrende Steinstaub, das Knirschen der Bahnen. Distrikt Zwei ist ein ewig graues Meer aus Stein, genauso unbeweglich und hässlich wie die Lüge namens Leben, in der seine Bewohner gefangen sind. Aber heute wird sie diesem Ort Farbe bringen. Ihre Lieblingsfarbe. Rot. Rot wie das Leben, schlagende Herzen, Liebe – und Blut.

Der Weg vor Clove verbreitert sich. Die Schienen biegen nach links ab, zum zentralen Umsteigepunkt, doch sie läuft weiter geradeaus, auf der marmornen Blumenallee entlang. Von den Armen weiß lackierter Straßenlaternen hängen Körbe voller Rosen hinab, die ebenso farblos wie ihre Umgebung sind und der Straße ihren viel zu klangvollen Namen geben. Mit jedem Schritt hinterlässt Clove eine staubige Spur. Davon lässt sie sich nicht stören. Nicht heute. Vor ihr kommt der Festplatz in Sicht und das Adrenalin in ihr schäumt. Unterhalb der Stufen des Justizgebäudes, genau gegenüber von dem Siegerdenkmal, ist eine Empore aufgebaut.

Keuchend bremst Clove ihre Schritte ab. In sicherer Entfernung bleibt sie stehen und nimmt den Anblick in sich auf. Vier Stufen führen hinauf zu den Waffenständern. Schwertklingen, Messerspitzen und Pfeilschäfte reflektieren die Mittagssonne. Der warme Sommerwind streichelt Cloves verschwitzten Nacken. Ihre Arme erzittern unter einer Gänsehaut und sie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Justizgebäude zu. Jetzt nur nichts anmerken lassen.

In großen Schritten überquert sie den leeren Platz und betritt das Repräsentationszentrum des Kapitols. Hier drinnen findet sie die einzigen Farben des Distrikts vor – einen weichen blauen Teppich, der jedes Geräusch dämpft und den Staub an ihren Sohlen schluckt. Brutus wartet bereits. Stumm wie immer händigt der Trainer und einstige Hungerspielsieger ihr einen flachen Karton aus. Ein Friedenswächter geleitet Clove den Flur hinab. Ehe sie sich versieht, steht sie in einem Zimmer mit Paravent und Spiegeln, in dem sich die restlichen Mädchen ihrer Trainingseinheit befinden.

Clove sieht niemanden an, während sie den Karton öffnet, das Seidenpapier zur Seite schlägt und ihre Zeremoniekleidung freilegt. Ein Kleid. Natürlich farblos weiß. Der asymmetrische Schnitt, der eine Schulter freilässt, tut nichts für ihren drahtigen Körper. Sie ist verkleidet. Wie eine dieser antiken Statuen, die in den Lehrbüchern für frühgeschichtliche Steinbearbeitung abgebildet sind. Durch den Schlitz des bodenlangen Stoffs sieht man ihre bleichen Schenkel, denen so gar nichts Alabasternes anhaftet. Ihre Konkurrentinnen sind allesamt einen Kopf größer als Clove, mit seidigem Haar und weichen Gesichtern, die über die Kälte in ihren Augen hinwegtäuschen. Neben ihnen sieht Clove kein bisschen wie die Göttinnen aus, die dem Geist hinter dieser Kleidung vorgeschwebt haben dürften. Wenn es nicht notwendig für ihr Überleben wäre, würde Clove sich weigern, diese Verkleidung anzulegen. So aber bindet sie ihren Zopf neu und folgt den anderen Studentinnen der Trainingsakademie zurück auf den Festplatz.

Inzwischen hat sich das Stadtzentrum gefüllt. Schaulustige drängen sich hinter dem Podest mit den Waffen. In einer Phalanx davor reihen sich Friedenswächter aneinander, eine menschliche Mauer zwischen den zehn besten Studenten der Akademie und dem Rest der Welt. Rechts fünf Jungen, links fünf Mädchen, stehen die jüngsten Hoffnungstragenden für die Hungerspiele auf den Stufen des Justizgebäudes. Und Clove ist eine von ihnen. Endlich.

In der erwartungsvollen Stille könnte man beinahe die Explosionen aus dem Steinbruch weiter oben hören. Doch der Wind weht aus Richtung des Kapitols und es bleibt ruhig. Ein schöneres Bild könnte dieser Tag nicht abgeben. Der Himmel ist blau, der Distrikt von dreckigem Weiß und bald wird sich die Farbe des Lebens dazugesellen.

Die Türen des Justizgebäudes öffnen sich erneut. Flankiert von zwei Friedenswächtern wird ein Mann hinausgeführt, dessen Hände auf dem Rücken zusammengebunden sind. Den Kopf hoch erhoben, lässt er sich auf das Podest führen. Fast schon unbekümmert gleitet sein Blick über Clove und ihre Konkurrenz. Sie kennt ihn nicht – natürlich nicht. Der schwarze Overall mit der vierstelligen Zahl ist Indiz genug, dass es sich um einen Verurteilten aus der untersten Ebene des Gefängnisses handelt.

Mord? Vergewaltigung? Hochverrat? Fasziniert untersucht Clove das Gesicht des Schwerverbrechers. Doch weder an den braunen Augen, noch dem schmalen Mund oder seiner durchschnittlichen Statur lässt sich festmachen, was diesen Mann von jenen auf der anderen Seite der Friedenswächtermauer unterscheidet. Nur eines steht fest: Er hat es verdient. Sonst stünde er nicht dort, wo nur diejenigen landen, deren Schicksal Präsident Snow höchstpersönlich im Kapitol mit Wachs und Stempel besiegelt.

»Cato!«, bellt Brutus und sofort tritt ein Junge aus ihrer Reihe vor.

Er schafft es, in dem weißen Gewand der männlichen Anwärter nicht lächerlich auszusehen. Im Kontrast zu dem Stoff schimmert seine Haut nahezu bronzen in der Sonne und seine Muskeln unterstreichen das Bild des antiken Adonis bestens. Clove bemüht sich um einen neutralen Gedanken, ehe ihre Abneigung sie dazu zwingt, die Lippen zu verziehen oder schlimmer noch – mit den Augen zu rollen.

Cato erklimmt das Podest und schon verliest ein Friedenswächter das Urteil des Mannes, der zu seinem ersten menschlichen Opfer werden soll. Mord. Ein Echo der Tat hallt über den Festplatz, als Cato die Fingerspitzen von einem angebotenen Hinrichtungsmittel zum nächsten gleiten lässt. Sein Blick liegt fest auf dem Publikum und mit einer Handgeste fordert er die Zuschauer auf, ihre favorisierte Waffe zu kommunizieren. Zögerlich klatschen die Ersten für den Bogen, pfeifen angesichts der Axt und brechen beim Schwert in Begeisterung aus.

Es ist eine knappe Angelegenheit, trotz aller Bemühungen Catos, sie in vollen Zügen auszukosten. Er zwingt den Verurteilten mit einem Griff in die Haare auf die Knie und biegt seinen Hals zurück, sodass seine Kehle den Schaulustigen angepriesen wird. Ein Schlag trennt Kopf und Körper. Dafür, dass Cato sein Spiel mit dem Publikum beherrscht, ist es fast eine Verschwendung. Für wenige Sekunden zucken Cloves Mundwinkel, ehe sie die Kontrolle zurückerlangt. Denn das bedeutet auch, dass er nicht gezögert hat.

Bevor sie an der Reihe ist, greifen die konkurrierenden Tributanwärter zwei Mal zum Schwert und je einmal zu Speer und Bogen. Rote Sprenkel zieren Podest und Festplatz, doch kaum genug. Trotzdem klopft Cloves Herz begehrlich gegen ihre Rippen. Leben, sie will leben. Wirklich leben. Als Brutus endlich ihren Namen ruft, hält sie das Lächeln nicht zurück. Sie weiß, dass sie ihre Sache gut machen wird.

Oben auf der Bühne erwartet sie eine hochgewachsene, blonde Frau, die in den Reihen ihrer Konkurrentinnen kaum aufgefallen wäre. Sie hat blaue Augen, die Clove unweigerlich an den See erinnern, den sie früher immer mit ihren Eltern besuchte, wenn die Ernte vorbei war. An dem einen Tag im Jahr, den sie frei hatten. Den sie leben durften.

Clove steht still da, während das Urteil ihres noch atmenden Opfers verlesen wird. Eine Mörderin hätte sie begrüßt, alleine der Ironie des Schicksals halber, wenn der einen Verbrechen der anderen Triumph wird, doch das ist ihr nicht vergönnt. Sie lacht der Hochverrat an, im wahrsten Sinne des Wortes. Was immer dieses Vergehen bedeuten mag. So oder so ist es das Messer, zu dem Clove greift.

Kein Spiel mit dem Publikum, nicht einmal ein kurzer Blick. Das hier ist ihr Moment, da will Clove nicht die winzigste Regung im Gesicht ihres Gegenübers verpassen. Die Straßenkatzen, denen sie bisher im Training die Kehle durchschneiden durfte, haben ihr nie in die Augen geblickt und so viele Emotionen gezeigt. Und falls doch, hat sie es nicht gesehen. Dieses Mal aber ist alles anders. Ihr Opfer schaut auf sie hinab und obwohl ihre Hände auf den Rücken gefesselt sind, bleibt eine Illusion von Wehrhaftigkeit.

»Du tust mir leid«, wispert der Hochverrat. »So muss es nicht sein.«

Leben heißt Überleben, hält Clove den verräterischen Worten entgegen. Es ist spielend einfach, die Messerklinge an das Gesicht ihres Opfers zu legen. So eine hübsche Frau, fast so schön wie die Tributinnen aus Distrikt Eins. Die Schlampen. Der Gedanke führt Cloves Hand und rote Tränen folgen ihrer Spur hinab zum Hals der Verurteilten. Sie merkt kaum Widerstand. Sie fühlt sie wie eine Künstlerin – wohin sie die Klinge gleiten lässt, folgt ihr Farbe. Zuletzt hat sie in der Grundschule mit Pinsel und Tusche gemalt, mehr schlecht denn recht. Die Erinnerung an das Bild eines Apfelbaumes bringt sie zum Lachen. Wie schön Rot ist, wusste sie immer. Die Lippen, die eben noch Lügen flüsterten, zittern.

Es ist eine Schande, dass ihr keine Zeit bleibt, den Moment zu genießen. Doch Clove darf nicht zögern. In der Arena kann sie es auskosten – nein muss sogar. Das hier ist nur eine Übung. Hauptsache Brutus ist glücklich damit, dass und wie sie es zu Ende bringt. Schnell und überzeugt. Also hebt Clove den Arm und stößt ihr Messer hinab, bis zum Heft in die Brust des Hochverrats.

Keine ihrer Erwartungen erfüllt sich. Die lebensauslöschende Bewegung verlangt kaum Kraft. Es gibt keine Barriere, die sie mit Gewalt überwinden muss. Die Grenze zwischen Verletzen und Töten verschwimmt vor Cloves Augen in ihrer Lieblingsfarbe. Rot wie das Leben. Es passiert, ohne dass ihre Überzeugung gefordert wird. Nichts hindert sie daran, erneut zuzustechen. Einmal. Und noch einmal.

Die Katzen haben sich mehr gewehrt. Aber das Blut ist ebenso warm, die Schreie laut. Und Clove lebt wieder.

Niemand hält sie auf oder entwindet ihr die Waffe. Brutus sagt einfach nur ihren Namen und da hört der Drang, das Messer zu versenken, auf. Als hätte er nie existiert. Und doch ist nichts wie zuvor. Clove ist eine Mörderin. Staatlich anerkannt, mit Wappen und Siegel. Die Verräterin ist an den eigenen Worten erstickt, der See in ihren Augen kalt wie im Dezembergrau.

Clove wischt die Messerklinge an ihrem Kleid ab, hängt es zurück in die Halterung und nimmt ihren Platz in der Reihe tödlicher Statuen wieder ein. Noch vier Mal wird sie Zeugin, wie ein Leben endet und Mörder erstehen. Noch vier Mal wird das Schwert gewählt. Noch vier Mal weiß sie, dass sie besser war.

Brutus nickt ihr zu, als sie das Justizgebäude schließlich wieder verlässt, geduscht, zurück in ihren staubigen Klamotten und der eigenen Haut. Spätestens da ist sie überzeugt, dass er sie dieses Jahr ziehen lassen wird. Der Gedanke verleiht ihr Rückenwind und trägt sie den Berg hinauf, immer auf den Spuren der Zahnradbahn.

Daheim erwartet sie niemand. Die Poliermaschinen in der Werkstatt kreischen. Weißer Staub legt sich auf Clove wie ein Leichentuch. Sie sieht es in dem Spiegel, der im Flur hängt. Der Steinstaub wird sie ersticken, langsam und qualvoll. Bereits jetzt überdeckt er die Spuren des Lebens, das eben noch so wild in ihr pulsierte.

»Hast du ... hast du es getan?« Ihre Mutter steht plötzlich im Türrahmen. Die Worte stolpern aus ihr aus dem Mund wie eine Steinlawine. »Ich meine ... bist du ... es?«

Es. Als wäre es ein Verbrechen, die Tat auch nur mit einem Wort zu würdigen. Clove hebt das Kinn. »Ich habe getötet.«

Ihre Mutter stolpert rückwärts, die Hand vor den Mund geschlagen. »Du – du siehst gar nicht ... anders aus.«

»Sollte ich?« Die Fäuste geballt, macht Clove ihrerseits einen Schritt auf die Frau zu, die ihre Mutter sein soll – in der sie aber nichts als eine Fremde erkennt.

Sollte sie anders aussehen? Hatte sie nicht angesichts der Mörder auf dem Festplatz dieselben Überlegungen, hat nach den Anzeichen ihrer Tat in normalen Gesichtern gesucht und war enttäuscht, nichts zu finden?

Cloves Gedanken rasen, genauso wie die ihrer Mutter. Letztlich senkt diese als Erstes die Hand. »Nein. Ich erkenne dich schon lange nicht mehr.«

Die ausgebliebenen Vorwürfe bekommt Clove von ihrem Vater zum Abendessen serviert. Er fragt sie, was sie in ihrer Erziehung falsch gemacht haben, ob sie denn gar nichts empfinde und warum sie ihnen das Herz brechen wolle. Sie sollte doch nur ein paar Selbstverteidigungskurse in der Akademie besuchen und keine Mörderin werden. Vielleicht macht er sich diese Vorwürfe auch selber; wünscht sich, sie nie dorthin geschickt zu haben, wo sie begriff, was leben heißt.

Clove verkneift es sich, zu sagen, dass man ein Herz, was nie geschlagen hat, nicht brechen kann.

Mit ungestilltem Verlangen


 

A K T

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MIT UNGESTILLTEM VERLANGEN

 

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»Wenn ich nicht überlebe, habe ich es nicht anders verdient

Clove beendet die Verabschiedung, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Ihre Eltern tragen schwarz. Das hier ist eine Beerdigung, auch wenn es keiner sagt. Aber nicht sie wird zu Grabe getragen – nur die Person, die sie einst war. Das gemeinsame Familiengefüge, die Hoffnungen von Mutter und Vater.

Die Arme vor der Brust verschränkt, beobachtet Clove, wie ihre Eltern von Friedenswächtern aus dem Raum geführt werden. Sie braucht ihre Unterstützung nicht. Was nützt es ihr schon, wenn zwei nutzlose Menschen mehr sie daheim anfeuern? Sympathie alleine zahlt keine Sponsorengeschenke und ihre Eltern sind arm – nicht nur gemessen an den Verhältnissen ihres Distrikts.

Den Weg zum Zug beschreitet sie an Catos Seite, im offenen Heck eines Autos, unter der Beobachtung von zahlreichen Kameras. Knapp zwei Stunden lang sind sie bereits Tribute der 74. Hungerspiele und somit Todfeinde – nicht, dass sie sich besonders leiden könnten, seitdem sie beide für die gleichen Spiele trainieren. Wer sich mag, zieht nicht miteinander in die Arena, das ist die erste und oberste Regel aller Trainierenden. Am besten ist die Person neben einem ganz okay. Jemand, dem man für ein paar Tage seinen Rücken anvertrauen kann – und dessen Kanonendonner einem höchstens Musik in den Ohren ist.

Niemals, nie, nicht unter allen Umständen jemand, der einem nicht egal ist. Ein einstiger Schwarm ist eine verdammt schlechte Idee. Aber davon weiß niemand etwas, dessen ist Clove sicher. Bisweilen glaubt sie, dass Cato es selber vergessen hat. Als hätte der Moment, in dem er erkannte, dass seine Konkurrentin keine der reizenden 18-Jährigen, sondern eine wirklich gefährliche Person wird, alle anderen Erinnerungen verbrannt.

Wo es einst geteilte Scherze und gelegentlich auch Schokolade – die in der Akademie ausdrücklich verboten ist – gab, bleiben nur Blicke, die gerne töten würden. Die zwei Wochen vorletztes Jahr, in denen seine Fingerspitzen einmal zu oft ihren Nacken gestreift haben, sind so gut wie nie passiert. Aber das wusste Clove immer. Dass er ihr Gegenspieler werden würde, war stets eine reale Chance. In weiser Voraussicht hat sie sich darin geübt, das Grässliche an ihm zu suchen. Diese gewollte Gefälligkeit, mit der er seine Kleider möglichst körperbetont aussucht, jene vorgebliche unberührte Art, mit der er sich aus jedem Streit zurückzieht; die aufgesetzte Höflichkeit, die blitzschnell in ein freches Grinsen und dreckige Worte umschlagen kann.

Das warme Gefühl der Zeiten, in denen sie während des Theorieunterrichts kleine Texte an den Heftrand des anderen kritzelten, ist vorbei. Endgültig. Diese Tür ist hinter Clove zugeschlagen, als Brutus sie in sein Büro rief und ihr ungerührt verkündete, dass sie trotz ihres ‚mangelnden Alters‘ (sie ist 16, keine sechs, verdammt!) die ausgewählte Tributin der Akademie wird.

So breit wie Cato in diesem Moment in die Kameras lächelt, muss er ebenfalls wissen, dass er keine Chance gegen sie hat. Clove ist jünger als die üblichen Tribute aus Distrikt Zwei – allein das verschafft ihr die Aufmerksamkeit des Kapitols. Er dagegen ist nur ein weiterer 18-Jähriger mit blondem Haar, er muss darum buhlen, nicht bloß eine Eintagsfliege zu sein; ein Spielzeug, dem man schnell überdrüssig wird. Trotzdem ekelt es sie an, zu sehen, wie er die Muskeln in jeder kleinen Geste unnötig spielen lässt. Hat er denn keinen Stolz – oder zu viel?

Ausgerechnet jetzt legt er ihr einen Arm um die Schultern, während er mit dem anderen der jubelnden Masse winkt. Cato inszeniert sie als Einheit und in Clove wächst der Drang, ihre Messer an ihm zu schärfen. Wenn da nicht die Regeln wären, die zwar ungeschrieben sind, ihr dafür allerdings von Brutus ins Gedächtnis gebrannt wurden. Rühre deinen Partner niemals an.

Ihre Hand landet auf Catos Knie, die Fingernägel graben sich in seine Muskeln und sie lächelt, denn er zuckt. Sie kennt ihn schon so lange – und somit seine Schwächen. Eine beruhigende Gewissheit. Am Ende wird sie es sein, die zurückkehrt, davon ist sie überzeugt. Er wird ihr helfen, den Weg zum Sieg zu ebnen. Dafür wird sein Stolz schon sorgen, solange er glaubt, Ruhm für den Distrikt erringen zu können.

Clove winkt den Massen nicht. Gespielte Fröhlichkeit hat ihr noch nie jemand abgekauft. Sie ist eine Meisterin des verkniffenen Gesichtsausdrucks; ihre Züge von Geburt an dafür geschaffen, andere wissen zu lassen, dass sie kein leichter Umgang ist. Das Kapitol wird es lieben, wenn sie sich in den Interviews geschickt anstellt.

Bis zur Wagenparade badet sie im Luxus des Schnellzugs, der ihr aus dem Stadtkern von Distrikt Zwei nicht fremd ist und mit seiner geballten Präsenz doch den Atem raubt. Ihre Hände schwitzen bei dem kurzen Gang vom Zug zum Auto und schließlich vom Auto zum Erneuerungscenter, sodass sie dankbar für die geflieste Gleichgültigkeit des Raumes ist, in dem aus ihr doch noch eine Göttin wird. Eine Kriegsgöttin. Clove weiß nicht wie – und es ist egal –, aber nachdem das Vorbereitungsteam mit ihr fertig ist, sind Staub und Hässlichkeit marmorner Blässe gewichen. Beinahe ist sie schön. Die Makel ihrer Haut sind fort und die Einzige, die ihr die Show stiehlt, ist die Tributin aus Eins.

Glimmer glitzert mit ihrem Namen um die Wette und Clove hasst sie inbrünstig. Umso glücklicher ist sie, dass ihr Image kein Lächeln und pralle Brüste sind, sondern sie mit wahren Qualitäten glänzen darf. Ihre Mundwinkel zucken nicht einmal unfreiwillig auf dem Weg über den Korso. Ganz Panem hat ihre Entschlossenheit gesehen. Sie ist zufrieden mit sich. Selbst der flammende Auftritt der dürren Klappergestelle aus Zwölf dämpft dieses Gefühl nicht.

Ebenso zufrieden ist sie einen Tag später mit ihrem Auftreten im Trainingscenter. Es ist sie, nicht Cato, die den Tributen aus Eins zuerst gegenübersteht. Ihre Hand wird von Marvel geschüttelt und von ihr hört man als Erstes das Wort ‚Bündnis‘. Glimmers Augen durchbohren sie, wie ihre Pfeile die Zielscheiben, und Clove schickt Messerblicke zurück. Am Ende des Tages ist ihre Rolle deutlich geworden. Ängstlich davon weichende Tribute aus unbedeutenden Distrikten pflastern ihren Weg durch die Halle und sie fühlt sich gut. Brutus’ Lob ist süßer als der Nachtisch an jenem Abend und Catos Zähneknirschen die imaginäre Kirsche auf dem Sahnehäubchen ihres Puddings.

Ein Blick ins Fernsehprogramm bestätigt Cloves Überzeugungen. Ihre Wettquoten übersteigen Glimmers, ziehen mit Cato gleich. Sie ist beliebt. An Schlaf ist zwischen den seidigen Laken des Kapitols nicht zu denken. Wenn sie die Lider schließt, sieht sie die Bilder ihres Sieges vor sich, deutlicher als je zuvor. Wenn sie die Augen öffnet, erscheint immer wieder ihr Gesicht auf dem stummgeschalteten Fernseher. Die Szenen, wie sie und Cato zum Zug gebracht werden. Der Anblick gefällt ihr. Auch wenn sie es gehasst hat – sie sehen gut nebeneinander aus.

Ihr Herz schlägt bis in ihre Zehenspitzen. Das alles ist so real, so überschärft, so unfassbar nah, wie ihre Träume es nicht annähernd darzustellen vermochten. Clove gleitet mit den Fingern über ihre neue Alabasterhaut unter dem Seidenkleid, ertastet ihr rasendes Herz. Das Leben sprudelt in ihr, obwohl ihre Haut wie aus dem Stein gehauen wirkt, den sie schon seit Jahren hasst.

Ein Kichern entringt sich ihr. Ohne den Staub fühlt sie sich wunderbar an. Aufzuhören kommt ihr nicht in den Sinn. Berauscht von diesem Gefühl gleitet die Hand von ihrer Brust über den Bauch zu ihren Schenkeln hinab. Zum ersten Mal in ihrem Leben hält sie nichts zurück. Anstatt die Lippen zwischen die Zähne zu schieben, damit sie ja niemand hört, öffnet sie den Mund und überrascht sich selber mit den Lauten, die ihrer Kehle entfliehen. Sie krallt die freie Hand ins Laken und schreit ihre Lebendigkeit hinaus in die Welt, bis sie ebenso sehr in Flammen steht wie das dumme Gör aus Distrikt Zwölf.

Catos wackelnde Augenbrauen am Frühstückstisch tags darauf veranlassen sie zu dem ersten breiten Lächeln seit ihrer Ankunft im Kapitol. Der Gedanke, dass er sie gehört hat, sollte sie beschämen – stattdessen erweckt er die Lust, ihn gleich wieder damit zu quälen. Er versucht, es zu verbergen, doch Clove ist sicher, dass sein Blick mit neuem Interesse auf ihr ruht, wann immer sie fortsieht. Vielleicht begreift er nun endlich, dass sie zu einer Frau und keiner messerwerfenden Maschine herangewachsen ist. Zu spät.

Beim Training, das in Wahrheit reines Schaulaufen ist, lehnt sie sich neben Glimmer an die Wand und beobachtet, wie Cato und Marvel Speere werfen. Sie nimmt genau wahr, wie die Muskeln unter dem dünnen Funktionsstoff ihrer Trainingskleidung arbeiten. Immer dann, wenn Cato sich nicht anstrengt, gefällig zu sein, sieht er tatsächlich gut aus. In den kleinen Momenten, die er ganz er selbst ist, sich konzentriert oder ausgelassen über einen perfekten Treffer jubiliert.

Glimmer quittiert ihre Blicke mit einem Kräuseln der Mundwinkel. »Hast du es so nötig?«

»Du nicht? Ein letztes Mal, bevor du dieser Welt Lebewohl sagst?«

Ihre Konkurrentin lacht, doch Clove hört, wie die Nervosität darin vibriert. Sie weiß, dass es schamlos ist, aber sie hat längst aufgehört, sich stoppen zu wollen, spätestens als ihr Messer das Leben einer Verräterin genommen hat. Eine Hand auf Glimmers Unterarm, lehnt sie sich vor, bis ihre Lippen über deren Ohr streichen.

»Aber ich kann es dir auch in der Arena besorgen, bevor ich deine Kehle verschönere. Ich bin da nicht so missgünstig.«

Die hübschen Augen zusammengekniffen, strafft Glimmer die Schultern. »Versuch es, wenn du unbedingt von Marvels Speer durchbohrt werden willst ...«

Ein wenig verschlägt Clove diese Überzeugung Glimmers, dass Marvel sie rächen wird, die Sprache. Die Chance, eine doppeldeutige Retourkutsche auszuteilen, vergeht. Seitdem Cato sie nach der Verkündung der ausgewählten Tribute nur noch flüchtigen Blickes ansieht, wenn überhaupt, würde es ihr nicht mal im Traum einfallen, so etwas über ihn zu sagen. Jeder für sich, sobald der Tod unabwendbar ist. Offenbar gilt das nicht für Distrikt Eins.

Cloves Wut bricht sich beim Messerwerfen Bahn und zur Belohnung werden die Blicke, die ihr ausweichen, noch ängstlicher. Sie merkt sich die Namen derer, die besonders hastig zu Boden schauen. Denen will sie die schönsten Tode widmen – und diesem Mädchen aus Zwölf, das immerzu starrt wie eine verdammte Bergziege. Einfach weil sie es kann.

Beim Abendessen konfrontiert sie Cato mit ihrer Auswahl der Tribute, die auf ihrer Wunschliste stehen. Weshalb weiß sie nicht. Sie ist schlicht neugierig, wen er haben will. Im Beisein der beiden aus Eins hätte er große Töne geklopft, doch im Appartement lehnt er sich still zurück.

»Ich habe keine Liste. Alle, die mir über den Weg laufen, werde ich töten.«

»Wie langweilig.«

Er zuckt mit den Schultern. »Mag sein. Hauptsache, ich gewinne.«

Die Einstellung wiederum kann sie würdigen. Leben heißt Überleben, einmal mehr beruhigt Clove dieser Gedanke. Wenn sie eines verdient hat, dann Cato zu überleben. Sie wird das schaffen. Er wird nicht ihr Mörder sein und sie nicht seine Mörderin und irgendwo ist diese Gewissheit schön.

Als sie aufsteht, streicht ihre Hand nahezu beiläufig über seinen Nacken. Wieder zuckt er zusammen. Wieder wandern seine Augenbrauen am Frühstückstisch in die Höhe, weil ihre Schlafzimmer zu nahe beieinanderliegen und Clove genau weiß, was sie tut.

Es dauert bis zum Abend des letzten Trainingstages, ehe er sie herausfordert. Mit verschränkten Armen lehnt er an der Tür ihres Zimmers. Ohne erhobene Augenbrauen. Das Blau seiner Augen glitzert selbst im Dunkeln. Sie wartet, dass er spricht. Eine ganze Weile stehen sie so da, ein weiteres, überflüssiges, stummes Kräftemessen.

»Auf dem Dach soll die Aussicht gut sein.« Er stößt sich vom Türrahmen ab und schlendert betont langsam den Flur hinab, ihren verwunderten Blick im Rücken.

Sie folgt ihm, obwohl das nicht ist, was sie erwartet hat. Die Dachterrasse im dreizehnten Stock bietet ihnen einen Ausblick auf das künstliche Lichtermeer des Kapitols, das den Sternenhimmel ertränkt. Eine verkehrte Welt, funkelt es in Distrikt Zwei doch mehr am Himmel als in der Stadt. Falsch und trotzdem schön.

»Bist du jetzt ein Romantiker?« Die Frage ist unfreiwillig spitzzüngig, aber seit Clove einmal die Kontrolle über ihr Mundwerk verloren hat, hat sie es nicht wieder eingefangen. »Süß.«

Cato dreht sich mit dem Rücken zum Geländer. »Ich hätte dich nicht hergebracht, wenn es mir um’s Ficken gehen würde.« Er unterstreicht das Wort mit einer nachdrücklichen Geste, als würde er ganz sichergehen wollen, dass sie ihn keinesfalls für romantisch hält.

»Warum bin ich dann hier?«

»Ich will begreifen, weshalb du hier bist. Mit mir.« Der Vorwurf klingt scharf wie ihre Dolche. »Hasst du mich so sehr? Oder bist du einfach irre? Ich finde es nur fair, wenn du mir das vor der Arena sagst. Damit ich weiß, ob ich in zwei Tagen dein Messer im Rücken habe.«

Clove schluckt. Ein Idealist – schlimmer als ein Romantiker. Sie hätte es verkraftet, wenn er einfach nur aufmerksam sein wollte, bevor sie unweigerlich ihre letzten Tage mit Zugang zu einem weichen Bett dafür nutzen, dieses auf jede erdenkliche Weise zu erproben.

Sie lacht und hat das Gefühl, Staub im Mund zu haben. Steinstaub. Leichenstaub.

Cato lacht nicht. Er lehnt da und wartet, ganz und gar nicht gefällig. Kein Muskelspiel, kein gewinnendes Grinsen, nicht mal ein Haareraufen, das seinen Bizeps zeigt. »Also irre.«

»Du kennst mich«, hält Clove dagegen. »Lange genug.«

»Tue ich das? Hab ich das je? Fühlt sich nicht so an.«

Unruhig tritt Clove von einem Fuß auf den anderen. Wozu soll das hier gut sein? Ein letztes Mal das Gewissen erleichtern, bevor sie in die Arena ziehen? Sie ist im Reinen mit sich! Alles, was sie will, ist ... Cato. Nicht in diesem verqueren Gespräch, sondern seine Bronzehaut auf ihrem kapitolgeschaffenen Alabaster und keine fürchterlichen Gedanken.

Clove hat nie zuvor mit jemandem geschlafen und so kurz vor den Hungerspielen wird ihr schmerzlich bewusst, dass diese Gelegenheit für immer vorbei sein könnte. Dieses Gespräch auf dem windigen Dach zehrt an ihrer Lebendigkeit. Sie hasst Cato, weil er drauf und dran ist, ihr alles zu ruinieren. Dabei ist es doch furchtbar genug, dass er hier ist, um ihre Spiele an sich zu reißen!

»Macht das jetzt noch einen Unterschied? Von hier an geht es nur geradeaus.« Die Stimme scheint von weit weg zu kommen, aber es ist ihre eigene. Müde, unendlich müde. Als wenn da wieder das Mädchen spricht, das Cato zuzwinkert, weil sie aus Versehen sein Shirt mit ihrem Messer erwischt hat beim Training. Das Mädchen, das über all seine Witze lacht und nicht eine Sekunde daran zweifelt, dass er ein Sieger ist. Das Mädchen, das nicht einmal weiß, was Leben wirklich heißt.

Aber sie, die Clove der 74. Hungerspiele weiß es – Leben heißt Überleben. Keine Rücksicht auf Verluste. Also tritt sie auf Cato zu, lässt die Fingernägel über seinen Nacken gleiten und lächelt, weil er erschaudert. Sie zieht ihn zu sich heran, in einen Kuss, den sie sich früher gewünscht hätte. Nimmt seinen heißen Atem in sich auf, als sie mit den Zähnen an seiner Unterlippe knabbert – ganz leicht. Schließlich gilt es zu beweisen, dass sie keine Irre ist.

Seine Haltung verändert sich. Die Muskeln, die sie so gut kennt, spannen sich. Ihre Finger tänzeln in einem Versprechen von mehr darüber, von den Armen über den Bauch bis zu seiner Hüfte.

»Ich bin hier wegen dir«, haucht sie in sein Ohr. Und das ist nicht einmal gelogen. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte sie sich wohl nie für diese Extrakurse angemeldet, in denen sie das wahre Leben kennen und lieben lernte. Doch statt ihn mit der langweiligen Realität ihrer Entscheidungsfindung zu konfrontieren, schiebt sie sein Shirt hoch und hakt ihre Finger unter den Bund seiner Hose. »Ich hab dich nie gehasst, Cato ...«

Sie zieht seinen Namen lang, ein gestöhntes Wispern. Vielleicht ist es sein Stolz – oder auch echtes Begehren – doch er ist Wachs in ihren Händen. Als sie sich gegen ihn lehnt, spürt sie seine Erregung genau. Sie vergräbt das Lächeln an seinem Hals und belohnt ihn mit einem Kuss auf das Schlüsselbein.

»Das ist eine blöde Idee«, murmelt er. »Du hättest nächstes Jahr gehen sollen, ins Jubeljubiläum –«

»Ich kann nicht warten. Das bringt mich um. Ich will leben, Cato, leben!« Und das Jubiläum ist ... unberechenbar. Nicht der ehrliche Wettkampf, den sie herbeisehnt.

Er öffnet den Mund, doch anstatt Worten kommt nur ein Keuchen heraus. Clove hat ihre Hand unter den Hosenbund geschoben und streicht über seine glatte Haut.

»Genau jetzt, Cato. Genau hier. Egal, was morgen ist.«

Sein Blick ist schleierverhangen, doch da regt sich etwas in der Tiefe. »Fuck!« Er zieht ihre Hand fort und auf einmal sind seine Augen wieder hart wie die Saphire aus Distrikt Eins. »Du bist wirklich furchtbar.«

Damit ist er weg.

Den folgenden Tag sieht sie ihn nur kurz, doch das ist egal. Sie arbeitet schließlich an dem größeren Ziel. Keine Zeit für Ablenkung, während sie den Spielmachern ihr gesamtes Können präsentiert; ihnen erzählt, dass sie hier ist, eben weil sie so verzweifelt leben will. Das Klatschen, das geneigte Nicken der schwarzgekleideten Männer auf der Empore – es ist pure Euphorie, die durch ihre Adern rast. Sie weiß einfach, dass sie ihre Sache gut gemacht hat.

Die Bewertungen sind der Höhepunkt des Tages – nein sogar der Vorbereitungszeit. Damit ist sie nicht alleine. Auch Cato grinst breit, sobald sie im Wohnzimmer zusammengetrommelt werden. Die gestrige Situation scheint vergessen. Bei der Verlesung der Punkte sitzt er neben ihr auf dem Sofa, einen Arm auf der Lehne hinter ihr. Begleitet von lässigen Verbeugungen in Richtung des Teams lassen sie sich zu vielversprechenden Hoffnungen krönen. Die Erzählungen dessen, womit sie sich die Punktzahlen verdient haben, sprudeln wie von alleine über ihre Lippen.

Vielleicht ist es ein Satz zu viel, ein bisschen zu ehrlich, dass sie erwähnt, entweder in einem Feuerwerk siegen zu wollen – oder aber unterzugehen. Ihr entgeht nicht, dass das Lächeln ihrer lächerlichen Kapitoleskorte kurz verrutscht und Cato sich auf die Unterlippe beißt. Doch dann lehnt er sich vor, streicht eine lose Haarsträhne über ihre Schulter und verspricht, dass er darauf achten wird, dass sich ihr Wunsch erfüllt. Ob ihr wohl Glimmer oder Marvel als Gegner besser gefällt? Oder doch gleich Zwölf?

Eigentlich keiner von denen. Je länger Clove nachdenkt, desto weniger will sie durch die Hand irgendeines dieser Tribute sterben. Allesamt zu schwach, zu langweilig. Es sei denn, sie verstecken noch etwas vor ihr. Aber sie ist ja ohnehin gekommen, um zu überleben.

Wie zufällig landet ihre Hand auf Catos Oberschenkel. Ein Lächeln zum Fernseher gerichtet, auf dem ausgerechnet die aus Zwölf eine Rekordpunktzahl erhält, streichelt sie die Innenseite seines Beins. Er schlägt ihre Finger nicht wieder fort und das ist auch ein Sieg der anderen Art.

Die Interviews sind reine Formsache. Dafür haben sie schon Monate zuvor trainiert und beide wissen sie, wer sie in den Augen des Kapitols sein wollen. Gefährlich, unberechenbar. Ein weiteres Mal geben Applaus und Wettquoten ihnen recht. Clove kann mit ihrem Alter brillieren, ganz wie geplant. Cato wird begehrt. Die Höschen wildfremder Menschen, die auf der Bühne landen, entlocken Clove ein herzliches wie mitleidiges Lachen.

Viel zu schnell stehen sie in ihren feinsten Kleidern wieder im dunklen Wohnzimmer, die Aussicht auf die letzte Nacht in einem echten Bett vor sich. Sie sehen beide unfassbar gut aus, sogar im Vergleich zur Wagenparade. Die Luft zwischen ihnen knistert – im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Lagen synthetischen Stoffes haben sich elektrisch aufgeladen. Es ist der perfekte Moment. Die Nacht schreit nach Leben, Cloves Blut pulsiert und sie ist unbesiegbar.

Als sie sich abwendet, folgt Cato ihr. In ihrem Zimmer angekommen, landet der erste Kuss in ihrem Nacken.

»Du bist wirklich furchtbar«, wiederholt er seine Worte vom vorgestrigen Tag. »Und das Schlimmste – ich steh darauf.«

Dafür, dass er nicht zögert, zu töten, sind seine Hände erstaunlich weich. Clove hingegen gräbt die Fingernägel in seinen Rücken. Sie schreit das Leben heraus, hält ihn fest und nachdem er sich um Atem ringend zurückzieht, sind ihre Fingerspitzen rot wie das Feuer, das in ihren Adern brennt. Sie lacht, während Tränen ihre Wangen hinablaufen. Sie bebt und lebt. Was morgen passiert, ist egal.

Mit gebrochenen Erwartungen


 

A K T

I I I

 

MIT GEBROCHENEN ERWARTUNGEN

 

***

 

»Mit jedem Tod verdienen wir es ein Stück mehr, zu siegen

Clove hält ihre Meinung nicht zurück. Glimmer ist ihr stets ein Dorn im Auge gewesen und ihr Ableben interessiert sie genau so lange, wie das Bild der blonden Schönheit das Arenafirmament erhellt. Ihr dämliches Grinsen spiegelt sich auf dem See vor den verbliebenen Karrieros, bis Clove einen Stein hüpfen lässt. Mitten durch eines ihrer blauen Augen.

Während Marvel dreinsieht, als hätten diese verdammten Jägerwespen ihm ins Herz gestochen, erfüllt Zufriedenheit Clove. Eine weniger. Schöner wäre es nur, wenn sie den Tod auf ihrem Konto verbuchen dürfte. Aber immerhin steht das nicht bei null. Noch spielt sie oben mit. Sie nimmt einen tiefen Atemzug und neben süßer Nachtluft füllt das Leben ihre Lungen.

Die ganzen Kinder – nichts anderes sind die Tribute aus den Randdistrikten – zählen im Prinzip kaum. Die sind nicht gefährlich, nicht bewaffnet. Aber zahlreich. Einfache Beute. Dem Jungen aus Drei, dessen Minen ihm ein paar Tage Lebenszeit unter den Karrieros erkauft haben, kann sie jederzeit den Hals umdrehen. Heute, morgen, am Ende – wann immer sie will.

Höchstens das Glück ist mit einigen der traurigen Randgestalten, so wie bei der brennenden Zwölf, die für Glimmers Tod verantwortlich ist. Purer Zufall, dass auf ihrem Baum ein dämliches Jägerwespennest hing. Doch Glück kann man nehmen. Fähigkeiten nicht.

»Ich geh’ jagen«, verkündet Marvel – und lässt offen, ob Tiere oder Tribute.

»Alleine?«

Clove hebt die Augenbrauen. Ist Cato etwa an der Gesellschaft des Einsers gelegen? Wenn sie ihn jetzt loswerden, wäre ihr das nur recht. Sie könnten ihm eine Falle stellen, sofern er zurückkehren will. Sie könnte ein Messer in seinem Rücken vergraben. Ihre Rolle der Favoritin zementieren.

Aber nicht zu früh, mahnt Brutus’ Stimme in ihrem Kopf. Erledige deine Verbündeten zu früh und das Kapitol vergibt dir nicht. Sie sind wie Kinder, die voller Trotz weinen, wenn eines ihrer Spielzeuge kaputtgeht. Wetten und Sponsorengeschenke sind ihre Spielsachen und die verwenden sie nun einmal am liebsten auf die Karrieredistrikte. Für die Zuschauer muss der Schockfaktor deiner Tat die des Vertrauensbruches so weit überwiegen, dass sie ihrer Kaltblütigkeit nur applaudieren können. Lass sie vergessen, worum sie betrogen wurden.

Ein schmaler Grat und Clove hat keine Ahnung, in welchen Abgrund sie momentan sieht. Also lächelt sie Marvel nur zu. Wirft ihr neues Lieblingsmesser in die Höhe, lässt es eine Drehung beschreiben und fängt es an der Klinge aus der Luft. Ihre gute Laune sollte ihm – und seinen Unterstützern im Kapitol – Warnung genug sein.

Der Einser steht da, seine zerstochene Hand um den Speer geschlungen und zuckt an Cato gerichtet mit den Schultern. »Kommt drauf an, wofür du dich entscheidest. Ich muss hier weg.« Sein Blick geht bei diesen Worten eindeutig in Richtung Clove.

Cato reißt eine versiegelte Packung Trockenfleisch mit den Zähnen auf. »Hab’ keine Lust, irgendein Kleinvieh mit Fallen zu jagen. Ist den Aufwand eh nicht wert.«

»Schön, gibt’s halt kein Frischfleisch für dich.«

»Fang du erstmal was.«

Marvel stampft von dannen und Clove lässt sich auf den Rücken fallen, die Füße im kühlen Seewasser. Der Uferschlamm quillt zwischen ihren Zehen hervor. Wenn sie die Augen schließt, fühlt es sich an wie damals. Der See in Distrikt Zwei, am Tag nach der Ernte, zusammen mit ihren Eltern. Ihren Eltern.

Clove reißt die Lider auf und sieht geradewegs in Catos Gesicht, der sich mit einem Grinsen über sie beugt. »Du kannst froh sein, dass ich nicht Marvel bin.«

»Du kannst froh sein, dass du nicht Marvel bist.«

Sie streicht mit der Rückseite der Klinge, die von alleine den Weg an seine Kehle gefunden hat, über seine Wange – und die blau-grün angeschwollenen Stichmale der Jägerwespen darauf. Selbst das entstellt ihn nicht. Anders als bei ihrem kapitolgeschaffenen Alabaster, der längst zurück zum Distrikt-Zwei-Steingrau zurückgekehrt ist. Sie kann es kaum erwarten, den grässlichen Arenastaub gemeinsam mit ihrem alten Leben fortzuspülen.

Cato zuckt angesichts der Liebkosung des Messers nicht, doch das Licht in seinen Augen changiert von tiefem Wasser zu kalten Saphiren. »Du würdest ihn umbringen?«

»Noch nicht. Nur wenn er es darauf anlegt.«

Clove senkt das Messer und legt stattdessen eine Hand in Catos Nacken. Zum ersten Mal, seit sie in der Arena sind – fünf Tage – ist sie mit ihm alleine. Der Junge aus Drei, der im Lager weiter hinten hockt, zählt auch hier nicht. Alles, was der sieht, nimmt er mit ins Grab.

»Was fangen wir jetzt mit dieser schönen, angebrochenen Nacht an?«, sagt sie und meint damit, wie sie dem Kapitol die beste Show bieten.

Vermutlich würden es die Zuschauer begrüßen, wenn sie wirklich jagen gingen. Nur müsste Clove ihnen dann zeigen, dass ihr linker Arm vom Jägerwespengift teils gelähmt ist. Manche Schwäche bleibt besser verborgen, obschon das Mitleid ihr ein Sponsorengeschenk einfangen könnte. Heute wurde genug gestorben.

Für einen Moment scheint Cato ebenso zu denken. Seine Hand streichelt den Griff des Kurzschwertes, das in den letzten Tagen sein bester Freund geworden ist, dann heftet sich sein Blick so fest auf Cloves Lippen, dass es ihr Blut zum Kochen bringt. Wer sagt eigentlich, dass sie nicht auch in der Arena ihre Lebendigkeit hinausschreien darf – ohne zu morden?

Catos Haar ist zu kurz, um die Finger vernünftig darin zu vergraben, doch die Fingernägel in seinen Nacken zu drücken, verschafft Clove einen genugtuenden Blick auf seine verschleierten Augen. Er beugt sich zu ihr herab und küsst sie, wie er es bisher nur hinter verschlossenen Türen gewagt hat.

Clove stöhnt leise auf, als er sich wieder fortzieht. In ihrem Blut lodert Feuer, zwischen ihren Schenkeln pocht es – und sie hat keine Lust, so zurückzubleiben, Arena hin oder her. Wer weiß, ob es nicht das letzte Mal – mit ihm – ist?

Doch Cato bemerkt nichts von ihrem inneren Kampf. Er lässt sich neben ihr auf den Rücken fallen, streckt die Füße ebenfalls ins Wasser und alles, was sich nun berührt, sind ihre Zehen und Schultern.

Enttäuscht nimmt Clove ihr Messer wieder auf und wirft es hoch; höher, ehe sie es zwischen zwei Fingern aus der Luft pflückt und von vorne. Das künstliche Licht des Arenamondes schimmert auf der sauberen Klinge. So unschuldig, dabei hat die Waffe bereits das Leben zweier Tribute ausgelöscht. Wenn sie wenigstens wüsste, aus welchem Distrikt sie kamen. Während des Blutbades ging alles so schnell und schon am Abend erkannte sie ihre Gesichter bei der Hymne nicht wieder. All ihre Opfer sind namenlos, wehrlos. Langweilig.

Clove kann nicht anders, die Enttäuschung gärt. Sie hat sich die Hungerspiele glamouröser vorgestellt. Aufregender. Atemlose Action, anstatt Stunden des Nichtstuns. Spurensuche ist nicht ihr Ding, war es nie. Obwohl außer ihr 23 weitere Tribute in der Arena sind, kommt es ihr bisweilen so vor, dass es nur sie und die Karrieros gibt. Früher hat sie davon geträumt, einen neuen Tötungsrekord aufzustellen. Jetzt wäre sie schon froh, überhaupt unter die Top-Zehn zu gelangen.

Sie dreht den Kopf zur Seite. »Überlässt du Marvel mir?«

»Und was bleibt für mich?«

»Der aus Elf.«

»Hm.« Cato sieht nachdenklich aus. »Der ist groß, aber hat er’s auch drauf?«

»Er ist der Einzige, der außer uns einen beim Blutbad erwischt hat, ich hab’s gesehen. Auch wenn Glimmer den Tod für sich beansprucht hat. Er wird’s dir schon nicht zu einfach machen. Und Zwölf knöpfen wir uns gemeinsam vor. Beide.«

»Hast du dir schon einen schönen Plan für sie zurechtgelegt?«

Gedankenverloren tänzeln Cloves Fingerspitzen über Catos Brust, wie sie es bei Glimmer gesehen hat, die sich nach ihrer Konfrontation im Trainingscenter genauso schamlos an Cato herangemacht hat, wie Clove selber. Nur, dass sie tot ist und es Cloves finaler Sieg ist, die Hand unter seinen Hosenbund zu schieben.

»Einen? Eher drei!« Sie kichert und schiebt sich in seine Unterhose vor. »Aber ich lasse mich von den Spielmachern überraschen, welche Möglichkeiten sie uns noch bieten werden.«

Catos Atem stockt, seine Hand am Schwertgriff zuckt. Ihre Finger haben sein Glied gefunden und streichen langsam darüber. Er hebt die Augenbrauen. »Du weißt, dass das eine schlechte Idee ist?«

Sie lehnt sich vor, sodass ihre Lippen sein Ohr streifen. »Was genau?«

»Wir müssen immer wachsam bleiben«, zitiert Cato laut und deutlich ihren Mentor. Dass es ihm gerade schwerfällt, ihre Berührung zu ignorieren, braucht er nicht hinzufügen, das sieht sie in seinen Augen.

»Oh, du kannst ja aufpassen, dass sich keine bösen, bösen Tribute oder Mutationen anschleichen. Da vertraue ich dir.« Und ihre Lust ist größer als die Vernunft, schon wieder.

Ruckzuck kniet sie über seinen Beinen und hat den Reißverschluss seiner Hose geöffnet, die beiden Schichten Stoff zurückgeschoben. Catos Erregung spricht für sich. Anstatt etwas zu sagen, schließt er die Finger fester um den Griff seines Schwertes und lässt sie gewähren.

Clove fährt mit der Zungenspitze über seine Erektion. Prompt entflieht ihm ein Keuchen, das sie weiter antreibt. Während sie den Mund vollständig um sein Glied schließt, blinzelt sie immer wieder zu ihm hinauf. Tatsächlich hält er die Augen aufgerissen, den Blick über ihren Kopf hinweg auf das Dunkel um sie gerichtet. Nur ein, zwei Mal flackert seine Aufmerksamkeit zu ihr und er stöhnt ihren Namen, die freie Hand auf ihr Haar gelegt.

Das Leben in Clove schäumt und zum ersten Mal seit fünf Tagen vergisst sie, wo sie ist. Sie vergisst den See samt potentiellen Gefahren in den Tiefen, die wogenden Getreidefelder, in denen der Kerl aus Elf sich versteckt hält; den Wald voller großer und kleiner Opfer. Sogar die Kameras und das Publikum, dem diese Show letztlich gilt, vergisst sie.

So glücklich ist sie zuletzt gewesen, als das Messer die Kehle ihres zweiten Opfers durchtrennte. Als das Rot über ihre Hände tropfte und der Junge ihr sein Leben in dicken roten Pfützen vor die Füße hustete. Genau wie beim Blutbad fährt ein sachter Wind durch die Arena, der mit ihren Haaren spielt, und es ist still, bis auf leises Keuchen. Nur dass es dieses Mal von Cato kommt, der sie voller Bewunderung betrachtet, anstelle mit der Angst ihrer Opfer.

Sie verharrt auf seinen Schenkeln, berauscht von den Gefühlen, den Erinnerungen. Dieses Mal leckt sie sich kein Rot von den Fingern, doch das Machtgefühl ist das Gleiche wie beim Blutbad. Obwohl der Staub der Arena sie bedeckt, fühlt sie sich ein Stück weit wieder wie die Göttin, zu der das Kapitol sie gemacht hat.

Grinsend erhebt sie sich von Cato und wäscht ihre Hände in dem See zu ihren Füßen. Sein Schweigen deutet sie nicht als schlechtes Zeichen. Er ist nie ein sonderlich gesprächiger Mensch gewesen, weder hier noch daheim. Meist beschränken sich ihre Unterhaltungen auf die gewöhnlichen kleinen Alltagsthemen, den Akademietratsch oder die illegale Beschaffung von Schokolade, die man nur auf dem Schwarzmarkt bekommt, wenn man kein Regierungsbeamter ist.

Daran denkt Clove gerne zurück und in der Zeit, bis Marvel unverrichteter Dinge zurückkehrt, spricht sie mit Cato nur über Geschehnisse, die der Arena nicht ferner sein könnten. Für heute ist sie von Befriedigung erfüllt.

Marvel ist bei seiner Rückkehr keinen Tod reicher und doch ein paar Netze sowie Seile ärmer. Er hält viel auf seine Fallen. Ein Glaube, in dem Cato und Clove ihn gerne lassen. Sie haben lange genug mit Brutus geübt, um die verräterischen Anzeichen seiner Taktik zu erkennen. Damit kann er vielleicht ein paar Kinder reinlegen, aber nicht sie.

Doch die nächsten zwei Tage passiert rein gar nichts. Niemand stirbt, niemand läuft ihnen über den Weg und die Unruhe schleicht sich in Cloves Brust zurück. Der Nervenkitzel in Form von Cato ist eine stete Verlockung, kurz davor, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Sie darf es nicht übertreiben, ermahnt sie sich selbst. Immerhin ist sie hier, um zu überleben – dafür braucht es einen klaren Kopf. Je zäher die Stunden vergehen, desto größer wird die Chance, dass die Spielmacher eine neue Falle zum Leben erwecken. Das Feuer war erst ein Vorgeschmack dessen, wozu sie fähig sind, und selbst die Wunden dieses Spiels haben sich tief in Cloves Arme und Beine gefressen.

Nicht durch Cato, sondern an Cato zu sterben, wäre die größte Schmach.

 

Am achten Tag begegnen sie endlich jemandem. Zehn, wie Marvel ohne Zögern feststellt. Offenbar gehören ihm die Spuren, die der Einser schon seit Tagen verfolgt. Der Junge hat eine kleine Machete, die er wehrhaft erhebt, sobald er sie erblickt. Er hockt an einem Wasserlauf und seine Aluflasche schwimmt an Clove vorbei, als sie in das seichte Flussbett springt, ein Messer im Anschlag.

Die Klinge bohrt sich in seinen Fuß, sodass ihr Opfer nur noch vorwärtsstolpern kann. Grinsend zieht sie ein weiteres Wurfmesser aus dem Ledergurt an ihrer Hüfte. Doch Marvel scheint ebenso versessen zu sein. Sein Speer zischt an ihrem Ohr vorbei – verfehlt den Tribut nur, weil er den Halt auf einem Stein verliert und zu Boden rutscht.

Marvel zieht sein Schwert. Mit einem Knurren rennt er vorwärts, ohne Clove zu beachten, die wütend ihr zweites Messer wirft. Die Machete des Zehners klappert auf den Stein. Keine Sekunde später entweicht die Luft seinen Lungen. Rot glänzend tritt der Schwertstahl eine Handbreit neben seinem Rückenmark aus. Eigentlich ist es nicht einmal schade, dass es so schnell ging. Der Junge hätte ihnen eh nicht die Stirn bieten können. Zu klein, zu schmächtig.

Clove beobachtet an Catos Seite, wie Marvel noch weitere Male das Schwert im Oberkörper des Tributs versenkt, obgleich seine Kanone längst gedonnert hat. Zumindest färbt so eine stattliche Menge Rot den Fluss neu ein, wenn Clove schon nicht ihren Spaß haben darf. Die Farbe des Lebens malt ihr hübsches Bild in die Arena, ein schwacher Trost für alle entgangenen Chancen.

Wieder einer weniger. Der Gedanke trägt Clove bis zum späten Nachmittag. Bis zu dem Moment, da ihre ruhige Welt in Asche und Flammen niedergeht.

Ihr Lager – zersprengt. Die Minen – allesamt entzündet. Die Rauchsäule ihrer verbrannten Vorräte – weithin sichtbar. Nicht einmal der Tod des Trottels aus Drei, dem Cato ohne Show das Genick bricht, stellt ihre Befriedigung wieder her. Man hat ihr Glück geraubt.

Der Ort, der Clove in den letzten Tagen so etwas wie ein Zuhause geworden ist – fort. Das Gewissen, immer hierher zurückkehren zu können, in den Schutz von Minen, Medikamenten und Nahrung – weggewischt. Von einer Kettenreaktion. Von wem?

Sie streitet, schreit, irrt in Begleitung der anderen durch den Wald. Immer wieder platzt Marvel der Kragen. Er flucht, wedelt mit dem Speer und tut doch nichts. Aber Cloves Hand juckt. Wenn Cato nicht wäre – Marvel hätte all ihre Messer im Rücken stecken. Das große Geschwungene, das kleine Gezackte, die drei Wurfmesser. Ihr Lieblingsmesser mit dem anschmiegsamen Holzgriff.

Es ist ein Wunder, dass ihr Bündnis erst am zweiten Tag nach Stunde null aufbricht. Wie ein Feigling schleicht Marvel davon und lässt Clove voller Wut zurück. Sie hätte ihn töten müssen. Immer wieder kreist der Gedanke durch ihren Kopf. Sie sieht nicht, wohin Cato mit ihr läuft, begreift Bäume und Büsche zu ihren Seiten nur schemenhaft. Marvel hätte durch ihre Hand sterben müssen.

Vergönnt ist ihr die Rache nicht – die Arena kommt ihr zuvor und nimmt Marvel, genauso wie das Mädchen aus Elf. Zwei weniger. Cato sagt genau das zu ihr, drückt sie an sich und küsst sie. Als würde das ihren Ärger lindern. Aber Clove nickt, schenkt der nächstgelegenen Kamera ein grimmiges Lächeln. Ohne etwas zu fühlen. Ist Marvel denn wirklich tot, wenn sein Blut nicht über ihre Hände gelaufen ist? Kann sie sicher sein, dass sein Ende verdient war?

Sie hat Marvel überlebt, nur fühlt es sich kein Stück so berauschend an, wie erhofft. Nach Glimmer dachte sie noch, es würde zu einem Kampf kommen, der einer Siegerin würdig ist. Doch jetzt sind es bloß Cato und sie. Was ist ihr Überleben überhaupt wert, wo sie kaum etwas dafür geleistet hat?

»Als nächstes will ich Zwölf«, verkündet sie Cato ohne Umschweife, während sie ihr Nachtlager aufschlagen – weit weg von den zerstörten Vorräten und Sicherheit. »Loverboy soll leiden, genauso wie seine Liebste.«

Er zuckt nur mit den Schultern. »Von mir aus kannst du sie alle haben. Hauptsache, wir überleben.«

Wir. Nicht ich. Im Trainingscenter hat er noch von sich gesprochen. Wann ist daraus ein wir geworden, vor oder nach Marvels Tod?

Clove beobachtet Cato, wie er ein dürres Kaninchen über dem Feuer brät. Ist er sich dessen bewusst, was er gesagt hat? Wir. Das Wort lässt sie nicht los, gleich wie klein oder dahergesagt. Schließlich ist das hier Panem und sie wissen beide – die Hungerspiele kann nur einer gewinnen.

Sie sind noch zu sechst. Sechs Tribute. Fünf andere, die es zu überleben gilt. Fast in greifbarer Reichweite ist das Feuerwerk des Sieges. Und dann wird Cato nicht mehr leben.

Nein, diese Gedanken kann Clove sich nicht leisten. Es bedeutet ihr nichts. Kann ihr nichts bedeuten. Darf ihr nichts bedeuten.

Tags darauf kommt die Regeländerung.

Mit schwelender Hoffnung

»Gemeinsam können wir über alles siegen, selbst über’s Sterben!«

Cloves Fassungslosigkeit bricht sich in einem Aufschrei Bahn. Sie ist verwirrt. Glücklich. Überwältigt. Das hier ist doch Panem! Es kann nur einer gewinnen –

Cato lacht, umfasst ihr Gesicht mit beiden Händen. Küsst sie. Auf die Lippen, die Stirn. »Wir kehren zusammen nach Hause zurück!«

»Wir werden Geschichte schreiben.«

»Wir haben bereits Geschichte geschrieben.«

Sie weiß, dass Lächeln ihr nicht steht, doch ihre Mundwinkel wollen nicht auf sie hören. Nach allem, was sie durchgemacht haben! Breiter und breiter grinst sie, bis ihre Haut unter dem Arenastaub spannt. Die Schicht aus Dreck und Zweifeln, die sie langsam eingehüllt hat, bricht Stück für Stück auf. Gemeinsam mit Cato siegen ... das ist mehr, als sie je erhofft hätte.

Oder ... hat sie sich nicht bereits mit seinem Tod abgefunden? Ein, zwei, drei Herzschläge lang sieht sie nur vor sich, wie sie alles teilen muss. Den Applaus. Die Krone. Das Preisgeld. Das Haus im Siegerdorf. Ihr Ruhm, ihr Leben – für immer an Cato gekettet.

Aber das ist lächerlich. Natürlich will sie nicht, dass er stirbt. An seiner Seite ist sie doch lebendig, wild, ungezähmt. Gemeinsam werden sie doppelt so großen Ruhm erringen. Damit werden diese Hungerspiele – und sie, Clove – für immer unvergessen.

»Und du wolltest, dass ich bis zum nächsten Jahr warte!«, neckt sie Cato, der inzwischen unzählige Küsse auf ihren Hals gehaucht hat.

»Wenn ich du wäre, hätte ich auch gewartet. Es hat mich immer geärgert, dass ich ausgerechnet ein Jahr zu früh 18 werden musste. Konnte ich ja nicht ahnen, dass diese Spiele noch viel aufregender werden als ein Jubeljubiläum.«

Clove streicht mit den Fingernägeln über seine Wirbelsäule unter dem dünnen T-Shirt. »Jetzt kannst du mal sehen, was für ein Glück du hast, mich zu haben.«

Da ist es, dieses selbstgefällige Lächeln, mit dem er im Kapitol die Zuschauerherzen beeindruckt hat. So attraktiv wie ärgerlich. »Oh, ich bin froh, dich nicht gegen mich zu haben.«

»Also – denkst du immer noch, dass das hier eine dumme Idee war?«

Cato zieht sie so eng an sich, dass sie seinen Herzschlag fühlt. »Nein. Vielleicht ein bisschen gefährlich, aber ... schön.«

»Vielleicht haben wir das Publikum ja gerade deswegen von uns überzeugt.« Bei der Erinnerung an ihre Showeinlage am See kichert Clove. Wenn sie nicht beide schutzlos mit dem Rücken zum Wald wären, würde sie sich glatt bedanken wollen.

Diesen Gedanken scheint Cato auf ihrem Gesicht zu lesen, denn er schüttelt sacht den Kopf. »Wer weiß. Außer uns gibt es nur noch Zwölf und deren Show kennen wir ja zu Genüge.«

Stimmt, Zwölf. An die brennenden Klappergestelle hat sie bisher gar nicht gedacht. »Dann wird es Zeit, dem Liebespaar die Herzen zu brechen. Die Zeit der großen Tragödien ist vorbei, Panems Geschichte wird von Siegern geschrieben!«

Ihr Enthusiasmus steckt Cato an. Er grinst in die Richtung, wo sie die Kameras vermuten, und schenkt dem unsichtbaren Publikum ein Zwinkern.

Ganz sicher gibt es just in diesem Moment Menschen da draußen, die Clove gern eigenhändig umbringen würden, weil sie ihm nahe sein darf. Aber die können ihr nichts, denn seine Sponsoren sind ab sofort die ihren. Außerdem hat sie Panem einen prächtigen Ausblick verschafft, der anders als unrühmliche Pinkelszenen sicher nicht geschnitten wurde.

Im Dunkel der Nacht schmieden sie beide stundenlang Pläne, die Zwölfer auseinanderzutreiben. Mit ihrem Tod bietet sich Clove die letzte Chance, dem Kapitol die Show zu bieten, die es verdient ... verlangt. Diese Parallele zwischen Zwei und Zwölf darf sie nicht leichtfertig wegwerfen.

Am nächsten Morgen suchen sie als Erstes Marvels Fallen im dichten Wald. Er hat einige aufgestellt, immer entlang des Wassers und kleinerer Wildwechsel. Glücklicherweise zahlt sich Brutus’ Training aus. Oft genug sind die Schnüre und Netze perfekt getarnt, sodass es nur ihrer Erfahrung zu verdanken ist, dass sie nicht darüber stolpern.

Dennoch ist Clove froh, dass Cato bereitwillig die Führung übernimmt. Der Gedanke, dass er somit derjenige ist, der Marvel eventuell posthum auf den Leim geht, beruhigt sie. Zur Not kann sie auch alleine siegen. Wäre das nicht sogar beeindruckender, im Alleingang gegen das Doppelpack aus Zwölf zu bestehen ...?

Nein, nein, diese Vorstellung drängt sie tief in ihr Inneres. Nur für den Notfall. Sie muss sich bloß daran gewöhnen, dass Cato mit einem Mal wieder leben darf. Dass sie nicht länger den Abschied planen braucht.

Sie schließt zu ihm auf und schiebt ihre Hand in seine, Finger um Finger mit den seinen verflochten. Er sieht überrascht aus, doch dann lächelt er und sie grinst. So ist es gut; so ist es einfacher.

 

Gegen Nachmittag finden sie den Ort, an der Marvel gestorben sein muss. Die Leiche ist längst fort, aber auf dem Laub klebt an zwei Stellen noch rostiges Rot, das in den Sonnenstrahlen zusehends oxidiert. Von Marvels Speer keine Spur – er scheint das Mädchen aus Elf auf dem Gewissen zu haben. Am Ende hat er also doch etwas gefangen. Damit hat Clove trotz der doppelten Kanone nicht gerechnet – wenn da nicht der unumstößliche Beweis in Form zerschnittener Schnüre liegen würde, zwischen blutigen Blättern ... und Blumen. Haufenweise welkenden gelben, lila und blauen Blüten. Hat Marvels Mörder der Kleinen aus Elf etwa ... die letzte Ehre erwiesen?

Darauf kann sie sich keinen Reim machen. Aber letztlich ist es egal. Spätestens auf der Siegesfeier wird sie erfahren, was genau hier geschehen ist und darüber lachen. Jetzt muss sie allerdings an diesem Sieg arbeiten, also wirft sie einen zweiten Blick auf Marvels Todesstätte – und findet eine Pfeilspitze. Glimmers Pfeilspitze. Der Schaft dahinter unsauber gebrochen. Als hätte ein Körper ihn im Fallen unter sich begraben.

Glimmer ist tot. Das kann nur eines bedeuten – ihr Bogen hat sie überlebt und ist noch in der Arena. Zwölf ist die Einzige, die ihn genommen haben könnte. Clove erlaubt sich ein zufriedenes Kichern und schließt das Bruchstück in ihre Faust. Die Gegnerin zu kennen, ist immer von Vorteil. So kann sie nicht nur dafür sorgen, dass das Glück nicht länger mit ihr ist, sondern auch verhindern, dass sie ihre Fähigkeiten nutzt.

Mit ihrem neuen Wissen um die Ausstattung ihrer Gegenspielerin verfeinert Clove gemeinsam mit Cato ihren Plan. Sie müssen die beiden Zwölfer überrumpeln, wenn sie nicht wie Marvel durchbohrt werden wollen. Zum Glück erinnern sie, dass Loverboy seit dem Jägerwespenangriff verletzt ist. Solange Catos Schnitt nur tief genug ist, bedeutet das wiederum, dass er nicht weit von dem Ort weggelaufen sein wird, an dem die Jägerwespen ihr Bündnis durchlöchert haben.

Sie suchen die Stelle erneut auf und folgen der Spur aus zertretenen Ästen, Blutsprenkeln und niedergedrückten Büschen, die der Tölpel hinterlassen hat. Selbst als die Nacht über sie hereinbricht, geben Clove und Cato nicht auf. Schlafen können sie, sobald sie wieder daheim sind. Für heute jedoch leuchten sie mit den Taschenlampen durch das Gewirr dunkler Äste, immer auf der Suche nach verräterischem Rot.

Anstelle der Zwölfer stolpern sie im Morgengrauen allerdings über gänzlich andere Spuren. Kaum sichtbar im feinen Aschenstaub, der sich hier seit dem Brand auf den Waldboden gelegt hat, und dennoch auffällig in seiner untypischen Form. Zehenspitzen, menschliche. So klein, dass es sich unmöglich um Elf handeln kann.

Fünf also. Clove hat sich nicht die Mühe gemacht, ihren Namen zu merken. Ehrlicherweise hat sie mit einem frühen Tod des Mädchens gerechnet, deren Gesicht bereits jetzt in ihrer Erinnerung verschwimmt. Ein typisches Blutbadgesicht, sie weiß noch, wie das ihr erster – und letzter – Gedanke zu der Tributin war.

Abwägend wirft Clove ihr Lieblingsmesser auf und ab. »Was meinst du – lohnt Fünf sich? Als kleine Vorspeise?«

»Früher oder später müssen wir sie eh erwischen.« Cato zuckt mit den Achseln. »Und wenn sie so nah bei Zwölf ist ... vielleicht weiß sie was.«

Die Spuren führen sie zu einem anderen Wasserlauf, an dem sie sich beinahe verlieren. Bis Clove einige Beeren auffallen, die sich im Gestrüpp am seichten Bachufer verfangen haben. Als hätte jemand eine ganze Handvoll ins Wasser geworfen. Absichtlich?

Misstrauisch dreht Clove eine der dunklen Kugeln durch ihre Finger. Sie erinnert sich entfernt an den Theorieunterricht – und ihre Langeweile, wann immer sie die Dias mit den Giftpflanzen durchgegangen sind. Trotz ihrer Ignoranz löst die glänzende, fast schon schwarze Beere kein gutes Gefühl in ihr aus. Niemand würde bekömmliches Essen in der Arena einfach so zurücklassen. Dabei sieht es durchaus lecker aus. Dunkelroter Saft läuft über Cloves Finger, als sie die Frucht zerdrückt und sie muss den Drang unterdrücken, ihn abzulecken.

Cato ist genau so ahnungslos wie sie, aber er schließt sich ihrer Meinung an, dass die Beeren höchstwahrscheinlich mit Vorsicht – wenn überhaupt – zu genießen sind. In Ermanglung einer konkreten Spur entscheiden sie sich schließlich dafür, dem Flusslauf zu folgen. Unterwegs entdecken sie weitere Beeren, doch sonst nichts.

Keinem von ihnen behagt es, dass sie an dem zusehends steinigeren Bach so offen zu sehen sind. Vielleicht sind die Beeren eine Finte der Zwölfer? Mit ihrem Bogen könnte das Flammenmädchen hinter jedem größeren Stein kauern und sie blitzschnell aus dem Hinterhalt erledigen. Nein, für heute haben sie genug mit dem Schicksal gespielt und ziehen sich lieber in den Schutz des Waldes zurück.

Sie haben gerade ihr Lager aufgeschlagen, da hört Clove das Knacken. Leise, aber beständig. Knack, knack. Kurze Pause – und gleich noch einmal. Es kommt von den Ästen ... über ihr.

Cloves Blick rast in die Baumkronen, ihre Hand reißt das Messer nach oben. »Cato!«

Er steht nur ein paar Meter entfernt und sie hört, wie er sein Schwert zieht. Knack, knack. Es raschelt zwischen den Blättern.

Fast wird das Geräusch vom Rauschen Cloves eigenen Blutes übertüncht. In ihrer Brust spielt das Leben zu einem Trommelkonzert auf; jede Faser ihres Körpers vibriert im Takt des Adrenalins – und Glimmers Schreien. Das Gift der Jägerwespen rast erneut durch ihre Glieder.

»Clove ...« Catos Stimme dringt durch den Nebel aus Halluzinationen, genauso wie Tage zuvor. Immer wieder hat sie ihn rufen hören; ihn vor sich stehen sehen mit dem gezogenen Schwert, von dessen Klinge es rot tropfte. Ihr Blut. Dabei war es Peetas. Peetas Blut. Cato hat ihm das Bein aufgeschlitzt, nicht ihren Bauch. Aber es schmerzt, es brennt ...

Nein. Nein, das ist nicht real, sie ist nicht gestochen worden – Clove reißt die Lider auf, so weit sie kann. Zwingt das Licht der Realität in ihr Bewusstsein.

Da sitzt das Mädchen aus Fünf. Auf dem untersten Ast eines Baumes, die Augen ebenso aufgerissen, außer Atem. Cloves Messer pfeift durch die Luft und das dumme Ding wirft sich zur Seite. Staub wirbelt auf, als sie auf die Erde schlägt.

Eins muss man ihr lassen: Es ist beeindruckend, wie schnell sie wieder auf den nackten Füßen steht. Ihre Schuhe hängen von dem Beutel auf ihrem Rücken. Vergebliche Umsicht, denn Cloves zweites Messer gräbt sich in ihren bloßen Spann. Tränen treten in die Augen des Mädchens, sie zischt – aber sie sagt kein Wort.

Das reicht, um Clove nicht das nächste Messer werfen zu lassen. Dafür tritt Cato hinter die Fünferin, greift in ihr rotes Haar und zieht ihren Kopf zurück. Seine Schwertklinge ist eigentlich viel zu lang für derartige Spielchen, aber er legt sie trotzdem an ihre Kehle.

Die Lippen der Tributin sind so fest aufeinandergepresst, dass sie jegliche Farbe verloren haben. Kein Angstschrei, kein Flehen hat eine Chance. Diese winzige Demonstration des Widerstandes reicht Clove bereits. Nach elf Tagen voller Enttäuschungen juckt es ihr in den Fingern, diesen Stolz zu brechen.

Sie grinst Cato an. »Gemeinsam?«

»Gemeinsam.«

Er schubst das Mädchen vor ihr auf die Erde und tatsächlich versucht das dumme Kind doch, wegzukriechen. Sie fummelt in ihrer Hosentasche, bis sie ein paar zerdrückte schwarze Beeren zutage bringt. Clove bohrt den Absatz in ihre Hand, sodass die Früchte und Finger darunter zerquetschen. Der Tributin entweicht ein neuerliches Keuchen, sonst nichts.

»Hey, hey ...«, säuselt Clove und kniet sich zu ihrem Opfer herab. Die grünen Augen des Mädchens flackern von links nach rechts, nur nicht zu Clove. »Bist du etwa auch auf der Jagd nach Zwölf gewesen? Ganz schön clever von dir, sie mit den Beeren hereinlegen zu wollen. Und feige, findest du nicht?«

Die Lider der Tributin senken sich, aber ihre Mundwinkel zucken. Ein Lächeln. Clove wischt es ihre eigene Grimasse vom Gesicht, zumindest für ein paar Sekunden.

Sie hat damit gerechnet, dass die Angst auf den Zügen ihres Opfers sich vertiefen würde. Dass sie den Kopf schütteln würde. Meist lieben diese Randdistriktlerkinder es, zu beteuern wie unschuldig sie sind. Eine Bühne, die Clove der Tributin sicherlich nicht nehmen wollte. Doch sie hat es tatsächlich darauf angelegt. Dabei wollte Clove nur im Dunkeln stochern und nicht ins Schwarze treffen.

Sie packt den dünnen Haarschopf und biegt den Kopf des Mädchens so weit zurück, dass die Haut an ihrem Hals sich weiß spannt. Das Blut in den Adern darunter pumpt in wahnwitziger Geschwindigkeit durch Fünfs Körper, als wolle es unzählige noch ungelebte Jahre in wenigen Minuten kompensieren.

Aber daraus wird nichts, denn Clove drückt ihr mit der anderen Hand ihr Lieblingsmesser unters Auge. »Ach, so ist das also ... du bist stolz auf dich?«

Die Lippen der Fünferin werden noch dünner. Clove setzt den ersten Schnitt.

»Erbärmlich«, haucht sie ihr ins Ohr. »Aber du hast noch eine Chance, etwas in diesen Spielen zu bedeuten. Sag mir einfach, wo sie sind. Hilf uns und dein Name wird nicht vergessen.«

Die Klinge erreicht den Kieferknochen des Mädchens, ohne, dass ihr ein Laut entweicht. Sie zittert am ganzen Körper, ihre Lippen färben sich langsam blau, doch sie verrät nichts. Am liebsten würde Clove das Messer in ihrer Brust vergraben. Bis zum Heft. Es einfach hinter sie bringen. Eine weniger. Der beschissene Arenastaub kitzelt in ihrer Nase und das hier ist nicht halb so befriedigend wie erhofft.

»Glaubst du etwa noch, dass du gewinnen kannst?«, wendet sich nun auch Cato an ihr gemeinsames Opfer. Seine Hand übernimmt von Clove den Griff am Kopf der Tributin und lässt ihr somit den Freiraum, sich dem Mädchen mit voller Aufmerksamkeit zu widmen.

»Komm schon«, murmelt Clove wieder. »Du wirst sterben, aber dein Name kann noch etwas bedeuten.«

»Als wenn du meinen Namen kennen würdest.« Endlich hat das Mädchen ihr Schweigen gebrochen – ausgerechnet dafür. Dieses Mal lächelt sie nicht, doch ihr Blick ist erstaunlich unerschrocken. »Aber im Gegensatz zu dir habe ich kein Problem damit, als Niemand zu sterben.«

Die Fünferin schließt die Augen wieder. Selbst nachdem Clove die Klinge das erste Mal in ihrem Bauch versenkt, öffnet sie diese nicht erneut. Als hätte sie sich bereits von der Welt verabschiedet. Als könnte der kalte Stahl ihr nichts mehr anhaben.

Das Blut auf Cloves Händen ist warm und vermischt sich mit dem grauem Staub, der überall an ihr haftet. Es tropft zu Boden, versickert zwischen geschwärzten Blättern und Asche in der durstigen Erde. Das Rot ist nicht lebendig; Clove ist nicht glücklich. Genervt stößt sie die Tributin in den Dreck zu Catos Füße.

»Los, mach!«

Er hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts. Am Ende braucht es nur einen Schwerthieb, damit die Kanone donnert. Schon sind es nur noch drei. Clove sollte sich freuen. Sie hat sich immer vorgestellt, wie erhebend diese Momente sein müssen. Doch inzwischen bleibt nur das Gefühl, dass diese Spiele eine grässliche Verschwendung sind, genauso wie die Hinrichtungen in Zwei. Zum ersten Mal denkt sie daran, wie froh sie sein wird, wenn es vorbei ist.

»Alles in Ordnung?«

Überrascht hebt sie den Kopf. Sie hat nicht bemerkt, dass Cato den Körper weggebracht hat. Doch jetzt steht er wieder vor ihr und er sieht ... besorgt aus. Da ist eine Falte auf seiner Stirn, die sie nur einmal zuvor gesehen hat. In der Nacht auf dem Dach.

»Klar.«

Cato geht nicht auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrer brüchigen Steinstaubstimme und der Aussage ein. Er zieht bloß an ihrer Hand, sodass sie gegen seine Brust stolpert. Umarmt sie, küsst ihr Haar und übernimmt die Show für das Publikum, von der sie daheim in Zwei noch glaubte, dass sie viel besser darin sei. Dabei hätte sie es schon auf dem Weg zum Zug merken sollen, dass er das ebenso gut beherrscht wie den Schwertkampf.

Sie lassen sich am Feuer nieder, Clove mit der Wange an Catos Oberkörper. Heute denkt sie gar nicht erst daran, ihn in aufsehenerregender Art zu berühren. Am liebsten möchte sie schlafen. Dann geht es schneller rum. Wenn sie die Augen wieder öffnet, stehen vielleicht schon die beiden Zwölfer vor ihnen.

 

Außer in ihren Träumen werden Cloves Wünsche nicht erhört. Als sie erwacht, sind sie und Cato alleine. Also müssen sie ihre Gegner suchen, bevor die Spielmacher ihnen zuvorkommen. Immerhin wissen sie dank ihres Opfers aus Fünf eine Sache: Die Zwölfer sind in der Nähe.

Aus sicherer Entfernung nehmen sie das gegenüberliegende Flussufer unter die Lupe. Wenigstens können sie dabei eines ihrer früheren Sponsorengeschenke, ein Fernglas, vernünftig in Szene setzen.

Der letzte Fallschirm liegt eine ganze Weile zurück, aber an generellem Unwillen, sie zu sponsern, kann das nicht liegen. Es muss sich nur lohnen, ihnen etwas zu schicken, und in dieser Phase der Hungerspiele wird das meiste bereits Unsummen kosten. Vielleicht signalisiert der Einsatz eines älteren Geschenks den Zuschauern ja, dass sie ruhig tiefer in die Taschen greifen dürfen.

Doch weder Kanonen noch Fallschirmklingeln sind am Himmel zu hören, während sie das Versteck der Zwölfer suchen. Stattdessen erklingt zur Mittagszeit ein Gong, auf den eine Ankündigung der Spielmacher erfolgt. Ein Festmahl, am Füllhorn. Gegenstände, die von den Tributen am meisten gebraucht werden, sollen am nächsten Morgen dort auf sie warten.

So spät in den Spielen kann das nur eins bedeuten – es muss sich um etwas wirklich, wirklich Wertvolles handeln. Nahrung, Medikamente, Waffen; damit sind sie zu Genüge ausgestattet. Es muss etwas sein, dass für Sieger geschaffen ist. Clove reibt die verschwitzten Handflächen an ihrer Hose, doch das verteilt den elendigen Arenastaub nur.

Dass sie und Cato gemeinsam hingehen, steht nicht in Frage. Und die anderen wären blöd, nicht zu kommen. Damit können sie sich die lästige Suche sparen, darin sind sie und Cato einig. Alles fügt sich, als würden die Spielmacher nach annähernd zwei Wochen Mitleid haben und sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um es ihnen so einfach wie möglich zu gestalten. Fast ist Clove angesichts dieser Hilfestellung beleidigt – aber nur fast. Ihr Drang, endlich wieder zu duschen, ist größer.

Beschwingt von der Aussicht pfeift Clove vor sich her, während sie zum Füllhorn zurückkehren. Die Siegeshymne läuft unablässig in ihrem Kopf ab; sie wird noch platzen, wenn sie es nicht hinauslässt. Schon morgen kann es vorbei sein! Sie spürt förmlich die seidenen Bettlaken unter ihren Fingerspitzen, obwohl es nur Catos rauer Handrücken ist, den sie streichelt.

Noch ist das Festmahl weit weg und so liegt das Füllhorn ausgestorben in den abendlichen Sonnenstrahlen da, sobald Cato und Clove den äußeren Ring aus Bäumen erreichen. Mit dem Fernglas suchen sie in den fernen Büschen nach Anzeichen der Zwölfer oder des Elfers, doch nichts. Einmal mehr scheinen sie ganz alleine in der Arena zu sein.

Die Spuren des verwüsteten Lagers sind verschwunden, als hätte es nie existiert. Als wäre die Erinnerung an Marvel, Glimmer und selbst Drei reine Einbildung, eine weitere Halluzination des Jägerwespengifts. Insgeheim ist Clove erleichtert, eine grüne Ebene vor sich zu finden, die ihr völlig neu erscheint. Schlechte Träume hatte sie in den letzten Nächten genug und so kann sie sich zumindest einreden, dass es hier sicher ist.

Nun, wo sie weiß, dass es nur noch drei andere Gegner gibt und dass mindestens zwei von ihnen aus der Richtung direkt gegenüber der gähnenden Füllhornöffnung kommen werden, hat Clove eine Idee, die sie nur als brillant beschreiben kann. Marvel oder die Fünferin sind nicht die Einzigen, die Fallen stellen können.

»Lass uns heute nacht im Füllhorn schlafen«, schlägt sie Cato vor, die Arme um seine Hüften geschlungen. »Nur wir zwei, eine letzte, feierliche Nacht in der Arena. Und morgen zum Frühstück holen wir uns das Festmahl und anschließend den Sieg.«

Cato grinst und in Cloves Ohrwurm der Siegeshymne mischt sich johlendes Publikum. Vielleicht ist das gar kein Staub, der auf ihrem Gesicht spannt, sondern bereits das glitzernde Siegeskonfetti. Vielleicht muss sich der Sieg so anfühlen. Ganz bestimmt. Sogar ihr Vater hat schließlich immer behauptet »Ohne Fleiß kein Preis«.

 

Mit den ersten Sonnenstrahlen beginnt das Festmahl. Der Elfer ist unvorsichtig – ein Fehler, den Cloves Messer in seinem Handrücken bestraft, kaum dass er die Hand um den Beutel mit der Elf geschlossen hat. Die wahre Show gehört allerdings Cato und dessen Schwertkünsten.

Clove sieht zu, wie versprochen, obwohl die Messer ihr immer wieder zuflüstern, sie doch zu werfen. Aber ihren Einsatz braucht es nicht. Der Kampf beider Tribute ist brutal und ehrlich. Der Hungerspiele würdig, obschon nicht ihr Stil. Pure, blanke Action; klirrendes Metall. Echter Überlebensdrang.

Es spritzt rot in alle Richtungen. Ein Kribbeln breitet sich in Cloves Gliedern aus, das sie sonst nur kennt, wenn der Knoten in ihrem Inneren platzt und sie mit Euphorie flutet. Eine Erregung, die gewöhnlich bloß Sekunden hält, egal wie sehr sie die Fingerspitzen – oder Cato – bemüht. Auch diesmal vergeht das Glück, aber langsamer.

Erst der Aufschrei Catos, der kein bisschen nach roher Kraft klingt, vertreibt die Wonne. Da ist so viel mehr Rot ... und wenig Stoff über seinem Oberarm. Die rostrote Jacke erhält plötzlich eine neue Farbe und der Unterschied zwischen Kleidung und nackter Haut verschwimmt vor Cloves Augen.

Die gebogene Klinge des Elfers ist genauso glitschig wie Catos Schwert. Schon holt der Riese wieder aus – Clove faucht wie eine der Katzen, an denen sie die Freuden des Überlebens ausgetestet hat. Ihr erstes Messer zischt geradewegs zwischen den Tributen hindurch. Das Zweite trifft.

»Cato!«

Entgegen allen guten Vorsätzen rennt sie in den Kampf, springt dem Elfer aufs breite Kreuz, die Beine um seine Brust geschlungen, ihre Finger in sein Gesicht gegraben. Sie bekommt seine Augen zu fassen, drückt zu. Würgt. Noch etwas, das sie sich erregender, weniger ... ekelhaft vorgestellt hat. Und vor allem weniger verzweifelt.

Der Tribut schreit, aber er schlägt weiter um sich. Wischt Catos lahmen Arm fort, trifft seinen Oberschenkel. Clove beißt in Elfs Hals, bis unter Dreck und Schweiß Eisengeschmack ihren Mund füllt. Überall ist Blut, fremdes, heißes Blut, das sich mit dem Staub auf ihren Lippen vermischt bis Clove speiübel wird.

Sie spuckt aus, schlingt stattdessen ihre viel zu dürren Finger um den kräftigen Hals ihres Gegners. »Cato! Los! Steh auf!« Sie will es befehlen, aber selbst in ihren Ohren klingt es flehentlich.

Und endlich, als hätte er sie erhört, berappelt Cato sich wieder. Sein nächster Hieb trennt die Hand mit der gebogenen Klinge vom Arm des Elfers. In einem blinden Schmerzensschrei schüttelt dieser Clove ab. Doch es nützt alles nichts. Wie Regen sprenkelt sein Blut über Cloves Gesicht und er stolpert zu Boden, jeder Schlag Catos fataler im Vergleich zum Vorigen.

Als die Kanone endlich donnert, zittert Clove immer noch. Ihre Lippen beben unter Catos, der es sich nicht nehmen lässt, den Triumph mit ihr zu teilen. Sein Grinsen schmeckt nach Blut und Sieg. Kaum, dass er sie loslässt, stolpert sie zur Seite und erbricht sich in eine blutrote Pfütze. Krämpfe schütteln ihre Schultern wie Schluchzer und obwohl das alles war, was sie wollte ... ist sie froh, dass es vorbei ist.

Vom eigentlichen Höhepunkt – und Finale – ist derweil nichts zu sehen. Keine Zwölfer, keine Pfeile. Nur das ferne Dröhnen des Hovercrafts, das die verstreuten Gliedmaßen des Elfers aufsammeln kommt.

Immerhin haben die Sponsoren Cloves unausgesprochene Hoffnungen erhört: Cato und sie finden in ihren Festmahlbeuteln zwei Ganzkörperanzüge aus dem modernsten Schutzgewebe, was das Kapitol zu bieten hat. Geschmeidig wie Stoff, nur aus Metall. Damit sind sie so gut wie unbesiegbar. So kann sich das Fiasko mit dem Elfer nicht wiederholen.

Die Sonne nähert sich rasend schnell dem Zenit, sodass Clove nicht sicher ist, ob ihr Zeitgefühl sie trügt, oder die Spielmacher den großen Showdown gerne im Dunkeln hätten. Als würde Zwölf noch weitere Hindernisse brauchen.

Wie auch immer – ewig verstecken können sich die beiden Turteltäubchen nicht mehr. Die Spielmacher wollen, dass es hier endet, wo es angefangen hat. Clove ist das nur recht. Und je länger die Zwölfer warten, desto schlechter stehen die Chancen für sie.

Viele Vorräte sind im Füllhorn nicht verblieben, das Meiste hatten sie in ihrem Bündnis auf der Pyramide angehäuft. Trotzdem findet Cato eine Flasche Brandbeschleuniger – für alle, die unfähig sind, ein Feuer zu entzünden, oder keine Lust haben, sich mit Feuersteinen abzumühen – und in Cloves Rucksack sind ein paar Streichhölzer übergeblieben.

Der Grundstein für einen Plan, der noch besser ist als der Einfall, sich im Füllhorn zu verstecken. Angesichts all des zähen Bluts vom Elfer fällt die Spur aus glänzender Flüssigkeit rund um das Metallgebilde gar nicht auf. Das Gras ist so oder so rutschig.

Die Dämmerung bricht herein, als Clove von ihrem Beobachtungsposten auf dem Füllhorn endlich etwas in der Ferne ausmacht. Vögel flattern in Scharen aus den Bäumen empor – und dann hört sie das schaurige Jaulen.

Obwohl es unter der doppelten Schicht aus Rüstung und Kleidung entsetzlich heiß ist, läuft es Clove kalt den Rücken hinab.

»Cato?« Ihre Stimme ist bloß ein Wispern.

Leises Schaben auf dem Metall. Er rutscht neben ihr über das blankpolierte Füllhorn und drückt ihre Hand. »Gleich sind wir Sieger. Gleich.«

Bevor Clove an eine Antwort denken kann, bricht die Gestalt aus der Baumbegrenzung hervor. Langer Zopf, Bogen im Griff. Das Flammenmädchen. Sie dreht sich immer wieder um. Hinter ihr folgt nicht nur Loverboy, nein – Clove reißt die Augen auf. Zwei, drei – zehn ... und mehr riesige Wölfe springen aus dem Wald.

Die beiden Zwölfer rennen derart schnell auf das Füllhorn zu, dass sie weder Cato und Clove, noch das feuchte Gras bemerken. Als das Streichholz auf den Brandbeschleuniger trifft, ist es bereits zu spät.

Äußerst reale Flammen hüllen die Tribute ein, die so gerne mit dem Feuer gespielt haben. Auf einmal scheint es ihnen nicht länger zu gefallen, denn sie schreien – und da hat Clove die süße Musik in ihren Ohren, die Panik, die ihr seit den Straßenkatzen keiner mehr gegeben hat.

Es ist zu gut, um wahr zu sein, dass die Zwölfer es trotzdem schaffen, den Flammenring zu durchbrechen und das Füllhorn zu erklimmen. Sie schlagen gegenseitig die Glutnester auf ihren Kleidern aus, eine bessere Show könnte Clove sich gar nicht wünschen. Sie präsentieren ihren Untergang auf dem Silbertablett, garniert mit allem Pathos, den das Kapitol sich wünscht. Zwei gegen Zwölf, tragisches Liebespaar gegen eingespieltes Team – und dazu diese flammende Hommage. Wenn es ein Drehbuch gäbe, Clove würde es genau so hineinschreiben.

Die Zwölfer versuchen wirklich, tapfer auszusehen, sobald sie ihre Gegner erspähen. Unter Brandblasen, Dreck und Schweiß ist erstaunlicher Lebenswille verborgen. Aber dass dieser nicht reicht, weiß Clove spätestens seit Fünf.

Glimmers Bogen hat das Feuer überlebt und schon prallt ein Pfeil an Catos Brust ab. Irritation. Das nächste Geschoss streift Clove, bevor es neuerlich von Catos Panzerung abgelenkt wird. Offenbar sieht das Flammenmädchen in ihm den gefährlicheren Tribut. Damit ist jetzt Schluss!

Clove macht drei Schritte vorwärts und schnappt sich Loverboy, dessen Bewegungen schwerfällig sind. Er ist kein großartiger Gegner, besonders in diesem Moment nicht, das wird ihr nach einem Blick in seine rotunterlaufenen Augen klar. Der Beginn eines Fiebers glänzt in ihnen. Catos Schnitt auf seinem Oberschenkel ist nicht so tief, wie erhofft, aber genug, um ihn zu schwächen.

Ein Messer an seiner Kehle schleift Clove Loverboy zur Öffnung des Füllhorns, vor dem das orangene Flammenmeer wütet. Dahinter streifen die Wolfsmutationen auf und ab, hungrige Zuschauer des Spektakels.

»Katniss ...«, haucht der Junge flehentlich und der Bogen in ihren Händen zittert doch tatsächlich, als sie vehement den Kopf schüttelt.

Das reinste Schnulzentheater, was die beiden hier abziehen. Zum Kotzen süß. Aber nicht mit Clove. Sie drückt zu, bis Loverboys Blut über ihre Messerklinge tropft. Noch einmal fleht er und wieder schüttelt seine Angebetete den Kopf. Hofft sie denn wirklich, gemeinsam mit ihm den Sieg an sich zu reißen?

Clove hat genug. »Na los, komm schon her und rette deinen Loverboy«, zischt sie.

Neben ihr steht Cato, sein Schwert gezogen. Das Blut von Elf darauf schimmert im Feuerschein genauso wie sein eigenes, das durch die behelfsmäßigen Verbände drückt. Eine Erinnerung, dass nicht nur Loverboys Zeit läuft.

»Komm schon Zwölf, tu uns den Gefallen und beende es!«

Und das Flammenmädchen schießt. Geradewegs in Cloves Handrücken.

Sengender Schmerz. Sie stolpert. Greift nach allem, was sie erwischen kann. Eine Stoffjacke. Ein Schrei – ihr Schrei? – und die ganze Welt dreht sich. Sie fällt.

»Clove!«

Cato hält sie fest. Seine Hand umklammert ihren Unterarm, Flammen lecken an ihren Schuhsohlen. Loverboys Jacke reißt unter ihren Fingern und dann ist er fort. Es sind seine Schreie, die sich mit Cloves mischen. Und Zwölfs.

Nur noch eine.

Leben heißt Überleben. Und Clove will verdammt sein, wenn sie nicht überlebt!

Sie zieht sich an Catos Hand empor, bekommt die Kante des Füllhorns zu greifen. Ein Pfeil verfehlt ihren Kopf. Oder Catos. Es ist egal. Clove zückt gleich zwei Messer und wirft.

Jetzt ist es Zwölf, die stolpert und ihren – Glimmers – Bogen fallen lässt. Cato geht hinüber und während sie noch ihre vom Messer durchlöcherte Hand umklammert, packt er sie wie ein Kaninchen am Genick.

»Schmeiß sie runter!«, faucht Clove. »Sie mag doch so gerne Feuer!«

Zwölf strampelt wie irre, als Cato sie am ausgestreckten Arm über den Rand des Füllhorns hält. Doch Clove hat nur noch ein geringschätziges Schnauben für sie übrig. Hauptsache, es ist vorbei. »Sag Loverboy Adieu von mir.«

In dem Moment, da Zwölfs trotziges Gesicht endlich verschwindet, treffen Cloves Knie mit einem Knirschen aufs Metall. Ein Beben schüttelt ihren Körper. Die Luft schmeckt nach Asche, aber sie lebt. Sie hat überlebt.

Alle Schreie erlöschen und zweimal erklingt die Kanone. Nur noch sie und Cato.

»Wir haben es geschafft ... Cato, wir haben es geschafft ...«

Clove starrt auf den Pfeil in ihrer linken Hand. Sie sieht ihn und begreift den Schmerz trotzdem nicht. Sie hat überlebt.

Cato umarmt sie so fest, dass es ihr die wenige Luft direkt wieder raubt. Aber sie ist ihm nicht böse. Bald hat sie sämtliche Luft der Welt. Gleich kommt ihr Feuerwerk, das Richtige, nicht diese selbstgemachte Version und dann wird alles gut.

Sie hört keine Fanfaren.

... Und dann wird alles gut. Es müssen die längsten Sekunden ihres Lebens sein, in denen dieser Gedanke immer wieder durch ihren Kopf kreist. Und dann wird alles gut; alles wird gut, gleich ...

Aber sie hört keine Fanfaren und es ist nur das Feuer, das den Nachthimmel erhellt.

Nichts wird gut. Das erkennt sie in dem Moment, da der Gong schlägt und Claudius Templesmith die Regeländerung zurücknimmt.

Denn das hier ist Panem – und es kann nur einer überleben.

Mit zerrissenem Herzen


 

Please forgive me And face the stars This is goodbye

This darkness I become Here I'm the only one

This darkness I become

Underwater – Altamullan Road

 

***

 

»Was? Nein! Ich will nicht, dass du stirbst ... Ich will nicht alleine überleben!«

Clove ringt mit der Wirklichkeit – »Das machen wir nicht!«

Sie fleht, jeglichen Stolzes beraubt – »Bitte nicht ... nicht so!«

Zu spät begreift sie: Das hier sind nie ihre Hungerspiele gewesen. Oder Catos. Es sind die Spiele des Kapitols.

Ihre Spiele, ihre Regeln. Und sie war so dumm, zu hoffen. Zu glauben.

Sie starrt Cato an. Nur eine Armlänge trennt sie, aber es könnten genauso gut Welten sein. In seinen Augen spiegelt sich der Kampf, der auch in ihr tobt. Die Sehnsucht, zu gewinnen. Die Realisierung, dass es nur über ihre – oder seine? – Leiche geschehen wird. Und die Unsicherheit, welcher Stimme in seinem Kopf er Gehör schenken wird.

»Clove ...« Die Worte versagen ihm. »Ich – Ist das ein Witz?«

Sie sehen beide gen Himmel, doch vom Tageslicht oder Feuerwerk keine Spur. Es bleibt tiefste Nacht und jenseits der prasselnden Flammen lauern die Wolfsmutationen.

Kein Scherz. Keine Verkündung der Sieger.

»Verfickt, ich hab ihr nicht aus Langeweile das Leben gerettet!« Cato sieht unverändert gen Himmel, doch sein Gesicht verfärbt sich dunkelrot vor Wut. »Hättet ihr das nicht eher ankündigen können, als die Zwölfer noch da waren? Die hätten eine tolle Show geliefert! Aber wir haben nur getan, was ihr wolltet! Warum bestraft ihr uns jetzt dafür?«

Er muss sterben. Er muss einfach. Das weiß Clove seit Beginn an. Unerbittlich hämmert dieser Gedanke durch ihren Kopf. Naiv, so naiv. Sie will Cato nicht überleben, wollte es nie. Und sie kann nicht an ihm zu Grunde gehen. Nicht jetzt, wo das Ziel zum Greifen nahe ist. Das ist erst recht nicht der Tod, den sie sich vorgestellt hat!

Ihn zu töten wird nichts Besonderes sein, spricht sie sich Mut zu. Inzwischen hat sie es oft genug getan. Der Hochverrat, die Namenlosen, Loverboy. Alles ihr Werk, alles bedeutungslos. Das zwischen ihr und Cato bedeutet genauso wenig. Das war Sex; Vergnügen und Ablenkung zugleich. Keine Liebe. Sie sind hier nicht das tragische Liebespaar!

Trotzdem ... es sollte nie durch ihre Hand geschehen! Sie wollte die Augen schließen, wenn es so weit wäre, aber außer durch Ignoranz nie den Todesstoß ausführen. Das ist schließlich eine ungeschriebene Regel!

Nur nicht für das Kapitol.

Cato bekommt keine Antwort von Claudius Templesmith – natürlich nicht – und so senkt er den Blick, bis er wieder auf Clove ruht. Er presst die Lippen genauso fest aufeinander wie die Fünferin. Schiebt den Kiefer vor und letztlich kommt ein einziges »Fuck!« aus seinem Mund.

Clove fühlt nichts. Weder den Pfeil in ihrer linken Hand noch die Tränen auf ihren Wangen. In ihrer Brust klafft ein Loch, das alles in sich aufsaugt.

Ein letztes Mal überleben, um zu leben.

Ihre Fingerspitzen finden den Griff ihres Lieblingsmessers, das als Einziges noch verblieben ist. Glatt und perfekt. Genauso wie sie es sein wird, wenn sie dem Kapitol gezeigt hat, dass sie würdig ist, aus dem Staub ihrer Heimat emporzusteigen.

Sie muss Cato am Hals treffen, an dem winzigen, ungeschützten Streifen Haut. Das ist ihre einzige Chance. Alles andere ... bringt sie nicht über sich. Sie kann die Klinge nicht durch sein Auge treiben oder in seinen Rachen bohren. Das hat er nicht verdient.

Wenn nicht die Rüstung wäre – dann bräuchte sie gar nicht lange darüber nachdenken. Ihr Messer würde den Weg zu seinem Herzen finden ...

Kaum zu glauben, dass sie sich nur Stunden zuvor über dieses Sponsorengeschenk gefreut hat. Ob das alles Absicht ist? Wollen die Spielmacher bloß, dass sie sich mit diesem Hindernis zusätzlich quälen? Dass es länger dauert, spannender wird ...

Unweigerlich stellt Clove sich vor, wie die Zuschauer allen Orts aufgeregt die Luft anhalten, zu Statuen gefroren. Genau wie sie gerade. Noch immer hat sie sich keinen Zentimeter bewegt. Bloß die Finger sind um den Messergriff geschlungen, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten.

Wenn es ein Drehbuch gäbe – hätte sie es nicht so hineingeschrieben? Ist es nicht perfekte Ironie, ein meisterhaftes Finale?

Sicher werden die Spiele in Panems Annalen eingehen. Doch Clove hat sich verschätzt. Sie wusste nicht, wie sehr es schmerzen würde, Fußabdrücke in der Historie zu hinterlassen. Jetzt ist es zu spät, Teil einer anderen Geschichte werden zu wollen. Das hier ist die letzte Seite des Dramas, das Ende längst von der Feder des Kapitols bestimmt. Sie hat es nur nicht gemerkt. Hat gedacht, sie schreibt ihre Befreiung, nicht ihren Untergang.

Sie hält das Messer mit der gesunden Hand vor ihre Brust, während Cato noch immer keine Anstalten unternimmt, sein Schwert zu heben. »Was ... was tun wir jetzt?«

Die Frage ist überflüssig, doch er ergreift den Strohhalm dankbar, um das Unvermeidbare noch länger hinauszuzögern. »Möge der Bessere gewinnen. Wir wollen die Zuschauer ja nicht enttäuschen, nicht wahr? Wir müssen ihnen einen würdigen Kampf bieten, das wollen die sehen. Richtig?« Er lacht freudlos auf. »Das Highlight, das Ende des Bündnisses, der letzte Kampf auf Augenhöhe.«

Ein Laut wie eine getretene Katze entweicht Cloves Kehle. In den vergangenen Wochen hat sie von diesem Moment geträumt, immer gehofft, dass es mit solch einem Kampf endet. Mal war es Marvel, dann wieder Glimmer und in den letzten Tagen sogar Zwölf, die ihr gegenüberstanden.

Genau das, worauf sie in der Akademie alle hoffen, wenn sie sich für die Spiele melden. Bloß kein Finale, in das irgendein Randdistriktler nur durch Glück – oder schlimmer: Zufall – gestolpert ist.

Doch Cato war nur einmal ihr Gegner, als das Jägerwespengift durch ihr Blut rauschte. Und selbst in dieser Halluzination konnte er sie nicht töten. Oder sie ihn.

Ein Schlag auf das Dach des Füllhorns reißt sie aus ihren Erinnerungen. Cato starrt wieder hinauf zum falschen Firmament, seine flachen Hände gegen das goldene Metall gepresst. »Noch mehr Blut, das wollt ihr doch von uns! Es reicht euch noch nicht, es reicht euch nie! Nach allem, was wir für euch getan haben!«

Clove schluckt Scherben. Anders kann sie sich den Schmerz nicht erklären. Cato ist nicht ihr Feind. Egal wie sehr sie sich anstrengt, sie sieht in dem Jungen mit dem blonden Haar und blauen Augen nur jemanden, dessen Nähe ihr gefällt. Mit dem sie gelacht und es wirklich so gemeint hat. Sie liebt ihn nicht. Noch nicht. Und jetzt wird sie diese Chance nie mehr bekommen.

Catos Brust hebt und senkt sich hektisch von seinen Schreien. Die Wut auf das Kapitol raubt ihm den Atem, doch die Stille fürchtet Clove erst recht. In ihr kommt das Ende mit großen Schritten näher.

Vom Himmel wandert Catos Blick zu dem erhobenen Messer in Cloves Hand. Und ab da geht es ganz schnell. Er stürzt sich auf sie – ohne Schwert. Mit seinem schieren Gewicht begräbt er sie unter sich, drückt sie gegen das von den Flammen erhitzte Füllhorn. Seine bloßen Hände schließen sich um ihren Hals, drängen sich durch das kalte Metallgewebe.

»Du hast nur auf diesen Moment gewartet, gib’s zu!«

Sein Knie drückt ihren linken Arm nach unten. Es knackt, als der Pfeil bricht und Clove schreit. Schwarze Punkte tanzen vor ihren Augen, verwischen das Bild Catos. Da ist nur noch ihr Mörder.

»Ich will nur leben, wie du!«

Sie reißt das Knie hoch, trifft ihn genau dort, wo es wehtut. Vermaledeite Rüstung hin oder her, ein Tritt in die Weichteile funktioniert immer. Cato keucht auf, seine Aufmerksamkeit flackert eine Sekunde. Genug, damit Clove ihre Finger unter seine graben und sich seitwärts aus seinem Griff rollen kann.

Der gebrochene Pfeilschaft in ihrer linken Hand stört, also reißt sie ihn heraus. Ihr Blut sprenkelt das Füllhorn. Aber das ist egal, genauso wie der Schmerz. Gleich wird es vorbei sein und dann spielt die Wunde keine Rolle mehr.

Das Messer in beiden Händen stürzt sie sich auf Cato. Nur, dass dieser die Taktik bereits kennt. Er tut, was er jedes Mal getan hat. Versucht, ihre Arme abzublocken, nach ihren Haaren zu greifen. Wie immer gelingt es ihm. Wie immer entwindet Clove sich in letzter Sekunde dem Griff und kommt auf seinem Bauch zu sitzen.

Doch nie zuvor hat sie mit dem Messer auf seinen Hals gezielt. Hat nie zugedrückt und es gemeint. Ebenso wenig wie er wieder nach ihrem Haar gegriffen hat und so ruckartig daran gezogen hat, dass die Halswirbel knacken.

»Du verarschst mich doch, seit wir hier angekommen sind! Hältst du mich für so einfältig?«

Seine Worte beschwören all das an ihm herauf, was sie schon immer gehasst hat. Bringen alles zurück, was die letzten Wochen verwischt haben.

»Du bist es doch, der nicht einmal in Frage stellt, dass man dir natürlich verfällt! Der bei jeder Bewegung seine beschissenen Muskeln präsentiert und sich für ach so unwiderstehlich hält! Tu nicht so, als wenn du nicht wolltest, dass ich dich begehre! Konntest dir nicht vorstellen, dass ich alleine Spaß habe, was?«

Er zerrt immer noch an ihren Haaren, biegt ihren Hals weiter zurück, doch ihr Messer findet den Weg unter den Kragen seiner Rüstung. Der Stahl pocht, so nah ist er Catos Halsschlagader.

Ein Knurren wie von den Wolfsmutationen entweicht ihm und er drückt ihre Hand fort, biegt ihren Arm, bis sie das Messer loslassen muss. Es fällt klappernd die Seite des Füllhorns hinab. Sie landet wieder mit dem Rücken auf dem Metall und dieses Mal sind es ihre bloßen Finger, die nach Catos Gesicht langen. Jedes Stück blanker Haut suchen. Ihren Fuß drückt sie auf seinen Oberschenkel, genau dort, wo Elf ihn erwischt hat.

Der Schmerz lässt ihn über ihr zusammenbrechen, wie von Stein erschlagen. Zuletzt waren sie einander in der Nacht so nah. Unter anderen Voraussetzungen. Und dennoch erinnert es sie an all das Gute in ihrer gemeinsamen Zeit. Trotz Rauch, Blut und Schweiß riecht Cato ein Stück nach Heimat. Anstatt ihn fortzustoßen, schlingt Clove Arme und Beine um ihn. Vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals. Ein letztes Mal.

»Ich meinte es ernst«, flüstert sie gegen seine Brust, wo das Kapitol ihre Lippen nicht sehen und ihre Worte nicht hören kann. »Mit dir und allem sonst. Ich will – wollte doch nur überleben. Aber ... nicht ohne dich. Nicht mehr.«

Catos Schultern spannen sich unter ihren Händen. Lange Zeit kommt nichts, dann hört sie das erste trockene Schluchzen. »Fuck«, murmelt er, »fuck, fuck, fuck.«

Er macht keine Anstalten aufzustehen. Oder sie umzubringen. Durch all den Staub laufen seine Tränen über ihre Wangen. Clove würde sie gerne fortwischen, doch an ihren Händen klebt Blut wie eine zweite Hautschicht. Rot wie das Leben, das einer von ihnen bald nicht mehr hat.

»Zwölf hätte mich erschießen sollen«, flucht Cato, jetzt wieder laut genug für das Kapitol. »Das hätte weniger wehgetan. Ich bin doch eh schon tot, oder? Als wenn ich je etwas gegen dich unternehmen könnte! Ich bin tot, seit ich mich für diese Spiele gemeldet habe. Ich wusste es nur nicht.«

Darauf weiß Clove keine Antwort. Oder überhaupt eine Erwiderung. Sie hat sich schließlich lebendig gefühlt, seit sie sich für die Hungerspiele entschieden hat. Warum dann jetzt nicht mehr? Warum sticht jetzt jeder Atemzug in ihrer Brust? Warum kann sie Cato nicht loslassen, wenn es doch alles ist, was sie tun sollte, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen?

Unter einem Schleier aus Tränen drückt Cato ein letztes Mal seine Finger um ihren Hals. Halbherzig. »Verfickte Scheiße, ich wollte nie sterben!«

Er gibt mit einem Zittern auf und alles, was sie sieht, sind seine Augen, so blau wie der See daheim. Clove fallen nur schrecklich kitschige Vergleiche ein – dass Catos Tränen wie diese dämlichen kleinen Edelsteine auf Glimmers Paradenkleid aussehen zum Beispiel. Egal wie sie es dreht, er ist schön und sie ihm verfallen.

So muss es nicht sein, flüstert es aus ihrer Erinnerung; aus anderen, ebenso blauen Augen. Zu spät. Der Hochverrat hat verloren, Clove ihre Wahl erdolcht.

Sie verteilt doch Rot auf Catos Haut, als er aufgibt und sie küsst. Ein weiteres letztes Mal, Rücken an Rücken mit all ihren ersten Malen. Sie streichelt über seine Wangen, prägt sich genau ein, wie er sich anfühlt. Den Schnitt unter dem rechten Auge, den Haarwirbel hinter seinem Ohr, den Schneidezahn, dem eine winzige Ecke fehlt.

Seine Finger ruhen die ganze Zeit über an ihrem Hals – und mit ihrem Zucken endet auch der Moment, in dem sie die Hungerspiele vergessen haben. Ruckartig lösen sich ihre Lippen und nichts außer Kälte verbleibt in Cloves Mitte. Zurück ist ihr Selbsterhaltungstrieb.

Cato wegzustoßen ist furchtbar einfach. Clove robbt von ihm fort, richtet sich keuchend auf alle viere auf – und da liegt er vor ihr. Glimmers Bogen. Die letzte Waffe in ihrer Reichweite. Ein Pfeil, der schon einmal für Cato bestimmt war, hängt noch halb am Nockpunkt fest.

Wie in Zeitlupe schließt Clove die Hand darum. Langsam richtet sie sich auf, nockt den Pfeil richtig ein. Zieht die Sehne bis zu ihrem Wangenknochen zurück. Ihre Beine zittern nicht mehr, als sie eines ihrer Augen zukneift und anvisiert.

Nur ein Schuss.

Der Bogen liegt ihr nicht, aber auf diese Distanz kann sie nicht verfehlen. Sein Kopf ist kein kleines Ziel. Dafür hat sie genug trainiert. Eine todsichere Variante. Schnell.

»Clove ...«

Cato hat sich ebenfalls aufgerichtet. Er steht mit dem Rücken zum Abgrund, den Flammenschein hinter sich. Sie kann es in seinen schrecklich schönen Augen sehen. Er wird ihr die Entscheidung abnehmen. Aber das darf nicht sein.

»Ich –«

Wie schon Zwölf schüttelt sie den Kopf. Seine Lippen formen trotzdem die nächsten, verhängnisvollen Worte, die im Donnern ihres Herzschlages untergehen. Aber sie sieht die wenigen Silben. Fühlt sie. Etwas in ihr zerreißt auf einen Schlag, wie ein Gummiband, das unter zu viel Druck zurückschnappt.

Da erst geben Cloves Finger ihre Starre auf. Die gespannte Sehne entreißt sich ihnen und sie hat das Gefühl, jedes Glied porösem Sandstein gleich bersten zu hören. Der Pfeil fliegt, die Kanone knallt. Dann knallt es ein zweites Mal, als Catos Leiche in den Flammen aufschlägt.

Trotzdem hält Clove den Bogen weiter vor sich, die langgestreckten Finger an ihrer Wange. Wie das marmorne Abbild der Jagdgöttin in ihrem Schulbuch. Der Staub hat sie endgültig eingeschlossen, im Moment ihres Triumphes konserviert.

Dabei hat sie überlebt. Hätte überleben sollen. Aber da ist kein Leben in ihr. Nicht einmal, als die Sonne aufgeht und den Dreck auf ihrer Haut zum Glitzern bringt. Das Feuerwerk ist stumm in ihren Ohren, wie die Verkündung ihres Siegs und die Ankunft des Hovercrafts.

 

Sie bricht der Ärztin mit der Spritze die Hand, bevor diese ihr süße Träume injizieren kann. Keine Sekunde will sie die Augen schließen und diese Leute über sie bestimmen lassen. Ihre Wunden können die Mediziner so heilen – was sie schlussendlich auch tun. Bis zur marmornen Perfektion.

Jede Spur ihres Lebens verschwindet von Cloves Haut. Die Stiche der Jägerwespen, die Striemen des Kampfes mit Elf, das Loch von Zwölfs Pfeil. Catos Küsse. Doch da hören sie nicht auf. Winzige Leberflecken verschwinden, selbst dort, wo niemand außer Cato sie je in echt gesehen hat. Die Narben auf ihren Knöcheln vom täglichen Training in der Akademie verheilen binnen Sekunden, bis sie wahrlich glatt geschliffen ist.

Ein Kunstwerk. Von außen.

 

»Gratuliere, Clove. Ein würdiger Sieg.«

Auf Brutus’ Zügen liegt doch tatsächlich ein Lächeln. Für drei Sekunden. Dann streckt er ihr einen abgepackten Riegel Schokolade entgegen.

»Hast du dir verdient.«

Aus dem Nichts überkommt Clove Übelkeit, als sie das knisternde Papier aufreißt und ihr der süße Geruch von zu viel Zucker in die Nase steigt. Was hätte sie in der Arena noch für eine solche Delikatesse gegeben! Und jetzt ... erinnert sie sich an Cato, der seine Schokolade vom Schwarzmarkt im Durchgang hinter den Klassenräumen mit ihr geteilt hat.

Egal wie viel Süßigkeiten sie haben kann – nichts wird je schmecken wie das.

 

Man kleidet sie in ein bodenlanges Kleid, dessen blutroter Samt einmal mehr einen langen Schlitz hat, um ihr bleiches Bein zu enthüllen. Anders als bei der Zeremonie in Zwei kommt sie sich diesmal nicht wie eine schlechte Imitation vor. Aber auch nicht echt, nur ein Gast in diesem Körper.

Eine Schulter ist frei, die andere von einem schwarzen Lederharnisch verkleidet, der auch ihre linke Brust bedeckt. Eine weitere Hommage an die Jagdgöttin. Der Lippenstift allerdings, ebenso rot wie das Leben, entspricht eher dem Bild einer Rachegöttin.

Und nichts von beidem passt wirklich. Aber Clove widerspricht mit keinem Wort, sitzt nur da und lässt ihr Haar zu einem geflochtenen Kranz arrangieren, der später die Krone tragen muss. Mit leerem Kopf ist es besser zu erdulden.

 

»Clove ... ich weiß, es ist nicht einfach, wir alle hatten bisher sehr viel Spaß an diesem Abend, aber jetzt muss ich dir einfach die Frage stellen, die uns alle wohl am meisten bewegt.« Caesar Flickerman wendet sich mit ernstem Blick an das Studiopublikum. Kollektives Seufzen schlägt ihm entgegen. »Sag, meine Liebe, wie hat es sich angefühlt, diesen Pfeil abzuschießen? Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es gewesen sein muss. Jemanden zu töten, der einem so viel bedeutet ...«

Sie starrt Flickerman an, wie er sich zu ihr lehnt, eine Hand vertrauensvoll auf ihr Knie gelegt, den Blick eines treudoofen Hundes aufgesetzt. Nur dass sein reinweißes Strahlegebiss das einer Viper ist. Bereit zuzuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwartet. Immer auf der Suche nach Schwäche, dem einen Moment, den er ausnutzen kann.

»... Oder den man geliebt hat – der einen geliebt hat?«

Clove tut das Einzige, was ihr einfällt – sie lacht. Legt den Kopf in den Nacken, hält sich damenhaft die Finger vor den Mund und zwingt die Laute hervor. Warum ist es so einfach, Freude – Lebendigkeit – zu fälschen?

»Ich habe ihn doch nicht geliebt, Caesar!« Ihre Hand landet auf seiner und sie beugt sich ebenfalls vor und klimpert mit diesen entsetzlich schweren Kunstwimpern. Von ganz alleine tänzeln ihre Fingerspitzen über Flickermans Handrücken. »War es denn nicht offensichtlich, dass es nur ein Spiel war? Ein kleines bisschen Vergnügen. Oder hast du – habt ihr –« Sie wendet sich an das Publikum und kichert erneut, als könne sie es gar nicht fassen. »Habt ihr etwa genauso wie er geglaubt, dass ich seine Gefühle erwidere?«

Gemurmel. Caesar allerdings zieht sich nicht zurück, sondern stößt für eine weitere Attacke vor. »Nun, du hast wenig Raum für Zweifel gelassen. Dein Schock angesichts der Regeländerung schien ... echt.«

»Wie könnte er auch nicht? Es war immerhin keine Kleinigkeit, weder die erste noch die zweite Regeländerung. Ich habe kurz zuvor noch um Catos Leben gekämpft.«

»Sicher hättest du ihn jetzt gerne neben dir sitzen?«

Clove hasst Flickerman. Sie stellt sich vor, wie sie ihm auf der Stelle die Augen aus dem Kopf kratzen könnte. Es ist widerlich, aber bei Elf hat es funktioniert. Der Moderator hätte es viel mehr verdient. Stattdessen lehnt sie sich tief in die Polster ihres Sessels zurück und lächelt, dass sie ihre steinerne Haut splittern hört.

»Wenn ein Distrikt zwei Sieger verdient hat, dann Zwei. Cato war ein guter Tribut. Aber wenn es nur einen geben kann ... dann halte ich mich für die bessere Wahl, das ist ja wohl klar.«

Die Lügen stolpern nur so aus ihrem Mund, je häufiger sie ihn öffnet. Es ist so einfach, seit die perfekte Clove die Zügel an sich gerissen hat und diese steinerne Hülle steuert.

Es ist nicht der Steinstaub, der die echte Clove erstickt hat, es sind ihre eigenen Ambitionen. Wie naiv, dass sie geglaubt hat, überleben wäre genug, um zu vergessen. Sie vermisst Cato entsetzlich.

 

Das Erste, was Clove von Distrikt Zwei erblickt, sind ihre Eltern. Arm in Arm stehen sie am Bahnhof, eine tobende Menge im Rücken. Doch für diese hat Clove keine Augen. Sie hält den Blick der beiden einzigen Menschen, die noch ihr echtes Selbst kennen, fest. Zum ersten Mal seit Jahren sehen sie einander richtig an.

Alles, was ihr begegnet, ist Leere. Für Mama und Papa könnte sie genau so gut ein Geist sein. Sie ist nur der Schatten ihrer Tochter, die sie vor langer Zeit begraben haben, ebenso wie sie nur Hüllen des Lebens sind.

Nicht einmal für Verachtung reicht es, als Clove auf den Bahnsteig tritt. Trotzdem will sie, dass die beiden ihre Stimme hören, ein letztes Mal. Damit sie wissen, dass sie es weiß. Vielleicht helfen ihnen die Worte.

»Es war ein Fehler«, haucht sie und nur der Steinstaub antwortet ihr mit leisem Rieseln. »Ihr hattet recht. Bloßes Überleben ist kein echtes Leben.«

Aber das hier ist Panem und einer muss überleben – solange man nach den Regeln des Kapitols spielt.

 

So muss es nicht sein.

Erdrückt von dem Gewicht einer Krone, die sie teilen sollte, hat Clove es satt. Ihr Leichentuch aus Marmor ist längst gewebt, ihr Glanz erloschen. Ein verwirktes Leben kann nicht überlebt werden, gleich wie man sich anstrengt.

Die Sonne versinkt am Horizont hinter den Bergen von Distrikt Zwei und hinterlässt nichts als Dunkelheit. Aber das ist gut, so sieht niemand Clove, die fernab vom Dorf der Sieger den Schienen der Zahnradbahn folgt. Bis zum größten Steinbruch, dessen Abbruchkante mehrere Meter in die Tiefe führt. Genauso gut wie ein Hochhaus aus dem Kapitol und zum Glück weniger gesichert.

Clove atmet ein. Der Staub riecht nach Heimat. Und darin verborgen – Cato. Ob er ihr vergeben wird?

Cloves Leben vergeht im wahrsten Sinne des Wortes in einem Knall. Irgendwo hatte sie ja recht – es war ein wahres Feuerwerk. Kurz, aber heftig. Nicht was sie wollte, doch immerhin eine Tragödie für Panems Geschichtsbücher.

Rot breitet sich ihr Blut auf dem weißen Stein aus, ein Bild ihres Lebens. Clove lächelt.
 

E N D E
 



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