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Die Gefühle, über die wir nicht reden

von

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Gitarrhö

Die beiden prallvollen Einkaufstüten stellte ich mit einem Ächzen auf dem Küchentisch ab. Für das heutige Abendessen hatte ich etwas Exquisites geplant, hoffentlich würde es gelingen. Im selben Moment klingelte mein Handy, der Klingelton, den ich mit jemand ganz besonderem verband.

„Marie!“, begrüßte ich meine Liebste, deren Eintreffen ich demnächst erwartete, um mit ihr ein sturmfreies Wochenende zu verbringen. Mein Handy legte auf dem Tisch ab, während ich den Inhalt der Taschen ausräumte. „Ich hab gerade eingekauft, damit wir was Leckes kochen können. Wann bist du ungefähr da?“

„Nicki“, gab sie zurück, aber nicht in ihrer üblichen fröhlichen Tonlage. „Ich komme heute nicht.“

„Wieso? Hast du heute doch noch Training?“

„Nein. Ach, wie soll ich sagen…“ Sie holte hörbar tief Luft. „Nicki, hör zu, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“

„Oh. Ich höre?“

Ein dramatischer Moment des Schweigens folgte. Dann, mit entschiedener Stimme: „Ich halte es für das Beste, wenn wir ab jetzt eine Pause einlegen.“

Ich schluckte. „Wie? Warum das denn?“ Meine Stimme klang so dünn und, was mich ärgerte. Irritiert schaute ich auf die Schachtel Freilandeier, die ich noch immer in der Hand hielt und legte sie weg.

Ich hörte ihr Schniefen in der Leitung. „Na, dass ich eben Abstand brauche…“ Der letzte Teil des Satzes erstickte in ihrem Schluchzen.

„Von mir? Geht es dir gut, Marie? Ist irgendwas vorgefallen?“

„Mir geht es gut. Also dann…“

„Marie! Warte! Wir haben doch noch so viel vorgehabt… Zusammen nach Paris fahren…“ Nun kämpfte ich auch gegen die Tränen an. „Wie kannst du denn jetzt Schluss machen?“

„Nicht Schluss. Eine Pause!“, sagte sie ohne auf mich einzugehen und legte auf. Nur noch das Freizeichen tutete in die Stille. Marie hatte Schluss gemacht? Am Telefon auch noch? Ich hätte nie gedacht, dass mir mal so etwas passieren würde. Hatte sie jemand Neues kennengelernt? Eine Pause! Das war doch bloß ein beschönigender Ausdruck. Der Appetit war mir gründlich vergangen, dieses Wochenende war gelaufen.
 

Trist und einsam empfing mich mein Zimmer, die Wände drohten mich zu erdrücken. Dort begab ich mich auf die Couch unter meinem Hochbett und rollte mich in Fötusstellung zusammen. So verbrachte ich fast das restliche Wochenende ganz allein in der Wohnung, die ich mit meiner älteren Schwester Désirée teilte, die die Wochenenden immer bei ihrem Freund verbrachte, und schirmte mich vom Rest der Welt ab.
 

Als der Wecker am Montagmorgen um viertel vor sechs klingelte, überlegte ich nicht nur einen kurzen Moment lang, mich krankschreiben zu lassen. Ich war tatsächlich fix und fertig, hatte kaum geschlagen und fühlte mich nicht wohl. Auf keine meiner Nachrichten, Anrufe, Mails und Postings eine Reaktion von Marie. Scheinbar war ich bei ihr auf allen sozialen Netzwerken blockiert. Warum? Das war einfach nicht fair. Ich verdiente doch zumindest, den Grund zu erfahren, wieso sie plötzlich keine Lust mehr auf mich hatte. Da steckte doch ganz bestimmt ein anderer Kerl dahinter! Der größer, klüger, stärker, beliebter war und ihr viel mehr bieten konnte als ich. Mit coolen Hobbies und Klamotten und einem Masterplan fürs Leben, und dazu einem eigenen Auto. Im Vergleich zu mir die bessere Option.

Dann aber tröstete mich der Gedanke, dass im Altenheim die alten Leute um Punkt Sieben darauf warteten, dass ich sie wie jeden Morgen wusch, rasierte und anzog und zum Frühstück brachte. Das war es, was mir die Kraft gab, mich aus der Bettdecke zu schälen, die Leiter hinab zu klettern, Kaffee zu kochen und mich anzuziehen.

Marie hatte trotz ihrer Sportlichkeit nie viel von meinem Hochbett gehalten, das ich vom Vormieter geerbt und für gut befunden hatte, und es immer spöttisch als Schullandheim-Bett bezeichnet. Dabei war es recht stabil und bot eine hervorragende Lösung, um das Beste aus diesen zwölf Quadratmetern herauszuholen. Aber Marie wusste ja auch nicht, wie es war, in so einem kleinen Zimmer zu leben.

Mit einem Thermobecher Kaffee mit viel Sahne und Süßstoff begab ich mich um zehn nach sechs Richtung Bushaltestelle. Noch war es draußen dunkel, es war ja auch Ende September.
 

Nach Hause kam ich zwei Stunden später als gewöhnlich. Nach der Arbeit war ich Blumen kaufen gegangen, und damit zu Maries Haus gefahren. Auf Schikos Rat hin. Mein Lieblingsbewohner im Altenheim, der mir meinen Kummer sofort angesehen hatte. Manchmal spielten wir nach meiner Schicht eine Partie Schach, doch nicht heute, dafür fühlte er sich zu kraftlos. Ich mich ehrlich gesagt auch.

Die Haustür geöffnet hatte eine zierliche Frau mit aschblonden Locken, doch es war nicht Marie, sondern ihre Mutter, und ich bereute mein Unterfangen noch in der gleichen Sekunde. Marie war nicht zuhause, verkündete sie, aber die Blumen würde sie ihr geben. Obendrein einen missbilligenden Blick. Ihre Mutter hatte mich nie gemocht, befand mich nicht als gut genug für ihre einzige Tochter. Doch ich wollte nicht Maries Eltern gefallen. Ich wollte Marie gefallen, einzig das zählte für mich.
 

Ich wusste nicht, wie ich diese Woche hinter mich gebracht hatte, aber jetzt war endlich Freitagabend. Sonst freute mich das, aber heute deprimierte mich die Aussicht auf ein weiteres zähes Wochenende.

Selbst wenn Marie es Pause nannte, fühlte es sich verdammt nochmal an wie ein Schlussstrich. Ich konnte es immer noch nicht begreifen. Marie und ich, wir beide passten zusammen wie Tomaten und Mozzarella! Warum nur? Wer war schuld daran, dass ich plötzlich Geschichte war? Doch hoffentlich nicht Simon! Bitte, von mir aus jeder, außer fucking Simon!

Ich war drauf und dran, auf den Steg zu gehen und unser Vorhängeschloss zu knacken. Wenn ich nur eine verdammte Brechzange besäße. Denn den Schlüssel zu dem mit unseren Initialen beschrifteten Schloss hatten wir ins Wasser geworfen. Eine romantische Tradition unter Liebespaaren, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Marie wollte das unbedingt am Valentinstag tun, weil sie es romantisch fand. Sie hatte dabei sogar Fotos von uns geschossen. Auf meinem Handy öffnete ich die Galerie, und scrollte so lange durch endlose Marie-Fotos, bis ich jenes fand. So schief, aber glücklich hatte ich nie zuvor in eine Kamera gegrinst, während Marie beherrscht und kameraerfahren vor sich hin lächelte, ihre Stirn an meine Wange gelegt. Ironischerweise teilte der tiefe Kratzer im Display, den ich vor kurzem bemerkt hatte, uns dort in zwei Hälften.

Ich brachte es nicht übers Herz, dieses Foto zu löschen. Oder dieses hier… oder irgendeines von Marie, das ich beim Durchblättern meiner Galerie entdeckte. Eine ganze Weile versank ich in den Bildern, in meiner Vergangenheit und Traurigkeit.

Marie Liebig. Die Erste, die mich auf der neuen Schule angelächelt hatte. Mit einem Lächeln hatte es begonnen, später tauschten wir Zettelchen im Unterricht aus. Dass diese Traumfrau ausgerechnet mich wollte, unfassbar. Meine erste Freundin… War es letzten Endes eine Schulromanze gewesen, mehr nicht? Das Klassenpärchen, das es in jedem Jahrgang gab? Kaum das Abi geschafft, einen bedeutenden Lebensabschnitt hinter uns gebracht, und schon bröselte unsere Beziehung auseinander wie alter Zwieback?

Eine Nachricht ließ mich zusammen zucken. Aber bloß von meinem Kumpel Jo, wie immer garniert mit zahllosen Emojis; Totenköpfen und Gitarren: Hey Dome, was geht heute Abend bei dir? Im QUAKE ist Livemusik! Biste dabei?

Jo lud mich ein in diesen lauten, versifften Rockerclub? Zu meiner Stimmung würde es ja passen, die konnte wirklich nicht noch mieser werden.

Kommt Simon auch?, erkundigte ich mich.

Nee, wieso?

Okay.

Zur Ablenkung taugte es allemal, mit ihm abzuhängen und irgendeiner Band zu lauschen, die versuchte, sich einen Namen zu machen.

Machste mir was zu essen? Dann fahr ich gleich los und hol dich ab.

Auch dazu erklärte ich mich bereit, obwohl ich nicht wirklich Hunger verspürte. Ich beschäftigte mich noch eine ungesunde Weile mit meinem Handy und der Vergangenheit, dann erhob ich mich vom Sofa und trabte in die Küche nebenan. Mal sehen was ich im Kühlschrank vorfinden würde.
 

„Pünktlicher geht es gar nicht!“, begrüßte ich meinen Kumpel Jo eine Stunde später. An mir vorbei ging er in die Küche, als würde er bereits hier wohnen, entledigte sich im Gehen seiner Jeansjacke, die er über die Stuhllehne warf und setzte sich an den Tisch. Dürre lange Arme wuchsen aus seinem weiten Bandshirt und an seinem Kinn sein lächerliches Ziegenbärtchen.

„Boah, ich habe so Hunger!“

Ich nicht. Trotzdem ging ich zum Backofen und holte mit Handschuhen den Kartoffelauflauf heraus. Jo ließ den Blick über die Küchenschränke schweifen, wo die beachtliche Sammlung bunter Postkarten aus aller Welt hingen, dicht an dicht. Eine Sammlung regelmäßiger kurzer Grüße meiner Mutter, aus allen möglichen Ecken der Welt.

„Weißt du, wo deine Mutter momentan ist?“

„Aus der Schweiz kam die letzte Postkarte.“

Aus dem Schrank holte ich zwei Teller. Jo schien mich darum zu beneiden, dass meine Mutter die ganze Welt bereiste. Mir würde es aber nicht einfallen, damit hausieren zu gehen. Vor zwei Jahren war sie plötzlich über Nacht verschwunden. Als klar war, dass sie nicht so schnell zurückkommen würde, war ich zu Désirée umgezogen.

„Wo deine Mutter schon überall war, auf jedem Kontinent der Erde. Darf ich sie einen ganzen Abend lang über Ostasien ausquetschen?“

„Ich weiß nicht, ob sie dir deine speziellen Fragen beantworten kann oder will, die du zu Asiatinnen hast, Jo.“ Den Teller stellte ich vor ihm ab und nahm neben ihm Platz.

„Hey, was denkst du von mir! Ich bin an dieser Kultur sehr interessiert!“

Ich seufzte, wollte dieses Thema nicht vertiefen, denn was er als harmloses Interesse ausgab, war längst ein ausgewachsener Fetisch geworden, meiner Meinung nach.

„Apropos Asiatin: In meinem Kurs ist übrigens auch eine.“

„Wie heißt sie denn?“ Ich knabberte an einem knusprigen Stück Käse herum und schob ansonsten meinen Tellerinhalt von rechts nach links.

„Keine Ahnung.“

„Dann frag sie nach ihrem Namen.“ Die wievielte namenlose Asiatin war es nun schon, von der er mir vorschwärmte? Nie traute er sich, den ersten Schritt zu machen, schwärmte sie lieber aus der Ferne, in Asia-Restaurants oder vor einem Bildschirm an, dass es zum Fremdschämen war.

„Irgendwann“, erwiderte er lakonisch.

„So schnell wie möglich am besten. Du kannst sie doch nicht immer die Asiatin nennen! Das tun nur Rassisten. Oder Perverse.“ Dazu brummte er nur was Unverständliches.
 

Nachdem Jo noch seine zweite Portion verdrückt hatte, machten wir uns aufbruchbereit. Hintereinander gingen wir die Treppen hinunter und nach draußen zu seinem schwarzen Smart. Ich musste zugeben, dass ich nun nicht mehr so begeistert von seiner Idee war wie im ersten Moment. Dagegen erschien mir die Aussicht auf einen gemütlichen Serienabend mit einer Tüte Chips sehr verlockend… Aber was würde das mit mir machen? Ich musste aufpassen, dass mein Körper nicht Opfer meiner Leidenschaft, dem Kochen, wurde. Vielleicht war ich Marie einfach zu dick geworden! Schämte sie sich etwa insgeheim, als Leistungssportlerin mit jemandem zusammen zu sein, der kein Sixpack vorweisen konnte, dafür einen Bauchansatz und einem Bartwuchs, der eher Schimmelbefall ähnelte?

„Dass du mal wieder mitgehst! Hat Marie dich heute versetzt?“, fragte er mit spöttischem Unterton, um sich für meine Neckereien zu rächen. Ich sog scharf die Luft ein und beeilte mich einzusteigen. Ich konnte diesen Namen nicht hören, ohne dass es sich wie ein Punch direkt ins Herz anfühlte.

„Dome?“

„Du nervst!“

„Ich?“ Die Hand auf der Kupplung, hielt er inne.

„Weißt du, Marie hat mich nicht versetzt, sie hat mich abserviert, damit du Bescheid weißt“, erklärte ich, so sachlich, wie es mir möglich war, damit diese Sache endlich geklärt war.

Stille.

„Echt jetzt?“

Ich musste mir wirklich fest auf die Lippe beißen, um nicht loszuheulen.

„Scheiße, Alter, das ist echt eine Sauerei. Wie kann die nur! Bei euch war doch alles gut gewesen; wenn also nicht mal ihr beide zusammenbleibt, was soll ich dann erst sagen?!“

Etwas an diesem Satz machte mich stutzig. Dass alles gut gewesen war mit Marie, vielleicht war letztendlich gerade diese Tatsache eben nicht gut. Hätten wir öfter zoffen müssen? Kein Feuer, keine Leidenschaft, nur gut. Eine Beziehung war aber kein verdammter Deutschaufsatz, bei dem Gut okay war.

Als er den Motor startete, ging dröhnend laut Musik los, ein Song von AC/DC, seiner Lieblingsband. Schon freute ich mich, auf diese Weise einem quälenden Gespräch über mein Liebesleben entgehen zu können, da drehte er sie leiser.

„Und seit wann?“, bohrte er weiter.

„Ach. Seit letzten Freitag.“

„Warum hast du denn nichts gesagt?“

„Ich muss es erst mal selbst verdauen.“

Er manövrierte sich aus der Parklücke, schien dabei nachzudenken. „Wollen wir zu ihr fahren?“

„Wozu?“

„Naja, um irgendwas Romantisches zu machen, vor ihrem Balkon singen oder was weiß ich.“

Ich winkte ab. „Keine Chance, sie will mich im Moment nicht sehen.“

„Wie wär´s wenn ich…“, begann er, doch ich fuhr ihm sofort dazwischen: „Nein! Halt du dich da einfach raus, Jo!“

„Dome. Sie ist doch deine erste große Liebe, oder nicht? Willst du denn nicht um sie kämpfen?“ Seine Stimmlage war ungewohnt ernst.

„Klappe jetzt!“, fuhr ich ihn an. „Wenn du dein erstes Date hast, dann können wir dieses Gespräch fortsetzen, vorher nicht!“

Treffer versenkt, er hielt den Mund. Kratzte sich nur an seinem Kinnbärtchen und schien nachzudenken. Riesenzinken, fliehendes Kinn, Überbiss – nicht nur von der Seite war er keine Schönheit. Das wandelnde Klischee eines Informatikstudenten. Ich bereute es schon, ihn so harsch angegangen zu sein.

„Treten heute wieder diese Gammel-Ghouls auf?“, stellte ich eine Frage, um ein anderes Thema anzubringen.

„Du meinst Ghoulasch? Nee, die haben sich aufgelöst, vor einer Weile schon.“

„Aufgelöst?“, prustete ich los. „Wohl im wahrsten Sinne des Wortes, hm? Diese Masken waren schon eklig, muss ich sagen. Also, ich hoffe zumindest, es waren Masken.“

„Die Maden auf den Masken waren echt, hat Simon gesagt, Mottenlarven.“

„Ihh“, machte ich. Auf dieses unnütze Wissen hätte ich lieber verzichtet.

„Heute tritt jedenfalls Gitarrhö auf. Fun Fact am Rande: Der Sänger von Ghoulasch ist jetzt bei Gitarrhö eingestiegen!“

„Gitarrhö…“, ließ ich mir diesen Bandnamen auf der Zunge zergehen.

„Ich habe sie live gesehen letzten Monat, sind wirklich geil, diese Mischung aus Metal und Punkrock mit verschiedenen Einflüssen, aber das Bühnenoutfit erst…“

Ich lauschte nur mit halbem Ohr seinen Ausführungen über Musikrichtungen, denn was für eine Band dort Krach machte, war mir herzlich egal, Hauptsache Ablenkung.

Erst als er „mal schauen, ob David aufkreuzt“ vor sich hinmurmelte, hörte ich wieder hin.

„David?“ In meinem Kopf wühlte ich nach diesem Namen. „Der aus unserer Klasse, der immer Styropor gegessen hat?“

Jo grunzte. „Nee, wieso sollte ich denn mit dem abhängen? Ich meine den aus meiner Uni, neulich in der Mensa habe ich ihn kennengelernt, als er sich zu uns gesetzt hat. Als er gesagt hat, was er studiert, dachte ich, der verarscht mich. Rate mal! Da kommst du nie drauf!“

Ich zuckte die Achseln. „Japanologie?“

„Nein.“

„Was dann? Irgendwas mit Astronomie, oder Physik?“

„Haha! Nein! Im Gegenteil: Katholische Theologie! Ey, der will bestimmt Priester werden! Hast du sowas schon mal gehört? Der saß mir und Simon gegenüber, irgendein Ökogemüsefraß auf dem Teller, und spricht mich an: ‚Darf ich dich was fragen, bist du Taoist?‘ Deutet dabei auf meinen Anhänger, das war echt strange, das hättest du erleben sollen.“ Er kicherte los und nestelte an seinem Kettenanhänger, dem Yin-Yang-Symbol, und gleichzeitig ein USB-Stick, ein Geburtstagsgeschenk von mir. „Aber sonst ist er ganz okay. Würde ich sagen.“

Klar, dass ein Theologiestudent sofort Jos Interesse weckte, dessen Freundes- und Bekanntenkreis überwiegend aus Exoten bestand, an denen irgendetwas Besonderes war. Als würde er solche speziellen Persönlichkeiten sammeln.

„Na? Haste, oder haste nicht?“, fragte Jo nach.

„Nein. Ich kenne keinen, der Theologie studiert, woher denn auch?“

„Aber ich kann dich beruhigen, er sieht zumindest nicht danach aus.“

Meine Frage, wie jemand aussah, der Priester werden wollte, ging in seinem gewohnten Schimpfwortschwall am Steuer unter. Das würde ein Abend werden…
 

Als wir beim QUAKE angekommen waren, rannte Jo los, so wenig konnte er es erwarten, in seinen Lieblingsclub zu kommen. Ein mehr als merkwürdiger Anblick. Ich folgte ihm in normalem Tempo, hatte es nicht so eilig.

Beim Näherkommen hörte ich jedoch keine Bässe wummern. Was war da los?

„Die bauen ja noch auf!“, rief Jo aus, als wir drin waren. Es befanden sich etliche Leute im Club, doch auf der Bühne wurde getüftelt und mit Kabeln hantiert. Als Hintergrundberieselung dudelte leise Rockmusik aus der Box.

Jo führte mich mit zielstrebigen Schritten an den Menschengrüppchen vorbei, und meine Neugierde auf die neue Bekanntschaft wuchs mit jedem Schritt. Nach Jos Einleitung interessierte es mich brennend, was für ein Typ wohl dieser Theologiestudent war. Jo hatte es fertiggebracht, dass ich von ihm bereits als den Theologiestudenten dachte und mir sein Name schon wieder entfallen war.

Wir kamen zu einem Ecktisch, an dem ein Student im weißen Schlabbershirt gebeugt dasaß. Er zur Hälfte ausgefülltes Kreuzworträtsel in einer Zeitschrift hatte seine volle Aufmerksamkeit – dabei gab es doch Apps für so etwas.

„Hey, willkommen im Sündenpfuhl, David! Hast du gut hergefunden?“

Nun hob der Student den Kopf, als wir uns dazu setzten, ließ eine seiner wilden, dunklen Locken los, die er zwischen seinen Fingern zwirbelte, und lächelte. Wie ein Student sah er wahrlich nicht aus, eher wie frisch auf die Oberstufe gekommen.

„Hallo, Johannes. Nun, die Gegend ist schon ziemlich abgelegen, sind wir überhaupt noch in der Stadt?“, fragte er etwas schläfrig und mit leichtem bayrischen Dialekt.

„Na klar! Ich fahre dich später heim, okay? Das hier ist übrigens Dominique, oder Dome, wie du willst. Wir waren zusammen auf der Schule. Bester Sitznachbar der Welt, wenn er nicht so ne Sauklaue gehabt hätte“, stellte Jo mich vor. Eine Sekunde lang blieb mein Blick an dem goldenen Kreuz-Anhänger an seiner Halskette haften, der aber nicht besonders groß war. Hätte ich nicht gewusst, was er studierte, dann hätte ich das gar nicht weiter beachtet, aber so...

„Du hörst Death Metal?“, sprach ich ihn an und hoffte, nicht allzu ungläubig zu klingen.

Heftiges Kopfschütteln von David. „Nicht wirklich. Aber Jo und Simon haben mich überredet, und ich hatte heute eh nichts Besseres vor. Kommt Simon noch?“

„Ihm ist was dazwischengekommen“, meinte Jo. „Oder besser ausgedrückt, jemand.“ Sein zwei Jahre älterer Bruder Simon studierte an der gleichen Universität Medizin.

„Schade.“

„Simon hat wieder eine?“, fragte ich, hellhörig geworden. „Seit wann?“

Jo winkte ab. „Ach, der hat doch immer eine, und gleichzeitig keine. Kennst ihn ja.“

Diese Worte ließ ich einige Momente auf mich wirken. Nüchtern betrachtet war es unrealistisch, dass sich Marie ausgerechnet Simon aussuchte. Aber ein Restrisiko blieb immer. „Hey, Leute, ich gebe eine Runde aus, Äppler für jeden?“

Ich erinnerte Jo daran, dass er noch fahren musste, und auch David meldete sich zu Wort: „Für mich bitte etwas Alkoholfreies.“

„Bist du auch mit dem Auto da oder was?“

„Äh nein, ich mag keinen Alkohol, meine ich.“

„Was?! Hast du das gehört, Dome?“, fragte Jo. „Alter, ich hab ja schon vieles gehört, aber das? Aus religiösen Gründen, oder was? Ich frage nur aus Interesse.“

„Genau“, sagte David eifrig nickend, aber es klang nicht so überzeugend für mich. Eher, wie Jo schnell abzufertigen, weil er auf eine Diskussion keine Lust hatte. Wer konnte es ihm verdenken.

„David hat einen ganz exquisiten Geschmack: Er trinkt ausschließlich das Blut Christi!“, gackerte Jo und verließ uns in Richtung Bar.

Nun war ich mit David allein am Tisch. Diese Stille zwischen uns bereitete mir Unbehagen. Mir wollte partout kein Gesprächsthema einfallen, außer, ob er denn tatsächlich Priester werden wollte, das interessierte mich wirklich. Aber das käme mir vor wie ein Überfall – ich kannte ihn schließlich noch keine zehn Minuten, und war es nicht so, dass man das Thema Religion bei neuen Bekanntschaften besser vermeiden sollte?

„Was studierst du, Dominique?“, kam er mir zuvor.

„Noch nichts. Ich mache ein Soziales Jahr im Altenheim, und danach muss ich mir noch überlegen, was ich studieren will.“

„Das ist doch schön. Ich wollte vor dem Beginn des Studiums eigentlich auch etwas Sinnvolles für Menschen tun. Aber dann war ich doch nur auf dem Camino unterwegs, den man auch als Jakobsweg kennt. Also eher ein Ego-Trip, wenn man so will.“ Trotz dass er langsam redete und mit diesem Dialekt, war es angenehm, ihm zuzuhören.

„Ernsthaft? Diese tausend Kilometer lange Pilgerstrecke? Die bist du zu Fuß gelaufen? Von Anfang bis Ende?“

David nickte bescheiden. „Ja, aber es sind nicht ganz achthundert. Woher kennst du denn den Jakobsweg?“

„Ach, von Verwandten…“ Ihm zu erzählen, dass meine Mutter zu Beginn ihrer Reise ein Stück davon gegangen war, wäre jetzt zu ausschweifend.

„Wenn wir mal weniger Gewusel um uns rum haben, erzähle ich dir gern mehr darüber, wenn du willst.“

„Ja, tu das.“

Er wandte er sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu und ich mich den Besuchern im Club. Wo blieb Jo denn? Ach du Scheiße. Das durfte doch nicht wahr sein… Diese blonde Lockenpracht… Solche Locken hatte nur eine!

„Ich komm gleich wieder“, sagte ich, obwohl ich mir da nicht so sicher war, und entfernte mich vom Tisch, bevor die blonden Locken im Gewimmel verschwanden. Ich beeilte mich, und war trotzdem zu langsam. Ich sah sie durch eine Tür gehen, ein Hinterzimmer oder der Lieferanteneingang, oder einfach nur die Toiletten. Von der Figur würde es passen, knappe eins sechzig, schlank, verhältnismäßig lange Arme, auch der Kleidungsstil passte! Mein Herz flimmerte in der Brust.

„Marie!“, rief ich ihren Namen, während ich ihr in den dunklen Gang folgte. Keine Antwort. Kein Mensch weit und breit. Hatte ich mir das nur eingebildet?! Die nächstbeste Tür öffnete ich schwungvoll, wo mich bloß aufgestautes Gerümpel, Dekoartikel und Getränkekisten erwarteten. Welch trostloser Anblick.

„Marie? Bist du hier?“, rief ich trotzdem in den Raum hinein, vielleicht versteckte sie sich vor mir.

„Nee“, antwortete mir eine dunkle Männerstimme hinter den Kisten.

„Wer ist da?“

„Niemand“, log die Stimme.

Hinter mir fiel geräuschvoll die Tür ins Schloss und ich tastete nach dem Lichtschalter, der eine alte Neonröhre wiederzubeleben versuchte.

„Ich habe sie doch hier reingehen sehen!“, widersprach ich der Stimme.

„Hier ist niemand. Was hast du geraucht?!“

Ich seufzte. Ich wurde wirklich verrückt. „Dann gehe ich mal wieder.“

„Warte. Du hast nicht zufällig Feuer?“

Die Gestalt trat endlich aus den Schatten heraus. Mir klappte der Mund auf, als ich immer mehr Details von ihm erblickte: eine schwarze Hose, übersät mit Rissen und Löchern. An seinem einen Unterarm prangte ein Tattoo, genau konnte ich es nicht erkennen. Sehr sehnige Arme mit Armbändern mit Spikes; ein schwarzes Tanktop, wie es Leute trugen, die gern ihren muskulösen Körper zur Schau stellten. Er war jemand, dem ich draußen im Dunkeln nicht unbedingt über den Weg laufen wollte, denn wer den Kampf gewinnen würde, war klar. Hätte er sich mir nicht als Gitarrist vorgestellt, so hätte ich ihn für einen Schwergewichtsboxer gehalten. Wobei das eine ja das andere nicht unbedingt ausschloss. Nervös drehte er eine Zigarette zwischen zwei Fingern.

„Hier ist mit Sicherheit Rauchverbot“, stammelte ich, wofür ich mich ohrfeigen könnte, während er sich noch weiter zu mir vorwagte und ich schließlich sein Gesicht erkennen konnte.

„Rauchverbot? Du gehst wohl auch erst dann über die Ampel, wenn das grüne Männchen aufleuchtet, stimmt´s?“ Er kam näher. Unwillkürlich wich ich ein Stück zurück, betrachtete sein Gesicht, diese pechschwarzen Lippen inmitten des blonden Drei-Tage-Barts, und die schwarz getuschten Lider, auf denen mit einem feinen Pinsel Striche bis fast zum Kinn herunter gemalt waren. Wie bei einem Gepard. Ob es genau so ein Typ war, Maries Neuer? Sie wären das perfekte Paar. Die Haare, die zu Berge gegelt und an der Seite rasiert waren, waren von einem sehr hellen Blond, wie es sonst nur Kinder besaßen, ebenso seine Brauen. Das ließ ihn merkwürdig weich wirken, wie ein Widerspruch zu den Muskelbergen. Dieser Typ war echt eine Erscheinung. Man konnte nicht mehr wegsehen, ähnlich wie bei einem Verkehrsunfall. Diese tiefe Furche, die seine Nasenwurzel durchzog und die beiden Stirnhälften wie ein Graben teilte, gab mir das Gefühl, dass er nicht besser über mich dachte. Dazu besaß er die Frechheit, mir noch näher auf die Pelle zu rücken: Mit seinem Arm stützte er sich an der Tür ab, neben meinem Kopf! Dieser Oberarm besaß den Umfang von meinem Oberschenkel. Was bildete dieses aufgepumpte Großmaul ein? Ich kniff die Augen zusammen und spürte Wut in mir aufsteigen.

Er gab ein belustigtes Schnaufen von sich. „Schätze, du bist Kindergärtner, lieg ich richtig?“

Hä?! Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er eins auf die Fresse wollte. Aber das traute ich mich dann doch nicht, ich war ja nicht lebensmüde. Mein Blick entwischte seinem, fiel tiefer, wurde von seinen Halsketten eingefangen. Mehrere übereinander zierten seinen breiten Hals, reichten hinab auf seine Brust, die das großzügig ausgeschnittene Tanktop als Highlight präsentierte. Verfingen sich dort in seinen blonden Kringelhaaren, und ich dachte an die paar verirrten Härchen, die rings um meine Brustwarze sprossen und hasste ihn noch mehr dafür. Ich könnte kräftig daran ziehen, das tat ihm bestimmt weh, sofern es kein Toupet war. Meine Hand schwebte bereits auf seine Brust zu. Im letzten Moment wurde mir bewusst, wie lächerlich das war und schnappte mir stattdessen seinen Kettenanhänger. Einen Sarg.

„Da liegst du sowas von falsch, Mondgesicht! Ich arbeite nämlich im Altenheim!“, stellte ich klar. Der Sarg aus Metall lag unerwartet schwer, klobig und kalt in meiner Hand.

„So? Welches denn?“

„Das oben auf dem Berg.“ Wieso antwortete ich so bereitwillig auf seine Frage? „Wieso willst du das wissen?“

„Und du bist?“

„Geht dich gar nichts an.“

„Ich habe dich doch nur nach deinem Namen gefragt.“ Dieses selbstgefällige Grinsen! Es juckte mich in der Faust, ihm seine verdammt geraden, ganz sicher gebleichten Zähne auszuschlagen!

„Frag noch mal und ich verpass dir eine!“

Nochmal so ein Schnauben. „Du bist ja total verklemmt. Aber das wird noch, glaub mir.“ Seit wann lag seine Hand auf meiner Schulter?! Eine Sicherung brannte in mir durch. Seinen Kettenanhänger ließ ich los, ich ballte die Faust, und im nächsten Augenblick saß sie mitten in seinem Gesicht. Sein Kopf flog nach hinten und der Rest von ihm zwangsläufig mit, der Gitarrist war auf meinen Schlag nicht vorbereitet gewesen, nicht einmal ich selbst war das gewesen.

„Dominique heiß ich! Mit Q!“, brüllte ich meine Wut raus und wollte zur Tür verschwinden, doch dieser Weg war versperrt. Das bemerkte ich allerdings erst, als ich gegen ein riesiges schwarzes Kissen prallte. Nur, dass es kein Kissen war. Sondern die Brust eines Thorin-Eichenschild-Verschnitts mit Pandaschminke und Totenkopf-Shirt. Oh Fuck. Erst jetzt schien ich mir bewusst, in welche Lage ich mich da gebracht hatte. Entsetzt machte ich einen halben Schritt zurück, legte den Kopf in den Nacken, um sein Gesicht sehen zu können. Der war über zwei Meter groß und seine Augen glühten! Nein, eigentlich schaute dieser Schrank nur besorgt zu seinem Kumpel. Der stöhnte, und wischte sich über die Nase, was eine Blutspur hinterließ. Kopfschüttelnd fegte er mich beiseite, machte einen Schritt auf ihn zu und packte seinen Arm. „Sandro! Du lässt auch nix anbrennen, oder? Komm jetzt, die haben den Kurzschluss behoben.“

Sandro? Dieser Name passte überhaupt nicht zu dieser Frostbeule! Als die Tür hinter den Musikern zufiel, entdeckte ich ein paar Blutspritzer am Boden. Ich musste fester zugeschlagen haben, als beabsichtigt. Damit hatte ich eben keine Erfahrung! Wann hatte ich mich denn je geprügelt?! Vielleicht in der Grundschule, wenn überhaupt.
 

Die Lichter waren ausgegangen. Die Band stand auf der Bühne, doch die Lust auf diesen Abend war mir gründlich vergangen. Marie war auch nicht hier.

Jo unterhielt sich mit David – den hatte ich ja ganz vergessen. Vor ihm stand eine Flasche Bio-Limonade und ein kühles Bier wartete auf mich. Ich stürzte meinen ersten Schluck hinunter. Tat das gut. Dann wagte ich einen Blick auf die Bühne. Ach du scheiße. Die zwei von der Abstellkammer. Sandro spielte auf einer roten E-Gitarre und sein Kumpel am Bass.

„Dominique, wollen wir Nummern tauschen?“, sprach mich David ganz zaghaft von der Seite an, gleichzeitig brach Jo in irres Gelächter aus. Von ihm schaute ich zu dem Handy in Davids Hand. Jo rang damit, nicht ins Grunzen zu verfallen und seinen Kopf in den Händen vergrub.

„Lacht er dich wegen deinem Handy aus, oder was habe ich verpasst, als ich weg war?“

David hielt mir sein altes Tastenhandy entgegen, in das ich meine Nummer eintippte. Wie ungewohnt.

„Ruhe jetzt!“, herrschte Jo uns an, denn der Sänger begann damit, Laute ins Mikrophon zu grunzen oder rülpsen, aus der ich kein menschliches Wort mehr heraushörte. Wirklich kein einziges. Oh je, das war eindeutig die Stimme von Ghoulasch. Lichtjahre davon entfernt, meine Lieblingsband zu werden. David schaute stumm der Band zu. Und ich beobachtete ihn amüsiert dabei. Ihm war deutlich anzusehen, dass diese Band nicht seinen Musikgeschmack traf. Sein Stirnrunzeln sprach Bände. Einmal trafen sich unsere Blicke. Ich erwiderte sein gequältes Lächeln, und fand es tapfer, dass er trotzdem dablieb. Obwohl das, was der Sänger grölte, sich anhörte wie „Antichrist“.

Irgendwann setzte das Gitarrensolo ein. Der ganze Club hielt den Atem an. Auch Davids Aufmerksamkeit richtete sich auf den Gitarristen. Ich schnaufte tief durch und hielt mich an meiner Flasche fest. Ja, ich musste zugeben, das war wirklich nicht schlecht. Sandro war ein guter Gitarrist. Aber ein absolut unsympathischer Mensch.

Ohrenbetäubender Beifall legte sich über den Club, das bereits nach ihrem ersten Song. Handykameras blitzten.

Als er verklungen war, und es mit einer ruhigeren Melodie weiterging, rieb uns Jo unter die Nase: „Der Gitarrist soll gay sein, hab ich gehört. Meint ihr, das stimmt?“

Gay?! Mir entgleisten sämtliche Gesichtszüge. Hieß das, das vorhin im Abstellraum war eine Anmache gewesen…? Hielt er mich etwa für schwul?!

„Frag ihn doch einfach nach dem Auftritt, wenn es dich so sehr interessiert“, meinte David ganz nüchtern.

Jo lachte und schüttelte den Kopf. „Ey, so rum bin ich nicht! Ist ja auch egal. Vergiss es einfach, es ist ja nicht…“ Die Hälfte des Satzes ging im erneuten Losgrunzen des Sängers unter.

Schließlich wagte ich aus purer Neugier doch einen Blick zur Bühne. Ich betrachtete die fünf Gestalten in Schwarz. Hängen blieb mein Blick an dem roten Fleck im Zentrum. Sandros blutrote E-Gitarre war der einzige farbige Klecks auf der Bühne und dementsprechend der Eyecatcher, das Herzstück der Band. Ich bekam einen sauren Geschmack im Mund, allein von Sandros Anwesenheit in diesem Raum. Mir war richtig schlecht.

„Ich gehe heim“, verkündete ich.

„Jetzt schon? Hat doch eben erst angefangen. Da rentiert sich der Eintritt doch gar nicht.“

Dieser Einwand überzeugte mich nicht. „Wir sehen uns.“ Damit verließ ich das QUAKE.

St. Antonius

Meine Mittagspause verbrachte ich meistens zusammen mit der Azubine Fatima im Pausenraum unserer Station, wo wir das Tagesmenü aßen. Die große Kunst bestand darin, den Gedanken, dass man das gleiche Essen einige Minuten zuvor den Bewohnern in pürierter Form angereicht hatte, erfolgreich zu verdrängen. Heute war es Kartoffelsuppe in einer Schnabeltasse aus Plastik, dazu Kaiserschmarrn, der eigentlich ganz in Ordnung war.

„Du, Domi?“

„Mhh?“ Ich schaute von meinem Smartphone-Bildschirm auf, in den ich mich vertieft hatte.

Fatima deutete auf mein Schälchen mit der grünen Götterspeise: „Krieg ich deinen Nachtisch?“

„Klar.“

„Danke! Du hast was gut bei mir.“

„Hmm.“

Ich vertiefte mich wieder in dem Online-Artikel eines lokalen Käseblatts, den Jo mir geschickt hatte. Bereits die Überschrift ließ erraten, um wen es sich dabei handelte: „Mit provokanter Kriegsbemalung das QUAKE erbeben lassen.“ Darunter befand sich ein Zweizeiler zum Abend im QUAKE, und ein Foto von Sandro auf der Bühne. Eine Blutspur zierte den Weg von seiner Nase in seinen Bart, über die schwarzen Lippen bis zum Kinn. Meine Ohren wurden heiß, als ich heranzoomte und die Folgen meines Faustschlages betrachtete. In diesem Moment hatte ich keinen Gedanken an Konsequenzen verschwendet. Ob mir jetzt eine Anzeige von ihm drohte? Und ich hatte ihm auch noch meinen Namen genannt. Aber das war nicht ich. Nie hatte ich meine Fäuste eingesetzt und so jemand wollte ich auch nie werden!

Eine einkommende SMS. Ich wollte sie schon löschen, da ich sie für Werbung von meinem Mobilfunkanbieter hielt, doch in der Vorschau las ich meinen Namen: Hallo Dominique. Ich wollte fragen, wie es dir geht. Du warst so schnell weg am Samstag.“

Ich schrieb zurück: Hi David. Danke der Nachfrage, mir geht es gut. Ich bin auf der Arbeit, habe gerade Mittagspause. Bist du denn bis zum Ende geblieben, trotz dass es ja nicht so deine Musik war?

Seine Antwort kam prompt: Mahlzeit! Ich habe auch gerade Mittagspause. Ja, ich war tapfer ;) Der Abend war schön. Lass uns bald mal wieder was zusammen unternehmen.

Dem konnte ich nur zustimmen.

 

~

 

Am Abend klopfte ich an Désirées Tür. „Ja?“, brummte meine Schwester von drinnen.

Sie war mal wieder hinter ihrem Laptop abgetaucht und wippte dabei sachte auf ihrem Gymnastikball. Viele Grünpflanzen brachten Leben in ihr Schlaf- und Arbeitszimmer, und die Fotos im Bilderrahmen an der Wand zeigten sie mit ihrem Freund, mit Freunden, und eines sogar mit mir. Ich wusste gar nicht mehr, wann wir dieses Foto geschossen hatten, es musste wohl kurz nach meinem Einzug gewesen sein, so jung wie ich darauf wirkte. 

„Desi, hast du Briefpapier, das du mir borgen könntest?“

„Briefpapier? Wofür?“ Sie zog eine Augenbraue hoch, beugte sich aber zur Seite und wühlte in ihrer Schreibtischschublade.

„Um einen Brief zu schreiben, wofür sonst?“

„Hm. Mal schauen.“ Sie zog aus der Schublade eine Mappe hervor, die sie mir reichte. „Mehr habe ich nicht.“

Ich inspizierte den Bogen, und mir gefiel das rosa Papier mit den aufgedruckten Rosen. Es war wie geschaffen für den Zweck, genau das, was ich brauchte.

„Es ist perfekt, Desi. Danke!“

Ich entzog mich ihrem lauernden Blick, doch sie musste unbedingt noch etwas loswerden: „Was machen deine Bewerbungen? Hast du nach Ausbildungsplätzen und Studiengängen geschaut? Hast du dir die Broschüren angesehen, das ich dir neulich gegeben habe?“

„Ja, ja.“

„Nimm das gefälligst ernst! Die Zeit läuft dir davon! Ewig kannst du dieses Händchenhalten im Altenheim nicht machen!“

„Es ist viel mehr als Händchenhalten.“ Damit verschwand ich aus ihrem Zimmer und setzte mich an meinen eigenen Schreibtisch. Das Briefpapier fühlte sich gar nicht wie normales Papier an unter meinen Fingern sondern so edel. Als ich es gegen das Licht hielt, entdeckte ich sogar ein Wasserzeichen. Ich hätte es meiner Schwester niemals zugetraut, Briefe auf solch teurem Briefpapier zu schreiben. Und was sollte ich nun schreiben?

Nie hatte ich einen richtigen Brief geschrieben. Ich beschloss, einfach drauflos zu schreiben. So war es doch am authentischsten, als wenn ich an jedem einzelnen Wort feilte.

Am Ende kam das dabei raus:
 

Marie,

 

ich habe nur eine einzige Frage an Dich: Warum? Was war der Grund, dass Du eine Pause brauchst? Bitte verrate ihn mir, es lässt mir keine Ruhe. Das ist hardcore, von heute auf morgen nichts mehr von Dir zu hören, und dich auch nicht besuchen zu dürfen. Das ist wie Herz-Kidnapping! Wir haben doch eine schöne Zeit zusammen gehabt. Oder etwa nicht? Was hat dich denn gestört?

Neulich beim Putzen hab ich noch ein paar deiner Haare gefunden. So sieht es in meinem Herz auch aus, nur dass ich die Überbleibsel von dir nicht so leicht wegkehren kann.

Ich will Dich ja wirklich nicht nerven. Aber ich möchte einfach Klarheit für mich haben. Was auch immer der Grund ist - ich kann es verkraften. Also sei bitte ehrlich mit mir. Das ist das mindeste.

Hast Du eigentlich meine Blumen erhalten?

 

Dein Nicki

 

PS: Sieh mal, was ich gefunden habe! Weißt du noch?

 

Dem Brief legte ich jenen Papierschnipsel bei, den ich in der untersten Schreibtischschublade fand. In einer trockenen Unterrichtsstunde hatte ich ihn auf Maries Tisch geworfen, mit Kuli geschrieben: „Was wohl passiert, wenn man eine Ente ententet?“  Dann beobachtete ich nur, wie ihre Schultern zu beben begangen. Zur Tarnung schnäuzte sie rasch in ein Papiertaschentuch, um nicht die Aufmerksamkeit des Geschichtslehrers auf sich zu ziehen. Es freute mich nicht nur, sie zum Lachen gebracht zu haben, sondern auch, zu erleben, wie sie die Beherrschung verlor. Postwendend war ihre Antwort auf meinem Tisch gelandet, ihre elegante runde Schrift mit blauem Füller: „Finden wir es doch beim Entenfüttern raus. Morgen nach der Schule?“  Nach diesem ersten Date waren wir offiziell zusammen.

Ursprünglich hatte ich diesen Schnipsel aufbewahren wollen, mindestens bis zu unserer Hochzeit, doch um Marie an die guten alten Zeiten zu erinnern, dafür war mir jedes Mittel recht. Schnell eintüten und weg damit.

 

~

 

Ende der Woche konnten Jo, David und ich uns endlich auf einen Kinofilm einigen: Die Sondervorstellung König der Löwen  in einem gemütlichen Programmkino. Jo dachte sich bestimmt, dass ich eh nichts Besseres vorhätte, da Marie nicht mehr meine Zeit beanspruchte. Das Traurige war, dass er damit teilweise richtig lag.

Als ich mich zuhause fertig machte, überlegte ich lange, ob ich wirklich gehen sollte. Vielleicht meldete sich Marie, und ich wäre dann nicht zuhause? Aber dann schüttelte ich diesen Gedanken ab, das war doch lächerlich. Falls sie es sich doch anders überlegte, dann würde sie auch noch ein paar Stunden warten können.

 

Als ich wenig später zwischen Jo und David im Kinosessel saß, war ich froh, mich dafür entschieden zu haben, auch wenn das nicht gerade mein Lieblingsfilm war. Ringsherum erfüllte Knistern und Rascheln und Geflüster den Saal, während die Werbung lief. Verstohlen schielte ich rüber zu Jo. Obwohl er noch nie eine Trennung durchmachen musste, schien er genau zu wissen, was ich brauchte. Zu meiner Rechten saß David. Er beugte sich zu mir rüber.

„Ich bin so müde“, gestand er mir. „Ich hoffe wirklich, dass ich nicht einschlafe. Aber heute war mein erster Tag als Kassierer und Regalauffüller.“

„Ach? Wo denn?“

„In einem Naturkostladen in der Innenstadt.“

„Cool. Aber wieso sagst du denn nicht ab, wenn du müde bist?“

„Jetzt, wo wir uns endlich auf einen Film einigen konnten? Aber keine Sorge, ich werde schon durchhalten, das habe ich mir fest vorgenommen. Ansonsten, weck mich bitte. Das ist einer meiner Lieblingsfilme.“

„Geht klar.“

„Pscht! Ruhe jetzt“, ermahnte uns Jo, als die Lichter ausgingen. Mampfte dann aber so laut Popcorn neben mir, dass es eine Zumutung war.

„Selber pscht!“, fauchte ich zurück, und griff in seinen Rieseneimer hinüber, um mir eine volle Ladung Popcorn abzugreifen.

Auf der Leinwand ging die riesige rote Sonne auf und im Publikum kehrte Stille ein. Auch Jo hielt einige Sekunden inne, bevor er weitermampfte.

Später, an der Stelle, als Scar seinem Lieblingsneffen gegenüber ausplauderte, was sich hinter dem nördlichsten Ende und hinter den Hügeln verbarg, sackte plötzlich ein Gewicht auf meine Schulter. Vor Schreck verschluckte ich mich beinahe am Popcorn. Davids Kopf war zur Seite gerutscht, auf mich. Ich spürte seine Locken an meiner Wange und hielt den Atem an. Sie waren weicher als gedacht...

„David“, sagte ich im Flüsterton. „Hey, wach auf.“ Keine Reaktion. Ich wackelte mit der Schulter auf und ab, doch auch das weckte ihn nicht. Dann ließ ich es einfach bleiben. Es störte mich nicht. Wenn es so bequemer für ihn war, bitte. Er roch auch nicht schlecht. Sogar ein wenig vertraut, irgendwie…

Ein schlaftrunkenes Glucksen, dann nahm David den Kopf wieder weg. „Bitte entschuldige!“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte.

„Kein Ding“, erwiderte ich cool. Sichtlich peinlich berührt rutschte er von mir ab, so weit es im Kinosessel möglich war und ich konzentrierte mich wieder auf den Film. Versuchte es zumindest. Doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Dass sich David so schnell entfernte, als ob ich die Pest hätte, missfiel mir. Jetzt, da das Gewicht seines Kopfes von meiner Schulter weg war, war es mir, als würde es mir fehlen.

War ich so dermaßen ausgehungert nach körperlicher Nähe, dass ich sogar mit David kuscheln würde, wenn Marie nicht verfügbar war?! Beide hatten sie ja so eine üppige Lockenpracht…

Das war doch absoluter Käse, was ich da dachte! Kopfschüttelnd sah ich zu ihm herüber. Den Ellbogen auf der mir abgewandten Armlehne, stützte er den Kopf in seine Hand, die Augen geschlossen und sah dabei aus wie ein Engel auf einem Kirchengemälde. 

Auch Jo bemerkte nun, dass David schlief, und kicherte vor sich hin. Als er ein Popcorn nach ihm schnippte, das für einen Moment in seinen Locken hängen blieb, wachte David wieder auf. Er blinzelte erst orientierungslos und setzte sich dann mit verschränkten Armen gerade hin.

Bei der Szene, wo Mufasa seinem Sohn befahl, dass er seinen Platz im Ewigen Kreis einnehmen sollte, zuckte ich zusammen, als ich ein Flüstern an meinem Ohr vernahm: „Das ist meine Lieblingsstelle.“

Ganz langsam drehte ich mich zu David. „Diese Stelle? Das war für mich immer zu viel Vater-Sohn-Gedöns. Wie der halbe Film eigentlich. Aber interessant, dass dir ausgerechnet diese Stelle gefällt, wo du doch von Berufs wegen nie Kinder haben… Aua!“, machte ich. Jos spitzer Ellbogen bohrte sich nämlich gerade zwischen meine Rippen.

„Ruhe!“, zischte er.

„Ist ja gut!“, zischte ich zurück.

Das letzte Viertel des Filmes verfolgten wir schweigend. Als die Lichter angingen, beeilten wir uns, rauszukommen. Im Vorraum des Kinos angekommen, lehnte David Jos Einladung ab, noch ein bisschen zusammenzusitzen.

„Komm gut heim“, sagte er zu Jo, und dann, an mich gewandt: „War schön.“

Erst viel später, als ich schon längst oben in meinem Hochbett lag und in die Dunkelheit starrte weil ich nicht einschlafen konnte, stellte ich mir die Frage, ob er damit den kurzen Moment gemeint haben könnte, als sein Kopf auf meiner Schulter… Aber nein. Allein, dass ich diese Deutungsmöglichkeit überhaupt in Betracht zog, das war ja totaler Wahnsinn.

 

~

 

Am Freitag, als ich von der Frühschicht nach Hause kam, entdeckte ich im Briefkasten ein schlichtes weißes Briefkuvert, an mich adressiert. Zuerst dachte ich an Mama, dass sie endlich mal auf ihre Zweizeiler und die Postkarten verzichtet hatte, um mir einen ausführlichen Brief zu schreiben. Aber dann erkannte ich die runde Schrift und mein Herz machte einen Satz. Marie!

So eilig hatte ich es, in die Küche zu kommen, dass ich mit dem Schlüssel erst gar nicht ins Schloss traf, so sehr zitterte meine Hand vor Aufregung. Fast stolperte ich über den Teppich im Flur. Mit dem nächstbesten Gegenstand, einem Kartoffelschäler, schlitzte ich den Umschlag auf und faltete das pastellfarbene Papier auf. Sie hatte Vorder- und Rückseite dicht mit Füller beschrieben.

 

 

Nicki!

 

Das ist ja mal eine total süße Idee, Briefe zu schreiben. Voll retro, wie in Omas Zeiten! Gefällt mir sehr!

Du fragst nach den Gründen, ich kann es verstehen. Aber es ist nicht leicht zu beantworten. Also ich kann dir nur so viel sagen, dass ich mich nicht in jemand anderen verliebt habe. Aber ich kann auch nicht wirklich sagen, dass ich dich geliebt hätte. Sorry!!! Womöglich haben wir beide noch nicht die Menschen kennen gelernt, die die Liebe unseres Lebens sind. Aber wir sind auch erst neunzehn!

Ich glaube, nicht mal meine Eltern lieben sich wirklich. Sie haben einfach das getan, was jeder in ihrem Umfeld von ihnen erwartet hat. Heiraten und Kinderkriegen gehört zu einem normalen Leben dazu wie den Führerschein zu machen oder den Schulabschluss. Aber das hat sie nicht unbedingt glücklich gemacht. Du findest es scheiße, dass deine Eltern geschieden sind, aber naja, wenn sie einfach nur zusammen bleiben und sich gegenseitig anschreien wie meine, ist das nicht unbedingt besser. Ich will niemals, niemals, nie wie meine Mutter werden!

 

Vielleicht ziehe ich nächstes Jahr aus. Langsam wird es Zeit, meinst du nicht? (Dank dir weiß ich mich jetzt in der Küche gut zu behaupten: Tomaten immer mit einem zackigen Messer schneiden! Und noch vieles mehr :) Ich brauche Abstand von jedem und Zeit für mich. Ich denke gerade viel über das Leben und die Welt nach, und schau mir alte Fotoalben an.

Ja, und ich mache zur Zeit digitales Detox, das Handy bleibt aus und so. Das tut mir echt gut. Gehe viel spazieren, nachdenken. Außerdem habe ich das Malen entdeckt, mit Aquarell und Acryl male ich Stillleben auf Leinwand. Das wollte ich eigentlich schon vor dem Abi machen, aber dann war die Zeit sooo schnell um…

 

Eine Pause war halt einfach das, was sich für mich richtig angefühlt hat?!? Hätte nicht gedacht, dass es dich so aus der Bahn wirft. Tut mir so Leid, Nicki. Aber manchmal kamst du mir so abwesend vor, als ob es dich gar nicht interessiert, was in mir vorgeht.

Wir machen gerade eine Phase durch, wo wir viele neue Erfahrungen machen, den Wechsel von Schule zu Ausbildung oder Uni. Das Leben ist wie eine weiße Leinwand, die man selbst bemalen darf, mit so unendlich vielen Möglichkeiten, dass es einen fürchtet. Besser wäre es, ein Grundverständnis von Farben zu entwickeln, um ein möglichst schönes Gemälde zu erschaffen. Doch die Erfahrung kommt nur mit dem Malen selbst. Blöd, dass einem leider nur eine einzige Leinwand zur Verfügung steht!

Naja, ich höre mal lieber auf, dich vollzujammern. Eigentlich läuft doch alles prima bei mir. Ich weiß auch nicht, worüber ich mich beschwere, vielen geht es viel schlechter als mir!

 

Ja, deine Nelken. Sie stehen in einer Vase, sind noch nicht ganz verwelkt. Bitte kaufe mir aber künftig nichts mehr, sonst kriege ich nur ein schlechtes Gewissen.

 

Viele Grüße,

 

Marie

 

PS: ja, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern!

 

Noch ein zweites und drittes Mal las ich ihren Brief. Solche Gedankengänge hatte sie mir gegenüber nie geäußert. Ich mochte am liebsten den Abschnitt mit der Leinwand, den Vergleich zu einem Lebensentwurf, bei dem sie sich davor fürchtete, entweder Zeit zu verschwenden oder Mittel. Ob das aus einem Roman stammte? Eine ihrer britischen Schriftstellerinnen, die sie so sehr verehrte? Es war ihrem Brief anzumerken, dass Marie um ein Vielfaches mehr Bücher las als ich, irgendeines lag immer auf ihrem Nachttisch. Sie hatte es geliebt, Aufsätze zu schreiben, was für mich unverständlich war. Schade, dass sie sich nicht für ein Literaturstudium entschieden hatte. Warum hatte ich sie nie dazu ermutigt? Kannte ich Marie wirklich?

Ich würde ihr auf jeden Fall noch einmal schreiben, denn untersagt hatte sie mir nur Geschenke, nicht das Schreiben… Ich würde um sie kämpfen, es zumindest versuchen. Irgendwas sagte mir, dass das letzte Wort zwischen uns noch nicht gesagt war.

 

~

 

Am Samstagabend ertappte ich mich dabei, am Ende des Stiftes herumzukauen. Nein. Das war einfach nur Mist, was ich da geschrieben hatte. Das war in der Tonne besser aufgehoben! Der erste Brief an Marie war mir erstaunlicherweise leichter von der Hand gegangen als jetzt der zweite. Ich war so leer wie das Blatt auf dem Tisch vor mir. Briefeschreiben war gar nicht so einfach; es war nicht nur ein ganz anderes Medium als ein Chat, sondern die Regeln der Kommunikation waren grundverschieden. So banal diese Erkenntnis war, so frustrierend war sie gleichzeitig. Ich kratzte mich am Kopf und sammelte mich innerlich. Ich hätte das Handy stummschalten sollen… Gerade war mir ein Gedanke in den Sinn gekommen, da riss mich ein SMS-Ton wieder raus.

Das konnte nur David sein. Schon wieder? Zwar passte es mir jetzt gerade so gar nicht, aber ich wollte gleichzeitig auch wissen, was er mir schrieb, also angelte ich das Handy, das am Ladekabel hing.

Hallo Dominique. In deinem Stadtteil ist doch die St. Antonius Kirche. Ich besuche morgen dort den Gottesdienst. Magst du mich begleiten?

In die Kirche? Mit David? Hier in meinem Viertel? Stimmt, den Kirchturm konnte ich vom Fenster aus sehen. Seit ich hier wohnte, hatte ich diese Kirche aber noch kein einziges Mal von innen gesehen, geschweige denn den Gottesdienst besucht. Oder kannte überhaupt den Pfarrer. Ich hatte mir nicht mal die Frage gestellt, ob das eine katholische oder evangelische Kirche war. Seit wann war ich nicht mehr in der Kirche gewesen? Zu meiner Kommunion, oder kurz danach? Das war Jahre her…ein anderes Leben. Da war mein Vater noch dabei gewesen!

Ich googelte die besagte Kirche, die sich nur ein paar Blocks weiter befand, und stellte erstaunt fest, dass sie sogar eine eigene Website besaß. Nach einigem Überlegen schickte ich David mein OK. Warum auch nicht? In letzter Zeit tat ich viele Dinge, die unüblich für mich waren, wie Briefe schreiben oder fremden Leuten auf die Nase hauen. Wieso dann nicht auch mal wieder in die Kirche gehen?

 

~

 

Die St. Antonius Kirche wirkte aus der Nähe noch imposanter. Die herbstliche Morgensonne ließ ihre weißen Mauern erstrahlen. Ich ließ den Anblick auf mich wirken. Vor dem Haupteingang, waren Davids Worte gewesen. Ich saß auf einer der Bänke auf dem mit Kopfsteinpflastern ausgelegten Hof und wippte mit dem Fuß, beobachtete die vorbeigehenden Menschengrüppchen. Ich prüfte mein Handy, aber keine Nachricht war eingegangen. Irgendwann tauchte David in meinem Blickfeld auf, seine Locken wippten auf und ab beim Gehen, so eilig schien er es zu haben.

„Hallo“, begrüßte er mich und nahm die Hände aus den Taschen seines dünnen Parkas, der gleiche Rost-Farbton wie die Herbstblätter am Boden. „Ich habe die Straßenbahn verpasst, weil ich zuerst auf der falschen Seite gestanden war. Sorry!“

„Hey“, sagte ich und stand auf. „Macht doch nichts, ist mir auch passiert am Anfang. Äh, ich will ehrlich sein, ohne dich wäre ich heute nicht her gekommen...“

„Schön, dass du dir trotzdem die Zeit genommen hast.“

Ich zuckte die Achseln. „Ich bin frischer Single, natürlich habe ich Zeit.“

Darauf schenkte er mir nur ein Lächeln, das alles bedeuten konnte oder auch gar nichts, und ich erhob mich.

„Hast du Jo auch gefragt?“

„Nein“, gab er zurück, während wir nebeneinander auf den Eingang zugingen. „Er ist evangelisch.“

Das hatte ich gar nicht bedacht, aber das stimmte. Jos Konfession hatte vorher nie eine Rolle für mich gespielt. David streckte die Hand nach dem Griff der massiven Holztür aus und ich folgte ihm in das Halbdunkel des Vorraums, wo ich ein Regal mit Broschüren ausmachte, durch eine Glastür in das Innere der Kirche. Er griff zur Seite, in die Schale mit dem Weihwasser und machte vorbildlich das Kreuzzeichen. Mich überlief ein Schaudern; meine Finger hielt ich dem Weihwasserbehälter fern, denn Bakterien war göttlicher Segen gleichgültig.

Ein paar Schritte ging er auf den glatten Marmorfliesen, dann blieb er mitten im Kirchenschiff stehen und blickte sich nach allen Seiten um. Ja, es war eine Kirche wie aus dem Bilderbuch. Nicht sehr groß, und trotzdem gigantisch. Oben drang gleißendes Sonnenlicht durch die Buntglasfenster. Verzierter Stuck und Fresken zierten die unendlich entfernt scheinende Decke.

Nun ging David die Bänke entlang, schaute sich nach einem Sitzplatz auf der rechten Seite um und mir wurde mulmig, je weiter er nach vorne schritt. Er wollte doch wohl nicht in die erste Reihe, wie ein Streber!? Doch diese war bereits voll besetzt. Vor der dritten Reihe macht er einen Knicks, bevor er nach rechts abbog und sich auf der Bank niederließ, ziemlich nahe an einer älteren Dame, die er leise begrüßte.

„So weit nach vorn, muss das sein?“

„Na, wir sind ja schließlich nicht im Kino, oder?“, gab er zur Antwort.

„Wohl wahr.“ Hier würde es ihm eher nicht passieren, an meiner Schulter einzunicken. Ich beobachtete das Geschehen um mich herum. Wie die Leute hereinkamen und zielstrebig ihre Plätze einnahmen. Die Ministranten in ihren weiß-roten Gewändern, die auf der Altarinsel damit beschäftigt waren, Kerzen anzuzünden.

Aber noch viel mehr faszinierte es mich, David zuzusehen, der sich im Laufe des Gottesdienstes wie ein mustergültiger Kirchgänger verhielt. Wie er der Predigt des Pfarrers lauschte. Seine Haltung beim Knien; die Art wie er seine Hände beim Beten gefaltet hielt. Die Souveränität, mit der er auf Anhieb die richtige Seite in meinem Gotteslob aufblätterte, als ich ihm einen hilflosen Blick zuwarf. Wie sich seine Lippen beim Singen bewegten, er das Lied auswendig kannte; wie nonchalant er die ihm gereichte Kollekte weiterreichte, nicht ohne eine Münze hinein zu werfen. Beim Friedensgruß sich über die Bank beugte, um auch den Menschen aus der Reihe vor und hinter uns den Frieden zu wünschen, als würde er sie seit Jahren kennen. Und wie er trotz des penetranten Geruchs des Weihrauchs keine Miene verzog.

Gegen Ende, als der Pfarrer, ein Mann im mittleren Alter, die Kommunion verteilte, blieb er noch eine Weile stehen und unterhielt sich mit ihm.

„War sehr schön, seine Predigt“, sprach er gegen die Glocken an, als wir wieder draußen waren. „Fandest du nicht? Hat mir besser gefallen als die Messe neulich im Ostend.“ Seine Wangen waren gerötet, er schien freudig erregt. Auf meinen irritierten Blick hin fügte er hinzu: „Du musst wissen, seit ich hier wohne, besuche ich jeden Sonntag den Gottesdienst in einem anderen Stadtteil. Das ist ein Vorteil dieser riesigen Stadt, dass es so viele Kirchen zur Auswahl gibt.“

„Ernsthaft, du gehst jeden Sonntag in eine andere Kirche? Ist das nicht irgendwie…“ Er schaute mich erwartungsvoll an, doch mir fiel kein passendes Wort dazu ein. „Sollte man nicht irgendwie seine Stammkirche haben, oder so?“

Er zuckte die Achseln. „Ich möchte unterschiedliche Eindrücke sammeln.“

„Witzig. Seit ich hier wohne, habe ich noch keine einzige Kirche von innen gesehen. Und das sind schon zwei Jahre.“

„Du wohnst erst zwei Jahre hier? Ich dachte, du wärst hier aufgewachsen.“

„Nein. Ich komm aus einer Dorf, ein bisschen weiter weg.“

„Wir sind also beide Landeier?“

„Kann man so sagen.“

„Und du wohnst hier alleine?“

„Nein, ich bin bei meiner Schwester eingezogen, die eigentlich für ihr Chemie-Studium hierher gezogen ist, und geblieben ist.“

Den Blick hatte er wieder Richtung Kirche gewandt. „Wirklich ein schönes Bauwerk...“

„Soll ich vielleicht ein Foto von dir machen?“

„Ja, das wäre schön! Komm doch mit drauf.“ Also schoss ich ein Selfie von uns mit dem Kirchturm im Hintergrund. Durch die Linse der Handykamera war es, als sähe ich ihn zum ersten Mal richtig an. Seine oberen Schneidezähne waren ein klein wenig länger als der Rest der Zahnreihe. Dazu dieses pausbäckige Gesicht und diese braunen Augen. Er sollte Werbung für Vollmilchschokolade machen, die Absatzzahlen würden explodieren.

„Ist das Foto nichts geworden?“, erkundigte sich David.

Ich räusperte mich. „Äh, doch“, erwiderte ich hastig. „Ich überlege nur, wie ich es dir schicke; am besten per E-Mail, wie ist denn deine Mailadresse?“ Er verriet sie mir und ich verschickte daraufhin das Foto.

„Danke. Du, Dominique. Hast du vielleicht noch Lust auf einen kleinen Spaziergang? Am Flussufer lang? Dort ist die Straßenbahn vorbeigefahren und ich fand die Aussicht so schön.“

„Ja, der Weg da ist schon cool.“

Also setzten wir uns in Bewegung, Richtung Haltestelle.

„Du bist wohl gerne zu Fuß unterwegs“, kommentierte ich seinen zügigen Gang. Kein Wunder, er war schließlich auf dem Jakobsweg gewesen.

„Naja, ich war schon immer gerne draußen in der Natur. Als Kind bin ich viel wandern gewesen, mit meinem Vater und meinem Bruder, im Wald oder in den Bergen. Und mein Vater weiß so viel über Tiere, Pflanzen, Steine...über alles Mögliche.“

Gerade kamen wir an der Eisdiele vorbei, die bei diesem Wetter gut besucht war.

„Magst du vielleicht ein Eis?“

Nun blieb David stehen. „Wenn sie veganes Eis haben, dann gerne.“

„Oh. Ich weiß nicht, ich frage mal eben nach.“ Also trat ich an das Fenster heran, wo mich die freundliche Bedienung sogleich empfing. Meine Frage musste sie leider verneinen und zerknirscht ging ich zu David zurück. Der nahm es ganz locker auf.

„Macht nichts, ich habe in der Innenstadt eine Eisdiele entdeckt, die veganes Eis herstellt. Dahin lade ich dich gerne mal ein.“

„Oh ja! Tu das. Noch bevor es Winter wird.“ David versprach es.

Der Weg führte am Fluss entlang, über ein kleines Waldstück aus der Stadt heraus und war im Sommer bezaubernd. Mit Marie war ich hin und wieder hier spazieren gewesen. Auf einer dieser Bänke hatten wir im Sommer gesessen, am letzten Tag vor ihrer Ausbildung. Ihr Kopf auf meinem Schoß gebettet, genauso wie jenes Paar dort. Schön war der Sommer gewesen, auch wenn wir nicht gemeinsam nach Paris gefahren waren.

Das Gefühl, sie an meiner Seite zu wissen, meine verrückten Gedanken mit ihr zu teilen und die Aussicht darauf, mich auch in zwanzig Jahren noch mit ihr zusammen zu erinnern, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, hatte mich optimistisch auf die Welt blicken lassen. Auf Anhieb konnte ich mir keinen anderen Menschen vorstellen, mit dem ich wieder so eine Verbindung haben würde. Oder wollte.

Um nicht länger über Marie nachzudenken, sagte ich zu David: „Erzähl mir doch von deinem Studium. Wie läuft es so?“

„Interessiert dich das wirklich?“

„Na klar! Wie kam es dazu, dass du Theologie studieren wolltest?“

„Das erschien mir schlüssig. Ich habe eine enge Verbindung zu Gott, meine ganze Familie eigentlich, wir sind jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich war Messdiener und bei den Pfadfinden und habe mein ganzes Leben schon die Traditionen und Bräuche zelebriert. Kirche ist einfach etwas Einmaliges. In der Kirche eint uns das, was uns in weltlichen Angelegenheiten trennt. Gott interessiert es nicht, wie viel Geld jemand hat.“

„Und was genau lernt man in diesem Studium? Sich Bestätigung von Professoren holen, dass das, was in der Bibel steht, das einzig Wahre ist?“ Zugegeben, etwas Provokation lag schon in meiner Frage.

„Ganz und gar nicht, im Gegenteil. Der Glaube ist nicht mal Zugangsvoraussetzung. Aber das erste Semester ist für mich auch ein bisschen desillusionierend, einfach weil ich es mir anders vorgestellt habe. Nicht im negativen Sinne. Sogar wahnsinnig spannend. Es geht viel ums Hinterfragen. Das, was wir in der Schule im Religionsunterricht gemacht haben, damit kann man es überhaupt nicht vergleichen.“

David erzählte mir mehr über den Inhalt seiner einzelnen Module und seine Dozenten. Deutlich hörte ich seine Begeisterung heraus.

„Ich glaube dir gern, dass dein Studium interessant ist, weil du dich mit Sachverhalten auseinander setzt, die dich interessieren. Aber danach? Pfarrer werden und in einer Kirche Gottesdienst halten, willst du das wirklich?“ Darüber schien er wirklich eine Weile nachdenken zu müssen.

„Pfarrer sein ist viel mehr als nur Gottesdienst halten: Für seine Gemeinde da sein, Seelsorger sein, Feste zelebrieren und Sakramente spenden. Es ist der schönste Beruf, den es gibt.“ Die Begeisterung sprudelte aus jedem seiner Worte. Einen kleinen Hauch Neid konnte ich nicht leugnen, darüber, dass er seine Profession gefunden hatte und ich dagegen noch nicht. „Aber ehrlich gesagt, bin ich mir noch nicht ganz sicher, ob ich danach wirklich Priester werden will. Das ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung“, schloss er. „Das sollte man reichlich gut überlegt haben.“

„Warum? Wegen dem Zölibat?“

„Ja, naja, nicht nur…“ Da vibrierte sein Handy zweimal. Er blieb stehen und holte es aus der Tasche, um eine SMS zu lesen. Es war spannend, ihn dabei zu betrachten. Wie sich seine Mimik veränderte.

„Hm“, machte er und packte das Handy wieder weg.

„Gute oder schlechte Nachrichten?“

„Kann ich noch gar nicht so genau sagen, ehrlich gesagt...“ Er schien wie ausgewechselt. Unser Gespräch war abgerissen und er fädelte es nicht wieder ein. Dabei brannten mir noch einige Fragen unter der Zunge.

„Dominique, ich würde jetzt ehrlich gesagt lieber umkehren, ich fürchte, ich habe mir eine Blase gelaufen.“

„Kein Problem.“ Also steuerten wir die Haltestelle an. Ich schielte fast zu offensichtlich auf seine Schuhe, die leicht getragen aussahen. Bekam man Blasen nicht eher von neuen Schuhen?

Davids Miene war sehr verkniffen. Er ging so zügig, dass ich Mühe hatte mit ihm Schritt zu halten – viel zu schnell für jemanden mit schmerzenden Füßen. „Danke für deine Zeit. Gott behüte dich“, verabschiedete er sich. Als ich mich dazu durchrang, mich noch ein Mal zu ihm umzudrehen, sah ich ihn nur über das Handy gebeugt an der Haltestelle stehen.

 

Polaroids

Wie jeden Montagvormittag im Altenheim stapelte ich die Kartons verschiedener Inkontinenzeinlagen auf einen Rollwagen, mit dem ich meine Runde durch die Station zog, um allen Bewohnern ihre Schränke aufzufüllen. Endlich war ich an Schikos Zimmer angekommen, das letzte Zimmer auf dem Gang.
 

Nach meinem Anklopfen und dem darauffolgenden Herein trat ich ein. Ich begrüßte den fast kahlköpfigen alten Mann, der in seinem Sessel saß und seine klobige Lesebrille zurechtrückte.
 

„Dominique.“ Er war einer der wenigen Besuchern, mit denen ich mich duzte. „Ich muss wohl eingeschlafen sein...“ Die Zeitung faltete er mit zittrigen Händen zusammen und legte sie auf den Beistelltisch. Gekleidet war er wie immer, mit einem karierten Hemd, das in seine Cordhose gesteckt war und Hosenträgern darüber.
 

Ich mochte die Ruhe und den Frieden, den sein Zimmer ausstrahlte. Die vielen gerahmten Fotos in Schwarz-Weiß und Farbe und auch die zahllosen Bücher ließen auf sein langes, erfülltes Leben schließen.
 

Ich fragte ihn, ob ihn wieder Schmerzen quälten, während ich die Tür seines Nachttisches öffnete und dort meine Arbeit verrichtete.
 

„Es geht. Man gewöhnt sich dran, dass immer etwas zwickt. Der Arzt hat mir ja schon die stärksten Tabletten verschrieben; es ist halt einfach das Alter, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Die morschen Organe, die wollen nicht mehr so wie ich.“ Er hustete. „Ich glaube, ein neues Buch fange ich besser nicht mehr an. Diesen Stapel da, kann ich zu Lebzeiten ohnehin nicht mehr fertig lesen.“ Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem Stapel Bücher auf seinem Nachttisch. So deprimiert kannte ich ihn gar nicht. „Ja, schau dich ruhig um, Junge, das ist es, was von einem Leben übrig bleibt – vergilbte Fotos und ein Stapel ungelesener Bücher. Und die Verwandtschaft lässt sich auch nur blicken, wenn sie was von einem braucht.“
 

Er schnäuzte sich die Nase, warf einen kritischen Blick in das Stofftaschentuch und verstaute es in seiner Hosentasche. „Aber mach dir um mich mal keine Sogen.“ Ein zuversichtliches Lächeln. „Was gibt es denn Neues bei dir?“
 

„Gestern war ich in der Kirche.“
 

„Aha. Online?“
 

Ich musste kurz lachen. „Nein, in echt, in einer richtigen Kirche.“
 

„Ja, weiß man es? Mit euren Onlinetafeln, die ihr überall mit hin schleppt heutzutage, da könnt ihr doch alles Mögliche machen. Wenn wir sowas nur gehabt hätten damals. Mein kostbarster Besitz als Bub war mein Taschenmesser! Jeder hat eines gehabt. Wie war denn die Messe?“
 

„Ich war nicht allein dort, sondern mit einem Freund. Sonst bin ich nie in der Kirche, aber mit ihm war es richtig cool. Er studiert Theologie, aber ob er Priester werden will, weiß er noch nicht.“
 

„Wirklich? Jemand in deinem Alter? Das ist ja wirklich selten heutzutage, eine richtige Rarität. Ach, die Anne würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, wie lang ich nicht mehr in der Kirche war. Unser Gemeindepfarrer, das war ein ganz lieber Kerl, der ist steinalt geworden, hat schon mich getauft, gefirmt, und uns getraut, und den Benedikt und die Elisabeth auch die Ulla getauft, bis er dann bald darauf gestorben ist, Gott hab ihn selig, den Mann. Den Michael hat dann schon der Neue getauft, ja das weiß ich noch. Ist viel Wert, so ein Pfarrer, mit dem man sich gut versteht. Bei dem neuen bin ich oft in der Messe eingeschlafen.“ Er lachte grunzend. „Der war irgendwie komisch, kam auch von woanders her, der hat nie so dazugehört wie der alte. Man hat auch gemunkelt, dass er nur Priester geworden wäre, weil er mit Frauen nix anfangen kann... Wie die Leute halt so reden. Muss dein Freund gut abwägen, ob das seine Berufung ist, so ein Zölibat ist sicher kein Zuckerschlecken.“
 

„Hm…“, machte ich nachdenklich.
 

„Na, aber jetzt erzähle mal, hast du was von deiner Marie gehört?“
 

„Sie hat mir zurückgeschrieben.“ Ich fasste ihm kurz den Inhalt von Maries Brief zusammen.
 

„Hm, soso. Und sie will dich gar nicht mehr sehen?“
 

„Das hat sie so nicht gesagt.“
 

„Junge, es wird doch wohl nix passiert sein? Die Anne war früher auch mal so komisch, ich dachte, die mochte mich nicht mehr. Ja und was war? Da war der Benedikt unterwegs, deswegen mussten wir heiraten, die Anne und ich. Das waren ganz andere Zeiten als heute. Ach, was waren wir jung gewesen!“
 

„Was?! Nein, unmöglich!“, widersprach ich.
 

„Das passiert ganz schnell, selbst wenn man aufgepasst hat, dass nix passiert“, sinnierte er, und mir wurde der Mund trocken. „Na, vielleicht ist ja auch nichts passiert, man muss ja nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, wenn die Frauen sich komisch benehmen. Junge, du bist ja ganz blass. Windeln wechseln kannst du doch ganz gut, du musst dir keine Sorgen machen, und volljährig bist du ja auch schon! Wir waren es erst mit Einundzwanzig.“ Er lachte heiser und schien plötzlich so weit weg zu sein. „Was für Zeiten! Aber manche Dinge ändern sich wohl nie, ja...“
 

„Ich muss jetzt weiter“, murmelte ich und verfrachtete den Windelwagen wieder hinaus in den Flur. Hinter mir im Zimmer lachte Schiko, bis er einen Hustenanfall bekam.
 

Ich versuchte mich zu beruhigen und mit Arbeit abzulenken. Doch es war wie eine Dosis lähmendes Gift, das Schiko mir mit diesem Gedanken injiziert hatte, auch wenn das nicht seine Absicht gewesen war, und den ganzen Tag lang stellte ich mir die unmögliche Frage: Was, wenn Marie von mir schwanger war? In dieser Angelegenheit war sie stets sehr gewissenhaft gewesen und hundertprozentige Garantie gab es nie. Doch… Immerhin hatte sie ihre Eltern erwähnt und Familienfotos… Fuck, passte das nicht alles unheimlich gut zusammen? Meine Kehle trocknete aus, meine Hände dagegen waren schweißnass und mir wurde schlecht. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, ihren Brief nochmal gründlich, auch zwischen den Zeilen zu lesen und meine Antwort zu verfassen.
 

Liebe Marie!
 

Dein Vergleich mit der Leinwand spricht mir so aus der Seele. Ich weiß auch noch nicht, wohin mit mir. Wo mein Platz ist, beruflich gesehen. Naja, und nicht nur beruflich. Aber ich mache ja jeden Tag neue Erfahrungen und auch im fortgeschrittenen Alter werde ich immer noch Neues entdecken, denn die Welt ist groß.
 

Ich wünschte trotzdem, ich könnte ein halbes Jahr vorspulen und hätte diese Entscheidung dann längst getroffen. Unsere Generation hat heutzutage wohl einfach viel zu viele Möglichkeiten, sich zu entfalten, wir leben im Frieden und im Überfluss und sind keine Krisen gewohnt und permanent online. Das ist so das, was ich von den alten Leuten im Altenheim oft gesagt bekomme. Ich würde echt nicht gerne mit ihnen tauschen wollen, wegen diesen ganzen Entbehrungen, die sie hatten und die ganzen Erfindungen, die es noch nicht gab zu ihrer Zeit wie Internet, Fernsehen, Waschmaschinen!!! Einfach alles, was heutzutage, selbstverständlich ist... Das ist sehr taff, digitales Detox durchzuziehen. Ich könnte es nicht, Marie!
 

Neulich hat Jo mich mit jemanden von seiner Uni bekannt gemacht, der noch ein altes Handy benutzt und SMS schreibt und auch sonst irgendwie sehr eigenartig ist. Aber nicht auf negative Weise, sondern auf eine coole. Du würdest ihn sicher mögen.
 

Marie. Wir hätten definitiv mehr reden sollen, ja, ich bereue das sehr, jetzt im Nachhinein. Es stimmt nicht, dass es mich nicht interessiert, was mit dir los ist, vielleicht halt nicht im Detail Deine ganzen Sprünge und Choreos, über die Du mir immer so viel erzählt hast – ganz ehrlich, es ist nicht viel hängen geblieben, wie die alle heißen, und ja, vielleicht hat es mich manchmal gelangweilt. Wenn ich dir aber zugesehen hab, wie Du das Publikum verzaubert hast, dann war nur eine selbstbewusste junge Frau, die wusste, was sie tut und nicht dieses an allem zweifelnde Mädchen, das ich aufbauen musste vor einem Wettkampf (oder einer Klausur) obwohl es das nicht nötig hatte.
 

Ist doch verdammt cool, dass du ausziehst! Wie ich Dich kenne, machst du dir wieder einen Kopf - aber Du wirst auch das mit Leichtigkeit wuppen!
 

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich möchte Dich nicht verlieren, Marie. Ich bin so froh, dich kennengelernt zu haben, denn ohne dich wäre mein Leben um einen wundervollen Menschen ärmer. Egal was du gerade durchmachst, lass mich daran teilhaben! Man kann nicht immer alles alleine stemmen, erst recht wenn man erst 19 ist. Manche Lasten sind zu schwer zu tragen für einen alleine, erst recht wenn es zwei verbockt haben. Was auch immer ist, du kannst auf meine Unterstützung zählen! Ich kann was, ich muss ja immerhin jeden Tag Leute anziehen und waschen und zur Toilette bringen. Hier im Altenheim lernt man wirklich was fürs Leben, will ich damit sagen. Du kennst zwar mich, aber noch die alte Version von mir. Lerne doch die 2.0 kennen!
 

Dominique


 

Die Tinte noch nicht trocken, tütete ich ihn ein und klebte vor lauter Hast die Briefmarke schief aufs Kuvert. Egal. Ich schnappte mir meine Jacke und unternahm einen langen Spaziergang zum Briefkasten, während es draußen dämmerte. Zwei öde Wochen lang sollte ich nichts mehr von ihr hören. Dafür aber regelmäßig einen Zweizeiler von David. Am Samstag wollte er mich in die vegane Eisdiele einladen.
 

~
 

Während ich in besagter Eisdiele saß und auf David wartete, textete mich Jo im Chat zu. Nun wusste er endlich, wie die Asiatin hieß, hatte er mir stolz berichtet: Xia.
 

Hast du Bock auf die Halloweenparty auf dem Campus, heute Abend?, fragte er.
 

Nein, hab ich nicht, antwortete ich ganz ehrlich. Gehst du nur dorthin, weil Xia zufällig auch hingeht? Mir konnte er doch nichts vormachen.
 

Vielleicht lernt du ja dort eine kennen, die dich von Marie ablenkt. Als ich das las, schnappte ich nach Luft.
 

Ich brauche keine Ablenkung! Wir kommen wieder zusammen! Warts nur ab!
 

Wenn du meinst. Glaube versetzt ja bekanntlich Berge, schrieb er vielsagend und brachte mich auf die Palme damit. Wollte er damit andeuten, dass er mehr wusste als ich?
 

„Hallo, Dominique“, hörte ich eine bekannte Stimme.
 

„David! Hi.“ Als ich den Kopf hob und sein Gesicht erblickte, spürte ich regelrecht, wie sich meine Miene wieder glättete.
 

Er setzte eine uralt aussehende Umhängetasche aus Leder auf dem Boden ab, bei der ich mich fragte, wie viele Generationen sie auf dem Buckel hatte, weil sie roch wie ein altes Tier. Auf dem Stuhl mir gegenüber nahm er Platz, entschuldigte sich wieder einmal für sein Zuspätkommen, doch ich winkte nur ab und legte das Handy beiseite.
 

„Halloween-Party, gehst du da hin?“
 

David schüttelte den Kopf. „Ich habe das noch nie gefeiert, warum auch? Es ist ein ursprünglich keltisches Fest, bei dem einem Totengott gedacht wird. Meine Familie feiert Allerheiligen.“
 

„Interessant“, machte ich nur. In diesem Moment kam er mir so seltsam fremd vor, als käme er aus einem ganz anderen Kulturkreis.
 

„Jo versucht mich überreden mitzukommen, aber da will er doch nur hin, weil diese Xia hingeht. Da wäre ich also das fünfte Rad am Wagen… daher dachte ich an dich.“
 

„Oh, um Xia geht es also“, meinte er, hellhörig geworden und räusperte sich. „Heute in der Mensa habe ich ihm den Gefallen getan, sie zu fragen, wie sie heißt, und in welchen Kurs sie geht. Da hat sie die Party erwähnt.“
 

„Warum hast du das denn getan?“ Ich war baff. Jo hatte sie also nicht mal selbst angesprochen.
 

„Naja. Ich konnte es nicht länger mit ansehen, wie er sie von Weitem anhimmelt und sich einfach nicht an sie heran traut. Das ist doch traurig. Aber er hätte mich dafür fast gefressen. Muss wirklich ein schlimmes Gefühl sein, wenn man sich so sehr eine Freundin wünscht, aber es dann immer selbst vereitelt. Er tut mir irgendwie leid“, murmelte David vor sich hin.
 

Ich prustete. „Am Ende muss er noch ins Kloster, der Ärmste.“ Erst als ich seinen Blick sah, wurde mir bewusst, was ich da gesagt hatte.
 

Dass gerade die Kellnerin kam und uns die Speisekarten brachte, kam mir sehr gelegen, ich vergrub meinen Kopf regelrecht darin, obwohl ich schon längst wusste, dass ich mir ein Spaghetti-Eis bestellen würde.
 

Ich hörte David sich räuspern und wusste, dass das jetzt noch so einiges kommen würde.
 

„So denkst du also darüber, Dominique?“
 

Ich verkroch mich noch tiefer in der Speisekarte, doch es nützte nichts, er sprach weiter: „Wer keine abbekommt, muss ins Kloster? Wer keine Frau an seiner Seite hat, ist kein vollwertiger Mensch, und hat in der Gesellschaft keinen Platz, deiner Meinung nach? Kommt dir überhaupt nicht in den Sinn, dass man sich sogar freiwillig der Ehelosigkeit, und einem höherem Ziel im Leben verschrieben haben könnte, nämlich der Suche nach Gott?“
 

Ganz tapfer hob ich den Blick und schaute ihm in die Augen. Er sah jedoch nicht aufgebracht aus, eher ruhig und gelassen.
 

„Ich habe darüber noch nie nachgedacht, David. Entschuldige.“
 

„Warum entschuldigst du dich?“
 

„Weil ich dich nicht beleidigen wollte.“
 

„Du hast mich nicht beleidigt. Es ist aber nicht damit getan, sich zu entschuldigen. Man sollte schon auch etwas dazulernen wollen, denn deine Aussage zielte ja nicht darauf ab, jemanden zu beleidigen, sondern du bist einfach nur falsch informiert, schon allein, dass du Mönche und Priester in einen Topf wirfst.“
 

„Das ist halt nicht meine Welt, David.“
 

„Es interessiert dich ja auch nicht wirklich.“
 

„Stimmt“, gab ich zu. „Wieso auch?“
 

„Weil du getauft bist.“
 

„Ja und? Das habe ich mir nicht ausgesucht, das haben meine Eltern so arrangiert.“
 

Er seufzte. Unser Gespräch unterbrach kurz die Kellnerin, um die Bestellungen aufzunehmen. Ich bestellte das gleiche wie David.
 

„Weißt du, nach dem Abi wäre ich am liebsten eine Zeit lang in ein Benediktiner-Kloster gegangen. Noah hat mir aber geraten, lieber gleich mit dem Studium anzufangen. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen...“
 

„Du hast ernsthaft darüber nachgedacht, ins Kloster zu gehen?“
 

„Zumindest auf Zeit. So etwas gibt es zur Orientierung.“ Er nahm den Saum seines Pulloverärmels und zwirbelte ihn zwischen den Fingern. „Auf dem Camino habe ich jemanden kennengelernt, der ins Kloster wollte. Leider weiß ich nicht, wie das ausgegangen ist.“
 

Ich schaute mich um, bemerkte, dass fast nur Pärchen an den anderen Tischen saßen. Ich hörte David tief seufzen, dann wühlte er in seinem Lederrucksack. „Womit wir beim Thema wären: Magst du meine Fotos vom Camino sehen?“ Er nahm aus seiner Umhängetasche eine hübsche Blechdose, die für Kekse wie geschaffen war.
 

„Ja klar!“
 

Die nächste Zeit waren wir damit beschäftigt, ein Polaroid nach dem anderen zu betrachten und unser Eis dabei zu löffeln. Zu jedem der spanischen Landschaften, Straßen, Hinweisschildern mit Muschelsymbolen oder Sehenswürdigkeiten sagte er ein paar Worte, doch mich ermüdete das Ganze nach kurzer Zeit.
 

„Das ist die Kathedrale von Santiago de Compostela. Das Ziel der Reise, wo das Grab des Apostels Jakobus liegt“, sagte er irgendwann zu dem letzten Foto, auf dem eine sehr imposante Kirche abgebildet war und reichte es mir.
 

Ich betrachtete das Foto ausgiebig. Ja. Eine Kathedrale. Nett anzusehen. Wie all diese Fotos. Aber das konnte doch nicht alles sein. David schaute mich gespannt an, und ich druckste herum.
 

„David. Warum bist du selbst denn auf keinem einzigen Foto zu sehen?“
 

Er starrte mich mit offenem Mund an, legte den Kopf schief. „Das ist doch keine Selfie-Tour, die man dann im Internet hochlädt, um Applaus zu bekommen. Gut, jeder geht diesen Weg aus anderen Gründen, aber mein Ziel war ein anderes.“
 

Ich kam nicht umhin zu grinsen. „Ah ja, dein Ziel war ein Höheres“, klaute ich mir seine Worte. „Deswegen hast du auch nur austauschbare Fotos von irgendwelchen Wegen, Flüssen, Bergen und Mauern gemacht, anstatt von dir oder den Menschen, die dort leben. Die hätte ich im Internet auch finden können. In zehn, zwanzig Jahren wirst du dir doch bestimmt wünschen, dass du Fotos von dir auf dieser Reise gemacht hättest.“
 

Fast schien es, als biss er auf die Knöchel seiner Faust. „Doch, natürlich gibt es auch Fotos von mir!“
 

„Na, da bin ich aber froh, wirklich.“
 

Und warum zeigte er mir sie dann nicht? Weil wir uns noch nicht so lange kannten, und noch Lichtjahre davon entfernt waren, Freunde zu sein? Dann war dieses Treffen hier die reinste Zeitverschwendung. Enttäuschung, das war alles, was ich fühlte. Wie bei einem Lostopf den Trostpreis zu ziehen. Das war doch gequirlte Scheiße! Ich erhob mich so ruckartig, dass der Stuhl über den Boden quietschte.
 

„David, danke für das Eis, ich gehe jetzt nach Hause.“
 

~
 

Lieber Nicki!
 

Nächstes Mal bitte mit Spoiler-Warnung, wenn du so ein Riesenlob über mich schreibst, okay? Sonst werd ich noch ganz rot!
 

Krass was du für Leute kennenlernst. (Mir fehlt dieser eine Emoji! Du weißt genau, welchen hihi) Scheint in deinem Leben gerade voll abzugehen. Seit die Schule aus ist, habe ich ehrlich gesagt eher Leute verloren, von wegen Kontakt halten, haha der war gut! Wer nicht an die Uni geht, vereinsamt. Berufsschule habe ich ja im Block, nächstes Jahr erst. Ich würde so gerne andere Azubis kennenlernen. Wenn doch nur die Firma größer und ich nicht die einzige Azubine wäre! Meine Kollegen könnten vom Alter her meine Eltern sein… Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Aber so ein Praktikum bereitet null auf die Arbeitswelt vor. Und die Schule bereitet nicht aufs Leben vor!
 

Du, ich muss dir etwas beichten: Nämlich bin ich schon lange nicht mehr zum Training gegangen. Seit die Saison begonnen hat, um genau zu sein. Als es meine Mutter rausfand, ist sie ausgerastet und hat rumgeschrien, aber mittlerweile sagt sie gar nichts mehr. Sie redet wirklich kein einziges Wort mehr mit mir. Wahrscheinlich will sie das so lange durchziehen, bis ich wieder zum Training gehe, aber da kann sie lange warten. Ich sehe überhaupt keinen Sinn mehr in diesem Sport! Ich habe es nie wirklich in Frage gestellt, weil es etwas ist, das ich tue, seit ich denken kann. Weil meine Mutter das so für mich vorgesehen hat und ich als Kind nichts zu melden hatte. Soviel Zeit und Geld reingesteckt und auf so vieles verzichtet, dann kommt nichts dabei raus!!! Nur einmal der dritte Platz, seit ich bei den Senioren bin! Ich bin so durch damit, ich werde die Halle nie wieder betreten.
 

Erzähl mir doch bitte in deinem nächsten Brief etwas, was du bisher noch niemandem erzählt hast! Ich bin gespannt!
 

Liebe Grüße,
 

Marie
 

PS: Hab dir ein Aquarell von mir beigelegt.


 

Puh. Sie war also glücklicherweise nicht schwanger, das hätte sie erwähnt. Nun konnte ich wieder beruhigt schlafen. Ich legte den Brief weg und betrachtete ihr Aquarell. Eine Rispe Tomaten, in korrekter Tomatenfarbe, in einem fotorealistischen Stil, mit ausgeprägten Licht- und Schatteneffekten, sodass man es für ein Foto halten könnte. Marie. Was immer dieses Mädchen anpackte, machte sie richtig. Bildete ich mir ein, ihr Parfüm zu riechen? Immer mit einem zackigen Messer schneiden!, stand auf der Rückseite und ich grinste und dachte daran, wie ich sie mit einem Pflaster verarzten musste, als wir zusammen Tomatensalat gemacht hatten, und ihr diesen Rat gab.
 

Das Lächeln war immer noch auf meinen Lippen, als ich an den Küchenschränken einen Platz für das Bild suchte.

Zigarette

Fatima, saß mir im Pausenraum gegenüber. Bereits aufgegessen, wischte sie auf ihrem Handydisplay herum. „Bin schon gespannt auf den Neuzugang morgen.“

„Mh“, brummte ich teilnahmslos und schob die öligen Fischstäbchen von einer Ecke in die nächste, heute hatte ich überhaupt keinen Appetit.

„Ich will noch gar nicht an einen Neuzugang denken. Schiko fehlt mir unglaublich!“ Der Schock, zu erfahren, dass er am Wochenende mit sechsundachtzig Jahren verstorben war, versaute mir den Tag. Ach was, das restliche Jahr! „Er war doch noch so fit gewesen, ich hatte damit nicht gerechnet. Und er wollte mir richtig Schach beibringen...“ Schnell blinzelte ich Tränen weg.

„Manchmal geht es echt schnell“, meinte Fatima nur. An ihr ging das spurlos vorüber zu gehen, knallhart professionell und das bereits in der Ausbildung. Ich las die einkommende Nachricht.

Diesen Samstag ist wieder Gitarrhö im QUAKE. Kommst du wieder mit?, fragte Jo im Chat.

Ich weiß noch nicht, David wird wohl nicht mitkommen?

Glaub ich nicht.

„Heute Nachmittag sollen wir doch den Weihnachtsbaum aufstellen“, erinnerte mich Fatima,

„Hmm“, murmelte ich. Motiviert dazu war ich gleich null. Was für ein Tag.
 

~
 

„Puuhh…“ Zwei Stunden später kroch ich am Boden herum, und sollte diese beiden Enden ineinander stecken und festschrauben. Wer hatte sich so eine Technik ausgedacht, und wie alt war dieser klapprige Weihnachtsbaum überhaupt?

„Domi, du so bist so schlapp, geh mal ins Fitti!“, machte sich Fatima über mich lustig, während ich mit dem künstlichen Baumstamm hantierte. „Meinen Sie nicht auch, Frau Spinnler? Dass er mehr Sport treiben sollte?“

„Jaja, der junge Bursche könnte kräftiger sein. Sollte viel essen, damit er nicht vom Wind davon geweht wird“, stimmte ihr die Bewohnerin zu. Ich erwiderte lieber nichts, denn vor Frau Spinnler hatte ich Respekt, seit sie aus Wut einen Schuh nach mir geworfen hatte, als ich an meinem zweiten Tag das Anklopfen vergessen hatte. Während man zu den Herzen der anderen Bewohner mit der Zeit eine Brücke baute, war es bei ihr eher ein Pfad, den man sich durch dorniges Gestrüpp hindurch freikämpfen musste, das von einem Tag auf den nächsten wieder zugewuchert sein konnte.

Da gab es ein Knacken und der Keil rastete endlich ein. „Ich hab´s geschafft!“, rief ich aus und richtete mich wieder auf. „Steht er gerade?“

Einen Schritt trat ich zurück, um das zu überprüfen und war stolz auf mein Werk. Plötzlich hörte ich etwas knistern an meinem Ohr und dann verbarg mir etwas silbrig schimmerndes die Sicht.

„Fatima!“

„Hihihi, Lametta steht dir gut!“, kicherte sie und schoss mit ihrem Handy Fotos von meiner glitzernden Perücke. „Komm, Silberlöckchen, häng dir doch noch zwei Christbaumkugeln an die Ohren, das sieht so crazy aus, das muss ich posten!“

„Wehe, du postest dieses Foto, das verbiete ich dir!“, warnte ich sie, und musste aber doch loslachen. Das Lametta rückte ich mir zurecht und posierte, die beiden Christbaumkugeln an die Ohren haltend, für ein weiteres Foto. Bis ich ein Räuspern hinter mir vernahm. Sofort sprang ich einen Schritt zur Seite. Das leise Pling der Fahrstuhltüren musste ich in unserem Lachen überhört haben.

„Das nennst du also arbeiten, Dominique mit Q?“, vernahm ich eine tiefe Stimme hinter mir.

Der hellblonde Mann, der mich angesprochen hatte, schob einen alten Herrn im Rollstuhl aus dem Aufzug. Das Lametta riss ich mir vom Kopf. Oh mein Gott… Sandro! Von der Band! Heute ganz anders gekleidet als neulich auf der Bühne: ungeschminkt, ohne Sarg-Kette und Killernieten-Armbänder. Ein biederer, unscheinbarer Typ mit nach hinten gegelten Haaren anstatt zu Berge und Sportschuhen. Man würde überhaupt nicht darauf kommen, dass er mit einer E-Gitarre einen Saal zum Beben bringen konnte. Starrte ich? Wahrscheinlich schon.

„Kennt ihr euch?“, fragte Fatima.

Ich schluckte nur, während ich nach Worten rang und weiterstarrte. Da stand er direkt vor mir, auch noch an meinem Arbeitsplatz! Und hatte mich in einem total peinlichen Moment erwischt. So albern war ich eigentlich nicht, nur wegen Fatima hatte ich mich hinreißen lassen. Was suchte Sandro hier überhaupt?! Ausgerechnet hier? Er als einziger von Kopf bis Fuß in tintenschwarze Kleidung gehüllt wie der Todesengel höchstpersönlich.

„Na, du bist mir einer. Dass du mich schon vergessen hast“, zog Sandro mich auf, und ich wollte im Boden versinken. Fatimas Blick spürte ich deutlich auf mir und meine Wangen wurden heiß.

„Ich…ähm… Also, ist dein Großvater unser Neuzugang, oder was?!“ Etwas anderes fiel mir in diesem Moment nicht ein, ich musste mich immer noch um Fassung bemühen.

„Mein… Vater“, korrigierte er mich. Aber diese Pause dazwischen! Als hätte er tatsächlich einen Moment darüber nachgedacht, sich als sein Enkel auszugeben.

„Sorry.“ Man sollte wirklich nie von Äußerlichkeiten auf etwas schließen, das war so gut wie immer der direkte Weg ins Fettnäpfchen.

„Sein Name ist Siegfried Schwarzer. Und auf der Warteliste stand er schon länger, als du hier geplant warst.“

„Okay...“ Damit wandte ich mich dem Patienten zu. „Guten Tag, Herr Schwarzer. Willkommen bei uns, auf Station Mohnblume. Ich bin Dominique, Ihr Pfleger.“ Doch bekam bis auf ein Blinzeln keine Reaktion von diesem Mann, seine Mimik blieb steinern und unverändert und grimmig. Unter seinen kurzen schlohweißen Haaren schimmerte rosige Kopfhaut hindurch. Die rechte Gesichtshälfte neigte sich zur Seite der Kopfstütze, die komplette rechte Körperhälfte schien wie erstarrt. Ich tippte auf Schlaganfall, vielleicht sogar mehrere. Sandros Vater also. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, war überfordert mit der ganzen Situation. Surreal, wie ein Traum, das alles.

„Wie schön!“, gab Fatima mit entzücktem Tonfall von sich und lockerte die Spannung etwas auf.

„Wir sollen uns bei der Stationsleiterin melden“, sagte Sandro.

„Ich bring euch hin“, bot ich sofort an. „Fatima, ich bin gleich zurück.“

„Sie da“, sprach Frau Spinnler Sandro an, bevor wir uns entfernen konnten. „Sie sind doch so schön groß. Könnten Sie nicht die Spitze oben auf den Baum setzen?“ Das formulierte sie nicht wie eine Frage, sondern wie einen Befehl in ihrer schroffen Art.

Er starrte erst sie unbeholfen an, dann mich, und ich setzte an, etwas zu sagen. Doch da nickte er und nahm die Spitze entgegen, besah sie sich kurz und steckte sie dann mühelos auf den Baum, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen. Lediglich sein Pullover rutschte ein Stückweit nach oben, offenbarte für einen Augenblick nackte Haut an seiner Leiste. Das waren mal Bauchmuskeln! Wie oft sah man denn so etwas in freier Wildbahn?

Fatima klatschte Beifall, und Frau Spinnler bedankte sich. „Natürlich wär es schöner, wenn es eine echte Tanne wäre. Aber wir sind froh, dass wir überhaupt einen Christbaum haben. Wenn es jetzt, Anfang November, auch noch viel zu früh ist, ihn aufzustellen. Komische Zeitplanung hier, die halten uns wohl alle für dement.“ Niemals Lob ohne Kritik, das war typisch für Frau Spinnler.

Mit einem Blick bedeutete ich Sandro, mir mit dem Rollstuhl zu folgen. Schweigend gingen wir nebeneinander den Flur entlang, der Gang, den ich jeden Tag mehrmals entlang ging, aber nie war ich ihn so angespannt gegangen wie in diesem Moment. Tausende Gedanken strömten mir durch den Kopf. Wir gingen vorbei an unserem Balkon und den Türen zu den Einzelzimmern der Bewohner auf der rechten und den Doppelzimmern auf der linken Seite. Zimmerpflanzen fristeten da und dort in den Ecken ihr Dasein, wurden von Bewohnern mit grünen Daumen liebevoll gehegt und gepflegt, wie diese erstaunlich riesige Dattelpalme dort. Fotos und Bilder von Mohnblumen zierten die Wände, damit man auch wusste, dass man sich auf Station Mohnblume befand, und nicht etwa auf Sonnenblume eine Etage tiefer. Eine Blume, deren Farbe mir im Übrigen mehr zusagte und die ich nicht mit Schlaf, Tod und Knitterigkeit in Verbindung brachte. Knittrig wie Sandros Stirn, wie ich von der Seite bemerkte.

An diesem Ort schien er sich ziemlich verloren vorzukommen, dauernd schaute er sich nach allen Richtungen um. Damit erinnerte er mich an meinen ersten Tag hier auf der Station, im Spätsommer. Ich kam mir vor wie auf einem fremden Planeten gestrandet. Bereute meine Bewerbung. Bis ich meinen Rettungsanker in Schiko fand. Vor meinem geistigen Auge lief diese erste Begegnung wie in einem Film ab, ich hörte seine Stimme als wäre er anwesend: „Du bist der Neue? Ich bin der Alte“, waren seine ersten Worte gewesen, gefolgt von einem Lachen, das solche Herzlichkeit verbreitete. Immer war er gut gelaunt und zu jedem freundlich gewesen. Ein Mensch, der wirklich mit sich im Reinen gewesen war, weil er ein erfülltes Leben gelebt hatte und sein Gesicht durchzogen von unzähligen Lachfalten. „Könntest du mir vielleicht den Knopf an meiner Jacke zumachen? Heute machen die Finger nicht so mit. Ich bin übrigens der Schiko.“ Mehr brauchte es nicht, um das Eis zwischen uns zu brechen. Denn alte Menschen kannte ich bisher nur aus sicherer Distanz heraus, jeder von ihnen ähnlich farblos und verbraucht aussehend.

Das alles ging mir im Kopf herum, während wir schweigsam den Weg beschritten. Nichts von all dem sprach ich aus. Meine Lippen waren wie zugewachsen. Auch Sandro blieb stumm. Vielleicht war er war schüchtern bei Tageslicht und ohne schützende Gitarre. Oder er hatte schlicht kein Bock auf ein Gespräch mit mir.

„Sekunde“, sagte ich, als ich an dem kleinen Beistelltisch vorbeikam, an dem das Ewige Licht brannte, genauer gesagt ein batteriebetriebenes Teelicht, das einzig an Karfreitag ausgeschaltet wurde, wie mir unsere Teamleiterin erklärt hatte. Daneben lag ein aufgeschlagenes Fotoalbum, die Seiten in schwarzem Papier.

Wolfgang „Schiko“ Schikolowski, stand dort mit fettem silbernem Edding geschrieben, neben seinen Daten. Nie hatte er mir seinen Vornamen genannt; er war für jeden Schiko gewesen, sogar seine Frau hatte ihn so gerufen. Ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm klebte daneben, einige Mitbewohner hatten bereits ihre Anteilnahme und Dank für die Zeit miteinander ausgedrückt und unterschrieben.

Sonst tat ich das nicht, aber jetzt ergriff ich den Stift, der dort lag, nahm das Album und schrieb zwei Zeilen auf das dicke Papier.

Sandro, dem die Frage ins Gesicht geschrieben stand, erklärte ich nur: „Das ist unser Gästebuch, wo wir den verstorbenen Bewohnern die letzte Ehre erwiesen.“ Er sagte nichts dazu und wir gingen weiter.

„Danke fürs Hinbringen“, sagte er, als wir angekommen waren und parkte den Rollstuhl seines Vaters neben der Sitzbank, auf der er sich niederließ zum Warten. Seine Stirn war dabei in tiefe Falten gelegt wie ein ungebügeltes Hemd. Ihn zum Lachen bringen, wenigstens zum Lächeln, einem ehrlichen Lächeln, das nahm ich mir in diesem Augenblick fest vor, so lautete die Challenge. Man soll seine Herausforderungen ja nicht zu niedrig ansetzen.

„Ah, Herr Kamhart!“, rief mir meine Schichtleiterin zu, die gerade aus dem Stationszimmer kam. „Haben Sie den Baum aufgestellt?“

„Ja, er steht“, sagte ich und registrierte Sandros Prusten, dem wohl alles abverlangte, nicht lauthals loszulachen. Ein Zischen wie von einem Fahrradreifen, aus dem die Luft herausströmte. Was hatte der denn für einen pubertären Humor? Aber gelacht war gelacht. Ging ja verdammt schnell.
 

~
 

Einige Stunden später, zur Abendbrotzeit, kam ich auf meinen Weg über den Flur an unserem Balkon vorbei, wo die Kolleginnen gerne ihre Zigarettenpausen verbrachten und miteinander schwatzten. Die Wolken am Himmel hatten eine Färbung wie Himbeerjoghurt angenommen. Von hier oben aus konnte man die Aussicht auf die verwaschene Silhouette der Wolkenkratzer in der Ferne genießen, sofern man diesen Anblick denn schätzte. Nicht nur deswegen blieb ich stehen.

Atemluft und Rauch ausblasend, lehnte dort Sandro am Geländer. Mir den Rücken zugedreht, ahnte er noch nicht einmal, dass er beobachtet wurde. Dass er immer noch hier war, Stunden später, als die Besuchszeit längst vorüber war - hoffentlich erwischte ihn niemand. Das Zigarettenende zwischen seinen Fingern glühte auf, und sofern ihm kalt war, ließ er sich das nicht anmerken. Vor dieser Kulisse kam er mir wie der einsamste Mensch auf der Welt vor. Waren seine Gesichtszüge wenigstens jetzt mal entspannt, während er seiner Nikotinsucht frönte? Doch er tat mir nicht den Gefallen, sich umzudrehen und mir sein Gesicht zu zeigen. Ich wollte mich ja noch bei ihm entschuldigen, für seine Nase, das hatte ich ganz vergessen…

Fast zu Tode erschreckte mich die Stimme von Frau Spinnler: „Ein schöner Sonnenuntergang heute, nicht wahr?“

Ich drehte mich zu ihr um. Wie sie dasaß, in der schlecht einsehbaren Nische bei der Dattelpalme, auf ihrem Rollator, ein Buch auf dem Schoß. Ich hätte sie niemals entdeckt.

„Ja“, sprach ich leise, wie ein Geheimagent zu einem anderen bei einem diskreten Treffen. „Das stimmt, da haben Sie recht.“ Außerdem fasste ich mir ein Herz und fragte: „Was lesen Sie denn da?“

Einige Sekunden betrachtete sie mich, und ich bereute schon die Frage, da hob sie langsam das Buch von ihren Knien, damit ich das Cover betrachten konnte: Vor der Kulisse der sinkenden Sonne auf hoher See, verdrehte eine Frau im Puffärmelkleid die Augen, als würde sie gerade in Ohnmacht fallen, durch die Umarmung des langhaarigen blonden Piraten, dem vor lauter Muskelbergen sein Hemd zu platzen drohte.

„Schiff der Leidenschaft“, las ich den Titel. Für jemanden, der Kitschromane konsumierte, hatte ich sie wirklich nicht gehalten.

„Na, dann viel Spaß beim Lesen. Ich gehe mal zu ihm raus.“

„Das würde ich besser unterlassen“, widersprach mir Frau Spinnler mit Schärfe in der Stimme.

„Warum?“, fragte ich eingeschüchtert nach.

„Er raucht jetzt schon seine zweite. Lass ihn für heute besser in Ruhe. Er ist wirklich noch sehr jung...“

„Ich habe ihm aber etwas Wichtiges zu sagen.“

„Das kann bis morgen warten“, sagte sie bestimmt. Was machte sie denn so sicher, dass Sandro morgen noch einmal kommen würde? Bedächtig fügte sie hinzu: „Dieser Mensch hat eine sehr dunkle Aura.“
 

~
 

Am nächsten Tag war Sandro tatsächlich wieder da. Rauchend am Balkongeländer, gegen halb zwölf, kurz vor Ende der Besuchszeit. Ich überlegte kurz, dann fasste ich mir ein Herz und schob die Balkontür zur Seite.

„Hey“, sprach ich ihn an, und fügte flapsig hinzu: „Besitzt du eigentlich nur Klamotten in Schwarz? Weil das leichter zu waschen ist?“

Er rührte sich nicht und ich biss mir auf die Lippen. Konnte ich gut nachvollziehen, nach diesem mehr als beschissenen ersten Eindruck im Club, den ich bei ihm hinterlassen hatte… ich hatte mir wohl nur eingebildet, dass ich gestern einen Zugang zu ihm gefunden hätte.

Ich ging trotzdem die paar Schritte zum kalten Geländer und lehnte mich ebenfalls dort an, da erst registrierte er meine Anwesenheit, nahm sich die kabellosen Kopfhörer aus den Ohren und verstaute sie in der Jackentasche.

„Hey. Was hörst du dir an?“

„Ach, nichts Ausgereiftes.“ Zwischen seinen Fingern glühte eine Zigarette, die schon fast zu Ende war. Er blies Rauch aus und warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu. „Willst du dir eine schnorren?“

„Nein, danke, ich rauche nicht. Ich wollte mich nur entschuldigen, für deine Nase, eigentlich schon gestern. So bin ich nicht, musst du wissen. Wirklich, ich hab noch nie jemanden geschlagen, es war keine Absicht.“

„Ach nein?“ Er nahm einen weiteren Zug. „Hat nur für meine Nase keinen Unterschied gemacht, ob Absicht oder nicht.“

Hilflos reckte ich die Arme in die Luft. „Sorry! Meine Freundin hat Schluss gemacht. Da sind mir einfach die Sicherungen durchgebrannt.“

Er kräuselte schon wieder so die Stirn. „Aha. Und darüber wunderst du dich ernsthaft?“

„Hey! Ich habe sie nie geschlagen!“, verteidigte ich mich, doch sein Blick sprach Bände. Das war ja wohl die Höhe! Gleichzeitig fragte ich mich, wieso mir überhaupt wichtig war, was er von mir hielt. „Sie ist einfach so seltsam zur Zeit…“

„Bei Freundinnen kann ich nicht mitreden. Ich bin nämlich schwul.“

Oh mein Gott! Klar, Jo hatte ja so etwas angedeutet, es gab Gerüchte – aber es ihn so laut herausposaunen zu hören, das kam unerwartet!

Stille. Die Wirkung dieses Comingouts auf mich schien ihn zu amüsieren, während er noch einen Zug nahm. Wollte er mich provozieren? Schauen, ob ich noch einmal zuschlagen würde? So zu tun, als hätte er nichts gesagt, schien mir die beste Lösung.

„Letztendlich hat es dir ja PR verschafft, was haben sie geschrieben? Gewagte Kriegsbemalung! Du bist offiziell ein Badboy!“ Das war als Witz gemeint, doch was darauf folgte, hatte ich nicht absehen können: Sein Mund verzog sich auf dieselbe Art zu einem Lächeln, wie sich die Sonne ihren Platz nach einer Sonnenfinsternis zurück erkämpfte, entblößte seine Eckzähne. Ganz genau auf diese Art. Als wäre sein Lächeln die Normalität; der Urzustand, den sein Gesicht am besten kleidete und sein ernstes Alltagsgesicht ein vorübergehender Zustand.

Um ihn noch mehr aus der Reserve zu locken, trieb ich es auf die Spitze: „Jetzt haben sie alle vor dir Respekt! Sandro Schwarzer, der böse Rockstar! Mit dem will man sich lieber nicht anlegen.“

Ein Glucksen, aber bloß eine Sekunde lang. „Gut und Böse sind doch nur Konstrukte. Aber egal. Hast du gerade Mittagspause, oder was?“ Er nahm den letzten Zug, was die Glut am Ende der Zigarette hellorange aufleuchten ließ. Der Wind schickte den Rauch in meine Richtung, aber das störte mich nicht. Durch meine Mutter war ich bereits abgehärtet, was Tabak betraf. Ob sie immer noch eine Kettenraucherin war? Ob sie überhaupt noch derselbe Mensch war, nachdem sie die halbe Welt bereist hatte?

„Nein, meine Mittagspause ist von halb eins bis eins.“

„Aha“, meinte er nur und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Kommentarlos ließ er mich stehen.
 

Liebste Marie!
 

Ja, den einen Emoji hast Du wirklich sehr inflationär gebraucht, was mich manchmal genervt hat. Aber jetzt fehlen sie mir sehr, unsere Chats!

Es ist wirklich eine merkwürdige Phase im Leben, wenn die besten Freunde an der Uni sind und man selbst (noch) nicht. Seit Chris in Berlin studiert, haben wir auch nicht mehr so viel Kontakt. Man lernt halt wieder neue Leute dafür kennen, man muss sich nur für andere Menschen interessieren.
 

Du wirst deine Ausbildung rocken! So kenne ich meine Marie, und nicht anders. Gib Dir Zeit, es ist ja alles neu für dich. Du stehst erst am Anfang deines Berufslebens. Wieso willst Du immer alles sofort perfekt beherrschen? Geduld!!!

Lass uns doch eine Wette abschließen: In zehn Jahren bist Du Chefin von diesem Laden!

Du bist eben eine kleine Perfektionistin. Was nicht perfekt läuft, das willst Du gleich hinschmeißen. Ist es nicht so? Denke darüber mal nach.

Deine Mutter habe ich ja kennengelernt, ich glaube Dir, dass sie in dem Punkt gnadenlos ist. Ich weiß nicht, ob ich Dir da einen Rat geben kann, Sport war nie mein Ding. Aber wenn es Dir wirklich keinen Spaß mehr macht, würde ich aufhören. Nicht bloß aus dem Grund, weil du nicht aufs Treppchen kommst. Niemand kann immer der Erste sein!

Bedenke, dass dieser Sport auch nicht ganz ungefährlich ist, die Verletzungsgefahr ist hoch. Ich weiß, das willst Du nicht hören. Aber ich sage es dir trotzdem. Manchmal habe ich schon geschlottert bei deinen waghalsigen Moves.

Was ich von Deinen Erzählungen mitbekommen habe, herrscht da sau viel Konkurrenzdruck bei euch. Dein Trainer, dieser Wassili, den fand ich auch immer unheimlich. Wie er Dich in der Halle herum gescheucht hat, da fehlte nur noch die Peitsche, hatte ich den Eindruck. Verzeih meine Ehrlichkeit. Aber ich will nur noch ehrlich zu dir sein; Marie.

Ich bin sicher, dass Du einen anderen Sport findest, der dir Spaß macht, da solltest du dich in aller Ruhe umschauen.
 

Was ich noch niemandem erzählt habe? Neulich, als ich Deinen Brief eingeworfen habe, abends, als es dunkel war, bin ich noch ein bisschen durch das Viertel spazieren gegangen. Und habe durch die Fenster reingeschaut, wie die Leute leben. Nicht in Schlafzimmer gespannt oder was du jetzt denkst, sondern wie sie vorm Fernseher oder PC sitzen oder beim Abendbrot. Manchmal Familien, manchmal einzelne Leute. Ein paar Momente lang. Ich habe viel Einsamkeit gesehen. In der Öffentlichkeit sind die Einsamen unsichtbar, da geben sie sich nicht zu erkennen. Da denkt man in so manchem dunklen Moment, man wäre der einsamste Mensch auf der Welt, doch braucht nur zehn Häuser weiter zu gehen und sieht sein Spiegelbild! Kann es sein, dass das jenes Gefühl ist, worüber wir alle nicht reden aber jeder genau kennt?

Wollen wir uns nicht mal wieder treffen, Marie? Ist doch verrückt, dass wir in derselben Stadt wohnen und uns Briefe über die Post zuschicken, wo wir uns genauso gut treffen könnten. Durch das Schreiben scheinst du mir sooo weit weg, als würdest du auf dem Mars leben. Kuscheln soll übrigens lebensverlängernd wirken, habe ich wo gelesen ;)
 

Denk mal darüber in Ruhe nach. Ich vermisse dich sehr.
 

Dominique
 

PS: Ich habe Deine Tomaten eingerahmt und in der Küche aufgehängt! Sieht echt spitze aus, das Bild! Egal was du machst, du machst es immer gründlich.

Blackout

Wieder saß ich beim Mittagsessen im Pausenraum, heute aber alleine, da Fatima heute auf Station Sonnenblume aushelfen musste.

Ich aß so zügig, dass ich meine Zunge an den ungesalzenen Kartoffeln verbrannte, denn ich konnte es kaum erwarten, auf den Balkon zu gehen. Frische Luft zu schnappen war immer eine gute Idee, im Altenheim wurde nämlich immerzu so viel geheizt.

Sonne bei blauem Himmel, kalt war es nicht. Man konnte von hier aus weit blicken über die Weinberge und den Park, in dem ich bei gutem Wetter mit Bewohnern spazieren ging.

Hey Dome, will mir Thai Massage gönnen morgen, kommste mit?, lautete Jos Nachricht im Chat. Ich öffnete daraufhin die Haushaltsbuch-App, die mir meine Schwester empfohlen hatte und meine Miene verfinsterte sich.

Dazu hab ich grade gar kein Kleingeld, sorry, ein andermal.

Den einzigen Körperkontakt zu Frauen erkaufte er sich über regelmäßige Massagen. Das hoffte ich zumindest, dass es bloß dabei blieb. Verübeln konnte ich es ihm nicht, und wer war ich, ihn zu verurteilen? Wer weiß, was ich alles konsumieren würde, hätte ich mehr Geld zur Verfügung. Wer weiß, was für ein Mensch ich dann wäre.
 

Hinter mir hörte ich, wie ich die Schiebetür geöffnet wurde und mir lief ein Schauer über den Rücken. Sandro tauchte in meinem Blickfeld auf. Wortlos stellte er sich mit zwei Meter Abstand neben mich ans Geländer – er hatte also meine unausgesprochene Einladung angenommen. Ich verfolgte mit, wie er aus seiner Jackentasche eine Packung Zigaretten hervor kramte, eine französische Marke, gekonnt eine einzige entnahm und sie sich zwischen die Lippen steckte. Nichts was von Bedeutung wäre, die banalste Geste der Welt – aber wir sprachen hier von Sandro. Großes Kino, mitzuverfolgen, wie er ein Plastikfeuerzeug an die Zigarette führte und sie anzündete. Ich hatte richtig gelegen; bereits der erste Zug entspannte ihn, glättete sein Gesicht.

Rauchen kann tödlich sein“, zitierte ich den dramatischen Spruch auf der roten Schachtel.

„Das Leben selbst ist tödlich.“

„Die Besuchszeit ist um, und du bist immer noch hier?“, wagte ich zu fragen.

Ein bloßes Achselzucken war die Antwort, und ich beließ es dabei; jemand, der sich weder um Zigarettenverbote noch rote Ampeln scherte, kümmerte erst recht keine Besuchszeiten. „Keine Angst, ich verpetze dich nicht“, versprach ich ihm.

Er fixierte immer noch diesen imaginären Punkt in der Ferne. Irgendwann meinte er zwischen zwei Zügen: „Schon ziemlich am Arsch der Welt hier, oder…?“ Und mit einem flüchtigen Seitenblick zu mir: „Was gibt’s zu grinsen?“

Tja, ich konnte nichts dafür. Seine bloße Präsenz sorgte irgendwie dafür, dass meine Mundwinkel wie von einer unsichtbaren Hand fast bis zu den Ohren gezogen wurden. Vielleicht lag es daran, was er mir gestern offenbart hatte. Der erste Mensch, der sich mir gegenüber als schwul geoutet hatte.

„Ja, es ist wirklich sehr außerhalb; ich brauche fast fünfzig Minuten jeden Tag hierher, mit zwei Buslinien.“

„Wie lange arbeitest du schon hier?“

„Seit August. Ich mache hier ein Freiwilliges Jahr.“

„Hm“, sagte er dazu nur, ein Hm, von einer Art, die fast alles bedeuten konnte und nahm einen erneuten Zug von seiner Zigarette. „Wie kommt´s?“

„Dass ich hier arbeite? Naja.. ich brauche eben etwas Zeit, zwischen Schule und Studium“, antwortete ich.

„Machst du auch Nachtschichten?“

„Nein, muss ich nicht. Nur Früh und Spät im wöchentlichen Wechsel.“

„Du Glückspilz. Weil du noch minderjährig bist, oder was?“

„Ich bin neunzehn!“, sagte ich etwas lauter als ich beabsichtigt hatte, aber ich wollte nicht für ein Kind gehalten werden, schon gar nicht von ihm.

„Neunzehn. Da hat man noch Träume“, sagte er vor sich hin und es klang so bitter. Als ob er keine Träume mehr hätte, wie alt war er denn? Wohl kaum sehr viel älter als ich. „Und dir gefällt das hier? Bei den alten Leuten?“

„Alte Leute, meinst du dich selbst damit?“, zog ich ihn auf. „Es macht schon Spaß, ja. Meistens. Warum fragst du?“

„Mir wäre das nichts. Fände ich so richtig depri. In so einer Verwahranstalt zu arbeiten, wo an jeder Ecke Krankheit und Tod lauert. Ich mag einfach lieber Fortschritt und Weiterentwicklung, statt Stillstand und Degeneration.“

Schweigend rauchte er seine Zigarette weiter und ich konnte diese Vorwürfe nicht einfach so stehen lassen. Verwahranstalt. Was für eine Wortkreation! Die Arbeit hier war vielleicht nicht für jeden etwas, das stimmte schon. Aber als deprimierend würde ich sie nicht bezeichnen. Wenn man von Schikos Tod absah, der mich immer noch traurig stimmte, wenn ich daran dachte. Was das anging, musste ich noch lernen, die alten Leute nicht zu nah an mich heranzulassen. Die schönen Momente überwogen aber!

„Stell dir mal vor: Auch hier entwickeln sich die Leute weiter. Sie entdecken neue Hobbys, wir bieten viele Beschäftigungen an und es gibt eine kleine Bibliothek und sogar eine Spielekonsole im Aufenthaltsraum. Demnächst findet ein Adventschor statt, wo sich viele einbringen.“ Das sagte ich nicht ohne Stolz, denn Fatima und ich halfen mit, dieses Konzert zu organisieren.

„Woow“, machte er gelangweilt.

„Warum bist du eigentlich so oft hier bei ihm? Wenn es doch so schrecklich ist hier? Schlechtes Gewissen beruhigen?“

Ein wütender Blick von ihm und der Rauch verließ seine Nasenlöcher wie bei einem Drachen, der kurz davor war, Feuer zu speien. „Damit das mal klar ist: Es war Vaters ausdrücklicher Wunsch, in ein Pflegeheim zu kommen, nicht unserer! Er duldet keine Widerworte, wir hatten also keine Wahl. Mir soll das aber recht sein. Komm besser nie in die Verlegenheit, deinen eigenen Vater zu pflegen!“

Nun, das würde mir wahrscheinlich nicht passieren, eine der wenigen Pluspunkte, die man meinem Vater lassen musste.

„Du hast ihn gepflegt? Wie war das?“

Er blies bedächtig den letzten Rauch aus seinen Lungen in die Luft und er ließ sich verdammt viel Zeit, bevor er drauflos redete: „Tja, wie war das. Jemand, der für dich immer der Endgegner schlechthin war, vor dem du gar nicht schnell genug davonrennen konntest, weil du genau wusstest, was dir sonst blüht. Ihn so jämmerlich zugrunde gerichtet zu sehen, das lässt dich an der Welt zweifeln und an deinem Verstand. Und sein Hass auf dich, und sich selbst, weil die Rollen nun vertauscht sind und er dir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist…“ Er unterbrach seine ungewöhnlich lange und emotionale Rede, um an der Zigarette zu ziehen.

So etwas konnte ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen. Sein Vater war ein ganz anderer Typ als meiner. Der war mehr von der gleichgültigen Sorte: Nichts hatte ihn jemals aus der Ruhe bringen können, nicht mal als ich als kleines Kind versehentlich seine dampfende Kaffeetasse auf seinen Schoß geschüttet hatte. Laut geworden war nur meine Mutter, und mein Vater hatte sich dann lautlos aus dem Staub gemacht. Betreten schwieg ich.

„Wir sind am Samstag übrigens wieder im QUAKE“, brach er das Schweigen zwischen uns. „Kommst du auch?“

„Äh. Weiß noch nicht.“

„Sag am Eingang, dass du Dominique mit Q bist. Dann kommst du gratis rein.“

„Ich überlege es mir.“ Aber ja, ich war geschmeichelt.

Die Zigarette landete im Aschenbecher. Das Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Doch ich wollte nicht, dass er jetzt schon ging. Was ich von ihm wollte, wusste ich irgendwie selbst nicht so genau, aber mir taten unsere Atempausen auf dem Balkon gut. Auch, wenn sie stets verqualmt waren.

Ich blieb noch draußen, noch eine Minute durchatmen. Aus dem Aschenbecher, der mal wieder geleert werden müsste, stiegen die letzten Rauchfetzen seiner Kippe auf. Und ich wunderte mich selbst darüber, dass ich diesem Detail so viel Aufmerksamkeit widmete.
 

~
 

Die restliche Woche begegnete ich Sandro nicht mehr, dann war auch schon Samstag.

Gitarrhö war bereits mitten in ihrem Auftritt, leider hatte ich den Bus verpasst. Sandro hatte Wort gehalten: Im Club war ich mit der Erwähnung meines Namens tatsächlich durchgewunken worden. Ich war ein echter VIP! Jetzt erst mal ein Bier. Auf der Suche nach Jo erschauderte ich, als ich die schwarz gekleidete Gestalt mit seiner blutroten E-Gitarre auf der Bühne erblickte. War das nicht ein bisschen unfair von Mutter Natur verteilt? Gitarre spielen können, und dabei noch so verboten gut aussehen? Er war wieder geschminkt, ebenso die restlichen Mitglieder. Der Sänger stach heraus mit seinen weißen Klamotten und seiner kalkweißen Farbe im Gesicht, als wäre er Kopf voran in einen Mehlsack gefallen, das war neu.

Jo und Simon saßen verdammt weit vorne, ganz nah an der Bühne. Das war nicht nur zu nah, das war fast intim. Ausgerechnet jetzt musste sich Jo umdrehen. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich hatte mich nämlich nicht mehr bei ihm gemeldet und so war er wohl davon ausgegangen, dass ich dem QUAKE heute fernbleiben würde. Nun da er mich erblickt hatte, konnte ich nicht mehr zurück. Da gab es nur noch die Flucht nach vorne.

„Dome! Was für eine Überraschung!“, grölte Jo und haute mir zur Begrüßung auf die Schulter.

„Cummy“, sprach mich sein Bruder an, der berühmt-berüchtigte Ladykiller Simon. „Lang nicht gesehen.“

„Allerdings.“ Gedanklich fügte ich hinzu, dass ich darüber gar nicht traurig war, denn Simon war speziell. Jemand, bei dem man froh war, ihn zu kennen, aber nicht, ihn zu sehen. Zwar war er rein visuell eine Augenweide, das musste ich zugeben. Betrachtete man heimlich die Brüder, während sie beide direkt vor einem standen, so kam man wirklich nicht umhin, zuzugeben, dass Simon seinem jüngeren Bruder von den Genen für Sexappeal nicht allzu viel übrig gelassen hatte. Mit anderen Worten, ihn würde ein Fotograf sofort begeistert als Model auswählen, nicht nur seines Gesichts wegen, mit dem verschmitzten Lächeln und den perfekten Zähnen. Sein Körper besaß nicht nur die Proportionen, sein volles Haar auch den Farbton einer Karotte, worauf er sehr stolz war. Außerdem war ihm das Flirten in die Wiege gelegt worden. Wäre Jo nicht zu stolz und wählerisch, so hätte er sich längst von Simon verkuppeln lassen, denn das konnte der wirklich gut. Statt Simon wandte ich mich lieber der Bühne zu, meinte aber, seinen prüfenden Blick auf mir zu spüren.

Sandro spielte heute so wütend, aggressiv, im Vergleich zu letztem Mal erschien mir der Song heute schneller, dynamischer. Ich registrierte, wie der Bassist von damals in der Abstellkammer, Sandro immer wieder etwas zurief. Möglicherweise hatte Sandro bei der ein oder anderen Note danebengegriffen oder es war etwas anderes los. Sein Gesicht blieb von dieser typischen Stirnfalte verunstaltet, die mich immer so sehr an ihm störte, weil sie sein Gesicht verunstaltete. Jetzt schaute er mich direkt an, zumindest schien es so.

Was waren meine Wangen plötzlich warm... Ich prostete ihm zu, trank einen ordentlichen Schluck von meinem Bier.

Von der Seite bemerkte ich Simons hämisches Grinsen. „Bissel bi schadet nie, oder?“

„Wie?!“

Simon nickte in Richtung der Bühne. „Ja. Die Band soll ihren alten Sänger rausgeworfen haben, das gab dann ein riesiges Schwulendrama.“

„Ja klar!“

„Doch. Glaubst du mir nicht?“

„Warum hörst du denn eine schwule Band?“

„Mann, ist ja nicht die Band schwul, nur der eine Gitarrist, du Hinterwäldler.“

So eine Einstellung hätte ich von Simon gar nicht erwartet. Er sprach weiter, beinahe schwärmerisch: „Gays sind echt zu beneiden, die haben es so einfach.“

„Einfach? Inwiefern?“

„Na, denkst du, die müssen immer erst ein Date hinter sich bringen, bevor sie einen ranlassen? Nee, das geht ruckzuck bei denen, wenn sie erstmal ausgeknobelt haben, wer die Arschkarte zieht.“

„Erinnert mich irgendwie an jemanden...“ Um jetzt nicht unseren Abiball zu erwähnen.

Simon überging meinen Kommentar, fühlte sich davon überhaupt nicht angesprochen und rutschte noch ein Stückchen zu mir auf, um mir zuzuraunen: „Hab gehört, du bist wieder auf dem Markt. Ich kenne da eine, die dir bestimmt gefallen würde.“ Schon wühlte er sich durch sein Telefonbuch im Handy.

„Ach lass mal.“

„Nicht? Willst wohl lieber, dass es dir der Gitarrist besorgt, nicht wahr?“

„Was?! Du spinnst ja total!“ Jo sah zu uns auf, doch er bekam durch die Lautstärke nichts von unserem Gespräch mit.

„Ich spür zwischen euch krasse Vibes!“, sagte Simon fast entschuldigend.

Ich stand auf, um mir einen harten Drink an der Bar zu holen, versuchte erfolglos, die Wut herunterzuschlucken. Ich sollte seine Provokationen am besten ignorieren, aber das war gar nicht so einfach, weil es mich irgendwie getroffen hatte. Nüchtern hielt ich Simon einfach nicht aus, es ging einfach nicht. Mit seiner Art, die wunden Punkte von einem ausfindig zu machen und mit glühenden Spießen darin herumzustochern.
 

Bei diesem einen Drink sollte es heute Abend nicht bleiben. Simon zog nach, als wollte er ein Sportereignis daraus machen. Immer, wenn er ging, brachte er mir einen Drink von der Bar mit, wo er offensichtlich die Barkeeperin mit dem Lederrock abschleppen wollte, und ich konnte nicht Nein sagen und prostete ihm immer wieder fröhlich zu. Der sollte mal sehen, wie trinkfest ich war, damit er mich nicht in dieselbe Schublade steckte wie Sandro.

Abermals trafen sich die Blicke von Sandro und mir im Laufe des Abends. War das … Flirten? Warum hatte Simon diese Sache erwähnt? Das war unheimlich, denn manchmal hatte er für solche Dinge einen Riecher, schließlich hatte er unzählige Frauen gehabt und ich erst eine. Ob er mir geradewegs ansah, dass mich schwarz geschminkte Lippen bis in meine Träume verfolgten? Simon hing nur noch am Handy, Jo ebenfalls. Höchstwahrscheinlich textete er mit dieser Asiatin, ihr Name fiel mir gerade nicht ein.

In dem einen Song hörte ich öfter das Wort „Blaupause“ heraus. Vielleicht lag es aber auch daran, dass mich der Alkohol schon gar nicht mehr klar denken ließ. Wäre ich heute besser nicht hergekommen. Das würde ein ekliger Kater werden! Sandro stand ganz schief auf der Bühne. Nein, die Gitarre hielt er schief. So eine Gitarre gab aber auch ein verdammtes Phallussymbol ab, wenn man sie sich auf diese Art vor den Schritt hielt. Wenn er komplett ohne Kleider dastehen würde, nur mit der Gitarre seine Blöße bedeckend…War er eigentlich am ganzen Körper so blond?

Ich lachte vor mich hin, konnte nicht mehr aufhören. Scheiße, so betrunken war ich Ewigkeiten nicht mehr gewesen, ich würde nicht mal mehr den Ausgang finden, höchstens diese Abstellkammer. War auch sicher seine Absicht gewesen; der freie Eintritt, mit dem er mich hergelockt hatte, und warum sonst hatte er mir ins Gesicht gesagt, dass er schwul war? Zu mir! Dabei war ich vor acht Wochen noch mit einem Mädchen zusammen gewesen, und glücklich gewesen! Wieso sagte er das ausgerechnet zu mir, der ich hetero war, und belagerte mich Nacht für Nacht in meinen Träumen? Immer derselbe Traum. Das Stück trainierte Bauchmuskeln, das unter seinem Shirt hervor blitzte. Das wissende Lächeln auf seinen schwarzen Lippen, die näher und näher kamen. Nein, so betrunken könnte ich niemals sein, dass ich freiwillig sein Ding berührte. Weißwurst mit Sauerkraut war so gar nicht mein Fall! Ich wollte mich an Marie kuscheln, die an manchen Stellen soo weich war…
 

Irgendwann wurde ich unsanft an der Schulter gerüttelt.

„Wach auf, Dome!“ Wie durch eine Nebelwand drang die bekannte Stimme.

Nur sehr langsam ließen sich meine schweren Lider öffnen, protestierten dagegen. Ich saß in Jos Beifahrersitz, erkannte das Armaturenbrett, ohne zu wissen, was zwischen meinem letzten Drink und jetzt alles passiert war, die leuchtenden Ziffern waren zu verschwommen, um die Uhrzeit abzulesen. Ich wusste nicht mal, wo wir waren.

„Raus mit dir, ich hab dich heim gefahren.“

„Echt?“, murmelte ich gedehnt, mit schwerer Zunge. Stimmt, dieses Haus da, dort wohnte ich. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und nur noch lallen. „Nett von dir. Wassis mit der Band?“

„Die sind fertig, und du bist auf dem Tisch eingepennt. Ich habe dich halb zum Auto geschleppt, alleine, Simon hat sich ja mittendrin verkrümelt, wie immer, und so jemand will Arzt werden! Und was du alles über den Gitarristen gesagt hast, das war sehr strange. Fast schon creepy, Dome. Der hat dir doch gar nix getan.“

Uff, von Sandro hatte ich gesprochen? Das war nicht gut. Ich löste den Sicherheitsgurt, und plötzlich drehte sich die Welt wie ein Karussell.

„Alter!“ Jo beugte sich über mich, und stieß die Beifahrertür auf. Keine Sekunde zu spät. Ich neigte mich zur Seite und übergab mich geräuschvoll auf das Pflaster des Gehwegs. Anschließend bewegte ich mich nach draußen, einen großen unkoordinierten Ausfallschritt um die Kotzspritzer machend, bekam am Rande mit, wie Jo davon düste. Ich tastete mich im Dunkeln an der Mauer entlang, bis ich den Lichtschalter erfühlte und schloss die Haustür auf, nach einigen erfolglosen Versuchen, ins Schlüsselloch zu finden.

Jetzt noch unfallfrei in den dritten Stock finden und in mein Hochbett hinauf...oder doch besser unten auf der Couch bleiben, falls ich heute Nacht nochmal kotzen musste. Was für ein Glück, dass Désirée nicht zuhause war. Wankend hielt ich mich am Treppengeländer fest und kam mir vor, wie die Penner morgens am Bahnhof, über die ich mich lustig gemacht hatte.

Irgendwie gelang es mir aber. Mit Rauschen in den Ohren und einem ekligen Geschmack im Mund, schälte ich mich aus Schuhen und Jeans und ließ mich bäuchlings auf das Polster fallen.

Blaupause

Auf dem Flur im Altenheim kam mir Fatima in Richtung des Fahrstuhles entgegen, als ich mit der Bettwäsche der gesamten Station in den Waschkeller wollte. Sie hielt mir ein kleines braunes Fläschchen unter die Nase und mir fiel es schwer, nicht zu würgen.

„Boah, was ist das?“

„Ätherisches Öl mit Tannenduft. Das schütte ich auf den Baum, damit der genauso riecht wie ein echter Tannenbaum aus dem Wald. Die Omis werden mich dafür lieben!“ Sie grinste breit über das ganze Gesicht. „Du wolltest doch schon immer mal wie ein Tannenbaum riechen, oder?“ Bevor ich dies klar verneinen konnte, benetzte sie mich mit einigen Tropfen aus ihrem Fläschchen. Meinen lautstarken Protest daraufhin quittierte sie nur mit einem hämischen Lachen, und machte sich aus dem Staub.

„Das wirst du bereuen, Fatima! Ich gebe dir nie wieder meinen Nachtisch!“ Die paar Tropfen, die ich abbekommen hatte, rochen bereits so intensiv, dass mir davon übel wurde. Kein Wunder, nach diesem Kater-Wochenende, von dem ich immer noch Kopfschmerzen hatte. Heute war mir echt nicht nach Scherzen zumute.

Weiter vorn hörte ich eine Tür knallen und drehte mich in die Richtung. Der Boden erzitterte. Sandro Schwarzer marschierte schweren Schrittes in meine Richtung, ausgerechnet heute. Die nächste Tür, meine Fluchtoption, war nur ein Schritt entfernt, doch zu spät, er hatte mich bereits erblickt. Er schien noch weniger zu Späßen aufgelegt als ich. Aber was sollte ich denn sagen?! Ich konnte mich ja kaum noch an den Samstagabend erinnern.

„Dominique!“ Schnell setzte ich den Sack Schmutzwäsche auf dem Boden ab und zog schützend die Schultern an, wich reflexartig zurück, doch er berührte mich nicht mal.

„Komm mit!“

„Wo…wohin?“, fragte ich zögerlich.

„Komm besser mit, bevor ich mich vergesse!“ Das tat ich, bevor er mich noch am Kragen mitschleifte. Wohin er wollte, wurde mir sogleich klar: Natürlich hinaus auf den Balkon, wohin auch sonst. Puh. Die frische Luft tat echt gut.

„Ich war eben bei Vater!“ Gefrierstrahl!, schrie sein Blick, und seine Augen waren heute so dunkel und unergründlich wie die Tiefsee. Nie hatte ich ihn so zornig erlebt. Seine Stirn so zerklüftet wie ein Gletscher. Eine sichtbare Ader pulsierte seitlich an seiner Schläfe. Ich schluckte und wandte den Blick ab. „Was erzählst du meinem Alten, bist du noch ganz dicht! Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“

„Was meinst du?“ Ich versuchte mich daran zu erinnern, worüber ich heute Morgen mit Siegfried geplaudert hatte, als ich ihm im Badezimmer bei seiner Morgenroutine half, so wie ich Schiko immer geholfen hatte. Dabei war mir aufgefallen, dass sich einige Gegenstände mehr in seinem Zimmer befanden; wie ein kleiner Wecker mit Leuchtziffern auf seinem Nachttisch, den wohl Sandro vorbeigebracht hatte. Dunkel erinnerte ich mich an mein Selbstgespräch, bei dem ich nebenbei fallen gelassen hatte, dass Sandro wunderbar Gitarre spielen konnte, und ich ihm bereits zweimal im Club live gesehen hatte. Auf meine Frage, ob er selbst auch musikalisch war, und bei unserem Advents-Chor mitsingen wollte, aber keine Antwort erhalten, zumindest keine verbale. Vielleicht hatte ich mir erhofft, die andere Seite der Medaille zu sehen zu bekommen. Nachdem mir Sandro mir offenbart hatte, wie es für ihn gewesen war, ihn zu pflegen.

„Du hast das mit der Band ausgeplaudert!“

„Äh?! Das hat er mitbekommen? Und hat es dann dir erzählt?“ Ich war baff. Siegfrieds Kommunikationsfähigkeiten hatte ich deutlich unterschätzt. Sandro seufzte deutlich hörbar auf.

„Natürlich. Hast du seine Patientenakte nicht gelesen? Er bekommt alles mit, ist bei glasklarem Verstand, auch wenn das sein Anblick nicht vermuten würde. Kognitiv hat er da keine Probleme. Bloß mit dem Sprechen, wegen seinem Schlaganfall, er hat auch nichts aus der Vergangenheit vergessen, nicht das kleinste Detail. Vielleicht wäre das besser für ihn… Die Demenz wäre eine Gnade, aber so ist sein Geist eingesperrt in seinem Wrack von Körper. Und kein Mensch macht sich die Mühe, zehn Minuten für einen einzigen hingebrabbelten Satz von ihm aufzuwenden, so was kann auch keiner verlangen. Aber ich glaube, es würde ihm schon genügen, wenn man ihm die Zeitung vorliest, halt nicht unbedingt Sport oder den Feuilleton-Teil.“

Gedanklich machte ich mir eine Memo, das beizeiten mal zu tun.

„Wieso hast du es ihm eigentlich nicht schon gesagt? Da trittst du ja nicht erst seit gestern auf, oder? Was hast du ihm denn noch so alles nicht erzählt, über dich?“

„Das geht dich gar nichts an! Du hast ja keine Ahnung, wie es ist, der Sohn von Siegfried Schwarzer zu sein! Also sei still!“ Schien es nur so, oder hatte seine glattgebügelte Fassade einen Riss bekommen; eine Haarsträhne hatte sich aus der Wand als Gel gelöst und fiel auf seine Stirn. Dieser emotionale Ausbruch war etwas Neues, überraschte mich. Da war doch Feuer in ihm, nicht Eis, wie man vermuten könnte.

„Ne, woher sollte ich auch?“ Ich zuckte die Achseln. „Nun weiß er es eben. Na und?“

Sandro schüttelte missbilligend den Kopf. Er griff wie automatisch in seine Jackentasche, und ich wusste nur zu gut, was nun kam. Seine Zigarettenschachtel beförderte er ans Tageslicht, zündete sich eine an.

So standen wir beide am Geländer, er rauchte und ich nicht. Ich schaute ihn klammheimlich von der Seite an, er mich nicht. Seine Stirn glättete sich allmählich wieder, aber das war es nicht, was heute meine Aufmerksamkeit erregte. Sondern sein Handgelenk. Was waren das für bunte Klebestreifen auf seiner Haut?

„Hast du es am Samstag zu wild getrieben?“, fasste ich mir ein Herz und sprach ihn darauf an.

Den Rauch blies er mir mitten ins Gesicht. „Zu wild getrieben!? Das sagt ja der Richtige, du hast dich halb ins Koma gesoffen, mit deinen Kumpels! Findest du das cool?“

Oh Mann, das hatte er wirklich mitbekommen von der Bühne aus. Wie unangenehm…

„Nein, ich hab es schon am nächsten Tag bereut. War dumm gewesen.“

Stillschweigend standen wir nebeneinander, ein paar Atemzüge lang. Der Wind blies den Rauch voll in meine Richtung. Das Wetter war schon deutlich herbstlicher als bei unserem ersten Aufenthalt hier draußen. Etliche Blätter wurden von dieser Windbö erfasst und verließen den Baum wie ein Schwarm Vögel.

„Euer Auftritt…“, begann ich. „Ihr wart echt gut. Du warst wieder geschminkt, das steht dir so verdammt gut. Wie ist das überhaupt, auf einer Bühne zu stehen? Vor so vielen Leuten?“

„Hör auf mit der Schleimerei. Es geht Vater nichts an, klar? Er ist der Letzte, der das wissen muss. Er verachtet mein Hobby, hat mich darin nie unterstützt, es ist Dreck in seinen Augen! Für Musik und generell Kreativität, hat er nichts übrig. Gottverdammt, ich bin echt sauer!“

„So ist das also.“

„Früher hat er mir immer gedroht, meine Gitarre zu verbrennen.“ Er schnaubte, Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern. „Ich glaube, dann hätte ich echt mal Respekt vor ihm gehabt, da hätte er nämlich etwas gewagt, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Aber er hat es nie getan, er hat mir immer nur damit gedroht. Leere Drohungen.“

„Hm. Vielleicht, weil er wusste, dass dir die Gitarre sehr wichtig ist?“

Bloß ein Kopfschütteln von ihm. „Tu mir nur einen Gefallen: Rede nicht mehr mit ihm über mich.“ Bevor ich dazu etwas sagen konnte, meinte er: „Ich habe was für dich; verdient hättest du es eigentlich nicht.“

Aus der Innentasche seiner Jacke zog er eine CD hervor und reichte sie mir. Eine schnöde Hülle, auf deren Plastik schlicht mit Edding der Bandname hingekritzelt war.

„Ihr habt eine CD aufgenommen? Wann das denn?“ Ich wusste nicht, ob ich mich über Gitarrhö in gepresster Form freuen sollte, versuchte aber, mir meinen Unmut darüber nicht anmerken zu lassen.

„Vor ein paar Wochen. Unser Schlagzeuger hat Beziehungen.“

„Und euer Sänger…“, begann ich aber biss mir rechtzeitig auf die Zunge.

„Was ist mit ihm?“ Eine solche Schärfe lag in seine Stimme, dass ich verstummte. Gefährliches Terrain.

„Nichts. Danke dir.“ Ich verstaute die CD in meiner Kitteltasche.

„Da ist eine Datei mit den Texten drauf“, verriet mir Sandro mit verschwörerischer Stimme. „Aber ich glaube kaum, dass du sie verstehst, so unreif wie du dich aufführst.“ Die Kippe war noch nicht ganz zu Ende geraucht, da entsorgte er sie bereits im Aschenbecher, der dringend geleert werden sollte.

„Wieso nicht? Sind das schwule Texte?“, rief ich ihm provozierend hinterher. Er zeigte mir den Mittelfinger. Doch sein Gang war wieder federleicht, weil er seine Wut losgeworden war, und es war schön, ihm hinterher zu schauen, die Gangart eines Menschen, der etwas von Musik verstand. Sandro...Schon wieder heiße Wangen. Oh Mann, an diesem Wochenende war irgendetwas mit mir passiert. Ich war nicht mehr derselbe wie zuvor. Nie hatte ich einem Kerl hinterher geschaut.
 

Als ich mich suchend nach dem Bündel Wäsche umsah, sah ich sie. Sie saß da, ganz still wie eine Buddhastatue, und einem ähnlichen Lächeln. Frau Spinnler auf ihrem Rollator, mit bester Aussicht auf den Balkon.

„Na, wie war Schiff der Leidenschaft ? Haben Sie das Buch schon fertig gelesen?“

„Oh ja, es war sehr gut! Sie konnte ihn davon überzeugen, dem wilden Leben als Pirat zu entsagen und mit ihr aufs Land zu ziehen, in ein Cottage. Möchten Sie sich das Buch ausleihen?“

„Nein, danke… Aber die werden sicher nicht lange zusammenbleiben, man kann doch aus einem Piraten keine Landratte machen.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „Ihr jungen Leute müsst doch alles an den Haaren herbeiziehen. Was nach dem Ende eines Buches passiert, ist doch wirklich völlig egal.“

„Ok, also wird es wohl eher keinen zweiten Band geben. Wissen Sie schon, was Sie als nächstes lesen werden?“

Unter ihrer Häkeldecke zog sie den nächsten Roman hervor, dessen Cover nicht weniger kitschig war:Knisterndes Kaminfeuer.
 

~
 

Au weia. Zwar war die Tonqualität überraschend gut, doch der Sänger traf einfach nicht meinen Geschmack, und auf CD war es fast noch schlimmer als im Club. Da konnte ich den Gesang eher ausblenden und Sandro beim Spielen zuschauen, jetzt aber gab es nichts zu sehen. Er sang übrigens wirklich „Blaupause“. Das stand so auch im Songtext. Den hatte Sandro geschrieben? Das ergab überhaupt keinen Sinn. So viele schräge Sprachbilder, Metaphern... Ich raufte mir die Haare. Was wollte er damit ausdrücken? Gab es dahinter einen tieferen Sinn, eine versteckte Botschaft, oder sollte es bloß cool klingen und sich reimen? Stirnrunzelnd las ich ihn wieder und wieder. Ich wollte nicht, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, dass ich die Texte nicht verstand. Dann würde ich ihn eben sooft lesen und mir den Song dazu anhören, bis ich ihn verstand! Was hatte ich im Deutschunterricht nicht für stupide Gedichte und Dramen aus sämtlichen Epochen der Literaturgeschichte analysieren müssen. Wo sich der Verfasser wohl im Grab umgedreht hätte, wüsste er, dass ganze Generationen von Schulklassen jede Silbe zerpflücken. Da war doch dieser Text keine Herausforderung für mich, also bitte! Erst schlug ich das Wort im Duden nach, dann googelte ich es. Und trotzdem… Fast war ich geneigt, Marie zu fragen, die sich gerne mit Texten befasste. Aber das hier, das ging Marie nichts an. Das war eine Sache zwischen Sandro und mir.
 

Den ganzen Dienstag über schaute ich immer wieder mal am Balkon vorbei, doch wurde enttäuscht. Kein Sandro da. Dass es mir mittlerweile schlechte Laune bereitete, ihn nicht zu sehen, war eine krasse Entwicklung.

Am Mittwoch sah ich eine schwarze Gestalt am Balkongeländer rauchen und mein Puls beschleunigte sich. Ich hatte schon die Finger am Türgriff, als ich feststellte, dass es bloß meine Kollegin Gabi war, die sich draußen eine Zigarettenpause gönnte. Oh Mann! Was dachte sich Sandro? Der konnte doch nicht einfach seine blöde CD bei mir abliefern und auf Nimmerwiedersehen verschwinden! Zumal das fast zu einem Ritual geworden war, unsere fünf Minuten hier draußen.
 

Am Donnerstag bildete ich mir ein, dass mir Frau Spinnler im Flur verschwörerisch einen Hinweis gab: „Hat was, so ein Kaminfeuerchen, gibt ordentlich Rauch.“

Rauch. Das Stichwort. Nur Zufall? Es konnte nicht schaden, mal nachzusehen. Und richtig, da draußen stand er – kein geringerer als Sandro! - umgeben von Rauchschwaden.

So laut, wie die Schiebetür zuknallte, konnte ich mich nun nicht mehr an ihn anschleichen.

„Ich habe mir die Texte angeschaut“, begrüßte ich ihn, ohne großes Vorgeplänkel.

Er schnippte Asche weg und warf mir einen fragenden Blick zu.

„Sag, worum geht es in dem Song Blaupause ?“

Als er nicht antwortete, nur stumm weiter rauchte, fragte ich weiter: „Sicher nicht um Schiffbau, oder?“

Ein Grunzen. „Nein. Und der Song Herumgehurt handelt auch nicht vom Rotlichtmilieu, falls das deine nächste Frage ist. Und Oben oder Unten ...“

„Ist wohl keine schwule Sexfantasie?“, vollendete ich seinen Satz. „Schade.“

Seine Stirn wurde zu einem Kraterfeld. „Warum sollte ich darüber einen Text schreiben?“

„Keine Ahnung? Ich weiß wirklich nicht, was du mit Blaupause aussagen wolltest. Dass wir… mehr Apfelbäume pflanzen sollen? Wegen dem Zweig, der keine Früchte trägt, und so. Ein ökologischer Hintergrund?“

Sein charakterisches zischendes Lachen. „Oh Mann, typisch Generation Z…du bist viel zu jung, um ihn zu verstehen.“

„Bin ich nicht!“, protestierte ich und mein Kampfeswille war entfacht. Mochte ja sein, dass ich in einem anderen Jahrtausend geboren war als er, aber was hieß das schon. Nun wollte ich es erst recht herausfinden. Mein Handy nahm ich aus der Kitteltasche und las noch einmal die Zeilen des Textes durch. Im Kern drehte es sich wohl um Verwandtschaft.

„Wahrscheinlich ist der tiefere Sinn nur einem kleinen elitären Kreis vorbehalten. Wie beim Symbolismus“, mutmaßte ich.

„Ha, ha. Es ist einfach nur die Lebenserfahrung, die dir noch fehlt. Sei froh drum, ehrlich.“ Er nahm noch einen kräftigen langen Zug an seiner Zigarette, presste dabei die Finger ganz hart auf seine Lippen. „Ich kläre dich morgen auf, okay?“ Die Zigarette wäre noch nicht fertig gewesen, trotzdem landete sie im Aschenbecher. Wie konnte er die nur vorzeitig beenden?

„Wieso bis morgen warten? Ich will es jetzt wissen, klar?! Ich kann es schon verkraften, egal um was es geht! Sandro! Bleib da!“, quengelte ich und hielt mich wie ein Kleinkind an einem Zipfel seiner schwarzen Kleidung fest. Doch ich konnte ihn nicht zum Bleiben bewegen, er verschwand zur Schiebetür nach drinnen. Als er nicht mehr zu sehen war, pickte ich mit spitzen Fingern seine Zigarette aus dem Aschenbecher, blies in die verlöschende Glut, bis sie neu entfachte. Dank meiner Mutter hatte ich nie das Verlangen danach gespürt, selbst eine Zigarette zu rauchen. Dieses Filterstück jedoch hatten Sekunden zuvor keine geringen Lippen als die von Sandro berührt… Schmecken, was er geschmeckt hatte, tun, was er getan hatte, denken wie er gedacht hatte, und ich würde Blaupause analysieren können, dachte ich und schüttelte im selben Moment den Kopf über diesen Unsinn. Zurück damit in den Aschenbecher, wo es hingehörte! Was stimmte mit mir nicht?!
 

~
 

Verbissen starrte ich auf der Fahrt nach Hause auf mein Handy und las Sandros Songtext wieder und wieder. So tiefgründig konnte er doch nicht sein. Wieso sollte ich zu jung sein, um ihn zu verstehen? Da war doch eine idiotische Aussage. Sandro war nicht viel älter als ich. Ich schätzte ihn auf Mitte Zwanzig. Ob er wohl noch studierte?

Gar nicht gelegen kam Jos Nachricht in diesem Moment: „Hey Dome, was machste? Willste nicht mal wieder zum Zocken vorbeikommen?“

Genervt stöhnte ich auf, schrieb zurück: Ne, ist langweilig ohne Chris.

Darauf folgte nur ein trauriger Emoji von Jo. Ob Jo vielleicht etwas über die Hintergründe zu diesem Song wusste? Ich überlegte gut, wie ich diese Frage formulierte. Zurück kam bloß:

Blaupause? Nicht dass ich wüsste. Vielleicht weiß Simon was? Never! Niemals würde ich Simon über Gitarrhö ausfragen, oder sonst irgendetwas, das mit Sandro zu tun hatte. Unsere Unterhaltung im Club war mir noch viel zu präsent. Vielleicht steigerte ich mich ja nur seinetwegen so in die Sache rein. Er hatte ausgesprochen, was tief in mir zu brodeln schien. Die Frage war nur, ob ich ihn dafür hassen oder ihm dankbar sein sollte.
 

~
 

Blasser Dunst und Nebelschleier lagen über der Stadt in der Ferne, als wäre dort das Ende der Welt. Heute war ich allein hier draußen. Ich fror leicht und hoffte, dass Sandro bald kam. Leider hatte ich immer noch keine zündende Idee gehabt, was den Text anging. So einen Text konnte sich doch nur ein Verrückter ausdenken. Sandro eben. Hoffentlich würde er mich gleich aufklären.

Die Schiebetür wurde aufgestoßen und mir zog ein richtiger Schauder durchs Mark, eisiger als jede Kälte. Das konnte nur Sandro sein.

„Dominique!“, begrüßte er mich eine Spur zu fröhlich und nahm seine Stellung am Balkongeländer ein. War seine Laune umso besser, je mieser das Wetter war?

Die Zigarette, die ihm hinterm Ohr klemmte, steckte er zwischen die Lippen und aus der Tasche seiner Lederjacke holte er ein Plastikfeuerzeug hervor. Heute war es ein rosafarbenes, so rosa wie Himbeerjoghurt, was meine Mimik etwas entgleisen ließ. Aber das Anzünden wollte ihm nicht gelingen, das billige Feuerzeug spuckte bloß klägliche Funken aus. Doch heute schien er endlose Geduld zu besitzen.

„Das ist das einzig Doofe an diesem Wetter. Nebel mag ich total.“ Immer noch versuchte er erfolglos, die Zigarette anzuzünden, während er immer mehr die Stirn runzelte. Hatte er Schmerzen, wegen seiner Hand? Ich konnte es nicht länger mit ansehen, nahm ihm das Feuerzeug aus der Hand und entfachte beim ersten Versuch eine Flamme.

„Das ist…“, begann er, nahm dann aber doch meine Hilfe dankbar an, und kam mir so verdammt nahe, als ich seine Zigarette anzündete.

„Verrückt, ja“, vollendete ich seinen Satz, und auf das Fragezeichen in seinem Gesicht hin, erklärte ich: „Dir noch dabei zu helfen, dich kaputt zu machen.“ Apropos Gesundheit. „Ist deine Hand wieder okay?“ Denn heute entdeckte ich keines der bunten Tapes.

„So einfach wird sie nicht wieder okay“, gab er zurück und nahm einen weiteren tiefen Zug.

„Nicht?“

Nachdem er den Rauch ausgepustet hatte, wandte er mir den Kopf zu. Ein mildes Lächeln. „Hey. Krieg dich wieder ein. Ist doch nicht deine Hand.“

Was bedeutete das? Mir musste das blanke Entsetzen ins Gesicht gemalt sein, weswegen er seine Finger wie auf mich zukrabbeln ließ wie eine Spinne und dann spielerisch mit dem Nagel in meinen Oberarm hinein piekste. Für ihn war das nichts. Aber für mich war das wie eine Explosion, diese harmlose Berührung. Er ahnte ja nicht mal im Entferntesten, was er mit mir anstellte, die ganze Zeit schon. Nervös spielte ich an dem rosa Feuerzeug herum, das ich immer noch festhielt.

„Hattest du eine Erleuchtung, was den Text betrifft?“

Ich räusperte mich, zwang mich wieder in die Gegenwart. „Ähm... Er hat vielleicht keine Bedeutung. Möglicherweise ist der Sinn, dem Text den Sinn zu geben, den er für einen selbst hat.“

Sandro schnaubte belustigt. „Fans stellen die absurdesten Analysen und Theorien auf. Ich hatte mal angenommen, dass ein Song vom Jenseits handelt. Bis ich dann später in der Biografie des Sängers gelesen hab, dass dieser Song den beschwerlichen Weg der Band zum internationalen Durchbruch beschreibt.“

Ich grinste. „Ganz knapp vorbei.“

„Ja, haarscharf“, grinste er zurück. Die Zigarette war zur Hälfte aufgeraucht.

Der internationale Durchbruch. War es das, von dem er träumte? Ein Stadion füllen mit tausenden Zuschauern? Berühmt sein und auf der Straße erkannt und um Autogramme angebettelt werden? Bevor ich diese Frage formulieren konnte, kam er mir zuvor: „Macht dir die Arbeit hier Spaß?“

„Das hast du mich schon einmal gefragt.“

„Kann sein.“

„Ja, sie macht Spaß, aber bis an mein Lebensende möchte ich sie nicht machen.“

„Warum nicht?“

„Ich sehe mich nicht in diesem Beruf. Mit Menschen will ich schon etwas machen. Muss nur noch die Details klären.

„Du hast ja auch noch eine Ewigkeit Zeit, um dich und deinen Weg zu finden, probier dich aus, sammel Erfahrungen.“

„So lang aber auch nicht!“, gab ich zurück, malte mir bereits aus, wie ich mit Dreißig noch in Désirées Küche stand und mir ihre Tiraden anhören musste.

Er schnippte die Asche von der Zigarette. „Ich hab keine Ahnung, was dein Vater arbeitet oder welchen Lebensentwurf er für dich vorgesehen hat, aber er ist nicht die Blaupause für dein Leben.“

Bei mir klingelte etwas. „Aha… ein Hinweis, ja? In deinem kafkaesken Songtext geht um deinen Vater! Wie du ihn siehst, wie er dich sieht, und dass du...“

„Kafkaesk? Tatsächlich habe ich das Gesamtwerk von Kafka sehr genossen…“ Ein zartes Lächeln huschte auf seine Lippen, mit seinen Gedanken schien er plötzlich ganz woanders zu sein. „Das habe ich mir geholt, nachdem wir im Deutsch-LK Die Verwandlung fertig hatten. Der Lehrer hatte so ganz nebenbei erwähnt, wer ihn verstehen will, muss Kafka lesen. Denn auf der ganzen Welt würde einzig Kafka ihn verstehen, und der wäre der menschlichste Mensch, von dem er je ein Buch gelesen hat. Ich will gar nicht wissen, mit welchen Dämonen sich dieser Mann herumschlagen muss.“

Ich betrachtete ihn, wie er an diese vergangene Zeit und an diesen Lehrer zurückdachte, und was das mit ihm machte. Seine Augen hatten einen richtigen Glanz bekommen und er schien wie ausgewechselt. „Warst du… in diesen Deutschlehrer verknallt gewesen?“

„Hm… Ja, kann man wohl so ausdrücken.“ Das war stark, dass er da ganz aufrichtig zu mir war, dass er zu diesen Gefühlen stehen konnte und sie mir, einem fast Fremden, mitteilte. Ich versuchte mir einen Schüler-Sandro auf dem Pausenhof vorzustellen, der verstohlen seinen Deutschlehrer anschmachtete, das gelang mir aber nicht.

Seine Zigarette neigte sich dem Ende zu und mich überfiel die Panik. Weil ich so eine Ahnung hatte, eine Intuition. Wenn er jetzt ging, wann würde ich ihn dann wiedersehen? Ihn nur einmal im Monat im QUAKE zu erleben, und aus der Ferne anzustarren, das würde mich kaputt machen und würde nur in weiteren Suffnächten enden.

Ich wüsste zu gern, welche Worte der Geheimcode waren, mit dem Simon es fertig brachte, nahezu jede Frau abzuschleppen, auf die er Bock hatte. Sofern er überhaupt Worte benutzte und nicht nur die Macht seiner Pheromone. Aber ich war nicht Simon und Sandro keine Frau. So musste ich einfach improvisieren.

All meinen Mut zusammen genommen, fragte ich: „Bin ich auch zu jung dafür, dich besuchen zu kommen?“

Das war der wohl verrückteste Einfall, den ich je in meinem Leben hatte! Sogar Sandro schien überrascht, so hoch hatte er seine blonde Braue noch nie gezogen. Als würde er mich zum allerersten Mal als sexuelles Wesen wahrnehmen. Nur noch in Luft auflösen wollte ich mich. Scheiße, scheiße, scheiße!

„Mich besuchen?“, wiederholte er, ganz ohne seinen typischen ironischen Unterton in der Stimme. Ich hatte seine Aufmerksamkeit so sehr auf mich gezogen, dass er sogar vergaß, die Asche wegzuschnippen. Deshalb krümmte sich das verbrannte Ende seiner Zigarette immer mehr nach unten, bevor die einzelnen Flöckchen zu Boden rieselten. „Wow. Ich dachte, du fragst mich erst mal nach meiner Nummer, oder so…“

„Vergiss es, war nur ein Witz“, ruderte ich zurück, mit sehr wenig Überzeugungskraft. Was war nur los mit mir?!

Als ich im Begriff war, den wohl peinlichsten Abgang meines Lebens hinzulegen, packte Sandro mich in letzter Minute an der Schulter. Wie ein Blitz zuckte es mir durch sämtliche Nervenbahnen, und ja, so musste es sich anfühlen, zu sterben. Mein Gott…

„Besuch mich Sonntagabend. Gleich im Parterre, rechts.“ Er nannte mir eine Straße und Hausnummer, drückte dann den Stummel in den Aschenbecher.

„Wehe, die Adresse stimmt nicht!“, rief ich ihm hinterher, um meine Nervosität zu überspielen.

„Wehe, du kommst nicht“, entgegnete er darauf lässig und dann fiel die Schiebetür ins Schloss. Ich atmete erst einmal durch und wartete noch eine Minute. Meine Hände zitterten, aber nicht vor Kälte. Ich war vollkommen irre. Hatte ich mich gerade wirklich verabredet? Mit Sandro? Scheiße, nein! Schnell war das Handy aus der Tasche gezogen, wobei ich bemerkte, dass ich sein Feuerzeug versehentlich eingesteckt hatte! Die Straße gab es tatsächlich. Im Stadtteil Kornheim. Dorthin fuhr die Linie 13.
 

„Na? Hast du seine Nummer?" Frau Spinnler schielte neugierig über den Rand ihres Kaminfeuer-Buches hinweg, als ich an ihr vorbeiging. Mein Kopf musste so rot leuchten wie eine Ampel. Nicht seine Handynummer. Seine Hausnummer, verdammt!

„Sie sollten lieber Klarinette üben! Sie wollen doch den Adventschor begleiten!“, wurde ich laut.

„Ruhig Blut, Junge, ich übe doch jeden Tag. Nur nicht um die Mittagszeit, wenn es hier Interessantes zu sehen gibt. Das erinnert mich an die lustigen Stummfilme, die ich früher so gern gesehen habe.“

Apfel

Kornheim war der Stadtteil, der gern als das Herzstück dieser Stadt beschrieben wurde, vielleicht aus dem Grund, weil er die höchste Kneipendichte aufwies. Alle Häuser dieser Straße waren mit Graffiti besprüht, so auch die Backsteinfassade des Hauses am Ende der Straße. Die Haustür stand bloß angelehnt, also schlüpfte ich hindurch. Ein muffiger Geruch nach Altbau empfing mich. Nach dem Klingeln an Sandros Wohnungstür wartete ich ab, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Erst bemerkte ich drinnen Licht, dann hörte ich Schritte und ein Schatten war hinter den bunten Glasscheiben erkennbar. Nun gab es kein Zurück mehr.

„Hallo“, krächzte ich, als die Tür geöffnet wurde und Sandro vor mir stand, ganz in Schwarz gekleidet, ein gewohnter Anblick. Sofort huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Hey. Hast dich ja doch getraut. Komm rein, zieh bitte die Schuhe aus.“ Ich tat, wie mir geheißen, folgte ihm auf quietschenden Dielen in den kleinen Flur.

Meine billige olivgrüne Steppjacke nahm er mir ab und hing sie auf einen Holzbügel an der Garderobe, mehr Ehre als ihr gebührte.

Ich schlüpfte aus meinen Chucks mit den abgelaufenen Sohlen, dem Loch an der rechten Ferse und den mittlerweile grau gewordenen und zerfaserten Schnürsenkeln. Schuhe waren wirklich Letzte, um das ich mir vor diesem Besuch Gedanken gemacht hatte.

„Diese Unterschriften…?“, bemerkte Sandro, als er die Edding-Krakel auf den einst weiß gewesenen Schuhspitzen inspizierte.

„Sind von Jo, Chris und Marie. Meine besten Freunde. Sollte mir Glück fürs Abi bringen.“

„Und, hat es das?“

„Naja. Hätte mehr lernen können“, gab ich zu und er grinste.

Dann öffnete er die Tür, die zum Wohnzimmer führte. Hier dominierte ganz sandro-like die Farbe Schwarz aber auch Rot, und es wirkte edel und gemütlich, aber... Auf dem Ohrensessel vor dem Flachbildschirm saß in einem schwarzen T-Shirt mit dem Rolling Stones Logo der Bassist seiner Band!

„Oh, du hast Besuch heute?“ Deutlich hörte man die Enttäuschung aus meiner Stimme heraus.

„Nein, Tilmann ist mein Mitbewohner. Sorry, habe ich vergessen, zu erwähnen. Tilmann, das ist Dominique, er war schon ein paarmal im QUAKE, und mag unsere Musik.“ Der zweite Teil davon stimmte mitnichten, doch hier und jetzt wollte ich ihn ungern korrigieren.

Tilmann brummte etwas, das in seinem dichten Vollbart verschwand. Der horizontal geteilte Bildschirm zeigte den Pausenmodus eines sehr alten, grobpixeligen Videospiels im 3:4 Format an. Zwei graue Controller mit bunten Knöpfen waren in die Konsole eingestöpselt. Wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.

„Setz dich doch, und wundere dich nicht, wir waren gerade mitten in einem Videospiel, ein Ego-Shooter mit Multiplayer-Modus aus den Neunzigern, das auf einem weltberühmten Geheimagenten basiert. Es ist also in mehrfacher Hinsicht paradox. Tilmann konnte auf dem Flohmarkt neulich nicht dran vorbeigehen.“

Sandros Zigarettenschachtel lag griffbereit auf dem Glastisch, neben mehreren Fernbedienungen, einem Handy, einem Brillenetui und zwei leeren Dosen Rockstar Energydrink. In der Mitte des Tisches stand eine Schale mit quietschgrünen Äpfeln, doch die dürften die Auswirkungen des Rauchens auch nicht wettmachen. Ich entschied mich ebenfalls für Energydrink, als mir Sandro etwas zu trinken anbot und er machte sich auf zu der winzigen Küchenzeile hinter dem Sofa.

Ich schaute ihm hinterher, ob er mir vielleicht ein geheimes Zeichen machte, aber nichts dergleichen geschah. War es etwa nicht klar gewesen, was ich mit meinem Besuch beabsichtigt hatte? Hatte ich mich umsonst verrückt gemacht, die drei Tage lang? Verständlich, dass Sandro nicht Däumchen drehte, während er auf mich wartete, aber wollte er mich wirklich nötigen, jetzt dieses öde Videospiel mitzuspielen? War ich für ihn etwa der Hetero, der bloß eine platonische Freundschaft zu einem Hobbygitarristen suchte, und zum Zocken vorbeikam? Das wäre echt traurig, wenn wir so sehr aneinander vorbei kommuniziert hätten, und ich mir diese gewisse Magie zwischen uns nur eingebildet hatte…

Sandro reichte mir die kühle Dose und setzte sich neben mich. Die Enttäuschung musste mir ins Gesicht geschrieben stehen. Ein Zeichen, nicht einmal ein kleines Zeichen. Ich lehnte mich also zurück, nahm einen Schluck, und schaute zu, wie sie ihr Spiel wieder fortsetzten. Dass er sich mit seinem Bandkollegen Tilmann nicht nur eine Wohnung teilte, sondern auch so gut mit ihm befreundet war, dass er seiner Nähe ganz er selbst sein konnte und auch mich nicht vor ihm versteckte, imponierte mir.

Beide Figuren rannten mit Pistolen bewaffnet durch eine Art Lagerhalle. Plötzlich explodierte etwas in orangefarbenen Wolken, und Sandros Spielfigur ging zu Boden, während Blut über seine Bildschirmhälfte floss.

„Was war das?“, fragte ich.

„Minen. Das ganze gottverdammte Level ist vermint, und wenn man sich einer nähert, geht sie hoch“, kommentiert Sandro.

„Vier zu null, Xenia. Das kannst du nicht mehr aufholen“, meldete sich Tilmann zu Wort.

„Tilmann. Du blamierst mich vor meinem Fan.“

„Was soll ich tun, dich absichtlich gewinnen lassen?“

„Natürlich nicht! Aber ich versichere dir, Dominique, dass ich dieses Spiel zum allerersten Mal spiele.“

„Für dein erstes Mal stellst du dich gar nicht schlecht an“, raunte ich ihm zu. Der Seitenblick, den er mir daraufhin zuwarf, war nicht mit Worten zu beschreiben und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Einige Sekunden hielten wir Blickkontakt. Alle meine Zweifel von vorhin wurden weggefegt. Dass wir abgelenkt waren, nutzte Tilmann, um sich mit einem gezielten Schuss auf Sandros Figur das 5:0 zu sichern, und abermals floss Blut über Sandros Bildschirmhälfte und das Spiel war beendet.

„Tja, verloren…“, verkündete Sandro mit gespielt trauriger Stimme.

Ich stellte meine Dose auf den Tisch und ergriff Sandros Controller, sowie seine Hand, die ihn festhielt.

„Lass mich dich rächen. Aber ohne Minen, nur Knarren.“

„Hm? Glaubst du, dass du eine Chance gegen Tilmann hast?“ Seine Finger hatte er nicht einen Millimeter bewegt. „Das Spiel ist älter als du!“

„Na und?“

„Okay, zeig, was du drauf hast.“ Sandro überließ mir den Controller, nahm die Hände erst weg, als ich ihn zu mir gezogen hatte, und wir kamen uns so nah, dass mich sein Atem streifte. Gänsehaut pur! Oh Mann, was stellte er mit mir an?!

Tilmann stellte im Menü die Waffen und den Schwierigkeitsgrad ein und startete ein neues Spiel.

Die Steuerung war ungewohnt, ich musste erst reinkommen, mich in dem 3D-Labyrinth zurechtfinden. Im Grunde war ich nur ein Gelegenheitszocker, wann immer Jo mich mal dazu überreden konnte. Sandro, nun nur noch Zuschauer, saß mit verschränkten Armen da, den Blick auf den Bildschirm geheftet, wo eigentlich noch gar nichts passierte. Zuerst mussten wir eine Waffe im Level finden, und danach uns gegenseitig.

„Ich bin gleich wieder da, macht nur weiter“, verkündete Sandro jetzt und erhob sich geschmeidig von der Couch, nicht ohne, dass ich ihm hinterherschaute. Ich blieb alleine mit Tilmann zurück. Könnte dem emsig Schweigenden jede Frage über Sandro stellen – ob er sie mir beantwortete, stand auf einem anderen Blatt.

Nein, ich traute mich definitiv nicht, ihn über Sandro auszuquetschen, dafür war ich zu schüchtern. Nicht bei seiner Quatsch-mich-nicht-voll-Aura, die er verströmte.
 

Es stand bereits drei zu eins für Tilmann, als Sandro zurückkam und in unser Gespräch über Videospiele platzte, doch er machte keine Anstalten, sich wieder dazu zu setzen. „Da bin ich wieder.“

„Hmhm“, murmelte ich abwesend, ganz ins Spielgeschehen vertieft. Ich musste auf der Hut sein, denn ein einziger Schuss würde mich umbringen.

„Dominique. Sieh mich an“, forderte Sandro mich im Flüsterton auf. Also schaute ich kurz vom Bildschirm auf, über meine Schulter. Wow. Er hatte sich in der Zwischenzeit geschminkt, so wie auf der Bühne. Einzig für mich, das stand außer Frage. Er brachte mich ziemlich aus der Fassung, was er amüsiert zur Kenntnis nahm.

„Magst du meine Gitarre sehen?“

„…Ähh“, machte ich genauso überrumpelt wie unschlüssig. Meinte er das jetzt wortwörtlich? Nach dem Videospielen noch eine kurze Gitarreneinheit? Wäre ihm zuzutrauen. Tilmann hatte mich schon wieder erschossen, sich meine Ablenkung zunutze gemacht. Ich gönnte ihm den Sieg und erhob mich.

„Gibst du mir einen Apfel?“, bat Sandro, die Hand ausgestreckt, also angelte ich von der Schale auf dem Tisch einen am Stiel.

Behutsam manövrierte er mich in den Flur hinaus, weg von Tilmann, der etwas hüstelte, das sich wie „dünne Wände“ anhörte, die nächste Tür in sein Schlafzimmer hinein.
 

Hier sah es biederer aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Da wo das Bett stand, war ein Raumtrenner mit dunklen Lamellen angebracht, das keinen Blick darauf erlaubte. Doch allein durch die Anwesenheit seines Bettes lag eine eigenartige Spannung in der Luft.

Ein deutliches Knirschgeräusch war zu vernehmen, als er in den Apfel hineinbiss, ganz nah bei mir, und ich zuckte zusammen, so sehr stand ich unter Spannung. Sein Kauen war in der Stille gut zu vernehmen.

„Sag mal. Die Frage ist jetzt vielleicht etwas äh… dreist…“

„Hm?“, fragte er mit vollem Mund.

„Wollt ihr groß rauskommen, irgendwann? Berühmt werden?“

Er prustete los. „Das steht doch gar nicht zur Debatte.“

„Warum nicht? Ich verstehe leider gar nichts von Musik und Produzenten und so. Aber mich interessieren deine Ziele. Und Träume. Wenn du die freie Wahl hättest.“ Während ich redete, schaute ich mich weiter um im Zimmer. Die Gitarre entdeckte ich nicht, aber dafür zogen die Musikalben meinen Blick auf sich. Mit ihren Covern voran lehnten sie nebeneinander, auf einem besonders schmalen Brett, was sehr schön aussah. Kreuz und quer durch das Rock-Genre, bekannte Bands und weniger bekannte. Schwarzes, Düsteres, aber auch Buntes dazwischen.

„Niemals werde ich ins Showbusiness einsteigen. Dazu hätte ich auch gar nicht die Nerven dafür. Meine Lieblingsmusiker hat der Ruhm das Leben gekostet, so will ich nicht enden.“

Ich verweilte etwas länger an einem ganz bestimmten CD-Album. „Ich hätte nicht gedacht, dass du Eminem-Fan bist.“

„Fan, würde ich es nicht ausdrücken, aber es tut manchmal gut, ihn zu hören“, sagte er nur kryptisch und ich ließ den Blick weiter schweifen, über die Hülle eines signierten Albums, auf dessen Cover die Bandmitglieder abgebildet waren, dicht zusammenstehend, mit freien, behaarten Oberkörpern, provokant in die Kamera schauend. Das war schon viel mehr Sandro.

„Magst du die hören?“

„Nein!“, sagte ich eine Spur angewiderter als beabsichtigt. „Ich brauche jetzt keine Musik.“

Langsam ging er die paar Schritte auf mich zu, stellte sich so dicht vor mich, dass ich die Hitze seines Atems im Gesicht spürte. Seine Worte fast nur ein Flüstern: „Was brauchst du denn dann?“

Mir wurde bei dieser Stimmlage von ihm der Mund so trocken, dass ich es ihm nicht verraten könnte, selbst wenn ich es wüsste. Ja, was war es, was ich brauchte? Noch vor einer Woche hätte ich jeden ausgelacht, der mir prophezeit hätte, dass ich mich heute nur einen Raumteiler entfernt von seinem Bett befinden würde.
 

Ich griff nach dem halb angebissenen Apfel in seiner Hand. Er ließ ihn nicht los, als ich einen vorsichtigen Bissen nahm, und versenkte dann ebenfalls die Zähne darin, bevor er den Rest des Apfels in den Flechtkorb in der Ecke warf. Sehr sauer, dieser Apfel. Doch das bewirkte, dass meine Sinne zurückkehrten.

„Sag es mir. Was du magst. Hm?“ Sandros Stimme war klar und ruhig dabei, doch er erwischte mich trotzdem kalt.

„Ehrlich gesagt, ich…“ Ich war im Begriff, ihm etwas zu gestehen, fand aber einfach keine Worte, die ausdrückten, was ich fühlte. Dass ich das nicht wusste. Also eigentlich schon, aber nicht bei einem Mann... Dass ich mir gestern verstörende Videos reingezogen hatte, um eine Ahnung davon zu bekommen, was mich heute erwarten würde, und das Ganze jetzt noch unangenehmer für mich war. Ihn sicher nicht beleidigen wollte, auf keinem Falls ich ihm die Schuld zuschieben wollte, wenn es nicht so klappte, wie er es sich vorstellte! Mein konisch geformter Deoroller fiel mir ein, der jetzt im Müll lag, nachdem er mich um eine Erfahrung reicher gemacht hatte, auf die ich im Nachhinein gern verzichtet hätte.

Das alles brannte mir auf der Seele, während er immer noch so geduldig dastand, bei mir, mit dem er seine Zeit verschwenden würde.

Nun legte er mir die Hand auf die Schulter. „Hey. Du bist ja ganz durch den Wind, dafür, dass du dich quasi selbst eingeladen hast. Magst du etwas zu trinken, um lockerer zu werden?“

„Nein, bloß nicht.“

„Angst vor deiner eigenen Courage?“

„Ganz ehrlich? Ja!“

Sandro schmunzelte nur in sich hinein. Dann nahm er mein Handgelenk. Meine Hand führte er unter sein Shirt, legte sie auf sein Sixpack! Wow. Das zu erreichen, musste harte Arbeit und Disziplin erfordert haben. Noch nie hatte ich so einen durchtrainierten männlichen Körper berührt, höchstens auf Hochglanzmagazinen angestarrt. Weil ich selbst gern so aussehen würde. Hatte ich zumindest immer angenommen, oder mir eingeredet.

Meine Finger konnte ich nicht mehr zurückhalten, sie krochen wie hungrige Raupen seine formvollendeten Bauchmuskeln mit den Vertiefungen, Erhebungen, hinauf bis zu seiner Brust. Ich erfühlte seine Gänsehaut dabei. Und den weichen Teppich aus Haaren. Die Augen geschlossen war es, wie in der Zeit zurückkatapultiert zu werden, in eine zwielichte Abstellkammer, wo ich bei diesem Anblick bloß Neid und Abscheu empfunden hatte, weil ich das komplette Gegenteil davon war. Nun erkannte ich, dass es etwas völlig anderes war: Begehren! Von dem Punkt, an dem ich es verabscheut hatte, von ihm berührt zu werden, war ich mittlerweile soweit, wo ich genau dies mehr als alles sonst begehrte. Eine hundertachtzig Grad Wendung. Als seine Finger unter mein Shirt kriechen wollten, zog ich reflexartig den Bauch ein und wich zurück.

„Genierst du dich?“

„Bisschen…“, gab ich zu.

„Unnötig.“

Als er mich in eine Umarmung zog, protestierte ich nicht. Ich sog seinen Duft ein, diesen männlichen… nach Moschus und Holz? Genau konnte ich es nicht definieren, aber er roch gut. Es dauerte nicht allzu lange und ich fand mich in einem Kuss wieder. Seine Lippen waren so rau und gleichzeitig so weich und voll, wie auch immer so etwas möglich war. Gegensätze, wie sein südländischer Name und sein nordisches Erscheinungsbild. Sein Bart, über den ich mit dem Daumen strich, war weicher als er den Anschein erweckte. Nach einer kleinen Ewigkeit erst ließ er mich los. Bestimmt war ich lippenstiftverschmiert.

„Magst du Massagen?“, fragte er ganz leise und da öffnete ich wieder die Augen.

„Äh…“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

„Darf ich dir deine Füße massieren?“

„Meine Füße?“, wiederholte ich irritiert.

„Du läufst doch viel auf deiner Arbeit.“

„Schon, aber…“

„Dann setz dich auf die Couch.“ Unklar, was mich erwartete, ließ ich mich auf die alte karamellfarbene Couch in der Ecke nieder, die bequemer war als sie aussah. Aber die Dellen im Leder und die abgeschabte Farbe ließen vermuten, dass sie schon einige Jahre alt war. An einer Stelle befand sich sogar ein Brandfleck.

Ich wollte meine Socke ausziehen, doch Sandro bestand darauf, das selbst zu tun, also ließ ich ihn gewähren.

Wie er auf dem Teppich vor der Couch kniete, langsam und bedächtig er den Socken herunterzog und meine blanke Haut preisgab, meinen Fuß dabei in beiden Hände haltend... Dann kam sein Gesicht näher. Er berührte mit der Nasenspitze meine Sohle, inhalierte so tief, dass sich sein Brustkorb dabei blähte. Beim Ausatmen kitzelte mich sein warmer Atem. Dieses Grinsen, wie eine Mondsichel in der Nacht. Seine Zunge wanderte über meine Zehenkuppen, als wären sie ein Xylophon. Irgendwann verschwand mein großer Zeh zwischen seinen schwarzen Lippen. Er saugte daran, als ob es gar kein Zeh wäre, sondern… Jetzt nahm er eine Tube vom Beistelltisch und begann, die Creme auf meinen Fuß zu verteilen, die kalt war und einen herben Geruch nach Olive verströmte. Seine Hände waren warm und der kräftige Druck, den er ausübte, sehr angenehm. Wie professionell. Ich genoss seine Berührungen. Wie nötig meine Füße eine Massage gehabt hatten, wurde mir erst in diesem Moment bewusst. Seine geschickten Finger glitten zwischen meinen Zehen auf und ab.

„Das ist noch besser als Thai-Massage“, hörte ich mich sagen und sank tiefer in die Polster.

„Das will ich doch hoffen.“

Nach einer Weile hielt ich dem Druck nicht mehr stand, knöpfte meine Jeans auf und schaute mir die Bescherung in meiner Boxershorts an. Einige Tropfen waren bereits in den Stoff gesickert. Mein Schwanz pulsierte. Einsatzbereit, sehnte er sich nach Feuchte und Enge…

„Trau dich ruhig“, hörte ich Sandro sagen, und ich schenkte ihm die Freiheit. Ich fasste mich an und er hielt kurz inne, nur um sich dann dafür zu entscheiden, auch meinen anderen Fuß einzucremen, während er mir zuschaute, ganz nonchalant.

Irgendwann löste seine Hand meine ab. Geschmeidige Finger mit schwarz lackierten Nägeln schlossen sich um meinen Schaft, in den noch mehr Leben strömte. In seiner Hand blühte er vollends auf und dann senkte er den Kopf auf meine Körpermitte, was mich nach Luft schnappen ließ.

Mit Worten war das nicht zu beschreiben, als sein Bart meine intimsten Stellen streifte. Seine Lippen um meine Eichel waren wie ein sanfter Griff. Langsam glitt er tiefer hinab, verschlang mich geradezu. Seine Hände verblieben in einem eng gezogenen Radius meiner pulsierenden Mitte, eine Hand auf meinem Unterbauch, mit der anderen massierte er meine Hoden.

Er wusste, was er tat. Das hier war einfach Welten besser, als ich es mir in den kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Mein Schwanz. Sein Mund, mit dem er es schaffte, dass es sich anfühlte, als würde er vergoldet. Eine Technik, mit der er mich an den Rand des Wahnsinns brachte. Ich hatte gar nichts erwartet und wurde so überrascht. Meine Hüften konnten gar nicht anders, als sich in seinem Rhythmus zu bewegen, in der fremden Mundhöhle, die mich warm und feucht willkommen hieß und den perfekten Druck ausübten.

Irgendwann widmete er sich immer wieder dieser einen Stelle, an der es am geilsten war. Funkenstieben an meinem ganzen Körper. Sein Blick ging mir durch und durch, als er zu mir aufsah. Ich spie einen lautlosen Schrei aus, als seine Lippen daraufhin meine Hoden berührten, an der empfindlichen Haut saugten. Ganz langsam arbeitete sich seine Zunge meinen Schaft entlang wieder himmelwärts.

„Gleich… gleich…“ Meine Stimme war nur ein kehliges Japsen. Lange vor mir erahnte er das Beben, trotzdem ließ er nicht von mir ab, als mein Unterleib explodierte. Ich kam, wie ich nie zuvor gekommen war. Wollte nicht so laut aufstöhnen, aber es ließ sich nicht vermeiden. Und er ließ erst von mir ab, als alles vorbei war.

Sandro bettete mich danach rücklings, so dass ich mich längs auf der kleinen Couch ausstrecken konnte, so gut es eben möglich war. Ein dünner Speichelfaden baumelte von seinem Kinn. Der Lippenstift war fast ganz verwischt. Unschlüssig schaute er mich an, sein Gesicht nah an meinem, da hüpfte deutlich sein Adamsapfel. Ich riss die Augen auf. Ernsthaft?! Mann, das ging mir durch und durch!

Beide Hände, die sich anfühlten, als würden sie aus Pudding bestehen, legte ich an seinen Nacken und zog ihn zu mir herunter, wo er den Kopf auf meine Schulter ablegte, und ich ihn an meinem Nachbeben teilhaben ließ. Keiner sprach, Worte waren unnötig und ich hätte eh keinen vernünftigen Satz herausgebracht. Nie hatte ich mich so geborgen gefühlt wie in diesem Moment.

In meinem Kopf, in Gedanken, die ich mir niemals zu Ende zu denken erlaubt hatte, war es mit einem anderen Kerl grob, schnell vorbei und mit Konkurrenzdruck angesichts der Tatsache, dass gleich zwei Penisse im Spiel waren. Wodurch Vergleiche und blöde Sprüche an der Tagesordnung wären. Doch keine einzige meiner Befürchtungen war eingetroffen. Natürlich kannte ich das Wort schwul, doch Sandro lehrte mich überhaupt erst die Bedeutung dessen. Ausgerechnet er, dem ich es niemals zugetraut hätte, so zärtlich zu sein. Oder vielleicht mir selbst nicht, mich einem Mann hingeben zu können. Meine Finger strichen von seinem Schulterblatt aus seinen Nacken entlang, in seinen Haaransatz hinein und zurück.

Fast musste ich darüber lachen, wie krampfhaft und zugleich erfolglos ich zu verdrängen versucht hatte, dass Sandro mir sogar sehr gefiel.

„Jetzt hast du mir deine Gitarre gar nicht gezeigt“, murmelte ich schläfrig. An meinem Oberschenkel spürte ich ganz deutlich… Hm. Ja. Das gehörte nunmal dazu. Zu ihm. Nicht, dass es sich wie eine Aufforderung, eine offene Rechnung anfühlen würde oder es Absicht von ihm war; er verlangte gar nichts von mir. Lag nur da und atmete.
 

Unser intimes Beisammensein unterbrach jäh ein Stimmengewirr im Flur, das ich nicht zuordnen konnte. Ich musste eingedöst sein, wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war. Sandro krabbelte von mir und dem für uns beide viel zu kleinen Sofa herunter und ich vermisste sein Gewicht auf mir schon in der nächsten Sekunde. Wie kalt es ohne ihn war. Ich trug ja auch keine Hose mehr.

„Süßer. Ich bin in fünf Minuten wieder da, muss nur schnell was regeln.“ Schon war er an der Tür, verschwand, ohne meinen Protest abzuwarten und ließ mich alleine und halb nackt im Zimmer zurück. Und mit feuerrotem Kopf. Hatte er mich wirklich gerade Süßer genannt?!

Tilmanns Bariton war undeutlich zu vernehmen, durch die dünnen Wände des Altbaus und die Tür, die Sandro nur angelehnt hatte. Dazu eine andere Männerstimme, hoch und schrill im Vergleich dazu, so dass ich einen Bösewicht aus einem Cartoon vor Augen hatte, der Spucketröpfchen ausspie: „Da bist du ja! Du hast mich überall blockiert, was blieb mir denn anderes übrig, als persönlich herzukommen?!“

Kerzengerade saß ich auf der Couch und versuchte mir einen Reim darauf zu machen, was zur Hölle da draußen im Flur vor sich ging. War ER das? Sandros Ex? Warum denn ausgerechnet heute?!

„Was macht dein Entzug?“ Mir entgleisten die Gesichtszüge.

„Den habe ich gerockt, aber sowas von!“

„Wolltest du nicht nach Amerika auswandern? Nur große Töne gespuckt, was“, klinkte sich Tilmann wieder ein. Ich schlüpfte in meine Kleider, eine Diele quietschte dabei. Fast wagte ich nicht mehr zu atmen.

„Das geht dich einen Scheißdreck an, und wegen dir bin auch gar nicht hier! Sandro, du hast noch etwas, das mir gehört und das will ich zurück. Ich überweise dir dann die Kohle zurück, die ich dir schulde, und wir sind quitt!“

Sandro murmelte einige unverständliche Worte.

„Ja, ich bin verdammt sicher!“

Schritte, die sich näherten. Oh Gott, würden die beiden jetzt das Zimmer betreten? Ich kauerte mich zusammen. Begleitet von einem Knarzen der Diele kam Sandro herein, alleine, würdigte mich keines Blickes und trat hinter den Raumteiler. Kurz darauf tauchte er dahinter wieder auf und trug einen Gitarrenkoffer aus dem Zimmer heraus. Die Tür schloss er wieder hinter sich.

Ich schlich mich dorthin, presste das Ohr gegen das Schlüsselloch, um zu lauschen. Nicht die feinste Art, ich weiß. Aber ich konnte nicht anders.

„Nimm sie und verschwinde. Dein Zeug will ich eh nicht mehr hier haben.“

„Weißt du was? Ohne mich wärst du eine Nullnummer, Sandro Schwarzer, menschlich wie künstlerisch! Du und der Rest, der von der Band übrig geblieben ist, dieser Freakhaufen. Keine Ahnung, was ich je an dir gefunden habe. Hörst du?“, wurde er lauter. „Ja, wegrennen, das kannst du gut!“

„Raus jetzt, Flo! Meine letzte Warnung!“, brüllte Tilmann. „Zum Geier! Du hast Nerven, diese Wohnung überhaupt zu betreten, so kurz vor dem Prozess!“

„Was hast du zu melden, und seit wann wohnst du hier überhaupt? Halt dich im Hintergrund, so wie es sich für dich gehört, Bassist!“, gellte die Stimme zurück. „Eines sag ich euch: Wenn ihr weiterhin auftretet mit den Songs, die ICH geschrieben habe, könnt ihr was erleben!“ Meine Neugier wog mittlerweile schwerer als die Furcht, also fasste ich all meinen Mut zusammen und drückte die Türklinke hinab. Einen kleinen Spaltbreit öffnete ich die Tür und spähte hindurch. Aber da war nur Tilmanns breiter Rücken zu sehen, der die Sicht auf alles andere versperrte. Seine Arme hielt er auf sehr angepisste Art in die Hüfte gestemmt. „Gibs auf, was soll es denn bei uns zu holen geben?!“

„Schon mal was von geistigem Eigentum gehört? Das gilt noch, wenn ich schon lange verrottet bin.“

„Ja Flo, verrotte doch einfach. Dein Hirn hat ja schon längst damit angefangen.“

Krachend fiel die Tür ins Schloss, dem folgten polternde Schritte im Treppenhaus.

Da traute ich mich endlich raus. „Ich weiß nicht, wer das war, aber Sandro schreibt eindeutig die besseren Songs“, sagte ich, mehr zu mir selbst. Mich hielt nichts mehr hier in der WG dieser verrückten Band! Was für ein Abend. Ich nahm meine Schuhe und meine Jacke und zog mich im Treppenhaus an.

Gemeinsamkeiten

Maries Brief las ich mir mehrmals durch. Weil sich immer wieder meine Konzentration verabschiedete, so dass ich von vorn anfangen musste, so wenig konnte ich ihren geschriebenen Sätzen folgen. Ihre Handschrift war alles andere als ordentlich und es war wirr geschrieben. Ich fasste einen Entschluss: ich würde Marie nie wieder zurückschreiben. Dafür war einfach zu viel passiert an einem einzigen Sonntagabend. Ihr einen Brief zu schreiben, in dem ich die Sache von gestern mit keinem Wort erwähnte, käme schlichtweg einer Lüge gleich. Doch ihr davon zu erzählen, wäre ein einziger Vorwurf, an Gefühle, die wir beide für uns behalten hatten. Das könnte ich noch weniger aufschreiben, und wie überhaupt… Allein der Gedanke, all das, was Sandro in mir ausgelöst hatte, durch eine Kugelschreibermiene zu pressen und auf einem Stück Papier zu verewigen, war absurd. Nein, ich war nicht mehr der, den sie kennengelernt hatte. Diesen Briefwechsel zu beenden, erschien mir der einzig richtige Weg.
 

Die unterste Schublade, in der sich die vorigen Briefe von ihr befanden, öffnete ich und legte diesen dazu, damit er endlich vom Tisch war. Mir blitzte die CD entgegen … die CD, an der Sandros Ex mitgewirkt hatte.

Ich öffnete die Datei mit den Texten auf meinem Handy und scrollte noch einmal die Texte durch. Mir fiel auf, dass unter allen Titeln, bis auf Herumgehurt, Oben und unten, und Blaupause, entweder beide Namen darunter oder Florians Name allein stand. Auf dieses Detail hatte ich beim ersten Ansehen gar nicht geachtet. Seinem Ex verdankte er also alle Songtexte bis auf diese drei, das war eine Tatsache, und würde dieser seine Drohung wahrmachen, sie wegen des Urheberrechts zu verklagen, so sähe es beschissen für die Zukunft der Band aus? War das möglich? Leider kannte ich keinen Jura-Studenten, den ich das fragen konnte. Ich textete Simon aus einem Impuls heraus: Wie viele Songs gibt es eigentlich von Gitarrhö, weißt du das? Haben die alle selbst geschrieben und auch alle schon live gespielt?

Gab es denn ein öffentliches Social Media Profil von Florian? Ich war neugierig auf das Gesicht zu dieser Stimme, wollte den Mann sehen, dem Sandro mal sein Herz geschenkt hatte. Schien ein richtiger Badboy zu sein: Drama. Ein Entzug. Gerichtsprozess. Eine Drohung. Und wer weiß was noch alles... Da hatte Sandro einiges mitgemacht mit ihm. Verständlich, dass er sich da einfach nur nach Ablenkung sehnte, nach einem langweiligen, ungefährlichen Jemand wie mir, der auf das grüne Ampelmännchen wartete. Das war vielleicht gar kein Spott gewesen von ihm damals.

Simons Antwort erwischte mich kalt: Au Cummy, bist du jetzt schon in der Phase, wo du deinen Lieblings-Gitarristen stalkst? Da hab ich was Feines für dich! Aber nicht eifersüchtig werden!

Ich klickte mit ungutem Gefühl auf den angefügten Link zu einer Videoplattform, mit dem aufmerksamkeitsheischenden Titel „Gitarrhö LIVE xD(mit KUSS!!1)“. Die Soundqualität von dem Handy, das es aufgenommen hatte, war schrecklich, die Filmqualität ebenfalls und ich spulte immer weiter vor, bis fast zum Ende. Trotz der verpixelten Darstellung erkannte ich Sandro, das war eindeutig er, und der Jemand hinter ihm könnte Tilmann sein. Ich verfolgte mit, wie Sandro mitten im Song innehielt und auf seine Gitarre hinabschaute, als wäre sie plötzlich kaputt gegangen. Der andere Gitarrist mit langen schwarzen Haaren und knöchellangen dunklen Mantel, der rechts von ihm stand, drehte den Kopf zu ihm, registrierte, was geschehen war, und machte einen Satz auf ihn zu. Er kam seinem Gesicht nah, die Kamera folgte ihm, zoomte heran, bis ihre Gesichter nur noch Pixelmatsche waren, doch es war unverkennbar ein Kuss. Und was für einer. Gegröle im Hintergrund; undefinierbar, ob es Rufe des Protestes waren oder des Anfeuerns; während die beiden wild auf der Bühne knutschten und das Video abrupt endet. Ich sprang nochmal eine halbe Minute zurück und schaute es noch einmal an. Diese Gitarre, auf der Flo spielte… War das nicht dieselbe rote Gitarre, mit der Sandro immer aufgetreten war? Sandro hatte also die ganze Zeit auf der Gitarre von seinem Ex gespielt? Warum das denn?

Noch eine Nachricht, aber nicht von Simon, sondern von Jo: Wo warst du denn gestern?

Auf einem Date, schrieb ich, um ihn zu schocken.

WTF??? Dazu Emojis, denen fast die Augen heraus kullerten und ich musste lachen. Ja, das war so abwegig, dass ich so schnell nach Marie wieder ein Date hatte.

Aber ich kann dich beruhigen: Es lief scheiße.

Warum?

Na am Ende ist der Ex aufgetaucht.

Oha, Drama!

Und was gibt es bei dir?

Nichts Besonderes.

Sicher?

Ich bin neulich Marie begegnet.

Oh. Ich wartete darauf, dass er weiter schrieb, doch das tat er nicht. Er schien es sich genüsslich aus der Nase ziehen lassen zu wollen. Doch diesen Gefallen tat ich ihm nicht. Schön. Also bis dann.

Willst du denn gar nicht wissen, wo? Und wen sie dabei hatte? Kommst du nie drauf.

Interessiert mich nicht mehr.

Hm, wie war das, dass ihr wieder zusammen kommt?

Kümmere dich um deinen Kram!

Keine Sorge, mach ich schon.
 

Ich begegnete Sandro die restliche Woche nicht. Und auch nicht die darauffolgende. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Einmal setzte mein Herz aus, als ich am Balkon vorbeiging und eine schwarze Gestalt dort rauchen sah. Doch beim zweiten Blick stellte es sich als meine Kollegin heraus. Fast schon hörbar atmete ich erleichtert aus machte kehrt.

„Na, was ist los, Junge?“, sprach mich Frau Spinnler an, in die ich fast hineinlief. „Die ganze Zeit schon eine Leichenbittermiene, wer ist denn gestorben?“

„Tun Sie doch nicht so. Sie wissen doch genau, was Sache ist“, gab ich zurück.

„Ich weiß von gar nichts?“

Ich fauchte sie bloß an. „Vergessen Sie nicht, für das Adventskonzert zu proben.“

„Alles zu seiner Zeit!“
 

Als ich nach Hause kam, fand ich im Briefkasten eine Postkarte von Mama vor. Aus den Niederlanden. Bloß ein Einzeiler, wie immer, signiert mit In Gedanken immer bei euch, eure Mutter.

Ich spürte Wut. Enttäuschung. Diese ewigen Postkarten, mit ihrem nichtssagenden Inhalt im Telegrammstil. Als würde pro Buchstabe abgerechnet! Nie einen längeren Brief oder einen Anruf! Malt euch doch gefälligst selbst aus, was ich mache und wie es mir geht, ich habe es nicht nötig, es euch mitzuteilen, weil ihr mich mal kreuzweise könnt. Als Bestrafung für was auch immer.

Das erinnerte mich an Davids Reisefotos, die er mir in der Eisdiele gezeigt hatte. Eine blutleere Diashow, bei der man die persönliche Note schmerzlich vermisste. Gerade dieses Fehlen machte es so verdächtig. Mit Missmut dachte ich an jenen Tag zurück. Ich hatte mich wie ein kompletter Idiot verhalten. Schon zückte ich mein Handy, tippte, korrigierte, überlegte, und schickte dann die Nachricht ab:

Hey David, ich weiß du bist nicht gut auf mich zu sprechen. Ich wollte deine Fotos wirklich nicht schlechtreden. Hör bloß nicht auf mich, okay? Ich war schließlich nicht dabei gewesen auf der Reise, die dir viel bedeutet hat, zu so einer Wanderung könnte man mich nie im Leben überreden. David, ich könnte es verstehen, wenn du deswegen nichts mehr von mir wissen willst.

Zeitig kam auch eine Antwort von ihm: Ach, das trage ich dir doch nicht nach. Eine andere Meinung zu haben, das sollte eine Freundschaft aushalten. Das waren richtig nette Worte von ihm! Da stand es schwarz auf weiß: Freundschaft. Erleichtert, ja ich war wirklich erleichtert, als ich das las, und schrieb zurück: Lass uns doch bald wieder etwas unternehmen. David stimmte zwar zu, doch er schlug auch nichts Konkretes vor.
 

~
 

Samstagabend, und ich war allein zu Hause, als es zaghaft an der Tür läutete. Wer mochte das sein? Ich ging auf die Tür zu und öffnete sie. Niemand da? Doch erst auf den zweiten Blick sah ich die Gestalt, die aus den Schatten trat. Einen schwarzen Parka mit Fellbesatz an der Kapuze. Ihre blonden Locken trug sie offen, ein Stück kürzer, der dunkelblonde Ansatz war ein Stück herausgewachsen, warum hatte sie aufgehört mit dem Blondieren? Ich musste dastehen wie ein angefahrenes Reh.

„Hey“, sagte Marie leise.

Stumm starrte ich eine peinliche Ewigkeit lang meine Ex an, die vor der Tür stand, ich war total aus dem Konzept gebracht.

„Schau mal, ich habe dir was mitgebracht.“ Marie drückte mir ein Buch in die Hand und trat ein, ohne meine Einladung abzuwarten. „Ich kann doch nicht nach so langer Zeit mit leeren Händen ankommen. Und da ich ja an der Quelle sitze…“

„Die besten Salate der Welt“, las ich den Titel vor, während sie begann, ihren Mantel auszuziehen. Stumm schaute ich ihr dabei zu. Sie hing ihn an die Garderobe, dann winkelte sie ihr Bein an und öffnete den Reißverschluss ihrer Stiefelette, die sie neben meine abstellte. Die elfenhaften Schuhe in Größe 37 waren so klein neben meinen in 42. Sie stand vor mir in einem knielangen schwarzen Pulloverkleid und dunkler Strumpfhose, die ihre Beine noch schmaler wirken ließen und kam mir plötzlich so erwachsen vor, als hätten wir uns Jahre nicht gesehen. Seit wann trug sie eigentlich von Kopf bis Fuß Schwarz? Sie war doch immer so ein Farben-Mensch gewesen. Immer hatte sie immer mindestens zwei, drei Bonbonfarben miteinander kombiniert und dabei echten Stil bewiesen. Marie war auch nicht mehr dieselbe…

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“

„Äh, ich schau mal, ob ich noch schwarzen Tee dahabe.“ Ich war froh, dem spärlich beleuchteten, engen Flur zu entkommen.

„Ist lieb von dir. Aber ich trinke ihn eigentlich nicht mehr. Eigentlich lieber Kaffee, so wie alle im Büro, die haben mich angesteckt mit ihrer Koffeinsucht. Aber mach dir keinen Stress. Ich brauche jetzt nichts.“

Sie folgte mir leichtfüßig und nahm auf dem Küchenstuhl Platz, wie nur sie Platz nehmen konnte: Statt sich normal hinzusetzen, immer die Beine angezogen und die Fersen auf die Sitzfläche abgesetzt. Anfangs hatte es mich fasziniert, dass sie zu jeder Gelegenheit demonstrierte, wie biegsam und sportlich sie war, doch dann kam ich bald dahinter, dass das einfach der Lifestyle war, den sie seit Kindesbeinen pflegte ohne darüber nachzudenken. Ich setzte mich ihr gegenüber, setzte das Kinn auf die Hände.

„Marie. Es sind doch erst zwei Wochen vergangen seit deinem letzten Brief.“

„Ach, darum geht es mir doch gar nicht.“

„Worum dann?“

Sie seufzte, senkte den Blick. „Habe ich dieses Jahr Abitur gemacht, oder nicht?“

„Was ist das für eine Frage?“

„Ich bin einfach die dümmste Azubine, die es je gab!“

„Hör auf, Nägel zu kauen und erzähle mir, was du angestellt hast.“

Sofort nahm sie die Hand vom Mund, knetete sie mit der anderen Hand, bog dann ihre Finger fast im Neunziggradwinkel nach hinten. War ihre Optik auch anders, ihr Parfüm auch; hier war sie durch und durch Marie.

„Naja, weißt du, ich mache im Büro seit kurzem die Zeitschriften-Belieferung selbstständig. Da bekommen die Zeitschriften ein beschriftetes Etikett zum Aufkleben, eigentlich simpel, aber ich habe das total vermasselt! Ich habe, frag mich nicht wie, die falschen Etiketten auf die falschen Zeitschriften geklebt. Später haben viele Kunden angerufen und sich beschwert, und mein Ausbilder hat mich dann zur Rede gestellt. So peinlich!“ Sie verzog das Gesicht.

„Da hast du natürlich keine Heldentat vollbracht, aber es gibt Schlimmeres“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ärgerlich eben, aber nichts, was einen Rausschmiss rechtfertigt. Nächstes Mal schaust du ein zweites Mal hin und gut ist.“

„Ich weiß nicht, ob ich am Montag wieder zur Arbeit gehen kann! Vielleicht bin ich da fehl am Platz. Ich hab den ganzen Laden aufgehalten. Sogar die nette Kollegin war genervt, weil sie meinen Fehler ausbügeln musste. Dabei hab ich das doch nicht mit Absicht gemacht.“

„Jetzt übertreibe mal nicht. Du darfst Fehler machen, du lernst ja noch. Halte einfach die drei Jahre durch, und studier dann Literatur, oder so.“

Dazu sagte sie nichts, schaute mich nur mit großen Augen an. „Mein Kopf ist wie ein Karussell. Ich kann mir nichts merken, wie soll das denn später in der Berufsschule werden? Meine Kollegin weiß so viele Nummern auswendig und bei mir bleibt einfach nichts hängen. Wie macht die das? Ich bin so doof! Total hohl in der Birne!“

Ich seufzte, schüttelte den Kopf. „Du bist nicht doof, aber du bist scheinbar nicht ganz bei der Sache, weil dein… sagen wir mal, Arbeitsspeicher, vollgestopft ist. Weil du dir immerzu einredest, was alles schiefgehen kann, wovor du Angst hast; dass du nie Pokale gewonnen hast, und, was war noch… Ach ja. Dass deine Mutter nicht mehr mit dir redet. Dein letzter Brief war so wirr, sorry, ich habe den nicht kapiert.“

„Dann schmeiß ihn einfach weg. Ist egal.“

„Ich werde niemals einen Brief von dir wegschmeißen. Wieso sagst du so etwas?“

Wir schwiegen gemeinsam, ich beobachtete sie und den Inhalt ihrer letzten Briefe Revue passieren. „Marie. Langsam wird mir klar, wieso du Schluss gemacht hast! Du hast mich provisorisch kaltgestellt, bevor ich das tun konnte. Weil dir alles im Leben gerade entgleitet und du es nicht verkraftet hättest, auch noch mich zu verlieren. Ist es nicht so?“ Sie schaute mich nur mit großen Augen an. „Weil ich der Einzige war, über den du noch Macht hattest.“

Sie senkte den Blick und atmete tief durch. „Du kennst mich wohl besser, als ich mich selbst. Nicki. Ich war echt dumm, mich so lange nicht blicken zu lassen.“ Da war dieser Moment. Die Option, sie wieder zurück zu gewinnen. Ihre Haare zurückstreichen, sie küssen. Ihr gestehen, wie sehr ich sie vermisst hatte. Sie mit in mein Zimmer nehmen und den ganzen Schwulenkram hinter mir lassen, bevor es zu spät war. Alles würde wie früher werden. Das Traumpaar Nicki und Marie forever. Warum wäre sie wohl sonst herkommen? Das, was sie mir erzählt hatte, war doch bloß ein Vorwand.

Sie schob das Kinn trotzig vor, als sie fragte: „Sag mal. Hast du jemanden kennengelernt? Sei ehrlich.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich lerne viele Leute kennen in letzter Zeit.“

„Nicki“, sagte sie auf diese ganz bestimmte Art. Ihre blauen Augen schienen mich zu röntgen. „Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du lügst. Du hast jemanden kennengelernt! Ich weiß es aus sicherer Quelle.“

„Jo hat dir geschrieben?! Der soll sich mal um seinen Kram kümmern“, schimpfte ich.

„Wer ist es?“

„Niemand, den du kennst. Und es war auch nur ein einziges Treffen. Wiederholungen wird es nicht geben.“

„Ging ja schnell.“

„Marie.“ Ich musste schlucken. „Es ist nicht so, wie du denkst. Du musst wissen… Ich hätte nie gedacht, dass ich…“

„Boah. Hör doch auf, dich zu rechtfertigen.“

„Ich meine…“

„Ist halt so. Vielleicht hast du sie einfach gebraucht.“

Dieses kleine Wörtchen Sie war wie ein Tritt in den Magen, und ich haute die Fäuste auf den Tisch. Sollte ich sie an dieser Stelle korrigieren? Alles auf den Tisch bringen? Sie redete weiter: „Und es wundert mich nicht. Ich meine, im Bett war es doch immer voll scheiße gewesen.“

Ich war sprachlos, dass mir der Mund offen stand. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Scheiße im Bett?

„Na schau mich doch nicht so an. Wenn dem nicht so gewesen wäre, hättest du dir ja auch keine andere gesucht, oder?“

„Es war aber keine Sie!“ Nun war der Geist aus der Flasche.

„Äh…Sondern?“

„Ein Er.“

Marie schluckte und starrte mich an.

„Du hast dir einen Kerl gesucht?!“ Ihre Stimme überschlug sich.

„Nein, er hat mich gefunden... Ich habe das noch keinem gesagt.“

„Du hast mich betrogen“, sagte sie ganz nüchtern.

„Nein, habe ich nicht.“

„Oh doch, und ob. Auch wenn es ein Kerl war. So tolerant solltest du schon sein.“

„Ich meine, du hast doch eh Schluss gemacht, wie kann ich dich da technisch gesehen betrügen?“

„Schluss?! Ich habe eine Pause gemacht, nicht Schluss!“, korrigierte sie mich.

„Das ist doch dasselbe!“

Doch sie brauste nun so richtig auf, schüttelte voller Unverständnis den Kopf. „Ist es nicht! P-A-U-S-E, habe ich am Telefon gesagt, erinnerst du dich nicht mehr? Kapierst du jetzt, warum so viele Leute per SMS Schluss machen? Damit der andere es schriftlich hat, und einem hinterher nicht die Worte im Mund herumdrehen kann!“

Mit überschlagenen Beinen saß sie auf dem Stuhl, und kippelte damit, was halsbrecherisch aussah, auch damals in der Schule schon, und zwirbelte ihre Haare.

„Wunderbar. Du hast dich also dafür entschieden, eine Pause zu machen, oder wie auch immer du es nennen willst, mit allem, auch bei deinem Sport. Ich habe aber keinen Pauseknopf, wie eine Serie, ja? Mein Leben geht weiter, und du solltest damit klar kommen, dass auch dein Leben weiter geht.“ Die Ärmel krempelte ich hoch, ich stand auf und nahm die große Pfanne aus dem Schrank und knallte sie auf die Herdplatte, lauter als es meine Absicht gewesen war. „Und ich mache jetzt Pfannkuchen, weil ich Hunger habe. Du hast wahrscheinlich keinen Hunger, wie immer?“ Im Gegensatz zu mir nahm Essen und Kochen einen geringen Stellenwert in Maries Leben ein. Sie mochte es zwar, wenn ich für sie kochte, hatte aber meistens nie viel Hunger, dafür spielte sie gern mit dem Essen.

Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie hinausrennen würde. Aber sie war nur vom Stuhl aufgestanden, kam jetzt zu mir, lehnte sich gegen die Arbeitsfläche, nagte an ihrer Unterlippe. „Nicki. Seit wann magst du Kerle? Schon immer?“ Der Ton in ihrer Stimme ließ erkennen, dass sie das wirklich interessierte. Ich zuckte die Achseln. Keine Lust auf so ein Gespräch.

„Hör zu, als ich mit dir zusammen gewesen war, habe ich noch nicht einmal im Traum an einen Kerl gedacht! Und ich fand es nie scheiße mit dir! Warum hast du nie etwas gesagt? Warum haben wir nie geredet?“

Diese Antwort konnte sie mir auch nicht geben. Stattdessen lenkte sie davon ab. „Erzähl mir von ihm. Wo hast du ihn kennen gelernt? Wie alt ist er? Ist es der, den du im Brief erwähnt hast, mit dem uralten Handy?“

Ich schüttelte bloß den Kopf, doch konnte nicht verhindern, dass sich Sandro vor meinem inneren Auge materialisierte, und mir wurde warm dabei.

Zwei Wochen hatte ich ihn nicht gesehen. Doch schon in der nächsten Sekunde spannte sich alles in mir an.

„Oho. Du hast aber ganz schön gegrinst eben! Wie weit bist du mit ihm gegangen?“

„Gib mir mal die Schüssel aus dem Schrank“, forderte ich sie auf, um sie auf andere Gedanken zu bringen, denn darauf würde ich ihr niemals eine Antwort geben. Das tat sie auch, und ich nahm Milch und Eier aus dem Kühlschrank, schnappte mir einen Schneebesen und eine Schüssel.

„Wie sieht es jetzt eigentlich mit deinem Sport aus?“, fragte ich sie, bevor sie mich weiter über Sandro ausquetschen konnte.

„Montag hab ich ein Probetraining.“

„Was, wirklich? Für welche Sportart?“

„Kickboxen.“

„Wow, das komplette Gegenteil!“ Die Vorstellung von dieser zierlichen Elfe in Boxhandschuhen war bizarr. Ich nahm sie in Augenschein, ihre zierliche Gestalt von knapp eins sechzig, kein Gramm Fett zu viel, vielleicht halb so schwer wie Sandro. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie Sandro bei mir landen konnte. Marie und er hatten absolut nichts gemeinsam.

„Ja, ist etwas anderes. Aber ich probiere es mal.“

„Klar. Wieso solltest du nur für den einen Sport geschaffen sein?“ Ja, sie hatten doch etwas gemeinsam, und das war ihre Leidenschaft für Sport. Aber sonst…

„Mutter meinte, sie wird sich an keinen Kosten beteiligen. Tja, aber ich verdiene jetzt mein eigenes Geld.“

„Richtig, Marie. Zeig es ihr. Was ist eigentlich aus deinen Umzugsplänen geworden?“

„Naja. Ich warte wohl noch bis zum dritten Lehrjahr, wenn ich mehr verdiene.“

„Hm. Verstehe. Würdest du mir gerade mal die Tüte Mehl aus dem Schrank da geben?“

Das tat sie, doch bevor ich sie entgegen nehmen konnte, griff sie hinein, nahm eine Handvoll Mehl und rieselte es über mich. Zuerst schockiert, tat ich es ihr gleich und wir lachten zusammen, während Mehlstaub den Küchenboden benetzte.

„Weißt du noch“, begann sie, sich schüttelnd von der Lachsalve, „als wir uns hier vor Lachen am Boden gewälzt haben?“

„Ja. Lange ist es her… Ich weiß gar nicht mehr, weswegen“, sagte ich und wurde wieder ernst. Hätten wir doch mehr geredet. Dann wäre sie wohl nicht aus meinem Leben verschwunden! Menschlich stimmte die Chemie mit ihr, und ich wollte sie nicht verlieren. Das mit Sandro hatte sie ziemlich gut aufgenommen. Ob wir nicht einfach Freunde bleiben konnten? Das würde mir nie wieder passieren, nahm ich mir vor. Lieber wollte ich zehnmal zu viel reden und nerven, als dass mir so eine Situation nochmal passierte.

Als würde sie genau das gleiche in diesem Moment denken, sagte sie: „Nicki, ich hab übrigens mein Digital Detox beendet. Ab jetzt kannst du mir wieder texten. Zu jedem Scheiß, der dir gerade im Kopf herumgeistert. Auch, wenn es um IHN geht.“ Verschwörerisch lächelte sie mir zu, und da konnte ich nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen. Das löste in mir nicht mehr das gleiche aus wie früher, aber das war in Ordnung. Sie war ja jetzt meine Ex.

„Das mit dem Literaturstudium… darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber ich habe mir das nicht zugetraut…“, sagte sie ganz leise. „Vielleicht ist das ja eine Option, nach der Ausbildung…“

Literatur. Noch eine Gemeinsamkeit der Beiden. War das nicht gruselig?

„Das solltest du auf jeden Fall im Hinterkopf behalten.“

Iglu

Aus dem milchigen Himmel fielen aus dem Nichts die Schneeflocken herab. Pünktlich zum ersten Dezember. Es war merklich kälter geworden, seitdem ich das letzte Mal hier am Balkongeländer gestanden war. Ich stand alleine. Sandro brauchte ich nicht, um eine kleine Verschnaufpause hier zu verbringen. Den Gedanken daran, wie er jetzt ganz gelassen, auf seine Sandro-Art an seiner Zigarette ziehen würde, während Schneeflocken auf seiner bleichen Haut schmelzen würden, oder vielleicht auch nicht schmelzen würden, denn Sandro war cooler als Schnee, verbot ich mir.

Das Probetraining gestern war cool! Ich werde mich anmelden, teilte mir Marie im Chat mit. Ich schickte ihr zur Bestärkung ein Daumenhoch-Emoji.

Auch David schrieb mir in diesem Moment: Wollen wir uns heute Abend im IGLU in der Innenstadt treffen? Unter der Woche? Aber warum nicht. Wo war der überhaupt? Schnell suchte ich ihn online. Die Fotos vom Club sahen schon mal vielversprechend aus.
 

~
 

Mir gefiel das Ambiente im IGLU, den ich noch nie besucht hatte war. Unterirdisch in einem Gewölbekeller gelegen, machte er mit dieser gekonnt gespachtelten Wänden seinem Namen alle Ehre; die kühle Beleuchtung, nicht zu hell, sondern genau richtig, setzte die richtigen Akzente, um die Atmosphäre eines Iglus perfekt zu imitieren. Ich saß mit einem Eistee vor mir, auf einem weißen Sitzwürfel aus Leder an der Bar, betrachtete die zu Pyramiden aufgestapelten Cocktailgläser und dem blauen Hintergrund-Licht. Wie lange wollte mich David noch warten lassen?

Bist du wieder in die falsche Bahn gestiegen?, textete ich ihm, doch statt einer Antwort tauchte er persönlich auf.

„Hey“, begrüßte er mich. Hellblaue Jeans und weißer Pulli, als hätte er es zur Location abgestimmt. „Bitte entschuldige die Verspätung!“

„Kein Ding. Wie geht es dir?“

David setzte sich neben mich und bestellte sich ebenfalls einen Eistee. Er plauderte mit mir, scherzte; erzählte über die Uni und seinen Job im Bioladen und mir gefiel das Strahlen in seinen Augen. Kaum Zeit schien vergangen zu sein, und dass ich ihn in der Eisdiele sitzen gelassen hatte, war auch Schnee von gestern.

„Ich wollte dir etwas zeigen. Es hat mir keine Ruhe gelassen, was du gesagt hast und ich will dir die restlichen Fotos nicht vorenthalten.“

Wieder hatte er eine blecherne Keksdose dabei – doch sie war größer als die in der Eisdiele. Ganz behutsam nahm er den Deckel ab und entnahm einen beachtlichen Stapel Polaroidfotos, den er mir hinschob.

„Tja, dann wollen wir mal…Fotoserie, die zweite“, murmelte ich und entfernte als erstes den schon etwas porösen Gummiring. Das erste Foto. Schönes Wetter, ein Selfie. David, dessen Haare noch ein ganzes Stück kürzer gewesen waren als jetzt, am Startpunkt seiner Reise, wie er mir erklärte. Einige Fotos weiter, strahlte mich ein Junge mit kurzen schwarzen Haaren an, so alt wie wir oder etwas jünger.

„Wer ist das?“

„Das ist Pablo Romero.“

Kommentarlos nahm ich mir das nächste Polaroid vor. Ein Foto, das im Regen gemacht worden war. Derselbe Junge, mit einem großen Rucksack und schlammverdreckten Sportschuhen. Über die Schulter schaute er in die Kamera und schien dem Fotograf etwas zuzurufen.

Zwei Hände in Nahaufnahme, die einen Esel streichelten. Pablo, wie er auf einem Feld auf seinem Rucksack als Kissen döste. Zwei Gläser Limonade beim Zuprosten, ein Stück von Pablos Lächeln in der oberen Ecke des Fotos.

„Seid ihr zusammen den Jakobsweg gelaufen?“

„Nicht ganz. Auf Hälfte der Strecke haben wir uns in einer Unterkunft kennengelernt. Am nächsten Abend haben wir uns wieder getroffen und uns viel zu erzählen gehabt, da haben wir beschlossen, gemeinsam weiterzuziehen.“ Pablo, Pablo, Pablo. David hatte sein Lieblingsmotiv gefunden… Pablos Profil im Gegenlicht, seine Haare wie ein feuriger Heiligenschein vor der untergehenden Sonne. Ein lachender Pablo, der knietief im Wasser stand, das in der Sonne glitzerte, nur eine Boxershorts an. Und so ging es immer weiter. Immer einer der beiden im Bild. Fotos voller Jugend, Leichtigkeit und Freundschaft. Seit Pablo in Davids Leben getreten war, waren die Fotos merklich farbiger und lebendiger geworden.

Ich konnte mich nicht sattsehen und es stimmte mich wehmütig, als ich das letzte Foto betrachtete: Pablo mit seinem Rucksack vor jener Kathedrale am Zielort, die Hand zum Gruß erhoben, aber ohne Lächeln auf den Lippen.

Ich gab sie David zurück, und es fröstelte mich, mich von der Sonne Spaniens plötzlich in diesem Eiswürfel vorzufinden, so sehr hatte ich meine Umgebung vergessen.

„Wow. Das waren wirklich schöne Fotos, David. Wie alt ist Pablo, und woher kommt er?“

„Mittlerweile ist er Achtzehn, er kommt aus einer sehr armen Gegend in Spanien.“

„Und was hat ihn zu der Reise bewegt?“

„Weil seine Eltern ihn zuhause rausgeworfen haben.“ Sorgfältig verstaute er die Fotos in der Keksdose.

„Krass. Was macht er denn jetzt? Habt ihr noch Kontakt?“

„Wir schreiben uns oft SMS. Er wohnt momentan bei einem Freund in Madrid, und hält sich mit Nebenjobs über Wasser…auf Dauer ist das natürlich keine Lösung. Ich würde mir wünschen, dass er eine Ausbildung beginnt.“

„Warum haben ihn seine Eltern denn rausgeworfen?“

„Ich brauche einen Drink“, meinte David. „Kannst du mir was empfehlen? Was starkes?“

„Einen Drink. Bist du sicher?“ Er nickte bekräftigend. „Okay, wie du möchtest.“ Ich winkte den Barkeeper heran, der sich sehr nah zu mir beugte, als ich zwei Shots bestellte. Für den Anfang lieber weniger.

Gebannt schauten wir beide zu, wie er die klare Flüssigkeit in die Gläser füllte und sie uns dann hinschob.

„Du hast Jo angelogen, als du sagtest, du trinkst aus religiösen Gründen nicht, stimmt´s?“

„Vielleicht…“

„Ist ja auch egal. Also. Worauf wollen wir trinken?“

„Hm. Ich weiß nicht?“

„Ach, dann trinken wir auf Pablo!“, gab ich das Startkommando. Wir kippten das Glas zeitgleich hinunter, ich warf den Kopf in den Nacken. David keuchte und schnappte nach Luft, das Gesicht verzogen.

„Uh, dieses Zeug, ich spüre richtig, wie es mir die Speiseröhre verätzt“, murmelte er, die Hand auf dem Brustbein.

Ich lachte schallend los. Es war zu köstlich, David bei seinem ersten Alkoholkonsum zu erleben. „Du wolltest unbedingt.“

Er räusperte sich. „Weißt du, das waren nicht alle Fotos. Eines fehlt. Pablo habe ich schon gefragt, aber er hat es nicht. Dabei habe ich zuhause jeden Stein umgedreht.“

„Ja, sowas kenn ich. Es wird irgendwann schon wieder auftauchen.“

„Hm“, machte er nur, wandte den Blick ab. „Du, ich sollte wirklich jetzt nach Hause, ich wollte morgen früh weiterlernen. Der Stoff wird schließlich nicht weniger, je näher die Klausur rückt, und ich muss von Anfang an am Ball bleiben.“ Er machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen, zwirbelte an einer Locke. „Naja, aber ich wusste, was mich erwartet, Noah hat mich ja vorgewarnt.“

„Wer ist Noah, und wovor hat er dich gewarnt?“

„Mein älterer Bruder. Nun, du musst wissen, er hat das Priesterseminar absolviert und ist jetzt Kaplan.“

„Kaplan? Was bedeutet das?“

„Also, die Priesterweihe hat er schon hinter sich, aber er unterstützt einen Pfarrer, und leitet noch keine eigene Gemeindepfarrei.“

Mir fiel beinahe die Kinnlade auf den Tisch. Unbeirrt meiner Mimik fuhr David fort: „Und er versteht nicht, wieso ich nicht auf die gleiche Uni gegangen bin wie er, in München.“

„Wieso bist du nicht?“

Die Lippen presste er zusammen. „Genau deswegen! Weil Noah dort studiert hat, und er war verdammt gut, in der Schule schon hatte er das Einser-Abitur, ich leider nicht. Er wollte mich anfangs sogar um jeden Preis von diesem Studium abhalten, weil ich seiner Meinung nach nicht das Zeug und die Reife zum Priester habe.“

„Ah – ich verstehe. Deswegen bist du losgepilgert?“, fragte ich etwas zu forsch nach. Das war das Puzzleteil, das gefehlt hatte. Über den Grund, wieso er diese Reise angetreten hatte, hatte er mich im Dunkeln gelassen, eigentlich die spannendste Frage von allen.

„Auch deswegen, ja. Weißt du, es muss doch so rüberkommen, als wäre ich gar nicht mit dem Herzen dabei, sondern würde nur denselben Weg einschlagen wie er, weil er eben mein großer Bruder, und Vorbild ist. Kennt man ja aus Familien, in denen Generationen von Anwälten oder Ärzten sind. Nur dass es etwas mehr Überzeugung braucht, Priester zu werden als Anwalt, das ist eine Berufung. Gott beruft dich dazu. Wenn ich diese Strecke gepackt habe, dachte ich, würde ich auch das Studium packen, und außerdem…“ Er verstummte und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Außerdem wollte ich schauen, ob ich mich selbst aushalte, das alleine leben aushalte! Ich war vorher noch nie alleine im Urlaub gewesen, meistens nur mit den Pfadfindern unterwegs und auch mal in Taizé, und alleine habe ich auch noch nie gewohnt. Diese Reise war wirklich ein Meilenstein für mich. Nie war ich Gott näher gewesen, nie habe ich mich so ausgeliefert gefühlt.“

Nachdenklich schaute ich ihn an, wie er seinen Kreuzanhänger dabei fest umklammerte. Er mied meinen Blick, als würde er bereits bereuen, was er gesagt hatte. Wer er war. Zog augenblicklich den Vorhang zurück, durch dessen winzigen Spalt ich einen Blick wagen durfte. Machte dicht.

„Lassen wir es gut sein. Ich kriege es schon irgendwie hin. Erzähle mir etwas von dir. Hast du denn noch Kontakt zu deinen Schulfreunden?“

„Hmm. Teilweise, aber es ist wirklich weniger geworden, sie sind so beschäftigt, früher haben wir uns jeden Tag gesehen. Jetzt kommt mir das Leben irgendwie so sinnlos vor.“

„Sinnlos, nur weil du deine Freunde weniger häufig siehst? Dabei tust du doch so viel Sinnvolles, im Altenheim.“

„Natürlich, aber das mache ich nur, weil ich noch nicht weiß, was ich studieren soll. Du hast wenigstens deine Richtung schon gefunden, was heißt Richtung; dein Lebenstraum! Und du bist auf dem besten Weg, ihn zu verwirklichen, und ein vorbildlicher Priester zu werden.“

Ich war entzückt davon, wie sich dieses Lob bei ihm auswirkte: Seine Wangen wurden deutlich rosig, seine Ohren noch mehr, und er nestelte wieder an seinen Haaren herum.

„Das hat mir noch keiner gesagt.“ Er warf mir einen schüchternen Blick zu, der mich fast zerfließen ließ. „Überhaupt, ich finde, du bist nicht wie die meisten. Du hast nie irgendwas Abfälliges gesagt, zu dem was ich studiere, das kommt selten vor.“

„Ich bin durch Jo schon abgehärtet, du glaubst nicht, was er mir schon für Leute vorgestellt hat“, winkte ich ab. „Er ist ein Freak-Sammler, jeder, der irgendwie exotisch ist, weckt sein Interesse, aber eher, um damit anzugeben. Also nix gegen dich“, beeilte ich mich zu sagen.

„Aha… Was wäre demnach das Exotische, das ihn an dir interessiert?“

„Vielleicht, dass meine Mutter auf Weltreise ist, seit mehr als zwei Jahren“, murmelte ich.

David betrachtete mich interessiert. „Das wusste ich ja noch gar nicht“, sagte er. „Sie macht eine Weltreise?“

„Ja, quasi über Nacht war sie plötzlich weg, und in einer Postkarte hat sie es dann verkündet.“

„Dazu gehört aber sehr viel Mut.“

„Meiner Schwester nach, eher Wahnsinn. Sie ist bis heute nicht gut auf sie zu sprechen, denn sie musste sich um den Papierkram kümmern und um mich, ich war erst siebzehn, musste zu ihr ziehen und auf eine andere Schule gehen.“

Ich wandte mich von seinen Augen ab, die so groß und fast schwarz waren, zwei schwarze Löcher, die einem die am tiefsten vergrabenen Geheimnisse auf dem Grund der Seele heraussaugen wollten. Dass Mama zuvor immer öfter betrunken gewesen war und ihren Alltag kaum geregelt bekam, wollte ich nicht erzählen, nicht heute, vor allem nicht ihm. Ich wollte nicht, dass er schlecht von mir dachte und mich in eine falsche Schublade einsortierte, wenn auch unbewusst. Schämte mich genauso vor meinen dunklen Geheimnissen, wie er sich selbst vor seinen. Erschrocken registrierte ich, wie sein kleiner Finger auf dem Tisch meinen berührte – war das Absicht?

„Dominique. Du sagtest, du bist frischer Single. Warst du mit einem Mädchen zusammen, oder…“ Uff! Dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Das hätte ich ihm nicht zugetraut.

„Ich war mit Marie zusammen…“, begann ich, total überrumpelt.

„Aidshilfe!“, rief plötzlich jemand vom anderen Ende des Raumes. „Eine Spende für die Aidshilfe!“ Ich drehte mich in Richtung der Stimme um.

Eine Dragqueen stolzierte mit wiegenden Hüften durch die Lounge, und ihr hellblaues Kleid glitzerte wie tausend Eiskristalle. Um die Armbeugen trug sie eine Federboa. Ihre bonbonfarbene Perücke war mit roten Aids-Schleifen verziert. Stolz trug sie ein Sparschwein, in der einige Münzen klapperten. David starrte sie mit offenem Mund an und auch ich war überrascht.

„Hii“, begrüßte sie uns, als sie an unseren Tisch kam, und fuhr fort mit einem künstlichen französischen Akzent: „Ich bin La Pétite Morte und ich sammle Spenden für die Aids-Hilfe. Heute ist der erste Dezember, Welt-Aids-Tag, ein weltweiter Gedenktag an die vielen Opfer des HI-Virus.“

„Äh, na klar, das ist doch schließlich für einen guten Zweck“, sagte David schnell, kramte in seiner Hosentasche und warf zwei Münzen in den Schlitz des pinken Sparschweins.

„Merci beaucoup!“

Auch ich spendete einen Euro – Davids hilfsbereite Art war so ansteckend, man kam sich neben ihm schnell wie ein schlechter Mensch vor. Aus ihrer silbernen Mini-Handtasche zog sie etwas hervor und legte es mit verschmitztem Lächeln auf den Tisch, und zog dann weiter ihre Runde. Mein Blick folgte ihr, wurde dabei angezogen von den zwei Jungs auf einer Couch hinter uns, deren Zungen ineinander verschlungen waren. Das versetzte mir einen regelrechten Schock.

„David. Wo sind wir hier?“

David, der die beiden Kondomtütchen inspizierte, die die Drag Queen dagelassen hatte, räusperte sich und schaute mich an. „Was vermutest du denn?“ Und als ich kein Wort herausbrachte: „Es ist genau das, wonach es aussieht.“

Mir fehlten die Worte. Ich wusste nicht, was mich fassungsloser machte: dass David mich in eine Gay-Bar gelockt hatte; oder dass mir das erst jetzt aufgefallen war, nach fast einer Stunde. Die Frage, ob es jemanden gab, den er mochte, die brauchte ich nicht zu stellen, nach dieser Fotoserie, war es doch sonnenklar.

„Wie oft warst du schon hier?“

„Noch nie. Diesen Club hat jemand von der Uni mal beiläufig erwähnt, und da war ich neugierig, weil ich das nicht kannte!“

„Und dann fragst du ausgerechnet mich, ob ich dich begleite?“ Meine Stimme klang beinahe hysterisch. Noch während ich das aussprach, fragte ich mich insgeheim, ob man mir etwas anmerkte. Ob David etwas bemerkte. Irgendwelche schwulen Schwingungen. Eine Aura. Oder sowas in der Art.

Sofort stammelte David: „Es… es war echt eine saublöde Idee von mir.“ Nervös strich er sich durch die Haare. Es gefiel mir, ihn so peinlich berührt zu erleben. „Ich wusste nicht, wen ich sonst fragen könnte. Dir vertraue ich, bei dir bin ich mir sicher, dass du mir keine Drogen ins Glas kippst.“ Das war mal ein eigenartiges Kompliment. Der Blickkontakt, der sich zwischen uns aufbaute, fegte meinen Kopf leer. „Du… behältst das doch für dich, oder?“

„Hm. Klar.“

„Wusste ich es doch. Wow, es ist echt schon spät geworden“, meinte er mit Blick auf seine Uhr. Ich kannte sonst niemanden, der eine Armbanduhr trug.

„Dann sollten wir wohl aufbrechen. Außer natürlich, du möchtest noch hierbleiben, und tanzen. Ich wette, du gibst einen richtig guten Tänzer ab!“

„Muss nicht unbedingt sein“, meinte er und stand hastig auf. Ich kam nicht umhin zu grinsen. Ich wollte ihn wirklich mal tanzen sehen.
 

Die kühle Nachtluft tat gut. Ich atmete tief durch. Sternenklar war die Nacht und eiskalt. Der Schnee von heute vormittag war natürlich nicht liegengeblieben. Wir gingen im Gleichschritt zur U-Bahn, jeder die Hände in den Jackentaschen vergraben. Ich verfolgte die Atemwölkchen, die aus seiner Nase empor stiegen, und mein Blick wanderte dabei hoch zum Mond. Heute war er so dünn, eine schmale Sichel, die uns angrinste, mir zurück grinste. Ein Grinsemond!

„Achtung“, hörte ich David noch, doch zu spät, ich stolperte vom Mondglotzen über den verdammten E-Scooter, den jemand hatte liegen lassen. Aber David schaffte es, mich im Flug gerade noch aufzufangen. Das durfte nicht wahr sein!

„Sorry, ich habe nicht geschaut…“, murmelte ich, als er mich wieder losließ. „Meine Fresse, wenn du nicht gewesen wärst, läge ich jetzt hier auf der Straße!“ Ich musste lachen, auch um meine Nervosität zu überspielen. Aber warum eigentlich nervös? Es war nicht das erste Mal, dass er mir so nah war. Vielleicht war es ja auch gerade das… die Erinnerung an das Kino…

„Macht nichts. Du sag mal…Magst du noch mit zu mir? Einen Film anschauen?“, fragte er, als könnte er meine Gedanken lesen.

„Hm?

„Also nur, wenn du möchtest.“

„Na klar!“

Bei David zu Hause einen Film schauen… Ich würde sein Zimmer sehen. Ließ ihn dieser Fingerhut voll Alkohol bereits übermütig werden? Irgendetwas war anders. Nichts mehr war wie vorher – dass ich ausgerechnet von David in diese Bar eingeladen wurde! Meine Wangen brannten immer noch heiß, als ich mit ihm in die U-Bahn einstieg.
 

„Nimmst du die Treppen? Nicht den Fahrstuhl?“, erkundigte ich mich im Treppenhaus seines Studentenwohnheims. „In den fünften Stock?“

„Der ist kaputt.“

Also blieb uns nichts anderes übrig, als hintereinander die schmalen Treppen hochzulaufen. Schweigend.

Im Flur, auf dem sich jeder Schritt auf dem billigen Linoleumboden wie der eines Elefanten anhörte, vernahm ich dumpfes Gelächter. In einem Aufenthaltsraum, der durch die Glasfenster gut einsehbar war, hielt sich ein Grüppchen Studenten auf, vor einem großen Laptop auf der Couch zusammengequetscht. Wahrscheinlich Erstsemester. Außerdem war im Halbdunkel eine kleine Küchenzeile zu erkennen und ein Esstisch. An der Tür angekommen, auf dem auf einem Schild die Zimmernummer und Davids voller Name stand, schlug mein Herz bis zum Hals, und das nicht nur wegen des Treppensteigens. David schloss die Tür auf, ließ mich eintreten und verriegelte sie sogleich von innen. „Häng deine Jacke einfach an diesen Haken da. Möchtest du eine Tasse Tee?“

„Nein, mach dir keine Umstände.“

Ich staunte darüber, wie viele Möbel in diesen wenigen Quadratmetern Platz fanden, ohne dass es überladen wirkte, und wie aufgeräumt es war. Das Bett gleich neben der Tür an der Wand war hergerichtet mit einer Tagesdecke in Kuhfleckenoptik darauf. Zum Glück war er nicht in ein katholisches Studentenwohnheim eingezogen, da waren die Betten bestimmt spargelschmal, damit niemand auf dumme Ideen kam. Neben der Tür hing ein Kruzifix an der Wand, daran war die Jakobsmuschel befestigt, die ihn beim Pilgern begleitete hatte, wie er mir sogleich verriet.

Gegenüber vom Bett stand ein ordentlich aufgeräumter Schreibtisch, auf dem zwei Leitzordner standen, ein Teekocher und auch ein Tablett mit zwei Glastassen und einer Teedose.

„Darf ich schnell zur Toilette?“

„Klar, die liegt hinter dieser Tür“, er deutete auf die Tür neben dem Fenster, „schließ drinnen einfach die zweite Tür ab, denn ich teile mir das Bad mit dem Studenten im Zimmer nebenan.“

„Oh, klappt das denn gut?“

„Wir sehen uns kaum, er hat einen ganz anderen Tagesrhythmus als ich. Könnte schlimmer sein.“
 

Als ich aus dem kargen, funktionalen Bad zurückkam, in dem die Farbe Erbsengrün vorherrschte, war das grelle Deckenlicht Davids angenehm warm leuchtender Lavalampe gewichen, die auf dem Boden stand. Den Laptop hatte er auf den einfachen Holzstuhl verfrachtet und ihn schräg neben das Fußende des Bettes gestellt.

„Kommt mir das nur so vor, oder ist es saukalt hier?“

„Ja, die Heizung ist seit vorgestern leider im ganzen Ostflügel ausgefallen, aber morgen wird sie repariert. Tut mir leid, aber ich habe eine Decke.“

Einen Film zu finden, der uns beiden zusagte, war schwieriger als gedacht, dafür waren unsere Geschmäcker zu unterschiedlich. Schnell willigte ich ihm zuliebe ein, einen Film über Jesus zu schauen, der mich nicht interessierte, nur um die Verhandlungen nicht ewig hinauszuzögern. Ich gesellte mich zu David aufs Bett, woraufhin er den Film startete. Der Lattenrost knarzte unter der dünnen Matratze bei jeder Bewegung, und die Backsteinwand, an die wir uns lehnten, war trotz der Kissen, die wir davor gelegt hatten, ungemütlich.

Auf den Film an sich konnte ich mich kaum konzentrieren, weil ich von Davids Gegenwart abgelenkt war, vor allem der Nähe zu ihm. Seitdem ich wusste, was für ein Club der IGLU war, sah ich ihn mit ganz anderen Augen, und mir kamen gleich hundert Fragen auf einmal.

Irgendwann wechselte David seine Position, streckte sich aus, sodass wir uns zwangsläufig berührten und ich seufzte.

„Du, David, von mir aus können wir gerne kuscheln… So wie im Kino. Dann wird uns auch wärmer.“ Er lachte. „Können wir ja mal versuchen.“ Und er legte er den Kopf an meiner Schulter ab. Seine weichen Haare – das war wie die Fortsetzung vom Kino! Nur, dass wir jetzt ganz allein waren. Ohne den Störfaktor Jo. Ich wagte, näher an ihn heranzurücken, so dass ich bequemer sitzen und meinen Arm um ihn legen konnte. Perfekt. So ließ es sich eine Zeitlang aushalten.
 

„David?“

„Hm?“

„Darf ich dich was fragen?“

„Was denn?“

„Gefällt dir der Film? Ich finde ihn langweilig, ehrlich gesagt.“

„Oh. Was erhoffst du dir denn, was passieren soll?“

„Mehr Action... Wenn wir ihn zu Ende schauen, fahren so spät keine Züge mehr zu mir nach Hause.“ Es entsprach nur halb der Wahrheit, denn es fuhren noch Nachtbusse, das wusste er aber auch.

„Du kannst hier schlafen“, antwortete er prompt. „Wenn es dir nichts ausmacht, dass das Bett so klein ist.“

„Das macht mir nichts aus, ich habe schon in kleineren Betten geschlafen“, versicherte ich ihm. Dass ich selbst da auch kleiner gewesen war, sagte ich aber nicht.

David protestierte nicht dagegen, sondern streckte sich zum Fußende und klappte den Laptop zu.

Ich schüttelte die dünne Decke auf und zog sie mir bis zur Nasenspitze hoch. Schon löschte er das Nachtlicht, und ich musste dem Impuls widerstehen, von ihm abzurücken, denn sonst würde ich aus dem Bett fallen, ich lag jetzt schon nur mit einer einzigen Pobacke darauf, und zwar nicht auf der Matratze, sondern der harten Kante. So könnte ich doch nie im Leben schlafen. Warum hatte ich das vorgeschlagen!

Vom Flur her vernahm ich Trampelschritte von unsensiblen Studenten, und ab und an Türquietschen. Hier könnte ich niemals schlafen. Ich vermisste mein Zimmer, das war wirklich Luxus pur, gegen diesen Taubenschlag.

„Geht das hier jede Nacht so?“

David gluckste. „Am Wochenende ist es schlimmer. Da schlafe ich immer mit Ohrenstöpseln.“

„Ach du Schande. Schlaf lieber bei mir. Ich habe eine schöne Couch unter meinem Hochbett.“ Ich wusste selbst nicht, wieso ich das so großkotzig dahinsagte. Es musste die Nervosität sein. Dieses völlig absurde Ende dieses Abends, den ich noch einmal Revue passieren ließ. Die Fotos von Pablo… wie eng er mit David gewesen war.

„Haben Pablos Eltern ihn rausgeworfen, weil er schwul ist?“ Keine Antwort, aber diese Stille, als ob er den Atem angehalten hatte. „David?“

Er räusperte sich. „Darüber hat er nie geredet.“

„Verstehe. Das ist ja auch nicht leicht… wenn man so etwas über sich rausfindet! Und ich weiß, wovon ich rede, weil vor kurzem habe ich etwas ausprobiert…mit jemandem.“ Da lag so eine mörderische Spannung in der Luft. Aber war diese Spannung nicht von Anfang an zwischen uns gewesen? Seit der ersten Begegnung?

„Was hast du ausprobiert?“, flüsterte er. An meinem Hals spürte ich seine Hand und erschauderte. Ein Finger, der mir sanft über die Wange strich, dann über die Lippen. Ich beendete dieses Spielchen, indem ich die Flucht nach vorn antrat und ihn küsste. Suchte im Dunkeln seine Lippen mit meinen, und er kam mir entgegen. So weich, so heiß. Seine Zunge schickte eine Welle durch meinen ganzen Körper, und ich ließ das Denken lieber bleiben. David schmeckte gut, roch gut, er war sexy und der Alkohol tat das Nötigste dazu. Seine Küsse raubten mir jegliches Zeitgefühl. Sein Atem verriet seine Erregung. Während wir uns küssten, erforschten unsere Hände gegenseitig die Haut des anderen Körpers. Mann, war er hart. Ich aber auch.

„Dominique. Ich habe sowas noch nie gemacht“, gestand er mir im Flüsterton.

„Genieße es einfach.“ Ich hielt mich nicht mit Worten auf, wandte mich seinem Hals zu, bedeckte ihn mit Küssen, was ihm ein Seufzen entlockte. Da schmeckte ich das Metall seiner Halskette. Mit zwei Fingern packte ich das erstaunlich schwere Kreuz und schob es in den Ausschnitt seines Shirts. Bloß weg mit dem Ding! Dann zog ich ihm die Hose herunter.

Vorsichtig berührte ich das fremde Glied. Fühlte seine Wärme, seine samtige Beschaffenheit. Zuerst legte nur ich Hand an ihn, bald darauf David auch an mir. Mechanisch und zielgerichtet. Woher kam nur dieser rätselhafte Blütenduft, der mich plötzlich umnebelte, und nicht mehr klar denken ließ? Ich sog ihn in mir auf, immer gieriger, bis meine Lungen fast den Dienst verweigerten. Aber auch David keuchte, und das riss mich irgendwann mit. Es fühlte sich einfach nur richtig an, in seiner Hand zu kommen.

Unser Atem füllte die Stille aus, wurde allmählich ruhiger und leiser. In seinen Extremitäten verschlungen, schlief ich bald darauf ein.

Deinesgleichen

Als ich erwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich war. Dann war mit einem Schlag die Erinnerung wieder da: der Club namens IGLU, der Shot mit David, der langatmige Jesusfilm, einschlafen mit David... und davor noch schnell… Oh Gott. Zu was hatte ich mich hinreißen lassen! Ich hätte gestern gehen sollen, stilvoll, im Dunkeln, und mich nicht vom Schlaf übermannen lassen dürfen. Das hätte mir erspart, jetzt diesen Walk of Shame anzutreten!

Durch den Spalt im Vorhang fiel schwaches Morgenlicht. David saß im Schein seiner Schreibtischlampe am Schreibtisch, drehte mir den Rücken zu und zwirbelte nachdenklich eine Locke. Ich überlegte mir, herausschleichen, ohne dass er es mitbekam. Doch die verräterischen Matratzenfedern machten mir einen Strich durch die Rechnung. Wie zur Hölle konnte er denn hier schlafen? Zwischen Matratze und Bettpfosten sah ich etwas Dunkles, das eingeklemmt war. Meine Finger betasteten es, identifizierten es als Lederumschlag eines Buches. Mit einem Gummiband darum. Was war das, ein Tagebuch? Was schrieb David dort hinein? Wie gern ich es erfahren würde.

Da hörte ich David fragen: „Bist du wach?“

„Guten Morgen“, meldete ich mich zu Wort und ließ von dem Buch ab. „Wann bist du denn aufgestanden?“

„Ich bin um sechs Uhr aufgestanden, wie jeden Tag, damit ich vor den Vorlesungen noch ein bisschen lernen kann.“

„Wie fleißig. Hast du keine Kopfschmerzen?“

„Nicht der Rede wert, dafür habe ich das hier.“ Er zog seinen Rollkragen ein Stück hinunter. Ich stand auf, ging auf ihn zu, betrachtete die Stelle knapp über dem Schlüsselbein. Ein großer dunkelvioletter Knutschfleck starrte mich vorwurfsvoll an. Ach du Scheiße.

„Sorry. Tut mir leid, das war keine Absicht“, flüsterte ich betreten, damit würde er auf jeden Fall in Erklärungsnöte geraten, gut, dass Rollkragenzeit war. Aber seine Ohren waren feuerrot, und nun drehte er sich auch zu mir herum und schaute mich an.

„Wie hältst du es aus, hier zu stehen und zu reden, als wäre gar nichts…?!“

Ich zuckte die Achseln. „Wieso nicht? Ungeschehen kann ich es ja schlecht machen. Bereust du es denn?“

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht“, brummte er und wandte sich wieder seinem Lernmaterial zu.

Über seine Schulter erhaschte ich einen Blick auf den dicken Leitzordner vor ihm, in dem unzählige bunte Post-its klebten. Daneben lag ein beträchtlicher Stapel Karteikarten. Auf dem Bücherregal über dem Schreibtisch stapelten sich so viele Fach- und Sachbücher für sein Studium, dass sich die Balken bogen, er musste die ganze Bibliothek leer geräumt haben!

Diese merkwürdig anmutenden Hieroglyphen auf dem Blatt und seine Randnotizen daneben in sehr sauberer, ordentlicher Handschrift, machten mich neugierig.

„Darf ich fragen, was du da liest?“

„Einen Text für meinen Althebräisch-Kurs.“

„Wozu braucht man denn Althebräisch?“

„Na, um die Bibel im Original lesen zu können. Wir schreiben auch ziemlich bald die ersten Klausuren. Naja. Ich wollte dann gleich frühstücken gehen.“

„Oh, auf mich musst du nicht warten, ich frühstücke nie. Ich werde duschen und hole mir unterwegs zur Arbeit einen Coffee to go. Hast du noch eine Zahnbürste für mich?“

„Im linken Badschrank.“
 

Nach einer Viertelstunde verließ ich sein Badezimmer frisch geduscht und geföhnt. David war jedoch nicht mehr am Schreibtisch, so trat ich heraus auf den Flur. Durch die Glasscheibe sah ich David im Aufenthaltsraum am Tisch sitzen, ganz alleine. Durch die Fenster schien die Morgensonne hinein, einer von den seltenen freundlichen Tagen im Winter. Während er Müsli löffelte, schmökerte er in einem dicken Buch vor ihm auf dem Tisch. Von mir nahm er gar keine Notiz, bis ich an die Tür klopfte.

„Was ist denn noch?“, fragte er fast genervt.

„Ich wollte nur Tschüss sagen…“ Weil niemand im Flur war, fügte ich frech hinzu: „Melde dich, wenn du eine Wiederholung willst.“ Mir gefiel, wie heiß Davids Ohren wurden.

„Bitte behalte alles für dich, ja?!“, sagte er mit flehendem Tonfall.

„Natürlich. Du kannst mir vertrauen. Ich bin keine Plaudertasche!“, bekräftigte ich, weil er mir kein Stück zu vertrauen schien, nicht mit diesem Blick. Denn käme das ans Licht… Das wäre sicher nicht so gut für ihn, schätzte ich. Speziell für seine Berufswahl. Ich war kurz davor, zu fragen, wie er das, was sich gestern in seinem Zimmer abgespielt hatte, überhaupt mit seinem Glauben und vor allem mit seinem Berufswunsch zu vereinbaren gedachte… Doch hier und jetzt, zwischen Tür und Angel, war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Auf dem Weg ins Altenheim fragte Jo mich im Chat, ob ich Freitagabend Lust auf den Weihnachtsmarkt hatte, und ich sagte zu.
 

~
 

Um die Mittagszeit lächelte Frau Spinnler mir so verschwörerisch zu, halb hinter ihrem Buch versteckt.

„Nutze die Gunst der Stunde“, raunte sie. „Es gibt nichts, was die Seele mehr vergiftet, als ungeliebt zu bleiben, lieber stirb in seinen Armen.“

„Zitieren Sie da gerade aus Ihrer Schmonzette, oder was?“, antwortete ich auf diese poetischen Worte. Doch sie beachtete mich nicht weiter, nur ihr Buch. Trotzdem schaute ich mal beim Balkon vorbei, nur zur Sicherheit.
 

Sandros Anwesenheit erschlug mich regelrecht. Alles war immer noch so frisch, die Stimme seines Ex hallte immer noch in meinen Ohren und ließ mir keine Ruhe, und nach dem Video wusste ich auch ungefähr, wie er aussah. Ich atmete tief durch, dann öffnete ich zaghaft die Schiebetür und trat hinaus ins Freie. Immer noch klarer Himmel, Sonnenschein. Kaum zu glauben, dass es Dezember war und gestern geschneit hatte. Steckten da wieder Kopfhörer in seinen Ohren, weil er keine Anstalten machte, sich umzudrehen? Nein, diesmal telefonierte er und ich blieb stehen, wo ich war.

„Nein, er sah überhaupt nicht die Notwendigkeit, wie immer eben, was habe ich überhaupt gefragt, ich bin so blöd… Danke, Martha. … Das weiß ich sehr zu schätzen, aber du kennst meine Meinung dazu… Ja… Ja… Ich melde mich nochmal, bevor ich losfahre. Bis später!“ Er legte auf, holte die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche und gönnte sich eine Zigarette. Mich schien er mich gar nicht zu bemerken und so räusperte ich mich. Da fuhr er herum.

„Du! Wie lange stehst du hier schon?“

„Seit eben. Geht es dir gut?“ Ich trat an das Geländer heran. Eine sanfte Brise wehte seinen vertraut riechenden Zigarettenqualm zu mir herüber.

Er zuckte die Achseln. „Danke, dass du dich nicht eingemischt hast neulich, das hätte echt übel ausgehen können“, sagte er ruhig und nahm einen sehr tiefen Zug an seiner Zigarette. „Flo ist impulsiv und unberechenbar, und ich hatte keine Ahnung, dass er an dem Abend vorbeikommen würde. “

„Dein Ex?“

„Hm.“

Dieses Thema brachte ein eisiges Schweigen zwischen uns, dick wie eine Wand.

„Was hält eigentlich dein Vater von ihm?“, wagte ich vorsichtig zu fragen.

Sandro betrachtete mich wie eine neuartige Lebensform, die Stirn ein Faltenkunstwerk. Er schnaubte, schüttelte den Kopf. „Wieso denkst du, dass ich ihn Vater vorgestellt hätte?“

„Hast du das etwa nicht?! Hast du dich überhaupt vor ihm geoutet?“

Ein Schnauben, das in ein lachendes Prusten überging. Er schnippte die Asche in den Becher. „Outen? Wie süß. Als was sollte ich mich denn zuerst vor Vater outen? Als jemand, der aus der Kirche ausgetreten ist? Oder als Gewerkschaftsmitglied? Denn eines der beiden könnte bereits für einen Herzinfarkt bei dem Alten sorgen.“ Ich starrte ihn nur an, war perplex. „Von einem Comingout als Teilzeit-Rocker ganz zu schweigen, aber das hast du mir ja schon abgenommen.“ Ich seufzte schwermütig.

„Ja, sorry nochmal dafür. Ich wollte nicht dein Leben auf den Kopf stellen, ganz bestimmt nicht! Aber generell, wie gedenkst du denn dein Verhältnis zu ihm verbessern, wenn er gar nichts über die Dinge weiß, die dir im Leben wichtig sind? Die dich ausmachen?“, wagte ich einen Vorstoß, denn das interessierte mich wirklich. „Dann kennt er dich doch gar nicht wirklich, seinen eigenen Sohn!“

Kopfschütteln erntete ich daraufhin. „Es macht mich wohl kaum aus, dass ich darauf stehe, mich von Männern ficken zu lassen.“ Uah, seine ungewohnte Offenheit wieder mal, wie eine Ohrfeige der verbalen Art!

„Das… so habe ich nicht gemeint! Rede doch einfach mal mit deinem Vater, du wirst schon sehen, dass es hilft. Immerhin steht ja ein Kinderfoto von dir auf seinem Nachttisch.“

Nun zischte er wie eine Dampflok, matschte das, was von der Zigarette übrig geblieben war, in den Aschenbecher,

„Weißt du was, Dominique? Geh zu deinesgleichen, und lass mich einfach in Ruhe!“ Seine Miene dabei sprach Bände, seine starken Kieferknochen, die hervortraten. Mit diesen Worten ließ er mich stehen und verschwand nach drinnen.

Das erschütterte mich regelrecht, ich hatte mehr Fragen als je zuvor. Meinesgleichen? Damit konnte ich nichts anfangen. Was sollte das bedeuten? Sandro war doch niemand, der Worte einfach so dahin sagte. Über deren Bedeutung machte er sich nachweislich viele Gedanken, wie seine Songtexte verrieten. Ich stand einfach nur dumm da.
 

~
 

„Hey! Hier her, Dome!“ Jo winkte mich zu sich zwischen den Besuchern des Weihnachtsmarktes in der Altstadt. Sein Grinsen war heute noch zehnmal breiter als sonst und ich fragte mich, was man in seinen Glühwein untergemischt hatte.

Er stand an einem der als Tisch durchgehenden Fässer vor dem Glühweinstand, und ich hätte sein Grinsen erwidert, wäre er alleine hier. Aber neben ihm stand ein rundliches Mädchen im rosa Wollmantel, zwei Köpfe kleiner als er. Sie sah kurz von ihrem Handy zu mir auf – eine Asiatin. Sie trug blaue Strähnchen im Haar und auf ihrer Lippe ein Piercing. Mehrere Fragen auf einmal stellte ich mir, doch wagte keine davon zu stellen.

„Dome, das ist Xia, von meiner Uni. Xia, das ist Dome, mein Kumpel, der sich bisher vor dem Studieren drückt.“

Drücken? Hatte er so einen Zug wirklich nötig, nur um vor Xia besser dazustehen?

Dieses Treffen zu dritt, war mehr als unangenehm für mich. Das war doch hoffentlich nicht das erste Date der beiden? Ich sollte wirklich mal einen Kurs für Körpersprache belegen. Händchen hielten sie keine. Nein, zum ersten Date hätte er mich doch nie und nimmer herbestellt, nicht mal Jo würde sowas bringen. So ein Mist, wie könnte ich mich jetzt am unauffälligsten vom Acker machen?

In diesem Moment hörte ich das leise „Hallo“, das mir nur zu bekannt vorkam. Das durfte nicht wahr sein. Darauf war ich nicht vorbereitet! Was sollte das?

„Hey! Was hat dich aufgehalten, David?“, rief Jo vorwurfsvoll.

„Entschuldigung, ich habe mir noch kurz den Dom angesehen.“

Jo grunzte. „Typisch.“

„Das wollte ich unbedingt mal machen. Er ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Wenn mich meine Eltern an meinem Geburtstag besuchen kommen, wollen wir dort den Gottesdienst besuchen.“

„Wann ist denn dein Geburtstag?“, fragte ich, und hoffte, dass mir niemand meine Nervosität anmerkte.

„Am dreizehnten Dezember.“

„Was? Das ist ja schon nächste Woche! Wieso hast du nichts gesagt?“

„Hast mich nie gefragt. Ich würde uns mal Getränke holen“, verkündete David.

„Ich kann mich auch in die Schlange stellen, das macht mir nichts“, entgegnete ich.

„Schon in Ordnung“, sagte David und war weg. Konnte es sein, dass ihm das hier noch unangenehmer war als mir? Warum hatte Jo nicht erwähnt, dass David auch kommen würde?

„Ach ja, Simon wollte später auch noch dazukommen.“

„Simon?!“, wiederholte ich. Jo war doch mit einem Mädchen hier! Simon hinzuzuholen, das war, wie den Wolf auf die Kaninchenparty einzuladen. Oder was war mit ihm los? Befürchtete er, es alleine zu vermasseln? War er sich seines Erfolges so sicher, dass er Xia Simon wie eine Trophäe präsentieren wollte? Wie naiv war Jo? Am liebsten wollte ich Xia beiseite ziehen und sie fragen, ob sie erpresst wurde. Davon abgesehen, wollte ich Simon lieber nicht begegnen. Ehrlich gesagt wäre ich jetzt wirklich lieber unter meinesgleichen, um Sandro zu zitieren. Wer immer das auch sein mochte. Dieses verdammte Wort ließ mich nicht mehr los.
 

Jo versuchte sich gerade an einem Witz, woraufhin Xia gefällig kicherte, und erzählte dann von einem Projekt für die Uni.

Bin gerade ungewollt bei Jos Date dabei. Hoher Cringefaktor!, textete ich Marie. Ach, war das schön, eine Ex-Freundin zu haben. Das hatte auch nicht jeder! Sie schickte Emojis zurück, die sich Augen und Ohren zuhielten.

Ich fand unser erstes Date im Rückblick auch etwas arg kitschig, um ehrlich zu sein, antwortete sie.

Echt? Warum das?

Ja, keine Ahnung, vielleicht haben wir unsere Rollen etwas zu ernst genommen. Kurz sinnierte ich darüber, wie sie das meinte. Ich konnte mich sogar noch genau an ihr Outfit damals erinnern.

Was macht eigentlich deine Flamme?

Ach, ist kompliziert. Ich überlegte, wie viel ich ihr verraten konnte, und da tippte ich auch schon: Er meinte, ich soll zu „meinesgleichen“ gehen.

Marie schrieb zurück: Das hat er gesagt? Bist du ihm nicht schwul genug, oder was? Was mich nach Luft schnappen ließ, war nicht dieser Satz, sondern die beiden Emojis, die sie angefügt hatte: ein Pfirsich und eine Aubergine, an Eindeutigkeit nicht mehr zu überbieten. Ich kniff die Lippen zusammen. Lustig fand ich das überhaupt nicht! Sie etwa?

Da wurde eine dampfende Tasse vor mir abgestellt und ich zuckte zusammen. Schaute auf, in die Runde.

„Na, dann mal Proo-host!“ Alle hoben auf Jos Kommando die Tassen, stießen an. In diesem Moment wurde es mir schmerzlich bewusst. Dass Weihnachten vor der Tür stand. Und ich es ohne Marie verbringen musste. Und auch diesen mega peinlichen Abend. Das machte mich wütend. Hätte sie nicht darauf bestanden, ihre blöde Pause zu brauchen, dann würde ich nun neben ihr hier stehen und könnte David ganz unbefangen zuprosten, weil ich jene Nacht mit Marie verbracht hätte und nicht mit ihm. Und über Sandro würde ich mir schon gar nicht den Kopf zerbrechen müssen…und das Wort „deinesgleichen“ hätte ich auch niemals im Online-Wörterbuch nachgeschlagen, nein, von dessen Existenz hätte ich noch nicht mal etwas geahnt!

Dieser unerwartet süße Geschmack, der meine Zunge überraschte… David hatte mir Kinderpunsch statt Glühwein serviert! Mein Stirnrunzeln quittierte er bloß mit einem Lächeln.

„Hast du die Tassen vertauscht?“

„Ach, wolltest du etwa Glühwein?“, fragte David gespielt naiv.

Xia kicherte, was sich wie das Meckern einer Ziege anhörte und Jo stimmte mit ein. „Besser so! Du hättest ihn neulich im QUAKE sehen sollen, so dicht! Wir sollten ihm echt nichts mehr zu trinken geben!“

Ich funkelte ihn böse an, Jo bekam davon nichts mit und meinte voller Euphorie: „Kommt, Leute, Foto!“

„Ähm…“, machte David, als ob er noch durchdenken musste, ob ein Foto wirklich angebracht war und welche Konsequenzen das nach sich ziehen würde. Da hatte Xia ihn bereits geschnappt. Jo, der praktischerweise den längsten Arm von uns hatte, streckte ihn auch schon mit seinem Handy in die Höhe und es blitzte.

„David, du feierst doch nicht nur mit deinen Eltern Geburtstag, oder was?“, erkundigte sich Jo.

„Ähh“, sagte David, nachdem er die Tasse abgesetzt hatte. „Mein Geburtstag, ja, also das wird kein großes Ding, eigentlich ein ganz normaler Tag.“

„Alter, du wirst Zwanzig! Das muss verdammt nochmal krachend gefeiert werden, das ist schließlich das Alter, in dem man in vielen asiatischen Ländern volljährig wird!“

„Nicht in allen“, warf Xia ein.

„Was hat denn Asien mit mir zu tun?“

„Kapier ich auch nicht, aber Jo hat Recht“, mischte sich auch Xia ein. „Jo sollte eine Party für dich schmeißen! Lass dich doch mal richtig schön feiern, dir Muffins backen, ein Ständchen vorsingen und alles, was dazu gehört.“

„Wenn die Muffins vegan sind, dann gerne.“

„Ich kann super vegane Muffins backen!“, sagte Xia hell erfreut und Davids Brauen schnellten in die Höhe.

„Bist du auch Veganerin?“

„Ja!“, sagte sie hell begeistert, ihre erste Gemeinsamkeit. Ich beobachtete mit Faszination, wie Xia sowohl Jo als auch David mit der Idee der Party bei ihm zuhause begeisterte. Jo, weil er von Xia bereits von oben bis unten eingewickelt war und David… Nun, wahrscheinlich um seiner Einsamkeit zu entfliehen. Oder weil er Jo und Xia verkuppeln wollte, weil Jo ihm leidtat, wie er mir in der Eisdiele anvertraut hatte. Schließlich dominierten Xia und David das Gespräch, sie scherzten und kicherten miteinander und entdeckten immer mehr Gemeinsamkeiten. Jos Laune sank merklich in den Keller, er stupste mich an und verdrehte die Augen, woraufhin ich nur die Achseln zuckte. Selbst schuld, hätte er das Date mit ihr eben alleine verbracht. Ich wäre niemals hier aufgekreuzt, wenn ich das geahnt hätte. Ich versteckte mein Grinsen in der Tasse. Kinderpunsch schmeckte eigentlich gar nicht so schlecht. Wie eine Zeitreise in die Vergangenheit, als man Kind war und die Welt noch in Ordnung... Man, war das lange her!

Xia fragte weiter: „Interessierst du dich für Yoga, David? Ich mache den Kurs an unserer Uni mit, der ist echt gut, falls du Lust hast?“

„Yoga? Wozu sollte ich als Christ denn hinduistische Meditationsübungen praktizieren?“

Xia kicherte abermals. David sprach weiter, mit einer todernsten Stimmlage: „Die Erlösung kann nur Gott einem schenken.“ Xias Lachen erstarb kurz darauf.

Kam jetzt nur mir in den Sinn, dass Beten sehr viel mit Meditation gemeinsam hatte? Aber ich würde mich hüten, das laut zu sagen.

„Dein Ernst?“

„Ja, David nimmt das sehr genau, als angehender Theologe“, klinkte sich Jo in ihr Gespräch ein. Ich versteckte mein Grinsen in der Tasse.

„Okay…“, murmelte sie daraufhin, als bereue sie es, sich von diesen schrägen Gestalten ihre Zeit gestohlen haben zu lassen. „Du bist ja noch schräger drauf als meine Ex.“

„Äh?“ Jo setzte an, um irgendwas Dummes zu sagen, verriet mir meine Intuition. Also trat ich ihm unauffällig gegen das Schienbein, bevor er Müll daher redete, den er spätestens dann bitter bereute, dann nämlich, wenn Xia ihn keines Blickes mehr würdigte.

„Du Jo, ich mach dann mal weiter, ich muss noch ein Weihnachtsgeschenk für Desi kaufen.“

„Jetzt? Bleib doch noch.“

Auch David nutzte die Gelegenheit, verabschiedete sich mit einer Ausrede und folgte mir.

„Und nun?“, fragte ich, als wir außer Sichtweite waren. „Wollen wir noch wo hin? Der Iglu ist nicht weit. Oder ich zeige dir mein Zuhause, ich hab sturmfrei an Wochenenden, wie wärs?“

David schüttelte den Kopf, sodass seine Locken umher flogen.

„Ein anderes Mal, okay? Ich möchte nur nach Hause. Morgen muss ich früh aufstehen, weil ich ja im Laden arbeite.“

„Ach das war gar keine Ausrede eben? Na dann. Schön, dass du mitgekommen bist und das mit mir durchgestanden hast. Wir sehen uns.“
 

Später betrachtete ich das Foto von uns Vieren, das Jo stolz im Status gepostet hatte. David und ich standen darauf näher zusammen als Jo und Xia. Ich fragte mich, ob man uns beiden anmerkte, dass wir eine Nacht im selben Bett verbracht hatten.

Ultimatum

Samstagnachmittag war ich unterwegs auf einer Shopping-Tour in der Innenstadt. Davids Geburtstag rückte näher, viel zu schnell. Die zündende Idee, was ich ihm schenken könnte, war mir leider noch nicht gekommen. Gedankenverloren schlenderte ich an Geschäften vorbei, bis ich am Schaufenster einer Buchhandlung stehen blieb. Natürlich! Wieso war es mir nicht gleich eingefallen? Vermutlich, weil ich selbst so selten Bücher las. Das letzte war unsere Klassenlektüre gewesen… Unglaublich, wie voll dieser Laden war! Vorweihnachtszeit und ein Buch das ideale Geschenk. Einige Minuten später wusste ich zwar, was ich kaufen wollte, aber nicht, wo ich es suchen sollte. Ich biss mir auf die Lippen, und nahm allen Mut zusammen, als ich die Buchhändlerin herantrat und nach einem Buch über Schwule und Kirche fragte. Entgegen meiner Befürchtungen lachte sie mich aber nicht aus.

Als ich die Buchhandlung mit zwei Büchern verließ, war es Zeit, zu David zu fahren. Also ganz geschwind mit der U-Bahn zum Naturkostladen.

Draußen spähte ich unauffällig durch das Schaufenster herein. David stand an der Kasse und bediente einen Kunden. Das Lächeln stand ihm gut, es war echt, das merkte man ihm an. Er konnte wirklich gut mit Menschen; war freundlich, höflich, aufmerksam und er bemerkte es immer, wenn es einem gerade nicht gut ging. Ich hatte gar nicht geahnt, wie sehr mir jemand wie er in meinem Freundeskreis gefehlt hatte.

Ich schlich mich an ihm vorbei, ohne dass er mich bemerkte, weil er mir gerade den Rücken zuwandte. Für den Einkauf nahm ich mir Zeit, durchforstete sämtliche Reihen des kleinen Marktes. Lasagne-Blätter aus Vollkornmehl landeten in meinem Einkaufskorb, am Gemüsestand gab es um diese Uhrzeit noch Tomaten, Basilikum, eine Paprika; dann fand ich noch Sojamilch, und Hefe. Und vegane Schokolade. Mit meinem halbvollen Einkaufskorb zielte ich die Kasse an.

„Du hier?“ Davids verdutzter Gesichtsausdruck brachte mich zum Lachen. Ich legte alle Waren vom Korb auf die kleine Theke, die an ein Tante-Emma-Laden anmutete. Das grüne Polohemd mit dem Logo des Ladens stand ihm wirklich gut, es saß figurbetonter als die Klamotten, die er üblicherweise trug. Routiniert scannte er meine Waren, doch sein Gesichtsausdruck war verkniffen. „Ich wusste gar nicht, dass du in Bioläden einkaufst.“

„Normalerweise gehe ich auch zum Supermarkt bei mir um die Ecke. Hör zu, David, wenn du nachher Feierabend hast, würde ich dich gern entführen!“

Nun blickte er auf. „Wohin denn?“

„Zu mir nach Hause, wo wir was Leckeres zum Abendessen kochen. Ich halte dich auch nicht zu lange auf, damit du noch das restliche Wochenende lernen kannst, in Ordnung?“

„Mh, ich habe eigentlich schon ziemlichen Hunger…“ Jetzt endlich schenkte er mir ein Lächeln.
 

Die frischen Tomaten, die wir geschnitten hatten, köchelten im Topf vor sich hin. David fettete derweil die große Auflaufform mit einem Pinsel und Margarine, und ich versuchte mich an einem veganen Käse auf Hefebasis, nach einem Rezept, auf das ich im Internet gestoßen war. Schweigend werkelten wir vor uns hin; jeden Versuch einer Konversation blockte er mit einsilbigen Antworten ab, was mich zum Verzweifeln brachte.

„Reichst du mir mal die Sojamilch?“

Stillschweigend hielt mir den Tetrapak hin, und ich rührte sie mit dem Schneebesen in den kleinen Topf.

„Bist du jetzt angefressen, weil ich es gewagt habe, da einzukaufen, wo du arbeitest?“

Ein genervtes Seufzen von ihm. Also doch.

„Okay, sorry, das wird nicht wieder vorkommen.“

„Es ist nicht wegen dem Einkauf! Ich weiß nicht, was du planst, aber ich habe ganz sicher nicht vor, an die große Glocke zu hängen, was wir machen!“

„Musst du doch auch nicht.“

„Ich möchte einfach nur keine Probleme bekommen, die mir meine Zukunft verbauen könnten, verstehst du? Nur zur Sicherheit.“

„Ich will dir bestimmt keine Probleme machen, David, glaub mir.“

„Dann verhalte dich bitte auch so.“

Wir rührten stumm weiter in dem Topf, bis er fragte: „Du… wusstest du, dass Jo Xia zum Weihnachtsmarkt mitbringt?“

„Nein. Er hat nichts erwähnt…“ Dann fielen mir wieder seine ganzen Nachrichten ein, die Treffen nach denen er gefragt hatte, die ich jedoch abgeblockt hatte, weil ich mit meinem eigenen Kram beschäftigt gewesen war. Oh Mann, was war ich für ein Kumpel…

„Achtung, deine Soße kocht gleich über“, warnte er mich. Ich schaltete die Platte herunter, nahm die Pfeffermühle und andere Gewürze. Einen Löffel hielt ich David hin, zum Vorkosten. „Wie schmeckt das?“

„Ganz gut“, antwortete er knapp.

„Dann können wir die Auflaufform befüllen.“

Abwechselnd legte David die Nudelplatten hinein, dann goss ich einige Löffel Soße darüber, so verfuhren wir, bis die Form bis oben hin voll war und ich zum Schluss den veganen Käse darüber verteilte. Eine Lasagne, Schicht für Schicht von David und mir erbaut, ein Teamprojekt. War doch schonmal ein guter Anfang, oder?

„Ich bin mal gespannt, wie sie schmeckt. Das habe ich zum ersten Mal ausprobiert. So, auf mittlerer Schiene.“ Ich schob die Form auf das Blech im vorgeheizten Backofen und machte die Tür wieder zu.

David lehnte gegen die Arbeitsplatte. „Deine Küche ist echt schön eingerichtet. Diese Postkarten, hat deine Mutter die dir von ihrer Weltreise geschickt?“

„Genau. Normalerweise protze ich damit aber nicht herum. Es wissen nur Jo und Marie Bescheid.“

„Es ist doch schon, dass sie so oft an dich denkt.“

„Hm.“

Unschlüssig standen wir uns gegenüber. „Weißt du schon, was du nach dem Freiwilligenjahr machst?“

„Ich sollte es endlich mal wissen, nicht wahr?“, seufzte ich. „Schließlich läuft mir die Zeit davon. Aber ich habe keinen Schimmer. Jo wusste es schon sehr früh, und du ja auch. Ich beneide euch echt!“

„Mir war immer klar, dass ich etwas mit Religion und Glauben machen wollte, nur die Details gilt es noch zu klären. Sag mal, wäre Koch nichts für dich? Ich beneide dich, mit wie viel Elan du kochst, während es für mich eine lästige Pflicht ist.“

„Uff. Danke für das Kompliment. Aber mich beruflich mit Lebensmitteln zu befassen, naja! Ich mag lieber die Menschen, für die ich koche. Als Koch hätte ich aber nicht mehr viel mit Menschen zu tun. Und ich merke in dem Freiwilligen Sozialen Jahr, dass mir das sehr gefällt. Nein, Kochen ist nur ein Hobby, das ist glaube ich, besser so.“

„Das ist doch gut. Am Ende sind es die sozialen Berufe, die wirklich zählen, und sie können einen mehr erfüllen als es jeder Beruf in der freien Wirtschaft kann, die alle so fern von Nächstenliebe sind, mit diesem Konkurrenzdruck, und wo es einzig um Kostensenkung und Geldvermehrung geht, und wo Altruismus ein Fremdwort geworden ist.“

„Ach David. Würden doch mehr Leute so denken!“

„Darf ich mal schnell auf die Toilette?“
 

Kaum dass er weg war, ging ich nebenan ins Badezimmer, das von unserem Klo getrennt war. Heißes Wasser ließ ich in die alte Wanne mit Klauenfüßen ein und goss großzügig Désirées Badeschaum hinein. Der Schaum entwickelte sich rasch und verbreitete einen Rosenduft. Nein, geplant hatte ich das nicht, das war wirklich spontan und improvisiert.

„Was soll das werden?“ David war ins Bad gekommen um sich die Hände zu waschen, fragte mich das in einer Tonart, als ob er sich erkundigen wollte, ob ich verrückt geworden war. „Wonach sieht es denn aus?“ Den Finger um seine Gürtelschlaufe einhakend, zog ich ihn an mich.

„Was… was ist mit der Lasagne…?“, warf er ein.

„Die braucht noch ein bisschen, sagt der Chefkoch.“ Mit der Zunge leckte ich über sein Ohrläppchen, sah im Spiegel, wie er die Augen schloss. „Ich muss dich doch nicht schon wieder abfüllen, damit du morgen kein schlechtes Gewissen hast, oder?“, neckte ich ihn.

„Wie bitte?“

„Damit du es auf den Alkohol schieben kannst, meine ich. Dass du neben einem anderen Kerl aufgewacht bist.“

„Ich habe nicht vor, bei dir zu übernachten. Ich hinke eh mit meinem Lernpensum hinterher und mghhhm...“ Den Rest seines Satzes schluckte mein Kuss. Er floh aber davor, legte mir einen Finger auf die Lippen. „Wir müssen uns dabei nicht küssen, in Ordnung?“ Er tastete nach hinten, in die Gesäßtaschen meiner Jeans hinein, und ahnte gar nicht, wie verdammt wild er mich damit machte.

„Komm ins Wasser. Lass uns baden.“ Ich fing seinen Welpenblick auf, der Bände sprach, als ich ihm ganz langsam die Knöpfe seiner Jeans öffnete.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Ich ging darauf nicht ein, denn wenn es nach David ging, würde er bis ins hohe Alter zölibatär leben. Ließ ihn los, um mich aus meiner Jeans freizukämpfen, streifte mir dann noch meinen Pulli ab. Vor David fiel mir das viel leichter als vor Sandro.

„Wir haben die Wohnung für uns, meine Schwester ist erst am Montag zurück.“ Ich stieg in die Wanne. Hach, Wohlfühl-Temperatur. Ich seufzte, tauchte einmal ganz unter, setzte mich aufrecht, den Rücken angelehnt und die Beine angewinkelt. Meine Knie schauten wie kleine Inseln aus dem Schaumwasser heraus.

Als ich aufsah, stand David nackt vor der Wanne und ich blickte ehrfürchtig zu ihm auf. Da stand er, die Hände auf der Körpermitte verschränkt, mit gar nichts an, außer natürlich seiner Kette um den Hals. Die pure Sünde. Weil er stets so weite Klamotten trug, hatte ich gar nicht erahnen können, wie es darunter aussah. Ich hütete mich, ihm zu sagen, dass sein Körper unter einem Priestergewand versteckt, eine totale Verschwendung wäre. Das letzte, das ich in diesem Augenblick brauchte, war eine Diskussion über Religion.

Schon kletterte er über den Rand der Wanne, ohne sich noch einmal dazu auffordern zu lassen und nahm mir gegenüber Platz, rückte jedoch ganz an den gegenüberliegenden Rand, mit deutlichen Anzeichen von Nervosität. Er schien ziemlich mit sich zu kämpfen, häufte sich Schaum auf den Körper.

„Was ist eigentlich mit dir? Ich meine, hattest du nicht bis vor Kurzem eine Freundin?“

„Ja, hatte ich. Schließ die Augen“, sagte ich nur und David gehorchte. Ich erhob mich, nahm auf seinen Oberschenkeln Platz. Er seufzte, zog mich näher an sich, ließ seine Finger zaghaft meine Schulterblätter erkunden, langsam, bedächtig und beinahe vorsichtig meinen Rücken hinab gleiten. Ein Finger erreichte mein Steißbein, zog sich wie peinlich berührt ein Stück zurück, nur um kurz darauf aufs Neue die Tour fortzusetzen. Ich spielte an seinen Brustwarzen. Die Laute, die er dabei machte, waren interessant. Dann hielt ich es nicht mehr aus, nahm seinen Penis. Schloss die Finger darum, spürte seinen Herzschlag. Ich begann, erst mit seinem zu spielen, nahm später noch meinen eigenen hinzu, schließlich beide in meine Hand.

David stieß ein wohliges Seufzen aus. Plätschern von Wasser vermischte sich mit seinem Keuchen und meiner heftigen Atmung. Unbezahlbar, ihn so zu erleben, als den menschlichen Vulkan, der jetzt ausbrach. In meiner Hand, nur wenige Augenblicke vor mir. Schweißperlen glitzerten ihm auf der Nase. Beide mussten wir erst wieder zu Atem kommen.

„So gut“, seufzte er. „Schön, wenn man jemanden hat, mit dem man ab und an Stress abbauen kann.“

„Stress abbauen? Wie meinst du das?“

„Na eben unverbindlich. Ohne Verpflichtungen. Befreiend.“ Er stieg wieder aus der Wanne, trocknete sich mit dem hellblauen Handtuch ab, das meiner Schwester gehörte, und schlüpfte in seine Klamotten. Ich saß noch immer in der Wanne, sprachlos angesichts seiner Worte. Als hätte er eine langjährige Beziehung hinter sich, die mit sehr vielen Strapazen und Einbußen verbunden gewesen war, weswegen er jetzt endlich seine Freiheit genießen wollte.

David warf mir einen Blick über die Schulter zu, der leichten Ekel verhieß. „Komm raus da, das ist doch eklig, was da drin rumschwimmt.“

Ich bin nicht eklig.“

Ein resignierendes Seufzen. „Ich kann ja schon mal den Tisch decken“, sagte er und verschwand daraufhin.

Schweigend kümmerte ich mich um die Ordnung im Bad, wie mechanisch zog ich den Stöpsel und beobachtete, wie der Inhalt in einem kleinen Strudel in den Ausguss floss. Stress abbauen. Ohne Verpflichtungen. Unverbindlich. Das war es, was er wollte? Vielleicht hatte er ja eine zu enge Beziehung zu Gott und Jesus gehabt, das würde einiges erklären.

Schweigend aßen wir unsere Lasagne kurze Zeit später in der Küche. David brach gleich nach dem Essen auf, um zuhause zu lernen, und ich war nicht allzu unglücklich darüber.

Später am Abend bekam ich eine Nachricht von Jo, die mich beunruhigte. Sie begann mit einem Daumen nach unten und einem Emoji, der sich die Ohren zuhielt: Alter, sei froh, dass du heute nicht im QUAKE bist! Gitarrhö ist abgesagt worden, dafür springt eine Country Coverband ein, die so mies ist, dass man denen Geld geben sollte, damit sie aufhören! Was eine Scheiße! Ich fahr heim! Ein Scheißhäufchen-Emoji rundete die Nachricht ab.

Scheiße. Das war gar nicht gut. Sofort hatte ich Sandros Hand vor Augen. Mit diesen Klebestreifen tapeziert. Oder lag es am Ende doch an der Fehde mit seinem Ex? Oder ganz profan daran, dass er nun keine gute Gitarre mehr besaß?
 

~
 

„Warum hast du nicht in den Briefkasten geschaut?“, begrüßte mich meine Schwester am Montagabend, sobald sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, und ihre Stimme verhieß nichts Gutes. Schritte stapfen in die Küche, sie machte sich diesmal nicht die Mühe, die lauten Treter mit den Absätzen auszuziehen. Auf Maries Kochbuch, in dem ich blätterte, segelte eine Postkarte und ich blickte auf. Im grauen Wollmantel stand Désirée auf der Schwelle zur Küche, das Gesicht zornesrot.

Die Karte drehte ich um, registrierte die fremdländischen Briefmarken, die bekannte Schrift. Meine Lieben. Ich komme euch über Weihnachten besuchen. Ihr müsst nichts vorbereiten. Freue mich sehr auf euch! In Liebe, eure Mutter, las ich laut vor und es war wie ein Fausthieb in den Magen. Das war ja absehbar gewesen, dass sie irgendwann wieder auftauchen würde. Trotzdem, es schwarz auf weiß zu lesen, sie sehr bald wiederzusehen, darauf war ich nicht gefasst.

„Über Weihnachten! Und wo gedenkt sie zu schlafen? Davon schreibt sie nichts“, giftete sie los.

„Weiß nicht, aber sie schreibt doch, wir brauchen nichts vorzubereiten“, versuchte ich sie zu beruhigen, doch erreichte das Gegenteil.

„Ach. Was sie schreibt, und was sie tut! Weißt du, was ich denke? Sie spekuliert darauf, dass wir sie beherbergen, bis... Ja, keine Ahnung, zum jüngsten Tag?! In dieser Zwei-Zimmer-Wohnung! Sie hat sich mal wieder um überhaupt nichts gekümmert, genau wie damals, als alles an mir hängen geblieben ist. Ihr Chaos aufzuräumen, ihren Papierkram, ihre Rechnungen, ihr Wohnung kündigen… Sie hat DICH im Stich gelassen, ihren minderjährigen Sohn! Vergiss das bloß niemals!“

„Desi…sie schreibt doch nicht, dass sie hierher, in die Wohnung kommen will, sie hat bestimmt ein Zimmer gemietet oder so.“

„Glaubst du das wirklich? Woher will sie denn das Geld dafür haben, nach zwei Jahren in der Weltgeschichte? Weißt du, ICH durfte nicht ins Ausland nach meinem Abi, weil dafür ja kein Geld dagewesen war, ich habe es halt hingenommen, hat meiner Karriere nicht unbedingt geschadet. Aber was tut sie?! Sie schert sich genauso wenig um ihren Kram, wie du dich um deinen. Frei nach dem Motto, irgendjemand wird es schon richten, irgendwer wird die Rechnung schon zahlen. In diesem Fall ich. Man merkt, dass sie mit dir verwandt ist!“

„Ist es denn nicht eigentlich der Sinn von Weihnachten, jemanden Obdach zu gewähren und das Fest der Liebe zu feiern?“

Darauf ging sie nicht ein. „Neulich habe ich dich gefragt, was du nach dem Altenheim machst und keine Antwort erhalten. Jetzt frage ich dich nochmal.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, richtete ihren bohrenden Blick auf mich und mir lief es kalt den Rücken hinab. Ich kam mir vor wie beim Jüngsten Gericht.

„Okay. Weißt du was, ab jetzt läuft dein Ultimatum, du hast drei Wochen!“, verkündete sie, als ich ihr keine Antwort gab, mit Blick auf den Kalender. „Wenn ich bis dahin keinen ausformulierten Zehn-Punkte-Plan mit mindestens einem Plan B, sowie Finanzierungsmöglichkeiten von dir vorgelegt bekomme, wie du dir mittelfristig deine Zukunft und Ausbildung vorstellst, dann setze ich dich pünktlich zum Jahresende vor die Tür. Das ist mein voller Ernst und das ziehe ich durch! Das kann ich dir auch gerne schriftlich geben.“

„Was?! Mit einer Frist von drei Wochen?!“ Ich schnappte nach Luft. „Weißt du auch was? Wer dich zur Schwester hat, der braucht keine Mutter mehr!“ Doch sie war bereits abgedampft.

Der Gedanke, dass Mama bald hier sein würde… Besser, ich entfernte die Postkarten noch heute von den Schränken. Sie sollte nicht denken, dass ich ihr in dieser Küche einen Schrein errichtet hätte, oder so. Zack, nahm ich mir auch schon die nächstbeste bunte Postkarte vor. In der Ecke, wo die Briefmarke geklebt hatte, war nun gähnende Leere, komisch. Auch auf sämtlichen anderen Postkarten, die ich abriss… Das bedeutete…

Meine Schwester besaß einen Master in Chemie, womit es ein Leichtes für sie war, eine Briefmarke spurlos von einer Postkarte zu lösen.

„Erwischt“, sagte ich überheblich und so laut, dass sie es durch Tür und Wände hören musste. „Du sammelst also heimlich Mamas Briefmarken, ja?“

Den beachtlichen Stapel von Postkarten ohne Briefmarke stopfte ich in eine Tüte und legte sie unter mein Bett. Die jüngste Postkarte aber ließ ich auf dem Küchentisch liegen.

Dann zog ich mich an, ich hatte ein konkretes Ziel. Nachdem ich gestern, während meiner Plätzchen-Back-Orgie fast wahnsinnig geworden war. So sehr hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie es Sandro ging. Ich könnte ihn ganz einfach besuchen und fragen. Das Naheliegendste war mir nicht eingefallen.
 

Mit dem Bus in Kornheim angekommen, bei den graffitibesprühten Häusern, öffnete ich die Haustür, die hier wohl nie verschlossen war und klingelte an Sandros Tür im Erdgeschoss.

Schritte. Geräuschvolles Einhaken der Türkette. Die Tür öffnete sich so weit, wie die Kette es zuließ und ich bekam Tilmanns bärtiges Gesicht zu sehen.

„Sandro ist nicht da“, grummelte er in seinen Bart. Er wollte die Tür wieder schließen, doch ich steckte die Finger in den Spalt.

„Warte! Warum wart ihr dieses Wochenende nicht im QUAKE?“

Er schnaubte. „Na, weil er keine Gitarre hat, darum.“

„Ja, klar, ich weiß, was Sache ist! Wie geht es Sandro? Gibst du mir bitte seine Nummer?“

„Nee. Hat er mir verboten.“ Das schien er sehr ernst zu nehmen, und ich versuchte gar nicht erst, ihn zu überreden. „Wird ja wohl einen Grund haben, wieso du sie noch nicht hast, oder?“

Da war etwas dran.

„Er hat dir verboten, seine Nummer generell weiterzugeben? Oder sie explizit mir zu geben? Wie auch immer. Würdest du ihm dann bitte meine geben?“

„Ungern.“

„Och Tilmann, was hast du gegen mich? So blöde hab ich mich bei deinem Videospiel doch nicht angestellt, oder?“

Ein gequältes Seufzen, rollende Augen. „Na gut. Ich will das aber hinterher nicht bereuen, klar?“

„Das wirst du auf keinen Fall! So eine Szene wie sein Ex werde ich ihm niemals machen. Ehrenwort!“ Ich diktierte ihm meine Nummer, und er tippte sie in sein Handy ein, während er sich über den Bart strich. „Danke, Tilmann, du bist der Beste!“

Genesis

Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, in verästelten Straßen rannen die Tropfen am Glas entlang nach unten. Neben mir auf dem Sitz lag meine Tasche, in der sich eine Dose mit meinen selbst gebackenen Plätzchen befand, den Sonntag hatte ich fast nur damit verbracht. Ich rief David an, weil mir die Fahrt zu lang dauerte, und staunte darüber, dass er sogar dranging.

„Hey. Du darfst deinen Geburtstag bei Jo feiern, hat er mir gestern erzählt?“

„Naja, ich fühle mich etwas unwohl dabei, weil er dann die ganze Arbeit hat, als Gastgeber, aber er hat mein Nein nicht akzeptiert. Natürlich bist du auch eingeladen, du kommst doch?“

„Na klar“, versicherte ich ihm. „Er hat auch nicht die ganze Arbeit, ich werde mich ums Essen kümmern, habe mich schon durch Rezepte gewühlt.“

David hörte die Ansage im Bus, und wollte wissen, wohin ich unterwegs war.

„Zu dir.“

„Was, heute? Aber ich bin am Lernen, Dominique!“ Er seufzte.

Ich stellte mir vor, wie er am Schreibtisch vor seinen Ordnern und Büchern über jahrhundertealte Schriften brütete und dabei schrumpeliges Trockenobst naschte, natürlich in Bioqualität.

„Dann wird es höchste Zeit, dass du eine Pause machst. Ich bin gleich da, ich steige gleich in die U-Bahn um.“
 

Außer Puste und ein klein wenig nass geregnet kam ich in seinem Flur an. Eine Gruppe Studenten saß im abgetrennten Aufenthaltsraum an einem Tisch vor ihren Laptops und diskutierte angeregt. Hier war einfach immer etwas los, Student zu sein musste so cool sein. Keiner von ihnen nahm Notiz von mir und da war auch schon Davids Tür mit seinem Namensschild. Ich klopfte an.

„Hey“, sagte David, der kurz darauf öffnete. „Na dann komm rein.“

Ich ließ mich nicht zweimal bitten, schlüpfte aus den Schuhen und entledigte mich meiner feuchten Jacke, die ich kurzum über seine hängte. Seine Schreibtischlampe brannte, wo ein Ordner aufgeschlagen war und deine Lavalampe brannte, die er wohl erst angeschaltet hatte, als ich meinen spontanen Besuch bei ihm angekündigt hatte; noch waren nämlich keine Blasen aufgestiegen. Er sah buchstäblich zum Anbeißen aus, die Farben des Pullis und der Hose, die er trug erinnerten mich an Biskuit mit Cappuccinocreme-Füllung, zusammen mit seinen dunklen Locken standen sie ihm gut.

„Eigentlich wollte ich nochmal das eine Skript durchgehen, nächste Woche ist schon die Klausur.“

Unbeeindruckt hielt ich ihm die kleine Dose mit meinen Plätzchen hin. Als er den Deckel abnahm, kroch der betörende Duft heraus.

„Was ist das?“

„Na was wohl? Weihnachtsplätzchen, selbst gebacken. Für dich extra vegan.“

„Für mich?“ Er begutachtete sie, wusste nicht, was er sagen sollte. „Du stellst dich für mich hin und backst? Ich wusste nicht mal, dass du backen kannst. Ähm, möchtest du einen Kräutertee?“

„Ja, gerne.“

„Setz dich.“ David wies aufs Bett, nahm den Wasserkocher vom Schreibtisch und verschwand damit im Bad.

Das Holz ächzte genau wie bei meiner Übernachtung, als ich mich darauf niederließ. Neugierig hob ich sein Kissen an. Das geheimnisvolle Buch mit dem braunen Ledereinband war immer noch an seinem Platz. Verführerisch. Nein. Darüber sollte ich gar nicht erst nachdenken!

„Weißt du was? Mein einer Dozent heißt mit Vornamen sogar Theo“, sagte David, als er wieder zurückkam, und den Teekocher einschaltete. „Kurzform von Theophil.“

Es war dieser ganz spezielle Blick, den er aufsetzte, wenn wir nur Sekundenbruchteile später losprusteten.

„Ihr dürft ihn duzen?“

„Ja, das hat er uns angeboten, er duzt uns auch, er ist noch ziemlich jung. Ich finde es irgendwie seltsam, einen Dozenten zu duzen, ich weiß nicht.“

„Jung und sexy?“

„Was soll denn die Frage?“

„Nichts. Vergiss es.“

David kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Bett. „Warum bist du wirklich hergekommen? Und bringst mir selbst gebackene Plätzchen mit? Die nebenbei bemerkt, wirklich lecker sind. Dominique, also… ich will nicht… dass der Eindruck entsteht… ähm, ich würde irgendwas Romantisches starten wollen, verstehst du?“

Ich prustete los, dieser Vorwurf war ja mal so absurd. Von jemandem, der eine Lavalampe anschaltete, damit es lauschig wurde. „Nee. Keine Sorge. Nach meiner Ex bin ich von Romantik erst einmal kuriert.“

„Oh. War denn die Trennung sehr schlimm für dich?“

Ich schnaufte tief durch. „Ich bin darüber hinweg! Übrigens, bei uns im Altenheim findet eine Adventsfeier statt. Am Samstag, den zwanzigsten Dezember, und ein Chor singt Weihnachtslieder. Hättest du Lust zu kommen?“

„Äh, ich fahre Freitag dann nach Hause zu meiner Familie, schließlich steht ja Weihnachten vor der Tür.“

„Ach so...“ Mir dagegen stand ein sehr verrücktes Weihnachten bevor. Desi, die sich wohl zu ihrer Fernbeziehung verkrümelte, mich alleine ließ mit meiner Mutter, die ich zwei Jahre nicht gesehen hatte, in dieser kleinen Wohnung, in die nicht mal ein Christbaum hineinpasste… und ich würde es nicht mit Marie verbringen.

Wir schwiegen uns an, die Stille im Raum übertönte der Wasserkocher, der zu brodeln begann, er bebte regelrecht auf seiner Vorrichtung, als würde gleich eine Rakete starten und dampfte vor sich hin.

„Darf ich dich auch etwas fragen, Dominique?“

„Nur zu“, ermutigte ich ihn, auf alles gefasst, aber inständig hoffend, dass er nicht fragte, wie ich Weihnachten zu feiern gedachte.

„Woran glaubst du?“

„Woran ich glaube?“, wiederholte ich die Frage. „Du meinst, ob ich an Gott glaube? Gute Frage. Ich bin katholisch getauft worden, und hatte dreizehn Jahre Religionsunterricht in der Schule… Aber naja, ich weiß nicht, ob es Gott gibt und ob es Sinn macht, an ihn zu glauben.“

„Hmm“, machte David. „Ich jedenfalls glaube an Jesus Christus. Und an Gott. Ich bin auf der Suche nach ihm, warte auf ein Zeichen. Dass er mir sagt, dass ich auf der richtigen Spur bin. Vielleicht finde ich das gar nicht hier in diesem Land. Vielleicht muss ich mich dafür nach Israel begeben. Ein sehr gespaltenes Land leider... Da wollte ich schon immer mal hin, am liebsten würde ich ein Auslandssemester in Jerusalem absolvieren. Alle Orte anschauen, wo Jesus vor Jahrtausenden gewirkt hat, Betlehem, Nazareth, den See Genezareth, den Blutacker, wo Judas Ischariot begraben liegen soll. Stelle ich mir spannend vor, all diese heiligen Orte zu besuchen. Wo heute so verschiedene Religionen und Kulturen aufeinandertreffen.“

Nicht schlecht. Wenn Gott und Jesus dafür gesorgt hatten, dass David die Welt bereiste, dann war sein Glaube wirklich für etwas gut gewesen.

David erhob sich, aber nur um sich des Wasserkochers anzunehmen, der fertig war, goss das Wasser in die Tassen, welches die Teebeutel rostfarben färbten.

„Warst du auch mal in Rom?“

„Ja, auf einer Klassenfahrt in der elften. Wir haben auch Vatikanstadt besucht.“

„Oh, die Interessen deiner Mitschüler lagen sicher ganz woanders als bei der Sixtinischen Kapelle“, meinte ich grinsend.

„Kann man wohl sagen.“ Das Tablett mit den Tassen und der Plätzchendose stellte er auf den Holzstuhl, den er ans Bett heranzog und setzte sich wieder neben mich.

Da lagen zwei knallgrüne Äpfel neben seinem Ordner, stellte ich fest, genau so ein Apfel, in den Sandro hinein gebissen hatte, bevor wir uns sehr nahe gekommen waren…

„Möchtest du einen?“, weckte mich David aus den Erinnerungen.

Ich schüttelte heftig den Kopf, wie um jenen Sonntag aus meinem Gedächtnis zu schütteln.

„Aber steht nicht in der Bibel etwas von einem Apfel im Paradies, und einer Schlange?“

„Ja, genau, in Genesis, dem ersten Buch Mose. Es war aber nicht unbedingt ein Apfel, es wird bloß eine Frucht erwähnt und nicht genau definiert, welche. Es könnte auch eine Feige gewesen sein. Das ging in späteren Überlieferungen nach und nach verloren.“

„Du bist ein Bibel-Nerd!“

„Sagen wir eher, ich finde die Bibel sehr interessant.“ Dieses Leuchten in seinen Augen… Er war ganz in seinem Element. Daher fragte ich nach: „Wozu genau hat die Schlage Adam und Eva nochmal verführt?“

„Die Schlange, also der personifizierte Teufel, hat Eva erfolgreich dazu verführt, die Früchte vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden zu essen. Mit dem Versprechen, sie würden dann wie Gott den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennen. Eva hat dann auch Adam dazu gebracht, zu essen, obwohl Gott es ihnen strengstens verboten hat. Die Frucht bewirkte, dass ihnen ihre eigene Nacktheit bewusst wurde und sie sich daher voreinander schämten, und dass ihnen auch ihre eigene Sterblichkeit bewusst wird. Gott vertrieb sie dann aus dem Paradies, denn sie haben seine Befehle missachtet, was eine Sünde ist. Auf jedem ihrer Nachkommen lastet demnach die Erbsünde.“ Seine Hände unterstrichen seine Worte, er kam mir vor wie ein Dozent, der mir eine Privatstunde in Theologie gab.

„Hat dann demnach nun jeder Mensch die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Weil diese beiden damals diese Frucht gegessen haben? Ist das nicht verdammt schwierig, das zu unterscheiden?“

„Man muss diese Fähigkeit natürlich etwas schulen. Und da kommt wiederum die Religion ins Spiel“, sagte er und lächelte. Er nahm die Tasse und trank einen Schluck, ich tat es ihm gleich. Uff, der schmeckte aber bitter!

Als er meinen Gesichtsausdruck sah, fragte er sofort: „Möchtest du Zucker? Ich habe keinen da, aber ich kann dir welchen aus dem Aufenthaltsraum holen.“

„Nicht nötig." Ich nahm eines meiner Plätzchen aus der Dose und tunkte es in seinen bitteren Tee. "Wenn man mal darüber nachdenkt...Also, da leben seine eigenen Schöpfungen fröhlich im Garten Eden, aber ließen diesen Baum immer links liegen, weil Gott ihnen unter Todesstrafe verboten hat, davon zu essen, so weit, so gut. Aber eines Tages kommt die Schlange, bringt beide dazu, diese Frucht doch zu essen, und Gott schmeißt sie dann einfach so aus dem Garten Eden raus? Seine eigenen Schöpfungen? Ohne ihnen die Chance zu geben, um Vergebung zu bitten? Ist das nicht ein bisschen überzogen?“

David trank stumm seinen Tee, und ich fragte weiter: „Gott will seine Schöpfungen lieber artig und dumm, Hauptsache, sie halten sich an seine Regeln? Er ist zwar allmächtig und allwissend, aber er wusste nicht, dass der Teufel in Form der Schlange sie dazu gebracht hat, zu essen… was seltsam ist, warum braucht es überhaupt den Teufel dazu? Ein Verbot alleine würde doch Menschen dazu bewegen etwas zu tun, gerade weil es verboten ist, also mich auf jeden Fall…und man sagt ja immer, die Menschen haben einen freien Willen...“

„Die Früchte von diesem Baum zu essen, war aber eine Sünde. Gott hat es ihnen nunmal verboten, auch im Garten Eden gibt es Regeln. Aber ja, Gott hat Menschen mit einem freien Willen geschaffen, was es sehr spannend macht.“

„Dann hat er sie ja angelogen, denn sie sind nicht gestorben. Sie haben bloß gegen seine Hausregel verstoßen. Wir sind jetzt alle Sünder, und Gott ist ein ziemlich nachtragender, herrischer Typ.“

David lächelte fast amüsiert. „Gott schickte aber seinen Sohn Jesus Christus, um für die Sünden der ersten Menschen, die er erschaffen hat, am Kreuz zu sterben. Und er ist nicht nachtragend, er ist barmherzig, und er verzeiht.“

„Und…wer war denn nun Jesus in Wahrheit? Gottes Sohn, oder der personifizierte Gott auf Erden? Ich bin mir da nie so sicher ehrlich gesagt.“

„Nun, wir Christen bekennen uns dazu, dass Jesus der Weg und die Wahrheit und das Leben ist, denn so steht es im Johannes-Evangelium. Gott ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Eine Dreifaltigkeit, die sich im Kreuzzeichen wiederspiegelt.“

Ich stellte die halb leere Tasse auf dem Tablett ab. Irgendwie führte dies zu nichts, es verdeutlichte mir nur, wie gläubig er war, und brachte mich selbst nicht weiter.

David schien das anders zu sehen: „Ich finde deine Fragen gut, Dominique, tiefgründiger als mit den meisten Leuten, mit denen ich zu tun habe. Und du hast Fragen. Ein Atheist, der überzeugt ist, dass es Gott nicht gibt, würde sich doch nicht all diese Fragen stellen, für den ist die Sache klar: Da ist Nichts. Das muss sehr traurig sein. Ich meine, ihm fehlt ja dann nicht nur Gott im Leben, sondern auch eine Gemeinschaft, die mit ihm zusammen glaubt. Denn es gibt keine Nicht-Glaubensgemeinschaften oder so.“

„Hm.“ Zwar hatte ich im Moment ganz dringendere Probleme, als meinen Kopf über Religion und Glauben zu zerbrechen, denn mir fehlte im Leben so viel mehr als bloß Gott. Aber es brachte mich näher zu David, der mich mit diesem eindringlichen, fast zärtlichen Blick betrachtete, und sich insgeheim freute, dass wir eine Art geistige Verbindung hatten.

„Egal wo man im Leben steht, welche Sorgen einen belasten, der Glaube trägt und gibt Sicherheit. Gott ist der einzige, zu dem man wirklich jederzeit wieder zurück kommen kann. Bei Menschen ist das nicht ganz so einfach.“

Die Art, wie er mich ansah, genau derselbe schüchterne Blick wie neulich in meinem Badezimmer, da wusste ich, was er vorhatte. Er huschte zum Schreibtisch, um das Licht auszuknipsen. Nur noch das fast obszön anmutende Orangerot der Lavalampe untermalte stimmungsvoll den Moment. Mittlerweile war das Wachs flüssig geworden und stieg auf.

Er setzte sich wieder, diesmal berührte sein Bein meines. Legte einen Arm um mich, seinen Kopf an meiner Schulter ab. Seine Wärme, sein David-Geruch, seine Haare – was genau war es, das mich so auf ihn abfahren ließ? Ich konnte nicht wiederstehen. Heißer denn je kam mir sein Atem vor. Er erhob keinerlei Protest, als ich ihn rücklings auf die Matratze bettete, ihn in die Position des Genießenden beförderte und mich sachte auf ihm niederließ, meine Beine irgendwo zwischen seinen. Es fühlte sich so wunderbar an, auf ihm zu liegen. So gut, dass ich die provokante Frage, wie Gott das wohl finden würde, einfach beiseiteschob. Seitlich an seinem Hals, wo seine Kette und die verblassende Erinnerung an den Knutschfleck war, vergrub ich meine Gesicht, spürte seine Schlagader pochen, atmete sein Gemisch aus Rasierwasser, Schweiß und Lust. Sein leises Stöhnen ließ die wildeste Lust in mir wachsen. Zaghaft gingen seine Finger dabei auf Wanderschaft, zogen mir vorsichtig die Hose herunter und den Pulli hoch. Auch meine Hände fanden in seine Hose. Ich umfasste sein anschwellendes Glied, zerrte ihm die Hose fast schon mit Gewalt herunter. Nahezu gleichzeitig nahmen wir die Erektion des anderen in die Hand. Ich keuchte, während ich mich in dem Rhythmus bewegte, den die Lust uns diktierte, immer heftiger, immer flacher atmend. Lust daher, weil es ein männlicher Körper war, der unter mir lag und meine Welt auf den Kopf stellte auf eine geile Weise. Ein Körper, bei dem ich mir keine Sorgen machen musste, ihm aus Versehen eine Rippe zu brechen. Oder mir den Stress machen, eine Erektion halten zu müssen, genauso wenig wie Verhütungspannen und deren Folgen, und es war auch weit und breit kein brummender rosa Vibrator in Sicht, dessen Existenz niemals mit auch nur mit einem Wort kommentiert wurde, mir aber jedes verdammte Mal aufgenötigt wurde.

Einfach nur unsere Körper und unsere Laute genießend, bis irgendwann der Saft aus mir herauswollte. Quer über Davids Bauch, wo sich unser beider Säfte vermengten. Ich konnte nicht einmal sagen, ob er es war, der so zuckte oder ich.

„Igitt“, machte David und schob mich beiseite. „Ich habe ganz vergessen, dass ich ja noch die Gummis da habe.“

„Sorry“, murmelte ich, doch ich fand es zu geil, als dass es mir tatsächlich leid täte. Auf dem Nachttisch fand ich eine Packung Taschentücher, und wischte mich mit einem sauber.

Die Decke raschelte, die Bettfedern quietschten und David stand aus dem Bett auf, zog dabei fast verschämt die Hose hoch. Ich dagegen blieb liegen und genoss die Nachwirkungen des Höhepunktes. Es war alles in allem einfach viel entspannter, weniger verkrampfter als mit Marie. Das hatte einfach so kommen müssen mit uns beiden, vielleicht hätten wir es mit ein wenig mehr Kommunikation und Einfühlungsvermögen auch abwenden können. Wir hatten beide nicht über unsere Gefühle reden können… Marie war passé, was blieb, war die Erkenntnis, dass ich es beim nächsten Mal ganz anders angehen musste. Das sollte ich im Hinterkopf behalten. Aber ich ließ mich treiben. Das Kissen war so schön weich und duftend…

Im Bad hörte ich Wasser rauschen und ich schloss die Augen. Das geräuschvolle Schließen der Badezimmertür einen Moment später riss mich aus dem Halbschlaf.

„Du bist noch hier?“ Die Verwunderung darüber war deutlich zu hören.

„Mhh“, machte ich und streckte mich. „Aber vielleicht sollte ich besser heim, ich habe morgen Frühschicht.“

„Du kannst auch bleiben, wenn du zu müde bist.“ Doch es klang nicht so, als stünde er hinter dieser Einladung, sondern bot es aus reiner Höflichkeit an. Er setzte sich an den Schreibtisch, knipste dort seine Lampe an und sortierte sein Lernmaterial. Sein Kräuter-Duschgel roch ich bis hierher. „Spät nachts will man ja wirklich nicht durch die Stadt fahren, vor allem bei diesem Wetter. Aber ich muss jetzt wirklich lernen.“

„Soll ich morgen wieder kommen?“

„Da habe ich schon was vor. Mit Linus Plakate bemalen.“

„Linus?“

„Ein Student ein paar Zimmer weiter. Wir verstehen uns ganz gut, ich habe ihn auch zu meinem Geburtstag eingeladen.“

Das gefiel mir irgendwie nicht. Linus… Mir drängte sich die Frage auf, ob es noch andere Leute gab, mit denen David Stress abbaute. Unverbindlich und ohne Verpflichtungen. Christ hin oder her.

„Plakate, wofür denn?“

„Na für die Klima-Demo am Freitag. Jo und Xia sind auch dabei.“

Jo hatte mir gar nichts davon erzählt, dass er vorhatte, auf eine Klimademo zu gehen. Vielleicht, weil ich da nachhaken würde, wie er das als Autofahrer rechtfertigte. Mir war mit einem Mal fast zum Heulen: Alle waren sie zusammen an der Uni, nur ich nicht. Ich war der Außenseiter! Ich wollte endlich auch mein Studium beginnen, und jeden Tag mit David und Jo in der Mensa zu Mittag essen, auf Demos gehen, und Tag für Tag sehr, sehr viel lernen und mich über die Menge des Lernstoffes beklagen…vielleicht irgendein Fach, das sich mit den Menschen an sich beschäftigte; was Menschen bewegte.

„Was ist mit dir, Dominique? Kommst du auch mit?“, riss David mich abrupt aus meiner Zukunftsplanung, die ich doch dringend mal angehen musste.

„Äh, am Freitag? Ich muss arbeiten. Urlaub hätte ich zwei Wochen vorher beantragen müssen, die Kollegen rechnen fest mit mir, weil ich meine täglichen Routinen mit den alten Leuten habe, und können so kurzfristig nicht umplanen, da wir zurzeit eh unterbesetzt sind.“

„Es geht nicht um Urlaub, es ist ein Streik, das ist ja der Sinn der Sache.“

Ich zuckte die Achseln. „Du arbeitest doch auch, du weißt, wie das läuft.“

„Klar verstehe ich das. Schade. Der Planet ist doch schließlich Gottes Schöpfung.“

Oh Mann. Alles begann und endete mit Gott bei David. Ich stand auf, begann mich wieder anzuziehen, ich bekam nämlich Sehnsucht nach meinem eigenen Bett, das bequem und breit war und nicht bei jeder Bewegung quietschte. Das musste man ja bis draußen gehört haben! Unschlüssig stand ich in meiner Jacke da, mir lag etwas auf der Zunge. Ich zögerte lange, bevor ich fragte: „David. Du denkst doch an jemand anderen, wenn wir das machen, oder?“

„Wie bitte?“

„Antworte mir einfach ganz ehrlich.“

Ein Atemstoß, der sehr genervt klang, dazu stellte ich mir vor, wie er die Augen verdrehte, doch sah nur seinen Hinterkopf mit den feuchten Locken, um den Nacken ein Handtuch gelegt.

„Mann, David, gib es doch einfach zu, da ist doch nix dabei, ich habe auch jemanden kennen gelernt, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht, obwohl das besser für mich wäre.“ Tief holte ich Luft, bevor ich mit gesenkter Stimme fragte: „Es ist Pablo, nicht wahr?“ Nun hörte ich ihn nach Luft schnappen. „Deswegen hast du mir die Fotos gezeigt, stimmt’s? Du hast ein Auge auf ihn geworfen. Er ist derjenige, der dich scharf macht, und mit mir lebst du es aus. Vielleicht solltest du nicht so oft diese Polaroids anschauen.“

David sprang so abrupt vom Stuhl auf, dass er umkippte. „Wie kannst du mir solche Schweinereien unterstellen! Wir sind nur Freunde, Pablo und ich, eine tiefgründige Freundschaft, wie ich es so noch nie hatte und wohl nie mehr haben werde! Nicht jeder ist so triebgesteuert wie du!“

Ungeachtet seiner Beleidigung sprach ich ganz ruhig weiter: „Deswegen hast du auch Panik, weil das eine Polaroid verschwunden ist. Wer weiß, was darauf zu sehen ist…Du solltest es dir schon selbst eingestehen.“

„Verschwinde aus meinem Zimmer!“, schrie er mich an. „Sofort!“

Gut. Das war mir auch lieber so. Nun wusste ich wenigstens, dass ich mit meiner Vermutung richtig gelegen hatte. Schon allein an seiner Reaktion.
 

~
 

Am Freitag schmeckte mir das Mittagessen überhaupt nicht, das aus Buchstabensuppe, öligen Fischstäbchen und verkochtem Blumenkohl bestand. Zum Nachtisch einen graubraunen Smoothie aus den Resten von all dem Obst, das die letzten zwei Wochen aufgetischt worden war. Angeekelt schob ich das Tablett ganz weit von mir weg, denn der Platz gegenüber von mir war leer. Fatima war heute krank. Oder machte blau.

Jos Statusmeldung entnahm ich, dass sie gerade alle auf dieser Demo waren und ich schaute mir Davids Plakat an. Warum bloß war ich nicht mitgegangen? Einen Tag streiken, für die gute Sache. Stattdessen saß ich pflichtbewusst hier, wie ein schnöder Buchhalter. Wie mein heuchlerischer Vater, der in allen Belangen so pflichtbewusst und vorbildlich war, außer in der wichtigsten, zum Kotzen!

Ein Selfie von Mik, auf dem er mit Xia und David in die Kamera grinste, im Hintergrund noch ein Kerl, der so groß war, dass er Nase aufwärts abgeschnitten war, man erkannte nur ein paar Sommersprossen.

Wer ist da noch bei euch dabei?, fragte ich Jo.

Linus, aus Davids Wohnheim. Er ist übrigens gay!!! Dazu eine Armee von Regenbogen-Emoji. Mir schrillten alle Alarmglocken. David pflegte Kontakt zu jemanden, der offen schwul lebt? Davon hatte er nichts gesagt, bloß dass er mit ihm Plakate bemalen wollte.

Treibst du es auch mit Linus?, tippte ich in eine neue SMS, doch mein Finger schwebte unschlüssig auf der Sende-Taste, und weigerte sich sie zu drücken. Die Ausladung von seiner Party wäre mir auch so gut wie sicher. Die Party morgen Abend, auf der jener Linus auch eingeladen war. Also löschte ich den Text und schrieb stattdessen Fatima an: Bist du auch auf der Demo? Gib es zu, von wegen krank!

Sie schickte mir einen verlegenen Emoji. Erwischt! Aber verpetz mich nicht, bitte! Mein Lieblingscousin hat mich überredet, heute blau zu machen, weil das für den Planeten wichtig ist!

Ich musste heute deine Arbeit zusätzlich machen, vielen Dank dafür!, tippte ich.

Sorry!!! Ich werde mich revanchieren, ja? Wir sehen uns am Montag!

Noch eine Nachricht, diesmal aber von einer unbekannten Nummer: Einfach nur Hey. Mein Puls raste in schwindelerrregende Höhen. Zuerst betrachtete ich das Profilfoto des Absenders. Die Rückansicht eines muskulösen Blondschopfes, der an einem Spielplatz einen Klimmzug machte. Die Sonne stand so günstig, dass sie die Täler und Hügel seiner Arme in scharfe Schatten setzte. Ich starrte dieses Foto sekundenlang oder vielleicht sogar minutenlang an. Dann erst schrieb ich Hallo Sandro.

Ich spielte die Sprachnachricht ab, die er mir geschickt hatte. Sandros leicht verschnupfte, heisere Stimme erfüllte den Raum: „Hallo Dominique. Tilmann trifft keine Schuld, er hat die Mission erfüllt und mir deine Nummer gegeben. Aber kaum bin ich aus Paris zurück, hat mich volle Kanne eine Erkältung erwischt! Gerade wo ich das so gar nicht gebrauchen kann, lieg ich mit einer Wärmflasche flach. Und Tilmann hat sich aus dem Staub gemacht. Also, zumindest hast du jetzt meine Nummer“.

Noch immer ein Grinsen im Gesicht antwortete ich ihm ebenfalls per Sprachnachricht: „Du klingst SO schwul, wenn du erkältet bist. Sorry“, lachte ich. „Aber schön dich zu hören. Gute Besserung! Warum hast du denn Paris unsicher gemacht?“

Die Nachricht die dann eintraf, dämpfte meine gute Laune, denn sie war leider nicht von ihm, sondern von Désirée: „Denk ans Ultimatum! 20 Tage noch. Nochmal erinnere ich dich nicht!
 

Kaum zuhause, plünderte ich in Windeseile den Supermarkt und verließ ihn mit frischem Gemüse und Kräutern, was ich in der Küche zu einer kräftigen Suppe verarbeitete. Mit einer Tupperschüssel voll Suppe, die noch ganz warm war, stieg ich in den Bus nach Kornheim.

Nach zweimaligen Klingeln öffnete Sandro vorsichtig die Tür. Die Haare verstrubbelt, ein zerknitterter Jogginganzug und tiefe Augenringe, so schaute er durch den Türspalt mit der Kette davor, noch blasser als sonst, und sehr misstrauisch.

„Glaubst du mir nicht, dass ich krank bin?“, blaffte er, als er mich sah.

„Was, natürlich glaub ich das. Darum hab ich dir ja eine Suppe vorbeigebracht.“

„Eine was?“

„Gemüsesuppe. Selber gekocht, nach dem Rezept meiner Mutter, ein bisschen verfeinert von mir. Die bringt dich ganz schnell auf die Beine.“

„Du bringst mir ´ne Suppe vorbei?“, fragte er, als wolle ich ihn veräppeln, doch ich blieb ernst. „Bring mir lieber eine Schachtel Menthol, da hätt ich mehr davon.“

„Warte mal ab, bis du sie probiert hast. Die hat es in sich! Da ist Ingwer drin, Chili, und ein bisschen Wasabi.“

„Ah. Brennt zweimal, was?“ Leise lachte er, musste davon husten, und hielt sich den Brustkorb und stöhnte. „Scheiße, tut das weh. Oh Mann.“

„Mach doch mal die Kette weg, damit ich sie dir geben kann.“ Meine Finger tasteten sich durch den schmalen Spalt nach drinnen. Er trat näher heran, senkte den Kopf, lehnte die Stirn gegen meine Finger, die regelrecht glühte.

„Mhh. So kühle Hände“, flüsterte er. „Aber ich darf dich nicht anstecken, Süßer.“

Das war es. Er brauchte mich nur einmal Süßer nennen, und ich spürte, wie ich innerlich schmolz wie Schokolade. Das gefiel mir, von ihm so genannt zu werden. Von seiner anfänglichen Feindseligkeit war nun auch nichts mehr zu spüren.

„Ich stell sie vor der Tür ab, und du versprichst sie zu essen, ja? Werd bald wieder gesund!“

Schach

Drei Stunden vor dem offiziellen Beginn der Party klingelte ich an der Haustür von Jos Elternhaus im Westend. Der Kombi seines Vaters stand heute nicht in der Einfahrt. Wie auch immer Jo es geschafft hatte, seine Eltern heute aus dem Haus zu bekommen… Aber sie waren eh die coolsten Eltern auf diesem Planeten.

„So früh, Dome, ernsthaft?“, begrüßte er mich.

„Ich habe viel vor in deiner Küche!“, verkündete ich euphorisch. Mit meinen zwei vollen Taschen zwängte ich mich an ihm vorbei.

„Machst du wirklich Sushi, wie du angekündigt hast?“

„Ja, mit Gemüsefüllung. Dazu gibt es einen veganen Nudelsalat. Und Blätterteigtaschen. Zu trinken eine alkoholfreie Bowle. Guck nicht so, dir bricht kein Zacken aus der Krone, wenn du einmal vegan isst, daher dachte ich, ich mach keine Extrawürste. Ach ja, und noch die Smoothies. Habe also genug zu tun.“

„Dann mal ran an den Speck.“ Damit verzog er sich die Wendeltreppe nach oben und überließ mir das Feld. Ich liebte auf Jos riesige, schwarz geflieste Küche mit Durchreiche. Sie war einfach perfekt für alle Belange. Hier könnte man Kochvideos drehen, die man live streamte vor Publikum... Meine geheime Fantasie, die ich niemals jemanden verraten würde. Ich war total in meinem Element. Hier zu kochen war keine Arbeit, sondern eine Ehre! Als erstes machte ich ein Küchen-Selfie. Da sah ich, dass Sandro mir geschrieben hatte: Hey, deine Zauberbrühe hat wirklich gewirkt! Heute Nacht dachte ich zwar, dass ich krepieren muss, aber jetzt geht es mir viel besser!

Ich grinste und schrieb zurück: Freut mich, dass du sie wirklich gegessen hast! Ich bin heute auf der Geburtstagsparty von einem Kumpel.

Dann viel Spaß, und nicht zuviel saufen!

Ich verdrehte die Augen und machte mich an die Arbeit. Dass Sandro so schlecht von mir dachte…
 

Als die Teigtaschen im Ofen waren, vernahm ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Xia war angekommen, und sie hatte ihre Mitbewohnerin mitgebracht, die sie als Corinna vorstellte. Ich erhaschte von der Durchreiche aus nur einen flüchtigen Blick auf eine zierliche Blondine. Wahrscheinlich war es Xia unangenehm gewesen, die einzige Frau heute Abend zu sein und daher moralische Unterstützung mitgebracht. Da betrat Xia auch schon die Küche mit einer Tüte.

„Oh, hi! Na, schon fleißig an der Arbeit, wie? Hier sind meine veganen Muffins.“ Die Tüte stellte sie auf der Arbeitsplatte ab, und warf mir einen erwartungsvollen Blick zu, also riskierte ich einen Blick: Herrlich duftende Muffins, die das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. In Regenbogen-Papierförmchen steckend. „Da hast du ja wirklich nicht zuviel versprochen!“

Das entlockte ihr ein Grinsen. „Ähm, brauchst du bei irgendwas Hilfe, oder so?“

Ich lehnte jedoch ab und sie verschwand im Wohnzimmer. Irgendwann schneite Jos großer Bruder herein, während die drei eine Serie auf dem riesigen Flachbildschirm anschauten.

„Na, Bro, steigt heute die Party? Ey, wie viel zahlst du diesen Girls pro Stunde, dass sie mit dir abhängen?“

Jo giftete eine Beleidigung zurück, die aber an Simon abperlte. Kurz darauf hörte ich die Brüder diskutieren, welche Playlists gespielt werden sollten, und erfuhr, dass David nur unter der Bedingung zugestimmt hatte, dass alles außer Rock und Metal gespielt werden wurde. Der Abend im QUAKE musste ihn wirklich nachhaltig traumatisiert haben.

„Really? Schlager und Techno, oder was? Was gibt’s überhaupt zu trinken?“

„Alkohol jedenfalls nicht, das wollte David nicht.“

„Nicht mal Bier?!“

„Nein.“

„Soll ich schnell zum Edeka fahren und was holen?“

„Nicht nötig, Dome macht Bowle und Smoothies. Chill mal.“

„What? Digga, hättest du mir das nicht gleich stecken können, dass das hier safe eine woke Öko-Kinderfete wird? Dann wäre ich erst gar nicht aufgekreuzt, denkst du ich hab meine Zeit gestohlen, oder was! Schwule Musik, ohne mich!“

„Hör auf, etwas als ‚schwul‘ zu bezeichnen, du bist doch total verbuggt, man!“, erzog Jo ihn sofort, was mich überraschte. „Linus kommt auch, also hüte dein Maul.“ Interessant, durch Linus hatte er ein neues Bewusstsein für solche Feinheiten entwickelt?

„Ach, fickt doch alle eure Political Correctness in den Arsch“, entgegnete Simon daraufhin. Ich hörte ihn nur noch trotzig die Treppe hinauf trampeln. Mehr bekam ich nicht mit, denn ich warf den Smoothiemixer an.
 

Als alles soweit fertig war und nur noch David fehlte, machte ich mich im Gäste-WC frisch. Ganz zaghaft läutete es an der Tür, hatte ich mir das nur eingebildet? Niemand der Anwesenden schien die Klingel gehört zu haben. Also kam mir die Ehre zuteil, dem Geburtstagskind zu öffnen. Ja, ich war verdammt aufgeregt!

Aber… Ein schlaksiger Typ im dunklen Mantel stand vor der Tür. Wasserblaue Augen, Sommersprossen, blasses Gesicht. Ein in Silberfolie gewickeltes Geschenkpäckchen hielt er in der Hand. Oh Shit. Dass Linus, dieses halbe Gesicht auf dem Foto, heute auch eingeladen war, hatte ich volle Kanne verdrängt.

„Linus?“

„Ja“, sagte er und räusperte sich. „Bin ich hier richtig bei Davids Geburtstagsparty?“ Seine Stimme war so dünn und leise, sodass ich ihn nur mit Mühe verstehen konnte. Ich könnte einfach nein sagen, vielleicht wäre ich ihn so los, aber hört mich schon „Ja klar, komm rein“ sagen. Er trat zögerlich in den beleuchteten Flur.

„Was schenkst du David?“, fragte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

„Äh, ein Brettspiel, das er schon immer mal spielen wollte.“

„Ah.“

Er wich meinem Blick aus, zog seinen Mantel aus, aber verhedderte sich irgendwie dabei. Schließlich gelang es ihm doch, bevor ich eingreifen konnte, sein Gesicht mittlerweile puterrot angelaufen, hängte er ihn an einen Haken der Garderobe. Der Ärmste konnte nichts dafür, aber ich beobachtete ihn mit Stielaugen und noch kritischer als jeden anderen, einfach nur, weil er besagter Linus war. Der schwul sein sollte und irgendwie meine Neugier geweckt hatte. Im Wandspiegel überprüfte er verschämt den Sitz seines rabenschwarzen Haars. Zu schwarzen Jeans, die an seinen dünnen Beinen wie eine zweite Haut saßen, trug er ein dunkles Shirt, das seine breiten Schultern wunderbar betonen würde, wenn er nur richtig aufrecht stehen und sie nicht einklappen würde wie ein müder Schmetterling seine Flügel. Und überhaupt stand ihm Schwarz nicht. Das war Sandros Farbe!

„Wie lange kennt ihr euch schon, du und David?“

„Äh, seit Oktober.“

„Und seit wann habt ihr was miteinander?“

„Hä…?“ Der Blick eines erstarrten Kaninchens vor dem Wolf, diese Sprachlosigkeit – ich hatte ihn eiskalt erwischt und hätte fast gelacht. „Haben wir nicht! Wer behauptet das?“

Ich lächelte nur breit. „Ich bin übrigens Dominique. Schätze, mich hat er nie erwähnt.“

„Ehhm… Nein, hätte er das tun sollen?“ Nervös nestelte er an seinem Ärmelaufschlag herum, was einen ziemlich unterwürfigen Eindruck machte zusammen mit seiner leisen Stimme, so dass es mir, zugegeben, Vergnügen bereitete, fies zu ihm zu sein.

„Linus! Da bist du ja endlich. Rein in die gute Stube!“ Jo tauchte auf der Bildfläche auf, hatte nichts von unserer Unterhaltung mitbekommen, zumindest nicht das Wesentliche, und erlöste mich.

In der Küche ging ich an die Schränke und entnahm Gläser, Besteck und Teller für sieben Leute auf den Tisch, Simon würde ganz sicher wiederkommen, das Buffet würde er sich nicht entgehen lassen und schon gar nicht die Bekanntschaft der beiden Studentinnen. Linus hatte auf dem letzten Zipfel der riesigen Couchlandschaft Platz gefunden, wo er sich klein machte. Sein Blick klebte auf dem Display seines Smartphones. Bloß nicht auffallen, weder durch Lautstärke, noch Farbe, schien seine Devise zu sein. Deutlich war ihm anzumerken, dass er sich auf dieser Party wie ein Fremdkörper fühlte, zu der David ihn sicher lange hatte überreden müssen. Aber aus welchem Grund lud sich David gleich zwei Kerle ein, mit denen er etwas am Laufen hatte? War das nicht ein wenig gedankenlos, angesichts seiner Angst davor, geoutet zu werden?

Wo blieb David überhaupt? Es war nach neun Uhr, und sehr gemütlich hier. Lichterketten und Kerzen spendeten warmes Licht, auch Luftballons lagen verstreut. Fröhliche Folkmusic dudelte aus den Boxen.

„Weißt du, wo David bleibt?“, fragte ich Jo.

„Der wird schon noch auftauchen, schließlich ist er der VIP des Abends. Ist vielleicht wieder in den falschen Bus eingestiegen, wie ich ihn kenne.“

Ich postierte mich so hinter der Couch, dass ich einen Blick auf Linus´ Display erhaschen konnte. „Schach?“, rief ich verdutzt aus und noch im selben Augenblick verfluchte ich mich, das laut gesagt zu haben. Linus zuckte zusammen und drehte sich zu mir um. „Noch nicht! Aber in fünf Zügen, und dann erreiche ich endlich Level Sieben“, raunte er leise, als wäre es ein Geheimnis.

„Du spielst Schach gegen eine App? Auf einer Party!“, rief ich aus. „Du bist ja noch verrückter als David, der in einer Rocker-Kneipe Kreuzworträtsel löst!“

Nun huschte ein Lächeln über Linus´ Gesicht. „Ja, klingt sehr nach ihm.“

„Spiel wenigstens gegen mich!“, forderte ich ihn auf und ließ die Fingerknöchel knacken, woraufhin er die Nase kräuselte. „Oder kann das deine App nicht?“ Nun hatte ich seine volle Aufmerksamkeit, und er ließ das Smartphone sinken.

„Natürlich kann die das. Aber kannst du es denn?“

„Warte nur ab!“

„Gut. Dann zeig es mir.“ Er tippte auf seinem Display herum, dann hielt er mir das Handy hin. Es zeigte ein Schachbrett, auf dem die Figuren neu aufgestellt waren, so, dass wir uns gegenüber setzen und gegeneinander spielen konnten. Ich nahm vor ihm auf dem Teppich Platz. Natürlich zogen wir befremdliche Blicke auf uns, so wie wir dasaßen, aber keiner mischte sich ein.

„Wie hast du David kennengelernt?“, fragte Linus nach seinem Zug mit dem weißen Springer, während ich am Überlegen war.

„Jo hat ihn ins QUAKE mitgebracht, als Gitarrhö Anfang Oktober aufgetreten ist“, antwortete ich und beobachtete seine Reaktion. Der Bandname schien ihm nichts zu sagen. Sogleich stellte ich die nächste Frage, als ich meinen Zug machte: „Hast du mit David auch Schach gespielt?“ Er verneinte. Natürlich nicht, sie waren wohl immer mit anderem beschäftigt gewesen. Stressabbau, wie David es nannte. Für alles Mögliche hatte er ein Codewort, nie nannte er die Dinge beim Namen. Verklausuliert wie die Bibel selbst.

„Och nee!“, seufzte ich ein paar Züge später. „Ich hasse es, wenn ich meine Dame verliere.“

„Dann besorge dir doch einfach eine neue.“

„Wenn das mal so einfach wäre.“

„Tja. Hast du gehofft, ich mach es dir einfach?“

„Natürlich nicht, ich möchte schon gerne als ernsthafte Konkurrenz wahrgenommen werden“, entgegnete ich.

„Dann spiel nicht so defensiv. Als würdest du niemanden wehtun wollen.“

Ich schaute vom Display hoch zu ihm, schnaubte. Ich und defensiv? Das sagte der richtige! Er scheute ja bereits Blickkontakt!

„Was stört dich an meiner Defensive?“ Triumphierend schlug ich seinen Bauer mit meinem Läufer.

„Gar nichts. Ich überlass dir liebend gerne meine Bauern, während ich dich einkreise und vernichte. Defensive kann man sich leisten, wenn man viele Züge im Voraus denken kann. Kennst du überhaupt das Ziel des Spiels? Ich erkenne überhaupt keine Strategie in deinen Zügen.“

Wie gemein. Er setzte abermals mit seiner Dame voran. Scheiße, und da hinten lauerte schon bedrohlich der Läufer. Es sah nicht gut für mich aus. Linus war ein viel besserer Spieler als Schiko, den ich manchmal schlagen konnte. Aber vielleicht nur, weil er alt war. Hätte ich doch nur öfter mit ihm geübt.

„Ich geb dir einen Tipp: Das Ziel des Spieles ist es nicht, fleißig Figuren einzusammeln wie Trophäen.“

„Ach, nicht?“, entgegnete ich sarkastisch. „Gut, dass du mir das mal sagst!“

Nun bemerkte ich den Schatten über dem Handy und drehte mich um. Jo stand vor uns und schaute zu, wer weiß, wie lange schon!

„Cool! Wusste ich gar nicht, dass du Schach kannst, Dome! Schaut mal, Mädels, Linus zockt Dome so richtig ab!“

„Tut er nicht“, knurrte ich, denn es bestand immer noch die Chance, zu gewinnen, auch wenn mir ein paar Figuren fehlten und ich noch keine Strategie entwickelt hatte. Nun hatte Jo aber die Aufmerksamkeit der anderen erfolgreich auf uns gezogen. Mir machte das bisschen Publikum nichts aus, doch Linus schien eine deutliche Veränderung durchzumachen. Zitterten seine Hände? Außerdem sagte er gar nichts mehr und presste die Lippen aufeinander. Wurde noch einen Ton bleicher im Gesicht. Er schien eine ganze Weile nachdenken zu müssen, welchen Zug er als nächstes machte, pulte an seiner Nagelhaut herum. Sein Finger schwebte auf den Springer zu, doch er hielt inne, in ihm schien es zu arbeiten. Es musste daran liegen, dass er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, von mir, und weiteren drei Augenpaaren beobachtet. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das war doch blöd, wenn seine Schachfähigkeiten darunter litten, wenn er vor Publikum spielte.

„Spielst du in einem Schachverein?“

„Nicht mehr. Ich kam mit dem Publikum nicht klar.“ Daraufhin kicherte Xia los.

„Leute, was erhofft ihr euch? Wir veranstalten hier keinen Strip-Poker, das ist bloß Schach, also widmet euch wieder eurer Serie“, sagte ich in die Runde. Damit hatte ich sogar Erfolg.

Und dann hörte ich endlich die Türklingel. Das konnte nur einer sein!

Ich bemerkte eine Veränderung in Linus´ Gesichtszügen, der aber stoisch sitzen blieb. Jo rauschte an mir vorbei zur Tür. Erst jetzt bemerkte ich Simon, der sich unbemerkt zu uns gesellt und Corinna in ein Gespräch verwickelt hatte.

„Hey! David! Und wen bringst du da mit?“, rief Jo freudig. David hatte jemanden mitgebracht? Linus und ich tauschten einen irritierten Blick aus.

„Leute! Das Geburtstagskind ist da! Die Party kann losgehen!“, verkündete Jo lautstark, als die drei das Wohnzimmer betraten.

Davids Begleitung erregte viel mehr Aufmerksamkeit als David selbst: Ein etwas schmächtiger, dunkelhaariger Junge, dessen Kleidung ihm eine Nummer zu groß war, hielt sich fast an seinem Rockzipfel fest. Oh. Mein. Gott. War das etwa Pablo, seine Flamme vom Jakobsweg? In real sah er noch attraktiver aus als auf den Polaroids. Diese schwarzen Augen, die langen Wimpern, genau wie auf dem Foto, das er mir gezeigt hatte. Lediglich sein Haarschnitt war jetzt anders, ganz kurz rasiert an den Seiten, außerdem hatte er ein paar Bartstoppel.

„Schön, dass ihr alle gekommen seid! Das hier ist Pablo Romero, er kommt aus Spanien, wir haben uns auf dem Jakobsweg kennengelernt. Er ist extra aus Madrid hergetrampt, um mit mir meinen Geburtstag zu feiern!“

„Uhh!“, machte Xia, was alles heißen konnte. Die beiden setzten sich nebeneinander auf den Zweisitzer, der einzige freie Platz. Ein Pärchen-Sessel.

„Aber David hat erst morgen Geburtstag, gratuliert ihm also nicht vor Mitternacht“, mischte ich mich ein.

Erst jetzt wurde mir bewusst, was Pablo da anhatte: Davids Pullover! Dieser weiße Rollkragenpullover, den hatte er an jenem Abend im QUAKE getragen, das wusste ich noch genau. Auch er trug einen silbernen Kreuz-Anhänger darüber, an einer langen Lederkordel um seinen Hals. David trug seinen auch gut sichtbar. Wie ein Pärchensymbol; Kreuze statt Ringe! Diese verwaschene Jeans könnte ebenfalls aus Davids Kleiderschrank stammen, er hatte wohl keine Wechselklamotten mitgenommen für seinen Besuch. Die Luft zwischen ihnen schien regelrecht zu vibrieren, und wenn Pablo Davids Blick suchte, war es, als spielten sie Pingpong mit einem brennenden Ball und lächelten beide so verschmitzt dabei. Fiel das denn keinem der anderen auf, diese Chemie zwischen ihnen? Ich spürte urplötzlich eine leichte Flamme der Wut in mir aufsteigen; ich musste raus hier.

„Dann lass uns mal das Buffet eröffnen, David!“, sagte ich übertrieben feierlich und flüchtete in die Küche.

Auf der Etagere lagen meine Teigtaschen mit der Rote-Beete-Füllung, die ich abwechselnd mit denen der Spinatfüllung dort angerichtet hatte; im Kühlschrank wartete die Bowle und der in Gläser abgefüllte Smoothie und auch der Sushi. Ich war nicht untätig gewesen, während er sich offensichtlich mit seinem Pilger-Buddy vergnügt hatte! Woher denn sonst diese Verspätung?

Den Nudelsalat rührte ich abermals um, mit so viel Schwung, dass einige Nudeln über den Rand der Schüssel purzelten. Da trat David zu mir und ich fauchte ihn an: „Was soll das, David?“

„Was denn?“

„Was wohl! Warum du Pablo mitbringst!“ Ich hörte, wie Jo Pablo in ein Gespräch verwickelte und seine paar Brocken Spanisch dabei zum Besten gab.

David zuckte mit den Achseln. „Ich wusste nicht, dass er herkommt, das war eine Überraschung! Was hätte ich machen sollen, die Party absagen?“

Ich seufzte. „Im Ernst, David. Man braucht euch beide nur anzusehen, und man weiß, was ihr die letzten Stunden getrieben habt! Ist das heute deine offizielle Coming-out-Party, oder was?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme immer lauter wurde. Dabei warf ich einen Blick auf die Regenbogen-Muffins. Wie passend.

„Was?! Um Himmels Willen! Sprich doch etwas leiser“, bat er mich.

„Genau das meine ich, David, hörst du mir je zu?!“

„Es tut mir Leid, wenn ich deine Gefühle verletzt habe, Dominique.“

„Welche Gefühle denn?!“, brauste ich auf. „Das war doch bloß Stressabbau, ein Freundschaftsdienst!“

„Dominique, ich habe dir wirklich viel zu verdanken. Ohne dich wäre mir wohl nie bewusst geworden, was ich für Pablo empfunden habe, die ganze Zeit“, schwärmte er, seine Ohren nahmen den Farbton von Paprika an und er spielte an seinem Anhänger. „Ich sage dir eines, mit dem Richtigen ist es überhaupt nicht eklig.“

„Uäh, verschon mich mit Details!“

„Ich verstehe nicht, wieso in Gottes Namen du mir so eine Szene machst!“

„Hör doch auf mit Gott! Du hältst dich doch selbst an kein einziges Gebot deiner Kirche; lieg nicht bei einem Mann wie bei einer Frau, heißt es doch, und, vergeude nicht dein Sperma, sonst wirst du getötet, blabla… so steht es doch in diesem antiken Märchenbuch!“, redete ich mich in Rage. „Rosinenpicken nennt man so etwas!“

„Sprich nicht über Dinge, die du nicht verstehst!“, sagte er warnend.

„Und ob ich es verstehe, es ist ja so simpel: Lass die Finger von allem, was Spaß macht, und du bist ein frommer Christ, und wenn nicht, musst du um Vergebung flehen vor Gott! Aber du hast weder von mir die Finger gelassen, noch von Pablo, genauso wenig wie von Linus!“ Seine Miene entgleiste, doch ich sprach weiter: „Wer weiß, mit wem du sonst noch alles Stress abgebaut hast an deiner Uni!“ Meine Finger zeichneten Gänsefüßchen in die Luft. „Ich geb dir mal einen Tipp: Wenn du nicht auffliegen willst, dann solltest du besser nicht wie ein Nomade durch die Betten ziehen, das ist nämlich pharisäerhaft! Du scheinheiliger Heuchler! Wirklich, dein Jesus würde sich im Grab umdrehen, wenn er noch drin liegen würde!“

Kaum hatte ich diese Beleidigung ausgesprochen, klatschte mir David mit voller Wucht eine, dass mein Kopf wegflog. Etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte, bei seiner pazifistischen Einstellung!

Da bemerke ich jetzt auch, wie still es im Wohnzimmer geworden war. Alle Gespräche im Raum waren verstummt, und alle Partygäste verfolgten gaffend unser Streitgespräch, unklar, seit wann genau, aber was durfte man erwarten, wenn es keine Küchentür gab?! Mir brach der kalte Schweiß aus.

Pablo stürzte zu uns in die Küche, hakte sich bei David unter. David blähte die Nasenflügel. „Verlass meine Party, Dominique! Sofort! Ich will dich nie wieder sehen!“ brüllte er und an seiner Stirn trat dabei eine Ader hervor.

„Piss off, asshole“, schrie Pablo mir entgegen.

„Wow“, mischte sich Jo ein, „Dome …David…äh…chillt mal!“

Ich schlüpfte an Jo vorbei und auch an Linus, der dastand als hätte er sich selbst in Standby-Modus versetzt; rannte einem Impuls folgend in den Flur, die Wendeltreppe nach oben, Jos Kinderzimmer zum Ziel. Wie eine Königs-Schachfigur, die sich verzweifelt vor dem Matt retten wollte, was aussichtslos war.

„Jemand einen Regenbogen-Muffin?“, fragte Xia bizarrerweise in die Runde.

Ohnmacht

In Jos Kinderzimmer lehnte ich mich gegen die Tür und atmete tief ein und aus, vielleicht eine Minute lang. Oh Gott, was war da gerade passiert! Ich sank rücklings an der Tür hinab, bis ich am Boden saß, die Knie winkelte ich an. Jos bunte Anime-Sammelfiguren in ihrer Glasvitrine schauten vorwurfsvoll auf mich herab. Ich Idiot. Was hatte ich getan, wieso um alles in der Welt hatte ich all das laut ausgesprochen! Auch noch im nüchternen Zustand!

Wie auch immer, es war nicht mehr rückgängig zu machen, und was am meisten schmerzte, war Davids schallende Ohrfeige.

Ich vergrub den Kopf in meinen Händen, spürte meine brennende Wange, ließ den Tränen freien Lauf, heulte über alles, was gerade beschissen lief in meinem Leben.

Irgendwann, als der Ausbruch abgeebbt war, klopfte es an die Tür. „Ich bin´s. Darf ich rein?“

Simon. Was wollte er? Ich bewegte mich von der Tür, um sie aufzureißen, bereit, seiner ewig grinsenden Fresse etwas entgegen zu pfeffern. Doch er hatte einen entwaffnenden Blick aufgesetzt, und einen Teller voll mit Sushi und Teigtaschen dabei.

„Wie viel hast du mitgekriegt?“

„Na… Nur jedes Wort, genau wie alle anderen.“

„Scheiße. Ich hab die Party versaut!“

„Jap, Cummy, du bist ein heißer Kandidat für den Partycrasher-Oscar!“

„Ich kann nie wieder da runter!“

„Dachte ich mir, dass du das denkst und vorhast, den Rest deines Lebens in Jos Kinderzimmer zu verbringen, daher habe ich dir was zu essen mitgebracht. Schließlich hattest du so viel Arbeit damit, wär schade es vergammeln zu lassen.“

„Kein Hunger… Und ich habe Davids Leben zerstört.“

„Ach du Spinner, sie verputzen jetzt dein Essen, als wäre nichts gewesen, und geben ihre Pilger-Stories zum Besten, als wären das ihre Flitterwochen gewesen. Ich erlebe aber lieber meine eigenen Stories. Hast du Lust, mit mir Zombies abzuschlachten?“

„Nicht wirklich.“

„Ich hätte aber jetzt voll Bock drauf.“

Simon ging zu Jos Fernseher, schaltete ihn und die Konsole ein und ließ sich in einen der Sitzsäcke fallen, unter der Dachschräge, an die mit Reißnägeln ein angestaubtes Poster von AC/DC befestigt war. Der Bildschirm flackerte auf und die bekannte Titelmelodie erfüllte den Raum. Jenes Game, das eigentlich nur im Multiplayer-Modus Spaß machte; mit dem dümmsten Plot ever, aber zugleich auch den besten Grafik- und Soundeffekten.

Nun setzte ich mich doch neben ihn, ergriff den zweiten Controller und wählte meine Spielfigur aus, Ablenkung wäre vielleicht ganz gut.

„Als wir das vor dem Abi immer gezockt haben, Jo und ich, war meine Welt noch in Ordnung“, sagte ich, als wir mittendrin waren.

„Seit wann ist sie denn nicht mehr in Ordnung? Dein Rant heute war doch nur der berühmte Tropfen, stimmt´s?“

„Tu doch nicht so, als könntest du dich in meine Lage hineinversetzen. Du und ich, wir beide sind grundverschieden.“

„Meinst du?“

„Ja klar! Das fängt an damit, dass dich keine abserviert, sondern du es bist, der keinen Bock hast auf zweimal das gleiche Mädchen! Ich sag nur, Abiball! Und hört nicht da auf, dass du schon immer wusstest, dass du Medizin studieren willst!“

Er lachte gequält, und räusperte sich dann. „Eher studieren muss. Weil mein Vater und Opa das von mir erwarten, weil jemand die Praxis mal übernehmen soll und Jo das wohl nicht sein wird. So hat sich das ergeben. Aber eigentlich hätte ich auch keine bessere Idee gehabt, wenn ich ehrlich bin... Und der Abiball lässt dich ja echt nicht los, so wie du andauernd diese Anspielungen machst...“

Das tat er wirklich nicht. Kam mir vor, als wär es gestern gewesen: Simon, in seinem knallengen hellblauen Hemd, der sich mit einem Mädel unserer Jahrgangsstufe vom Acker machte. Nach zwei Stunden mit Schweißflecken wiederkam, und kurz darauf mit der nächsten von dannen zog, dabei sicherstellte, dass Jo es mitbekam. Um ihm aufs Brot zu schmieren, dass Jo nun Abi hatte, aber trotzdem noch Lichtjahre von seinem großen Bruder entfernt war.

Schweigend spielten wir weiter. Simon landete die besten Hits, schoss so präzise mit seiner gewählten Waffe, einmal sogar mitten durch einen Augapfel hindurch, und schrie „Cheers!“, als die grüne Blutfontäne nach allen Seiten spritzte, und kicherte. Hin und wieder hörten wir Lachen von unten, am lautesten Xias Ziegenlachen. Simon kam noch einmal auf das Thema zurück. „Mal ehrlich. Was ist schlimm daran, wenn man sich sexuell ausprobieren will? Sag mal.“

Ich schnaubte. „Nichts! Außer man verstößt damit gegen die Spielregeln seiner Kirche, die man so ernst nimmt, dass man sich sogar seine berufliche Zukunft dort vorstellen kann.“

„True?! Nur weil sich unser frommer Christ ein bisschen ausgetobt hat, and by the way, ich glaub, der Lauch steht heimlich auf ihn... Also ganz safe hast du Futterneid, Junge mit dem Pornonamen. Bringt wohl echt nix, dir zu stecken, dass du eben nicht lost bist, wenn du weniger Sex als andere Menschen hast. Du zockst ja kein Game, bei dem du Level 100 erreichen musst aber immer noch auf Level fünf rumkrebst, weil du erst eine Freundin hattest… got a fucking life, Dome Cumhard! Hör auf, dich mit anderen zu vergleichen, dann verschwinden deine Probleme schlagartig!“

„Du hast gut reden.“

„Und erzähl mal, wie ist eigentlich der Gitarrist so in der Kiste?“

„Das geht dich gar nichts an!“, rief ich und fühlte mich ertappt. Aber was soll´s. Heute war wohl der Tag der Wahrheit. Schlimm, dass er in mir las wie in einem Buch. Als würde er Psychologie studieren statt Medizin.

„Wow, ich hatte Recht!“ Simon lachte. „Hab ich ins Blaue geraten! Nach dem was du mir im QUAKE gesteckt hast. Wie praktisch, dass du jetzt an beiden Ufern fischst. Mehr Auswahl für dich! Ich bin fast neidisch!“ Ich verdrehte die Augen. So konnte echt nur Simon das sehen! Was zur Hölle hatte ich ihm im QUAKE erzählt? Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern, nicht nach diesem Filmriss. Er hatte mich ja gnadenlos abgefüllt! Das machte mich ziemlich sauer. „Da lachst du noch drüber? Du willst Arzt werden und füllst mich ab? Wenn ich eine Alkoholvergiftung bekommen hätte, würdest du dann auch lachen?“

Simon verstummte. „Natürlich nicht, davon warst du weit entfernt, ich hätte schon die Notbremse gezogen.“

„Glaube ich eher nicht, denn du hast dich dann fein aus dem Staub gemacht, und Jo durfte mich allein ins Auto schleppen!“

„Chill mal. Sei froh, dass ich dir deine Geheimnisse entlocken konnte.“

„Schwätzer. Wann wurdest du eigentlich entjungfert? Sag mal! Würde mich echt interessieren.“

„Was schätzt du?“

„Vierzehn?“

„Falsch. Mit einundzwanzig.“

„Was?! Never!“ Dann war er ja älter gewesen als David!

„Doch, das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit! Ich bin ein Spätzünder, mit allem. Aber wenn ich mal was für mich entdecke, das mich thrillt, tu ich in dieser Phase kaum was anderes, vielleicht etwas zu exzessiv…“

„Dafür gibt es bestimmt einen medizinischen Fachausdruck.“

Er lachte. „Wette ich drauf. Jedenfalls genieße ich jede Phase, solang sie anhält, bis was Neues kommt, das mich wieder kickt, irgendwann. Phasen sehe ich nicht als etwas Schlechtes an. Das ganze Leben ist eine Aneinanderreihung von Phasen. Daher, vergiss den Christen, nimm den Gitarristen, oder einen Juristen, and have fun. Wer weiß schon, was morgen ist?“

„Mit einem anderen Kerl ist das halt nur nicht so akzeptiert in unserer Gesellschaft…“, entgegnete ich.

„Die Gesellschaft?“, lachte er, „geilste Ausrede ever. Die Gesellschaft bist ja wohl auch du!“

„Für mich ist es jedenfalls kein Zeichen von Reife, noch nie eine feste Beziehung gehabt zu haben und damit auch noch zu prahlen, von wegen Phase! Ich hoffe für dich, all diese Mädels kriegen niemals raus, dass sie für dich bloß eine Phase waren.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ist ja nicht so, als hätten sie gar nichts davon gehabt.“

Und wenige Minuten später fragte er: „Hast du dich schon mal zehn Minuten lang nackt im Spiegel betrachtet?“

„Nein, wozu?“

„Weil du danach total im Reinen mit dir bist und alles schaffst, was du dir vornimmst. Einfach ready für alles!“

„Aha, das ist also dein Geheimnis!“ Nun bekam ich doch Hunger und nahm mir die Teigtasche.
 

Irgendwann pausierte Simon das Spiel. „Was geht denn da unten ab?“, murmelte er.

„Hm?“

Jetzt, da die Zombieschreie und das Geballer verstummt waren, hörte ich auch die Stimmen wild durcheinanderrufen. Stühle wurden gerückt und die Partygäste schienen in Aufruhr zu sein. Lautstark rief Jo nach Simon. Der sprang ruckartig auf und rannte aus dem Zimmer, polterte die Treppe hinab. Ich folgte ihm ohne zu zögern. Noch auf den letzten Treppenstufen sah ich die Menschentraube, den Fuß einer Person, die zwischen Ess- und Wohnzimmer auf dem Boden lag. Die geschockten Gesichter der Umstehenden, unter denen ich David nicht ausmachen konnte. Jemand, der mir entgegen rannte und heftig gegen meine Schulter prallte, und die Haustür, die daraufhin ins Schloss fiel, all diese Eindrücke prasselten gleichzeitig auf mich ein.

„Ich glaub, er atmet nicht mehr!“, rief Xia, die neben Davids Gesicht kniete und ihr Ohr gegen sein Gesicht presste. Durch das Gewusel schwebten die bunten Luftballons umher, was die Situation total bizarr wirken ließ.

„Du die Beatmung, ich die Herz-Lungen!“, wies Simon knapp Corinna an, die nur in der Gegend herumstand, aber ihm gehorchte, weil er der Einzige zu sein schien, der wusste, was zu tun war. „Jo, du rufst die Hundertzwölf!“, befahl er seinem Bruder und krempelte die Ärmel hoch. Wie ferngesteuert holte Jo sein Handy heraus.

Wenn David nicht mehr atmete, dann war es verdammt ernst. Simon begann wirklich, seine Hände rhythmisch auf Davids Brustkorb zu pressen. Und ich konnte nicht mehr wegsehen, obwohl ich das wirklich nicht sehen wollte. Nur im Augenwinkel bemerkte ich, wie Linus das Geschehen verließ, nach draußen verschwand auf die Terrasse. Ein dunkler Schatten, von dem niemand Notiz nahm. Außer mir. Jo stand in der Ecke mit dem Handy am Ohr, vor sich hin stotternd und ich beneidete ihn darum, dass er sich nützlich machte im Gegensatz zu mir.

„Wie ist das passiert?“, fragte ich Xia, die sich genauso hilflos zu fühlen schien wie ich.

„Er ist einfach so am Tisch umgekippt, von einer Sekunde auf die nächste! Aber kurz davor habe ich noch beobachtet, wie er auf der Terrasse von Pablo eine Pille angenommen hat, und fand es so süß, wie sie sich dann umarmt haben. Scheiße!“

„Eine Pille? Was für eine?“ Doch mehr wusste sie auch nicht. Eine Pille von Pablo? Wo war der überhaupt? Ich suchte den Raum ab. Teller mit Essensresten und Gläser standen noch auf dem Esstisch, das Brettspiel Trivial Pursuit darauf ausgebreitet. Ein fröhlicher Song auf Spanisch dudelte aus den Boxen, weil im Trubel niemand der Sprachassistentin den Befehl zum Aufhören gegeben hatte, was ich nun tat, damit Ruhe einkehrte.

Pablo musste derjenige gewesen sein, der mich fast überrannt hatte, klar, dass er verschwinden wollte, um keine Anzeige zu bekommen! Das war wie ein Zugeständnis, dass er ihm tatsächlich eine Pille verabreicht hatte. Vielleicht sogar eine Droge. Ich ging in den Flur, trat vor die Haustür in die Dunkelheit, rief mehrmals Pablos Namen die dunkle Straße hinab, doch bekam natürlich keine Antwort, ich hörte bloß die Sirenen näherkommen und wartete. Nachdem ich die Sanitäter ins Haus gelassen hatte, beschloss ich nach Linus zu sehen, der immer noch auf der Terrasse kauerte. Die Arme um seinen bebenden Körper gepresst, deutlich zitternd.

„Komm rein, bevor du dich erkältest, du bist dich total durchgefroren!“ Er schüttelte wiederwillig den Kopf, und ich ging auf ihn zu.

„Lass mich!“

Sein Atem ging flach und stoßweise; Schweißperlen standen auf seiner Stirn, sein Blick war ganz weit weg, und Spuren von Tränen erkannte ich auf seiner Wange. Wieso war ich überhaupt so feindselig ihm gegenüber eingestellt gewesen? Dazu gab es keinen Grund; ich kannte ihn noch nicht mal. Im Prinzip waren wir doch nur zwei arme Säue, die zur falschen Zeit etwas mit dem gleichen Kerl etwas angefangen hatten, was ein Fehler gewesen war.

„Ich ertrage das nicht länger!“, sprach er jetzt leise das aus, was ich auch empfand.

„Alles wird gut“, sagte ich, vor allem um mich selbst zu beruhigen. In Wahrheit tat sich mir ein Abgrund auf. Ich wollte nicht wahrhaben, welchen Verlauf dieser Abend genommen hatte.

„Nichts wird gut!“, entgegnete er. „Meine Tavor sind in meiner Jackentasche, die hängt im Flur!“

„Oh. Du brauchst Tabletten? Kein Problem, ich hol deine Jacke!“ Schnell war ich zur Garderobe geflitzt, nahm seinen Wollmantel vom Haken. Und bekam dabei mit, wie Simon die Wendeltreppe nach oben ging, aber nicht alleine: Er hielt Corinna eng um sich geschlungen, hatte den Arm um ihre Taille gelegt! Da konnte ich nur den Kopf schütteln – nach allem was passiert war, dachte er an so etwas?! Fast hätte ich meine Meinung über ihn revidiert, wegen des Gespräches, das wir heute gehabt hatten, doch ich blieb dabei: Simon war einfach nur weird, durch und durch!

In Jos Küche wollte ich noch ein Glas Wasser für Linus holen, aber durch die Durchreiche sah ich Jo und Xia, die die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Beobachtete, wie er ihr zwei Scheine zusteckte. Aber wofür?

„Pro Person hatten wir vereinbart!“, herrschte Xia ihn an, als sie ihm das Geld aus der Hand riss, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. War das wirklich die Xia, die ich kennen gelernt hatte? Die über die unpassendsten Dingen kicherte und ansonsten sehr naiv rüberkam? Ihre ganze Körperhaltung hatte sich verändert.

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass er noch Pablo mitbringt“, entschuldigte Jo sich reumütig.

„Was flennst du jetzt wegen den paar Euros rum? Ist dein Taschengeld alle? Weißt du, such dir doch eine andere, die du verarschen kannst.“ Er hielt sie am Zipfel ihres Ärmels fest, flehte sie an, als hinge sein Leben davon ab.

„Nein, warte, Xia, bitte! Lass mich nur schnell zur Bank.“

„Bank?“ Sie grunzte. „Du willst IT-ler sein?! Überweise es mir online, wenn du mich noch einmal sehen willst, meine E-Mail hast du ja. Und ruf mir ein Taxi!“

Mir fiel wieder Simons flapsige Bemerkung gegenüber Jo ein, ob er die Mädels gekauft hatte. Scheiße. Wie abgefuckt war denn bitte dieser Abend! Als ich, tollpatschig wie ich war, auf einen Erdnussflip am Boden trat, der mich so laut knirschend verriet, dass ich selbst erschrak, hielt Jo inne und drehte sich um. Ich machte einen Satz, rannte, so schnell ich konnte, zurück zur Terrasse, zu Linus.

Ich half ihm in seinen Mantel, schaute dann zu, wie er eine weiße Pillendose aus der Jackentasche nahm und eine Tablette schluckte.

„Ich muss jetzt heim“, verkündete er danach.

„Ich begleite dich, zumindest bis zum Wohnheim!“ Linus wirkte, als ob ihm das nicht so recht war, doch er sagte nichts.
 

Im Nachtbus waren wir fast alleine. Linus schien schläfrig, vielleicht die Wirkung der Tablette.

„Das war gegen Panikattacken, diese Tablette eben, oder?“ Denn ich kannte sie von meiner Mutter. Wie so einige andere Präparate.

„Hm“, brummte er nur. „Morgen muss ich David unbedingt besuchen! Gleich nach dem Joggen.“

„Joggen?“

„Ja, ich geh laufen. Egal.“

„Cool. Machst du mit beim Lauf durch die Innenstadt im Sommer?“

Linus schüttelte den Kopf. „Menschenmassen sind nichts für mich.“

Stimmt, das hatte er ja bereits verraten. Wieder schwiegen wir eine Weile. Die Stimme kündigte die Haltestelle an, zu der wir in die U-Bahn umsteigen mussten zum Wohnheim.
 

„Du musst auch in den fünften Stock?“, fragte Linus misstrauisch, als wir uns im Aufzug des Wohnheims befanden. „Ich habe dich dort nie gesehen.“

„Weil ich nicht da wohne. Aber ich muss was nachschauen in Davids Zimmer.“ Wenn ich richtig tippte, war Pablo dorthin zurückgegangen. Wo wollte er sonst hin? In einem fremden Land, in dem er außer David niemanden kannte?

„So? Und wie kommst du dort rein? Hast du einen Zweitschlüssel?“

„Nein. Ich hoffe einfach mal auf mein Glück.“
 

Auch jetzt saßen ein paar Studenten im Aufenthaltsraum, Bierflaschen standen auf dem Tisch und Chipstüten wurden herumgereicht. Gelächter, Musik. Wie skurril, Leute unbekümmert feiern zu sehen, nach dem, was ich heute erlebt hatte.

„So, du bist sicher müde, dann wünsche ich dir mal Gute Nacht“, sagte ich vor Davids Tür.

„Nein, ich komme mit!“, sagte Linus bestimmt.

„Wenn es sein muss. Dann warte aber hier, bis ich dir aufmache, sonst wird das Ganze zu peinlich, nur als Tipp.“

Linus blieb stehen, wo er war, und ich ging an die Tür von Davids Nachbar, las den Namen auf dem Türschild und hoffte inständig, dass er im Zimmer war. Beherzt klopfte ich an die Tür. Und noch einmal etwas kräftiger, als sich nichts rührte. „Markus? Bist du da? Ist dringend!“

Schließlich drehte sich das Schloss und ein haariger Kerl, bloß mit Boxershorts bekleidet, öffnete mir widerwillig. „Was is´?“

Ich setzte das freundlichste Lächeln auf, zu dem ich in dieser Situation fähig war. „Hey Markus! Ich bin´s, David von nebenan, sorry, dass ich um die Uhrzeit störe, aber ich hab mich ausgesperrt, könnt ich übers Bad rein, dankeee!“, sagte ich meinen spontan ersonnenen Text auf, ohne ihm Zeit zum Überlegen zu lassen und quetschte mich an ihm vorbei. Das Zimmer war geschnitten wie Davids, bloß spiegelverkehrt, und es war viel chaotischer, und aufgeheizt wie ein Gewächshaus.

„Hä? Du bist doch nicht David“, kombinierte Markus, doch zu spät. Ich reagierte nicht darauf. Im Vorbeigehen wich ich all den Klamotten und Schuhen aus, die auf dem Boden verteilt waren und nahm Notiz von dem Mädchen im Bett, das peinlich berührt die Decke bis zum Hals hochzog. Endlich stand ich im erbsengrün gekachelten Badezimmer mit den zwei Türen und atmete durch. Falls sich Pablo hinter dieser Tür befand… Dann musste ich den Überraschungsmoment nutzen.

Mit einer Centmünze öffnete ich spielerisch leicht das Türschloss und gelangte so in Davids Zimmer. Von innen war es nicht verriegelt zu meinem Glück. Die Vorhänge waren offen, diffuses Licht kam von draußen herein.

„Pablo?“, fragte ich in die Stille. „Bist du da?“ Keine Antwort. Also machte ich Licht.

Das Zimmer war perfekt aufgeräumt. Nichts deutete darauf hin, dass sich David und Pablo vor wenigen Stunden in diesen Laken gewälzt hatten. Außer vielleicht die nun erkaltete Lavalampe neben dem Bett, das verriet sie. Typisch David. Oh. Das Tagebuch! Das war jetzt fällig. Viel Zeit blieb mir nicht, es zu lesen.

Draußen klopfte es dreimal an die Tür. Markus von nebenan? Nein, das musste Linus sein, denn es war so zaghaft.

Ich schob das Kissen zur Seite. Das geheimnisvolle Buch mit dem braunen Ledereinband war immer noch an seinem Ort. Ich zog es heraus, betrachtete die vergoldete Jahreszahl auf dem Buchrücken, entfernte das Gummiband und klappte es auf, während mein Puls rasante Höhen erreichte. Jetzt würde ich ein kleines Stück tiefer in Davids Leben eintauchen. Aber…

„Nur ein Kalender…“, murmelte ich vor mich hin, und ja, ich war enttäuscht. Das sollte es gewesen sein? Bloß ein Kalender und Haushaltsbuch, wo David Tabellen gezeichnet hatte, die er mit Einnahmen und Ausgaben betitelt und Zahlen daneben geschrieben hatte. In einer Lasche hinten stapelten sich zerknitterte Kassenbelege, und ich blätterte durch den Kalender. Diesen Freitag stand bloß das Kürzel FFF, 12 Uhr, am Donnerstag Linus Plakate, 19 Uhr, am Samstag war Party bei Jo, 21 Uhr notiert, am Sonntag Gottesdienst mit Eltern, Innenstadt. Scheiße. Seine Eltern wollten ja morgen zu Besuch kommen, nicht mal das war ein Geheimnis. Doppelscheiße! Von Pablo stand rein gar nichts, das war wohl wirklich ein spontaner Überraschungsbesuch gewesen. Ich blätterte noch ein paar Wochen zurück und kam mir vor wie ein Stalker. Jeden Sonntag hatte David einen anderen Gottesdienst besucht und auch immer vermerkt, in welchem Stadtteil. Das Buch verriet mir nichts, was David mir auf Rückfragen nicht auch gesagt hätte. Unser Treffen in der Eisdiele fein säuberlich notiert. Er schien einfach gar keine Geheimnisse zu haben. Im Juli war ein Tag fett eingekringelt: Bewerbungsfrist Uni! . Auf dem Camino hatte er es offenbar auch dabei gehabt, denn in diesem Zeitraum standen jeden Tag Kilometerangaben und die Namen der Unterkünfte und Ortschaften. Seine Abiturprüfungen. Geburtstage von Freunden, Pfadfinder-Treffen, Tischtennis-Training, Tierarzttermine, Arzttermine. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er Tischtennis spielte. Oder ein Haustier besaß. Ich hielt sozusagen Davids Leben in der Hand. Moment mal. Wenn er diesen Kalender auf dem Jakobsweb dabei gehabt hatte… Richtig geraten. Hinten bei den Notizen stand in krakeliger Schrift eine Nummer, daneben Pablo Romero. Ich gab diese Nummer in mein Handy ein und rief Pablo an. Er ging natürlich nicht ran. Seufzend legte ich das Buch wieder an seinen Ort zurück. Linus klopfte abermals. Einen letzten Blick wagte ich in Davids Schrank, suchte nach etwas Kompromittierendem. Für den Fall, dass seine Eltern morgen tatsächlich herkommen und einen Blick dort hineinwerfen würden…sehr wahrscheinlich würden sie David frische Wäsche ins Krankenhaus bringen wollen. Aber Fehlanzeige. Bloß Kleidung, so akribisch gefaltet und aufeinander gestapelt wie in einer Boutique. Ich nahm die Haarbürste, schnupperte an ihrem Griff, der mit etwas Fantasie aussah wie… Aber nein, Fehlanzeige. Nur ich wäre so verdorben, David niemals.

Da Linus immer lauter klopfte, ließ ich ihn endlich herein.

„Pablo ist nicht hier.“

„Du hast aber lange gebraucht, um das festzustellen. In eine Schublade passt er sicher nicht.“

„War nicht so einfach, Davids Zimmernachbar zu überzeugen“, log ich. „Also, es ist nicht einmal sein Rucksack da. Gar nichts. Als wäre er nie hier gewesen.“

Linus deutete auf die beiden halbvollen Teetassen auf dem Schreibtisch, die mir gar nicht aufgefallen waren. „Würde ich nicht sagen.“

Tja. Hier standen wir, wie eine missratene Kopie von Sherlock Holmes und Dr. Watson, sinnlos in Davids Zimmer herum, während David in der Notaufnahme um sein Leben kämpfte, und dem es auch nichts nützen würde, wenn wir in diesem Moment bei ihm wären. Diese Situation war so befremdlich, dass mir nichts anderes einfiel, als plötzlich loszulachen.

Linus schaute mich an, als wäre ich wahnsinnig, und so kam ich mir auch vor. Ich schüttelte den Kopf.

„Ich fühle mich so mies.“

„Ich auch. Sowas von. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was ist, wenn… Wenn…“ Er rang nach Worten, doch ich wusste, was er sagen wollte. „Gott behüte dich, das hat David immer zum Abschied gesagt. Aber wer von uns hat das je zu ihm gesagt?“

Was David schon gesagt hatte! Im IGLU hatte er die Leute verdächtigt, ihm irgendwelche Drogen untermischen zu wollen, aber kaum tauchte Pablo auf, nahm er sie sogar freiwillig.

Ich schnalzte mit der Zunge. „Linus. Denke nicht darüber nach! Lenk dich ab. Ich gebe dir meine Handynummer, falls dir noch was einfällt, oder wenn es was Neues gibt.“

„Das ist moralisch einfach nicht richtig, in sein Zimmer einzubrechen.“

„Erzähl mir nichts von Moral! Es war unmoralisch von Pablo, David die Pillen anzudrehen.“

„Pablo hat was? Was für Pillen denn, und woher weißt du das?“

„Von Xia… ach eigentlich weiß ich gar nichts, ich war ja nicht dabei gewesen.“ Oh Mann. Ich hatte wirklich genug für heute. „Was studierst du eigentlich, Linus, auch was mit Religion?“

„Nein. Jura, im zweiten Semester“, offenbarte er mir, als würde er sich dafür schämen.

„Jura? Krass! Okay Linus, lass uns morgen früh gemeinsam joggen und danach ins Krankenhaus, David besuchen, das halte ich für einen guten Plan!“

Ich wollte durch die Tür nach draußen, als mir noch was einfiel und ich zurück zum Schreibtisch huschte.

„Und tust du David den Gefallen, die zweite Teetasse an dich zu nehmen? Nicht dass seine Eltern die wildesten Spekulationen darüber anstellen, wer da bei ihm gewesen war, wenn sie hierher kommen.“

Linus nickte und nahm die Tasse an sich. Wir verließen das Zimmer und unsere Wege trennten sich im Flur.

Noah

„Wow, du bist ja wirklich da, und sogar pünktlich. Mit deinem Erscheinen hätte ich nicht gerechnet“, begrüßte Linus mich am nächsten Morgen vor der Mauer am Haupteingang des Parks, mit seinen verzinkten Toren. Ich lächelte gequält. Er schien wirklich überrascht zu sein, ich war auch überrascht von mir selbst, dass ich Wort gehalten hatte. Ich hatte mir den Wecker gestellt, war dann aber so früh wach gewesen, dass ich auf sein Klingeln gewartet hatte. Trotzdem musste ich mich dann aufraffen, loszufahren, aber versprochen war nun mal versprochen. Keine Ahnung, was ich mir da gestern Abend gedacht hatte, als ich das vorschlug.

„Hi. Cooles Outfit.“ Wie professionell Linus gekleidet war: Laufschuhe. Smartwatch. Schwarze Laufhose aus synthetischem Material, die noch enger saß als seine Jeans gestern, vor allem an seinen wohlgeformten Waden. Laufjacke mit Leuchtstreifen. Während ich einfach in meine normale Alltagskleidung geschlüpft war, nur in bequemere Hosen als sonst.

„Die Schuhe, die du da anhast, sind total ungeeignet, damit tust du dir keinen Gefallen“, kommentierte er sogleich mit einem missbilligenden Blick meine Chucks.

„Hm, kann gut sein. Aber für ein paar Runden durch den Park wird es reichen. Ich habe noch gar nicht gefragt, wie viele Kilometer läufst du denn immer so?“

„An die zehn“, sagte er und ich schnappte nach Luft. „Mein Rekord liegt bei zweiundfünfzig Minuten, das nervt mich, ich will es in weniger schaffen. Also, dann mal los!“, verkündete er, als ob heute ein Tag für neue Rekorde wäre, fummelte an seiner Watch herum und betrat den Park. Ein leicht feuchter sandiger Weg erwartete uns und der Stadtlärm wurde fast vollständig verschluckt. Vögel konnte man zwitschern hören, trotz dass die Bäume und die Hecken kahl waren und sich braunes Herbstlaub an den Rändern häufte. Spaziergänger mit Hunden und andere Jogger drehten bereits ihre Runden.

„Gibt es an der Uni eigentlich eine Laufgruppe?“

„Keine Ahnung, ich laufe eh lieber für mich allein.“

„Du bist gerne allein, oder? Also allgemein.“

„Bist du hier um zu joggen, oder um mich auszufragen?“ antwortete er, und rannte mir davon, so dass ich Gas geben musste.

„Hey, warte, Linus!“

Im Frühling musste es bezaubernd sein, hier entlang zu joggen, direkt auf den Springbrunnen zu, der im Winter natürlich abgeschaltet war.

„Hier auf der Wiese würde ich gerne mal picknicken! Was hältst du davon, im Frühjahr, wenn es wärmer wird, wir beide, Jo und David!“

„Dazu müsste er aber erst aus dem Krankenhaus entlassen werden."

„Na klar“, sagte ich mit Bestimmtheit. Hier in dieser Umgebung fiel es mir leicht, positiv zu denken.

„Ich war hier auch mal mit David joggen.“ Linus schien es sehr viel Genugtuung zu bereiten, mir das unter die Nase zu reiben.

„Hab ich gar nicht gewusst. Dass David joggen geht.“

„Er hat darauf bestanden, dass ich ihn mal mitnehme. Ich kann eben mit den meisten Menschen nichts anfangen, ich hab ja auch noch meine Scheißkrankheit am Hals… Wieso erzähle ich dir das eigentlich alles?“

„Weil du vielleicht mal. Mit irgendjemandem reden wolltest. Zur Abwechslung. Ehrlich gesagt. Wundert es mich, dass du gestern. Zur Party gekommen bist. Wo du doch lieber. Alleine für dich bist.“ Reden strengte wirklich an bei diesem Tempo! Ich gab mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen, aber das war sinnlos. Ich war so unsportlich.

„Ja, nur David zuliebe bin ich hingegangen. Aber die waren alle so nett, Davids Freunde. Das war wirklich die beste Party, auf der ich je war. Wenn man vom Ende absieht.“

Er war sicher noch nicht auf vielen Partys gewesen.

„Ist da hinten ein Wald?“, erkundigte ich mich.

„Ja, da beginnt der Friedwald.“

„Friedwald?“

„Na Bäume, die Urnengräber sind, also quasi ein Friehof im Wald.“

Ich brachte nur ein Stöhnen heraus und blieb stehen. Er schaute über die Schulter.

„Ist was?“

„Seitenstechen.“ Ich presste mir die Finger in die Taille, um den Schmerz irgendwie zu lindern.

„Was? Jetzt schon? Zuviel gefrühstückt, oder was?“ Immerhin verlangsamte er seinen Gang.

„Ich frühstücke nie, bis auf meinen Milchkaffee.“

Linus verdrehte die Augen. „Wahrscheinlich zu viel geredet und durch den Mund eingeatmet statt durch die Nase! Daran hab ich gar nicht gedacht. Du…äh, ich meine das wirklich nicht böse. Aber… wäre es dir möglich, dir selbst etwas Kondition anzutrainieren, und dann laufen wir noch einmal? Du hältst mich sonst nur auf! David konnte locker mit mir mithalten!“

„Linus.“ Ich seufzte. „Hättest du was dagegen, gleich ins Krankenhaus zu gehen? Mit der Linie 4 sind wir gleich da.“
 

~
 

Dieses Krankenhaus war viel größer als das Altenheim, und ich war froh darüber, dass ich mich für mein Freiwilligenjahr für Letzteres entschieden hatte. Gegen die Hektik dieses Ortes erschien es mir wie die reinste Oase. Ich bediente mich vorschriftsmäßig am Desinfektionsmittelspender, und Linus tat es mir gleich. Er sprach kein einziges Wort, und schaute sich hektisch um. So viele Leute hetzten an uns vorbei und ich musste daran denken, wie müde und erschöpft meine Mutter oft gewesen war, wenn sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Anstatt sie zu entlasten, wie es sich für einen guten Sohn gehörte, hatte ich sie mit meiner Pubertätslaune noch mehr gestresst. Kein Wunder, dasss sie irgendwann an einen Punkt angelangt war, an dem sie fast ins Bodenlose gestürzt war. Heute konnte ich sie besser verstehen.
 

Der Krankenschwester am Empfang passte es gar nicht, dass ich mich so hartnäckig nach Davids Befinden erkundigte.

„Aber ich muss ihn sehen! Ich gehe hier nicht raus, ehe ich David gesehen habe!“

„Wenn Sie kein Angehöriger sind, darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben“, wurde ich schroff abgewimmelt. Linus seufzte. Ihm war anzusehen, dass er sich alles andere als wohl fühlte hier. Aber musste wir jetzt unverrichteter Dinge wieder gehen?

„Seid ihr Freunde von meinem Sohn?“ Eine Frau mit einem bayrischen Dialekt sprach mich von der Seite an und ich drehte mich um. Das war Davids Mutter? Sie war einen Kopf kleiner als ich, und trug eine Jeans und eine cremefarbene Bluse, darüber eine bunte gehäkelte Jacke. Ihre dunkelbraunen Haare mit den grauen Strähnen trug sie zu einem Zopf gebunden. Tiefe Sorgenfalten standen auf ihrer Stirn.

„Ja, ich heiße Dominique, und das hier ist Linus.“

„Magdalena Zimmermann.“ Kräftig schüttelte sie meine Hand, und auch die von Linus, beäugte dabei sein figurbetontes Lauf-Outfit, das hier fehl am Platz wirkte, sagte aber nichts dazu.

„Wie es ihm geht, wollt ihr wissen, ich darf doch Du sagen? Nun, die Ärzte sagen, wir müssen Geduld haben und abwarten. Leichter gesagt als getan! Er liegt im künstlichen Koma, so weit ist sein Zustand stabil.“ Ihre Stimme brach ab. „Ich weiß nicht, wie lange ich das ertragen kann. Wieso ausgerechnet mein Junge! Und so kurz vor Weihnachten! Verstehe einer die Wege des Herrn…“ Sie schnäuzte sich in ein Taschentuch. „Diese Stadt ist nicht gut für ihn, so weit weg von daheim, ich habe es ihm gleich gesagt, dass es hier gefährlich ist, aber er wollte nicht hören!“

„Gefährlich? Wie meinen Sie das?“

„Aber ja doch! Diese Anonymität, die es hier gibt und Kriminalität und Drogen. Großstädte verändern Menschen zum Negativen, diese Unmoral, die hier herrscht! Dauernd hört man was schlimme Sachen in den Nachrichten. Hier haben die Versuchungen Luzifers leichtes Spiel! Sowas gibt es bei uns auf dem Land, in Bayern, alles nicht. Wo wir daheim sind, kennt jeder jeden, und man passt gegenseitig auf sich auf! Oh Jesus!“ Sie umfasste fest das zierliche Goldkreuz an ihrer Halskette.

Ich biss mir auf die Lippen und warf Linus einen Seitenblick zu, seine Miene war nicht zu deuten, wahrscheinlich zweifelte er an ihrem Verstand. Langsam wurden mir Davids Beweggründe für den Umzug klarer: Er hatte sich in seinem Zuhause wohl zu sehr erdrückt gefühlt und wollte raus in die Freiheit! Ein verständlicher Wunsch. Mir jedenfalls wäre es so ergangen.

„Möchtet ihr zu ihm?“ Ich nickte und sie meinte: „Dann kommt mit.“ Mir war mulmig. Wir betraten schweigend den Fahrstuhl, fuhren in den dritten Stock und gingen dann den Flur entlang, und sie blieb vor einer Tür stehen. Bereits durch das Glas hindurch sah ich David in einem Krankenhaus-Kittel auf dem Bett liegen, eine ungesunde Gesichtsfarbe. Schläuche aus einer Maschine endeten in seinem Arm. Der Anblick war entsetzlicher, als ich es mir ausgemalt hatte und alles sträubte sich in mir. Plötzlich wollte ich ihn doch nicht mehr so dringend besuchen, aber nun war es zu spät.

„Geht nur rein“, meinte Magdalena und schob mich regelrecht in das Krankenzimmer herein. Im Bett neben Davids lag ein weißhaariger, unrasierter Mann, der schnarchend schlief, auch an ihm waren Infusionen befestigt, seitlich an seinem Bettgestell baumelte sogar ein Beutel, mit dunklem Blut gefüllt und ich wandte schnell den Blick ab.

Ein schwarzhaariger Mann mit Vollbart saß ruhig auf einem Stuhl neben Davids Bett, ein Buch auf dem Schoß. „…und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich…“ Er blickte auf, als er uns eintreten sah, begrüßte uns aber nicht, sondern zitierte den Psalm zu Ende. Magdalena, die hinter mir stand, betete leise mit. Über Davids Bett hing ein Kruzifix. Na, wie passend, das würde ihm gefallen. Nachdem er zu End gebetet hatte, wandte er sich uns zu und stand auf. Das schwarze Priesterhemd mit einem Kreuzanstecker am Revers ließ keinen Zweifel: Das musste Noah sein, Davids großer Bruder!

„Mutter. Ich finde, du solltest jetzt mal einen Kaffee trinken und dir eine Pause gönnen“, sprach er zu ihr. „Du bist schließlich schon seit den frühen Morgenstunden hier.“

„Ja, du hast wohl Recht, Noah, wir sind sofort losgefahren, als sie uns heute Nacht angerufen haben“, sagte sie. „Ich gehe dann mal runter in die Kapelle, zu deinem Vater, wir werden den Rosenkranz beten.“ Sie entfernte sich von uns, nicht ohne noch einen letzten besorgten Blick auf ihren jüngsten Sohn zu werfen. „Daheim wäre das alles nicht passiert!“

„Ihr seid…?“, fragte Noah mit Nachdruck, ohne sich vorzustellen, und schaute erst Linus an, dann mich.

„Gute Freunde von David“, antwortete ich stellvertretend für ihn, denn Linus schaute ihn bloß vor Ehrfurcht erstarrt an. „Ich bin Dominique, das ist Linus. Wir wollten…“

„Was ist meinem Bruder passiert? Wart ihr dabei?“, schnitt er mir das Wort ab. Die Zimmermann-Brüder sahen sich sehr ähnlich. Noahs Haare waren kürzer als Davids, dennoch wellig, und er bekam bereits Geheimratsecken. War etwas größer und voluminöser als David, sein Gesicht kantiger und er nahm viel Raum ein und lehrte einem die Bedeutung des Wortes Charisma. Man merkte sofort, dass er einem Beruf nachging, bei dem er viel mit Menschen in Kontakt war.

Linus wirkte immer noch eingeschüchtert, daher ergriff ich das Wort. „Es war auf einer kleinen Geburtstagsfeier bei einem Freund zuhause. Wir wollten reinfeiern, und…“

„Aha, und wo sind seine anderen Spezis, müssen die noch ihren Rausch ausschlafen? Ist ihnen am Rnde noch egal, was mit David passiert ist?“

Ich ging nicht darauf ein, dass er mich bereits zum zweiten Mal unterbrochen hatte, was ich als sehr unhöflich empfand. Er taxierte mich von oben bis unten, und seine dichten dunklen Brauen zogen sich zusammen. In meiner Jogginghose und den alten, zerfetzten Schuhen war ich total underdressed - was zu Abi-Zeiten noch Style gewesen war, fand ich jetzt nur noch schäbig, und ich nahm mir vor, demnächst mal mich zu überwinden und shoppen zu gehen. In dieser Aufmachung musste ich auf ihn wirken, als hätte ich selbst etwas mit Drogen zu tun. Wie eine eklige Küchenschabe; ein Herumtreiber, der anderen ihre Zeit, ihren Glauben an Gott und ihre Jungfräulichkeit stahl und zum Drogenkonsum verführte. Genauso das war ich. Niemand schien ihm weniger erwünscht in diesem Zimmer als ich.

Doch tapfer sagte ich: „Die werden auch noch zu Besuch kommen, ganz sicher. Es war übrigens mein Kumpel Simon, der Erste Hilfe geleistet hat, ein Medizin-Student, er hat ihm das Leben gerettet!“

„Weil es Gottes Wille war, nur darum!“, sagte Noah dazu nur überheblich.

„Ich setze mich mal zu David“, meldete sich Linus leise, ohne Noahs Erlaubnis einzuholen. Auf dem Stuhl, wo Noah zuvor gesessen hatte, nahm er Platz.

„Was sagt denn der Arzt, wird er bald wieder aufwachen?“, richtete ich eine Frage an Noah, bevor er die nächste an mich richten konnte.

„Sie warten auf einen Befund aus dem Labor, mit seinen Blutwerten. Was schätzt du, was sie in seinem Blut finden werden?“

Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung?“

Was sollte ich denn sonst sagen? Erstens wusste ich nichts mit Sicherheit, es könnte immer noch eine allergische Reaktion auf irgendeine meiner Zutaten gewesen sein. Außerdem traf ich David noch seltener als Jo, Xia oder Simon, denn ich studierte ja nicht mit ihm; er erzählte mir auch bei weitem nicht alles. Wann kannte man denn einen Menschen wirklich? Ich wusste ja noch nicht einmal alles über Jo, den ich seit zwei Jahren zu kennen glaubte; wusste nichts davon, dass er irgendetwas mit Xia am Laufen hatte, bei dem Geld floss.

Wie durchdringend Noah mich anschaute! Als ob er jeden meiner schmutzigen Gedanken lesen könnte, kraft seiner randlosen Röntgen-Brille. Wieso wurde ich von ihm so behandelt, als wäre ich es höchstpersönlich gewesen, der David gegen seinen Willen eine unbekannte Substanz eingeflößt hatte?

„Weißt du, ob es Schweinereien gab?“

Oh Gott, dieser Duktus! Von ihm hatte David also dieses Wort. Wenig eloquent für jemanden, der eine Geisteswissenschaft studiert hatte. Außerdem bemühte er sich im Gegensatz zu David noch nicht einmal, seinen Dialekt abzulegen, das kam mir befremdlich vor.

Ich stellte mich dumm. „Was meinst du damit?“

Noah legte den Kopf schief, als hätte er Mitleid mit meinem Geisteszustand.

„Wie dir bestimmt bekannt ist, ist unter Studenten ein Konsum von aufputschenden Substanzen nicht ungewöhnlich, bei Partys oder vor Prüfungen“, sagte er ganz langsam, als wäre ich minderbemittelt. „Oder beim Sex.“ Er machte eine Pause, um das Wort wirken zu lassen und meine Reaktion darauf zu erfahren – hatte er dieses böse Wort gerade wirklich in den Mund genommen? Wahrscheinlich hatte deswegen seine Mutter den Raum verlassen müssen.

Unbeeindruckt zuckte ich die Achseln. Ich spürte Linus’ Blick auf mir.

„Weißt du, mein Bruder war immer schon sehr sensibel und altruistisch, womit er nicht immer Menschen angezogen hat, die es gut mit ihm meinten. Er lässt sich zu oft zu dummen Dingen hinreißen, von denen er selbst keinen Nutzen hat, nur um die Harmonie in seinem Umfeld nicht zu gefährden, das ist seine größte Schwäche.“

Es brannte mir auf der Zunge, doch ich schluckte es hinunter. Dass es mich aufregte, dass er so redete, als wäre David gar nicht anwesend. Dabei lag dieser nur wenige Meter von uns entfernt im Krankenbett. Nur, weil er nicht bei Bewusstsein war, hieß das nicht, dass er von diesem Gespräch nichts mitbekam.

„Ich habe noch eine Frage an dich, wenn du gestattest.“

Noah holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche, zog ein Polaroid-Foto daraus hervor.

„Kennst du diesen Jungen?“

Ich warf einen Blick darauf – ach du heilige Scheiße. War dieses Davids verschwunden geglaubte Polaroid?! Ausgerechnet dieses Foto. Von allen Fotos, die David auf dem Camino geschossen hatte, hatte Noah ausgerechnet dieses eine in die Finger kriegen müssen. Das ging doch nicht mehr mit rechten Dingen zu, was für ein Pech David hatte!

Er strahlte mich darauf mit wilden ungekämmten Haaren auf dem Foto an, die Röte auf seinen Wagen kam nicht nur vom Sonnenbrand allein. Pablo neben ihm gab ihm einen Schmatzer auf die Wange, zudem waren sie beide noch oben ohne, hatten vermutlich in dem Fluss gebadet, denn ihre Haut bedeckten Wassertropfen. Man konnte viel hinein interpretieren, aber die Karten standen schlecht für David.

„Während ich nach meinem Abitur ein Jahr lang in Südafrika war, wo ich ehrenamtlich mitgeholfen habe, eine Schule aufzubauen, bringt mein Bruder bloß so etwas zustande“, kommentierte er das Foto, was mich wütend machte. Ein eigentlich harmloses Sommerfoto zweier Freunde war in die falschen Hände gelangt. Aber was hieß Freunde. Mir klangen Davids Worte nach, dass er erst durch mich seine Gefühle für Pablo erkannt hatte. Mit meiner Reaktion auf das Foto kam ich Noah nicht so leicht davon.

„Hast du dazu etwas zu sagen?“ Ich schluckte, kam mir vor wie bei der Inquisition, schaute von dem Foto hoch, zuckte die Achseln.

„Ich finde, das ist doch verdammt nochmal Davids Privatangelegenheit, oder nicht?“

„Hm-mh“, machte Noah daraufhin vielsagend, steckte das Foto wieder ein undd rückte seine Brille zurecht. „Das meinst du! Aber in der Kirche brauchen wir diese Regenbogen-Pest nicht.“

Regenbogen-Pest! Hatte ich richtig gehört? Wer dachte sich denn so eine Wortkreation aus?

„Tja, das ist wohl ein deutliches Zeichen dafür, dass ihr die Kirche der Gesellschaft anpassen solltet, nicht umgekehrt“, erwiderte ich.

„Geschweige denn in der eigenen Familie“, redete Noah einfach weiter, als hätte ich gar nichts gesagt. „Da hätten wir lieber gar keinen Bruder, und Sohn.“ Ich schnappte nach Luft. Diese Aussage von ihm war dermaßen unverschämt, dass ich mich augenblicklich woanders hinwünschte.

Was gäbe ich dafür, wenn jetzt Sandro an meiner Seite wäre! Denn ich fühlte mich Noah allein nicht gewachsen, und Linus war keine Hilfe. Sandro, als das krasse Gegenteil zu Noah, würde ihm Argumente entgegenpfeffern, die saße. Er wäre mir eine außerdem eine moralische Stütze und ein Halt, würde mich von Noah wegziehen, in seine Arme hinein. Sein Geruch nach Moschus und Zigaretten würde die Krankenhausluft aus meiner Nase vertreiben, und sein gehauchtes Süßer die Aussage von Noah aus meinen Ohren. Das war total schwul, sich danach zu sehnen. Aber mein Gott, dann war es eben so!

„Lässt du uns mal kurz alleine mit David?“, meldete sich jetzt eine zarte, fast zu leise Stimme und ich schaute rüber zu Linus.

Noah zögerte, es schien ihm offensichtlich nicht zu schmecken, dass er seinem Bruder in unserer Obhut lassen sollte.

„Nur fünf Minuten“, sagte Linus mit Nachdruck. „Bitte!“ Vor allem mit dem Tonfall des bitte schien er ihn zu überzeugen, und der Kaplan verließ wortlos den Raum. Wow. Das wäre mir nicht gelungen. Wahrlich ein Anwalt in spe!

Die Türe kaum geschlossen, atmete ich tief durch, dann setzte ich mich zu David ans Bett. Keinen Millmeter hatte er sich gerührt. Linus hielt immer noch seine Hand, in der Schläuche endeten.

„Danke, Linus."

„Was war auf dem Foto?“, fragte er mich.

„Pablo“, sagte ich bloß und Linus hob wissend die Brauen. „Oh.“

„Was regt sich sein Bruder so auf. Immerhin war Pablo volljährig.“

„Du bist bescheuert“, stellte Linus fest.

„Und Noah ideologisch verblendet! Sorry, David. Dass du das mitanhören musstest."

Ich strich David über die Wange, betrachtete seine geschlossenen Lider und ließ seine Atemzüge auf mich wirken. Als ob er schlafen würde. Wenn die Maschine nicht wäre.

„Er tut mir wirklich leid, mit dieser Familie.“

„Meinst du, er bekommt mit, dass wir bei ihm sind?“

„Egal. Hauptsache wir sind da. Wach bald wieder auf, David, hörst du! Du hast den Jakobsweg geschafft – dein Bruder glaubt das zwar nicht, aber ich schon! Und wenn du das gepackt hast, wirst du auch dieses Koma überleben, hörst du!“

„Oh mein Gott, ich glaube, sein Finger hat gerade gezuckt!“, rief Linus aus.

„Wirklich?“ Ich sagte noch mal eindringlicher Davids Namen, doch es kam keinerlei Reaktion von ihm. Vielleicht war es Wunschdenken von Linus gewesen.

„Ich geh nach Hause. Wenn es was Neues gibt, melde dich.“ Damit stand ich auf. Hier erdrückte mich einfach alles.

„Ich bleibe noch ein bisschen.“
 

Das Highlight des Tages war Sandros Nachricht im Bus: Hast du die Party überlebt?

Ich habe keinen Tropfen angerührt, falls dich das beruhigt.

Bin stolz auf dich! , kam es zurück.
 

Darauf antwortete ich nicht, denn es gab keinen Grund dazu. Ich war überhaupt nicht stolz auf mich. Im Gegenteil. Ich wurde das beklemmende Gefühl nicht los, dass meine Anwesenheit in Davids Nähe, statt in Jos Zimmer, wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Party gehabt hätte. Oder, dass ich diesen Streit in der Küche besser niemals angefangen hätte. Linus sagte zwar nichts dergleichen, doch hatte ich in seinen Augen den stummen Vorwurf gelesen.

Nackt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kaffee

Ich wischte den viel zu früh erklingenden Weckton meines Handys weg und stöhnte. Mein Kopf fühlte sich an, als wurde er von einem glühenden Fleischspieß penetriert, mitten hindurch, und meine Augäpfel standen kurz vor dem Platzen. Gottverdammt. Dieser Whiskey... Dabei war es doch kein billiger Fusel gewesen, im Gegenteil! Aber das war ja noch nicht mal das Schlimmste, sondern das, was danach passiert war... Simon, der Blödmann mit seiner bescheuerten Idee! Nackt vor dem Spiegel… Nun gut, er hatte ja auch empfohlen, es alleine zu tun. Zehn Minuten lang, und bloß gucken. Er sagte nicht, es betrunken zu tun und mit jemand anderem, der zufällig gay war, und auch kein Wort davon, auch noch zu tanzen. Dann wäre ich nicht mit Linus in der Kiste gelandet! Mit Linus! Das musste einfach ein schlechter Traum sein!

Ich scrollte durch mein Telefonbuch, rief meine Teamleiterin an und meldete mich bei ihr krank. So belegt wie meine Stimme klang, musste ich ihr nicht mal etwas vorlügen. Sie reagierte freundlicher, als es mir zustand und ich fühlte mich beschissen. Dann schlief ich noch einmal ein und träumte seltsame Dinge.
 

Erst zur Mittagszeit gelang es mir, die Leiter von meinem Hochbett herab zu kriechen und mich unter die Dusche zu stellen. Noch mit feuchten Haaren setzte ich in der Küche Kaffee auf. Dort goss ich mir auch ein Glas Wasser ein und schluckte eine Kopfschmerztablette.

Wie geht es dir? Ich hoffe, besser als mir, tippte ich eine Nachricht an Linus. Er antwortete: Bin auch noch im Bett statt in der Uni. Aber ich bereu nix!

Da war ich ja erleichtert. Mich erreichte ebenfalls eine Nachricht von Fatima: Mahlzeit! Sei froh, dass du nicht hier bist, hast echt nix verpasst! Dazu ein Foto ihres Mittagessens, bei dem sich mir der Magen umdrehte: Verunfalltes Spiegelei, mit einer undefinierbaren Substanz daneben, die an Algenkotze erinnerte, und zum Nachtisch Vanillepudding. Dann doch lieber die trockenen Salzstangen vom Küchenregal. Ich hatte die halbe Packung leergefressen, als Sandro anrief. Oh, fuck. Der würde mir den Kopf waschen!

„Hey...“

„Hey. Ich bin gerade draußen, eine rauchen… Du bist krank? Hast du dich bei mir angesteckt?“

„Nee, keine Sorge. Behalt das für dich, ja? Denn das muss nicht das ganze Heim wissen: Ich hab es gestern übertrieben mit einem Kumpel und einer Flasche Whiskey. War scheiße, ich weiß! Halt mir keine Predigt, der Kater ist mir Strafe genug.“

Sein Schnauben kam sogar übers Telefon rüber. „Mit Neunzehn darf man noch einen Kater haben“, zog er mich auf, „aber besser nicht unter der Woche.“

Ich sagte gar nichts dazu, seufzte nur schwer. Wenn er wüsste! Ich war ja nicht mal halb so betrunken gewesen, wie bei seinem Auftritt, als ich bemerkt hatte, dass er mir sehr gefiel…

„Ist irgendwas vorgefallen bei dir?“, fragte Sandro jetzt mit so ernster Stimme, sein Interesse war echt. Ich wusste wirklich nicht, was ich auf seine Frage antworten sollte, wie viel ich ihm anvertrauen konnte, denn so vertraut waren wir ja noch nicht. Wurden wir vielleicht auch nie. Ich stellte ihn mir vor, wie er dort draußen in der Kälte stand – ein schwarzer Fleck mit schönen Proportionen, sein Rücken eine beispiellose V-Form, umhüllt von Rauchschwaden – auf meine Antwort wartend. Jetzt hustete er in den Hörer.

„Ich glaub, ich vermiss deinen Qualm.“ Wie schön es wäre, jetzt auch dort zu stehen. „Ach, es bringt ja nichts, dir was vorzumachen, Sandro. Die Party war eine Katastrophe! Ein guter Kumpel von mir, der mit Drogen überhaupt nichts zu tun hat, hat da was von jemandem genommen. Dann ist er zusammengebrochen und liegt seit Sonntagnacht im Krankenhaus, im Koma.“

Eisiges Schweigen in der Leitung, ich stellte mir vor, wie Sandro erst mal einen tiefen Zug nehmen und das auf sich wirken lassen musste.

„Scheiße. Das ist übel. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Aber es ist nicht deine Schuld, wenn er was nimmt. Wir können nur für uns denken, nicht für andere.“

„Ja, das stimmt wohl.“

„Weißt du, was ich dich heute eigentlich fragen wollte?“

„Hm? Was?“

„Ob wir uns Freitagabend treffen wollen, in der Piano-Bar in Kornheim. Weil, ich finde, wir sollten nochmal bei Null starten, nach allem was geschehen ist. Natürlich nur, wenn du möchtest. Deine Nachricht gestern Abend…“ Er schnaubte. „Na gut, jetzt weiß ich, dass du blau warst, als du die geschrieben hast.“

„Doch, die hatte ich so gemeint. Ich will dich gern wiedersehen, und besser kennenlernen!“

Klar wäre es geschickter gewesen, Sandro von Anfang an einfach nach seiner Nummer zu fragen, oder uns in einer Bar zu treffen, anstatt mich selbst bei ihm einzuladen, mit allen Konsequenzen, die das nach sich gezogen hatte…

„Gut. Dann also bis Freitag.“

„Sehen wir uns vorher nicht mehr?“

Er lachte. „Nein. Damit du große Sehnsucht nach mir bekommst!“

„Na, das ist aber fies... du wirst größere bekommen, ätsch!“, verabschiedete ich mich und legte auf.

Ich ertappte mich, wie ich vor mich hin grinste, über beide Ohren. Mein richtiges erstes Date mit Sandro! Aber war es moralisch vertretbar, mich zu vergnügen, während David immer noch im Krankenhaus lag?
 

~
 

Nach Ende meiner Spätschicht und letztem Arbeitstag in diesem Jahr war ich in der Umkleide duschen gewesen und Parfüm hatte ich auch aufgelegt und meine Haare ordentlich frisiert, ich wollte schließlich nicht mit meinem Arbeitsschweiß und Altenheimdunst in der Piano-Bar aufkreuzen. Sie befand sich im Herzen von Kornheim und war wohl keine Schwulenbar, wie ich gerade am Handy recherchierte; sie war noch nicht einmal wirklich eine Bar, vielmehr ein inhabergeführtes Café mit innovativem Konzept.

Eine Nachricht von Linus trudelte ein: David ist aufgewacht! Er darf heute nach Hause! Ich bin so unendlich froh!!!

Das bin ich auch! Was für ein Wunder, schrieb ich zurück mit einem Smiley. Nicht zu fassen! Endlich mal gute Nachrichten! Sofort rief ich Jo an, um ihm diese Neuigkeit mitzuteilen.

„Wirklich? Ist ja Wahnsinn! Was für ein Scheißglück David hat! Ob er sich an alles erinnert?“

„Ich hoffe es, sonst wäre es doch echt blöd. Du, Jo, es tut mir übrigens leid, dass ich dich angeschrien habe neulich.“ Aber es tat mir nicht leid, was ich zu ihm gesagt hatte, denn das musste raus, wenn nicht unbedingt auf diese Art und Weise.

„Kein Ding, Alter, ich war nur so geschockt, ich wusste gar nicht, was ich sagen soll in dem Moment. Das ist so krass mit deiner Mutter!“

„Ja, das war es auch.“ Die Straßenbahn hielt an der Haltestelle, von wo aus es nur noch ein kurzer Fußweg zur Piano-Bar war.

„Wollen wir uns heute treffen, Dome?“

„Äh, geht nicht. Ich hab gleich ein Date.“

„Oh.“ Er verstummte. „Mit wem?“

„Mit Sandro.“

„Ein Kerl?“

„Ja.“ Ich musste grinsen. „Ich glaube, ich bin Bi. Mindestens.“

„Okay...“

„Du, war Xia eigentlich auch mal David im Krankenhaus besuchen?“

„Nicht dass ich wüsste. Sie hat sich nicht mal nach ihm erkundigt! Sie ist wohl doch so, wie du gesagt hast. Wenn ich da im Koma liegen würde, würde es sie wohl auch nicht kümmern. So eine brauch ich echt nicht!“

„Hak sie ab, Jo. Die nächste wird kommen!“

„Du klingst schon wie Simon... Na egal. Feiern wir Silvester bei mir?“

„Können wir gerne machen.“ Wenn er auch nicht der beste Freund zum Reden war, so war er dennoch der beste Kumpel zum Feiern, Partys bei ihm wollte ich nicht missen. Diese Wahnsinns-Küche...! „Du hast jetzt auch Weihnachtsferien, oder?“

„Ja, heute der letzte Vorlesungstag. Dann, äh, joa, ein gutes Date!“

„Danke. Wir sehen uns!“
 

Gut besucht war es, Rock´n´Roll Musik dudelte aus den Boxen, die Bar wirkte edel, mit all diesen goldenen Notenlinien und Verzierungen an den dunklen Wänden. Einfach total passend für Sandro! Im hinteren Teil stand sogar ein Flügel auf einer Bühne, ganz verlassen.

Sandro winkte mir von einer Eckbank aus zu. Oh Mann, er sah so gut aus! Als hätte er sich heute extra aufgebrezelt, um seinen Bad-Hair-Day neulich aus meinem Gedächtnis zu radieren.

„Alles klar? Wieder erholt?“, fragte er, erhob sich und umarmte mich flüchtig. Ein dünnes schwarzes Shirt, das so figurbetont an ihm saß, dass kein Muskel verborgen blieb… Ich sog die Wärme seiner Umarmung gierig in mir auf, ebenso seinen dezenten Duft nach Moschus und Tabak.

„Bestens!“, sagte ich und nahm ihm gegenüber Platz. „Es gibt nämlich gute Nachrichten!“

„Hm?“

„Meinem Kumpel geht es besser und er wird aus dem Krankenhaus entlassen!“

„Das ist schön.“

Ich ließ die Atmosphäre des Cafés auf mich wirken. „Da hast du eine richtig coole Location ausgesucht.“

„Ja, ich wollte schon lange mal hier etwas trinken, sie hat vor ein paar Wochen neu eröffnet.“

Alle möglichen Spirituosen standen auf der Karte zur Auswahl, doch ich würde von Alkoholischem die Finger lassen. Für das restliche Jahr! Das hatte ich mir fest vorgenommen. Erst wieder um Punkt Mitternacht an Silvester würde ich mir einen Schluck Sekt gönnen. Danach erst wieder an meinem Geburtstag.

Sandro bestellte beim Kellner einen Espresso, und ich einen Latte Macchiato, dazu einen Schokoladenkuchen namens Kleine Nachtmusik. Schneller als ich damit gerechnet hatte, wurden sie bereits von der Kellnerin serviert, nachdem wir gerade mal zwei Sätze Smalltalk ausgetauscht hatten.

Unter Sandros aufmerksamen Blick versenkte ich einige Zuckerwürfel in die Tasse, was den kunstvollen Kakao-Violinschlüssel auf dem Milchschaum zerstörte. Auch schwappten ein paar Tropfen über den Rand des Glases, einer spritzte sogar bis weit über die Untertasse und sickerte in die weiße Tischdecke.

„Ups. Naja, wenn es nicht spritzt, macht es keinen Spaß“, sagte ich zu mir selbst, um von dem Missgeschick abzulenken.

Sandro prustete sofort los, da erst wurde mir die Zweideutigkeit bewusst, und ich lachte mit. „Ach Dominique. Du bringst mich so oft zum Lachen.“

Ich lächelte geschmeichelt, bekam heiße Wangen.

„Wie schmeckt der Kuchen?“

„Großartig, schön saftig und fluffig…“ Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, nahm ich meine Gabel und hielt sie ihm hin. Er ließ sich von mir das Kuchenstück füttern.

„Was machst du eigentlich, wenn du nicht gerade auf der Bühne stehst, oder Songs schreibst?

Sein charakteristisches Schnauben. „Ich habe Physiotherapeut gelernt. Nach einem angefangenen Philosophiestudium. Momentan arbeite ich in einem Fitnessstudio, mein Vertrag wurde zum Jahresende aber nicht verlängert.“

„Oh, Philosophie? Warum ausgerechnet Philosophie?“

„Naja… als junger Mensch sucht man nach der Wahrheit, du etwa nicht?“

„Doch. Ich kenne sogar jemanden, der nach Gott sucht...“

„Gott? Wird das auch die Richtung sein, die du anpeilst, nach dem Altenheim?“

Ich lachte bei der Vorstellung. „Nein, wirklich nicht! Da bin ich mir sehr sicher. Aber ich sollte echt bald einen guten Plan haben. Ich habe nämlich noch keinen.“

Das erinnerte mich wieder an mein Ultimatum – noch 12 Tage bis zur angedrohten Obdachlosigkeit! – und der Kuchen lag mir schwer im Magen. Das Gesprächsthema war suboptimal, doch ich war ja derjenige gewesen, der es angeschnitten hatte. Selbst schuld. Mich interessierte ja ein ganz anderes Thema brennend, aber ich traute mich nicht, ihn über seinen Ex auszufragen. Das war einfach kein Thema für ein erstes Date. Ich würde ja auch nicht von Marie erzählen wollen.

„Jedenfalls, das Fitnessstudio war eh nur als Übergangslösung geplant, um eine Weiterbildung zu finanzieren, auf keinen Fall mein Traumjob“, nahm Sandro den Faden wieder auf. „Weißt du, die Fitnessbranche ist ziemlich krank, da pass ich nicht rein, es ist das Gegenteil von dem, wovon ich tief im Inneren überzeugt bin. Ich fühle mich wohler, wenn ich Verletzten ihre Lebensqualität zurückgeben kann, als wenn ich Fuckboys beim Schwitzen zuschauen muss, die meinen, zwanzig Kilo Muskelmasse wären alles, was ihnen im Leben fehlt.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, rein optisch könnte man Sandro ja auch zu ebendiesen Jungs zählen. „Wieso hast du dort angefangen, wenn du etwas anderes gelernt hast? Das ist ja wirklich kein Geheimnis, wie es dort zugeht.“

Er zuckte die Schultern. „Ich bin halt auf naive Versprechen reingefallen, dabei hatte ich schon beim Vertrag unterzeichnen ein komisches Bauchgefühl. Das einzig Gute daran waren die Arbeitszeiten, die sich gut mit Vaters Pflege vereinbaren ließen…was ihm übrigens gegen den Strich ging, er wollte auf keinen Fall von mir gepflegt werden.“

„Hm. Ich war sozusagen auch der Pfleger meiner Mutter, als es ihr nicht gutging. Jetzt geht es ihr besser… und sie lebt im Ausland“, sagte ich vage.

„Ach ja?“ Sein Blick ruhte auf mir, auch während er an der Tasse nippte. „Ich weiß so vieles noch nicht über dich. Du lässt dir nicht gerne in die Karten schauen.“

„Wer tut das schon?“

„Aber du hast ja fast schon Mauern um dich aufgebaut. Geht es dir wirklich gut?“, fragte er mich abermals, und imponierte mir mit seiner bohrenden Hartnäckigkeit. Wie oft würde er das noch fragen? Bis ich in Tränen ausbrach? „Und warum trinkst du immer so viel? Nur um deinen Freunden etwas zu beweisen, brauchst du das?“

Diesmal zuckte ich mit den Schultern, wich seinen tiefseeblauen Augen aus, die sich in meine zu bohren schienen. „Vielleicht deswegen, weil mich gerade so viel Kram beschäftigt... Wer weiß, vielleicht besaufe ich mich mal so sehr, dass ich mich im Leben nie wieder um irgendwas kümmern muss“, fügte ich an und lachte bei dem Gedanken. Zu spät bemerkte ich seine Falten werfende Stirn, die nichts Gutes verhieß.

„War bloß ein Scherz“, stellte ich klar, doch das glättete sie nicht. Er öffnete den Mund, aber fand wohl nicht die richtigen Worte. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Fuckboy, der nichts auf die Kette brachte. Ein Junge, kein Mann; jemand dessen Lebensweg vorgezeichnet war, nämlich nach unten, in die Gosse mit einer Flasche in der Hand. Einer, der am besten mit seinesgleichenabhing…

„Du denkst richtig schlecht von mir, oder, Sandro? Neulich sagtest du sogar zu mir, ich soll zu meinesgleichen gehen...“

„Das? Ach… damit meinte ich nicht, dass ich schlecht von dir denke, sondern etwas anderes.“

„Und was genau?“

„Naja. Weißt du, mein Vater verurteilt mich einfach für alles; für Entscheidungen, die ich getroffen habe. Für die Parteien, die ich wähle, die Werte, die ich habe, Worte, die ich benutze, und sogar die Luft, die ich atme. Dann kommst du daher, der weder ihn richtig kennt, noch mich, und sagst, dass ich mit ihm einfach nur reden müsse, und schon löst sich alles in Wohlgefallen auf? Nein, Dominique, so läuft das nicht, mein Vater ist jemand, mit dem man eben nicht reden kann! Wirklich kein vernünftiges Vater-Sohn-Gespräch führen. Er ist nicht wie andere Väter, er ist... Er ist einfach Siegfried Schwarzer, Punkt. Da liegen nicht nur fast fünf Jahrzehnte zwischen uns; da ist so viel mehr, was uns trennt. Wir stammen von zwei verschiedenen Universen und unsere einzige Gemeinsamkeit ist, dass wir verwandt sind. Das hat mir auch meine Tante bestätigt, seine Schwester. Sie hat auch kein besonders gutes Verhältnis zu ihm.“

„Warum besuchst du ihn dann so häufig, wenn ihr nicht reden könnt? Warum tust du dir seine Gesellschaft an, wenn ihr euch nicht gut versteht?“

„Na…Weil ich Klarheit will, und Antworten, wieso er so ist wie er ist, was ihn dazu gemacht hat im Leben. Weil es mich auch betrifft! Und das geht nunmal nur zu seinen Lebzeiten. Ich bin kein Kind mehr, mit dem man nicht reden kann. Ich will ihn wirklich verstehen. Die Gefühle, über die wir nicht reden, vergiften unsere Beziehungen über Generationen hinweg, das sagt meine Tante immer. Früher habe ich das nicht verstanden, erst als ich älter wurde…“

Diesen Satz ließ ich eine Sekunde auf mich wirken. „Deine Methode über Gefühle zu reden ist die, alle in kryptische Songs zu packen und in die Welt hinausschreien zu lassen“, erfasste ich Sandros Wesen in einem einzigen Satz, drang dabei tief in seine Augen, die so dunkel wie geheimnisvoll waren. Ein Blickkontakt, so intensiv und lang, wie ich noch nie mit jemandem Blickkontakt gehalten hatte, mir gefiel die unausgesprochene Begierde, die zum Greifen nah war.

„Warum singst nicht Du die Songs, Sandro?“

Er winkte ab. „Ich schreibe die Songs, und ich komponiere sie... Basti würde sich bedanken, wenn ich jetzt auch noch singen will. Er ist dafür besser geeignet, hat eine Gesangsausbildung, und wir haben uns seines Gesangs wegen für ihn entschieden.“

„Du hast aber eine angenehmere Stimme, und du könntest die Gefühle viel besser transportieren als er, der bloß herumgrölt.“ Eine ganz leichte Verzerrung in seiner Mimik bei diesem Kompliment, die er sich selbst verbot, ein Räuspern.

„Ich habe euch übrigens auf YouTune gesehen...“, sprudelte es aus mir heraus. Mist. Das hätte ich nicht erwähnen sollen.

Er stöhnte auf. „Du meinst dieses eine Video, das im Netz kursiert, wo mir mittendrin die Saite gerissen ist?“

„Ach so war das…“ Wir wussten aber beide ganz genau, wie dieses Video geendet hatte, der Titel spoilerte bereits.

„Hör zu, zwischen Flo und mir ist es aus. Endgültig. Egal, was im Internet zu sehen ist.“

„Okay. Wie lange warst du mit ihm zusammen?“

Seine Stirn verriet, dass er dieses Thema jetzt nicht vertiefen wollte. „Knapp drei Jahre lang. Es ging sehr hässlich aus, nicht nur mit uns, auch mit der Band. Am Ende habe ich ihn angezeigt, das nimmt er mir bis heute übel. Aber ich musste das tun, allein schon deswegen, weil er eine Gefahr für sich selbst darstellte. Daher kann ich mir nie wieder jemanden als Partner vorstellen, der Substanzen missbraucht.“

Ich erinnerte mich dunkel, etwas von Entzug und Prozess mitangehört zu haben.... Seine linke Hand lag die ganze Zeit auf dem Tisch, zur Faust geballt, fiel mir auf. Ob er Schmerzen litt?

„Nächstes Jahr ist der Gerichtsprozess wegen Körperverletzung, und dann habe ich endlich meine Ruhe vor ihm.“

„Körperverletzung?“, fragte ich alarmiert. Schon fanden meine Finger seine Hand. Meine Hand legte ich auf seine. Unsere Hände verflochten sich ineinander, seine von Hornhaut überzogenen Fingerkuppen, die kräftigen, sehnigen warmen Fingerglieder. Eine banale Geste. Aber was sie in mir auslöste! Nicht nur ging mein Puls rasant in die Höhe, es fühlte sich an als schwebte ich sachte vom Stuhl.

„Nein. Das ist wirklich nichts, was ich ihm anlasten könnte.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „An allem ist er auch nicht schuld.“

Er setzte an, noch etwas zu sagen, wurde jedoch unterbrochen, von der Kellnerin, die an unserem Tisch vorbeikam: „Bei Ihnen alles in Ordnung?“

Sandro räusperte sich, er schien auch durch sie wieder in die Gegenwart geholt worden zu sein, doch seine Hand blieb genau da, wo sie war. „Ja. Zahlen, bitte.“ Während ich überhaupt kein Wort herausbrachte.
 

Nachdem Sandro gezahlt hatte, gingen wir nach draußen, wo es laut und belebt war, ein E-Scooter-Fahrer sauste knapp an mir vorbei, an der Kreuzung hupte ein Auto. Aber das war alles nicht wichtig, nur eine Sache war es: „Sieh mal: es schneit!“

Verträumt starrte ich in den Nachthimmel hinauf, auf die weißen Flocken, die mir entgegen rieselten, und Sandro auch. Ein schöner Moment.

„Danke für Kaffee und Kuchen. Ich muss in diese Richtung.“

„Ich muss in die andere Richtung.“ Doch keiner von uns machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Wir standen nah beieinander, beobachteten gegenseitig die Atemwölkchen, die wir produzierten. Ich wollte noch nicht nach Hause. Das Stündchen, die wir heute zusammen verbracht hatten, war viel zu kurz gewesen. Selbst ein ganzer Tag mit Sandro wäre zu kurz, aber zu ihm nach Hause konnte ich auch nicht, denn wir würden es nicht schaffen, die Finger voneinander zu lassen. Ich musste aber morgen noch Muffins backen für das Altenheim.

„Morgen ist unser Adventsbasar im Altenheim, und auch ein kleines Konzert, bei dem die Bewohner Instrumente spielen und Weihnachtslieder singen. Ich werde dort sein, kommst du auch?“ Ein beinahe flehender Unterton mischte sich in meine Frage, obwohl ich das doch cool hatte rüberbringen wollen, so als wäre es mir ganz gleichgültig, ob er sich dorthin bequemte oder nicht.

„Weihnachtslieder?“, fragte er mit gequältem Ausdruck. „Um wie viel Uhr denn?“

„Der Basar beginnt um fünfzehn Uhr, das Konzert um siebzehn Uhr.“

„So früh?!“

„Es sind alte Leute, Sandro. Hast du nicht die Plakate dafür gesehen? Die haben Fatima und ich gestaltet. Es werden auch Kuchen und Basteleien für den guten Zweck verkauft.“

„Ich überlege es mir. Komm gut heim, Süßer.“ Er machte einen Schritt auf mich zu, wuschelte mir durch die Haare und meinte dazu: „Das wollte ich schon so lange machen!“
 

~
 

Als ich in der Bahn saß, schickte ich eine Nachricht an Simon: Würdest du mir, und Sandro einen Gefallen tun und dieses YouTune-Video löschen? Er ist nicht mehr in der Phase, in der er Knutschvideos mit seinem Ex online haben will.

Denn es war mit Sicherheit Simon gewesen, der es damals gefilmt und online gestellt hatte, Simon, diesem Gitarrhö-Fanboy, war es zutrauen, schließlich hatte er selbst mir den Link geschickt, und lautete der Nickname des Users nicht Phase-irgendwas? Was für ein Zufall! Außerdem war er es gewesen, der mir dem Schwulendrama innerhalb der Band erzählt hatte!

Moin, danke dass du mich auf den neusten Stand bringst! Hast wohl deinem Namen wieder mal alle Ehre gemacht, was Cummy-nique? Muss dich aber enttäuschen, ich hab nicht mal einen YouTune Account.

Narbe

Samstagmorgen saß ich am Küchentisch, das Blech mit den Muffins war im Backofen. Kurzerhand wählte ich Davids Nummer, es gab ja doch noch einiges zu besprechen.

„Dominique?“, meldete er sich. Es war so schön, seine Stimme endlich wieder zu hören, auch wenn sie durch sein billiges Handy sehr verzerrt klang.

„Hi. Passt es dir gerade?“

„Ja, ich bin in meinem Zimmer, zuhause bei meinen Eltern.“

„Und? Wie geht es dir?“

„Naja, einigermaßen… aber es wird wieder. Ich habe noch nicht viel getan, ich will mich im Moment einfach nur ausruhen.“

„Kannst du dich an alles erinnern?“

„Ich weiß nur, dass ich bei Jo auf der Party war, wir haben im Esszimmer Trivial Pursuit gespielt. Danach ist alles weg. Die Zeit im Krankenhaus, davon habe ich überhaupt nichts mitbekommen, ich konnte es kaum glauben, dass ich bis gestern im Koma war. Da ist alles weg. Aber meine Eltern haben mir erzählt, dass ihr mich besucht habt. Du, Linus und Jo. Ihr seid so lieb!“

„Natürlich. Kam Pablo denn nicht?“

Ein Seufzen in den Hörer. „Nein. Pablo ist gleich am nächsten Morgen nach der Party zurück nach Spanien gefahren, nachdem er in einer Kirche in der Nähe übernachtet hat.“ Oh Mann, darauf wäre ich niemals gekommen. In einer Kirche. Natürlich…

„Ich hatte ungefähr hundert Anrufe von ihm auf der Mailbox und viele SMS. Er hat mir gestanden, dass er mir wohl versehentlich eine Droge verabreicht hat. Die hat er selbst von jemandem bekommen, als er per Anhalter zu mir gefahren ist, und etwas Reiseübelkeit hatte…“ Ich lachte ungläubig auf. „Nun ja, vielleicht gab es da ein paar Sprachbarrieren, der Typ war Schwede. Jedenfalls hat diese Pille auf ihn bloß beruhigend gewirkt, daher hat er mir auch eine angeboten. Weil ich so aufgewühlt war, nachdem wir beide diesen Streit hatten...“ Er führte das nicht aus, aber ich fühlte mich schuldig… Ohne meine Vorwürfe wäre er nicht so aufgewühlt gewesen, dass er eine Beruhigungspille gebraucht hätte.

„Dass ich so allergisch darauf reagiere, hat er nicht wissen können. Wenn er gewusst hätte, dass es eine Droge ist, hätte er sie sich niemals andrehen lassen...“

„Pablo hat wirklich fahrlässig gehandelt. Er ist total naiv für sein Alter!“

„Naja. Er kommt vom Land, so wie ich. Wir sind uns ähnlich, wir blenden das Schlechte im Menschen gern aus und haben wohl auch noch nicht so viel Schlimmes gesehen und erlebt. Um diese Erfahrung sind wir beide jetzt reicher.“

„Aber ob es diese Erfahrung überhaupt gebraucht hätte?“

„Nun, jetzt ist es passiert. Ich habe es ja gut überstanden. Pablo meinte, dass diese Erfahrung sein Leben mehr verändert hätte als der ganze Jakobsweg. Die Nacht in der Kirche war er nur am Beten für mich… Nächstes Jahr will er unbedingt die Schule weitermachen, und ich bin so froh darüber! Denn er ist klug und es wäre schade, wenn er sich in der Fabrik kaputt rackert wie seine Brüder und Cousins.“

„Ok. Hat Noah dir eigentlich das Polaroid zurück gegeben, das du verloren hast?“

David seufzte schwer. „Ja… und Noah ist wirklich der Letzte, der dieses Foto hätte finden dürfen! Aber jetzt ist es geklärt, und ich habe keine Geheimnisse mehr vor ihm. Wir hatten gestern Abend ein langes Gespräch bis spät in die Nacht hinein.“

„Worum ging es da?“ Mir saß sein unchristlicher Satz immer noch in den Knochen.

„Naja, um meine Zukunft und so…“

„Deine berufliche Zukunft? Oder deine Zukunft mit Pablo?“

„Allgemein. Und über Homosexualität. Das käme unter den besten Priestern vor“, vertraute mir David nun an. „Man weiß es, aber man spricht nicht darüber, noch nicht mal in der Beichte, das ist ein großes Tabu-Thema in der Katholischen Kirche. Glaube mir, Dominique, mit dem Status quo bin ich auch alles andere als einverstanden! Noah schlug mir vor, mich in den Semesterferien zur Besinnung in ein Kloster zu begeben. Finde ich eine gute Idee: Ein paar Wochen lang in Ruhe beten, nachdenken, die Bibel noch aufmerksamer studieren und Antworten darauf finden, was Gott mit mir vorhat. Ob ich hierher zurückkommen, oder in München bleibe und das Priesterseminar durchziehe, weil das dort wirklich eine sehr fundierte Ausbildung ist, meinte Noah.“

„Halt, was?! Du willst nach München wechseln?!“

„Hm…Wie gesagt, ich habe mich noch nicht entschieden. Ich werde mir in den nächsten Wochen ausgiebig darüber Gedanken machen.“

„Und in dem Kloster wirst du von deinen unchristlichen Gedanken und Gelüsten geläutert?“, fragte ich provokant.

„Daran muss ich arbeiten. Mein Glaube wird mir die Kraft dazu geben! Davon bin ich überzeugt.“

„Okay. Wenn du meinst. Glaube versetzt ja Berge, nicht wahr?“

„Dominique, sei nicht so sarkastisch. Ich habe ein Ziel! Vielleicht kann ich die Kirche später einmal von innen heraus verändern und die Menschen wieder näher zu Jesus bringen, so wie Jesus das gewollt hätte, und nicht, wie es in vergangenen Jahrhunderten gehandhabt wurde. Ich glaube an Jesus Christus und an Veränderung zum Besseren! Wenn ich das erreicht habe, dann war die Verpflichtung, zölibatär zu leben, ein sehr geringes Opfer im Vergleich zu Jesus, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist. Gott hat mir schließlich eine Chance gegeben, als ich im Krankenhaus am Scheideweg zwischen Leben und Tod stand, und die muss ich nutzen.“

„Was soll sich deiner Meinung nach verändern in der katholischen Kirche?“

„Naja, viele Leute möchten die Zustände nicht länger hinnehmen, die Kirchenaustritte sind ja ein deutliches Zeichen. Ich bin Mitglied in einer Gruppe, die plant, an die Öffentlichkeit zu gehen, eine Art kollektives Coming-out, um die Öffentlichkeit ins Boot zu holen und über die Missstände aufzuklären, und in den Dialog mit der Kirche treten…“

„Geheime Gruppe?“ Fast musste ich lachen. „Weiß Noah schon davon? Und findet er persönlich den Zölibat eigentlich gut?“

„Der Zölibat war nicht gottgegeben, er wurde erst viel später von der Kirche eingeführt, weil Pfarrer keine Nachkommen haben sollten, die später Erbansprüche an die Kirche stellten. Rein pragmatische Gründe. Man kann sich ganz der Suche nach Gott widmen, und durch dieses Opfer signalisiert man, dass man nicht nur halbherzig dabei ist, sondern es wirklich ein tiefer Wunsch von einem ist. Eine Berufung.“

„Oh Mann, ich höre andauernd nur Opfer hier, Opfer dort, David. Wieso willst du unbedingt für eine Institution arbeiten, für die du Opfer erbringen musst? Einen großen Teil von dir verstecken musst? Wo Fanatiker, wie dein Bruder, angestellt sind, die Schwule den Tod wünschen? Egal wie viel du betest, deine Neigungen werden dir für immer erhalten bleiben, nichts wird daran etwas ändern. Mir wäre es lieber, du würdest der Kirche komplett den Rücken kehren, und deiner Familie dazu, und einen Psychologen aufsuchen! Wieso bist du dir das denn nicht selbst wert?“

Stille in der Leitung. Zuerst dachte ich, die Verbindung wäre abgerissen, doch dann sagte er: „Das ist deine Meinung, Dominique, in Ordnung. Aber zweifele nicht an meiner seelischen Gesundheit! Und beleidige bitte nicht meine Familie. Das kränkt mich zutiefst! Noah ist ein junger, ambitionierter Priester, der alles richtig machen will, und er hat nur das Beste im Sinn. Er würde gerne Bischof werden, hat er mir anvertraut, aber das ist noch Zukunftsmusik.“

Noah und Bischof? Noch mehr Macht für jemanden mit seiner Einstellung? Oh Gott! Das wäre fatal! Nun war wirklich alles gesagt, aber eines wollte ich noch wissen: „Hast du mein Geschenk schon ausgepackt?“

„Ja, hab ich.“ Mehr sagte er dazu nicht, aber ich hoffte, dass er in das Buch mal reinschaute.

„Gut. Ich hoffe, es hilft dir irgendwie. Dann sehen wir uns nächstes Jahr wieder. Oder auch nicht. Mach es gut, David. Finde deinen Weg.“ Kurz zögerte ich, dann sagte ich: „Du bist hier in dieser Stadt vielleicht nicht glücklich gewesen. Aber immerhin warst du frei! Bitte überleg dir das alles sehr gut.“

„Dir fehlt einfach Gott im Leben, Dominique.“ Damit beendete er das Gespräch.

Die Muffins holte ich mit Topflappen aus dem Ofen, überprüfte, ob sie durchgebacken waren. Ich würde sie mit Guss bestreichen und sie mit Zucker-Regenbogen verzieren und später ins Altenheim bringen. Sollte sich die Regenbogenpest im Altenheim ausbreiten und die ganze Welt infizieren!
 

~
 

An einer der beiden langen, festlichen Tafeln saßen wir, warteten, dass jede Sekunde das Adventskonzert losging. Ich nestelte an der Deko herum, die ich mit Fatima heute aufgestellt hatte, spielte mit einem Tannzapfen. Sie saß neben mir, schaute aber lieber auf ihr Handy als zur Bühne.

„Für wen hältst du eigentlich so eisern den Platz frei?“, erkundigte sie sich. „Hast du deine Schwester eingeladen?“

„Ähm. Nicht direkt.“ Wahrscheinlich sollte ich meine Hoffnung begraben, dass Sandro auftauchen würde.

„Domi, weißt du, was mich seit dem ersten Tag hier voll auf die Nerven geht?“

„Hm?“

„Es gibt hier kein WLAN! Weil, mein Datenvolumen ist jetzt fast verbraucht, und ich wollte die Story von meinem Cousin anschauen, aber die lädt einfach nicht…“

„Stimmt, es gibt kein WLAN... Wahrscheinlich hielten sie es nicht für nötig, weil die alten Leute eh kein Internet mehr nutzen…Aber eigentlich schade“, stimmte ich ihr zu.

„Geht einfach gar nicht!“

Nun betrat endlich die Heimleiterin die Bühne und eröffnete mit einer Ansprache anlässlich der Adventszeit und den tatkräftigen Einsatz aller Mitarbeiter und Ehrenamtlichen das Konzert. Die Lichter dimmten sich und der Vorhang ging auf, gab den Blick auf die handvoll Musiker mit ihren Instrumenten frei und auch die Chorbeteiligten. Deutlich zu erkennen war Frau Spinnler mit ihrer Klarinette, hübsch hergerichtet an diesem Abend mit hochgestecktem Haar. Das erste Lied war Stille Nacht. Das klang wirklich bezaubernd, die Proben hatten sich ausgezahlt. Wahrer Einklang, mir imponierte der alte Mann mit dem Cello und der dicken Brille. Trotz dass sie alle alt waren, beherrschten sie ihre Instrumente und Stimmen meisterhaft.
 

Beim dritten oder vierten Lied spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und zuckte leicht zusammen, drehte mich um und da war Sandro! Sofort breitete sich die Begeisterung darüber auf meinem Gesicht aus und ich zog ihm den Stuhl neben mir zurecht, damit er Platz nehmen konnte. Er schaute finster drein. Aber nicht sein gewohntes sandrofinster, sondern noch einen Ton düsterer.

„Was?“

„Nichts, ich war nur bei Vater.“ Die Arme hielt er verschränkt, die Lederjacke hatte er anbehalten. Er wirkte aufgewühlt, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, oder ob er überhaupt darüber reden wollte. Seine Aufmerksamkeit hatte er ganz der Bühne gewidmet, aber ihn schien etwas zu beschäftigen. Fatima neben mir hatte neugierig den Kopf zu uns gedreht. War sie es gewesen, bei der er sich nach mir erkundigt hatte, als ich am Dienstag zuhause geblieben war?

Immer wieder während des Konzertes galt mein Blick ihm. Mittlerweile war die Anspannung von Sandro abgefallen, seine Miene etwas heiterer, fast amüsiert.

Am Ende, nachdem der Vorhang gefallen und eine Dankesrede an alle Mitwirkenden ausgesprochen worden war, klatschte er begeistert mit dem Saal mit.

„Das war besser, als ich dachte. Wirklich richtig gut für so alte Leute!“

„Sagte ich doch. Du, ich muss noch kurz mit jemanden sprechen, schau dir doch so lange die Kuchentheke an, vielleicht gibt es noch was.“

Ich wollte auch Fatimas neugierigem Blick entkommen, die Frage, wer Sandro für mich war, stand ihr ins Gesicht geschrieben.
 

„Frau Spinnler!“ Ich ging auf die alte Dame zu, die hinter der Bühne ihre Klarinette einpackte.

„Ach Junge, hast du mich erschreckt!“

„Sie waren exzellent!“, lobte ich sie. „Ich wollte Ihnen schon einmal ein frohes Fest wünschen! Und einen guten Start ins neue Jahr, weil wir uns bis dahin nicht mehr sehen!“

„Ah. Das wünsche ich dir auch! Was hast du denn da für ein Päckchen...?

Grinsend hielt ich es ihr hin. „Das ist für Sie.“

Sie schien wirklich gerührt. „Nein, womit hab ich denn das verdient?“ Sie befühlte es mit ihren knotigen Fingern. „Ich wette, das ist ein Buch! Hach, dann habe ich etwas, womit ich die elendig langen Weihnachtstage rumkriege. Dankeschön!“

„Ich bin echt gespannt, wie sie es finden, ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack getroffen. Müssen Sie mir unbedingt erzählen, wenn ich wieder aus den Weihnachtsferien zurück bin.“ Die Buchhändlerin hatte gemeint, dass diese zuckersüße schwule Liebesgeschichte das perfekte Buch für eine alte Dame wäre. Ob sie Recht behielt?

„Hmm…Er ist da, nicht wahr? Ich habe ihn gesehen“, meinte Frau Spinnler jetzt.

„Was, von der Bühne aus?“ Höchstwahrscheinlich grinste ich wie der Grinse-Emoji persönlich, das ließ sich einfach nicht abstellen.

„Na, jemanden wie ihn übersieht man nicht. Weißt du…“, sagte sie plötzlich mit sehr nachdenklicher Miene, „ich glaube, mein Bruder war auch so wie ihr. Wir haben aber nie darüber gesprochen. Das waren ganz andere Zeiten damals…“ Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, hatte sie sich wieder gefasst und herrschte mich mit ihrer üblichen Stimmlage an: „Dann steh mal nicht länger hier bei mir alten Frau herum, sondern geh zu ihm! Wenn er schon extra deinetwegen herkommt! Mensch!“ Fast scheuchte sie mich weg.

Auf dem Weg zu Sandro lief ich Fatima über den Weg.

„Domi! Da bist du, ich dachte, du wärst schon heimgegangen, ohne dich zu verabschieden!“

„Ja, ich wünsch dir schöne Feiertage!“

„Wehe, du schickst mir keine Neujahrsgrüße, Domi!“

„Mach ich auf jeden Fall. Hast du zufällig Sandro gesehen?“

„Ich glaube, der ist nach draußen gegangen.“

Natürlich. Wahrscheinlich zum Rauchen.
 

Draußen, wo es langsam dämmerte, sah ich seine dunkle Gestalt vor dem Haupteingang. Zigarettenqualm umgab ihn. Er schnippte Asche in den Müllbehälter, es war so eine banale Geste, aber es machte mich glücklich, ihn so zu sehen. Hier. Heute. Extra meinetwegen. Natürlich bemerkte er mich, wie ich auf ihn zukam. Den Kopf auf seiner Schulter ablegte, die Arme seitlich um seine Brust schlang.

„Hey“, raunte er. „Ich bin ja bereits verdorben, Süßer, aber da dieses Altersheim einen katholischen Träger hat, und du hier sicher noch ein paar Monate hier arbeiten willst, solltest du dir das gut überlegen, ob du sowas in der Öffentlichkeit tust.“

„Oh Gott“, stöhnte ich genervt auf und fühlte mich an das Telefongespräch von heute Morgen erinnert.

Den Rest der Zigarette drückte er in den Behälter. Mein Magen knurrte, und Sandro schnaubte daraufhin. „Ich habe auch Hunger, wollen wir etwas essen? Hier ganz in der Nähe wäre ein Chinesisches Restaurant, da hätte ich Lust drauf.“

„Oder ich koche dir etwas. Ich kann auch Asiatisch, wenn du darauf Lust hast.“

„Du willst für mich kochen?“

„Ja! Gehen wir zu mir nach Hause“, lud ich ihn ein, denn Désirée war wie immer nicht da. „Lass mich nur kurz die Busverbindung checken…“

Sandro räusperte sich und wies auf den schwarzen E-Scooter neben dem Fahrradständer. „Mit dem bin ich hergekommen.“

„Dein Ernst?“

„Ja schon, das ist mein eigener. Also, steigst du auf? Ich hoffe aber, dass du nicht wieder getrunken hast, denn dann wird eine eventuelle Polizeikontrolle sehr unangenehm.“

Ich boxte ihm in die Seite. „Ich habe nichts getrunken! Aber zu zweit dieses Ding fahren ist doch auch verboten, oder?“

„Verboten… Tja, stell dir mal vor, Männer küssen war in diesem Land auch mal verboten.“
 

Mein hinterer Fuß ruhte mehr auf dem Kotflügel als der dafür vorgesehen Fläche, während ich mich wie panisch an Sandro festkrallte. Aber die Nähe zu ihm und der Nervenkitzel machte es allemal wett.

In meinem Viertel angekommen, gab ich ihm Anweisungen, wie er fahren musste. Bis vor den Supermarkt um die Ecke.

„Ich muss was einkaufen, mein Kühlschrank ist fast leer.“
 

Mit einer vollen Tüte mit frischem Gemüse und asiatischen Zutaten, traten wir den Heimweg an, er auf seinem Scooter, ich mit der Tüte in der Hand zu Fuß. An der Mauer vor der Haustür parkte er den Roller. Wir gingen nacheinander die Treppen hoch in die Wohnung, er folgte mir vom Flur, dessen Parkettdielen unter unseren Schritten ächzten, in die Küche. Auf dem Tisch setzte ich die Einkaufstasche ab und schnaufte durch. Wie ein Déjà-vu... Ein Wochenende, wie ich es mit Marie so oft verbracht hatte: zusammen als Paar einkaufen. Zusammen kochen. Dann zusammen fernsehen und kuscheln. Zusammen einschlafen und aufwachen. Könnte das mit Sandro genauso werden? Irgendwie konnte ich es mir nicht so wirklich vorstellen. Natürlich ließ sich das nicht eins zu eins auf ihn übertragen…

Während ich nachdenklich die Einkäufe ausräumte und schon mal den Wok suchte, machte sich Sandro auf der Toilette frisch. Ich überlegte bereits, welche Küchenaufgaben ich an ihn delegieren könnte, da stand er plötzlich hinter mir. Bei der Art, wie er meine Schultern bearbeitete, ahnte ich bereits, dass wir vom ursprünglichen Drehbuch ein wenig abweichen würden. Man merkte wirklich, dass er eine Physio-Ausbildung hatte.

„Zeigst du mir dein Zimmer?“, hauchte er mir ins Ohr und es ging mir durch und durch.

„Mhh klar, komm mit.“

Ich ließ den Wok im Schrank, ging voran, öffnete meine quietschende Zimmertür, machte Licht, aber nicht das helle Deckenlicht, sondern die Lichterkette hinter dem Sofa. Das breite Hochbett beanspruchte den meisten Platz in diesem zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Um es mit Maries Worten auszudrücken damals bei ihrem ersten Besuch: Da weiß jemand, wo er seine Prioritäten setzt.

„Ein… Hochbett“, sagte Sandro sichtbar verwundert, der wohl mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit.

„Genau.“ Ich mochte den durchsichtigen rötlichen Organza-Stoff, die ich mit Reißzwecken am unteren Bettpfosten so befestigt hatte, dass sie einen wie ein schützendes Zelt umgaben wenn man unten auf der Couch saß, und das ganze Zimmer in einen hübschen warmen Farbton getaucht wurde, wenn die Lichterkette brannte.
 

Sandro war mir plötzlich so nah. An meiner Schläfe spürte ich seinen Atem. Eine Sekunde lang überlegte ich, ob es verrückt war, dass sich das so vertraut anfühlte, als dürfte es gar nicht anders sein.

„Du riechst so gut…“, hauchte er, seinen Bart spürte ich auf der Wange. Dann küsste er mich, ganz vorsichtig, antastend, ich stieg darauf ein. Ein wunderbarer Kuss vom richtigen Mann! Ein Kuss der überfällig war seit der Piano-Bar... Unsere Körper schmiegten sich aneinander, noch enger als auf dem E-Scooter, er schlang den Arm um meinen Nacken, als würde er mich nie wieder freigeben wollen und jetzt konnte ich seinen Herzschlag spüren. Ich keuchte in den Kuss hinein, mein Kopf war so heiß und so leergespült von Gedanken, nur noch voll mit Verlangen. Meine Finger fanden zwischen seine Beine…

„Wollen wir hoch?“ flüsterte ich ihm zu, und entwand mich seinem Griff, um die Leiter nach oben zu klettern.

„Worauf wartest du? Höhenangst, oder was?“

„Nein, aber ob das meine hundert Kilo aushält…?“, überlegte Sandro laut, der noch immer ungerührt unten stand.

„Na klar, vertrau mir.“

„Das sagst du so einfach, aber hast du das getestet?“

Ich musste lachen.

Oben war es jedenfalls viel gemütlicher mit den vielen Kissen und auch schummriger, da nicht viel Licht von unten ankam, genau die perfekten Lichtverhältnisse, dass ich mich meines T-Shirts entledigen konnte. Da kam Sandro auch schon hochgeklettert, mit jeder Stufe die er ganz langsam erklomm, war mehr Haut zu sehen, er trug nur noch eine knappe Boxershorts, die viel mehr preisgab als sie verdeckte. Weiß! Das einzige Kleidungsstück, das er in einer anderen Farbe als Schwarz besaß, waren hauchdünne, fast durchsichtige Unterhosen!

„Warst du noch nie in einem Hochbett?“, fragte ich, amüsiert von der Vorsicht, mit der er sich auf die Matratze setzte.

„Doch, auf Klassenfahrt vor etlichen Jahren, und ich habe keine guten Erinnerungen daran.“

Ich kicherte. „Hast du da oben oder unten gelegen?“

Er beobachtete mich genau, dann musste er grinsen. „Wieso klingt bei dir eigentlich immer alles so zweideutig, hm…?“

„Weil du das rein interpretierst…?“, entgegnete ich frech. Doch, ich war nervös. Total. Und wäre ich nicht neulich bei Linus gewesen, dann hätte ich jetzt nicht so gut lachen. Aber ich hatte trotzdem keinen Schimmer, was Sandro mit mir anzustellen gedachte, der nun von der Bettkante her auf mich zu krabbelte. Wie Strom durchzuckte es mich, als er mich berührte.

„Weißt du, dass du ein attraktiver Mann bist? Du machst mich ganz nervös“, flüsterte er.

„Ich dich?!“, lachte ich amüsiert.

„Weil ich nicht so genau weiß, worauf du stehst“, teilte er mir mit.

„Weißt du doch genau, was ich mag. Schon vergessen?“

Sein Schnauben verriet, dass er verstanden hatte. Seine Hände bahnten sich ihren Weg zu meiner Körpermitte, um mir dort die Jeans aufzuknöpfen.
 

Eine halbe Ewigkeit später lagen wir beide nackt unter der Decke, an meinem Hinterkopf spürte ich seinen Atem. Mein Magen knurrte erneut und daraufhin schnaubte er mir in die Haare.

„Die Asia-Pfanne kochen wir doch noch, oder?“, wollte ich von ihm wissen. So ganz ohne Abendessen könnte ich heute nicht einschlafen.

„Denkst du eigentlich immer ans Essen, hm?“ Sandro kniff mir spielerisch in den Bauch, reflexartig griff ich nach seiner Hand, erwischte sein Handgelenk. Da war etwas, zwischen den kringeligen Härchen und den hervortretenden Venen. Eine Unebenheit. Rau und kerzengerade... Mein Daumen tastete an der Innenseite seines Unterarmes entlang, bis fast zum Ellbogen diese wulstig verwachsene Narbe und mir stockte der Atem. „Woher hast du die?“

Wieso war mir diese riesige Narbe an ihm vorher nie aufgefallen? Wahrscheinlich aus dem Grund, weil eine Tätowierung sie im Alltag kaschierte. Zusätzlich dieses Leder-Armband mit Nieten daran, das den Blick davon ablenkte, fiel mir ein. Der harte Rocker mit der rauen Schale…und darunter…

„Süßer. Stell lieber keine Fragen, deren Antworten dir nicht gefallen werden“, war das Einzige, das Sandro dazu sagte, in einem warnenden Tonfall.

„Das ist der Grund, nicht wahr? Warum du oft Schmerzen hast, und euren letzten Auftritt absagen musstest?“, fragte ich weiter.

„Es ist eine lange Geschichte“, sagte er nur schroff und schüttelte meine Finger von seinem Handgelenk ab.

„Hoffentlich erzählst du mir die mal…Hey, wo willst du hin?“

Schon hatte er sich aufgerappelt, war an der Leiter, ging die Stufen hinab. „Ich habe noch was Wichtiges zu erledigen. Ich bin schon viel zu lange geblieben, war gar nicht geplant…“

„Sandro, bitte bleib. Es tut mir leid, ich stell keine dummen Fragen mehr.“

Doch er hatte sich bereits seine Klamotten wieder geschnappt und sprang in seine Hose. „Das waren keine dummen Fragen, im Gegenteil! Aber ihr meint alle, ich wäre unverwüstlich. Ich bin auch nur ein Mensch, und ich bin sensibel!“ Den Pulli zog er über den Kopf und ich lag mit offenem Mund da. „Wir sehen uns, Süßer.“

„Ja? Wann?!“, rief ich ihm noch hinterher, Verzweiflung in der Stimme. Ihn eine unbestimmte Zeit nicht zu sehen, würde ich nicht aushalten. Statt einer Antwort fiel nur die Wohnungstür ins Schloss, und er würde jetzt mitten in der Nacht auf seinem E-Scooter nach Hause flitzen.

Ich seufzte und ließ mich zurück in die Kissen fallen. Sandro war weg, doch sein Duft klebte noch immer an mir. Jede Faser in mir schrie bereits jetzt vor Sehnsucht nach ihm. Herz in Flammen, über diesen Buchtitel von Frau Spinnler hatte ich mich einst lustig gemacht. Und nun… beschrieb dieser Ausdruck exakt das, was ich in diesem Moment empfand.

Wie konnte mir ein anderer Kerl solch einen Liebeskummer einbrocken? Warum war gerade alles so kompliziert in meinem Leben?! Alles schien mir zwischen den Finger zu zerrinnen wie Sand…

Unverständlich, wieso ich an diesem Abend seinen Körper kennenlernen durfte, nicht aber seine Geheimnisse. Wieso nur… Wieso konnte nicht ich derjenige sein, dem er all seine dunkelsten Geheimnisse offenbarte; den er um Rat fragte, wenn er nicht weiter wusste; derjenige, der sich um ihn kümmerte, wenn er Schmerzen litt. Jemand, der noch viel mehr als sein Süßer für ihn war… Nur, weil ich der Jüngere von uns beiden war? Der Unerfahrene, Unreife, kaum Erwachsene, den er stets belächelte und nicht für voll nahm! Der sich heute nicht zugetraut hatte, richtig mit ihm zu schlafen…
 

Kurz vor dem Einschlafen weckte mich der Nachrichtenton. Ich schaute auf mein Handy, und las Sandros Frage: Möchtest du morgen mit mir wohin fahren?

Klar, mit dir fahre ich überall hin, schrieb ich zurück.

Ok. 11 Uhr am S-Bahnhof. Nicht weit.

Ich werde da sein!:X

Mario

Kurz vor elf schlängelte ich mich im S-Bahnhof an den Leuten vorbei. Da vorn erblickte ich endlich Sandros hellblonden Schopf. Er schaute in meine Richtung, trug seine Lederjacke, und mir lief ein Schauer über den Rücken. Seine qualmende Zigarette verhinderte meinen Begrüßungskuss.

„Hey. Gut geschlafen?“, begrüßte er mich.

„Bestens.“ Ich fragte nicht, was in diesem schwarzen Rucksack war, den er sich über die Schulter gehängt hatte. Auf einen Kurztrip mit Übernachtung war ich jedenfalls nicht vorbereitet. Keinen Plan, was er überhaupt mit mir vorhatte, er hatte nichts verraten.

Die S-Bahn fuhr ein und wir stiegen zusammen mit dem Pulk von Leuten ein. Die ersten paar Stationen war sie übervoll, danach ergatterten wir einen Viererplatz für uns alleine.

Sandro schaute von seinem Fensterplatz aus gedankenverloren auf die Gegend, die an uns vorbeizog.

Seine Miene verfinsterte sich merklich, tiefe Gruben entstanden um seine Brauen herum und verunstalteten dieses wunderschöne Gesicht. Irgendwann hielt ich die Spannung nicht mehr aus.

„Darf ich endlich mal erfahren, wo es hingeht?“

Nun wandte er sich mir zu, als wäre ihm meine Gegenwart erst jetzt wieder eingefallen. „Wir gehen Mario besuchen.“

„Was? Wen?“ Ich runzelte die Stirn, tausende Gedanken formten sich in meinem Kopf. Anstatt es zu erklären, zog er seinen linken Ärmel hoch bis zum Ellbogen und hielt mir seinen Arm hin.

Eingehend betrachtete ich die Tätowierung, die fast seinen kompletten Unterarm bedeckte: Eine E-Gitarre, ihr Kopf zeigte Richtung Handgelenk. Um den gesamten Gitarrenkörper hatte sich eine Schlange gewickelt, all ihre Schuppen hatte der Tätowierer gekonnt in Szene gesetzt, sie wirkte so lebensecht, als risse wirklich ihr Maul auf und zeige spitze Zähne und eine gespaltene Zunge.

„Ein Tätowierer, der wirklich etwas von seinem Handwerk versteht“, erklärte Sandro nicht ohne Stolz. Denn die Tätowierung kaschierte ziemlich gut diese tiefe Narbe, doch nun da ich sie ertastet hatte, sah ich sie auch. Auf dem Körper der Gitarre stand etwas geschrieben in verschnörkelten Lettern.

„Mario“, las ich halblaut vor, und die römischen Ziffern darunter.

„Das steht für eine Jahreszahl.“

„Okay. Kein Plan, was du mir damit sagen willst, da war ich erst zwölf Jahre alt. Warum eigentlich eine Schlange?“

„Na, weil sie mein Lieblingstier ist. Das Symbol der Befreiung der Menschheit aus der Sklaverei Gottes…Was gibt es da zu lachen?“

„Du meinst, bei dieser Vertreibung aus dem Garten Eden, die in der Bibel steht?“ Mir fiel das Gespräch mit David wieder ein. Oje, was er dazu wohl sagen würde…

„Alles eine Frage des Blickwinkels.“

„Interessant…die Schlange als Teufel soll sie vor Gott gerettet haben?“

„Gott darf doch bloß als billige Ausrede herhalten, um Menschen zu diskriminieren und Lust zu beschneiden, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber wir verlieren uns in Details.“

„Nächster Halt: Laubheim Westbahnhof. Dieser Zug endet hier. Bitte alle Fahrgäste aussteigen“, verkündete die Durchsage.
 

~
 

Nachdem wir an der Endstation ausgestiegen waren, am südwestlichen Stadtrand, schwante mir nichts Gutes, als ich ihn bereits die nächste Zigarette anzünden sah, kaum dass er festen Boden unter den Füßen hatte. Der Himmel ließ sogar die Sonne da und dort hervor blitzen, keine Spur mehr von Schnee. Sandro anzusprechen vermied ich, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, jede meiner Gehirnzellen schrie nur: Wer zur Hölle ist Mario, und wieso sollte ich zu ihm mit?

„Warst du hier schon mal?“

„Noch nie.“

„Hast du auch nichts verpasst. Hier bin ich aufgewachsen“, verriet er mir ganz nebenbei. Das war mal eine Information, die ich sacken lassen musste. Sandro eilte zielbewusst voran, ich hatte etwas Mühe, mit ihm Schritt zu halten, wollte mich doch hier umschauen.

Fast dörflich war es hier. Da vorne sah ich einen Kirchturm aufragen. Nicht viel später standen wir vor einer Friedhofspforte.

Die gusseiserne Pforte mutete fast märchenhaft an. Unheilverkündend quietschte sie, als Sandro sie öffnete und mir aufhielt. Auf den ersten Blick wirkte es wie ein Park, kurz gemäht, Kieselsteine auf den Wegen, friedlich und ruhig.

Die Hände steckte Sandro in die Jackentaschen, ich folgte ihm den Hauptweg entlang, dann bogen wir links ab, gingen an Grabsteinen vorbei.

Sandro blieb stehen vor einer schlichten schwarzen Grabplatte, ein frischer Blumenstrauß befand sich darauf, mit Chrysanthemen, weißen Nelken und roten Rosen. Außerdem ein buntes Spielzeugauto, das mich schlucken ließ. Ich las die goldene Grabinschrift, die noch so neu und glänzend war und nicht alt wie bei den beiden anderen: Mario Zacharias Schwarzer.

Sein Todestag war heute, vor sieben Jahren. Er war nicht mal zwanzig Jahre alt geworden!

Die Hände vor dem Schritt gefaltet und den Kopf gesenkt, stand Sandro am Grab, die Miene so ernst, dass mir fröstelte und es war makaber, wie passend er sich in seiner schwarzen Kluft hier einfügte.

„Die Kerze ist ausgegangen“, murrte er, bückte sich zu dem auf der Grabplatte befestigen Windlicht, dessen Tür er öffnete, um das Grablicht heraus zu nehmen. Sein Feuerzeug klickte er, nochmal und nochmal, doch bei jedem seiner Versuche kam nichts anderes heraus als Funken. Entweder war das Feuerzeug vom vielen Zigaretten anzünden leer geworden, oder vielleicht war auch der Wind zu stark, Sandro versuchte es jedoch immer weiter, und ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie er dabei zitterte und schon zu fluchen begann. Also griff ich beherzt ein und hielt meine Hände schützend um die Flamme, was bewirkte, dass der Docht wieder entzündet werden konnte.

Die brennende Kerze, deren Docht um ihr Leben kämpfte, stellte er in das schützende Windlicht zurück und schnaufte.

„Gehen wir. Ich hasse es sowieso, hierher zu kommen, jedes Jahr aufs Neue.“ Damit kehrte er dem Grab den Rücken.

„War Mario dein Bruder?“, fragte ich vorsichtig, als wir uns ein Stück davon entfernt hatten und den Kiesweg entlang schlenderten, der unter unseren Schuhen knirschte.

„Mein Zwillingsbruder.“

„Oh. Shit. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll…“ Die Kehle schnürte es mir zu! Den einzigen Todesfall, den ich in der Familie hautnah miterlebt hatte, war mein Goldhamster gewesen, da war ich im Grundschulalter gewesen. Was qualifizierte mich, ihn heute hierher zu begleiten? Kaum erfüllte er mir meinen Wunsch, mehr über ihn zu erfahren, überforderte er mich bereits. Das war doch zum Heulen.

Sandro steuerte die Sitzbank unter der Weide an, und ließ sich darauf nieder. Den Rucksack legte er neben sich ab. Das verwelkte Ahornblatt auf der Holzbank nahm ich in die Hand und setzte mich neben ihn.

„Inwiefern hängt das jetzt zusammen? Sein Tod und deine Narbe? Wie ist er gestorben, warst du da dabei und hast daher diese Narbe?“, fragte ich, während ich die Blattstrukturen und Äderchen erfühlte, die knisterten und mir unter den Fingern davon rieselten.

Vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, beobachtete Sandro den hinkenden grauen Dackel, der freudig auf ihn zulief und an seinem Hosenbein schnüffelte. Er streckte die Finger aus, um den Hund die buschigen Ohren zu kraulen.

„Na, na, Werther, lass die Leute in Ruhe!“, tadelte ihn sein Frauchen, eine alte Dame von Kopf bis Fuß in Beige gekleidet, die Haare auberginefarben gefärbt. Energisch zerrte sie an der Leine. Über Sandros Lippen huschte ein Grinsen.

„Erkennen Sie mich nicht wieder, Frau Weiß?“

Die alte Frau rückte jetzt ihre Brille zurecht, und es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel: „Ja wirklich. Jetzt wo du es sagst – Schwarzer; der Sandro, nicht wahr? Lange nicht gesehen! Ach, so tragisch, das mit deinem Bruder, er war so jung…“

Sandro nickte stumm, der Hund leckte ihm die Finger ab, mich würdigte er keines Blickes. „Den Kleinen habe ich neulich gesehen, der ist ja schon so groß! Was für ein Glück im Unglück. Also, solche Geschichten, die kann man sich nicht ausdenken!“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte. „Wie geht es deinem Vater?“

„Gut…er lebt sich im Heim ein.“

„Na dann. Grüß mir die Familie, ja? Morgen ist Winteranfang, der einundzwanzigste Dezember. Wintersonnwende. Da werden die Tage wieder länger, ist auch besser fürs Gemüt, als diese ewig langen Winterabende, die sind ja nicht auszuhalten.“

Ich schaute dem Hund und seinem Frauchen hinterher, bis sie zur Pforte nach draußen verschwunden waren. Lauschte dabei dem Krächzen der Krähen im Baum, wartete darauf, dass Sandro meine Frage beantwortete, aber vielleicht brauchte er noch ein bisschen Zeit dafür. Ein Eichhörnchen kletterte flink den Stamm der Eiche hinauf. Ein wirklich schöner Ort.

Sandro zündet sich eine Kippe an, diesmal klappte es auf Anhieb. „Du musst wissen… Mario war das absolute Gegenteil von mir: bei allen beliebt, so positiv von seiner Ausstrahlung her, ein wahrer Sonnenmensch, und immer der furchtlose Draufgänger. Und er hat Rap gehört. Während ich ein richtiger Schisser war und mich vor allem versteckt habe, gab es nichts, vor dem er sich gefürchtet hätte. Ehrlich, er war der Beste in seinem Sportverein, so gut, dass man ihm geraten hat, eine Profikarriere zu starten, aber Vater war dagegen. Er solle lieber solide Lehre machen und sich solche Träumereien aus dem Kopf schlagen. Weil er es Vater recht machen wollte, hat er auf ihn gehört. Lieber Lob von Vater, als von irgendeinem Trainer. Ich hätte ja anders gehandelt.“

Ich schüttelte nur den Kopf, während ich das zerfallende Blatt glatt zu streichen versuchte, was nur dazu führte, dass es in kleine Bestandteile zerfiel.

„Mario war auch wirklich begabt als Elektriker, und später wollte er sich selbstständig machen mit einem Handwerksbetrieb. Er ist auch bis heute Vaters Liebling geblieben. Und das, obwohl er sich so viel Bockmist geleistet hat: Schlägereien, Schulden, Ärger mit der Polizei, dauernd andere Mädchen, aber Vater hat darüber hinweggesehen. Und ich… Ich war laut meinem Vater immer das schwarze Schaf, das sich als was Besseres fühlt, weil ich ein Studium begonnen habe.“

Nun wurde mir einiges klarer. Ich schaute ihn an, sein Profil, meine Augen verfolgten abermals die Linie oben von seinem Haaransatz bis hinab zu seinem Hals. Er war so ungelogen attraktiv, bestimmt auch schon damals, als Heranwachsender.

„Tja. Dafür bist du aber am Leben. Man kann nun mal nicht alles haben.“

„Ja, da ist was dran. Erkenne ich jetzt auch, im Nachhinein. Aber erkläre das mal meinem damaligen Ich, dem Philosophiestudenten mit langen Haaren und ohne Ziel im Leben.“ Er fing meinen Blick auf, betrachtete mich eine ganze Weile und ich versuchte ihn mir als langhaarigen Studenten vorzustellen. Es gelang mir nicht.

„Hast du als Student auch schon geraucht?“

Er schnaubte. „In dieser Zeit habe ich damit angefangen, ja.“

„Weil du in der Pause bei den coolen Kids stehen wolltest?“, neckte ich ihn.

„Eher deswegen, weil mich ein Lover damals auf den Geschmack gebracht hat.“

„Willst du eigentlich nicht mit Rauchen aufhören?“

Er schüttelte den Kopf. „Niemals. Wer nicht raucht, ist selber schuld.“

„Aha“, machte ich nur und dann schwiegen wir uns an.

Bis er weiter erzählte: „Auf der glatten Straße hat Mario eine Kurve nicht gekriegt, hat sich mit dem Mofa überschlagen und ist im Graben gelandet, war dann gleich an der Unfallstelle tot.“

„Mein Gott…“

„Er ist an dem Abend von seiner Freundin nach Hause gefahren, war sehr aufgewühlt, hat sie mir später erzählt. Vielleicht auch Ex-Freundin, er hat dauernd eine Neue gehabt.“ Sandro fixierte einen imaginären Punkt und war im Geiste ganz weit weg von mir. Das Blatt hielt ich am Stiel, gegen die Sonne. Sie schimmerte durch die Löcher und erhellte die Strukturen, als wäre es hauchdünnes Pergament. Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Aber was sollte ich sagen? Lieber nichts, als etwas Unpassendes.

„Und ich, ich war wie immer zuhause. Wir haben beide noch zuhause gewohnt zu der Zeit, er wollte nach dem Ende seiner Ausbildung ausziehen. Und obwohl wir Tür an Tür im selben Haus lebten, haben wir kaum noch miteinander geredet. Dass ich das Gymnasium besucht habe, aber er auf der Hauptschule geblieben ist, hat einen Keil zwischen uns getrieben. Ich weiß nur, was seine Lieblingsmusik war, weil ich sie durch die Wand gehört habe, und dann habe ich meine eigene Musik laut aufgedreht, weil ich seinen Gangster-Rap nicht abkonnte.“

Das entlockte mir ein Lächeln, als ich mir das vorstellte, ein Teenie-Sandro, der seinen Bruder mit Death-Metal übertönte.

„Ich bin ein echt beschissener Bruder gewesen, das wurde mir im Nachhinein klar, denn ich wusste nicht, womit er sich so rumschlug. Ich war… irgendwie auch leicht sauer auf ihn, weil ihm immer alles quasi in den Schoß gefallen ist, während mich das Studium so enttäuscht hat.

Naja, und weil ich immer weniger leugnen konnte, dass ich auf Jungs stehe, wieder etwas, worin ich mich von ihm unterschied.“ Er machte eine Pause, in der er an der Zigarette zog. „Und dann war sein Unfall, so kurz vor Weihnachten. Ich kann mich kaum an die Zeit von Dezember bis August erinnern, es war wie eine einzige endlos lange, eklige Woche, ein wahrgewordener Alptraum“, sagte er leise. „Mein Leben war von heute auf morgen auf Eis gelegt, ich konnte mich nicht mal mehr aufraffen, zur Uni gehen, obwohl Vater mir angedroht hat, mich dorthin zu prügeln. Hat er aber nicht“, beruhigte er mich schnell als er meinen Blick sah. „Der August war dann ganz bitter. Wie hätte ich meinen zwanzigsten Geburtstag feiern können, während Mario für immer Neunzehn bleiben würde?“

Ich biss mir auf die Lippen, weil ich bemerkte, wie mir die Tränen kamen.

„Ich habe also Ernst gemacht, als ich allein zuhause war. Mit einer Rasierklinge.“ Stumm fuhr er mit dem rechten Zeigefinger seinen linken Unterarm entlang und ich schluckte. „Ausgerechnet Vater musste mich so auffinden, er kam früher zurück als geplant.“

„Oh nein“, presste ich hervor.

„Bis heute hält er mir vor, dass ich sogar zum Selbstmord zu dumm bin. Aber ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn er nicht eingegriffen hätte.“

„Das ist grausam…!“, rief ich empört aus. Siegfried Schwarzer sank in diesem Moment sehr tief in meiner Anerkennung. Wie hatte er seinen Sohn bloß behandelt! Nun perlten mir wirklich die Tränen aus den Augenwinkeln und ganz schnell wischte ich sie weg. Sandro war so voller Trauer und Verzweiflung gewesen, dass er sein junges Leben hatte wegschmeißen wollen! Die Band hätte es somit nie gegeben und ich hätte ihn niemals kennengelernt! Sein Gesicht sah ich nur noch durch einen Tränenschleier.

„Sandro… ich bin froh, dass du mir das anvertraut hast. Die Band ist jetzt also dein Lichtblick sozusagen?“

Er schnaubte. „Ich habe einen Lichtblick, aber das ist nicht die Band.“

„Sondern?“

Ein breites Grinsten huschte über sein Gesicht. „Der Kleine. Mein Neffe, Kevin. Er geht jetzt schon in die zweite Klasse, das ist so krass. Kevin ist eine echte Naturkatastrophe, sozusagen, eine Verhütungspanne.“

„Was?! Mario hat einen Sohn?! In diesem Alter!“, rief ich aus. Neunzehn! So alt wie ich!

„Allerdings. Er macht Vater noch im Tod stolz. Typisch Mario. Den Unfall hat er wohl nur gebaut, weil seine Freundin ihn an diesem Tag gestanden hat, dass sie von ihm schwanger ist. Was er natürlich nicht so toll fand damals.“

„Onkel Sandro“, murmelte ich.

„Ja. Wenn Kevin sagt, Onkel Sandro, erzähl mir was von Papa… tja. Sein Vater ist mit Neunzehn gestorben ohne ihn je zu sehen. Was soll das für ein Leben gewesen sein? Es wäre sogar heute viel zu früh für ihn!“

„Ja. Es ist echt nicht fair.“

„Er fehlt einfach so sehr. Uns allen.“

„Wie ist dein Neffe so? Ist er Mario ähnlich?“

„Nicht wirklich. Er ist sehr schüchtern bei Fremden. Allgemein still, zurückhaltend, verträumt. Er spielt auch nicht mit klassischem Jungs-Spielzeug. Jetzt zu Weihnachten wünscht er sich zum Beispiel eine Barbie!“

Da musste ich loslachen. „Oh je, dir wäre eine Gitarre wohl lieber?“

„Die hat er ja schon, so eine Kindergitarre. Aber er interessiert sich nicht mehr dafür. Aktuell ist Mädchenkram bei ihm mehr angesagt.“

„Uff…Naja, wieso nicht? Wir schreiben das einundzwanzigste Jahrhundert, oder?“

„Weißt du, gestern hat mich Vater gefragt, was sich sein Enkel zu Weihnachten wünscht. Da durfte ich mir was anhören: Dass er nicht will, dass sein Enkel so eine verweichlichte Schwuchtel wird, Mario würde sich im Grabe umdrehen, und so weiter.“

„Das hat er gesagt?“ Ich staunte immer wieder, wie Siegfried Schwarzer solche Sätze formulierte. Oder was Sandro aus seinem Gebrabbel und Gewinsel heraushören konnte.

„Und ich bin innerlich geplatzt! Zu mir soll er doch sagen, was er will! Aber ich lass nicht zu, dass er es zu meinem Neffen sagt!“

„Da hast du dich gestern dann spontan vor deinem Vater geoutet?!“

„Ich habe ihm unter die Nase gerieben, dass sein noch lebender Sohn eine Schwuchtel ist, damit er es endlich mal weiß. Weil alle es wissen, außer ihm, aber ich es so satt habe, noch länger ein Geheimnis daraus zu machen. Dass er ein beschissener Vater war. Und dass Kevin seine Barbie kriegt, wenn er sie sich wünscht, Punkt. Und mich seine Meinung dazu einen Scheiß interessiert. Er kann mich kreuzweise. Und dann bin ich gegangen.“

Er nahm seine Zigarettenschachtel aus der Tasche und steckte sich eine neue Kippe an. Gierig zog er daran.

„Respekt“, sagte ich. Sowas musste man sich auch erst mal trauen. „Kommst du gut mit Kevins Mutter aus?“

Den Rauch pustete er aus. „Naja, wir hatten unsere Differenzen. Mussten uns aneinander gewöhnen, sie ist komplett anders als ich... Kennst du diese schrecklichen Realityshows im Nachmittagsfernsehen?“

„Äh, ich hab mal in die ein oder andere reingeschaut.“

„Daran hat mich ihre ganz Art erinnert. Marios Frauengeschmack war schon sehr eigenartig. Keine Ahnung, wie er heute ticken würde. Ob er doch Bock auf Abi und Studium bekommen hätte nach seiner Ausbildung... Wie er seinen Sohn erzogen hätte und ob das unser Verhältnis verbessert hätte… Ich stell mir so viele Fragen und krieg niemals eine Antwort darauf!“

„Ja, das gehört wohl beim Tod einfach mit dazu...“

„Hast du auch jemanden verloren, Dominique?“

„Noch niemanden, der so eng mit mir verwandt ist. Bloß jemanden aus dem Altenheim, der für mich wie ein Opa war.“

„Stimmt, ich erinnere mich, das hast du in dieses Buch geschrieben, das dort ausliegt.“

„Das Buch? Du hast meinen Eintrag zu Schiko gelesen?“, fragte ich ertappt.

Er zuckte mit den Schultern. „Was blieb mir denn anderes übrig, wenn dieser süße Pfleger da vor meinen Augen in dieses Buch reinkritzelt?“

Mein Grinsen machte er jäh zunichte, als er seufzte und meinte: „Ich habe dir heute zu viel zugemutet, oder?“

„Nein“, widersprach ich ihm. „Das bist doch du. Deine Vergangenheit. Und dich will ich ja kennenlernen!“

„Ich hätte dich gestern Abend nicht so zurücklassen sollen.“ Sein Blick wurde zärtlich. „Der Abend war schön.“

Ich unterbrach den Blickkontakt, räusperte mich. Hier, in aller Öffentlichkeit, wollte ich jetzt nicht daran erinnert werden. „Du hattest eben eine Mission: Eine Barbie kaufen für Kevin! Und…bleibst du dann über Weihnachten hier bei deiner Familie?“

„Ich bleibe zwei Tage, nicht über Weihnachten. Da bin ich in Paris… Schau nicht so. Ist kein Urlaub, ich muss in eine chirurgische Klinik.“

Diese Informationen überschlugen sich in meinem Hirn, und ich brachte nur ein ungläubiges „Paris…?!“ heraus. Paris, da war doch was.

Sandro nahm den letzten Zug seiner Zigarette, bevor er sie im Abfalleimer ausdrückte. „Ja. Weißt du, Neurochirurgie an der Hand ist etwas sehr Komplexes. Die Spätfolgen meiner Dummheit…“ Mit dem Daumen strich er über den Jackenärmel, da wo die Narbe war. „Mittlerweile ist es vernarbt. Aber nicht nur von außen, sondern auch von innen, und das ist schlecht. Dieses Narbengewebe drückt auf die umliegenden Sehnen und Gefäße, im Ruhezustand fühlt es sich in etwa so an, wie ein zu enges Armband. Aber wenn man so filigrane Bewegungen ausführt wie Gitarre spielen… tja, dann schmerzt es, und wenn man es übertreibt, zickt der Arm ein paar Tage lang rum. Ein sehr nerviger Zustand, der sich leider nicht mit Tapes dauerhaft beheben lässt. Da muss ein Chirurg ran.“

„Scheiße. Ich wusste es! Dass da mehr dahinter steckt.“

„Ich habe mit meiner Tante sehr lange nach einer Spezialklinik dafür gesucht. Naja was heißt gesucht… Sie wohnt ja in Paris und hat mir schon vor einiger Zeit die Klinik empfohlen, sie ist sehr gut. Ich habe aber gezögert…“

„Weil die Operation riskant ist? Oder weil sie teuer ist?“

„Beides. Wenn dieser Laser nur einen Millimeter danebengeht… Dann kann ich warm nicht mehr von kalt unterscheiden, geschweige denn noch etwas halten, hat mich der Arzt im Vorgespräch aufgeklärt.“

„Gitarre spielen fällt dann wohl flach…?“, fragte ich vorsichtig.

„Genau, und nicht nur das. Ich muss mir diesen Schritt wirklich gut überlegen. Entweder mit Schmerzen spielen, oder wenn ich Pech habe, gar nicht mehr spielen.“

„Du könntest aber auch Glück haben, und deine Schmerzen loswerden“, warf ich ein. „Oder wie hoch wäre denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Operation danebengeht?“

„Es ist beinahe fifty-fifty.“

Puh. Das war mal ein Los… Mit diesen Gedanken hatte er sich die ganze Zeit herumgeschlagen. Ich konnte ihm jedoch keinen Rat geben; das stand mir nicht zu, denn ich kannte ihn doch noch gar nicht so lange. Ich legte einfach nur meine Hand in seine und wir schwiegen gemeinsam.
 

Nachdem er zuende geraucht hatte, erhob sich Sandro schließlich von der Parkbank und schulterte den Rucksack. Wir gingen den knirschenden Kieselweg zurück zum Eingang und keiner sagte ein Wort. Er öffnete die Pforte und hielt sie mir auf.

„Ich weiß, dass du die für dich richtige Entscheidung treffen wirst, Sandro. Du bist so tapfer und stark“, sprach ich.

„Das bin ich gar nicht, denn sonst wäre ich erst gar nicht in diese Situation gekommen“, widersprach er mir. „Der Starke war immer Mario!“

„Und was würde Mario an deiner Stelle tun?“, fragte ich ihn. „Sein Glück versuchen? Oder es sein lassen?“ Ich suchte seinen Blick dabei, fiel in schier unendliche Tiefen. Eine Frage, die er mir auf die Schnelle wohl nicht beantworten könnte.

„Hab eine schöne Zeit bei deiner Familie, Sandro. Und aus Paris will ich eine Postkarte, ja! Dieses Jahr bin ich nämlich leider nicht hingekommen, weil meine Ex andere Pläne hatte.“ Ich wollte mich zum Gehen wenden, da machte er einen Schritt auf mich zu und umarmte mich.

„Du bist etwas ganz Besonderes, Dominique,“ flüsterte er mir zu. Seine Wärme fühlte sich in der Kälte wunderbar an.

„Du auch, Sandro!“
 

~
 

Oh mein Gott, lass bloß David das nicht wissen!, antwortete Jo auf meine Statusmeldung am Montag. Ich hatte das Beweisfoto des amtlichen Dokumentes in meine Story gepostet, mit dem Kommentar Endlich freigekauft. Dreißig Euro war ich auf dem Bürgeramt heute losgeworden, doch das war es mir wert.

Da rief mich Sandro an. Mein Puls schnellte in die Höhe.

„Rufst du wegen meinem Kirchenaustritt an? Das habe ich mir wirklich gut überlegt, Sandro!“

„…Kirchenaustritt?“

„Na, mein Posting...“

„Hab ich noch nicht gesehen. Nein, ich rufe aus einem anderen Grund an.“

Er atmete tief durch, bevor er mir die Frage stellte.

„Möchtest du mich nach Paris begleiten?“

Mir blieben die Worte im Hals stecken. Gut, dass ich saß. Oder vielmehr auf der Couch lag.

„Du musst dich nicht sofort entscheiden. Am Mittwochnachmittag geht der Zug, also hast du noch zwei Tage Zeit. Meine Tante würde sich sehr freuen, wenn du mitkommst. Ich habe ihr von dir erzählt.“

„Wie?! Was!? Ernsthaft?“ So viele Neuigkeiten auf einmal!

„Ja. Ernsthaft.“ Sein Lächeln hörte ich durch die Leitung. „Ihr Gästezimmer ist groß genug.“

„Du fährst also nach Paris“, sagte ich, konnte es nicht glauben, was er mir da für ein Angebot machte. Mit Sandro über Weihnachten nach Paris?!

Er hielt mein Zögern für Skepsis. „Versteh das nicht falsch. Ich brauche dich dort nicht als Pfleger, ich komme schon klar! Ich dachte, weil du angedeutet hast, dass du gerne Paris sehen würdest… Aber es wäre halt spontan, und über Weihnachten. Du wirst nicht bei deiner Familie sein können, das musst du dir gut überlegen.“

Ich schüttelte den Kopf, ich würde tausendmal lieber mit ihm Weihnachten verbringen als mit meiner sogenannten Familie!

„Wenn ja, dann triff mich übermorgen am Gleis. Wenn nicht, bin ich dir aber auch nicht böse.“ Damit verabschiedete er sich und legte auf.

Puh! Was für ein Angebot! Mein Hals war vor Aufregung ganz ausgetrocknet.

Martha

„Oh mein Gott! Sandro!“, keuchte ich außer Puste, und so wie sich das anfühlte, waren das die allerletzten Worte in meinem Leben. In Bächen lief mir der Schweiß von der Stirn, mein Herz explodierte beinahe, aber das Beste war, dass ich ihn mit beiden Armen fest umklammerte. Nichts war heute wichtiger.

„Was war das denn für eine Bond-Aktion?“, fragte Sandro amüsiert, schnaubte mir ins Gesicht und rückte mir den verrutschten Träger meines Rucksacks wieder auf die Schulter. In ihm befand sich mein leichtes Reisegepäck für ein paar Tage Paris. Jetzt bemerkte ich auch, wie uns die anderen Passagiere angafften. In diesem Moment setzte sich der ICE in Bewegung und gewann sogleich rasant an Tempo.

Ich ließ Sandro los, in dessen Lederjacke ich meine Finger gekrallt hatte. Nachdem ich, in letzter Sekunde, bevor die Türen schlossen, in den Zug gesprungen war. Sandro entgegen, der dort ungeduldig an der Tür wartete. Ihn alleine nach Paris fahren zu lassen, hätte ich nicht verkraftet.

Ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke, weil mir so warm war vom Rennen quer durch den Hauptbahnhof.

„Frag nicht! Ich war eh schon zu spät dran, weil eine Straßenbahn ausgefallen ist, und dann haben die in allerletzter Sekunde auch noch das Gleis geändert.“

„Aber du hast es geschafft. Komm, mir nach. Wir müssen zu Waggon H, dort sind unsere Plätze.“ Seine riesige Sporttasche geschultert, ging Sandro voran.
 

~
 

Kaum französischen Boden unter den Füßen, ließ Sandro mir keine Sekunde Zeit für Sightseeing. Obwohl der orange beleuchtete Eiffelturm und die vom frischen Neuschnee gepuderte Stadt wie ein Wintermärchen aussah, das danach verlangte, von meiner Kamera eingefangen zu werden. Meine Füße schwebten geradezu über dem Boden, ich war… Ja, was? Glücklich?! Erschütternd, dass mir dieses Gefühl so eigenartig fremd vorkam. Mein Herz schlug so heftig und ich lief nahezu über vor Glück. Ich konnte es mir nicht erklären, fröstelte, inhalierte das Leben der pulsierenden Metropole. Nicht mehr als das war ich letztlich auch; ein Mensch, in dem das Leben von Millionen Atomen vibrierte wie die Stadt, die Millionen Menschen beherbergte, und über uns die Millionen Himmelskörper, die das Universum beinhaltete. Fühlte mich jung und entsetzlich alt zugleich.

„Vom Balkon meiner Tante hast du eine viel bessere Aussicht auf den Eiffelturm als hier.“

„Wenn du meinst…“, sagte ich und ließ das Smartphone sinken. Wie konnte er so unbeeindruckt da stehen! Gut, er war schon viel öfter in Paris gewesen als ich, aber trotzdem.

„Komm, lösen wir die Métro-Tickets.“ Er zog mich zu den Automaten vor den Drehkreuzen, die ein flinker Kerl in Jogginghosen gerade gekonnt übersprang.

„Métro-Ticket“, wiederholte ich verzückt. Mein erstes Mal in der Pariser Métro! Dieses Ticket würde ich wie einen Schatz aufbewahren. Wie jeden anderen Schnipsel, der mich an diese Reise erinnern würde.

Wir durchquerten das Drehkreuz, warteten vor der Absperrung, die sich erst öffnete, als die Métro einfuhr, und quetschten uns dann in den vollen Waggon hinein. Fasziniert beobachtete ich diese beiden Teenie-Mädels schräg gegenüber, die sich so angeregt unterhielten, dass ich nur jedes fünfte Wort verstand. Obwohl ich nochmal in meine Schulhefte hineingeschaut hatte... Wie gut Sandro sich wohl verständigen konnte? Ich schielte zu ihm, wie er sich mit der einen Hand sich an einer Halteschlaufe festhielt, und mit der anderen etwas in sein Handy tippte. Ich wollte ihn so gern französisch sprechen hören. Aber er trug ohnehin seine drahtlosen Kopfhörer.
 

Eine knappe Stunde später standen wir vor dem überdachten Hauseingang in einer ruhigen Seitenstraße. Ich war leicht nervös, klammerte mich an dem hübschen roten Weihnachtsstern fest, mein Mitbringsel für Sandros Tante aus einem Blumenladen hier in der Nähe.

„Âllo?“, krächzte jetzt eine weibliche Stimme durch die Sprechanlage des Wohnblocks, die mit einer Kamera ausgestattet war. Puh, was mussten diese Wohnungen kosten…

„Wir sind es“, antwortete Sandro und der Summer ertönte. Im Treppenhaus drückte er auf den Knopf des Fahrstuhls, der sich glücklicherweise auch sofort öffnete.

„Hat sie viel mit deinem Vater gemeinsam, deine Tante?“, fragte ich, als wir ihn betraten. Er drückte auf den Knopf mit der 6.

„Nee. Dann würde ich sie kaum so oft besuchen. Sie ist das komplette Gegenteil zu ihm. Kultiviert, weltoffen, reflektiert… und Kinder hat sie keine. Sie hat es unter allen Widrigkeiten fertig gebracht, in Paris Philosophie und Soziologie zu studieren, weil das in ihrer Jugend ihr größter Wunsch war, und ist danach nie wieder zurück nach Deutschland. Dafür bewundere ich sie. Jetzt ist sie dort Dozentin an der Uni, und Vater redet kein Wort mehr mit ihr. Deswegen habe ich fleißig Minuspunkte bei ihm gesammelt, jedes Mal als ich sie besuchen kam, aber das war es mir wert.“ Er zuckte die Achseln. „Pass auf, Aber manchmal kann sie schon ein Snob sein. Aber sie musste in ihrem Leben wirklich immer hart arbeiten.“

Endlich öffneten sich die metallischen Türen und er ging voran. An der Schwelle ihrer Wohnungstür stand eine untersetzte Frau mit Brille und einem kantigen Kurzhaarschnitt mit silbernen Strähnen, die Arme ausgestreckt. Die Perlenkette auf ihrem Rollkragenpullover verrutschte dabei.

„Tante Martha!“, rief Sandro feierlich und breitete ebenfalls die Arme aus, und ich staunte darüber, dass er plötzlich wie ausgewechselt war.

„Sandro! Ich freue mich so!“ Küsschen hier, Küsschen da, auch mich begrüßte sie auf diese Art. „[iSalut Dominique! Herzlich willkommen in Paris.“ Meine Güte, sie sprach meinen Namen aus wie meine Französischlehrerin! Ein markantes Parfüm, das den Zigarettengeruch aber nicht überdeckte.

„Guten Abend Madame, vielen Dank für Ihre Einladung, und hier ist ein kleines Mitbringsel.“ Den Blumentopf nahm sie lächelnd entgegen. „Merci, und nicht so förmlich, nenn mich einfach Martha!“

Die warme, helle Wohnung empfing mich freundlich. Hörte ich Vogelgezwitscher aus dem Wohnzimmer? Sandro steuerte zielbewusst die zweite Tür an.

„Fühlt euch wie zuhause, ihr müsst euch sicher ausruhen von der langen Fahrt. Wenn ihr soweit seid, kommt in die Küche. Dann bestellen wir uns Abendessen beim Lieferdienst.“

Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, zog die Schuhe aus und folgte Sandro ins Gästezimmer. Ein ordentliches, nach Staub riechendes Zimmer empfing mich, es war nicht sehr geräumig, aber geschmackvoll eingerichtet in pastelligen Farben.

„Sorry, jetzt hab ich dir schon die Entscheidung abgenommen, welches Bett du nimmst. Die Macht der Gewohnheit“, antwortete er auf der schmalen Matratze liegend, alle Viere von sich gestreckt. „Das ist übrigens das allererste Mal, dass ich jemanden zu Martha mitbringe.“

„Da fühle ich mich aber geehrt“, murmelte ich, ging auf das Bücherregal zu, das fast die ganze Wand einnahm. Bestimmt hatte Sandro fast alles davon gelesen. Ich betrachtete neugierig die Buchrücken, entdeckte namhafte Autoren, vor allem Philosophen.

„Den hier sollte man auf keinen Fall lesen, wenn man eh schon depri drauf ist“, meinte Sandro und deutete mit dem Finger auf die Bücher von Kierkegard. „Sartre hab ich mit Siebzehn gelesen, Proust mit Achtzehn, zugegeben das war etwas früh. Tja, da dachte ich, dass ich für ein Philosophiestudium bestens vorbereitet wäre, naja, wie man sich halt irren kann... Egal, das liegt hinter mir... Ach und Foucault, den solltest du unbedingt lesen.“

Ich deutete auf Sämtliche Werkevon Kafka, ein etwas breiteres Taschenbuch, das stark zerlesen aussah. „Ist das alles, was er in seinem ganzen Leben geschrieben hat?“

„Tja. Der wurde ja auch leider nicht alt.“

Ich schrie leise auf, als Sandro mich mit seinen starken Armen so aufs Bett zog, dass ich quasi auf ihm lag. „Wir sollten lieber rübergehen, deine Tante wartet auf uns.“

„Ja, sie sagte aber auch, wenn wir soweit sind. Und da Worte ihre Profession sind, meint sie auch genau so, was sie sagt. Wollen wir ein paar Kurzgeschichten zusammen lesen?“ Seine Bartstoppeln kratzten mich. „Oder suchst du eine andere Art von Entspannung?“ Seine Finger wanderten tiefer meinen Körper hinab und ich sog die Luft ein, als er sich an meinem Reißverschluss zu schaffen machte, „ehrlich gesagt, war ich die komplette Zugfahrt über scharf auf dich…“
 

~
 

Von uns dreien hatte ich den besten Platz am Tisch: Richtung Fenster, mit Blick auf Paris. Sandro hatte wirklich nicht zuviel versprochen. In ihrem Käfig in der Ecke am Fenster, saßen Marthas Sittiche nebeneinander und zwitscherten fröhlich vor sich hin, ein Blauer und ein Grüner. Wahrscheinlich deswegen, weil wir drei uns ebenso eifrig unterhielten.

Endlich traute ich mich die Frage zu stellen, die mich schon das ganze Essen über beschäftigt hatte: „Die beiden Jungs auf dem Foto, sind das Sandro und Mario?“

Martha folgte meinen Blick auf das gerahmte Bild an der Wand. Darauf waren zwei kleine Jungs mit hellblondem Haar zu sehen. Sie saßen in Badehosen am Strand und bauten eine Sandburg. Einer der beiden hatte sich einen Eimer auf den Kopf gesetzt und grinste mit seinen Zahnlücken in die Kamera.

„Ja. Stimmt, das sind die Zwillinge.“ Martha lächelte. „Weißt du noch, welcher davon du bist, Sandro?“

„Lasst mich raten“, kam ich ihm zuvor. „Bestimmt der, der so böse schaut.“

„Ich schau nicht böse. Ich blinzele nur in die Sonne“, verteidigte sich Sandro und wir lachten.

„Aber Martha, du warst kaum präsent in unserem Leben, in unserer Kindheit. Für Vater warst du immer nur die Snob-Tante aus Paris. Und besuchen durften Mario und ich dich das erste Mal mit Dreizehn“, sagte er fast vorwurfsvoll.

„Nun ja… ich dulde Kinder in meiner Wohnung erst dann, wenn sie sich selbst versorgen können, tut mir leid, aber ich habe nun mal meine Prinzipien.“ Martha kicherte, griff in die Schublade an dem Schrank hinter ihrem Stuhl. „Wie wäre es mit einer Runde Quid pro quo?“

Sie entnahm ihr eine Box mit Spielkarten. „Aber die Psychodynamik ist nicht zu unterschätzen...“

„Wie wird es denn gespielt?“, fragte ich, neugierig geworden.

Sie mischte die Karten. „Jeder von uns zieht vier Karten. Dann wird reihum gezogen. Wer die ranghöchste Karte hat, beginnt. Der Ranghöhere darf dem rangniederen eine persönliche Frage stellen. Ein Spiel, bei dem die Psychodynamik nicht zu unterschätzen ist. Traut ihr euch?“

Sandro betrachtete sie mit seiner gekräuselten Stirn, als misstraue er ihr. „Der Rangniederste darf also niemandem eine Frage stellen?“

„Ja, genau. Wie es eben so ist im Leben, allein das Glück entscheidet.“ Martha hielt mir die Karten hin, und ich zog vier davon, die ich verdeckt vor mir ablegte. Nach einigem Zögern zog auch Sandro seine Karten.

„Im Uhrzeigersinn ziehen wir nun eine Karte von unserem rechten Nachbarn. Dominique, du als Gast darfst beginnen. Wähle eine von Sandros Karte aus, und decke sie auf.“

Das tat ich. Ein Pik-Ass. Das fing ja gut an. Sandro wiederum drehte eine Karte von Martha um. Kreuz-König. Nun war Martha an der Reihe und sie deckte meine Herz-Neun auf. Somit war ich der Rangniederste, und durfte niemanden eine Frage stellen.

Sandro stützte das Kinn auf seine Ellbogen. „Eine Frage, egal zu welchem Thema?“ Martha nickte. „Und wie ehrlich musst du die beantworten?“ Martha lächelte bloß. „Wieso hab ich den Verdacht, dass du dir dieses Psycho-Spiel gerade eben ausgedacht hast?“

„Wie lautet denn deine Frage, Sandro?“

Man konnte das Ticken der Wanduhr hören. Sogar die Vögel waren verstummt.

Er musste nicht lange überlegen. „Also gut. Meine Frage an dich lautet: Hast du immer noch Schuldgefühle?“

Ich schaute gespannt zwischen den beiden hin und her. Der intensive Blickkontakt, als führten sie einen Dialog via Telepathie, verschaffte mir eine Gänsehaut. So eine starke Verbindung hatten sie, stärker als zwischen Vater und Sohn. Schließlich wandte Martha den Blick ab. Sandro nickte unmerklich, und da war wieder diese Falte zwischen seinen Brauen. „Also ja. War mir aber klar gewesen.“

Martha blickte mich fast schon streng an. „Gut, Dominique, dann darf ich dir eine Frage stellen: Wofür hast du dich zuletzt geschämt?“

Uff! „Geschämt?!“ Ich musste nachdenken, ließ die letzten Wochen Revue passieren, während die beiden mich beobachteten. Der Spiegel… aber eigentlich nicht der Spiegel und sein Nachspiel. Sondern vielmehr, wie ich damit umging... „Ich habe mich dafür geschämt…“ Ich senkte den Blick, begutachtete den Weihnachtsstern auf den Tisch. „Dass ich Sandro gar nicht gebeichtet habe, dass ich neulich betrunken mit Linus gevögelt habe.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und spürte ihre Blicke auf mir.

„Ist doch okay“, sagte Sandro leise. „Nichts zu beichten.“

„Wirklich?“ Tief in mir hätte mir ehrlich gesagt eine andere Reaktion von ihm gewünscht.

Martha, wie als würde sie die Stimmung wittern, erhob sich vom Tisch.

„Wie gesagt, das Spiel ist nicht ohne! Es ist spät, ich gehe jetzt ins Bett. Bon Nuit, schlaft gut!“ Sie nahm ein dünnes Tuch, das sie über den Vogelkäfig ausbreitete. Schweigend sahen wir ihr zu. Auf halbem Weg zum Schlafzimmer drehte sich noch einmal um.

„Und nicht hier drin rauchen, Sandro, ja? Das ist nicht gut für die Vögel.“

„Weiß ich doch.“
 

Als sie weg war, stand Sandro auf öffnete die Balkontür. Ein kühler Luftzug zog ins Zimmer und ich stand auf und gesellte mich zu ihm ans Balkongeländer. Ein Déjà-vu…

Mit einem Kopfnicken zeigte Sandro auf den Eiffelturm. „Als ich einmal zum Gay Pride hier war, da hat er in Regenbogenfarben geleuchtet.“

„Cool. Das musst du mir mal erzählen.“ Schweigend betrachtete ihn beim Zigarette anzünden. Sandro, der lebendiger und interessanter war als jeder Turm aus Stahl. Es ging mir letztlich gar nicht so sehr darum, nach Paris zu fahren. Es ging vielmehr darum, mit Sandro irgendwohin zu fahren. Solange es nur Sandro war.

„Hat es dich nicht erschüttert?“, sprach ich ihn an.

„Was?“

„Meine Beichte eben. Damit du es weißt: Es keine Wiederholung geben. Und ich werde mich auch nie wieder so mit Alk abschießen.“ Als er gar nichts sagte, wurde ich nervös. „Sag doch was, bitte.“

Sandro zuckte die Schulter. „Was soll ich denn sagen? Für Sex muss man sich auch nicht schämen. Ich bin weiß Gott kein Heiliger. Warum machst du dich so verrückt deswegen?“

Ich schnaubte. Eine Ansage, die Simon nicht besser hätte formulieren können. „Warum? Kann ich dir sagen: Da mochte ich dich doch schon, zu dem Zeitpunkt! Das hätte nicht passieren dürfen! Nicht mal mit drei Promille!“ Ohne es zu wollen, wurde ich laut.

„Ist es aber. Und nun?“

Die Richtung, die dieses Gespräch nahm, missfiel mir. Fehlte nur noch, dass er mir eröffnete, dass wir sowieso nicht exklusiv waren, von Anfang an nicht… Mit wem hatte er eigentlich in der Métro geschrieben? Vielleicht war das einfach das Naturell schwuler Beziehungen? Ohje, wurde ich jetzt eifersüchtig?

Ich zitterte, spürte die Kälte in den Knochen und verkündete, mich bettfertig zu machen. Sandro folgte mir nicht, als ich hinein ging.
 

Es dauerte einige Zeit, bis er mir ins Gästezimmer folgte. Frisch geduscht schlüpfte er unter seine Bettdecke. Ein guter Meter trennte unsere Betten voneinander.

„Darf ich das Licht ausschalten? Oder möchtest du weiterlesen?“

„Ist gut, lass uns schlafen.“ Das Buch legte ich auf den Nachttisch. „Um wie viel Uhr fahren wir morgen zur Klinik?“

Ich fahre zur Klinik“, betonte er. „aber du wirst dort nicht versauern. Du schaust dir die Stadt an: Triumphbogen, Sacré-Cœur, Notre-Dame, die Champs-Élyssés, Mona Lisa und all das…“

„Wow. Ich darf dich jetzt also nicht mal in die Klinik begleiten. Gut, dass das schon mal geklärt wäre.“ Ich schnaubte, ich war wütend, ich war eifersüchtig aber zu all dem hatte ich keinen Grund, und das machte mich noch wütender. „Dann erkunde ich halt alleine die Stadt, nicht? Vielleicht finde ich die Gay-Bars. Kann es kaum erwarten! Hab dir bestimmt viel zu erzählen morgen, falls es dich überhaupt interessiert.“ Ich wickelte mich in die Bettdecke ein und wollte nichts mehr hören oder sehen.

„Natürlich interessiert es mich. Schlaf gut.“ Damit löschte Sandro das Licht.
 

~
 

Mitten in der Nacht wurde ich wach von einem Schluchzen und wurde hellhörig.

„Sandro? Brauchst du irgendwas?“, fragte ich in die Dunkelheit, in der ich seine Umrisse nur erahnen konnte.

Statt einer Antwort schluchzte er immer heftiger, und ich stieg aus meinem Bett, auf den kalten Fußboden, und legte mich zu ihm. Ich rutschte ganz nah an ihn heran. Befühlte seine Gesichtslandschaft, wischte über die Tränenspur.

„Diese verdammte Stadt macht mich immer so sentimental.“

„Stress dich nicht. Es ist total in Ordnung, Angst zu haben vor dieser OP. Ich hätte jedenfalls eine Scheißangst.“

„Ich hätte dich gar nicht mitnehmen dürfen“, flüsterte er mir zu.

„So ein Quatsch. Ich bin froh, hier bei dir zu sein.“ Ich legte meinen Arm um ihn, drückte mich so eng an seinen warmen Körper, wie es nur ging.

Ich spürte, wie sein Beben weniger wurde und nach und nach tiefen, ruhigen Atemzügen wich. Auch seine Anspannung fiel von ihm ab.

„Schlaf weiter, Sandro, ich pass auf dich auf.“
 

~
 

Nach neun Uhr wurde ich am nächsten Morgen wach. Zu spät! Sandro lag bestimmt schon unter dem Messer! Noch nie war ich so enttäuscht über die leere Betthälfte neben mir, enttäuscht von mir selbst, mein Versagen, einfach verpennt zu haben. Ich hatte ihn ohne Abschiedskuss oder ermunternde Worte in die Klinik gehen lassen.

Lag da ein Zettel auf dem Nachtschrank? Stirnrunzelnd las ich ihn: Guten Morgen, Süßer. Schau mal unter dein Bett.

Das tat ich auch, und entdeckte dort einen Stoffbeutel. Ein weißes Paar nagelneuer Schuhe in meiner Größe lag darin, das Logo und die Schnürsenkel in knalligem Neongrün gehalten. Ich las den beiliegenden Zettel: „Hättest du eigentlich erst an Weihnachten bekommen sollen, aber mir gefällt der Gedanke, dass du heute den ganzen Tag an mich denkst, während du auf eigene Faust Paris erkundest. Deine Füße haben nur das Beste verdient. Viel Spaß heute! Sandro

Ich war baff. Das waren Schuhe zum Joggen! Mein Fuß schlüpfte hinein und schmiegte sich so geschmeidig in diesen Schuh, als wäre er eigens für ihn angefertigt worden, und es lief sich damit wie auf einer Wolke. Fantastisch!

Ich zog mich fertig an und begab mich dann ins Esszimmer, wo Martha vor dem Laptop saß, eine Tasse daneben, die Vögel putzten schweigend ihr Gefieder.

Bonjour Martha.“

Sie schaute von ihrem Computer auf. „ BonjourDominique. Neun Uhr ist die beste Zeit aufzustehen, Paris erwacht spät. Möchtest du ein Croissant, einen Kaffee?“

„Nein danke. Ich bin eh schon viel zu spät dran.“

Wie eine Dame, die sich in ein Kleid aus dunstigen Nebelschleiern gehüllt hatte, begrüßte mich der Eiffelturm, als ich zum Balkon herausschaute. Sandros Lieblingswetter. Möge es ihm Glück bringen.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Ich zuckte die Achseln. „Er hat mich nicht geweckt, und ich habe verschlafen.“

„Das wollte er wohl so. So ist Sandro. Er macht fast alles mit sich selbst aus.“

„Mhh. Dann werde ich mal losgehen, mir einen Coffee to go holen und mir eine Tageskarte für die [iMétro kaufen, ich habe ein volles Programm.“

„Tu das. Ich gebe dir mal meine Telefonnummer, falls du in irgendwelche Schwierigkeiten kommen solltest.“ Sie kramte in der Schublade und hielt mir dann ihre Visitenkarte hin. „Und das dabei zu haben, könnte auch nicht schaden.“ Damit reichte sie mir auch noch einen zusammengefalteten Stadtplan. „Ich habe mich anfangs nämlich immer verlaufen. Naja, nach ein paar Jahren auch noch manchmal, aber erzähle das keinem.“ Sie kicherte.

Auch ich grinste. „Danke, Martha, aber ich habe doch Google Maps.“ Ich zögerte, wollte eine Frage stellen. Das schien sie mir anzumerken.

„Ist noch etwas?

„Wenn ich fragen darf… Was genau hat Sandro mit den Schuldgefühlen gemeint gestern?“

Sie blickte mich erstaunt an. „Nun ja… Du kennst ja seine Vergangenheit? Ich war nicht für ihn da, als er mich am dringendsten gebraucht hätte. Ich habe ihn in seiner Trauer und mit seinem Vater allein gelassen, ein fataler Fehler, aber ich musste arbeiten und noch vor seinem Geburtstag abreisen. Es war wohl seine Art, mich dafür zu bestrafen.“ Ich starrte sie entsetzt an. „Meinen Lebtag lang werde ich deswegen Gewissensbisse haben. Das ist paradox, schließlich halte ich Vorlesungen über Schuld, Ethik, Gerechtigkeit… predige meinen Studenten, dass man aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen kann…“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. „Was zählt das alles, wenn mein einer Neffe verunglückt ist, und ich den anderen auch noch fast verloren hätte.“

„Du musst dir selbst vergeben, Martha.“

Ich mochte diese Frau, sehr sogar. Schon jetzt fühlte ich mich mit ihr so verbunden, als wäre sie meine eigene Tante. Ich wollte gar nicht daran denken, dass ich mich in wenigen Tagen schon wieder von ihr verabschieden musste.

Au revoir ! Bis heute Abend!“
 

~
 

Abends kam ich geschafft zurück zu Marthas Wohnung, es war bereits dunkel. Doch ich hatte meine Mission erfüllt, in dieser Stadt ein Weihnachtsgeschenk für Sandro zu finden.

„[í] SalutDominique, willkommen zurück.“

„Hallo Martha. Ich bin echt kaputt. Ich habe so viel gesehen! Der Triumphbogen ist ja so riesig, den hätte ich mir viel kleiner vorgestellt... Und ich war auch dort, wo Prinzessin Diana verunglückt ist.“

Sie lächelte amüsiert. „Du bist doch hoffentlich nicht von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten gehetzt?“

„Würde ich nicht sagen, nein. Ich war auch in einem Café, wo ich Postkarten an Freunde geschrieben habe. Aber… das mit den öffentlichen Toiletten, da hättest du mich ruhig mal vorwarnen können!“

„Wieso? Was ist dort vorgefallen?“

„Also wenn mich jemand nicht in letzter Sekunde herausgezogen hätte, dann hätte ich eine Komplettdusche verabreicht bekommen.“

Martha gackerte aus vollem Hals los. „Aber solange du dich nicht verlaufen hast…“

„Doch, einmal schon…Dafür habe ich zufällig einen Trödelmarkt gefunden.“

„Ahh, ich liebe es, über Trödelmärkte zu flanieren…“

„Ist Sandro schon da?“ Meine Nachricht hatte er gelesen, und meine Statusmeldungen mit den Sehenswürdigkeiten angeschaut. Mein Lieblingsfoto war das mit dem Gullideckel neben meinen brandneuen Schuhen. Paris war die Stadt, in der sie sogar die Gullideckel hübsch verzierten.

„Ja, er ruht sich aus. Er kam am Nachmittag aus der Klinik zurück, die Operation ist ohne Komplikationen verlaufen, und hat sich dann gleich hingelegt.“

„Okay…“

„Hast du Hunger, soll ich dir was Schnelles machen?“

„Nicht nötig, ich habe Crèpes gegessen.“

„Setzt du dich trotzdem kurz zu mir, bitte?“ Sie klappte ihren Laptop zu.

Oh. Ich schluckte bang, als ich am Esszimmertisch ihr gegenüber Platz nahm, wo wir gestern so fröhlich beieinander gesessen hatten. Kam jetzt eine Ansage? Dass sich Sandro auf seine Genesung konzentrieren musste und ich ihren Neffen daher in Ruhe lassen und nach Hause fahren sollte, oder sowas in der Art?

„Ich wollte es heute Morgen schon ansprechen, aber du schienst es da sehr eilig gehabt zu haben, und ich wollte dich nicht aufhalten. Also sage ich es dir jetzt. Sandro meinte, dass er sich ein wenig um dich sorgt.“

„Er um mich? Wieso das denn?“ Nun war ich wirklich verwundert.

„Ja, natürlich sorgst du dich auch um ihn, vielleicht noch ein Stück mehr. Ich habe ihn übrigens schon lange nicht mehr so glücklich erlebt, du tust ihm wirklich gut.“ Sie spiegelte mein Lächeln bei diesen Worten. „Weißt du, wie er von dir gesprochen hat? Dass du ihm neue Sichtweisen aufzeigst, dass er vieles infrage stellt, seit er dich kennengelernt hat, und du andauernd in seinen Gedanken bist.“

„Wieso… wieso sagt er mir das nicht selbst?“

„Tja. Nun… Sandro konnte noch nie gut über seine Gefühle sprechen. Da ist er ganz wie sein Vater.“

„Ja das stimmt, aber er kann sie immerhin in metaphorische Songtexte packen und in die Welt herausbrüllen lassen.“

Da lachte Martha gackernd. „Er meinte übrigens auch, dass du das Zeug zum Sozialarbeiter, oder Psychologen hättest.“

„Was, ich?!“

„Aber eben auch, dass er den Eindruck hat, dass du etwas ziellos vor dich hinlebst, und Bedenken hast, Entscheidungen zu treffen.“

Aha! Da war er also, der wahre Grund für meinen Besuch! Ich faltete die Hände auf dem Tisch. „Da hat er wohl nicht ganz Unrecht, fürchte ich... Ich habe auch viel zu viel getrunken die letzte Zeit, so kenne ich mich gar nicht.“

„Das ist doch keine Schande! Weißt du, vor acht Jahren saß Sandro selbst auf dieser Eckbank und wusste überhaupt nicht, wohin mit sich im Leben, er wusste nur, dass er sein Studium auf keinen Fall weitermachen kann.“

Ich ahnte, dass dieses wohl eine der schwierigsten Gespräche in Sandros Leben gewesen sein musste – seiner Tante zu gestehen, dass er die Philosophie an den Nagel hängen wollte, und das nach der Lektüre von diesen ganzen Philosophen in so jungen Jahren. Da hätte ich wahrlich nicht in seiner Haut stecken wollen.

Martha fuhr unbeirrt fort: „Das ist auch völlig in Ordnung eine zeitlang, nur muss es halt irgendwie weitergehen. Also hatten wir uns zusammengesetzt und überlegt, welche Möglichkeiten er hat, und welche Wünsche und Ziele für sein Leben. Es macht mir Freude, wenn ich einem jungen Menschen helfen kann, seinen Weg in der Welt zu finden. Die Welt ist groß und kann beängstigend sein, aber sie steckt im Grunde voller Möglichkeiten.“

Ich nickte schwach. Viel zu viele Möglichkeiten. Erdrückend.

„Du hast noch meine Visitenkarte, oder? Ruf mich an, wenn du Fragen hast, egal was, oder schreibe mir einen Brief, oder eine E-Mail, was auch immer. Fände ich schön, in Kontakt zu bleiben. Muss auch nicht von Sandro abhängen, denke das auf keinen Fall! Wo Gefühle im Spiel sind, lässt sich nie etwas planen oder vorhersagen.“

Dem konnte ich nicht widersprechen.

„Wenn du dich wo bewerben willst, ich werf gerne mal einen Blick auf deine Unterlagen; ich habe ein paar nützliche Kontakte, die sich freuen würden, zu helfen. Und wenn du eine Unterkunft suchst, könnt ich dir auch behilflich sein. Ich hätte mir gewünscht, so jemanden damals gehabt zu haben. Nichts ist aussichtslos, für alles gibt es eine Lösung, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint.“

Netterweise hatte mir meine Schwester heute eine Nachricht geschrieben, in der sie mich noch einmal an das Ultimatum erinnert hatte, und gefragt, wo ich war. Noch hatte ich darauf nicht geantwortet.

„Martha“, seufzte ich. „Ich stecke echt in der Klemme!“

„Was bedrückt dich denn?“, fragte sie und legte den Kopf schief. Da brach alles aus mir hervor, ich kam von einem zum anderen, aber vor allem erzählte ich von dem Ultimatum, das mich plagte und meine Zukunftspläne, die noch nicht in Form gegossen waren. Dabei war ich doch schon Neunzehn, und mir lief die Zeit davon.

Martha gackerte. „Das ist doch gar kein Alter. Kriegen wir hin, Dominique. Ich kann dir die Arbeit natürlich nicht abnehmen, in dich zu gehen und nach deinen Stärken zu forschen, aber ich kann dir einen Denkanstoß mitgeben…“ Sie schaute zum Kalender an der Wand. „Es sind noch ein paar Tage Zeit. Wenn du möchtest, erarbeiten wir morgen gemeinsam einen Plan, den du deiner Schwester präsentieren kannst. Wozu hat man denn an Weihnachten ein paar freie Tage und Ruhe, sich zu besinnen! Wenn sie dich so sehr unter Druck setzt, dann wohl nur aus dem Grund, weil du ihr wichtig bist, und sie nicht will, dass du etwas tust, was du später bereuen könntest.“

„Danke, Martha. Das bedeutet mir wirklich viel! Ich weiß, dass ich studieren möchte, nur noch nicht genau, was!“ Ich fühlte mich wirklich, als hätte sie eine schwere Last von meinen Schultern genommen. „Sag mal… Kennst du dich auch mit Musik ein bisschen aus, oder mit Antiquitäten? Ich habe nämlich auf dem Trödelmarkt etwas gefunden…“

Ihre Braue wanderte überrascht in die Höhe, noch etwas, das Sandro mit ihr gemeinsam hatte. „Jetzt hast du mich neugierig gemacht, Dominique. Lass mal sehen.“

Ich holte also den Knüllen Zeitungspapier aus meinem Rucksack und schälte die kleine Schatulle daraus hervor. Dunkles Holz, und diese vergoldeten Elemente erinnerten mich an die Piano-Bar neulich.

„Sehr hübsch“, staunte Martha.

„Warte ab, bis du hörst...“ Ich öffnete den Deckel der Schatulle, was den rostigen Mechanismus freigab. Eine diffizil geschnitzte Ballerina drehte sich um ihre Achse. Und schon legte eine Art Tonband los, die Stimme einer Frau, die mich von der ersten Sekunde an verzaubert hatte. Angeblich seine grand-mère, was mir der Flohmarktverkäufer mit Händen und Füßen erklärt hatte.

Kein Instrument, diese zärtlich-melancholische Mezzosopranstimme erfüllte ganz alleine den Raum. Mehr gesummt als gesungen, als wolle sie ihren Geliebten nicht wecken, der noch im Bett schlummerte, nach ihrer letzten gemeinsamen Nacht. Während sie beim ersten Licht des Tages an der Frisierkommode saß, sich schminkte und diesen Abschiedsgruß an ihn aufnahm, dabei die Musselinvorhänge betrachtete, die die morgendliche Brise blähte, in dem Wissen, dass sich dieser Moment niemals wiederholen würde, nicht in diesem Leben. Diese Geschichte war wie ein film noir vor meinem geistigen Auge abgelaufen, als ich diesem Gesang gelauscht hatte.

Sie zog die Silben in die Länge, betonte ganz eigenartig ihre Worte. Nicht mal eine Minute dauerte der Spaß an, doch mir stockte der Atem beim Zuhören.

Magnifique! C’est unique!“ Marthas Stimme war nur ein Hauchen, ihre Augen glänzten. „Klingt wie ein Schlaflied für ihr bébé. Wirklich außerordentlich. Guter Geschmack, ein Glücksgriff!“

„Ist das auch nicht…naja, zu kitschig, was meinst du?“

„Kitschig? Das ist eine wahre Kostbarkeit!“ Ich blickte zur Seite, und da stand Sandro.

„Au Scheiße!“, hörte ich mich sagen und sprang auf. Ihn so zu sehen… seinen linken Arm bis zum Ellbogen in einen Verband gehüllt und mit einer Trageschlaufe um den Hals befestigt. Und zu allem Übel auch noch in Weiß, was so gar nicht zu ihm passte. Natürlich hatte ich mir es so in etwa vorgestellt, doch ihn leibhaftig so zu sehen, war etwas, das ich erst einmal verkraften musste. Ganz behutsam umarmte ich ihn, um ihm nicht wehzutun. „Das… solltest du noch nicht sehen. Das ist doch dein Weihnachtsgeschenk!“

„Zu spät“, sagte Sandro und lächelte. „Du trägst deine Schuhe ja auch schon. Passen sie?“

„Perfekt“, entgegnete ich und grinste wie ein Irrer. „Damit werde ich nächstes Jahr endlich mit Joggen beginnen.“

„Gut. Ich konnte dich in deinen durchgekauten Chucks nämlich nicht mehr sehen.“

Er nahm auf der Couch im Wohnzimmer Platz, und ich gab ihm die Schatulle, damit er sie noch einmal abspielte. Alle drei spitzten wir die Ohren, versanken in diesem Moment, der eine eigenartige Mystik besaß.

Wir schwiegen eine ganze Weile, nachdem die Sängerin verstummt war. Da war er wieder, dieser verschwörerische Tante-Neffe-Blickkontakt. „Ich geh mal eine rauchen“, verkündete Martha nun und verschwand auf den Balkon hinaus, während sie in ihre Strickjacke schlüpfte.
 

Ich setzte mich neben Sandro, lehnte mich an ihn. „Martha ist wirklich das Beste, was mir passieren konnte. Ich mag sie sehr!“ Ich beobachtete sie, wie sie draußen ihre Zigarette rauchte. In ihren Gesten erkannte ich Sandro direkt wieder. Ihre Verwandtschaft konnte man einfach nicht leugnen.

„Ja, sie ist wirklich eine außergewöhnliche Frau. Aber erzähle mal. Wie waren die Gaybars?“, wollte er wissen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nee. Wenn, dann gehe ich nur mit dir zusammen da rein.“

Sandro seufzte. „Tu mir einen Gefallen, Dominique: Verlieb dich nicht in mich.“

„Warum nicht?“

„Weil es in meinem Zustand einfach anmaßend wäre, deine Fürsorglichkeit auszunutzen!“

„Das ist der Grund? Lass mich mal schön selbst entscheiden, in wen ich mich verliebe, Sandro! Dafür ist es nämlich schon längst zu spät! Ich bin total verknallt in dich. Nicht erst seit Paris. Du bist morgens das Erste, woran ich denke, und abends das Letzte, bevor ich einschlafe. Das klingt verdammt kitschig und ich bereue sicher dir das gesagt zu haben, aber es ist besser, als zu bereuen, es niemals gesagt zu haben, ganz egal, wie du das zwischen uns definierst. Ob das jemals etwas Festes, etwas Exklusives werden soll. Aber ich für meinen Teil kann sagen, dass ich es nicht ertragen könnte, dich mit irgendwem zu teilen.“

„Süßer…“ Sandros Hand, die nicht bandagiert war, ergriff meine und hielt sie ganz fest.

„Das ist unheimlich. Dass du schon so viele Facetten von mir kennengelernt hast. Gottverdammt, du hast sogar Vater kennengelernt…“

„Ja. Das ließ sich nun wirklich nicht vermeiden, wenn er in dem Pflegeheim untergebracht ist, in dem ich arbeite.“

Sandro rang sich ein Lächeln ab, nickte bedächtig. „Ja. Vielleicht war es so herum wirklich der einzige Weg. Sonst hätte ich es niemals über mich gebracht.“

„Durchaus verständlich. Aber ich fand es stark von dir, dass du mich zu Mario mitgenommen hast, echt stark. Ab da wusste ich wirklich, dass du mich irgendwie mögen musst. Und mir vertraust.“

„Ja“, hauchte er. „Du wirst mir aber so oder so das Herz brechen, ich weiß es.“

„Unfug“, entgegnete ich. „Du wirst mein Leben immer rocken. Und weißt du auch, warum? Weil wir über unsere Gefühle reden!“

Ich konnte nicht mal Luft holen, denn im nächsten Moment küsste er mich. So leidenschaftlich. Mein Herz drohte davonzufliegen. Hinaus, über die weißen Dächer des nächtlichen Paris, Eine traumhafte Kulisse, inmitten tanzender Flocken… In Sphären, in denen all unsere weltlichen Belangen bedeutungslos waren. Einer Zukunft entgegenblickend, in der alles ins Lot rücken würde. Sandros Hand, die sicher erholen würde; meine beruflichen Pläne, die ich umsetzen würde, sobald ich wieder zuhause wäre… Weil ich plötzlich fest daran glaubte. Ich an mich, und nicht an einen der vielen Götter dieser Welt! Das war das einzige, das zählte.
 

~ Ende ~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich verspreche, das nächste Kapitel schon nächste Woche hochzuladen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bitte Leute vom Fach um Verzeihung, weil sich bestimmt der ein oder andere Recherchefehler eingeschlichen hat, was Krankenhäuser angeht !

Das Wort Regenbogen-Pest entstammt der Aussage eines Erz-Bischofs. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
In diesem Sinne, ein frohes Weihnachtsfest euch allen! Vielen Dank fürs Lesen bis hierhin. Dass ihr diese Geschichte bis zum Ende gelesen habt, bedeutet mir sehr viel! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  dasy
2023-02-15T07:45:25+00:00 15.02.2023 08:45
Sehr schöne Geschichte!
Ja, so ist das kurz nach dem Abi... Und das Ende ist zum Glück richtig hoffnungsvoll, zukunftsvoll.
Keine Ahnung, wie viel von Dir in dieser Geschichte steckt, aber ich wünsche Dir auf jeden Fall, dass Du jemanden an Deiner Seite hast, der mit Dir in Richtung Zukunft blickt!
Antwort von:  Evilsmile
16.02.2023 18:39
Das ist aber lieb! Vielen Dank!
Freut mich sehr, dass du die Geschichte gelesen hast
<3
Von:  MarryDeLioncourt
2022-12-15T07:29:08+00:00 15.12.2022 08:29
Ohhhhh mein Gott, was wohl eigentlich unpassend ist, wenn man bedenkt, dass Dominique gerade der Kirche den Rücken gekehrt hat 😂.
Aber ja, eine andere spontane Begeisterung trifft es weniger treffend zu. Sandro wird mir immer sympathischer und ich es ist voll mutig sich so zu öffnen. Ich hoffe auf eine schöne Zeit in Paris und das auch noch über Weihnachten. Romantischer geht's ja kaum 🥰🖤.
LG Marry
Antwort von:  Evilsmile
15.12.2022 23:39
Hach, vielen lieben Dank dir!
Das nächste Kapitel ist dann bereits das Finale.
Lieben Gruß!
Von:  MarryDeLioncourt
2022-08-01T07:30:38+00:00 01.08.2022 09:30
Hey :),
Ich muss sagen, David macht das alles mit seiner Aktion nicht besser. Mochte Sandro auch von Anfang an ein bisschen mehr :). Dann bin ich ja mal gespannt, ob er sich meldet und, ob Domi seine Zukunft in den Griff bekommt oder von seiner Schwester vor die Tür gesetzt wird.
Gemeiner Cliffhanger XD. Freu mich schon ein weiteres Kapitel.
Gruß Marry
Antwort von:  Evilsmile
01.08.2022 14:03
Hallo,
Vielen lieben Dank dir! Es freut mich sehr wenn die Geschichte ankommt und man mitfiebert!
Also Team Sandro hehe.
Lieben Gruß!


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