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Until the End

von

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Prolog

Es war nur eine Nacht vergangen, aber es kam ihnen schon vor wie eine Ewigkeit. Sie wussten nicht was sie jetzt erwartete. Und auch wenn sie nicht wussten, wohin das noch führen sollte, wenn sie jetzt ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen würden, hätte das nur den Zweck ihn zu belustigen. Würden sie sich jetzt die Köpfe einschlagen, wäre das auch nur ein Spaß für ihn gewesen. Und

deshalb saßen sie schweigend beieinander. Würde auch nur einer von ihnen einen Ton von sich geben, würden sie sich kurz darauf wohl gegenseitig an die Hälse gehen. Und das würde ihnen in keiner Weise helfen. Nur er würde wohl seinen Spaß daran haben. Und da sie das wussten, schwiegen sie sich weiter an.

Ein Vertrag sollte erfüllt werden, aber bis gestern wussten sie nicht einmal, dass es so einen Vertrag überhaupt gab! Sie waren nur überrascht gewesen, dass es vor einigen Wochen bergauf gegangen war. Aber auch das hatten sie nur ihm zu verdanken... Doch wenn man es recht bedachte, war es eher... Aber das konnten sie nicht denken. Das durften sie einfach nicht! Nicht einer von ihnen!

Die Gedanken waren frei, hieß es immer. Aber einer von ihnen wusste, dass er sich darüber hinweg setzten konnte. Wahrscheinlich saß er jetzt irgendwo in einem gemütlichen Sessel und amüsierte sich darüber wie einfältig sie doch gewesen waren. Aber diese Dinge gingen nur einem von ihnen durch den Kopf. Die anderen waren immer noch damit beschäftigt sich die Köpfe darüber zu zerbrechen, wie sie überhaupt hierher gekommen waren.

Ob das hier ihr Ende werden sollte? Es hieß zwar immer, man sollte aufhören, wenn es am schönsten war. Aber so hoch waren sie die Karriereleiter noch gar nicht hinauf gestiegen. Nur einen Moment den süßen Geruch des Erfolges riechen – davon hatten sie alle geträumt. Und als es so weit war, als sie gerade dabei waren zu begreifen, schlugen sie auf dem harten Boden der Realität auf. Sollte das denn wirklich schon ihr Ende sein? Aber niemand sprach diese Gedanken aus. Dennoch waren sie in ihren Köpfen. Und zwar im Kopf von jedem von ihnen, und sie wussten davon.

Je mehr Zeit verging, desto unruhiger wurden sie. Aber, um Streit zu vermeiden, hatten sie sich kurz, nachdem sie gefangen worden waren, darauf geeinigt zu schweigen. Denn es hätte ja doch keinem von ihnen genutzt, sich gegenseitig zu beschuldigen. Aber auch wenn sie sich die ganze Zeit über anschwiegen, sagte dieses Schweigen doch mehr als Worte es hätten tun können. Und so wurden sie auch weiterhin von ihm beobachtet. Aber das konnten sie nur erahnen. Und er wusste, je mehr Zeit vergehen würde, desto schwieriger wurde es für sie. Denn er kannte sie alle und wusste, dass nur die wenigsten eine solche Prüfung überstehen konnten. Und so wartete auch er. Aber das machte ihm schon lange nichts mehr aus. Er war es gewohnt zu warten und wusste daher, dass es sich in den meisten Fällen lohnte. Und auch diesmal sollte es etwas geben. Er hatte es zwar schon

lange nicht mehr erlebt, doch es sollte wohl spaßig werden. Die letzten Wochen waren schon sehr viel versprechend gewesen. Jetzt würde er, wie es so schön hieß, die Ernte einfahren. Wobei das wohl nicht gerade die treffendste Redewendung war. Schließlich würde auch er überrascht sein wie diese ganze Geschichte ausgehen würde. Aber das gehörte nun mal dazu. „Berufsrisiko“ würde er dazu sagen.
 

Die Zeit zog sich immer weiter in die Länge. Was, wenn er sich überhaupt nicht mehr blicken ließ?! Aber hier zeigte sich mal wieder, dass man nicht unbedingt wissen musste wie sein Feind aussah. Es reichte lediglich aus zu wissen, dass es ihn gab. Aber auch das half ihnen nicht gerade mit der Situation besser fertig zu werden. Wieso hatten sie nicht einfach so weiter machen können wie bisher? Wieso musste das Ganze nur so aus dem Ruder gelaufen sein? Wieso hatte ausgerechnet er sich eingemischt? Hatte er sich überhaupt eingemischt? Oder war es doch vielmehr so, dass er erst aufgetaucht war, nachdem sie um Hilfe gebeten – ja fast gebettelt – hatten? Oder hatte er einfach nur eine gute Nase und wusste wo die beste Beute war? Aber das war jetzt eh nicht mehr rückgängig zu machen. Er würde nicht verhandeln – nicht noch einmal. Sie würden das sicher auchnicht, wären sie jetzt in einer anderen Situation. Nein, jetzt waren sie von dem abhängig, was er mit ihnen vor hatte...

Rising Phenix

Sie wussten nicht, wie oft sie schon hier aufgetreten waren. Aber das war den Jungs von Rising Phenix egal. Sie kamen gern hierher, denn hier hatten sie zum ersten Mal als Band auftreten dürfen. Die Bühne erwartete sie schon, heute Nacht würde das Publikum auf ihre Kosten kommen! Undauch, wenn sie jetzt schon seit ein paar Jahren versuchten aufzusteigen und es bis jetzt nicht geschafft hatten, dieser Club hier war so etwas wie ihre Heimat – ihr Startpunkt.

Obwohl sie relativ beliebt waren, war bis jetzt noch niemand auf die Idee gekommen sie unter Vertrag zu nehmen. Sie hatten ein paar Demos an Musikverlage geschickt, aber nie eine positive Antwort erhalten. Ihre Songs hatte Kiryu bis jetzt nur auf japanisch geschrieben. Und sie hatten sich geschworen sich dabei von niemandem reinreden zu lassen.

Sie kamen alle vier aus Tokyo. Kiryu Sugawa – der Sänger – hatte weiß gefärbte, kinnlange Haare mit einem leichten Blauschimmer und helle braune Augen, die fast ins Gold über gingen. Der Gitarrist Taro Okumoto war das, was die meisten Menschen wohl als quirlig bezeichnen würden. Er war ein grenzenloser Optimist, hatte blond gefärbte Haare, die fast so lang waren wie die von Kiryu. Und seine grauen Augen sprühten geradezu vor Leben. Er war es auch, der die Songs der Band komponierte, während Kiryu sich um die Texte kümmerte. Der Bassist Haru Edawa stach nicht besonders hervor. Er war der ruhigste von ihnen. Seine schwarzen Haare, die er meistens im Nacken zusammen gebunden hatte, bildeten einen starken Kontrast zu seinen klaren blauen Augen, die das Meer selbst in sich zu haben schienen. Und der vierte im Bunde war Ryo Shiota – der Drummer. Wenn es hart auf hart kam – und das geschah in letzter Zeit des Öfteren – war er es, der die Band zusammen hielt. Aber wie auch Haru, war auch Ryo ein geduldiger Typ. Doch so verschieden sie auch zu sein schienen, eines hatten sie alle gemeinsam: Sie alle kamen aus einem Viertel Tokyos, das nicht gerade die besten Aufstiegschancen bot. Und das schweißte natürlich zusammen. In der Schule war niemand von ihnen herausragend gut, weshalb sie nur sehr geringe Chancen auf einen Studienplatz hätten. Sie hatten entweder gerade so einen Abschluss erhalten oder waren Durchschnitt. Dennoch hatten diese vier Jungs ein herausragendes musikalisches Talent, das ihnen Hoffnung gab irgendwann ein besseres Leben führen zu können. Sie hatten auch schon eine beachtliche Zahl an Fans. Und die waren einer der Gründe, wieso sie nicht schon längst aufgegeben und alles hinter sich gelassen hatten. Die Fans und ihre Träume. Aber es lag auch an ihren Freunden, die ihnen immer wieder Halt gaben.

Die letzten Soundchecks wurden durchgeführt – der Auftritt konnte beginnen. Kiryu stand schon auf der Bühne. Das hier war seine Welt. Die noch leere Fläche vor der Bühne würde in spätestens einer Stunde voll sein – und zwar richtig voll! Sie würden ihnen zujubeln – genauso wie schon so oft zuvor. Und nach dem Auftritt... würden sie alle wieder in ihr

unscheinbares normales Leben zurück kehren. Er freute sich auf den Auftritt, aber er blickte ihm auch mit Wehmut entgegen. Würde es heute genauso enden wie die letzten Male zuvor auch schon immer? Er schloss die Augen und stellte sich alles vor: Das Publikum, das ihnen zujubelte; seine Kehle, die sich irgendwann wie Sandpapier anfühlen würde – aber das war noch nie ein Problem gewesen, um einen guten Auftritt abzuliefern; und natürlich dieses berauschende Gefühl den Himmel erobern zu können – als ob man fliegen könnte; dieses unbeschreibliche Gefühl puren Glücks. Sie würden heute Nacht auftreten und es würde der beste Auftritt werden, den sie je gebracht hatten!

„Kiryu!“, wurde er von Yuito aus seinen Tagträumen gerissen. Yuito und er kannten sich schon seit ihrer Kindheit. Sie waren im selben Wohnblock aufgewachsen. Aber während Yuito eine Anstellung als KFZ- Mechatroniker fand, wollte Kiryu schon immer auf die Bühne. Dennoch hatten diese unterschiedlichen Vorstellungen einer Zukunft ihrer Freundschaft nicht geschadet. Kiryu war schon immer ein Träumer gewesen, das wusste Yuito auch. Kiryu drehte sich zu seinem alten

Freund um und sah ihn fragend an.

„Wir können jetzt anfangen.“ Kiryu nickte nur darauf und begann auch gleich eine ihrerMelodien vor sich hinzusummen.

„Okay“, sagte Yuito noch einmal und Kiryu begann: „Und das Einzige, das mir noch... Das klingt komisch, Yuito.“ Angesprochener sah sich noch einmal das Mischpult an, stellte ein paar Regler anders und nickte Kiryu dann erneut zu.

„Und das Einzige, das mir...Whuh! Das ist 'n Klang, Leute!“ Und dann begann er richtig zu singen. Es war ihm egal, ob es a capella war, das musste jetzt einfach sein:

„Und das Einzige, das mir noch bleibt

Ist Erinnerung, die nichts mehr heilt...“
 

„Hey, hey, hey! Wer wird denn da schon ohne uns anfangen?!“, kam Taro mit der restlichen Band im Schlepptau auf die Bühne.

„Hi, Leute“, grüßte sie Yuito gleich. „Wir können gleich loslegen.“

Sie hatten nicht sehr lange gebraucht für den Soundcheck, schließlich hatte sich Yuito um die meisten ihrer Auftritte gekümmert. Sie wüssten nicht, was sie ohne ihn getan hätten – und sie wüssten es auch jetzt nicht. Geld für Ton- und Lichttechniker hatten sie nicht.

Die ersten Menschen kamen und Taro und Ryo standen gespannt hinter der Bühne und beobachteten wie es immer voller im Saal wurde. Kiryu saß noch über ein paar Notizen und biss immer wieder auf das Ende eines Kulis.

„Dein neuer Song?“, fragte Yuito und setzte sich zu Kiryu.

„Ja, ich arbeite gerade am Feinschliff.“

„Hättet ihr den nicht mal proben sollen?“ Yuitos Frage war durchaus berechtigt. Aber Kiryu wusste schon, wie es ablaufen sollte. Jeder Ton, jedes Wort, jede Bewegung, die er dazu auf der Bühne machen würde, standen für ihn schon fest.

„Wir hatten ihn schon geprobt, das hier ist nur für meine Performance.“

Yuito sah beeindruckt auf die Noten und lehnte sich dann auf dem Sofa zurück.

„Keine Sorge, das werden wir nicht verhauen. Nicht heute“, und wie zur Bekräftigung lächelte er Yuito noch wissend an. Yuito hatte die Hände gerade im Nacken verschränkt, als ein aufgeregter Taro herein gestürmt kam und ihnen sagte: „Komm, Kiryu! Es geht los!" Kiryu und Yuito wechselten noch einen Blick, dann ging Kiryu zum Bühnenaufgang. Die unruhige Masse war hinter der Bühne weniger zu hören als vielmehr zu spüren. Schon jetzt herrschte diese besondere

Stimmung, von der auch die Jungs von Rising Phenix voll befallen wären.

„Und heute, nach unendlich langer Zeit, sind sie endlich wieder hier!“ Die Menge tobte. Obwohl derjenige, der Rising Phenix gerade ansagte, nicht ganz recht hatte. Inzwischen war es fast zur Gewohnheit geworden, dass sie mindestens einmal im Monat in Cold's Club auftraten.

„Ich präsentiere – die Unvergleichlichen, die Einzigartigen– Rising Phenix!“

Bei diesen Stichworten kamen sie auf die Bühne. Ein „Guten Abend, Leute" ließ sich Taro aber auch nicht nehmen. Aber das war nun mal Taro. Die Menge bejubelte sie natürlich gleich. Als er wieder vom Bühnenrand zurück ging, blieb er kurz neben Kiryu stehen, sagte "Okay, sie gehören dir" und schnappte sich seine Gitarre.

„Seid ihr gut drauf, Leute?“ Die Menge grölte.

„Was? Ich kann euch nicht hören! Seid ihr gut drauf?“, rief Kiryu ihnen zu. Und als Antwort bekam er ein noch lauteres Grölen als gerade eben.

„Okay, dann können wir jetzt anfangen!“ Dann sah er noch einmal kurz zu Yuito, gab ihm ein Zeichen und der Auftritt begann...

Taro schlug auch gleich in die Saiten und spielte einen ihrer Standart- Songs an. Kiryu stand mit geschlossenen Augen vorn an der Bühne und wartete. Es würde wirklich einer ihrer besten Auftritte werden. Die Menge tobte schon jetzt, nach ihrem ersten Song. Aber die vier wussten, dass es auch noch besser ging. Am Ende der heutigen Show würden sich die Fans nicht mehr halten können vor Euphorie. Und das brachte Kiryu schon jetzt ein Lächeln auf die Lippen. Yuito war immer wieder beeindruckt wie die Jungs es schafften ihre Fans so dermaßen zu begeistern und zu lenken. Er selbst

war mehr der Typ, der aussah, als kümmerte ihn das alles nicht. Aber das störte ihn auch nicht, denn er wusste, dass er sich niemals so auf einer Bühne verhalten könnte wie die Jungs von RisingPhenix. Dieser Abend gehörte Kiryu, und er gönnte es ihm auch.

Und schon wieder hatten sie einen Song beendet. Sie spielten jetzt schon fast eineinhalb Stunden, und jetzt sollte endlich der Höhepunkt des Abends kommen. Yuito hatte diesen Song nie vorher gehört und er war gespannt, was sein bester Freund wieder zu Papier gebracht hatte. Aber so einfach machte es Kiryu dem Publikum nicht. Zuerst wollte er die Spannung noch etwas steigern. Nach Luft schnappend stand er jetzt wieder in der Mitte der Bühne. Alle Spots waren allein auf ihn gerichtet. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er schien gerade taub für Erschöpfung zu sein. Es dauerte einen Moment, ehe er wieder sprechen konnte, aber die Menge wartete geduldig. Yuito dagegen wurde immer unruhiger, versuchte sich nichts anmerken zu lassen, auch wenn ihn niemand sehen konnte.

„So, Leute... hu, also diesmal... habt ihr mich echt geschafft.“ Wieder machte er eine kurze Atempause. Seine Schultern hoben und senkten sich mit jedem Atemzug, den er tat. Aber für Kiryu war auch das LEBEN! Das hier und jetzt, war alles, was er wollte. Und was er brauchte.

„Wollt ihr noch mehr?“, rief Taro dazwischen. Kiryu war immer noch nicht richtig zu Atem gekommen und war deshalb im Moment für jede Hilfe dankbar. Die Fans jubelten, wenn auch etwas zurückhaltend.

„Ne, Taro! ... Ich glaub, die haben genug...“, gab Kiryu statt des Publikums zur Antwort.

„Hast Recht. Ich glaub, wir gehen besser.“

Das war Yuitos Zeichen. Kiryu, Taro, Haru und Ryo wollten von der Bühne gehen. Aber plötzlich war es stockfinster in der Halle. Die Bühne war nur noch zu erahnen, die vier Jungs von Rising Phenix gar nicht mehr zu sehen. Voller Spannung warteten die Fans darauf, was als nächstes geschehen sollte und riefen immer wieder den Namen der Band. Der Auftritt konnte noch nicht vorbei sein – nicht jetzt und auch nicht so! Die Spannung war fast greifbar.

Auf der Bühne waren noch Bewegungen aus zu machen, alle hofften, dass die Jungs jeden Moment einen neuen Song anspielen würden. Aber vorerst blieb es ruhig. Doch dann wurde es wieder heller auf der Bühne. Nur Kiryu war zu sehen. Er stand mit gesenktem Kopf am Mikro und schien auf irgendetwas zu warten. Er sah verändert aus, auch wenn niemand erklären konnte, was genau jetzt anders war. Es war nur eine Ahnung, aber die Fans wussten, dass diese Band nicht

umsonst den Namen Rising Phenix trug.

„Irgendwann muss jeder sterben – irgendwann ist alles zu ende“, begann Kiryu. Er klang sehr ruhig. Niemand traute sich ihn jetzt zu unterbrechen – nicht einmal einer der Fans. In der Halle war es absolut still. Denn gerade fand eine der beeindruckendsten Showeinlagen der Band statt. Kiryu tat es zwar nur selten, aber wenn er es tat, lag die ganze Welt ihm zu Füßen.

Und mit fester Stimme sprach er weiter: „Auch ein Phönix wird sterben, doch...“, er sah zu Boden und drehte dem Publikum halb den Rücken zu. Dann drehte er sich wieder um. Seine hellen braunen Augen schienen alles wahrnehmen zu können. Und mit jedem Wort, das er jetzt sprach, schien die Spannung bis ins Unermessliche zu steigen: „Doch aus der Asche steigen wir empor und beginnen ein neues Zeitalter!“ Mit jedem Wort war er etwas lauter geworden. Und bei den letzten hob er auch noch die Arme. Die Fans jubelten so laut sie konnten. Taro und Kiryu hatten sich kurz nur mit Zeichen verständigen können, weil es nicht anders ging. Aber jetzt – jetzt war es endlich so weit. Der neue Song wurde endlich angespielt.

Taro und Ryo sangen Passagen der Strophen mit, aber den Refrain überließen sie ganz Kiryu:
 

„Und das Einzige, das mir noch bleibt,

Ist Erinnerung, die nichts mehr heilt

Kann allein sein, will's jetzt nicht

Erinnerung, die mich erstickt

Und ich frag

Was gibt es noch?

Nur Schmerz! Nur Schmerz!“
 

Die ersten vier Verse waren sehr melodisch. Dann wurde seine Stimme fast schrill und endete beiden letzten Worten in einem Grölen. Die tiefen Akkorde von Ryo ließen aber nicht zu, dass es disharmonisch klang.

Die Menge tobte, Kiryu war glücklich, und ihr Auftritt hier nach dem nächsten Song vorbei... Als sie wieder hinter der Bühne waren, sah man den Vieren die Erschöpfung deutlich an. Aber sie sahen alle auch glücklich aus.

„Wow! Und das hattet ihr so echt nicht noch mal geprobt?!“, kam Yuito auf sie zu.

„Ich meine...“, die richtigen Worten waren ihm eben aus gegangen. Aber Yuito war für sie fast so etwas wie ein Band- Mitglied. Mit ihm verstanden sie sich genauso gut, wie unter einander, manchmal auch besser.

„Das war der Hammer!“, platzte es dann endlich aus Yuito heraus. Yuito hätte es nie gedacht, aber heute Abend hatten die Jungs wirklich den besten Auftritt geliefert, den er je gesehen hatte. Und er musste es wissen, schließlich hatte er zu den ersten Fans von Rising Phenix gehört. Aber jetzt ging es nach Hause. Morgen früh würden sie die Anlage mit allem Drum und Dran abbauen, aber jetzt wollten sie nur noch schlafen. Sie waren alle erschöpft und das sah man ihnen jetzt noch deutlicher an als noch vor einer Minute...

Vorwürfe

Sie wollten sich gleich treffen, um zu proben. Aber er wusste nicht, ob er auch wirklich hingehen sollte. Ein paar Tage waren seit dem Konzert in Cold's Club vergangen. Und seine Stimmung hatte sich seit dem nicht mehr verbessert. Es war genauso gekommen, wie er es befürchtet hatte. Und deshalb saß er jetzt schon eine ganze Weile auf dem Bett seines kleinen, schäbigen Zimmers und dachte nach. Nein, eigentlich versuchte er einen Ausweg für sich zu finden. Er wusste zwar nicht was mit ihm los war, aber ihm war klar, dass es etwas Ernstes war. Es konnte ja nicht normal sein, dass er sich manchmal Tage nach einem Konzert so überflüssig vorkam. So richtig unnütz und einfach nur taub.

Diese Traurigkeit und Taubheit konnte man auch in seinen Augen sehen. Und um sich aus dieser Spirale von Traurigkeit, Verzweiflung und Selbstvorwürfen zu befreien, hatte er angefangen Texte zu schreiben. Sie waren nicht besonders gut, das wusste er, aber für ihn dennoch ein wichtiges Ventil. Und wenn er sich heute einige der alten Texte durchlas, überkamen ihn wieder diese schmerzhaften Erinnerungen. So war es auch bei dem Text, den er schon die ganze Zeit in seinen Händen hielt. Es hatte keinen Titel, aber so war es eh bei den meisten Texten, die er schrieb. Für ihn war ein Titel nicht wichtig. Wichtig waren ihm nur die Worte – und die damit ausgedrückten Stimmungen:
 

Seh' zurück in dieses Loch,

Nur Abscheu, die mich frisst,

Will weitergehen, bleibe doch,

Vergangenheit verfolgt mich ewig...
 

Seh' zurück zu diesem Schein,

Heuchler, Blender kommen her

Ich soll gehorchen, mich verstellen,

Nur ihr Wille, der regiert...
 

Seh' zurück, kann's nicht ändern,

Vergangenheit zerfrisst mich hier,

Will nicht zurück zu diesen Blendern,

Will nur hier weg, nur fort...
 

Aber manchmal war es auch so, dass ihn die Worte nicht mehr erreichten. Sie prallten einfach an ihm ab. Aber war er denn wirklich so kaltherzig geworden? Nein, wahrscheinlich würde er von denmeisten Menschen eher als Sensibelchen bezeichnet werden.

Kiryu dachte nicht mehr gerne zurück an seine Kindheit. Und wäre die Band nicht da, würde er wohl mal wieder auf der Straße sitzen. Er war in keinem sehr guten Elternhaus aufgewachsen. Die meiste Zeit des Tages hatte er auf den Straßen Tokyos verbracht. Zu seinen Eltern hatte er nie ein gutes Verhältnis gehabt. Seit er ausgezogen war und auf eigenen Beinen stand, war es ihm finanziell zwar nie wirklich besser gegangen – eher das Gegenteil – aber er würde dennoch nie zurück wollen. Dafür war einfach zu viel passiert. Yuito war mit ihm im selben Wohnblock aufgewachsen. Sie hatten zusammen die Straßen Tokyos unsicher gemacht als sie noch zur Schule gegangen waren. Aber Yuito hatte ein weitaus besseres Verhältnis zu seiner Familie. Für Kiryu dagegen war die Band jetzt seine Familie.

Er schloss die Augen und lag jetzt ganz ausgestreckt auf seinem Bett. Die Tapete an den Wänden war an einigen Stellen schon verblichen. Ein Tisch mit zwei Stühlen standen gegenüber des Bettes an der Wand unter dem einzigen Fenster im Raum. Ein Bad hatte er auch noch, wenn man dieses Kabuff unbedingt so bezeichnen wollte. Darin befand sich auch so etwas wie eine Dusche, die fast den gesamten Raum einnahm. Aber er hatte fließendes Wasser und meistens auch Strom. Ein paar Tassen, Teller und Besteck gehörten auch zu seinem Inventar – alles sauber gestapelt im Fensterbrett. Der Kühlschrank stand direkt darunter. Ein Stück neben dem Bett stand noch ein Schrank. In ihm befanden sich seine ganzen Klamotten. Seine Wohnung war zwar nicht die

nobelste, aber sauber und ordentlich. Und er musste nur wenig Miete bezahlen.

Er wollte sich nichts vormachen, denn im Grunde lebte er immer noch in den schlechten Verhältnissen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte. Und Yuito? Der hatte es geschafft. Er hatte ein geregeltes Einkommen, eine schicke Wohnung und wie es aussah, jetzt auch noch eine Freundin. Alles Dinge, von denen Kiryu bis jetzt nur geträumt hatte. Ob er jemals so weit kommen würde, wie Yuito jetzt war? Er würde so gerne mehr aus seinem Leben machen.

Es klopfte an seiner Tür. Er setzte sich schnell auf seinem Bett auf und bat seinen Gast herein.

„Hi, Kiryu“, grüßte ihn Yuito auch gleich.

„Yuito! Was machst du denn hier?“

„Ich wollte einfach mal nach dir sehen. Hier.“ Yuito reichte Kiryu einen Plastikbeutel.

„Was würde ich nur ohne dich tun?!“

„Ich schätze, du würdest verhungern“, und dann schmiss sich Yuito neben Kiryu aufs Bett.

Kiryu bediente sich gleich mal an einem Sandwich. Er hatte tierischen Hunger. Aber Yuito wunderte das nicht – schließlich war Kiryu dauernd knapp bei Kasse.

„Du kannst mich aber nicht ewig mit durchfüttern“, brachte Kiryu zwischen zwei Bissen heraus. Yuito winkte nur ab: „Ist doch kein Problem.“ Aber Kiryu sah trotzdem nur betreten zu Boden.

„Habt ihr heute nicht Probe?!“, wechselte Yuito dann abrupt das Thema. Kiryu wollte eigentlich nicht darauf antworten. Aber dann sagte er mit einem Seufzen: „Ich wollte eigentlich nicht hin...“

„Nicht hin?!“ Kiryu hatte gewusst, dass Yuito so reagieren würde. Deshalb seufzte Kiryu erneut und nickte vorsichtig. Jetzt würde er sich wieder anhören müssen, dass es doch seine Band war, dass er nicht immer davon rennen könnte, dass er auch mal etwas durchhalten müsste... Und dazu gehörte nun mal auch zu den Proben zu gehen. Aber Kiryu musste sich diese Predigt jetzt schon so oft anhören, dass auch Yuito wusste, dass es jetzt sinnvoller war nichts zu sagen. Also seufzte Yuito einmal tief, stand auf und ging Richtung Tür. Kiryu sah ihm fragend nach, sagte aber keinen Ton. Yuito blieb aber noch einmal an der Tür stehen und drehte sich zu Kiryu um: „Was ist? Kommst du?“, und öffnete die Tür.

„Wohin?“

„Äh... zur Probe?!“ Aber Kiryus Antwort darauf war nur ein fragender Blick. Mit einem erneuten Seufzer ging Yuito zurück zu Kiryu, packte ihn am Arm und zog ihn zur Tür, mit der Begründung: „Du gehst da jetzt hin!“

Eine halbe Stunde später standen sie im Proberaum von Rising Phenix. Aber dieser Proberaum war eigentlich nur ein Keller. Doch zumindest würden sie hier niemanden stören. Als Kiryu und Yuito vor der Tür standen, drangen leise Geräusche durch. Sie probten wohl wirklich. Kiryu hatte ein schlechtes Gewissen... Aber umkehren konnte er jetzt nicht mehr. Außerdem konnte er nichteinfach verschwinden, solange Yuito noch bei ihm war. Die Musik verstummte, als Yuito die Tür öffnete. Taro drehte sich um als er merkte, dass jemand in der Tür stand.

„Kiryu! Bist ja doch gekommen“, sagte er schließlich. Er war nicht sehr begeistert Kiryu zu sehen.

„Hi, Leute“, brachte Kiryu nur heraus und trat noch ein paar Schritte auf sie zu.

„Ich geh dann mal...“ Und schon war Yuito wieder verschwunden.

„Wie kommt's, dass du hier bist, Kiryu?“, stichelte Taro.

„Jetzt lass es gut sein, Taro. Er ist da, also können wir auch weiter proben“, schlichtete Ryo. Haru schwieg. Kiryu wusste genau, dass es das beste wäre sich jetzt zu entschuldigen, oder zu schweigen. Er zog es vor zu schweigen.

Die ganze Zeit herrschte angespannte Stimmung. Die Probe verlief fast reibungslos. Aber das war nur ein äußerer Schein. Die Band kämpfte wieder einmal um ihre Existenz. Und diesmal schien es wirklich ernst zu werden. Nach der Probe blieb Kiryu noch etwas unschlüssig im Raum stehen.

„Ich... Leute, ich... äh...“, druckste er herum.

„Geh nur, Kiryu. Geh nur. Du warst ja schon immer ein Einzelgänger“, fing Taro wieder an.

„Jetzt lass es doch, Taro“, versuchte Ryo wieder zu schlichten.

„Nein, Ryo! Der Kerl soll endlich mal zu dem stehen, was er sagt! Ich meine...“

„Du glaubst ich würde nur weglaufen?“, unterbrach ihn Kiryu. Taro sah mit einem vernichtenden Blick zu Kiryu, der die Frechheit besessen hatte ihn so einfach zu unterbrechen. Aber dann fand er seine Sprache wieder und fuhr fort: „Ja! Ja, ich glaubte, dass du immer wegrennst. Du kommst kaum zu den Proben, du ziehst doch nur dein eigenes Ding durch! Du bist ein Einzelgänger, Kiryu!

Wieso hängst du eigentlich immer noch mit uns ab? ... Weißt du, manchmal zerfließt du regelrecht in Selbstmitleid. Und diesen ewigen Emo- Style kann ich langsam nicht mehr ab!“

„Taro, das reicht jetzt“, klinkte sich Ryo wieder ein.

„Er hat doch aber recht... “, gab jetzt auch Haru von sich. Ryo schien schon am Verzweifeln...

„Denkt ihr wirklich so von mir?“ Kiryus Frage war an alle drei gerichtet, was Ryo etwas verdutzte.

Taro schien schon wieder beleidigt. Und obwohl der Trotz in seiner Stimme mehr als deutlich heraus zu hören war, achtete Kiryu nur auf seine Worte: „Ja, das denke ich wirklich von dir!“ Damit wollte Kiryu nach draußen gehen. Aber an der Tür blieb er doch noch einen Augenblick stehen, als ob er wüsste, dass noch etwas wichtiges gesagt werden würde.

Emo- Style – Taro hatte damit nicht sein Äußeres gemeint. Das würde überhaupt nicht zutreffen. Taro hatte eher Kiryus Einstellung und seine Stimmungen gemeint. Er war zwar nicht depressiv, aber manchmal übermannte ihn einfach diese traurige Stimmung. Er wusste selbst nicht, seit wann genau er das hatte, aber zumindest wusste er seit einiger Zeit, dass es eine Vorstufe von Depression war. Einen Namen hatte die auch, aber den hatte er vergessen. Es war nicht ganz so heftig, aber dennoch nicht zu unterschätzen. Und ausgerechnet das störte Taro. Aber sollte er sich etwa verstellen, nur damit es nicht mehr so auffiel? Irgendwem würde es ja doch wieder auffallen. Und wenn er es schon versuchte, würde er ja doch nur wieder vor sich selbst davon laufen. Und das wollte er nicht mehr. Wenn ihm schon Yuito, und jetzt auch noch die Band vorwarf, er würde vor

allem und jedem – in erster Linie vor sich selbst – wegrennen, würde es wohl auch nicht so gut ankommen sich jetzt zu verstellen... Was er auch tat – es schien nie der richtige, nie SEIN Weg zu sein...

„Wir wissen, dass wir gut sind, Kiryu“, setzte Taro schon wieder an. „Auch ohne dich!“ Das hatte gesessen. Ryo und Haru sahen böse zu Taro. Aber dieser wich ihren Blicken nur aus, indem er weiter zu Kiryu sah. Er wusste, dass Ryo und Haru gleicher Meinung waren. Sie waren wirklich gut, und mit Kiryu als Sänger vielleicht sogar Spitzenklasse. Aber auch ohne ihn würde die Band

existieren. Aber ob sie genauso gut wären wie jetzt, wusste keiner von ihnen zu sagen.

Kiryu verließ ohne ein Wort den Proberaum. Haru wollte ihn noch zurückrufen, aber Ryo hielt ihn mit einem Kopfschütteln auf. Haru war sich allerdings nicht so sicher, ob es wirklich eine guteIdee war Kiryu jetzt allein zu lassen... Vielleicht würden sie es ja irgendwann bereuen...

Kiryu irrte durch die Straßen. Eigentlich benötigte er nur eine halbe Stunde zu Fuß zu seiner kleinen Wohnung. Jetzt war er schon über zwei Stunden in der Stadt unterwegs, aber das war ihm gar nicht klar. Er war die ganze Zeit ziellos umher gelaufen und bemerkte erst jetzt, dass es schon dunkel war. Er sollte wohl besser nach Hause gehen, aber da wartete auch niemand auf ihn. Er suchte sich den nächsten U-Bahnhof und wollte die erste Bahn nehmen, die er kriegen konnte. Er würde eh nicht vor Mitternacht Zuhause sein. Aber das war ihm jetzt auch egal. Sicher dachten alle, er wäre schon längst wieder Daheim. Auf der Treppe zu den Gleisen wurde er von einem älteren Mann angerempelt, aber Kiryu entschuldigte sich trotzdem schnell mit einem „Sorry“. Der Mann war kurz stehen geblieben und sah Kiryu etwas unschlüssig hinterher. Doch dann schien er eine Chance für Was-auch-immer zu sehen und folgte ihm wieder nach unten.

„Junger Mann“, hatte er ihm auf halben Wege hinterher gerufen.

„Ich hab doch gesagt, es tut mir Leid“, stieß Kiryu hervor. Aber sein Verfolger ließ sich damit nicht so einfach abschütteln.

„Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.“ Kiryu war stehen geblieben und drehte sich zu dem Mann um, der vier Stufen über ihm auf der Treppe stand. Sein Grinsen gefiel ihm nicht.

„Was wollen Sie?“ Es klang vielleicht etwas unhöflich, aber dieser Kerl schien sich an Kiryus ruppigem Ton nicht zu stören und grinste auch weiterhin dieses komische Grinsen. Als ob er etwas wüsste, das Kiryu verborgen blieb.

„Ihnen helfen!“, erwiderte er und stieg die Treppe langsam zu Kiryu nach unten. Der schwarze Anzug, den er trug, schien altmodisch, aber gut gepflegt. Er hatte graue, fast weiße Haare, die er streng nach hinten gekämmt hatte. Nur der Dreitagebart zerstörte den Eindruck des durch und durch gepflegten älteren Herren. Er war etwas kleiner als Kiryu, aber neben ihm hätte sich auch der größte Hüne noch klein gefühlt. Diese Augen gaben jedem das Gefühl ein kleines unbedeutendes Nichts neben diesem Mann zu sein.

„Wieso?“, fragte Kiryu nach einer kurzen Pause, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Er sah diesem komischen Alten die ganze Zeit in die Augen, auch wenn es ihm schwer fiel. Aber auch dieser Mann wich seinem Blick nicht aus. Es war, als ob sie kämpfen würden. Ein Duell, das nur mit den Augen ausgefochten wurde. Wer dem Blick des anderen zuerst auswich, hätte verloren.

„Weil du Hilfe zu brauchen scheinst.“

„Nein, danke. Kein Interesse“, erwiderte Kiryu darauf und wollte sich schon zum Gehen umdrehen. Aber dieser Mann hielt ihn zurück. Wie genau, konnte Kiryu danach nicht mehr sagen. Es war Kiryu ja nicht einmal aufgefallen, dass dieser Kerl in einer sehr vertrauten Form plötzlich mit ihm sprach. Als würden sie sich bereits kennen. Er wusste nur noch, dass etwas in ihm nicht

zuließ, dass er jetzt ging. Dieser Abend würde sein Leben verändern, das wusste er...

Verhandlungen mit allerlei Hindernissen

Es war kurz nach Mitternacht und er saß allein in einem U-Bahnwagon. Glücklicherweise hatte er noch einen Zug erwischt, der ihn direkt nach Hause bringen würde. Nachdem, was am Bahnhof passiert war, wollte er nicht noch stundenlang durch Tokyo laufen.

Ihm ging dieses Gespräch einfach nicht mehr aus dem Kopf:

    „Ohne einen Wink des Schicksals wirst du deine Ziele niemals erreichen“, hatte dieser komische Typ ihm versucht zu erklären.

    „Und das sollen Sie sein?!“, unterbrach ihn Kiryu. Der Typ ihm gegenüber zuckte die Achseln: „Nenn es wie du willst. Aber eins ist sicher: Ich kann dir helfen.“ Kiryu sah ihn als Antwort darauf nur fragend an.

    „Lass es mich so ausdrücken, Junge: Was immer du dir wünscht, ich kann dir helfen es zu bekommen: Geld, Ruhm... oder was auch immer du sonst willst.“ Die Augen dieses Kerls leuchteten merkwürdig auf. Kiryu glaubte etwas Rotes darin zu sehen.

    „Sind Sie etwa jemand, der Wunder wirken kann oder so? So ein zweiter Jesus?“

    „Nenn es, wie du willst, Junge.“ Sein Ton war immer noch ganz locker, aber Kiryu spürte, dass sein Gegenüber schon ungeduldig wurde. Aber er war zu müde und hatte daher keine Lust sich alles selbst zu denken. Der komische Typ seufzte und fuhr dann fort: „Weißt du, Junge, ich hab's nicht so mit dem Göttlichen. Da gibt es, wie ich finde, Besseres. Aber jetzt mal zum Geschäftlichen...“

     „Mo- Moment mal, ich hab Ihnen doch gar nicht zugestimmt“, unterbrach Kiryu schon wieder. Aber sein Gegenüber fuhr unbeirrt fort: „Aber du bist interessiert, oder?!“ Schon wieder war in seinen Augen dieses Leuchten zu sehen. War das Licht hier wirklich so komisch? Sahen seine Augen etwa auch rötlich aus hier unten? Doch Kiryu sah diesen komischen Kauz weiterhin nur fragend an.

Interessiert war er schon, und das sah man ihm auch an, es gab allerdings noch ein großes Aber...

    „Ist ja jetzt auch egal. Hör dir erst mal die Bedingungen an, dann kannst du dich immer noch entscheiden.“ Kiryu sagte wieder nichts darauf. Er befürchtete so langsam, dass jedes Wort von ihm eine Zustimmung sein könnte, egal wie er es auch meinte.

    „Die Laufzeit beträgt vorerst ein Jahr. Danach kannst du ja immer noch entscheiden, ob du weiter machen willst.“, Ein schmieriges Lächeln unterstrich seine Worte noch. Dieser Mann war brandgefährlich, wurde Kiryu jetzt klar.

Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein und ließ kein Wort zu. Kiryu hatte einen Augenblick Zeit nachzudenken.

   „Und was soll ich dafür tun?“, fragte Kiryu endlich. Allerdings hatte er jetzt Angst, dieser komische Typ könnte das als eine Einwilligung verstehen.

    „Du machst einfach weiter, wie bisher“, sollte Kiryu als Antwort genügen. „Aber ich verlange schon etwas mehr als ein Tschüss, wenn alles vorbei ist.“

    „Und wenn ich vorzeitig aussteigen will?“

    „Darüber verhandeln wir besser in meinem Büro. Komm doch morgen irgendwann, wenn du Zeit hast zu mir.“ Der Ton war immer noch äußerst freundlich. Dann reichte dieser komische Kauz Kiryu noch eine Visitenkarte und verschwand. Wohin genau, wusste Kiryu nicht zu sagen. Der Kerl war einfach verschwunden, während Kiryu die Karte wegsteckte. Und jetzt saß Kiryu allein in einem U- Bahnwagon und war fast Zuhause. Als er schließlich seine eigenen vier Wände betrat, war es fast um eins.

„Irgendwann, wenn du Zeit hast“, hatte dieser Typ gesagt. Aber ob er auch wirklich hingehen würde, wusste er jetzt noch nicht.

Er hatte es gerade noch geschafft seine Taschen zu leeren und ließ sich, so wie er war, auf sein Bett fallen. Er war in einen traumlosen Schlaf gefallen und war mehr als überrascht, dass er um kurz nach sechs wieder wach war. Er konnte nicht mehr schlafen, aus welchen Gründen auch immer. Also stand er auf, nachdem er sich noch eine Weile hin und her gewälzt hatte, ohne wieder einschlafen zu können. So früh am Morgen war in der Stadt noch nicht viel los. Er schlenderte durch die Straßen und wollte sich irgendwo eine Kleinigkeit zu Essen besorgen. Durch die Straßen Tokyos irrte er in letzter Zeit sehr oft. Meistens nur, um den Kopf frei zu kriegen. Danach würde er direkt auf Arbeit gehen, seine Schicht würde eh bald anfangen. Seinen Chef würde es zwar wundern, dass er schon so früh da wäre – schließlich bekam er kein Geld für seine Überstunden, aber er musste jetzt einfach raus hier.

  Man konnte allem möglichen entfliehen, aber nicht seinen eigenen Gedanken. Sie verfolgten einen, sie kamen immer wieder. Und seine Gedanken quälten ihn jetzt schon so lange. Immer und immer wieder zerbrach er sich seinen Kopf darüber, wie er der Band helfen konnte, ob sie nicht doch besser ohne ihn dran wäre... Und plötzlich hatte er die Chance, dass er seinen Bandkollegen wirklich helfen konnte. Wenn er es denn konnte.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Die Visitenkarte hatte er gestern achtlos weggesteckt, ohne sie sich genauer anzusehen. Die Frage war jetzt, ob er sie noch bei sich hatte oder zurück zu seiner Wohnung laufen müsste. Nachdem er sämtliche seiner Taschen durchsucht hatte, fand er die Visitenkarte allerdings. Dann sah er sie sich genau an: Dee. MONIO Cooperations

                                     »Wir können alles, so lange Sie

                                          auch bereit dazu sind!«
 

Kiryu stand die ganze Zeit mitten auf dem Fußweg. Einige Leute liefen verärgert murrend an ihm vorbei, andere rempelten ihn an. Kiryu ließ sich davon aber nicht stoppen, er ging nur einige Schritte zur Seite.

Der Slogan war ungewöhnlich. Aber nachdem, was Kiryu erlebt hatte, durchaus passend. Es war zwar ein gutes Stück von hier aus bis ins Zentrum von Shinjuku zu laufen, aber er ging trotzdem los. Das bisschen Kleingeld, das er bei sich hatte, wollte er nicht für den Bus oder die U-Bahn verschwenden.

Um 8:45 stand er vor dem Bürogebäude, in dem Dee. MONIO Cooperations saß. Irgendwie war es ja abzusehen, dass sie auch noch in einem der oberen Stockwerke des Hochhauses waren. Der Pförtner würdigte ihn nur eines kurzen Blickes, beschäftigte sich dann aber weiter mit seiner Zeitung. Und so schlenderte Kiryu zum Aufzug und ließ seine Gedanken ein wenig schweifen. Ein paar Minuten würde es schon dauern, bis er oben angekommen war. Kiryu wurde allmählich nervös. Es fühlte sich für ihn an, als wäre er auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch. Als Band waren sie bisher erst einmal vorgeladen worden. Ihnen war gesagt worden, dass die Chancen gar nicht so schlecht standen etwas von ihnen zu veröffentlichen. Damals hatte er sich nicht so unbehaglich gefühlt. Allerdings war er da auch nicht alleine. Jetzt war er dabei etwas zu entscheiden, das auch die Band betraf. Und das weckte sehr viel Unbehagen in ihm. Als er dann endlich vor dem Büro von diesem komischen Kauz stand, sah ihn seine Sekretärin genauso an, wie der Mann unten im Eingangsbereich. Es war ein Blick, der ausdrückte: „Du bist nicht mein Problem.“

    „Haben Sie einen Termin?“ Kiryu schüttelte nur mit dem Kopf. Die Sekretärin seufzte und forderte Kiryu auf, Platz zu nehmen.

    „Wen darf ich anmelden?“

    „Sugawa, Kiryu Sugawa.“

Erstaunt sah ihn die Sekretärin an, verschwand schnell im Büro, um kurz darauf auch wieder raus zu kommen. Dann bat sie Kiryu auch gleich hinein.

Von hier aus konnte man ganz Tokyo überblicken. Ein riesiger Schreibtisch dominierte den Raum, der von Grünpflanzen flankiert wurde, die fast bis zur Decke reichten. Der alte Mann saß hinter dem Schreibtisch und hatte mit etlichen Dokumenten zu tun. Er hatte nicht einmal aufgesehen, als Kiryu gerade einen Schritt in das Büro getan hatte und ihn auch schon mit: „Guten Morgen, Kiryu“ begrüßte.

Im Nachhinein kam es Kiryu schon seltsam vor, dass dieser Typ, Masahito Tanakawa war sein voller Name, gleich seinen Namen gewusst hatte. Kiryu hatte ihm seinen Namen jedenfalls nicht gesagt. Aber dennoch nahm er auch gleich Platz, als ihm ein Stuhl angeboten wurde.

Sie saßen sich jetzt genau gegenüber. Kiryu ließ Tanakawa nicht ein einziges Mal aus den Augen. Er konnte sich aber auch nicht so wirklich erklären, wieso er so misstrauisch war. Tankawa kümmerte sich noch um ein paar Verträge, wie es aussah. Dann wandte er sich endlich Kiryu zu: „So, da du dich entschieden hast herzukommen, vermute ich, dass du interessiert bist?!“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung. Kiryu sagte nichts darauf und sah Tanakwa einfach nur weiter an...

    „Gut, kommen wir gleich zum Geschäftlichen“ Wieder brachte Kiryu keinen Ton heraus. Er saß einfach nur da und tat nichts weiter, als den komischen Typen, den er gestern Nacht getroffen hatte, anzustarren. Was er hier tat, wusste er selbst nicht zu erklären. Aber eins war klar: Das hier war das unangenehmste Gespräch, das er je geführt hatte.

Tanakawa zog aus einem Papierstapel, wie es für Kiryu aussah, wahllos ein Blatt heraus und schob es vor Kiryu.

    „Ich hatte meine Sekretärin vorab schon einmal gebeten mir diesen Vertrag heraus zu suchen.“

    „Sie haben das schon mal gemacht?“, fragte Kiryu einfach dazwischen. Sein Misstrauen gegenüber Tanakawa ließ einfach nicht nach. Aber das war auch gut so – das wusste er. Wenn sein Misstrauen jetzt stärker war als letzte Nacht, würde er Tanakawa nie voll und ganz vertrauen. Sein Instinkt hatte ihn in dieser Hinsicht noch nie m Stich gelassen.

    „Ja, aber das ist inzwischen schon lange her.“ Wieder hatte Tanakawa dieses komische Grinsen im Gesicht.

    „Und was ist aus dem armen Schwein geworden?“ Eigentlich wollte er sich diese Frage nur im Geiste stellen. Jetzt war sie ihm doch raus gerutscht...

Tanakawa sah ihn kurz irritiert an, als ob er befürchtete, Kiryu könnte bereits zu viel wissen, antworte ihm aber nicht. Kiryu bohrte auch nicht weiter nach. Manchmal ließ sich das Ungewisse besser verkraften als die Wahrheit. Das hatte er gestern schließlich am eigenen Leib erfahren. Die Wahrheit konnte wehtun. Und zwar verdammt weh.

Er las sich den Vertrag einmal durch, dann noch einmal. Sollte das denn wirklich ein Vertrag sein?! Die Formulierungen waren an einigen Stellen mehr als zweideutig geschrieben. Zudem konnte er nicht wirklich erkennen, was er für die Vertragserfüllung tun musste. Also fragte er einfach nach: "Was soll das eigentlich mit 'Der Vertragspartner ist nicht aufgefordert seine Schuld dann zu begleichen, wenn es von uns gefordert wird, soweit eine Erfüllung von Seiten des Vertragspartners zu gegebenen Zeitpunkt nicht möglich ist. Sollte allerdings der Fall eintreten, dass ein Abschluss des Abkommens unausweichlich ist, müssen beide Vertragspartner, ob sie zu diesem Zeitpunkt in der Lage sind oder nicht, die Beziehungen beenden, soweit es die Bedingungen von Paragraph soundso fordern.' Heißt das, ich hab eine Frist oder so was?!“

    „Nein, nein“, und er lächelte das Lächeln eines Mannes, der einem kleinen Kind etwas ganz simples und allgemein Verständliches erklären würde. „Wenn ich eine Vertragserfüllung von dir fordere, und du kannst sie zu diesem Zeitpunkt nicht bringen, hast du Zeit, bis du so weit bist. Aber dann musst du erfüllen. Sollte allerdings einer der besonderen Fälle aus diesem Paragraphen eintreten, müssen wir beide den Vertrag erfüllen, egal ob wir wollen oder nicht."

    „Aha! Und hier: 'Die von Dee. MONIO Cooperations gebrachten Leistungen sind in jeder Hinsicht als Vertragserfüllung zu betrachten. Die vom Vertragspartner geforderten Leistungen müssen von Dee. MONIO Cooperations in jedem Fall erbracht werden. Laut Paragraph soundso, Absatz derundder hat Dee. MONIO Cooperations die Wünsche zu erfüllen. Bei besonderen Forderungen (siehe Faust' sche Klausel) sind die Bedingungen aus Paragraph soundso anzuwenden.

Die Vorstellungen des Vertragspartners zur Umsetzung des Vertrages müssen berücksichtigt werden.' Wenn so etwas hier drin steht, wie wollen Sie das dann umsetzen?“

    „Das ist ein Standartvertrag, Junge“, gab Tanakawa entnervt zurück.

    „Ich will das aber trotzdem wissen“, bohrte Kiryu ungeduldig. Kiryu hatte zwar nicht den besten Schulabschluss, aber er wollte sich auf keinen Fall übers Ohr hauen lassen. Tanakawa würde mit ihm nicht so leichtes Spiel haben. Das bemerkte dieser jetzt auch. Vielleicht würde er Tanakawa doch dazu bringen sein wahres Gesicht zu zeigen. Aber eigentlich glaubte er selbst nicht daran. Tanakawa war wohl eher ein Mensch, der andere aus der Reserve lockte.

Als Antwort bekam er schließlich: „Das wirst du dann schon sehen.“ Für Tanakawa war das Thema damit erledigt. Und auch Kiryu hörte jetzt auf zu bohren. Er würde hier ja doch nicht weiter kommen.

    „Die Details besprechen wir dann ein andermal“, wurde Kiryu vertröstet. Er saß da und sah zum Fenster hinaus. Ganz Tokyo erstreckte sich unter ihnen. Tanakawa wartete geduldig, bis er den Vertrag unterschrieb oder unverrichteter Dinge gehen würde.

„Also, Sie helfen mir, egal, was ich verlange?“

„So steht es im Vertrag, ja“, bekam er von Tanakawa schnell eine Antwort. Dann wurde Kiryu auch schon nach draußen geschickt.

Kaum hatte er den Vertrag unterschrieben und war aufgestanden, kam auch schon die Sekretärin ins Büro: „Darf ich Sie nach draußen bringen?“

So langsam kam Kiryu zu dem Schluss, dass ihn noch mehr dieser merkwürdigen Dinge erwarten würden. Deshalb machte er sich jetzt auch keine weiteren Gedanken über den Auftritt der Sekretärin. Er versuchte es zumindest. Doch bevor er Masahito Tanakawas Büro verließ, drehte er sich noch einmal zu ihm um und fragte: „Woher wussten Sie eigentlich wie ich heiße? Ich habe Ihnen nie meinen Namen gesagt.“

Tanakawa grinste schon wieder dieses überlegene Grinsen, wie bei ihrer ersten Begegnung und antwortete dann: „Weiß du, Kiryu, das Wichtigste über meine zukünftigen Klienten bekomme ich sehr schnell heraus.“

War es Kiryu nur so vorgekommen oder hatte sich die Luft bei diesen Worten um ein paar Grad abgekühlt? Ihm lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter.

Tanakawa war nicht zu unterschätzen, das stand fest. Wenn er doch nur wüsste mit wem oder was – er war sich nicht mehr so sicher wie gestern Abend noch, das alles hier vernünftig erklären zu können – er es überhaupt zu tun hatte. Aber in seinem Leben war schon zu viel schief gegangen, als dass er sich nicht an jeden greifbaren Strohhalm klammern würde. Und so verließ er mit einem tiefen Seufzer das Gebäude und trat hinaus auf die überfüllten Straßen Tokyos. Jetzt hatte er sich endgültig dem Kommerz unterworfen – seine Seele gehörte ab heute einem anderen...

Der verhasste Spitzname

Er hatte den Fußweg gerade betreten als Tanakawas Sekretärin ihm hinterher gerannt kam: „Herr Sugawa!“ Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sie hatte einen Zettel in der Hand und war leicht außer Atem.

    „Ihr nächster Termin“, sagte sie bloß, dann überreichte sie Kiryu den Zettel. In einer kleinen sauberen Schrift war „Do. 15:00 – Hr. Tanakawa“ darauf geschrieben. Kiryu bedankte sich nur kurz, aber die Sekretärin war schon wieder auf dem Rückweg. Also zuckte er die Achseln und wollte zur Arbeit.

Es kam, wie er es hatte kommen sehen: Kaum hatte er den kleinen, schummrigen Lebensmittelladen betreten, in dem er arbeitete, brüllte ihn sein Chef auch gleich an. Aber dieses Mal prallte das alles von ihm ab. Er war längst taub für das Gebrüll geworden. Und außerdem hatte er bereits gewusst, was passieren würde. Dass er allerdings auch gleich aus dem Laden geschmissen wurde, und das nicht nur im sprichwörtlichen Sinn, hatte er nicht ahnen können. Kiryu wurde hochgehoben und aus dem Laden geschmissen. Er hatte das seinem Chef gar nicht zugetraut. Die restlichen Angestellten sahen wortlos zu. Aber Kiryu war ihnen nicht böse. Mit diesem Choleriker wollte sich niemand anlegen.

Kiryu war schmerzhaft auf dem Hintern gelandet und noch während er wieder aufstand, musste er sich diese Schimpftirade weiter anhören. Ein paar Passanten hatten das ganze Schauspiel mitverfolgt. Eine Frau hatte Kiryu auch gefragt, ob er in Ordnung wäre.

Er hatte zwar mit einer Standpauke gerechnet, aber dass er direkt gefeuert werden würde, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Schließlich war er heute nur zehn Minuten zu spät zur Arbeit erschienen.

Sein Lohn wurde ihm noch ausgezahlt, aber eigentlich nur von der Frau des Ladenbesitzers nach draußen gebracht. Dann war die Sache endgültig erledigt. Die 5.500 Yen würden zwar schnell wieder aufgebraucht sein, aber das war ihm jetzt auch egal. Er hatte jetzt Besseres damit vor als zu sparen oder seine Miete endlich mal pünktlich zu zahlen. Und so zog er durch die Straßen Tokyos, kaufte sich einen Lebensmittelvorrat, ordentliche Kugelschreiber und Bleistifte, etwas Notenpapier und ein kleines Buch, in das er in Zukunft seine Texte schreiben wollte. Und schon war nur noch ein gutes Drittel seines Lohnes übrig. Damit machte er sich dann auf, nachdem er den Rest nach Hause gebracht hatte und ging in ein Internet- Café. Er wollte so schnell wie möglich irgendwo auftreten. Er musste einfach auf die Bühne. Denn aus irgendeinem Grund – vielleicht die Gewissheit, dass er bald auf der Straße sitzen könnte, wenn sie nicht bald Erfolg hatten oder er einen neuen, besseren Job fand – konnte er jetzt nicht tatenlos herum sitzen.

Als er so im Netz herum surfte, drifteten seine Gedanken allmählich ab. Er wollte sein eigener Herr bleiben, er wollte sich nicht verkaufen, seine Texte und die Band erst recht nicht. Und das würde er Tanakawa morgen auch sagen. Dieser Vertrag war nur eine Sache zwischen Tanakawa und Kiryu – sonst niemandem! Der Band wurde damit nur geholfen, mehr nicht.

Nachdem er seine Gedanken kurz hatte schweifen lassen, atmete er tief ein und konzentrierte sich dann wieder auf den Bildschirm vor ihm. War diese Adresse denn schon vorher da gewesen? Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern diese Seite aufgerufen zu haben. Aber was er dann so las, gefiel ihm. Er notierte sich schnell die Adresse und wollte auch gleich hingehen. Es war ganz in der Nähe. Doch als er so auf der Straße stand und im Kopf schon über die beste Route nachdachte, die ihn zu diesen Club bringen sollte, meldete sich sein Magen. Die restlichen 800 Yen wollte er jetzt aber nicht für sein Mittagessen ausgeben. Also ging er nach Hause, aß dort eine Kleinigkeit und wollte gerade wieder auf die Straße, als Yuito vor seiner Tür stand.

    „Was... äh... Was machst du denn hier?“

    „Ich war schon bei deinem Chef, aber der hat mir gesagt, dass er dich gefeuert hat. Da dachte ich mir, du kannst nur hier sein“, erklärte er und schmiss Kiryu etwas zu. Dieser konnte sich schon denken was es war, stellte es auf den Tisch und beachtete es nicht weiter.

    „Hast du gar keinen Hunger?“, fragte Yuito sichtlich überrascht.

    „Ich hab schon gegessen.“

Yuito war sprachlos.

    „Also, wieso bist du jetzt hier?“, versuchte er Yuito aus dessen Sprachlosigkeit zu helfen.

    „Ach so, ja!“ Aus seiner Hosentasche zog er einen Zettel, auf dem eine Adresse stand.

    „Die brauchen die nächsten Tage noch eine Band. Besser du gehst gleich hin.“

    „Ja, aber wo ist das? Und wo hast du die Adresse überhaupt her?“

    „Ich hab zufällig mitbekommen, dass einer unserer Kunden Stammgast dort ist. Und dann kam halt eins zum anderen.“ Yuito war wirklich ihr größter Fan. Kiryu wusste nicht was er jetzt sagen sollte.

    „Wir können auch gleich hingehen. Ich weiß, wie wir hin kommen“, erklärte Yuito. Denn schon als Kiryu die Adresse gesehen hatte, konnte er sie nicht richtig einordnen. Aber in Tokyo gab es unzählige Gassen und versteckte Winkel. Und wenn Yuito schon wusste wie sie dorthin kamen, wollte er sich diese Chance auch nicht entgehen lassen. Kurz darauf zogen sie auch schon los. Aber kaum hatte Kiryu die Wohnungstür abgeschlossen, hörte er auch schon Tippelschritte hinter sich.

    „Oh, nein“, flüsterte er. Das war jetzt wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt. Yuitos fragenden Blick sah er nicht, konnte ihn aber zwischen seinen Schulterblättern spüren. Aber noch ehe er auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, schrie eine Kinderstimme: „Kiri- nii-san!“

Yuito drehte sich zu der Kleinen um und hockte sich dann vor sie. Er wollte sie gerade begrüßen und fragen, wer sie überhaupt war, als sich die Kleine schon an Yuito vorbei zwängte und zu Kiryu ging.

    „Kiri-nii-san! Kiri-nii-san!“

Angesprochener seufzte nur und drehte sich dann zu ihr um: „Du sollst mich doch nicht so nennen, Hanako.“ Dann nahm er die Kleine auf den Arm und ging mit ihr den Gang hinunter. Yuito folgte unauffällig. Vor einer Tür ein paar Meter den Gang hinunter blieb Kiryu dann stehen. Für Yuito war nicht sofort klar wieso. Aber das wurde es, als Kiryu Hanako vor der Tür absetzte und anklopfte.

    „Frau Kyoura, ich bringe Ihnen Hanako.“ Keine Reaktion.

    „Frau Kyoura?“ Wieder nichts.

    „Mama ist nicht da.“ Überrascht sahen zuerst zu Hanako, dann sich an.

Vier Augen musterten das kleine Mädchen kritisch. Aber schließlich atmete Kiryu schwer aus und sah auf sein Smartphone. Er hatte wirklich eine Nachricht von Frau Kyoura erhalten – vor ein paar Minuten erst. Mit der Kleinen an der Hand ging er nach draußen. Er sollte mal wieder den Babysitter spielen. Heute war es allerdings wirklich kurzfristig...

Auf einem nahe gelegenen Spielplatz ließ er Hanako dann los und setzte sich auf eine der Bänke. Yuito blieb die ganz Zeit bei ihm. Auf Hanako auf zu passen, war er gewohnt. Ihre Mutter, im Übrigen auch seine Vermieterin, lieferte Hanako oft so kurzfristig bei ihm ab. Aber Hanako mochte Kiryu. Was Babysitter anging, war die Kleine sehr wählerisch. Kiryu war bis jetzt der Einzige, den sie nicht gleich vertreiben wollte. Frau Kyoura war so erleichtert, dass sie Kiryu auch nie allzu böse war, wenn er die Miete mal wieder nicht pünktlich zahlen konnte. Hanako war jedenfalls glücklich, dass Kiryu wieder auf sie aufpasste.

    „Kiri?!“, brachte Yuito dann lachend heraus. Kiryu sah stur gerade aus zu Hanako.

    „Sie konnte meinen Namen nicht richtig aussprechen und hat angefangen mich Kiri zu nennen...“

    „Man, wenn das die Jungs hören!“

    „Na, bloß nicht!“ Aber Yuito musste auf Kiryus Protest nur noch mehr lachen. Kiryu dagegen war weniger zum Lachen zu mute. Um auf andere Gedanken zu kommen, beobachtete er weiter Hanako.

Die Kleine hatte immer wieder zu ihnen gesehen, jetzt kam sie Freude strahlend zu ihnen gerannt: „Kiri-nii-san! Kiri-nii-san!“

    „Die hängt ja wirklich sehr an dir.“

    „Ja“, aber da half er Hanako schon, die dabei war an ihm hoch zu klettern.

    „Wo ist deine Mama überhaupt, Hanako?“, fragte er die Kleine stattdessen.

    „Die ist weg. Muss was erledigen, hat sie gesagt.“

    „Hat sie gesagt, wann sie wieder zurück ist?“

Kiryu konnte die Kleine alles mögliche fragen. Sie würde ihm immer erzählen, was er wissen wollte: „Heute Abend, hat sie gesagt.“ Kiryu fragte zwar nicht weiter nach und verbiss sich auch einen Kommentar, der ihm gerade auf der Zunge lag, aber er verdrehte trotzdem die Augen und seufzte innerlich tief. Yuito sah den beiden nur amüsiert zu. Er dachte schon, Kiryu hatte gesehen, dass er sich über ihn lustig machen könnte, aber anscheinend hatte Kiryu das gar nicht weiter mitbekommen.

    „Kann die Kleine mitkommen?“

    „Was? Wohin denn?“, fragte Yuito leicht verwirrt.

    „Na, zu... in diesen Club oder was das ist.“

    „Ach so, äh... ja, klar, ich denke mal, schon. Jetzt wird eh noch nicht so viel los sein, falls die überhaupt schon offen haben.“ Yuito war optimistisch wie immer.

    „Willst du jetzt auch gehen, Kiri-nii-san?“

Er verzweifelte innerlich fast. Wenn er es nicht bald schaffte diesen Spitznamen los zu werden, würde er den wohl sein ganzes restliches Leben tragen.

    „Du sollst mich doch nicht so nennen“, sagte er noch einmal mit einem tiefen Seufzen. Dann setzte er Hanako wieder auf dem Boden ab und stand auf.

    „Aber warum nicht, Kiri-niisan?“

    „Ich mag es einfach nicht.“

    „Aber warum?“ Irgendwann hatte es Kiryu aber aufgegeben der Kleinen erklären zu wollen, dass der Spitzname ihm peinlich war und einfach nicht zu ihm passte. Er war einfach zu... niedlich für einen Einundzwanzigjährigen, der Existenzprobleme hatte. „Kiri“ klang in seinen Ohren eher wie eine Beleidigung, wenn es nicht gerade von Hanako kam.

Kurze Zeit später waren die drei dann in Tokyo unterwegs. Yuito führte Kiryu durch einige schäbige Gassen. Kiryu war sich nicht mehr so sicher, ob es doch eine so gute Idee gewesen war Hanako mit hierher zu nehmen. Betrunkene torkelten ihnen entgegen – und das am frühen Nachmittag. Das gefiel ihm ganz und gar nicht und weckten böse Erinnerungen ihn ihm. Irgendwann aber erreichten sie eine heruntergekommen aussehende Hütte. Auf einem Schild, das schon bessere Tage gesehen hatte, stand 'Cracked Hell'. Der Name gefiel Kiryu schon mal gar nicht. Wenn der Laden genau das versprach, was auf dem Schild stand, konnte das ja noch heiter werden. Und ganz nebenbei stellte sich für Kiryu auch noch die Frage: Was hatte Yuito da bloß für Kunden?

    „Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Kiryu gleich, als sie vor der Tür stehen geblieben waren. Hanako hatte sich schon, als sie diese Gasse betreten hatten, an Kiryus Hand geklammert. Jetzt versteckte sie sich allerdings hinter Kiryu und krallte sich an seinen Hosenbeinen fest. Für eine Fünfjährige hatte Hanako wirklich schon einen ziemlich festen Griff. Wenn sie weiter so an seiner Jeans zerrte, die sowieso schon so Einiges hinter sich hatte, würde die den heutigen Tag wohl nicht mehr überleben. Das wäre dann zumindest ein echter destroyed Look.

Yuito klopfte kräftig gegen die Tür, aber es schien niemand da zu sein. Aber Yuito blieb trotzdem weiter vor der Tür stehen und wartete geduldig. Kiryu wollte sich schon umdrehen und gehen, als plötzlich die Tür aufging.

Ein riesiger Kerl mit einer Schürze, die sicherlich irgendwann mal weiß gewesen war, um den Bauch und einem hässlichen Bart – der Typ sah bestimmt nicht nur so ungepflegt aus – stand plötzlich vor ihnen.

    „Ist das der Junge?“, fragte er nur Yuito mit unglaublich tiefer Stimmer. Kiryu wurde einfach übergangen, Hanako genauso wenig beachtet. Oder der Kerl hatte sie einfach noch nicht bemerkt.

    „Ja, das ist er“, antwortete Yuito. Dann wurden sie herein gebeten.

    „Die Bühne hab ich erst vor ein paar Wochen vergrößern lassen. So langsam muss hier alles mal auf Vordermann gebracht werden“, erklärte er ihnen, während sie zur Theke gingen. „Vor allem du“, dachte sich Kiryu bei diesen Worten. Aber als Kiryu sich in dem Raum umsah, musste er erschrocken feststellen, dass diese Worte noch vorsichtig beschrieben, wie es hier wirklich aussah. Rauch und anderer Dunst hatte die Wände in eine undefinierbare Farbe getönt. Wenn es hier Fenster gab, waren sie wohl so dreckig, dass Licht keine Chance hatte hier einzudringen. Die Theke sah auch nicht besonders einladend aus, dazu noch das schummrige Licht von der Deckenbeleuchtung...

    „Meine Stammkunden sind jetzt auf diesem Trip junge Bands hören zu wollen, die noch nicht so bekannt sind. Die wollen wissen wie die Bands klingen, bevor sie richtig berühmt werden. Das ist so ein 'Kannten wir schon, bevor sie cool waren'-Ding. Aber soll mir recht sein, es bringt Abwechslung. Und da ihr ziemlich gut zu sein scheint, dachte ich mir, ihr könntet morgen hier auftreten. Eigentlich sollte 'ne andere Band hier auftreten, aber die haben abgesagt...“

    „Hier gefällt es mir nicht, Kiri-nii-san“, unterbrach Hanako den groben Kerl.

    „Was?“ Der Kerl drehte sich zu Kiryu um und entdeckte jetzt endlich Hanako.

    „Sag bloß, das ist deine?!“

    „Nei...“, setzte Kiryu zur Antwort an.

    „Na, wie auch immer. Kannst du oder kannst du nicht?“ Kiryu gefiel es hier auch nicht, aber das wollte er diesem Kerl so nicht sagen.

    „Ich glaube, ich rede vorher noch mal mit den Jungs...“ Eine gute Antwort, um seine eigene Meinung zu umgehen, fand Kiryu. Und außerdem musste er so oder so noch mit der Band reden. Wenn er jetzt einfach etwas über ihre Köpfe hinweg entscheiden würde, würden sie ihm das übel nehmen. Sehr übel. Es reichte schon, dass er im Alleingang einen Vertrag mit Tanakawa aushandelte.

    „Okay, dann ruf heute an, wenn du dich entschieden hast“, schnell kritzelte er noch eine Telefonnummer auf einen Zettel, dann schmiss er die drei fast raus.

Kiryu und Yuito sahen sich noch fragend an, dann gingen sie wieder zurück. Es würde vielleicht nur ein kleiner Auftritt für sie werden, aber er hatte ja noch diese andere Adresse. Da würde er heute auch noch hingehen. Yuito wollte er aber nicht dabei haben. Den genauen Grund dafür konnte er aber nicht benennen. Er hatte das komische Gefühl, dass Yuito ihn eher davon abhalten würde dorthin zu gehen. Hanako müsste er so oder so mit dahin nehmen, der Nachmittag hatte gerade erst angefangen und Frau Kyoura wäre so schnell nicht wieder Zuhause.

Das Herz der Dunkelheit

Es tat gut, endlich wieder auf den überfüllten und breiten Straßen Tokyos zu sein. Yuito hatte sich schon vorher von ihm verabschiedet, seinen Helm aufgesetzt und war davon gefahren. Als er endlich außer Sichtweite war, atmete Kiryu erleichtert auf. Er hatte das Gefühl er würde etwas Verbotenes tun. Nur die kleine Hanako würde Zeugin sein.

Und so gingen sie wieder ins Zentrum von Shinjuku. Sie blieben diesmal allerdings in diesem Teil der Stadt. Um Hanako in dem dauerndem Gedränge nicht zu verlieren, streckte er seine rechte Hand nach ihr aus. Die Kleine ergriff sie auch gleich. Die Blicke waren ab jetzt auf alle Fälle auf ihrer Seite. Aber das war Kiryu egal. Er sollte auf die Kleine aufpassen, und das würde er auch tun. Sollten die anderen doch denken, was sie wollten. Jetzt musste er sich erst einmal um diesen Auftritt kümmern.

Sie gingen an Kinos, Karaoke-Bars und Kneipen vorbei. Auf den ersten Blick sahen diese aber wesentlich einladender aus als 'Cracked Hell'. Shinjuku war aber auch ein Stadtteil, in dem viele Touristen unterwegs waren.

Er ging jetzt etwas langsamer. Hanako hörte auch gleich auf an seinem Arm zu zerren. Mit großen Augen sah sich Hanako die bunten Plakate, grellen Schilder und auffälligen Läden an. Als sie zu Kiryu aufsah, schien auch der sich seine Umgebung genau anzusehen. Aber Kiryu suchte nach diesem Club. In einer etwas ruhigeren Straße fand er ihn dann endlich auch. Aber selbst hier – weit ab von den Touristenzentren – sah es sauberer und lange nicht so schäbig aus wie in der Gasse, in der sich 'Cracked Hell' befand. Die Schilder über den Bars und Clubs waren hier weniger auffällig, aber trotzdem noch gut erkennbar. Hier schienen die Besitzer auch noch darauf zu achten, dass Touristen – falls sie sich doch einmal hierher verirren sollten – ein gepflegtes Äußeres sahen.

Tokyo war wirklich mehr als... abwechslungsreich. Und da war er heute nur in Shinjuku und Minato unterwegs gewesen. Vor einer Bar, die 'Yami no Kokoro' hieß, blieb er stehen.

    „Na, wollen wir rein gehen, Hanako?“ Sie nickte nur und versteckte sich wieder hinter Kiryu. Er klopfte einmal an und trat dann ein ohne herein gebeten worden zu sein.

Der Raum, den er betreten hatte, war dunkel. Dennoch konnte er erkennen, dass er sehr weitläufig war. Hier hatte wirklich viele Menschen Platz. Es roch nach dem abgekühlten Rauch einer Nebelmaschine. Die Bühne war, so wie die Theke und die Tische, nur zu erahnen. Er sah noch zwei Fenster, die zur Straße hinaus gingen, das war alles.

Ein Mann betrat den Schankraum und schaltete das Licht ein. Er war ungefähr so groß wie Kiryu und schien auch kaum älter zu sein. Seine dunklen Haare waren von hellen Strähnen durchzogen. Kiryu wusste nicht zu sagen, ob das gefärbt oder natürlich war – möglich war beides. Trotzdem sah es nicht so katastrophal aus wie bei anderen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht kam er auf sie zu: „Hi, ich bin Kaoru Karasuma .“ Er reichte Kiryu die Hand, der sie auch gleich ergriff: „Kiryu Sugawa.“

    „Und du bist...?“, wandte sich Kaoru an Hanako. Aber Hanako versteckte sich weiterhin hinter Kiryu. Normalerweise war Hanako nicht so zurückhaltend. Der Kerl in 'Cracked Hell' hatte ihr Angst gemacht, weshalb sie sich die ganze Zeit hinter Kiryu versteckt hatte. Dieser Kaoru war aber das genaue Gegenteil. Angst dürfte sie eigentlich nicht haben. Es sei denn... Kiryu nahm eine mentale Abwehrhaltung ein. Vielleicht war es wirklich besser hier ebenfalls misstrauisch zu bleiben.

    „Das ist Hanako.“

Kaoru ging hinter die Theke und fragte gleich, was sie trinken wollten. Aber Kiryu ging gar nicht auf diese Frage ein, setzte Hanako auf einen der Barhocker und stellte sich neben sie.

    „Was kann ich sonst für euch tun?“

Kiryu sah Kaoru prüfend an.

    „Ich habe das hier gefunden“, sagte Kiryu und schob Kaoru einen Zettel zu.

    „Oh, du spielst in 'ner Band?!“ Kiryu nickte nur zur Antwort. Hanako hatte inzwischen einen Saft bekommen und sah sich interessiert von ihrem erhöhten Punkt aus im Raum um.

    „Was spielt ihr so?“ Inzwischen hatte Kaoru angefangen ein paar Gläser zu polieren, während er sich mit Kiryu unterhielt.

    „Hardrock, Punk, ein bisschen Metal, ...“

    „Seid ihr ne Coverband oder spielt ihr auch eigene Songs?“

    „Wir spielen auch eigen Songs. Aber wir können uns nach euch richten, was die Songauswahl betrifft.“

    „Okay... ähm... “ Kaoru schien zum ersten Mal ernsthaft überlegen zu müssen, was er als nächstes fragen sollte.

    „Wenn wir hier auftreten dürfen, müsste ich aber noch mal mit den Jungs reden.“

    „Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Ich glaube, die würden gerne hierher kommen“, sagte Kaoru locker und grinste schief. Bildete sich Kiryu das nur ein oder hatten die Augen von diesem Typen wirklich kurz rot aufgeleuchtet?

   „Hier, geht aufs Haus.“ Kiryu wurde ein Glas zugeschoben.

    „Und Hanako?“

    „Das auch. Die kleine Lady muss nicht zahlen“ und zwinkerte ihr zu.

Kiryu gefiel das nicht. Das lief gerade zu glatt. Außerdem fühlte er sich bei diesem Kaoru inzwischen ähnlich wie bei Tanakawa. Kaoru schien etwas Entscheidendes vor Kiryu zu verbergen. Und Kiryu hatte das Gefühl, dass ihn Kaorus Großzügigkeit in eine Falle locken sollte. Und obwohl er keinen Ton heraus brachte, hätten seine Blicke töten können. Er mochte Kaoru nicht, aber Kaoru kümmerte das wenig.

    „Was habt ihr so für Texte? Schreibst du sie?“

Dieser Kerl stellte immer genau die richtigen Fragen, um abzulenken. Kiryu beschloss jetzt einfach, dass er diesem Kerl nicht trauen würde. Genau wie Tanakawa. Diese beiden schienen ja eh vom gleichen Schlag zu sein: Charmant, intelligent und gefährlich.

    „Also, ja, die Texte schreibe ich. Das kann alles Mögliche sein, was mich halt beschäftigt. Aber nicht so was wie... keine Ahnung – Armut in Indien oder Umweltverschmutzung in den Industrieländern. Das Gesellschaftskritische ist nicht so meins.“

    „Okay, das wollen hier eh nicht so viele hören“, und grinste Kiryu wieder so schief an. „Hört man ja eh immer irgendwo. Ihr könntet am Samstag auftreten, wenn ihr Zeit habt. Wir zahlen gut.“ Dieses Grinsen wurde er heute wohl nicht mehr los.

    „Wie gesagt, ich muss erst noch mal mit den Jungs reden.“

Das war nur eine dumme Ausrede gewesen. Und Kaoru schien es bemerkt zu haben. Er sah Kiryu nicht mehr in die Augen und konzentrierte sich stattdessen auf das Glas in seiner Hand. Eine Schweigepause entstand zwischen ihnen. Kiryu begann sich jetzt auch hier umzusehen.

    „Die ersten Gäste kommen so gegen 21:00“, platze Kaoru dann heraus. Kiryu sagte nichts weiter darauf.

    „Wir gehen jetzt besser. Komm, Hanako“, sagte Kiryu unvermittelt. Er nahm die Kleine vom Barhocker und ging mit ihr nach draußen.

    „Du weißt ja, wo du uns findest. Meld dich dann einfach.“ Er winkte Kiryu noch zu, aber das hatte er nicht mehr gesehen. Und deshalb bekam Kiryu auch nicht mehr mit wie Kaoru sein Smartphone aus der Tasche zog und jemanden anrief.

Hanako hatte sich immer wieder zu Kaoru umgedreht. Sie ahnte, dass es etwas mit Kiryu zu tun hatte, konnte es aber nicht einordnen.

Kiryu rief Haru, Ryo und Taro an, kaum dass sie wieder auf dem Weg nach Hause waren. Sie würden noch zu ihm kommen. Aber erst am später. Also suchte Kiryu Stifte und das Buch zusammen und ging mit Hanako wieder auf den Spielplatz, auf dem sie heute schon einmal waren. Er hatte diese Melodie schon seit gestern im Kopf. Jetzt würde er mal versuchen einen Text dazu zu finden. Hanako würde er auch im Blick behalten können.

Wenn Hanako sagte, dass ihre Mutter abends zurück käme, konnte das heißen, sie konnte schon um sieben oder erst um elf zurück sein. Aber darüber zerbrach sich Kiryu jetzt nicht den Kopf. Die Zeit bis dahin würde er schon noch rumkriegen. Es war kurz nach fünf, als die Jungs zu Kiryu kamen. Kiryu rief auch gleich nach Hanako und sie gingen zusammen in Kiryus Wohnung.

    „Oh, du darfst wiedermal Babysitter spielen?“, hatte ihn Taro begrüßt.

Taro hatte sich gleich auf den einzigen freien Stuhl in der Wohnung gesetzt. Haru und Ryo schmissen sich aufs Bett. Hanako kletterte auch gleich zu ihnen. Kiryu blieb stehen und sah sie ernst an.

    „Jetzt komm schon, Kiryu. Was ist los?“ Taro sah sich auch gleich im Zimmer um und fand das Notizbuch.

    „Oh, du hast jetzt ein Poesiealbum?“

Wie immer war Taro ziemlich bissig zu Kiryu. Aber Kiryu ging gar nicht weiter darauf ein.

    „Du hast 'n neuen Song?“, fragte Ryo stattdessen.

Kiryu nahm das Notizbuch an sich, warf Ryo ein „Ja“ entgegen und wollte dann auf den Grund für ihr Dasein zu sprechen kommen.

    „Lies den Text doch einfach mal vor“, bohrte Ryo weiter.

    „Ich werde hier und jetzt garantiert nicht anfangen zu singen.“

    „Nicht singen, einfach nur den Text vorlesen“, erklärte Ryo.

Mit einem Seufzer schlug Kiryu das Buch auf, sagte: „Also, es heißt 'Herz der Dunkelheit'“ und begann laut vorzulesen:
 

    Diese Tage, lang und schwer,

    Schon vorbei und doch nicht weg,

    Versuch zu sehen, doch so sehr

    Ich's versuch, bloß bleibt ein Schreck!
 

    Schwer mein Herz, so sehr wie nie,

    Schlägt fast taub, ertrag ich kaum,

    Doch kann nichts tun und weiß nicht wie

    Ich dieses Herz bezwinge...
 

    Hindernisse hier und da,

    Trau mich nicht allein zu gehen,

    Verzweifle fast, es ist DOCH wahr,

    Doch will ich fliehen, nicht vergehen...
 

Es war nicht das Lied, das er schon seit Tagen im Kopf hatte. Aber auch dieser Text hatte große Bedeutung für ihn. Es war nicht irgendein Text zu irgendeiner Melodie. Das hier war sein ganz eigener Text. Ob es jemals eine Melodie dazu geben würde, wusste er jetzt noch nicht. Er konnte es sich auch noch nicht wirklich vorstellen... Sie hatten alle gebannt zugehört. Selbst Hanako hatte ihn nicht unterbrochen.

Kiryu war sich nicht sicher, ob dieses Gedicht auch wirklich gut war. Ryo hatte seine Texte bis jetzt so oft verfeinert. Aber da hatten sie auch immer schon eine Melodie gehabt. Diesen hier wollte er genauso lassen, wie er jetzt war. Es sollte nicht verändert werden – nicht ein einziges Komma.

Als er zu ende gelesen hatte, sah er jedem ins Gesicht. Er wollte wissen wie sie den Text fanden. Aber er konnte nur Verblüffung in ihren Augen sehen. Sogar bei Taro.

    „Das war schön“, unterbrach Hanako schließlich die kurze Stille.

    „Klang gar nicht mal so schlecht“, räumte auch Taro ein. Aber Kiryu wollte unbedingt Ryos Meinung hören. Als dieser aber gerade dazu ansetzen wollte etwas zu sagen, klopfte es an die Tür und eine Frau trat ein, ohne vorher herein gebeten worden zu sein. Aber Frau Kyoura durfte das.

    „Guten Tag, Kiryu. Ich hoffe ich störe nicht?“

    „Aber Sie doch niemals, Frau Kyoura“, schmeichelte ihr Kiryu. Die anderen Bandmitglieder begrüßten sie nur höflich und schwiegen dann. Sie wussten, was diese Frau mit ihnen anstellen würde, wenn sie ihr gegenüber unhöflich oder gar respektlos werden würden. Sie hatten schließlich schon das ein oder andere mal mit ihr zu tun gehabt. Und Frau Kyoura achtete sehr auf Höflichkeiten. Deswegen traute sich niemand von ihnen sie zu unterbrechen und einen Rauswurf zu riskieren.

Frau Kyoura war eine kleine Frau von einem Meter fünfzig. Sie hatte kurze, gelockte Haare und war... kräftig gebaut. Und durch ihre Frisur wirkte ihr Gesicht nur noch runder. Sie war Ende dreißig und streng mit ihren Mietern. Regeln mussten eingehalten werden, war ihr Wahlspruch. Sonst ginge hier alles nur drunter und drüber. Aber wen sie erst einmal in ihr Herz geschlossen hatte, würde von ihr nicht enttäuscht werden. Wer ihr Vertrauen genießen durfte, würde als Mieter von ihr ein gutes Leben haben – so wie Kiryu.

Nachdem Kiryu Frau Kyoura versichert hatte, dass es ihm keine Umstände gemacht hatte auf Hanako auf zu passen oder es wirklich kein Problem für ihn war, dass es so kurzfristig war und dass Hanako ihm keine Probleme gemacht hatte, drehte sie sich zur Tür um und ging. Er Hatte ihr mehrmals versichert, dass er immer wieder gerne auf Hanako aufpassen würde, was Taro dazu veranlasste sich ein Lachen zu verkneifen.

    „Immer wieder eine Freude deine Vermieterin zu treffen“, brach es schließlich aus Taro heraus, kaum dass Frau Kyoura gegangen war.

    „Ja, aber jetzt mal zurück zu deinem Text“, wandte Ryo ein.

    „Der war gut“, bestätigte Haru noch einmal.

    „Wirklich?“

    „Wir sind jetzt aber nicht hier wegen diesem Text, oder?“ Taro war wiedermal unruhiger, als er zeigen wollte. Aber das kannten die Jungs so von ihm.

    „Nein, ich hatte da was gefunden.“ Wieder sah Kiryu jedem einzelnen in die Augen. „Ich hätte da was. Für morgen Abend!“

    „Ja und? Hast du zugesagt?“, unterbrach ihn auch gleich Taro.

    „'Cracked Hell' war nicht wirklich... naja, das war ein Rattenloch.“

    „Hast du dann noch was anderes?“, fragte Ryo gleich.

    „Ja, der Laden heißt 'Yami no Kokoro'. Angeblich wurde dort Jille entdeckt.“

    „Und? Wo ist das Problem?“, schaltete sich Taro wieder ein.

    „Auf den ersten Blick nicht schlecht. Nur der Typ da war komisch...“ Er fand nicht die richtigen Worte, um den Jungs zu erklären, dass er bei diesem Barkeeper das gleiche Misstrauen hatte wie bei Tanakawa. Die Jungs wussten ja nicht einmal, dass er einen Vertrag mit Tanakawa aushandelte und dass ihrer aller Zukunft wohl davon abhing... Nein, es sollte eine Sache zwischen ihm und Tanakawa bleiben. Deswegen fing er auch gar nicht damit an sein Misstrauen erklären zu wollen.

    „Ach, wenn sogar Jille dort war, kann es dort doch nicht so schlecht sein?!“ Taro war wie immer zuversichtlich.

    „Kann ich dem echt zusagen?“

    „Ja, mach nur. Und das mit 'Cracked Hell'... “, begann Ryo.

    „Wann sollen wir da auftreten?“, fragte Taro ohne auf die anderen zu achten.

    „In 'Cracked Hell' gleich morgen. Und im 'Yami no Kokoro' am Wochenende. Ich schätze mal Samstag.“

    „Ich kann morgen Abend nicht“, wandte Haru ein.

Haru arbeitete in einem Hundert-Yen-Laden. Er musste zum Glück nicht oft abends oder am Wochenende arbeiten. Das machte es leichter solche mehr oder weniger spontanen Auftritte annehmen zu können. Aber es war trotzdem schon vorgekommen, dass Haru erst verspätet zu einem Auftritt kam.

Ihr großes Glück war, dass sie bisher nur in Tokyo aufgetreten waren und Haru deshalb keinen allzu weiten Weg hatte. Die Wochenenden hielt er sich auch meistens frei. Aber Kiryu atmete trotzdem auf, als Haru das sagte. Er wollte nicht zurück in diese... „Hölle“!

    „Dann sag ich dem Typen für morgen ab. Aber was machen wir mit 'Yami no Kokoro'? Habt ihr dann Zeit? Oder soll ich da auch absagen?“

    „Nein, wieso denn?“, stellte Ryo die Gegenfrage. „Vielleicht ist es da gar nicht mal so übel. Wenn da sogar den Jille entdeckt wurde?!“ Ryo war ein Fan von ihr – wenn man das denn so sagen wollte. Es war eher so, dass er fasziniert war von Jilles Karriere. Es war wirklich eine Traumkarriere. Vom unbekannten kleinen Sternchen war sie zum internationalen Star aufgestiegen. Und ein Abstieg war noch lange nicht in Sicht.

Kiryu nickte ihm nur stumm zu. Damit wäre das jetzt auch geklärt.

Plötzliche Verwandtschaft

Als Kiryu an diesem Abend im Bett lag, musste er wieder an seine erste Begegnung mit Hanako und Frau Kyoura denken.

Er wohnte jetzt fast ein Jahr hier. Durch Zufall hatte er diese Wohnung gefunden. Am Tag seines Einzuges hatte irgendwann ein kleines Mädchen angefangen ihn zu beobachten. Und als er dabei war seine Sachen einzuräumen, kam dieses Mädchen einfach in seine Wohnung – die Tür hatte die ganze Zeit offen gestanden, weil er immer wieder Kisten raus und wieder rein räumte – und setzte sich auf sein Bett.

„Hör mal, Kind, du gehst besser nach Hause.“ Kiryu war nicht gerade freundlich gewesen. Als Yuito und Haru noch anwesend waren, hatte sie sich bloß bis zu seiner Wohnungstür getraut. Aber kaum waren sie weg, war sie mutiger geworden.

„Wie heißt du?“, fragte das Mädchen stattdessen. Kiryu seufzte, sagte ihr dann aber seinen Namen.

„Ich heiße Hanako.“

„Schön, und jetzt geh nach Hause.“ Doch Hanako ließ sich so einfach nicht vertreiben. Sie erzählte Kiryu, dass sie mit ihrer Mutter nebenan wohnte, dass ihre Wohnung größer war als Kiryus und vieles andere, bei dem Kiryu schon gar nicht mehr zuhörte. Er war langsam genervt, sortierte aber weiter seine Sachen ohne etwas zu sagen. Nach und nach konnte er immer mehr leere Kisten vor die Tür stellen.

„Hast du schlechte Laune?“, fragte ihn Hanako dann unvermittelt. Kiryu seufzte erneut, dann antwortete er: „Ich habe zu tun. Warum gehst du nicht nach Hause? Deine Eltern suchen dich doch bestimmt?!“ Doch er bekam keine Antwort. Also hielt er in seiner Tätigkeit kurz inne und sah zu Hanako. Die Kleine fragte fast weinend: „Warum bist du böse auf mich?“ Da hatte er ja etwas angerichtet.

Kiryu war überfordert. Was sollte er denn jetzt machen? Kurzer Hand hockte er sich vor Hanako und sprach auf sie ein: „Hey, nicht weinen. Ich bin nicht böse. Ich muss einfach nur...“ Er seufzte erneut, dann reichte er Hanako ein Tetrapack Kakao. Sie nahm es dankbar an und beruhigte sich schnell wieder. Zum Glück hatte sich Haru ein paar Päckchen Kakao mitgebracht. Und zu Kiryus noch größerem Glück hatte er die restlichen bei ihm gelassen.

Kurz darauf klopfte jemand an seine Wohnungstür. Als Kiryu öffnete, stand er einer kleinen Frau gegenüber. Hanako lief sofort freudestrahlend auf sie zu.

„Oh, entschuldigen Sie vielmals. Mein Name ist Hitomi Kyoura. Hanako hat Ihnen hoffentlich keinen Ärger gemacht? Ich war kurz eingenickt, da hat sie sich aus der Wohnung geschlichen.“

„Nein, keine Sorge“, antwortete ihr Kiryu schnell. Dann verabschiedete er sich von Frau Kyoura und Hanako so schnell es ging. Er hatte keine Lust auf Smalltalk.

„Bis bald, Kiri-nii-san“, rief ihm die Kleine beim Gehen noch zu. Kiryu fürchtete, dass er noch öfter das Vergnügen haben sollte auf Hanako aufzupassen. Doch im Moment war er einfach nur erleichtert wieder allein zu sein.
 

Frau Kyoura stand vor seiner Tür. Sie schien in Eile zu sein. Hanako hielt sie an der Hand.

„Herr...“, sie warf schnell einen Blick auf sein Türschild. „Herr Sugawa, könnten Sie kurz auf Hanako aufpassen? Der Babysitter hat mir abgesagt und...“

„Kiri-nii-san, du passt heute auf mich auf, ja?“ Hanako schien diese Entscheidung bereits getroffen zu haben.

Kiryu nickte nur stumm, Hanako ging sofort in seine Wohnung und setzte sich aufs Bett.

„Vielen Dank, Herr Sugawa. Ich versuche in einer Stunde wieder da zu sein“, sagte ihm Frau Kyoura noch, dann verschwand sie.

Kiryu kratzte sich am Hinterkopf und ging ratlos zu Hanako. In einer Stunde... Was sollte er denn die ganze Zeit machen? Eigentlich wollte er den Nachmittag nutzen, um sich nach einem Job umzusehen. Nach einem Aushilfsjob könnte er auch direkt in einem Café oder Laden fragen. Aber das musste erst mal warten.

Hanako sah sich in Kiryus winziger Wohnung um, dann stellte sie fest: „Dein Zimmer sieht leer aus, Kiri-nii-san.“ Er und Hanako musterten sich einen Augenblick gegenseitig.

„Ich bin ja auch erst letzte Woche hier eingezogen.“

Er wusste immer noch nicht wie er die Zeit, bis Frau Kyoura wieder da war, totschlagen sollte. Doch Kiryu musste sich darüber keinen Kopf machen, weil sich Hanako hingelegt hatte und fast eingeschlafen war. Er deckte sie zu und setzte sich dann an den Tisch. Dann würde er sich jetzt eben um den liegengebliebenen Papierkram kümmern.

Eineinhalb Stunden waren vergangen, bis es wieder an Kiryus Tür klopfte. Hanako schlief noch, also stand er vorsichtig auf, um zur Tür zu gehen.

„Herr Sugawa, ich hoffe, Hanako hat Ihnen keine Probleme bereitet. Sie ist manchmal etwas... wählerisch bei ihren Babysittern.“

„Naja, sie hat eigentlich die ganze Zeit geschlafen.“ Eine sehr überraschte Frau Kyoura sah ihn an. „So? Wo ist sie denn?“ Kiryu bat sie herein. Hanako blickte beide aus verschlafenen Augen an.

„Hallo, mein Schatz. Komm, wir gehen nach Hause.“

Als Frau Kyoura wieder Kiryu gegenüberstand, Hanako auf dem Arm haltend, sagte sie noch einmal: „Vielen Dank, Herr Sugawa. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.“

„Ach, kein Problem, wirklich“, erwiderte er verlegen.

So vergingen die Wochen. Kiryu hatte immer wieder auf Hanako aufgepasst. Meistens lief es so ab wie an jenem ersten Nachmittag. Oder aber Hanako erzählte pausenlos über alles Mögliche. Es schien ihr egal zu sein, ob Kiryu richtig zuhörte. Aber einmal, als er über einem neuen Text brütete, kletterte sie plötzlich auf seinen Schoß und fragte mit Blick auf das Blatt: „Was machst du da?“

„Ich schreibe...“, sagte er, unschlüssig, was er sonst darauf hätte antworten sollen. Hanako konnte weder lesen noch schreiben, schließlich war sie erst fünf Jahre alt. Und bis sie Kanji lesen könnte, würde es noch viele Jahre dauern. Aber diese düsteren Texte wollte er ihr auch nicht vorlesen...

„Mama schreibt auch viel. Aber das da sieht anders aus als das von Mama“, stellte sie fest. Kiryu wusste immer noch nichts zu antworten, deshalb wechselte er das Thema: „Hast du Lust raus zu gehen?“ Schnell bejahte sie es, sprang auf ihre Füße und rannte zur Tür. Kiryu lief ihr nach, schnappte sich im Gehen seine Schlüssel und ging mit Hanako nach draußen. Er würde heute ja doch nicht mehr dazu kommen seinen Text zu überarbeiten.

Als Kiryu und Hanako wieder zurückkamen, erwartete sie bereits Frau Kyoura.

„Ah, Herr Sugawa – Kiryu, kann ich gleich noch mit Ihnen reden?“

„Ja, klar“, sagte er bloß darauf. Ein paar Minuten später stand Frau Kyoura wieder vor seiner Tür. Diesmal ohne Hanako.

„Kiryu, es geht im Ihre Miete.“ Kiryu ahnte Schlimmes. Er war mit der Miete im Rückstand. Und dadurch, dass er nur einen Aushilfsjob hatte, würde das wohl noch öfter vorkommen. Er konnte mit Geld einfach nicht gut umgehen... Mit dem wenigen, das er hatte, erst recht nicht.

„Sie sind mit der Miete im Rückstand.“

„Ja, ich weiß. Es ist nur...“

„Keine Sorge, Kiryu. Ich will Ihnen ein Angebot machen“, erklärte sie nüchtern.

Das Angebot bestand darin, dass Kiryu ab und an auf Hanako aufpassen sollte. Manchmal auch kurzfristig. Im Gegenzug müsste er nichts zu befürchten haben, wenn er die Miete einmal nicht pünktlich zahlen konnte. Kiryu fand das Angebot verlockend, wollte aber dennoch wissen wieso er es überhaupt bekam.

„Hanako ist gegenüber ihrer Babysitter immer sehr schwierig. Bei Ihnen allerdings... Sie betrachtet sie quasi als ihren Bruder. Normalerweise ist sie nicht so. Glauben Sie mir, sie hat schon mehr Babysitter vertrieben, als Sie ahnen.“ Kiryu bekam eine Ahnung, was der wirkliche Grund für Frau Kyouras Anfrage vor einigen Wochen war. Der Babysitter hatte vielleicht nicht kurzfristig abgesagt, sondern Frau Kyoura hatte einfach niemanden finden können, der auf Hanako aufpasste? Aber das waren nur Kiryus Vermutungen.

„Ja, das habe ich gemerkt.“

„Bitte tun Sie mir den Gefallen“, wurde der Ton von Frau Kyoura fast flehend.

„Lassen Sie mich darüber nachdenken, okay?“

„Na gut. Aber bitte nicht zu lange, ja?“

Kiryu würde ihr morgen, bevor er zur Arbeit ging, sagen wie er sich entschieden hatte. Am liebsten hätte er zwar sofort zugesagt, aber etwas hielt ihn zurück. Bis jetzt waren Hanako und er gut miteinander ausgekommen. Im Grunde stand einer Zusage nichts im Wege. Nachteile hätte er davon jedenfalls nicht.
 

Kiryu saß im Wohnzimmer von Frau Kyoura. Hanako schlief neben ihm auf dem Sofa. Als sich die Wohnungstür öffnete, trat Frau Kyoura auch gleich mit einer Entschuldigung ein: „Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Diese Versammlungen ziehen sich immer so in die Länge.“

„Hallo, Frau Kyoura.“, antwortete er bloß darauf. Dann trat er ihr auch schon entgegen.

Er hatte den ganzen Abend auf Hanako aufgepasst. Irgendwann war sie auf dem Sofa eingeschlafen und er konnte sich um einige Texte kümmern. Bei manchen war immer noch der Wurm drin. Sie klangen... nicht flüssig.

Da Frau Kyoura in mehr als einem Haus Wohnungen besaß, musste sie das auch verwalten. Es kam oft kurzfristig zu Terminen, die dann auch bis in die Nacht dauerten. Für Kiryu war das meistens kein Problem. Wenn Frau Kyoura abends einen dieser Termine hatte, passte Kiryu immer in Frau Kyouras Wohnung auf Hanako auf. Es war schon eine merkwürdige Beziehung zwischen ihnen dreien. Da es bis jetzt aber noch keine Nachteile für Kiryu gegeben hatte, beschwerte er sich auch nicht.

Von der Band wusste niemand von seinem Babysitter-Job. Wenn er auf Hanako aufpassen musste und die Band wollte proben, sagte er ihnen, dass er arbeiten musste. Es war zwar nicht sein eigentlicher Job, ganz falsch war die Aussage aber auch nicht. Er scheute sich davor den anderen zu sagen, dass er ab und zu auf Hanako aufpasste. Wieso das so war, konnte er allerdings nicht sagen. Vielleicht aus Angst, dass sie sich über ihn lustig machen würden: Er, der sein eigenes Leben kaum auf die Reihe bekam, sollte auf ein kleines Kind aufpassen?! Das klang selbst in seinen Ohren lächerlich.

Eines nachmittags traf er auf dem Heimweg allerdings auf Haru. Kiryu war die Begegnung äußerst unangenehm, da er ein Geschenk für Hanako dabei hatte. Es waren nur ein paar Mochis in einer süßen Verpackung. Aber das warf bei Haru einige Fragen auf, das konnte ihm Kiryu vom Gesicht ablesen.

„Hi, Kiryu. Hast du heute frei?“

„Hi, Haru. Ja, wie es aussieht schon.“

„Klasse! Dann haben heute ja alle Zeit zum Proben.“ Und mit Blick auf das Geschenk in Kiryus Händen fragte er: „Ist das für deine Freundin?“

„Nein, ich... äh...“ Kiryu atmete einmal tief ein und erzählte dann von Hanako. Haru war sichtlich beeindruckt und gestand ihm schließlich: „Wow, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Ich mir auch nicht.“

Taro und Ryo erfuhren am selben Abend von Kiryus Zweitjob. Überrascht waren sie alle, aber niemand hatte einen dämlichen Spruch heraus gehauen, wofür Kiryu sehr dankbar war. Und jetzt konnte er endlich offen sagen, wenn er auf Hanako aufpassen musste. Das machte vieles unkomplizierter.

Die letzten zwölf Monate waren schnell vergangen. Hanako war inzwischen ein fester Teil seines Lebens – oder vielmehr: Er war ein fester Teil von Hanakos Leben. Manchmal fragte er sich allerdings, ob es wirklich so gut für die Kleine wäre, dass sie so viel Zeit mit ihm verbrachte. Er konnte sich geradeso diese winzige Wohnung leisten, war trotzdem meistens klamm bei Kasse und hatte keinen festen Job – kein sonderlich gutes Vorbild. Aber Hanako mochte ihn trotzdem. Sie konnte das alles noch gar nicht begreifen und fand es einfach nur großartig, dass ihr Wahlbruder so viel Zeit für sie hatte. Die Kleine hatte wirklich einen Narren an ihm gefressen.

Die ersten Wochen hatte es Kiryu gestört von Hanako so bezeichnet zu werden. Inzwischen fand er diese plötzliche Verwandtschaft gar nicht so schlecht. Denn oft genug wurde er dadurch aus einer Schleife der immer gleichen Gedanken gerissen. Und besser als seine eigentliche Verwandtschaft war es allemahl.

Noch mehr Verhandlungen

Wieso musste er in letzter Zeit nur immer so früh wach werden?! Wieso konnte er denn nicht einmal auch ausschlafen... Als er auf sein Smartphone sah, war es kurz vor zehn. Eigentlich nicht wirklich früh. Sonst musste er immer schon viel früher auf den Beinen sein. Für ihn kam das jetzt schon fast an „ausschlafen" ran. Dennoch fühlte er sich, als hätte er nicht länger als fünf Stunden geschlafen.

Er lag zusammen gerollt in seinem Bett. Alles war ruhig. Niemand war da. Sollte er wirklich aufstehen? Schließlich hatte er keinen Job mehr und zu Tanakawa musste er erst am Nachmittag. Aber er stand dennoch auf. Er wollte ein bisschen durch die Stadt streifen. Und während er sich anzog, fiel ihm noch ein, dass er sich ja einen besseren Job suchen wollte und musste. Also aß er noch eine Kleinigkeit und zog dann los.

Bisher hatte er nur immer Gelegenheitsjobs gehabt. Was er bräuchte, war aber eine Ausbildung oder so etwas. Er war jetzt 21 und hatte bisher noch keinen festen Beruf gehabt. Aber was sollte er machen? Für was sollte er sich bewerben? Er war Musiker mit Leib und Seele. Aber welches Label würde schon einen kleinen, herunter gekommenen Punk wie ihn unter Vertrag nehmen?! Bisher hatten sie ja nur Absagen erhalten.

Er würde es ja doch wie sonst auch immer machen: Den erstbesten Job, der ihm vor die Füße fiel, würde er annehmen. Aber davon musste er jetzt auch loskommen. Wenn er etwas besseres finden wollte als einen Aushilfsjob in einem kleinen Lebensmittelladen, musste er länger suchen. Aber wo anfangen? Und noch wichtiger: Wonach genau sollte er suchen? Ein Aushilfsjob kam schon mal nicht infrage. Die Arbeit in einem Hundert- Yen- Laden war hart, und warf auch nicht gerade viel ab. Außerdem würde er wohl auch nur als Aushilfe eingestellt werden – schließlich hatte er bis jetzt keinen Beruf erlernt und auch nicht wirklich viel Arbeitserfahrung.

     Mit einem tiefen Seufzer ging er eine Straße Richtung Hafen entlang. Hier gab es keine auffälligen Läden, Bars oder Clubs. Hier war es ruhiger. Touristen gab es hier gar nicht. Es war wie eine andere Welt, nachdem er gestern so lange in Shinjuku unterwegs gewesen war.

Gegen Mittag war er dann am Hafen angekommen. Menschen drängten an ihm vorbei oder kamen ihm schwer beladen entgegen. Er wurde ein paar mal fast umgerannt, sagte deswegen aber nichts. Er ging einfach weiter. Eine Hafenpromenade konnte man das hier zwar nicht gerade nennen, aber Kiryu kam trotzdem gut auf andere Gedanken. Seine Ängste konnte er einen Augenblick vergessen.

Der Wind zerzauste seine Haare und der Geruch von Meeresluft gemischt mit Maschinenöl und Metall drang zu ihm.

Die meiste Zeit, die er jetzt unterwegs war, hatte er seinen Blick auf den Boden geheftet. Und auch jetzt wich er jedem Blick aus. Im Grunde versteckte er sich. Er war jetzt unter Menschen, aber er ließ niemanden an sich heran. Niemand sollte seinem Blick begegnen und auch er wollte niemandem in die Augen sehen. Und so ging er an den Hafenkneipen vorbei.

Er wusste nicht mehr so genau, wo er jetzt war. Der Hafen hinter ihm war immer noch zu sehen. Aber wie genau er wieder nach Shinjuku kommen würde, wusste er nicht. Aber noch hatte er ja Zeit das herauszufinden.

Kiryu blieb unschlüssig, in welche Richtung er weitergehen sollte, in einer Gasse stehen. Er stand jetzt vor einem kleinen Plattenladen, der hier sehr deplatziert zu sein schien. Da er sowieso nichts besseres zu tun hatte, ging er hinein.

Er stand in einem schummrigen Verkaufsraum. Wie es aussah, war er allein hier – nicht mal ein Verkäufer war zu sehen. Er sah sich ein paar der Platten an, und bekam den Eindruck, dass hier das absolute Chaos herrschte. Er fand alles mögliche: Schlechte Weihnachtsplatten standen direkt neben einem Album von Kra. Mehr als einmal stieß er deshalb ein: „Oh, wow!“ voller Bewunderung und kurz darauf ein: „Oh, man...“ voller Unglaube aus. „Was für eine Auswahl“, war sein abschließendes Fazit.

    „Hey, Junge! Hey, du da“, wurde er plötzlich angesprochen. Kiryu hielt inne. Er sah sich im Laden um, aber er konnte niemanden sehen.

    „Ja! Du da, Weißkopf“, hörte er die Stimme noch einmal, dann ertönte Gepolter. Kiryu sah zum Verkaufstresen. Das Gepolter schien aus dem Raum dahinter zu kommen. Doch er konnte immer noch nicht denjenigen ausmachen, der dafür verantwortlich war. Dann kam ein Mann auf ihn zu.

„´tschuldigung, wie kann ich helfen?“

Kiryu warf kurz einen Blick auf die Platte, die er noch in der Hand hielt. Dann antwortete er: „Äh... ich seh mich eigentlich nur um.“

„Okay, wenn du Hilfe brauchst...“

„Danke, aber ich gehe jetzt besser.“ Kiryu stellte die Platte zurück und wandte sich schon zum Gehen.

    „Hey, ich brauch dringend Hilfe“, sagte ihm der Mann unvermittelt.

    „Wer sind Sie überhaupt?“, fragte er unhöflich. Es war ihm einfach so heraus gerutscht. So unhöflich kannte er sich eigentlich gar nicht. Aber etwas in Kiryu ließ nicht zu, dass er diesen Mann ernst nahm. Er kam Kiryu einfach nur verplant und völlig überfordert vor.

    „Takahashi mein Name“, entgegnete ihm der Mann. Und Kiryu dachte nur bei sich, ist ja ein ganz seltener Name. Er machte einen weiteres Schritt Richtung Tür.

    „Hätten Sie einen Moment Zeit?“

    „Wofür denn?“ Kiryu wurde schon halb zurück in den Laden gezogen.

    „Sie können mir doch sicherlich helfen? Sie sind genau der, wonach ich gesucht habe.“

    „Ach ja? Und wofür?“, fragte Kiryu noch einmal.

    „Ich brauche dringend Hilfe. Was diese ganzen neuen Bands angeht, kennen Sie sich doch bestimmt aus oder nicht?“ Der Mann, der ihn in den Laden gezogen hatte, war vielleicht Mitte 40. Er hatte braune Haare und braune Augen. Er sah eigentlich ziemlich durchschnittlich aus. Er führte Kiryu durch einen schmalen Gang hinter dem Tresen entlang, dann standen sie plötzlich in einem kleinen Raum.

    „Soll das jetzt vielleicht ein Scherz sein?“, platzte es aus Kiryu heraus, als er sich im Raum umsah.

    „Ich denke nicht. Nein, Jungchen.“

Mit großen Augen sah sich Kiryu hier um. Er stand genau gegenüber des Tresens. Es aus alles ziemlich verstaubt aus. An der Tür standen ein paar Instrumente: Gitarren, Bässe, ... Aber deswegen hatte es Kiryu nicht die Sprache verschlagen – nicht nur. Der ganze Raum war voll gestopft mit Schallplatten und CD's. Die Wände waren hinter den deckenhohen Regalen gar nicht mehr zu sehen. Der Laden sah ja schon vollgestopft aus, aber alles, was sich hier hinten befand, stand offensichtlich noch gar nicht zum Verkauf!

Kiryu begann die Platten etwas genauer anzusehen. Eins musste er dann aber zugeben: Wer auch immer sich diese Sammlung angeeignet hatte, hatte einen guten Geschmack was Musik anging – fand Kiryu. Er fand Schallplatten von Happy End – einer japanischen Band, die nur von 1970 bis 1973 existierte. Oder auch Sabbat, Ruins – eine Zeuhl- Band – und Cobra. Dass er Cobra hier fand, überraschte ihn nach all den anderen alten Bands nicht zu sehr. Schließlich hatten sich Cobra 1982 in Tokyo gegründet. Aber nicht nur Alben von japanischen Bands fand er hier. Er hatte auch welche von Kansas, einer amerikanischen Band, die in den 70ern und 80ern große Erfolge gefeiert hatte, oder Joy Division, die Ende der 70er Welterfolg erreicht hatten, sich aber Anfang der 80er auflösten, weil ihr Sänger sich selbst getötet hatte. Und er fand auch Platten von jüngeren Bands. Mucc oder Nightmare hatte er auch gefunden. Dann natürlich noch Simple Plan, Linkin Park oder auch My chemical Romance. Es war eine bunter Mischung aller möglichen Stile und Genres. Eins wusste er jetzt schon: Hier würde er sich wohl fühlen.

    „Und wobei soll ich Ihnen jetzt genau helfen?“, fragte er, als er sich ein Album von X- Japan etwas genauer ansah.

    „Kennen Sie sich damit aus? Es klang eben so, als sie sich umgesehen hatten.“

    „Sicher“, antwortete Kiryu schlicht darauf. Er gewann mehr und mehr den Eindruck, dass er hier nicht den Besitzer vor sich hatte, sondern nur einen der Angestellten. Wahrscheinlich hatte dieser Kerl – genau wie er – durch Zufall diesen Job bekommen.

    „Mein Sohn hat mir ein neues Computerprogramm gegeben. Sie müssen wissen, ich will hier endlich mal ausmisten und den Laden etwas aufpeppen. Aber ich alleine würde Monate dazu brauchen...“

    „Ja, gut möglich“, antwortete Kiryu ausweichend. Seinen Blick ließ er weiter umherschweifen.

    „Ja, aber nicht nur das. Wissen Sie, ich habe den Laden einfach übernommen...“

Kiryu sah fast erschrocken aus. Er hatte schon oft davon gehört, dass sich Leute irgendwas gekauft hatten, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Aber das hatten sie sich einfacher vorgestellt, als es wirklich war...

Kiryu sah den Mann genauer an. Und es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass hier der Besitzer vor ihm stand.

    „Ich habe immer noch einen festen Kundenstamm, aber das wird wohl nicht mehr lange so bleiben... Ich bin nicht sehr musikalisch. Mein Sohn auch nicht. Ich kenne mich lediglich mit diesen amerikanischen und britischen Bands aus...“

    „Und jetzt glauben Sie, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann?!“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung.

    „Und wieso, wenn ich fragen darf?“

Leicht verlegen drehte sich der Mann etwas zur Seite: „Sie waren heute der erste, der den Laden betreten hat. Und Sie machen auf mich einen kompetenten Eindruck. Verstehen Sie? Jemand, der zu wissen scheint, was die Leute hören wollen.“

    „Na großartig“, seufzte Kiryu. Ungebrochener Optimismus gepaart mit einer fraglichen Menschenkenntnis. Das konnte ja noch heiter werden...

    „Wie meinen?“

    „Nichts. Ach, äh... wieso gerade ich? Ich meine, haben Sie hier keine Freunde, die Ihnen helfen könnten?“

Wieder wirkte dieser Mann so verlegen. „Ich bin noch nicht lange in der Stadt. Und naja... so viele Freunde habe ich hier auch noch nicht...“

    „Verstehe.“ Kiryu sah sich noch einmal im Raum um. „Ich kann's ja mal versuchen.“ Es klang wirklich zu verlockend, sich hier alle Platten anzusehen und zu sortieren und dafür auch noch Geld zu bekommen.

Der Mann kam auf ihn zu gestürmt und wollte ihn wohl umarmen, ließ es aber dann doch bleiben: „Danke. Vielen, vielen Dank, äh... wie heißen Sie eigentlich?“

    „Kiryu Sugawa.“

    „Nochmals vielen Dank. Könnten Sie morgen früh gleich kommen? Ich werde Sie natürlich auch bezahlen.“

    „Klar, wieso nicht?“

    „Gut“, dann ging er zurück an die kleine Theke, nahm einen Zettel und schrieb etwas darauf. „Hier, wenn Sie mich morgen früh hier nicht finden, fragen Sie nach Kazuro.“ Kiryu nickte nur zur Antwort und ging dann Richtung Ausgang.

Als er vor der Tür stand, sah er sich noch einmal das Schild an. „Rock Ecke“ stand über der Tür. Besser sie würden sich noch einen anderen Namen einfallen lassen.

         Er war zurück in Shinjuku. Bis er Tanakawa traf, hatte er noch Zeit. Also hielt er nach einem Café oder Fast Food Restaurant Ausschau. Sein letztes Geld war so gut wie aufgebraucht. Aber seine Vorräte müssten noch eine Weile halten.

Einen Job hatte er jetzt zumindest. Und er schien besser zu sein, als sein alter. Zumindest was die Tätigkeit anging, war es tausendmal interessanter als ein Aushilfsjob. Auch wenn er bis jetzt noch keine Ahnung hatte, wie sein Kontostand in Zukunft aussehen würde. Aber wenn Tanakawa ihm wirklich helfen konnte, wäre das in nächster Zeit wohl auch kein Problem.

Er wollte sich nicht zu viele Hoffnungen machen. Die Sache mit Tankawa konnte ganz leicht auch nach hinten losgehen. Aber noch konnte er umkehren. Aber irgendwie hatte er das ungute Gefühl, dass Umkehren nicht so einfach sein würde.
 

Mit einem Seufzer betrat er das Hochhaus, in dem Tanakawas Büro war. Alles war genauso ruhig – schien genauso verlassen – wie schon gestern. Als er in den Vorraum kam, stand Tanakawas Sekretärin gleich auf und verschwand ins Büro.

Kiryu war ausnahmsweise mal pünktlich. Sonst war er nicht so oft pünktlich. Wofür denn auch? Den Job, der ihn von Anfang an angekotzt hatte? Oder die Proben, bei denen er sich so überflüssig vorkam? Oder... er musste damit aufhören. Jetzt ging es um andere Dinge. Er wollte der Band helfen. Nur noch ein Schritt, und es wäre getan.

Er wurde zu Tanakawa gebeten. Plötzlich erfasste ihn eine Unruhe, die er vorher noch nie gespürt hatte. Das war nicht einfach nur Nervosität, das war fast schon Angst.

    „Guten Tag, mein junger Freund“, wurde er von Tanakawa begrüßt.

    „Tag.“

    „Setzen Sie sich doch. Wollen Sie etwas trinken? Kaffee, Wasser?“ Doch Kiryu schüttelte nur den Kopf. Er wollte das hier so schnell wie möglich hinter sich bringen.

    „Gut, dann kommen wir gleich zur Sache.“

Kiryu war froh, dass Tanakawa auch gleich zum Punkt kam.

    „Das hier...“, er schob Kiryu ein Blatt Papier zu. Es war der Vertrag, der über das weitere Schicksal von Rising Phenix entscheiden würde. Dieser war aber deutlich unkomplizierter geschrieben, als der erste. Es ging darum, dass die Band unterstützt und gefördert werden würde. Sie würden einen Manager bekommen und ein festes Gehalt. Dazu kam noch ein Plattenvertrag und sie würden eine Tour machen. Aber das war erst einmal zweitrangig.

    „Müssten die anderen nicht auch unterschreiben?“

    „Das kommt dann alles beim Plattenvertrag“, erwiderte Tanakawa schlicht. Kiryu nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

    „Und Sie wollen mir wirklich einfach so helfen? Ich meine, ohne Gegenleistung von mir?“, fragte er noch. Er wollte nicht glauben, dass es so leicht sein würde.

    „Wie schon gesagt: Im Moment musst du nur so weiter machen, wie bisher. Schreib deine Lieder, geh deinem Job nach oder was auch immer du sonst machst.“ Er lächelte Kiryu schon wieder so überlegen an, wie bei ihrer ersten Begegnung.

    „Und wenn ich vorher aussteigen will?“, fragte Kiryu kleinlaut. Sein Mund war auf einmal so trocken. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen. Kiryu kam sich jetzt so klein und unbedeutend vor, wie schon lange nicht mehr. Er wollte hier weg. Er wollte sich wieder sicher fühlen. Aber auf der anderen Seite stand er kurz davor sein Ziel zu erreichen. Oder zumindest wäre er ihm einen Schritt näher.

    „Du hast eine zweiwöchige Kündigungsfrist, wenn du vorher aussteigen willst. Selbst wenn dir morgen einfallen sollte, dass du den Vertrag auflösen willst, musst du mindestens zwei Wochen für mich arbeiten.“ Tanakawas Grinsen verschwand auch jetzt nicht. Und seine Augen schienen auch jetzt wieder rot aufzuleuchten. Aber als Kiryu genauer hinsehen wollte, war es schon verschwunden, der Augenblick war vergangen.

    „Wieso nur zwei Wochen?“, fragte Kiryu, um sich abzulenken. Dabei tat er die ganze Zeit so, als würde er sich den Vertrag noch einmal durchlesen.

    „Wir hatten bessere Erfahrungen mit der Zweiwochenfrist gemacht. Das ist alles.“ Mehr sagte er nicht dazu. Kiryu gab nur noch ein „Okay“ von sich, dann unterschrieb er den Vertrag. Aber in jenem Augenblick rang er immer noch mit sich, ob er auch das Richtige tat. Doch kaum hatte er unterschrieben, zog Tanakawa den Vertrag auch schon weg. Er packte ihn sofort in eine Schreibtischschublade, gab Kiryu aber noch eine Kopie. Dann sagte er noch: „Nur, damit du es nicht vergisst: Die Band wird auch ohne dich Erfolg haben. Du bist jeder Zeit ersetzbar.“

Er begann plötzlich so eigenartig zu lachen. Es klang in Kiryus Ohren, als hätte sich der Teufel persönlich eine arme Seele gefangen. Dann wurde im Schwarz vor Augen...

Rockecke vs... ?

Er war in einem Keller, wie es aussah. Alles schien schon lange verlassen. Wo war er hier nur? Dann sah er Tanakawa. Die Temperatur kühlte sich schlagartig ab. Er spürte schon wieder diese Angst. Und dann... plötzlich war Tanakawa wieder verschwunden. Alles um ihn herum war dunkel. Aber die Angst war nicht weg. Er wollte weg hier. Er wollte nach Hause. Doch dann tauchte Tanakawa wieder auf. Er hatte ein Messer in der Hand. Und um ihn herum schien jetzt nicht mehr alles schwarz, sondern in tiefes Rot getaucht. Tanakawa kam langsam auf ihn zu, reichte ihm die Hand, aber er wusste, dass er sie nicht ergreifen sollte. Sein Körper war aber wie Ferngesteuert. Er nahm Tanakawas Hand und dieser begann auch gleich wieder so eigenartig zu lachen. Er hob seine Linke, in der er immer noch das Messer hielt und....

Schweißgebadet wachte er in seinem Bett auf. Das Zimmer lag in tiefer Dunkelheit. Sollte das wirklich alles nur ein Traum gewesen sein? Er sah an sich herab und tastete sich nach irgendwelchen eventuellen Wunden ab. Aber da waren zum Glück keine.

Wie war er aber hierher gekommen? Er konnte sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Alles, was passiert war, nachdem er den Vertrag unterschrieben hatte, war weg. Er konnte sich an überhaupt nichts mehr erinnern. Hatte er denn irgendwelche Drogen bekommen? Aber er hatte ja nichts bei Tanakawa getrunken oder gegessen. Was war also passiert?

Er stand auf und ging zum Fenster. Es war eine sternenklare Nacht. Die Stadt sah jetzt so ruhig aus, so friedlich. Aber das war nur ein trügerischer Schlaf. Tanakawa verfolgte ihn jetzt schon in seinen Träumen. Und Kiryu hatte das ungute Gefühl, dass das erst der Anfang war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.

Es war 8:30, als er vor der verschlossenen Tür der „Rockecke“ stand. Also klopfte Kiryu kräftig an und wartete. Im Laden schien sich auch etwas zu tun. Und dann ging die Tür auf.

    „Ah, ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass du kommst“, wurde er von Herrn Takahashi begrüßt.

    „Ihnen auch einen guten Morgen“, entgegnete Kiryu lediglich darauf. Er hatte gestern nicht den Eindruck gehabt, dass Takahashi gescherzt hatte mit seinem Angebot. Und Kiryu war nicht der Typ, der andere hängen ließ. Er kam öfter zu spät, als dass er pünktlich war, aber er war immer da, wenn er gebraucht wurden. Und Takahashi – und vor allem sein Laden – brauchten dringend Hilfe!

Kiryu trat ohne ein weiteres Wort ein und ließ seinen Blick noch einmal über die ganzen Plattenregale schweifen. Wenn sie diesen Laden auf Vordermann bringen wollten, musste er erst mal wissen was es hier alles gab. Das allein zusammen zu tragen, könnte schon Wochen dauern. Dabei müssten sie noch nebenbei neue Kunden anlocken. Und das hieß ausmisten, Werbetrommel rühren und, und, und... Er wusste nicht woher es so plötzlich kam. Eigentlich müsste er sich jetzt freuen. Er könnte sich schließlich nichts besseres vorstellen, als sein Geld damit zu verdienen durch diese ganzen Schallplatten und CDs zu stöbern. Aber innerlich kotzte Kiryu gerade ab. Denn im Grunde mussten sie den Laden noch einmal ganz neu aufbauen...

    „Kannst du schon mal eine Liste von den Platten machen, die wir aussortieren müssen?“

    „Klar“, antwortete Kiryu. Und in Gedanken fügte er noch hinzu: „Das wird aber 'ne verdammt lange Liste.“ Aber er schnappte sich trotzdem einen Stift und einen Schreibblock und begann die Interpreten mit ihren Albumtiteln aufzuschreiben. Einiges davon würde er sich sicher noch mal anhören müssen, weil er überhaupt nicht wusste, ob ihre zukünftigen Kunden auch kaufen würden, was er ausgesucht hatte. Am besten er würde mal bei den Jungs nachfragen. Taro war immer ziemlich gut, wenn es um Trends und Dauerbrenner ging. Ihrer Musik konnte das sicher auch nicht schaden, dass er sich ein paar andere Sachen anhörte. Und so wie es aussah, müssten sie hier wohl auch noch umräumen. Gegen ein paar helfende Hände mehr hatte Takahashi sicher auch nichts einzuwenden. Und für die Alben, die aussortiert würden, könnten sie bestimmt auch neue Besitzer finden.

Kiryus Zuversicht stieg wieder ein wenig. Und ihm kam jetzt auch eine Idee: Sie könnten die aussortierten Platten auf einem Flohmarkt verkaufen. Oder hier gleich am Hafen vor dem Laden. Sicher könnten sie so auch ein paar neue Kunden anlocken. Und etwas Startkapital hätten sie damit ebenfalls.

Während er sich Platte um Platte ansah, sprudelte sein Kopf geradezu vor Ideen. Er hatte hier wirklich Spaß bei der Arbeit – etwas völlig neues für ihn. Die Alben sortierte er schon ganz nebenbei, als er sich die einzelnen Titel aufschrieb. Einiges davon würde er zu gern selbst mitnehmen. Aber das konnte er aus mehreren Gründen nicht. Die Alben, die ihn interessierten, liefen immer noch ganz gut oder waren noch gar nicht lange auf dem Markt. Und wenn eine CD von einer Band, wie X- Japan hier war, mussten sie die auch an den Mann bringen. X-Japan waren einfach immer noch zu bekannt und erfolgreich. Und wenn sie aus dem Laden einen An- und Verkauf machen würden?! Schlecht klang es in seinen Ohren nicht. Aber ob Takahashi da mitmachen würde?

Auf einen Versuch kam es sicherlich erst einmal an: „Herr Takahashi?“ Aber sein neuer Arbeitgeber schien verschwunden. Er war nicht mehr im Verkaufsraum, also ging Kiryu nach hinten. Keine der Türen war verschlossen. Alle waren nur angelehnt. Er war fast am Hintereingang angelangt, als Takahashi aus einer der Seitentüren auf den Flur trat. Er sah nervös aus und schien entsetzt Kiryu hier zu sehen.

    „Was machst du denn hier?“ Entsetzen war in seiner Stimme.

    „Ich hab Sie gesucht.“ Darauf wusste sein Gegenüber keine Antwort. Er warf noch einen nervösen Blick zurück in den Raum, aus dem er gerade gekommen war und schob Kiryu dann zurück in Richtung Verkaufsraum.

Aus einem, für Kiryu unerfindlichen, Grund schien Takahashi außer Atem geraten zu sein. Oder hatte er vor etwas Angst? Er sah immer wieder hinter sich, als ob ihn jemand verfolgen würde. War dieser harmlos erscheinende Mann etwa doch nicht so harmlos? Oder hatte er ein anderes schmutziges Geheimnis?

Kiryu fühlte sich von dieser Paranoia plötzlich angesteckt. Auch er blickte in den dunklen Gang hinter ihnen. Allerdings war es bei ihm weniger die Angst verfolgt zu werden, als vielmehr die Neugier wissen zu wollen, wieso sich Herr Takahashi so verhielt. Aber im Zwielicht konnte er nicht wirklich viel erkennen. Deshalb fragte er Takahashi schließlich: „Ist da hinten irgendwas Besonderes?“ Und Takahashi wirkte bei seiner Antwort schon wieder so unruhig: „Was? Nein! Was soll schon sein?“ Kiryu zuckte nur mit den Achseln. Er würde früher oder später noch herausbekommen, was mit Herrn Takahashi los war. Dann ging er zu dem Regal, in dem immer noch die angefangene Liste lag.

    „Was halten Sie davon, wenn wir die aussortierten Platten etwas billiger verkaufen würden? So würden wir bestimmt auch zu ein paar neuen Kunden kommen. Und dann könnte...“

    „Du meinst so etwas wie einen Garagenverkauf?!“

Kiryu fand es verdammt unhöflich von diesem Kerl schon wieder unterbrochen worden zu sein. Aber er ignorierte das vorerst. Ein entnervtes Schnauben konnte er allerdings nicht noch unterdrücken... Kiryu gefiel es ganz und gar nicht, dass Takahashi offensichtlich keine Ahnung hatte, wie er seinen Laden führen sollte, und gleichzeitig keinerlei Anerkennung für Kiryus Vorschläge hatte. Stattdessen fiel er Kiryu immer wieder ins Wort – so was Unhöfliches! Gedanklich zählte Kiryu bis zehn, dann widmete er Takahashi wieder seine volle Aufmerksamkeit.

    „Und was sagst du eigentlich hierzu?“

Kiryu hatte Takahashi die ganze Zeit nicht zugehört, weil er zu sehr damit beschäftigt war seinen Ärger zu unterdrücken. Vielleicht konnte Takahashi mit der Buchhaltung des Ladens besser umgehen als er. Wobei es nicht sonderlich schwer war in dieser Sache besser zu sein als Kiryu. Aber Takahashi war in seinen Ansichten doch etwas eingestaubt. Genau wie der Laden.

Jetzt wurde ihm ein altes Plakat von einer ihm gänzlich unbekannten Band hochgehalten. Die Farbe war ausgeblichen, die Worte nur sehr schwer für ihn zu lesen. Aber auch wenn er sich noch so viel Mühe gab, einen Sinn ergaben diese Zeichen für ihn trotzdem nicht. Er fand ein „no“, dann etwas, dass „Dunkelheit“ oder auch „Orchidee“ heißen konnte. Er schüttelte den Kopf, und Takahashi brachte das Plakat mit resigniertem Blick dorthin zurück, wo er es gefunden hatte. Dieser Typ schien überhaupt keine Ahnung zu haben, auf was er sich da eingelassen hatte.

    „Sagen Sie mal, was halten Sie eigentlich von einem neuen Namen für den Laden?“, wechselte Kiryu jetzt das Thema. Takahashi sah ihn fragend an. „Einen neuen? Ist der alte denn nicht gut?“

Kiryu kratzte sich am Hinterkopf und wich Takahashis Blick aus: „Naja, eigentlich nicht. Das klingt so... so harmlos.“

    „Ach ja? Ich fand ihn ganz gut.“

Diese Antwort kam für Kiryu zwar nicht überraschend, ein bisschen mehr Wille zur Veränderung hatte er sich trotzdem bei Takahashi erhofft. Er konnte hier doch nicht alles allein herrichten, um dann die Anweisung zu bekommen, dass alles beim Alten bleiben sollte?! Und gerade beim Namen mussten sie sich etwas einfallen lassen. Schließlich ging damit auch ein gewisses Image einher. Welcher Dämon hatte ihm denn nur diesen Kerl auf den Hals gehetzt?! Aber eigentlich war er ja selbst in diese „Falle“ getappt. Schließlich war er hier selbst hergekommen, hatte zufällig einen Job bekommen und... War das denn überhaupt noch alles Zufall? So langsam zweifelte Kiryu daran. Es klang im Nachhinein alles so geplant.

    „Naja, ganz gut reicht jetzt aber nicht mehr. Und wenn Sie nicht weiter nur von ihren Stammkunden leben wollen, müsste was anderes her...“

    „Und was schlägst du vor?“ Die Frage klang ehrlich. Kiryu konnte keine Herablassung oder so etwas heraus hören. Dieser Typ vertraute ihm doch wirklich voll und ganz.

Allmählich begann sich Kiryu zu fragen, wem dieser Laden später gehören würde: Ihm oder Takahashi? Es war schleierhaft für Kiryu, dass Takahashi den Laden, wer weiß wie lange schon, am Laufen halten konnte.

    „Mmh...“, wenn er ehrlich war, hatte er selbst keine Idee, wie der Plattenladen heißen konnte. Aber „Rockecke“ war nun wirklich nicht das Passende. Der neue Name musste einschlagen wie eine Bombe. Oder besser noch – wie ein Blitz! Ja, das war doch schon mal ein guter Anfang. Aber trotzdem fehlte noch etwas. Er müsste nur kurz noch einmal nachdenken und...

    „Wie wär's mit 'Black Thunder'?!“

    „Meinst du wirklich?“, Takahashi sah ihn wieder so skeptisch an. Da wusste er es selbst nicht besser und hatte trotzdem immer noch etwas gegen einen neuen Namen. Hanako war gegen diesen Typen echt einfach.

    „Ja, klingt doch gut.“ Kiryu war von seiner Idee überzeugt.

    „Also, ich weiß nicht...“

Bei Takahashi musste er noch echte Überzeugungsarbeit leisten...

    „Ja, sehen Sie es vor sich: Black Thunder- Musik, die richtig einschlägt!“, sagte er mit einer ausladenden Geste. Ja, das war es. Aber Takahashi wollte ihm wohl immer noch nicht glauben. Entweder Takahashi klammerte sich zu sehr an das Alte oder Kiryu war nicht besonders gut darin andere überzeugen zu können. Er vermutete ersteres. Er seufzte tief und wollte schon wieder neu ansetzen, aber Takahashi schien sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er hatte sich im Laden umgesehen und antwortete Kiryu schließlich: „Mmh... also gut...“ Aber Überzeugung klang in Kiryus Ohren immer noch anders... Trotzdem wollte Kiryu diese Zustimmung erst einmal annehmen.

Es kam ihm selbst etwas seltsam vor, aber er sah Takahashi an und fragte, was er für Ideen hatte. Aber er bekam nur eine mehr als magere Antwort – wenn man es denn überhaupt so nennen wollte. Genau genommen sagte Takahashi nichts weiter und schüttelte nur überfordert den Kopf.

Kiryu notierte sich den Namen über seiner Liste und wollte sich schon wieder um die Alben kümmern, als ihm noch eine andere Idee kam: „Könnten noch ein paar Freunde von mir hier helfen? Also, wenn wir hier umräumen, könnten wir...“

    „Wie – umräumen?“ Wieder klang tiefes Entsetzen aus Takahashis Stimme. Schon wieder war er so harsch unterbrochen worden. Und Kiryu fand das jetzt schon entnervend.

    „Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass Sie das alles hier so lassen wollen, oder?!“

Er bekam keine klare Antwort. Stattdessen druckste Takahashi herum, dass später noch Zeit dafür wäre. Und dass es vielleicht ausreichen würde, wenn sie hier erst einmal aussortiert hätten. Für Kiryu stand fest, dass er sich noch ein paar andere Namen einfallen lassen würde. Doch er wusste jetzt schon, dass er auf keinen so passenden Namen wie „Black Thunder“ kommen würde.

         Die „Rockecke“ war hiermit geschlagen. Es war ein eindeutiger K.O- Sieg für den Newcomer „Black Thunder“. Mit einem gezielten Schlag auf den guten Geschmack hatte sich „Black Thunder“ den Sieg geholt. Der Gegner hatte keine Chance für einen Gegenangriff. Und für die „Rockecke“ würde es wohl auch kein Comeback geben...

Mit einem Lächeln verließ er am späten Nachmittag den Laden. Diese Zuversicht kannte er sonst gar nicht von sich. Eigentlich wollten sie heute noch proben, aber bis jetzt sah es nicht danach aus. Wahrscheinlich würden sie sich heute Abend oder morgen früh doch noch zusammen setzen. Lange würden sie zumindest nicht für die Probe brauchen. Da war er sich sicher. Er konnte es sich nicht genau erklären, aber er konnte spüren, dass es bergauf ging. Und morgen noch der Auftritt im 'Yami no Kokoro'.

Er konnte wieder auf die Bühne. Es kam ihm jetzt vor, als ob der letzte Auftritt schon Monate her wäre. Dabei waren es lediglich zwei Wochen. Aber jetzt ging er erst einmal nach Hause.

Glückliche Fügung - oder?

Kaoru brachte ihnen noch ein paar Getränke, um sie gleich wieder allein zu lassen. Die Jungs von Rising Phenix waren angespannt. Aber diese Anspannung war keinesfalls quälend. Angst war schon dabei – schließlich würden sie hier vor einem ganz neuen Publikum spielen. Sie hatten keine Ahnung, was sie erwarten würde. Und so ging es sicher auch den Menschen da draußen im Schankraum.

Die Stimmung dort war ausgelassen. Die meisten Bands, die bis jetzt aufgetreten waren, hatten hier keine besonders große Fangemeinde. Sie wurden während ihres Auftritts aber auch nicht ausgebuht, sondern eher als nette Hintergrundgestaltung wahrgenommen. Kiryu und der Rest der Band hatte das mehr als überrascht. Schließlich traten die unterschiedlichsten Künstler heute hier auf. Das Einzige, das sie gemeinsam hatten, war wirklich nur die Tatsache, dass sie alle noch relativ unbekannt waren. Aber so hatte wenigstens niemand Star-Allüren.

    „... und jetzt kommen wir zu einer jungen Band aus unserer wunderschönen Hauptstadt. Manch einer von Ihnen mag sie vielleicht kennen – hier sind Rising Phenix!“

Das Niveau hier war einfach etwas höher, als in den Bars und Clubs, in denen sie bisher immer aufgetreten waren. Und Kiryu zweifelte schon wieder daran, ob die Wahl ihrer Songs auch passen würde. Vor so einem Publikum wie diesem hatten sie noch nie gespielt. Und den gewohnten Beifall würden sie hier wohl auch nicht bekommen. Aber nichts desto trotz ging Kiryu entschlossenen Schrittes auf die Bühne. Taro, Haru und Ryo folgten ihm... ja, fast schüchtern.

Man hatte sie gleich am Anfang hinter die Bühne gebracht. Und dort hatten sie auch die letzten zwei Stunden gewartet und den ganzen Abend so beobachtet. Sie wurden versteckt. Und sie hatten es sich auch nicht getraut nach vorn zu gehen. Und so warteten sie einfach weiter. Die Reaktion des Publikums auf die verschiedenen Bands war ihnen natürlich auch nicht verborgen geblieben.

Jeder saß, in seine Gedanken vertieft, da und wartete. Aber Kiryu wusste, dass ihnen allen das gleiche durch den Kopf ging: Passten ihre Songs, ihr Stil – passten sie überhaupt hierher? Das 'Yami no Kokoro' war so viel anders als die Lokale ihrer anderen Auftritte. Es fing ja schon damit an, dass das Ambiente hier nicht gerade nach kleinem Lokal aussah. Alles war schlicht und edel gehalten, es gab nur sehr wenig Dekoration. Dafür viele klare Kanten.

Als sie hergekommen waren, war noch nichts los gewesen. Die schwarzen Fließen des Fußbodens glänzten ihnen entgegen. Die Theke hob sich nur durch ihre Beleuchtung davon ab. Die Bühne sah nicht besonders groß aus, was allerdings nur an ihrer Positionierung im Raum lag. Als Kiryu auf ihr stand, musste er feststellen, dass sie um einiges größer war, als die Bühnen ihrer bisherigen Auftritte. Und diesen Raum würden sie heute Abend füllen müssen. Würden sie hier überhaupt Zuspruch bekommen? Oder würden sie genauso leise von der Bühne verschwinden, wie sie gekommen waren?

Aber dann – inmitten der Menge – entdeckte Kiryu ein vertrautes Gesicht. Das Mädchen war ihm schon bei einigen ihrer vorherigen Auftritte aufgefallen. Aber seine Sorge, was sie hier zu suchen hatte, wurde schnell von Zuversicht überschattet, dass sie hier nicht gänzlich unbekannt waren.

    „Okay... einige kennen uns vielleicht. Wir sind Rising Phenix“, begann er ungeschickt. „Und... jetzt legen wir los – Taro?“

Angesprochener begann auch gleich die Melodie von „Sora to Ito“ an zuspielen. Nach reiflicher Überlegung waren sie zu dem Schluss gekommen, dass ein Song von Mucc als Auftakt gut passen würde. Darauf folgten dann noch zwei weitere Songs von bereits bekannten japanischen Bands. Nachdem sie dann „DIRTY“ von Nightmare zu ende gespielt hatten, war es aber auch Zeit für ihre eigenen.

Ryo verstummte mit seinen Drums gänzlich. Nur Taro spielte immer wieder die gleichen Töne in einer Endlosschleife. Haru stieg irgendwann mit ein.

    „Jetzt kommt ein Songs von uns. Den spielen wir schon lange. Ich hoffe er gefällt euch.“

Und Kiryu begann auch, kaum dass Taro und Haru angefangen hatten zu spielen, zu singen. Eine sanfte Melodie erfüllte den Raum:

   

    Ein Tag, der nicht kommt,

    Und doch längst... vorbei

    Geh nicht mehr weg,

    Werde frei – so frei!
 

Das Intro war auch noch sehr ruhig, sein Gesang fast schon zurückhaltend. Bei der ersten Strophe sang er mit sehr viel kräftigerer Stimme, aber immer noch sehr melodisch.
 

    Tränen gleich des unverhol´nen Wahnsinns

    Schreit mir schon entgegen dieser Schmerz

    Lasst mich frei, vergeh hier noch, werd rasend

    Und der Schmerz so tief, zerreißt mein Herz
 

Der Refrain war das genaue Gegenteil zum Intro und der ersten Strophe. Kiryu verfiel immer wieder ins Growling als er weitersang:
 

Ein Schmerz so tief, er drückt mich nieder

Vergraben in Gedanken steck ich fest

Ein Ausweg – nein, er ist nicht hier

Was mich noch mehr erschaudern lässt

Ein Fluchtweg bleibt mir stets verwehrt

Ich kann nicht flieh´n, kann nur hier steh´n
 

Nach dem Refrain überließ er dann Taro und Haru kurz das Feld. Dieses kleine Zwischenspiel gehörte einfach schon dazu. Es war gar nicht mehr aus dem Song weg zu denken. Bei der zweiten Strophe blieb es allerdings nicht mehr bei diesem melodischen Gesang:
 

    Und der Tod so klar, ist ständig vor mir

    Will mein Herz verbrenn', doch bleibe hier

    Schreit so laut ihr könnt, ich greif den Wahnsinn

    Und werd endlich flieh'n so weit von hier!
 

Mit jedem Vers wurde er lauter und lauter. Seine Stimme ging in ein Growling über. Töne waren bei seinen letzten Worten gar nicht mehr auszumachen. Die Bridge war wieder melodischer und Kiryu sang sie genauso kraftvoll wie die Strophen:
 

Mein Herz so schwer und so zerrissen

Des Wahnsinns gleich, verloren hier

Nur Dunkelheit und Tod versprechen

Und offenbaren diese Tür

Ein Ausweg bleibt mir doch versperrt

Ich bin allein und so verlor´n

Weiß ganz genau, es ist verkehrt

Kann doch nicht umkehr´n, bloß hier steh´n
 

Als er den Refrain dann ein letztes Mal sang, war seine Stimme klar und kräftig. Und diesmal stieg noch Taro mit ein. Kiryu war es inzwischen egal, ob sie vor unbekanntem Publikum spielten. Das hier war sein Song, seine Seele. Dieser Moment gehörte ihm allein.

Aus diesem, anfangs so ruhigen Song war eine große, kräftige Stimme erwachsen. Haru und Taro ließen die letzten Akkorde verklingen und traten einige Schritte vom Bühnenrand weg. Das gleiche tat auch Kiryu. Aber bevor er sich zurück zog, verbeugte er sich noch.

Die Menschen, scheinbar überrascht über diese Geste, blieben vorerst still. Nach einigen Augenblicken ertönte aber heftiger Applaus. Kiryu, Taro, Haru und Ryo sahen sich fassungslos an. Nie hätten sie mit so einer Reaktion gerechnet. Dann wurde es auf der Bühne kurz dunkel.

Plötzlich wurde alles wieder in gleißendes Licht getaucht. Kiryu und Taro gingen auch gleich wieder nach vorn.

Dieser Abend war wirklich besser, als sie es sich erhofft hatten. Und sie spielten auch direkt das Intro des nächsten Songs. Und es lief so, wie sie es gehofft hatten: Schnell hatte das Publikum „After Light“ von HYDE erkannt. Kiryu hatte sich zuerst ein Stück im Hintergrund gehalten, war aber mit Beginn der ersten Strophe nach vorn gekommen und hatte angefangen hin- und herzulaufen. Taro übernahm wie üblich die Zweitstimme. Für den Refrain war Kiryu zurück zur Bühnenmitte gegangen. Während der zweiten Strophe vergaß Kiryu endgültig, dass sie sich auf einer völlig neuen Bühne befanden und vor Publikum spielten, dass Rising Phenix vorher nie gesehen hatte. Er forderte die Masse immer wieder auf mehr Stimme zu zeigen. Während des Refrains war er dann eine Einheit mit den Menschen vor ihnen geworden und sang aus voller Kehle Vers um Vers mit ihnen.

Er war auch gegen Ende des Songs kurz davor gewesen von der Bühne zu springen. Kiryu war begeistert von allem – und gab das an ihr Publikum weiter. Er war vollkommen berauscht.

Als die letzten Töne verklungen waren, stand Kiryu völlig außer Atem am Mikrophon. So etwas hatte er sonst nur bei ihren eigenen Songs erlebt. Dieses Gefühl voll und ganz in dem Moment zu versinken. Ohne Gestern oder morgen – einzig und allein der Augenblick bestand, der nur ihm gehörte. Die Masse, die ihnen zujubelte kam ihm ebenfalls überrascht vor.

Er kündigte ihren nächsten Song an, als er wieder halbwegs bei Atem war. Die letzten zwei Songs waren wieder ihre eigenen und etwas ruhiger. Und als die letzten Töne verklungen waren, war auch ihr Auftritt beendet. Alles in allem fanden sie ihre eineinhalb Stunden hier auf der Bühne gelungen. Mit jedem weiteren Song, den sie nach „Wahnsinn in mir“ gespielt hatten, schienen sie auch in der Gunst des Publikum immer weiter aufgestiegen zu sein, und mit „After Light“ hatten sie den Höhepunkt des Abends.

Als sie von der Bühne gingen, nahm ihn Taro beiseite und fragte: „Was war das denn vorhin?“

„Was meinst du?“

„Bei 'After Light'! Was hast du bitte gemacht, dass die Leute so abgingen?“ Kiryu sah ihn nur verdutzt an, also änderte Taro seine Worte: „Das war der Wahnsinn!“

Haru und Ryo schalteten sich ebenfalls ein, als sie Taro hörten. Ihre Verblüffung über Kiryu war ihnen mehr als anzusehen.

Kiryu sah noch einmal zurück zum Bühnenaufgang. Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Sie hatten es an diesem Abend als einzige Band geschafft, dass sie nicht bloß die Aufmerksamkeit des Publikums bekamen, sondern hatten auch die Masse zum Mitmachen bewegt. Dann folgte er den anderen. Es Zeit etwas zu trinken. Die Theke hatte schon viel zu lange auf sie warten müssen.

Kiryu wartete allein auf ihre Getränke, als er plötzlich angesprochen wurde: „Ihr seid gut.“

Erst jetzt sah Kiryu, dass neben ihm noch jemand stand, und drehte sich zu ihm um. Er war fast einen Kopf kleiner als Kiryu. Aber ein Blick in diese Augen, die viel zu alt für diesen Kerl schienen, sagten Kiryu, dass er seinen Gegenüber besser nicht unterschätzen sollte.

    „Danke“, brachte er deshalb nur in einem distanzierten Ton heraus. Er war sich nicht einmal sicher, ob der andere das auch verstanden hatte bei dem ganzen Stimmengewirr an der Theke.

    „Weißt du, Kiryu, ich wollte mir schon lange mal einen Auftritt von euch ansehen. Man hat mir echt nicht zu viel versprochen“, erklärte er begeistert.

Ein Lächeln, dass er so ähnlich von Tankawa kannte, zierte dann das Gesicht seines Gesprächspartners. Es war Tanakawas Lächeln wirklich ähnlich, aber dennoch... anders. Kiryu konnte es nicht beschreiben und obwohl er übervorsichtig sein wollte, sagte ihm doch etwas in seinem Inneren, dass ihm bei diesem Kerl so schnell nichts passieren würde. Tanakawa wäre gefährlicher. Trotzdem fragte er aber noch voller Skepsis: „Woher weißt du wie ich heiße? Und wer bist du eigentlich?“ Die letzte Frage war ihm unfreundlicher heraus gerutscht, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.

    „Oh, ich bin Takuhiro Higuri. Und ich habe schon viel von euch gehört. Eure Namen dann noch heraus zu bekommen, war gar nicht mal so schwer.“ Takuhiro klang immer noch sehr euphorisch. Und ein bisschen so, als würde er endlich seine Lieblingsband persönlich treffen. „Und auf Instagram seid ihr ja immer namentlich erwähnt“, fügte er dann noch hinzu. Daran hatte Kiryu gar nicht mehr gedacht, was ihm ein bisschen peinlich war.

Takuhiro musterte ihn interessiert. Es schien, als wollte er jedes Detail in Kiryus Gesicht studieren. Kiryu wich dem Blick dieses Kerls aus.

Higuri – irgendwo hatte er diesen Namen schon gelesen. Aber um was ging es da? Er wusste es nicht mehr. Aber wahrscheinlich war es jetzt eh unbedeutend.

    „Zur Zeit bin ich freier Fotograf. Ich probier mich etwas aus, und jetzt... da hab ich es eben auf die Jungbands Japans abgesehen.“ Seine Augen sahen plötzlich violett aus und schienen zu leuchten und er schien auch glücklich zu sein mit dem, was er da tat. Kiryu konnte es nicht anders sagen: Das Lächeln von Takuhiro Higuri war einfach nur ehrlich. Aber dennoch schien er traurig über irgendetwas zu sein. Dass Kiryu das erkannt hatte, lag vielleicht auch daran, dass er selbst diese Traurigkeit in den Augen hatte. Allen anderen, den „normalen Menschen“ schien das nämlich nicht besonders aufzufallen. Und doch war es bei Kiryu etwas anderes als bei Takuhiro. Takuhiro schien einfach damit abgeschlossen zu haben oder fand sich zumindest damit ab, was ihm einst passiert war. Und Kiryu... Manchmal dachte er wirklich die ganze Welt wäre gegen ihn. Und plötzlich war er neugierig auf seinen Gegenüber geworden. Wie hatte er es geschafft diese Traurigkeit los zu werden? Wann hatte er es geschafft? Kiryu hätte ihm am liebsten das alles augenblicklich gefragt. Er wollte auch schon dazu ansetzten Takuhiro etwas in dieser Richtung zu fragen, aber dieser kam ihm zuvor: „Ich glaube, deine Bandkollegen wollen nicht länger warten.“ Er wies an einen Tisch. Kiryu schnappte sich auch gleich alle Drinks und wollte schon zu ihnen, als er noch einmal kurz inne hielt: „Hast du heute Abend auch von uns Fotos gemacht?“

Takuhiro schien auf diese Frage gewartet zu haben. Anders konnte sich Kiryu diese überschwängliche Freunde nicht erklären: „Klar! Ich kann sie euch auch vorbei bringen.“ Darauf hin stellte Kiryu sämtliche Gläser wieder ab, schrieb die Adresse ihres „Proberaumes“ auf und gab sie Takuhiro mit den Worten: „Montagabend müsstest du uns da finden.“ Takuhiro nickte nur und Kiryu ging endgültig weg vom Tresen.

Als Kiryu an ihren Tisch kam, saßen da nicht mehr nur Taro, Ryo und Haru. Taro hatte die beste Laune. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Die Anspannung des Abends war vollends von ihnen abgefallen. Und am stärksten war das bei Taro zu sehen.

    „Da bist da ja endlich! Wo warst du denn so lange?“

    „Äh... ich war an der Theke. Weißt du noch: Du hattest Durst“ erwiderte Kiryu und stellte die Gläser ab.

    „Ja, schon gut. Wie es aussieht, sind wir hier wirklich goldrichtig.“

Als Kiryu sich dann endlich zu ihnen setzte, musterte er zuerst den Mann, der bei der Band saß, ausgiebig.

    „Das ist übrigens Herr Urukawa. Er hat uns spielen gesehen und meinte, da ist echt was draus zu machen.“ Taros Begeisterung war ungebrochen.

Kiryu war skeptisch. Von seiner Hochstimmung nach „After Light“ war nichts mehr zu spüren. Dieser Urukawa kam ihm suspekt vor, weshalb sein Hochgefühl schneller verflogen war als sonst. Ein bisschen machte er Urukawa dafür verantwortlich.

    „In euch steckt eine Menge Potential. Mit etwas Hilfe könntet ihr richtig erfolgreich werden. Vielleicht sogar über die Landesgrenzen Japans hinaus.“

Trotz dieser verlockendes Worte blieb Kiryu auch weiterhin misstrauisch. Dieses Angebot war einfach zu gut. Das war zu einfach.

    „Na, was ist jetzt, Kiryu? Urukawa kann uns ganz groß raus bringen! Das ist DIE Chance, für uns!“

Leider konnte Kiryu Taros Begeisterung nicht teilen. Er musste immer wieder an den mit Tanakawa geschlossenen Vertrag denken. So einfach wollte er es Tanakawa nun auch wieder nicht machen. Aber wenn er jetzt ablehnte, würde ihnen das auch nichts nützen. Er musste sich jetzt entscheiden. Oder er würde gar nicht mehr voran kommen. Egal, ob er sich richtig oder falsch entscheiden würde, alles war besser als weiterhin darüber nachzudenken, was passieren könnte.

    „Ich verstehe ihr Misstrauen, Herr Sugawa. Und wie auch immer Sie sich entscheiden – Herr Tanakawa wird Ihnen jeder Zeit meine Kontaktdaten aushändigen.“

    „Sie kennen Tanakawa?!“

Es war etwas unhöflich, aber Kiryu war auch nicht wirklich überrascht, dass dieser Herr Urukawa Tanakawa kannte. Andererseits hatten sie so noch etwas Zeit.

„Ja, er meinte, dass ihr eine vielversprechende Band wärt. Und der Meinung bin ich auch, nachdem ich euch gesehen habe.“

Kiryu war zwar klar, dass Taro, Ryo und Haru dem Angebot am liebsten zustimmen würden. Und sie würden Kiryus Zweifel auch nicht verstehen. Aber zum Glück hatten sie sich noch nicht in das Gespräch eingeschaltet. Kiryu wusste nämlich nicht, ob dieses Treffen wirklich so gut für sie war.

Und das mit diesem Takuhiro Higuri... dem wollte er noch etwas Zeit geben. Zuerst einmal wollte er sich die Fotos von heute Abend ansehen. Für Misstrauen war dann immer noch Zeit... Und selbst, wenn Takuhiro doch nicht zu den Menschen gehörte, denen er trauen wollte – die er auch zu seinen Freunden zählen könnte – Beziehungen waren wichtig. Und wie es aussah, hatte Takuhiro noch nicht einmal etwas mit Tanakawa zu tun. Er nahm sich vor, dass er das aber mit Sicherheit noch heraus bekommen würde. Und zwar so schnell wie möglich.

Künstlernamen

Sein Smartphone zeigte kurz nach acht. Also drehte er sich auf die Seite und wollte weiter schlafen. Das Schönste am Wochenende war, dass er sich seine Zeit einteilen konnte, wie er wollte. Meistens zumindest.

Er war gerade wieder am Eindösen, als ihn jemand anrief. Genervt suchte Kiryu sein Smartphone, um es auszuschalten. Aber dann fiel ihm plötzlich wieder etwas Wichtiges ein. Urukawa wollte sie heute noch einmal treffen. Und Kiryu war jetzt noch weniger begeistert davon als noch gestern Abend.

    „Ja?“, fragte er verschlafen.

    „Äh... ich geh jetzt mal davon aus, dass du verschlafen hast. Du kommst doch, oder?“ Wie immer ließ Ryo den Diplomaten heraus hängen. Aber Kiryu war das nur recht. Er hatte keine Lust sich mit der Band zu streiten. Also sagte er nur: „Ich bin auf dem Weg“ und legte auf. Jetzt musste er doch früher raus. Und das an einem Sonntag.

Eine halbe Stunde später war er bei den anderen in Shibuya. Urukawa war auch schon da. Alle warteten nur noch auf Kiryu.

In einem Café, nahe dem Touristenzentrum fand ihr Treffen statt. Aber Kiryu kümmerte das im Moment wenig. Noch war es ruhig hier – er konnte das alles ganz langsam auf sich zukommen lassen. Schließlich war er nach Ryos Anruf direkt aufgesprungen und losgelaufen. Er hatte weder Zeit für eine Dusche oder einen Kaffee gehabt.

Das Gespräch verfolgte er nur halbherzig. Urukawa versuchte sie zu überreden, bei seinem Label unter Vertrag zu gehen. Angeblich würden sie daraus nur Vorteile ziehen. Ihre Songs würden landesweit bekannt werden, und sie wären zunächst abgesichert. Aber Kiryu traute dem Braten nicht.

    „Wie ist das mit den Songs? Können wir dann nur noch das schreiben, was Sie wollen?“

Urukawa grinste genauso fies, wie es Kiryu schon bei Tanakawa gesehen hatte.

    „Nein, das bleibt euch überlassen. Nur wenn es um die Veröffentlichung geht. Du weißt schon: Wir haben ein Wörtchen mit zureden, wenn es darum geht, welche Songs auf ein Album kommen.“

    „Und bei der Tour? Die wird doch auch von euch unterstützt, oder?“, schaltete sich Taro jetzt auch ein.

    „Wir zahlen für die gesamte Tour. Unterkunft, Techniker, und was sonst noch anfällt.“ Und wieder grinste er so. Urukawa sah sich als überlegen. Was er im Grunde auch war.

Kiryu sah Ryo, Haru und Taro noch einmal ins Gesicht. Sie konnten sich auch ohne Worte verstehen. Die Jungs waren alle der Meinung, dass sie auf der sicheren Seite waren. Also wollte Kiryu dem auch zustimmen. Aber vorher hatte Urukawa noch etwas zu sagen: „Da wir euch auch international bekannt machen wollen, müssten wir noch etwas mit euren Namen machen.“

    „Was ist denn damit?“, fragte Taro.

    „Oh, mit deinem nicht. Es geht zunächst auch nur um eure Vornamen. Du und Haru habt nichts zu befürchten, wenn ihr so wollt“, er grinste zwar immer noch, aber Kiryu wurde dennoch fast schlecht.

    „Ryo, bei dir sollten wir eventuell auch einen Künstlernamen verwenden. Einen, den Amerikaner und Europäer leichter aussprechen können.“

    „Und wie sieht es bei mir aus?“, brachte Kiryu hervor. „Und? Was wollen Sie daraus machen?“, hakte er noch einmal in angriffslustigem Ton nach.

    „Ich dachte an Kilian“, sagte ihm Urukawa nüchtern ins Gesicht.

    „Was?“, entgegneten die Jungs von Rising Phenix wie aus einem Mund.

    „Kilian? Auf keinen Fall!“, erwiderte Kiryu bestimmt.

„Was schwebt dir vor, wenn ich fragen darf?“ In Urukawas Ton schwang sehr viel Herablassung mit. Kiryu war klar, dass er dem nicht entgehen konnte, also beschloss er Urukawa einfach nur zu ärgern: „Keine Ahnung. Wie wäre es mit 'Best Singer of all Time in the Universe'?“ Kiryus Tonfalls blieb herausfordernd. Und er musste zugeben, dass es ihm Spaß machte an Urukawas Nerven zu zerren. Taro musste lauthals loslachen. Ryo und Haru konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Urukawa dagegen begann sich die Nasenwurzel zu massieren. Dann sagte er genauso trocken wie Kiryu zu vor: „Du wirst dich schon noch daran gewöhnen. Ich hätte dir ja noch Kallin anzubieten. Aber meiner Meinung nach passt Kilian besser.“

Die Band war sprachlos. Urukawa hatte ihnen das alles gesagt, als ginge es nur um die Frage, ob sie während einer Tour lieber in Hotelzimmern oder im Tourbus schlafen würden.

    „Muss das echt sein? Ich meine – unsere Namen sind doch gut so, wie sie sind. Wieso ändern?“, Haru hatte das ausgesprochen, was ihnen allen durch den Kopf ging.

    „Ich halte diese Künstlernamen für notwendig. Natürlich könnt ihr eure richtigen Namen auch behalten. Aber aus meiner Sicht würden euch die geänderten Namen besser stehen. Auch wenn ihr im Ausland bekannt seid.“

    „Das ist doch aber noch gar nicht gesagt“, haute Kiryu heraus.

    „Wir werden euch so weit bringen“, antwortete Urukawa entschieden. Er ließ kein Wort des Widerspruchs zu.

Kiryu erhob sich von seinem Stuhl, sagte allen: „Also, mir wird das hier zu blöd“ und ging. Verblüfft sahen ihm alle hinterher, aber niemand versuchte ihn aufzuhalten.

Seine Wut steigerte sich bei jedem Schritt. Was nahmen die sich denn heraus, einfach seinen Namen ändern zu wollen?! Er fand seinen Namen jetzt auch nicht herausragend gut. Aber ändern wollte er ihn auch nicht unbedingt. Und von Künstlernamen, wie sie bei vielen japanischen Bands üblich waren, fand er einfach überflüssig. Außerdem hätte Tanakawa damit noch mehr Macht über ihn.

Diese Künstlernamen waren doch nicht notwendig, sondern lediglich Beiwerk. Als würde es im Ausland besser ankommen, wenn sie als japanische Band westliche Namen hätten... Und so fand er schließlich wieder zurück nach Hause. Inzwischen war die Stadt vollständig erwacht. Er war immer langsamer voran gekommen. Aber das hatte er nur am Rande mitbekommen. Denn kaum hatte er die anderen verlassen, hatte er auch gleich wieder auf taub geschaltet. Nein, eigentlich schon vorher. Schon während Urukawa all ihre Vorteile aufgezählt hatte, hörte er schon gar nicht mehr richtig zu. Und jetzt saß er am Tisch in seiner Wohnung und ließ seinen Blick immer wieder zum Fenster hinaus schweifen. Er kam einfach nicht mehr von diesen Gedanken los. Seine Wut war immer noch nicht verraucht. Und da war auch noch etwas anderes. Es hatte gedauert, bis ihm endlich klar wurde, was er noch hatte. Erst, als er einige Verse zu Papier gebracht hatte, war auch ihm klar geworden, dass er im Moment nicht nur Wut hatte. Er hatte Angst. Nackte Angst. Wovor, wollte er sich allerdings nicht eingestehen. Es war einfach nur „Angst“:

 

         Angst- dieser Schmerz wird nie verschwinden

         Geb nicht auf- was glotzt du so?
 

         Wasser trüb im Lichterglanz

         So zart der Schein, doch –

         Nur noch Hass!!!
 

         Schmerz ergreift mich – kann nicht mehr fliehen

         Angst so stark – verschwinde!
 

         Ganz allein in Schattens Glanz

         Werd nicht gehen, Flucht

         Unmöglich!
 

Blatt und Stift fegte er vom Tisch und vergrub sein Gesicht dann in seinen Händen. Tränen stiegen ihm in die Augen, die er mit Mühe zurückhalten konnte. Wie lange er dann so dasaß, konnte er nicht sagen. Es konnten nur ein paar Minuten gewesen sein, oder auch eine Stunde.

Seine Welt... Seine Welt war mit der Realität nicht immer zu kombinieren. Seine Wünsche, seine Träume... und eine Zukunft... die gab es nicht. Er lebte im Hier und Jetzt. Es war ein Leben im Augenblick. Kompromisse gab es nicht. Und musste er auch nicht befürchten. Aber das waren naive Vorstellungen, und das war ihm auch klar. Aber wenn er auf der Bühne stand, zählte auch nur der Augenblick. Es gab kein Vorher und kein Nachher. Nur der Rhythmus und die Texte zählten. So erging es den Fans, und auch ihm. Und diese „Welt“, dieses Gefühl konnte ihm zum Glück auch niemand nehmen.

„Seine Welt“ unterschied sich ja so stark von der anderer in seinem Alter. Von den Ansichten der anderen im Allgemeinen. Manchmal wünschte er sich aber auch, dass ihn jemand aufwecken würde – einfach aus diesem quälenden Traum reißen würde. Diese Träume schmerzten manchmal einfach nur. Und wenn er sich dann noch die Texte ansah, die er schrieb, würde er am liebsten nur noch schreien. All den Schmerz wollte er hinaus brüllen.

Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Aber das war kein freundliches Grinsen. Er fand es einfach nur lächerlich. Sich, seine dummen, kleinen Träume, und dass er die Chance, die ihm Urukawa bot, nicht annehmen wollte. Und diese Kurzschlussreaktion im Café war die Krönung gewesen.

Seine Welt würde er jetzt zum Leben erwecken. Er war nur noch einen Anruf davon entfernt. Also zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und rief Tanakawa an. Dieser wollte sich auch gleich um einen Termin zwischen der Band und Urukawa kümmern. Smartphones waren doch etwas ungemein Praktisches.

Am Abend streifte er noch einmal durch die Stadt. Er war allein unterwegs – so wie immer. Aber heute war es mal so, dass ihn das auch störte. Er wollte nicht in die Clubs und Bars. Danach war ihm eh selten. Also fand er sich irgendwann, mitten in der Nacht, im Ueno-Park wieder. Kein Mensch kam ihm entgegen. Nur er und die Dunkelheit.

Aber so blieb es nicht lange.

Eine Gestalt kam sicheren Schrittes auf ihn zu. Die Silhouette kam ihm auch merkwürdig bekannt vor. Aber kannte er diese Gestalt denn wirklich?

    „Hi, Kiryu“, wurde er nur Augenblicke später von Takuhiro gegrüßt. „Was verschlägt dich denn zu so später Stunde hierher? Oder bist du auch ein Nachtmensch?“

Kiryu war jetzt nicht danach zu reden. Auch nicht mit Takuhiro. Er hatte es ja gerade so geschafft noch ein „Hi“ heraus zu bringen und wollte weiter. Takuhiro ließ sich aber nicht so einfach abwimmeln.

    „Hast du jetzt Zeit? Dann könnte ich dir die Fotos von gestern Abend auch gleich geben.“

Kiryu überlegte. Sollte er erst einmal mitgehen und dann so tun, als ob er noch etwas vorhatte oder sollte er es gleich bleiben lassen?

    „Ich würd ja gern, Takuhiro. Aber...“

    „Hey, es war nur 'n Vorschlag.“ Abwehrend hatte er die Hände gehoben und drehte sich schon zum Gehen. „Na, dann. Bis morgen“, sagte er noch, dann war er auch schon wieder verschwunden.

Kiryu brachte vor Verblüffung keinen Ton mehr heraus. Das war echt ein komischer Kauz. Er hatte genau so reagiert wie Kiryu das erhofft hatte. Als hätte er seine Gedanken gelesen. Aber so merkwürdige Leute hatte er in letzter Zeit ja häufig kennen gelernt...

Er ging noch eine Weile ziellos durch den Park, und machte sich dann wieder nach Hause.

       

Er befand sich schon wieder in einem Büro hoch oben über Tokyo. Die Aussicht war auch hier grandios. Aber darüber konnten er und die Jungs von Rising Phenix sich nicht freuen. Die Stimmung war angespannt. Dabei schien alles so einfach. Theoretisch hätten sie nur den Vertrag unterschreiben müssen, der sie dann an das Label band. Praktisch sah das allerdings etwas anders aus.

Zuerst hatten sie sich nur mit ein paar Anzugmenschen hier befunden. Urukawa ließ auf sich warten. Nach einer halben Stunde kamen noch weitere Anzugmenschen zu ihnen. Von Urukawa war noch immer keine Spur.

    „Hey, wo bleibt eigentlich dein Chef?“, wollte Taro irgendwann wissen. Er erhielt keine Antwort.

    „Meinst du, das können wir uns einfach so bieten lassen?“, gab dann auch Haru von sich. Aber auch Kiryu war im Moment ratlos.

Doch gerade als er den Jungs sagen wollte, dass sie gehen würden, betrat Urukawa den Raum.

    „Es tut mir ja so Leid, dass ich Sie habe warten lassen“, begrüßte er sie überschwänglich. Sein bedauernder Tonfall war schlecht gespielt. Er war sich keiner Schuld bewusst. Und die Jungs von Rising Phenix wussten das.

„Aber es ist heutzutage nun mal schwer die richtigen Angestellten zu finden, die... Aber was rede ich?“ Sein Blick schweifte wie zufällig durch den Raum und blieb an Kiryu hängen. Dass Urukawa ihn so ansah, wie Tanakawa schon des öfteren, hielt Kiryu aber nicht für Zufall. Hatte da gerade etwas in Urukawas Augen rot aufgeleuchtet? Ob die Jungs das auch gesehen hatten? Fragen konnte er sie aber nicht, denn Urukawa verlangte ihre gesamte Aufmerksamkeit.

    „In Zukunft werden wir wenig mit einander zu tun haben. Herr Akirou hier wird sich die meiste Zeit um Sie vier kümmern. Er wird ab heute Ihr Manager sein. Seine Sekretärin, Frau Yumeka, gehört ebenfalls dazu.“ Die beiden Angesprochenen verbeugten sich nur knapp, sagten aber kein Wort.

    „Die anderen hier sind für Sie eigentlich unwichtig“, schloss Urukawa.

    „Interessiert mich aber trotzdem“, brachte Kiryu leise hervor. Er war bei Urukawa angriffslustig und wollte sich keinesfalls von ihm einschüchtern lassen.

    „Wie meinen?“, fragte Urukawa nach. Kiryu war sich nicht sicher, ob er laut genug gesprochen hatte, damit ihn jemand verstand. Urukawa hatte es also wirklich mitbekommen.

Für Kiryu gab es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder er hielt die Klappe und entschuldigte sich für seine Unhöflichkeit. Oder er ließ es darauf ankommen. Kurzer Hand entschied er sich dann für die zweite Möglichkeit: „Ich sagte: Es würde mich aber trotzdem interessieren wer die anderen sind.“ Urukawa seufzte, setzte sein Vorzeigelächeln auf, und ratterte die Namen der restlichen Anwesenden herunter. Sie hatten keine Chance sich auch nur einen Namen oder eine Position zu merken.

Kiryu hatte gar nicht gewusst, dass Urukawa so viele Anwälte brauchte. Und dann war da auch noch irgendwo ein Praktikant unter ihnen...

    „Danke schön“, sagte Kiryu aber trotzdem noch mit einem Zahnpastalächeln. Urukawa und er würden nie miteinander auskommen, das wusste Kiryu jetzt sicher. Denn auch wenn sie beide einen mehr oder weniger höflichen Ton beibehielten, waren es einfach keine Nettigkeiten, die sie austauschten.

Takahashi hatte er gesagt, er hätte einen wichtigen Termin – was ja auch stimmte. Er würde später noch im Laden vorbei schauen. Ohne ihn würde Takahashi wohl gar nicht wissen, was er im Plattenladen machen sollte. Zum Glück hatten sie genug Sachen, die noch gelistet werden mussten. Und dann noch sortiert.

Sicherlich würden sie hier auch nicht mehr lange sitzen. Hoffte er zumindest.

    „Wenn ihr hier, hier und hier unterschreiben würdet...“ Urukawa zeigte auf einige Lücken.

Sie hatten jetzt schon sämtliche Fälle durchgesprochen, was alles als Vertragsbruch galt, wie sie aussteigen konnten und wann, und diverser anderer Kram. Auch hier hatte Kiryu nur halbherzig zugehört...

    „Ach, und Kiryu, Ryo...“, Angesprochene sahen kurz auf. „Bei euch gibt es noch diesen Zusatzvertrag.“

Kiryu und Ryo wurde ein weiteres Blatt zugeschoben.

    „Da ihr einen Künstlernamen bekommen werdet, wollen wir uns einige damit verbundene Rechte sichern.“

Kiryu hob darauf nur skeptisch eine Augenbraue. Ryo gab keinen Ton von sich, sondern las sich diesen Zusatzvertrag gründlich durch.

    „Kilian – das ist ab heute dein neuer Name. Und du, Ryo, wirst ab heute als Rick bekannt sein. Nachnamen sind bei keinem von euch nötig, wenn ihr als Rising Phenix in der Öffentlichkeit steht.“ Kiryu sagte immer noch nichts. Kilian... in seinen Ohren klang der Name immer noch komisch. Aber der andere Name, den ihm Urukawa vorgeschlagen hatte, war schlimmer.

Kiryu hatte sich den Zusatzvertrag gut durchgelesen. Und was er da las, ging ihm gewaltig gegen den Strich.

    „Und als Kiryu darf ich mich überhaupt nicht mehr vorstellen?! Nicht mal hier in Japan?“

    „So lange es um Geschäftstermine wie Interviews, Auftritte und so weiter geht, ist dein richtiger Name unwichtig. Dann zählt nur Kilian. Was dein Privatleben betrifft – und da sind deine Social Media Accounts inbegriffen – darfst du auch weiterhin Kiryu heißen. Es ist so, dass du dich als Kilian vorstellen musst, sobald du die Band repräsentierst.“

    „Toll, mir wurde meine Identität genommen", brachte Kiryu heraus. Aber das war so leise, dass nur Taro und Haru, die neben ihm saßen, es gehört hatten.

Kiryu sah es schon vor sich: Irgendjemand, der sein Gesicht kannte, sprach ihn an, kannte ihn aber nur mit japanischem Namen. Aber damit durfte Kiryu sich ja nicht mehr vorstellen. Kilian Sonstwie – so würde man ihn dann nur noch kennen.

Er fühlte sich ja so unterdrückt. Wohl oder Übel musste er jetzt aber da durch... Wohl war ihm dabei aber überhaupt nicht. Aber was tat er nicht alles für die Band?!

Eingriff ins virtuelle Leben

Kiryu telefonierte mit Takahashi: Er würde es heute wohl nicht mehr in den Laden schaffen. Das alles hier zog sich noch. Was die Erklärung anging, blieb Kiryu vage. Die Pause wäre eh bald zu ende. Also versprach er Takahashi, dass er ihm morgen alles erklären würde.

Als er wieder mit den anderen am Tisch saß, eröffnete Urukawa sofort das Gespräch: „Da ihr bereits Social Media Accounts habt, müsst ihr hier noch unterschreiben“ und schob ihnen mit diesen Worten einen weiteren kurzen Vertrag zu.

„Wir dürfen unsere Accounts nicht mehr selbst betreuen?“, fragte Haru, der sich bisher um ihre Posts bei Instagram gekümmert hatte.

„Doch, natürlich dürft ihr das. Die Inhalte müsst ihr aber vorher mit uns abklären. Wir wollen doch nicht, dass ihr aus Versehen etwas zum neuen Album veröffentlicht, bevor wir die Freigabe erteilt haben?“

„Und wenn ich etwas bei Twitter schreiben will?“, meldete sich auch Taro.

„Da gilt das Gleiche“, antwortete Urukawa schlicht. „Aber keine Sorge, mit der Zeit werdet ihr schon wissen, was ihr wann posten könnt“, erklärte er weiter.

„Na, so ein Glück, dass wir unsere Facebook-Seite schon so lange vernachlässigen“, haute Kiryu zynisch heraus. Urukawa ging aber voll darauf ein und erklärte ihnen: „Auch darum werden wir uns ab jetzt kümmern. Wie gesagt – ihr habt weiterhin Zugriff auf die Accounts.“ Kiryus Zynismus hatte er entweder nicht bemerkt oder ignoriert. Dass Urukawa aber so etwas entging, konnte Kiryu allerdings nicht glauben.

„Was ist mit meinem privaten Account? Wenn ich dort schon weiterhin Kiryu heißen darf, kann ich doch sicher auch posten, was ich will?!“

„Natürlich. Vorausgesetzt, es ist nichts, das mit Rising Phenix zu tun hat“, antwortete ihm Urukawa. Kiryu seufzte. Das schränkte ihn stärker ein, als Urukawa wahrscheinlich ahnte.

Sie ließen sich von Urukawa noch genau erklären, was mit ihren Social Media Accounts als nächstes geplant war, was genau sie posten durften und sollten, und was absolut Tabu für sie war. Ihnen rauchten die Köpfe nach dieser ewig langen Auflistung von Dos und Don´ts. Und das war ihnen wohl auch anzusehen. Urukawa beendete seine Erklärungen mit: „Deshalb ist es gerade am Anfang so wichtig, dass ihr mit uns klärt, was ihr posten wollt.“ Sein Ton war fast schon wohlwollend. Dann verfiel Urukawa allerdings wieder in seinen vorherigen Ton und sagte ihnen noch: „Wir werden übrigens ein paar eurer Posts löschen lassen. Vorrangig solche, die nicht ins Bild passen.“ Entsetzen und fragende Blicke waren in ihren Gesichtern zu sehen.

„Keine Sorge, es sind nur einige wenige Bilder.“ Er winkte einen der Anzugmenschen zu sich, die die ganze Zeit im Hintergrund stehen geblieben waren. Als sie neben Urukawa stand, fragte dieser: „Wie viele Posts waren es noch gleich?“

„Alles in allem 24, Herr Urukawa.“

„Da seht ihr es. Eine überschaubare Anzahl. So, und da jetzt alles geklärt ist, will ich mich verabschieden. Oder habt ihr noch irgendwelche Fragen?“

Sie waren alle zu perplex, um darauf zu antworten. Denn was auch immer sie von dem heutigen Treffen erwartet hatten, es war anders gelaufen.

Abends, als er wieder Zuhause war, sah er sich den Instagram- Account von sich und der Band an. Er selbst hatte fast 500 Follower, die Band stand aktuell bei etwas über 1.000. Es war eine solide Fangemeinde, wie er fand. Er sah sich ein paar der Bilder an. Die meisten zeigten die Band auf der Bühne oder wie sie im Proberaum zusammen saßen. Ihre Bilder wurden meistens von Yuito gemacht. Die Qualität war dadurch nicht immer die beste, aber die Erinnerung daran ließ ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen.

Auf Instagram sah es so aus, als würden sie sich immer gut verstehen. Dabei gerieten besonders er und Taro oft genug aneinander. Aber das waren schließlich nur Hintergrundgeschichten. Die Band stand mit Spaß auf der Bühne – das war auch auf allen Bildern zu sehen. Und das war es, womit Kiryu seinen Lebensunterhalt verdienen wollte: Auf der Bühne stehen und andere mit seiner Musik unterhalten.

Irgendwann legte er sein Smartphone weg und versuchte zu schlafen. Der Tag war lang und anstrengend gewesen.

Früh am Morgen wurde er durch einen Anruf aus dem Schlaf gerissen. Blind tastete er nach seinem Smartphone, schob es aber nur vom Fensterbrett herunter. Mit einem Laut, der seine Frustration über diesen Weckruf ausdrückte, schlug er die Decke beiseite und suchte den Fußboden ab. Sein Smartphone lag halb unter dem Bett. Er schnappte es sich und nahm den Anruf entgegen ohne nachzusehen, wer ihn geweckt hatte: „Was ist?“ Er klang immer noch verschlafen. Aber auch sehr genervt. Einen Augenblick war es ruhig am anderen Ende. Dann antwortete ihm Ryo: „Hallo Kiryu, hast du unseren Instagram-Account gesehen?“

Kiryu rieb sich den Schlaf aus den Augen und erwiderte dann: „Ich hab gestern Abend noch mal nachgesehen. Hatte sich nicht weiter verändert. So 1.000 Follower halt.“

„Dann sieh jetzt noch mal nach! Wir stehen jetzt schon bei über 2.500. Heute Mittag haben wir vielleicht schon die 3.000 voll!“ Ryo war sonst nicht der Typ, der sich zu übermäßiger Begeisterung hinreißen ließ, jetzt schien er Luftsprünge machen zu wollen.

„Was?“, fragte Kiryu mit einigem Unglauben nach.

„Es ist wahr! Und so weit ich das richtig sehe, sind das keine Bots.“

„Okay, ich sehe es mir mal an“, sagte Kiryu immer noch verschlafen.

„Sorry, dass ich dich geweckt habe. Es ist nur... so viele Follower auf einmal!“ Kiryu gab als Antwort ein undefinierbares Grummeln von sich. Dann verabschiedete sich Ryo auch schon wieder. Er wollte noch Taro und Haru anrufen.

Kiryu wollte noch ein wenig schlafen. Doch gerade als er sich wieder hingelegt und die Augen geschlossen hatte, wurde ihm klar, was Ryo ihm gerade gesagt hatte: Sie hatten über Nacht die Anzahl ihrer Follower mehr als verdoppelt! Kiryu schlug die Augen wieder auf, griff nach seinem Smartphone und öffnete Instagram.

Ryo hatte nicht gelogen. Sie waren plötzlich sehr beliebt geworden. Und es schienen wirklich keine Bots zu sein. Wie hatte Urukawa das gemacht? Wo kamen all diese Follower plötzlich her? Die kamen ja nicht mal alle aus Japan. Viele waren aus Südkorea und Hongkong. Aus Neugier sah er sich noch ihren Twitter-Account an. Dort war es das Gleiche: Statt nur knapp 400 Follower, hatten sie jetzt über 2.000. Kiryu fand das alles sehr merkwürdig, hielt es aber nicht für unmöglich. Und Urukawas Leute schienen wirklich Ahnung von Social Media zu haben.

Er rieb sich noch den letzten Schlaf aus den Augen, wollte aber immer noch nicht richtig wach werden. Also trug er sich eine Erinnerung in seinem Kalender ein und versuchte noch einmal zu schlafen.

Ihm ging plötzlich so viel durch den Kopf. Aber all diese Gedanken fühlten sich so zäh an... Er brauchte unbedingt noch ein wenig Schlaf. Irgendwie schaffte er es aber dennoch schnell wieder einzuschlafen.

Ein paar Stunden später saß er in einem Internet-Café. Eine Tasse Kaffee stand neben der Tastatur. Der Bildschirm vor ihm zeigte den Youtube-Account von Rising Phenix. Auch dort waren sie plötzlich sehr beliebt. Dabei war ihr letztes Video schon Monate alt. Und die Qualität war nicht sehr gut.

Er konnte sich einfach nicht erklären, wieso sie so plötzlich so viel Aufmerksamkeit bekamen. Deshalb hatte er sich auch die Webseite ihres Plattenlabels angesehen. Und dort wurden sie als neue interessante Band geradezu angepriesen.

Sie hatten weder ein Album geschweige denn eine Single, noch eine Tour vorzuweisen. Es gab nur ein paar Videos ihrer Auftritte. Und die waren nicht auf dieser Seite verlinkt. Dennoch war der Text über sie erstaunlich ausführlich. Und natürlich wurden Ryo und Kiryu dort nur unter ihren Künstlernamen aufgeführt. Kiryu rief zum Schluss noch seine E-Mails ab, dann wollte er gehen. Allerdings fand er in seinem Posteingang eine äußerst unangenehme Überraschung: Irgendwelche Vollpfosten hatten seine private E-Mail-Adresse herausgefunden und beschimpften ihn hier. Es war eine Vielzahl ähnlicher Nachrichten. Der Inhalt bestand bei manchen nur aus Beleidigungen, andere wurden konkreter in dem, was er tun sollte. Er sollte beispielsweise die Bühne guten Musikern überlassen. Und wenn er schon solche Emo-Stimmung verbreitete, sollte er der Welt doch einen Gefallen tun und sich von einer Brücke stürzen.

Kiryu war geschockt über den Hass, der ihm entgegenschlug. Dabei hatte er doch noch gar nichts gemacht, seit sie bei Urukawa unter Vertrag waren.

Wie in Trance zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und rief Tanakawa an.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Kiryu. Was kann ich für dich tun?“, begrüßte ihn Tanawaka überschwänglich.

„Hi, Herr Tanakwa. Ich hab ein kleines Problem“, eröffnete ihm Kiryu. Dann erklärte er die Situation und las ein paar der Mail vor.

„Oh, das ging schnell“, antwortete ihm Tanakawa. Er schien nicht sonderlich überrascht darüber, dass Kiryu solche Hass-Mails bekam. Er war lediglich verwundert darüber, dass es schon jetzt passierte.

„Finden Sie das nicht bedenklich?“

„Ich werde Urukawa darüber informieren. Mach dir keine Sorgen, Kiryu. Je bekannter ihr werdet, desto mehr Neider wird es auch geben.“

„Herr Tanakawa, das sind Morddrohungen und Selbstmordaufforderungen, die ich da bekommen habe! Das können Sie doch nicht einfach so gutheißen?!“ Kiryu musste aufpassen, dass er hier nicht zu laut wurde. Seine Nerven lagen blank.

„Jetzt beruhige dich, Kiryu. Das heiße ich keinesfalls gut. Ich werde mich darum kümmern. Aber du musst auch nicht untätig herumsitzen. Geh auf deine Fans zu. Sie sind jetzt deine größte Stütze. Wenn sich die Fans schützend vor Rising Phenix stellen, werden die Hassnachrichten nachlassen.“

„Meinen Sie wirklich?“

„Vertrau mir, Kiryu. Geh in die Offensive und versuch nicht weiter über diese... Wie nanntest du sie so treffend?“

„Hirnverbrannte Vollidioten“

„Ja, genau! Denk nicht weiter über die und ihre Nachrichten nach. Ach und ganz nebenbei: Du solltest deinen Spamfilter anpassen.“ Dann hatte Tanakawa das Gespräch auch schon beendet. Vertrauen – ausgerechnet Tanakawa sollte er vertrauen? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein.

Er schloss den Browser und verließ dann das Café. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Der Tag war viel zu schön für solche furchtbaren Nachrichten. Und wenn er so über Tanakawas Worte nachdachte, hatte dieser wahrscheinlich Recht. Kiryu gab es nur ungern zu, aber Tanakawas Rat sich verstärkt an ihre Fans zu richten, war genau das, was sie jetzt tun sollten. Also schrieb Kiryu den anderen, dass er eine Nachricht an die neuen Fans posten wollte. Heute Abend würden sie den genauen Inhalt dafür besprechen.

Diese E-Mails hatten aber trotzdem noch eine Wirkung auf Kiryu. Die waren schließlich nicht an die Band, sondern direkt und ausschließlich an ihn gerichtet. Und jedes Wort, das er gelesen hatte, verursachte noch immer Angst in ihm. Er fühlte sich allein. Ungeschützt. Und hilflos.

Jetzt, wo ihm das alles noch einmal durch den Kopf ging, wären ihm fast die Tränen gekommen. Noch nie war ihm solcher Hass entgegen geschlagen. Anfeindungen kannte er. Die kannten sie alle. Schließlich fielen sie ja schon allein mit ihrem Äußeren auf. Diese E-Mails waren aber ein ganz anderes Level! Das wollte er nicht noch einmal durchmachen. Er atmete tief ein und aus und machte sich dann auf den Weg zum Black Thunder. Die Arbeit dort brachte ihn hoffentlich auf andere Gedanken.

Erste Schritte

Sein Zeitgefühl ging ihm so langsam aber sicher abhanden. Gestern waren sie noch bis spät nachts im Tonstudio gewesen. Und heute morgen ging es seit 8:00 schon weiter. Und dabei hatten sie gerade mal fünf Songs aufgenommen. Aber selbst das waren nur Probeaufnahmen. Wie lange sie jetzt schon hier waren, konnte Kiryu nicht sagen. Er hatte jetzt schon so oft „Wahnsinn in mir“ gesungen, dass er – genau wie gestern Abend – nicht mehr wusste wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Er hatte Hunger. Und seine Kehle fühlte sich wie ein Reibeisen an. Das machte keinen Spaß.

    „Kann ich mal was anderes singen?“

    „Also, eigentlich wollte ich den Song hier erst noch fertig machen“, erwiderte Hayashi mit tonloser Stimme. Er war ein Perfektionist und das bedeutete, dass er ihnen erst eine Pause gewährte, wenn ihm der Klang eines Songs gefiel. Und wenn er einmal angefangen hatte, hörte er auch so schnell nicht wieder auf. Selbst ein Erdbeben oder ein Tsunami dürften Hayashi nicht aus dem Tonstudio vertreiben, wenn er gerade an einem Song arbeitete. Und wenn die Welt untergehen würde?! ... schwierige Frage...

    „Also, ich brauch mal 'ne Pause“, sagte Kiryu müde.

    „Hey, wir haben doch gerade erst angefangen. Ich lass mir doch von dir nicht meine Arbeit ruinieren! Pause wird erst dann gemacht, wenn ich es sage. Deine Star-Allüren kannst du dir sonst wo hin stecken“, entgegnete Hayashi wütend. Hayashi war wirklich eingeschnappt. Aber Kiryu dachte gar nicht daran ihm nachzugeben.

Wäre Urukawa mit ihrem Manager im Schlepptau nicht aufgetaucht, hätte sich Kiryu schon noch zurück genommen und weiter gesungen. So allerdings... Die Verlockung war einfach zu groß. Er sah seine Chance auf eine Unterbrechung gekommen.

    „Gibt es Probleme? Wie kommst du voran, Hayashi?“, fragte Urukawa ganz ungeniert.

    „Hallo, Herr Urukawa. Naja... also...“, setzte Hayashi schon an.

    „Wir wollten gerade eine Pause einlegen“, wurde er schnell von Kiryu unterbrochen. Urukawa sah zuerst zu Hayashi, der wütend zu Kiryu blickte. Dann fragte er, wie lange sie denn schon hier waren. Er war wirklich überrascht zu hören, dass sie fast vier Stunden ohne großartige Pausen an den Aufnahmen der Songs gearbeitet hatten.

    „Ja, unser Hayashi ist nun mal ein Arbeitstier. Aber was er anpackt, wird dann auch gut, darauf könnt ihr euch verlassen“, sagte ihnen Urukawa und klopfte Hayashi freundschaftlich auf die Schulter.

    „Morgen fangen wir an euch landesweit bekannt zu machen. Aber das wird euch Herr Akirou noch genauer erklären.“ Dann ging Urukawa wieder und ließ Akirou bei ihnen zurück.

Morgen würden sie im Center gai, der größten Einkaufsstraße in Shibuya, sein. So würden sie zumindest erst einmal aus dem Untergrund heraus kommen. Kiryu hatte aber trotzdem ein mulmiges Gefühl. Der Vertrag, den er mit Tanakawa geschlossen hatte, kam ihm immer wieder ins Gedächtnis. Nur deshalb blieb er immer so misstrauisch. Nur deshalb konnte er den Menschen hier nicht vertrauen. Vielleicht war das aber auch ganz gut so?!

Als Kiryu am späten Nachmittag wieder Zuhause war, dachte er wieder an ihr letztes Konzert. Takuhiro hatte ihnen am Montag einen USB-Stick vorbeigebracht. Kurzentschlossen hatten sie sich die Bilder auch direkt angesehen. Takuhiro Higuris Fotos waren wirklich gut. Sie gefielen Kiryu. Tanakawa oder Urukawa hatten keine Ahnung davon, dass Kiryu eigene Pläne schmiedete, um von ihnen unabhängig zu werden. Er wollte auf eigenen Beinen stehen, selbst entscheiden, mit wem sie zusammenarbeiteten. Aber das waren bis jetzt nur vage Vorstellungen. Dennoch waren diese Fotos sein Geheimnis – seine Aussicht auf einen Ausweg... Wie genau der aussehen sollte, war ihm zwar noch nicht klar, aber er hatte das Gefühl, dass Takuhiro ihm noch helfen könnte.

Auf einem Foto war nur Kiryu klar zu erkennen. Der Hintergrund und der untere Bildrand waren verschwommen. Kiryu beugte sich gerade vor zum Bühnenrand. Die Menschen vor ihm jubelten ihnen zu. Es war als wollte die Menschenmasse mit Kiryu – mit Rising Phenix – verschmelzen. Das musste während „After Light“ aufgenommen worden sein.

Dann war da eins vom Anfang des Konzerts. Der Vordergrund war schwarz, die Bühne dagegen hell erleuchtet. Auf diesem Foto sah Kiryu erst richtig, wie nervös sie alle waren. Das nächste Foto zeigte das Publikum ganz deutlich. Die Band war nur verschwommen zu sehen. Aber bei „Sora to Ito“ passte das auch. Dann kam ein Bild, das während des Intros von „Wahnsinn in mir“ aufgenommen worden war. Nur Kiryu stand im Licht, die restliche Bühne lag im Schatten. Das Publikum war nur zu erahnen. Und als sich Kiryu das Bild näher ansah, war es fast so, als könnte er jenen Moment noch einmal erleben.

Die Fotos passten perfekt zu jedem einzelnen Song. Es sah alles so gut aus. So professionell. Und da hatte Takuhiro noch gesagt, dass er sich mit dieser Art Fotos noch gar nicht gut auskannte und sich lediglich ein wenig ausprobierte. Eine grenzenlose Untertreibung in Kiryus Augen. Aber wenn er diese Fotos jetzt so sah... die sahen echt aus wie von einem Profi und nicht wie von einem Hobby-Fotografen.

         

Die Menschenmenge war enorm. Kiryu hätte gar nicht damit gerechnet, dass wirklich so viele Leute kommen würden. Ein Großteil waren zwar Journalisten und auch ein paar Blogger, aber trotzdem hätte Kiryu niemals mit diesem Zulauf gerechnet.

    „Ja, Social Media verhilft uns doch immer wieder zu neuen Fans“, meinte Taro nur so am Rande. Keiner Antwortete ihm.

Sie standen hinter einer Bühne, hinter der Taro hervor linste und sich die Ansammlung ansah.

Als Kiryu las, zu was sie hier eingeladen worden waren, hätte er am liebsten protestiert. Es war eine reine Werbeveranstaltung. Aber nicht für sie, sondern für ihr Label. Er selbst hätte sich das wahrscheinlich nicht angesehen, weil eh immer die gleichen Fragen gestellt und die gleichen Antworten gegeben wurden. Es hätte ihn einfach nur gelangweilt. Und es hatte ihm nie zugesagt, dass immer und immer wieder neue Künstler von irgendwelchen großen Labels bekannt gemacht – ja, fast vorgeführt wurden. Jetzt aber auf der anderen Seite zu stehen, brachte auch eine neue Sichtweise. Als er das erste mal von dieser Art Werbeauftritt gehört hatte, war er wütend. Wütend und neidisch. Aber dass er darauf einst eifersüchtig gewesen war, würde er niemandem auf die Nase binden. Er hatte es endlich geschafft, was interessierte da die Vergangenheit?! Sie standen zwar noch ganz am Anfang, aber jetzt und hier konnte es ja nur noch bergauf gehen, so hoffte er. Ein mulmiges Gefühl hatte er dennoch, wenn er daran dachte die Fragen zu beantworten. Würde ihm dann wieder so viel Hass entgegenschlagen? Würden sie ausgebuht werden? Tanakawa hatte ihm zwar versichert, dass er sich um dieses Problem gekümmert hätte, aber Kiryu fürchtete trotzdem, dass er noch einmal solche Nachrichten bekommen würde.

    „Und wieder einmal hat es Herr Urukawa geschafft vielversprechende Künstler in Tokyo zu finden...“, der Moderator hatte schon über alles Mögliche gesprochen. „Der musste sich den Mund doch irgendwann mal fusselig geredet haben“, ging es Kiryu nur durch den Kopf als er wieder zuhörte und auf ihr Stichwort wartete. Urukawa stand mit dem Manager von Rising Phenix im Schlepptau auf der Bühne und schien ein lockeres, improvisiertes Gespräch mit dem Moderator zu führen. Dabei hatten sie das alles stundenlang einstudiert. Herr Akirou würde die meiste Zeit nur schweigend neben ihnen stehen. Und so ein ganz klein wenig tat er Kiryu sogar Leid.

    „Hier sind sie – Rising Phenix“ Das war ihr Stichwort. Schnellen Schrittes kamen sie auf die Bühne. Sie hatten kein Gejubel oder tosenden Applaus erwartet. Aber nur Blitzlichtgewitter auch nicht. War denn nicht wenigstens ein Fan unter der Menschenmasse?! Doch wie es aussah, nicht.

Sie hatten sich an einen Tisch auf der Bühne zu setzen, und mussten wieder warten. Ihr Manager und Urukawa hatten ihnen eingeschärft nichts zu sagen, bevor sie nicht ein Zeichen zum Reden bekommen hatten.

Betretenes Schweigen war eingetreten. Man hätte die Luft schneiden können. Und Kiryu konnte gerade nicht anders und stellte es sich bildlich vor. In seiner Vorstellung sah es wenig so aus wie in einem Großraumbüro. Jeder hatte seine quadratische Zelle. So nach dem Motto: Das ist mein Stückchen Luft und das ist dein Stückchen.

    „Darf ich vorstellen: Das sind Taro, Rick, Haru und Kilian. Zusammen bilden sie die Band Rising Phenix“, waren sie von Urukawa vorgestellt worden.

    „Wie haben Sie die Jungs gefunden?“, traute sich der erste Journalist zu fragen. Urukawa grinste zuerst wieder so überlegen, dann erzählte er wie er Rising Phenix „entdeckt“ hatte.

    „Woher kommen Sie? In welchen Verhältnissen sind Sie aufgewachsen?“, wurde zum ersten mal eine Frage direkt an die Band gestellt. Vorher war immer nur Urukawa interessant gewesen. Seine Entdeckung der Band nur so etwas wie eine Trophäe gewesen.

Sie sahen zuerst Urukawa an, dann erzählte jeder von ihnen kurz und knapp, dass sie nicht gerade in den besten Verhältnissen groß geworden waren, aber dennoch gerne in Tokyo lebten. Für sie kam es nicht infrage wegzuziehen.

Manch einer war auch überrascht das zu hören. Aber der Großteil hatte es ganz einfach hingenommen.

Dieses Frage- Antwort- Spiel ging fast eine Stunde. Dann durften sie endlich wieder gehen. Den restlichen Tag hatten sie frei. Dabei hätten sie wohl noch weiter an den Songs arbeiten sollen, die Hayashi noch nicht vollendet hatte. Aber dieser freie Nachmittag würde Kiryu ganz gut tun. Ab jetzt würde es verdammt stressig werden. Da wollte er noch jede freie Minute entspannen. Wer wusste schon, wie viel er davon in Zukunft noch hatte?!

     Kiryu versuchte noch am selben Abend an einem Song zu arbeiten. Aber ihm fielen nur ein paar Verse ein:
 

    Mein Herz so schwer,

    Mein Atem schwach...

    Angst durchfährt mich,

    Ein Moment hält wach,

    Und niemand anders hier!
 

Vielleicht würde ihm mehr einfallen, wenn Taro erst einmal eine Melodie geschrieben hatte. Das war schließlich schon öfter so gewesen. Er lag jetzt schon so lange auf seinem Bett und grübelte über den Text nach. Aber er hatte gerade eine absolute Denkblockade. Wie schafften es nur die anderen japanischen Bands so viele Lieder zu schreiben? The GazettE brachten im Jahr zwei oder sogar drei Alben heraus – und da klang nicht ein Song wie der andere. Und Kiryu?! Bis jetzt hatte er zwar schon genug Texte für zehn Alben geschrieben. Das Problem war nur, dass diese Texte:

  1. Nicht alle gut waren und

  2. Einige davon ZU persönlich waren

Es ging andere Menschen einfach nichts an, was er in bestimmten Momenten durchgemacht hatte. Und selbst, wenn sie genügend Texte hatten, ohne Melodien nützten die ihnen gar nichts.

Aber bei diesem Text jetzt... sonst war es immer so, dass er wenigstens eine grobe Vorstellung davon hatte, was für eine Melodie auf welchen Text passte. So war es auch bei „Wahnsinn in mir“ gewesen. Kiryu wusste nur, dass es ein ruhiger Song werden würde. Diese Idee hatte er auch Taro gesagt. Mit dem Ergebnis waren sie auch zufrieden.

Jetzt lag er auf dem Rücken auf seinem Bett und las sich wieder und wieder seinen Text durch. Irgendwann schlief er dann ein. Das Blatt mit dem angefangenen Text hatte er nur kurz auf seinem Bauch abgelegt, um besser nachdenken zu können. Aber ihm waren die Augen immer schwerer geworden. Mitten in der Nacht wachte er allerdings aus einem traumlosen Schlaf auf. Als er nachsah, wie spät es war, stellte er fest, dass er nur eine Stunde geschlafen hatte – es war nicht mal 23:00. Die Verse hatte er die ganze Zeit über festgehalten. Er las sie sich noch einmal durch, legte das Blatt dann aber auf seinen Tisch. Auch jetzt fiel ihm nichts noch ein. Aber etwas anderes hätte er auch nicht erwartet. Er brauchte jetzt Ablenkung, irgendetwas, um den Kopf frei zu bekommen. Dass er eine halbe Stunde später in Shibuya unterwegs war, hatte er nicht wirklich geplant. Es war mehr ein Automatismus, der ihn hierher gehen ließ. Theoretisch hätte es auch gereicht, wenn er sich noch um einige andere Songs gekümmert hätte, die sie noch aufnehmen wollten. Aber ob er heute Abend wirklich noch etwas zustande gebracht hätte, bezweifelte er. So versuchte er jetzt aber das Beste daraus zu machen. Wie, wusste er auf die Schnelle aber auch nicht... Er ging schließlich in ein Internet-Café. Dort stöberte er in einigen Foren und fand auch nach einigem Suchen etwas über ihren „Auftritt“ im Center-gai. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich bei allen beliebt wären. Aber ein Eintrag war gar nicht mal so schlecht:
 

„Herr Urukawa hat wieder einmal ein gutes Gespür bewiesen. Seine neuste Entdeckung, eine junge Band aus Tokyo, verspricht großen Erfolg zu haben [...]“ In diesem Ton ging es auch weiter. Da setzte wirklich jemand großes Vertrauen in sie. Kiryu hatte kurz das Verlangen jetzt einfach aus dem Vertrag auszusteigen. Das war zu einen eine Trotzreaktion, zum anderen war er so zuversichtlich wie nie, dass sie es ab hier auch alleine schaffen würden. Das war natürlich nur ein Trugschluss, und das wusste er. Dennoch war es für ihn gerade sehr verlockend, sich jetzt von Tanakawa und Urukawa. loszusagen. Aber bevor er diesen Gedanken noch weiter nach hing, fand er etwas von einem anderen Blogger.

Schlechte Kritik war manchmal ganz hilfreich, im ersten Moment für den Kritisierten aber verletzend. Kiryu bildete da keine Ausnahme und war eingeschnappt, als er den Text las. Eine gewisse Chiaki war auch im Center gai anwesend gewesen. Aber ein einzelner Blogger war in dieser Masse an Journalisten natürlich unter gegangen. Und sie hatte sich wohl gerade erst dazu durchgerungen über diesen Nachmittag zu schreiben, wenn er sich den letzten Stand der Aktualisierung so ansah:
 

„Wie einige Journalisten der Boulevardpresse schon richtig bemerkt haben, bewies uns Herr Urukawa mal wieder ein „gutes“ Gespür für Newcomer. Die Band, die er diesmal aus dem Untergrund gezogen hat, schien vollkommen unter seiner Kontrolle zu stehen. Jede

Antwort wurde erst nach reichlicher Überlegung und einem Blick zu Urukawa beantwortet. Von Spontaneität keine Spur. Selbst auf die Frage, ob die Band eigene Wege gegangen war oder noch gehen wollte, war nur die von Urukawa gewünschte Antwort

gekommen.

Die vier Jungs der Band Rising Phenix hatten am Anfang sehr deplatziert gewirkt. Das war insofern überraschend – oder auch irritierend – da sie, wie sie selbst gesagt hatten, wohl schon einen beachtlichen Stamm an Fans haben.

Urukawa hatte bis jetzt immer ein glückliches Händchen damit bewiesen etwas zu finden, das die große Masse begeistert hatte. Und sicher wird es diesmal auch nicht anders sein. Bei dieser Pressekonferenz stand schließlich auch Urukawa, anstatt seiner

Entdeckung Rising Phenix im Vordergrund. Und sicher hat er auch diesmal wieder so eine Band gefunden, die den Geschmack der Masse trifft. Doch es bleibt fraglich, ob die Jungs von Rising Phenix länger als ein Jahr im Rampenlicht durchhalten oder nicht schon eher wieder in der Versenkung verschwinden [...]“
 

     „Der Geschmack der Masse“ Sollte das wirklich stimmen? Waren sie wirklich so massentauglich? Das hätte ihnen nur kurzfristig Erfolg gebracht, aber keine anständige Fangemeinde.

Am liebsten hätte er sofort protestiert; dieser Chiaki gesagt, dass sie falsch lag. Aber wenn er es recht bedachte, waren ihnen wirklich alle Antworten in den Mund gelegt worden. Und Urukawa würde ihnen sicher auch nicht die Freiheit lassen alle Songs so zu schreiben, wie sie wollten. Aber wie könnten sie dem entgehen? Sie würden kämpfen müssen. Und es würde ein langer, harter Kampf werden.

Kiryu ging wieder nach Hause. Zweifel packten ihn jetzt wieder. Konnte es denn wirklich nur bergauf für sie gehen? Nach unten war es schließlich schon jetzt weit genug.

Trotz all der positiven Nachrichten zog ihn die kritische Auseinandersetzung ihres Auftritts im Center gai herunter. Doch schließlich fasste er den Entschluss, dass sie mehr Freiheiten bei öffentlichen Auftritten brauchten.

Die Artikel, die sie und Urukawa in den höchsten Tönen gelobt hatten, beschäftigten ihn schon gar nicht mehr. Den genauen Wortlaut hatte er ebenfalls schon wieder vergessen. Es klang einfach alles so gut. Ein bisschen zu gut, um wahr zu sein. Besser er ging noch einmal zu Tanakawa. Wenn er den auch nur ein kleines bisschen ausquetschen konnte, was das weitere Vorgehen und seine genauen Pläne für Rising Phenix anging, würde ihnen das sicher auch schon weiter helfen. Denn, wie hieß es immer so schön: Wissen ist Macht. Und Tanakawa wusste eindeutig mehr über ihn, als Kiryu über Tanakawa. Das musste er ändern.

      Obwohl er nach Hause wollte, streifte er noch durch den Shinjuku-Gyoen, Tokyos zweitgrößtem Park. Hier war er oft. Das weite Gelände bot ihm immer Möglichkeiten allen Menschen zu entgehen. Hier konnte er meistens wirklich allein sein. Und im März sah es hier einfach schön aus mit all den Kirschblüten. Heute Abend allerdings war es ihm nicht vergönnt allein durch den Park zu streifen. Takuhiro Higuri begegnete ihm auch hier wieder. Er hatte einen Teil seiner Ausrüstung bei sich und Kiryu vermutete, dass er gerade arbeitete oder eben erst Feierabend gemacht hatte.

    „Hey, Kiryu. Na, wie geht's dir?“ Es war nicht das, was er gefragt hatte, sondern vielmehr die Art wie er es tat. Sein Tonfall hatte ernstes Interesse ausgedruckt, trotz dieser banalen Frage. Takuhiro schien eine wirklich gute Menschenkenntnis zu haben. Oder er hatte gerade einfach nur Glück.

    „Naja, eigentlich könnte es nicht besser sein...“ Kiryu wollte ihm schon wieder ausweichen. Aber Takuhiro schien ihn mit seinem Blick zu hypnotisieren. Seine violetten Augen schienen „Erzähl's mir“ zu schreien. Takuhiro selbst hatte noch nichts weiter gesagt, sondern ihn nur auffordernd angesehen.

Kiryu drehte sich ein Stück zur Seite und seufzte. Er wollte Takuhiro nicht in die Augen sehen. Er hatte Angst, dass sein Gesicht – seine Augen – viel zu viel von dem verraten könnten, was wirklich in ihm vorging.

    „Es ist nicht so, wie du es dir vorgestellt hast, oder?“

Kiryu nickte nur zur Antwort. Takuhiro klopfte ihm daraufhin auf die Schulter: „Ihr steht ja noch am Anfang.“ Dann zog er Kiryu einfach mit sich. „Komm, ich wohne ganz in der Nähe und in meiner Wohnung lässt es sich besser reden als hier“, sagte er noch.

Kiryu sagte wieder nichts darauf. Aber so langsam fasste er Vertrauen zu Takuhiro. Es war einfach diese Art von Takuhiro, die ihm Zuversicht gab. Der Kerl schien in anderen Menschen lesen zu können wie in einem Buch. Aber anders als bei Tanakawa, der ebenfalls diese Fähigkeit zu haben schien, hatte Kiryu bei Takuhiro nicht den Eindruck, dass es für ihn gefährlich wäre, Takuhiro blindlings zu vertrauen. Er konnte – er wollte – einfach nicht glauben, dass dieser schmächtige, kleine Kerl mit den ungewöhnlichen Augen ihm gefährlich werden könnte...



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