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Flashlight

von

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Ein neues Zuhause

„Schmeckt es nicht?“, fragte eine männliche Stimme mit sanftem Unterton. Langsam hob er seinen Blick und schaute emotionslos in die rotbraunen Augen seines Gegenübers. Langsam wanderte sein Blick wieder nach unten auf den Teller. „Doch“, flüsterte er mit rauer Stimme und tauchte den Löffel in die Suppe. Es war eher eine Brühe mit Haferflocken drin, doch es wärmte ihn von innen heraus. „Wenn du noch mehr möchtest, sag es ruhig“, sagte die Stimme wieder. Langsam aß er und versuchte sich an die letzten Stunden zu erinnern.

Die bösen Menschen hielten eine schwarze Messe ab und waren gerade dabei ein Kind, etwas älter als er selbst vielleicht, auf dem Altar zu opfern, als es einen lauten Knall gab. Rauch breitete sich urplötzlich in dem riesigen Saal aus, viele Menschen schrien durcheinander, laute Schritte und Flüche waren zu hören. Es ging alles ganz schnell. Viele Männer in schwarz, mit Helmen und bewaffnet, nahmen alle Mitglieder der Sekte gefangen und befreiten die Kinder aus ihren Käfigen. Er wusste nicht wie lange er dort war, gehalten wie ein Tier, eingesperrt in einem Käfig aus Eisenstangen. Die Menschen in ihren schwarzen Kutten wurden in Handschellen abgeführt, dann wurden die Kinder nach draußen gebracht. Viele Polizisten nahmen ihre Namen auf und nach und nach verschwanden die Kinder. Wurden von ihren Eltern, die überglücklich waren, abgeholt. Am Ende blieb nur einer übrig. Er selbst. Ein Mann redete mit ihm, er sah wie sich seine Lippen bewegten, doch er verstand kein Wort. Alles zog an ihm vorbei wie in Watte gepackt.

Das nächste, an das er sich erinnern konnte, war, dass er in einer Badewanne saß und zwei sanfte Hände ihn vorsichtig wuschen. Teilnahmslos ließ er es über sich ergehen. Die Stimme, die gerade mit ihm gesprochen hatte, hatte dabei mit ihm geredet, doch er hatte nicht geantwortet. Die Worte erreichten ihn einfach nicht.

Irgendwann saß er bekleidet mit Unterwäsche und einem T-Shirt, das ihm viel zu groß war, an diesem Tisch und vor ihm ein Teller mit dieser Suppe. Er hatte Hunger, großen Hunger, doch keinen Appetit. Er zwang sich eher das zu essen. Als der halbe Teller leer war, ließ er den Löffel in die Brühe sinken und schob ihn von sich. Sein Magen knurrte, wollte offensichtlich noch mehr. Der Mann, der ihm gegenüber saß, zog seine Augenbrauen nach oben. „Möchtest du etwas anderes?“, fragte er, erhielt als Antwort aber ein Kopfschütteln. Besorgt wurde er angesehen.
 

Wie hätte er diese Frage beantworten sollen, wenn in ihm nur Leere herrschte? Seine Gedanken waren still, sein Kopf wie leergefegt. Er spürte nichts, dachte nichts, und wollte nichts. Er wusste nicht einmal den Namen von seinem Gegenüber. Plötzlich wurde ihm eine Tasse mit weißer Flüssigkeit vor die Nase gestellt. Der Inhalt dampfte leicht. „Wie wäre es mit einer heißen Milch?“, wurde er lächelnd gefragt. „… mit Honig?“, fragte er leise. „Sicher, so viel Honig, wie du möchtest.“ Der Mann stellte ihm mit einem freudigen Lächeln ein Glas mit goldgelbem, zähflüssigem Honig hin und legte einen Teelöffel dazu. Er nahm den kleinen Löffel in die Hand, tauchte ihn in das Glas und ließ den Honig langsam in seine Tasse laufen. Er verrührte den Inhalt, dann nahm er vorsichtig einen Schluck, um sich nicht die Zunge zu verbrennen. „Mh!“, erstaunt riss er seine blauen Augen auf und trank die Milch in einem Zug leer. Sie hatte die perfekte Temperatur und schmeckte herrlich süß. „Möchtest du noch mehr?“ Er nickte zögerlich als Antwort und schon wurde ihm nach geschenkt. Wieder tauchte er den Löffel in das Glas und verrührte den Honig mit der warmen Milch. Diese Kombination hatte er schon immer gemocht, soweit er sich zurückerinnern konnte. Damals hatte Opa immer gesagt er solle nicht zu viel von dem Honig nehmen, das wäre schlecht für die Zähne. Augenblicklich wurde er traurig. Opa, so nannte er ihn immer, war eigentlich der Butler seiner Familie. Er war, soweit er wusste, sogar der Butler seines eigentlichen Großvaters gewesen, doch dieser war früh verstorben.

Traurig senkte er seinen Blick in die Tasse. Seine Familie, seine geliebten Eltern … Er würde sie nie wieder sehen. Er versuchte die Tränen herunter zu schlucken. Es war an seinem vierten Geburtstag gewesen. Opa wollte ihn zum Abendessen holen, doch er kam nicht und als er sich aus dem Zimmer schlich, um nachzusehen, was los war, stand ihr halbes Haus schon in Flammen. Seine Eltern lagen tot im Wohnzimmer. Er rannte weinend durchs Haus und rief nach Opa. Als er ihn fand, versuchte dieser ihn noch zu warnen, doch es war schon zu spät. Schwarze Männer stachen Opa nieder und nahmen ihn selbst mit. Als er aufwachte, befand er sich in einem Käfig. Er war in einem großen, runden Saal. Überall standen Käfige mit Kindern darin, manche sahen mehr tot als lebendig aus. An diesem Tag hatte die Hölle ihre Pforten für ihn geöffnet gehabt.
 

„Hey … möchtest du dich vielleicht hinlegen?“, riss die Stimme ihn aus seinen düsteren Gedanken. Erschrocken hob er seinen Blick, dann nickte er langsam. Er war müde und erschöpft. Unzählige Nächte hatte er in diesem Käfig auf dem kalten, harten Boden geschlafen, aber immer nur ein paar Stunden, dann wurden sie geweckt. „Na komm“, sagte der Mann und deutete ihm, ihm zu folgen. Im Wohnzimmer deutete er auf das große Sofa, auf dem ein Kissen und eine Decke lagen: „Hier kannst du schlafen. Wenn etwas ist, egal was, dann komm zu mir, oder ruf nach mir, verstanden?“ Er nickte langsam, dann ging er zu dem großen Sofa, das plötzlich sehr einladend wirkte, und kroch unter die Decke. Kaum hatte er sich eingekuschelt, war er auch schon eingeschlafen.
 

Kurz blieb Sebastian noch in seinem Wohnzimmer stehen und betrachtete den kleinen Jungen, dann ging er zurück in den Flur, löschte das Licht und lehnte die Tür an. Kopfschüttelnd betrat er seine Küche. Was für ein Tag! Nicht nur, dass sie es endlich, nach über einem Jahr, geschafft hatten, alle Mitglieder der schwarzen Sekte zu verhaften, jetzt schlief ein kleiner Waisenjunge in seinem Wohnzimmer.

Sebastian hatte sich nie Kinder gewünscht, oder eher nie darüber nachgedacht, ob er welche wollte, und eigentlich wusste er auch nicht so recht was er mit ihnen anfangen sollte. Doch als er den kleinen Jungen ganz allein dort stehen sah und ein Polizist ihm mitteilte, dass dieser keine Eltern und auch sonst niemanden mehr hatte, hatte er kurzerhand beschlossen ihn bei sich aufzunehmen. Zumindest vorübergehend, damit er nicht in ein Waisenhaus musste. Der Junge war, wie alle Kinder, die sie dort herausgeholt hatten, traumatisiert. Ohne psychologische Betreuung würde er nie ein auch nur ansatzweise normales Leben führen können. Daher hatte er ihn mit zu sich genommen, schließlich hatte Sebastian einen Doktor in Psychologie. Er konnte, wenn er wollte, in Menschen lesen wie in einem Buch. Das war auch der Grund, weswegen er an diesem Abend bei dem Einsatz dabei gewesen war. Die Leute von Scotland Yard riefen ihn ab und an zu Hilfe bei besonders schweren Fällen, oder einfach nur um ein psychologisches Profil des Täters erstellen zu können. Dabei war das nicht einmal Sebastians Fachgebiet. Ihn interessierte eher, wieso Menschen so waren, wie sie waren und wieso sie sich in bestimmten Situationen so verhielten wie sie es taten.

Er hatte einige Jahre in der Forschung gearbeitet und sich auch mit Neurologie beschäftigt. Aktuell jedoch leitete er die Klinik seines Vaters, da dieser aufgrund seiner schlechten Gesundheit nicht mehr arbeitstauglich war. Nicht, dass es ihm leid täte um seinen alten Herren. Er hatte zu seinen Eltern nie ein besonders gutes Verhältnis gehabt. Sie hatten sehr hohe Erwartungen an ihn gestellt und sobald er sie erfüllte, wurde die Messlatte weiter angehoben.
 

Seufzend schob er diese Gedanken beiseite und räumte erst einmal den Tisch ab. Er würde sich die nächsten Wochen Urlaub nehmen, seinen neuen Gast konnte er nicht den ganzen Tag allein lassen. Wichtige Dinge sollten sie ihm eben hierher schicken. Die Klinik lag ihm sowieso nicht sonderlich am Herzen.

Seufzend begann er das wenige Geschirr zu spülen. Er müsste seinen Freund Claude anrufen. Dieser war Kinderarzt und hatte vor zwei Jahren zwei Jungen bei sich aufgenommen, die durch einen schlimmen Unfall ihre Familie verloren hatte. Der Ältere müsste ungefähr im selben Alter sein. Sebastian brauchte Kleidung für den Kleinen, so konnte er nicht mit ihm nach draußen gehen.
 

Nachdem er alles abgetrocknet und weggeräumt hatte, suchte er nach seinem Smartphone. Das lag noch im Eingangsbereich, genau wie seine Schlüssel und sein Portemonnaie. Er nahm es in die Hand, ging zurück in die Küche und entsperrte es auf dem Weg dorthin. Er öffnete das Telefonbuch und suchte nach Claudes Namen. Nachdem er auf den grünen Hörer gedrückt hatte, hielt er sich das Gerät ans Ohr und wartete. Es klingelte nur dreimal, dann wurde am anderen Ende abgenommen. „Was gibt es?“, erklang Claudes Stimme mit genervtem Unterton. „Störe ich?“, fragte Sebastian schmunzelnd. „Nein, ich hatte nur gerade eine Diskussion mit Alois wegen seiner zu-Bett-geh-Zeit“, seufzte der Gefragte. Sebastian lachte leise. Die zwei waren wie Feuer und Wasser. „Ich brauche deine Hilfe“, kam er ohne Umschweife auf den Punkt.

Er sah bildlich vor sich wie Claude eine Augenbraue skeptisch hob. „Worum geht es?“, wollte dieser wissen. „Du hast bestimmt schon in den Nachrichten gesehen, dass diese schwarze Sekte zerschlagen wurde“, begann Sebastian und erhielt ein zustimmendes Brummen. „Um es kurz zu machen, ich habe eines der Kinder mit zu mir genommen, da es keine Familie mehr hat.“ „Ich werde bestimmt nicht noch so einen Quälgeist in mein Haus lassen“, grummelte Claude mit tiefer Stimme. Sebastian lachte leise. Auch wenn Claude oft mit Alois aneinander geriet, er liebte diesen und dessen kleinen Bruder Luca über alles. „Keine Sorge, das wollte ich auch nicht. Ich möchte dich nur bitten mir morgen ein paar Klamotten von Alois zu bringen. Ich war auf dem Nachhauseweg kurz einkaufen und hab ihm ein paar Shorts gekauft und jetzt trägt er ein T-Shirt von mir, so kann ich nicht mit ihm auf die Straße gehen. Ich bräuchte nur ein Outfit, dann kann ich ihm morgen Kleidung kaufen.“ „Wenn es nur das ist“, sagte Claude. Erleichterung schwang in seiner Stimme mit. „Soll ich ihn auch untersuchen?“ Sebastian überlegte kurz. „Später, ja. Ich hab ihn vorhin gebadet, aber das hat er kaum mitbekommen. Er scheint soweit unverletzt zu sein. Sein Körper ist zwar übersät von Schrammen und blauen Flecken, aber sonst scheint alles in Ordnung zu sein.“ „Okay, dann bringe ich dir morgen früh gleich die Sachen vorbei.“
 

Ein Schrei ließ Sebastian kurz erschrocken zusammen zucken. „Claude, ich muss Schluss machen. Wir reden morgen!“, sagte er und legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Der andere hatte es sicherlich auch gehört. Mit schnellen Schritten ging Sebastian ins Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. „Ciel? Alles in Ordnung?“ Das war es offensichtlich nicht. Auf dem Sofa befand sich eine kleine, zitternde Kugel, umhüllt von der Decke. Langsam ging Sebastian näher und vor der großen Couch auf die Knie. „Hattest du einen Albtraum?“, fragte er mit sanfter Stimme. Ein zaghaftes Nicken war die Antwort. „Es ist alles gut, niemand wird dir mehr weh tun. Außer uns beiden ist niemand hier“, sagte er und versuchte so den verängstigten Jungen zu beruhigen. „Kannst du hier bleiben?“, fragte dieser leise. „Natürlich“, lächelte Sebastian, löschte das Licht und setzte sich in seinen Sessel.
 

Einige Zeit verging, doch irgendwann hörte er nur noch die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge des Jungen. Leise stand Sebastian auf und verließ das Wohnzimmer. Mittlerweile breitete sich die Müdigkeit auch in ihm aus und so ging er erst ins Bad, um sich die Zähne zu putzen, und dann in sein Schlafzimmer. Dort zog er sich bis auf seine Boxershorts aus und ein frisches T-Shirt über. Normalerweise schlief er ohne, aber er war sich fast sicher, heute Nacht noch einmal aufstehen zu müssen und da wollte er nicht halbnackt im Wohnzimmer sitzen.

Sebastian hatte sich gerade erst gemütlich hingelegt, da jagte ihn ein Schrei wieder aus dem Bett. Ihm bot sich das gleiche Bild wie zuvor und so saß er letzten Endes über eine halbe Stunde in seinem Sessel. Ohne es zu merken döste er ein, doch die Ruhe war ihm nicht lange vergönnt. Denn sein Gast schreckte wieder aus dem Schlaf, diesmal aber ohne zu schreien. „Keine Angst, ich bin hier“, sagte er leise. Seine Anwesenheit schien den Jungen tatsächlich zu beruhigen.
 

Als Sebastian in dieser Nacht zum vierten Mal geweckt wurde, reichte es ihm. Sein Rücken tat schon weh von dieser ungemütlichen Schlafposition. Also stand er auf und ging vor dem Sofa auf die Knie. „Ciel, was hältst du davon, wenn wir in meinem Bett schlafen? Keine Angst, es ist groß genug für uns beide.“ Ein zögerliches Nicken war die Antwort. Sebastian richtete sich wieder auf, nahm den Jungen samt Decke und Kissen auf seine Arme und trug ihn in sein Schlafzimmer. Das Licht war sowieso überall ausgeschaltet. Beim Vorbeigehen warf er einen Blick auf seinen Receiver. 03:07 Uhr am Morgen zeigte dieser ihm. Er seufzte leise, lief mit nackten Füßen durch den Flur in sein Schlafzimmer. Dort angekommen schob er die Tür mit seinem Fuß zu und legte den Jungen auf sein großes Bett. Eigentlich brauchte er nicht so viel Platz alleine, doch nun war er zum ersten Mal froh, dass er sich von Claude hatte überreden lassen, ein Kingsize Bett zu kaufen.

Müde legte Sebastian sich auf die andere Seite und kuschelte sich in seine Decke und sein Kissen. Er war gerade dabei einzuschlafen, als ein Wimmern und Deckenrascheln ihn wieder weckte. Mit einem leisen Seufzen drehte er sich auf die andere Seite. Der Junge schien schon wieder einen Albtraum zu haben. Da er sich nicht anders zu helfen wusste, rutschte Sebastian noch ein Stück näher zu ihm und legte dann seine Hand auf den flachen Bauch des Kleinen. Ein paar Augenblicke später wurde dieser merklich ruhiger. Erleichtert schloss Sebastian seine Augen, aber ließ seine Hand, wo sie war. Kurz bevor er einschlief, spürte er eine kleine Hand, die sich auf seine legte.
 

Als Sebastian am nächsten Morgen aufwachte, lag seine Hand immer noch auf Ciels Bauch und wurde von dessen kleiner Hand gehalten. Er lächelte leicht und musterte den Jungen. Er war wirklich noch sehr klein, hatte lange, dichte Wimpern, blasse Haut und ein paar aschblaue Strähnen fielen ihm ins Gesicht.

Sebastian schmunzelte und streichelte vorsichtig die verirrten Haare aus dem kindlichen Gesicht. Nie hätte er gedacht, dass er sich einmal um ein Kind kümmern würde und dass dieses auch noch in seinem Bett schlafen würde. Langsam drehte er sich um, um mit seiner freien Hand nach seinem Smartphone zu angeln. Zwar verrenkte er sich fast dabei, aber es war wahrscheinlich schon spät und Claude würde jeden Moment hier auftauchen. 08:39 leuchtete ihm hell entgegen, als er das Display aktivierte. Kurz kniff Sebastian seine Augen zusammen. In dem dunklen Raum tat diese plötzliche Helligkeit beinahe schon weh in den Augen.

Seufzend legte er das Gerät wieder zurück auf den Nachttisch und drehte sich wieder zurück. Sollte er den Jungen jetzt wecken oder sich einfach leise raus schleichen?
 

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als Sebastian versuchte seine Hand zu sich zu ziehen. Ein leises Murren erklang, dann schlug Ciel seine Augen auf und schaute den anderen müde an. Er blinzelte kurz, dann setzte er sich erschrocken auf und schaute sich gehetzt in dem Schlafzimmer um. „Hey, ganz ruhig, Ciel. Du bist in Sicherheit“, sagte Sebastian mit sanfter Stimme und hoffte, er würde sich wieder beruhigen.

„Oh“, sagte er leise und schaute sich dann neugierig um. Sebastian derweil stand auf und streckte sich kurz. „Hast du gut geschlafen?“, fragte er und erhielt als Antwort ein zaghaftes Nicken. Unwillkürlich musste er lächeln, der Kleine war wirklich niedlich. Er streckte Ciel eine Hand hin, um ihm vom Bett zu helfen: „Na komm, wir frühstücken erst mal.“ Kurz zögerte der Kleinere noch, dann ließ er sich von dem großen Bett helfen und tapste Sebastian hinterher Richtung Küche. Vor der Badezimmertür blieb er jedoch stehen. Verwundert zog Sebastian seine Augenbrauen zusammen, dann fragte er: „Musst du auf die Toilette?“ Schüchtern nickte Ciel und betrachtete seine nackten Füße. Erst wollte der Ältere fragen wieso er dann nicht ging, hielt ihm stattdessen seine Hand hin und lächelte: „Na komm, ich helfe dir.“
 

Recht schnell musste Sebastian feststellen, dass Ciel zu klein war und ohne ihn schlicht in die Schüssel fallen würde. Gedanklich machte er sich eine Notiz, Claude nachher zu fragen was er tun sollte.

Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, gingen sie in die Küche. Ciel kletterte auf den Stuhl, auf dem er schon am Abend zuvor gesessen war und beobachtete Sebastian neugierig. Dieser stellte Teller, Brötchen, Butter und verschiedene Marmeladen auf den Tisch. „Ciel, möchtest du eine warme Milch?“, fragte er. Die Antwort war wieder mal ein Nicken. Wahrscheinlich war er überfordert mit der Situation, was nicht verwunderlich war. Sebastian konnte beobachten wie er mit dem Saum seines T-Shirts, das für den Jungen eher wie ein Kleid war, spielte.
 

Nachdem die Milch in dem kleinen Topf anfing zu dampfen goss Sebastian sie in eine Tasse und stellte sie neben Ciels Teller. Danach setzte er sich selbst an den Tisch und griff nach einem Brötchen: „Möchtest du eins?“ Wieder ein leichtes Nicken. Innerlich seufzend schnitt Sebastian das Gebäck auf, schmierte auf eine Hälfte dünn Butter und dann Erdbeermarmelade. „Hier, lass es dir schmecken“, sagte er lächelnd, als er die Brötchenhälfte auf Ciels Teller legte. „Danke …“, flüsterte dieser und griff vorsichtig nach seinem Frühstück.

Sebastian beschmierte sich die andere Hälfte und wollte gerade rein beißen, als eine leise Stimme fragte: „Kann … kann ich noch eins haben?“ Überrascht schaute er Ciel an. Dieser saß mit roten Wangen da und kaute unsicher auf seiner Unterlippe. „Natürlich“, lächelte Sebastian warm und nahm noch ein Brötchen. Er war froh, dass der Junge aß. Er war viel zu dünn.
 

Kaum hatte er ihm die geschmierte Hälfte auf den Teller gelegt, klingelte es auch schon an der Tür. Erschrocken schaute Ciel ihn an. „Iss ruhig, das ist ein Freund von mir, er bringt nur was zum anziehen für dich. Dann können wir nach dem Frühstück in die Mall fahren und dir Kleidung kaufen und was du sonst noch brauchst.“ Kaum war Sebastian aufgestanden, ertönte die Klingel schon zum zweiten Mal. Geduld war noch nie Claudes Stärke gewesen.

Lächelnd öffnete Sebastian die Tür: „Guten Morgen.“ „Morgen“, sagte Claude und streckte ihm eine große Tüte entgegen, „hier hast du ein Outfit, das kannst du behalten. Alois ist es ein wenig zu klein.“ Kaum hatte Sebastian die Tüte in der Hand, drehte der andere sich schon um und erweckte den Anschein ohne Verabschiedung gehen zu wollen. Verwundert hob er eine Augenbraue und wollte schon fragen, ob er nicht mal mehr Zeit hatte sich zu verabschieden, da stand Claude mit einem Kindersitz in den Armen schon vor ihm. Auf Sebastians mehr als verwunderten Blick sagte er: „Den wirst du brauchen, wenn du mit dem Kleinen in die Mall fahren willst.“ Klar. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. „Danke Claude, du bist echt meine Rettung!“, sagte Sebastian und klopfte diesem auf die Schulter. „Kein Problem, aber in ein paar Tagen brauche ich den Kindersitz. Hannah hat kurzfristig beschlossen übers Wochenende weg zu fahren.“ „Kein Problem, grüß sie von mir.“ „Mach ich.“ Claude drehte sich um und wollte gerade gehen, da fiel Sebastian noch etwas Wichtiges ein. „Claude! Eine Frage noch.“ Der Angesprochene drehte sich wieder um und schaute ihn fragend an. „Gibt es eine Möglichkeit, dass er allein auf die Toilette geht? Also, ohne dass er in die Schüssel fällt.“ Auf seine Frage hin bekam Sebastian etwas eher Seltenes zu sehen. Sein Freund schmunzelte belustigt, dann sagte er: „Da gibt es extra Auflagen, die kannst du auf die Brille legen. Allerdings solltest du erst mal ein Auge darauf haben, ob das auch klappt.“ „Okay, danke dir.“ Sie verabschiedeten sich und Sebastian ließ die Tüte und den Kindersitz erst einmal im Eingangsbereich stehen.
 

In der Küche musste er erstaunt feststellen, dass sein Frühstück verschwunden war. Unsicher wurde er von blauen Augen angeschaut, doch er setzte sich schmunzelnd an den Tisch und nahm ein neues Brötchen. „Möchtest du noch eins?“, fragte er Ciel und dieser nickte. Seine Milch war auch leer. „Kann ich noch eine haben?“, fragte er schüchtern. „Ich mach dir gleich noch eine“, sagte Sebastian und beschmierte die Brötchenhälften. Eine legte er Ciel hin, die andere aß er selbst, während er nochmal Milch erwärmte.
 

Nach zwei Brötchen und zwei Tassen Milch war Ciel dann aber wirklich satt. Sebastian staunte ein wenig, wie viel der Kleine essen konnte. Nach dem Frühstück kämmte er erst einmal seinen kleinen Gast und dann sich selbst, anschließend putzten sie Zähne, wobei die Zahnbürste für Ciel eigentlich viel zu groß war und die Zahnpasta war auch nicht für Kinder geeignet, wie Sebastian leise seufzend feststellen musste. Das würde heute wohl einen Großeinkauf geben.

Als sie im Bad fertig waren, holte er die Sachen, die Claude gebracht hatte. Er zog Ciel das viel zu große T-Shirt aus und das andere über. Es war türkis und hatte irgendeine Figur darauf abgebildet, aber es passte. Danach zog er ihm die blaue Jeans an, die oben einfach nur einen Gummizug hatte. Sehr praktisch, dachte Sebastian und stellte erfreut fest, dass sogar Socken und Schuhe dabei waren. Zum Schluss bekam Ciel noch eine graue Sweatjacke, dann ging Sebastian in sein Schlafzimmer, um sich selbst anzuziehen.
 

Als sie soweit waren und er sich sicher war, dass er alles Nötige dabei hatte, nahm Sebastian den schweren Kindersitz und stellte ihn erst einmal vor die Tür. Dann rief er den Fahrstuhl und schloss seine Wohnung ab. In der Tiefgarage angekommen stand Sebastian vor einem echten Problem. Wie baute man so einen Sitz ein? Ciel, der einfach nur daneben stand und ihm zusah, war keine Hilfe.

Doch nach einigen vergeblichen Versuchen hatte Sebastian es geschafft. „So. Dann rein mit dir“, sagte er lächelnd, hob Ciel hoch und setzte ihn in den Kindersitz. Nachdem er sicher war, dass der Junge richtig angeschnallt war, ging er um sein Auto herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Sebastian hätte nie gedacht, dass es so lange dauern würde einen Kindersitz einzubauen und das Kind anzuschnallen. Noch dazu war sein Auto, ein sportlicher Zweisitzer, nicht unbedingt dazu gedacht kleine Kinder mitzunehmen.

Shoppingtour

Als sie endlich an der Mall angekommen waren, reihte Sebastian sich in die Schlange vor dem Parkhaus ein. Diese bestand zum Glück nur aus drei Autos. Es war Mittwochmorgen und die meisten Menschen gingen arbeiten, zur Schule oder Uni und hatten dementsprechend keine Zeit shoppen zu gehen. Darüber war Sebastian wirklich froh. Samstag war hier immer die Hölle los. Er warf einen Blick zu seinem Beifahrer. Dieser schaute sich neugierig um, obwohl es hier noch nicht viel zu sehen gab. „Warst du schon mal in einer Mall?“, fragte Sebastian und erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. Das verwunderte ihn auch nicht weiter, schließlich stammte der Junge aus einer sehr reichen Familie. Was wohl mit seinem Erbe und der Firma seines Vaters passierte? Darum sollte sich sein Anwalt kümmern.
 

Endlich war Sebastian an der Reihe und durfte in das Parkhaus fahren. Er fuhr direkt auf die höchste Ebene, da dort um diese Zeit so gut wie niemand parkte und er keinen Wert auf Dellen von Autotüren und Kratzern im Lack legte. Da die Parkplätze, wie in ziemlich jedem öffentlichen Parkhaus, recht schmal waren, parkte er auf dem Familienparkplatz. Kaum war er ausgestiegen und richtete kurz seine Kleidung, kam eine dickliche Frau mit zwei kleinen Kindern an der Hand auf ihn zu und funkelte ihn wütend an: „Also hören Sie mal! Sie können nicht auf dem Familienparkplatz parken, nur weil Sie Geld haben!“ Sebastian hob nur eine Augenbraue, ging um sein Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Dort kämpfte Ciel mit dem Gurt, schaffte es aber nicht, sich abzuschnallen. Die Frau schimpfte mit immer schriller werdender Stimme weiter, eine andere Mutter mit Kind gesellte sich gerade dazu, als Sebastian sich, mit Ciel im Arm, wieder aufrichtete und die Autotür zuschlug. Kühl musterte er die Frauen: „Und wenn ich ein Kind dabei habe?“ Augenblicklich war die Frau verstummt und zog ihre lachenden Bälger mit. Ihr Kopf glich einer Tomate, ob vor Wut oder Scham.

Die andere Frau kicherte verlegen. „Manche Leute haben einfach kein Benehmen“, seufzte sie theatralisch und versuchte sich an einem, in ihren Augen sexy, Wimpernschlag. Mit großen Schritten, ihre Tochter einfach stehen lassend, kam sie auf Sebastian zu und strahlte Ciel an. „Das ist aber ein ganz Süßer!“, sie streckte ihre Hand aus, um dem Jungen durch die aschblauen Haare zu fahren, doch dieser drückte sich instinktiv näher an Sebastian, wollte offensichtlich nicht berührt werden. Der Größere wich einen halben Schritt zurück und sagte mit kühlem Unterton: „Wir sind hier nicht in einem Streichelzoo. Wenn sie ein Kind streicheln wollen, dann tun Sie das bei ihrem eigenen.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, schloss sein Auto ab und ging. Die Frau sah ihnen sprachlos und angesäuert hinterher.
 

Sebastian, der mittlerweile am Treppenhaus angekommen war, stieg mit Ciel auf dem Arm in den Fahrstuhl, dessen Türen sich soeben geöffnet hatten. Auf der Fahrt nach unten setzte er den Jungen ab. Es dauerte auch nicht lang, dann kamen sie im Erdgeschoss an.

Obwohl es ein ganz normaler Mittwoch war, waren sehr viele Menschen da. Sebastian hielt dem Kleineren, der sich neugierig, aber auch ein wenig ängstlich umsah, seine Hand hin und fragte: „Möchtest du meine Hand halten? Damit du mir hier nicht verloren gehst.“ Ciel zögerte kurz, warf noch mal einen Blick auf die vielen Menschen, dann ergriff er drei von Sebastians Fingern.

Dieser steuerte zuerst den Lageplan an, um das Bekleidungsgeschäft für Kinder ausfindig zu machen. Schon auf dem Weg dorthin wurden ihnen immer wieder verzückte Blicke von Frauen jeden Alters zugeworfen. Immer wieder konnte er Dinge hören wie „Nein wie süß!“, „Ach, goldig!“ oder „So niedlich!“ Ciel schien das zum Glück kaum mitzubekommen, er war viel zu sehr damit beschäftigt sich neugierig umzusehen. So viele Läden auf einmal hatte er noch nie gesehen. Während sich links und rechts ein Geschäft ans nächste reihte, waren in der Mitte viele Essensstände und Sitzmöglichkeiten. Mit großen Augen betrachtete er eine Bude, die Eis in allen möglichen Varianten verkaufte. Sebastian entging dieser Blick nicht und er beschloss, dass er Ciel später ein Eis zur Belohnung kaufen würde, wenn dieser brav war.

Gerade beobachtete er eine verzweifelte junge Mutter, die versuchte, ihren Jungen, er war vielleicht acht oder neun, zum Weitergehen zu bewegen. Doch dieser wollte viel lieber erst mal ein Eis. Die schwache Frau zog an ihrem Kind, doch hatte keine Chance. Scheinbar hatte der Junge schon zu oft Eis bekommen, so dick wie er war. Ohne die beiden weiter zu beachten ging Sebastian weiter und war dankbar, dass sein Schützling, zumindest bisher, so brav war. Aber selbst wenn er toben würde, er könnte ihn sich einfach über die Schulter werfen und gehen.
 

Kurz darauf hatten sie das erste Geschäft erreicht. Sebastian atmete noch einmal kurz durch. Ein paar der anwesenden Mütter und auch Verkäuferinnen waren schon auf sie aufmerksam geworden, obwohl sie noch nicht einmal durch die Tür getreten waren. Kaum hatten sie einen Fuß über die Schwelle gesetzt begannen drei der Verkäuferinnen, die gerade nicht jemanden bedienen mussten, ein Wettrennen. Jede wollte die beiden bedienen. Eine Frau mittleren Alters machte das Rennen und versuchte mit roten Wangen ihre Fassung wiederzuerlangen. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“ „Wir brauchen Kleidung für ihn hier“, sagte Sebastian möglichst freundlich und deutete mit seinem Blick auf Ciel. Dieser schaute die Frau, die sich zu ihm runter beugte, emotionslos an. „Du bist aber ein Hübscher!“, rief sie verzückt aus, dann wandte sie sich wieder an Sebastian. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“ In ihrer Stimme schwang ein verführerischer Unterton mit.

Der Angesprochene hob eine Augenbraue. Er wusste, dass er bei Frauen schon immer gut ankam, doch nun kannten sie scheinbar kein Halten mehr, sich an ihr ran zu machen. „Wir brauchen alles“, sagte er schlicht. „Alles?“, wiederholte die Frau ungläubig und starrte ihn mit großen Augen an. „Eine komplette Garderobe eben“, verdeutlichte Sebastian und unterdrückte ein genervtes Seufzen. „Wenn das so ist …“, sagte die Verkäuferin und lachte kurz auf, „kommen Sie mal mit. Welche Größe hat er denn?“ Das war eine gute Frage, Sebastian kannte sich mit so etwas nicht aus. Das teilte er der Frau auch mit. „Das lässt sich leicht herausfinden“, lachte diese aufgesetzt und durchstöberte schon die erste Kleiderstange.
 

Eine halbe Stunde später stand Sebastian mit einem großen Haufen Kleidung auf dem Arm vor der Umkleide. „Soll ich mit reinkommen?“, fragte er Ciel und dieser nickte. Er war offensichtlich überfordert, kannte er diese Art des Einkaufens nicht. Die Kabine war zum Glück groß genug, so dass Sebastian ihn ohne Probleme aus- und wieder anziehen konnte. Allerdings gab es keinen Spiegel, sodass Ciel sein Outfit jedes Mal dieser nervigen Verkäuferin und allen anderen, die sich mehr oder weniger auffällig bei den Umkleiden versammelt hatten, präsentieren musste, wenn er es angezogen sehen wollte. Sebastian sah, wie unwohl er sich dabei fühlte und stellte sich jedes Mal so hin, dass er den Jungen mit seinem Körper größtenteils vor den neugierigen, verzückten Blicken schützen konnte. Auf der anderen Seite waren die nervige Verkäuferin und die Wand.

Bei jedem Outfit nickte Ciel entweder als Zustimmung, oder schüttelte mit dem Kopf, wenn ihm etwas nicht gefiel. So hatten sie am Ende vier Hosen, zwei Jogginghosen, zehn T-Shirts, drei Pullover, drei Sweatjacken und drei Pyjama ausgesucht. „Soll ich die Sachen für Sie an die Kasse bringen?“, fragte die Verkäuferin, kaum, dass die beiden die Umkleidekabine verlassen hatten. Ohne auf ihre Frage einzugehen sagte Sebastian: „Wir brauchen dann noch Unterwäsche und Socken.“ „Oh, natürlich!“, kicherte die Frau mit roten Wangen und wuselte los. Sebastian, der auf einem Arm die Kleidung trug und an der anderen Hand Ciel hielt, folgte ihr mit einem genervten Seufzen.
 

Das ging zum Glück schnell und keine zehn Minuten später stand er an der Kasse. Als er hörte, wie viel sie dafür haben wollten, hob er kurz beide Augenbrauen. Er hatte, soweit er wusste, keine teure Markenkleidung gekauft, aber der Preis war trotzdem stattlich. Nicht, dass es sein Konto großartig belasten würde. Er reichte der Frau seine Kreditkarte und nachdem diese ihm die große Tüte gegeben hatte, verließen sie mit einem erleichterten Seufzen den Laden.
 

Ciel war wirklich froh, wieder draußen zu sein. Er hatte sich mehr als unwohl gefühlt unter diesen ganzen Augen. Er wusste nicht, was diese ganzen Frauen von ihm wollten und war froh, dass Sebastian da war. Er vertraute ihm, ohne zu wissen wieso eigentlich. Es war mehr ein Gefühl, dass ihm nichts passieren würde, solange der Größere bei ihm war.

„Dann wollen wir mal schauen wo sich das Schuhgeschäft für Kinder befindet“, sagte dieser und ging schon los. Ciel hielt wieder die drei Finger in seiner kleinen Hand und zog seine Augenbrauen zusammen. Er hatte doch Schuhe an, war das wirklich nötig? Da waren bestimmt wieder so viele Frauen, die ihn wie eine Attraktion im Zirkus angafften.
 

„Herzlich willkommen. Kann ich Ihnen behilflich sein?“, riss eine männliche Stimme Ciel aus seinen Gedanken. Überrascht hob er seinen Blick und stellte freudig fest, dass es tatsächlich ein Mann war. „Guten Tag, wir brauchen Schuhe für ihn“, sagte Sebastian freundlich und war froh, nicht von einer Frau bedient zu werden. Er warf einen kurzen Blick um sich und stellte fest, dass die Verkäuferinnen, die sich an der Kasse gesammelt hatten, ihnen schmachtende Blicke zuwarfen. Es stimmte wohl tatsächlich, dass ein attraktiver Mann mit Kind für Frauen noch attraktiver wurde.

Mit Ciel an der Hand folgte er dem Verkäufer. „Welche Schuhgröße hat er denn?“, fragte dieser. „Gute Frage“, erwidert Sebastian. Er hoffte, es würde nicht zu sehr auffallen, dass er keine Ahnung hatte, welche Größe der Junge brauchte. „Das ist kein Problem“, lachte der Verkäufer und zwinkerte ihm zu, „das können wir leicht herausfinden.“ Innerlich schauderte Sebastian. Nicht dass er ein Problem mit dieser Art Mann hatte, eher im Gegenteil, aber er hatte nach dem ersten Laden schon genug von dieser Art Aufmerksamkeit. „Setzen Sie sich doch bitte und ziehen ihrem Sohn die Schuhe aus“, sagte der Verkäufer und verschwand kurz. Seinem Sohn. Sah man sie wirklich als Vater und Sohn? Dabei sahen sie sich doch nicht im Geringsten ähnlich. Aber ihm sollte es recht sein.
 

Ciel setzte sich brav auf einen der vielen Hocker und ließ sich von Sebastian die Schuhe ausziehen. Da kam auch schon der Verkäufer mit einem seltsamen Gestell in den Händen zurück. „So Kleiner, dann stell doch mal deinen Fuß darauf, dann sehen wir welche Schuhgröße du brauchst.“ Ciel tat wie ihm geheißen und ein paar Minuten später hatten sie schon zehn verschiedene Paar Schuhe vor sich zur Auswahl.

Sebastian nahm das erste Paar und betrachtete es. Claude hatte ihm am Morgen noch eingeschärft, wie wichtig es war, gute Schuhe mit einer ordentlichen Sohle zu kaufen, da er sonst die kleinen Kinderfüße kaputt machen würde. Bei dem Preis schaute Sebastian nicht schlecht. War das ihr Ernst? Der Verkäufer, der seine Reaktion richtig interpretierte, sagte: „Kinderschuhe sind immer sehr teuer. Aber Sie wollen doch auch nicht, dass der Kleine später krumme Füße hat, nicht wahr?“

Das wollte er natürlich nicht und zog Ciel das erste Paar an. „Dann lauf mal ein Stück und schau sie dir im Spiegel an“, sagte Sebastian lächelnd. Der Kleinere tat wie ihm geheißen, rutschte von dem mit schwarzem Leder bezogenen Hocker und ging einfach gerade aus durch die Regale. Vor einem Spiegel blieb er stehen und betrachtete die Schuhe. Sie gefielen ihm gar nicht, das teilte er Sebastian auch mit einem Kopfschütteln mit.
 

Eine halbe Stunde später verließen sie den Laden mit zwei Paar Straßenschuhen und zwei Paar Sandalen, schließlich war es schon Juni. Da es schon Mittag, war fragte Sebastian: „Hast du Hunger?“ Wieder erhielt er ein Nicken als Antwort. „Wie wäre es mit Pizza?“, schlug er lächelnd vor. „Okay …“, sagte Ciel leise. „Gut, dann müssen wir ein Stockwerk höher.“

Schweigend legten sie den Weg bis zur Pizzeria zurück. Da das Lokal komplett offen war konnte jeder, der vorbei lief, sehen wer dort saß. Sebastian sah sich kurz um und entdeckte dann einen freien Tisch in einer Ecke, der eine kleine Eckbank hatte. Sofort steuerte er diesen an und deutete Ciel, sich auf die Bank zu setzen. Die Tüten stellte er daneben auf den Boden. So war der Junge wenigstens vor neugierigen Blicken geschützt. Schon auf dem kurzen Weg hierher hatten ihnen einige Frauen mit leuchtenden Augen nachgesehen. Langsam fragte Sebastian sich, ob es Claude auch immer so erging, wenn er mit Alois und Luca allein unterwegs war.
 

Sie saßen noch nicht lange, da kam schon eine Kellnerin mit roten Wangen und brachte zwei Karten. „Wissen Sie schon was Sie trinken möchten?“, fragte sie direkt und hatte nur Augen für Sebastian. Dieser bestellte eine große Flasche Wasser und zwei Gläser. Dann nahm er eine Karte und schlug diese auf. Kurz ließ er seinen Blick über die verschiedenen Varianten gleiten, dann fragte er Ciel: „Gibt es etwas Bestimmtes, das du möchtest?“ Er erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. „Hast du schon einmal Pizza gegessen?“, fragte Sebastian und erhielt wieder ein Kopfschütteln als Antwort. Kurz hob er erstaunt seine Augenbrauen, dann lächelte er und zeigte Ciel ein Bild in der Speisekarte. „Das ist ein gebackener Teig mit verschiedenen Zutaten. Käse ist immer drauf und dann kann man sich aussuchen, was man noch möchte.“ Er überlegte kurz, was Ciel schmecken könnte. Es durfte nicht zu geschmacksintensiv sein, das war er noch nicht gewohnt. „Magst du Tomaten?“ Ciel nickte. „Wie wäre es dann mit einer Pizza mit Käse, der Fäden zieht, und Tomaten drauf?“ „Okay“, stimmte er leise zu. Dann kam auch schon die Bedienung zurück und nahm ihre Bestellung auf.
 

Sebastian nutzte die Wartezeit und fragte: „Das ist gerade alles etwas viel für dich, nicht wahr?“ Ciel nickte und betrachtete die Tischplatte, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. „Was hältst du davon, wenn wir nach der Pizza noch ein großes Eis essen gehen?“ Ciels Kopf ruckte hoch und er schaute Sebastian mit leuchtenden Augen an. „W-wirklich?“ Der Größere lächelte: „Wirklich. Unten gibt es einen Stand, da bekommst du dann ein großes Eis.“ Durch das Leuchten in den großen blauen Augen wurde ihm richtig warm ums Herz. „Danach kaufen wir dir noch Spielsachen. Dann müssen wir noch Lebensmittel kaufen, damit wir die nächsten Tage auch genug zu Essen haben, und dann geht es nach Hause“, zählte er auf, was sie noch alles zu tun hatten.

Fast schon ein wenig enttäuscht ließ Ciel seinen Kopf sinken. Er hatte doch schon gar keine Lust mehr. Diese vielen Menschen überall und die vielen neuen Eindrücke machten ihm sehr zu schaffen. „Ich verspreche dir, die nächsten Tage werden wir die Wohnung nicht mehr verlassen, außer du möchtest es.“ Bevor Ciel etwas erwidern konnte, wurden ihnen ihre Getränke und ihre Pizzen gebracht.

Skeptisch betrachtete Ciel sein Essen. Wie sollte er das essen? Sebastian, der schon sein erstes Stück in der Hand hatte, sagte belustigt: „Das darfst du mit der Hand essen.“
 

Nach dem Essen bekam Ciel das versprochene Eis. Er hatte sich ein großes Spaghetti-Eis ausgesucht. Sebastian konnte nicht anders als zu lächeln, als der Kleinere ihn mit großen, leuchtenden Augen angesehen und sogar ein kleines bisschen gelächelt hatte.

So schnell konnte er gar nicht schauen, da hatte das Eis schon erheblich abgenommen und Ciel saß mit schmerzverzerrtem Gesicht da und hatte eine Hand auf den Kopf gelegt. Sebastian lachte leise: „Eis kannst du nicht so schnell essen, sonst passiert das. Iss langsamer, dann hast du auch mehr davon.“ Langsam ließ Ciel seine Hand wieder sinken und verspeiste seinen Nachtisch langsamer. Das war ein wirklich unangenehmes Gefühl gewesen, als wäre sein Gehirn eingefroren.

„Danke“, sagte er leise, als er den nun leeren Becher von sich schob. „Das hast du dir verdient, so brav wie du warst“, lächelte Sebastian und widerstand dem Drang, durch die aschblauen Haare zu wuscheln. „Jetzt kaufen wir dir ein paar Spielsachen, okay?“ Lächelnd hielt er Ciel seine Hand hin und spürte kurz darauf, wie eine kleine Hand drei seiner Finger umfasste. Seltsamerweise war er bei dem Eis euphorischer gewesen als nun, wo es um Spielsachen ging. Sebastian schob es auf die Menschenmenge, die nun, da die Mittagszeit vorüber war, nochmal zugenommen hatte.
 

Dieser Teil ging zum Glück recht schnell. Ciel hatte sich ein Uno-Kartenspiel und zwei Puzzle mit je 200 Teilen herausgesucht. Auf Sebastians Frage, ob er nicht noch mehr wollte, hatte er schüchtern zwei Bücher herausgesucht, aus denen der Ältere ihm vorlesen konnte.

Auch der Lebensmitteleinkauf ging recht schnell und so waren sie am frühen Nachmittag zu Hause. Lächelnd stellte Sebastian fest, dass Ciel während der Fahrt eingeschlafen war, was auch nicht weiter verwunderlich war bei den vielen neuen Eindrücken und dem stundenlangen Einkaufen.

Grell

Als Sebastian in der Tiefgarage auf seinem Parkplatz parkte, warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war früher Nachmittag. Leise schnallte er sich ab und stieg aus. Möglichst leise schloss er die Fahrertür, ging um sein Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Ciel hing mehr, als er saß, in dem Kindersitz. Vorsichtig schnallte er ihn ab und hob ihn aus dem Auto. Der Junge murrte leise, schlief aber weiter. Sebastian hielt ihn mit einem Arm, Ciels Gesicht lag in seiner Halsbeuge. Leise schloss er die Beifahrertür und holte die Einkaufstüten aus dem Kofferraum. Die Lebensmittel würde er gleich holen.

Gerade als er sein Auto abschloss und sich Richtung Aufzug wandte, hörte er eine Autotür zufallen. Kurz warf er einen Blick auf Ciel, aber dieser schlief friedlich. „Juuhuuu! Nachbar~!“, rief eine Stimme und ein Mann mit langen, roten Haaren, roter Brille, rotem T-Shirt, schwarzer Hose und roten Sneakern lief winkend auf ihn zu. Sebastian warf ihm einen genervten Blick zu und hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. Der Mann blieb in einem Meter Abstand stehen und schaute ihn mit großen, grüngelben Augen an. „Wa-wa-?“, setzte er an, wurde aber durch Sebastians Blick direkt zum Schweigen gebracht. „Komm“, sagte Sebastian, „ich erklär dir alles oben, aber nur wenn du leise bist.“ Der andere nickte eifrig und gab, bis sie das große Penthouse betreten hatten, keinen Laut von sich.
 

Sebastian deutete seinem Gast in die Küche zu gehen, während er in sein Schlafzimmer ging und Ciel dort auf dem großen Bett ablegte. Er zog ihm noch schnell die Schuhe, die Hose und die Sweatjacke aus, dann verließ er den Raum, schloss die Tür leise und ging zu seinem Besucher in die Küche. „Grell, möchtest du etwas trinken?“, fragte er und holte zwei Gläser aus einem Schrank und stellte eine Flasche stilles Wasser auf den Tisch. In aller Ruhe schenkte er ihnen ein und unterdrückte sein Grinsen, da der andere vor Neugier beinahe schon platzte.

„Nun sag schon, Sebastian, wer ist dieser Junge? Ist er von dir?“ Der Gefragte lachte leise. „Nein, er ist nicht von mir. Vorgestern wurden doch alle Mitglieder dieser schwarzen Sekte gefangen genommen. Sie standen im Verdacht Kinder reicher Familien zu entführen. Und er ist eines dieser entführten Kinder, nur dass er keine Eltern und auch keine sonstigen Verwandten hat. Zumindest wurden bisher keine gefunden.“ „Und dann hast DU ihn aufgenommen?“, fragte Grell mit großen Augen. „Gerade du, der nie etwas von Kindern wissen wollte?“, lachte er. Sebastian hob eine Augenbraue: „Hätte ich ihn etwa ins Heim schicken sollen? Der Junge ist traumatisiert und ohne Therapie wird er nie ein auch nur ansatzweise normales Leben führen können. Schlimm genug schon, dass er nicht mal ein vertrautes Zuhause hat, zu dem er kann. Ein Heim würde das alles noch sehr viel schlimmer machen.“ Grell hob beschwichtigend die Hände: „So war das doch gar nicht gemeint! Ich war nur überrascht, das ist alles. Und nein, sogar ich hätte ihn mitgenommen und mich um ihn gekümmert.“
 

Sebastian wollte gerade etwas erwidern, als ein Schrei aus Richtung seines Schlafzimmers ertönte. Sofort stand er auf und eilte mit den Worten „entschuldige mich“ zu Ciel. Dieser saß mit weit aufgerissenen Augen in dem großen Bett und schaute sich gehetzt um. „Ciel! Alles in Ordnung? Hattest du wieder einen Albtraum?“, fragte Sebastian sanft und setzte sich auf die Bettkante. Der Kleinere nickte und zog seine Beine an seinen Körper. Er zitterte. Sebastian rutschte näher zu ihm und zog ihn langsam in seine Arme. Ciel ließ es geschehen. Er wusste nicht mehr, was er geträumt hatte, aber er hatte sich so erschrocken, dass er aufgewacht war.

„Soll ich dir einen Tee machen?“, fragte Sebastian, während er beruhigend mit einer Hand über den schmalen Rücken des Jungen streichelte. Dieser nickte und legte seine Arme um den Hals des Größeren. Offensichtlich wollte er nicht allein bleiben. „Dann lass uns in die Küche gehen“, lächelte Sebastian und stand auf.
 

Dort angekommen setzte er den Jungen auf einen Stuhl. „Ciel, darf ich vorstellen? Das ist unser Nachbar ein Stockwerk tiefer, Grell. Grell, das ist Ciel“, machte er die beiden miteinander bekannt und setzte dann Wasser auf. „Freut mich, Kleiner“, sagte Grell und erhielt ein leichtes Nicken als Antwort. „Hier“, Sebastian stellte dem Jungen ein Tasse mit dampfendem Früchtetee hin. „Kann ich euch beide kurz allein lassen? Ich hab noch Lebensmittel im Auto.“ „Natürlich~“, flötete Grell und klimperte mit seinen falschen Wimpern. „Ich bin gleich wieder da“, sagte Sebastian und gab Ciel einen leichten Kuss auf den Schopf.

Beinahe unangenehme Stille herrschte zwischen ihnen, nur unterbrochen von leisem Pusten. Ciel versuchte den Tee abzukühlen. „Gefällt es dir hier?“, fragte Grell, der diese Stille kaum aushielt. Wieder ein zaghaftes Nicken. „Du bist nicht sonderlich gesprächig, was?“, fragte der Ältere und stütze sein Kinn gelangweilt in seiner linken Hand ab. Ciel senkte seinen Blick in seine Tasse und nahm vorsichtig einen winzigen Schluck. Der Tee war noch recht heiß, also stellte er ihn zurück auf den Tisch. Einige Augenblicke musterte er Grell, dann fragte er unverwandt: „Bist du ein Mann?“ Der Ältere, der gerade trinken wollte, ließ das Glas langsam sinken und schaute Ciel empört an. „Also wirklich Kleiner! Ich bin eine Lady, das sieht man doch!“, sagte Grell mit hoher Stimme und lehnte sich möglichst lady-like nach hinten. „Aber du hast keine Brüste“, sagte Ciel und lachte leise, da dem Älteren kurz alle Gesichtszüge entglitten und dieser entrüstet nach Worten suchte.

Sebastian, der diese kurze Szene von der Tür aus mitbekommen hatte, lachte auch. Er legte Grell eine Hand auf die Schulter und sagte mit einem breiten Grinsen: „Seh es nicht so eng, er meint es nicht böse.“ Der Angesprochene öffnete und schloss seinen Mund wieder. Ihm fehlten die Worte. „Wow, dich mal sprachlos zu sehen ist auch ein seltenes Privileg“, schmunzelte Sebastian. Ein leises Lachen erklang und beide schauten zu Ciel. In diesem Moment wirkte er wie ein ganz normales, glückliches Kind. Selbst Grell konnte ihm bei diesem Anblick nicht böse sein. Sebastian wurde ganz warm ums Herz. Er wusste nicht, dass sich ein Kinderlachen so schön anhören konnte.
 

„Grell, möchtest du vielleicht zum Essen bleiben?“, fragte Sebastian. Er hatte das Bedürfnis sich dem anderen erkenntlich zu zeigen, dafür, dass er es geschafft hatte, Ciel zum Lachen zu bringen. Hatte dieser doch bisher kaum eine Gefühlsregung gezeigt.

Augenblicklich wurde er von einem gelbgrünen Paar leuchtender Augen angeschaut. „Oh Sebastian~, wirklich? Wenn du mich so nett fragst bleibe ich natürlich gerne~!“
 

Nach dem Essen verabschiedete Grell sich, er hatte noch ein Date. Ciel trug die Teller in die Küche und reichte sie Sebastian, dieser stellte sie auf die Arbeitsfläche. „Danke“, lächelte er. Der Kleinere gähnte und rieb sich die Augen. „Bist du müde? Willst du schlafen gehen?“ Er bekam ein Nicken als Antwort. Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Mikrowelle zeigte ihm, dass es schon nach acht Uhr war. „Dann geh schon mal ins Bad und putz dir die Zähne, ich mach das hier noch schnell fertig.“ Ciel nickte, unterdrückte ein Gähnen, und ging ins Badezimmer. Sebastian hatte ihm einen Hocker hingestellt, sodass er ohne Probleme ans Waschbecken kam. Außerdem hatte er eine Kinderzahnbürste und Zahnpasta, die für Kinder geeignet war, gekauft und schon ins Badezimmer gebracht

Als Ciel fertig war kam der Ältere gerade aus der Küche. Im Schlafzimmer zog Sebastian ihn aus und das viel zu große T-Shirt von letzter Nacht wieder über. Dank Grell war er nicht dazu gekommen noch zu waschen. Das würde er dann eben am nächsten Tag erledigen. Nachdem Ciel umgezogen war, kroch er weiter aufs Bett und kuschelte sich in das Kissen. Sebastian deckte ihn ordentlich zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn: „Schlaf gut.“ Kurz wartete er noch, doch Ciel war schon eingeschlafen. Leise verließ er den Raum und ging ins Wohnzimmer. Um die Uhrzeit konnte er beim besten Willen noch nicht schlafen.
 

Es war mitten in der Nacht, als Sebastian durch ein Geräusch geweckt wurde. Kurz war es still und er dachte es käme von draußen, als er leises Husten neben sich hörte. Alarmiert drehte er sich zu Ciel um. Dieser lag zusammengekrümmt auf der Seite, hustete und sein Atem rasselte bei jedem Atemzug. „Ciel? Was ist los? Kriegst du keine Luft?“, fragte Sebastian erschrocken und beugte sich über ihn. Die Antwort war ein angestrengtes Einatmen, gefolgt von Husten.

Sebastian flog beinahe aus dem großen Bett, da er auf der Decke abrutschte. Schnell griff er nach einer Jogginghose, die auf dem einzigen Stuhl in seinem Schlafzimmer lag, und zog sie sich über. Dann nahm er Ciel hoch, wickelte ihn in eine Strickjacke, die auch auf dem Stuhl lag und stolperte, ohne das Licht einzuschalten, in den Flur. Dort schlüpfte er in das erstbeste Paar Schuhe, schloss seine Wohnungstür auf und betete, dass der Aufzug oben war. Er zog die Tür hinter ihnen zu und drückte wie wild auf den Knopf, der den Aufzug rief. Zu seinem Glück war dieser nur ein Stockwerk tiefer gewesen und Sekunden später gingen die Türen vor ihnen auf.

Sebastian hatte den kleinen Raum noch nicht einmal richtig betreten, da drückte er mehrmals auf den Knopf für das Parkhaus. Ciel in seinen Armen hustete immer noch und atmete angestrengt. Er flüsterte ihm beruhigende Worte zu und eilte zu seinem Auto, kaum hatten sie die Tiefgarage erreicht.
 

Sebastian brauchte zwei Anläufe, bis er den Jungen richtig angeschnallt hatte. Schnell ging er um sein Auto herum, riss die Fahrertür auf, ließ sich auf den Sitz fallen und startete den Wagen. Noch im Ausparken zog er die Autotür zu, betätigte die Fernsteuerung um das Tor zu öffnen und schoss beinahe auf die Straße. Derweil begann es immer lauter und penetranter zu piepen, als Zeichen dafür, dass er sich gefälligst anschnallen sollte. Mit einer Hand hielt Sebastian das Lenkrad, mit der anderen angelte er nach dem Gurt, um sich anzuschnallen. Zum Glück war um diese Zeit nicht viel auf den Straßen los, da er viel zu schnell fuhr. Doch die Sorge um Ciel war zu groß.

Als er an einer roten Ampel stehen bleiben musste, fluchte er und suchte nach seinem Smartphone, um Claude anzurufen und musste festzustellen, dass er es nicht dabei hatte. Ungeduldig klopfte er mit den Fingerspitzen auf das Lederlenkrad und warf der Ampel Todesblicke zu, bis diese wieder auf grün schaltete. „Na endlich!“, murmelte Sebastian und fuhr mit durchdrehenden Rädern los. Hoffentlich war die Polizei nicht in der Nähe und würde ihn aufhalten!
 

Doch Sebastian hatte Glück und Minuten später kam er mit quietschenden Reifen vor dem Haus seines Freundes zum Stehen. Er schnallte sich ab, stieg eilig aus dem Auto, umrundete es und holte Ciel raus. Dieser atmete immer schwerer und sein Husten klang immer erstickter.

An der Haustür klingelte Sebastian Sturm. Es war ihm egal, dass es an einem Wochentag mitten in der Nacht war und dass da zwei kleine Kinder schliefen. Es dauerte fast zwei Minuten, dann öffnete ihm ein sichtlich genervter Claude die Tür. „Ich brauche deine Hilfe!“, sagte Sebastian, bevor der andere überhaupt fragen konnte, was los war. „Komm mit“, sagte Claude nach einem kurzen Blick auf Ciel und ließ seinen späten Besucher eintreten. Sie gingen in den Keller, dort hatte der Kinderarzt eine kleine Notfallpraxis eingerichtet. Seine eigentliche Praxis war mitten in London.
 

„Setz ihn da hin und mach seinen Oberkörper frei“, sagte Claude und öffnete eine Schublade. Er nahm etwas Blaues heraus und schüttelte es kräftig, dann rollte er mit seinem Stuhl vor Ciel. „Kleiner, ich zähle jetzt bis drei und bei drei atmest du so tief ein wie du kannst und hältst die Luft an, solange du kannst, okay?“ Er bekam ein schwaches Nicken als Antwort.

Ciel nahm die Öffnung des Sprays in den Mund und tat wie ihm geheißen. „Sehr gut“, lobte Claude ihn. Dann nahm er sein Stethoskop um den Jungen abzuhören. Sebastian stand die ganze Zeit mit besorgtem Blick daneben und schwieg. Er war noch nie so froh wie in diesem Moment, dass sein bester Freund Kinderarzt war. Dieser wiederholte die Prozedur mit dem Spray nochmal. Ciel atmete merklich ruhiger und leichter, auch das Husten hatte aufgehört.

„Du kannst ihn wieder anziehen“, sagte Claude, während er mit seinem Stuhl zu einem der weißen Schränke rollte und eine Schublade aufzog. Dann kam er mit zwei Packungen zurück und drückte diese Sebastian in die Hand. Ernst sah er ihn an: „Der Junge hat Asthma. Und das war gerade ein Asthmaanfall, wahrscheinlich weil er über längere Zeit keine Medikamente bekommen hat. Das hier“, er deutete auf die eine Packung, „muss er jeden Morgen nehmen, am besten gleich nach dem Aufstehen. Und das andere ist, wenn er schlecht Luft bekommt. In ein paar Tagen testen wir seine Lungenfunktion und dann bekommt er passende Medikamente.“ „Danke Claude!“, sagte Sebastian und wäre diesem am liebsten um den Hals gefallen vor Erleichterung. „Schon gut. Lass uns erst mal wieder nach oben gehen.“
 

In der Küche saß Hannah mit einem kurzen Nachthemd. „Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Wieder“, sagte Sebastian und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ciel in seinen Armen war schon eingeschlafen. Müde fuhr er sich durch die schwarzen Haare. „Entschuldigt, dass ich euch geweckt habe.“ „Dafür sind Freunde doch da“, sagte Claude. „Außerdem hast du uns damals auch sehr geholfen, bei der Adoption von Alois und Luca.“ „Möchtest du heute Nacht hier schlafen?“, bot Hannah ihm an. „Danke, aber ich denke es ist besser, wenn Ciel in einer vertrauten Umgebung aufwacht. Das lange Einkaufen gestern hat ihm schon viel abverlangt.“ „Na gut, dann komm gut nach Hause.“ Claude begleitete ihn noch zur Haustür.
 

Als Sebastian wieder in seinem Auto saß atmete er kurz durch und schaute zu Ciel, der ruhig in dem Kindersitz schlief. Allmählich konnte er seine Freunde verstehen. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als Claude ihm mitteilte, dass sie zwei Jungen adoptieren wollten. Sebastian hatte ihn angeschaut wie ein Auto. Sein bester Freund und Hannah waren schon seit Ewigkeiten zusammen und obwohl Claude Kinderarzt war, waren Kinder nie ein Thema gewesen für die beiden. Und plötzlich traten zwei Waisenkinder auf die Bildfläche und stellten ihr Leben auf den Kopf.

Kaum war die Adoption nach einigen Monaten Ungewissheit endlich durch, hatten sie ihr großes Apartment in der Innenstadt verkauft und sich ein Familienhaus mit großem Garten etwas außerhalb gekauft.

Kopfschüttelnd startete Sebastian den Wagen und fuhr langsam los. Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die beiden, die auf den ersten Blick kühl und distanziert wirkten, adoptierten zwei kleine Kinder. Alois war damals drei und Luca erst eineinhalb gewesen. Sie hatten ihre Eltern sehr früh verloren und wurden dann ins Waisenhaus gebracht, da sie keiner wollte. Sie waren oft ausgebüchst, da sie dort schlecht behandelt wurden, bis sie eines Tages, im tiefsten Winter, auf Claude stießen. Hannah war anfangs nicht sonderlich begeistert gewesen, als ihr Mann zwei kleine Jungs mit nach Hause brachte, doch nicht einmal sie konnte bei so großen, leuchtenden Kinderaugen hart bleiben und schloss beide sofort ins Herz.
 

So ähnlich war es Sebastian auch ergangen, als er den kleinen, verdreckten Jungen dort alleine stehen gesehen hatte. Hätte ihm noch vor einer Woche jemand erzählt, dass er einen kleine Jungen bei sich aufnehmen und ihn bei sich im Bett schlafen lassen würde, hätte er die Person wahrscheinlich ausgelacht.

Da Sebastian bisher keine wirklich langfristige Beziehung hatte war das Thema Kinder auch nie wirklich präsent gewesen. Das Leben ging manchmal schon seltsame Wege.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Keimten da etwa, nach so kurzer Zeit, Vatergefühle in ihm?

Die erste Sitzung

Am nächsten Tag fuhr Sebastian mit Ciel in die Praxis eines Bekannten mitten in London. Er wollte so schnell wie möglich mit der Therapie beginnen, auch wenn er bezweifelte, dass der Junge schon am ersten Tag überhaupt etwas sagen würde.

Sebastian parkte in einer Seitenstraße. Obwohl es schon elf Uhr vormittags war, war noch nicht allzu viel los. Er stieg leise seufzend aus, die letzte Nacht war doch recht kurz gewesen, umrundete sein Auto und öffnete die Beifahrertür. Ciel, der sich schon selbst abgeschnallt hatte, kam ihm entgegen gesprungen. „Na komm“, lächelte Sebastian und hielt ihm eine Hand hin, die auch sogleich ergriffen wurde.
 

Sie legten den Weg schweigend zurück, während Ciel sich neugierig umschaute. In der Gegend, in der sie waren, reihte sich ein altes Stadthaus an das nächste. Vor einem blieb Sebastian schließlich stehen, drückte die Tür auf und betrat mit Ciel an der Hand das Gebäude. Die Eingangshalle war groß und recht unspektakulär. Zu beiden Seiten standen ein paar große Vasen und kleine, palmenartige Pflanzen. Ciel hatte nicht viel Zeit sich umzusehen, da er direkt weiter zu der großen Treppe gezogen wurde, die in den ersten Stock führte. Oben angekommen ging ein Gang nach links, dort wiederum führten mehrere Türen in verschiedene Räume. Die Wände waren alle in cremeweiß gehalten und vereinzelt waren große, bunte Bilder aufgehängt worden.

Sebastian klopfte an die dritte Tür auf der rechten Seite. Als ein gedämpftes „Herein!“ ertönte, drückte er die Klinke herunter und betrat mit Ciel an der Hand den Raum. Dieser hatte die gleiche Wandfarbe, der Boden war ebenso aus braunem Holz. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Regal, gefüllt mit Büchern und Ordnern. Daneben stand ein großer Schreibtisch, von dem gerade ein Mann mit perfekt gekämmten, braunen Haaren aufstand und seine Brille zurecht rückte. Die linke Wand bestand fast nur aus einem großen Fenster, während rechts von der Tür eine Sitzecke war, bestehend aus einem schwarzen Ledersessel und einem dunkelroten Sofa. Direkt daneben lag ein weinroter Teppich, auf dem zwei Kinderstühle und ein Kindertisch standen. Auf dem Teppich lagen verschiedene Spielsachen und auf dem kleinen Tisch weiße Blätter und Buntstifte.

„Guten Morgen, Dr. Michaelis“, sagte der Unbekannte kühl. „Guten Morgen. Ciel, das ist Dr. Spears.“ Dieser beugte sich zu dem Jungen mit einem angedeuteten Lächeln und hielt ihm die Hand hin. „Hallo Ciel, schön dich kennen zu lernen. Weißt du, wieso du hier bist?“ Der Junge nickte und klammerte sich etwas fester an Sebastians Hand. Dieser hatte es ihm beim Frühstück erklärt. Zwar würde er sich gerne selbst um Ciels Therapie kümmern, doch das wäre nicht gut und würde ihn nur verwirren. „Na schön, dann lass ich euch jetzt alleine und hole dich in einer Stunde wieder ab, okay?“, sagte er zu Ciel gewandt. Dieser schaute ihn mit großen blauen Augen ängstlich an. Sebastian kniete sich zu ihm: „Ich hole dich in einer Stunde wieder ab, versprochen! Du musst keine Angst vor Dr. Spears haben, er ist einer der Besten auf diesem Gebiet und möchte sich nur mit dir unterhalten.“ Er drückte den Jungen noch einmal kurz zum Abschied, dann stand er auf und verabschiedete sich kurz von William, bevor er ging.
 

„Setz dich“, sagte William mit einem leichten Lächeln und deutete in die Sitzecke. Ciel schaute ihn kurz an, dann ging er zögerlich in die gedeutete Richtung. Wo sollte er sich nun hinsetzen? Nach kurzem Überlegen entschied er sich für den Kinderstuhl. Mit großen Augen schaute er William an, der ihm gefolgt war und sich nun auf dem anderen Stuhl niederließ, obwohl er dafür viel zu groß war. Es sah ulkig aus und so gluckste Ciel leise. Der Größere hob eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu.

„Ciel, weißt du was ein Therapeut ist?“ Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort. Gut, etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. „Also, ein Therapeut ist jemand, der anderen Menschen hilft mit ihren Problem klar zu kommen, oder schlimme Dinge, die sie erlebt haben, zu verarbeiten.“ Schweigen. „Das ist mein Beruf. Wir sind hier, weil ich dir helfen möchte, das Erlebte zu verarbeiten. Verstehst du?“ Ciel nickte zögerlich. So ganz verstand er es immer noch nicht, obwohl Sebastian es ihm schon erklärt hatte. „Nun, alles, was du mir in diesem Raum sagst, wird hier bleiben. Ich weiß, das ist nicht einfach zu verstehen. Aber das wirst du mit der Zeit.“ Ciel nickte kurz, auch wenn er den Sinn noch nicht wirklich verstand, dann betrachtete er neugierig den Raum.
 

In der Zwischenzeit ging Sebastian einkaufen. Auch wenn er persönlich William T. Spears nicht sonderlich mochte, war dieser einer der besten Kindertherapeuten Londons. So kurzfristig einen Termin bei ihm zu bekommen war schier unmöglich, doch sie kannten sich von Studienzeiten und William schuldete ihm noch einen Gefallen.
 

Eine Stunde später kam Sebastian, wie versprochen, um Ciel abzuholen. Dieser schaute ihn mit leuchtenden Augen an und schien sich offensichtlich zu freuen, dass er wieder kam. Seit Sebastian ihn bei sich aufgenommen hatte vor ein paar Tagen, hatten sie praktisch jede Minute zusammen verbracht. „Dann sehen wir uns in einer Woche wieder, Ciel“, verabschiedete William sich von ihm. Sie hatten sich eine Stunde an geschwiegen, aber das war zu erwarten gewesen. Er glaubte auch nicht, dass der Junge in der nächsten Sitzung mehr reden würde.

Als sie das Gebäude verließen, griff Ciel wie selbstverständlich nach Sebastians Hand. Dieser betrachtete ihn mit einem warmen Lächeln.

Draußen wurden sie von hellen Sonnenstrahlen begrüßt und kniffen kurz die Augen zusammen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Ciel gähnte leise. Kein Wunder, die letzte Nacht war ziemlich nervenaufreibend und kurz gewesen. Da es bald Zeit für das Mittagessen war, fragte Sebastian: „Hast du Hunger?“ Ciels Magen grummelte leise, das war Antwort genug. „Dann lass uns etwas essen gehen. Worauf hast du Lust?“, fragte Sebastian, nachdem sie in der Fußgängerzone angekommen waren. Ciel schaute sich um und deutete dann auf ein Fast Food Restaurant. Sebastian seufzte leise. „Na schön, aber nur ausnahmsweise!“ Normalerweise war er gegen dieses Essen, schon allein weil es absolut ungesund war. Seltsamerweise war es ein Magnet für Kinder.
 

Drinnen wimmelte es von gestressten Müttern und schreienden Kindern. Ciel ergriff Sebastians Hand noch fester und drückte sich an dessen rechtes Bein. Er fühlte sich eindeutig unwohl und der Ältere wollte schon vorschlagen wieder zu gehen, aber Ciel wollte hier essen und er konnte ihn doch nicht immer mit Samthandschuhen anfassen.

Die Schlange an der Kasse war zum Glück recht kurz. „Was möchtest du?“, fragte Sebastian und erhielt ein Schulterzucken als Antwort. „Hast du hier schon mal gegessen?“, fragte er. Ciel verneinte. Da sie schon an der Reihe waren zu bestellen, entschied Sebastian sich für einen einfachen Cheeseburger, ein paar Chicken Nuggets, Pommes und Wasser für Ciel und für sich ein Menü. „Wir haben auch Angebote für Kinder“, teilte ihm die gelangweilte, füllige Frau hinter der Kasse kaugummikauend mit, „da ist auch ein Spielzeug dabei.“ Sebastian Blick wanderte kurz zu eben diesen, entschied dann bei seiner Bestellung zu bleiben. Sie mussten ein paar Minuten warten, dann bekam er ein volles Tablett hin geschoben.
 

Mit dem Tablett in der Hand suchte Sebastian nach einem freien Tisch und steuerte dann einen Zweiertisch an. Er wäre zwar lieber nach draußen gegangen, doch dort war auch der Raucherbereich und da wollte er wirklich nicht essen.

Nachdem sie sich gesetzt hatten, packte Ciel den Cheeseburger aus und betrachtete ihn eingehend. Sebastian wollte schon fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei, doch dann biss er herzhaft hinein. „Schmeckt’s?“, fragte er lächelnd und Ciel nickte. Seine Augen leuchteten.
 

Wieder zu Hause in Sebastians Wohnung klingelte dessen Handy. Verwundert fischte er es aus seiner Hosentasche und schaute auf das Display. Als er die Nummer sah, verzog er unwillig seine Mundwinkel. Kurz zögerte er, überlegte, einfach nicht abzuheben und die Anruferin mit seiner Mailbox plaudern zu lassen, doch aufgeschoben war nicht aufgehoben. Ein genervtes Seufzen unterdrückend hob er ab. „Michaelis?“, meldete er sich monoton. Ciel stand neben ihm und schaute ihn neugierig an.

Die Anruferin, seine persönliche Sekretärin, teilte ihm gerade mit, dass einige Dokumente von ihm durchgesehen werden mussten. „Hat das nicht Zeit bis nach meinem Urlaub?“ Er konnte den genervten Unterton in seiner Stimme kaum unterdrücken. Wollte er auch gar nicht. Er war nicht mal eine Woche weg und schon kamen sie wieder an gekrochen. Sebastian atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Wie er diese Klinik doch manchmal hasste! „Na schön, schicken Sie mir jemanden, der mir die Unterlagen bringt.“ Aufgebracht ging Sebastian in die Küche. Er würde mit Sicherheit nicht in die Klinik fahren! Und schon gar nicht mit Ciel. Den Jungen alleine lassen war keine Option.

Nach einigem Hin und Her hatte er die arme Frau überzeugt. Mit einem tiefen Seufzen legte er auf und sein Handy auf die Arbeitsplatte seiner Kochinsel. Er lehnte mit der Hüfte dagegen und registrierte erst jetzt Ciels, fast schon besorgten, Blick. „Die Arbeit ruft“, sagte Sebastian und schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Du wirst dich heute wohl selbst beschäftigen müssen.“ Ciel nickte, dann verließ er die Küche und steuerte das Wohnzimmer an. Dort waren seine Spielsachen. Sebastian hatte das unterste Fach seines Regals, das aus insgesamt acht gleichgroßen Würfeln bestand, freigeräumt.
 

Ciel ging davor in die Hocke und überlegte, was er nehmen sollte, entschied sich dann für ein Puzzle. Mit dem Karton in der Hand ging er zu dem niedrigen Wohnzimmertisch und öffnete die Schachtel. Die Puzzleteile waren noch in einer Plastikhülle eingepackt. Ciel versuchte sie mit den Fingern zu öffnen, doch er schaffte es nicht. „Warte“, sagte Sebastian, der sich plötzlich neben ihn kniete, mit einer Schere in der Hand. Erschrocken zuckte der Kleinere zusammen. Schnell war die Tüte aufgeschnitten und die Puzzleteile auf dem Tisch verteilt.

Ciel richtete die Schachtel so aus, dass er das Bild sehen konnte und sortierte dann die Teile, um mit dem Rand anfangen zu können. Sebastian beobachtete ihn kurz, dann ertönte auch schon die Klingel. Kamen die Unterlagen nun schon per Luftpost? Als er die Haustür öffnete stand dort eine junge Frau, vielleicht eine Praktikantin. Sie lächelte ihn offen an und warf ihm einen möglichst intensiven Blick durch ihre getuschten Wimpern zu, nachdem sie ihn für eine halbe Sekunde gemustert hatte. „Dr. Michaelis?“, fragte sie. Er nickte nur knapp als Antwort. „Ich sollte Ihnen die Unterlagen bringen“, sagte sie und versuchte sich an einem verführerischen Unterton, der allerdings seine Wirkung verfehlte. „Danke“, sagte Sebastian, nahm die dicke Mappe an und schloss die Tür, ohne sich zu verabschieden.
 

Lustlos ging er in sein Arbeitszimmer. Es war nicht so, dass er seine Arbeit nicht mochte, aber dieser Papierkrieg war manchmal wirklich mehr als nur lästig. Seufzend schlug er die Mappe auf und las sich das erste Dokument durch.
 

Fast eine Stunde später kam Ciel zu ihm und hielt ihm ein Bild hin. „Für mich?“, fragte Sebastian, nahm das Blatt an und betrachtete es. Dort waren Strichmännchen zu sehen. Das größte hatte braune Haare, das mittlere trug einen Rock und hatte blonde Haare und das kleinste hatte blaue. Darüber, in der linken, oberen Ecke befand sich eine gelbe Sonne und rechts ein großes Haus. Alle drei lächelten und hielten sich an den Händen. „Bist du das? Mit deinen Eltern?“, fragte Sebastian und Ciel nickte. „Möchtest du über sie reden?“ Kopfschütteln. Er seufzte innerlich, damit hatte er schon gerechnet. Es war klar, dass der Junge nicht gleich sein Herz ausschütten würde. „Was … machst du da?“, fragte Ciel plötzlich und schaute ihn neugierig an. „Das ist nur langweiliger Papierkram, nicht besonders spannend.“ „Papa hat das auch immer gemacht“, sagte Ciel. Einer Eingebung folgend fragte der Größere: „Interessiert dich das?“ Nicken. „Ich durfte immer auf Papas Schoß sitzen und ihm helfen“, erklärte Ciel stolz. „So? Na dann komm her“, sagte Sebastian mit einem Schmunzeln und hob den Jungen hoch, um ihn auf seinen Schoß zu setzen. „Was hast du dann immer gemacht?“ „Gestempelt und ihm Blätter gereicht“, sagte Ciel und seine Augen leuchteten. Sebastian unterdrückte das aufkommende Bedürfnis ihn zu knuddeln, da der Kleinere in diesem Moment einfach nur goldig war.

So verbrachten sie noch eine gute Stunde, dann waren sie fertig. Ciel hatte offensichtlich Spaß dabei gehabt. Auch wenn er keine Ahnung hatte, um was es eigentlich ging, aber das war auch nicht wichtig.
 

Bis zum Abendessen spielte Sebastian mit dem Jungen. Danach ließ er ihn einen Kinderfilm schauen, während er die Küche wieder aufräumte. Er selbst hatte den Film nie gesehen, es ging wohl um Fische, die einen verloren gegangenen Freund suchten.

Als Sebastian das Wohnzimmer 20 Minuten später betrat blieb er kurz erschrocken stehen. Ciel saß auf dem großen Sofa, presste ein Kissen gegen seine Brust und weinte bittere Tränen. Mit großen Schritten durchquerte Sebastian den Raum und ließ sich neben dem weinenden Etwas nieder. „Hey … was ist denn los?“, fragte er besorgt. Statt einer Antwort warf Ciel sich plötzlich in seine Arme und weinte noch herzzerreißender. Er streichelte ihm sanft über den Rücken und murmelte ihm beruhigende Worte zu, in der Hoffnung, er würde sich beruhigen.

Nach einiger Zeit brachte Ciel unter viel schluchzen „Mutter … tot …“, heraus. Verwundert runzelte Sebastian die Stirn. „Seine … seine Mutter …“, presste der Junge leise heraus und wurde von neuen Schluchzern geschüttelt, „ist tot.“ Der Größere warf einen Blick auf den Fernseher, als ihm dämmerte, was los war. Die Mutter der Hauptfigur war wohl gestorben. Das erinnerte Ciel höchst wahrscheinlich daran, dass seine Eltern auch tot waren. Laut Scotland Yard hatte er sie gefunden, aber es war nicht bewiesen.
 

Lange saßen sie einfach nur so da und Ciel weinte sich alles von der Seele. Sebastian wunderte sich, wie ein so kleiner Mensch so viele Tränen produzieren konnte. Gleichzeitig zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Der Junge tat ihm so leid und er konnte nichts tun, außer für ihn da zu sein.

Irgendwann beruhigte Ciel sich wieder. Sebastians Shirt hatte einen großen, nassen Fleck, doch das störte ihn nicht. Sanft wischte er die Tränenspuren aus dem kindlichen Gesicht und strich ihm ein paar aschblaue Haarsträhnen hinters Ohr. Sein Blick flackerte kurz zu dem Fernseher, der Film war wohl fast vorbei. „Schau mal, es gibt ein Happy End“, sagte Sebastian und versuchte zu lächeln, auch wenn ihm gar nicht danach war. Schniefend wandte Ciel seinen Kopf in die Richtung und seine Mundwinkel zuckten kurz. Immerhin hatte es wohl geholfen.

Sebastian reichte ihm ein Glas Wasser, das auf dem Wohnzimmertisch stand. Ihm war wichtig, dass der Junge auch genug trank. „Hier, trink was. Du bist bestimmt durstig.“ Ciel nahm das Glas in beide Hände und leerte es zügig. Weinen machte immer unglaublich durstig. Sebastian ließ ihn los, stand auf und holte Taschentücher aus einem Schrank. Er reichte Ciel eines, der sich auch sofort die verstopfte Nase putzte. Anschließend ließ er sich erschöpft gegen den Größeren sinken, der sich wieder neben ihn gesetzt hatte, und schloss müde die Augen. Durch das sanfte Streicheln über seinen Rücken döste er langsam ein.

Tränen und William


 

Happy Halloween!
 

Als Ciel das nächste Mal aufwachte, lag er im Bett und es war dunkel. Müde streckte er sich und drehte sich auf die andere Seite. Dort lag Sebastian und schlief. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er erinnerte sich, dass er geweint hatte, weil die Mutter des kleinen Fischs in dem Film gestorben war. Das war schon mehr als traurig, doch es erinnerte ihn daran, dass er selbst keine Eltern mehr hatte. Plötzlich hatten die Erinnerungen ihn überschwemmt. Ihr Anwesen, das brannte, die Angst, seine toten Eltern, die eng umschlungen in einer großen Blutlache lagen, die Entführer und die lange Zeit des Quälens. Er wusste nicht, wie lange er in diesem Saal war, eingesperrt in einen Käfig, wie Tiere und eine geschmacklose, pürierte Pampe als Essen.

Ohne es zu merken kullerten Tränen über seine Wangen. Sein Magen fühlte sich an, als ob eine eiskalte Faust ihn zusammendrücken würde und sein Herz schlug schwerfällig. In seinem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet und unweigerlich kroch ein Schluchzen seine Kehle hoch. Er zog seine Knie an seinen Körper und rollte sich wie ein Embryo zusammen. Die Bettdecke neben ihm raschelte leise, dann legte sich ein Arm um seinen schmächtigen Körper und er wurde an eine warme Brust gezogen. „Ich bin da“, flüsterte Sebastian leise.

Er hatte nur leicht geschlafen, die Sorge um den Jungen hatte ihn kaum zur Ruhe kommen lassen. Dadurch war er auch durch das leise Schluchzen aufgewacht. Ciel tat ihm so unfassbar leid, es tat fast schon weh. Sebastian wollte ihm so gerne den Schmerz nehmen, doch das war nicht möglich. Er konnte nur für ihn da sein. „Bauch … weh“, brachte Ciel zwischen mehreren Schluchzern heraus. Sebastian brauchte einen Moment, bis sein müdes Gehirn die Information verarbeitete. „Dein Bauch tut weh?“, fragte er und legte seine Hand auf den sehr flachen Bauch des Jungen. Dieser nickte schniefend. Der Größere fuhr sich gedanklich frustriert durch die Haare. Was sollte er nun tun? Hatte er überhaupt eine Wärmflasche? Würde er jetzt, mitten in der Nacht, Claude anrufen, würde dieser ihm wahrscheinlich etwas erzählen. Sebastians Gedanken rasten, während Ciel sich noch etwas mehr in seinen Armen krümmte.
 

Vorsichtig löste er die Umarmung: „Ich hol dir eine Wärmflasche, okay? Dann wird es gleich besser sein.“ Er spürte ein leichtes Nicken an seiner Brust, dann setzte er sich auf, wickelte Ciel in eine Decke ein und stand schwerfällig auf. Die Müdigkeit steckte ihm in den Knochen, doch die Sorge überwog. Sein Weg führte ihn ins Wohnzimmer. Wenn er eine Wärmflasche hatte, dann war diese vielleicht dort. Schnell durchsuchte Sebastian seinen Wohnzimmerschrank und sein Regal, jedoch erfolglos. Anschließend ging er ins Bad, auch wenn er nicht glaubte, dort fündig zu werden. Schließlich bewahrte er dort nur Handtücher, Badeutensilien und was man eben im Bad hatte, auf. Als seine Suche dort auch erfolglos war, blieb nur noch sein Kleiderschrank übrig.

Im Schlafzimmer sah er nur einen kleinen Hügel unter der Bettdecke. Er schaltete seine Nachttischlampe ein, diese spendete nur wenig Licht, gerade genug um den Inhalt seines Schranks erkennen zu können. Sebastian wühlte eine Weile, doch dann förderte er tatsächlich eine Wärmflasche zutage. Schnell ging er mit dieser in die Küche und legte sie auf die Arbeitsplatte, um den Wasserkocher zu füllen. Ungeduldig tippte er auf die glatte Fläche, bis das Wasser endlich kochte. Sebastian nahm die Wärmflasche, schraubte den Deckel ab und füllte sie anschließend über der Spüle mit dem kochenden Wasser.
 

Schnell stellte er das Gerät zurück in die Halterung, nahm den Deckel und schraubte die Wärmflasche auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer zu. „Ciel?“, fragte er leise und setzte sich auf die Bettkante. Die Bettdecke bewegte sich, dann lugte ein aschblauer Haarschopf hervor. Sebastian rutschte etwas weiter auf die Matratze und legte sich neben den Jungen. Er hob die Bettdecke etwas an, um sich darunter zu legen und Ciel die Wärmflasche an den Bauch zu legen. „Hier, damit geht es dir gleich besser“, sagte er leise. Der Junge rutschte näher zu Sebastian und lehnte seinen Kopf an dessen Brust. Er legte einen Arm um den kleinen Körper und murmelte beruhigende Worte. So schliefen beide langsam ein.
 

Am nächsten Morgen ging es Ciel wesentlich besser. Es ging ihm so gut, dass er Sebastian weckte, weil er Hunger hatte. Der Junge hatte ihm so lange in die Wange gepiekt, bis er grummelnd ein Auge einen spaltbreit geöffnet hatte. Seine erste Reaktion war es, den Störenfried in seine Arme zu ziehen und noch ein wenig liegen zu bleiben, doch Ciel hatte andere Pläne und war geschickt ausgewichen. „Was ist denn?“, fragte er nuschelnd. Ciels knurrender Magen, der in der Nähe von Sebastians Ohr war, sagte alles. Der Junge hatte sich beim Ausweichen über ihn gebeugt, sodass er fast auf dem Gesicht des Größeren lag.

Mit einem tiefen Seufzen zog er den kleinen Körper nun doch in seine Arme und setzte sich auf. Er angelte nach seinem Smartphone, um auf die Uhr zu schauen. Obwohl es fast Mittag war, hatte er das Gefühl, kaum geschlafen zu haben. Schwerfällig kämpfte er sich unter der Decke hervor und warf seine langen Beine über die Bettkante. Kaum hatte Sebastian sich erhoben, Ciel hielt er immer noch fest, ertönte die Klingel. Wer war das denn jetzt? Mit einem herzhaften Gähnen stand er auf, strich sich einmal durch die schwarzen Haare und schlurfte zu seiner Wohnungstür. Er war noch nicht angekommen, da klingelte es erneut. „Ich komm ja schon!“, grummelte Sebastian genervt und öffnete die Tür, nachdem er aufgeschlossen hatte.

„Hallo Nachbar~!“, flötete eine viel zu hohe, männliche Stimme. „Grell.“ Eine reine Feststellung. Grüngelbe Augen schauten ihn einen Moment irritiert an, wahrscheinlich weil er Ciel immer noch auf dem Arm trug, dann lächelte er breit und zeigte seine spitzen, weißen Zähne. „Habe ich dich etwa geweckt?“, fragte er scheinheilig. „Nein, da kam dir schon jemand zuvor“, sagte Sebastian und schielte zu Ciel. Dieser schien fit und ausgeschlafen zu sein. Er war fast ein wenig neidisch.

„Was verschafft uns nun die Ehre deines Besuchs?“, fragte Sebastian an Grell gewandt. Dieser grinste, wenn möglich, noch breiter und seine Augen leuchteten: „Ich hab später ein Date~! Und ich brauche deine Meinung zu meinem Outfit.“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Skeptisch hob Sebastian eine Augenbraue. Er wusste, dass sein Nachbar die Farbe Rot liebte, aber manchmal übertrieb er wirklich. Abgesehen von den langen, roten Haaren und der roten Brille trug er eine rote, enge Hose, eine rote Bluse mit Rüschen, Sebastian war sich sicher, dass das eine Damenbluse war, und rote Sandaletten mit hohem Absatz. Alles natürlich in verschiedenen Rottönen. „Findest du das nicht etwas viel? Weiß dein Date, dass du ein Mann bist oder rechnet er mit einer Frau? Wo geht ihr überhaupt hin?“ Grell zog verärgert seine Augenbrauen zusammen. „Was heißt denn hier ‚zu viel‘? Und ja, er weiß, dass ich ein Mann bin! Wir gehen ins Aquarium~“, bei dem letzten Satz faltete er seine Hände und bekam glänzende Augen. „Dann zieh eine schwarze Hose an, ein normales T-Shirt und vor allem flache Schuhe! Du bist viel zu overdressed für so ein Date.“

Sebastian rechnete schon damit, dass der andere gleich eine Diskussion vom Zaun brechen würde, doch stattdessen bekam er plötzlich einen feuchten Kuss auf die Wange und mit den Worten: „Wird gemacht! Du bist ein Schatz, Sebastian~!“ Stöckelte Grell davon. Kopfschüttelnd schaute er seinem Nachbarn noch einen Moment hinterher, dann schloss er die Wohnungstür wieder. Ciel schaute ihn mit großen Augen an, als wäre gerade eine Naturkatastrophe an ihnen vorbeigezogen. Lächelnd wuschelte Sebastian durch die aschblauen Haare und ging in die Küche. „Lass uns jetzt erst mal frühstücken.“
 

William war nie jemand gewesen, der Kinder mochte oder gar eigene wollte. Er konnte mit diesen kleinen, unselbstständigen Menschen einfach nichts anfangen. Wieso gerade er dann Kinderpsychologe war? Diese Frage stellte er sich oft selbst. Auf seine Mitmenschen wirkte er oft kühl und distanziert, doch Kinder konnten hinter diese Fassade schauen. Kinder und Tiere mochten ihn, egal wie böse er sie anschaute.

Er hatte nie etwas mit Kindern zu tun haben wollen, geschweige denn in seiner täglichen Arbeit. Und doch war es nun so. Während seinem Studium hatte er verschiedene Praktika gemacht und war einmal in einer Kinderklinik. Hatte er bisher immer nur mit Erwachsenen zu tun gehabt, die wegen jeder Kleinigkeit einen riesigen Aufriss machten und sich von der nächstbesten Brücke stürzen wollten, wenn sie gerade verlassen worden waren oder es im Job nicht so gut lief, sah er sich nun Kindern gegenüber, die schwerkrank waren. Einige hatten keine Haare mehr, bekamen Chemo oder warteten auf ein Spenderorgan. Doch keiner dieser kleinen Menschen jammerte oder beschwerte sich über die Situation. Sie alle kämpften, egal wie aussichtslos es war und taten ihr Bestes, um jeden Tag zu genießen.

Diese Erfahrung hatte ihn schwer beeindruckt und unterbewusst so sehr beeinflusst, dass er nach erfolgreichem Abschluss Kinderpsychologe wurde. Anfangs hatten seine Familie, seine Freunde und Bekannte ihn ausgelacht, gesagt dass es nie etwas werden würde. Wer würde schon sein Kind zu jemandem wie ihm bringen? Doch William war überzeugt, dass das sein Weg war und eröffnete eine eigene Praxis. Zugegeben, anfangs hatte er Startschwierigkeiten, doch kaum kamen die ersten kleinen Patienten, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer. Sein prall gefüllter Terminkalender sprach für sich.
 

Da es ihm in erster Linie nicht um das Geld ging, behandelte er auch Kinder, deren Eltern es sich nicht leisten konnten, oder die gar keine mehr hatten. Einmal die Woche stattete er einem Waisenhaus einen Besuch ab und sprach mit jedem der Kinder. Viele von ihnen hatten schon in jungen Jahren viel durchgemacht.

Doch die Mehrheit seiner Patienten bestand aus Kindern, denen nichts fehlte, die aber einfach nicht so waren, wie ihre Eltern sie gerne hätten. Oft kamen sehr extrovertierte Mütter zu ihm und behaupteten, ihr Kind sei nicht normal. Es sei zu still, hätte kaum Freunde, würde die meiste Zeit allein spielen und kaum mit ihr reden. Wenn er ihnen dann versuchte zu erklären, dass alles in Ordnung war und das Kind einfach nur introvertiert und sein Verhalten ganz normal, stieß er auf taube Ohren. Ihm konnte es recht sein, verdiente er damit schließlich viel Geld, doch die Kinder waren die Leidtragenden. Meistens verbrachte er diese Sitzungen damit, den Patienten spielen zu lassen oder sie unterhielten sich.

Andere Mütter, alles reiche Hausfrauen, waren mit ihrem sehr energiegeladenen Kind überfordert. Diese Kinder wollten Aufmerksamkeit und Beschäftigung, doch den Frauen war ihr Friseur, die wöchentliche Shoppingtour und der Personal Trainer einfach wichtiger. Oft riet er ihnen, mit dem Kind einfach auf einen Spielplatz zu gehen, da konnte es sich austoben und wäre am Abend müde. Die wenigen, die seine Ratschläge umsetzten, stellten dafür ein Kindermädchen ein. Die meisten wollten lieber Medikamente, um die Kinder ruhig zu stellen. Klar war das einfacher, aber bestimmt nicht der richtige Weg. Daher verschrieb er auch keine Medikamente, oder so schwache, dass sie quasi keine Wirkung hatten. Dann waren die Mütter zufrieden und die Kinder bekamen nicht von ihrem Hausarzt, der nur laufende Banknoten in ihnen sah, die wirklich starken Sachen, die sie beinahe apathisch ruhig machten.

Der kleinste Teil seiner Patienten waren Teenager mitten in der Pubertät. Sie hatten auch oft nur wenig Aufmerksamkeit von ihren Eltern bekommen, und wenn dann meistens in Form von Regeln und nun lehnten sie sich dagegen auf und rebellierten. Oft konnte er darüber nur den Kopf schütteln. Er übte diesen Beruf nicht erst seit ein paar Tagen aus und die jahrelange Erfahrung hatte bestimmte Muster herauskristallisiert.
 

Und nun stand er in der Londoner Innenstadt und schaute ungeduldig auf seine Uhr. Zwei Minuten vor der verabredeten Zeit. Sein Date hatte also noch die Möglichkeit pünktlich zu erscheinen. William trug eine dunkelblaue Jeans, ein hellgrünes T-Shirt und schwarze Sneaker. Genervt schob er sich mit seiner typischen Geste die Brille, die nicht verrutscht war, zurecht. Wieder fragte er sich, wie er in diese Situation gekommen war. Aber eigentlich war die Antwort ziemlich simpel. Sein sogenannter bester Freund Ronald Knox hatte ihn, den Dauersingle, bei einer Partnerbörse angemeldet und sobald er jemanden gefunden hatte, den er als passend ansah, diese Person angeschrieben. In Williams Namen, versteht sich.

Er war nicht erfreut gewesen darüber, um es nett auszudrücken, doch da er ein viel zu netter Mensch war, hatte er der Person geantwortet. Eigentlich hatte er dem anderen erklären wollen, dass das Ganze nur Zeitverschwendung sei und er sich nicht einmal selbst dort angemeldet hatte, doch sein Chatpartner hatte ihn gar nicht dazu kommen lassen. Er hatte ihn direkt in ein Gespräch verwickelt und so kam es, dass sie jeden Abend für ein bis zwei Stunden chatteten. Mit der Zeit hatte William festgestellt, dass er sich darauf freute, mit dem anderen zu schreiben, ohne zu wissen, wie dieser überhaupt aussah. Doch das war ihm nicht wichtig gewesen.

Es verging kaum ein Tag, an dem sie sich keine Nachrichten schrieben. Nach ein paar Wochen kam dann die entscheidende Frage nach einem Treffen. William hatte erschrocken den Laptop zugeklappt und zur Seite gestellt. Wann hatte er sein letztes Date gehabt? Das musste schon ewig her sein.

Zur Beruhigung hatte er sich erst mal ein gut gefülltes Glas Rotwein genehmigt. Dann hatte er seinen Laptop wieder aufgeklappt und gesehen, dass sein Chatpartner seine Reaktion als Ablehnung gedeutet hatte. Ohne weiter nachzudenken hatte er schnell eine Antwort getippt und so getan, als hätte er es gerade gelesen und sagte freudig zu.

Da er wissen wollte, mit wem er das Vergnügen haben würde, hatte er um ein Bild gebeten. Dank Ronald wusste der andere schließlich, wie er selbst aussah. Nach langem Zögern bekam er dann auch ein Bild und verschluckte sich prompt an seinem Rotwein. Das erste, was ihm aufgefallen war, waren lange, rote Haare. Dann grüngelbe Augen, die seinen sehr ähnlich waren und ein bezauberndes Lächeln. Zugegeben, er war nicht hin und weg, aber auch nicht gänzlich abgeneigt, vor allem wenn er an ihre vielen Gespräche zurück dachte. Schnell hatten sie einen Termin festgelegt und nun stand William wie bestellt und nicht abgeholt in der Fußgängerzone und warf zum x-ten Mal einen Blick auf seine Armbanduhr.
 

Plötzlich legte sich ein Schatten teilweise über ihn und er sah genervt auf. „William?“, fragte eine ihm unbekannte Stimme und neben viel rot fielen ihm lange, spitze Zähne auf, die von blassen, schmalen Lippen umrandet waren. Er hob eine Augenbraue und sein Blick wanderte nach oben, bis er auf grüngelbe Augen traf. Das … war nicht wahr, oder? Das sollte sein Date sein? Vor ihm stand ein Mann mit wirklich sehr langen, roten Haaren und einer roten Brille. Dazu trug er ein rotes T-Shirt, schwarze Shorts und rote Chucks. Natürlich waren das alles verschiedene Rottöne, die auf seltsame Art und Weise doch miteinander harmonierten.

Da sein Gegenüber immer noch auf eine Antwort wartete, nickte er leicht und bekam prompt eine Hand entgegengestreckt und das Grinsen wurde noch breiter. „Freut mich, dich endlich kenne zu lernen. Ich bin Grell~!“

Jack Rivière

Kaum hatten sie sich gesetzt, klingelte es schon wieder an der Tür. „Was denn jetzt noch?“, fragte Sebastian genervt und stand auf. Ein entspannter Morgen sah definitiv anders aus. Ciel, neugierig wie er war, folgte dem Größeren in den Flur. „Grell, ich hab dir doch gesagt, was du anziehen sollst“, seufzte Sebastian und hielt dann überrascht inne. Vor ihm stand eindeutig nicht sein verrückter Nachbar. Es war ein junger Mann, vielleicht Ende 20, mit schwarzen, kurzen Haaren, die ihm fransig in die Augen fielen. Noch dazu war er, im Vergleich zu Sebastian, recht klein. Er schätzte ihn auf 1,60m. „Mr. Michaelis?“, fragte der Fremde monoton und schaute ihn emotionslos aus dunkelblauen Augen an. Der Angesprochene erwartete schon die Polizeimarke seines Gegenübers zu sehen, doch Nichts dergleichen geschah. „Wie … kann ich Ihnen helfen?“, fragte Sebastian immer noch überrascht. „Mein Name ist Jack Rivière, das Jugendamt schickt mich.“ Wollten die jetzt etwa Ciel?! Die Sorge musste ihm, untypischerweise, im Gesicht stehen. „Kann ich vielleicht reinkommen? Ich möchte mich nur mit Ihnen und dem Jungen unterhalten.“ „Ah, natürlich“, sagte Sebastian und trat zur Seite. Dabei bemerkte er, dass Ciel sich hinter seinen Beinen versteckte und neugierig dahinter hervor lugte.

Jack betrat die Wohnung und wurde direkt gebeten, seine Schuhe auszuziehen. Wortlos kam er dem nach. Sebastian konnte nicht wissen, dass der andere das in seiner Wohnung auch von seinen Gästen immer verlangte. In der Küche bot er ihm einen Stuhl an: „Bitte, setzen Sie sich. Wir wollten gerade frühstücken.“ Sebastian schnitt ein Brötchen auf und legte es auf den Toaster, damit es wieder knackig war. Auch wenn er sie selbst gebacken hatte, wurden sie durch die Aufbewahrung im Gefrierschrank immer etwas trocken nach dem Auftauen. „Möchten Sie auch etwas essen? Oder einen Tee?“ „Einen Schwarztee, bitte.“ Sebastian füllte den Wasserkocher und schaltete diesen ein, dann füllte er eine Tasse mit Milch und goss diese in einen kleinen Topf, um sie zu erwärmen. Anschließend räumte er verschiedene Marmeladen, auch selbst gekochte, aus dem Kühlschrank und gab zwei Gläser davon Ciel, da dieser ihm beim Tischdecken helfen wollte.
 

So war der Tisch schnell gedeckt. Sebastian stellte ihm seine warme Milch hin und für Jack und sich einen Schwarztee. Der Junge kletterte auf seinen Platz und griff nach einem Brötchen, das er Sebastian hinhielt, damit dieser es beschmierte. „Nun, Mr. Rivière, Sie wollten mit mir reden?“, fragte er, da sein Besucher bisher keine Anstalten machte, etwas zu sagen. Stattdessen musterte er die Küche ausgiebig. „Wie gesagt, das Jugendamt schickt mich. Eigentlich bin ich Streetworker, aber die sind unterbesetzt. Wie lange ist der Junge nun schon bei Ihnen?“, stellte er seine erste Frage. Sebastian überlegte kurz. „Heute ist der vierte Tag. Wenn man den ersten Abend dazu zählt.“ Es wunderte ihn selbst, dass es noch nicht mal eine Woche war. Er hatte sich schon so sehr an Ciels Anwesenheit gewöhnt, er wusste gar nicht mehr, wie es vorher war.

Jack nickte und notierte sich etwas auf einem kleinen Block. „Was haben Sie in der Zeit unternommen?“ Sebastian hob eine Augenbraue und antwortete: „Am ersten Tag hab ich mir einen Kindersitz von einem Freund geliehen, dann sind wir ins Einkaufszentrum gefahren. Kleidung, Spielsachen, was ein Kind eben braucht, kaufen. Gestern hab ich ihn zu einem Kollegen gebracht, für die erste Therapiestunde. Umso früher wir damit anfangen, umso besser.“ Jack nickte leicht und machte sich wieder Notizen. Zwischendurch trank er von seinem Tee, wobei er die Tasse nicht am Griff hielt, sondern mit den Fingerspitzen die Seiten umfasste. „Ein Freund? Oder …“, fragte Jack, wobei die Betonung auf dem ersten Wort lag. „Ein Freund. Wenn Sie es genau wissen wollen, er ist Kinderarzt, glücklich mit seiner Frau verheiratet und sie haben vor zwei Jahren zwei Jungen adoptiert.“ Jack nickte wieder, diesmal ohne sich etwas zu notieren, und stellte die nächste Frage: „Gab es besondere Vorkommnisse?“ Sebastian runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage? Dann sagte er: „Ciel hatte vorletzte Nacht einen Asthmaanfall. Ich hab ihn gleich zu eben erwähntem befreundetem Kinderarzt gebracht. Es ist alles in Ordnung. Er hat Medikamente bekommen und sonst geht es ihm gut.“ „Und was haben Sie heute vor?“, fragte Jack. „Da wir erst aufgestanden sind, habe ich noch keine Pläne gemacht.“ „Gehen Sie so spät ins Bett, dass sie erst mittags aufstehen?“, fragte Jack misstrauisch. Sebastian lächelte neutral und wandte sich an den Kleinsten am Tisch: „Ciel, wärst du so lieb und ziehst dich schon mal an? Ich möchte mit Mr. Rivière kurz allein sprechen.“ Der Angesprochene nickte, stand auf und verließ die Küche.

Sebastian sah ihn ernst an: „Wir haben gestern Abend einen Film geschaut, mit einem Clownfisch, dessen Mutter am Anfang gestorben ist. Ciel ist in Tränen ausgebrochen und wollte sich nicht mehr beruhigen. In der Nacht hatte er einen Albtraum und hat die halbe Nacht geweint, daher ist es recht spät geworden. Ich achte darauf, dass er einen geregelten Tagesablauf hat und früh ins Bett geht.“ „Wo schläft er?“ „Bei mir im Bett. Erst wollte ich ihn allein im Wohnzimmer schlafen lassen, aber er hat Angst allein im Dunkeln und Albträume.“ Jack nickte wieder und machte sich Notizen. „Kann ich mich hier umsehen?“ „Wozu?“, war Sebastians berechtigte Frage. „Ich gehe davon aus, dass Sie den Jungen behalten wollen. Im Falle einer Adoption muss ich auch die Wohnung prüfen. Unangemeldet, versteht sich. Da Sie jetzt vorgewarnt sind, will ich sehen, wie es hier aussieht, wenn Sie nicht vorbereitet sind.“ „Tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte Sebastian und fügte mit einem nichtssagenden Lächeln hinzu, „aber hinterlassen Sie alles so, wie Sie es vorgefunden haben.“ Jack hob eine schmale Augenbraue und stand auf. „Natürlich.“ In diesem Moment kam Ciel zurück, fertig angezogen.
 

Als Jack fertig war, waren sie mit dem Frühstück fertig und die Küche wieder aufgeräumt. „Sieht alles gut aus, soweit. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie heute gerne begleiten.“ „Wenn Sie möchten“, sagte Sebastian schulterzuckend und wandte sich dann an Ciel: „Hast du auf etwas Bestimmtes Lust?“ Er erhielt ein Kopfschütteln als Antwort. Sebastian überlegte kurz und warf einen Blick nach draußen. Dann sagte er lächelnd: „Wie wäre es, wenn wir in den Zoo gehen? Das Wetter ist heute besonders schön.“ Leuchtend blaue Augen strahlten ihn an und Ciel nickte begeistert. „Okay, dann mach ich uns noch einen Picknickkorb“, sagte er lächelnd. „Mr. Rivière möchte sich noch mit dir unterhalten. Ihr könnt so lange ins Wohnzimmer gehen, okay?“ Der Junge warf einen Blick zu Jack und nickte dann zögerlich. „Keine Sorge, er beißt nicht“, sagte Sebastian lächelnd, dann öffnete er wieder die Kühlschranktür.

Im Wohnzimmer setzten sie sich auf das große Sofa. „Also Ciel, gefällt es dir bei Sebastian?“ Der Junge nickte und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Er behandelt dich gut?“ Wieder ein Nicken. „Möchtest du bei ihm bleiben? Du kannst ruhig über deine Antwort nachdenken.“ „Ich will bei Sebastian bleiben“, sagte Ciel, ohne zu überlegen, und schaute Jack ernst an.
 

Nach einiger Zeit betrat Sebastian das Wohnzimmer. Ciel und Jack setzten gemeinsam ein Puzzle auf dem Wohnzimmertisch zusammen. Der Junge erzählte gerade, dass Sebastians Essen das Beste sei, das er bisher gegessen hatte. Dieser kam nicht umhin, ein wenig stolz zu sein. „Von mir aus können wir gehen“, sagte er und machte damit auf sich aufmerksam. Ciel öffnete schon die Schachtel für das unfertige Puzzle, um es wegzuräumen, doch Sebastian winkte ab: „Du kannst es später oder morgen fertig machen, wenn du willst.“ Der Angesprochene nickte und legte die Schachtel wieder zur Seite.

Im Flur zogen sie sich die Schuhe an, Sebastian band Ciels Schnürsenkel, dann nahm er den mit Essen und Trinken gefüllten Rucksack und sie verließen die Wohnung. Jack rief den Fahrstuhl, während der Größere die Wohnung abschloss. „Wir können meinen Wagen nehmen“, sagte Sebastian, nachdem sie den Aufzug betreten hatten. „Okay.“ Das war Jack nur recht, schließlich war er mit der Bahn gekommen. Er hatte kein Auto, da die Parkgebühren in der Stadt hoch waren und mit der Bahn fahren, auch wenn er es nicht gerne tat, war wesentlich billiger. Die Unterhaltung eines Autos nicht zu vergessen.

Die Fahrt in die Tiefgarage verlief schweigend. Kaum hatte der Fahrstuhl mit einem leisen ‚Ping‘ angekündigt, dass sie im gewünschten Stockwerk angekommen waren, öffneten sich die Türen und die drei betraten die kühle Tiefgarage. Ciel ging zielstrebig zu seinem schwarzen Sportwagen. Jack hob eine Augenbraue, als er das Auto sah. Der wollte doch jetzt nicht wirklich zu dritt mit einem Zweisitzer fahren? Als Sebastian das sah, lachte er leise: „Ciel warte, wir fahren mit einem anderen Auto. Sonst müsste Mr. Rivière im Kofferraum sitzen“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu und steuerte auf einen Parkplatz etwas weiter hinten zu.
 

Jack war wirklich neugierig, mit welchem Auto sie dann fahren würden. Sebastian betätigte die Funkfernbedienung und der andere hob überrascht beide Augenbrauen. Dort stand ein kleines, weißes Stadtauto. Ciel folgte ihnen neugierig. Am Auto angekommen öffnete Sebastian die Beifahrertür und winkte den Jungen zu sich, damit er ihn in den Kindersitz, den er zuvor schon von seinem Sportwagen geholt und in das Auto eingebaut hatte, setzen und anschnallen konnte. Danach klappte er die Lehne des Beifahrersitzes wieder nach hinten, achtete aber darauf, dass Ciel noch genug Platz hatte, dann sagte er: „Mr. Rivière, Sie können einsteigen.“ Dieser kam der Aufforderung schweigend nach. Währenddessen umrundete Sebastian das kleine Auto, stellte den Rucksack in den kleinen Kofferraum und stieg anschließend auf der Fahrerseite ein. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor und parkte aus. Die Stille zwischen Ihnen wurde von der leisen Musik, die aus dem Radio drang, unterbrochen.

Die Fahrt zum Zoo dauerte nicht lange. Da es mitten an einem Wochentag war, waren die Straßen verhältnismäßig frei. Kaum hatte Sebastian geparkt, schnallte Ciel sich auch schon ab und konnte es kaum erwarten, aus dem Auto zu kommen. Jack stieg aus und klappte die Lehne seines Sitzes nach vorne, damit der Junge aussteigen konnte. Er kletterte aus dem Wagen und schaute sich neugierig mit großen Augen um. Sebastian derweil hatte den Rucksack aus dem Kofferraum geholt. „Komm Ciel, da drüben ist der Eingang.“ Der Angesprochene kam direkt zu ihm und ergriff die Hand des Größeren, als wäre es das Normalste der Welt. Schweigend wurden sie dabei von dunkelblauen Augen beobachtet.
 

Da Ciel erst vier Jahre alt war, durfte er noch kostenlos rein. Sebastian zahlte den Eintritt für sich und für Jack, obwohl dieser protestierte. „Sie machen nur Ihren Job, sonst wären Sie jetzt gar nicht hier.“ Damit war das Thema beendet. Der Kleinere vergrub seine Hände in seinen Hosentaschen. Eigentlich konnte es ihm nur recht sein. Auch wenn der Eintritt nicht der Rede wert war, er sparte trotzdem, wo es nur ging. Als Streetworker verdiente man nun mal nicht sonderlich gut, aber er mochte seinen Job. Was blieb ihm auch groß übrig? Er hatte mit 16 Jahren sein zu Hause und die Schule mit einem mittelmäßigen Abschluss verlassen. Von da an hatte er sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, bei Freunden oder auf der Straße geschlafen. Es war keine schöne Zeit, doch nach zwei Jahren hatte ihn ein Streetworker aufgegabelt und auf den rechten Weg zurück gebracht. Jack war diesem Mann heute noch dankbar und dieser war auch der Grund, wieso er Streetworker geworden war. Er wollte das Gute, das ihm widerfahren ist, auch anderen zuteilwerden lassen. Wer hätte je gedacht, dass er einmal die soziale Schiene fahren würde?

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Ciel auf eine hochschwangere Frau zeigte und, plötzlich gar nicht mehr so ruhig und schüchtern, sagte: „Schau mal, Sebastian! Die Frau wurde von einer Biene in den Bauch gestochen!“ Der Angesprochene musste sich schwer ein Lachen verkneifen und entschuldigte sich bei der Frau, die aber nur lächelnd abwinkte und sagte: „Schon gut. Er hat es schließlich nicht böse gemeint.“ „Ciel, so etwas kannst du doch nicht einfach sagen!“, sagte Sebastian und versuchte dabei ernst zu schauen, was ihm aber nicht so recht gelang. Jack war ihm auch keine Hilfe, da dieser leise lachte. „Aber das stimmt doch“, protestierte der Junge und schien davon überzeugt zu sein. „Wer hat dir das denn erzählt?“, fragte Sebastian. „Niemand. Ich hab mal gesehen wie ein Kind von einer Biene gestochen wurde und das hatte dann eine ganz dicke Backe.“ Ciel lachte leise bei der Erinnerung und Sebastian wurde es ganz warm ums Herz. Er hätte nie gedacht, dass ein Kinderlachen so schön sein konnte.

„Die Frau wurde aber nicht von einer Biene gestochen“, sagte Jack plötzlich und wurde aus großen, blauen Augen angeschaut. „Ist sie etwa krank?“, fragte Ciel erschrocken. „Nein, wenn eine Frau schwanger ist, ist sie nicht krank“, erklärte Sebastian und bereute diese Antwort kurz darauf, da schon die nächste Frage kam. „Was heißt schwanger?“ „Sie bekommt ein Baby.“ Nun wurde er aus großen, blauen Augen ungläubig angeschaut. „Aber die Babys bringt doch der Storch! Wieso hat die Frau es dann?“ „Äh …“, machte Sebastian ratlos und warf Jack, der ihm das eingebrockt hatte und nun leise lachte, einen bösen Blick zu. „Das … erklär ich dir, wenn du älter bist“, sagte er ausweichend. Seit wann war Ciel so gesprächig? Bisher hatte er kaum etwas gesagt. Aber wenn Sebastian ehrlich zu sich selbst war, gefiel er ihm so besser. Er sollte sich seinem Alter entsprechend verhalten und nicht an sein Trauma denken. Vielleicht hatte das, was in der Nacht passiert war, Ciel geholfen, sich mehr zu öffnen.

Damit hatte Sebastian teilweise recht. Ein anderer Grund war, dass Ciel bei ihm bleiben wollte. Er verstand zwar nicht genau wer dieser Jack war und was er wollte, aber er konnte dafür sorgen, dass er nicht bei Sebastian bleiben konnte. Deswegen wollte Ciel sich Mühe geben, ein guter Junge zu sein. Er fühlte sich bei ihm wohl und er konnte wirklich gut kochen.

Zoobesuch

Als sie vor dem Tigergehege standen, gab Sebastian einen Laut der Entzückung von sich und seine Wangen färbten sich rosa. Ciel schaute ihn verwundert an, Jack eher skeptisch. „Dieses glänzende Fell, diese schönen, runden Augen und die weichen Pfoten …“, schwärmte Sebastian und schien seine Umgebung ausgeblendet zu haben. „Alles in Ordnung?“, fragte Jack mit hochgezogener Augenbraue. Kurz flackerten rotbraune, glänzende Augen in seine Richtung, dann zurück zu den Raubkatzen in ihrem Gehege. Sebastian seufzte glücklich: „Solch wundervolle Kreaturen~“

Ciel derweil fand dieses Verhalten mehr als merkwürdig und verlor das Interesse an den Tigern. Diese lagen sowieso nur herum und taten nichts. Er zupfte an Sebastians Hose, um dessen Aufmerksamkeit zu erlangen. Dieser riss sich schweren Herzens von dem Anblick los und schaute Ciel fragend an. Der Junge blickte ihm verlegen, mit rosa Wangen entgegen und sagte leise: „Ich hab Hunger …“ „Dann lass uns einen Sitzplatz suchen“, sagte Sebastian lächelnd und nahm die viel kleinere Hand in seine. Jack folgte ihnen schweigend.
 

Nach einigen Minuten fanden sie eine kleine Gruppe großer, robuster Holztische mit Bänken, die sich neben einem Spielplatz befand. „Setzen wir uns dort hin“, sagte Sebastian und steuerte einen freien Tisch an. In einigen Meter Entfernung stand eine Imbissbude, die Pommes, Bratwurst im Brötchen und ähnliches verkaufte. Jack kniff ein wenig seine blauen Augen zusammen, um die Preise erkennen zu können. Wie zu erwarten war, war das Essen viel zu überteuert. Noch dazu war es gerade einmal Mitte des Monats, also noch zwei Wochen, bis sein Lohn kommen würde. Zwei Wochen, in denen er etwas zu essen brauchte. Seine Miete wurde zum Glück schon am Monatsanfang abgebucht und er hatte eine Monatskarte für die Bahn. Er war schon mehr als froh gewesen, dass er den Eintritt nicht hatte zahlen müssen. Er war es nicht anders gewohnt, als jede Münze umzudrehen, doch es war trotzdem nicht immer einfach. Allerdings hatte er Hunger und wollte ungern den beiden beim Essen zusehen.

Doch bevor er sich in Bewegung setzen konnte, deutete Sebastian auf die Bank gegenüber von ihm: „Setzen Sie sich doch endlich.“ Der Angesprochene öffnete gerade den Mund, um zu sagen, dass er sich schnell etwas holen würde, während der Größere dabei war das mitgebrachte Essen auszupacken. „Möchten Sie lieber süß oder herzhaft?“ „… was?“, fragte er irritiert, verstand die Frage nicht. Sebastian schmunzelte. „Setzen Sie sich doch endlich und bedienen Sie sich! Das hier“, er deutete auf die linke Box, „sind herzhafte Sandwiches mit Käse, Wurst, Gurken, Tomaten und die hier“, er deutete auf die rechte Box, „sind süße Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade. Ciel liebt sie.“ Jack hob zweifelnd die schmalen Augenbrauen, doch Sebastian winkte ab: „Keine Sorge, die Brötchen sind selbst gebacken mit Vollkorn-Mehl und die Erdnussbutter, sowie die Marmelade habe ich auch selbst gemacht. Es sind nur natürliche Zutaten drin und kein industrieller Zucker. Ich achte auf gesunde Ernährung.“ „O-okay …“ Er war, wenn er ehrlich war, beeindruckt und überrascht. Allerdings klang es auch so, als würde Sebastian sich vor ihm rechtfertigen.

Dieser nahm sich gerade ein Sandwich und reichte es Ciel. Da es eins mit Käse war, verzog er unwillig das Gesicht, aß es aber trotzdem. Danach würde er eines mit Erdnussbutter und Marmelade bekommen. Jack zögerte noch, ob es wirklich in Ordnung war, sich zu bedienen, doch nach einem mehr als auffordernden Blick von Sebastian griff er zögerlich zu.

Schon nach dem ersten Bissen stellte er fest, dass es wirklich lecker schmeckte. Allmählich war er wirklich froh, diesem Fall zugeteilt worden zu sein, obwohl es eigentlich gar nicht in seinen Aufgabenbereich fiel.
 

Nach dem Essen sagte Sebastian zu Ciel, der immer wieder sehnsüchtig zu dem Spielplatz geschaut hatte: „Wenn du möchtest, kannst du spielen gehen. Wir warten hier.“ Mit leuchtenden, blauen Augen stand der Junge auf und ging zu dem Platz. Auf dem Weg wurde er langsamer. War es wirklich okay? Früher hatte er kaum draußen spielen dürfen wegen seinem Asthma und weil er oft Fieber hatte. Er warf noch mal einen unsicheren Blick zurück, doch Sebastian nickte ihm aufmunternd zu.

Ciel drehte sich wieder zu dem Klettergerüst, an dem eine Rutsche befestigt war. Langsam ging er näher und kletterte dann die Sprossenleiter nach oben. In dem kleinen Häuschen angekommen stand er vor der Rutsche und zögerte. Nun sah es viel höher und steiler aus, als von unten. Ein Junge, der etwas größer war als Ciel, fragte ihn: „Was ist nun? Rutschst du, oder nicht? Andere wollen auch noch!“ Unsicher kaute er auf seiner Unterlippe, doch dann nahm Ciel seinen ganzen Mut zusammen, setzte sich an das obere Ende der Rutsche und stieß sich ab. Mit zusammengekniffenen Augen rauschte er nach unten. Die Fahrt war schneller vorbei als gedacht und war nicht einmal ansatzweise so schlimm gewesen, wie befürchtet hatte. Schnell stand Ciel auf, um den Weg frei zu machen und noch mal zu rutschen.
 

Sebastian unterhielt sich mit Jack über die nächsten Schritte, damit er erst einmal die Pflege für den Jungen beantragen konnte. Später konnten er und Ciel entscheiden, ob er ihn adoptieren würde. Wenn es nach ihm ginge, würde er es gleich tun, doch der Junge sollte sich erst einmal einleben und selbst entscheiden, ob er das wollte. In dieser kurzen Zeit hatte Sebastian ihn schon ins Herz geschlossen und das, obwohl er nie auch nur darüber nachgedacht hatte, ob er je ein Kind haben wollte.

Jack derweil entschuldigte sich, um schon mal den Antrag für die Pflegschaft telefonisch vorbereiten zu lassen. Sebastian beobachtete lächelnd, wie Ciel mit den anderen Kindern spielte und tobte. Da würde jemand am Abend sehr müde sein.

Plötzlich klingelte sein Handy und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit. Genervt warf Sebastian einen Blick auf das Display, um zu sehen, wer ihn denn nun störte. Es war seine Mutter. Er hatte sie nun schon ein paar Mal vertröstet gehabt und versprochen, heute würde er Zeit haben, sich mit ihr zu unterhalten, wie ihm nun siedend heiß einfiel. Das war an dem Tag gewesen, als er am Abend Ciel aufgenommen hatte. Mit einem leisen Seufzen betätigte er den grünen Hörer und nahm das Gespräch an. Da es, dank der vielen Kinder, recht laut war, entfernte er sich ein Stück. Dabei behielt er ihren Platz und Ciel immer im Auge.
 

Über eine halbe Stunde später rieb Sebastian sich genervt die Nasenwurzel. Seine Mutter fand mal wieder kein Ende. Was interessierte ihn denn der neuste Klatsch und Tratsch in ihrem Frauenverein? Ein Verein, in dem es nur gelangweilte Hausfrauen reicher Männer gab, die sich die Zeit vertrieben. Er bemerkte nicht, wie Ciel zurück zu ihrem Platz kam und panisch feststellte, dass niemand mehr dort war. Jack hatte sich kurz auf die Toilette verabschiedet und Sebastian stand abseits und telefonierte. Ciel brach in Tränen aus. Erst konnte er seine Eltern nicht mehr sehen, sie seien jetzt im Himmel und würden ihm von dort zuschauen, hatte Sebastian ihm erzählt, und nun war dieser auch verschwunden. Er steigerte sich immer weiter in seine Angst und Verzweiflung, sodass er kurz davor war, einen Asthmaanfall zu bekommen. Ein junge Frau kam zu ihm und hockte sich vor ihn hin: „Hey, was ist denn los? Suchst du deine Eltern?“ Ciel nickte stockend, während er nach Luft rang. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und Sebastian war nirgends zu sehen.

Die Frau richtete sich auf und rief laut: „Zu wem gehört dieser Junge? Er braucht Hilfe!“ Durch den Ruf aufgeschreckt schaute Sebastian in die Richtung und zuckte innerlich zusammen. Ciel! Wegen seiner Mutter hatte er den Jungen kurz vergessen! Er ohrfeigte sich innerlich und murmelte etwas von einem Notfall in sein Handy, bevor er auflegte. Gleichzeitig rannte er zu Ciel und fiel vor diesem auf die Knie. Er schloss ihn augenblicklich in die Arme und entschuldigte sich immer wieder. Der Junge krallte sich in Sebastians T-Shirt und schnappte nach Luft. Panik stand in seinem Gesicht. „Sir, ich glaube, er bekommt keine Luft“, machte ihn die junge Frau von zuvor aufmerksam. Erschrocken schob Sebastian Ciel ein wenig von sich und angelte nach dem mitgebrachten Rucksack. Er war noch nie so froh, wie in diesem Moment, dass er auf Claude gehört hatte und das Spray für solche Fälle eingepackt hatte. Er schüttelte es schnell, steckte es Ciel in den Mund und drückte den Auslöser. Beim dritten Mal konnte der Junge es dann richtig einatmen und beruhigte sich langsam wieder. „Vielen Dank, dass Sie sich um ihn gekümmert haben“, sagte Sebastian zu der Frau und versuchte sich an seinem schönsten Lächeln, das aber eher gequält wirkte. „Ciel, es tut mir leid! Ich war nur für ein paar Minuten unaufmerksam. Das wird nicht wieder passieren, versprochen!“ Der Angesprochene nickte langsam, wollte ihn aber auch nicht mehr loslassen. So stand Sebastian mit Ciel auf dem Arm auf.
 

Die junge Frau stand nach wie vor daneben und wollte diesen gutaussehenden Vater ansprechen, schließlich war keine Frau weit und breit zu sehen und einen Ring trug er auch nicht, da tauchte Jack plötzlich wieder auf. Er hatte die Szene von weitem beobachtet. Als er zurück kam, war Sebastian gerade zu dem Jungen gerannt, so hatte er keinen Grund gesehen, sich einzumischen. „Alles in Ordnung?“, fragte er und legte eine Hand an Ciels Rücken, den er leicht streichelte. Dieser hatte sein Gesicht an Sebastians Schulter vergraben. „Ja, alles wieder gut“, lächelte der Größere als Antwort. „Nochmals vielen Dank, die Vaterrolle ist noch recht neu für mich“, sagte er zu der jungen Frau und wirkte dabei etwas zerknirscht. Diese verabschiedete sich recht schnell, da sie annahm, es mit einem schwulen Pärchen zu tun zu haben, das den Jungen adoptiert hatte. Da hatte sie sowieso keine Chance.

„Ciel?“, wandte Sebastian sich an diesen, „wie wäre es mit einem Eis als Wiedergutmachung?“ Sofort löste der Junge sich von ihm und schaute ihn mit leuchtenden blauen Augen an und nickte. „Okay, dann gehen wir weiter und suchen einen Eisstand“, sagte Sebastian lächelnd.
 

Nach dem Ciel ein Eis bekommen hatte, sahen sie sich noch ein paar Gehege an, bei denen sie noch nicht gewesen sind. Irgendwann war Ciel müde, also trug Sebastian ihn. „Ich denke, wir gehen langsam.“ Jack nickte nur zustimmend. Langsam verließen sie den Zoo. Da der Parkplatz noch recht voll war, brauchte Sebastian einen Moment, um sich zu orientieren, wo er denn sein Auto geparkt hatte. Nachdem er aufgeschlossen hatte, drückte er den Rucksack Jack in die Hand, damit er Ciel in den Kindersitz setzen konnte. Dabei fiel ihm ein, dass er unbedingt noch einen eigenen kaufen musste. Nachdem der Junge angeschnallt war, setzte auch er sich in das kleine Auto und startete den Motor. Die Scheinwerfer leuchteten automatisch auf und Sebastian fuhr langsam vom Parkplatz. „Sagen Sie mir Ihre Adresse? Dann fahr ich Sie nach Hause“, fragte Sebastian und schreckte Jack damit aus seinen Gedanken. „D-das ist nicht nötig!“, wehrte dieser direkt ab, auch wenn es ihm lieber war, als sich nachts allein in der U-Bahn herumzutreiben. „Ich bestehe darauf.“ Seine Stimme ließ keine Widerworte zu. Leise seufzend gab Jack nach und nannte, wenn auch ungern, seine Adresse. Er wohnte nicht in der schlechtesten, aber auch nicht in der besten Gegend. Sebastian wusste ungefähr, wohin er musste und so schwiegen sie. Die Stille im Auto wurde nur von dem leisen Musik, die das Radio spielte, durchbrochen.

Es dauerte nicht lange, dann war Ciel auf der Rückbank eingeschlafen. Als Sebastian einen Blick in den Rückspiegel warf und den schlafenden Jungen sah, lächelte er liebevoll. Jack hob fragend eine Augenbraue. „Er ist eingeschlafen“, war die leise Antwort. Darauf drehte der Kleinere sich nach hinten und betrachtete kurz das entspannte Gesicht des Jungen.
 

Nachdem Sebastian Jack bei dessen Wohnung abgesetzt hatte, war er in seine Wohnung gefahren. Während der Fahrt ließ er den Tag nochmal Revue passieren. Ciel war wirklich ein süßer Junge und er hoffte, ihm ein dauerhaftes Zuhause bieten zu können. Würde es nach ihm gehen, würde er den Jungen sofort adoptieren, aber so schnell ging das nicht. Ciel musste sich erst einmal eingewöhnen und ihn als seine neue Familie akzeptieren, erst dann konnte entschieden werden, wie es weitergehen sollte.

Was seine Eltern wohl dazu sagen würden? Sebastian lachte leise bei dem Gedanken daran. Er konnte schon das Gesicht seiner Mutter sehen, die zwischen Entsetzen und Entzückung schwankte. Sein Vater würde es wohl wortlos akzeptieren. Seine Eltern hatten sich immer Enkel gewünscht, auch nachdem Sebastian sein Coming Out hatte. Schließlich gab es heute viele Möglichkeiten als homosexuelles Paar Kinder zu haben. Trotzdem hätte er nie gedacht, sollte er jemals eine Familie gründen, es ohne Partner zu tun.

Als er in der Tiefgarage auf seinem Parkplatz stand und den Motor abstellte, schob Sebastian diese Gedanken beiseite. Möglichst geräuschlos schnallte er sich ab und stieg aus. Um Ciel nicht unnötig durch das Öffnen und Schließen der Autotüren zu wecken, klappte er den Fahrersitz nach vorne und kletterte auf die Rückbank. Dort löste er den Gurt und holte dann den Jungen umständlich aus dem Kindersitz. Dabei machte Sebastian sich gleichzeitig gedanklich eine Notiz, am nächsten Tag einen eigenen Sitz zu kaufen. Claude hatte ihm eine Liste gegeben, auf was er beim Kauf zu achten hatte und was unnötig war.

Kaum hatte er den Jungen aus dem Auto geholt, schloss er so leise wie möglich die Autotür. Den Rucksack würde er erst am nächsten Tag holen, die Sandwiches und das Obst waren aufgegessen worden.
 

Ciel bekam davon nichts mit. Auch nicht, als sie die Wohnung betraten und Sebastian ihn ins Bett legte und seine Kleidung gegen den Schlafanzug tauschte. Danach verließ er das Schlafzimmer, ließ die Tür einen Spalt breit auf und das Licht im Flur an, falls Ciel doch noch mal aufwachen sollte. Während er noch eine Kleinigkeit aß, überprüfte Sebastian seine Nachrichten und E-Mails, ob etwas Wichtiges dabei war. Doch das konnte alles getrost bis zum nächsten Morgen warten. Dann ging er ins Bad, um sich die Zähne zu putzen.

Sebastian zuckte erschrocken zusammen, als sich plötzlich etwas gegen sein Bein drückte. Er senkte seinen Blick: „Ciel? Hab ich dich geweckt?“ Der Angesprochene schüttelte mit dem Kopf und schniefte. „Du … weg!“ Mehr verstand Sebastian nicht. Vorsichtig löste er den Klammergriff an seinem Bein und ging in die Hocke. Ein verweintes Gesicht mit laufender Nase kam zum Vorschein. Mit einfühlsamem Unterton fragte Sebastian: „Hast du dich erschreckt, als du aufgewacht bist und ich nicht da war?“ Ciel nickte und schluchzte. Sein Ärmel war in Richtung seines Gesichts unterwegs, doch Sebastian hielt ihn auf, bevor er den Schlafanzug auch noch beschmierte. Schnell riss er ein Stück Toilettenpapier ab und hielt es dem Jungen an die Nase, der unaufgefordert diese darin abputzte. Nachdem Sebastian mit einem frischen Stück auch die Tränen abgewischt hatte, fragte er: „Wieder gut?“ Ciel nickte beschämt. Sein Blick war gesenkt und seine Wangen rot, aber das konnte auch vom Weinen sein. „Komm, trink was und dann putzen wir Zähne und gehen ins Bett, okay?“ Ciel nickte wieder und streckte dann seine Ärmchen nach oben. Lächelnd kam Sebastian der stillen Aufforderung nach und hob ihn auf einen Arm.

In der Küche ließ er Leitungswasser in ein Glas fließen, das er Ciel dann reichte. Mit einer Hand eine Flasche zu öffnen war ihm jetzt auch zu umständlich. Der Kleine nahm das Glas in beide Hände und trank gierig. „Möchtest du noch?“, fragte Sebastian und bekam als Antwort ein Kopfschütteln.
 

Er stellte das Glas auf die Arbeitsplatte und ging mit Ciel auf dem Arm zurück ins Bad. Dort schob er den Hocker unter das Waschbecken und stellte den Jungen darauf ab. Dann hielt er dessen Zahnbürste kurz unters Wasser, gab etwas Zahnpasta auf die Borsten und reichte sie dann seinem Schützling. Diese Prozedur wiederholte er mit seiner eigenen und zusammen putzten sie sich die Zähne.

Danach hielt er Ciel, sodass dieser sich nochmal erleichtern konnte. Er musste unbedingt eine Auflage für die Toilette kaufen! Die hatte er nämlich bei ihrer Shoppingtour am ersten Tag komplett vergessen. Zwar war es kein Problem für ihn, Ciel zu halten, während dieser sein Geschäft erledigte, aber das war keine dauerhafte Lösung und er sollte lernen, selbstständig auf die Toilette zu gehen.
 

Im Schlafzimmer ließ Ciel sich ohne Protest auf das Bett setzen, damit Sebastian sich ausziehen konnte. Kaum hatte er sich unter die Decke gelegt, klebte der Junge auch schon an ihm und seine kleinen Finger hatten sich in sein Schlafshirt gekrallt. Sachte legte Sebastian eine Hand an den schmalen Rücken und streichelte ihn sanft. Ciel hatte seinen Rücken ein wenig gebeugt, so konnte Sebastian die Erhebungen der Wirbelsäule unter seinen Fingern spüren. Der Kleine musste definitiv an Gewicht zulegen! Er war viel zu dünn. Über diesen Gedanken schlief er ein.

Williams Date

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Unfälle und Besuche

Sebastian schreckte aus seinem bis gerade eben ruhigen Schlaf auf. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Irritiert blickte er sich um und stellte fest, dass die Sonne gerade aufging. Als die Watte in seinem Kopf sich langsam lichtete, stellte er fest, dass sein Bauch feucht war. Verwundert runzelte er die Stirn, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hörte er ein leises Schniefen neben sich und drehte seinen Kopf verwundert zur Seite. Ciel saß dort, schaute ihn aus großen, blauen Augen ängstlich an und … zitterte? Verwundert blinzelte Sebastian, doch der Junge wirkte tatsächlich total verängstigt. „Ciel, was ist los?“, fragte er besorgt, bekam aber nur ein Schluchzen und bebende Schultern als Antwort. Nun bemerkte Sebastian den dunklen Fleck auf Ciels Schlafanzughose. Ein kaum hörbares „Oh“ rutschte ihm raus. Ein wenig überfordert fuhr Sebastian sich durch seine schwarzen Haare. „Das … ist doch nicht so schlimm“, sagte er ruhig und hielt eine Hand Ciel hin. Dieser reagierte nicht darauf, sondern schaut ihn weiterhin ängstlich an. „Na komm, wir gehen duschen. Ich bin nicht böse.“ Ciel zögerte noch einen Moment, dann griff er langsam nach der angebotenen Hand und ließ sich zu diesem ziehen. Sebastian hob ihn hoch, als Zeichen, dass er nicht böse war, auch wenn er es ein wenig unangenehm fand. Er wusste, würde er jetzt falsch reagieren, würde er es für Ciel nur schlimmer machen.

Im Bad zog er sie beide aus und warf ihre Sachen direkt in die Waschmaschine. Sebastian stieg mit Ciel unter die Dusche und wusch sie beide schnell ab. Danach wickelte er erst den Jungen, dann sich selbst in ein großes Handtuch. „T-tut mir leid“, sagte Ciel leise und blickte beschämt zu Boden. Sebastians Augen weiteten sich erstaunt, dann hockte er sich vor ihn und zog den Kleinen in seine Arme. „Ist schon okay. So etwas kann passieren. Ich beziehe das Bett frisch und dann frühstücken wir, okay?“ Er lächelte Ciel aufmunternd an und bekam sogar ein winziges Lächeln zurück. Gemeinsam gingen sie ins Schlafzimmer, wo Sebastian sie beide anzog und dann schnell das Bett abzog. Die Matratze war zu seiner Erleichterung trocken. Während er die Bettwäsche in die Waschmaschine stopfte und diese gleich einschaltete, überlegte er, ob es sinnvoll wäre, Windeln zu kaufen. Einerseits wäre Ciel damit sicher nachts trocken, andererseits könnte er aus einer Mücke den sprichwörtlichen Elefanten machen, schließlich war es das erste Mal und vielleicht eine einmalige Sache. Das hoffte er zumindest.
 

Da es Ciel zu lange dauerte, kam er ins Schlafzimmer gelaufen um zu sehen, wo Sebastian blieb. Dieser stand gedankenverloren vor dem frisch bezogenen Bett. Vorsichtig zupfte er am Hosenbein des Größeren. Dieser schreckte aus seinen Gedanken auf und sah an sich herab. Sofort bildete sich ein Lächeln auf seinen Zügen: „Na du?“ „Ich hab Hunger.“ Er wuschelte durch Ciels aschblaue Haare. „Dann sollten wir schnell Frühstücken machen!“ Freudig rannte Ciel voraus in die Küche und wartete dort ungeduldig auf Sebastian. Dieser folgte dem Jungen in aller Ruhe. Es war noch sehr früh am Morgen.
 

Ein paar Tage später hatte Sebastian Besuch von Ash. Er kannte ihn aus der Klinik seines Vaters, wobei sie nie viel miteinander zu tun hatten. Ash war auch Psychologe, so wie Sebastian. Eines Tages waren sie aneinander geraten und hatten sich heftig gestritten. Sebastian wusste nicht mehr, weswegen. Er selbst hatte schon die ganze Woche sehr schlechte Laune gehabt und sein Geduldsfaden war schier nicht mehr vorhanden. Sein Ex hatte sich bei ihm gemeldet, aber das hatte er gekonnt ignorieren können. Als dieser ihm dann aber auflauerte, weil er es unbedingt nochmal versuchen wollte, ist Sebastian schier der Kragen geplatzt. Da kam ihm am späten Freitagnachmittag der Streit mit Ash gerade recht, um seiner Wut endlich Luft zu machen. Sebastian hatte dringend ein Ventil gebraucht, aber an den Patienten oder Kollegen konnte er es nicht auslassen.

Ash war in sein Büro gekommen, erst hatten sie ganz normal gesprochen, aber ein Wort war dem anderen gefolgt, bis sie sich fast anschrien. Schnaufend standen sie voreinander, funkelten sich wütend an und plötzliche küssten sie sich. Hart, lieblos. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ash drängt ihn zurück, bis sie an seinem Schreibtisch waren. Unwirsch schob Sebastian die Unterlagen zur Seite und setzte sich auf die Platte. Ash drängte sich zwischen seine Beine. Das Ganze endete in hartem, ruppigem Sex. Genau das, was Sebastian gebraucht hatte. Plötzlich war die ganze Wut raus. Danach hatten sie sich ab und zu zum „Stressabbau“ getroffen. Es waren keine Gefühle involviert, auf menschlicher Ebene mochte Sebastian den anderen nicht mal sonderlich. Doch der Sex war gut genug und es war einfacher, als sich jemanden zu suchen.

Nun war Ash für ein paar Wochen in Amerika gewesen, bei irgendwelchen Seminaren und wusste nichts von Ciel. Er hatte Sebastian geschrieben, ob er vorbei kommen könnte und auf die Antwort, er sei aber nicht allein, dachte Ash nur: „Umso besser!“ Dass Sebastian plötzlich ein Kind hatte, hätte er sich im Leben nicht träumen lassen. Mit einer Flasche Rotwein in der Hand stand er vor der Tür des anderen und wartete, dass ihm geöffnet wurde. Sebastian wollte gerade etwas sagen, als Ash Ciel hinter den Beinen seines Gegenübers entdeckte. „Wa- wer ist das denn?!“ Sebastian seufzte innerlich. „Das ist Ciel. Er wohnt jetzt bei mir.“ Ungläubig glotzte Ash zwischen den beiden hin und her. So lange, bis Sebastian zur Seite trat und ihn einließ.

Nachdem Sebastian Ciel ins Bett gebracht hatte, trank er mit Ash ein Glas Wein. Sein Kollege wollte Sex, Kind hin oder her. Er mochte keine und wollte schon gar nicht Rücksicht darauf nehmen.
 

„Nun komm schon, du willst es doch auch~“, versuchte Ash ihn zu locken. „Aber nicht so. Ciel schläft nebenan.“ „Dann sind wir eben leise“, schnurrte Ash und begann, Sebastians Hals zu küssen. Langsam schmolz sein Widerstand. Doch erst, als er dessen Erregung aus der Hose befreite, stand Sebastian auf, um Kondome zu holen. Kaum war er weg, stand Ciel plötzlich weinend in der Tür. Ash zischte ihn an, er solle verschwinden. Als der Junge sich nicht rührte und schüchtern nach Sebastian fragte, wurde Ash lauter. In dem Moment tauchte Sebastian hinter Ciel auf und kniete sich hinter ihn. „Ciel, was ist denn los?“, fragte er besorgt und beachtete Ash nicht weiter. Ciel warf sich in seine Arme und weinte. Sebastian versuchte ihn zu trösten und nahm ihn hoch. Zu Ash sagte er leise: „Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Ash machte nur ein abfälliges Geräusch, dann stand er auf und ging, ohne sich zu verabschieden. Sebastian war das nur recht. Klar hatte ihm die Aussicht auf Sex gefallen, besonders da der mit Ash immer recht gut gewesen war, doch seit Ciel in sein Leben getreten war, stand dieser für ihn an erster Stelle.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Ciel sich wieder beruhigt hatte. Doch kaum hatte Sebastian ihn im Bett abgelegt und zugedeckt, griff eine kleine Hand nach ihm. „Ich bin gleich wieder da“, sagte Sebastian leise und lächelte. Unsicher wurde er aus großen, blauen Augen angeschaut. „Versprochen!“ Nun ließ Ciel ihn los, aber nicht aus den Augen. Sebastian zog sich schnell um und legte sich dann auch ins Bett. Sofort kuschelte der Kleine sich an ihn. Sachte legte Sebastian seinen Arm um den kleinen Körper. Er dachte über Ashs Verhalten nach. Es war absolut daneben gewesen und Sebastian schüttelte gedanklich über sich selbst den Kopf, zu was er sich beinahe hatte hinreißen lassen. Nicht auszudenken, wäre Ciel einige Minuten später ins Wohnzimmer geplatzt … Schnell schob er diese Gedanken beiseite. Die Sache mit Ash war ganz klar vorbei und so eine Situation würde nicht mehr vorkommen. Zumindest nicht, solange Ciel so klein war.
 

Es war Samstag, als Sebastian und Ciel bei Claude und Hannah zum Grillen eingeladen waren. Sebastian bereitete einen Salat vor, einen Kuchen hatte er schon am Vortag gebacken. Es war ein einfacher Schokoladenkuchen mit Schokoglasur, den mochten die Kinder am liebsten. Sebastian war etwas angespannt, da er nicht wusste, wie Ciel auf Alois und Luka reagieren würde. Zwar war der Junge schon viel offener geworden, aber bisher hatte er ihn nicht mit anderen Kindern zusammen gebracht. Die Jungs waren im gleichen Alter, es würde schon gut gehen. Sebastian packte die Steaks und Würstchen in eine Kühltasche, überprüfte, dass die Salatschüssel und die Tortenhaube fest verschlossen waren. „Ciel, bist du soweit?“, rief er in den Flur. Kurz darauf hörte er leise Schritte, die sich näherten und der Junge tauchte in der Küche auf. „Wohin gehen wir?“, fragte er zum bestimmt fünften Mal und hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. „Zu Freunden von mir“, antwortete Sebastian geduldig lächelnd. „Hier, kannst du das tragen?“, er reichte Ciel die Tortenhaube. Dieser nickte ernst und trug den Kuchen beinahe ehrfürchtig in den Flur. Sebastian hing sich die Kühltasche über die Schulter, klemmte sich die Salatschüssel unter den Arm und folgte dem Jungen in den Flur. Kurz überlegte Sebastian, ob er mit dem Sportwagen fahren sollte, aber der Kindersitz war noch in seinem kleinen Stadtauto und er verspürte wenig Lust, diesen für die relativ kurze Strecke aus- und wieder einzubauen. Er überprüfte noch, ob er alles Wichtige dabei hatte, dann gingen sie auch schon nach draußen.

In der Tiefgarage angekommen rannte Ciel nicht wie üblich zum Auto, sondern lief langsam neben dem anderen. Er hatte schließlich eine wertvolle Fracht dabei und freute sich schon, ein Stück von dem Kuchen zu essen. Sebastian hatte ihn am Vortag immer wieder auf den nächsten Tag vertröstet, egal wie sehr Ciel gebettelt hatte. Immerhin hatte er die Schüssel auslecken dürfen, als der Kuchen im Ofen stand.
 

Während Sebastian das Essen in den Kofferraum lud, kletterte Ciel schon in seinen Kindersitz auf der schmalen Rückbank. Noch war er klein genug, damit ihm der Platz reichte, doch für einen Erwachsenen wäre es zu eng. Sebastian schnallte den Jungen an und erinnerte sich kurz daran, als er den neu gekauften Kindersitz zum ersten Mal im Auto festmachen wollte. Es war ein anderes Modell, als das, welches Claude ihm ausgeliehen hatte. Es war ein minutenlanger Kampf auf dem Parkplatz gewesen, doch irgendwann saß der Kindersitz samt Ciel im Auto und Sebastian konnte beide anschnallen. Danach hatte er Claude den geliehenen Sitz zurück gebracht. Das war schon einige Wochen her und seit dem hatte Sebastian das Teil im Auto gelassen, wo es war.

Kaum hatte Sebastian den Zündschlüssel umgedreht, sprang das Radio an und eines dieser Kinderlieder, von denen er nie dachte, so etwas jemals freiwillig in seinem Auto zu hören, dudelte aus den Lautsprechern. Ciel summte fröhlich mit und schaute dabei neugierig aus dem Fenster, obwohl Sebastian noch nicht mal aus geparkt hatte. Während der Fahrt fragte Ciel aufgeregt immer wieder: „Sind wir endlich da?“ Sebastian war wirklich froh, als er vor Claudes Garage parkte. Allmählich nervte ihn diese ständige Fragerei wirklich. „Jetzt sind wir da“, sagte er mit einem Lächeln. Aufgeregt schnallte Ciel sich ab und wippte ungeduldig mit den Beinen, bis Sebastian ihn endlich aus dem Auto ließ. Dank Kindersicherung konnte er die Tür nicht selbst öffnen. Sebastian reichte Ciel wieder die Tortenhaube und nahm selbst die Kühltasche und den Salat. Neugierig schaute der Junge sich um. Sebastian hatte ihm erzählt, dass er schon einmal hier gewesen wäre, aber das war mitten in der Nacht und er konnte sich kaum daran erinnern. Langsam folgte er dem anderen zur Haustür, die wenige Momente später schon geöffnet wurde. Eine Frau mit sehr langen, weißen Haaren und gebräunter Haut öffnete ihnen. Sie umarmte Sebastian, so gut es ging und beugte sich dann zu Ciel runter. „Hallo, du musst Ciel sein. Ich bin Hannah, freut mich, dich kennen zu lernen.“ Der Angesprochene versteckte sich etwas hinter Sebastians Beinen und sagte leise: „Hallo“.
 

Hannah führte die beiden direkt nach draußen in den Garten. Ciel schaute sich neugierig, aber schüchtern um und achtete stets darauf, möglichst nah an Sebastian zu bleiben. Im Garten hatte Claude schon den Grill vorbereitet, sodass sie gleich anfangen konnten, während Alois und Luka spielten. Die Männer begrüßten sich mit einem Handschlag, nachdem Sebastian das mitgebrachte Essen auf einem Tisch abgestellt hatte. Zögerlich übergab Ciel den Kuchen an Hannah, die ihn in die Küche brachte. Die Schokoladenglasur würde draußen nur schmelzen. Als Claude vor Ciel in die Hocke ging, um ihn zu begrüßen, hielt dieser sich mit einer Hand in Sebastians Hosenbein fest. Der Mann kam ihm bekannt vor, aber er weckte keine guten Erinnerungen. „Erinnerst du dich noch an Claude?“, fragte Sebastian. „Er hat dir vor einigen Wochen geholfen.“ Langsam nickte der Angesprochene und grüßte leise zurück. Doch als wäre das nicht genug, kamen nun auch noch Luka und Alois angelaufen, die den Neuankömmling neugierig betrachteten.

Als Ciel nicht mit ihnen spielen wollte, Sebastian würde schließlich nicht mitkommen, fragte Alois beleidigt: „Hast du etwa Angst?“ „Alois!“, ermahnte Claude ihn streng, „geht euch die Hände waschen, das Essen ist gleich fertig.“ Brav liefen die Jungs ins Haus.
 

Nach dem Essen ließ Ciel sich doch überreden, mit Alois und Luka fangen zu spielen. Recht bald tobten die Jungs durch den großen Garten. In Sebastians Brust breitete sich Wärme aus, als er Ciel Lachen hörte. „Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob du ihn adoptieren wirst?“, fragte Claude und lenkte Sebastians Aufmerksamkeit auf sich. Dieser seufzte leise, bevor er antwortete: „Würde es nach mir gehen, würde ich ihn sofort adoptieren.“ „Aber?“ „Aber ist es das Beste für Ciel? Braucht ein Kind nicht zwei Elternteile?“ „Du wirst nicht ewig Single sein, oder? Außerdem gibt es viele Alleinerziehende, deren Kindern es genauso gut geht. Zwei Elternteile sind keine Garantie für eine glückliche Kindheit.“ Bevor Sebastian etwas erwidern konnte, kam Ciel zu ihm gelaufen und streckte die Arme nach oben. Ein deutliches Zeichen, dass er hochgehoben werden wollte. Gleichzeitig unterdrückte er ein Gähnen. Alois und Luka waren verschwunden. Sebastian kam der stummen Bitte lächelnd nach und hob den Jungen auf seinen Schoß, der sich direkt an ihn kuschelte und nun doch herzhaft gähnte. Sebastian streichelte den schmalen Rücken. „Ich denke, du wärst ein guter Vater“, sagte Claude lächelnd. Fragend sah Sebastian ihn an. „Wie lange kennen wir uns schon? Vertrau mir, ich weiß es. Außerdem fühlt Ciel sich offensichtlich sehr wohl bei dir.“

Warm lächelnd sah Sebastian den Jungen in seinen Armen an. Er würde ihn adoptieren. Sein Herz quoll beinahe über vor Liebe für diesen Jungen. Ihm war durchaus bewusst, dass es nicht so einfach war, ein Kind zu adoptieren. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, was da auf ihn zukommen würde.
 

Während der Heimfahrt warf Sebastian einen Blick in den Rückspiegel. „Hattest du heute Spaß?“, fragte er. „Ja!“, antwortete Ciel gut gelaunt. Nachdem er mit der Umgebung und den neuen Menschen warm geworden war, hatte er ausgelassen mit Alois und Luka gespielt. Sebastian war froh, dass Ciel, trotz der traumatischen Erlebnisse und dem Verlust seiner Eltern, noch Kind sein konnte. Er könnte genauso gut apathisch durchs Leben gehen und jegliche Freude verloren haben.

Als Sebastian in der Tiefgarage des Hochhauses, in dem sie wohnten, parkte, war er sich sicher, Ciel würde schon tief und fest schlafen. Es war schließlich ein aufregender Tag gewesen, er hatte viel gespielt und dazu die Autofahrt … Doch als er die Autotür öffnete, sahen ihm zwei große, blaue Augen wach entgegen. Verdutzt starrte Sebastian Ciel einen Moment an, bevor er ihm aus dem Auto half. Kaum hatte er das Auto ausgeladen und abgeschlossen, da hüpfte Ciel auch schon gut gelaunt vor ihm her Richtung Fahrstuhl. Innerlich seufzte Sebastian tief. Er selbst war wirklich müde und hatte jetzt wenig Lust, einen aufgedrehten Ciel ins Bett zu kriegen. Dieser hüpfte von einem Bein aufs andere, während er vor dem Fahrstuhl wartete und fragte ungeduldig: „Wo bleibst du denn?“ „Ich bin doch schon da“, sagte Sebastian schmunzelnd. „Wieso bist du denn so ungeduldig?“ Daraufhin schaute Ciel verlegen zu Boden und sagte leise: „Ich muss mal.“ Ehe Sebastian antworten konnte, ertönte ein leises „Pling“, das die Ankunft des Fahrstuhls ankündigte. „Wir sind gleich daheim. Kannst du es so lange noch halten?“ Für Sebastian war es eher eine rhetorische Frage, doch auf Ciels Kopfschütteln entgleisten ihm kurz die Gesichtszüge. So ungeduldig wie noch nie starrte er auf die Anzeige, die, für seinen Geschmack viel zu langsam, die Stockwerke hoch zählte. „Wir sind gleich da“, sagte er beruhigend. „Wieso bist du nicht auf die Toilette, bevor wir gegangen sind?“ Eine durchaus berechtigte Frage, wie er fand. „Da musste ich noch nicht.“

Endlich ertönte wieder das leise „Pling“ und die Fahrstuhltüren glitten auf. In Zeitlupe. Vor Sebastians geistigem Auge war Ciels Hose schon nass, doch dieser riss sich tapfer zusammen. Ohne weiter darüber nachzudenken schnappte sich Sebastian den Jungen mit der freien Hand und eilte zur Wohnungstür, die er fahrig aufschloss. Im Hausflur stellte er hastig alles ab, nahm Ciel und zog schon auf dem Weg zum Bad die Hose runter. Es wäre zwar kein Drama, würden sie es nicht rechtzeitig schaffen, aber für Ciel wäre es sicherlich unangenehm. Erleichtert atmete Sebastian aus, als er den Jungen noch gerade rechtzeitig über der Toilette hielt.
 

Nach dem Händewaschen schickte er Ciel zum Zähneputzen und räumte erst mal die Sachen, die er im Flur zurück gelassen hatte, weg. Nachdem Sebastian auch endlich bettfertig war, schaltete er noch alle Lichter aus und kroch erschöpft ins Bett. Dort wurde er schon ungeduldig erwartet. Ciel saß aufrecht und scheinbar hellwach in der Mitte und schaute ihn erwartungsvoll mit seinen großen, blauen Augen an. Innerlich stöhnte Sebastian leidend auf. Er wollte nur noch schlafen. Kaum berührte sein Kopf das Kissen, hörte er die Decke leise rascheln. In dem Moment, in dem Sebastian sagen wollte, dass es Zeit war zu schlafen, bekam er ein feuchtes Küsschen auf die Wange und im nächsten Moment spürte er, wie Ciel verlegen sein Gesicht an Sebastians Brust versteckte. Wärme breitete sich in ihm aus und er drückte den Jungen noch ein wenig enger an sich. Dieser war zum Glück auch bereit, ins Land der Träume zu gehen und wollte nicht, wie Sebastian befürchtet hatte, noch spielen.
 

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Sebastian hat also entschieden, Ciel zu adoptieren. Das nächste, und letzte, Kapitel heißt dann auch "Adoption".

Adoption


 

Vielen Dank an alle, di e die Geschichte bis hierher verfolgt haben!

Das ist es nun, das letzte Kapitel. Das letzte Kapitel lade ich immer mit einem lachenden und einem weinenden Auge hoch *lach* Ich hoffe, es gefällt euch und ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
 

Als Sebastian am nächsten Morgen aufwachte, war er allein im Bett. Kein kleiner Körper, der sich an ihn kuschelte. Als Ciel nach einigen Minuten nicht auftauchte, wurde Sebastian stutzig. Seit der Junge bei ihm war, war er nie vor ihm aufgestanden und wenn, hatte er Sebastian geradezu genötigt, auch aufzustehen. Müde streckte er sich und schlug dann die Decke zurück und stand auf, um nach Ciel zu sehen. Sein erster Stopp, das Badezimmer, war leer. Verwundert ging er weiter zum Wohnzimmer. Lächelnd blieb Sebastian im Türrahmen stehen. Ciel saß hochkonzentriert vor dem niedrigen Wohnzimmertisch und setzte ein Puzzle zusammen, das Sebastian ihm vor Monaten gekauft hatte.

Es war gut, dass der Junge sich selbst beschäftigte. So ging Sebastian weiter in die Küche, setzte Wasser für Tee auf und erwärmte Milch für Ciel in einem Topf. Gerade, als er die Milch in eine Tasse füllte, waren leise, schnelle Schritte zu hören und kurz darauf rief Ciel: „Du bist wach!“ Sebastian ging lächelnd in die Knie und breitete die Arme aus, um den Jungen aufzufangen. „Na, du Frühaufsteher?“ Ciel schmuste sich an den Größeren. Er zuckte leicht zusammen, als es klingelte. Verwundert stand Sebastian auf und stütze Ciel auf seiner Hüfte ab. „Wer das wohl sein wird?“

„Jack!“, rief Ciel, kaum dass Sebastian die Tür geöffnet hatte, und streckte seine Arme aus. Ein Zeichen, dass er von dem anderen in den Arm genommen werden wollte. „Guten Morgen“, sagte Sebastian lächelnd. „Morgen.“ Sebastian setzte Ciel ab, damit dieser von Jack hochgehoben werden konnte. „Ich hoffe, du hast noch nicht gefrühstückt, ich wollte gerade Pancakes machen“, sagte Sebastian und ging Richtung Küche. „Oh ja“, rief Ciel freudig. Jack schmunzelte und folgte dem anderen. Er hatte zwar schon gefrühstückt, aber wie konnte er bei dem Angebot „nein“ sagen?
 

Nach dem Essen ging Ciel wieder ins Wohnzimmer spielen. Sebastian und Jack saßen an dem großen Küchentisch und schwiegen. „Ich möchte Ciel adoptieren“, sagte Sebastian ruhig. Er hatte sich in den letzten Wochen viele Gedanken darüber gemacht. Es war eine Sache, ein Kind zur Pflege und vorübergehend aufzunehmen, oder es zu adoptieren. Er mochte Ciel, das stand außer Frage, aber war er bereit, sich um ein Kind zu kümmern und einige Dinge in seinem Leben zu ändern? Ja, das war er. Ciel wollte bei ihm bleiben, das hatte er des öfteren deutlich gesagt. Jedes Mal wollte ihm das Herz vor Liebe und Glück überquellen.

Sebastian hatte sich eine knappe Woche zuvor im Internet informiert, ob er als alleinstehender Mann überhaupt die Möglichkeit hatte, ein Kind zu adoptieren. Er hatte die Befürchtung, nur Paare dürften das, doch zu seinem Glück war es auch Alleinstehenden erlaubt. Doch das war nur ein Punkt, den er beachten musste. Bei einigen Dingen konnte er getrost einen Haken dahinter setzen, doch gerade der Punkt „Erziehungsvorstellungen“ brachte ihn zum Nachdenken. Außerdem musste er für Ciel ein Kinderzimmer haben, wobei Sebastian das schon einige Wochen, nachdem er Ciel aufgenommen hatte, zusammen mit Claude und Grell eingerichtet hatte. Sein ungenutztes Gästezimmer wurde kindgerecht ausgestattet. Zuerst hatten sie die alten Möbel abgebaut, die Sebastian glücklicherweise recht schnell verkaufen konnte, dann wurden die Wände neu gestrichen. In hellblau, wie Ciel es sich gewünscht hatte. Sebastian musste natürlich eine neue Einrichtung kaufen. Zusammen mit Ciel und Claude ist er durch verschiedene Möbelhäuser gegangen, bis sie die wichtigsten Möbel ausgesucht hatten. Diese ließ Sebastian der Einfachheit halber liefern. Eine Woche später waren die Möbel da und Dank der Hilfe von Claude und Grell auch schnell aufgebaut.

Ciel hatte sich sehr über sein neues Zimmer gefreut, aber nachts kroch er trotz eigenem Bett immer noch in Sebastians. Manchmal wollte er auch in seinem eigenen Bett schlafen, vor allem dann, wenn er nicht seinen Willen durchsetzen durfte und schmollte, doch früher oder später schlich Ciel dann doch in Sebastians Schlafzimmer. Wenn er alleine schlief, wurde Ciel meistens von Albträumen geplagt oder er fühlte sich einfach nur einsam. Bei Sebastian fühlte er sich sicher und konnte die Nacht ruhig durchschlafen.
 

Jack stellte seine Teetasse ruhig auf den Tisch. „Hast du dich schon über die Voraussetzungen einer Adoption informiert?“ Er war nicht überrascht, schließlich begleitete er die beiden nun schon einige Monate. Jack war eher erleichtert. Ciel fühlte sich ganz offensichtlich wohl bei Sebastian und akzeptierte ihn als Ersatzvater, während dieser wiederum den Jungen liebte, als wäre er sein eigen Fleisch und Blut. „Ja, natürlich. Soweit ich das gelesen habe, erfülle ich auch alle Voraussetzungen.“ Jack nickte langsam. „Anhand dessen, was ich bisher gesehen habe, stimme ich dir zu. Aber eine Adoption ist natürlich nochmal etwas anderes, als ein Pflegekind.“ „Das ist mir durchaus bewusst“, sagte Sebastian ernst. „Das meinte ich auch nicht“, wandte Jack ein, „die Bearbeitung eines Antrags auf Adoption dauert länger, die möglichen Adoptiveltern und das Zuhause werden noch mal gründlich durchleuchtet. Außerdem gibt es eine Testphase, die Adoptionspflegezeit. Diese dauert in der Regel ein Jahr. Aber da Ciel schon über sechs Monate bei dir wohnt, wird die Testphase um diese Zeit verkürzt werden.“ Sebastian atmete unmerklich auf. Von dieser Testphase hatte er auch gelesen, sie machte auch durchaus Sinn, aber allein der Gedanke, nochmal ein ganzes Jahr diese Ungewissheit, ob Ciel tatsächlich bei ihm bleiben durfte ...
 

Am Nachmittag hatte Ciel wieder seinen wöchentlichen Termin bei William. Sebastian und Jack nutzten die Zeit, um einen Kaffee trinken zu gehen. Normalerweise ging er in dieser Zeit einkaufen oder erledigte andere Dinge, doch er hatte schnell festgestellt, dass Jack ein sehr angenehmer Gesprächspartner war und wollte diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Er wusste, dass der Sozialarbeiter wegen Ciel und dessen Wohl sie hin und wieder besuchte. Trotzdem genoss Sebastian die Gespräche mit dem anderen.

Sie saßen in einem kleinen, gemütlichen Café am Fenster. Es fühlte sich fast wie ein Date an. Sebastian wusste gar nicht, wann er zum letzten Mal ein richtiges Date gehabt hatte. Seit Ciel bei ihm war, war das kein Thema mehr gewesen. Kind und Arbeit zu vereinen, füllte seine Zeit genug aus. In den ersten Wochen hatte er sich frei genommen oder von Zuhause aus gearbeitet. Als Ciel sich eingelebt hatte, hatte Sebastian ihn im Kindergarten angemeldet, in den auch Alois und Luka gingen. Nachdem Ciel eingewöhnt war, ging Sebastian wieder regelmäßig in die Klinik zum Arbeiten. So hatte sich ihr Alltag eingependelt. Da war kein Platz, um jemanden kennen zu lernen und seit dem Besuch von Ash hatte er auch kein Bedürfnis mehr danach.

Auch Jack genoss die Gespräche mit Sebastian sehr. Sie sprachen über alles mögliche, konnten aber auch zusammen schweigen, ohne dass es unangenehm wäre. Die meisten, mit denen er arbeitete, waren für ihn genau das: Arbeit. Doch bei Sebastian und auch Ciel war es anderes. Er mochte beide sehr, doch es gab für ihn keinen offensichtlichen Grund, noch Kontakt zu halten, sobald die Adoption durch ist. Jack würde einfach die Zeit bis dahin mit Sebastian und Ciel genießen. Sie wirkten wie eine kleine, glückliche Familie. Ein kleiner Teil von ihm wünschte sich schon länger, ein Mitglied dieser Familie zu sein. Er wusste, dass das unprofessionell war. Außerdem hatte Sebastian auch nie irgendetwas in der Richtung erwähnt, ob er überhaupt Interesse an Männern allgemein hatte. Er wusste nicht, dass es dem anderen genauso ging. Jack konnte allerdings nicht wissen, dass Sebastian entschieden hatte, ihn nach einem Date zu fragen, sobald er Ciel offiziell adoptiert hatte. Sollte er dann einen Korb bekommen, wäre es zwar schade, aber sie müssten sich danach nicht mehr sehen. Jetzt allerdings würde es alles nur unnötig kompliziert machen. Wer wusste außerdem, welche Konsequenzen es haben könnte für alle Beteiligten, sollten sie vor der Adoption eine Beziehung eingehen?
 

Zwei Wochen später hatte Sebastian einen Termin beim Jugendamt, wo er den Antrag auf Adoption stellte. Er war aufgeregt, obwohl er nur Papiere ausfüllte und unterschrieb. Nur, weil Ciel bei ihm zur Pflege war, hieß das noch lange nicht, dass sein Antrag genehmigt werden würde. Es war durchaus im Bereich des Möglichen, dass der Junge zu einer anderen Familie kam. Das war Sebastians größte Angst.

In den darauffolgenden Wochen führte er viele Gespräche mit den Mitarbeitern des Jugendamts. Seine erste Ansprechpartnerin war eine alte, unfreundliche Dame mit tiefen Falten zwischen den Brauen. Sie machte keinen Hehl daraus, wie viel sie davon hielt, dass ein alleinstehender Mann ein Kind adoptieren wollte. Nämlich nichts. In ihren Augen durften das nur verheiratete Paare. Aber nur die, die aus einem Mann und einer Frau bestanden. Sebastian fuhr nach jedem Gespräch mit dieser Person stinksauer nach Hause. Er behielt sein Pokerface und blieb freundlich, aber innerlich hatte er ihr schon hundert mal den Hals umgedreht. Als er zum vierten Gespräch ins Jugendamt ging, innerlich gewappnet, nicht über den Tisch zu springen, sobald diese unausstehliche Person den Mund öffnete, war er mehr als überrascht, gleich zwei neue Sachbearbeiter zugeteilt bekommen zu haben. Ein junger Mann und eine Frau in den mittleren Jahren. Sie erklärten ihm, dass seine vorherige Sachbearbeiterin ihm so schlechte Bewertungen gab, dass sie es für notwendig hielten, eine zweite und dritte Meinung einzuholen. Sebastians Magen zog sich bei diesen Worten zusammen. Vor seinem geistigen Auge verabschiedete er sich von einem weinenden Ciel, der die Welt nicht verstand. Doch zu seinem Glück verlief dieses Gespräch wesentlich besser und auch professioneller. Am Ende wurde er mit den Worten verabschiedet: „Wir können die Bewertung unserer Kollegin absolut nicht nachvollziehen. Bis zum nächsten Mal, Mr. Michaelis.“
 

So vergingen einige Wochen, in denen nicht nur Jack, sondern auch die beiden Mitarbeiter, mit denen er regelmäßig Termine hatte, bei ihnen Zuhause vorbei kamen. Sie machten im Prinzip das gleiche wie Jack, kamen auch immer unangekündigt. Meistens kam nur einer von beiden. Sie unterhielten sich auch mit Ciel, in Anwesenheit und Abwesenheit von Sebastian, um zu sehen, ob dieser die Meinung des Jungen beeinflusste. Das war zum Glück nicht der Fall. Trotzdem ließen sie kaum durchblicken, wie seine Chancen standen und ob es andere potentielle Adoptiveltern gab.
 

Knapp vier Monate später bekam Sebastian den erlösenden Anruf, sein Antrag auf Adoption wurde genehmigt und Ciel war offiziell sein Adoptivsohn. Sebastian konnte es kaum fassen! Er bedankte sich und stand anschließend sprachlos in seiner Küche. Ciel war offiziell sein Sohn! Er musste noch die Papiere unterschreiben, doch das waren nur noch Formalitäten. Erst ein vorsichtiges Zupfen an seiner Hose holte ihn zurück in die Realität. Ciel stand vor ihm und schaute ihn mit seinen großen, blauen Augen besorgt an. „Alles okay?“, fragte er unsicher. Sebastian wischte sich ein paar Freudentränen weg und strahlte den Jungen an. Er ging auf die Knie runter und strich Ciel ein paar aschblaue Strähnen hinters Ohr. „Das war das Jugendamt, du darfst bei mir bleiben. Ich darf dich adoptieren!“ Ciel starrte ihn ungläubig an, bevor er Sebastian um den Hals fiel. Minutenlang blieben sie in dieser Position.

Sebastian hob Ciel auf seine Arme und stand auf, um Jack anzurufen. Kaum wurde am anderen Ende abgehoben, platzte es aus ihm heraus: „Er ist genehmigt! Ich darf Ciel adoptieren!“ „Glückwunsch! Das freut mich sehr für euch“, sagte Jack lächelnd, auch wenn der andere das nicht sehen konnte. „Danke! Ich freue mich so sehr!“ „Ich mich auch“, rief Ciel lachend. Sebastian wuschelte ihm durch die aschblauen Haare. Jacks Lächeln wurde traurig. Er wusste schon lange, dass dieser Moment kommen würde, trotzdem war es nicht leicht. Seine Arbeit war damit beendet. Er überlegte sich, was er noch sagen könnte, doch bevor er die richtigen Worte formulieren konnte, lud Sebastian ihn schon zum Essen ein. „Aber … mein Job ist damit erledigt“, wandte Jack ein. „Und deswegen kannst du nicht mit mir essen gehen?“, fragte Sebastian verwundert. „Sollte das jetzt nicht erst recht möglich sein?“ Jack blinzelte verwundert. Meinte er etwa …? Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. „Darf ich dein Schweigen als 'ja' deuten?“, fragte Sebastian schmunzelnd. „J-ja. Ja, natürlich!“ „Ich hol dich morgen Abend – 20 Uhr – ab.“ „Okay ...“, hauchte Jack. Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen. Er hatte ein Date! Mit Sebastian! Vielleicht war das der Beginn einer wunderbaren Zukunft, doch das stand auf einem anderen Blatt.



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