Zum Inhalt der Seite

Tatsächlich schwul

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Aufgrund des Wunsches einer einzelnen Dame, dieses Mal der Link zum Lied, zu dem der erste Teil des Kapitels entstanden ist. Es handelt sich um „Creep“ von Radiohead, neu interpretiert von Scala & Kolacny Brothers: https://www.youtube.com/watch?v=Yt6-gBGCJ-4

Der zweiten Teil entstand dann zu „Nothing else matters“ von Metallica. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Vorhang auf

Über den stillen Reihen der Kleiderständer lag ein gedämpftes Kichern und leises Stöhnen.

„Oh Gott, Nick, der ist so groß.“

Die samtenen Vorhänge einer der Umkleidekabinen bewegten sich und eine schmale Frauenhand zog die Stoffstücke eilig wieder zusammen, bevor sie den Blick auf die Insassen freigeben konnten. Erneut war ein hohes Kichern zu hören.

„Das ist so verboten, was wir hier machen.“

„Aber du wolltest das doch so.“ Die männliche Stimme klang etwas anklagend. „Nick, ich kann nicht mehr warten, wir müssen es sofort tun. Waren das nicht deine Worte?“

„Ach komm schon, du wolltest es doch auch.“ Man hörte den Schmollmund, den die Frau bei dieser Erwiderung zog. „Aber wenn wir uns nicht beeilen, erwischt Renata uns noch, bevor wir fertig sind. Also mach endlich und steck ihn rein.“

„Das wird eine totale Sauerei werden. Ich sage dir, wir hätten das in der Küche machen sollen. Oder noch besser: bei dir zu Hause.“

„Bist du verrückt? Michael würde ausflippen, wenn er das mitbekommt. Dem hängt die Sache mit den Eiern noch nach. Aber wir hätten ja zu dir gehen können.“

Auf diese Feststellung kam von Nick nur Schweigen. Er sah Lisa an, der eine ihrer roten Haarsträhnen ins Gesicht hing. Über ihren zahlreichen Sommersprossen glänzte ein feiner Schweißfilm. Es war wirklich warm hier drinnen, wenn zwei Körper auf so engem Raum zusammenstanden. Und dabei hatten sie noch nicht einmal angefangen. Sie biss sich auf die Lippen und sah ihn erwartungsvoll an.

„Also was ist jetzt? Traust du dich nicht?“

„Natürlich traue ich mich. Ist ja nicht so, als wenn ich das noch nie gemacht hätte.“

Lisa grinste. „Und wie oft hast du das in etwa schon gemacht? Nur damit ich eine Vorstellung von deinen Performancekünsten habe.“

„Oft genug.“ Nick runzelte die Stirn und sah nach unten. Da stand ihm wirklich ein ganzes Stück Arbeit bevor. Wenn er ehrlich war, hatte er wirklich nicht besonders viel Erfahrung. Aber es war immer noch besser, wenn er das in die Hand nahm, als wenn Lisa sich daran versuchte. In diesem Moment hörten sie Schlüsselklimpern und die Vordertür der Boutique wurde geöffnet.

„Oh Scheiße“, entfuhr es Lisa, bevor sie sich die Hand auf den Mund presste und sich mit geducktem Kopf an ihn lehnte. Gemeinsam standen sie vollkommen regungslos, die Augen auf die roten Vorhänge gerichtet. Dahinter waren Schritte zu hören und Renatas Stimme, die energisch auf Spanisch in ihr Handy sprach. Das Klackern von hochhackigen Schuhen kam näher und Nick fühlte, wie Lisa in seinen Armen bebte. Sein eigenes Herz schlug ihm ebenfalls bis zum Hals und er mochte sich nicht ausmalen, was wohl passieren würde, wenn Renata sie beide hier in höchst eindeutiger Pose fand. Die nächste Gehaltserhöhung konnte er sich dann vermutlich in die Haare schmieren.

 

Plötzlich bemerkte er, dass Lisas Zittern stärker wurde. Ihre Atemfrequenz stieg und sie sog gierig Luft durch die Nase ein. Er schob sie ein Stück weit von sich und sah, dass sie nicht etwas vor Schreck erstarrt war, sondern ganz im Gegenteil von einem gewaltigen, stummen Lachkrampf geschüttelt wurde. Er wollte ihr gerade zuraunen, dass sie still sein sollte, als mit einem Mal die Vorhänge zurückgezogen wurden. Vor ihnen stand Renata, heute ganz in dunkles Bordeaux mit marineblauen Akzenten gekleidet. Im Licht der Boutique-Beleuchtung glitzerte üppiger Goldschmuck. Sie hob eine ihrer schmal gezupften Augenbrauen.

„Wollt ihr mir erklären, was das hier wird?

„Wir wollten nur ...“

„Also wir haben nicht ...“

Renatas Augen wanderten tiefer und entdeckten den Stein des Anstoßes, der zwischen ihren Füßen lag. Der riesige Kürbis tat vollkommen unschuldig.

„Was tut das Gemüse in meinem Laden?“

„Nun ja ...“ Lisa blickte hilfesuchend zu Nick. War ja klar. Wenn es darum ging, mit Renata fertigzuwerden, schob sie ihn natürlich wieder vor. Ein Hoch auf die Emanzipation.

Er räusperte sich. „Ja weißt du, es ist doch bald Halloween und da dachten wir ...“ Zögernd hob er den Kürbisschnitzer in seiner Hand. „Wir wollten Dekoration basteln. Fürs Schaufenster.“

Renata sah von dem Werkzeug zu dem Kürbis und dann zwischen ihren beiden Angestellten hin und her. Nick war gerade sehr froh, dass dieses Schnitzwerkzeug nur aus orangem Plastik bestand. Das aus strategisch platzierten Löchern zusammengesetzte Gesicht darauf grinste ihn höhnisch an.

„Ich dachte, ich hätte mich da klar ausgedrückt. Kein Halloween-Blödsinn in diesem Laden. Den Tag der Toten feiern wir nicht mit Plastikspinnen und aus Klopapier gewickelten Mumien.“

„Aber Renata ...“ Lisa sah offensichtlich ihr Projekt den Bach runtergehen. „Ich habe das gegoogelt. Auch in Spanien schnitzt man Kürbisse. Wir müssen ja kein Gruselgesicht machen, aber was hältst du hiervon?“

Sie zückte ihr Handy und hielt Renata das Display unter die Nase. Ihre Chefin nahm das Gerät entgegen und hielt es gegen das Licht, kniff die Augen zusammen und zog die Nase kraus. Nick unterdrückte ein Grinsen. Sie wussten alle, dass Renata eigentlich eine Brille brauchte, aber die seit unzähligen Geburtstagen Vierundvierzigjährige war zu sehr auf ihr Äußeres bedacht, um das zuzugeben. Leider ließ sich schlechtes Augenlicht nicht wie die anderen Alterserscheinungen mit Make-up kaschieren, das Renata so großzügig verwendete. So hielt sie das Handy irgendwann auf Armeslänge von sich und meinte gnädig:

„Na ja, das sieht ja ganz anständig aus. Also meinetwegen. Wenn ihr so etwas hinbekommt, darf der Kürbis ins Fenster.“

Lisa quietschte freudig auf und Nick ließ erleichtert die Luft entweichen. Das Gewitter, das er gefürchtet hatte, war vorbeigezogen. Er wollte sich gerade daran machen, endlich den schweren Kürbis nach hinten in die Teeküche zu wuchten, als Renata, die sich bereits mit energischen Schritten entfernt hatte, sich noch einmal zu ihm umdrehte.

„Ach und Nick, sei doch so gut und komm gleich nochmal in mein Büro. Wir haben da noch etwas zu besprechen.“

Nick sah Lisa an, doch die zuckte nur mit den Schultern.

„Frag mich nicht, ich bin hier doch nur der Hiwi.“

„Ach Blödsinn. Du arbeitest doch schon länger hier als ich.“

Tatsächlich hatte Nick erst vor etwas über einem Jahr gleich nach der Ausbildung seine Stelle in der Dessous-Boutique „El Corpiño“ angetreten. Es war nicht ganz leicht gewesen, Renata davon zu überzeugen, dass er wirklich der Richtige für den Job war. Immerhin war ein Dessousgeschäft eine Art Trutzburg der Weiblichkeit, in der die Damen ungestört und vor allem unbegafft ihre Einkäufe tätigen wollten. Aber Nick hatte ihr glaubhaft versichert, dass da bei ihm keine Gefahr bestand und sein Interesse an weiblichen Brüsten und Pos lediglich rein geschäftlicher Natur war. Im Stillen war er immer noch überrascht, wie überzeugend er offensichtlich gewesen war. Allein der simple Satz „Ich bin schwul“ hatte ihn von einem perversen Irren zu einem potentiellen Kandidaten für die ausgeschriebene Verkäuferstelle gemacht. Seine exzellenten Zeugnisse und nicht zuletzt die Tatsache, dass Renata ihn ihm wohl so etwas wie den Sohn, den sie nie gehabt hatte, sah, hatten ihm schließlich einen unterschriebenen Arbeitsvertrag in die Tasche bugsiert. Und nun stand er hier und schnitzte Blumenmuster in einen ausgehöhlten Kürbis, während er überlegte, was seine Chefin wohl von ihm wollte.

„Wahnsinn! Du bist so begabt“, rief Lisa und bestaunte das Muster, das unter Nicks Fingern entstand. „Du hast so was wirklich schon mal gemacht, oder?“

„Ja, so was ähnliches“, wich er aus und hobelte eine weitere Ranke aus der orangen Schale.

„Du solltest das professionell machen.“

Nick machte ein halb abfälliges, halb belustigtes Geräusch. „Und wie sollte ich den Beruf dann nennen? Vegetable Artist?“

Lisa lachte. „Ja genau wie dieser Typ mit dem Gemüsekopf.“

„Du meinst den Vertumnus von Giuseppe Arcimboldo? Ja, den kennt vermutlich jeder Viertklässler. Ich musste mich auch mal daran versuchen. Hab ne Eins dafür bekommen.“

„Siehst du, ich sage dir ja immer wieder, dass du dein Talent hier verschwendest. Obwohl deine Schaufenster wirklich atemberaubend sind. Wenn ich mir überlege, dass wir vorher immer nur ein paar BHs und Slips dort hängen hatten. Seit du die Deko zusammenstellst, kommt ein Drittel mehr Kunden.“

„Schon möglich.“ Nick hatte den Kürbis zu seiner Zufriedenheit verziert und hielt ihn hoch. „Was meinst du? So in Ordnung?“

Lisa schlug begeistert die Hände zusammen. „Irre. Einfach irre. Vermutlich könnten wir da auch ein Preisschild dran machen und jemand würde ihn vom Fleck weg kaufen. Weißt du was? Den setzen wir an der Kasse auf den Tresen. Dann kann ich ihn mir die ganze Zeit angucken. Ansonsten muss ich wohl wieder anfangen zu rauchen, nur um draußen vor dem Fenster stehen zu können.“

„Bloß nicht!“

Nick erinnerte sich mit Schaudern daran, wie Lisa vor ein paar Monaten damit aufgehört hatte. Angeblich wegen der Gesundheit, aber in einem vertraulichen Gespräch hatte sie Nick verraten, dass das mit ihrem Kinderwunsch zusammenhing. Wenn ihr Freund es denn endlich mal schaffte, ihr einen Antrag zu machen und ihr einen Ring anzustecken, wollte sie mindestens drei neue Erdenbürger in die Welt setzen.

„Drei ist das neue Zwei“ hatte sie gelacht und in eine Karotte gebissen, die sie gegen die drohenden Ich-habe-mit-dem-Rauchen-aufgehört-Kilos immerzu dabei hatte. Genutzt hatte es nicht viel. Lisa war allenfalls vollschlank, geizte jedoch nicht mit ihren Reizen. Sie liebte weitschwingende, kurze Röcke und Kleider mit tiefen Ausschnitten und lief auch mitten im Winter noch in Strumpfhosen herum. Heute war das Stück der Wahl aus grünem Samt mit einer blickdichten, schwarzen Strumpfhose und bequemen Mary Janes. Um ihre roten Locken hatte sie ein passendes grünes Halstuch gewunden, aus dem sich immer wieder einzelne Strähnen lösten, was ihr insgesamt das Aussehen einer pummeligen Waldnymphe gab. Es fehlte nur noch das Eichhörnchen, das ihr aus der Hand fraß, und ein puscheliges Häschen zu ihrem Füßen.

 

Nick säuberte sich und das Spülbecken leidlich von den Kürbisspuren und trug wie befohlen den Kürbis neben die Kasse. Das Stück war im Grunde viel zu groß für den relativ kleinen, fast schon antiken Tresen, der sich wunderbar in das restliche Interieur des Ladens einfügte. Renata vertrat die Meinung, dass sich eine Frau, wenn sie Unterwäsche kaufte, wie eine Königin fühlen musste. Und eine Königin brauchte einen Thronsaal. Dementsprechend war das „El Corpiño“ eine Landschaft aus Schwarz, Rot und Gold. Die Wände bestanden aus schwarz lackiertem Putz, in dem hier und dort ein Stück Mauerrelief eingearbeitet worden war. Davor verbreiteten gläserne Regale eine gewisse Leichtigkeit und geschickte Ausleuchtung sorgte dafür, dass alles, was blitzen und blinken konnte, auch genau das tat. Zwei Sofas und eine Chaiselounge, alle mit dem gleichen roten Samt bespannt, der auch die Umkleidekabinen abschirmte, luden zum Verweilen ein. Es gab eine Kaffeeautomaten und kostenloses Gebäck und außerdem einen Bereich, der sich mit einem Vorhang vom restlichen Laden abschirmen ließ.

Zwischen all dieser Herrlichkeit schließlich fanden sich Reihen und Reihen an Dessous und Nachtwäsche in allen nur erdenklichen Größen. Wo andere Geschäfte darauf setzten, ihre Ware möglichst übersichtlich nach Modell an den Wänden zu drapieren, gab es im „El Corpiño“ eine wahre Flut an leicht zugänglichen Kleiderständern, die allesamt nach Größe geordnet waren. Unter den Verkaufsschildern fanden sich allerdings nur wenige der üblichen Verdächtigen, die jedes deutsche Kaufhaus anbot. Stattdessen herrschten internationale Hersteller vor, darunter Anbieter aus England und Polen, den Vorreitern, was passende Büstenhalter für jeden Typ anging. Viele Kundinnen, die das erste Mal den Laden betraten, wurden fast von dem riesigen Angebot erschlagen, aber Renata hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jeder Frau zu ihrem richtigen BH zu verhelfen. Ob die das nun wollte oder nicht.

„Es gibt Brüste wie Sand am Meer. Ebenso viele und ebenso unterschiedlich“, pflegte sie zu sagen, nur um dann zielsicher aus einem der Ständer das Modell herauszufischen, das die Brust der Kundin nicht nur ins richtig Licht rückte, sondern gleich noch Bühnenbild und Orchester mitlieferte. Das Wissen darüber hatte sie an ihre beiden Angestellten weitergegeben und so hatte sich das „El Corpiño“ inzwischen zu einer weit über die Stadtgrenzen bekannten Größe in puncto Beratung und Service entwickelt, wenn es um die weibliche Brust ging. Und der aufgehende Stern am Himmel dieser Inszenierung hieß: Nick Kaufmann.

 

Nick rückte den Kürbis noch einmal hin und her, schob einen der Schmuckständer ein Stück weit nach hinten und befand, dass so noch genug Platz für die Abwicklung des täglichen Verkaufsgeschäfts war. Immerhin waren die meisten Stücke, die hier über den Ladentisch wanderten, nicht sonderlich groß.

Ich frage mich, was Renata will, dachte er bei sich, während er in den hinteren Bereich des Geschäfts ging, in der sich neben einer kleinen Küche und den Toiletten noch das Büro ihrer Chefin befand. Darin herrschte die Art kreativer Ordnung, die es seiner Besitzerin ermöglichte, alle notwendigen Unterlagen in angemessen kurzer Zeit zu finden, ohne, wie sie sich ausdrückte, auszusehen, als habe sie einen Stock im Hintern. Renata selbst thronte hinter einem massiven Schreibtisch, den sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt hatte. Der Mann war, soweit Nick wusste, Buchhalter gewesen und hatte seine Künste nicht vor seiner Frau geheimgehalten. Insofern kamen seine Gehaltschecks immer pünktlich und er machte sich keine Sorgen, dass sie irgendwann in die roten Zahlen rutschen würden. Nahezu alles in seinem Leben lief somit perfekt.
 

„Ah, Nick, komm rein und setz dich.“

Nick tat, wie ihm geheißen wurde, und fragte sich insgeheim immer noch, was das sollte. Normalerweise würde er jetzt mit Lisa zusammen den Laden öffnen. Außerdem hatte er um neun einen Termin mit einer Kundin.

„Nick, uns steht eine Überraschung ins Haus. Du erinnerst dich an meine Schwester Maria?“

Nickt überlegte. Er hatte die Frau ein- oder zweimal gesehen, wenn sie Renata bei einem ihrer seltenen Besuche abholte. Alles in allem war sie recht unauffällig, wenngleich auch deutlich jünger als Renata gewesen.

„Maria hat mich angerufen und mich um einen Gefallen gebeten. Ich habe eine Weile überlegt, mich jetzt aber entschlossen, ihrer Bitte Folge zu leisten. Es geht um ihren Sohn Javier. Der Junge hat gerade seine zweite Ausbildung geschmissen und Maria meinte, dass es eine gute Idee wäre, wenn ich ihn mal eine Weile unter meine Fittiche nehmen würde. Er soll hier im Laden ein Praktikum machen.“

Nick horchte auf. „Hier im Laden? Aber … was werden die Kundinnen sagen?“

Renata lächelte. „Oh, ich mache mir da keine Sorgen. Sie kennen ja dich und wenn sie hören, dass Javier ebenso veranlagt ist wie du, werden sich die Gemüter schon bald beruhigen. Also, was sagst du? Kriegen wir das hin?“

Nick hatte das Gefühl, dass ihm so eben der Boden unter den Füßen weggezogen worden war. Er sollte einen Praktikanten ausbilden? Einen schwulen Praktikanten? Ausgerechnet er? Das war ungefähr so attraktiv wie die Aussicht, sein Müsli ab jetzt mit Spülmittel zu essen. Allerdings konnte er das Renata gegenüber wohl kaum äußern. Immerhin hing seine Anstellung davon ab, dass seine Tarnung auf keinen Fall auffiel. Er rang sich ein Lächeln ab.

„Na klar schaffen wir das. Dem Früchtchen werden wir den Kopf schon zurechtrücken. Der soll nur kommen.“

Innerlich hingegen betete er, dass sich dieser Javier auf dem Weg hierher möglichst nach Sibirien verirren und niemals wieder zurückkehren würde.

Verzaubert

Nick feuchtete den Kamm an und zog damit noch einmal den Seitenscheitel nach, der unter dem launischen Herbstwind ein wenig gelitten hatte, als er für sich und Lisa Mittagessen geholt hatte. Zufrieden betrachtete er das Ergebnis. Er legte viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Selten sah man ihn in etwas anderem als Hemd mit Krawatte oder zumindest einer Weste, dazu niemals Jeans sondern immer nur Stoffhosen und natürlich entsprechendes Schuhwerk. Wo seine Garderobe für sein Alter auffällig sein mochte, war sein restliches Erscheinungsbild es nicht. Mittelgroß, mittelbraune Haare, mittelblaue Augen. Jemand hatte mal behauptet, dass sein Kinngrübchen ausgesprochen sexy sei, aber ihn trieb es nur beim täglichen Rasieren zum Wahnsinn.

Er atmete noch einmal tief durch und trocknete sich dann die Hände an einem Papiertuch ab. In wenigen Minuten würde er einen Beratungstermin abhalten müssen, der eigentlich in Renatas Kalender gestanden hatte. Aber seine Chefin hatte sich heute Morgen krankgemeldet – sie klang wie ein verrostetes Regenrohr und hatte kaum Stimme – und so war Nick nun derjenige, der das Bra-Fitting durchführen würde. Er hatte den Proberaum schon vorbereitet, für eine angenehme Raumtemperatur gesorgt, es konnte also nichts mehr schiefgehen. Fast nichts.

 

Als Nick den Laden betrat, öffnete sich die Vordertür und ein Mann kam herein. Nicks Blick glitt zu Lisa, doch die war bereits in einer Beratung. Das hieß, er würde sich um den Störenfried kümmern müssen. Eine Tatsache, die ihm höchst ungelegen kam. Nicht, dass Männer keine lukrativen Kunden waren. Er wusste, dass diese in den großen Ketten, deren Verkäuferinnen auf Provisionsbasis bezahlt wurden, durchaus die beliebtesten Käufer waren. Sie waren oft nicht wählerisch, fanden alles gut, was man ihnen unter die Nase hielt, und bezahlten, ohne mit der Wimper zu zucken, 50 Euro oder mehr für einen BH, nur um den Laden schnell wieder verlassen zu können. Nick hingegen hasste es, Männer zu bedienen. Entweder musste er sich dabei irgendwelche dummen Sprüche anhören oder sein Geschlechtsgenosse bekam bei seinem Anblick gleich kein Wort heraus, was das Verkaufsgespräch nur umso schwieriger machte. Nick wusste sofort, dass es sich bei diesem Mann um die zweite Sorte handeln würde. Ausgerechnet jetzt, wo er keine Zeit hatte. Wenn die Beratungskandidatin kam und er noch mit diesem Idioten rumhing, konnte er das Fitting gleich in den Wind schreiben und das wiederum würde Renata nicht begeistern. Seine Chefin war in ihren Zustand ohnehin unerträglich und wenn sie dann noch hörte, dass Nick den Termin vergeigt hatte ... Nun, wenn es feuerspeiende Drachen gegeben hätte, hätte Nick deren Gesellschaft in dem Fall vorgezogen. Aber es half ja nichts, er musste den Mann bedienen. Vielleicht hatte er Glück und es ging schnell.

 

„Kann ich Ihnen helfen?“

Wie erwartet zuckte der Mann bei Klang von Nicks Stimme zusammen. Seine Finger ließen den eben noch begutachteten Spitzen-BH los, als habe er sich verbrannt.

„Ähm … ich suche … Unterwäsche.“

Nick rollte innerlich mit den Augen. Ja klar, Unterwäsche. Seine Großmutter trug Unterwäsche. Im „El Corpiño“ gab es nichts, was diesen Namen auch nur annähernd verdiente. Hier gab es Dessous, Lingerie, Mieder, Corsagen, BHs, Strings, Slips, Panties und natürlich alle Arten von seidener Beinbekleidung. Von der Abteilung für Nachtwäsche fing er vermutlich gar nicht erst an. Womöglich würde der Kunde noch nach einem „Schlafanzug“ verlangen. Er verkniff sich eine entsprechende Bemerkung und lächelte freundlich.

„Welche Größe suchen Sie denn?“

Und jetzt kam es. Die Handbewegung, die Männer immer auf diese Frage hin machten. Sie streckten die Hände nach vorn und bewegten sie, als würden sie einen Autoreifen montieren. Nick fragte sich, ob sie das bei den Frauen auch so machten. Konnte es etwas Abtörnenderes geben? Und dann die Antwort …

„Na eine gute Handvoll.“ Das war ungefähr so aussagekräftig wie 'Ich hätte gerne ein schnelles Auto' beim Gebrauchtwagenhändler. So kamen sie nicht weiter.

„Wie wäre es denn mit einem Gutschein? Dann könnte sich die Dame selbst etwas Passendes aussuchen.“

„Oh, nein, das geht nicht. Sie möchte ein … richtiges Geschenk, hat sie gesagt.“

Ah. Vermutlich die Sorte Ehemann, der die letzten Jahre Küchenmaschinen und Staubsauger zum Geburtstag angeschleppt hatte, wenn er ihn nicht gleich ganz vergessen hatte, und daraufhin drei Wochen auf dem Sofa nächtigen musste. Und anstatt subtil etwas über die geistigen Interessen seiner ihm Angetrauten herauszufinden – Nick hatte den Ehering an seiner Hand gesehen – versuchte er jetzt, bei dem Geschenk gleich noch einen Nutzen für sich selbst herauszuschlagen. Nick schnaubte innerlich. Im Grunde konnte er dem Mann nichts verkaufen, was nicht zu einem vollkommenen Reinfall und einen unweigerlichen Umtausch führen würde. Zudem hörte er in diesem Moment die Ladenglocke hinter sich läuten. Ein Seitenblick verriet ihm, dass seine Beratungskundin angekommen war. Seine Gedanken rasten. Er musste zu Plan B greifen.

„Wann brauchen Sie das Geschenk denn?“

„Ihr Geburtstag ist Morgen.“

Oh, so rechtzeitig also. Das war natürlich typisch und vernichtete die Möglichkeit, den Mann zunächst nach Hause zu schicken und wenigstens die ungefähre BH-Größe in Erfahrung zu bringen. Nick begann nervös zu werden. Seine Kundin sah so aus, als wolle sie gleich wieder flüchten. Lisa sah auch schon zu ihm herüber. Er musste sich beeilen.

„Hören Sie ...“ Er zückte eine Visitenkarte, auf dem das Logo des Geschäfts, ein stilisiertes, schwarzes Mieder, prangte. Mit schwungvollen Zeichen schrieb er das Datum vom nächsten Samstag und eine Uhrzeit darauf. „Das hier geben Sie Ihrer Frau zusammen mit zwei Dutzend roter Rosen und einer Reservierung beim besten Italiener der Stadt.“

„Warum Italiener?“ Sein Gegenüber schien verwirrt und starrte auf die kleine Karte.

„Weil italienisches Essen stilvoll und leidenschaftlich ist“, legte Nick kategorisch fest. „Und bevor Sie dort zu Abend dinieren, darf sie sich hier im Laden alles aussuchen, was ihr gefällt. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit erledigt wird. Sie werden sehen, das wird das beste Geschenk, was Sie Ihr je gemacht haben.“

Der Mann sah ihn an, als habe er nicht alle Tassen im Schrank. Mit einem tiefen Luftholen griff Nick zur letzten Waffe, die ihm übrigblieb, um den hartnäckigen Kunden endlich zu vertreiben. Er legte den Kopf leicht schief, machte große Augen und formte einen kleinen Schmollmund.

„Also wenn das mein Geburtstag wäre, würde ich Ihnen dafür um den Hals fallen.“

Der Mann brauchte einen Augenblick, um die Andeutung zu verstehen. Er wurde ein wenig blass um die Nase und hatte es plötzlich ziemlich eilig zu verschwinden. Nick war das gleichgültig. Er war hier, um sich mit schönen Frauen zu umgeben und nicht mit deren tumben Freunden, Ehemännern oder Liebhabern. Das Einzige, zu dem Männer in seinen Augen gut waren, war dazu, die Kreditkarte zu halten, während Nick seine Arbeit tat.
 

Mit einem gewinnenden Lächeln drehte er sich zu der Kundin herum, die immer noch ein wenig verloren zwischen all der Spitze stand. Sie hatte ihre dicke Jacke bereits geöffnet und Nick sah, dass ihr Oberkörper in einem fürchterlichen, orangefarbenen Rollkragenpullover steckte, der sie noch blasser machte, als sie ohnehin schon war. Offensichtlich wäre bei ihr auch eine Farbberatung angesagt, aber er wollte erst einmal bei der Basis anfangen.

„Sie müssen Frau Thiede sein. Renata lässt sich entschuldigen. Sie muss leider das Bett hüten, daher bin ich heute Ihr Berater. Mein Name ist Nick.“

Die Frau strich sich die mausbraunen Haare hinter die Ohren und zog die Schultern hoch. „Nun, ich weiß nicht. Wir wollten ja heute eigentlich einen BH für mich ...“ Sie schwieg und eine leichte Röte schoss auf ihre blassen Wangen.

„Ja, ein Bra-Fitting. Ich bin vollkommen im Bilde und bitte Sie, sich ganz in meine Hände zu begeben. Ich versichere Ihnen, dass Sie es nicht bereuen werden. Wenn Sie den Laden verlassen, werden Sie sich wie ein neuer Mensch fühlen.“

Das schien einen Nerv zu treffen. Sie nickte und ließ sich von Nick in den Fitting-Bereich bringen. Er wies sie an, ihre Sachen auf den Stuhl zu legen und sich zunächst „freizumachen“.

„Damit ich sehen kann, womit wir heute arbeiten.“

Er hielt einen respektvollen Abstand, während sie sich leicht zögernd auszog. Als sie obenrum schließlich nur noch mit einem BH bekleidet vor ihm stand, hätte er am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Der BH, den sie trug, war vermutlich ihr bestes Stück. Trotzdem saß es überhaupt nicht und sorgte dafür, dass die Schwerkraft ihr Werk nur umso deutlicher verrichten konnte. Obwohl ihr Busen nicht übermäßig groß war, hing er irgendwo auf Höhe der Oberarmmitte. Das Unterbrustband war auf dem Rücken nach oben gerutscht und die Träger schnitten auf den Schultern ein. Damit ließ sich nun wahrlich kein Blumentopf gewinnen. Allein die Vorstellung, von Lippen, die auf einer so behandelten, wundgescheuerten Haut ihr Liebeswerk verrichten sollten, war unvorstellbar.

Nick lächelte freundlich.

„Ich sehe da viel, viel Potential“, sagte er und ließ seine Augen über ihre Brust gleiten. „Welche Körbchengröße tragen Sie momentan?“

„80 B.“

Nick legte den Kopf schief und spitzte die Lippen. „Ich glaube nicht, das Sie eine 80B sind. Das können Sie viel besser. Möchten Sie es mit mir zusammen ausprobieren?“

Frau Thiede nickte zögernd.

„Guuut! Ich muss Sie zuerst vermessen. Wenn Sie also zunächst einmal bitte auch noch Ihren jetzigen BH ausziehen würden?“

Wieder ein kleines Zögern, das Nick mit einem charmanten Lächeln zu entwaffnen wusste. Endlich fiel auch die letzte Hülle und er sah, was er vermutet hatte. Eine wunderschöne Brust. Ihre Haut, die durch den unvorteilhaften Pullover zunächst krankhaft blass gewirkt hatte, erhielt jetzt mit der richtigen Beleuchtung etwas elfenhaftes. Es war warm im Zimmer; trotzdem zogen sich ihre Brustwarzen unter der plötzlichen Kühle zusammen und bildeten zwei rosige Knospen inmitten einer milchig weißen Hügellandschaft. Nick trat hinzu und beobachtete einen winzigen Augenblick lang das Schattenspiel der sanften Rundungen. Sie schienen wie geschaffen dafür, sie ausgiebig zu streicheln und zu halten. Warm, weich und unglaublich sensibel, weckten sie in ihm den Wunsch, sie nicht nur zu berühren, sondern sie auch zu kosten, zu schmecken, seine Lippen darüber wandern zu lassen und die empfindlichen Spitzen mit Zähnen und Zunge zu liebkosen. Natürlich durfte die Kundin von all dem nichts merken und Nick war ein Meister der Diskretion. Er hob den Blick und sah ihr in die Augen, als hätte es den kurzen Moment der Ablenkung nicht gegeben.

„Jetzt möchte ich, dass Sie sich umdrehen, damit ich Ihre Maße nehmen kann. Am besten heben Sie die Brust dafür zunächst einmal etwas an. Nehmen sie je eine in Ihre Hände und schauen Sie dort drüben in den Spiegel.“

Sie tat, wie Nick ihr aufgetragen hatte, und er konnte im Spiegel, der an der Wand ihr gegenüber hing, sehen, wie sich ihre Finger um das weiche Gewebe schlossen und es vorsichtig nach oben schoben. Er trat hinter sie und zückte sein Maßband. Mit einer schnellen Bewegung griff er um sie herum und legte das Band direkt unterhalb der Brüste um ihren Oberkörper. Sein Atem streifte ihre Schulter.

„Jetzt atmen Sie bitte einmal tief ein und dann so weit wie möglich aus. Ich werde das Band so fest wie möglich ziehen. Bitte erschrecken Sie sich nicht, wenn sich das im ersten Moment ein wenig unangenehm anfühlt.“

Er hörte sie schlucken und tat, was er angekündigt hatte. Ein Blick auf die Skala bestätigte ihm, dass der Umfang ihres jetzigen BHs wirklich viel zu weit gewesen war. Er ließ das Maßband los und es ringelte sich zusammen wie die berühmte Schlange im Paradies.

„Sehen Sie? Schon überstanden. Allerdings müsste ich jetzt noch den Gesamt-Umfang messen. Wenn Sie so freundlich wären, ihre Brüste loszulassen?“

Wieder folgte sie seinem Befehl und er trat noch ein Stück näher, sodass er jetzt ihrem Rücken streifte. Er fasste das Maßband mit beiden Händen und legte es vorsichtig, sehr vorsichtig über die erhärteten Brustspitzen. Anschließend führte er das Band auf ihrem Rücken zusammen und las die Zahlen ab. Er verzichtete darauf, noch einmal einen Blick in den Spiegel zu werfen. Es lag ihm fern, eine der Kundinnen zu belästigen oder ihnen auch nur die Spur eines unangenehmen Gefühls zu geben, auch wenn er sich ihrer Reize durchaus bewusst war. Manchmal ein wenig mehr, als ihm lieb war. Aber Nick hatte viel Zeit und Training darauf verwendet, sich davon nicht sichtbar aus der Ruhe bringen zu lassen.

Er ließ das Maßband los und trat einen großzügigen Schritt zurück.

„Wunderbar! Das hätten wir geschafft. Ich werde jetzt einige Modelle heraussuchen, die zu Ihrer Brustform passen könnten. Möchten Sie in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?“

Frau Thiede nickte dankbar und ließ sich auf dem bereitstehenden Sofa nieder, wo sie ihre wunderschöne Brust mit dem seidenen Bademantel bedeckte, den er ihr wie selbstverständlich reichte. Er verbeugte sich noch einmal leicht und ging dann in den Verkaufsraum, um das Gewünschte zu holen.

Lisa hatte inzwischen ihre Kundin abkassiert und sah ihn fragend an.

„Läuft's?“

„Ja natürlich. Könntest du Frau Thiede einen Kaffee bringen? Mit Milch und Zucker, denke ich. Und hast du die neuen Cleos schon ausgepackt? Ich glaube, da könnte etwas für sie dabei sein.“

„Ja, die hängen im Ständer. Nicht zu verfehlen.“

„Super, danke!“

Nick strich durch die Reihen von Seide und Spitze, zog hier und dort etwas heraus und eilte wieder an die Seite seiner Kundin, die mit beiden Händen ihre Kaffeetasse umklammerte. Anscheinend war ihr das Ganze immer noch nicht vollkommen geheuer. Er setzte wieder ein Lächeln auf.

„So, Frau Thiede. Jetzt habe ich einen ganzen Strauß voller Möglichkeiten für Sie, aber als erstes möchte ich, dass Sie es einmal hiermit versuchen.“

Er hielt ihr einen BH entgegen, auf dessen roséfarbenen Cups sich zarte Blüten aus schwarzer Spitze rankten. Sie nahm ihn entgegen und bekam große Augen, als sie die Größe sah.

„70F? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Da passe ich noch niemals rein.“

Nicks Mundwinkel wanderten nach oben. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Er ließ sie die Tasse wegstellen und bat sie erneut vor den Spiegel.

„Darf ich?“, fragte er und löste den Gürtel des Bademantels. Er rutschte von ihren Schultern und bildete zu ihren Füßen einen seidenen See. Er nahm ihre Arme und dirigierte die Hände an ihre Brüste.

„Sehen Sie, Sie haben eine wundervolle Brust, aber eine relativ breite Basis. Wenn wir wollen, dass Ihre Brust ihre maximale Wirkung entfaltet, müssen wir dafür sorgen, das Brustgewebe optimal zu sammeln und an die richtige Stelle zu bringen. Etwa so.“

Er hob ihre Hände an und unter ihren staunenden Augen bildete sich ein wunderbares, volles Dekolletee, dass jeder Hollwood-Schauspielerin zu Ehren gereicht hatte.

Er beugte sich ein wenig vor. „Und, Frau Thiede? Sieht das gut aus?“

Sie lachte vorsichtig. „Natürlich. Aber ich kann ja schlecht die ganze Zeit meine Brust festhalten.

Nick lächelte neben ihrem Ohr. „Das ist richtig und deswegen will ich Ihnen einen BH zeigen, der es für Sie tut. Das Problem ist, dass ihr jetziges Modell im Unterbrustbereich zu weit ist. Dadurch liegt das ganze Gewicht auf den Trägern. Haben Sie manchmal Nackenschmerzen?“

Sie nickte leicht und starrte immer noch auf die Brüste in ihren Händen. Er konnte es ihr nicht verdenken.

„Das liegt daran, dass die Stützwirkung an der falschen Stelle sitzt. Der Halt muss auf dem Brustkorb liegen, wo er sich optimal über ihre Rückenmuskulatur verteilt. Und genau das wird der neue BH tun.“

Renata pflegte an dieser Stelle noch einzuwerfen, dass sie schließlich nicht auf einem Lampionfest seien, wo die Hauptattraktion an Schnüren aufgehängt würde, aber Nick verzichtete auf solcherlei krude Bemerkungen. Sie würden ihm vermutlich weit weniger zu Gesicht stehen als der toughen Mittfünfzigerin, die immerhin selbst über zwei solche Wunderwerke der weiblichen Anatomie verfügte und sich daher verbal mehr Freiheiten erlauben durfte. Langsam ließ er seine Hände nach unten gleiten. Frau Thiede folgte seiner Bewegung nur zögernd, so als könne Sie sich auch nicht so recht von dem Anblick ihrer wunderbaren „neuen“ Brust trennen.

Mit einer jovialen Geste hielt er ihr den BH hin. „Hier, probieren Sie ihn an. Sie werden über die Wirkung verblüfft sein.“

Sie griff nach dem guten Stück und wollte ihn schon vor dem Bauch zusammenhaken, als er ihr zuvorkam und ihre Hand festhielt.

„Noch ein kleiner Tipp von mir: Schließen Sie den BH immer an der Rückseite. Ihr unterer Rippenbereich ist etwas schmaler als direkt unter der Brust. Dort müssen sie den BH halten, wenn sie ihn einhaken, sonst dehnt sich das Unterbrustband zu sehr aus und sie stehen in ein paar Monaten wieder hier, um ein neues Modell zu erstehen. Und so gerne ich Sie ja auch bediene, denke ich da doch auch an Ihren Geldbeutel.“

Sie erwiderte sein Lächeln und er wusste, dass all die kleinen Zweifel, die sie zuvor gehabt hatte, ob ihr sein Gebaren gefiel oder doch ein bisschen unheimlich war, in diesem Moment von ihr abgefallen waren. Solche Tipps kamen schließlich nur von Frau zu Frau, oder nicht? Die Tatsache, dass Nick ein Mann war, war in diesem Augenblick aus ihrem Kopf verschwunden. Er hatte seine Sache gut gemacht.

Nick wendete sich ab, bis sie sich bekleidet hatte.

 

Als sie den BH angezogen hatte, trat er erneut an ihre Seite. „Sie müssen jetzt noch einmal das Gewebe an die richtige Stelle rücken. Er deutete die Bewegung vor seinem eigenen Brustkorb an und die Kundin wiederholte sie. Danach sah sie mit großen Augen in den Spiegel.

„Aber das ist ja … fantastisch! Meine Brust sieht so … groß aus.“ Sie drehte sich ein wenig hin und her.

„Nicht nur groß, sondern wunderbar geformt.“ Nick lächelte. Er liebte diesen Augenblick. „Sehen Sie, dass die Körbchen viel besser ausgefüllt werden und die ganze Brust höher sitzt? Ist das Band angenehm?“

Sie bewegte sich und schnitt eine Grimasse. „Na ja, es ist schon ganz schön eng.“

„Aber sie strecken dadurch automatisch Ihren Rücken durch. Ihre ganze Haltung verändert sich. Sehen Sie das? Sie sehen großartig aus. Wie eine Diva, die über einen roten Teppich schreitet.“

Sie errötete ein wenig unter dem Kompliment.

„Möchten Sie noch ein paar Modelle ausprobieren oder soll es dieser hier sein?“

Ihre leuchtenden Augen hingen immer noch an ihrem Spiegelbild, als könne sie es gar nicht glauben.

„Nein“, sagte sie langsam, „ich nehme diesen hier. Kann ich ihn gleich anbehalten?“

Nicks Lächeln wurde breiter. „Aber sicherlich. Ich werde Ihnen das alte Modell einpacken.“

 

Als Frau Thiede den Laden nicht nur mit einem, sondern gleich mit drei neuen BHs und den dazu passenden Höschen verlassen hatte, lehnte sich Nick gegen den Ladentisch. Er wusste schon, warum er diesen Job so liebte. Wenn er diesen besonderen Ausdruck in die Augen einer Frau bringen konnte, kam er sich manchmal ein wenig vor wie eine gute Fee aus dem Märchen. Natürlich nicht mit spitzem Hut und wallendem Ballkleid. Trotzdem hatte es jedes Mal ein bisschen was von Magie und Nick zauberte gerne. Vor allem ein Lächeln auf das Gesicht seiner Kundinnen. Es fühlte sich gut an.

„Hey, Houdini, du musst mir mal helfen. Der Abfluss im Bad streikt schon wieder.“ Lisa winkte ihm mit einem Pümpel.

Ernüchtert schüttelte Nick den Kopf. Warum musste eigentlich immer er sich darum kümmern?

Er äußerte seine Befindlichkeit und fügte hinzu: „Das ist ziemlich sexistisch.“

„Ich geb dir gleich mal sexistisch, du Pappnase. Du weißt genau, dass ich den Siphon nur deswegen nicht abgeschraubt kriege, weil du den immer so festwürgst. Also schwing deinen Hintern nach hinten und reparier das gefälligst.“

Nick seufzte übertrieben laut. „Alles, was du befiehlst, Chérie.“

Er schnappte sich das rote Gummiteil aus Lisas Händen und machte sich an die Arbeit. Es war eben nicht alles Glitzer und Regenbogen im Land der guten Feen. Manchmal musste man auch die Ärmel hochkrempeln und sich den dreckigen Seiten des Lebens stellen.

Milchbubi

Nick machte sich gerade an der Abdeckung der Schaufenster-Rückwand zu schaffen, als die Tür aufging und sich das Klackern von Stöckelschuhen mit dem Klingeln der Ladenglocke mischte. Er stellte die schwarze Platte vorsichtig auf den Boden, klopfte sich die Hände ab und drehte sich um. Da stand in ihrer vollen Pracht Renata auf der Türschwelle und neben ihr … ein Alptraum.

„Hey, ihr beiden, ich bin wieder da.“ Renatas Stimme war immer noch etwas kratzig, aber es war unverkennbar, dass sie bereits wieder fest im Sattel saß. Die Gestalt neben ihr hingegen versprach nicht viel Gutes. Nick ließ seinen Blick einmal von unten nach oben schweifen und konnte sich gerade noch davon abhalten, ein „Was ist das denn?“ von sich zu geben.

Da waren zum einen die weißen Turnschuhe, die so gar nicht zu dem draußen herrschenden, herbstlichen Wetter passten. Es folgte eine ausgeblichene Jeans, die aus mehr Löchern als Stoff zu bestehen schien. Ein weißes T-Shirt, das auch als Unterhemd hätte durchgehen können, versteckte sich nur notdürftig unter einer knappen, schwarzen Lederjacke. Das Ganze endete einem verstrubbelten dunklen Haarmob mit blondierten Spitzen. Als Krönung des Ganzen steckte in einer der dunklen Augenbrauen auch noch ein ringförmiges Piercing.
 

Lisa kam aus der Teeküche und strahlte bei Renatas Anblick von einem Ohr zum anderen. Ohne zu zögern ging sie auf ihre Chefin und dieses Ding an ihrer Seite zu.

„Hallo, mein Name ist Lisa“, sagte sie und hielt dem Jungen, bei dem es sich wohl um Renatas Neffen handeln musste, die Hand hin.

„Javier“, sagte ihr Gegenüber und schüttelte die ihm hingehaltene Hand. Dabei sprach er den Namen so aus, wie er geschrieben wurde. Mit weichem J. Renata schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Das ist nicht der Name, den deine Mutter für dich ausgesucht hat.“

Der Junge rollte mit den Augen. „Ja, Tante Nata. Aber es spricht ihn sowieso jeder so aus. Warum sich also die Mühe machen?“

In diesem Moment entdeckte er Nick und begann zu grinsen. Nick, der es für angebracht hielt, den Neuankömmling ebenfalls zu begrüßen, kam langsam näher und streckte die Hand aus.

„Hallo Javier.“ Dabei sprach er den Namen korrekt aus, mit einer Mischung aus Ch und R am Anfang. „Ich bin Nick.“

„Nick so wie in 'Nick the chick'?“

Okay, jetzt war sich Nick sicher, dass er ihn nicht leiden konnte. So gar nicht. Zu seinem Glück schickte Renata Lisa los, um Javier alles zu zeigen, sodass Nick sich wieder seinem Schaufenster zuwenden konnte. Er hörte, wie die beiden durch den Laden liefen, während Renata erst mal in ihr Büro ging, um alles zu sichten, was während ihrer Abwesenheit liegengeblieben war.
 

Nick konzentrierte sich auf seine Arbeit. Zunächst entfernte er die vorherige Dekoration und verstaute die dazu verwendeten Artikel in Kisten und Kartons, die er dafür bereitgestellt hatte. Anschließend ging er daran, das Fenster neu herzurichten. Er kleidete zunächst die beiden Mannequins ein. Eines bekam eine gewagte Komposition in strahlendem Rot, die andere ein bedeckteres Ensemble aus schwarzer Spitze übergestreift. Er korrigierte noch ein wenig an der Positionierung der Puppen herum, sodass es aussah, als würden sie einander ansehen, bevor er sich an die weitere Umgebung machte. Auf dem Boden drapierte er schwarze Schleier und rote Seidentücher. Dazwischen stellte er noch ein kleines Tischchen, auf den er einen künstlichen Totenschädel legte. Darauf war eine weiße Kerze befestigt, deren größten Teil er am Abend zuvor über den Schädel hatte tropfen lassen. Ein altes, in Leder gebundenes Buch vervollständigte die Kulisse. Nach einer kurzen Überlegung wand er noch einige Streifen schwarzen Spitzenstoff um die Tischbeine, als würden diese gerade daran emporwachsen. Zufrieden mit dem bisherigen Werk krabbelte er wieder aus dem Fenster und ging daran, den Hauptaugenmerk zu kreieren, den er sich für das Bild vorgestellt hatte. Renata würde vermutlich rummeckern, dass das Ganze eher nach Mexiko gehörte, aber wenn sie erst mal das Gesamtbild sah, würde sie sicherlich zufrieden sein. Leider hatte er auf die Schnelle keine entsprechenden Requisiten bekommen können, sodass er jetzt selbst ans Werk gehen musste, und zwei einfache, weiße Masken in stilvolle Abbilder der berühmten Zuckerschädel vom Dias de los Muertos zu verwandeln. Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne und begann zu malen.
 

„Was machst du da?“

Nick wäre beinahe die Maske aus der Hand gerutscht. Zwar konnte er das gerade noch verhindern, aber dafür zierte jetzt ein hässlicher, schwarzer Strich die untere Gesichtshälfte. Na toll! Das waren die letzten zwei Exemplare gewesen, die er im Bastelladen bekommen hatte. Eine neue kaufen und von vorne anfangen, schied somit aus.

„Arbeiten“, knurrte er und versuchte weiter, Javier, der sich neugierig zu ihm herüberbeugte, zu ignorieren.

„Sieht ja toll aus.“

Nick ging nicht darauf ein.

„Wo ist Lisa?“, fragte er stattdessen und überlegte, wie er die Maske noch retten konnte.

„Macht mir einen Tee.“ Javier steckte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans und zog sie so noch ein Stück nach unten. „Wolltest du auch einen?“

„Nein.“

Nick beschloss, den Strich in eine weitere Blumenranke zu verwandeln. Dann wäre die Maske zwar nicht mehr symmetrisch, aber immerhin sah es nicht so aus, als habe er versucht, eine Narbe zu kreieren. Narben verkauften keine Dessous.

Plötzlich schob sich eine Hand in sein Sichtfeld. Eine ausgestreckte Hand. Er sah auf und blickte in ein Paar braune Augen.

„Javier Felipe Ramos Navarro. Falls du mich lieber mit vollem Namen ansprechen willst.“

Nick runzelte die Stirn und machte keine Anstalten, die Begrüßung zu erwidern. Immerhin hatte er ja die Hände voll.

„Ich kann auch 'Herr Kaufmann' zu dir sagen, wenn es das irgendwie besser macht.“

Nick presste die Lippen aufeinander. Renata hatte also von ihm erzählt. Das erklärte so einiges. Und es machte es keinen Deut besser.

Javier zog seine Hand wieder zurück, um sie in seiner Hosentasche zu versenken. Die Jeans rutschte noch ein Stück weiter nach unten und entblößte etwas braune Haut und einen schwarzen Gummibund. Nick stöhnte lautlos und wandte sich wieder seiner Maske zu. Deren schmaler Mund schien sich in einem spöttischen Lächeln zu kräuseln.

„Dekorierst du das Schaufenster?“

Javier gab es nicht auf, mit ihm Konversation betreiben zu wollen. Allerdings fiel Nick in diesem Moment ein, dass er Renata ja versprochen hatte, sich um den Jungen zu kümmern. Also musste er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ihm antworten.

„Ja, das tue ich. Wenn du mir helfen willst, kannst du mal die Kartons nach hinten tragen. Da sind die alten Sachen drin.“

„Geht klar.“

Javier beugte sich auf eine Weise nach unten, die Nick nur als obszön bezeichnen konnte, und fischte einen kleinen Karton vom Boden. Er wedelte damit herum. „Wo soll der hin?“

Jetzt hatte Nick endgültig die Nase voll. Er legte die Maske weg, nahm den winzigen Karton aus Javiers Hand, stellte ihn auf die zwei größeren Kisten und drückte dem verdutzten Jungen den ganzen Stapel in die Arme.

„Rechts die Tür neben der Teeküche. Dann kannst du gleich mal Lisa fragen, ob sie die alten Vorhänge von den Kabinen noch hat. Wenn ja, soll sie dir die geben. Die Leiter, gleich links neben dem Eingang brauche ich auch. Schaffst du das?“

Javier öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn jedoch wieder und grinste Nick an.

„Wird gemacht, Chef.“

„Gut. Und bring auch noch den Werkzeugkasten mit. Ich muss da noch was anbringen.“

„Okay.“

Nick sah Javier nach, der mit seiner Last durch die Reihen balancierte, und schüttelte leicht den Kopf. Was genau er von der Sache halten sollte, wusste er noch nicht, aber eines stand ohne Zweifel fest: Die Zusammenarbeit mit Javier würde nicht einfach werden.
 

Den Beweis dafür bekam Nick ungefähr zehn Minuten später, als er auf der Leiter stand und versuchte, einen Haken in die Holzdecke über dem Schaufenster zu drehen. Er wollte daran den roten Samtstoff drapieren, sodass das Schaufenster wie eine Theaterbühne wirkte. Als er sich umdrehte, um Javier nach einer Zange zu fragen, erwischte er diesen dabei, wie er ihm unmissverständlich auf den Hintern schaute. Als er Nicks Blick bemerkte, wackelte er mit den Augenbrauen.

„Nette Aussicht von hier unten.“

Nicks Finger umklammerten die letzte Stufe der Leiter. Also gut, er hatte es auf die nette Art versucht, aber wenn Javier darauf bestand ...

„Bei der Arbeitseinstellung wundert es mich nicht, dass du aus deinen letzten zwei Stellen rausgeflogen bist.“

In Javiers Augen blitzte es auf. „Ich bin nicht geflogen, ich habe gekündigt. Die in der Bank haben verlangt, dass ich in Hemd und Anzug rumlaufe wie ein verdammter Pinguin. Und eine Krawatte sollte ich tragen. So ein Ding schnürt doch die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn ab.“

Nick, der heute eine Krawatte trug, ging nicht auf die Spitze ein. „Und die zweite Stelle?“

Javier senkte den Blick. „Die war auch nichts. Nicht meine Branche.“

„Was ist denn deine Branche?“ Er verkniff sich ein „Pornos drehen?“ hinten dranzuhängen.

„Keine Ahnung“, fauchte der Junge jetzt und schien ernsthaft wütend. „Deswegen bin ich ja hier, oder nicht? Damit ich rausfinde, was ich mit meinem verfickten Leben anfangen kann.“

„Wenn ich das einmal höre, wenn eine Kundin hier drinnen ist, fliegst du hier auch achtkantig raus.“ Nick wollte noch etwas anfügen, als plötzlich die Ladentür geöffnet wurde und tatsächlich jemand hereinkam. Er schickte Javier noch einen warnenden Blick, stieg von der Leiter und eilte zum Eingang.
 

„Kann ich Ihnen ...“ Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er sah, dass sich die Frau mit einem sperrigen Gefährt abmühte, das einfach nicht über die Stufe am Ladeneingang fahren wollte. Es dauerte eine Weile, bis er auf die Idee kam, die Tür aufzuhalten, damit die Kundin den Buggy hineinbefördern konnte. Sie lächelte Nick dankbar an.

„Oh, danke sehr. Ich hasse dieses Ding. Normalerweise hab ich Anton ja in der Trage, aber beim Einkaufen ist es ganz praktisch, den Wagen dabeizuhaben, um das ganze Zeug darin abzuladen.“

Sie schloss die Tür und schnaufte. Ihre Wangen waren rosig und ihre Augen funkelten unternehmungslustig, auch wenn deutliche Schatten darunter lagen. „Ist Lisa da?“

Lisa? Lisa! Genau. Seine Rettung. Er musste sofort Lisa holen.

„Lisa! Kundschaft!“

Der Vorhang zum hinteren Bereich öffnete sich und Lisa kam mit zwei Teetassen herein. Als sie die Frau erblickte, begann sie zu strahlen. „Hi, Nicole! Lange nicht gesehen.“

Die Frauen ergingen sich in einer gründlichen Umarmung, nachdem Lisa Nick kurzerhand die beiden Teetassen in die Hand gedrückt hatte.

„Wie geht es dir?“

„Ach, eigentlich ganz gut, wenn Anton nicht schon wieder Zähne kriegen würde. Der knöttert die ganze Nacht herum und lässt mich nicht schlafen. Aber ansonsten ganz prima.“

Nick lauschte dem Entzückensschrei, der Lisa entfuhr, als sie erwähnten Anton in seinem Wagen entdeckte, der das ganze mit undefinierbaren Babylauten über sich ergehen ließ. Das entsprach auch ungefähr Nicks geistigem Zustand. Als ihm plötzlich eine der Teetassen abgenommen wurde, sah er irritiert zur Seite. Javier blies in die Tasse.

„Das ist doch meine, oder?“ Er nahm einen Schluck.

Nick nickte nur. Es war nicht so, dass er etwas gegen Babys hatte. Es war nur so, dass die etwas gegen ihn hatten. Wann immer er in den zweifelhaften Genuss kam, eines dieser dauersabbernden Geschöpfe auf den Arm nehmen zu müssen, begann es sofort in den höchsten Tönen zu kreischen. Eines hatte sich sogar mal auf ihm erbrochen und Nick hatte daraufhin den ganzen Tag dezent nach vergorener Milch gerochen. Das war keine Erfahrung, die er wiederholen wollte. Dummerweise hatte das „El Corpiño“ auch einen gewissen Ruf, was den Vertrieb von …
 

„Ich brauche unbedingt einen neuen Still-BH.“ Lisa und ihre Freundin hatten ihre Freundschaftsbekundungen inzwischen beendet und waren zum wahren Grund von Nicoles Anwesenheit durchgedrungen. „Wenn ich gewusst hätte, dass es die Dinger auch in schön gibt, wäre ich ja gleich zu euch gekommen. Aber als ich dann Babsis beim letzten Still-Treff gesehen habe, hab ich sie gleich gefragt, wo sie den herhat. Ich hätte mir gegen die Stirn schlagen können, dass ich nicht gleich drauf gekommen bin.“

„Das nennt sich Still-Demenz“, antwortete Lisa mit einem Grinsen. Sie sah zu Nick. „Soll ich das Vermessen übernehmen?“

Nick war immer noch wie erstarrt. Wenn es um Still-BHs ging, war ein entsprechendes Fitting für ihn vergleichbar mit der Wahl zwischen Pest und Cholera. Denn falls man Lisas Freundinnen, die bereits Nachwuchs hatten, glauben konnte, waren die Brüste stillender Mütter quasi immersprudelnde Milchquellen, die bei der kleinsten Berührung oder – noch schlimmer – beim leisesten Baby-Quieks anfingen, das weiße Gold in Strömen zu vergießen. Da gab es Geschichten von handtellergroßen nassen Flecken auf farbigen T-Shirts beim Einkaufen und ähnlichen peinlichen Pannen. Und da sich die ach-so-gleichberechtigten Väter leider beim Kauf von Still-BHs trotzdem rar machten, blieb es, wenn die entsprechende Mutter sich nicht erbarmt hatte, eine Freundin mitzubringen, meist an Nick hängen, sich während der Beratung um den brabbelnden Anhang zu kümmern. Er hätte natürlich Renata rufen können, aber …

„Nick und ich werden uns um das Kind kümmern.“

Nick blinzelte überrascht, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Da Javier ein Stück kleiner war als er, hatte er sich damit begnügt, seine linke Hand auf Nicks rechter Schulter zu platzieren. Als er Nicks Blick bemerkte, drehte er sich halb zu ihm herum und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Nick stellte fest, dass Pest sich doch gar nicht so schlecht anhörte, wenn Cholera hieß, dass er zusammen mit Javier auf den Knirps aufpassen musste.

„Das ist super“, strahlte Nicole sie an. „Er ist auch ganz pflegeleicht. Wenn er anfängt zu weinen, müsst ihr ihn nur aus dem Wagen nehmen und ihn ein bisschen rumgucken lassen. Das liebt er. Besonders Spiegel sind gerade total in.“

„Na ein Spiegel wird sich wohl finden lassen“, versicherte Javier und beugte sich zu dem Kind herab, das ihn mit großen Augen ansah. „Nicht wahr, kleiner Mann, wir werden schon miteinander klarkommen. Wie alt ist er denn?“

„Sieben Monate.“

Das Baby gluckste freudig und versuchte, sich seine ganze Hand in den Mund zu stecken. Dabei sabberte es wie ein Weltmeister und strampelte mit den Füßen. Lisa verschwand mit ihrer Kundin im Fitting-Bereich und ließ Nick, Javier und das Baby allein.

Nick merkte, dass er schwitzte. Möglichst unauffällig wischte er sich die Handflächen an seiner Hose ab.

„Mach dir mal nicht ins Hemd, Nick“, sagte Javier, während er den kleinen Anton an den Füßen kitzelte. „Die meisten Babys fangen erst später an zu fremdeln.“

„Aha.“ Was immer das auch hieß. „Und das weißt du woher?“

Javier machte Grimassen, was Anton interessiert verfolgte und sogar vergaß, an seiner Hand zu kauen. Ein Spuckefaden lief ungebremst nach unten und durchtränkte den Kragen seiner Jacke.

„Hab früher mal nebenbei Kohle mit Babysitten verdient. Bei uns in der Straße gab's ne ganze Menge von den kleinen Hosenscheißern. Ich kann ganz gut mit denen.“

Obwohl Anton keinen Laut des Unmuts von sich gegeben hatte, löste Javier jetzt die Gurtschlösser und nahm das Kind auf den Arm. Für einen kurzen Augenblick, sah es aus, als wolle Anton anfangen, sich darüber zu beschweren. Aber als Javier anfing, mit ihm durch den Laden zu gehen und ihm irgendwas auf Spanisch zu erzählen, gab er sofort wieder Ruhe und hörte zu, was der große Typ mit der windigen Frisur und der Lederjacke so von sich gab. Nick sah ihm nach und musste zugeben, dass es zumindest einen Vorteil hatte, dass Javier jetzt im Laden war. In Zukunft würde er derjenige sein, der von den Babys vollgekotzt wurde.

 

Wichsvorlage

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Einer von uns

Nick hatte hervorragende Laune. Das Pärchen, hinter dem sich gerade die Ladentür schloss, war höchst zufrieden mit seinem Service gewesen und der Mann – es war derjenige, der seiner Frau beinahe den Geburtstag vermasselt hatte – hatte Nick sogar ein Trinkgeld zustecken wollen. Nick hatte das natürlich abgelehnt, aber die Geste an sich war angekommen. Beschwingt ging er zurück in den Fittingbereich, wo Javier sich gerade damit abmühte, die übriggebliebenen BHs wieder auf die dazugehörigen Bügel zu friemeln. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und wirkte hochkonzentriert. Nick musste feststellen, dass sich das Erscheinungsbild ihres Praktikanten durchaus zum besseren gewandelt hatte. Frisur und Piercing waren zwar immer noch vorhanden, aber er trug heute eine Jeans ohne Löcher und das schwarze T-Shirt, das von irgendeinem Bandnamen geziert wurde, war auch nur ein ganz kleines bisschen zu eng, sodass jedes Mal, wenn er sich bückte oder streckte, ein Streifen Haut oberhalb seines Hosenbundes sichtbar wurde. Zum Glück war das bei seiner jetzigen Tätigkeit nicht notwendig.

„Nicht mit Gewalt“, erklärte Nick noch einmal, nahm Javier den malträtierten BH aus der Hand und fädelte die spitzenbesetzten Träger mit einigen geschickten Handgriffen um die winzigen Haken, sodass das Ganze wieder aussah wie frisch aus dem Katalog. Er schwenkte es vor Javiers Nase hin und her. „Siehst du, ganz einfach.“

Der Junge schnaubte abfällig. „Wenn man auf so was steht, bestimmt.“ Als wäre ihm etwas eingefallen, begann er plötzlich zu grinsen.

„Das ist es, oder?“, fragte er und griente Nick ungeniert an. „Du arbeitest hier, weil du auf den Kram stehst. Strapse und so.“

Nick öffnete schon den Mund, um zu antworten, dass er schöne Dessous durchaus reizvoll fand, als ihm einfiel, dass das jetzt irgendwie komisch ankommen könnte. Sein Zögern bei der Antwort wurde von Javier allerdings vollkommen falsch ausgelegt.

„Ha, ich glaub's ja nicht. Ziehst du das Zeug etwa selber an? Die Figur dazu hättest du ja.“

Nick schloss die Augen und atmete tief durch. Seit fünf Tagen musste er sich diesen anzüglichen Mist bei allen möglichen Gelegenheiten anhören. Manchmal war es ihm zwar gelungen, Javier an Lisa abzuschieben, aber früher oder später hatte Renatas Neffe ihm wieder an den Hacken geklebt. Renata selbst hatte sich in ihrem Büro verschanzt und irgendwas von 'Steuererklärung' gemurmelt. Vermutlich versuchte sie, schon einmal Ordnung in ihre Unterlagen zu bringen, die sie zum Jahresabschluss dem Finanzamt vorlegen musste. Wobei sich Nick auch nicht gewundert hätte, wenn sie einfach genug von dem Plagegeist hatte, der seinen Informationen nach im Gästezimmer seiner Tante wohnte und sie somit auch außerhalb der Geschäftszeiten zum Wahnsinn treiben konnte. Nick war wirklich nicht böse darüber, dass heute schon Samstag war und das „El Corpiño“ bei aller Liebe sonntags geschlossen war.

Er öffnete die Augen wieder und sah Javier, der immer noch vor sich hin feixte, genau in die Augen.

„Jetzt hör mir mal zu“, knurrte er und legte vorsichtshalber den BH zur Seite. „Wenn ich hier im Geschäft bin, ist es vollkommen unerheblich, ob ich zu Hause in meinen eigenen vier Wänden als regenbogenfarbiges Einhorn oder SM-Jünger in Lack und Leder herumlaufe. Hier bin ich Angestellter und dafür da, die Wünsche der Kunden zu erfüllen. Ich bin dabei vollkommen irrelevant. Was zählt, ist das, was die Kundinnen wollen. Also sei so gut und hör endlich auf, mich hier im Laden anzubaggern oder was auch immer das sein soll, was du da für eine Show abziehst. Lass es einfach. Verstanden?“

Javier legte den Kopf schief. „Das war kein Nein.“

Nick blinzelte. „Wie? Was meinst du?“

„Das war kein Nein auf die Frage, ob du Strapse trägst.“

Nick hätte am liebsten geschrien. Doch was er darauf erwidern wollte, ging im Klingeln der Ladenglocke und einem gekreischten „Nicky!“ unter. Im nächsten Moment hatte er einen Arm voller Blondine, die ihn glücklich anstrahlte.

„Es hat geklappt“, flüsterte Alexandra ihm ins Ohr unter dem Vorwand, ihm ein Küsschen zu verpassen. „Natascha hat mir vollkommen verziehen und sich sogar bereit erklärt, mit mir heute herzukommen.“

„Das ist toll“, wisperte er zurück. „Ich freu mich für dich.“

Er wurde aus der eisernen Umklammerung entlassen und drehte sich zu der etwas verlegen wirkenden Natascha um, die leicht die Hand hob und ihm zuwinkte.

„Hi“, sagte sie. „Alex hat gemeint, wir müssten unbedingt hier vorbeikommen, um … na ja.“ Sie warf einen schrägen Blick auf Javier.

„Das ist der Neffe der Besitzerin“, erklärte Nick. „Er macht hier ein Praktikum.“

„Ach echt? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.“ Alexandras Ton war leicht vorwurfsvoll.

Nick lächelte schief und zuckte die Schultern. „War irgendwie keine Zeit dazu.“

Was nicht stimmte. Nach Renatas Ankündigung hatten die beiden einen regnerischen Abend zusammen auf der Couch verbracht und Alexandra hatte dabei endlos von ihrer neuen Freundin geschwärmt, während Richard Gere zum 103. Mal Julia Roberts von der Straße in sein Leben holte. Natürlich hätte Nick dabei erwähnen können, was ihm bevorstand, aber er hatte es aus gutem Grund vorgezogen, das nicht zu tun.

Alexandra musterte Javier von oben bis unten und fragte dann geradeheraus: „Ist er einer von uns?“

Während Natascha sich offensichtlich wünschte, gerade ganz woanders zu sein, und Javier nur verständnislos aus der Wäsche schaute, wusste Nick ganz genau, worum es ging.

„Ja, ist er, aber ich bin nicht interessiert.“

„Warum nicht?“

„Al~ex!“

So ging das jedes Mal, wenn Alexandra sich mal wieder Hals über Kopf verliebt hatte. Dann wollte sie am liebsten die ganze Welt rosa streichen und konnte überhaupt nicht verstehen, dass ihr bester Freund immer noch Single war. Einem nimmermüden Bluthund gleich, suchte sie ständig nach Gelegenheiten, um ihn zu verkuppeln. Inzwischen wusste er, dass er sich auf Verabredungen mit Alexandra in diesem Zustand am besten gar nicht erst einließ, denn irgendwann tauchte immer „rein zufällig“ irgendein Typ auf, den sie ihm unbedingt vorstellen musste. Zu seinem Glück hielten ihre Liebschaften meist nicht lange, sodass sie hinterher wieder in Ruhe zu Hause abhängen und Alexandras Liebeskummer in Prosecco und selbstgebackenen Brownies ertränken konnten.

Javier, der mittlerweile verstanden hatte, worum es ging, gesellte sich zu Natascha.

„Wo habt ihr euch kennengelernt?“, wollte er wissen.

Natascha schob ihre Brille zurecht. „Im Fitnessstudio. Alexandra arbeitet da.“

„Sie ist gelernte Krankenschwester, aber da das Krankenhaus im nächsten Ort dichtgemacht hat, arbeitet sie zurzeit dort.“ Nick fühlte sich irgendwie genötigt, das einzuwerfen. Er wollte nicht, dass Javier ein falsches Bild von Alexandra bekam, die sichtbar auf Wolke Sieben schwebte und wie ein aufgeregtes Hündchen im Laden herumtänzelte. Irgendwann hängte sie sich bei Natascha ein und strahlte ihre Freundin an.

„Was sagst du? Wollen wir jetzt mal sehen, was Nick hier so für einen Zauber veranstaltet? Ich schwöre dir, der Mann hat magische Hände.“

Nick wäre am liebsten im Boden versunken. Er hatte Alexandra im Vertrauen von dieser Zaubergeschichte erzählt, aber natürlich konnte die ihren Mund mal wieder nicht halten.

Javier zog auf Nataschas anderer Seite die Augenbrauen hoch und sah Nick erwartungsvoll an. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Eigentlich hatte Nick es Lisa oder Renata überlassen wollen, Javier mal zu einem Fitting mitzunehmen. Er brauchte dabei seine Konzentration und nicht einen Teenager, der ihm die ganze Zeit auf die Finger schaute. Zumindest nahm er an, dass Javier noch ein Teenager war. Er hatte nicht gefragt.

„Wenn du möchtest, kann ich dich gerne mal vermessen“, bot er Natascha an. „Javier kann ja so lange zu Lisa gehen.“

„Ach was, er kann gerne bleiben“, beeilte Natascha sich zu versichern. Wahrscheinlich wollte sie einen guten Eindruck machen und den ominösen Nick, von dem Alexandra vermutlich schon erzählt hatte, nicht verärgern.

Eben jenen Nick, der gerade begann, etwas nervös zu werden. „Nein, kein Ding. Es wäre ohnehin ziemlich eng, wenn wir alle da drin rumhängen.“

„Dann bleibe ich draußen“, schlug Alexandra vor. „Ich lasse mich eh lieber überraschen und gucke mal, ob ich noch was Schönes für mich finde.“

Sie drückte Natascha noch einen schnellen Kuss auf den Mund und stolzierte dann in Richtung Kleiderständer davon.

„Also wenn es dir wirklich nichts ausmacht, komme ich gerne mit“, warf nun auch Javier wenig hilfreich ein. Nick stöhnte innerlich. Das Ganze musste ja in einer Katastrophe enden. Aber er war schließlich Profi, er würde sich zusammenreißen. Schnell verformte er sein Gesicht zu einem Lächeln.

„Na klar, lasst uns anfangen. Wollen wir?“

 

Er begleitete Natascha und Javier in den Fittingbereich und zog den Vorhang zu. Während Natascha anfing, Jacke und Handtasche auf dem Sofa abzulegen, lehnte Javier sich neben dem Spiegel an die Wand und steckte die Hände in die Hosentaschen. Sein Blick ruhte auf Nick.

„Okay“, rief der, „dann würde ich dich bitten, dich mal freizumachen. Damit ich Maß nehmen kann.“

Natascha zog sich ihren Pullover über den Kopf und legte ihn zu den anderen Sachen. Als sie Anstalten machte, auch noch ihren BH auszuziehen, bremste Nick sie schnell.

„Das wird nicht notwendig sein. Ich kann das auch so vermessen.“

Alexandras Freundin schien darüber etwas erleichtert zu sein. Sie stellte sich vor den Spiegel und Nick ließ sie ihre Brüste anheben, um den Umfang des Brustkorbs zu messen. Wie so oft würde er ein weitaus engeres Unterbrustband empfehlen müssen, als sie jetzt trug, auch wenn sie ein relativ breites Kreuz hatte. Der Unterschied zum Gesamtbrustumfang war jedoch nur gering. Die Kilos, die Natascha abzutrainieren trachtete, saßen eher auf den Hüften.

„Ich tippe mal auf eine 75 C“, sagte er, während er das Maßband zusammenrollte.

„C?“ Natascha sah ihn ungläubig an. „Aber das ist doch viel zu groß. Und in 75 passe ich doch niemals rein. Das schneidet doch bestimmt ein und gibt Falten.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Nick beeilte sich, ihr einen Morgenmantel zu reichen. Die Stimmung war dabei zu kippen. Er spürte das deutlich. Aber Nick hatte nicht vor, sich ins Schlingern bringen zu lassen. Er atmete kurz durch, versuchte, den immer noch neben dem Spiegel herumlungernden Javier zu ignorieren, und konzertierte sich endlich vollkommen auf Natascha.

„BHs haben Kreuzgrößen. Das heißt, dass sich die Größe der Cups auch nach dem Umfang richtet. Der BH, den du trägst, hat schon die richtige Cup-Größe, aber dadurch, dass das Unterbrustband nicht sitzt und der BH die falsche Form für deine Brust hat, kommt gar nicht die volle Größe zum Tragen. Und vor Falten brauchst du dich auch nicht zu fürchten. Ein BH, der wirklich passt, bleibt an Ort und Stelle und schnürt nicht ein. Durch die Half-Cups, die ich für dich im Auge habe, wird ein schönes Dekolletee gebildet, mit dem du auch mal was Ausgeschnittenes tragen kannst. Das lenkt die Aufmerksamkeit nach oben.“

Natascha schien noch nicht überzeugt, aber als Nick kurz darauf mit dem anvisierten Modell zurückkam, ließ sie sich doch dazu überreden, ihn mal anzuprobieren. Nick drehte sich von ihr weg und platzierte sich zudem so, dass er Javier den Blick verstellte. Der öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber Nick hob den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte leicht den Kopf. Zu seinem großen Erstaunen, klappte Javier den Mund tatsächlich wieder zu. In seinem Blick lag etwas, das Nick nicht zu deuten wusste. Er hatte jedoch keine Zeit, sich groß darüber Gedanken zu machen, denn Natascha war mit der Anprobe fertig und drehte sich ganz entzückt vor dem Spiegel.

„Wow“, sagte sie. „Das sieht ja wirklich ganz anders aus. Aber die Spitze kratzt. Hast du vielleicht noch was ohne? Und in weiß? Ich mag's eher schlicht.“

„Natürlich, kein Problem.“ Er lief los und kam mit einem einfacheren Modell zurück. Nachdem Natascha sich entschieden hatte, ihn zu nehmen, trat Nick zu ihr und hielt ihr noch einen zweiten BH hin. Er war aus schwarzer Seide mit kleinen Nadelstreifen und einem winzigen, weißen Spitzenrand.

„Den hier kannst du ja vielleicht zu Hause mal anprobieren. Wenn er nicht passt, bringst du ihn einfach zurück.“

„Ich dachte, das geht bei Unterwäsche nicht.“

Er lächelte und zwinkerte ihr zu. „Wenn man den Verkäufer kennt, ist das kein Problem.“

Sie begann zum ersten Mal während der ganzen Anprobe zu grinsen. „Okay, ich glaube, ich nehme ihn mal mit. Man braucht ja schließlich ein Modell zum Wechseln. Wenn der andere mal in der Wäsche ist.“

„Nicht wahr?“, pflichtete Nick ihr bei. „Alles andere wäre furchtbar unvernünftig und reine Geldverschwendung.“

Sie lächelte jetzt über das ganze Gesicht und Nick wusste, dass seine Arbeit getan war. Er nahm den ersten BH wieder an sich, winkte Javier ihm zu folgen, und trat aus der Kabine. Er ging zwischen den Kleiderständern dorthin, wo er den BH geholt hatte, und hängte ihn wieder an den angestammten Platz. Als er sich umdrehte, stand Javier direkt vor ihm.

„Das war … gar nicht übel“, sagte er mit leichtem Zögern. Damit ließ er Nick stehen und trollte sich zu Lisa, die sich damit abmühte, eine verkantete Vitrinenschublade wieder an Ort und Stelle zu bringen. Nick sah ihm nach und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.

 

„Und? Hat er wieder gezaubert?“ Alexandra hüpfte förmlich auf und ab vor Vorfreude.

„Er war sehr zuvorkommend“, antwortete Natascha und schwenkte ihre Einkaufstüte mit dem schwarzen Mieder-Logo. „Ich bin fündig geworden.“

„Super, dann müssen wir deinen Fang heute Abend ausführen. Was meint ihr, Jungs? Wollen wir was zusammen machen?“

Nick wünschte sich zurück in die Fitting-Kabine.

„Klar, warum nicht?“ Javier zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. „Ich habe ja keine Ahnung, wo man hier hingeht. Meine Familie wohnt ein ganzes Stück weiter südlich.“

„Oh, wir müssen unbedingt ins Flamingo. Das ist die neue Gay-Bar auf der Meile. Die haben eine gute Cocktailkarte und man kann super tanzen. Das ist dann auch etwas für unseren lieben Nicky.“

Tanzen? Das war das Stichwort. Die Rettung in letzter Sekunde.

„Kann nicht“, würgte er jeden weiteren Versuch, ihn in irgendwelche zwielichtigen Kaschemmen zu schleifen, vorzeitig ab. „Ich muss heute Abend in die Tanzschule. Abend-Kurs. Danach bin ich völlig erledigt. Von daher keine Nachtschicht für mich.“

Alexandra zog einen Schmollmund. „Kommen die nicht mal ohne dich aus?“

Nick gab ein tadelndes Zungenschnalzen von sich. „Alex, sei nicht so egoistisch. Die Damen dort haben leider nicht alle so eine reizende Begleitung, die mit ihnen ausgeht. Willst du etwa dafür verantwortlich sein, dass deine Geschlechtsgenossinnen gelangweilt und allein herumsitzen müssen, nur weil wir uns amüsieren wollen? Wo bleibt dein soziales Engagement?“

„Jaja, als wenn du das nur aus reiner Herzensgüte machen würdest. Nick ist nämlich Eintänzer.“

„Gastherr“, korrigierte er. „Und ja, ich mache das aus reiner Herzensgüte. Bezahlt werde ich dafür nämlichnicht.“

Natascha gluckste amüsiert. „Gastherr? So was hatte ich mal im Anfängerkurs. Er hieß Friedemann und hatte immer fürchterlichen Mundgeruch. Irgendwann habe ich ihm mal Pfefferminz mitgebracht. Danach hat er nie wieder mit mir geredet.“

„Siehst du, und so einer ist Nick auch.“ Alexandra grinste breit und streckte ihm die Zunge raus. Nickt ertrug das mit einem freundlichen Lächeln. Er war nur glücklich, dass er aus dem Schneider war. Sollten die drei ruhig alleine irgendwelche Clubs unsicher machen. Ganz kurz überlegte er, was Renata wohl dazu sagen würde, wenn er ihren Neffen mit Alex und ihrer Freundin losziehen ließ, aber dann beschloss er, dass er schließlich nicht Javiers Babysitter war. Der Junge würde schon klarkommen, wenn Renata ihm den Ausgang überhaupt erlaubte.

Nick beobachtete noch, wie Alexandra und Javier Nummern austauschten, dann griff er selbst nach seinem Handy und verzog sich ins Lager, um in Erfahrung zu bringen, ob die Tanzveranstaltung, die er gerade eben erfunden hatte, überhaupt stattfinden würde. Er musste zugeben, dass er sich fast darüber freuen würde, wenn es so war.

Paso Doble

Das Licht im Saal war gedämmt und der dunkle Parkettboden spiegelte die weißen Tischtücher und herbstlichen Blumenarrangements, die auf den kleinen Tischen rund um die Tanzfläche verteilt waren. Nick konnte vom Foyer aus erkennen, dass einige bereits besetzt waren, und er war sich sicher, dass sich die Reihen bald noch mehr füllen würden. Er lächelte der Dame an der Garderobe zu.

„Nur den Mantel bitte.“

Sie reichte ihm einen Chip mit einer Nummer über die Theke. „Bitte sehr. Und nicht verlieren, sonst kann ich Ihnen die Sachen nachher nicht herausgeben.“

Nick nickte artig. „Keine Sorge, ich werde gut darauf aufpassen.“

Er steckte den Chip in die Hosentasche und betrat den Saal. Er war schon auf verschiedenen solcher Veranstaltungen gewesen. Mottopartys unter dem Banner von Schlager, 70er, 80er, 90er, ja sogar Swing und Rock'n Roll hatte es gegeben. Nachmittägliche Tanztees mit einem Publikum zwischen 14 und 24 oder alternativ ab 60 aufwärts. Latino-Festivals oder Abende, an denen nur die klassischen Standard-Tänze gespielt wurden. Nick war, was das anging, nicht wählerisch. Obwohl es natürlich Veranstaltungen gab, zu denen er lieber ging als zu anderen. Abende wie dieser gehörten dazu, wenn die Gäste in feiner Garderobe zum Tanzvergnügen kamen, statt sich den Abend vor dem Fernseher oder im Kino zu vertreiben.

Nicks persönlicher Favorit war die Zeit gewesen, als die Kinofassung von 'The Great Gatsby' einen wahren Boom an Tanzpartys im Stil der 20er Jahre ausgelöst hatten. Dass er den Vornamen mit der Hauptfigur des Films teilte, hatte nur einen Teil der Faszination ausgemacht. Die Epoche, die man gemeinhin 'Die Goldenen Zwanziger' nannte, übte einen unheimlichen Reiz auf Nick aus. Die Musik, die Mode, der ganze Lebensstil waren etwas, das er sich wünschte, einmal hautnah mitzuerleben. Sein Wohnzimmer beherbergte daher eine ganz beachtliche Sammlung von DVDs und CDs sowie Bücher rund um das Goldene Zeitalter. Er erinnerte sich daran, dass Alexandra ihn so spöttisch 'Eintänzer' genannt hatte. Nick konnte sich durchaus vorstellen, dass er damals vielleicht tatsächlich einer dieser Herren gewesen wäre, die von Hotels und Tanzsälen dazu angestellt wurden, alleinstehende Damen zum Tanz aufzufordern, nachdem der Erste Weltkrieg einen eklatanten Mangel an männlichen Tanzpartnern verursacht hatte. Heutzutage hingegen war es eher so, dass die Herren der Schöpfung, sich einfach nicht so gern auf der Tanzfläche zeigen wollten. Was früher zum guten Ton gehört hatte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit, auch wenn Fernsehsendungen wie 'Let's Dance' dem Ganzen nochmal einen gewissen Aufschwung gegeben hatten. Nick hingegen liebte die Herausforderung, sich dem wechselnden Takt der verschiedenen Tänze anzupassen und vor allem natürlich seiner Tanzdame einen schönen Abend zu bereiten.

 

Mit zielgerichteten Schritten ging er zum Kopfende des Saals, wo ihn Rainer, der Besitzer der Tanzschule Petzold, bereits erwartete. Über den Tischen schwebte ein klassischer Walzer.

„Ah, Nick, schön dass du kommen konntest. Ich war schon drauf und dran, dich anzurufen, nachdem Robert und Martin beide für heute abgesagt hatten. Wir bräuchten auch noch jemand für den Fortgeschrittenen-Kurs am Donnerstag. Hättest du Zeit?“

Sich von nervös kichernden Sechzehnjährigen auf die Füße treten zu lassen, war zwar nicht gerade Nicks Lieblingsbeschäftigung, aber warum eigentlich nicht? Es war ja nicht so, dass er etwas Besseres vorhatte.

„Na klar, du kannst auf mich zählen. Eröffnest du nachher mit Carola?“

„Ah, ich würde ja, aber mein Kreuzband ist immer noch nicht wieder ganz in Ordnung. Würdest du das übernehmen?“

„Kein Problem. Irgendwelche besonders einsamen Herzen heute?“

„Der rechte Flügel gehört quasi ganz dir. Die Grippewelle scheint dieses Jahr nur die tanzwilligen Männer zu erwischen.“

Nick ließ den Blick unauffällig über die Tische schweifen. Dort saßen zwei ältere Damen mit grauen Lockenfrisuren. Erfahrungsgemäß würden die beiden mit ein oder zwei Tänzen an diesem Abend zufrieden sein. Drei weitere Frauen mittleren Alters, von denen Nick eine schon von anderen Veranstaltungen kannte, saßen jeweils allein an einem Tisch. Sie würde er sicher öfter auffordern müssen. Eine vierte setzte sich gerade, erhielt jedoch kurz darauf Begleitung von einem Herrn im Anzug, der sich vermutlich um die Garderobe gekümmert hatte. Keine allzu große Gruppe, die er versorgen musste Vermutlich würde er dabei nicht in Schweiß kommen.

 

Das Licht im Saal wurde ähnlich wie bei einer Theaterpause zweimal abgedunkelt, bevor Rainer mit einem strahlenden Lächeln die Tanzfläche betrat. Er wartete ab, bis sich die letzten Gäste gesetzt hatten, bevor er seine Eröffnungsrede begann.

„Meine Damen und Herren, ich darf Sie ganz herzlich hier bei unserer Tanzparty begrüßen. Wir wollen heute Abend Spaß haben und ordentlich das Tanzbein schwingen, wie man so schön sagt. Weil mein eigenes mich allerdings gerade ein wenig im Stich lässt, werde ich jetzt meine wunderbare Begleiterin Carola und unseren fleißigen Gastherren Nick auf die Tanzfläche bitten, um diese für uns zu eröffnen. Sie sind natürlich alle eingeladen, die beiden tatkräftig zu unterstützen.

Er begann die Hände zusammenzuschlagen und die anwesenden Gäste fielen in den Applaus ein, während Nick Carola am ausgestreckten Arm auf die Tanzfläche führte. Er spürte den Boden unter den dünnen Rauledersohlen seiner glänzend polierten Tanzschuhe, sein schwarzer Anzug war ohne das geringste Staubkorn, das weiße Hemd faltenfrei gebügelt. Statt einer Krawatte zierte heute eine schwarze Fliege seinen Hals. Er lächelte, allerdings nicht so breit, wie es Turniertänzer bei einer Vorführung zu tun pflegten. Das hier war schließlich keine Show und er wollte hier keinen Eindruck schinden, sondern einfach nur eines: tanzen.

 

Als die ersten Takte, von „Hijo de la Luna“ durch den Raum klangen, konnte Nick sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Ein Wiener Walzer war nicht unbedingt die beste Wahl, um eine Tanzveranstaltung zu eröffnen, und auch wieder doch. Er erlaubte eine raumgreifende Einführung, die die anderen Paare dazu einlud, sich den ersten Tänzern auf der Fläche anzuschließen. Vermutlich würde Rainer das Lied irgendwo gegen Ende ausblenden und dann einen einfacheren Diskofox auflegen, aber für den Moment waren er und Carola allein mit sich und der Legende vom Mond.

Renata hatte ihm den Text irgendwann mal übersetzt, als sie gehört hatte, dass er das Lied im Laden vor sich hingesummt hatte. Es handelte von einer Frau, die sich hilfesuchend an den Mond wandte, um den Mann ihrer Träume zu bekommen. Als die Frau später ein Kind gebar, war es jedoch nicht dunkel wie sie und der Zigeuner, in den sie sich verliebt hatte, sondern weiß wie das Fell eines Hermelins. Der Mann tötete daraufhin die Frau, weil er glaubte, dass sie ihn betrogen hatte, und brachte dem Mond das Kind zurück. Es wurde zum „Hijo de la Luna“, zum Sohn des Mondes. Wann immer der Mond nun voll am Himmel stand, so hieß es in dem Lied, ginge es dem Kind gut. Aber wenn es anfange zu weinen, dann nehme der Mond ab, um es in seiner Sichel zu wiegen, bis es nicht mehr traurig sei.

Nick hob die Arme und die blonde Carola nahm ihre Position darin ein. Er streckte den Rücken durch, hob den Kopf und begann, sie im Takt der Musik ein paar Mal hin- und herzuschwingen, bevor er nach einer kurzen, nonverbalen Ansage in die ersten Drehungen eintauchte. Die Lichter um sie herum verschwammen zu unscharfen Streifen, während sie in perfekten halben Drehungen zum anderen Ende der Tanzfläche schwebten. Nick hielt sich nicht lange mit einem Zwischenspiel auf, wechselte die Richtung und erlaubte sich über die kurze Seite des Saals einige Linksdrehungen, bevor er Carola wieder über die andere Seite durch den Raum wirbelte.

„Du bist ein alter Angeber“, flüsterte Carola mit einem verhaltenen Grinsen, als er sich entsprechend des Taktes endlich dazu hinreißen ließ, wieder in den einfachen Wiegeschritt zu verfallen.

„Gar nicht“, gab er zurück und drehte sie zur Strafe ein wenig unerwartet unter seinem Arm durch, sodass sie jetzt nebeneinander tanzten. Die ersten Paare begaben sich auf das Parkett und begannen ebenfalls, sich im Takt der Musik zu wiegen.

„Klar gibst du an.“ Carola lachte jetzt und Nick beschloss, dass es für den Anfang genug war. Er verbeugte sich vor ihr und führte sie zurück an den Rand, wo sie von Rainer in Empfang genommen wurde. Nick strebte indes der tanzerfahrenen Dame zu um sie mit einer Verbeugung aufzufordern. Sie reichte ihm ihre Hand und gemeinsam bestritten sie noch den Rest des Liedes, bis es, wie Nick vermutet hatte, tatsächlich ausgeblendet und durch einen einfacheren Rhythmus ersetzt wurde. Er wechselte die Haltung und bestritt die nächsten Tänze mit verschiedenen Partnerinnen. Dabei achtete er stets darauf, nicht zu lange bei einer Dame zu bleiben, sondern seine Aufmerksamkeit gleichmäßig zu verteilen.

 

Nick tanzte gerade mit einer der gesetzteren Damen einen Langsamen Walzer, als die Musikrichtung wechselte und eindeutig flottere Rhythmen aus den Lautsprechern drangen.

„Oh“, sagte seine Tanzpartnerin und blieb stehen. „Ich fürchte, da muss ich passen. Meine Hüfte ist nicht für Samba geschaffen.“

Nick lächelte. „Ach, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie hüpfen doch wie ein junges Reh. Aber vielleicht möchte mir ja Ihre Freundin Gesellschaft leisten?“ Er bot ihr seinen Arm an und führte sie zum Platz, der jedoch verwaist war. Von der Begleiterin der älteren Dame war nichts zu sehen.

Nick verbeugte sich. „Ich werde später noch einmal vorbeikommen. Jetzt ruft mich die Pflicht.“

Er sah sich um, welche der Damen jetzt an der Reihe war, als er am Rand der Tanzfläche eine Frau bemerkte, die offensichtlich erst später gekommen war. Sie trug ein schwarzes, enganliegendes Abendkleid, die dunklen Haare waren zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur zusammengefasst und an ihrem Arm glitzerte ein Armband aus funkelnden Strasssteinen, die, wenn sie echt gewesen wären, ein Vermögen gekostet hätten. Sie hatte eine schmale, schwarze Handtasche auf den Tisch gelegt, aus dem sie gerade einen Lippenstift herausnahm. Langsam zog sie die dunkelrote Linie nach und formte die vollen Lippen zu einem sinnlichen Schmollmund, bevor sie den Stift wieder in der Tasche verschwinden ließ. Als sie aufsah, trafen sich ihr und Nicks Blick. Sie hob fragend eine Augenbraue.

Er lächelte und schob sich dann zwischen den Tischen hindurch auf sie zu.

„Ich muss mich entschuldigen. Ihre Anwesenheit muss mir bisher entgangen sein.“

Sie lehnte sich ein wenig zurück und schlug die Beine übereinander. Er sah den langen Schlitz in ihrem Rock, der sich bis über die Mitte des Oberschenkel zog. Darunter kamen wohlgeformte, schlanke Beine zur Vorschein, die in einer hauchdünnen Seidenstrumpfhose steckten. Nein, halt. Er hatte sich geirrt. Gerade war der Rock noch ein Stückchen weiter nach oben gerutscht und entblößte so den Ansatz eines Spitzenrandes. Halterlose Strümpfe also. Nick riss seinen Blick los und sah, dass sie sich der Wirkung ihrer Bewegung durchaus bewusst war.

„Ich bin gerade erst gekommen“, sagte sie und ließ den Blick über den Saal schweifen. „Ich hatte gehofft, hier einen Tanzpartner finden zu können. Aber wie es scheint sind alle Herren bereits vergeben.“ Sie sah Nick tief in die Augen.

Er verhinderte gerade noch ein Schlucken. Die Frau wirkte nicht viel älter als Nick, aber die sehr, sehr feinen Falten um ihren Mund und die Augen herum verrieten, dass sie die 40 bestimmt schon überschritten hatte. Er verbot sich jegliche Spekulation darüber, warum und weshalb sie nun heute allein hierher gekommen war. Schließlich gehörte es zu seinen Aufgaben, genau solche Frauen zum Tanzen aufzufordern. Er schob seine Mundwinkel nach oben.

„Nun, was die Sache mit dem Tanzen angeht, könnte ich mich zur Verfügung stellen. Ich bin Nick und Ihr heutiger Gastherr.“

Er reichte ihr seine Hand. Sie legte ihre darauf und wartete offensichtlich auf etwas. Er hob die Augenbrauen. „Wenn ich bitten dürfte?“

Sie erhob sich und verzog die roten Lippen zu einem Lächeln. „Mit dem größten Vergnügen. Ich hoffe, dir liegen lateinamerikanische Tänze?“

„Natürlich.“ Nick wies auf die Tanzfläche. „Wollen wir anfangen?“

 

Als sie das Parkett betraten, wechselte die Musik gerade zu einer langsameren Rumba. Wie Nick erwartet hatte, bewegte sich seine neue Partnerin höchst gekonnt. Sie tanzte genau mit der richtigen Mischung aus sinnlichem Hüftschwung und zackigen Bewegungen, die diesen Tanz ausmachten. Nach und nach baute Nick immer mehr Figuren ein, die inzwischen weit über das Niveau eines Anfänger- oder gar Fortgeschrittenenkurses hinaus gingen.

„Sie tanzen gut“, sagte er und drehte sie unter seinem Arm hindurch.

Sie lächelte und wischte mit einer gekonnten Drehung wieder an seine Seite. „Ich habe das mal semiprofessionell gemacht. Daher kenne ich Rainer. Wir haben uns früher öfter auf Turnieren getroffen. Ich bin über das Wochenende in der Stadt und dachte mir, ich schaue mal vorbei. Eigentlich komme ich aus Frankfurt.“

Nick legte ihr die Hand auf den Rücken und beugte sie leicht zurück, nur um sie dann wieder an sich zu ziehen. Der Blick, den sie ihm dabei zuwarf, fuhr ihm direkt unter die Haut. Sie stand jetzt ein wenig näher, als die offene Tanzposition, die sie ausgewählt hatten, eigentlich erlaubte und ihre linke Hand rutschte an seiner Seite entlang ein Stück in Richtung seiner Taille. Zum Glück endete die Musik in diesem Augenblick, sodass er sich aus der Tanzhaltung löste und gemeinsam mit den anderen Paaren kurz applaudierte.

Sie musterte ihn sichtbar und ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen. Nick spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ein Fanfarenstoß rettete ihn davor, etwas sagen zu müssen. Der nächste Tanz begann. Sie legte den Kopf schief und lauschte. Ihr Lächeln wurde breiter.

„Ah, ein Paso Doble. Und, Nick? Bist du bereit den Stier bei den Hörnern zu packen?“

Er war sich bewusst, dass das eine Anspielung war. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er diese Frau irgendwann wiedersah, gingen gegen Null. Genau das war es wohl auch, was sie suchte. Ein unterhaltsamer Abend, an die sich eine ebenso unterhaltsame Nacht anschloss. Unverbindlich und diskret für beide Seiten. Im Grunde ein einmaliges Angebot, das sich so mancher sicherlich nicht entgehen lassen würde. Nick zögerte trotzdem.

„Ich … würde gerne diesen Tanz mit Ihnen tanzen“, sagte er schließlich und öffnete seine Arme zur geforderten Tanzhaltung. Sie lächelte und trat in seine Arme.

„Keine Hektik, du kannst es dir ja noch überlegen. Aber zunächst einmal tanzen wir.“

Und das taten sie.

 

Der Paso Doble war einer der schwierigsten Tänze, die in der Tanzschule unterrichtet wurden. Er enthielt zwar nur eine Reihe nicht allzu komplizierter Schrittfolgen, erforderte aber zusätzlich eine andere Tanzhaltung als die anderen, lateinamerikanischen Tänze. Nick hielt den Kopf oben, spannte den Rücken und die Oberschenkel an und schob gleichzeitig seinen Unterkörper nach vorn. Dadurch verlagerte sich sein Schwerpunkt nach hinten und gab ihm eine stolze, fast schon arrogante Haltung. Diese war jedoch beabsichtigt, denn beim Paso Doble stellte der Tänzer einen spanischen Stierkämpfer dar, während seine Partnerin zur Muleta, dem berühmten, roten Tuch, wurde.

Die immer noch namenlose Frau verstand es vortrefflich, diese Rolle auszufüllen. Sie ließ sich von Nick herumwirbeln, als besäße sie selbst kein Gewicht, doch wann immer sich ihre Blicke trafen, war es, als hätte man flüssiges Feuer in seine Adern gegossen. Er vergaß die Gesellschaft um sich herum, vergaß, dass er eigentlich noch andere Tanzpartnerinnen hatte, vergaß, dass das hier nur eine ganz gewöhnliche Tanzveranstaltung im Saal eines bereits leicht in die Jahre gekommenen Hotels war. In diesem Augenblick war Nick der Torero, dessen Leben vom vortrefflichen Gebrauch seiner einzigen Ablenkung gegen den übermächtigen Stier abhing. Wie im Stierkampf hielt er seine Partnerin größtenteils auf Abstand, doch immer, wenn sich ihre Körper einander näherten, glaubte er den Gluthauch der Arena zu spüren. Die Sonne, die ihm im Nacken brannte, das Raunen der Menge, wenn wieder ein Angriff ins Leere gegangen war. Es war ein Tanz auf Leben und Tod.

Als das Lied ausklang und eine Zwischenmusik eine Pause ankündigte, stand Nick schwer atmend auf der Tanzfläche. Seine Partnerin lächelte verschmitzt.

„Eine gelungene Vorstellung. Wobei ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, die das zu schätzen wusste.“

Nick runzelte fragend die Stirn. „Ich verstehe nicht recht …?“

Sie deutete hinter Nick. Er drehte sich um und erstarrte. Am Rand der Tanzfläche stand Javier. Er war gegen eine der Säulen gelehnt, die die hölzerne Decke abstützten, und sah genau in Nicks Richtung. In seiner Aufmachung wirkte er etwa so passend wie ein streunender Kater auf einer Ausstellung für Rassekatzen. Oder Hunde, wenn Nick Rainers Gesichtsausdruck richtig deutete. Der Besitzer der Tanzschule hatte den Jungen entdeckt und steuerte mit nicht gerade freundlicher Miene genau auf ihn zu. Nick überlegte nicht lange. Er entschuldigte sich eilig bei seiner Tanzpartnerin und ließ sie ganz entgegen der Etikette auf der Tanzfläche stehen, um Rainer abzufangen.

„Hey, keinen Stress. Ich kümmere mich um ihn.“

Rainer ruckte mit dem Kopf in Javiers Richtung. „Kennst du den etwa?“

Nick zog ein wenig die Schultern hoch. „Kollege von der Arbeit. Soll nicht wieder vorkommen.“

Der Tanzschulenbesitzer nickte knapp und Nick wirbelte herum. Mit langen Schritten ging er auf Javier zu, nahm diesen ohne eine Begrüßung am Arm und schob ihn ins Foyer. Erst dort drehte er ihn zu sich herum.

„Was willst du hier?“

Javier zog spöttisch eine Augenbraue nach oben. „Ich wusste ja nicht, dass das hier eine geschlossene Gesellschaft ist.“

„Ist es nicht.“ Nick wusste eigentlich selbst nicht, warum ihn Javiers Erscheinen so aufregte. „Aber hier herrscht heute Dresscode, den du garantiert nicht erfüllst.“ Er wies auf Javiers Jeans, die statt der gemäßigten Version von heute Vormittag wieder dem vollkommen zerschlissenen Modell von ihrem ersten Zusammentreffen gewichen war.

Javier schob die Hände in die Hosentaschen. Ob er eigentlich wusste, dass er die Jeans dabei verboten tief schob?

„Wollte mal gucken, was du so machst.“

„Das wusstest du doch schon. Ich tanze.“ Nick kam sich irgendwie albern vor. Hier im Foyer war es merklich kühler und ihm wurde bewusst, dass er geschwitzt hatte. Der abgetretene, grüne Teppich hatte definitiv schon bessere Zeiten gesehen und auf der dunklen Holzvertäfelung schien eine Patina zu liegen, die selbst die beste Möbelpolitur nicht mehr ganz entfernen konnte. Immerhin hatte Rainer heute die überzähligen Stühle wegräumen lassen, die sonst den Gang verstopften, wenn die jüngeren Tanzschüler hier auf den Beginn der Stunde warteten. In der Luft lag ein leichter Rauchgeruch. Vermutlich hatte die Garderobiere, die jetzt durch Abwesenheit glänzte, heimlich eine geraucht.

„Ja, hab ich gesehen.“ Javier grinste breit. „War gar nicht schlecht. Wie hieß der letzte Tanz.“

„Das war ein Paso Doble.“ Nick zögerte kurz und fügte dann hinzu: „Ein spanischer Tanz übrigens.“

Javiers Mundwinkel zuckten. „Ich kann ja nicht tanzen. Maximal Matratzen-Tango. Wenn du den mal versuchen möchtest?“

Er wackelte mit den Augenbrauen und Nick konnte nicht anders, als zu lachen. Er schüttelte leicht den Kopf.

„Du gibst nicht auf, oder?“

Javier zuckte mit den Schultern. „Du hast nur gesagt, ich soll nicht im Geschäft mit dir flirten. Wir sind nicht im Geschäft.“

Er trat einen Schritt näher und hob die Hand. Bevor Nick reagieren konnte, hatte er Nicks Fliege ergriffen und sie ein wenig zurecht gerückt.

„Hast du eigentlich auch noch was anderes im Schrank als dieses Pinguindress?“

Nick rollte mit den Augen. „Also mit zerrupften Jeans kann ich nicht dienen, falls du das meinst.“ Er sah auf die Uhr. „Hör zu, ich muss wieder rein. Wäre besser, wenn du jetzt verschwindest.“

Javier schob das Kinn vor. „Und wenn ich nicht gehe?“

Nick seufzte innerlich. „Dann wird Rainer dich vermutlich rauswerfen lassen. Immerhin hat er hier Hausrecht.“

„Ich gehe, wenn du mal mit mir ausgehst.“

Nick hätte sich beinahe verschluckt. „Soll das jetzt eine Erpressung werden?“

Javier grinste und schob die Jeans noch weiter nach unten. Nick erwartete fast, dass sie gleich von seinen Hüften rutschte. „Wenn du so willst: Ja. Es ist eine Erpressung.“

Nick überlegte. Er hatte so gar keine Lust mit Javier auszugehen. Allerdings hatte er noch weniger Lust, Renata erklären zu müssen, warum sie ihren Neffen von der örtlichen Polizeiwache abholen musste. Noch dazu, wenn er das hätte verhindern können. Er seufzte.

„Also schön. Ich gehe mit dir aus.“

„Ins Flamingo?“ Javiers dunkle Augen blitzten auf.

Nick schloss die Augen und fragte sich, welche Gottheit er wohl verärgert hatte, um dieses Schicksal zu verdienen. Aber es half ja nichts.

„Meinetwegen auch ins Flamingo.“

Javier schien zufrieden mit seiner Ausbeute. Er nahm die Hände wieder aus den Hosentaschen, strich noch einmal über das Revers von Nicks Jackett und zwinkerte ihm dann zu.

„Alles klar, dann nächsten Samstag im Flamingo. Man sieht sich, Nickyboy.“

Nick wollte noch etwas erwidern, aber Javier hatte sich schon herumgedreht und strebte dem Ausgang zu. Wenn Nick sich nicht allzu sehr täuschte, ließ er dabei ein wenig mehr Hüftschwung walten, als eigentlich notwendig war. Nick schüttelte den Kopf und seufzte noch einmal, bevor er sich ebenfalls herumdrehte und wieder zurückging.

 

Drinnen empfing ihn die überhitzte Luft des Tanzsaals. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie warm es hier drinnen war. Die Tanzpause war inzwischen vorbei und die Paare legten gerade mal wieder einen beliebten Diskofox aufs Parkett. Nick sah sich um und entdeckte seine vorherige Tanzpartnerin an ihrem Platz. In der Hand hielt sie ein Getränk. Ein Glas dunkler Rotwein, den sie sinnierend im Glas kreisen ließ. Als Nick sich näherte, sah sie auf und schmunzelte.

„Ah, da ist mein kleiner Matador ja wieder. Obwohl es mir so vorkam, als hätte der Torrero bereits mit dem Stier angebandelt.“ Sie nippte an ihrem Wein. „Dein Freund?“

Nick wollte das schon verneinen, als ihm auffiel, das diese Erklärung vermutlich die kultivierteste Form wäre, ihre unausgesprochene Einladung abzulehnen. Er lächelte entschuldigend.

„Ja … ich … Tut mir leid, dass ich Sie vorhin so auf der Tanzfläche habe stehen lassen.“

Die Dame schüttelte den Kopf. „Kein Problem, ich bin schon ein großes Mädchen. Wenn du mir den nächsten Tango reservierst, ist alles vergessen.“

Nick versicherte, dass er das natürlich tun würde, bevor er beinahe fluchtartig den Tisch verließ. Er forderte eine der grauen Eminenzen zu einem Slow Fox auf, aber er war nicht so recht bei der Sache. Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum wie bunte Vögel.

Die graugelockte Dame betrachtete ihn nachdenklich. „Na na, wer wird den den Kopf so hängen lassen.“

„Was?“ Nick schreckte hoch. „Oh, entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.“

Sie lachte nur. „Ach mein Junge, als ich so alt war wie du, hatte ich auch so meine Sorgen. Aber die Liebe und das Singen lassen sich beide nicht erzwingen.“

Nick seufzte. „Da haben Sie wohl recht.“ Und er drehte sie noch einmal schwungvoll, bevor er sie zurück zu ihrem Platz führte.

 

Cinderella

Jemand klingelte ausgesprochen gründlich an Nicks Wohnungstür und hörte auch nicht damit auf hereinzuwollen, als Nick nach zwei Minuten immer noch nicht aufgemacht, sondern stattdessen seinen Kopf unter dem Kissen vergraben hatte. Welchen Teil von „Vergiss es, ich steh nicht auf“ hatte derjenige eigentlich nicht verstanden? Hatte er sich irgendwie undeutlich ausgedrückt, als er das in seine Matratze genuschelt hatte? Mit einem Stöhnen, das der uralten Morla zu Ehren gereicht hätte, erhob sich Nick schließlich und trottete in Richtung Tür. Der schwarz-weiße Küchenfußboden verschwamm etwas vor seinen Augen, als er gegen die auf ihn einströmende Helligkeit anblinzelte. War das da auf dem Tisch eine Wodkaflasche? Und wo war die andere Hälfte davon?

„Jaha, ich komme“, nölte er den Klingler an und versicherte sich, dass er einigermaßen bekleidet war (er trug zum Glück eine Schlafanzughose) bevor er öffnete.

Von draußen strahlte ihn Alexandra an.

„Wo bleibst du denn? Ich friere mir hier den Arsch ab“, motzte sie trotz ihres Gesichtsausdrucks und schob sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an ihm vorbei in die Wohnung.

„Dir auch einen schönen guten Morgen“, murrte Nick und schloss die Tür wieder. Es war wirklich verdammt kalt draußen.

„Morgen? Nicky-Schatz, es ist bereits halb eins. Ich muss gleich zur Arbeit, aber vorher wollte ich dir noch die tollen Neuigkeiten erzählen.“

Alexandra pflanzte sich auf sein schon leicht altersschwaches Sofa und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Alles an ihr schrie praktisch: „Frag mich! Frag mich!“

Also tat er ihr den Gefallen. „Was denn für Neuigkeiten?“

Gab es hier irgendwo was zu trinken? Und Kopfschmerztabletten. Er hatte bestimmt welche.

„Ich fliege nach Italien!“

„Oh, das ist cool.“ Nahm er an. Offensichtlich war der für solche Entscheidungen zuständige Teil seines Gehirns immer noch in Wodka mariniert. „Wann denn?“

„Nächstes Wochenende!“

War es im November nicht auch in Italien kalt? Und war er ein Spielverderber, wenn er das jetzt erwähnte?

„Mit Natascha!“

Ah, daher wehte der Wind. Moment … mit Natascha?“

„Ihr macht zusammen Urlaub?“ Nicks Denkapparat nahm langsam wieder den Dienst auf und brachte ein wenig Sinn in Alexandras begeistertes Gequietsche. Sie wollte tatsächlich mit ihrer Freundin wegfahren? Das war neu. Sehr neu.

Alexandra rollte eine blonde Strähne über den Finger. „Na ja, Urlaub ist übertrieben. Es ist eher eine Dienstreise. Ich habe dir doch erzählt, dass Sie im Reisebüro arbeitet. Ihre Chefin sollte eigentlich nach Rom zu einer Tagung, aber die ist krank und jetzt soll Natascha an ihrer Stelle fahren. Und sie hat mich gefragt, ob ich mitkomme. Ist das nicht geil?“

Noch bevor Nick irgendetwas einwerfen konnte, hatte sich Alexandra seinen Laptop geschnappt und hämmerte auf dem Touchpad herum.

„Ich muss dir unbedingt das Hotel zeigen. Das ist der Hammer!“

Sie strahlte immer noch, als ihre Gesichtszüge plötzlich einfroren. Sie starrte auf den Bildschirm des Laptops und konnte offensichtlich nicht glauben, was sie dort sah. Die Augenblicke dehnten sich zu panikschwangeren Ewigkeiten, bevor sich ihre Mundwinkel sehr, sehr langsam wieder nach oben bewegten. Mit einem süffisanten Blick auf Nick klickte sie noch einmal und ein lustvolles Stöhnen erfüllte plötzlich den Raum.

Nick wurde kreideweiß im Gesicht und sein Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen. Oh scheiße, er hatte doch nicht …? Bitte nicht!

„Alex, ich kann das erklären ...“ Irgendwie.

Sie hob eine Augenbraue und verfolgte das Treiben auf dem Bildschirm. „Na ja, bist eben doch nur ein Mann. Immerhin sehen die beiden ja nicht übel aus.“

Er hechtete zum Couchtisch, griff nach dem Laptop und krachte den Deckel so heftig zu, dass er sich in Gedanken schon mal vom Display verabschiedete. Das Stöhnen verstummte mit einem matten Plopp und hinterließ drückendes Schweigen.

„Alex … es tut mir leid, ehrlich. Ich wusste ja nicht ...“

„Dass ich dich dabei erwischen würde?“ Sie verdrehte die Augen. „Meine Güte, Nick, krieg dich wieder ein. Nur weil du schwul bist, heißt das doch nicht, dass du keine Pornos gucken darfst. Vor allem nicht, wenn die Darsteller so schnuckelig sind wie die beiden Häschen da. Also nicht, dass die mir gefallen würden, aber ich kann verstehen, dass dir dabei einer abgeht.“

Nicks Gedanken purzelten durcheinander wie umgeworfene Bausteine. Er hatte … sich nicht geoutet? Oder wie auch immer man das nennen wollte. Irgendwie war er nach dem Abschluss der Tanzparty offensichtlich in den Besitz einer Flasche Wodka gelangt, hatte sich ordentlich die Kante gegeben und dann hatte er … Schwulenpornos geguckt? Wenn er wieder vollkommen klar war, musste er dringend mal ein sehr ernstes Gespräch mit seinem Unterbewusstsein führen.

Alex seufzte. „Zu schade, ich hätte dir das Hotel wirklich gerne gezeigt. Ein Superteil. Fünf Sterne, Whirlpool, Sauna, Wellnessbereich. Und ich werde den ganzen Tag da verbringen, während Natascha auf ihrem Treffen ist, und wenn sie abends heimkommt, machen wir es uns nett. Wir dürfen sogar zwei Tage länger bleiben. Mittwoch früh geht’s los bis Sonntag. Das wird so cool.“

Sie stand auf und drückte Nick einen Kuss auf die Wange. „Aber jetzt muss ich los. Die Muckibude wartet. Vielleicht komme ich nach Schichtende nochmal vorbei, aber so wie du aussiehst, solltest du heute lieber früh ins Bett gehen.“

Sie war schon fast zur Tür heraus, als sie nochmal anhielt und sich zu ihm herumdrehte. „Javier war übrigens gestern nicht mit, falls es dich interessiert.“

Nick hätte fast „Er war vorher bei mir“, geantwortet, verkniff es sich aber im letzten Augenblick. Für diesen Sonntag hatte er, weiß Gott, genug Peinlichkeiten angehäuft. Am besten legte er sich gleich irgendwo in eine Ecke zum Sterben.

Alex hauchte ihm noch eine Kusshand zu, dann klappte die Wohnungstür hinter ihr und Nick war wieder allein. Er warf einen missbilligenden Blick auf den Laptop.

„Verräter“, knurrte er das Gerät an. Dabei war er eigentlich immer so vorsichtig und öffnete diese Seiten sogar auf seinem eigenen Computer nur im Geheimmodus. Ab jetzt definitiv keinen Alkohol mehr.

Entschlossen stapfte er in die Küche und leerte den Rest des Wodkas in den Ausguss. Die Flasche schmiss er einfach in den Restmüll. Scheiß auf Recycling, er würde das Teufelsding nicht auch noch zwischenlagern. Einzig die Tatsache, dass er immer noch nur halb bekleidet war, hielt ihn davon ab, den Müllbeutel gleich noch draußen in die Tonnen zu werfen. Was er jetzt brauchte war ein kräftiges Frühstück und eine heiße Dusche. Nicht unbedingt in der Reihenfolge.
 

Während das Wasser auf seinen Kopf prasselte, kreisten seine Gedanken um den vorangegangenen Abend. Ihm wurde klar, dass er gestern gleich zwei unmoralische Angebote bekommen hatte. Und anscheinend war irgendetwas in ihm der Meinung, dass beide eine Überlegung wert waren. Obwohl er sich sicher war, dass er jetzt, selbst im trüben Licht dieses Spätoktobersonntags, keines der beiden auch nur annähernd in Erwägung zog, wenngleich auch aus unterschiedlichen Gründen. Also warum zum Geier hatte er gestern diesen Film angeschaut? Sicherlich nicht, um sich einen runterzuholen. Es war ja nicht so, das er noch nie in diese Kategorie reingeschaut hatte. Immerhin wollte er allen glaubhaft versichern, dass er auf Kerle stand, also musste er sich ja schließlich informieren, was dabei so abging. Aber um das, was er dabei gesehen hatte, irgendwie anregend zu finden, musste man vermutlich tatsächlich schwul sein. In gefühlten 70 % der Filme, rammelten irgendwelche Osteuropäer zu zweit, zu dritt oder zu noch mehreren mit Zigarette im Mund lustlos ineinander rum. Das Ganze hatte in etwa den Charme einer Männerumkleidekabine beim Sport. Nackte, unschöne Hühnerbrüste, zu viel Körperbehaarung und wackelnde Geschlechtsteile, wo immer die Kamera auch hinschwenkte. Denn wo Frauen ja wenigstens noch so tun konnten, als wenn ihnen das lieblose Rein-Raus-Spiel gefiel, war es bei den männlichen Darstellern nun mal ziemlich offensichtlich, wenn es das nicht tat. Immerhin sah man ihr bestes Stück ja ständig in Großaufnahme.

Er verbannte die Gedanken an furchtbare Pornos aus seinem langsam wieder in geregelten Bahnen funktionierenden Gehirn und machte sich ein Käse-Sandwich. Zusammen mit einer großen Flasche Wasser ließ er sich auf das Sofa fallen und machte den Fernseher an. Während er kaute, zappte er durch die Kanäle und musste feststellen, dass er offensichtlich die Wahl zwischen angefangenen Spielfim-Wiederholung vom vorherigen Abend und Sendungen vom Format „Bauer sucht Frau“ hatte. Irgendwo auf den hinteren Sendeplätzen fand er dann eine Tierdoku, zu der er immerhin zu Ende essen konnte, ohne beim ständigen Umschalten Butter auf die Fernbedienung zu schmieren. Aber befriedigend war das nicht wirklich.

Nick blickte zum Tisch. Der Laptop starrte zurück. Höhnisch grinsend schien er zu flüstern: „Ich weiß etwas, das du nicht weißt. Und Alex weiß es auch. Also los, mach mich an und ich zeige es dir. Oder traust du dich etwa nicht?“

Er widerstand volle fünfzehn Minuten, dann schaltete er mit einem Fluch den Fernseher ab und öffnete den Laptop. Dessen Display hatte die unsanfte Behandlung zum Glück unbeschadet überstanden. Allerdings bereute er zutiefst, dass er irgendwann mal eingerichtet hatte, dass das blöde Ding beim Zuklappen nur in den Ruhemodus ging, statt sich einfach richtig auszuschalten. Ansonsten wäre die ganze Sache mit Alexandra nicht passiert und er würde jetzt einen wunderbar langweiligen Sonntag verbringen und vielleicht sogar mal wieder seine Eltern anrufen, die von dem ganzen verkorksten Kram, der in seinem Leben abging, zum Glück so gar keine Ahnung hatten. Stattdessen wartete er mit halb zugekniffenen Augen darauf, was für Scheußlichkeiten er sich im betrunkenen Zustand wohl zu Gemüte geführt hatte.

Vor ihm erschien eine seiner üblichen Pornoseiten. Ohne lange zu fackeln klickte er auf Start und betrachtete das Geschehen auf dem Bildschirm. Er musste zugeben, dass dieser Film weitaus besser war als das, was er bisher gesehen hatte. Das fing schon damit an, dass beide Darsteller offensichtlich Spaß an ihrem Tun hatten. Außerdem beschränkte sich ihre Tätigkeit nicht auf ein simples Rumgebumse. Da gab es eine Menge Küsse, wenngleich sich diese auch schnell in den Bereich unterhalb er Gürtellinie verlagerten. Und auch da gab es Unterschiede. Er hatte natürlich schon von Rimming gehört und es auch schon gesehen, aber die Hingabe, mit der das hier betrieben wurde, war irgendwie bemerkenswert. Im Endeffekt lief es zwar doch wieder auf „normalen“ Geschlechtsverkehr raus, aber es gab für beide Darsteller einen deutlichen Höhepunkt. Das Ganze war vermutlich immer noch meilenweit weg von der Realität – immerhin war das hier ein Porno – aber nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Am Ende wurde sogar noch gekuschelt. Eigentlich ganz nett.

„Aber definitiv nicht anregend“, stellte er mit einem Blick nach unten fest. Es war also immer noch alles in bester Ordnung, wobei … Vielleicht hätte es die Sache sogar einfacher gemacht, wenn er tatsächlich schwul gewesen wäre, statt nur so zu tun. Kein Versteckspiel mehr, ein netter Freund, sonntags Kaffeetrinken bei den Schwiegereltern ...

Nick stöhnte und presste sich die Handflächen gegen die Augen. Er hatte definitiv noch nicht allen Wodka ausgeschwitzt. Am besten verkroch er sich vor der Welt, bis er wieder normal tickte. In diesem Zustand konnte man ihn ja keinem zumuten.

Er warf die erste DVD von „Babylon Berlin“ in den Player und drückte auf den Startknopf. Lieber sah er dem morphinsüchtigen Kommisar Rath zu, wie er versuchte, durch den Sündensumpf des Berlins der 20er Jahre zu waten und dabei nicht unterzugehen, als sich weiter über sein nicht existentes Liebesleben Gedanken zu machen. Das würde früher oder später ohnehin wieder Alexandra für ihn übernehmen.
 

 

Der Montag begann mit einer Überraschung. Als Renata gegen neun in den Laden schneite, war sie allein.

„Javier ist krank. Erkältung. Ihr müsst also heute alleine klarkommen.“

Nick konnte sich gerade noch auf die Zunge beißen, um nicht zu sagen, dass Javier ohnehin keine große Hilfe war. Das war nun mal das Schicksal eines Schülerpraktikanten. Den größten Teil des Tages dumm in der Gegend rumzustehen und nutzlos zu sein. Zumal im „El Corpiño“ ja auch viele der Tätigkeiten entfielen, die Läden mit größerer Warenfluktuation zu bieten hatten. Regale auffüllen, Retouren verräumen, kassieren, all das fand hier nur in relativ geringem Umfang statt. Wobei Nick eigentlich vorgehabt hatte, Javier heute die Kasse zu erklären. Immerhin gab es dabei auch so einiges zu beachten, damit man nicht durcheinanderkam und trotzdem die ganze Zeit seine Aufmerksamkeit beim Kunden hatte. Aber diese Lektion musste er wohl verschieben.

Lisa ließ geräuschvoll die Luft entweichen.

„Dann muss ich also doch selber Staub wischen“, murrte sie und schlurfte in Richtung Abstellraum, um sich die Putzutensilien zu holen. Wie es schien, war auch seine Kollegin heute Morgen nicht so recht in Form. Nick schob es zunächst auf das Wetter, aber als Lisas Laune auch mit dem Voranschreiten des Tages (und dem Konsum von nahezu einer ganzen Packung Schokokekse) nicht besser wurde, fühlte er sich genötigt, nachzufragen.

„Ach, es ist immer das Gleiche.“ Sie biss in einen weiteren Keks. „Michael kriegt einfach seinen Hintern nicht hoch. Ich werde nächste Woche 29, Nick. 29! Hast du eine Ahnung, wie lange es dauert, eine Hochzeit zu planen und vorzubereiten? Mindestens ein Jahr! Und wenn er nicht bald in die Hufe kommt, bin ich 30, bevor ich einen Ring am Finger habe. Du weißt, was das heißt?“

Nick schüttelte den Kopf.

„Wenn ich mit 30 nicht verheiratet bin, muss ich an meinem Geburtstag die Klinke der Kirchentür putzen, bis eine männliche Jungfrau kommt und mich erlöst. Hast du eine Ahnung, wie lange das dauern kann, bis so einer vorbeikommt. Vermutlich kann ich nicht mal dich darum bitten, oder?“

Nick merkte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht kroch. „Nein, tut mir leid, da muss ich passen.“

„Siehst du?“, jammerte sie und starrte angefressen in die leere Kekspackung. „Das wird so fürchterlich peinlich werden. Und alles nur, weil er mir keinen Antrag macht.“

„Und wenn du einfach ihn fragst?“ Nick konnte das Problem nicht so ganz erkennen. Immerhin lebten sie im 21. Jahrhundert, da musste eine Frau doch nicht warten, bis irgendjemand um ihre Hand anhielt.

„Ja, das könnte ich. Und mit Sicherheit würde er auch 'Ja' sagen, aber weißt du ... es geht darum, dass er mal was für mich tut. Weil er sich vermutlich beim ganzen Rest dann wieder fein raushalten wird. Und das ist auch kein Problem. Ich kriege das prima alleine hin und mein Lebensglück hängt nicht davon ab, dass er mal von selbst den Müll rausbringt, auch wenn das durchaus ein Plus wäre.“ Sie seufzte und zupfte am Saum ihres Rocks herum. „Aber einmal im Leben hätte ich halt gerne diese ganze romantische Cinderella-Märchen-Scheiße, die man als emanzipierte Frau ja nicht gut finden darf, weil sie ja ach so diskriminierend für einen ist.“

„Ach Lisa ...“ Nick setzte sich neben sie auf das Sofa und puffte sie leicht in die Seite. „Jetzt lass mal den Kopf nicht hängen. Vielleicht überrascht er dich ja noch.“

„Daran glaube ich mittlerweile nicht mehr. Da müsste ich schon ein Plakat mit blinkender Leuchtschrift basteln: Diese Frau möchte gerne geheiratet werden.“

„Weiß er das denn nicht?“

„Doch. Wir haben ja darüber geredet, dass wir heiraten wollen. Ist auch alles schick und so, aber er fragt halt nicht.“

„Vielleicht weiß er nicht, dass du gefragt werden willst?“

Lisa zog einen Flunsch „Das sollte ihm doch klar sein, oder?“

Nick hätte beinahe gelacht. „Sag mal, lest ihr eigentlich auch, was in euren komischen Frauenzeitschriften steht, oder guckt ihr euch nur die Bilder an? Mindestens dreimal im Jahr geht doch durch die Presse, dass Männer nicht Gedanken lesen können und man als Frau seine Wünsche klar formulieren soll. Nur, weil ihr besprochen habt, dass ihr heiraten und Kinder haben wollt, löst das in ihm noch keinen Drang dazu aus, irgendetwas dafür zu tun. Er braucht klare Anweisungen. Sag ihm ganz deutlich: Ich will, dass du mir einen Antrag machst. Und streng dich gefälligst an, sonst sage ich 'Nein' und suche mir einen anderen.“

Lisa sah ihn entsetzt an. „Aber ich will doch gar keinen anderen.“

Nick grinste. „Ja, aber das weiß er doch nicht. Wenn er den Verlust seines Weibchens fürchten muss, wird der Höhlenmensch in ihm schon was dagegen unternehmen. Mit Chance überwiegt allerdings der Hipster in ihm und du bekommst Blumen statt eines erlegten Mammuts.“

Lisa musste gegen ihren Willen lachen. „Also schön, überzeugt. Ich werde meinem Höhlenmännchen eine deutliche Botschaft in Stein meißeln, damit er mich auch versteht. Und wenn er dann immer noch nicht mit einem Ring rausrückt, dann ...“, sie stockte und grinste im nächsten Augenblick, „ … dann kriegt er eins mit der Keule übergebraten.“

„Bravo, Towanda! Schnapp ihn dir.“

Lisa kicherte und warf mit dem Staublappen nach ihm. Nick fing ihn und wienerte damit geziert über die Lehne des Sofas. Anschließend reichte er das staubige Teil mit spitzen Fingern zurück. Lisa nahm das Tuch in Empfang und machte sich wieder daran, die Glasregale abzustauben.

Nick blieb sitzen und starrte ins Leere. Schön, dass alle immer so klar wussten, was sie wollten. Er wollte gar nichts, außer in Ruhe gelassen werden, aber anscheinend war die Welt der Meinung, dass das nicht ginge. Sie spuckte ihm Alexandras und Javiers und aufregende Unbekannte in die Suppe, stemmte die Hände in die Hüften und erwartete, dass er irgendwas daraus machte. Er hatte nur keine Ahnung, was.

 

 

 

Javier blieb auch die nächsten zwei Tage verschwunden. Nick fiel zum ersten Mal auf, dass er sich an dem Samstag gar keine Gedanken gemacht hatte, wie der Junge eigentlich zum Hotel gekommen und vor allem, wo er danach hingegangen war. Unterbewusst hatte er wohl angenommen, dass Javier sich mit Alexandra traf, die wie Nick im gleichen Ort wohnte, in dem sich auch das „El Corpiño“ befand. Lisa stammte aus einem der umliegenden Dörfer und Renata kam morgens ebenfalls mit dem Auto, wenngleich auch von der anderen Seite. Sie wohnte ein ganzes Stück in Richtung der nahegelegenen Großstadt, hatte ihr Geschäft aber wegen der günstigeren Mieten in den Speckgürtel verlagert. Wenn sie Javier nicht ihr Auto geliehen hatte – und irgendwie bezweifelte Nick, dass sie das getan hatte – musste er mit der Bahn gefahren sein, die um diese Uhrzeit nicht mehr allzu oft unterwegs war. Mit Pech hatte er also eine knappe Stunde auf dem zugigen Bahnsteig verbracht plus den Fußweg zum Hotel und umgekehrt zu Renatas Haus. Bei seinem Aufzug und den herrschenden Temperaturen war es somit kein Wunder, dass er sich was weggeholt hatte. Nick schüttelte innerlich den Kopf über so viel Unvernunft.

 

 

Am Donnerstag war das „El Corpiño“ geschlossen, ebenso wie auch der Rest aller Geschäfte. Reformationstag nannten es die einen, Halloween die anderen. Da Alexandra sich bereits am Dienstagabend von ihm verabschiedet hatte, ließ sich Nick allein auf seinem Sofa von einer gruseligen Komödie nach der nächsten berieseln und hoffte jedes Mal, wenn draußen Schritte und Stimmen zu hören waren, dass nicht etwa irgendwelche Kinder auf die Idee kamen, bei ihm zu klingeln und „Süßes oder Saures!“ zu verlangen. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er außer ein paar schon sehr antiker Schokoriegel noch irgendetwas Süßes im Haus hatte. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dafür einzukaufen. Also tat er so, als wäre er nicht zu Hause und textete mit Alexandra, die ihm dank kostenlosem Wlan ständig mit neuen Fotos von ihrem wirklich traumhaften Hotel versorgte.

 

 

Am Freitag waren Lisa und Nick allein im Geschäft, da Renata in die Kirche gegangen war. Allerheiligen war einer der höchsten katholischen Feiertage und natürlich beginn die gebürtige Spanierin diesen entsprechend mit einem Messebesuch. Als sie gegen Mittag in einen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, auftauchte, folgte ihr ein noch ein wenig blasser Schatten. Nick hätte Javier fast nicht wiedererkannt. In Anbetracht der Spitzen, die sich der Junge schon zu seinem Äußeren geleistet hatte, konnte Nick nicht widerstehen.

„Du hast ja einen Pullover an“, konstatierte er und tat gespielt entsetzt. „Bist du sicher, dass der dir nicht das Gehirn raussaugt?“

„Klappe“, knurrte Javier und nestelte an seinem Kragen herum. „Kirche ist Kirche. Da muss man anständig angezogen sein.“ Er legte ein schiefes Grinsen auf. „Außerdem musste ich Tante Nata doch davon überzeugen, dass ich wieder fit genug bin, um morgen mit dir auf die Piste zu gehen. Du hast doch wohl nicht gedacht, dass du da drumherum kommst.“

Nick hätte sich beinahe ins Gesicht gefasst. Sah man das wirklich so deutlich? Und musste er sich eigentlich wirklich an dieses erpresste Zugeständnis halten? Gab es da nicht irgendwie mildernde Umstände?

„Wenn du noch nicht wieder ganz gesund bist, könnten wir auch was anderes machen. Meinetwegen ins Kino gehen oder so.“

„Und was würdest du gucken wollen?“

Touché. Nick hatte keine Ahnung, was überhaupt lief. Er war kein großer Kinogänger, auch wenn er sich ab und an mal einen Film mit Alex zusammen ansah, wenn diese gerade keine Begleitung hatte und nicht alleine ins Kino gehen wollte. Er hob ein wenig hilflos die Schultern.

Javiers Grinsen wurde breiter. „Also doch ins Flamingo. Wie kommen wir da eigentlich hin?“

„Mit der Bahn. Ich hab kein Auto. Am besten steigst du an deiner Station einfach zu. Wir müssen eh in eure Richtung. So gegen zehn?“

Javier nickte nur. „Geht klar. Und was machen wir jetzt?“

Wenn es nach Nick gegangen wäre, Feierabend, aber er hatte noch ein paar Stunden vor sich. Und den Samstag. Das konnte ja noch heiter werden.

„Ich zeige dir mal, wie man richtig abkassiert.“

Javier grinste breit „Endlich mal was interessantes.“

Nick schüttelte den Kopf. „Spinner. Na los, ich erklär's dir.“

 

 

Als er am Samstagabend nach Hause kam, war Nick in einer seltsamen Stimmung. Irgendwie schien sein Kopf endlich zu registrieren, dass er so etwas wie ein Date hatte. Ein erzwungenes Date mit dem Neffen seiner Chefin. An dem er kein Interesse hatte. Das Ganze war doch total hirnrissig. Er war kurz davor abzusagen, als ihm auffiel, dass er völlig vergessen hatte, nach Javiers Handynummer zu fragen. Er hätte natürlich Alex anschreiben können, aber die genoss ja gerade ihren letzten Abend mit Natascha in Rom, da wollte er nicht mit irgendwelchen sinnlosen Nachrichten stören. Ganz kurz überlegte er, ob er einfach nicht hingehen sollte. Er könnte behaupten, die Bahn verpasst zu haben.

Der Gedanke spukte ihm auch noch im Kopf herum, als er sich unter der Dusche einseifte. Es wäre die perfekte Ausrede und immerhin hatte Javier seine Nummer ja auch nicht. Warum sollte er sich also Gedanken machen? Am Montag würde er sich entschuldigen und alles wäre wieder in Butter. Und nächstes Wochenende konnten sie ja meinetwegen zu viert losziehen als Wiedergutmachung. Das wäre wenigstens nicht ganz so peinlich.

Gerade als er sich mit dem Gedanken anfreunden wollte und sich selbst fast davon überzeugt hatte, dass das nur gerecht und keinesfalls irgendwie schäbig von ihm war, klingelte es an der Wohnungstür. Nick stellte das Wasser aus, trocknete sich notdürftig ab und warf sich seinen Bademantel über. Wahrscheinlich war das mal wieder der Paketbote. Die kamen oft erst um diese Zeit und Alexandra hatte neben einer Vorliebe für extravagante Kleidung auch einen Hang dazu, Sachen im Internet zu bestellen. Die Größe der Kartons ließ darauf schließen, dass einige Bestellungen den Gegenwert eines gebrauchten Kleinwagens hatten. Aber da die Retouren fast ebenso umfangreich waren, machte er sich keine allzu großen Sorgen, dass in nächster Zeit der Gerichtsvollzieher bei ihr vor der Tür stehen würde.

„Ich komme“, rief er, schlang sich den blauen Frotteegürtel fester um die Taille und eilte zur Tür. Als er öffnete erwartete ihn eine Überraschung.

„Was machst du denn hier?“, fragte er und sah Javier mit großen Augen an.

Dramophone

„Was machst du denn hier?“, fragte Nick und sah ihn mit großen Augen an.

 

Für einen winzigen Augenblick überlegte Javier, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, einfach herzukommen. Nicks Adresse rauszukriegen, war nicht schwer gewesen. Er hatte nur Alexandra danach fragen müssen. Aber jetzt, wo er wirklich vor seiner Tür stand, war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher. Immerhin war Nicks Haltung ihm gegenüber eigentlich fast durchgängig ein einziges, großes „Was machst du denn hier?“ Angefangen von dem Tag, als er zum ersten Mal mit seiner Tante ins „El Corpiño“ gekommen war, hatte Nick keinen Zweifel daran gelassen, dass er nichts mit ihm zu tun haben wollte. Das hatte Javier mächtig angepisst. Und er hatte darauf so reagiert, wie er immer reagierte, wenn jemand ihm dumm kam. Er war auf Konfrontationskurs gegangen; hatte Nick gezeigt, dass er sich nicht unterkriegen ließ und alles Recht der Welt hatte, sich ebenfalls dort aufzuhalten. Immerhin war es nicht so, dass er sich dieses Praktikum wirklich ausgesucht hatte. Seine Mutter hatte seine Tante einfach angerufen und dann auch noch seine Abuela da mit reingezogen. Sich diesem heiligen Dreigestirn zu widersetzen war ungefähr so aussichtsreich, wie mit einem Strohalm einen Waldbrand auspusten zu wollen. Man fachte die Flammen eher noch mehr an.

Natürlich hatte Javier versucht ihn anzubaggern, aber Nick war kein Stück darauf eingegangen. Das wiederum hatte Javier verwirrt. Normalerweise gab es zwei Möglichkeiten, wie Jungs darauf reagierten. Die einen waren schwul und auf die eine oder andere Weise an ihm interessiert, die anderen waren homophobe Arschlöcher. Nick passte in keine dieser Kategorien und Javier wusste nicht, was er davon halten sollte. Und gerade als er beschlossen hatte, das Nick einfach so ein arrogantes Arschloch war, kam Alexandra mit ihrer Freundin um die Ecke und er hatte noch eine ganz andere Seite an Nick entdecken können. Eine Seite, die ihn faszinierte und von der er hoffte, noch mehr zu sehen zu bekommen. Momentan begnügte er sich allerdings damit, noch mehr von Nick zu sehen zu bekommen. Sein Blick wanderte ein wenig tiefer und blieb an dem Stück entblößter Haut hängen, auf dem Wassertropfen langsam in eine interessante Richtung rannen.

„Du hast also doch noch was außer Anzügen im Schrank.“

Nick sah an sich herab und zog den Bademantel enger zusammen. Er fuhr sich durch die Haare, die immer noch nass vom Duschen waren, und klatschte sie damit wieder eng an den Kopf. Was schade war, denn der andere Look hatte ihm deutlich besser gestanden.

Javier zog die Augenbrauen hoch. „Lässt du mich jetzt rein oder soll ich hier warten bis um zehn?“

Er war sich durchaus bewusst, dass ihre Verabredung anders gelautet hatte, aber er hatte es bei seiner Tante nicht mehr ausgehalten. Deren Haushalt war definitiv nicht auf den Aufenthalt junger Männer eingestellt. Zu viele Blumenmuster und Goldkanten und ständig lag sie ihm in den Ohren, dass er doch was aus seinem Leben machen sollte. Sie hatte sogar angefangen, ihm Stellenanzeigen unter die Nase zu halten. Am Samstagabend! Dieser ganze Berufskram ging ihm gewaltig auf die Eier. Er wusste natürlich, dass er eine Arbeit brauchte, um Kohle zu bekommen, weil es sich ohne halt schlecht leben ließ. Aber er hatte einfach keinen Plan, was er wollte, mal abgesehen von einer guten Zeit und ein bisschen Spaß. Nick bot möglicherweise die Gelegenheit für beides, wenn Javier es schaffte, irgendwie an ihn ranzukommen. Was das anging erinnerte Nick ihn ein wenig an einen Seeigel. Außen voller Stacheln, aber wenn man die Schale knackte, erwartete einen ein Genuss, der die beste Auster übertraf. Also war Javier eben losgezogen, hatte sich in den Zug gesetzt und war zu Nick nach Hause gefahren. Was er jetzt sah, hatte er allerdings nicht erwartet.

 

Nicks Wohnung war ... gemütlich. Irgendwie hatte er damit gerechnet, hier auf einen Palast aus Chrom und schwarzem Leder zu treffen. Stattdessen sah er fast ausschließlich Holzmöbel in einem weichen, honigfarbenen Ton, eine kleine Küche mit einem Schachbrettmuster auf dem Linoleum, eine weiße, leicht abgestoßene Küchenecke, ein kleiner Tisch mit immerhin zwei Stühlen, dahinter eine Tür, die offensichtlich ins Badezimmer führte. Die zweite ihm gegenüber gab den Blick auf das Wohnzimmer frei, das neben einer riesigen Regalwand von einem etwas heruntergekommenen Ecksofa beherrscht wurde. Das war zwar aus Leder, aber dunkelbraun und beherbergte mehr bunte Kissen, als gesund sein konnte. Der Boden bestand aus abgeschliffenen Dielen. Pflanzen gab es allerdings keine, wenn man mal von einem ziemlich vertrockneten Etwas in einer Ecke absah, das wohl mal ein … irgendwas gewesen war, inzwischen aber fast nur noch aus einem Stamm mit vielen kahlen Ästen bestand. Nick, der seinen Blick bemerkt hatte, machte ein entschuldigendes Gesicht.

„Ich hab nicht aufgeräumt. Eigentlich hatte ich ja keinen Besuch erwartet.“

Er eilte ins Wohnzimmer, nahm eine Zeitung, ein Glas und einen Laptop vom Couchtisch und verharrte dann unschlüssig mitten im Raum. Einen Augenblick später verschwand er durch eine weitere Tür, von der Javier vermutete, dass sie ins Schlafzimmer führte. Bevor er Nick jedoch folgen konnte, war der schon wieder da – ohne Laptop – legte die Zeitung ins Regal und strebte mit dem Glas die Küche an. Er stellte es in die Spüle und stützte sich einen Moment lang am Beckenrand ab, als könne er darin irgendwelche Weisheiten entdecken. Zum Beispiel einen Rat, wie man mit einem ungebetenen Gast umgehen sollte, der grinsend in seiner Küche stand, während man selbst nur einen Bademantel am Leib hatte.

„Ich … äh … sollte mich vielleicht erst mal anziehen.“

„Och, mach dir keine Umstände. Meinetwegen kannst du so bleiben.“ Er ließ seinen Blick noch einmal über Nick gleiten und fragte sich insgeheim wirklich, wie es wohl unter dem weichen Stoff aussehen mochte. Nick hatte eine gute Figur, so viel konnte er schon sagen. Die Sache mit den Strapsen schloss er inzwischen jedenfalls aus.

„Das … nein. Ich gehe mir mal was anziehen. Bin gleich wieder da.“

Er flüchtete aus dem Raum und verschwand tatsächlich dort, wo Javier das Schlafzimmer vermutet hatte. Kurz darauf erschien er in einer beigen Hose und einem hellblauen Hemd und wollte sich gerade eine Weste zuknöpfen.

„Nee, geht gar nicht.“ Javier ging einfach auf ihn zu und tippte gegen die Weste. „Das Ding bleibt aus. Das Hemd ist okay, aber hast du nicht ne Hose, die ein bisschen weniger nach Opa aussieht?“

Zwischen Nicks Augen erschiene ein steile Falte. Er warf einen vielsagenden Blick auf Javiers zerschlissene Jeans. „Und hast du eine, die weniger nach Putzlumpen aussieht?“

Javier grinste. Er hatte gewusst, dass sein Lieblingsteil Nick auf den Sack ging. Aber sie war bequem und hatte an den richtigen Stellen strategisch platzierte Löcher, die genug von seinen Beinen zeigten. Bisher hatte er dafür eher Komplimente bekommen, aber Nicks Blick schien irgendwie nicht weiter als bis zu den Löchern vorzudringen.

„Ich kann sie ja ausziehen, wenn sie dich stört.“

„Nein, danke, ich verzichte“, zischte Nick, verschwand aber trotzdem wieder im Schlafzimmer, um kurz darauf mit einer dunklen Hose wiederzukommen. In der Hand hielt er eine Krawatte. Javier hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

„Wenn du nicht willst, dass ich dich damit an den nächsten Laternenpfahl binde, solltest du die auch weglassen.“

Die Drohung schien zu wirken. Nick legte die Krawatte ins Regal und fuhr sich wieder durch die Haare. Javier hätte ihm am liebsten auch das verboten, aber er durfte es auch nicht übertreiben. Vielleicht bekam er ja später noch Gelegenheit, da oben für etwas Unordnung zu sorgen.

„Ich geh nochmal ins Bad. Willst du … vielleicht was trinken?“

„Was hast du da?“

„Wasser, Cola, Sprite.“

Alles klar, kein Alkohol. Hatte Javier auch nicht erwartet. „Cola klingt gut.“

Er bekam von Nick ein Glas (und einen Untersetzer!) und ließ sich neben seiner Jacke aufs Sofa fallen. Die Schuhe hatte er schon an der Tür stehen lassen, und so legte er die Füße einfach auf das Polster und den einen Arm über die Lehne. Das Teil knarrte ein wenig unter ihm, war aber erstaunlich bequem.

„Du kommst klar?“, wollte Nick wissen. Er stand an der Tür zur Küche. Javier reckte seinen Daumen in die Höhe.

„Na klar, geh ruhig. Ich mach's mir hier so lange gemütlich.“

In Wahrheit wartete er eigentlich nur darauf, dass Nick endlich verschwand. Er hatte ein Ziel und das hieß Schlafzimmer. Die Tür war einen Spalt breit offen stehengeblieben und Javier interessierte sich brennend dafür, was dahinter lag.

Nick warf ihm noch einen letzten, zweifelnden Blick zu, bevor er sich umdrehte und ins Badezimmer ging. Javier hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Das war die Gelegenheit.

 

Mit einem Satz war er auf den Füßen und bei der so einladend offenen Tür. Er schob sie vorsichtig weiter auf und spähte ins Innere. Hier sah es schon eher so aus, wie er sich das vorgestellt hatte, wenngleich der Raum durch das alte Haus auch niedriger war, als er erwartet hatte. Auf dem Fußboden lag ein einfarbiger, blauer Teppich, die Wände waren weiß, die Vorhänge dunkelblau. Ein dunkelbrauner Holzschrank mit einer Spiegeltür, der nicht zum Rest der Möbel passte, nahm fast eine ganze Seite des Zimmers ein. Wobei das nicht viel war, denn der Raum war quasi winzig. Man konnte gerade noch um das Doppelbett herumgehen, um an einen kleinen Nachtschrank zu gelangen, und musste dabei schon aufpassen, nicht aus Versehen die Vorhänge mit dem Hintern aufzuziehen. Was immer der Raum auch für Geheimnisse barg, Javier musste sie entweder im kleinen oder im großen Schrank suchen. Er beschloss, mit dem kleinen anzufangen … und wurde enttäuscht. Darin fanden sich lediglich zwei Packungen Taschentücher, ein Buch und eine kaputte Armbanduhr. Auch der Wecker und die kleine Lampe hielten keine Überraschungen bereit. Dann also auf zum nächsten Kandidaten.

Er trat vor den großen Schrank und öffnete eine der Türen. Dahinter fand er (Überraschung!) eine Reihe von Anzügen. Daneben hingen Hemden, farblich sortiert. Im nächsten Teil befand sich Nacht- und Unterwäsche. Schlafanzüge mit geknöpften Oberteilen (würg!) und enge Shorts (nicht übel), die es allerdings nur in schwarz und weiß zu geben schien. Kein Markenaufdruck. Vervollständigt wurde das Sortiment von einer Reihe Krawatten und einer Schublade voller Socken und einigen Pullovern, die sich ein bisschen verschämt in einer Ecke zusammendrängten. Javier betrachtete das Ganze und atmete hörbar aus. Dieser Schrank war ebenso nichtssagend wie Nicks Outfit, das er ständig so faltenfrei zur Schau trug. Wo waren die dreckigen Geheimnisse?

Er warf einen Blick auf den Laptop, der auf dem Bett mit der dunkelblauen Tagesdecke lag. Darauf ließ sich vielleicht etwas finden, aber womöglich war das Gerät passwortgeschützt und das Risiko wollte er lieber nicht eingehen. Also wo noch nachsehen?

Er ging auf die Knie und schaute unter das Bett, aber dort fanden sich nur ein paar Schuhkartons, in denen doch tatsächlich Schuhe waren. Wer bitte bewahrte seine Schuhe in den dazu passenden (!) Kartons auf? So langsam bekam er das Gefühl, das Nick vielleicht doch eher eine hohle Frucht denn eine Delikatesse war. Er ließ seine Augen noch einmal durch den Raum schweifen und machte sich dann daran, den Schrank wieder in den Originalzustand zurückzubringen. Er wollte gerade die letzte Tür schließen, als ihm ein Widerstand auffiel. Irgendetwas verhinderte, dass er das blöde Ding ganz randrücken konnte. Er öffnete die Tür noch einmal, konnte den Grund aber zunächst nicht finden, bis er nach oben sah. Über dem Rand des Schranks lugte ein kleines Dreieck aus hellgrauer Pappe hervor. Er streckte sich, wobei sein kurzes, schwarzes T-Shirt seinen flachen Bauch entblößte, und bekam das Ding auf dem Schrank zu fassen. Er zog es herunter und hielt kurz darauf eine große, reichlich verstaubte Mappe in Händen. Er pustete darauf und wunderte sich ein wenig. Nicht nur, dass das Ding so gut versteckt war. Nick hatte es offensichtlich auch ziemlich lange nicht in der Hand gehabt.

 

Er versicherte sich kurz an der Schlafzimmertür, dass Nick immer noch im Bad war, bevor er die Bänder öffnete, die die Mappe verschlossen, und den Deckel aufklappte. Darin befanden sich Zeichnungen, Skizzen, ein Bild von einem Menschen nicht unähnlich dieses berühmten Bildes von Da Vinci, in der die Proportionen eingezeichnet waren. Als er weiterblätterte kam er zur einer Schraffierung eines Pferdes im vollen Galopp, von der ein Teil mit Buntstiften farbig gestaltet worden war, eine Zeichnung eines Löwenzahns und schließlich Fotos von Skulpturen aus Holz. Einen fast lebensecht wirkenden Frosch, der Oberkörper einer Frau, der von verschiedenen Seiten fotografiert worden war, ein abstraktes Gebilde, das an einen abgestorbenen Baumstumpf erinnerte, und schließlich eine Figur, die in einer sehr eigenartigen Position dastand, für die Javier keine Worte hatte. Ihre Gliedmaßen bildeten eine Art X, während ihr Kopf zurückgelehnt war und die Handflächen sich nach oben öffneten. Spätestens hier war ihm klar, dass es sich um Kunst handelte. Er wollte die Mappe schon wieder schließen, als ihm noch ein letztes Foto auffiel. Es war kleiner als die restlichen Bilder und ein wenig hinter die anderen Aufnahmen gerutscht. Er zog es hervor und vergaß für einen Moment zu atmen.

Der Mann auf dem Bild war eindeutig Nick. Ein jüngerer Nick, der auf dem Bauch lag, den Oberkörper halb aufgerichtet und den Kopf auf einen Arm gestützt. Seine Haare fielen ihm in die Stirn und er war, wenn Javier den unscharfen Teil im Hintergrund des Bildes richtig deutete, nackt. Das aber war es nicht, das ihm für einen Augenblick den Atem geraubt hatte. Es war der Ausdruck in Nicks Augen, die Javier aus dem Bild heraus mit einer Intensität ansahen, die er bei einer Fotografie nicht für möglich gehalten hatte. Genau diesen Blick hatte er am letzten Samstag bei Nick gesehen, als er getanzt hatte. Ein winziger Hauch davon hatte schon mitgeschwungen, als er Natascha den BH verkauft hatte, und das war es auch gewesen, das Javier wieder hatte neugierig werden lassen. Und jetzt hatte er diesen Ausdruck hier vor sich, für alle Ewigkeit konserviert in einem wahnsinnig geilen Foto. Ohne lange zu überlegen zückte Javier sein Handy und lichtete das Bild ab, bevor er es zurück zwischen die anderen schob. Mit fliegenden Fingern verknotete er die schwarzen Bänder wieder und legte die Mappe zurück auf den Schrank. Er hatte sein Glück schon viel zu sehr herausgefordert und wenn Nick ihn erwischte, war er gefickt und das nicht im guten Sinne. Also zog er die Tür hinter sich wieder bis auf einen Spalt zu und erreichte gerade noch rechtzeitig das Sofa, bevor die Badezimmertür aufging und Nick wieder auf der Bildfläche erschien. Javier überspielte sein klopfendes Herz mit einem Grinsen.

„Hat ja lange gedauert“, stichelte er und sah mit Bedauern auf die wieder einmal akkurat gescheitelte Frisur. Was hatte Nick nur zu so einem Spießer werden lassen und wo war der Typ auf dem Foto hin verschwunden?

„Gut Ding will Weile haben“, konterte Nick. „Kann ja nicht jeder aussehen, als wäre er gerade erst aufgestanden.“

„Ich lieg eben gern im Bett.“ Javier rekelte sich ein bisschen auf dem Sofa. „Wobei das hier auch nicht übel ist. Wo hast du das her?“

„Flohmarkt. Neu lag nicht im Budget. Ich hab's nur neu bezogen.“

Er hatte nicht gesagt 'beziehen lassen', wie Javier bemerkte. Ob die Sachen in der Mappe auch von ihm waren? Nick, ein Künstler?

 

Der mutmaßliche Künstler stand ein wenig verloren in der Küchentür herum. „Ich weiß nicht, also … Hast du Hunger? Ich wollte mir jetzt eigentlich noch was zu essen machen, aber wo du nun mal da bist ...“ 'Muss ich dich ja wohl fragen, ob du auch was willst', stand ungesagt im Raum. Javier hatte nicht vor, das abzulehnen.

„Klar. Hast du Pizza?“

Nick schüttelte den Kopf. „Hab keinen Teig vorbereitet. Ich wusste ja nicht, dass ich Mitesser habe. Wäre Pasta okay?“

Javier hob die Augenbrauen. „Sag bloß, du kochst.“

„Äh, ja. Ist das ein Problem?“

Nein, kein Problem, aber irgendwie eine Überraschung. In Javiers Kopf hatte Nick plötzlich eine weiße Rüschenschürze über seinem Hemd. Keine nette Vorstellung. Wobei, wenn man sich Hemd und Hose wegdachte, sah das Ganze vielleicht schon wieder ganz anders aus. Er grinste.

„Nein, alles cool. Ich nehme die Pasta.“

Nick nickte und wollte schon wieder um die Ecke verschwinden, als er nochmal stehenblieb und Javier fragend ansah. „Mit oder ohne Knoblauch?“

Sollte das jetzt eine Anspielung sein oder …?

„Ich frag nur, weil Alexandra den nicht verträgt.“

Ach so. „Gerne mit.“

Er wusste zwar nicht, was der Abend noch so bringen würde, aber wenn alles lief, wie er sich das vorstellte, war Knoblauch das geringste Problem. Immerhin würde Nick ja auch welchen essen. Der Blick von dem Foto kam ihm wieder in den Sinn. Ob man den wohl irgendwie aus Nick rauskitzeln konnte? Und wenn ja, wie? Die Möglichkeiten, die ihm zuerst dafür einfielen, waren nicht wirklich jugendfrei, auch wenn einem seiner Körperteile die Idee durchaus gefiel. Aber das ging definitiv noch zu weit.

Er ließ seine Augen durch den Raum wandern und entdeckte die Stereoanlage. Nichts besonderes, so ein kleines Kompaktteil, aber mit einer Menge CDs daneben. Javier erhob sich und ging die Titel durch. Da war nicht viel dabei, was ihm etwas sagte. Ein bisschen älterer Pop. Jugendsünden, wie er vermutete. Auf der Anlage lag eine Hülle. Er nahm sie in die Hand und runzelte die Stirn. Auf dem schwarz-weißen Cover waren ein Roboter und eine fliegende Untertasse zu sehen. Was war das denn für Musik? Die Hülle war leer, also drückte er einfach den Knopf, der die Anlage zum Leben erweckte, und im nächsten Moment drangen aus dem Lautsprecher schnelle Schlagzeugrhythmen und irgendwelche elektronischen Töne, die gleich darauf von einer Klarinette untermalt wurden. Eine Frau begann zu singen. Javier machte ein erstauntes Geräusch und schlenderte dann in die Türöffnung zur Küche.

„Ich hab mal Musik angemacht“, verkündete er überflüssigerweise, denn in der Küche war das Gedudel nur umso lauter. Irgendwo gab es vermutlich noch einen Lautsprecher.

„Hab's gehört.“

Nick drehte sich nicht um, während er auf der Arbeitsplatte herumhantierte, aber Javier war das ganz recht, denn so konnte er ohne Störungen Nicks Hintern beobachten, der sich unbewusst im Takt des Liedes hin- und herbewegte. Okay, das war definitiv ausbaufähig. Und irgendwie sexy. Ein Lächeln umspielte Javiers Lippen. Sie würden heute bestimmt noch viel Spaß haben.

The Great Gatsby

Nick würfelte das letzte Stück Paprika und schob es auf dem Brett beiseite. Er wippte ein bisschen im Takt der Musik mit, während er eine Pfanne und einen großen Topf aus dem Backofen holte. Seine Küche hatte definitiv zu wenig Stauraum, andererseits brauchte er ja auch nicht so viel Platz. Normalerweise. Plötzlich wurde ihm wieder bewusst, dass er nicht allein war. Ein kurzer Blick bestätigte ihm, dass Javier ihn beobachtete. Das war irgendwie … eigenartig. Nick war so viel Interesse an seiner Person nicht gewohnt. Er musste das dringend klären. Mit einer entschlossenen Geste legte er das Messer weg. Sicher war sicher.

„Hör mal, Javier ...“

„Kannst du bitte aufhören, mich so zu nennen. Das machen nur meine Mama und meine Abuela. Und natürlich Tante Nata.“ Er zögerte, bevor er hinzufügte: „Die meisten meiner Freunde nennen mich einfach Jay.“

Nick brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten. Er konnte nicht anders und musste grinsen.

„Was gibt es da zu lachen?“ Javiers Augen blitzten für einen Augenblick wütend auf.

„Ach, ich musste nur an was denken.“

„Und an was?“

Nick gab keine Antwort. Stattdessen trocknete er sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab und ging an Javier vorbei ins Wohnzimmer. Er stellte zunächst die CD ab – die restlichen Lieder darauf waren bis auf eine Ausnahme eher was für Kenner – und machte stattdessen das Radio an. „I'm sexy and I know it“ röhrte es aus den Lautsprechern und Nick drehte eilig die Lautstärke runter. Er musste sich nicht umsehen um zu wissen, dass Javier fast im Kreis grinste. Standhaft ignorierte er das leichte Ziehen in seinem Bauch und griff nach einer DVD. Am ausgestreckten Arm hielt er sie Javier vors Gesicht.

„Kennst du den?“

Javier hörte auf zu grinsen und runzelte die Stirn. „The Great Gatsby? Nie gesehen.“

Nick drehte sich ein wenig enttäuscht weg.

„Aber das Buch gelesen.“

„Im Ernst?“ Javier wirkte auf ihn nicht wie jemand, der besonders viel las.

„Ja, im Englisch-Leistungskurs. Meine Lehrerin stand voll drauf. Sie hat eine komplette Doppelstunde nur von diesen dämlichen Gardinen am Anfang gequasselt, wie die da so im Wind flattern, und die unglaubliche Symbolik gepriesen. Da habe ich dann abgeschaltet und bin irgendwann wieder aufgewacht, als sie die Tussi überfahren haben.“

„Also hast du's nicht gelesen?“

„Doch. Nur der Unterricht war scheiße.“

Nicks einer Mundwinkel wanderte nach oben. „Na dann wirst du ja auch noch wissen, wie die Hauptfigur hieß, oder?“ Er hielt Javier noch einmal die DVD unter die Nase und tippte auf die Liste der Schauspieler.

„Leonardo DiCaprio als … Jay Gatsby.“ Javiers Augenbrauen wanderten nach oben. „Das war mir wohl irgendwie entgangen.“ Er las weiter und begann zu grinsen. „Und Tobey Maguire als Nick Carraway? Dann nenne ich dich ab jetzt Spidey.“

Nick zog die Stirn kraus. „Warum Spidey?“

„Tobey Maguire? Spider-Man? Klingelt da was?“ Javier grinste schon wieder. „In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Ich steh nicht so auf Actionfilme. Also schon, aber nicht auf diesen Superhelden-Kram. Mir sind realistische Geschichten lieber.“

„Science Fiction?“

„Ist okay.“

„Star Wars oder Star Trek?“

„Beides.“

„WAS?“ Javier schien entsetzt. „Man kann nicht beides gut finden. Du musst dich schon entscheiden.“

Nick hatte nicht gewusst, dass es da so feine Unterschiede gab. Er fühlte sich genötigt, sich zu verteidigen. „Was findest du denn besser?“

Javier lehnte sich gegen den Türrahmen und steckte die Daumen in den Hosenbund. „Ich mag beides.“

„Ich denke, das geht nicht.“

„Hab's mir anders überlegt.“

Nick lachte kopfschüttelnd. „Ich geb's auf. Und fange mal lieber an zu kochen, sonst versacken wir hier heute Abend noch.“

Javier machte ihm Platz, als er wieder in die Küche ging und lehnte sich anschließend erneut in den Türrahmen. Nick begann, Olivenöl in der Pfanne zu erhitzen, und setzte Nudelwasser im Topf an. Während er darauf wartete, dass das Öl heiß genug war, fiel ihm etwas auf.

„Du hast gesagt, du hättest das Buch im Englisch-Leistungskurs gelesen. Hast du etwa Abi gemacht?“

„Ja und? Was dagegen?“ Javiers Ton war schon wieder leicht aggressiv.

„Nein, im Gegenteil Ich hab mich nur gefragt, wie alt du eigentlich bist.“

„20.“

Nick prüfte mit dem Holzlöffel die Temperatur des Öls, bevor er die fein gehackten Zwiebeln und den Knoblauch dazu gab. Er rührte darin herum, derweil beides anschwitzte, und stellte fest, dass das Sinn machte. Javier hatte, wenn er nicht zwischendurch sitzengeblieben war, mit 18 Abi gemacht, war dann in die Bank-Lehre gegangen und hatte diese abgebrochen. Um eine neue zu beginnen hatte er sicherlich bis zum nächsten Jahr warten müssen, nur um dann wieder abzubrechen. Das machte insgesamt zwei Jahre, in denen er im Grunde nichts Gescheites mit seiner Zeit angefangen hatte. Stellte sich nur die Frage, was er denn gemacht hatte.

„Und du?“

Javiers Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

„24.“ Er hielt das Brett mit dem kleingeschnittenen Frühstücksspeck und der Paprika hoch. „Schinken?“

„Im Ernst? Du wirkst, als wärst du schon über 30.“

Nick wusste nicht, wie er das finden sollte. Nur weil er sich nicht wie ein Schmalspurrocker anzog und einer geregelten Arbeit nachging, war er doch noch lange nicht alt. Er wedelte ungeduldig mit dem Brett.

„Schinken oder keinen Schinken?“

Einige Paprikastückchen fielen zu Boden und kullerten durch die Küche. Javier hob sie auf und steckte sie sich in den Mund.

„Schinken“, bestätigte er kauend. Nick verzog das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse.

„Das lag auf dem Fußboden.“

„Na und? Bei dir ist doch eh alles wie geleckt?“ Javier streckte die Zunge raus und machte eine sehr unanständige Bewegung damit. Nick musste an den Porno mit den beiden Kerlen denken, und drehte sich schnell weg, als ihm die Röte ins Gesicht schoss. Javier würde das womöglich missinterpretieren. Oder vollkommen richtig. Hatte er ihm nicht irgendwie sagen wollen, dass er nicht interessiert war? Wie waren sie so weit vom Thema abgekommen?

 

Nick beschloss, die Konversation zunächst einmal ruhen zu lassen. Das Nudelwasser blubberte bereits im Topf vor sich hin und wenn er sich jetzt nicht konzentrierte, waren die Nudeln schon weich, während das Gemüse noch halb roh in der Pfanne schmorte. Er hantierte mit Kochlöffel, Zutaten und Gewürzen herum, bis plötzlich jemand neben ihm stand. Nick zuckte zusammen und richtete die Gabel, mit der er gerade die Nudeln prüfen wollte, auf Javier. Der grinste schon wieder.

„Ganz ruhig, Tiger. Ich wollte nur mal gucken, was du da zauberst.“

„Nudeln mit Soße.“

„Vorhin war's noch Pasta.“

„Hab's mir anders überlegt.“

Javier sah ihn an, als wolle er ihn gleich fressen. Vielleicht war es gut, wenn bald etwas zu essen auf dem Tisch stand. Dann hatte Javiers frecher Mund was anderes zu tun, als Nick ständig auf die Palme zu bringen.

„Kannst du mal den Tisch decken?“, fragte er, um etwas Abstand zwischen sie zu bringen. „Teller sind im Schrank und Besteck in der Schublade.“

Javier schob wie befohlen los und Nick war sich jetzt zu 100 Prozent sicher, dass die Art und Weise, wie er sich bewegte, sehr, sehr kalkuliert war. Ein bisschen Show, ein bisschen verführerisch, ein bisschen plumpe Anmache. Nick war klar, was er damit bezweckte, und er musste ihm dringend sagen, dass daraus nichts werden würde, aber wie sollte er das anstellen?

Sorry, aber ich will nicht mit dir ins Bett steigen, war vielleicht nicht ganz die feine, englische Art. Vielleicht sollte er erst mal ein anderes Gesprächsthema anschneiden und sich dann langsam vorarbeiten.

„Was hattest du noch als Leistungskurs?“, fragte er daher, als er Nudeln und die fertige Paprika-Schinken-Tomaten-Sahne-Mischung auf zwei Teller häufte.

„Mathe.“

„Im Ernst?“

Javiers Finger schlossen sich fest um seine Gabel. „Ja, wieso? Hast du ein Problem damit?“

„Nein, aber ich war in Mathe immer voll die Niete.“ Nick setzte sich und breitete eine Serviette auf seinem Schoß aus. Javier beobachtete das mit einem spöttischen Blick.

„Und da bist du Kaufmann geworden?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Der Name war irgendwie Programm. Hab den Teil während der Ausbildung einfach nochmal nachgebüffelt. Das ging dann schon irgendwie. In der Schulzeit hab ich mich mehr auf andere Sachen konzentriert.“

„Hast du auch Abi gemacht?“

„Ja.“

„Und in welchen Fächern?“

„Kunst und Bio.“

Javier prustete in seine Nudeln. „Was ist denn das für 'ne schräge Kombi?

„Na ja, ich musste ja irgendwas nehmen und Bio erschien mir ganz interessant.“

„Und Kunst?“

Nick fühlte sich plötzlich, als habe er einen Stein im Magen. Diese Büchse der Pandora würde er bestimmt nicht öffnen. Er hatte damit abgeschlossen und fertig. Kein weiterer Redebedarf. Lustlos piekte er eine Nudel auf. Der Appetit war ihm vergangen.

„Warst du so schlecht?“ Javier griente ihn von der anderen Seite des Küchentischs an und Nick fühlte ein kleines Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen.

„Nein, aber auch nicht besonders gut. Fürs Bestehen hat's gereicht.“

Er griff nach seinem Teller und entsorgte die Reste ganz entgegen seiner Gewohnheit gleich in den Mülleimer. Er nahm zwar nicht an, dass Javier weiter nachfragen würde, aber es erschien ihm sicherer.

„Nach der Schule habe ich erst mal eine Weile gejobbt“, bog er die Wahrheit noch ein wenig weiter zurecht. „Und was hast du dann gemacht? Ich meine, außer nicht Bankkaufmann zu werden?“ Irgendwie konnte er sich Javier tatsächlich nicht in einem Anzug vorstellen. Das wäre ein bisschen, als würde man einem Löwen die Mähne abrasieren.

„Auch gejobbt.“ Javiers Blick richtete sich auf den Fußboden und Nick hatte plötzlich das Gefühl, als würde er ihm auch nicht so ganz die Wahrheit sagen.

„Was war eigentlich die zweite Lehre, die du angefangen hast?“

Ein Zögern. „Automechaniker.“

„Was?“ Nun war es an Nick zu staunen. „Du wunderst dich über Kunst und Bio, wolltest aber ernsthaft Automechaniker werden?“

„War die Idee meines Vaters. Der arbeitet in einem Autohaus und ...“ Javier verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich schraube schon manchmal ganz gerne an etwas herum, aber beruflich will ich das nicht machen.“

„Und was willst du machen?“

„Keine Ahnung.“ Javiers Haltung war inzwischen vollkommen defensiv und Nick tat das irgendwie leid. Er hatte ja eigentlich nur ein bisschen Smalltalk machen wollen und nicht gleich tiefenpsychologische Gespräche anfangen. Sein Blick glitt zur Uhr. Es war kurz vor neun.

„Wenn du willst, können wir auch schon losgehen. Bis wir am Bahnhof sind, ist es ein Stück und der Zug fährt ja auch eine ganze Weile.“

„Klingt gut.“ Javier lies geräuschvoll die Luft entweichen. „Kann ich nochmal dein Badezimmer benutzen?“

„Klar, bedien dich.“

Nick räumte noch die Pfanne und den Topf zusammen. Das hieß, er stellte die Sachen ausnahmsweise einfach nur in die Spüle. Eigentlich wusch er immer gleich ab und verstaute alles wieder an seinem vorgesehenen Platz, aber er hatte Angst, sich dabei nass zu spritzen, und außerdem wollte er Javiers Geduld nicht unbedingt länger strapazieren, als unbedingt notwendig. Als der zurückkam, ging Nick auch nochmal ins Badezimmer. Während er sich die Hände wusch, sah er in den Spiegel. Er fand sich eigentlich ganz gut, so wie er sich anzog und zurechtmachte. Halt ganz im Stil der 20er. Dass er dadurch älter wirkte, war im Geschäft nicht unbedingt von Nachteil. Allerdings mochte es tatsächlich sein, dass er in einem Nachtclub damit ein wenig auffiel. Und auffallen war nun wirklich das Letzte, was Nick wollte. Vielleicht sollte er heute doch mal ein bisschen …

Er öffnete den obersten Hemdknopf. Kein großer Unterschied zu vorher, aber immerhin ein Anfang. Was anderes anziehen fiel ohnehin aus. Er hatte ja nichts da. Seine alten Sachen hatte er alle entweder weggeschmissen oder bei seinen Eltern gelassen. Sein Blick glitt zu seinen Haaren. Ob er …? Versuchsweise strich er mit den Fingern hindurch, wuschelte die enganliegende Frisur ein wenig durch, bis sie nicht mehr ganz so glatt lag. Den Scheitel ließ er, wo er war. Um den wegzubekommen, hätte er die Haare nochmal waschen müssen und das war ihm so kurz vor dem Rausgehen zu heikel. Aber so sah er … normal aus. Normal war gut. Normal würde niemand bemerken. Er seufzte und drehte endlich das Wasser ab, das schon viel zu lange sinnlos in den Abfluss lief.

Als er aus dem Bad kam, hatte sich Javier schon wieder seine Turnschuhe und die Lederjacke angezogen. Nick fröstelte bereits, als er ihn nur ansah.

„Hast du nicht wenigstens einen Schal?“

„Schals sind für Weicheier.“

Nick presste die Lippen zusammen und griff nach seinem Mantel. Den Schal ließ er am Garderobenhaken hängen.

„Bereit?“ Javier hob fragend die Augenbrauen.

Nick fühlte sich alles andere als bereit, aber jetzt würde ihm wohl keine Wahl mehr bleiben. Er rang sich ein Lächeln ab.

„Klar, stürzen wir uns ins Vergnügen.“ Das hoffentlich in keiner allzu großen Katastrophe enden würde. Er spürte, wie sich sein Magen bei dem Gedanken an die nächsten Stunden ein wenig zusammenzog. Es war nicht so, dass er aufgeregt war, aber irgendwie … Er wusste es nicht. Alles, was er wusste, war, dass es absolut viel zu kalt draußen war. Bibbernd klappte er den Mantelkragen hoch und folgte Javier in die Nacht hinaus.

 

 

 

Die Fahrt in die nächste Stadt verlief ereignislos. Sie wechselten dort von der normalen in die S-Bahn, wo sich Javier rotzfrech auf eine ganze Bank lümmelte und die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz stellte, sodass niemand mehr vorbeikam. Als eine Frau ihn darauf ansprach, tat er so, als verstünde er nur Spanisch.

„Machst du so was öfter?“, fragte Nick, der ihm gegenüber saß, als die Frau ausgestiegen war.

„Nur, wenn mir jemand auf den Sack geht“, gab Javier zurück. „Und manchmal fange ich beim Sex an, Spanisch zu sprechen.“

Nick verzog das Gesicht. „Das wollte ich jetzt eigentlich gar nicht wissen.“

„Hört sich aber heiß an.“

„Sagt wer?“

Javier sah auf seine Fingernägel, polierte sie an seinem T-Shirt und pustete dann darauf. „Verschiedene Leute.“

Nick beschloss, lieber ein bisschen aus dem Fenster zu schauen. Wobei er im Dunkeln rein gar nichts erkennen konnte. Stattdessen spiegelte sich das Innere des Wagons in der Scheibe und Nick konnte sehen, dass Javier ihn musterte. Der hatte anscheinend nicht bemerkt, dass Nick ihn ebenfalls beobachten konnte, und ließ seinen Blick ungehemmt über Nicks Körper wandern. Der Stein in Nicks Magen wurde wieder ein wenig größer. Er musste das endlich klären.

Nick wandte den Kopf. „Du hör mal ...“

In diesem Moment hielt der Zug an einem Bahnhof. Die Tür öffnete sich und ein Haufen Typen, denen Nick lieber nicht im Dunkeln begegnen wollte, stieg ein. Eine Skinhead-Fraktion in voller Montur von den abrasierten Haaren bis hinab zu den Springerstiefeln. Nick versuchte, nicht allzu offensichtlich in ihre Richtung zu gucken. Natürlich wusste er, dass nicht jeder Skinhead ein Neonazi war und es bestimmt auch unter Leuten, die sich so anzogen, jede Menge nette Typen gab, aber irgendwie verspürte er gerade nicht den Drang herauszufinden, ob das hier auch der Fall war.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Javier sich ein wenig kleiner in seinem Sitz gemacht hatte. Er sah nicht gerade glücklich aus. Nick stieß ihn mit dem Knie an und schob seine Mundwinkel nach oben. Javier versuchte, das zu erwidern, aber sein Gesicht wurde dadurch einfach nur ein wenig in Schieflage gebracht. Lachen sah anders aus.

Als die Typen zwei Stationen später wieder ausstiegen, wechselte Nick die Sitzbank und setzte sich neben Javier.

„Hast wohl schlechte Erfahrungen mit denen gemacht?“

„Mhm“, machte Javier ungewöhnlich ungesprächig. „Nicht direkt. Sie haben mich nicht erwischt, aber wenn, hätte das wohl ins Auge gehen können.“

„Was hast du gemacht?“

„Einem Typen einen geblasen.“

Nick verschluckte sich und fing an zu husten. Als er sich halbwegs wieder beruhigt hatte, krächzte er mit erstickter Stimme: „Auf offener Straße?“

„War halt kein Bett in der Nähe.“

Javier schien das ziemlich cool zu sehen. Nick fragte sich, wie viel Sex Javier wohl schon gehabt hatte. Definitiv mehr als Nick, wobei das auch nicht wirklich schwierig war. Sein letztes Mal war … sehr lange her.

 

Ihre Station kam in Sicht und Nick erhob sich, um schon mal zur Tür zu gehen, als Javier ebenfalls aufstand und sich ihm in den Weg stellte. Er grinste und reckte das Kinn vor.

„Kann ich mal Ihren Fahrschein sehen?“

Nick schüttelte den Kopf. „Spinn nicht rum. Wir müssen hier raus, sonst müssen wir den ganzen Weg zurück zu Fuß laufen.“

„Wenn Sie sich nicht ausweisen können, muss ich Sie wohl einer Leibesvisitation unterziehen.“

Er streckte seine Hand nach Nick aus, aber der fing sie ab und drückte sie entschieden nach unten. Anschließend schob er Javier in den Gang. „Aussteigen! Sonst fahre ich gleich wieder heim.“

„Oh, jetzt wird er energisch. Da steh ich ja drauf.“ Javier gab einen Laut von sich, der verdächtig nach einem Schnurren klang.

Nick wollte sauer auf ihn sein. Er wollte es wirklich, aber es klappte nicht besonders gut. Eigentlich überhaupt nicht. Er seufzte. Der Zug hatte bereits angehalten und die ersten Leute traten auf den Bahnsteig.

„Können wir jetzt bitte hier aussteigen? Bitte?“

Javier sah zu ihm hoch. Seine Augen wurden noch eine Spur dunkler. „Okay, wenn du mich so sehr anflehst, will ich mal nicht so sein.“

Er trat zur Seite und ließ Nick vorbei. Gerade in dem Moment ertönte das Geräusch, das ankündigte, dass die S-Bahn gleich weiter fahren würde. Nick überlegte nicht lange. Er griff nach Javiers Arm, hechtete zur Tür und hämmerte auf den Knopf, der sie öffnete. Und tatsächlich glitten die beiden Türflügel noch zur Seite, nur um sich gleich wieder in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Nick sprang hindurch, zerrte Javier hinter sich her und stand im nächsten Augenblick auf dem Bahnsteig, während sich die S-Bahn mit einem schmatzenden Geräusch wieder hinter ihnen schloss. Er atmete erleichtert auf. Javier grinste bloß.

„Wenn du Händchen halten willst, kannst du das doch sagen.“ Er machte seinen Arm los und griff nach Nicks Hand. Seine Finger waren warm und schlossen sich fest um Nicks.

„Ich ... äh.“ Nick wusste nicht, wie er jetzt reagieren sollte. Seine Hand gleich wieder wegzuziehen wäre irgendwie komisch gewesen. Aber sie Javier zu lassen, sendete mit Sicherheit die falschen Signale. Vielleicht konnte er seine Hand ja oben wieder zurückverlangen, wenn sie aus dem Bahnhof nach draußen kamen. Da war es immerhin kalt und er würde seine Hand einfach in die Manteltasche in Sicherheit bringen.

 

Als sie auf die Meile kamen, war noch nicht viel los. Was im Grunde genommen auch kein Wunder war, denn es war noch nicht einmal 22 Uhr und die meisten Besucher würden erst zu späterer Stunde hier eintreffen. Nick kannte sich auch nicht besonders gut aus und strebte daher der Einfachheit halber einen Laden an, der in der Art eines Irish Pubs aufgezogen worden war. Hier spielten am Samstagabend oft Bands und bis es losging, konnte man sich zwischen dunklem Holz und vielen Spiegeln erst mal ein bisschen gemütlich in eine Ecke setzen und den Leuten zusehen, die vorbeikamen.

Javier nippte an seinem Bier.

„Und, auf was für Musik stehst du so?“, fragte er und knibbelte am Etikett der Flasche.

„Hast du doch vorhin gehört“, gab Nick zurück und betrachtete eingehend seine Cola. „Elektro Swing. Aber eigentlich auf alles, wozu man tanzen kann.“

„Ja, das hast du wirklich drauf.“

Nick verzog seinen Mund zu einem Lächeln. „Danke. Hab mit 14 angefangen und bin irgendwie dabei geblieben.“

„Du warst also auch mal ein Friedemann?“ Javier feixte sich eins.

Nick rollte mit den Augen. „Nimmst du eigentlich auch mal was ernst?“

„Nöö, wenn ich nicht muss, nicht.“ Er grinste und stieß Nick unter dem Tisch an. „Mann, Nick, mach dich locker. Vielleicht solltest du mal was trinken. Also was mit ein paar mehr Umdrehungen.“

Ungute Erinnerungen stiegen in Nick hoch. „Lass mal. Ich trinke nicht oft und vertrage quasi nichts. Da ist der Abend im Handumdrehen gelaufen.“

Javier sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. „Okay, wie du meinst. Aber tanzen wirst du nachher wenigstens, oder?“

Nick versprach, dass er das tun würde, und dann plauderten sie weiter über alles Mögliche. Nick gestand, dass Straciatella seine absolut liebste Eissorte war und er eine Allergie gegen Katzen hatte. Im Gegenzug erfuhr er, dass Javier auch noch Spitznamen „Gecko“ trug und ein entsprechendes Tattoo hatte. Wo, das verriet er nicht, aber er deutete an, dass es in einem Bereich lag, den Nick nicht so bald zu besichtigen wünschte.

„Wenn du brav bist, zeige ich es dir mal“, sagte er mit einem belustigtem Funkeln im Auge und zwinkerte Nick zu. Der beschloss, dass es Zeit wurde, das O'Malley's langsam wieder zu verlassen und sich nun endgültig ins Flamingo zu begeben. Vielleicht würde Javier da ja jemanden finden, dem er sich an den Hals werfen konnte.

 

Sie wanderten die Meile entlang, als Javier plötzlich große Augen bekam.

„Da müssen wir rein“, verkündete er und bevor Nick wusste, wie ihm geschah, stand er schon inmitten von Dildos, Reizwäsche und Pornofilmen. Er stöhnte innerlich auf. Javier hatte ihn in einen Sex-Shop gelotst.

„Kannst du mir mal verraten, was du hier willst?“

„Na einkaufen.“ Javier schien das Problem nicht zu sehen. Er wanderte durch die Regale und griff doch tatsächlich nach einem riesigen, unechten Penis in einem schreienden Violett. „Wie findest du den?“

Nick wollte gerne sterben. Und den Laden verlassen. Jetzt sofort.

„Stell das wieder hin und lass uns verschwinden“, fauchte er und versuchte den neugierigen Blick zu ignorieren, den ihm ein anderer Kunde zuwarf, der gerade das Kondomsortiment durchsah.

„Aber ich habe doch noch gar nicht gefunden, was ich suche“, gab Javier zurück. Er sah sich weiter um, bis sich sein Gesicht aufhellte und er einem Regal zustrebte, in dem Gleitmittel ausgelegt waren. Dort angekommen runzelte er die Stirn.

„Mit oder ohne Geschmack?“

„Ist mir egal, Hauptsache wir gehen gleich.“ Es war plötzlich so furchtbar warm hier drinnen. Nick öffnete seinen Mantel.

„Okay, dann suche ich aus.“ Javier schnappte sich eine kleine Tube und angelte im Vorbeigehen noch nach einigen einzeln verpackten Kondomen, die Nick unsinnigerweise an 'Pretty Woman' erinnerten. Er wartete nicht ab, bis Javier bezahlt hatte, sondern raste an ihm und dem Kassierer vorbei nach draußen. Dort holte er erst einmal tief Luft und schalt sich im nächsten Augenblick einen Esel. Warum war er da drinnen denn bloß so durchgedreht? Es war doch nur ein Sex-Shop. Alexandra hatte ihn schon ein paar Mal in einen dieser Läden mitgenommen und es war nicht halb so schlimm gewesen. Vielleicht weil da klar gewesen war, dass die gekauften Artikel nicht für ihn waren. Moment, das war jetzt auch klar. Völlig klar. Ihm zumindest. Aber vermutlich musste er Javier diesbezüglich nun endlich mal reinen Wein einschenken.
 

Er kam jedoch nicht dazu, denn wieder auf der Straße gerieten sie in eine Meute Feierwütiger, die Javier und ihn getrennt voneinander ein Stück weit durch die Straßen mitschleiften, bis sie sich schließlich ein wenig zerzaust vor einem Schild mit einem regenbogenfarbenen Flamingo wiederfanden. Javier wartete nicht ab, sondern ging gleich zum Eingang, wo sie Eintritt zahlten, einen Stempel bekamen und im nächsten Moment in einer warmen, von Lichterketten erhellten Bar standen. Im vorderen Bereich gab es einige Tische und Stühle, während weiter hinten getanzt werden konnte. Das Herzstück bildete jedoch eine von allen Seiten zugängliche Bar, hinter der zwei junge Männer und eine Frau ganz in neutralem Schwarz sich um das Wohl der trinkwilligen Gäste kümmerte.

Nick sah sich um und musste feststellen, dass es eigentlich genau wie in allen anderen Bars aussah. Gut, das gehäufte Auftreten von Flamingos und Regenbogenflaggen in allen Größen und Ausführungen war relativ auffällig und die Paare, die so herumstanden und auch mal miteinander knutschten, waren halt nicht gemischtgeschlechtlich, aber sonst? Er begann sich zu entspannen. Das hier war kein ominöser Sexschuppen mit Darkroom oder ähnlichem, sondern einfach nur ein Laden, wo man hinging, um ein bisschen nett abzuhängen und vielleicht auch mal jemanden kennenzulernen, von dem man sich sicher sein konnte, dass er auf der gleichen Uferseite wohnte.

 

Javier drehte sich zu ihm um. „Willst du was trinken? Die erste Runde geht auf mich. Wegen eben.“

Anscheinend hatte er bemerkt, wie unwohl sich Nick bei der Sache mit dem Sex-Shop gefühlt hatte. Gut. Obwohl es eigentlich albern anmutete und es Nick jetzt im Nachhinein ziemlich peinlich war, dass er sich so dämlich benommen hatte.

„Schon okay, ich war einfach nur überrascht. Ich bin … nicht so freizügig wie du.“

„In Ordnung. Cola?“

Nickt bejahte und ergatterte einen der letzten Tische in der Nähe der Tanzfläche. Javier balancierte das volle Glas zum Tisch und stellte sich mit seinem Bier auf dessen andere Seite. Er stieß mit seiner Flasche gegen die Cola.

„Wohl bekomm's!“

Nick nahm einen Schluck und sah sich weiter um. Auf der Tanzfläche war trotz der frühen Stunde schon einiges los. Wenn Alex jetzt hier gewesen wäre, hätte sie Nick vermutlich sofort dorthin gezerrt, aber jetzt traute er sich irgendwie nicht so recht, gleich damit loszulegen. Er war sich zudem unsicher, ob Javier mitkommen würde. Außerdem musste er ihm immer noch was sagen.

Nick wollte sich gerade zu Javier rumdrehen, als sich plötzlich jemand ins Licht schob. Seine Augen wanderten nach oben und entdeckten einen blonden Hünen, der ihn freundlich anlächelte.

„Hi, ich bin Thomas.“

Ach ja, das hatte er vergessen. Wenn er verschüchtert in der Ecke rumstand, würden sich die anwesenden Männer mit großer Wahrscheinlichkeit genötigt fühlen, ihn aus seiner Lage zu befreien … indem sie ihn ansprachen.

„Bist du allein hier?“

Noch bevor Nick antworten konnte, drängte sich plötzlich Javier zwischen Nick und den Blonden.

„Nein, ist er nicht“, verkündete er und setzte sich fast auf Nicks Schoß. Dabei packte er Nicks Arme und schlang sie um sich, wobei er Nicks rechte Hand halb unter sein T-Shirt schob. Nick fühlte die weiche, warme Haut unter seinen Fingern und roch Javiers Aftershave, das zu ihm herüberwehte.

Thomas lächelte immer noch und hob beschwichtigend die Hände. „Nichts für ungut, ich dachte nur, ich versuche mal mein Glück. Viel Spaß noch euch beiden.“

Er drehte sich wieder herum und ging zu seinem Glas an der Bar zurück. Nick atmete auf. Nein, nicht wirklich, denn er hatte immer noch Javier im Arm, der keinerlei Anstalten machte, seinen Posten wieder zu verlassen.

„Er ist weg“, sagte Nick neben Javiers Ohr. Einige Strähnen kitzelten ihn im Gesicht.

“Mhm, ist mir aufgefallen.“ Javier schob Nicks Hand noch ein Stück nach oben, sodass er unter seinem Daumen ganz schwach Javiers Herzschlag spüren konnte. Er war ziemlich schnell. „Aber wir sollten vielleicht klarmachen, dass wir beide zusammen hier sind.“

Er drehte sich herum, so dass er jetzt direkt vor Nick stand und sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Das sind wir doch, oder?“

Die Stunde der Wahrheit war also gekommen. Nick schluckte leicht und hätte zu gerne etwas von seiner Cola gehabt. Doch dazu hätte er Javier loslassen müssen und wer wusste schon, was ihm dann wieder einen Strich durch die Rechnung machte.

„Also, was das angeht ...“ Warum war das nur so verdammt schwer? „Ich … du bist nicht so wirklich mein Typ, weißt du?“

Javier nahm diese Eröffnung gelassen. „Und was ist dein Typ?“

„Äh … groß und blond?“

Javier biss sich auf die Unterlippe und schien zu überlegen. „Ich könnte mir die Haare komplett blondieren, aber das mit der Größe wird schwierig werden. Was meinst du, was sind die höchsten Plateauschuhe, die man so kriegen kann?“

Nick lachte. Es war also nicht ernst, nur ein Scherz. Javier hatte ihn verstanden.

„Weiß nicht, aber zehn Zentimeter bestimmt.“

„Reicht dir das oder soll es noch mehr sein? Und muss ich die dann auch im Bett anbehalten?“

Für einen Augenblick drückte sich Javier noch näher an ihn und Nick hielt unbewusst den Atem an. War er doch nicht deutlich genug gewesen? Was sollte er machen, wenn Javier ihn jetzt einfach küsste? Oder ihm gleich die Zunge in den Hals schob? Und warum musste er ihn so ansehen?

 

Nick tat das Einzige, was ihm einfiel. Er nahm seine Hände von Javiers Hüften und legte sie auf seinen eigenen Oberschenkeln ab. Dann wartete er, was der andere jetzt tun würde.

Nach einigen Augenblicken trat Javier einen Schritt zurück. Anscheinend war die Botschaft, dass Nick nicht interessiert war, jetzt wirklich angekommen. Nick wollte noch etwas sagen, aber Javier hob die Hand.

„Kein Problem, man kann ja nicht immer Glück haben. Es schwimmen schließlich noch mehr hübsche Fische im Teich.“

„Danke“, sagte Nick und wusste eigentlich nicht so recht, wofür er Javier gedankt hatte. Für sein Verständnis? Für das verkappte Kompliment? Er hatte keine Ahnung. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, nahm er sein Glas und trank einen großen Schluck Cola. Die kühle Süße schwemmte den eigenartigen Kloß in seinem Hals hinweg.

„Aber tanzen können wir doch zusammen, oder?“

Javier sah ihn an und erinnerte Nick dabei ein bisschen an einen kleinen, getretenen Hund. Hatte er etwa wirklich seine Gefühle verletzt? Steckte da mehr hinter dem ganzen Gerede über Sex? Oder war gerade einfach nur Javiers Ego geknickt, weil er entgegen seines siegessicheren Auftretens halt doch nicht jeden haben konnte? Nick wusste es nicht und wünschte die ganze Idee, heute Abend allein mit Javier auszugehen, zum Kuckuck.

In diesem Moment begann ein neues Lied und Fergie verkündete, dass er sich mal entscheiden solle, weil sie nur diese eine Nacht hätten und ein bisschen Party schließlich noch niemanden umgebracht hätte. Nick nahm das als ein Zeichen und glitt von seinem Barhocker.

„Klar, gehen wir tanzen.“
 

Er warf sich mit Javier in die Menge, schloss die Augen und ließ den Rhythmus die Kontrolle übernehmen. Seine Füße schienen wie von selbst zu wissen, was sie zu tun hatten, während der Rest seines Körpers einfach folgen musste. Er war auch nicht der Einzige, der zu dem Lied abging, und so war die eigenartige Stimmung vom Anfang schnell vergessen. Als ihm Javier nach mehreren Liedern eine Cola in die Hand drückte, machte er sich keine weiteren Gedanken und stürzte das Getränk in einem Zug hinunter. Das Leben war einfach so viel besser, wenn man tanzte.

Total gefickt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Scherbenlesen

Nick fühlte sich furchtbar. Das lag nicht unbedingt an seiner körperlichen Verfassung, die trotz der Tatsache, dass er gestern eine ihm unbekannte Menge Alkohol konsumiert hatte, nicht unbedingt schlecht war. Es lag vielmehr an den bruchstückhaften Erinnerungen, die nach und nach aus dem Sumpf seines Unterbewusstseins wieder zum Vorschein kamen, dass er sich außer Stande sah, sich aus dem Bett zu erheben. Seit er vor einer guten Stunde aufgewacht war, versuchte er zu verstehen, was Javier dazu gebracht hatte, ihm … Es machte einfach keinen Sinn. Es war doch alles klar gewesen zwischen ihnen. Nick hatte ihm gesagt, dass da nichts laufen würde, und Javier hatte das augenscheinlich akzeptiert. Warum also dann diese Zudringlichkeit, die Nick – sehr zu Recht, wie er der Meinung war – als übergriffig empfand? Javier war vielleicht ein wenig locker, was den Umgang mit Sex anging, aber Nick schätzte ihn nicht als jemanden ein, der sich das, was er wollte, mit Gewalt beschaffte. Und die Cocktails hatte Nick immerhin freiwillig getrunken. Es hatte in seiner Verantwortung gelegen, sich da standhaft zu zeigen, auch wenn Javier ihm noch so gut zuredete. Aber Nick musste zugeben, dass es ihm schwerfiel, Javier etwas abzuschlagen. Er … mochte Javier. Er hatte ihn zumindest gemocht und je länger er darüber nachdachte, stellte er fest, dass er sich vielleicht nicht so ganz eindeutig verhalten hatte, was sein Nein anging. Er hatte mit Javier getanzt und … na ja, es hatte ihm schon irgendwie gefallen, dass sie sich dabei ein wenig näher gekommen waren. So gut, dass er es sogar zugelassen hatte, dass der andere ihn umarmte, ihn berührte, obwohl vorher am Abend mehr als Freundschaft zwischen ihnen mitgeschwungen hatte. Hatte Javier das irgendwie missverstanden?

Nick wälzte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nein, das war trotzdem keine Ausrede für das, was er getan hatte. Vielleicht, wenn Nick nüchterner gewesen wäre und Javier ihn gefragt hätte, dann hätte er eventuell … Er hielt den Gedanken an, spulte ihn zurück und ließ ihn nochmal mit halber Geschwindigkeit laufen, damit er ihn auch wirklich gut mitbekam. Hatte er gerade echt überlegt, mit Javier ins Bett zu gehen? Ihm wurde heiß bei dem Gedanken. Er war sich immer noch ziemlich sicher, dass er nicht auf Kerle stand, aber mit Javier … war es irgendwie etwas anderes. Warum auch immer.

„Das kann nicht normal sein“, brummte er und versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass er irgendwann doch aufstehen und duschen musste. Während er noch mit seinem inneren Schweinehund kämpfte, der sich breit und brammig auf seiner Bettdecke niedergelassen hatte, hörte er draußen auf dem Hof ein Auto vorfahren. Das musste Alex sein, die aus Rom wiederkam. Nick atmete tief durch und schlug endlich die Decke zurück, um sich zu erheben. Er wollte seine Freundin gerne begrüßen und vorher wenigstens noch den übelsten Gestank runterwaschen, auch wenn Alex von ihrer Arbeit bestimmt Schlimmeres gewohnt war.

Die Dusche klärte seinen Kopf noch etwas weiter und nachdem er sich die Zähne geputzt und einen halben Müsliriegel hinuntergeschlungen hatte, fand er, dass er sich wieder unter Leute wagen konnte. Er zog sich schnell etwas über, öffnete die Tür und wollte gerade an der gegenüberliegenden klopfen, als diese sich öffnete und Natascha vor ihm stand, die eine Tasche in der Hand trug. Die Tasche gehörte Alex.

„Äh, hi“, sagte er. „Ihr seid wieder zurück, wie ich sehe. Wie war der Urlaub?“

Natascha musterte ihn mit einem eigenartigen Blick. Nick überlegte, ob er vielleicht irgendwo noch Zahnpasta kleben hatte, als sie sich umsah, einen Schritt vortrat und die Tür schloss.

Sie atmete tief durch. „Hör zu, Nick, mich geht das Ganze im Grunde genommen ja nichts an, aber Alex ist echt sauer auf dich. Ich glaube nicht, dass sie jetzt gerade mit dir reden möchte.“

„Alex ist … sauer auf mich?“ Nicks Magen hatte offensichtlich doch etwas gegen sein karges Frühstück einzuwenden und fing an, sich in unangenehme, kleine Knoten zu legen. „Warum denn?“

Bitte nicht … bitte, bitte nicht. Javier hatte doch nicht …

„Javier hat ihr heute früh eine ziemlich aufgebrachte SMS geschickt. Es ging darum, dass du … gar nicht schwul bist.“

Nick brachte es nicht einmal fertig zu blinzeln. Er war vollkommen erstarrt.

„Alex hat gesagt, dass sie dich auf jeden Fall fragen will, was es damit auf sich hat, aber momentan fühlt sie sich nicht imstande, das zu tun, ohne dir eine reinzuhauen. Ich denke, du solltest ihren Wunsch akzeptieren und dich erst mal eine Weile von ihr fernhalten. Ich habe ihr angeboten, dass sie so lange zu mir kommen kann.“

„Aber ...“ Nicks Kopf war wie leergefegt. Alexandra war eine feste Größe in seinem Leben. Zwar war meist sie es gewesen, die sich bei ihm ausgeheult hatte, aber gerade jetzt, wo er mal ihren Rat gebraucht hätte, wollte sie nichts mit ihm zu tun haben?

„Was …?“ Er räusperte sich. Seine Stimmbänder versagten ihm gerade etwas den Dienst. „Was hat Javier denn geschrieben?“ Vielleicht konnte er sich so wenigstens ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen.

„Er hat geschrieben, dass du ...“ Sie machte eine kurze Pause und überlegte anscheinend, ob sie das wirklich wiederholen sollte. Nick wurde kalt. „Dass du dir auf Alex einen runterholst.“

„Was? Aber das ist nicht wahr!“ Nick spürte ein Stechen in seinen Augen. „Ich habe niemals … doch nicht auf Alex.“

„Also stimmt es?“

„Was?“

„Dass du nicht schwul bist.“

Natascha sah ihn fragend an. Nick wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte. Momentan wusste er gar nichts mehr. Das Stechen in seinen Augen wurde stärker. In diesem Moment ging die Tür hinter Natascha auf und Alex trat heraus. Als sie Nick entdeckte, wurde ihr Blick hart und ihr Gesicht zu einer Maske der Abweisung.

„Ich habe alles“, sagte sie zu Natascha und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Dann ging sie an Nick vorbei, als wäre er nichts als leere Luft. Er wollte die Hand heben, sie festhalten, ihr alles erklären, aber Natascha hielt ihn auf.

„Lass sie in Ruhe, Nick. Sie braucht Zeit, um das alles zu verarbeiten.“ Natascha schüttelte noch einmal langsam den Kopf. „Sie hat dir wirklich vertraut.“

Nick sah Alexandra und Natascha nach, die ins Auto stiegen und losfuhren, und wartete vergeblich darauf, dass sich Alexandra noch einmal nach ihm umsah. Aber da war nichts. Nur eine kalte, meterhohe Wand aus Eis, die sie um sich gezogen und Nick ausgesperrt hatte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit konnte er sich vom Anblick der leeren Einfahrt losreißen. Er wankte irgendwie nach drinnen und schloss die Tür hinter sich. Anschließend schleppte er sich wieder ins Schlafzimmer, zog sich die Decke über den Kopf und fiel in einen unruhigen, von wirren Träumen unterbrochenen Schlaf.

 

 

 

 

Am nächsten Morgen war Nick wie zerschlagen. Er hatte es zwar geschafft, den Sonntag größtenteils zu verschlafen, dafür aber die halbe Nacht lang wachgelegen und gegrübelt. Am liebsten hätte er Javier angerufen, aber das ging nicht. Er hatte seine Nummer immer noch nicht und Renatas Nummer aus dem Telefonbuch herauszusuchen, traute er sich nicht. Zumal nachts um halb drei vermutlich nicht die richtige Uhrzeit war, um bei ihr anzuklingeln und zu fragen, ob er Javier sprechen konnte.

Der Gedanke an Renata warf wiederum die Frage auf, ob Javier auch ihr von Nicks Geständnis erzählt hatte.Was das anging, hatte Nick nicht die geringste Ahnung, was im Bereich des Möglichen lag. Nach dem, was er Javier an den Kopf geworfen hatte, war dieser vermutlich höchst gekränkt gewesen und Nick hätte viel dafür gegeben, wenn er die bösen Worte hätte zurücknehmen können. In dem Moment war er einfach zu überrascht gewesen und da war so viel mit hochgekommen, was er zu lange verdrängt hatte. Insgeheim hoffte er, dass Javier ihm vielleicht verzeihen konnte und sie … keine Ahnung. Freunde werden konnten. Obwohl Nick, wie es aussah, nicht so der beste Freund war, den man haben konnte.

Er hatte überlegt, ob er Alex eine Nachricht schicken sollte, aber dann hatte er sich auf seine Finger gesetzt und das Handy sehr, sehr weit weggelegt. Diese Angelegenheit war nichts, was sich durch eine einfache, elektronische Nachricht wieder aus der Welt schaffen lassen würde. Wenn ihm das überhaupt gelang. Irgendwann kurz bevor der Wecker geklingelt hatte, war er dann noch einmal eingeschlafen, nur um mit dem ersten Piepen zu wünschen, dass er doch bitte noch weiterschlafen konnte. Aber es half ja nichts. Er musste zur Arbeit, obwohl er einen ganz kleinen Moment erwog, sich einfach krankzumelden. Aber das würde das Problem nur aufschieben und falls Renata tatsächlich etwas von der Sache wusste, würde sie ohnehin Lunte riechen, dass seine Krankheit nur vorgeschoben war. Also erhob er sich, wankte ins Bad und stand viel zu lange unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche, sodass er sich zum Schluss beeilen musste, um noch pünktlich im „El Corpiño“ anzukommen.

 

Normalerweise war Nick immer der Erste, der den Laden betrat, aber heute war die Vordertür bereits offen, als er aufschließen wollte. Mit einem unguten Gefühl trat er ein. Es brannte nur das Licht in der Teeküche und für einen Augenblick hatte er die Hoffnung, dass Lisa vielleicht vor ihm gekommen war, als ihm einfiel, dass sie heute Geburtstag hatte und daher angekündigt hatte, dass sie erst etwas später kommen würde, damit ihr Freund sie noch zum Frühstück ausführen konnte. Das ließ nur einen Schluss zu: Renata war bereits im Laden und das versprach nichts Gutes. Mit einem Stein im Magen ging er langsam zwischen den Kleiderständern in Richtung Büro. Unter der Tür war ein Lichtschein zu sehen. Nicks Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er nahm all seinen Mut zusammen, trat auf die erste Stufe und klopfte an.

„Herein“, klang es dumpf von drinnen und Nick griff mit zitternden Fingern nach der Klinke.

Renata saß hinter ihrem Schreibtisch … und sie war nicht allein. Neben ihr stand Javier und sah blass und unglücklich aus.

„Guten Morgen“, sagte Nick und hatte plötzlich das Gefühl, zu viele Arme und Beine zu besitzen. Die Hoffnung, dass vielleicht doch alles nicht so schlimm werden würde, verflüchtigte sich in dem Moment, als Renata auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch wies.

„Wenn Sie sich vielleicht einen Augenblick setzen würden, Herr Kaufmann.“

Nicht Nick, nein, er war wieder Herr Kaufmann so wie am Tag seines Bewerbungsgesprächs, an dem er mit einem unschuldigen Lächeln versichert hatte, dass er schwul war und die Kundinnen nichts vor ihm zu befürchten hatten. Diese Seifenblase war nun offensichtlich geplatzt.

„Ich glaube, ich bleibe lieber stehen“, antwortete er und bemühte sich, das Beben, das seinen Körper erfasst hatte, nicht auch in seiner Stimme bemerkbar werden zu lassen. Es gelang ihm nicht besonders gut.

„Sie wissen vielleicht, worum es geht?“ Renata musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er bisher nur einmal bei ihr erlebt hatte. Damals hatte er eine Ladendiebin auf frischer Tat geschnappt und als er die junge Frau zu seiner Chefin gebracht hatte, hatte Renata genauso ausgesehen.

„Nein.“ Es war eine Lüge und sie wusste das vermutlich, aber er wollte hören, was ihm zur Last gelegt wurde.

Sie runzelte die Stirn. „Als ich Sie hier eingestellt habe, geschah das auf der Grundlage Ihrer Versicherung, dass Sie homosexuell sind. Ich habe hier immerhin ein Geschäft für Damenunterwäsche und muss für die Unversehrtheit der Intimsphäre meiner Kundinnen Sicherheit tragen. Nun wurde mir zugetragen, dass diese Angabe Ihrerseits nicht der Wahrheit entsprach. Ist das korrekt?“

Nicks Blick glitt zu Javier. Der sah ihn nicht an, sondern musterte stattdessen irgendetwas auf dem Schreibtisch seiner Tante. Es zog Nick das Herz zusammen. Er hätte so gerne mit ihm geredet, ihm erklärt, was da Samstagnacht passiert war, aber das hier war jetzt weder die Zeit noch der Ort dafür. Jetzt musste er sich erst einmal vor seiner Arbeitgeberin verantworten. Trotzdem wählte er seine Worte sorgfältig.

„Ich hatte bisher noch keine homosexuelle Beziehung.“ Noch bevor Renata ihn unterbrechen konnte, sprach er schnell weiter. „Aber ich versichere, dass ich nie die Absicht hatte, jemandem zu schaden. Ich habe mich den Kundinnen stets nur auf professioneller Ebene genähert. Ich … ich meine, es gibt doch auch jede Menge Ärzte oder männliche Krankenpfleger. Denen wird doch auch nicht gleich unterstellt, dass sie ein sexuelles Interesse an ihren Patienten haben. Warum wird mir das jetzt vorgeworfen?“

Renata seufzte. Anscheinend hatte auch sie diese Gedankengänge bereits gehabt. Sie sah ihn mit traurigen Augen an. „Das ist richtig und das ist es auch nicht, was ich Ihnen zur Last lege. Es geht darum, dass Sie sich die Anstellung unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen haben.“ Sie seufzte noch einmal. „Du hast mich angelogen, Nick. Das ist es, was mich zu diesem Schritt bringt.“

Sie reichte ihm ein Schriftstück. Nick musste es nicht lesen, um zu wissen, dass es sich um seine Kündigung handelte. Darin würde sicherlich irgendetwas von „Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses“ stehen, mit der Renata das Recht auf ihrer Seite hatte, ihn mit sofortiger Wirkung zu feuern. Es war vorbei. Er würde seine Sachen packen und das „El Corpiño“ für immer verlassen müssen. Seine Kehle wurde eng.

„Kann ich … kann ich nochmal kurz mit Javier reden, bevor ich gehe?“

Renata sah ihn mitleidig an. „Das kann ich nicht entscheiden. Du wirst es ihn selbst fragen müssen.“

Nick versuchte, Javiers Blick einzufangen, aber der starrte weiter in eine andere Richtung.

„Javier … Jay?“ Die Nennung seines Spitznamens ließ Javier endlich aufblicken. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der Nick das Herz abschnürte. „Ich … wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut. Was ich zu dir gesagt habe, es war … gemein und unfair. Ich möchte mich dafür entschuldigen.“

Javier antwortete nicht. Er sah Nick nur an, bevor er den Kopf wieder senkte. Keine Erwiderung, kein Nicken oder sonst ein Zeichen, dass er Nick verziehen hatte. Gar nichts.

Nick schloss für einen Augenblick die Augen, bevor er sich wieder Renata zuwandte. „Ich werde noch meine Sachen holen. Ich … es tut mir leid.“

Er drehte sich um und ging langsam aus dem Büro. In der Teeküche räumte er im Schneckentempo seine wenigen Habseligkeiten zusammen in der Hoffnung, dass Javier vielleicht doch noch kommen und mit ihm reden würde. Aber er kam nicht. Schließlich war alles zusammengepackt und Nick verließ den Laden, als die ersten Kundinnen ihn betraten. Eine der Frauen sprach ihn an und war sehr irritiert, als er sie nur knapp grüßte, bevor er an ihr vorbeiging. Er konnte hören, wie sie Renata fragte, was hier los sei.

„Herr Kaufmann arbeitet ab heute nicht mehr hier.“

Dann schloss sich die Tür und Nick stand allein draußen in der Kälte. Er hätte am liebsten geheult. Aber er riss sich zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und ging mit schnellen Schritten in Richtung seines Zuhauses, das ihm als letzte Zuflucht geblieben war. Als er dort ankam, legte er nur noch Schuhe und Mantel ab, bevor er sich wieder in sein Bett verzog. Wenn er Glück hatte, würde sich ja vielleicht der Boden darunter irgendwann auftun und ihn verschlucken. Vermissen würde ihn sicherlich niemand.

 

 

 

Javier war gerade dabei, einige BHs wieder auf Bügel zu ziehen, als sich die Ladentür mit einem lauten Klingeln öffnete und Lisa hereinstürmte.

„Er hat mich gefragt!“, schrie sie und strahlte von einem Ohr zum anderen. „Michael hat mir endlich einen Antrag gemacht. Und ich hab Ja gesagt!“

Javier lächelte ein wenig. "Das ist toll. Ich freu mich für dich.“

Lisa wirkte wie ein Frühlingssturm mitten im Herbst mit roten Wangen und strahlenden Augen. In Javier hingegen hatte bereits der Winter Einzug gehalten. Wenn er an Nicks Gesichtsausdruck dachte, als der heute Morgen ins Büro gekommen war, wurde ihm fast schlecht.

„Wo ist Nick?“ Lisa sah sich suchend um. „Ist er im Büro?“

Javier schüttelte den Kopf. Es kratzte in seinem Hals. „Nick ist ...weg. Meine Tante hat ihn heute Morgen entlassen.“

„Was?“ Lisas Augen wurden groß. „Aber was …? Warum?“

„Nick hat … er hat gelogen, als er sich hier beworben hat.“

„Gelogen?“ Lisa schüttelte entschieden den Kopf. „Aber doch nicht Nick. Ich meine, was sollte er denn zu verbergen haben? Nick ist der anständigste Mensch, den ich kenne.“

Javier zuckte nur mit den Schultern. Er hatte keine Lust, die Geschichte zu erzählen. Das konnte jemand anderes machen. Jemand, der nicht darin involviert war. Jemand, dem das Ganze nicht so wehtat. Irgendjemand nur nicht er.
 

Er dachte an die Nachricht, die Alexandra ihm gestern Morgen geschickt hatte.

 

Spinnst du?Nick ist auf jeden Fall schwul. Ich hab ihn noch nie mit einer Frau gesehen.

 

Er hatte geschnaubt und getippt:

 

Aber mit einem Mann? Glaub mir, ich bin mir vollkommen sicher.

 

Daraufhin war eine Weile gar nichts gekommen, bis Alex schließlich geschrieben hatte:
 

Wir kommen auf dem Rückweg vom Flughafen bei dir vorbei.

 

An die Szene, wie er Nicks bester Freundin auseinandergesetzt hatte, dass Nick im betrunkenen Zustand mit ihm rumgemacht, ihn dabei für Alexandra gehalten und ihn dann mit einer üblen Beschimpfung hinausexpediert hatte, erinnerte sich Javier nicht gern. Alexandra war daraufhin vollkommen aufgelöst gewesen und hatte von Natascha beruhigt werden müssen. Javier war erst in diesem Moment wirklich klargeworden, was er damit eigentlich alles angerichtet hatte, als er im Brast diese dämliche Nachricht verfasst und abgeschickt hatte. Er hätte es zu gerne drauf geschoben, dass auch er angetrunken gewesen war, doch er wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Und das war ja noch nicht mal alles. Damit, dass er seiner Tante davon berichtet hatte, hatte er die Sache vom privaten in Nicks berufliches Umfeld getragen. Er hatte in dem Moment einfach vergessen, dass sie eben nicht nur ein Familienmitglied sondern auch Nicks Chefin war. Er hatte doch nur … er hatte sich nicht immer wieder vorhalten lassen wollen, wie toll Nick und wie armselig er daneben war. Aber sie hatten Recht. Sie hatten alle Recht. Er war eben doch armselig und hatte sie alle enttäuscht. Seine Eltern, seine Tante, seine Freunde … und Nick. Wenn er die Klappe gehalten hätte, hätten sie das ja vielleicht noch klären können, aber so? Warum hatte Nick das nur gemacht? Warum hatte er Javier glauben lassen, dass er schwul war? Warum hatte er das allen anderen erzählt? Javier verstand es nicht und es ging ihm die ganze Zeit im Kopf herum, während er versuchte so zu tun, als würde er arbeiten.

 

In der Mittagspause verkroch er sich ins Lager, setzte sich auf einen umgedrehten Putzeimer und zog sein Handy heraus. Er hatte keine Nachrichten und erwartete auch keine. Mit hängendem Kopf starrte er auf die leere Zeile seiner Suchmaschine. Was sollte er da eingeben? „Schwul und Liebeskummer“ oder „Wie krieg ich ihn rum in zehn Tagen“ oder „Was mache ich, wenn ich mich wie ein Arschloch verhalten habe“?

Er schloss die Augen und ließ den Kopf gegen das Regal in seinem Rücken sinken. Das konnte es doch jetzt irgendwie nicht gewesen sein. Da musste doch irgendwie einen Weg raus führen. Aber wie? Er öffnete die Augen wieder und sah auf das immer noch leere Feld. Wie von selbst begannen seine Finger auf einmal, etwas zu schreiben. Er folgte dem ersten Link, scrollte nach unten und begann zu lesen.

 

In meinen jüngeren und verletzlicheren Jahren hat mein Vater mir einen Rat gegeben, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht. „Jedes Mal, wenn du glaubst, jemand kritisieren zu müssen“, sagte er, „dann erinnere dich daran, dass nicht alle Menschen auf der Welt solche Privilegien wie du gehabt haben.“*

 

Er las und las und je mehr er las, desto mehr bekam er das Gefühl, dass irgendwo zwischen den Zeilen die Antwort stecken musste. Irgendwo in dieser Geschichte, die er einst so gehasst und dessen Flair Nick so begeistert hatte, musste es einen Hinweis geben, wie er das wieder gutmachen konnte, was er angerichtet hatte. Und wenn es Tage dauern würde. Er würde ihn finden. Irgendwann.

 

 

Bloßgestellt

Feiner Nieselregen fiel unablässig in grauen Fäden vom Himmel. Das heißt, eigentlich fiel er nicht. Es war mehr so eine allumfassende Feuchtigkeit, die einfach da war, in jeden Winkel und jede Ritze kroch und die Steine unter Nicks Füßen glitschig machte. Er beschleunigte seine Schritte noch ein wenig, um endlich wieder ins Warme zu kommen. Dabei hatte er gerade mehrere Stunden in völlig überhitzten Räumen verbracht. Das Arbeitsamt war aufgrund der heute kürzeren Öffnungszeiten gerammelt voll gewesen und Nick hatte eine Nummer irgendwo nahe am dreistelligen Bereich ziehen müssen, bevor er sich im Wartezimmer niedergelassen hatte. Zäh und schleppend waren die Menschen einer nach dem anderen durch die Behördenräume geschleust worden, bis irgendwann auch er an der Reihe gewesen war.

Das Gespräch mit der Sachbearbeiterin war … wenig erfreulich gewesen. Sie hatte ihm klar gemacht, dass sie erstens gleich Mittagspause hatte und zweitens eine fristlose Kündigung sich überhaupt nicht gut bei einer erneuten Bewerbung machen würde. Er solle sich noch einmal mit seiner Arbeitgeberin in Verbindung setzen und versuchen, das zu klären. Danach hatte sie ihm ungefähr ein Dutzend Formulare in die Hand gedrückt und ihn nach knapp zehn Minuten wieder nach draußen geschickt. Nun strebte er seinem Zuhause zu und versuchte im Kopf ein Gespräch mit Renata zu erfinden, bei dem er nicht wie ein totaler Depp dastand.

 

Nick erreichte endlich die Hofeinfahrt und griff bereits nach dem Schlüssel, als er mitten im Lauf wie angewurzelt stehenblieb. Vor seiner Tür saß jemand.

 

Als er Nick kommen hörte, hob Javier den Kopf. Seine Haare waren völlig durchnässt und klebten an seiner Stirn.

„Ich kapier's nicht“, sagte er und sah zur Seite.

„Was kapierst du nicht?“ Die Situation war zu eigenartig, als dass Nick sie zu hinterfragen in der Lage war.

„Ich kapiere nicht, warum Nick nicht schleunigst das Weite gesucht hat, als er gemerkt hat, was für ein mieser Mistkerl Gatsby im Grunde genommen ist. Er repräsentiert alles, was Nick aus tiefstem Herzen verabscheut. Der Kerl ist kriminell, faul, ein arroganter Arsch, der nur an sich selbst denkt, andere durch sein Geld und sein Auftreten manipuliert und dessen einziges Ziel im Leben es ist, eine Schnecke ins Bett zu kriegen, die noch oberflächlicher ist als er. Und selbst damit ist er nicht zufrieden und am Ende ist alles, was er kriegt, eine Kugel in den Kopf und ein Begräbnis, zu dem niemand kommt.“

Javier hob jetzt wieder den Blick. „Niemand außer Nick. Aber warum? Nick ist ein guter Mensch. Er hat das nicht verdient.“

Nick seufzte. „Willst du jetzt wirklich eine Literaturbesprechung mit mir machen? Vor meiner Haustür? Im Regen?“

Javier schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich wollte ich … ich wollte dir sagen, dass ...“ Er fuhr sich mit der Hand durch die blonden Strähnen. „Ach scheiße.“

Nick seufzte noch einmal. „Wollen wir reingehen?“

Javier sah ihn ungläubig an. Nick zuckte mit den Schultern.

„Es ist kalt und nass und du siehst aus, als solltest du dringend aus deinen Sachen raus.“

Er wartete, dass Javier einen entsprechenden Kommentar dazu abgab, aber der schwieg. Er erhob sich nur und machte Nick Platz, damit dieser die Wohnungstür öffnen und sie beide hineinlassen konnte. Drinnen blieb er wie ein begossener Pudel neben der Tür stehen. Nick seufzte ein drittes Mal.

„Los, ausziehen. Ich hol dir was zum Wechseln.“

Javier begann wortlos sich zu entkleiden. Nick bemerkte beiläufig, dass er eine Jeans vollkommen ohne Löcher trug, die jetzt in einem nassen Haufen auf dem Fußboden landete. An seinem Knie klebte ein großes Pflaster, das sich aufgrund der Feuchtigkeit halb gelöst hatte. Darunter war eine Platzwunde zu sehen.

Nick hatte eigentlich ins Schlafzimmer gehen wollen. Stattdessen holte er aus dem Bad das Verbandszeug und seinen Bademantel und reichte ihn Javier. Der blickte ihn einen Augenblick lang erstaunt an, dann streifte er sich das Kleidungsstück über und hüllte sich vollkommen darin ein. Der Mantel war zu groß und Javier sah ein bisschen aus wie ein blauer Mönch aus irgendeinem Mittelalterfilm.

„Was ist mit deinem Knie?“

„Bin hingefallen.“

Nick hatte langsam genug von diesem Theater. Er nahm einen Küchenstuhl und stellte ihn vor Javier hin. „Setz dich, ich gucke mir das mal an.“

Ohne darauf zu achten, dass er jetzt vor Javier kniete, der unter dem Bademantel nur noch seine Unterhose am Leib hatte, machte sich Nick daran, das feuchte Pflaster zu lösen und die Wunde mit einem Tuch trockenzutupfen. Danach schnitt er ein großzügiges Stück von einem neuen Pflasterstreifen ab und klebte es über die Wunde. Als er alles zusammenräumte, seufzte dieses Mal Javier.

„Siehst du, du machst es schon wieder.“

„Was?“

„Du bist ein guter Mensch.“

Nick lachte auf. „Muss ein tiefergehendes, medizinisches Problem sein. Ich sollte das mal untersuchen lassen.“

Vielleicht sollte er das wirklich. Irgendwie schien er solche Typen anzuziehen.

„Ich meine das ernst.“ Javiers dunkle Augen sahen im Schatten der Bademantelkapuze fast schwarz aus. „Du bist ein verdammt anständiger Kerl und ich … ich hab Scheiße gebaut. Ich hätte das am Samstag nicht machen sollen. Es … es tut mir leid. Ein Nein ist ein Nein und ich hätte das akzeptieren müssen.“

Nick atmete tief ein und aus. „Ja, das hättest du. Wobei ich vielleicht auch ein wenig dazu beigetragen, dass du gedacht hast, dass es okay ist. Ich hätte nicht so viel trinken dürfen.“

Javier nuschelte irgendetwas, das Nick nicht verstand.

„Kannst du das nochmal in einer für alle verständlichen Sprache wiederholen?“

Javier verkroch sich noch tiefer in seinem Nicks Bademantel. „Ich hab dir was in die Cola getan. Damit du … damit ich … ich wollte einfach nicht, dass es vorbei ist. Das war echt mies und ich könnt's verstehen, wenn du mich jetzt rausschmeißt.“

Nick blinzelte über diese Enthüllung. „Und was hast du da reingetan?“

„Korn. Hab dem Barkeeper gesagt, er soll einfach mal einen kleinen Schluck dazukippen, ich würde auch die volle Mischung bezahlen.“

Nick öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Javier redete bereits weiter.

„Ich wollte dir wirklich nicht an die Wäsche. Vor allem nicht, wenn ich geahnt hätte, dass du gar nicht … Aber als wir dann hier bei dir zu Hause waren und du … du hattest … Du warst ziemlich erregt und ich dachte, es gefällt dir vielleicht und … ach scheiße. Ich hab einfach nicht nachgedacht.“

Nick schnaufte. „Zumindest nicht mit dem dafür vorgesehenen Teil deines Körpers. Man, Javier.“

Der krümelte sich ganz klein zusammen und senkte den Kopf. „Ja, ich weiß. Aber als du dann gesagt hast, dass … dass du nicht schwul bist, da war ich einfach so sauer. Auf dich, auf mich, auf alle.“ Er machte eine Pause, bevor er leise weiter sprach. „Ich hätte es nicht weitererzählen dürfen. Schon gar nicht meiner Tante und Alex. Aber irgendwie konnte ich es dann nicht mehr aufhalten. Zumindest nicht bei Tante Nata. Und bei Alex … ich meine, denkst du echt an sie dabei?“

„Nein!“ Nick kam auf die Füße und lief ein paar Schritte zum Fenster. Dort blieb er stehen und blickte in die trübe Diesigkeit hinaus. War es wirklich fair, dass er Javier das jetzt alles anhängte? Hätte er nicht selbst Alex gleich von Anfang an die Wahrheit sagen müssen? Ihr eingestehen müssen, dass er mitbekam, was in ihrem Badezimmer vorging, statt sich einfach nur Watte in die Ohren zu stopfen, die Augen zuzukneifen und das Beste zu hoffen? War das, was er getan hatte, wirklich so viel anders als das, was Javier gemacht hatte?

Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Ich hab nie … du weißt schon, und dabei an Alex gedacht. Das wäre falsch gewesen. Sie ist meine Freundin und auch wenn ich nicht leugnen kann, dass sie sehr gut aussieht, wäre ich doch nie auf die Idee gekommen, so was zu machen.“ Zumindest nicht, während er wach und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.

Er drehte sich zu Javier herum, der wie ein Häuflein Elend auf seinem Küchenstuhl hockte. „Du hast sie damit echt verletzt. Und ich hab keine Ahnung, wie ich ihr klarmachen soll, dass du dir das einfach nur zusammengereimt hast, weil sie nämlich nicht mit mir reden will.“

„Autsch.“ Javier pulte an dem Rand des Pflasters herum.

„Lass das dran.“ Fast erwartete Nick, das Javier gegen seine Zurechtweisung protestierte, aber der Bademantelmönch zog lediglich den Frotteestoff über seine Knie und mummelte sich tiefer ein.

„Ich bin echt ein Riesen-Rindvieh.“

 

Javier schwieg einen Augenblick. Nick hätte zu gerne gewusst, was ihm durch den Kopf ging. Er musste an Samstagabend denken, als sie beide hier in der Küche gegessen und sich unterhalten hatte. Das war … schön gewesen. Ähnlich wie mit Alexandra und doch anders. Nick konnte es nicht genau in Worte fassen. Er wusste, er hätte wahnsinnig wütend auf Javier sein sollen, enttäuscht, gekränkt, all so was. Stattdessen war er froh, dass sie wieder miteinander redeten. Vielleicht war das tatsächlich pathologisch.

 

„Das mit deiner Arbeit ist natürlich der größte Mist. Wenn ich geahnt hätte, dass meine Tante dich rausschmeißt …“ Javier sah kurz auf und starrte dann wieder auf den Küchenfußboden. „Sie denkt, dass du das mit dem Schwulsein nur gesagt hast, um den Job zu bekommen und war echt angepisst deswegen. Aber ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen. Sie hat gesagt, dass du super Zeugnisse hattest, eine Spitzenbeurteilung, du hättest überall anfangen können. Du warst nicht auf den Job bei ihr angewiesen. Aber als du dann auf einmal damit rausgeplatzt bist, da hat sie wohl … ich weiß nicht. Sie hatte immer schon eine Schwäche für Außenseiter. Vielleicht, weil sie auch mal einer war. Sie weiß einfach, wie das ist, wenn man nicht dazugehört.“

Javiers Stimme war zum Schluss immer leiser geworden. Er zog seine Hände in die Ärmel des Bademantels zurück und stellte die Füße auf die Sitzfläche des Stuhls. Er sah unheimlich jung aus. Nick fühlte wieder dieses Ziehen in seinem Bauch. Er unterdrückte den Impuls, zu Javier zu gehen und ihn in den Arm zu nehmen. Das würde womöglich schon wieder falsche Signale setzen, von denen sich Nick sich inzwischen nicht mehr so ganz sicher war, ob sie wirklich falsch waren. Aber momentan hatte er wirklich andere Probleme.

„Willst du wissen, warum ich's gemacht habe?“

Die Kapuze des Bademantels hob und senkte sich. Nick atmete tief durch.

„Dann lass uns ins Wohnzimmer gehen. Ist gemütlicher als in der Küche fast vom Stuhl zu fallen.“

 

Nick ging in den nächsten Raum und ließ sich dort schwer aufs Sofa fallen. Er rieb sich mit den Händen über das Gesicht und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wo fing man mit so einer verworrenen Geschichte an, damit der andere sie auch verstand?

Javier schlich durch die Tür und ließ sich am anderen Ende des Sofas nieder. Das machte es nicht unbedingt einfacher.

„Könntest du dich zu mir setzen? Ich komme mir sonst vor wie bei einem Verhör.“

Javier tat, um was Nick ihn gebeten hatte, hielt aber immer noch respektvollen Abstand. Nick holte ein letztes Mal tief Luft.

„Also schön. Angefangen hat das eigentlich schon in der Schule. Da war ich einfach … anders als die anderen Jungs. Ich hab mich immer schon gut mit den Mädchen verstanden, auch während die ihre „Igitt, ein weibliches Wesen“-Phase hatten. Ich bin zum Tanzen gegangen, ich hab mich für Kunst interessiert, hab andere Musik gehört als der Rest. Kein Nerd, dazu war ich zu schlecht in der Schule und zu gut in Sport, aber anders. Kurzum, ich passte nicht dazu. Was ja im Prinzip nicht schlimm gewesen wäre, wenn ich denn wenigstens irgendwann eine Freundin gehabt hätte, als die andere anfingen, miteinander „zu gehen“. Aber mir war das alles zu blöd. Irgendwer kam dann mit „Nick ist bestimmt schwul“ um die Ecke und auch wenn ich gesagt habe, dass es nicht stimmt, hielt sich das Gerücht hartnäckig. Also habe ich es ignoriert und irgendwann hat es einfach keinen mehr interessiert. Aber als ich dann an die Berufsschule kam, ging es wieder los. Ich weiß nicht, ob es irgendwie daran liegt, dass man große Gruppen von Leuten nicht zusammenstecken kann, ohne dass irgendeiner ausgeschlossen werden muss. Auf jeden Fall hieß es irgendwann wieder, dass ich bestimmt schwul wäre. Und ich hab gedacht: Warum eigentlich nicht? Sollen sie mich doch für schwul halten, dann habe ich wenigstens meine Ruhe. Ich kann tanzen und andere Klamotten tragen und komische Musik hören und keine Freundin haben und niemand findet es eigenartig. Nur schwul, aber das ist okay, weil man ja tolerant ist. Und als ich dann in diesem Bewerbungsgespräch mit deiner Tante saß, da hab ich gemerkt, dass ich schon wieder nicht passe, aber dieses Mal, weil ich ein Mann bin. Also habe ich das rausgeholt, was quasi schon zu meiner zweiten Identität geworden war. Ich habe behauptet, ich wäre schwul. Und auf einmal war wieder alles okay, ich kriegte den Job. Ende der Geschichte.“

„Bis ich daherkam und dein Geheimnis in die Welt hinaus geplärrt habe.“ Javier machte ein unbestimmtes Geräusch, als könne er das im Nachhinein selbst nicht mehr so recht glauben. „Aber ... bitte versteh das jetzt nicht falsch, aber warum das „El Corpiño“? Warum nicht irgendein anderer Laden?“

Nick zuckte mit den Schultern. „Ich mochte das Flair, die Aufmachung, die Atmosphäre. Ich hab mich wohlgefühlt, fand deine Tante nett. Ich wollte unbedingt dort arbeiten. Außerdem musste ich da nicht fürchten, dass irgendwelche Kerle vorbeikommen und mich anbaggern.“

Aus der Kapuze war ein Glucksen zu hören. „Ups.“

„Ja ups“, bestätigte Nick.

Javiers Ton wurde wieder ernster. „Also … ich habe die Geschichte jetzt gehört, aber so wirklich in den Kopf will sie mir nicht. Hast du denn nie … Probleme deswegen bekommen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand sich diesen Scheiß antut, wenn er nicht muss.“

Ein wenig Bitterkeit schwang in Javiers Stimme mit und Nick hatte plötzlich das Gefühl, dass da irgendetwas war, von dem er noch nichts wusste. Er hatte versucht, Javiers heftige Reaktion zu verstehen, aber ihm war nie in den Sinn gekommen, dass noch etwas anderes dahinter stecken könnte als nur verletzter Stolz.

„Hattest du denn schon mal Probleme deswegen?“, fragte er, statt zu antworten. Unter der Kapuze herrschte Schweigen.

„Hattest du?“

„Mhm.“

„Mit den Skinheads?“

„Die gab es doch gar nicht. Hab ich mir nur ausgedacht.“

Die Antwort war leicht daher gesagt, aber Nick traute dem Frieden nicht. Dazu war Javiers Reaktion in der Bahn zu echt gewesen.

„Mit wem?“

Javier atmete hörbar aus. „Es war bei der Arbeit. Die zweite Lehre, die ich angefangen habe. Einer der anderen Mechaniker hat mich mit einem Typen knutschen sehen und hat es in der Werkstatt rumerzählt. Ich wurde zum Gespött der ganzen Mannschaft. Erst waren es nur Sprüche, aber dann begannen meine Sachen zu verschwinden. Meine Werkzeuge, mein Overall. Einmal hab ich meine Sneaker in einem Ölfaß wiedergefunden. Da ich die Sicherheitsschuhe nicht mit nach Hause nehmen durfte, bin ich auf Socken heimgelaufen. Meinen Eltern habe ich erzählt, dass mich irgendwelche Penner auf der Straße abgezogen hätten.“

„Warum hast du das nicht deinem Meister gemeldet?“

„Was hätte der denn tun sollen? Seinen alteingesessenen Leuten erzählen, dass die doch bitte nett zu der kleinen Schwuchtel sein sollen? Da bin ich lieber gegangen.“

„Und in der Bank? Bist du da auch deswegen angemacht worden?“

„Nein.“ Nick wollte schon aufatmen. „Das war, weil ich Ausländer bin. Zumindest in den Augen einiger Idioten, die sich mit den Haaren auch gleich das Gehirn wegrasiert haben. Aber eigentlich war es nicht das. Dumme Sprüche bekommt man halt ab und an. Es war, weil ich nicht die Klappe gehalten habe, als mich einer der Kunden als „blöden Kanaken“ beschimpft hat, weil ich in seinen Augen das Kopierpapier zu langsam aufgefüllt habe. Ich habe ihm sehr deutlich gesagt, was ich davon halte, statt zu meinem Vorgesetzten zu gehen. Am nächsten Tag musste ich dann nicht mehr wiederkommen. Ich glaube, das war denen ganz recht.“

Nick wusste nicht so wirklich, was er dazu sagen sollte. „Hast du es deinen Eltern erzählt?“

„Bist du verrückt? Mein Vater wäre da sofort aufmarschiert und meine Mama hätte sich nur aufgeregt. Sie ist … nicht so ganz gesund. Deswegen habe ich auch keine Geschwister, obwohl sie immer ganz viele Kinder wollte. Und jetzt bekommt sie vermutlich nicht mal Enkel.“

Javier seufzte und zog die Beine in einen Schneidersitz. Er stieß dabei an Nicks Knie.

„Weiß denn sonst irgendwer davon?“

„Tante Nata. Ich hab's ihr gebeichtet, als sie kurz danach zum Geburtstag meiner Mama zu Besuch kam. Ich schwöre dir, die Frau hat Röntgenaugen. Aber sie hat mir versprochen, es niemandem weiterzusagen. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie mich in ihr Geschäft geholt hat. Weil sie mir die Chance geben wollte, die ich woanders nicht bekommen habe.“

 

Javier hatte schon wieder angefangen, an seinem Pflaster herumzuspielen. Nick nahm seine Hand weg und klebte die abgelöste Ecke wieder fest. „Lass das, sonst entzündet es sich noch.“

„Würde mir recht geschehen.“

„Javier!“ Nicks Stimme war lauter, als er gewollt hatte. In ihm regte sich ein wenig das schlechte Gewissen. Er hatte sich die Sache mit dem „schwul sein“ freiwillig ausgesucht, aber Javier hatte diese Wahl nicht gehabt. Und sein Leben wäre offensichtlich besser verlaufen, wenn es nicht so gewesen wäre.

„Ja, ich weiß. Ich habe nicht das Recht, jetzt in Selbstmitleid zu versinken. Vor allem nicht nach dem Scherbenhaufen, den ich aus deinem Leben gemacht habe.“

„Da wärst du nicht der Erste.“ Nick biss sich auf die Lippen. Das hatte er jetzt eigentlich gar nicht sagen wollen.

„Mhm?“ Javier hob den Kopf und sah Nick neugierig an. „Meinst du die Typen aus der Schule? Oder fehlt in deiner Geschichte noch ein Teil? Du kannst ja schließlich nicht vorhaben, dein ganzes Leben lang schwul zu sein.“ Er machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Irgendwann willst du doch bestimmt mal wieder eine Freundin haben. Vielleicht heiraten, Kinder kriegen, so was alles.“

„Nein, danke, ich verzichte.“

Jetzt drehte sich Javier ganz zu ihm herum und schob die Kapuze vom Kopf. Seine Haare standen wirr in alle Richtungen. Nick widerstand dem Drang, sie ein wenig glatt zu streichen. Ob er sich die Haare nach der Sache mit dem „Kanaken“ blondiert hatte?

„Wer war sie?“

„Woher willst du wissen, dass es eine Sie war?“

„Weil es immer eine Sie ist bei euch Heteros.“

„Wie war das mit dem Vorurteilen?“

Javier schob die Augenbrauen zusammen. „Ja, ich weiß. Ich hab es mir da auch ziemlich einfach gemacht. Schublade auf, Nick rein, Schublade wieder zu. Ich … mich hat's aufgeregt, dass einer einfach nur so tut, als wäre er schwul, obwohl er's gar nicht ist und keine Ahnung hat, was das bedeuten kann. So wie die Leute, die auf dem Behindertenparkplatz stehen, obwohl sie prima laufen können. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, dass du eventuell einen guten Grund dafür haben könntest.“

Er rückte ein Stückchen näher. „Hat der Grund einen Namen?“

Nick fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Da war es also, das Geheimnis, das eigentlich keines war, weil so viele Leute davon wussten. Er gab sich einen Ruck.

„Katja. Katja Weber. Sie war … eine Kommilitonin von mir während des Studiums.“

„Studium?“ Javier sah ihn entgeistert an. „Wenn du vorhast mir zu erzählen, dass du eigentlich vom Pluto bist, wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.“

Nick lächelte. „Nein, keine Aliengene. Nur ein abgebrochenes Kunststudium.“

Er lehnte sich gegen die Rückseite des Sofas und schloss die Augen.

Javier bewegte sich neben ihm. „Alles in Ordnung? Ich meine, du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst. Ich hab nun wirklich kein Recht, irgendwas von dir zu verlangen.“

 

„Doch … ich brauche nur einen Moment.“ Nick atmete tief durch und begann zu erzählen.

„Ich wusste schon immer, dass ich irgendwas künstlerisches machen will. Als es darum ging, einen Studiengang auszuwählen, habe ich mich für Bildhauerei entschieden. Ich mochte es mit verschiedenen Materialien zu arbeiten, Dinge entstehen zu lassen. Aber um an der Hochschule angenommen zu werden, muss man eine Mappe mit Arbeitsproben anfertigen. Ich hatte einige Zeichnungen und Entwurfsskizzen, Arbeitsverläufe und so weiter, aber die fertigen Skulpturen konnte ich ja schlecht zwischen zwei Pappdeckel stecken. Also wollte ich sie fotografieren, aber die Fotos, die ich gemacht hatte, sahen allesamt total nichtssagend aus. Ich hab mich umgehört und bekam die Telefonnummer einer Fotografiestudentin, die solche Arbeiten gegen ein kleines Trinkgeld ablichtete. Ich hab sie angerufen und sie hat mir angeboten, gleich am Nachmittag vorbeizukommen.“

Er unterbrach sich kurz und sah zu Javier, der ihm aufmerksam zuhörte. Seine braunen Augen ruhten auf Nick und sein Mund war leicht geöffnet. Er legte den Kopf schief.

„Und? Ist sie gekommen?“

„Ja ist sie. Ich war vom ersten Moment an total hin und weg. Sie hatte lange, dunkle Haare, eine tolle Figur, wunderschöne Augen. Als ich ihr meine Sachen gezeigt habe, war sie total begeistert – dachte ich zumindest – und hat sicherlich tausend Fotos geschossen. Die Abzüge sollte ich zwei Tage später bei ihr zu Hause abholen. Ich bin hingefahren und …“

„Bei ihr im Bett gelandet“, schlussfolgerte Javier ziemlich korrekt. Nick sah auf seine Hände.

„Ja, sie hat mich nach allen Regeln der Kunst verführt. Ich war vollkommen wehrlos.“

„Dein erstes Mal?“

Nick fragte sich, ob das wirklich so offensichtlich war. Er war sich damals vorgekommen wie der größte Glückspilz auf Erden. Eine wunderschöne Frau, die sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte. Er hatte es nicht fassen können.

„Und was ist dann passiert?“

„Es ging ein paar Wochen gut, das Studium fing an, ich schwebte auf Wolke Sieben. Hab mich jede freie Minute mit Katja getroffen, mir von ihr die Welt erklären lassen. Ich dachte, es könnte nicht besser werden. Und das wurde es auch nicht. Katja fing an, launisch zu werden. Sie antwortete nicht mehr auf Nachrichten, sagte Verabredungen kurzfristig ab, erklärte mir, dass sie mehr Freiheit bräuchte. Ich wollte natürlich nicht, dass sie unglücklich war, also habe ich mich zurückgehalten. Ich dachte, das sei normal. Bis zu dem Tag, wo ich dachte, ich könne sie überraschen. Eigentlich wollten wir abends essen gehen, aber sie hatte mir gesagt, dass sie am Vormittag noch zu Hause an einigen Vergrößerungen und Abzügen arbeiten wollte. Also bin ich hingefahren.“

Er schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. „Sie wollte mich erst nicht ins Haus lassen, aber ich bin einfach mit einer Nachbarin rein. Als ich vor ihrer Tür stand, war sie abweisend. Behauptete, sie hätte zu arbeiten. Ich fragte sie, ob ich nicht reinkommen könne. Damit sie mir zeigt, was sie gerade macht. Ich hatte mir oft Fotos von ihr angesehen und sogar mal Modell gestanden, aber sie sagte nur, ich solle endlich aufhören, ihr nachzulaufen wie ein verlorenes, kleines Hündchen. In dem Moment dämmerte es mir, warum ich nicht reinkommen konnte. Sie hatte einen Neuen bei sich. Als ich sie danach fragte, stritt sie es nicht einmal ab. Sie sagte, dass ich selbst daran Schuld sei, weil ich so klammern würde. Ich würde ihr die Luft zum Atmen nehmen mit meinem Gewinsel und meiner pubertären Art und das sie endlich einen richtigen Mann gefunden hätte und nicht einen Schlappschwanz wie mich. Dann hat sie mir die Tür vor der Nase zugemacht. Ich bin dann ... gegangen und hab mich in meinem Zimmer verkrochen.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er auch noch den letzten Teil der Geschichte erzählte. „Als ich abends an einer Hausarbeit saß oder es zumindest versuchte, piepste auf einmal mein Handy. Eine unbekannte Nummer hatte mir einen Link geschickt. Er führte zu einer Seite, auf der Katja die Männer, mit denen sie im Bett war, bewertet hat. Mit Fotos. Zwar unkenntlich gemacht und nicht unter ihrem wahren Namen, aber … es war ziemlich deutlich, dass ich nicht der Einzige war, den sie mit nach Hause genommen hat. Ich war … einer von sehr vielen.“

Schweigen breitete sich aus, bevor Javier sich zu einem Kommentar hinreißen ließ.

„Was 'ne Bitch.“

„Kann man wohl sagen.“ Dass man unter den Fotos auch noch kommentieren konnte und was er dort alles hatte lesen müssen, ließ er lieber weg. Es war ohnehin schon schlimm genug.

„Was hat sie über dich geschrieben?“

„Was?“ Nick fuhr aus seinen Gedanken hoch.

„Du hast gesagt, sie hätte die Typen bewertet. Was stand bei dir?“

„Willst du das wirklich wissen?“

„Ja.“

Nick hätte einfach Nein sagen können. Er war sich sicher, dass Javier nicht mehr weiter gefragt hätte. Aber vielleicht war es gut, wenn er dieses Detail auch noch aussprach. „Es gab eine Spalte mit positiven und eine mit negativen Eigenschaften.“

„Und was stand da?“ Die Neugier troff aus jedem von Javiers Worten.

„Bei positiv stand: niedlich, guter Body, sexy Grübchen am Kinn.

„Wo sie Recht hat.“ Javier grinste, bevor er schnell wieder ernst wurde. „Sorry. Und was stand bei negativ?“

Nick atmete tief durch. Jetzt, wo er Javier erzählte, war es irgendwie fast komisch, auch wenn es das damals nicht gewesen war. So gar nicht. „Zwei linke Hände und mangelndes Stehvermögen.“

Nick wartete, dass sich irgendein Muskel in Javiers Gesicht bewegte. Dass er irgendetwas sagte, einen dummen Spruch brachte oder auch wieder anfing zu schimpfen. Stattdessen sah er ihn nur vollkommen regungslos an. Nach fast einer Minute blinzelte er endlich wieder.

„Das hat sie nicht geschrieben.“

„Doch.“

„Das ist ja sozialer Mord. Ist die denn vollkommen bescheuert?“

Nick zuckte mit den Schultern. Das Ganze war immerhin schon mehrere Jahre her. Er sollte darüber hinweg sein. Eigentlich.

„Die Bilder waren ja unkenntlich gemacht.“ Es hatte ihn trotzdem der eine oder andere aus Katjas Bekanntenkreis erkannt. Zwar hatte niemand Namen genannt, aber die Kommentare waren eindeutig gewesen. In der Nacht hatte er seine Sachen gepackt, war zu seinen Eltern gefahren und hatte den Campus nie wieder betreten.

Javiers Gesicht wurde zu einer Gewitterwolke. „Wenn ich könnte, würde ich zu der Schlampe gehen und ihr mal so richtig die Meinung sagen.“ Er stutzte und sah Nick schuldbewusst an. „Entschuldige, das kam jetzt irgendwie eigenartig rüber.“

„Schon okay.“ Es tat Nick irgendwie gut, dass Javier so reagierte, wie er es damals nicht gekonnt hatte. Der ließ sich jetzt neben ihn auf die Couch rutschen. Sein Körper fühlte sich warm an Nicks Arm an.

„Hast du noch was von den Sachen von damals? Also von deinen Skulpturen.“

Nick schüttelte den Kopf. „Nur noch einen Frosch, den ich für meine Mutter gemacht habe. Der steht noch bei meinen Eltern im Wohnzimmer rum. Den Rest habe ich … verbrannt.“

„Schade. Ich hätte gerne mal was gesehen, was du gemacht hast.“

Nick zögerte, bevor er sich räusperte und sagte: „Ich habe noch die Fotos. Willst … willst du die mal sehen?“

Javier nickte. Nick erhob sich und ging ins Schlafzimmer. Er griff auf den Kleiderschrank und holte die Mappe herunter, die er seit seinem Einzug hier nicht ein einziges Mal angerührt hatte. Bevor er noch lange überlegen konnte, ging er hinüber ins Wohnzimmer und reichte sie Javier. Der löste die Bänder, die sie zusammenhielt und öffnete die Tür in Nicks altes Leben.

Nicks bekam schwitzige Hände, als er die Zeichnungen durch Javiers Finger wandern sah. Danach kamen die Fotos. Fotos, die Katja gemacht hatte. Sie waren wirklich gut geworden. Bei einer Skulptur hielt er an.

„Was soll das hier sein?“

„Das ist eine Figur aus dem Jazztanz. Den Namen habe ich vergessen, aber ich fand die Pose interessant.“

Javier legte den Kopf schief, verzog die Lippen zu einem kritischen Schmollmund und nickte dann ernst. „Ja, interessant trifft es.“

Er griff nach dem letzten Bild. Nicks Mund wurde trocken. Das war ein Bild von ihm. Er hatte nicht mehr gewusst, dass es dort drin war. Eigentlich hatte er es mit den anderen zusammen vernichten wollen, aber es musste zwischen die Seiten gerutscht sein. Es war das Bild, das Katja im Internet benutzt hatte.

Javier hielt das Bild in Händen und sah es lange an. Auch Nick konnte nicht leugnen, dass es ein tolles Foto war, auch wenn er damit so unangenehme Erinnerungen verband. Trotzdem hätte er es gerne wieder verschwinden lassen. Irgendwo in eine staubige Ecke, wo es hingehörte. Er wollte nach dem Bild greifen.

In diesem Moment sah Javier auf. Er blickte in Nicks Gesicht, als versuche er unter all den Veränderungen und der Zeit, die vergangen war, den Nick zu entdecken, der auf dem Foto war. Nick wollte sich diesem Blick entziehen, aber dann ließ er es geschehen und hielt ganz still, während Javiers dunkle Augen ihn eingehend musterten. Eine halbe Ewigkeit sahen sie sich an, bis Javier schließlich den Kopf abwendete. Er murmelte etwas auf Spanisch. Es klang irgendwie traurig.

 

Dornröschen

Er wollte ihn küssen. So sehr, dass es wehtat. Nick löste irgendetwas in ihm aus, dass er so noch nie gespürt hatte. Das Gefühl, ihn beschützen zu wollen vor der bösen Hexe, die sein Herz gestohlen und es dann zu Haschee verarbeitet hatte. Aber Javier war kein Märchenprinz, der kam, um die schöne Prinzessin mit einem sanften Kuss aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Er war mehr so der Typ Märchendrache, der beim Versuch, die Prinzessin in seine Krallen zu kriegen, das Schloss in Schutt und Asche gelegt hatte und jetzt mit wedelndem Schwanz auf den Trümmern saß, verlegen die Krallenspitzen aneinander tippte und hoffte, dass die Prinzessin ihn wenigstens noch in der Hundehütte schlafen ließ. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass er die Prinzessin – oder in dem Fall vielleicht eher den Prinzen – bekam. Der Zug war abgefahren. Er senkte den Kopf.

„Ich wünschte nur, du würdet mich einmal so ansehen“, murmelte er auf Spanisch, damit Nick es nicht verstand.

 

Zögernd legte er das Foto wieder auf den Tisch. „Das sind wirklich tolle Sachen. Es ist schade, dass du das nicht weiter gemacht hast. Du warst gut.“

„So gut auch wieder nicht.“ Nick beeilte sich plötzlich, den Inhalt der Mappe wieder zusammenzusuchen, ihn zwischen die Pappdeckel zu stopfen und die Bänder zu schließen. Einen Augenblick lang überlegte Javier, ob er Nick sagen sollte, dass er die Bilder schon kannte, aber dann entschied er sich dagegen. Spätestens jetzt hätte er die Mappe ja ohnehin zu sehen bekommen, versuchte er sich zu beruhigen. Es gelang nicht völlig.

 

Da saß er nun, rundherum eingefüllt in den Bademantel, der so fürchterlich gut nach Nick roch, und hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Nicks Geschichte hatte ihn wütend gemacht und er wollte irgendetwas tun, damit es Nick wieder besser ging. Aber er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, konnte aus Nick nicht wieder den glücklichen, unbeschwerten Jungen von damals machen. Doch vielleicht … vielleicht konnte er wenigstens ein bisschen von dem Schaden wieder gutmachen, den er selbst angerichtet hatte.

Er stand auf.

„Ich … ich sollte vielleicht mal wieder los, weil ...“ Er zögerte. Sollte er Nick erzählen, was er vorhatte? Und wenn es nicht klappte? Dann würde Nicks Herz erneut brechen. Das wollte er unbedingt verhindern. „Ich muss noch ins Geschäft.“

Oh ja, das war ja viel besser. Streu noch Salz in die Wunde, du Idiot.

Nick nickte langsam. „Ja, ist vielleicht besser. Nicht, dass ich nachher noch eine Anzeige wegen Entführung bekomme.“ Er lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht seine Augen.

Javiers Finger krallten sich in den Stoff des Bademantels. Er dufte nicht, musste sich beherrschen.

 

Mit einem Ruck fuhr er herum, ging in die Küche, riss sich förmlich den Bademantel vom Leib und versuchte, sich wieder in seine immer noch völlig durchnässten Jeans zu zwängen. Während er auf einem Bein hüpfte und mit dem widerspenstigen Stoff kämpfte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich halb herum und sah Nick, der auf der Türschwelle stand und ihn beobachtete.

Als er Javiers Blick bemerkte, machte er den Mund auf.

„Ich … äh … wollte nur … den Bademantel aufhängen.“ Er stürzte an Javier vorbei, schnappte sich das blaue Ungetüm und stürmte ins Badezimmer. Wirklich, kein Mensch konnte so ordentlich sein. Das war doch krankhaft. Javier runzelte die Stirn und versuchte, nun endlich sein zweites Bein in die Hose zu bekommen.

Nick war wieder in der Tür erschienen. „Willst du … vielleicht was von mir zum Anziehen haben? Deine Sachen sind ja noch klitschnass.“

 

Für einen Augenblick ging Javiers Fantasie mit ihm durch. Er stellte sich vor, wie er vor dem Spiegel in Nicks Schlafzimmer stand, nur noch mit den dunklen, engen Shorts bekleidet, die er gerade anhatte. Nick trat hinter ihn. Nicht so nahe, dass er ihn berührte, aber so, dass Javier deutlich spürte, dass er da war. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel und die Intensität von Nicks Augen, die sich in seine bohrten, ließ Javier zittern. Er fühlte sich nackt und gleichzeitig gehalten, gefangen in diesem Blick, der ihn an- und auszog.

„Ich sehe dich“, schien er zu sagen. „Ich sehe dich und nur dich. Nicht was du anhast oder wo du herkommst, nicht wie du redest oder welchen Stempel du für die Welt trägst. Ich sehe dich, wie du wirklich bist.“

Nick trat einen Schritt vor und sein Körper streifte Javiers. Der schloss die Augen, als warmer Atem über seinen Nackens strich.

„Ich sehe dich“, sagte Nick leise, während seine Fingerspitzen sanft über Javiers Seiten glitten, sich auf dem Bauch trafen und langsam tiefer wanderten. „Aber ich möchte noch mehr von dir sehen.“

Die Finger erreichten den Bund der Shorts.

 

Mit einem Keuchen riss Javier die Augen auf. Sein Tagtraum hatte sich ziemlich deutlich zwischen seinen Beinen manifestiert und einen Moment lang fürchtete er, dass Nick es gesehen hatte.

Der stand jedoch noch in der Tür zum Bad. Als er Javiers heftiges Atmen hörte, trat er auf ihn zu.

„Alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens.“ Javier dreht sich weg und versuchte panisch, endlich in diese verdammte Hose zu kommen. Als er sein Bein zu guter Letzt in den klammen Stoff gestopft bekam, hätte er beinahe erleichtert aufgeatmet. Er riss den Reißverschluss nach oben und schnappte sich Shirt, dessen lange Ärmel immerhin trocken waren, und warf es über den Kopf. Während er es nach unten zerrte, angelte er bereits nach seiner Jacke.

„Ich muss wirklich los, sonst macht mir meine Tante die Hölle heiß. Du weißt ja, wie sie ist.“

Nick blieb stehen, als hätte er ihm einen Tritt vors Schienbein verpasst. Javier zuckte innerlich zusammen, aber diese Spitze war besser, als wenn Nick mitbekam, dass er einen Ständer hatte. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Er griff nach der Türklinke, drückte sie herunter und wollte schon hinausstürmen, als er sich noch einmal herumdrehte.

„Ich … danke. Fürs Zuhören und fürs Erzählen. Vielleicht … vielleicht sieht man sich ja nochmal wieder?“

Die Schwanzspitze des Drachen zuckte, als er mit bangem Hoffen auf die Reaktion der Prinzessin wartete.

„Ja, vielleicht“, antwortete Nick und wirkte irgendwie verloren, wie er da in seiner Küche stand und nicht wusste, was er von Javiers plötzlichem Aufbruch halten sollte. Trotzdem war bleiben keine Option. Javier musste erst mal einen klaren Kopf und seinen Körper unter Kontrolle kriegen. Und außerdem hatte er einen Plan.

„Mach's gut, Nick“, sagte er noch, bevor er die Tür hinter sich zuzog.

 

 

Javier eilte die Straße entlang, allerdings nicht in Richtung des „El Corpiño“. Seine Tante war damit einverstanden gewesen, dass er sich den Nachmittag freinahm, und jetzt führten ihn seine Schritte an das andere Ende der kleinen Ladenstraße. Dort prangte an einer Ecke ein hellblaues Schild mit dem roten Zeichen des bekanntesten Reiseveranstalters Deutschlands. Durch das Fenster des Reisebüro konnte er Natascha hinter ihrem Computer sitzen sehen. Er nahm die zwei Stufen am Eingang auf einmal und öffnete die gläserne Schwingtür.

„Kann ich Ihnen helf… Javier?“ Natascha sah ihn erstaunt an. „Was machst du denn hier?“

„Ich muss zu Alex. Es ist dringend.“

Natascha runzelte die Stirn. Sie sah sich um, um sich zu versichern, dass ihr Kollege ihm Büro nebenan nichts mitbekam, dann stand sie auf und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor.

„Was ist passiert?“, wollte sie wissen. Sorge zierte ihre Züge.

„Ich muss mit ihr reden. Jetzt gleich. Kannst du mich hinbringen?“

Natascha verzog den Mund und schüttelte den Kopf. „Ich hab noch anderthalb Stunden bis zum Feierabend. Wenn du wartest, kann ich dich dann mitnehmen.“

Anderthalb Stunden. Das kam ihm vor wie eine Ewigkeit, aber er nickte tapfer. „Klar, ich warte im Döner gegenüber.“

Ein verzerrtes Lächeln erschien auf Nataschas Gesicht. „Dann klingel ich dich an, wenn ich Feierabend habe. Wenn ich da rein gehe, komme ich mit einem Kilo mehr auf den Rippen wieder raus.“

„Okay.“

Er winkte ihr, ignorierte den schrägen Blick ihres Kollegen und trat wieder auf die Straße. Hier draußen war es kalt und obwohl noch Nachmittag war, wurde es bereits dunkel. Die Straßenbeleuchtung sprang an, als er über den kleinen Marktplatz ging und die Tür des Dönerladens öffnete. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Zwiebeln schwappte ihm entgegen und die Wärme quoll an ihm vorbei in den kalten Vorwintertag.

Er hatte eigentlich keinen Hunger, bestellte sich aber eine Portion Pommes und eine Fanta und setzte sich in einer Ecke auf einen der hohen Barstühle, die hier als Sitzgelegenheit dienten. Sein Blick glitt zur Uhr, die über dem Verkaufstresen hing. Noch anderthalb Stunden.

 

 

Lustlos malte er mit einem der verbleibenden Pommes Muster in das Ketchup. Die Kartoffelstäbchen waren längst kalt geworden und der Zeiger der Uhr schien über das Ziffernblatt zu kriechen. Er hatte immer noch eine halbe Stunde bis zu Nataschas Feierabend und in seinem Kopf stapelten sich zerknüllte Gedanken. Noch 28 Minuten.

Die Tür des Dönerladens öffnete sich und zwei junge Männer kamen herein. Bisher war nicht viel los gewesen, aber jetzt, wo es auf die Abendstunden zuging, kamen die ersten Hungrigen, um sich ein schnelles Essen zu besorgen.

Javier musterte die beiden. Einer von ihnen trug einen langen Schal um den Hals, dem anderen baumelte ein Ohrring vom linken Ohr. Ein kleines, silbernes Kreuz. Nichts besonderes, aber Javier war sich plötzlich total sicher, dass die beiden ein Paar waren. Warum er das wusste, konnte er nicht sagen. Es war so ein Gefühl. Die Art wie sie sich ansahen, als sie überlegten, was sie essen wollten; die Art wie sie darüber stritten, wer bezahlte.

Während der Mann hinter dem Tresen die Bestellung fertigmachte und seine Hilfe kassierte, sah Javier, wie sich die Hand des Typs mit dem Ohrring auf den Hintern seines Freundes schlich. Nur ganz kurz, eine kleine Berührung, die niemand bemerkt hätte. Niemand außer Javier, der hinter ihnen saß und sie so genau im Blick hatte.

Als sie ihr Essen bekamen und sich umdrehten, bemerkte der Ohrring Javiers Blick. Er stutzte, taxierte ihn. Javier hob seine Mundwinkel ein Stück und nickte ein mikroskopisch kleines Nicken. Der Ohrring begann zu lächeln und flüsterte dem mit dem Schal etwas zu. Der lachte und gemeinsam verließen sie den Laden wieder.

Javier sah zu, wie sich die Tür langsam wieder schloss und den dunklen Novemberabend mit seinem Nebel und den eiskalten Temperaturen aussperrte. Er fragte sich, was die beiden wohl verraten hatte. Vielleicht gab es sie doch, diese unsichtbaren Vibes, von denen viele für sich beanspruchten, sie mit einer Art Gaydar wahrnehmen zu können. Javier hatte sich bisher nie groß Gedanken darum gemacht, aber vielleicht war ja doch etwas dran.

Nur wenn es um Nick geht, lässt mich mein Gefühl vollkommen im Stich, dachte er bei sich und zerdrückte die Pommes wie einen Zigarettenstummel. Der Kerl macht mich total wuschig, obwohl doch ganz klar ist, dass er nicht auf Männer steht. Warum also krieg ich ihn nicht aus dem Kopf?

Am besten hielt er sich in Zukunft einfach von ihm fern. Aber zuerst musste er noch in Ordnung bringen, was er angerichtet hatte.

 

Als sein Handy in der Hosentasche vibrierte, sprang er vom Stuhl legte noch schnell ein Geldstück auf den Tisch für die Zeit, in der er den Stuhl besetzt hatte, und raste aus dem Laden. Natascha wartete vor dem Reisebüro auf ihn.

„Mein Auto steht hier nebenan im Parkhaus. Ich hab Alex angerufen. Sie ist zu Hause.“

Schweigend stiefelte er neben ihr her zu ihrem Auto, stieg ein und ließ sich in den kalten Sitz sinken. Natascha bewies zum Glück genug Feingefühl, um ihn nicht zu fragen, was er von Alex wollte. Oder sie hatte einfach keine Lust, sich sein Geseier zweimal anzuhören. Er war in beiden Fällen dankbar dafür, nicht reden zu müssen, denn inzwischen wirbelten die Gedanken in seinem Kopf nur noch wild durcheinander und ergaben überhaupt keinen Sinn mehr. Bis er vor Alex stand, musste er das hinbekommen.

 

Natascha wohnte im gleichen Ort wie Javiers Tante in einem der höheren Wohnblocks, die das Stadtbild optisch verschandelten. Immerhin gab es einen Fahrstuhl, sodass sie binnen kürzester Zeit vom Parkplatz zum vierten Stock gelangten. Als sie sich der Wohnungstür näherten, wünschte sich Javier plötzlich, er hätte die Treppe genommen.

„Ich bin wieder da“, rief Natascha und legte ihren Autoschlüssel auf einen kleinen Schrank. Sie war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen, als Alexandra schon um die Ecke kam.

„Hallo Süß... oh.“ Alex' Blick war an Javier hängengeblieben, der immer noch neben der Eingangstür stand. Er schob die Hände in die Hosentaschen.

„Hi, Alex. Ich … ich muss mit dir reden.“ Er stockte kurz und setzte dann hinzu: „Darf ich reinkommen?“

Alexandra sah zu Natascha, aber die zuckte nur mit den Schultern. „Ist deine Entscheidung. Er ist dein Gast. Ich hab ihn nur hergefahren.“

Alexandra seufzte. „Na dann komm halt rein.“

Sie drehte sich um und ging zurück in den Raum, aus dem sie gekommen war. Dort angekommen machte sie den Fernseher aus und ließ sich auf dem überdimensionalen, roten Sofa nieder, das das Wohnzimmer beherrschte, das ansonsten in eher kühlen Weiß- und Grautönen gehalten war.

„Also, was willst du?“ Die Frage war nicht unbedingt freundlich, aber das konnte Javier ihr nicht verdenken. Immerhin hatte er auch ihre Welt ziemlich ins Wanken gebracht.

„Es geht um Nick“, fing er an und Alexandras Gesicht verfinsterte sich prompt. Natascha hatte sich inzwischen aus der Küche ein Glas Wasser geholt und setzte sich neben ihre Freundin. Javier blieb stehen. Er war hier trotz Nataschas Erklärung kein Gast. Er war ein Eindringling.

„Ich habe … ich war noch mal bei ihm und wir haben geredet.“

„Ach.“ Es war erstaunlich, wie viel Verachtung in einem einzelnen Wort liegen konnte.

„Ja und ich wollte dir sagen ... ich meine ...“ Verdammt, er bekam es nicht zusammen. Vorhin hatte das alles noch Sinn gemacht, aber jetzt, wo Alexandra ihn mit gefurchter Stirn ansah und Natascha nicht viel freundlicher guckte, war auf einmal alles weg.

„Ich hab mich geirrt, okay? Ich … Nick ist kein schlechter Kerl. Er hat nur … er ist … Nick ist Dornröschen.“

„Wie bitte?“

Aleaxandra zog die Augenbrauen hoch und Natascha schüttelte fassungslos den Kopf.

„Sag mal Javier, hast du was geraucht?“

Er kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. Wenn er es falsch erzählte, würden die beiden ihn noch rausschmeißen.

„Also nochmal: Ich war bei Nick, um mich bei ihm zu entschuldigen. Wegen Samstag. Wir haben geredet und Nick hat mir einige Sachen aus seiner Vergangenheit erzählt. Unter anderem von seiner Exfreundin, die ihm ziemlich übel mitgespielt hat. Und deswegen hat Nick sich in sein Schloss zurückgezogen wie Dornröschen beim Winterschlaf, hat eine rosa Dornenhecke drumherum aufgestellt und ein Schild „Vorsicht schwul!“ an die Tür gehängt, damit ihn auch ja keine Frau mehr anrührt. Die Einzige, die er noch reingelassen hat, warst du, Alex. Anfangs vermutlich, weil er vor dir nichts zu befürchten hatte, aber inzwischen bist du seine beste Freundin.“ Er sah Alexandra genau ins Gesicht. „Und die einzige. Ich weiß nicht, warum er dir nie die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht weil er Angst hatte, dass du dann nicht wiederkommst. Aber er hat nie, aber auch wirklich nie, irgendwas von dir gewollt.“

Er hörte auf zu reden. Sein Herz klopfte in seiner Brust, als hätte er gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich. Würde es reichen? Würde Alexandra ihm glauben? Er hatte lange überlegt, wie viel und was er ihr sagen sollte. Was er und Nick besprochen hatten, war im Vertrauen geschehen, aber Alexandra musste die Wahrheit erfahren. Und zwar die ganze Wahrheit und nicht nur den Teil davon, den Javier auseinandergerissen und falsch wieder zusammengesetzt hatte. Sie schien jedoch nicht überzeugt.

„Aber du hast gesagt, er hat meinen Namen ...“ Sie sprach nicht weiter.

Javier hätte in die Tischkante beißen können, wenn er einen Tisch vor sich gehabt hätte. Stattdessen ballte er die Hände zu Fäusten und trat einen Schritt auf das Sofa zu.

„Man, Alex! Nick war betrunken und ich hatte seinen Schwanz im Mund. Da kann ein Mann nicht mehr klar denken.“

„Uuh! Too much information!“ Natascha verzog das Gesicht und wedelte mit der Hand, als wolle sie einen üblen Gestank verscheuchen.

Javier sank in sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen. Jetzt hatte er es endgültig verbockt.

 

Nach einer Weile räusperte Natascha sich. „Ich glaube, was Javier versucht dir zu sagen, ist, dass Nick dich nicht zum Lustobjekt degradiert hat, wie du angenommen hattest.“

Javier hob den Kopf. Dass ausgerechnet Natascha ihm half, hatte er nicht erwartet. Aber vermutlich sorgte sie sich dabei weniger um ihn oder Nick, sondern vielmehr um ihre Freundin, die sich prompt ihr zuwandte.

„Meinst du?“ Anscheinend konnte sie mit Nataschas Worten mehr anfangen als mit seinen.

Natascha nickte langsam. „Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du Nicks einzige, emotionale Bezugsperson. Oder bekommt er sonst manchmal Besuch? Hat er noch mehr Freunde außer dir?“

Alexandra überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, Nick ist eigentlich immer allein, wenn ich nicht da bin.“

Sie verschränkte die Finger ineinander und starrte auf den Boden. „Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Er war irgendwie immer da, wenn ich ihn brauchte.“

Natascha griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Das hast du mir erzählt. Und eigentlich hatte ich auch den Eindruck, dass er ein netter Kerl ist. Ein wenig exzentrisch vielleicht, aber ein guter Freund. Und … na ja … vielleicht hat er sich in dem Moment auch einfach ein wenig Nähe gewünscht. Jemandem, dem er vertraut. Und die Einzige, die ihm in seinem Brausekopf dabei eingefallen ist, bist du. An unseren Casanova hier hat er jedenfalls nicht gedacht.“

Javier ignorierte den Stich, den ihm diese Feststellung gab. Nein, an ihn hatte Nick nicht gedacht. Warum auch? Er war ja nicht schwul. Aber hier ging es gerade nicht um ihn. Hier ging es um Nick und Alex.

„Bitte Alex!“, wagte er jetzt wieder zu sprechen. „Bitte, geh zu ihm. Rede mit ihm oder ruf ihn wenigstens an. Lass ihn erklären, was da passiert ist. Seine Version. Die richtige Version. Verlass dich nicht auf irgendeinen Kerl, den du kaum ne Woche kennst, nur weil er schwul ist. Nick hat dein Vertrauen viel mehr verdient als ich.“

Alexandra sah ihn lange an.

„Du hast recht“, sagte sie schließlich, stand auf und strich ihren Rock glatt „Ich hätte mich nicht auf dich verlassen dürfen, nur weil ich in meinem Kopf eine Grenze zwischen Homo und Hetero gezogen habe. Vollpfosten gibt’s nun mal überall.“

Sie bedachte ihn mit einem vielsagend Blick.

Er sah zu Boden. Wenn das alles war, was sie ihm an den Kopf werfen wollte, war er relativ gut weggekommen. Eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihm die Augen auskratzte.

 

Alexandra wandte sich an Natascha. „Kann ich dein Auto haben? Ich glaube, ich sollte heute Nacht bei mir schlafen. Was Nick und ich zu besprechen haben, wird sicherlich ne Weile dauern.“

„Na klar, ich fahre morgen früh einfach mit der Bahn.“

Sie küssten sich kurz, bevor Alexandra an Javier vorbei in den Flur ging. An der Tür hielt sie an. „Soll ich dich noch irgendwohin mitnehmen?“

Es war ein Rausschmiss, aber ein netter. Er verneinte.

„Ich gehe gleich zu meiner Tante nach Hause, aber auf dem Weg muss ich mir noch überlegen, was ich ihr jetzt erzähle.“

„Wieso?“ Alexandras Gesicht wurde misstrauisch. „Was hast du denn noch ausgefressen?“

Er zögerte, bevor er antwortete. „Ich … ich habe ihr auch gesagt, dass Nick nicht schwul ist, und sie hat ihm deswegen gekündigt.“

Alexandra fiel alles aus dem Gesicht. „WAS? Bist du denn wirklich der größte Depp, der auf diesem Erdball rumläuft? Zuviel Sex macht anscheinend doch doof.“

„Ich hab das nicht gewollt“, jammerte er. „Als ich an dem Abend zu ihrem Haus kam, hat sie mir Vorträge gehalten, vonwegen Verantwortungsbewusstsein und so weiter. Aber als die Sprache auf Nick kam, war auf einmal wieder alles in Butter. Der große Nick, der tolle Nick, der immer alles richtig macht und das sogar, obwohl er schwul ist. Da bin ich ausgerastet. Ich wollte ihm mal ein bisschen was von seinem Goldglanz nehmen und ihn von dem Podest holen, auf den meine Tante ihn immer stellt.“ Er wurde wieder leiser. „Und dabei habe ich vergessen, dass er ja auch für sie arbeitet. Ich wollte ihm das nicht kaputtmachen. Ich wollte nur nicht immer so scheiße neben ihm aussehen.“

„Wenn man es selbst zu nichts bringt, kann man immer noch andere mit in den Dreck ziehen.“ Natascha schüttelte erneut den Kopf. „Und jetzt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Jetzt muss ich irgendwie einen Weg finden, wie ich meine Tante dazu bringe, dass sie ihn wieder einstellt.“

Er hatte nur noch überhaupt keinen Plan, wie er das anstellen sollte.

Bewährungsprobe

Nick lag im Bett und dachte an Javier. Er hätte gerne behauptet, dass es furchtbar philosophische Betrachtungen waren, die sich mit dem Wesen und dem Charakter des jungen Mannes mit der spanischen Abstammung befassten. Aber eigentlich dachte Nick nur daran, wie er ausgesehen hatte, als er halbnackt in der Küche herumgehüpft war. Und dass er ihn dabei angestarrt hatte, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass er heute Nacht von ihm geträumt hatte. Und er war sich nicht sicher, ob die fast schon schmerzhaft harte Erektion, mit der er heute Morgen aufgewacht war, nicht vielleicht doch etwas mit diesem Traum zu tun hatte.

 

Dabei hatte er nun wirklich andere Dinge, die ihm im Kopf hätten herumspuken müssen. Sein Gespräch mit Alexandra vom Abend zuvor beispielsweise. Er war, gelinde gesagt, erstaunt gewesen, als sie plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte. Noch erstaunter war er gewesen, als sie ihm erzählt hatte, dass es Javier gewesen war, der sie dazu bewegt hatte, sich bei Nick zu melden. Irgendwann an dem Punkt war Alex in Tränen ausgebrochen und hatte sich weinend bei ihm entschuldigt, dass sie so unfair zu ihm gewesen war und das das alles ein bisschen viel auf einmal gewesen wäre. Er hatte ihr die Küchenrolle gegeben und dann hatten sie geredet. Das hieß, eigentlich hatte Nick geredet und Alexandra hatte zugehört. Es war ihm beim zweiten Mal schon leichter gefallen, die Geschichte wiederzugeben, die er zuvor bereits Javier erzählt hatte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand einem anderen so etwas antun kann“, hatte Alexandra gemeint und Nick mit unendlich mitleidigen Augen angesehen. „Warum hast du ihr nicht die Meinung gesagt und verlangt, dass sie wenigstens das Bild löscht?“

Nick hatte keine Antwort darauf gehabt. Nach seiner Flucht hatte er die Seite ein ums andere Mal angesehen, bis sie schließlich irgendwann vom Netz genommen worden war. Ob aus Einsicht von Katja oder aus dem Grund, dass jemand getan hatte, wozu er nicht den Mut gehabt hatte, wusste er nicht. Aber es hatte geholfen, ihn Dinge vergessen zu lassen.
 

Am Ende war es zwischen ihm und Alex fast wieder so wie früher gewesen. Allerdings nur fast, weil Alexandra gemeint hatte, dass sie sich schon irgendwie noch an den Gedanken gewöhnen müsse, dass der Mann, der sie bereits diverse Male ziemlich leicht bekleidet gesehen hatte, ihren Reizen nicht ganz so verschlossen war, wie sie angenommen hatte.

„Das muss doch total anstrengend für dich gewesen sein.“

Nick hatte nur leicht mit den Schultern gezuckt. „Na ja ... nein. Anfangs schon, aber dann warst du halt einfach nur eine Freundin.“ Er hatte kurz überlegt und dann hinzugefügt: „Aber vielleicht könntest du in Zukunft deine ... ähm ... Sessions von der Badewanne ins Schlafzimmer verlegen. Da gibt es so ein Rohr in der Wand, durch das man ganz genau hören kann, was im anderen Raum passiert.“

Alexandra hatte einen Augenblick gebraucht, um zu verstehen, was er meinte. Anschließend war sie erst blass und dann rot geworden und dann hatten sie beide gelacht und sich ein wenig umständlich in den Armen gelegen. Nick war sich sicher, dass es noch Zeit brauchen würde, bis sich das alles neu sortiert hatte. Es war … ein wenig unangenehm, aber trotzdem irgendwie befreiend, dass er jetzt nicht mehr so tun musste, als ob.

 

Und nun lag er im Bett und phantasierte von Javier. Nick rieb sich mit der Hand über die Augen.

„Was für eine Scheiße“, murmelte er und stellte beiläufig fest, dass anscheinend auch schon Javiers Sprache auf ihn abfärbte. „Wenn ich mir am Samstag einfach die Kante gegeben hätte und am nächsten Morgen mit ihm zusammen im Bett aufgewacht wäre, wäre es einfacher. Aber nein, ich musste es ja kompliziert machen.“

Er seufzte abgrundtief und überlegte, ob er jetzt wirklich aufstehen musste, als sein Handy im Wohnzimmer einen Ton von sich gab. Sofort war er auf den Füßen und entsperrte eilig den Bildschirm. Es war allerdings nur eine Nachricht von Rainer.

 

Denkst du noch an den Kurs heute Abend? 19 Uhr geht's los.

 

Nick tippte eine positive Antwort und ließ das Gerät nach dem Abschicken auf das Sofa fallen. Er setzte sich daneben und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was hatte er denn gedacht? Dass er eine Nachricht von Javier bekam, nur weil er die ganze Zeit an ihn dachte? Außerdem bezweifelte er, dass Alex in ihrem gestrigen Zustand daran gedacht hatte, Javier Nicks Nummer zu geben. Warum auch? Sie waren ja schließlich nicht befreundet. Oder doch? Immerhin hatten sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte erzählt und zwar ohne, dass dabei auch nur ein einziger Tropfen Alkohol geflossen war. Das machte sie doch bestimmt zu … irgendwas. Zu was genau vermochte Nick allerdings nicht zu sagen. Zumal er seine Faszination für die körperliche Attraktivität nicht verstand.

Wenn mir das irgendeiner erzählen würde, würde ich ihm vermutlich einen Vogel zeigen und ihm sagen, dass er einfach nur notgeil ist. Ich frage mich, wie Leute es schaffen, im Zölibat zu überleben. Die sind wahrscheinlich spirituell viel weiter als ich.

 

Er kämpfte gerade mit sich, ob er sich erheben und duschen gehen sollte, als es an der Tür klingelte. Nick sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. Es war halb neun. Wer sollte um diese Uhrzeit etwas von ihm wollen? Ob Alex nochmal vorbeigekommen war, bevor sie zur Arbeit ging? Sie hatte diese Woche Frühschicht und musste daher schon um neun im Fitnessstudio sein. Sicherheitshalber huschte Nick noch ins Bad, um sich seinen Bademantel über den Schlafanzug zu ziehen, bevor er an die Tür ging.

Als er öffnete, stand Javier draußen.

„Du musst mitkommen.“

„Äh ...“ antwortete Nick äußerst eloquent. Irgendwie war er gerade zu nichts weiter fähig, als denjenigen anzustarren, der schon den ganzen Morgen durch seine Gedanken geisterte. Warum war ihm vorher eigentlich nie aufgefallen, was für lange Wimpern Javier hatte? Und dass sich seine vollen Lippen immer ein wenig spöttisch zu kräuseln schienen? Obwohl das auch daran liegen konnte, dass Nick gerade einfach nur vor ihm stand und ihn anglotzte wie ein exotisches Tier im Zoo. Schon wieder.

„Wohin?“, fand Nick seine Sprache so weit wieder, dass es mit sehr fest zusammengekniffenen Augen vielleicht als Gespräch durchgehen konnte.

„Ins 'El Corpiño'. Meine Tante hat gerade mit Lisa telefoniert, als ich weg bin. Die hat sich wohl irgendwas eingefangen und kommt heute nicht. Bitte, Nick, du musst mich begleiten.“

 

Nick war immer noch nicht in der Lage, sich zu rühren. Wie kam es bloß, dass Javier es immer wieder schaffte, ihn in absolut unmögliche Situationen zu bringen, in denen Nick nicht wusste, wie er sich zu verhalten hatte? Bye-bye Komfortzone, DJ Destroyed Denim is in da house.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht. Ich … ich bin noch gar nicht angezogen.“

„Dann ändere das!“ Javiers Ton schwankte irgendwo zwischen amüsiert und verzweifelt.

Nickt atmete tief durch.

„Deine Tante hat mich rausgeschmissen, wenn du dich mal erinnern könntest. Ich kann doch da jetzt nicht einfach so aufkreuzen, um … weswegen eigentlich?“

Javier sah ihn an, als wäre er ein bisschen begriffsstutzig. „Na um deinen Job wiederzubekommen. Ich wollte eigentlich mit ihr reden, aber als ich gestern nach Hause kam, war sie aus und ist erst total spät wiedergekommen. Und heute Morgen hab ich's irgendwie nicht auf die Reihe gekriegt. Tante Nata ist nicht so wirklich ein Morgenmensch, musst du wissen, und ich ...“

Javier verstummte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die danach in einem sehr eigenartigen Winkel vom Kopf abstanden. Nick riss seinen Blick davon los und sah Javier wieder ins Gesicht. Der verzog den Mund zu einer schiefen Grimasse.

„Ich versuche doch nur, die Scheiße wieder geradezubiegen, die ich da verbockt habe. Das Problem ist bloß ... ich kann das nicht so gut. Aber wenn du zu Tante Nata gehst und ihr erzählst, was du mir erzählt hast, dann stellt sie dich vielleicht wieder ein.“

Javier sah ihn bittend an. Nick zog den Bademantel fester um sich. Es war kalt hier draußen und seine bloßen Füße waren gerade dabei, sich in Eisklumpen zu verwandeln. Am liebsten hätte er die Tür wieder zugemacht. Aber was war mit Javier? Sollte er ihn draußen lassen oder hereinbitten? Was war es doch noch gleich, was man über Vampire sagte? Gefährlich wurde es erst, wenn man sie über die Schwelle bat. Vermutlich war es besser, ihn nicht einzulassen, aber irgendwie wurde Nick das Gefühl nicht los, dass es dafür ohnehin schon zu spät war. Er seufzte.

„Komm erst mal rein. Es ist schweinekalt.“

Er ließ Javier vorbei und schloss die Tür. Einen Augenblick lang blieb er stehen, die Hände an das glatte, weißgestrichene Holz gelegt, und fragte sich, was er hier eigentlich gerade tat. War er wirklich bereit, sich auf Javiers Idee einzulassen? Sich auf dessen unerschütterliche Hoffnung zu stützen, dass doch noch alles gut werden würde? Wollte er wirklich diesem grünen Licht folgen, von dem er nicht wusste, ob er es jemals erreichen würde. Er lächelte, als ihm klarwurde, dass er gerade aus Gatsby zitiert hatte, ohne es zu wollen. Javier hatte offensichtlich noch mehr mit der Romanfigur gemein, als er ohnehin schon angenommen hatte. Trotzdem war da diese Angst. Was, wenn das Boot auf Grund lief? Wenn ihn das Vertrauen auf eine weitere Untiefe führte und ihn erneut stranden ließ. Was dann?

„Ziehst du dir nun endlich was an?“

Javiers Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen. Er drehte sich um und sah, dass Javier ungeduldig in seiner Küche stand und darauf wartete, dass Nick endlich etwas tat, anstatt nur alles zu zerdenken. Er erinnerte Nick an einen Windhund kurz bevor das künstliche Kaninchen auf die Rennstrecke geschickt wurde. Aber Nick war der Gedanke, wie ein Bittsteller ins „El Corpiño“ zurückzukehren, unangenehm. Was, wenn Renata ihn gleich wieder rausschmiss?

„Du hättest anrufen können.“ Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung.

Jetzt war es an Javier, nervös den Blick zu senken.

„Hab deine Nummer nicht“, nuschelte er. „Und meine Tante wollte ich nicht fragen.“

„Was ist mit Alex? Sie hätte dir meine Nummer geben können.“

Er wusste, dass es unfair war, was er tat. Natürlich konnte Javier Alex nicht nach seiner Nummer fragen. Das wäre seltsam gewesen nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen war. Er hätte umgekehrt auch nicht gefragt.

Javier schwieg. Ziel erreicht. Doch Nick musste feststellen, dass er jetzt, wo er es geschafft hatte, eigentlich gar nicht wollte, dass Javier aufhörte zu reden. Er wollte weiter seine Stimme hören und sich von ihm mitreißen lassen zu irgendwelchen schwachsinnigen Aktionen, bei denen nichts Gutes herauskommen konnte, die ihm aber während ihrer Dauer ein unglaubliches Gefühl der Lebendigkeit gaben. Trotzdem wollte er gerne vorher gefragt und nicht einfach mit irgendwelchen Plänen überfahren werden. Vielleicht sollte er Javier das einfach mal sagen.

„Sie war gestern hier“, sagte er stattdessen. So ein Gespräch führte man nicht im Stehen in der Küche. Während er noch im Bademantel war. „Alex meine ich. Wir haben … geredet.“

Javier hob den Kopf.

„Bist du sauer, dass ich es ihr erzählt habe?“

Nick atmete kurz durch. Vermutlich hätte er es sein sollen, aber eigentlich war er nur froh, dass er und Alex es geschafft hatten, sich zusammen an einen Tisch zu setzen. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, schon okay.“

„Und?“, fragte Javier und seine Stimme klang hoffnungsvoll. „Ist jetzt wieder alles cool zwischen euch?“

Nick machte ein unbestimmtes Geräusch. „Weiß nicht. Ja. So in etwa. Ist alles noch ein bisschen wackelig, aber ich glaube, wir bekommen das hin.“

Javier ließ die Schultern sinken und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah Nick von unten heraus an.

„Und kommst du jetzt mit?“

Das war sie. Die Frage, die Nick das Gefühl gab, dass er auch etwas in der Angelegenheit zu sagen hatte und nicht nur mitgeschleift wurde.

„Meinst du denn wirklich, dass das was bringt?“

Javier formte den Mund zu einem schmalen Strich.

„Ich weiß es nicht“, sagte er langsam. „Ich kann dir nicht sagen, wie sie reagieren wird. Ich kann dir nur sagen, dass ich denke, dass es einen Versuch wert ist. Tante Nata ist schließlich kein Unmensch. Und sie mag dich, Nick. Sie hält wahnsinnig viel von dir. Sie wird dir zuhören. Eher als mir.“

Nick ließ geräuschvoll die Luft entweichen. Das war ein ziemlich großer Schritt für ihn.

„Vielleicht gehst du dich erst mal anziehen und überlegst es dir in Ruhe, während ich ...“ Javier machte eine Geste, die wohl bedeuten sollte, dass er irgendwie möglichst unauffällig auf ihn warten würde. Als wenn irgendwas an ihm je unauffällig hätte sein können. Zumindest nicht für Nick.

„Ja, okay, ich … geh erst nochmal ins Bad und du … du kannst dich ja so lange ins Wohnzimmer setzen.“

Javier nickte und wollte sich gerade die Schuhe ausziehen, als sein Handy anfing zu klingeln. Er ging ran.

„Sí?“

Sein Gesicht verfinsterte sich etwas, während der Anrufer auf ihn einredete. Nick hatte so eine Ahnung, wer das sein könnte. Javier antwortete noch mit einem knappen, spanischen Satz, bevor er das Gespräch wieder beendete. Er sah Nick entschuldigend an.

„Meine Tante. Sie fragt, wo ich bin.“

Da ging sie dahin, Nicks Zeit für eine besonnene Entscheidung. Wenn er sich nicht beeilte, würde Renata vermutlich über Javiers langes Fortbleiben so ungehalten sein, dass ein Besuch bei ihr ohnehin sinnlos wäre. Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.

„Okay, ich beeile mich.“

Er ging ins Bad, machte eine Katzenwäsche und ließ nach einem kurzen Zögern seinen Schlafanzug einfach auf dem Badezimmerfußboden liegen. Es war keine Zeit, sich noch lange mit solchen Dingen aufzuhalten, auch wenn er sich nur allzu bewusst war, dass er unter dem Bademantel vollkommen nackt war, als er an Javier vorbei ins Schlafzimmer lief, um sich dort umzuziehen. Er sah kurz in den Spiegel und befand, dass das Rasieren auch ausfallen konnte. Ein leichter Schatten würde seine Chancen, seinen Job wiederzubekommen, weniger beeinflussen, als nochmals zehn Minuten später zu kommen. Er trat wieder ins Wohnzimmer.

„Bin fertig.“

Javier, der nur darauf gewartet zu haben schien, sprang auf und schenkte Nick ein kleines Lächeln. Warum, konnte Nick nicht sagen, aber es gefiel ihm.

 

 

Der Tag hatte anscheinend beschlossen, die schöneren Seiten des Herbstes herauszukehren und wartete ausnahmsweise nicht mit Nebel sondern mit klarem Sonnenschein auf, der an den teilweise schon überfrorenen Autoscheiben leckte und sie binnen kürzester Zeit freischmolz. Nick beschloss, dass das ein gutes Zeichen war, während er an Javiers Seite durch die Straßen eilte. Als das „El Corpiño“ in Sichtweite kam, wurden Nicks Schritte jedoch langsamer. In seinem Magen begann sich ein leichter Knoten zu bilden. Was, wenn es doch nicht klappte?

„Wehe, du kneifst.“

Erstaunt sah er Javier an. War das wirklich so deutlich gewesen? Er blieb stehen.

„Ich hab ein bisschen Schiss“, gestand er.

Javie trat zu ihm und hob die Hand. Er griff nach Nicks Mantelkragen und strich ihn ein wenig glatt, auch wenn Nick das Gefühl hatte, dass er eigentlich etwas anderes hatte machen wollen.

„Du schaffst das“, sagte Javier zuversichtlich. „Ich bin ja bei dir.“ Er lachte und setzte hinzu: „Obwohl ich mir nicht sicher bin, dass das wirklich hilfreich ist.“

Nick antwortete nicht darauf, aber in seinem Inneren hatte er bereits beschlossen, dass es für ihn in jedem Fall hilfreich war. Er war froh, dass Javier gekommen war, obwohl er jetzt gerade das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, was vielleicht auch daran lag, dass er vollkommen vergessen hatte zu frühstücken. Er straffte die Schultern.

„Also schön“, sagte er weit tapferer, als er sich fühlte. „Ziehen wir es durch.“

Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht.

 

Als sie den Laden betraten, verflüchtigte sich ein guter Teil von Nicks Wagemut zunächst. Er war das letzte Mal in Schimpf und Schande vom Hof gejagt worden und jetzt hierher zurückzukehren war schwerer, als er angenommen hatte. Doch dann begann das zu wirken, was er schon beim ersten Mal gespürt hatte, als er hierher gekommen war. Das „El Corpiño“ war nicht nur einfach seine Arbeitsstätte. Es war zu einer Art zweiter Heimat geworden. Er war gern hier, er liebte es hier zu arbeiten und er wollte seinen Platz wieder zurückhaben. Entschlossenen Schrittes ging er auf die Bürotür zu. Javier folgte ihm wie ein gehorsamer Wachhund. Als sie fast an der kleine Treppe, die am Ende des Ladens nach oben führte, angekommen waren, öffnete sich die schwarz verkleidete Tür, die den Zugang fast vollkommen mit der Wand verschmelzen ließ. Renata trat heraus wie eine böse Fee aus einem Märchen. Nein, keine böse Fee. Eher eine weise Frau. Als sie Nick sah, blieb ihr einen Augenblick lang der Mund offenstehen.

„Nick?“, fragte sie, als sie sich wieder gefangen hatte. „Was machst du denn hier?“

„Ich möchte noch einmal mit dir reden. Über meine Kündigung.“

Renatas Gesicht verschloss sich. „Da gibt es nichts mehr zu reden. Du hast meine Entscheidung gehört.“

„Aber Tante Nata!“ Javier drängelte sich an ihm vorbei. „Du musst Nick zuhören. Er kann dir alles erklären. Es war nicht seine Schuld.“

Renata zog eine Augenbraue nach oben. „Es war nicht seine Schuld, dass er mich angelogen hat? Sich die Anstellung hier feige erschlichen hat? Wessen Schuld sollte es denn sonst sein, wenn nicht seine?“

Javier sah zu Nick und dann wieder zu seiner Tante. „Ich … ich weiß inzwischen, warum er das gemacht hat. Und alles, worum ich dich bitte, ist, dass du ihm die Chance gibst, es dir auch zu erklären. Lass dir von Nicks seine Geschichte erzählen. Bitte.“

Nick sah Renata an, dass sie mit sich rang. Sie war eine stolze Frau, so viel konnte er sagen, und eine einmal getroffene Entscheidung wieder zurückzunehmen, würde sie sicherlich einiges kosten. Und trotzdem hoffte er, dass sie es tat.

„Na schön“, sagte sie schließlich. „Du hast eine halbe Stunde. Ich werde noch ein Schild an die Tür hängen, dass wir heute später öffnen. Ihr wartet in meinem Büro auf mich.“

Sie stieg mit klackernden Schritten die Stufen herab und ging hinter den Tresen, um einen entsprechenden Zettel zu schreiben. Als sie Nick damit entgegenkam, sah er, was sie darauf geschrieben hatte. „Wegen dringender Familienangelegenheiten geschlossen.“ Er fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Mit zittrigen Knien stieg er die Treppe hinauf.

 

Als Renata wieder im Büro erschien, ließ sie sich ohne viel Federlesen hinter ihrem Schreibtisch nieder und blickte Nick erwartungsvoll entgegen.

„Also gut, fang an.“

Javier, der neben dem Schreibtisch stand, nickte ihm zu und Nick begann zu erzählen. Er begann damit, dass er sein Studium abgebrochen hatte. Den Grund dafür nannte er nicht, sondern ließ lediglich durchblicken, dass es persönliche Gründe waren, die durch Fremdeinwirkung an die Öffentlichkeit geraten waren. Danach schilderte er seine Lehrzeit, die Verdächtigungen und Gerüchte, bis er bei dem Tag ankam, als er zum ersten Mal den Raum betreten hatte, in dem er gerade stand. Damals hatte er einen dunklen Anzug getragen, war ordentlich zurechtgemacht und tadellos frisiert gewesen. Jetzt kam er sich schäbig vor und musste an sich halten, um nicht etwa an seiner Kleidung herumzuzupfen. Er sah Renata mit dem ehrlichsten Gesichtsausdruck an, den er zustande brachte.

„Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte nicht lügen. Ich wollte nur unbedingt hier arbeiten und habe daher einfach auf das zurückgegriffen, was sowieso alle in mir gesehen haben. Es … es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe.“

Renata schwieg eine Weile. Ihr Blick war irgendwo an Nick vorbei auf die Wand gerichtet und er wartete ab, was sie wohl sagen würde, während seine Handflächen feuchte Abdrücke auf seiner Hose hinterließen. Schließlich atmete sie tief durch.

„Ich möchte sie sehen“, sagte sie und sah Nick jetzt wieder geradeheraus an. „Die Arbeiten, die du für dein Studium angefertigt hast. Zeig sie mir.“

Natürlich, sie wollte einen Beweis dafür, dass er sich das ganze nicht einfach so aus den Fingern gesogen hatte.

„Ich … ich kann sie herholen.“ Er stockte. „Jetzt gleich?“

Sie überlegte kurz. „Ich werde heute nicht die Zeit finden, sie mir anzusehen. Lisa ist krank und wir werden heute alle Hände voll zu tun haben. Wenn du erlaubst, würde ich die Mappe gerne mit nach Hause nehmen und sie mir in Ruhe anschauen.“

Nick schluckte. Konnte er das Stück wirklich aus den Händen geben? Er gab sich einen Ruck. Es waren nur ein paar Zeichnungen und Fotos, nichts weiter. Er würde sie Renata aushändigen können.

„Ich könnte mitkommen und die Mappe abholen“, bot Javier plötzlich an.

Renata sah ebenso erstaunt aus, wie Nick sich fühlte, aber dann nickte sie.

„Einverstanden. Du kannst auf dem Weg gleich noch neue Kekse besorgen. Lisa hat sämtliche Vorräte vernichtet. Und ich werde wohl noch eine halbe Stunde ohne dich auskommen. Das 'El Corpiño' ist immerhin immer noch mein Laden.“

 

Sie erhob sich und sah Nick fest in die Augen. „Meine Entscheidung bezüglich deiner Anstellung war eigentlich bereits gefallen, Nick Kaufmann. Aber ich kenne dich jetzt schon eine ganze Weile und weiß, was du hier alles geleistet hast. Daher will ich mir zunächst alle Fakten ansehen, bevor ich mir hinterher vorwerfe, einen Fehler gemacht zu haben. Trotzdem bleibt die Kündigung vorerst bestehen, das muss dir klar sein.“

Nickt nickte eilig. „Das ist mir bewusst. Ich … danke.“

Er wusste nicht, was er noch weiter sagen wollte. Er hatte die letzte, halbe Stunde fast ununterbrochen geredet und jetzt erschien es ihm, als wären alle seine Worte aufgebraucht.

Renata murmelte etwas auf Spanisch und Nick sah, dass Javier sich ein Grinsen verkneifen musste. Plötzlich konnte er es nicht erwarten, endlich wieder hier raus zu kommen und mit Javier allein zu sein. Er ging zur Tür und öffnete sie für Renata, die wie die Königin, die sie war, hindurch rauschte und ihn nicht weiter beachtete. Die Audienz war beendet, er konnte den Thronsaal verlassen.

 

Draußen vor dem Laden atmete er tief durch. Die klare Herbstluft füllte seine Lungen und auch wenn noch ein kleiner Wermutstropfen blieb, fühlte er sich gut. So gut, dass er Javier angrinste und fragte:

„Was hat deine Tante gesagt?“

Javier grinste zurück. „Wer eigentlich die Regel aufgestellt hätte, dass man vor zehn Uhr morgens keinen Schnaps trinken dürfe.“

Nick konnte nicht anders, er musste lachen

„Wo sie recht hat ...“ Er wurde wieder ernster. „Aber wir sollten uns vielleicht tatsächlich beeilen. Wenn Lisa heute nicht kommt und ihr nur zu zweit seid, wird das ein langer Tag.“

„Jaha, es wäre so cool, wenn da noch jemand wäre, der uns helfen könnte“, bestätigte Javier und puffte Nick leicht in die Seite. „Komm, lass uns zu dir.“

 

Sie gingen zusammen die Straße entlang und Nick kam nicht umhin zu bemerken, dass sie sich beim Laufen immer wieder berührten. Er hatte keine Ahnung, ob er sich das einbildete oder ob es tatsächlich so war, aber es fesselte seine Aufmerksamkeit so sehr, dass er gar nicht merkte, dass sie plötzlich vor seiner Wohnung standen. Er blinzelte seine Haustür an.

„Was ist los? Hast du den Schlüssel vergessen?“

Nick blinzelte erneut. Schlüssel? Ach ja, der Schlüssel. Er kramte das klimpernde Ding hervor und steckte es in das Türschloss. Irgendwas in seinem Magen zog sich schon wieder zusammen, als er daran dachte, dass er Javier gleich die Mappe geben würde. Vermutlich würde er demnächst beim Arzt ein Magengeschwür diagnostiziert bekommen. Irgendwas war da definitiv nicht in Ordnung. Er drehte den Schlüssel herum.

 

Als er wieder in die Küche kam, hatte Javier die Tür hinter sich geschlossen. Er stand da und sah Nick an.

„Ich hab die Bilder geholt“, sagte Nick überflüssigerweise, ging noch ein Stück auf Javier zu und hielt ihm die Mappe hin.

„Ist das Foto von dir noch drin?“ Javiers Stimme schwankte ein wenig.

Nick schüttelte den Kopf.

„Das habe ich rausgenommen. Ich fand es ... nicht so passend.“

„Schade. Ich hätte es mir gerne nochmal angesehen.“

Ein Schauer lief über Nicks Rücken, als ihm Javier bei diesen Worten tief in die Augen sah. All das, was ihm heute Morgen durch den Kopf gegangen war, stürmte mit einem Mal wieder auf ihn ein und ließ ihn schwindeln. Der Stein in seinem Magen zog sich zusammen.

„Du musst los“, sagte er und seine Stimme klang plötzlich ebenso zittrig wie Javiers. Was war hier los? Warum sah Javier ihn so an? Warum kam er jetzt einen Schritt näher?

Im nächsten Moment streiften warme Lippen Nicks Mund. Er hielt erschrocken den Atem an.

Javier trat zurück und schluckte. Seine Augen waren riesig und dunkel.

„E-Entschuldige. Ich … ich hätte das nicht tun sollen.“

Er riss die Mappe an sich, öffnete die Tür und stürmte hinaus.

 

Nick war unfähig sich zu rühren. Der Stein in seinem Magen war gerade geplatzt und hatte sich in tausend Schmetterlinge verwandelt, die in atemberaubenden Tempo durch seinen Körper rasten und dort alle möglichen unvernünftigen Wünsche auslösten. Unter anderem den, Javier noch einmal zu küssen. Aber der war weg.

„Warte!“, rief er und stürzte aus der Tür. „Javier, warte!“

Javiers eilige Schritte wurden langsamer. Nick rief noch einmal nach ihm. Endlich blieb er stehen, hatte den Kopf aber weiter streng geradeaus gerichtet.

„Jay!“ Wie schon beim ersten Mal brachte die vertrauliche Anrede den Ausschlag. Javier drehte sich endlich zu ihm herum.

Nick wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Er war nicht sauer, aber gleichzeitig schrillte ungefähr ein Dutzend Alarmglocken in seinem Kopf und darüber rief eine gellende Stimme ihm zu, dass er gerade dabei war, einen Riesenfehler zu machen. Nick beschloss, sie zu ignorieren. Er hob die Hand mit seinem Handy darin.

„Krieg ich deine Nummer? Nur für den Fall, dass ...“ Er zuckte ganz leicht mit den Schultern.

Auf Javiers Gesicht erschien ein winziges, hoffnungsvolles Lächeln. Er kam langsam – sehr langsam – zurück und streckte die Hand nach Nicks Handy aus.

„Ich speicher sie dir ein.“

Als er fertig war, gab er Nick das Gerät wieder zurück. Er hielt den Kopf gesenkt, aber ganz kurz schielte er doch zu Nick nach oben. Nick konnte nur hoffen, dass Javiers Herz nicht genauso laut klopfte wie sein eigenes, denn sonst würden sich womöglich gleich die Nachbarn beschweren, wer da draußen so einen infernalischen Lärm machte.

„Danke. Ich … ich melde mich.“

Es gab keine Worte für alles, was zwischen den Zeilen mitschwang.

„Ich würde mich freuen.“

Damit drehte Javier sich um und machte sich nun endgültig auf den Rückweg ins „El Corpiño“. Nick sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. In seinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, das von zwei Gedanken herrührte, die einander umkreisten wie wütende Hummeln.

 

Der erste lautete: Javier hat mich geküsst.

 

Der zweite lautete: Das kann unmöglich gut gehen.

Nackte Tatsachen

Nick starrte den Bildschirm seines Handys an. Darauf befand sich ungefähr die zehnte Nachricht, die er im Laufe des Tages verfasst hatte. Und die er nie abgeschickt hatte. Von „Hallo, wie läuft's?“ über „Ich würde dich gerne irgendwann wiedersehen“ bis „Kommst du heute Abend vorbei?“ war alles dabei gewesen. Besonders bei der letzten war ihm gerade noch rechtzeitig eingefallen, dass er ja zum Tanzen musste. Was vielleicht nicht das Schlechteste war, weil er dann immerhin nicht mehr wie der berühmte Tiger im Käfig durch seine Wohnung laufen würde.

Er verstand es einfach nicht. Warum hatte Javier ihn geküsst? Und warum hatte es ihm gefallen? Sehr. Er war doch definitiv nicht schwul. Eigentlich nicht mal bi, wenn er die Definition davon, die er im Internet gegoogelt hatte, richtig verstand. Er fand Männer nicht attraktiv, hatte noch nie bemerkt, was der Typ an der Gemüsetheke doch für schöne Augen oder was für einen knackigen Hintern er hatte, obwohl er das bei Frauen durchaus sah. Aber er kriegte Herzflattern, wenn er daran dachte, Javier noch mal zu küssen. Es war einfach verrückt.

Außerdem war da noch etwas. Er und Javier hatten, wenn man so wollte, eine Vorgeschichte. Er hatte Javier weggestoßen, als sich dieser ihm genähert hatte. Konnten sie das einfach so vergessen? Was, wenn er wieder Panik bekam? Er wollte Javier nicht noch einmal so verletzen. Und er wollte selbst nicht verletzt werden. Was, wenn es doch nur etwas rein körperliches war? Wenn er eben doch nur notgeil war und sein zwangsabstinentes Gehirn aus Javiers Annäherungsversuchen auf irgendeine verquere Art mehr machte, als da eigentlich war. Der Gedanke gefiel Nick nicht. So verharrte er gefangen zwischen den zwei Möglichkeiten, ohne eine Entscheidung dafür oder dagegen treffen zu können. Am liebsten hätte er sich einfach zurückgelehnt und gewartet, ob Javier sich meldete, aber das ging nicht. Denn Javier hatte ihm nur seine Nummer gegeben, nicht umgekehrt. Es lag also vollkommen in Nicks Hand, was weiter geschah. Es machte ihn wahnsinnig.

 

Sein Blick glitt zur Uhr. Er musste los, wenn er noch rechtzeitig an der Tanzschule ankommen wollte. Vielleicht würde ihn das Tanzen ja ablenken.

 

 

„Hi, ich bin Nick“, begrüßte er die junge Tanzschülerin. Sie hatte kurze, dunkle Locken und trug eine Jeans mit Schlag, unter der ihre Tanzschuhe mit den angerauten Sohlen fast vollkommen verschwanden. Aber sie hatte welche und das war die Hauptsache. Das Mädchen, mit dem er vorher getanzt hatte, hatte nur normale Pumps getragen, und obwohl Carola durchaus großzügig mit dem Wachs gewesen war, das das Parkett griffiger machte, war ihm das Mädchen bei den schwungvolleren Drehungen regelmäßig fast aus den Händen geglitten. Sie hatte sich dann an ihm festgeklammert und hatte die Haare lachend in den Nacken geworfen und irgendwann war Nick das Gefühl nicht mehr losgeworden, dass sie das mit Absicht machte.

Er erinnerte sich noch sehr deutlich an das Getuschel, das unter den Mädchen ausgebrochen war, als er den Saal betreten hatte. Dabei hatte er sich nicht einmal besonders herausgeputzt. Die wenigen, anwesenden Jungen hingegen hatten ihn misstrauisch angestarrt wie eine Rotte Straßenhunde, wenn ein Neuer in ihr Revier kam. Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass keiner von ihnen gegen einen der Pfeiler des Tanzsaals gepinkelt hatte. Er hatte überlegt, ob er einfach mal einem der Jungs zuzwinkern sollte, aber vermutlich hätte das alles nur noch schlimmer gemacht.

„Ich bin Julia“, sagte Nicks neue Tanzpartnerin und lächelte ihn an. Auf ihren Zähnen blitzte eine silberne Zahnspange.

Carola klatschte in die Hände. „Also meine Lieben, Nick und ich haben euch ja gerade noch mal die Schritte gezeigt. Der nächste Tanz ist ein Foxtrott. Achtet auf eure Tanzhaltung, Kopf nach oben und Rücken gerade. Los geht’s.“

Die Musik begann und die karibisch anmutenden Klänge des Liedes, das mal als Bacardi-Werbung begonnen hatte, schwebten durch den Raum. Julia machte ein murrendes Geräusch.

„Erst Foxtrott und dann noch so ne olle Kamelle.“ Sie seufzte. „Aber ich kann wohl nicht meckern. Ohne eigenen Herrn muss man hier ja nehmen, was man kriegen kann.“

Sie sah zu Nick hoch. „Ist nichts gegen dich, aber ich mag Foxtrott nicht besonders.“

Er lächelte. „Foxtrott wird erst später interessant, wenn mehr Figuren und Drehungen dazukommen. In den ersten beiden Kursen macht man ja nicht viel mehr als den Grundschritt.“

„Ha, wenn ich überhaupt noch weiter tanzen gehe. Ich war mit meinem Freund im ersten Kurs, aber seit wir Schluss gemacht haben, kommt er natürlich nicht mehr. Und nun hocke ich hier die Hälfte der Stunde auf der Bank und muss zugucken.“

Nick hatte tatsächlich ein bisschen Mitleid mit Julia. Tanzen zu wollen, aber nicht zu können, war mit das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er bemühte sich, auch den langsamen Foxtrott einigermaßen interessant zu gestalten und musste feststellen, dass sich Julia wirklich nicht dumm dabei anstellte. Als er sie einfach mal in eine Unterarmdrehung schickte, die sie eigentlich noch gar nicht durchgenommen hatte, waren ihre Schritte zwar nicht sauber, aber sie befand sich am Ende wieder in der Position, in der Nick sie haben wollte, sodass sie ohne Unterbrechung weiter tanzen konnten.

„Das war gut“, lobte er. „Du machst das prima.“

Sie versuchte, sich nicht allzu sehr zu freuen, konnte sich aber ein Grinsen nicht so ganz verkneifen.

„Danke. Wenn man den richtigen Partner hat, kann man wohl alles tanzen. Mein Ex hat ja immer nur die Grundformen gemacht und überhaupt nicht geführt. Du bist viel besser.“

Nick blieb stehen und sah sie an. „Was hast du gerade gesagt?“

Julias Wangen begannen sich leicht zu röten. „I-ich hab gesagt, dass du viel besser führst.“

„Das meine ich nicht. Was hast du davor gesagt?“

„Ich weiß nicht mehr.“

Aber Nick wusste es noch. Wenn man den richtigen Partner hat, kann man alles tanzen. Vielleicht war das auch die Lösung für sein Problem mit Javier. Im Grunde genommen war es doch vollkommen egal, ob Javier nun ein Mann, eine Frau oder irgendetwas anderes war. Die Hauptsache war doch, dass sie einen Weg fanden, wie sie zusammen tanzen konnten. Zwar wusste er nicht so recht, wie das praktisch funktionieren sollte und wer wohl der Führende sein würde, aber auch das ließ sich sicherlich rauskriegen. Er wollte es auf jeden Fall probieren, auch wenn es am Anfang vielleicht ein paar gequetschte Zehen gab. Er hoffte nur, dass es Javier ebenso ging.

Die Musik verstummte und Nick sah zu Julia, die immer noch einen leichten Rotschimmer im Gesicht hatte und sich offensichtlich fragte, was sie falsch gemacht hatte. Nick schob die Mundwinkel nach oben.

„Du tanzt wirklich gut. Ich werde mal mit Carola sprechen, ob wir nicht einen festen Gastherren für dich finden können. Für den Rest der Stunde stelle ich mich auf jeden Fall gern zur Verfügung.“

Der Rotstich auf Julias Wangen wurde wieder tiefer. „Ach echt? Das ist toll!“

Sie nahmen Aufstellung zu dem langsamen Walzer, den Carola auflegte. Und während Curtis Stigers sich wunderte, warum er immer noch an seiner unglücklichen Beziehung festhielt, formulierte Nick in Gedanken die Dinge, die er Javier sagen wollte, wenn er ihn nachher anrief.
 

 

 

Was sich in der Tanzstunde noch ganz einfach angehört hatte, ließ jetzt, da er wieder zu Hause war, Nicks Finger zittern. Er atmete noch einmal tief durch und drückte endlich auf den grünen Hörer. Es klingelte und schon beim zweiten Klingeln nahm jemand ab.

„Ja?“

Es war Javier. Nick schüttelte innerlich den Kopf über sich. Wer sollte denn auch sonst rangehen?

„Ich bin's. Nick.“

„Hi.“ Javiers Stimme war bei diesem einen Wort so warm und voller Freude, das Nick den Mut fasste weiterzureden.

„Ich wollte mich eigentlich schon früher melden, aber ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Du hast mich heute Morgen ziemlich überrascht.“

„Ja … ich ...“ Javier verstummte. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören. Nick fragte sich, wo er wohl war.

„Tut mir leid, dass ich so mit der Tür ins Haus gefallen bin“, fuhr Javier endlich fort. „Ich hätte dich vorher fragen sollen, ob es okay ist. Ich … ich weiß ja, dass du nicht …“

„Nein, nein, das ist es nicht“, unterbrach Nick ihn schnell. „Ich wollte dir eigentlich sagen, dass ich es … schön fand. Ich bin froh, dass du's gemacht hast.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich hab nur nicht so ganz verstanden, warum du es gemacht hast.“

Er biss sich auf die Lippen. Würde Javier auf die implizierte Frage antworten? Er hörte ihn am anderen Ende leise auflachen.

„Ist das nicht offensichtlich?“

„Nein.“

Javier atmete hörbar aus.

„Ich muss es wirklich sagen, oder?“, fragte er.

„Was?“

„Dass ich mich in dich verknallt habe.“

Die Schmetterlinge in Nicks Bauch flogen alle auf einmal auf und veranstalteten einen spontanen Tango-Wettbewerb.

„Ich … ich mich vielleicht auch ein bisschen in dich.“ Oh Gott, hatte er das jetzt gerade wirklich gesagt? „Glaube ich. Ich weiß es nicht. Es ist … ungewohnt.“

„Weil ich ein Kerl bin?“

„Nein … ja. Auch. Aber in erster Linie deswegen, weil ich so lange nicht mehr … du weißt schon.“

Jetzt grinste Javier. Nick konnte es förmlich durchs Telefon sehen.

„Ich würde mich gerne zum Üben zur Verfügung stellen.“

Nicks Herz begann schneller zu schlagen. „Ja, das … wäre toll. Wollen wir … uns morgen treffen?“

„Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich jetzt gleich noch vorbeikommen kann.“

Nick zwinkerte ein paar Mal, bevor er weitersprach. „Jetzt gleich? Wo bist du denn?“

„Ich sitze in dem Döner am Markt rum und kann bald keine türkische Dudelmusik mehr hören. Außerdem rieche ich wie eine ganze Imbissbude. Aber vielleicht kannst du heute ja mal darüber hinwegsehen?“

Nick musste gegen seinen Willen lachen. „Ja, ich glaube, das schaffe ich. Also los, schwing deinen Hintern hierher.“

„Was immer du sagst, Baby.“

Es folgte eine kurze Stille und dann erklang der Ton, der verkündete, dass das Gespräch unterbrochen worden war. Nicks Schmetterlinge hatten inzwischen mit Rock 'n' Roll angefangen und ließen sich auch durch sein gezielt ruhiges Ein- und Ausatmen nicht davon abbringen, seinen Körper in nervöse Vorfreude zu versetzen.

Er kommt her, hallte es durch Nicks Kopf. Er kommt wirklich her. Und wir werden …

Ja, was würden sie tun? Sich Küssen? Mehr? Wollte er das? Konnte er das? Sein Körper war sich da ziemlich sicher, aber sein Kopf wollte sich gerne absichern und einen Plan zurechtlegen. Die beiden zerrten und stritten sich, bis Nick überhaupt keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

 

Als es plötzlich klopfte, schrak er zusammen. Mit zwei Schritten war er an der Tür und öffnete. Draußen stand Javier und war leicht außer Atem.

„Ich bin irgendwie nicht so gut in Form, wie ich dachte.“

Nick musste grinsen. „Komm rein. Ich … ich hab auf dich gewartet.“

Javier betrat die Wohnung und zog sich Schuhe und Jacke aus, während Nick die Tür schloss. Er überlegte noch, wie es jetzt weitergehen sollte, als Javier schon nach seiner Hand griff.

„Ich bin froh, dass du angerufen hast“, sagte er und trat näher an Nick heran. „Ich hab den ganzen Tag an dich denken müssen.“

„Tut mir leid, ich … ich wusste nicht so recht, was ich will.“

„Und jetzt weißt du es?“

Javiers dunkle Augen sahen direkt in Nicks und er fühlte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen.

„Ich glaube, ich würde dich gerne noch mal küssen.“

„Und warum tust du es dann nicht?“

Javier musste den Kopf ein wenig heben, um ihn anzusehen. Nick blickte auf seine Lippen, die sich direkt vor ihm befanden. Jetzt war er also da, der Moment, den er sich seit heute Morgen schon zigmal vorgestellt hatte.

Ganz ruhig, du bekommst das hin. Es ist nur ein Kuss, versuchte er seinen Kopf zu beruhigen. Aber er wusste, dass es nicht nur das war. Es war mehr als nur ein einfacher Kuss. Es war ein Schritt in ein unbekanntes Land und für einen Augenblick sah er den ersten Mann auf dem Mond vor sich. Aber dann gab er sich einen mentalen Schlag gegen den Hinterkopf und sagte sich selbst, dass es so schlimm nun auch nicht wäre. Die Welt würde sich weiterdrehen, ob er Javier nun küsste oder nicht. Also konnte er es doch auch einfach tun, oder?

 

Nick trat noch ein Stück näher, schloss die Augen und lehnte sich nach vorn. Ihre Lippen trafen sich und er spürte, wie sich Javiers Arme um seine Taille legten. Er erwiderte die Umarmung und konzentrierte sich dann wieder auf den Kuss. Er war leicht und fühlte sich gut an. Ein vorsichtiges Herantasten, ein zartes Streichen von gleichartigen und doch so unterschiedlichen Körperteilen. Er löste die erste Berührung und initiierte gleich eine zweite; fing an, seine Lippen zu bewegen und registrierte, wie Javier ebenso darauf reagierte. Er öffnete den Mund, erhöhte den Druck ein wenig. Javiers Hand strich über seinen Rücken und ihre Körper schmolzen gegeneinander. Die Berührung sandte eine warme Welle durch Nicks Körper. Er ließ seine Hand ebenfalls über Javiers Rückseite wandern. Erst nach oben und dann langsam tiefer. Ein Kribbeln mischte sich unter die Wärme und sandte Impulse durch seinen Körper, die an gewissen Stellen Reaktionen auslösten, mit denen er so noch nicht gerechnet hatte. Er unterbrach den Kuss.

Javier leckte sich über die Lippen. „Gar nicht schlecht für den Anfang. Du bist ein ziemlich guter Küsser.“

Nick wollte etwas erwidern, aber Javier verschloss seinen Mund bereits wieder mit einem weiteren Kuss. Auch seine Hand bewegte sich jetzt in Richtung von Nicks Hintern. Er zog Nick noch näher an sich und Nick musste sich beherrschen, um nicht aufzukeuchen, als das auch den Druck an seiner Vorderseite erhöhte. Sein Körper pulsierte unter den Empfindungen, die von seinen Lenden ausgesandt wurden. Er beschloss, dass er noch mehr Küsse brauchte, um sich abzulenken.

Ohne lange darüber nachzudenken, öffnete er den Mund und ließ seine Zungenspitze herausgleiten. Javier antwortete darauf mit einem leisen, zufriedenen Seufzen, bevor er ebenfalls seine Zunge ins Spiel brachte. Immer noch mehr Lippen als Zunge wurde der Kuss intensiver, schneller, der Rhythmus änderte sich und Nick merkte, dass sich nicht nur seine Atmung beschleunigte. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb und er musste sich beherrschen, um Javier nicht noch fester an sich zu pressen. Dieser Vorsatz wurde vollkommen über den Haufen geworfen, als der anfing sich zu bewegen. Javier seufzte noch einmal, diesmal lauter, und drückte sein Becken gegen Nicks Unterkörper. Nick konnte nicht anders, er musste die Geste erwidern. Es war wie beim Tanzen. Bewegung und Gegenbewegung, doch statt sich voneinander zu entfernen, pressten sie sich nur noch enger aneinander. Und wie beim Tanzen übernahm Nick automatisch die Führung.

 

Es fühlte sich so gut an. So richtig. Sein Körper erinnerte sich daran, wie es war, nicht allein zu sein. Schüttete die ganze, zu lange zurückgehaltene Leidenschaft über ihm aus und jagte die gesammelten Vorräte an Endorphinen durch das System. Aber es war noch nicht genug. Zu wenig Druck, zu wenig Reibung an den notwendigen Stellen. Nick griff fester zu und begann, Javier durch den Raum zu dirigieren. Er brauchte einen Widerstand; etwas, gegen das er ihn stützen konnte. Etwas, dass ihm mehr von dem geben konnte, wonach sein Körper mit zunehmendem Brüllen verlangte. Der Küchentisch. Perfekt. Ohne Umschweife schob er Javier dagegen und erntete ein unterdrücktes Stöhnen, als ihre Körper stärker als zuvor aufeinander prallten. Javier schob seinen Oberschenkel zwischen Nicks Beine und endlich, endlich entstand die Art Berührung, die Nicks Libido so nachdrücklich verlangte.

 

Er öffnete vollkommen den Mund und schob seine Zunge zwischen Javiers Lippen. Feuchte, gleitende Wärme empfing ihn und er musste unwillkürlich daran denken, wie es sich angefühlt hatte, als nicht seine Zunge sondern ein ganz anderer Körperteil zwischen diesen Lippen gelegen hatte. Er spürte, wie auch dieser Teil von ihm bei der Erinnerung freudig zuckte. Erregung flutete seine Venen und er begann, seine Hände über Javiers Körper wandern zu lassen, der so anders war als das, was er vor langer Zeit einmal gekannt hatte. Flach, drahtig und vor allem hart an einer Stelle, an der er nachgiebige Weichheit gewöhnt war. Er drückte noch einmal sein Becken dagegen und erntete dieses Mal ein Stöhnen, das den Kuss unterbrach.

 

„Dios mío!“, murmelte Javier, gefolgt von einem weiteren Satz auf Spanisch, von dem Nick lediglich verstand, dass ein Pferd darin vorkam. Er nahm ein wenig Abstand und sah Javier fragend an.

„Was hast du gerade gesagt?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Doch will ich.“

Javiers senkte den Blick. „Ich habe gesagt, dass dich zu küssen ist, als würde man von einem gut bestückten Hengst geritten werden.“

Nick runzelte die Stirn. „Du meinst, wie auf einem … äh … Hengst zu reiten.“

Ein schelmisches Grinsen umspielte Javiers Lippen. „Nein, ich meinte, was ich gesagt habe.“

Er hob den Kopf und sah Nick an. „Das wäre jetzt vielleicht der Zeitpunkt, dir zu sagen dass du bei der Rolle bleiben kannst, die du gewohnt bist, wenn wir … irgendwann weitergehen sollten. Ich übernehme zwar auch mal den aktiven Part, aber eigentlich lasse ich mich lieber ...“ Er grinste. „Na du weißt schon.“

Nick spürte, wie er puterrot anlief. So weit hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Was, wenn er etwas falsch machte? Er wusste zwar theoretisch Bescheid, aber er hatte so was noch nie gemacht. Unwillkürlich zog er sich ein wenig von Javier zurück.

„Nur kein Stress.“ Javier fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare und begann seinen Nacken zu kraulen. „Ich hab nur die Erfahrung gemacht, dass man das besser rechtzeitig klärt. Nicht dass man nachher mit zwei Schlüsseln aber ohne Schloss dasteht. Das verpflichtet dich zu gar nichts.“

Die beruhigenden Worte und die sanfte Berührung brachten Nick dazu, sich langsam wieder zu entspannen. Javier küsste ihn auf die Nasenspitze.

„Du musst das auch mal von der positiven Seite sehen.“ Er wies mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust. „Das hier ist ein Körper, bei dem du genau weißt, wo alles ist und wie es funktioniert. Kann also nur gut werden.“

Nick lachte und zog Javier an sich. Der begann, seinen Hals entlang zu küssen.

„Natürlich ist meiner größer“, murmelte er, „aber deswegen musst du dich nicht schämen.“

„Was?“ Nick glaubte sich verhört zu haben.

„Klar ist meiner größer“, sagte Javier und biss ihm ins Ohrläppchen. Sein Atem strich warm über Nicks Ohrmuschel und sandte einen Schauer über seinen Rücken. „Wenn du mir nicht glaubst, können wir sie ja mal aneinander halten.“

 

Die Leidenschaft, die durch das kleine Intermezzo gerade etwas abgekühlt war, flammte mit voller Wucht wieder auf. Javier wollte … er wollte … Nicks Kopf weigerte sich, so weit zu denken. Sein Körper hingegen war von der Vorstellung von einem Mehr an nackter Haut sehr begeistert und zeigte das deutlich.

Javier bewegte seine Hüfte ein wenig an Nicks pulsierender Erektion.

„Darf ich das als Ja verstehen?“ Er strich über Nicks Brust. Seine Finger begannen mit einem der Hemdknöpfe zu spielen. „Ich würde dich gerne mal ohne all das hier erleben.“

Als Nick protestieren wollte, grinste er. „Den wichtigen Teil habe ich ja eh schon gesehen. Also kann der Rest doch eigentlich nicht so schwer sein, oder?“ Er sah Nick von unten herauf an. „Ich würde auch anfangen.“

Javier. Nackt. Und er durfte zusehen. Nicks Gehirn hörte auf, irgendwelche Einwürfe machen zu wollen, und gab die Kontrolle an andere Regionen des Körpers ab. Sein Mund wurde trocken und er war nur noch dazu imstande, einen winzigen Millimeter weit zu nicken.

Javier lächelte leicht, schob Nick von sich und griff gleichzeitig nach seiner Hand. Vollkommen willenlos folgte Nick ihm ins Schlafzimmer. Als sie die Tür erreichten, ließ Javier seine Hand los und ging noch ein paar Schritte in den Raum. Seine Lippen waren geschwollen und etwas gerötet, seine Augen weit und dunkel. Er öffnete leicht den Mund, als er begann, seine Hände über seinen Körper nach unten gleiten zu lassen. Nick konnte seinen Blick nicht abwenden, als die schlanken Finger den Hosenbund erreichten und langsam begannen, Schritt für Schritt, die helle Jeans aufzuknöpfen. Als Javier seine Hand in den geöffneten Schritt schob, entwich Nick ein leises Keuchen.

„Oh fuck“, flüsterte er und bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie seine eigene Hand sich ebenfalls in Richtung seiner pochenden Härte bewegte.

Javier grinste unglaublich frech.

„Heute noch nicht.“ Er zog sich das Shirt über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen. „Aber ich hatte dir nackte Tatsachen versprochen und ich bin nicht besonders gut im Strippen.“

Im nächsten Moment hakte er die Finger in den Bund seiner Jeans und der darunter liegenden Shorts und schob beides in einer einzigen Bewegung nach unten. Er verharrte kurz, um dem Kleiderbündel auch noch die Socken hinzuzufügen, bevor er sich wieder aufrichtete und vollkommen nackt vor Nick stand. Kein bisschen verlegen trat er von seinen Sachen zurück und sah Nick an.

Der kämpfte gerade damit, nicht zu starren. Es half jedoch nichts, er tat es trotzdem und zwar auf den Teil der Körpermitte, der sich ihm aufrecht entgegenstreckte.

Javier verlagerte sein Gewicht auf ein Bein. „Und? Gefällt dir, was du siehst?“

Nick nickte und schluckte. „Ja … ich … ich hab nur irgendwie nicht damit gerechnet, dass du … rasiert bist.“

Ein Lachen antwortete ihm. „Das ist das Erste, was dir auffällt?“

Nick wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Und jetzt, wo Javier langsam und mit wiegenden Hüften auf ihn zukam, war da plötzlich wieder die alte Angst. Er wusste, dass Javier gesagt hatte, dass sie heute nichts miteinander anstellen würden, aber was war, wenn sie erst nackt zusammen im Bett lagen? Wenn Javier dann doch mehr wollte? Wenn Nick es nicht hinbekam? Er begann, schneller zu atmen.

Javier legte den Kopf schief und trat noch ein Stück auf ihn zu. „Ist alles in Ordnung? Du guckst so komisch.“

Nick spürte, wie sich seine Erregung verflüchtigte. Beschämt wollte er sich abwenden, aber Javier hielt ihn fest und lehnte sich, nackt wie er war, an ihn. Nick wartete darauf, dass er etwas sagte, aber er war einfach nur da, hielt Nick im Arm, den Kopf an seiner Schulter, und lauschte Nicks hämmerndem Herzschlag. Nach einigen Augenblicken wagte Nick, sich wieder zu rühren. Er legte die Arme um Javier und streichelte leicht über seinen unteren Rücken.

„Tut mir leid“, sagte er, aber Javier schüttelte nur den Kopf.

„Muss es nicht.“ Er hob das Kinn und sah Nick an. „Das hier war schon mehr, als ich mir eigentlich erhofft hatte.“ Er überlegte kurz und meinte dann: „Aber ein bisschen blöd komme ich mir jetzt schon vor. Ich glaube, ich zieh mir mal wieder was an.“

„Das wäre schade“, sagte Nick und ließ seine Hand ein ganz kleines Stück tiefer wandern. „Es hat mir nämlich gefallen, was ich gesehen habe.“

Javier grinste. „Kann alles dir gehören, wenn du es willst.“

Nick überlegte kurz, bevor er Javier sanft küsste. „Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.“

 

Über die Schwelle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Herzgespräche

Als es am frühen Nachmittag an Nicks Tür klingelte, wusste er zum Glück bereits, wer davor stehen würde. Die letzten Tage hatten es sich so sehr zur Angewohnheit werden lassen, ihn mit unerwartetem Besuch zu überraschen, dass er froh über ein wenig Vorhersehbarkeit war. Und als Alexandra ihm geschrieben hatte, dass sie am Nachmittag vorbeikommen würde, um die Vor-Vor-Weihnachtszeit einzuläuten, und dass er kein Mitspracherecht diesbezüglich hätte, hatte er fast ein wenig erleichtert zugestimmt. Er freute sich, dass sie einen Schritt zurück zu ihrem alten, unbeschwerten Umgang miteinander machen konnten. Außerdem wusste er, dass es nahezu aussichtslos war, Alexandra von etwas abbringen zu wollen, dass mit Weihnachten zu tun hatte. Sie liebte es, die ganze Wohnung dafür zu dekorieren – in ihrem Überschwang war auch Nick nicht von Schneemännern und Elchen mit rotgestreiften Schals verschont geblieben – hatte ihn letztes Jahr zu jedem Weihnachtsmarkt in 30 km Umkreis geschleppt, freute sich wie ein Schneekönig, wenn sie ein Geschenk für einen lieben Menschen fand, und konnte quasi rund ums Jahr Weihnachtskekse und Marzipankartoffeln zu sich nehmen.

Nick war, was Weihnachten anging, weit weniger enthusiastisch. Es gab allerdings etwas, dem er nur sehr schwer widerstehen konnte und genau das hielt Alexandra gerade in ihrer Hand.

„Guck mal!“, rief sie. „Ich hab sogar die mit Vollmilch bekommen.“

Sie wedelte mit den gefüllten Lebkuchenherzen vor Nicks Nase herum, als sie plötzlich stutzte und ihn scharf ins Auge fasste. Sie ließ ihren Blick von oben nach unten gleiten und schürzte die Lippen.

„Okay, was ist los?“

Nick blinzelte überrascht. „Wie, was ist los? Was soll los sein?“

Er spürte, wie seine Mundwinkel zuckten.

„Irgendwas ist anders.“ Ihre Augen wurden schmal. „Erzähl!“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Er musste sich ein Grinsen verkneifen, während Alex wie ein schnüffelnder Bluthund in seine Küche kam, sich die Stiefel auszog und ihn dabei keinen Augenblick aus den Augen ließ. Es fehlte nicht viel und sie hätte ihm in die Augen geleuchtet und ihn „Aa“ sagen lassen. Bevor sie noch weiter fragen konnte, ging er zum Wasserkocher.

„Möchtest du einen Tee?“

„Mhmpf.“

 

Nick spürte Alexandras Blick in seinem Rücken und versuchte verzweifelt, endlich seine Mundwinkel unter Kontrolle zu kriegen, die sich schon den ganzen Tag zu einem leicht grenzdebilen Grinsen verziehen wollten. Genauer gesagt seit dem Moment, als er heute morgen in seinem Bett aufgewacht war mit einem Arm voll Javier.

Das Aufstehen war allerdings nicht ganz so verlaufen, wie er es sich am Abend zuvor noch vorgestellt hatte. Javier hatte es irgendwie geschafft, den Alarm seines Handys auszustellen und weiterzuschlafen, sodass sie erst von einer wütend anklingelnden Renata aus den Federn gescheucht worden waren. Während Javier schon wieder halb nackt durch die Gegend gehüpft war, um sich in Hosen und Strümpfe zu bringen, hatte Nick sein ruiniertes Schlafanzugoberteil vom Boden geklaubt. Dass er darunter Javiers Shirt gefunden hatte, das dummerweise etwas von der Bescherung abbekommen hatte, hatte die Sache irgendwie nicht besser gemacht.

„Du kannst nicht in den Laden gehen und nach Frittierfett und … danach riechen. Du musst was von mir anziehen.“

Javier hatte dieser Idee zwar nicht ohne Protest zugestimmt, war aber keine zehn Minuten nach dem Anruf mit einem von Nicks Hemden und einer ordentlichen Ladung von seinem Deo versorgt ins „El Corpiño“ aufgebrochen.

„Dann rieche ich wenigstens den ganzen Tag nach dir“, hatte er gesagt und Nick noch einen mandelngefährdenden Zungenkuss gegeben, bevor er endlich losgejoggt war. Und seitdem kämpfte Nick mit diesem unsäglichen Grinsen.

 

Der Tee war fertig und Nick stellte jeweils eine Tasse für sich und Alexandra auf den Tisch. Dabei sah er sie nicht an, obwohl er genau wusste, dass sie ihn immer noch beobachtete.

„Mein lieber Nick“, sagte sie in einem strengen Ton. „Ich merke genau, dass du mir irgendwas verschweigst. Und dabei dachte ich, wir wollten ab jetzt keine Geheimnisse mehr voreinander haben.“

Uff, das hatte gesessen. Er hob schuldbewusst den Blick und fingerte am Henkel seiner Teetasse herum.

„Es ist aber blöd“, sagte er und musste schon wieder grinsen. Zur Tarnung nahm er sich einen Lebkuchen und biss hinein. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal etwas gegessen? Er erinnerte sich daran, sich irgendwann ein Sandwich gemacht zu haben, aber das war bestimmt schon eine Weile her.

Alexandra musterte ihn von der anderen Seite des Küchentischs. Plötzlich begann ihr Blick unkontrolliert an ihm vorbeizugleiten, magisch angezogen von etwas, das sich irgendwo hinter ihm befand. Sie sah zwischen ihm und dem Etwas hin und her, zog eine Augenbraue nach oben und fragte irritiert:

„Was ist das denn?“

Er drehte sich um und starrte das Ding auf dem Wäscheständer an, als sähe er es zum ersten Mal. Er hatte Javiers Shirt der Einfachheit halber mit in die Wäsche geworfen – nicht auszudenken, wenn Renata das in die Finger bekäme – und jetzt vollkommen vergessen, dass es da gänzlich ungeschützt vor Alexandras inquisitivem Blick herumhing. Er schluckte das Stück Lebkuchen in seinem Mund herunter.

„Ein Langarmshirt?“

„Das sehe ich selbst.“ Alexandra verzog das Gesicht. „Die Frage ist, warum es da hängt, weil es nämlich mit Sicherheit nicht dir gehört. Das sieht eher aus wie etwas, das Javier tragen würde.“

Er blickte auf die Krümel, die der Lebkuchen auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, und fing an, sie mit dem Finger aufzupicken.

„Ni~ick?“

„Er hat hier übernachtet.“

Jetzt war es heraus. Zumindest ein Teil davon. Von dem, was sie ihm Schlafzimmer getrieben hatten, würde er Alexandra bestimmt nichts erzählen. Er konnte es ja selbst kaum glauben. Er hatte wirklich … mit Javier! Aber es hatte sich gut angefühlt, sehr gut sogar. Sowohl das, was Javier mit ihm gemacht hatte, wie auch seine Erwiderung darauf. Er glaubte jetzt noch Javiers vor sich zu sehen, wie der sich unter seinen Berührungen wand. Auf seinen Lippen süße Worte, die Nick nur zum Teil verstanden hatte. Es war trotzdem mehr als deutlich gewesen, dass das, was Nick getan hatte, das absolut Richtig gewesen war. Zwar hatten die ungewohnte Position und das Gefühl der vielen, glatten Haut unter seinen Fingern ihn zunächst etwas zögerlich an die Sache herangehen lassen, aber als er gemerkt hatte, dass es Javier gefiel, hatte er schnell einen Rhythmus finden können, der sie beide gefangen genommen hatte. Allein das Gefühl, als Javier sie schließlich beide zum Höhepunkt gebracht hatte, war noch besser gewesen.
 

Nick merkte, dass er gedanklich abschweifte, während Alex ihn immer noch ansah und offensichtlich witterte, dass er ihr noch nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte.

„Und warum wäscht du dann seine Sachen? Habt ihr eine Tortenschlacht veranstaltet, oder was?“

Bei der Frage musste Nick unwillkürlich grinsen. Nein, mit Schlagsahne hatte das nun wirklich wenig zu tun. Im nächsten Moment verdrehte er über sich selbst die Augen. Jetzt lachte er schon über solche Witze. Javier war wirklich kein guter Einfluss. Er sorgte dafür, dass Nick sich zu dem albernen Teenager zurückentwickelte, der er nie gewesen war.

„Nein, es war nur nicht mehr so ganz frisch und ich habe ihm gesagt, dass er so nicht zur Arbeit gehen kann. Also hat er ein Hemd von mir bekommen.“

Alexandra schien nicht so recht überzeugt. „Und warum war er überhaupt hier? Ich dachte, ihr hättet euch gestritten.“

„Wir beide hatten uns auch gestritten“, erinnerte Nick sie nicht ganz fair. Sie senkte den Blick.

„Hey, tut mir leid. Ich meine ja nur, dass wir uns ausgesprochen haben. Er stand gestern vor meiner Tür und hat mich dazu überredet, auch Renata die ganze Sache zu erklären. Jetzt überlegt sie sich das mit der Kündigung nochmal.“

In Alexandras Gesicht ging nach dem kurzen Regenguss sofort wieder die Sonne auf.

„Ach echt? Das ist toll! Ich drücke dir ganz fest die Daumen, dass das klappt.“ Sie nahm einen Schluck Tee. „Dann müssen wir nur noch eine Freundin für dich finden.“

Nick verschluckte sich an dem Lebkuchen, den er gerade in den Mund geschoben hatte. Er hustete und versuchte, Schokolade und Teig wieder in die richtigen Bahnen zu lenken, als Alex ganz hinterhältig hinterher schob: „Oder ist da noch was, dass du mir erzählen möchtest?“

„W-was?“, krächzte er und kämpfte immer noch mit dem Erstickungstod.

„Nick, ich kenne dich und du verhältst dich gerade sehr, sehr unnickmäßig. Du grinst die ganze Zeit, du wirkst, als würdest du ständig an irgendetwas oder irgendjemanden denken, und deine Augen funkeln wie zwei Fixsterne. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist verliebt.“

Nick spürte, wie ihm eine verräterische Röte über das ganze Gesicht kroch.

Alexandra gab ein triumphierendes „Aha!“ von sich. Sie rückte näher an den Tisch, stützte den Kopf auf die Hände und sah ihn erwartungsvoll an. „Also los, rück schon raus mit der Sprache. Wer ist sie? Wo habt ihr euch kennengelernt?“

Nick wusste nicht, was er sagen sollte. Er? Verliebt? Er hatte es zwar gestern schon einmal gesagt, aber er war sich nicht sicher gewesen. Wie hätte er das auch sein können? Er hatte immerhin nicht besonders viel Erfahrung damit. Aber vielleicht stimmte es tatsächlich. Er konnte an nichts anderes mehr denken und hatte ständig dieses flatternde Gefühl im Bauch. Er musste lächeln, sobald er nur daran dachte, wie Javier gestern auf seinem Schoß geschlafen hatte, zusammengerollt wie eine Katze, sodass Nick nicht einmal mehr dem Film hatte folgen können, sondern die ganze Zeit nur vollkommen regungslos auf dem Sofa gesessen hatte, um Javier nicht zu wecken und ihn beim Schlafen zu beobachten. Und als Javier dann, schläfrig wie er gewesen war, vor sich hin gemurmelt hatte, hatte er ihn einfach nicht auf dem Sofa liegenlassen können. Und die Vorstellung, dass er damit etwas getan haben könnte, dass Javier unglücklich machte, hatte ihn fast umgebracht. Außerdem … außerdem waren da diese Küsse gewesen, das Gefühl nackter Haut unter seinen Fingern, an seinen Lippen und seinem … alles an ihm kribbelte, wenn er nur daran dachte.

„Hallo, Erde an Nick! Jemand zu Hause?“

Er schreckte hoch und merkte, dass er eine Erektion hatte. Mist! Manchmal war es echt nicht einfach, ein Mann zu sein. Er sah zu Alexandra hinüber, deren blaue Augen ihn immer noch unter neugierig gehobenen Brauen ansahen.

„Erzählst du es mir nun oder muss ich es aus dir rauskitzeln? Du weißt, ich mach das.“

Oh nein, alles nur das nicht. Nick war zwar nicht besonders kitzlig, aber Alexandra wusste genau, wo sie hinfassen musste, damit er zu einem kichernden, wehrlosen Bündel wurde. Und wenn sie dann mitbekam, dass er … Das würde sie sicherlich in den falschen Hals kriegen. Er schluckte.

„Also los, ich warte. Drei Sekunden hast du noch. Eins … zwei ...“

„Es ist keine Sie.“ Vielleicht, wenn er es vorsichtig verpackte, dann würde sie …

„WAS?“ Alexandra fiel alles aus dem Gesicht. Ihre Augen wurden groß und rund, ihr Mund blieb offenstehen und sie brauchte eine volle Minute, bevor sie das nächste Wort herausbrachte. „Was soll das heißen, es ist keine Sie? Du meinst … es ist ein Mann?“

Nick sah auf seine Hände herab. „Könnte man so sagen.“

Sie blinzelte und man konnte förmlich die Zahnräder hinter ihrer Stirn arbeiten hören. Sie sah ihn an, auf ihrer Stirn erschienen ganz feine Falten … und dann glitt ihr Blick wieder in Richtung des Fensters, unter dem der Wäscheständer stand.

„Du meinst aber nicht Javier, oder?“

Er kroch noch ein bisschen weiter in seinen Küchenstuhl. „Doch?“

Wieder herrschte Schweigen auf der anderen Seite des Tischs. Nick wagte es, unter seinen gesenkten Lidern hervor zu Alex rüberzuschielen. Sie wirkte vollkommen aus der Fassung gebracht und statt arbeitender Zahnräder lief jetzt nur noch das Testbild.

„Aber … wann? Warum?“, brachte sie schließlich heraus.

Er zuckte sacht mit den Schultern. „Weiß nicht, es ist irgendwie passiert. Er hat … er hat mich geküsst. Gestern nach dem 'El Corpiño'. Und als er dann abends vorbeikam ...“

„Lagt ihr irgendwann wild knutschend auf dem Sofa“, beendete Alexandra den Satz.

„Eigentlich sind wir nicht mal bis zum Sofa gekommen“, nuschelte Nick und wagte nicht, Alexandra dabei anzusehen. Erst, als er sie lachen hörte, hob er wieder den Kopf. Sie grinste von einem Ohr zum anderen.

„Du bist nicht sauer?“

„Sauer?“ Sie grinste nur noch breiter. „Warum sollte ich sauer sein? Endlich kann ich dir auch mal einen dieser berühmten Nick-Kaufmann-Vorträge halten über Verantwortungsbewusstsein und dass man mit seinem Kopf und nicht mit dem Ding zwischen seinen Beinen denken soll.“ Sie prustete. „Obwohl das echt noch lustiger ist, wenn ich das sage.“

Ihr Blick fiel auf den Küchentisch. „Man kann hier aber noch essen oder habt ihr euch gleich an der Haustür die Kleider vom Leib gerissen und es wild in allen Räumen getrieben.“

„Alex!“

Nick merkte, dass er gerade feuerrot angelaufen war. Vor allem, weil ihre Vermutung ja nicht ganz falsch war. Aber als Javier da so neben ihm im Bett gelegen hatte, hatte er irgendwie … er hatte es gewollt. Er hatte wissen wollen, wie es sich anfühlte, Javier anzufassen und von ihm angefasst zu werden. Ihn zu küssen und Javiers Haut auf seiner zu spüren. Er hatte nur nicht so recht gewusst, wie er das anstellen sollte und ob Javier in dem Moment überhaupt gewillt war nach dem Debakel früher am Abend und der mehr als unbeholfenen Diskussion über die Tatsache, dass er ihn ins Bett getragen hatte. Aber als Javier dann gesagt hatte, dass es ihm gefallen hatte, hatte Nick seinen Mut zusammen genommen und sich ein Stück weit vorgewagt, nur um dann gleich auf das nächste Problem zu stoßen. Wo war Anfassen bei einem Mann noch unverbindlich und wo fing es an, in eine eindeutige Richtung zu gehen? Gab es dort auch so Regeln wie: Wenn du ihr beim Küssen unter den Pullover fasst, wartest du kurz ab und wenn sie die Hand nicht wegschiebt, kannst du weitergehen? Und wie sah es damit aus, wenn derjenige zwar schon mit einem zusammen im Bett lag, aber erstens einen Bademantel trug und einem zweitens den Rücken zudrehte und es zudem noch so dunkel war, sodass man keine Ahnung hatte, ob das, was man da gerade tat, ihm gefiel oder nicht. Also hatte er um Hilfe gebeten. Etwas umständlich vielleicht, aber er hatte es getan. Und Javier hatte ihm geholfen. Sehr sogar.

„Also habt ihr was miteinander angestellt.“ Alex schnappte sich ihre Teetasse und trank einen großen Schluck. „Erzähl! Hast du mit ihm geschlafen?“

„Was?“ Konnte man eigentlich noch röter werden als rot? „Nein! Wir haben nur … Alex, ich will dir das nicht erzählen.“

Er sah sie kleinlaut an, bekam jedoch ein verständnisvolles Lächeln als Antwort

„Kein Problem. Ich erzähl dir ja auch nicht alles.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Aber wenn es mal soweit ist, erfahre ich es als Erste.“

Er nickte erleichtert. „Einverstanden.“

Sie schwiegen eine Weile, aber Nick spukte die ganze Zeit eine Frage im Kopf herum. Vielleicht … vielleicht konnte er Alex danach fragen. Sie kannte sich ja schließlich aus in solchen Dingen. Außerdem war sie seine Freundin. Er öffnete den Mund.

„Sag mal … ist das nicht ein bisschen komisch, wenn ich jetzt auf einmal doch … du weißt schon, mit einem Mann und so. Ich meine, vor einer Woche hab ich ihn deswegen noch rausgeschmissen.“

Alexandra sah ihn an. „Warst du da schon in ihn verliebt?“

Nick schüttelte den Kopf. "Ich denke nicht.“

„Na, da hast du doch schon deine Erklärung.“ Als er sie fragend ansah, lächelte sie. „Nick, du bist nun mal niemand, der sich einfach so in ein Abenteuer stürzt und mit irgendwem ins Bett geht, nur um ein bisschen unverbindlichen Spaß zu haben. Du zerdenkst Sachen gerne, willst dir bei allem sicher sein. Ich glaube, ich verstehe das jetzt ein bisschen besser, seit ich mit Natascha zusammen bin. Sie tickt da ähnlich wie du. Und dann platzt auf einmal dieser Kerl in dein wohlgeordnetes Leben und kommt dir auf diese furchtbar plumpe Tour nahe. Kein Wunder, dass du schreiend Reißaus genommen hast. Zumal mit deiner Vorgeschichte. Aber … du magst Javier doch, oder?“

Er nickte. Seine Finger legten sich um die warme Teetasse.

„Na siehst du. Wer weiß, vielleicht hätte es auch ohne all das Drama geklappt, wenn er dich ein bisschen vorsichtiger behandelt hätte. Dann wäre aus einer Freundschaft vielleicht irgendwann mehr geworden. Aber Javier ist da eben ein bisschen mehr wie ich. Langsam kennen wir nicht. Wir fallen lieber gleich mit der Tür ins Haus.“

Sie lächelte wieder. „Aber vielleicht braucht es manchmal eben genau das, um zu sehen, was man wirklich will.“

Er seufzte. „Na ja, aber … ich verstehe nicht, warum ich auf einmal doch auf Männer stehe. Das war doch vorher nie so trotz meiner Behauptung, dass es anders wäre.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Soll's halt auch geben. Ich hab mal auf dem Christopher Street Day eine getroffen, der ging es ähnlich wie dir. Ich fand sie süß und hab sie angetanzt, aber sie hat mir gesagt, dass sie sich gerade erst von ihrer Freundin getrennt hatte und dass sie eigentlich auf Männer stehen würde. Wir haben uns noch ne Weile unterhalten und es war wirklich so, dass sie vor dieser einen Frau immer nur Hetero-Beziehungen gehabt hatte. Aber dann hat die Liebe einfach zugeschlagen und es ist passiert. Und wenn das so ist, dann ist es doch eigentlich auch egal, ob er nun eine Frau oder ein Mann ist, oder? Hauptsache es geht dir gut dabei.“

Nick verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. Diesen Gedanken hatte er ja im Grunde genommen auch schon gehabt. Es beruhigte ihn trotzdem zu hören, dass er da nicht der Einzige war. Er seufzte.

„Und wie geht es jetzt weiter?“

Alexandras Grinsen wurde wieder breiter. „Na ist doch ganz klar. Wir gehen am Samstag alle zusammen aus.“

„Was?“

„Na klar! Im Metropolitan ist große Party angesagt und ich hab Natascha schon überredet, dass sie mit mir hingeht. Eigentlich wollte ich dich heute auch danach fragen, deswegen die Bestechungs-Lebkuchen. Ich hab immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich so eklig zu dir war. Und daher hatte ich eigentlich beschlossen, dir am Samstag ein Date zu verschaffen. Aber wenn du dir jetzt schon eins mitbringst, kann ich mir die Mühe ja sparen und lieber mit meiner heißen Freundin abtanzen.“

Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd und lehnte sich höchst zufrieden in ihrem Stuhl zurück. Nick fühlte, wie sein Herz anfing zu klopfen. Javier sein Date? Das hörte sich irgendwie schräg an. Trotzdem nickte er.

„Okay, ich werde ihn fragen, ob er Lust hat.“

Alexandra begann zu lachen. „Oh, na das geht ja schon gut los. Kaum mal ein bisschen miteinander geknutscht, schon kannst du keine eigenen Entscheidungen mehr treffen. Ab jetzt gibt es euch wohl nur noch im Doppelpack.“

Nick schüttelte den Kopf und wollte das schon verneinen, aber da war schon wieder dieses dämliche Grinsen, das die Wirkung vermutlich irgendwie geschmälert hätte, also ließ er es bleiben und nahm sich noch ein Lebkuchenherz. Da wusste er wenigstens, woran er war, wenn sein eigenes schon beschlossen hatte, völlig aus dem Takt zu geraten, wenn er nur an einen gewissen, glutäugigen Halbspanier dachte. Vermutlich würde er sich erst noch ein wenig an das Gefühl gewöhnen müssen. An das Gefühl, verliebt zu sein.

Grenzen, Nähe, Respekt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Familienrat

„Haben Sie den hier auch in 70 E?“

Javier blickte von den Slips auf, die er gerade wieder auf Bügel beförderte. Nick hatte wirklich nicht übertrieben; Samstag war die Hölle. Nicht nur, dass so viele Kundinnen kamen wie sonst die ganze Woche über zusammen, nein, sie hinterließen auf ungefähr dreimal so viel anprobierte Wäsche, von der Javier die zweifelhafte Ehre hatte, sie wieder in eine präsentable Form zu bringen und auf die richtigen Ständer zu sortieren. Es war zwar ohne Zweifel so, dass er dadurch langsam ein Gefühl dafür bekam, wo sich was im Laden befand, aber es setzte ihn mit genauso zielsicherer Unfehlbarkeit dem Blick der Kundinnen aus, die ihn sogleich mit Fragen überschütteten. Fragen, die er nicht beantworten konnte. Nein, er wusste nicht was ein Bandeau-Top war und ob es im „El Corpiño“ auch Minimizer-BHs gab. Dass es BHs ohne Träger gab, war ihm zwar bekannt, aber dass es die auch als „Multiway und abnehmbar“ gab, absolut neu. Es erschloss sich ihm auch nicht, wo der Vorteil eines T-Shirt-BHs lag, und dass es BHs mit Frontverschluss gab, war für ihn bis vor fünfzehn Minuten noch ein großes Geheimnis gewesen. Nicht davon anzufangen, dass er den Überblick verloren hatte, was nun unter einem „Brazilian“ zu verstehen war und wie sich dieser von einem „Hipster“ unterschied und dass es G-, T- und normale Strings zu geben schien und außerdem noch sogenannte „Bauchweg-Panties“, vor deren Verkauf er jedoch unter einem Vorwand geflüchtet war.

Die weitaus häufigste Frage war allerdings die nach einer anderen Größe. Er wusste wirklich nicht, warum er sich eigentlich die Mühe machte, den Kram wieder richtig einzusortieren, wenn die Schilder, die gut sichtbar und leserlich an den Ständern angebracht waren, offensichtlich nicht ausreichten, um die Kundinnen in die Lage zu versetzen, sich die gewünschten Stücke einfach selbst rauszusuchen. Obwohl er zugeben musste, dass es solche Exemplare auch gab. Die kamen rein, wollten „nur mal gucken“, nahmen ein oder zwei Stücke mit in die Kabinen, und kamen nur wieder damit heraus, um sich zügig zur Kasse zu begeben und diese zu bezahlen. Er dankte dem Herrn im Himmel dafür, dass es davon eine ausreichende Anzahl gab. Ansonsten wäre er vermutlich bereits nach zwei Stunden im Laden zusammengebrochen.

Jetzt jedoch hing immer noch ein Stück aus dunkelblauer Spitze vor seiner Nase und wartete auf eine Antwort. Er schluckte die Frage hinunter, ob die Dame schon auf dem entsprechenden Ständer geguckt hatte, und nahm den BH entgegen.

„Ich gehe mal nachsehen“, sagte er und verschwand damit in Richtung Lager. Dort angekommen schloss er die Tür hinter sich und ließ sich erschöpft dagegen sinken.
 

Er überlegte, ob er Nick eine Nachricht schreiben und ein bisschen rumheulen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Nach Nicks Aussage waren die schlimmsten Samstage ohnehin die in der Adventszeit. An diesen waren alle dazu entschlossen, ihr sauer verdientes Geld für alle möglichen Dinge, die sie schön fanden, aber eigentlich nicht brauchten, unters Volk zu streuen. Außerdem gab es Ende November für viele Weihnachtsgeld, sodass die Euros besonders locker saßen. Vermutlich konnte er sich also noch glücklich schätzen, dass heute nur ein „normaler“ Samstag war, auch wenn ihm bestimmt tausend Dinge eingefallen wären, die er lieber gemacht hätte, als hier den Aufräumer und wandelndes Auskunftsbüro zu spielen. Zum Beispiel mit Nick noch eine Wiederholung des gestrigen Abends zu probieren.

Gott, das war so … Er fand keine Worte dafür. Zuerst die Tatsache, dass er es ihm tatsächlich mit dem Mund gemacht hatte. Javier war fast aus allen Wolken gefallen deswegen. Von dem Anblick würde er wahrscheinlich noch wochenlang träumen. Aber dann … Das Gefühl von Nick in seinem Rücken, seine Hände auf seinem Körper, die absolute Sicherheit von ihm begehrt zu werden und das auf mehr als eine Art, das alles ließ ihn fast ein bisschen über dem Boden schweben. Mit Nick zusammen war alles einfach wunderbar. Sogar morgens mit Spermaspuren an den Beinen aufzuwachen, weil irgendein fröhlicher, elektronischer Weckton durch den Raum schallte, um ihn aus seinem gemütlichen Bett zu schmeißen. So was hatte er noch nicht erlebt. Natürlich hatte er schon so manche Nacht nicht in seinem eigenen Bett verbracht. Manchmal war der Morgen danach auch noch sehr nett gewesen oder hatte sogar in Runde Zwei geendet. Trotzdem war spätestens, wenn die Tür hinter ihm zufiel, die Euphorie von ihm abgefallen und er hatte wieder geradeaus denken können. Mit Nick kam er sich vor wie ein Herzaugen-Emoji auf zwei Beinen. Es war fast schon ein bisschen albern.

Mit einem Seufzen sah er auf den BH in seinen Händen hinab. Er musste wieder da rausgehen und so tun, als habe er leider, leider nichts finden können. Dabei hätte er nur zu gerne noch ein bisschen hier gestanden und an den gemeinsamen Morgen gedacht. Im Nachhinein war er Nick dankbar gewesen, dass dieser sie so früh hatte wecken lassen. So war genug Zeit gewesen für ein bisschen Rumknutscherei im Bett, die ziemlich schnell in eine gemeinsame Dusche übergegangen war. Dort hatten sie es zwar nicht bis zum Ende durchgezogen, aber die Vorteile von warmem Wasser und Seife, die sie sich gegenseitig auf ihren Körpern verteilt hatten, waren nicht von der Hand zu weisen gewesen. Allein die Erinnerung daran, wie Nick sich tatsächlich getraut hatte, ihn ein wenig mit den Fingern zu erkunden, ließ Javier fast instant hart werden. Oh Scheiße! So konnte er doch jetzt da nicht wieder rausgehen. Was sollte die Kundin sonst denken?
 

Ein Klopfen ließ ihn auffahren.

„Javier, bist du da drin?“

Verdammt, seine Tante! Wenn die ihn jetzt hier so erwischte, war sicherlich eine Gardinenpredigt fällig.

„Ja, ich suche nach einem BH.“

„Ich habe der Kundin inzwischen schon gebracht, wonach sie verlangt hat. Ist alles in Ordnung mit dir?“

Er schickte nochmal ein kleines Dankgebet nach oben, dass sie in der Lage waren, sich zu unterhalten, ohne dass jemand verstand, worum es ging.

„Ja, Tante. Es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur noch einen kleinen Moment. Mir ist ein bisschen schwindelig.“ Vor Glück.

„Hast du auch genug gegessen?“

„Ja hab ich.“ Hatte er wirklich. Nach der Dusche hatten Nick und er zusammen ausgiebig gefrühstückt. Kalte Pizza und Nutellatoast passten besser zusammen, als man auf den ersten Blick denken sollte. Vor allem, wenn er Nick danach von den Spuren des letzteren befreien konnte, indem er sich auf seinen Schoß setzte und ihm die Schokolade aus den Mundwinkeln leckte. Dieser Kerl konnte aber auch wirklich gut küssen …

Javier schlug sich innerlich mit der flachen Hand vor die Stirn. Er sollte doch runterkommen und nicht noch weiter über Nick phantasieren und an welchen Stellen er am liebsten noch Dinge von ihm herunterlecken wollte. Das war nun wirklich zu dämlich und absolut unhilfreich.

„Dann trink etwas. Du musst genug trinken.“

„Ja, Tante, mache ich.“ Und jetzt verschwinde bitte, bitte, damit ich mich aufs Klo schleichen und mir einen runterholen kann.

Im Moment sah er wirklich keine andere Möglichkeit, um das Problem loszuwerden. Er fragte sich, wie Nick es geschafft hatte, hier im Geschäft immer so ruhig zu bleiben. Bei der Vielzahl an Reizen, die sich für einen heterosexuell interessierten Mann im „El Corpiño“ boten, musste das wirklich ein Riesenmaß an Disziplin gekostet haben.

Oder er hat sich halt in der Mittagspause auch immer einen von der Palme gewedelt. Der Gedanke ließ Javier grinsen. Und im nächsten Moment schämte er sich ein bisschen deswegen. Vermutlich war Nick da viel tugendhafter als er. Hoffentlich hielt er ihn nicht irgendwann für sexsüchtig. Es war ja nicht so, dass er nur Sex mit ihm haben wollte. Er musste nur ziemlich oft daran denken, weil es einfach unheimlich schwer war, die Finger von Nick zu lassen. Er hatte ständig das Bedürfnis, ihn anzufassen, zu küssen und sich in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten. Ja sogar der unbeabsichtigte Tritt, den Nick ihm in Restaurant verpasst hatte, oder der Klaps heute morgen auf seinen Hintern, als er sich nicht schnell genug zur Arbeit bewegt hatte, zählten dazu.

Dabei war Nick doch selber Schuld daran gewesen, dass er spät dran war. Immerhin hatte Javier ihn erst lang und breit davon überzeugen müssen, dass das mit dem „du würdest eine gute Ehefrau abgeben“ nicht böse gemeint gewesen war. Er hatte ihn doch nur ein bisschen aufziehen wollen, weil er ihm Frühstück gemacht und sein Shirt gewaschen hatte. Das Shirt, das sich jetzt fast wie eine permanente Umarmung um seinen Körper spannte und nach Nicks Waschmittel roch, sodass er ständig in Versuchung war daran herumzuschnüffeln. Er war echt so was von verschossen, das ging auf keine Kuhhaut mehr. Aber immerhin hatten die letzten Gedankengänge dabei geholfen, den lästigen Ständer wieder abschwellen zu lassen, sodass er jetzt das Lager verlassen und sich erneut in den samstäglichen Einkaufswahnsinn stürzen konnte.
 


 

„Javier, ich will mit dir reden.“

Ein wenig erstaunt sah er von seinem Mittagessen auf. Eigentlich hatte er angenommen, dass er jetzt für ein paar Minuten seine Ruhe hatte, zumal seine Tante ja das Geschäft überwachen musste, während sie allein war. Aber anscheinend hatte sie die Vordertür doch einfach zugesperrt, um ihm jetzt hier in der engen Teeküche aufzulauern. Die Tatsache, dass sie Empanadas gemacht und mitgebracht hatte, hätte ihn eigentlich schon stutzig werden lassen sollen. Seine Tante kochte im Gegensatz zu seiner Mutter nicht besonders gern und wenn sie sich extra in die Küche stellte, um ihn während der Mittagspause hierzubehalten, musste es dafür einen Grund geben. Zumal sie selbst normalerweise mittags nur einen Salat zu sich nahm. Er war ihr voll in die Falle getappt.

„Und worüber?“, fragte er und konzentrierte sich darauf, eine weitere Teigtasche aus der Tupperdose zu angeln. Die waren wirklich gut, musste er feststellen. Sie hatte sich alle Mühe gegeben.

„Deine Mutter hat gestern angerufen.“

Der Bissen, den er gerade noch herunterschlucken wollte, sperrte sich plötzlich und wollte einfach nicht weiter rutschen. Er griff nach seinem Glas und kippte fast die Hälfte des Inhalts herunter. Danach war es besser.

„Und was wollte sie?“

„Wissen, wie es dir geht. Und dich eigentlich sprechen. Ich musste ihr sagen, dass du nicht da bist.“

Er zuckte mit den Schultern. „Das kennt sie ja schon von mir.“

„Javier!“ Ihre Stimme zerschnitt die Luft wie eine Peitschenschnur. „Hör endlich auf, dich wie ein rotziger 12-Jähriger zu benehmen. Du bist 20 Jahre alt. Du hast eine Verantwortung deiner Familie gegenüber. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was für Sorgen sich deine Mutter macht? Wie oft sie sich nachts in den Schlaf weint? Wie sehr dein Vater fürchtet, dass du auf die schiefe Bahn geraten könntest? Wie kannst du nur so egoistisch sein?“

So langsam stieg Wut in ihm hoch. Er wusste, dass seine Tante ein wenig übertrieb. Seine Mutter weinte sich nicht in den Schlaf. Zumindest nicht, soweit er wusste. Natürlich machte sie sich Sorgen, das war ihm bewusst. Aber er sagte ihr doch immer wieder, dass es dazu keinen Grund gab. Außerdem ahnte er, dass sie immer noch glaubte, das das mit dem Schwulsein nur eine Phase war. Nur deswegen ließ sie ihn wahrscheinlich überhaupt so viel herumziehen. Sie hoffte, dass er irgendwann genug davon hatte und sich doch eine nette Frau suchte und ihr ein paar Enkelchen bescherte. Und sein Vater? Der wollte ihn lediglich als fleißigen Teil der arbeitenden Bevölkerung sehen. Was das anging konnte sich ja nun momentan wirklich niemand beschweren. Er arbeitete doch! Was wollten sie denn noch?

„Ich tue doch schon alles, was ihr von mir verlangt. Ich bin hier, ich arbeite, ich bemühe mich. Ich bin sogar heute Morgen pünktlich gekommen.“

„Was, wie ich vermute, nicht dein Verdienst war.“ Die Augenbrauen seiner Tante bildeten eine zornige Linie. „Warst du wieder bei Nick?“

„Und wenn?“

„Javier!“

Er rollte mit den Augen. „Ja. War ich. Und wenn du sichergehen willst, dass ich auch nächste Woche noch pünktlich komme, stell ihn doch einfach wieder ein. Dann hast du eine Sorge weniger.“

Sie seufzte und ließ sich endlich auf einem Stuhl nieder, statt die ganze Zeit nur wie ein fleischgewordener Racheengel in der Tür herumzustehen. Vermutlich um seine Flucht zu verhindern.

„Das ist nicht so einfach. Ich muss da erst noch einige Dinge in Erfahrung bringen, bevor ich mich entscheide.“

„Aber er ist gut!“, rief Javier aufgebracht. „Er managt den Laden da draußen mit links selbst ohne Lisa. Wie soll denn das laufen, wenn er nicht wiederkommt? Willst du ihn dann einfach ersetzen?“

Sie seufzte erneut. „Ich weiß es nicht. All diese Dinge kann man nicht einfach aus dem Bauch heraus entscheiden. Ich habe eine Verantwortung.“

„Nick gegenüber hast du auch eine Verantwortung. Er ist doch nicht einfach irgendwer. Er ist ...“ Javier fehlten die Worte. Er wusste, dass er recht hatte. Er wusste aber auch, dass er in dieser Frage nichts zu melden hatte. Diese Entscheidung oblag ganz allein seiner Tante. Er atmete tief durch. Einen Streit vom Zaun zu brechen, würde Nick auch nicht helfen.

„Nick ist ein guter Mensch. Er hat nicht verdient, dass du ihn so behandelst.“

Seine Tante sah ihn an. „Du magst ihn wirklich gern, oder?“

Er spürte, wie ihm warm wurde. Gern war ja gar kein Ausdruck.

„Ist da noch etwas, das ich wissen sollte?“

Javier biss sich auf die Zunge. Bisher hatte er noch nichts davon erwähnt, dass er und Nick … Seine Tante hätte ihn vermutlich ohnehin für verrückt erklärt. Immerhin war er es doch gewesen, der ihr erst eröffnet hatte, dass Nick nicht schwul war. Wenn er jetzt zugab, dass er etwas mit ihm angefangen hatte und Nick seine Zuneigung sogar erwiderte, brachte er sich damit in echte Erklärungsnot. Er konnte es selbst ja manchmal noch gar nicht so recht glauben.
 

Seine Tante sah ihn immer noch fragend an und er wusste plötzlich, dass er sie nicht würde anlügen können. Hatte er noch nie gekonnt. Es war irgendwie so, wie wenn man versuchte, bei der Beichte zu schummeln. Man konnte es sich vornehmen, aber wenn man dann auf den Knien im dunklen Beichtstuhl saß, kam es doch irgendwie heraus. Nicht, dass er da in den letzten Jahren besonders häufig gewesen wäre, aber er erinnerte sich noch sehr gut an das Gefühl, dass er als kleiner Junge dabei gehabt hatte. Seine Tante hätte vermutlich einen ganz wunderbaren Padre abgegeben.

„Ich … also … wir haben …“

„Ja?“

„Es ist kompliziert.“

„Ich verstehe eine ganze Menge.“

„Aber ich kann es dir nicht erklären.“

Sie seufzte erneut und sah ihn mit vage amüsierter Miene an. „Mein lieber Javier, ich bin vielleicht eine alte Frau, aber blind bin ich nicht.“

Er lächelte, als sie das Kinderbuch zitierte, dass sie ihm früher manchmal vorgelesen hatte. Wie lange war das jetzt schon her?

„Und ich erkenne, wenn mir ein verliebter, junger Gockel vor den Füßen herumläuft und den Betrieb aufhält.“

Sein Kopf ruckte nach oben. Er war sich sicher, dass er gerade etwas blass geworden war. Woher wusste sie …?

Seine Tante begann zu lachen. „Nun schau sich einer das junge Gemüse an. Ja meinst du denn, ich war nicht mal jung? Auch wenn du es nicht glaubst, aber diese Zeit hat es tatsächlich gegeben. Ich war jung und verliebt. In deinen Onkel, wenn du es genau wissen willst. Er war so ein stattlicher Mann, der Sohn eines Nachbarn. Wir kannten uns schon seit Ewigkeiten, aber als er anfing, mir den Hof zu machen, da wusste ich sofort, dass er der Eine ist. Und auch wenn ihr äußerlich wirklich wenig gemein habt, erkenne ich doch diesen Blick, den er damals gehabt hat, in dir wieder.“

Javier verzog den Mund. Er kannte seinen Onkel fast nur noch von Bildern. Der hagere, große Mann mit dem sorgfältig gepflegten Bart war gestorben, als Javier noch sehr klein gewesen war. Ein Autounfall, an dem ihn keine Schuld getroffen hatte. Er war auf der Stelle tot. Seine Tante hatte damals ein ganzes Jahr lang schwarz getragen. Danach hatte sie die Trauerkleidung abgelegt und ein neues Leben begonnen. Sie hatte ein Ladengeschäft gekauft und sich mit dem „El Corpiño“ selbstständig gemacht, obwohl ihr alle geraten hatten, doch wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren. Wenn er richtig rechnete, musste sie damals so Mitte 30 gewesen sein. Im Grunde genommen kein Alter, um nicht noch einmal eine neue Beziehung einzugehen. Trotzdem war sie seit dem allein geblieben.

„Und was wäre, wenn ich so gucken würde wie Onkel Alonso? Nur mal rein hypothetisch.“

Sie legte den Kopf ein wenig schräg und sah ihn milde an. „Dann müsste ich dir wohl sagen, dass du dich da in etwas verrennst. Javier, du hast mir doch selber erzählt, dass Nick ...“

Er unterbrach sie einfach.

„Ja, ich weiß, was ich gesagt habe, aber … ich habe mich geirrt. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Die Sache ist die, dass ich und Nick … also … wir haben … wir haben uns geküsst. Und nicht nur das. Und er … er erwidert meine Gefühle … glaube ich.“

Die letzten Worte waren mit etwas weniger Überzeugung gekommen. Sie hatten irgendwie nicht darüber gesprochen, aber im Grunde war das doch offensichtlich. Nick hätte kaum mit ihm … na ja fast mit ihm geschlafen, wenn er nicht ebenso empfinden würde. So ein Typ war Nick einfach nicht. Nick war anders als alle Kerle, mit denen er sich bisher getroffen hatte. Und er sorgte dafür, dass Javier nicht nur sprichwörtlich gegen Laternenpfähle lief.
 

Unauffällig schielte er zu seiner Tante hinüber, die immer noch kein Wort gesagt hatte. Es war schwer, aus ihrem Gesichtsausdruck etwas herauszulesen. War sie jetzt wütend? Enttäuscht? Entsetzt? Von allem etwas? Warum sagte sie denn nichts?

Endlich regte sich etwas auf der anderen Seite des Tisches. Seine Tante schüttelte langsam den Kopf und atmete hörbar aus.

„Ich glaube, ich brauche jetzt wirklich einen Schnaps. Ihr Kinder bringt mich noch ins Grab und das meine ich wortwörtlich.“ Sie sah zu Javier hinüber. „Und du sagst das auch nicht nur so, damit ich Nick wieder einstelle?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Tante Nata. Nick und ich sind wirklich …"

Fast hätte er gesagt zusammen, aber das war irgendwie noch zu viel trotz allem, was schon so gelaufen war. Allerdings war da eine kleine Stimme in ihm, die ihn darauf hinwies, dass es schön gewesen wäre, wenn er es hätte sagen können. Aber er zischte sie an, dass sie still sein sollte. Er konnte doch immer noch kaum fassen, dass er Nick jetzt hatte. Die Vorstellung, dass er ihn vielleicht sogar behalten wollte und konnte, war jedoch immer noch so abstrakt und so voller Fragezeichen, dass er sich weigerte, sich darüber Gedanken zu machen. Da waren einfach zu viele Wenns und Abers. Über so etwas nachzudenken war eher Nicks Stärke. Er selbst war mehr jemand, der den Augenblick genoss, ohne sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Immerhin wurde die halbe Welt ja nicht müde, ihm genau das immer wieder vorzuwerfen, also war wohl etwas dran.

Er räusperte sich. „Und stellst du ihn nun wieder ein?“

Sie begann zu lachen. „Also eins muss man Nick ja lassen. Er sorgt dafür, dass du anfängst, dir auch mal über jemand anderen Gedanken zu machen als nur über dich selbst.“

Er versuchte ein böses Gesicht zu machen anhand dieser Unterstellung, aber er konnte es nicht. Er wollte, dass Nick glücklich war und dass er wieder hier arbeiten konnte und dazu war es sicher hilfreich, wenn seine Tante eine möglichst gute Meinung von ihm hatte.

„Ja, Nick ist tatsächlich sehr pflichtbewusst. Ein ganz tolles Beispiel für mich. Du solltest ihn wirklich wieder in den Schoß der Familie aufnehmen, damit du ihn mir dreimal am Tag unter die Nase halten und mich fragen kannst, wann ich endlich mal ein bisschen mehr werde wie er. Papá würde ihn bestimmt auch mögen.“

Er zögerte bevor er hinzusetzte: „Mama vielleicht auch.“

Seine Tante sah ihn an und um ihre Augen erschienen eine Menge Falten, die sie bestimmt geleugnet hätte, als sie lächelte. „Ich sehe schon, wie immer ich mich entscheide, Nick wird mir in meinem Leben wohl noch ein wenig erhalten bleiben. Aber trotzdem werde ich mich nicht jetzt sofort entscheiden. Es geht einfach nicht. Außerdem müssen wir das 'El Corpiño' so langsam mal wieder öffnen, sonst kostet ihr zwei mich nicht nur Nerven sondern auch noch jede Menge Geld.“

„Ist recht, Tante Nata.“

Er sprang auf, wischte sich die Hände an der Hose ab und ging um den Tisch herum. Bevor seine Tante wusste, was geschah, hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.

„Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“

„Ich habe doch noch gar nicht 'Ja' gesagt", protestierte sie.

„Aber du wirst doch deinem Lieblingsneffen nicht diesen einen, klitzekleinen Wunsch abschlagen, oder?"

Er versuchte sich an Hundeaugen. Seine Tante seufzte schon wieder und strich ihm über den Kopf, so wie sie es früher immer gemacht hatte.

„Ich sagte, ich überlege es mir. Nächste Woche gibt es eine Entscheidung. Richte Nick das bitte aus."

„Jetzt gleich?" Hoffnungsvoll irrte sein Blick in Richtung Tür.

Seine Tante sah ihn an, als hätte er gefragt, ob er mal eben mit den Tageseinnahmen in die Karibik fliegen könnte.

„Nein, natürlich erst nach Feierabend. Ich nehme nicht an, dass du heute Nacht zu Hause schläfst?"

Er grinste. "Könnte sein. Wir wollen heute Abend ausgehen."

„Dann benimm dich anständig. Nicht, dass du Nick gleich wieder vergraulst."

„Das werde ich nicht."

Hoffentlich nicht.

Mächtig viel Theater

Nick hatte Angst. Er stand vor seinem Schlafzimmerspiegel und besah sich die Gestalt, die ihm von dort entgegenblickte. Er sah … anders aus. Jünger irgendwie. Es war nicht nur die Jeans, die er heute Vormittag tatsächlich gekauft hatte und von der die Verkäuferin nur gemeint hatte „Ich bringe Sie Ihnen mal eine Größe kleiner.“ Sie war nicht hauteng, aber definitiv anders geschnitten. Seine Beine wirkten länger. Das war jedoch nicht die einzige Veränderung. Statt sich wie immer einen Scheitel zu ziehen hatte er versucht, seine Haare einfach locker rund um den Kopf zu stylen. Jetzt hingen ihm einzelne Strähnen ins Gesicht und er wirkte fast ein wenig verwegen. Sexy. Und genau das ließ sein Herz gerade gegen seinen Brustkorb hämmern, wenn er daran dachte, was passieren würde, wenn Javier ihn nachher so sah.

 

Ihm war schon den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen, was sie heute Morgen unter der Dusche getrieben hatten. Natürlich waren sie beide erregt gewesen, das hatte er vorher schon geahnt. Aber dass er dann … Entspannt durch das warme Wasser und Javiers Enthusiasmus hatte er seine Hände über dessen Körper wandern lassen unter dem vollkommene fadenscheinigen Vorwand, ihn waschen zu wollen. Irgendwann hatte Javier sich umgedreht und gemeint, er müsse auch noch seinen Rücken waschen. Und das hatte Nick getan. Aber es war nicht beim Rücken geblieben. Langsam waren seine seifigen Hände immer weiter abwärts geglitten, bis sie schließlich in das Tal an dessen Ende eingetaucht waren. Javier hatte das zwar mit keiner Silbe kommentiert, aber die kleine Bewegung, mit der er sich den forschenden Fingern entgegen gedrückt hatte, war eindeutig gewesen.

Nick hatte der stummen Bitte Folge geleistet. Er hatte die Stelle gefunden, an der es seinem Finger möglich war, nicht nur hindurch- sondern hineinzugleiten. Er war … sehr, sehr vorsichtig gewesen. Eigentlich war es kaum der Rede wert, mehr ein festes Streicheln als alles andere. Ein winziges Stück war er dann doch eingedrungen und Javier hatte hörbar aufgestöhnt, als Nicks Fingerspitze den engen Muskelring durchbrochen hatte. Er hatte die Behandlung dann schnell wieder beendet und dafür einen sehr nassen und sehr leidenschaftlichen Kuss bekommen. Seit dem ging ihm das Ganze nicht mehr aus dem Kopf.

Es war ihm richtig vorgekommen … in dem Moment. Genauso wie das, was sie gestern getan hatten. Aus einem tiefen Gefühl heraus hatte er Javier geben wollen, wonach der sich sehnte. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte, wo das noch hinführen konnte, hätte Nick am liebsten noch mal zwei Tage zurückgespult und komplett von vorne angefangen. Ganz, ganz langsam. Er war sich nämlich überhaupt nicht sicher, ob er schon soweit war. Vor allem, wenn er bedachte, was er vorhin alles darüber gelesen hatte. Er wusste zwar nicht, wie er mit 24 noch auf Seiten wie „Dr. Sommer berät“ gelandet war, aber er hatte sich trotzdem durch die Infos geklickt. Am Anfang war es ja noch harmlos gewesen, besonders der Teil, wo stand, dass nicht jeder Schwule auf diese Art von Sex stand und viele ganz ohne auskamen. Aber spätestens als das erste Mal etwas von Schmerzen erwähnt worden war, hatten seine Handflächen angefangen zu schwitzen. Er hatte zwar weiter gelesen, um sich ausreichend zu informieren, aber in seinem Kopf war ständig die gleiche Frage herumgeschwirrt und hatte alles andere übertönt.

 

Was passiert, wenn ich es falsch mache? Was passiert, wenn ich ihm wehtue?

 

Er wollte das nicht. Und trotzdem stand er jetzt hier in einer Aufmachung, die förmlich schrie: „Komm und nimm mich!“

 

Es geht nicht. Ich kann das nicht.

 

Aber was, wenn Javier wieder in seiner Nähe war? Wenn sie anfingen, sich zu küssen und wieder eins zum anderen kam? Wenn er die Kontrolle verlor? Er bereute nicht, was bisher geschehen war. Das war alles wirklich wunderbar gewesen, wenngleich vielleicht auch etwas schneller als gedacht. Aber diesen einen, letzten Schritt zu gehen, von dem er wusste, dass Javier ihn sich so sehr wünschte, das schaffte er einfach nicht. Warum bestand er nur so sehr darauf? Warum konnte er nicht mit dem zufrieden sein, was Nick ihm von sich aus gab? Warum musste es immer nur um Sex gehen? Was war denn nur so wichtig daran? Er war über drei Jahre ohne ausgekommen, aber Javier schaffte es nicht einmal drei Tage? Wie bescheuert war das denn?

 

Nick begann, an dem Reißverschluss zu zerren, der die Jeans verschloss. Er würde das hier nicht tragen. Er würde Javier sagen, dass er sich nicht zum Affen machen würde, nur weil …

Es klingelte. Nick sah auf die Uhr. Oh verdammt, war es wirklich schon so spät? Er biss sich auf die Lippen. Nun konnte er Javier entweder draußen stehen lassen, bis er umgezogen war, oder sich wenigstens wieder in einen passablen Zustand bringen, bevor er ihn hereinließ. Er entschied sich für Letzteres. Zum einen weil es wirklich kalt draußen war, zum anderen weil Javier jetzt Sturm klingelte. Natürlich. Ungeduldig wie immer.
 

Nick riss die Tür auf und wurde von einem strahlenden Lächeln begrüßt.

„Hi, nimmst du mir die mal ab?“

Im nächsten Moment hielt er eine Reisetasche in den Händen. Er sah Javier verständnislos an, der mit einem Schirm rumhantierte. Anscheinend hatte es angefangen zu regnen.

„Na ja, ich hab gedacht, für den Fall, dass du nicht gleich wieder gewaschen hast, bringe ich mir mal eigene Sachen zum Wechseln mit. Ich darf doch heute Nacht wieder hier pennen?“

Er kam rein, ohne eine Antwort abzuwarten. Seine Schuhe flogen in eine Ecke und er nahm Nick die Reisetasche wieder ab, nur um sie gleich darauf auf den Küchentisch zu befördern. Wie unhygienisch. Und überhaupt, was fiel ihm eigentlich ein, sich selbst einzuladen? Womöglich noch in der Erwartung, dass hier heute Nacht etwas laufen würde, von dem sich Nick sehr sicher war, dass er es nicht wollte.

Er öffnete schon den Mund, um Javier zu verkünden, dass er heute Nacht allein zu nächtigen gedachte, als dieser sich umdrehte mit einer Plastikdose in der einen und einer DVD in der anderen Hand. Er grinste.

„Essen von Tante Nata. Sie lässt dich grüßen. Ich glaube, sie stellt dich echt wieder ein. Klang heute zumindest so, als ich sie danach gefragt habe. Und wenn nicht, werde ich sie solange nerven, bis sie es doch tut. Außerdem hab ich uns was zum Zeitvertreib mitgebracht, bis es nachher losgeht. Ich kann doch unmöglich zu lassen, dass mein … dass du nicht den besten Spiderman-Film aller Zeiten kennst.“

Er lächelte und Nicks Zorn war mit einem Mal wie weggeblasen. Hier stand Javier und hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Über Essen, über seinen Job und nicht zuletzt über eine Abendgestaltung ohne Sex. Nick kam sich schäbig vor, wenn er daran dachte, was er ihm gerade im Geiste alles noch vorgeworfen hatte. Immerhin war er doch derjenige gewesen, der Javier gestern nicht in Ruhe gelassen hatte, obwohl der sich echt angestrengt hatte. Der sich heute Morgen zu dieser hirnrissigen Aktion hatte verleiten lassen, anstatt rechtzeitig an die Konsequenzen zu denken. Wie unfair war es da, wenn er alles auf ihn abwälzte?

Javier hörte auf zu lächeln und runzelte die Stirn. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

Er legte die Sachen zur Seite und kam auf Nick zu. Dabei musterte er ihn von oben bis unten.

„Du siehst übrigens gut aus. Hab ich gleich gesehen.“ Er zupfte an einer Ponyfranse herum. „Ein bisschen wie Chris Hemsworth nur ohne Bart.“

„Wie wer?“

Javier rollte mit den Augen. „Okay, ich schreibe 'Thor' auch mit auf die Liste.“

Er drückte Nick einen kurzen Kuss auf den Mund. „Also was ist jetzt? Hast du Hunger? Die Empanadas schmecken warm oder kalt. Was ist dir lieber?“

„Warm.“

Nick sah zu, wie Javier anfing, sich an seinem Backofen zu schaffen zu machen, weil Empanadas aus der Mikrowelle angeblich schmeckten wie durchgekaut und ausgespuckt. Er ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken und betrachtete die DVD-Hülle. Darauf waren zwei Köpfe zu sehen. Einer gehörte Spiderman und der andere? Er wusste es nicht und fragte Javier danach.

„Das ist der grüne Kobold, einer seiner Erzfeinde. Aber das wirst du alles noch sehen. Leider haben sie den ja in den neuen Verfilmungen die ganze Geschichte mit der geheimen Identität total rausgekürzt. Das hat mich echt genervt. Die Geschichte von Spiderman lebt doch davon, dass er eben keine Freunde hat und seine Kräfte vor allen geheimhalten muss. Der neue Kram zielt total darauf ab, wie man ihn am besten bei den Avengers integrieren kann. Obwohl es natürlich schon cool ist, wenn da auf einmal Spidey mit rumschwingt, weil Ironman ihn ins Team geholt hat.“

Auf Nicks Gesicht bildeten sich viele, viele Fragezeichen. Javier sah ihn an.

„Du hast echt so überhaupt keinen Schimmer, wovon ich spreche, oder?“

Nick schüttelte langsam den Kopf.

„Hast du wenigstens irgendeinen der Filme gesehen? Wenn du Science Fiction magst, wäre doch 'Guardians of the Galaxy' was für dich gewesen. Der ist so lustig und die Musik hätte dir bestimmt gefallen. Der Soundtrack ist legendär. Ich steh ja total auf Rocket.“

„Wer ist Rocket?“

„Ein Waschbär.“

„Wasch~bär?“

Nick hatte so langsam den Eindruck, dass Javier ihn auf die Schippe nahm. Aber der schien das vollkommen ernst zu meinen.

„Ja, ein genetisch veränderter Waschbär. Der baut dir aus ner Büroklammer und ner Tube Klebstoff innerhalb von fünf Minuten ne Bombe. Quasi ein MacGyver im Pelz. Und dann sein Freund und Leibwächter, Groot. Ein riesiger, laufender, sprechender Baum, dessen Vokabular aber nur aus drei Wörtern besteht, die je nach Betonung was anderes bedeuten. Zum Schießen die Dialoge zwischen den beiden.“

Javier hielt in seinem Überschwang an und musterte Nick mit gerunzelten Augenbrauen.

„Also schön, hier ist ganz dringend Nachhilfe angesagt. Ich will zu dir sagen können 'Ein Fahrstuhl ist nicht würdig' und du sollst darüber lachen und mich nicht angucken, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

Nick konnte nicht anders, er musste jetzt schon lachen. „Na von mir aus. Dann weih mich mal ein in die Geschichte, in der Mutantenspinnen und Männer aus Eisen und genetisch veränderte Waschbären mitspielen.“

Javier legte die Hände zusammen und ließ die Fingerknöchel knacken. "Dann hör zu und lerne. Es begann alles zur Zeit des zweiten Weltkrieges, als die Amis dachten, dass es ne total gute Idee wäre, einen Super-Soldaten zu züchten. Einen, der den Nazis so richtig in den Arsch tritt. Das war die Geburtsstunde von Captain America, dem ersten Avenger ...“

 

Javier sprach nicht, er referierte. Über Super-Soldaten und nordische Götter und Wissenschaftler, die sich in grüne Monster verwandelten, wenn sie wütend wurden, und allerlei mehr. Vor Nicks geistigem Auge entspann sich eine phantastische Welt und er musste mit Erstaunen feststellen, dass er den Ausführungen ziemlich gut folgen konnte. Sogar denen über die Zeitreisen eines gewissen Dr. Strange, von dem sie einen kurzen Exkurs zu Sherlock Holmes machten, bis Javier wieder auf das eigentliche Thema zurückkam und ihm weiter die Geschichte um sechs magische Edelsteine erzählte, die schlussendlich zur Auslöschung der Hälfte allen Lebens im Universum führten. Dazwischen vernichteten sie den kompletten Stapel an spanischen Teigtaschen und Nick hatte das Gefühl, er könnte dem völlig begeisterten Javier, dessen Augen leuchteten wie die eines Kindes am Weihnachtsabend, ewig zuhören, als es plötzlich draußen hupte.

Entgeistert sahen sie sich beide an.

„Wie spät ist es?“

„Gleich halb elf. Das müssen Natascha und Alex sein. Sie wollten uns abholen.“

„Was? So spät schon? Ich wollte mich doch noch fertig machen.“

Javier raufte sich verzweifelt die Haare. Nick musste unwillkürlich grinsen.

„Tja, dann werde ich dich wohl so mitnehmen müssen, mein kleines Aschenputtel.“

„Ich geb dir gleich mal Aschenputtel.“

Javier machte zunächst den Eindruck, als wolle er nach ihm schlagen, als er plötzlich zu grinsen begann. Er setzte sich geziert auf den Rand des Küchenstuhls und hielt Nick einen Fuß hin.

„Wenn ich um meinen Schuh bitten dürfte?“

Nick schnappte sich einen der weißen Sneaker und hielt ihn Javier hin. Der schlüpfte hinein, schlug die Hände vor den Mund und rief: „Nein so was! Er passt!“

Draußen hupte es, dieses Mal länger.

„Ich glaubte, Aschenputtel muss sich beeilen, sonst wird aus der Kutsche ganz schnell wieder ein Kürbis.“

„Ist recht. Du gehst schon mal und becirct die böse Fee, während ich mir noch ein frisches Shirt anziehe.“

„Wieso? Das da sieht doch gut aus.“

„Das hat aber lange Ärmel und ich will nachher mit dir tanzen. Das ist mir zu warm.“

Javier streifte das Shirt über den Kopf und fing an, in seiner Tasche herumzugraben. Draußen hupte es jetzt eindeutig ungeduldig. Nick warf einen letzten, bedauernden Blick auf den halbnackten Javier und hetzte dann nach draußen, um die Wogen etwas zu glätten. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen.
 

„Wird aber auch Zeit“, schnauzte Natascha, sobald er die Tür geöffnet hatte, und Alex ausstieg, um Nick auf den Rücksitz zu lassen. „Wir warten hier schon fast zehn Minuten.“

Alex begrüßte ihn mit einer Umarmung. Sie wuschelte ihm ein bisschen durch die Haare. „Was ist den mit dir los? Du siehst ...“

„... aus wie Chris Hemsworth nur ohne Bart“, seufzte Nick. „Ja, ich weiß.“

„Ich wollte eigentlich sagen anders aus, aber okay.“ Sie grinste und zwinkerte ihm zu.

„Wo bleibt Javier?“, kam es von drinnen aus dem Auto.

„Hat mich jemand gerufen?“ Tatsächlich stand Javier wie aus dem Boden gewachsen neben ihm. Nick betrachtete missmutig das weiße Shirt, das unter der weit aufklaffenden Lederjacke gut sichtbar war.

„Wolltest du dir nicht ne neue Jacke kaufen?“

„Keine Zeit gehabt. Einige von uns müssen arbeiten.“ Er streckte Nick die Zunge raus und kletterte ins Auto.

„Boah, wie taktlos“, schimpfte Alex, aber Nick legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

„Nicht der Rede wert. Javier hat gemeint, Renata wird mich wahrscheinlich wieder einstellen.“

„Ach echt? Das ist toll!“ Sie wollte wohl noch einiges mehr sagen, aber Nataschas liebliche Stimme schnarrte aus dem Auto:

„Wundern Sie sich drinnen oder draußen aber machen Sie die Tür zu. Es zieht!“

Ergeben kletterten Nick und Alex ebenfalls in das kleine, rote Auto.

 

Natascha war kaum losgefahren, als Javier sich halb zu Nick herumdrehte. Auf der engen Rückbank musste Nick ohnehin schon zusehen, wo er seine Beine ließ, und durch Javiers Bewegung, stießen jetzt ihre Knie zusammen.

„Ich hab dir noch gar nicht erzählt habe, was im letzten Teil passiert. Die Hälfte allen Lebens war ja nun von Thanos ausgelöscht worden, aber …

„LALALA!“, kam es überlaut von Natascha. „Ich will doch nicht hoffen, dass du Nick gerade erzählen wolltest, was in 'Endgame' passiert? Ich hab's immer noch nicht geschafft, den zu gucken.“

Javiers Knie wandten sich von Nick ab und dem Vordersitz zu. „Du magst die Avengers?“

„Klar! Hallo? Scarlett Johansson als Natasha Romanoff? Das muss Schicksal sein. Außerdem war ich schon X-Men-Fan, als sie dich noch gar nicht ins Kino gelassen haben.“

„Echt? Ist ja geil!“

Und schon waren Javier und Natascha in eine wilde Diskussion über Superhelden verstrickt, die Nick einigermaßen sprachlos zurückließ. Er lehnte sich leicht vor und flüsterte Alex, die ebenso wie er gerade nichts zu melden hatte, zu:

„Was meinst du, ob wir die beiden nachher einfach im Auto lassen und alleine feiern gehen?“

„Das klingt nach einer Super-Idee“, gab sie zurück und der Rest der Fahrt gehörte wieder den Rächern der Kinoleinwand.

 

 

Das „Metropolitan Theatre“, wie der Laden mit vollem Namen hieß, war passend zum ersten Teil des Abends aus einem ehemaligen Kino erbaut worden. Nachdem es mehrere Jahre leer gestanden hatte, hatte es ein Investor für einen Spottpreis gekauft, die Sitzreihen entfernen lassen, eine Bar in eine Ecke geklatscht und das Ganze in eine Disko umfunktioniert. Noch einen Besitzerwechsel später war der Laden dann richtig renoviert worden. Man hatte den alten Flair des Gebäudes wieder zum Leben erweckt mit roten Vorhängen und Kordeln mit Goldquasten sowie einem riesigen Kronleuchter, der im Saal von der Decke hing und in unterschiedlichen Farben ausgeleuchtet werden konnte. Die Empore war zu einem Bereich mit Tischen und Stühlen umgestaltet geworden, wo man sich niederlassen und unterhalten konnte, während man auf die Tanzenden hinuntersah. Einen dieser Tische strebte Natascha jetzt zielstrebig an und ließ sich dort nieder, als wolle sie sich den Abend über nicht mehr wegbewegen.

„Nachher tanzen wir aber“, verkündete Alexandra, als sie sich neben ihre Freundin setzte.

„Klar“, sagte Natascha. „Aber jetzt brauche ich erst mal was zu trinken. Ohne kriegen mich keine zehn Pferde da unten zum Rumzappeln. Außerdem ist doch noch gar nichts los.“

Nick warf einen Blick über die Balustrade. Auf der Tanzfläche war tatsächlich noch nicht besonders viel Betrieb. Lediglich am Rand hüpften einige vereinzelte Mädchen zu Klängen von „Babra Streisand “ herum, denn heute Abend standen im Metropolitan alle Zeichen auf Eurodance und ähnlichen schrägen Zeitgenossen. Sogar die Deko schien direkt aus den 90ern zu kommen. Im Foyer, das neben roten Samtteppichen und alten Kinoplakaten auch ein Verkaufsstand für Popcorn und Hot Dogs zierte, hatte man ihnen doch tatsächlich Knicklichter in die Hand gedrückt. Javier hatte seins gleich benutzt und es sich wie eine Zigarette hinters Ohr gesteckt. Er wirkte ein bisschen wie ein spanischer James Dean.

 

„Hey!“ Ein Paar Arme wanden sich um Nicks Taille. „Sorry, dass ich dich hab links liegen lassen.“

„Kein Ding.“ Nick drehte sich um und befand sich somit in Javiers Umarmung. „Ich kann bei dem Thema leider nicht so wirklich mitreden.“

„Was wir ändern werden“, versprach Javier. Er sah ebenfalls nach unten. „Ist ja irre. Von hier oben kann man ja alles sehen.“

„Wenn's nachher voll ist, kannst du dich schon mal von deinem Aussichtsplatz verabschieden. Dann werde ich nämlich da unten sein und du mit.“

„Alles klar, Captain Dancefloor“, grinste Javier und ließ Nick los. „Komm schon, wir besorgen den Schnecken mal was zu trinken.“

„Schnecken?“ Nick glaubte, sich verhört zu haben. „Lass das bloß nicht Natascha mitkriegen. Die macht dir einen Knoten in dein Knicklicht.“

Javier lachte. „Na wenn's nur da rein ist, kann ich damit leben.“

Er zwinkerte Nick zu und strebte dem Treppenaufgang zu, der sie nach unten zur Bar brachte. An dem Monstrum aus dunklem Holz, das am Rande der Tanzfläche thronte, konnte man so gut wie alles erstehen, was der Getränkemarkt zu bieten hatte. Nick lauschte neidvoll, wie Javier zwei 'Sex on the Beach' bestellte, ohne sich auch nur ein bisschen dabei zu verhaspeln, dazu noch ein Bier und eine Cola für Nick. Mit vollen Händen balancierten sie wieder die Treppe hinauf und lieferten ihre Getränke ab.

„Auf einen gelungenen Abend“, rief Alexandra und Gläser und Bierflasche klirrten aneinander. Als sie einen Schluck ihres Cocktails getrunken hatte, grinste sie Nick an.

„Und?“, fragte sie scheinheilig. „Kriegen wir jetzt die schmutzigen Einzelheiten, was ihr beide nun eigentlich miteinander habt?“

Nick spürte, wie sich eine leichte Röte über sein Gesicht zog, und warf einen hilfesuchenden Blick zu Javier. Eigenartigerweise wirkte der ebenfalls unschlüssig und blickte mit großen Augen zu Nick zurück. Alexandra sah interessiert zwischen ihnen beiden hin und her und schien sich prächtig zu amüsieren.

„Na wie mir scheint, besteht da irgendwie noch Klärungsbedarf“, wurden sie schließlich von Natascha gerettet, die bereits einen Gutteil ihres Cocktails – des einzigen, den sie heute Abend zu trinken gedachte – vernichtet hatte. „Ich geh solange mal für kleine Mädchen. Kommst du mit?“

Die angesprochene Alexandra lachte und knuffte Nick noch in die Seite, bevor sie zusammen mit Natascha nach unten entschwebte, wobei ihr einige bewundernde Blicke folgten. Die Hotpants, die sie heute trug, und das passende, bauchfreie Top konnte sie nur mithilfe eines Schuhlöffels angekommen haben und die blonden Haare wippten zu zwei hohen Pferdeschwänzen zusammengebunden hinter ihr her. Es sah wirklich verboten aus, obwohl Nick zugeben musste, dass Alexandra wahrscheinlich eine der wenigen Personen war, die so was tatsächlich tragen konnten. Natascha verschwand mit ihrer schwarzen Palazzohose und dem schlichten, roten Top dagegen einfach in der Menge. Er sah den beiden noch eine Weile nach, bis er keine Ausrede hatte, sich nicht Javier zuzuwenden. Der musterte ihn immer noch.

Nick räusperte sich. „Tja und jetzt?“

Javier zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich meine … müssen wir das denn klären?“

In diesem Moment schallte ein neuer Hit durch den Saal, der einen Aufschrei unter einer Gruppe von Leuten auslöste, die daraufhin die Tanzfläche stürmten. Nick wies mit dem Kopf nach unten.

„Alternativ könnten wir uns zu 'Barbie Girl' ins Getümmel stürzen.“

Javier sah aus, als hätte er ihn geschlagen. Er holte tief Luft, leerte sein Bier fast bis zur Hälfte und machte ein tapferes Gesicht. „Na meinetwegen. Aber dann erklärst du Natascha, warum der Tisch weg ist.

„Deal.“

 

 

Die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte, war anspruchslos, bot aber jede Menge Möglichkeiten für albernen Party-Spaß. Sie hopsten zu „Cotton Eye Joe“ Arm in Arm im Kreis herum, ließen sich bei „Macarena“ von Javier zeigen, was er als Fast-Spanier für einen richtigen Hüftschwung hielt, und waren rechtschaffen empört, als Natascha und Alexandra bei „Männer sind Schweine“ lauthals mitsangen. Bei „Mr. Vain“ packte Nick dann der Schalk im Nacken. Er schnappte sich Alexandra und begann mit ihr, einen Diskofox zu tanzen. Sie lachte und ließ sich von ihm durch die Gegen wirbeln, bis ihr auf einmal Javier auf die Schulter tippte.

„Ich glaube, das nennt sich Abklatschen“, grinste sie und bevor Nick wusste, wie ihm geschah, hatte sie ihm Javier in den Arm geschoben. Der sah Nick von unten herauf an.

„Wo sie Recht hat.“ Er legte den Kopf schief. „Und? Tanzt du mit mir?“

„Kannst du denn Diskofox?“

Javier schüttelte den Kopf.

„Okay, pass auf, ist ganz einfach. Schritt zur Seite, wieder zurück und mit dem freiwerdenden Fuß einmal auftippen. Den Rest erledige ich.“

Javier probierte die Schrittfolge aus und Nick schoss ganz kurz durch den Kopf, dass Javier jetzt den Damenpart übernehmen und somit mit dem falschen Fuß anfangen musste. Aber da der ohnehin keine Ahnung vom Tanzen hatte, war das sicherlich nicht so wild. Als Javier schließlich nickte, übernahm Nick die Führung.

 

Zu sagen, dass es gut klappte, wäre übertrieben gewesen, aber anhand von Javiers so gut wie gar nicht vorhandener Paartanzerfahrung und dem wirklich schnellen Rhythmus des Liedes schlugen sie sich gar nicht schlecht. Als sich das Stück seinem gnädigen Ende zuneigte und Michael Jackson einen seiner unzähligen Hits anstimmen durfte, drehte Nick Javier noch einmal unter seinem Arm hindurch und schloss dann die Arme um ihn.

„Du hast Talent“, sagte er.

„Liegt am Lehrer“, gab Javier zurück und hob den Kopf. In dem Moment, als sich ihre Lippen trafen, flammte auf einmal ein Blitzlicht neben ihnen auf. Irritiert wandte Nick den Kopf und sah gerade noch, wie ein Kerl mit einer großen Spiegelreflex den Daumen in seine Richtung reckte, um dann in der Menge zu verschwinden. Nick erstarrte.

„Was war das denn für einer?“, fragte ein Mädchen, das neben ihnen tanzte.

„Der macht hier Fotos von den Events für die Website", antwortete ihre Freundin. "Kannst du dir Morgen bei Facebook ansehen."

„Hast du gehört, wir sind im Fernsehen“, rief Javier und lachte.

Nick hingegen hatte das Gefühl, dass sich auf einmal der Raum um ihn drehte. Ein Bild von ihm. Im Internet. Mit Javier im Arm. Der ihn küsste.

Die Geräusche in seiner Umgebung wurden plötzlich ganz leise. Nur das laute Hämmern seines Herzens und das Geräusch, mit dem das Blut in seinen Ohren rauschte, waren noch hörbar. Er atmete flach und flacher, versuchte die Panik niederzuringen, die sich mit Zähne und Klauen ihren Weg nach oben kämpfte. Er durfte jetzt nicht durchdrehen. Er musste … musste …

„Hey, Nick, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Nick blinzelte und blickte in Javiers besorgtes Gesicht. Ihm war schlecht und er fühlte den Schweiß, der ihm in Strömen den Rücken hinabrann. Javier sah ihn an, blickte sich kurz um und seine Augen wurden groß.

„Scheiße!“, entfuhr es ihm. „Okay, Nick, warte hier. Ich regle das.“

Javier ließ ihn los und drängelte sich in die Richtung davon, in der der Fotograf verschwunden war.

„Was ist denn in den gefahren?“, hörte Nick jemanden fragen, doch er konnte nicht antworten. Seine Augen klebten an Javier, der jetzt den Fotografen auf der Treppe nach oben erwischt hatte. Sie wechselten einige Worte und Javier zeigte in Nicks Richtung. Der Typ hob die Kamera und man sah in der Entfernung das Display aufblitzen. Nick konnte nicht erkennen, was sie anschließend taten, aber nach einigen Augenblicken lachte Javier, schlug dem Mann noch einmal mit der flachen Hand gegen den Oberarm, drehte sich um und kam wieder zurück. Als er bei Nick ankam, lächelte er.

„Kannst dich wieder entspannen. Er hat das Bild gelöscht.“

Nick spürte eine große Welle von Dankbarkeit, die ihn durchströmte und die ganzen hässlichen Gefühle mit sich fortschwemmte. Er zog Javier an sich und vergrub sein Gesicht in dessen Halsbeuge. In diesem Moment wollte er ihn einfach nur festhalten und nie wieder loslassen.

„Danke“, flüsterte er so leise, dass Javier es eigentlich nicht gehört haben konnte.

„Kein Problem, immer gerne“, wisperte der jedoch zurück und zog Nick noch ein Stück näher. Warme Lippen streiften seinen Hals und wanderte in Richtung seines Mundes.

„Hey, nehmt euch ein Zimmer“, rief da plötzlich Alexandra. Sie hielt einen neuen Cocktail in der Hand, den sie anscheinend gerade an der Bar geholt und somit von allem nichts mitbekommen hatte. Sie prostete Nick zu, der sich ein wenig verschämt aus Javiers Umarmung löste.

Javier sah ihn an. „Ich brauch jetzt was zu trinken. Willst du auch noch ne Cola?“

Nick überlegte kurz und fasste einen Entschluss.

„Nein“, sagte er und atmete tief durch. „Bring mir bitte einen Caipi mit.“

 

Körpersprache

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tatsächlich schwul

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Heiter bis wolkig

Das Laken unter Javier war verschwitzt, sein Bauch klebte und er hatte das Gefühl, gleich umfallen zu müssen, wenn er nicht schon längst auf dem Rücken gelegen hätte mit Nick über sich, der gerade Anstalten machte, sich aus ihm zurückzuziehen.

„Bleib“, flüsterte er und hielt ihn fest.

Nick sah auf ihn herab und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er lehnte sich vor und platzierte einen vorsichtigen Kuss auf Javiers Lippen. Der Kuss schmeckte noch genauso und doch war er ganz anders als die tiefen, leidenschaftlichen Küsse, die noch sie vor wenigen Augenblicken getauscht hatten.

„Wenn ich zu lange warte, gibt das wieder eine Sauerei. Und im Gegensatz zum Sofa ist das Bett nicht abwischbar.“

„Bleib trotzdem“, bat Javier und schlang kurzerhand die Beine um ihn. Er wusste, dass Nick Recht hatte. Er wusste auch, dass es vernünftiger gewesen wäre, eben kurz die Spuren zu beseitigen und sich dann aneinander zu kuscheln. Trotzdem wollte er diesen Moment der Vereinigung noch ein wenig länger genießen.

Nick schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. „Wenn das so weitergeht, können wir die Kondome auch weglassen.“

Der Gedanke war Javier bisher noch gar nicht gekommen. Seit dem einen sehr dummen und sehr betrunkenen Mal hatte er bisher immer darauf bestanden. Aber jetzt, wo er und Nick … Da konnten sie ja vielleicht …?

Irgendetwas in seiner Brust krampfte sich zusammen und er spürte, wie es in seiner Nase zu kribbeln begann. Scheiße! Schnell drückte er Nick an sich und ignorierte dessen Protest, als der in den zahlreichen Spritzern landete, die immer noch Javiers Brust bedeckten. Er spürte, wie Nick nun doch aus ihm herausglitt und bedauerte ein wenig das Gefühl der Leere, das damit einherging. Trotzdem hielt er ihn weiter fest.

„Beim nächsten Mal“, sagte er und drückte sein Gesicht an Nicks Hals, um ganz sicher zu gehen, dass der nicht sah, dass er kurz davor war zu flennen. Er hätte das Gefühl nicht erklären können und er wollte nicht, dass Nick sich Sorgen machte. Es war doch alles in Ordnung. Er war nur so unheimlich glücklich, dass es sich anfühlte, als wenn all das Glück nicht in ihn hineinpassen würde.

„Te quiero“, wisperte er so leise, dass Nick es nicht hören konnte. Mehr wagte er nicht, auch wenn es sich nach viel mehr anfühlte. Nach beängstigend viel mehr. Nach etwas, das er bis aufs Blut verteidigen würde, wenn jemals jemand versuchen würde, es ihm wieder wegzunehmen.

 

Nach einigen Augenblicken, begann Nick sich entschieden gegen die Umarmung zu stemmen.

„Jay, ich hab dich auch wirklich lieb, aber ich muss jetzt dieses Kondom entsorgen, sonst darf ich mich gleich mal wieder mit dem Problem rumschlagen, dass sich Bettwäsche in einer Wohnung wie dieser einfach bescheiden aufhängen lässt.“

Er klang dabei so entrüstet, dass Javier lachen musste und ihn freigab. Er beobachtete, wie Nick sich um das Gummi-Problem kümmerte und mit einem „Bin gleich wieder da“ zur Tür raus stolzierte. Nackt. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Nachbarn. Javier musste grinsen, als er das sah. Auch wenn Nick kurz darauf mit einem warmen, feuchten Handtuch zurückkehrte und es Javier reichte, damit der sich säubern konnte, war da doch dieser kleine Moment gewesen, in dem Nick nicht perfekt gewesen war. Kein sagenhafter Engel, der in Sphären wandelte, die Javier niemals erreichen konnte, sondern jemand, der ihn tatsächlich um sich haben wollte. Der sich jetzt neben ihn legte, die Arme um ihn schlang und ihn an sich zog mit den Worten: „Komm auf meine Seite, die ist trockener.“

Und scheiße, ja, er wollte auf Nicks Seite sein. Für jetzt und für immer. Selbst wenn er dafür anfangen müsste, Anzug und Krawatte zu tragen. Er gluckste, als ihm klar wurde, was er da gerade gedacht hatte.

„Warum lachst du?“, wollte Nick wissen, während er ihn noch ein Stück näher zog, sodass sie jetzt Rücken an Bauch nebeneinander lagen.

„Ach nur so. Ich musste gerade an diese Krawatte denken, die du an dem Tag umhattest, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Die mit den blauen und gelben Streifen.“

Er spürte, wie Nick stutzte. „Ja und? Was ist mit der?“

„Die ist furchtbar.“

Im nächsten Moment bohrten sich Nicks Zähne in seinen Hals und er schrie überrascht auf.

„Hey, bist du jetzt ein Vampir oder was?“

„Jaa, eine furchtbarä Vampirä und ichä werdä deinä Blutä trinkän.“

Noch bevor Javier etwas dagegen tun konnte, hatte Nick tatsächlich angefangen, an seinem Hals zu saugen. Nachdem er sich noch für einen Augenblick dagegen gewehrt hatte, hielt er plötzlich ganz still und genoss das feine Prickeln. Als Nick aufhörte, wusste Javier, dass an der Stelle jetzt ein dunkler Fleck prangte. Er lächelte ein wenig ungläubig.

„Hast du mich gerade markiert?“

„Mhm“, murmelte Nick und küsste die malträtierte Stelle leicht. „Stört es dich?“

„Nein, ich hätte nur nicht gedacht, dass du so was machst.“

„Ich auch nicht.“ Mehr federleichte Küsse strichen über seinen Hals. „Hat's wehgetan?“

„Nicht sehr.“

„Gut. Ich will dir nämlich nicht wehtun.“

 

Für einen Augenblick schwiegen sie, während die Welt außerhalb des Raums sich weiterdrehte und vermutlich gerade in sonntagnachmittäglicher Lethargie versank. Eine Zeit, die Javier normalerweise hasste und oft damit verbrachte, sich irgendwelche Filme reinzuziehen, bis es wieder Zeit wurde, sich hinaus zu begeben und irgendetwas zu tun. Aber jetzt hier mit Nick war es okay, einfach nur so dazuliegen und die Zeit verstreichen zu lassen. Er rückte noch ein Stück nach hinten und schloss die Augen. Ja, es war gut, einfach nur bei ihm zu sein.

„Sag mal …“, begann Nick jedoch nach kurzer Zeit und Javier stellte fest, dass Nick anscheinend nur schwer die Klappe halten konnte. Wahrscheinlich dachte er schon wieder irgendetwas. Javier seufzte innerlich und öffnete die Augen wieder.

„Ja?“

„Stehst du eigentlich auf Schmerzen? Im Bett meine ich.“

Javier zog die Augenbrauen zusammen. „Wie kommst du denn darauf?“

Nick atmete hörbar ein und aus. „Ach nur so. Weil du beim ersten Mal so … so angeturnt warst, als ich dich gefragt habe, ob du betteln würdest.“

Javier fühlte, wie sein Gesicht anfing warm zu werden. Mist. Das hatte Nick gemerkt? Er hatte eigentlich gehofft, dass es nicht allzu sichtbar gewesen war, obwohl er genau wusste, dass sein Schwanz deswegen gezuckt hatte. Allein die Vorstellung, dass Nick ihm etwas befehlen würde, ihn dazu bringen, sich ihm zu unterwerfen, hatte einen glühenden Blitz sein Rückgrat entlang geschickt. Aber konnte er Nick das sagen? Was würde der denken? Würde er es pervers finden? Ihn auslachen? Aber vielleicht … Er biss sich auf die Lippen, bevor er doch den Mund öffnete.

„Ich … ich steht drauf, wenn man mir sagt, was ich tun soll.“

Nick machte ein unschlüssiges Geräusch. „Wie meinst du das?“

Javier war gerade sehr froh, dass er Nick nicht ansehen musste. „Na ja, so Sachen wie 'Zieh dich aus', 'Knie dich hin' oder 'Mach den Mund auf'. So was.“

Nick erwiderte nichts darauf. Er strich lediglich mit der Hand sanft über Javiers Brust, als wäre er in Gedanken versunken. Javier wagte kaum zu atmen, während er darauf wartete, wie Nicks Reaktion ausfiel.

„Würdest du …?“, sagte er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Wenn ich dir etwas sage, würdest du es dann tun?“

Etwas in Javiers Bauch begann zu kribbeln. Konnte es sein, dass Nick auf das Spiel einstieg? Dass er womöglich …? Er schluckte.

„Wenn du es ernst meinst.“

Nick presste sich enger an ihn und ein Schauer rieselte Javiers Rücken hinab. Die Stellen, die Nicks Finger berührten, schienen plötzlich zu brennen.

„Ich will, dass du dich anfasst. Dass du … dass du dich selbst befriedigst und dass ich dabei zusehen darf.“

„Jetzt?“ Vor zwei Minuten hätte Javier gesagt, dass das gerade unmöglich war. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher.

Nick schüttelte den Kopf. „Nein, nicht jetzt. Aber … irgendwann mal?“

Javiers Mundwinkel hoben sich. „Klar, warum nicht? Wenn dich das anmacht.“

Nick hauchte ihm einen Kuss auf den Hals dicht neben der Stelle, an der sich jetzt der Knutschfleck befinden musste. „Sehr. Ich sehe dich gerne an. Du bist … schön.“

In diesem Moment konnte Javier nicht anders. Er drehte sich herum, schlang die Arme um Nick und drückte ihm einen Kuss auf, der eher grob als irgendetwas anderes war. Er presste seine Lippen auf Nicks und konnte nur hoffen, dass Nick verstand. Dass er verstand, was Javier ihm damit sagen wollte, auch wenn es weder gut noch romantisch noch sonst was war. Aber es war das, was er in diesem Moment empfand und das war einfach so viel mehr, als er in Worte zu fassen in der Lage war. So unendlich verdammt viel mehr.

 

 

 

„Musst du wirklich schon gehen?“ Nick stand an die Spüle gelehnt und sah Javier dabei zu, wie er seine Schuhe anzog.

„Ja, leider.“ Javier seufzte. Er wäre wirklich gerne noch geblieben, aber es wurde draußen bereits langsam wieder dunkel und er hatte das Gefühl, dass es besser war, wenn er sich mal wieder bei seiner Tante blicken ließ. Außerdem hatte er die Hoffnung, dass ihre Trennung nicht von langer Dauer sein würde. Morgen. Morgen würde Nick seinen Job zurückbekommen und dann konnten sie den ganzen Tag zusammen sein. Zusammen. Es war immer noch unbegreiflich. Unbegreiflich groß und unbegreiflich schön. Er war noch nie „der Freund“ von jemandem gewesen. One-Night-Stand, Bettbekanntschaft, Fickbeziehung. All das hätte er sicherlich auf seine Liste schreiben können. Aber so mit allem Drum und Dran und „ich stelle dich bei Gelegenheit mal meinen Eltern vor“, das war neu. Und eigentlich konnte er es auch jetzt noch nicht so richtig glauben. Er war niemand, den man dafür auswählte. Nick war so jemand. Javier hätte ihn ohne zu zögern mit zu seinen Eltern genommen. Er war sich sicher, sie wären begeistert gewesen. Na ja, zumindest so begeistert, wie sie eben hätten sein können. Nick war toll! Vielleicht, wenn er ihm noch Spanisch beibrachte … Ja, in der Tat. Der perfekte Schwiegersohn.

Er grinste.

Nick sah ihn fragend an. „Was ist los?“

„Ach nichts. Ich musste nur gerade an etwas denken.“ Er trat zu Nick, legte die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Wir sehen uns morgen, Großer.“

„Ich freu mich schon“, erwiderte Nick und küsste ihn ebenfalls noch einmal kurz, bevor er ihn mit einem ebenso tiefen Seufzen wie Javiers wieder losließ. „Mach's gut und grüß deine Tante von mir.“

„Mach ich.“

 

Die ganze Zeit, während er zum Bahnhof lief, in der Schweinekälte auf den Zug wartete, sich auf einen der Sitze schmiss, um dann zum Fenster hinaus in den trüben Novemberabend zu starren, konnte Javier an nichts anderes denken als an Nick. Wie er sich anfühlte, wie er schmeckte, wie er roch. Er hatte festgestellt, dass seine Hände Nicks Geruch angenommen hatten und er musste sich wirklich zusammen reißen, um nicht die ganze Zeit an ihnen herumzuschnüffeln.

Ich werde sie nie wieder waschen, dachte er und musste über sich selber lachen. Ging es eigentlich noch bekloppter? Oder verliebter? Vermutlich nicht. Vermutlich würde er irgendwann durchdrehen deswegen. Dann ließ er sich Nicks Namen quer über den Bauch tätowieren und schlief nachts in einem Körbchen vor seinem Bett, nur um die ganze Zeit in seiner Nähe sein zu können. Oder in einem Nest, dass er sich aus seinem Bademantel gebaut hatte.

Als er aufstand, merkte er ganz kurz, dass er heute schon zweimal Sex gehabt hatte. Es war nicht schmerzhaft, einfach nur eine Erinnerung daran genau wie der Fleck, der jetzt an seinem Halsansatz prangte. Das ließ ihn daran denken, was Nick über die Kondome gesagt hatte. Javier stellte fest, dass er das wollte. Er wollte wissen, wie es sich anfühlte, Nick voll und ganz zu spüren.

 

Als er ausstieg, prangte direkt vor seiner Nase ein Plakat. Darauf waren zwei Typen zu sehen, die sich gerade abknutschten. Über ihnen prangte der Slogan: „Heiße Nacht? Benutzt Kondome.“

„Die wollen mich doch verarschen“, murmelte Javier und klappte den Kragen seiner Lederjacke hoch. Er beeilte sich, um endlich wieder ins Warme zu kommen, aber das Bild ging ihm nicht aus dem Kopf. Ob er … ob er sich auch nochmal testen lassen sollte? Er hatte Nick zwar gesagt, dass alles in Ordnung war und er war sich im Grunde genommen auch sicher, aber der Gedanke ließ ihn trotzdem nicht los. Er hatte vor nicht allzu langer Zeit einen HIV-Test machen lassen. Aber gab es da nicht eine Frist? Sechs Wochen oder so, bis eine Infektion nachweisbar war. Javier wusste, dass er immer vorsichtig gewesen war. Sogar an dem Abend, als er so sauer gewesen war, dass ihn sein Vater wegen dem Mist angemacht hatte. Dass er ihre Familie und besonders seine Mutter gefährden würde. Dass er sich schämen sollte, sich so zu benehmen. „Herumhuren“ hatte er es genannt und Javier hätte ihm dafür am liebsten ins Gesicht gespuckt.

Er hatte keine Lust gehabt, seinem Vater auseinanderzusetzen, dass er alles dafür tat, dass nichts passierte. Dass er nicht so dumm war, wie sein Vater zu glauben schien. Aber er hatte nur gesagt, dass er den Test machen würde und danach war er losgegangen und hatte sich einen Typen aufgerissen. Einen blonden Bären; den größten, den er finden konnte. Riesig und mit einem Bart! Von dem hatte er sich in der Nacht das Hirn rausvögeln lassen wollen, um nicht mehr an die Sache denken zu müssen. Er lachte auf, als er daran dachte, wie der Abend weitergegangen war. Wie ihm der Kerl, als sie bei ihm zu Hause durch die Tür gestolpert waren, ins Ohr geraunt hatte, dass er gleich loslegen könne, weil er einen Plug im Hintern hätte. Und dann hatte er sich ernsthaft ausgezogen und hatte Javier seinen Hintern entgegengestreckt, in dem so ein schwarzes Silikonteil gesteckt hatte. Javier hatte kurz geschluckt und dann hatte er es ihm besorgt. So richtig. Er hatte den Kopf ausgeschaltet – nachdem er das Kondom übergezogen hatte – und hatte den Kerl gefickt. Anders konnte man das einfach nicht bezeichnen. Eine rein mechanisches Rein und Raus, bis sie irgendwann beide abgespritzt hatten. Das Witzige war, dass es dem Typ sogar gefallen hatte. Er hatte sich überschwänglich bedankt und hatte ihm an der Tür noch seine Nummer in die Hand gedrückt. Javier hatte sie weggeworfen, noch bevor die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Es hatte sich zu sehr danach angefühlt, für den Fick bezahlt worden zu sein. Seit dem war nichts mehr gewesen bis zu der Sache mit Nick. Aber was, wenn er in den sechs Wochen vor dem Test …

 

Plötzlich hatte er ein bisschen Schiss. Um sich, aber vor allem um Nick. Was, wenn er es doch versemmelt hatte? Es konnte nicht sein, wirklich nicht, aber was, wenn doch? Er musste an das Gesicht seiner Mutter denken. Wie sie ihm am nächsten Tag Frühstück gemacht hatte. Sie hatte sich auf die andere Seite des Tisches gesetzt und ihn angesehen.

„Dein Vater liebt dich“, hatte sie gesagt. „Er ist nur nicht besonders gut darin, es zu zeigen.“

„Er ist verdammt beschissen darin“, hatte er gefaucht und hatte sie sitzen lassen. Er war rausgegangen und zum Arzt gelaufen, um sich Blut abnehmen zu lassen. Drei Tage später hatte er seinem Vater den Wisch auf den Tisch geknallt und der hatte nur genickt. Genickt. Kein weiteres Wort. Nicht einmal angesehen hatte er ihn. Und auf einmal verstand Javier. Der Gedanke, dass jemand, den er liebte, zu Schaden kam, machte ihn rasend und schnürte ihm gleichzeitig die Kehle zu. Es gab keine Worte dafür, wie es sich anfühlte. Nur die Wut, wenn man den Umständen so hilflos gegenüberstand. Selbst wenn derjenige, der Schuld an dem Ganzen war, einem so nahestand. Selbst, wenn derjenige man selber war.

„Fuck“, fluchte er und trat gegen einen Laternenpfahl, der ihm gerade in den Weg kam. Das Licht über ihm schwankte und warf wilde Schatten auf die Straße wie ein dunkles Zerrbild seiner selbst. Für einen Augenblick stand er einfach nur da und sah sie an, bis er seinen Schattenriss wieder klar erkennen konnte. Und dann fasste er einen Entschluss. Er würde sich nochmal testen lassen. Scheiß drauf, wie ihn irgendein bekloppter Arzt ansehen würde. Scheiß drauf, dass er sich nochmal diesen ganzen Sermon über Ansteckungsgefahren und Risikoprävention und was sonst noch alles anhören musste. Er konnte das und er würde es tun. Für Nick und auch für seine Familie. Das hier war verdammt nochmal wichtig und er würde es nicht vermasseln. Nicht dieses Mal.

 

Mit grimmig zusammengezogenen Augenbrauen stapfte er weiter den Weg entlang. Eisiger Nebel kletterte langsam an den Häusern empor und verpackte die Baumkronen in weiße Wattewolken. Man merkte einfach, dass sie hier näher am Meer waren als in seiner Heimatstadt. Wenn man dieses grüngraue Wässerchen, das sich alle paar Stunden irgendwohin verpisste, denn so nennen konnte. Im Sommer würde er mit Nick mal an ein richtiges Meer fahren. Mit weißem Sand und blauem Wasser und der Sonne, die den ganzen Tag vom Himmel knalle. Er konnte es quasi schon auf seiner Haut spüren. Nicks Küsse fühlen, die nach Salz und Sonnencreme schmecken würden. Eine wunderbare Vorstellung.

Er schob das Gartentörchen auf und stellte schon von Weitem fest, dass im Haus kein Licht brannte. War seine Tante gar nicht zu Hause? Er kramte den Schlüssel heraus und schloss die Haustür auf.

„Tante Nata?“, rief er, aber er erhielt keine Antwort. Anscheinend war sie tatsächlich ausgeflogen. Wo sie wohl immer hinging? Ob sie sich mit jemandem traf? Er legte den Schlüssel auf das kleine Tischchen im Flur, streifte die Schuhe ab und hängte seine Jacke ausnahmsweise mal ordentlich auf einen Bügel, statt sie nur unten in die Garderobe zu schmeißen wie sonst.

Unschlüssig blieb er stehen und überlegte, ob er sich etwas zu essen machen sollte.

Später, entschied er und wollte schon nach oben gehen, um seine Tasche auszupacken, als er sah, dass die Tür zum Arbeitszimmer nur angelehnt war. Das war ungewöhnlich. Diese Tür wurde, seit er ein Kind gewesen war, immer fest verschlossen. Seit dem Tag, als er als sechsjähriger Stöpsel irgend so einen hässlichen Porzellanhund mit seinem Fußball gekillt hatte. Das Ding war umgekippt und in tausend Scherben zerbrochen. Sein Vater hatte geschimpft, seine Mutter hatte angefangen zu weinen, aber seine Tante war nur ganz still gewesen. Sie hatte einen Handfeger und Schaufel geholt und hatte die Überreste zusammengefegt und sie in die Mülltonne getan. Später hatte er erfahren, dass der Hund ein Geschenk ihres verstorbenen Mannes gewesen war. Er hatte es ihr kurz vor seinem Tod in einem Antiquitätengeschäft gekauft.

 

Als er jetzt die Tür aufschob, blickte er automatisch zu der Stelle, wo der Hund gesessen hatte. Das Ding war riesig gewesen, fast wie ein echter Hund, und eigentlich hatte er es als Kind toll gefunden. Er hatte sich immer vorgestellt, dass es sein Hund war. Nur Fußball spielen hatte das Ding halt nicht gekonnt. Vermutlich konnte man ihm deswegen keinen Vorwurf machen, aber im Nachhinein tat es ihm trotzdem leid. Ein Strich mehr auf einer langen Liste von Dingen, die er verbockt hatte. Aber hieß es nicht immer: „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“? Den Hund konnte er nicht wieder kitten, aber Nicks Leben. Das würde er wieder zusammenkriegen.

Er wollte sich schon umdrehen und das Zimmer verlassen, als etwas auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit erregte. In dem liebevollen Chaos, das hier drinnen herrschte mit all den Bücherregalen und dem Nippes, der jede erdenkliche Fläche bedeckte, hätte es ihm eigentlich nicht auffallen dürfen. Aber das, was dort lag, kannte er. Es war Nicks Arbeitsmappe. Die, die Javier bei seinem ersten Besuch heimlich vom Schrank geholt und die seine Tante zur Ansicht mit nach Hause genommen hatte. Das Ding lag jetzt dort auf dem Schreibtisch und Javier wollte schon hingehen und noch einmal hineinsehen, als er bemerkte, dass auf der Mappe noch eine zweite lag. Sie war kleiner, dunkelblau und im schwindenden Licht konnte er sehen, dass etwas darauf gedruckt war.

Er ging um den Schreibtisch herum und knippste die kleine Lampe an, die darauf stand. Die Aufschrift der Mappe glänzte silbern.

„Bewerbung“, las er halblaut und runzelte die Stirn. War das etwa …? Er begann zu grinsen. Einen ganz kurzen Augenblick regte sich sein schlechtes Gewissen, aber dann warf er seine Zweifel über Bord. Er hatte schon viel intimere Fotos von Nick gesehen, da konnte ein Blick in seine Bewerbungsunterlagen doch nicht schaden. Immer noch grinsend nahm er die Mappe und schlug sie auf. Als er sah, was sich darin befand, stockte sein Atem.

Auf dem Bild war nicht etwa Nick zu sehen, sondern eine junge Frau. Er erkannte auf den ersten Blick, dass es nicht Lisa war. Dazu war sie zu schlank und außerdem hatte sie kurze, dunkle Haare. „Bettina Anders“ war ihr Name, wie ihm der Lebenslauf neben dem Foto verriet, und sie bewarb sich auf die ausgeschriebene Verkäuferstelle im „El Corpiño“.

 

Der Raum schien sich plötzlich um ihn zu drehen. Was hatte das zu bedeuten? Warum … warum hatte seine Tante eine Bewerbung von irgendeiner Tussi hier liegen? Hatte sie etwa … hatte sie vor sie einzustellen? Womöglich an Nicks Stelle? Hatte sie wirklich so schnell nach Ersatz gesucht? Wie? Wann?

Sein Blick blieb am Computer seiner Tante hängen. Natürlich. Heutzutage ging ja alles schneller. Ein paar Klicks und schon hatte man eine Anzeige ins Internet gestellt. Er wusste, dass seine Tante da nicht so unbeleckt war wie andere in ihrem Alter. Er hatte das eigentlich immer cool gefunden, aber jetzt verfluchte er diesen Umstand. Und er verfluchte diese dämliche Bettina, die nichts Besseres zu tun hatte, als sich wie ein Aasgeier auf die Stelle zu stürzen.

Er überflog die Bewerbung. Sie war gut, eine nahezu perfekte Kandidatin. Zumal sie eine Frau war. Die Tatsache, dass Nick jetzt mit ihm zusammen war, würde seine Tante wohl kaum darüber hinwegtäuschen, dass er dem weiblichen Geschlecht trotzdem nicht so ganz abgeneigt war. Himmel, es täuschte ja nicht einmal Javier darüber hinweg. Er sah sich bereits im Konkurrenzkampf gegen pralle Monstermöpse und selbstschmierende Lustgrotten und fand den Gedanken auch nicht eben beruhigend. Aber das hier, das war einfach nur scheiße.

 

Er ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er den Bildschirm vom Schreibtisch geschubst und die Bewerbung in tausend Fetzen gerissen. Aber das würde Nick auch nicht helfen, sondern seine Tante im Gegenteil nur noch mehr von ihrem Beschluss überzeugen. Dann würde sie Javier nämlich gleich mit rausschmeißen und war mit einem Schlag alle ihre Probleme los. Nein, so konnte er nicht gewinnen. Er musste sich einen Plan zurechtlegen. Aber was für einen? Er war nicht gut in so was. Nick war jemand, der mit einem Plan durch sein Leben ging. Er … Nick!

„Scheiße“, fluchte Javier halblaut.

Nick saß jetzt zu Hause in seiner gemütlichen Wohnung und ahnte nichts von alldem. Und wenn er morgen ins „El Corpiño“ kam, um seinen Job zurückzukriegen, dann würde ihn wieder die volle Breitseite erwischen. Und Javier war sich nicht sicher, ob er das überstehen würde. Und ob das nicht sogar einen Bruch zwischen ihnen beiden zur Folge haben würde. Immerhin war Javier derjenige, der an diesem ganzen Bockmist Schuld war. Er musste das unbedingt verhindern.
 

Seine Finger glitten zu seinem Handy, aber er holte es nicht aus der Hosentasche. Das konnte er Nick nicht am Telefon erzählen. Er konnte ihn damit nicht alleine lassen. Vielleicht … vielleicht würden sie ja gemeinsam eine Lösung finden. Es gab immerhin noch mehr Jobs da draußen und Javier war gewillt, seinen Teil dazu beizutragen. Gemeinsam würden sie das schon irgendwie schaffen.

Kurzentschlossen verließ er das Arbeitszimmer, nachdem er alles wieder so hergerichtet hatte, wie es gewesen war, und sprang die Stufen zum ersten Stock empor. Oben angekommen riss er ein paar Sachen aus den Schubladen der Kommode im Gästezimmmer und rannte wieder hinunter, wo er alles in seine Reisetasche stopfte. Er warf einen Blick auf den Hausschlüssel und ließ ihn, wo er war. Ohne sich noch einmal umzusehen, schlüpfte er in seine Schuhe und zur Haustür hinaus, die er einfach hinter sich zuzog.

 

Am Ende des Regenbogens

Der Spiegel im Bad war beschlagen. Nick hob die Hand und wischte einen breiten Streifen frei, um wenigstens etwas erkennen zu können. Aus dem reflektierenden Glas blickten ihm seine Augen entgegen, die immer noch mittelblau waren. Darüber mittelbraune Haare, die jetzt unordentlich um den Kopf herum hingen. Wenn er sie weiter so tragen wollte, würde er wohl bald mal zum Friseur gehen müssen. Oder Tossenklemmen benutzen, wie Lisa immer die Haarspangen nannte, mit denen sie ihren Pony aus dem Gesicht hielt. Vielleicht rosafarbene mit Daisy Duck drauf. So was gab es doch bestimmt.

Er schüttelte den Kopf. Irgendwas war da oben heute anscheinend nicht ganz in Ordnung. Eigentlich war es das schon seit gestern Abend nicht mehr. Seit Javier plötzlich vor seiner Tür gestanden hatte, um ihm zu erzählen, dass er eine Bewerbung auf dem Schreibtisch seiner Tante gefunden hatte. Nick hatte versucht, seinen aufgebrachten Freund zu beruhigen, dass es dafür bestimmt eine Erklärung gab, aber Javier hatte darauf bestanden, dass seine Tante Nicks Stelle zur Neubesetzung ausgeschrieben hatte und dass er so dermaßen sauer darüber war, dass er heute Nacht unmöglich bei ihr im Haus schlafen könne. Nick hatte also zugestimmt, dass Javier blieb, auch wenn er nicht damit einverstanden gewesen war, dass dieser seine Tante einfach weggedrückt hatte, als sie später am Abend versucht hatte ihn anzurufen. Nick hatte fast erwartet, dass es kurz darauf bei ihm klingelte, aber vielleicht hatte Renata den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Oder sie hatte angenommen, dass Javier nicht bei ihm war. Obwohl er zugeben musste, dass es schon irgendwie seltsam gewesen war, ihn auf einmal nicht mehr um sich zu haben. Fast so, als würde etwas fehlen.
 

Nick atmete tief aus und bescherte dem Spiegel damit eine neue Dunstschicht. Mechanisch griff er nach dem Rasierer, doch als er ihn ansetzen wollte, entschied er sich plötzlich dagegen. Warum sich rasieren, wenn er eh arbeitslos werden würde? Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich auch noch seinen alten, grauen Hoodie angezogen, aber der war vermutlich bereits in tausend Streifen geschnitten irgendwo als Kissenfüllung verarbeitet worden. So musste ein graues Hemd reichen, das er sich aus dem Kleiderschrank holte, nachdem er das Badezimmer verlassen hatte. Javier beobachtete ihn vom Sofa aus, als er nur mit Shorts und Hemd bekleidet, zum wiederholten Male an ihm vorbei lief, um in der Küche zu prüfen, ob die Jeans schon trocken war, die er auf die Heizung gelegt hatte. Als er begann, sie anzuziehen, hob Javier erstaunt die Augenbrauen.

„Was ist denn jetzt los? Bist du unter die Rebellen gegangen?“

Nick sah auf und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln.

„Ja, vielleicht.“

„Oh, die Macht ist stark in diesem hier“, frotzelte Javier.

Nick richtete sich auf und hob mahnend seinen Zeigefinger „Du weißt doch, mit großer Macht kommt große Verantwortung. Also los, zieh dich an, wir müssen los. Du hast immerhin noch einen Job.“

„Praktikum“, korrigierte Javier ihn. „Und ich wusste, ich hätte dir Spider-Man gestern Abend nicht mehr zeigen sollen. Jetzt hast du voll den Moralkomplex und willst bestimmt die Welt retten. Aber erwarte nicht, dass ich dir die MJ mache.“

Javier wollte an ihm vorbeigehen, doch Nick streckte schnell den Arm aus und fing ihn ein. „Und wer bist du dann? Der grüne Kobold?“

Javier legte die Stirn in Falten. „Mhm, keine Ahnung. Ich glaube, ich wäre kein so guter Superheld. Eventuell gehe ich noch als Rocket durch. Oder Deadpool. Das könnte vielleicht auch funktionieren. Meinst du, der wäre was für Spidey?“

Nick zuckte nur hilflos mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“

„Viel zu lernen du noch hast“, verkündete Javier mit Grabesstimme und Nick musste gegen seinen Willen lachen. Es tat gut so herumzualbern, obwohl da dieses kleine Männlein in seinem Kopf war, das vehement zu wissen verlangte, was er tun würde, wenn Renata ihm heute tatsächlich endgültig kündigte. Er würde zumindest kurzfristig Geldprobleme bekommen und sich eine neue Stelle suchen müssen. Vermutlich sogar eine neue Wohnung in einer anderen Stadt, denn er konnte sich einfach nicht vorstellen, hier im Ort zu bleiben und vielleicht tagtäglich auf seinem Arbeitsweg am „El Corpiño“ vorbeizulaufen. Dazu war die Stadt einfach zu klein. Und was würde mit Javier werden? Er wollte nicht, dass der sich deswegen mit seiner Familie überwarf, obwohl er gestern Abend vehement verkündet hatte, dass ihm das egal war und er zu ihm halten würde. Wenn es denn tatsächlich zu dieser Kündigung kam, wollte Nick das zivilisiert über die Bühne bringen. Vielleicht konnte er Renata auf diese Weise auch um einen Aufhebungsvertrag anstelle der Kündigung bitten und um ein entsprechendes Arbeitszeugnis. Das würde ihm zwar nicht mehr Geld vom Arbeitsamt einbringen, aber immerhin eine bessere Chance bei einer neuen Bewerbung. Was die Begründung der einvernehmlichen Kündigung anging, war er sich allerdings noch im Unklaren. Dazu reichte seine Gehirnkapazität heute Morgen nicht aus.

„Bist du fertig?“ Javier stand bereits an der Tür und sah ihn abwartend an. Stand er jetzt tatsächlich schon die ganze Zeit brütend hier in seinem Wohnzimmer herum? Er seufzte.

„Ja, ich komme.“
 

Sie legten den Weg schweigend zurück. Nicks innere Stimme murmelte immer noch leise vor sich hin und auch Javier schien irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Welchen, das konnte Nick nur raten. Als sie an einer Werbetafel vorbeikamen, schnaubte Javier. Nick sah ihn fragend an, aber Javier schüttelte nur den Kopf.

„Nicht so wichtig. Erklär ich dir später.“

Nick beließ es dabei, denn als sie um die nächste Ecke bogen, kam das das „El Corpiño“ in Sicht. Im Inneren brannte bereits Licht und Nick merkte, wie sich langsam Nervosität in ihm breitmachte. Plötzlich wünschte er, dass er sich doch rasiert und etwas anderes angezogen hätte. Aber jetzt war es zu spät, um noch umzukehren. Er würde das durchziehen müssen. Und vielleicht hatte er ja Glück. Vielleicht gab es ja doch noch irgendeine wunderbare Erklärung für diese Bewerberin. Vielleicht. Hoffentlich.
 

Die Ladenglocke klingelte, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Nick sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Er trat ein und ließ Javier vorbei, bevor er die Tür wieder schloss. Als er sich umdrehte, erschien Lisa im Durchgang zur Küche.

„Nick!“ Ihre Stimme schwankte zwischen Unglauben und nur schwer verborgener Freude.

„Aber was … ich hatte ja keine Ahnung! Was machst du hier? Ich wollte dich immer mal anrufen, aber es war so viel los und die Sache mit deiner Kündigung ... Ich kann das alles noch gar nicht so richtig glauben.“

„Ich eigentlich auch nicht“, erwiderte Nick und ließ sich von Lisa in eine Umarmung ziehen. Sie waren eigentlich nicht besonders eng befreundet, aber immerhin hatten sie schon so Einiges zusammen erlebt und es tat gut, sie wiederzusehen.

„Ich habe gehört, dass du krank warst.“

Als er das sagte, lief Lisa plötzlich knallrot an. „Ja also das … Krank ist vielleicht nicht so ganz das richtige Wort.“

„Ich dachte, du hast dich übergeben“, mischte Javier sich ein. „Das hat meine Tante jedenfalls gesagt.“

Lisa wurde, obwohl das eigentlich nicht möglich war, noch eine Schattierung dunkler und dann nestelte sie plötzlich an ihrer Rocktasche herum. Im nächsten Augenblick hielt sie Nick ein Stück Papier unter die Nase. Es sah ein wenig aus wie eine Fotografie, eines dieser Polaroids, die früher mal Mode waren. Auf dem Bild war ein großer, dunkler Fleck inmitten von weißem Schnee und darin ein kleiner, heller Punkt zu sehen. Er runzelte die Stirn.

„Was ist das?“

„Das ist ein Ultraschallbild“, erklärte Javier und drängte sich nach vorn. „Im Ernst jetzt? Du bist schwanger?“

„Ja!“, jubelte Lisa und hüpfte dabei wie ein Flummi auf und ab. „Ich hab erst gedacht, ich hätte was Falsches gegessen. Dann Magen-Darm. Aber als mir am dritten Tag wieder nur morgens schlecht war, hab ich mir einen Test gekauft. Es stimmt tatsächlich, ich bekomme ein Baby! 8. Woche jetzt. Ich kann es immer noch nicht fassen.“

„Aber wann … wie?“ Nicks Gehirn hatte anscheinend gerade beschlossen, eine Auszeit zu nehmen.

Lisa grinste breit. „Muss ich dir jetzt wirklich erklären, wo die Babys herkommen? Hast du in Bio etwa nicht aufgepasst?“

„Er hatte das sogar als Leistungskurs“, warf Javier wenig hilfreich ein. Im Gegensatz zu Nick grinste er von einem Ohr zum anderen. Als er sah, dass Nick immer noch in Schockstarre war, boxte er ihm leicht in die Seite.

„Ey, freu dich mal. Die Frau erwartet ein Kind. Du hast es meiner Tante doch schon gesagt, oder?“

„Ja, ich konnte einfach nicht warten. Jetzt wo Nick nicht da ist und ich nicht weiß, wie die Schwangerschaft verläuft, da wollte ich so fair sein und Renata rechtzeitig Bescheid geben, auch wenn man ja eigentlich die ersten drei Monate abwartet.“

Sie hatte Nick bei der Erklärung schuldbewusst angesehen, aber Javiers Grinsen wurde noch eine Stufe breiter. Irgendetwas ging hier vor, das Nick nicht zu begreifen schien. Warum freute sich Javier so darüber, dass Lisa schwanger war? Das setzte Renata zwar unter Druck, für Ersatz zu sorgen, aber … Er hätte sich fast mit der flachen Hand vor die Stirn geschlagen. Natürlich. Die ausgeschriebene Stelle war nicht seine, sondern Lisas! Renata war auf der Suche nach einer Schwangerschaftsvertretung. Und das hieß dann ja … er würde seinen Job wiederbekommen!

Nick sah Javier an und dessen Augen funkelten zurück.

„Endlich geschnallt?“

Nick lachte auf. „Kann ja nicht jeder so eine Intelligenzbestie sein wie du.“

„Und ich dachte, du liebst mich wegen meines schönen Körpers."

„Das sowieso.“

Lisa sah ein wenig irritiert zwischen ihnen hin und her. „Ähm, habe ich hier was verpasst? Ihr beide wart doch immer wie Hund und Katz und jetzt?“

Javier grinste breit. „Jetzt schläft die Katze im Hundekörbchen.“

Er drückte Nick einen Kuss auf den Mund und zog ihn anschließend in Richtung Büro. „Komm, Cariño! Wir müssen zu Tante Nata, damit sie dich wieder einstellt.“
 

Nick warf Lisa noch einen entschuldigenden Blick zu, die ihnen mit großen Augen hinterherstarrte.

„Ich erzähle dir das alles später“, rief er noch, bevor er sich umdrehen musste, um nicht die Stufen hoch zu stolpern. Er vergaß völlig anzuklopfen und stand plötzlich vor Renatas Schreibtisch. Sie musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Oh, äh, guten Morgen. Ich bin … ich bin einfach reingekommen. Entschuldigung.“

Renatas Mundwinkel zuckten ein winziges Stück, bevor sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch wies.

„Bitte setz dich und du, Javier“, sie fasste ihren Neffen scharf ins Auge, „du schuldest mir wohl eine Erklärung. Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst heute Nacht nicht zu Hause. Und deinen Schlüssel hast du auch vergessen.“

„Ich habe bei Nick geschlafen. Ich … ich war gestern in deinem Arbeitszimmer und als ich die Bewerbung auf deinem Schreibtisch gesehen habe, da habe ich ...“

„Die vollkommen falschen Schlüsse gezogen.“ Renata schüttelte den Kopf und seufzte. „Das dachte ich mir schon. Ich bin zwar eine alte Frau, aber blind bin ich nicht. Ich sehe, wenn jemand an meinen Sachen war. Dazu hattest du kein Recht. Diese Informationen sind vertraulich.“

„Ja, tut mir leid, Tante.“ Javier senkte den Kopf. „Ich bin da wohl etwas voreilig gewesen.“

„Wäre ja nichts Neues“, brummte Renata und deutete auf einen Stuhl, der in einer Ecke des Büros unter einem Berg Aktenordner verschwand. „Nimm dir den und setz dich! Da du ja vermutlich ohnehin nicht draußen warten wirst, kannst du wenigstens aufhören, hier wie ein aufgescheuchtes Huhn hin- und herzurennen. Ich glaube, ich habe selten jemand erlebt, der so viele Hummeln im Hintern hat wie du.“

Javier wackelte einmal mit besagtem Hinterteil, was Nick leicht erröten ließ, holte dann aber gehorsam den Stuhl und stellte ihn direkt neben Nicks, bevor er sich darauf fallen ließ.

„Also, wir hören.“

Renata atmete noch einmal durch und verkniff sich offensichtlich eine Bemerkung. Stattdessen wandte sie sich an Nick.

„Ich habe mir den Beschluss, den ich dir heute mitteilen will, wirklich nicht leicht gemacht. Es kamen viele, verschiedene Faktoren zusammen, die ich berücksichtigen musste. Wie du sicherlich bereits weißt, erwartet Lisa ein Baby. Ich sah mich also zusätzlich zu deinem Problem mit der Aufgabe betraut, in absehbarer Zeit jemand Neuen einzustellen, der sie wenigstens temporär ersetzt. All das hat mir meine Entscheidung nicht einfacher gemacht. Aber, Nick, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich dir deinen alten Job nicht wiedergeben kann.“

„WAS?“

Noch bevor Nick reagieren konnte, war Javier bereits aufgesprungen und hatte angefangen, in wüstem Spanisch auf seine Tante einzuschimpfen. Sie versuchte zwar, ihn zu unterbrechen, aber Javier wollte nicht hören. Erst als Nick ihm die Hand auf den Arm legte, hörte er auf zu fluchen.

„Bitte setz dich wieder.“

Nick sprach ganz ruhig, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Doch statt wie Javier auszubrechen wie ein sprichwörtlicher Vulkan, hatte Nick das Gefühl, innerlich zu Eis zu gefrieren. Es war doch alles umsonst gewesen. Die ganze Wartezeit, die Hoffnung, all das ging gerade den eiskalten Bach hinunter, der durch Nick hindurch floss und ihm das Atmen schwermachte. Einzig die Tatsache, dass Renata ihn immer noch mit diesem warmen, mütterlichen Gesichtsausdruck ansah, verhinderte, dass er ganz erstarrte.

„Warum nicht?“ fragte er und war erstaunt, wie wenig seine Stimme zitterte. Neben ihm fasste Javier nach seiner Hand. Seine Finger waren warm und Nick war froh darüber, dass er da war.

„Weil du hier nicht glücklich werden würdest.“ Renata hatte die Hand ausgestreckt und etwas zu sich herangezogen, das Nick sofort wieder erkannte. Es war die Mappe mit seinen Bildern.

„Weißt du, Nick, ich habe immer schon gewusst, dass in dir etwas Besonderes steckt. Aber um das zu erklären, muss ich vielleicht etwas weiter ausholen. Wenn du erlaubst?“

Er nickte und versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen, obwohl sein Herz bis zum Hals klopfte.
 

Renata schloss kurz die Augen, bevor sie mit fester Stimme zu erzählen begann.

„Als mein Mann damals starb, stand ich von einem Tag auf den anderen allein da. Alles was ich gekannt hatte, wofür ich gelebt hatte, war plötzlich fort. Es war eine furchtbare Zeit, von der ich mich teilweise heute noch frage, wie ich sie überhaupt überstehen konnte. Aber nach einer Weile wurde mir klar, dass ich nicht weiter einfach nur dasitzen und traurig sein konnte. Das Leben ging weiter und es gab noch andere Menschen, die mir wichtig waren. Meine Schwester und ihre Familie, meine Eltern, sie alle hatten mir in dieser schweren Zeit hilfreich zur Seite gestanden und ich wusste, dass sie sich auf mich verließen.

Denn weißt du, mein Ehemann war nicht nur der Mann in meinem Leben. Er war auch derjenige, von dem die finanzielle Zukunft unserer Familie abgehangen hatte. Als Buchhalter hatte er sich um alle Geld-Belange der Familie gekümmert. Meine Eltern hatten nicht viel gespart und er hatte sich um ihre Absicherung im Alter gekümmert. Eine Absicherung, die zu einem großen Teil davon abhing, dass wir, ich und mein Mann, sie finanziell unterstützten. Meine Schwester und ihr Mann wären dazu nicht in der Lage gewesen. Ich weiß nicht, wie viel dir Javier erzählt hat, aber sie schwimmen nicht gerade im Luxus und dadurch, dass Maria gesundheitlich selbst so angeschlagen ist, wusste ich, dass nach dem Tod meines Mannes alles in meiner Hand lag. Ich hätte mich wahrscheinlich mit dem Geld, das mein Mann mir hinterlassen hatte, für den Rest meiner Tage zur Ruhe setzen können, aber mir war klar, dass das nicht reichen würde, um auch meine Familie durchzubringen.

Also traf ich damals die Entscheidung, mich mit diesem Geschäft hier selbstständig zu machen. Es war ein gewagter Schritt, aber ich wusste, dass ich, wenn ich diese Verantwortung schon übernahm, auch an mich denken musste. Ich hatte keine abgeschlossene Ausbildung und konnte nur die Berufserfahrung vorweisen, die ich als Angestellte im Büro meines Mannes gesammelt hatte. Mit einem einfachen Aushilfsjob hätte ich von morgens bis abends schuften müssen, nur um dann selbst irgendwann im Alter kurz vor der Armutsgrenze zu stehen. Aufgezehrt und verbraucht von einer Aufgabe, die mich nicht glücklich machte, hätte ich irgendwo in einer kleinen Wohnung den Rest meiner Zeit verbracht und dazu war ich nicht bereit. Ich war noch jung, ich wollte etwas aus meinem Leben machen. Also baute ich mir diesen Laden auf und ich denke, wir sind uns einig darüber, dass ich ziemlich erfolgreich damit war.“
 

An dieser Stelle nickte Nick. Er hatte der Erzählung aufmerksam zugehört und auch Javier schien an den Lippen seiner Tante zu hängen, obwohl er einen guten Teil der Geschichte ja schon kennen musste. Es sah jedoch aus, als hörte er das alles zum ersten Mal.

Renata machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Kaffee. Als sie weitersprach, ruhten ihre Augen auf Nick.

„Irgendwann stellte ich fest, dass ich das Geschäft nicht mehr alleine betreiben konnte. Lisa vergrößerte das Team. Doch der Kundenkreis wuchs weiter, und mir wurde klar, dass ich noch eine zweite Kraft brauchte. Daher gab ich eine Annonce auf. Ich erhielt einige Bewerbungen, von denen jedoch nur zwei in Frage kamen. Die eine war deine und die andere stammte von einer jungen Mutter, die gerade von ihrem Mann verlassen worden war und jetzt eine Arbeitsstelle suchte, um sich und ihren kleinen Sohn zu ernähren. Du kannst dir mein Dilemma sicherlich vorstellen?“

Nick wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte keinen Schimmer davon gehabt. Renata wartete kurz, ob er antworten würde, dann fuhr sie fort.

„Wie du weißt, hat es damals eine ganze Weile gedauert, bis ich mich entschieden hatte.“

Jetzt nickte Nick wieder. Er hatte die Stelle damals eigentlich schon abgeschrieben, als dann doch noch die Zusage kam.

„Es war wirklich nicht einfach, einen Bewerber auszuwählen. Auf der einen Seite du, der perfekte Kandidat aus unternehmerischer Sicht. Immerhin hatte ich bereits eine junge Frau, die plante, in nächster Zeit Kinder zu bekommen. Dazu eine weitere Frau einzustellen, die bereits ein noch sehr kleines Kind hatte und dadurch ein Risiko bezüglich ihrer Arbeitskraft darstellte, das kann für ein kleines Geschäft wie dieses den Tod bedeuten. Wir sind auf den Service angewiesen. Er ist es, der uns von den großen Ketten und der zunehmenden Konkurrenz aus dem Internet abgrenzt. Nur so kann sich das Geschäft halten und damit auch die Absicherung meiner Familie gewährleisten. Es war also wirklich eine wichtige Sache, wen ich einstellte.

Aus menschlicher Sicht schien es mir besser, die Bewerbung der jungen Mutter anzunehmen und sie damit zu unterstützen. Ich wusste, was es heißt, als Frau auf einmal allein dazustehen. Noch dazu mit einem Kind an der Seite, auch wenn mir dieses Glück verwehrt wurde. Ich sah es als meine soziale Pflicht an, sie einzustellen, selbst wenn ich damit das 'El Corpiño' kurzfristig einem Risiko aussetzte. Also lud ich dich zu einem Bewerbungsgespräch ein und ich hoffte so sehr dabei einen Grund zu finden, um dich nicht einstellen zu müssen. Allein die Tatsache, dass du ein Mann warst, schien mir schon fast Berechtigung genug. Was sollten meine Kundinnen denn davon halten, wenn ihnen auf einmal ein Mann BHs verkaufte? Es fehlte nur noch ein winziges Zünglein an der Waage, um dich abzulehnen und das moralisch Richtige tun zu können. Aber dann kamst du und du warst wunderbar. Und schwul, wie ich damals dachte. Auf einmal hattest auch du ein moralisches Anrecht auf diesen Nischenplatz, den ich zu vergeben hatte. Schließlich wusste ich von Javier, wie schwer es ein junger Mann mit diesen Anlagen haben kann. Ich machte mir die Entscheidung trotzdem nicht leicht, aber irgendwann sah ich ein, dass mich die menschliche Seite hier nicht weiter bringen würde. Also ließ ich die Geschäftsfrau in mir entscheiden und ich wählte dich, während ich Bettina Anders eine Absage schickte.“

„Aber das ist doch ...“ Javier hatte sich plötzlich aufgesetzt. „Das ist doch der Name, den ich gestern in der Bewerbung gesehen habe.“

Renata lächelte nachsichtig. „Ja, das ist er. Und wenn du einmal richtig hingesehen hättest, hättest du vielleicht auch gemerkt, dass die Bewerbung schon mehr als ein Jahr alt ist. Ich wollte sie damals zurücksenden, aber als ich es endlich tat, kehrte der Umschlag mit dem Vermerk 'Empfänger unbekannt verzogen' zu mir zurück. Ich habe die Bewerbung aufgehoben, weil es mir nicht richtig erschien, all die Hoffnungen dieser jungen Frau einfach so in den Papierkorb zu werfen. Und als ich hörte, dass Nick immer noch diese Mappe hat, wusste ich, dass es bei ihm ebenso war. Er mochte sich vielleicht äußerlich von seinen Träumen verabschiedet haben, aber tief in seinem Inneren erahnte ich noch dieses Feuer, diese Leidenschaft, die er einst empfunden hatte und die sich jetzt immer noch in seinen Schaufenstern wiederfindet.“

Sie sah jetzt wieder Nick an. „Nick, du bist ein wunderbarer Verkäufer. Fleißig, zuverlässig, freundlich und immer professionell. Ich weiß, dass du deine Arbeit hier immer gern gemacht hast. Aber eigentlich bist du ein Künstler. Das steckt dir einfach im Blut. Ich will nicht, dass du irgendwann auf dein Leben zurückblickst und dich mit der Frage herumplagst, was hätte sein können. Daher habe ich deine Mappe am Wochenende einem Bekannten vorgelegt. Er arbeitet an der Hochschule für Bildende Künste und hat mir bestätigt, dass es dir ohne Weiteres möglich wäre, dein Studium wieder aufzunehmen. Allerdings müsstest du noch bis zum nächsten Wintersemester warten, bis du anfängst, da die Hochschule nur zu diesem Zeitpunkt neue Studenten aufnimmt. Ich biete dir daher bis zum nächsten Herbst einen befristeten Vertrag an. Du würdest mit dem gleichen Gehalt wie vorher noch bis zum nächsten Sommer hier arbeiten. Danach würde ich dich freistellen, damit du keine Lücke in deinem Lebenslauf hast und dich trotzdem auf dein Studium vorbereiten kannst. Wenn du das möchtest.“
 

Nick war nicht in der Lage zu reagieren. Er sollte … wieder studieren? Wieder Kunst erschaffen? Er schluckte. Der Gedanke machte ihm Angst und gleichzeitig ließ er ein leises Prickeln in seinem Nacken entstehen. Er blickte zu Javier hinüber, der ihn mit leuchtenden Augen ansah. Als er Nicks Blick bemerkte, lachte er.

„Mensch, guck mich nicht so an. Das musst du wissen. Aber ich würde sagen, du schaffst das. Auf jeden Fall.“

Nick sah zu Renata. „Ich … ich bin gerade ein wenig überfordert. Ich würde mir gerne ein wenig Bedenkzeit ausbitten. Wenn das okay ist?“

Sie nickte. „Das ist vollkommen in Ordnung. Allerdings würde ich dich bitten, dich bis zum Ende der Woche zu entscheiden. Wie du ja weißt, werde ich ab dem Sommer nicht nur eine, sondern gleich zwei Stellen zu besetzen haben. Ein unternehmerischer Alptraum. Ich würde auch ganz gerne wissen, woran ich bin.“

„Das verstehe ich.“
 

Nick stand auf, obwohl er sich im ersten Moment nicht sicher war, ob ihn seine Beine tragen würden. Das Wechselbad der Gefühle, dass er gerade hatte durchlaufen müssen, hatte nach der nicht unbedingt ruhigen Nacht doch sehr an seinen Nerven gezerrt. Jetzt schien sich vor seinen Füßen, einem plötzlich entstandenen Regenbogen gleich, eine Brücke aufzutun, die ihn dazu einlud, ihn in eine unbekannte Zukunft zu entführen. Ihr Anfang sah sicher und fest aus, aber er konnte nur erahnen, wie steil der Anstieg später noch werden würde. Es gab keine Garantie, dass die Brücke nicht irgendwann im Nichts enden und er dann vor einem Abgrund stehen würde. Alternativ konnte er den geraden und eintönigen Weg am Boden wählen, der ihn sicher und vermutlich relativ unbeschadet durch sein Leben tragen würde. Aber da war dieses leise Gefühl. Eine flüsternde Stimme, die ihm zuraunte, dass er sich tatsächlich wohl immer fragen würde, wie es gewesen wäre, wenn er den Aufstieg gewagt hätte. Wenn er versucht hätte, sich in die schwindelerregenden Höhen zu erheben und zu fliegen, statt immer nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Weite und die Freiheit zu genießen und der Welt zu zeigen, was wirklich in ihm steckte, auch wenn er sich damit der Gefahr aussetzte, dass sie ihn ablehnte. Der Gedanke ließ ihn schwindeln.

„Hey!“ Javier griff plötzlich nach seiner Hand. „Ist alles okay?“

Nick holte von irgendwo her ein Lächeln hervor. „Ja,es ist nur … etwas viel gerade.“

Javier lächelte und wandte sich an seine Tante. „Krieg ich auch frei? Ich meine, guck dir Nick doch mal an. Wenn wir den jetzt so rausgehen lassen, läuft der uns noch vor einen Bus. Das willst du doch nicht riskieren, oder?“

Renata öffnete den Mund und entließ einen Laut der Verblüffung. „Nun schau sich einer diesen Rotzlöffel an. Da steht sein Freund, von dem er mir gerade noch voller Inbrunst beteuert hat, dass er ihn von ganzem Herzen lieben würde, vor der wichtigsten Entscheidung seines jungen Lebens und er will das gleich wieder zu seinem Vorteil nutzen. Das ist doch wirklich unerhört.“

„Tante!“ Javier war bei Renatas Worten erst blass und dann rot geworden. Er sah Nick mit großen, runden Augen an. „Also das … das hat sie nicht so gemeint. Das habe ich gar nicht gesagt.“

Renata lachte. „Oh doch, das hat er. Mich wundert, dass er nicht 'como la trucha al trucho' verwendet hat. Das hätte dem Ganzen noch den entsprechenden Pathos und Schmalz verliehen.“

Nick blickte Javier an, der inzwischen aussah, als hätte er anstatt eines Kopfes eine Tomate und wäre auf der Suche nach dem nächsten Mauseloch. Nick hatte plötzlich das Gefühl, ihn in die Arme nehmen zu müssen, um ihn nie wieder loszulassen. Er konnte sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass das Javier in diesem Moment so gar nicht recht gewesen wäre. Also wandte er sich stattdessen an Renata.

„Darf ich ihn mitnehmen? Als moralische Unterstützung?“

Renata sah Nick an und auf ihrem Gesicht lag plötzlich wieder dieser Ausdruck, den er auch manchmal bei seiner Mutter beobachtet hatte. Er musste kurz daran denken, dass es wirklich schade war, dass Renata nie eigene Kinder gehabt hatte.

„Na haut schon ab. Aber morgen will ich ihn hier wieder pünktlich auf der Matte stehen haben. Das 'El Corpiño' kann schließlich nicht wie ihr von Luft und Liebe leben.“
 

Javier wirkte ebenso erleichtert, wie Nick sich fühlte, als sie das Büro hintereinander verließen. Sie verabschiedeten sich von Lisa und wünschten ihr noch einmal alles Gute für die Schwangerschaft, bevor sie sich schließlich vor dem Laden wiederfanden. Nick stellte fest, dass im Schaufenster immer noch seine Halloween Dekoration stand und befand, dass es langsam Zeit wurde, sie zu ersetzen. Vielleicht sogar schon durch etwas, das mit Schnee oder Weihnachten zu tun hatte.

Er sah zu Javier, der die Arme um sich geschlungen hatte und in der feuchtkalten Novemberluft sichtbar fröstelte.

„Was machen wir jetzt?“, wollte er wissen, offenbar nicht bereit, noch auf das Gesprächsthema von gerade eben einzugehen. Nick war das Recht, denn in seinem Kopf wirbelte es auch gerade ziemlich durcheinander. Aber etwas wusste er ganz sicher.

„Jetzt kaufen wir dir erst mal eine neue Jacke. Eine ordentliche, in der du nicht wie der sprichwörtliche Schneider frierst.“

Javier sah ihn an wie eine Eule. „Dein Ernst? Du hast frei und willst shoppen gehen?“

„Warum nicht? Wir haben immerhin den ganzen Tag Zeit und wo ich dich schon mal unter meiner Fuchtel habe.“

Javier knurrte etwas Unfreundliches, setzte sich aber gehorsam in Richtung Ladenstraße in Bewegung. An der Ecke zog Nick ihn jedoch in Richtung Bahnhof.

„Komm, wir fahren in die Stadt. Da ist die Auswahl besser.“

Außerdem dauerte es länger, bis sie dort ankamen, denn Nick hatte irgendwie keine Lust, schon wieder in seine Wohnung zurückzukehren, die ihm auf einmal viel zu klein vorkam. Er wollte sich heute den Wind um die Nase wehen lassen, vielleicht eine Runde am Hafen spazieren gehen. Dafür musste er Javier vorher aber entsprechend einkleiden.
 

Sie mussten nicht lange warten, bis ein Zug kam, der sie direkt bis in die Stadt bringen würde. Nick ließ sich auf dem Sitz gegenüber von Javier nieder und betrachtete ihn.

Sein Freund sah aus dem Fenster, offenbar bemüht, nicht in seine Richtung zu blicken. Nick stellte wieder einmal fest, dass er ihn tatsächlich gerne ansah. Es war nicht gelogen, als er ihm gestern gesagt hatte, dass er ihn schön fand. Das schmale Gesicht mit den glänzenden, braunen Augen, den langen Wimpern, dem immer leicht trotzig gereckten Kinn und dem fein geschwungenen Mund mit den vollen Lippen, die so wunderbar küssen konnten. Plötzlich wünschte er sich ein Blatt Papier und einen Stift, um ihn zeichnen zu können, wie er dort am Fenster saß, den Fuß auf die Kante der Abteilwand gestützt, die Hand am Mund und den Blick aus dem Fenster gerichtet, als lägen irgendwo da draußen seine großen Träume verborgen. Nur die Haare, die würde er dunkel zeichnen. Es erschien ihm irgendwie passender.

Javier hob den Kopf und sah ihn fragend an. „Was ist? Hab ich was im Gesicht?“

Nick lächelte leicht. „Nein, ich habe nur gerade überlegt, ob ich nicht mal zum Friseur gehen sollte. Die Matte da oben wird langsam ganz schön lang.“

Er zupfte vielsagend an einer Ponyfranse herum, die ihm immer wieder in die Augen fiel.

Javier grinste schief. „Also mir gefällt's. Jetzt noch ein Drei-Tage-Bart und ich kann so tun, als hätte ich eine Berühmtheit zum Freund.“

Nick strich sich über das Kinn. Es kratzte ein bisschen. „Wenn du mich dann noch küsst, kann ich es ja mal ausprobieren.“

„Logisch. Das kann sich sogar echt interessant anfühlen.“

Er wackelte mit den Augenbrauen und Nick verzichtete darauf, ihn wegen der Anzüglichkeit zu rüffeln. Dazu fühlte es sich einfach zu gut an.

„Also gut, dann ein Bart. Wer weiß, vielleicht kann ich ihn brauchen. Als Student hat man ja bekanntlich nicht so viel Geld. Da muss man jede Wärmequelle nutzen, die sich finden lässt.“

Javier setzte den Fuß nach unten und drehte sich komplett zu ihm herum.

„Das heißt, du machst es?“, fragte er aufgeregt.

Nick zuckte leicht mit den Schultern. „Ja, ich denke schon. Ich habe zwar eine Heidenangst davor, aber ich glaube, es wäre das Richtige.“

„Cool!“ Javier strahlte ihn an und Nick wünschte sich plötzlich, dass sie allein wären und nicht irgendwo in einem halbvollen Zugabteil säßen mit Pendlern und den drei älteren Damen, die sich im Hintergrund lautstark über die zu geringen Renten beklagten. Er stand auf, setzte sich neben Javier und ergriff seine Hand.

„Sag mal, erklärst du mir eigentlich noch die Sache mit den Forellen? Irgendwas habe ich da, glaube ich, nicht so ganz verstanden.“

Javier schluckte und es flog erneut ein Schatten von Röte über sein Gesicht.

„Das … das ist so ein geflügeltes Wort in Spanien. Es geht auf eine Geschichte zurück, in der ein Forellenweibchen ihr Leben riskiert, um ihr Männchen zu retten. Daher sagt man auch 'Ich liebe dich wie die Forelle den Forellerich'.“

Nick gluckste. „Forellerich? Ich bin mir nicht sicher, ob es das Wort im Deutschen überhaupt gibt.“

Javiers Mundwinkel zuckten. „Im Spanischen gibt es das auch nicht. Forelle ist eigentlich immer weiblich. Das hat einfach mal irgendwann jemand erfunden.“

Nick spürte, wie es in seinem Bauch warm wurde. Und er wusste plötzlich, dass er, obwohl es noch viel zu früh für so was war, tatsächlich Javiers Forellerich sein wollte. Ein schillernder Regenbogenforellerich, sodass sie zusammen gegen den Strom schwimmen konnten, egal wie lange es dauern würde, bis sie die Quelle erreichten.

„Javier“, sagte er und drehte sich dabei zu seinem Freund herum, damit dieser auch mitbekam, was hier gerade passierte. „Ich … ich möchte dir etwas sagen. Und zwar ... Ich liebe dich.“

Zuerst dachte er, dass Javier einfach in Ohnmacht gefallen war und nur vergessen hatte umzukippen. Er sah ihn zwar immer noch an, aber in seinem Gesicht regte sich kein Muskel, er blinzelte nicht und Nick war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch atmete.

„H-hab ich was Falsches gesagt?“, stotterte Nick, als es plötzlich dunkel um sie herum wurde und der Zug in den Bahnhof einfuhr. Die Lautsprecherdurchsage forderte alle Fahrgäste auf, die Waggons zügig zu verlassen, da dies die Endstation war und der Zug in wenigen Minuten wieder zurückfahren würde.

„Wir müssen aussteigen“, sagte Javier plötzlich. Er wirkte irgendwie blass um die Nase und Nick konnte nicht anders, als ein wenig enttäuscht zu sein. Nach dem Geständnis, das er gerade abgelegt hatte, hatte er eigentlich gehofft …
 

Ein wenig konfus und mit einem Stein im Magen drehte er sich um und stieg aus dem Zug, Javier auf den Fersen. Er sah sich nicht um und kämpfte sich durch die Menschenmassen, die den Bahnsteig bevölkerten, ein jeder auf dem Weg in eine eigene Richtung, eine eigene Zukunft. Und er, er hatte gehofft, dass er und Javier … dass sie …

Er stoppte abrupt, als ihn eine Hand festhielt und zu sich herumdrehte.

„Nick, warte doch mal. Ich … Es tut mir leid. Das kam gerade so plötzlich. Ich hatte irgendwie nicht damit gerechnet und der Zug und alles …" Javier stockte und blickte Nick aus großen, braunen Augen an. „Ich möchte … ich möchte dir auch etwas sagen, aber ich … ich traue mich nicht so recht.“

Nick fühlte, wie sich die Schmetterlinge in seinem Bauch wieder zu regen begannen und ganz leicht mit den Flügeln schlugen. Er zog Javier an sich und legte die Arme um ihn. „Wenn du möchtest, kannst du es ja mal auf Spanisch probieren. Da gibt es doch bestimmt noch mehr Tiere, die du dafür bemühen kannst als Pferde und Forellen.“

Javier überlegte für einen Augenblick, dann lachte er leise. „Da wäre tatsächlich etwas.“

Er drückte den Rücken durch, hob den Kopf, sah Nick tief in die Augen und verkündete feierlich: „Quisiera ser gato, para pasar sietr vidas a tu lado.“

Nick hob fragend die Augenbrauen. „Und das heißt?“

„Ich wäre gerne eine Katze, damit ich sieben Leben an deiner Seite verbringen kann.“

„Im Ernst?“ Nick musste ein bisschen schmunzeln. Er zog Javier noch ein bisschen näher. „Ich würde das auch gerne.“

Javier atmete tief durch. „Nick?“

„Ja?“

Te amo.“

Die Schmetterlinge flogen auf und zogen breite Regenbogenbahnen durch die gläserne Kuppelhalle des Bahnhofs, als würden sie sie mit tausend bunten Lichtern erfüllen. Es war fast wie in diesem Rapunzelfilm von Disney nur besser, weil es echt war und nicht gezeichnet. Und es fühlte sich wunderbar an.

„Ich dich auch“, flüsterte Nick noch einmal, bevor er Javier in einen Kuss zog und ihn in den nächsten fünf Minuten auch nicht mehr losließ, bis ihn irgendwann ein Gepäckwagen unsanft am Knöchel streifte. Der Mann, dem der Wagen gehörte, murmelte irgendwas und eilte dann weiter. Nick verzog schmerzerfüllt das Gesicht und massierte das malträtierte Körperteil. Javier sah dem Mann nach und schickte ihm einen saftigen, spanischen Fluch hinterher, von dem Nick annahm, dass ihm, wenn er ihn verstanden hätte, vermutlich ziemlich die Ohren geschlackert hätten. Er grinste, als sie anfingen, langsam in Richtung Ausgang zu gehen.

„Weißt du was, ich wünsche mir zwei Sachen von dir zu Weihnachten.“

Javier, der immer noch die Stirn kraus gezogen hatte, ließ seine Augenbrauen nach oben schnellen.

„Gleich zwei Sachen? Na du bist mir ja einer.“

Nick lachte auf. „Ja, zwei. Zum einen möchte ich ein gescheites Spanisch-Wörterbuch. Ich will endlich verstehen können, mit was du da immer um dich schmeißt.“

Javier grinste. „Ich bin mir nicht sicher, ob es eins mit so vielen Schimpfwörtern gibt.“

„Dann streng dich halt an und such eins“, erwiderte Nick und Javier nickte.

„Okay, gebongt. Und was ist das zweite?“

„Ich möchte, dass du dir einen Studienplatz suchst.“

Javier blieb wie vom Blitz getroffen stehen.

„Was?“, krächzte er, aber Nick ließ sich von seinem entsetzten Gesicht nicht beirren.

„Du hast mich gehört. Ich möchte, dass du auch anfängst zu studieren. Du bist verdammt intelligent und das weißt du auch. Und ich … ich möchte einfach nicht der einzige, arme Student in unserer Beziehung sein. Ich will, dass wir zusammen nochmal die Schulbank drücken.“

Javier blies die Backen auf und ließ langsam die Luft entweichen. Dann lachte er plötzlich.

„Was ist los?“, fragte Nick.

„Na mir ist gerade eingefallen, dass es in Spanien die Geschenke erst am 6. Januar gibt. Da habe ich ja noch ein bisschen mehr Zeit, um mich zu entscheiden, ob du das bekommst oder lieber ein paar sexy Unterhosen.“

Nick konnte nicht anders, er musste ihn schlagen. Ganz fest, damit er nicht vergaß, dass Nick darüber keine Witze hören wollte. Javier rieb sich grinsend den Arm und klagte:

„Ich hab doch gesagt, ich steht nicht auf Schmerzen.“

Er kam einen Schritt näher, schmiegte sich an Nick und zog ihn ein wenig zu sich herab, um ihm ins Ohr zu hauchen:

„Aber ich zeige dir gerne mal, was du mit deiner scheußlichen Krawatte mit mir anstellen darfst. Ich glaube, das würde dir gefallen.“

Nick spürte ein interessantes Kribbeln durch seine Lenden huschen und presste noch einmal seine Lippen auf Javiers Mund, bevor sie beide zusammen endlich den Bahnhof verließen, um eine neue Jacke für Javier zu kaufen. Und gleich morgen würde er zu Renata gehen und ihr sagen, dass er in den Zeitvertrag einwilligte. Er hatte keine Ahnung, ob es eine gute Idee war, was er da vorhatte, aber er wusste, dass er das nicht alleine durchstehen musste. Er hatte Javier und auch seine Eltern würden ihn sicherlich unterstützen, wenn sie hörten, dass er sich nun doch entschlossen hatte, sein Studium wieder aufzunehmen. Und vielleicht … vielleicht erfüllte Javier ja tatsächlich seinen zweiten Weihnachtswunsch. Die Vorstellung gefiel ihm und er legte den Arm ganz fest um Javier, damit er ihm nicht doch noch entkam, sein ganz persönlicher, spanischer Regenbogenforellerich.

Hochzeitsglocken

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Heho!

Solltet ihr es bis hier geschafft haben, begrüße ich euch herzlich bei meiner neuesten Kreation. Nach zig FFs und der einen oder anderen kleineren FA, soll das hier nun mein erstes längeres Werk mit eigenen Figuren werden. Ich hoffe, ihr habt beim Lesen genauso viel Spaß wie ich beim Schreiben. Kommentare und Anmerkungen sind wie immer gerne gesehen.

Zauberhafte Grüße Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an Pimiento und Panthera von FF.de, die mich in puncto spanische Namensgebung beraten haben. Das ist eeeetwas komplizierter als in Deutschland. Außerdem hat Panthera mir gesteckt, dass "nata" so viel wie "(saure) Sahne" oder "Quark" bedeutet.

Ansonsten hoffe ich, dass euch die Babysache nicht zu sehr verschreckt hat. In Zukunft geht es ohne weiter. :D

"Nick the chick" ist übrigens ein Kinderbuch über ein leicht größenwahnsinniges Küken. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer wissen möchte, was das „Gedudel“ ist, das Nick da ins einem CD-Spieler hat, kann gerne hier mal reinhören: https://www.youtube.com/watch?v=A7lxd7RL1To Von dem Lied stammt übrigens auch der Titel des Kapitels. ^_~

Und falls sich jemand fragt: Ja, ich schlafe nicht, ich esse nur noch Toastbrot und meine Kinder müssen sich selbst ins Bett bringen. Hauptsache, es geht hier weiter. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich kann nicht widerstehen, und muss natürlich auch hier wieder einen Link hinterlassen. Weil's so schön ist: https://www.youtube.com/watch?v=0ZgjmE6xdaw

Das nächste Kapitel kommt jetzt aber wirklich erst in ein paar Tagen. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
*Aus „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald gefunden auf https://www.dtv.de/_files_media/title_pdf/leseprobe-13987.pdf

So, für dieses Wochenende soll es das jetzt gewesen sein, Fortsetzung vermutlich nächste Woche. Bis dahin euch allen eine gute Zeit! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Copyright für den Herzaugen-Emoji geht an KaffeeFee. ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eine kurze Anmerkung noch zum Schluss, damit man die Entwicklung innerhalb des Kapitels noch ein bisschen besser versteht.

Da ich ja mit Pimiento bei ff.de im Austausch stehe, was die spanischen Einwürfe angeht, wollte ich noch kurz erklären, dass „Te quiero“ zwar „Ich liebe dich“ heißt, aber es ist mehr so ein alltägliches Feld-Wald-und-Wiesen-“Ich liebe dich“ wie man es auch unter Freunden oder innerhalb der Familie verwendet. Und es lässt sich zudem auch noch wunderbar verstecken, weil es wortwörtlich eigentlich „ich will dich“ heißt und somit auch schnell zu etwas anderem umgeformt werden kann, z.B. (ich zitiere mal die Mail von der lieben Paprika) „te quiero sentir = ich will dich spüren“. Ein tiefergehendes, verpflichtenderes „Ich liebe dich“ würde man mit „te amo“ übersetzen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, ihr Lieben, das war es jetzt. Fast. Denn ich habe der lieben Pimiento noch einen Lemon versprochen und die eine oder andere Frage muss ja noch geklärt werden, also gibt es heute im Laufe des Tages oder spätestens morgen noch ein letztes Kapitel. ^_~ Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (77)
[1] [2] [3] [4] [5] [6]
/ 6

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  chaos-kao
2021-02-03T19:53:22+00:00 03.02.2021 20:53
Eine weiße alte Dame :D
Antwort von:  Maginisha
03.02.2021 21:07
Nicht wahr? ^__^
Von:  chaos-kao
2021-02-03T18:22:57+00:00 03.02.2021 19:22
Oh ja, BH-Käufe sind echt nicht leicht und bei großen Brüsten mitunter auch verdammt teuer. Da ist eine gute Beratung Gold wert. Und er macht es recht gut, der liebe Nick
Antwort von:  Maginisha
03.02.2021 21:07
Hey chaos-kao!

Ich sehe, du hast neuen Lesestoff gefunden. :)

Ja, Nick ist da schon "vom Fach" und ist mit guten Absichten dabei. Auch wenn er vielleicht manchmal ein wenig die Zügel an seine Beherrschung legen muss.
Von:  Ana1993
2020-01-17T10:42:46+00:00 17.01.2020 11:42
Oh nein, jetzt bin ich schon durch 😭

Hat mir wirklich gut gefallen. Vor allem dass es zur Abwechslung mal keine 5 Kapitel Krise und Herzschmerz wegen Nichtigkeiten gab (wie so häufig), sondern deine lieben Charaktere relativ schnell und vernünftig reagiert haben. Eine schöne, angenehme Liebesgeschichte ganz nach meinem Geschmack 😍
Antwort von:  Maginisha
17.01.2020 16:34
Halo Ana,

das freut mich, dass ich dich unterhalten konnte und es dazu noch ein wenig "anders" war als andere Geschichten. Das ist nämlich ein erklärtes Ziel von mir. ^_~

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  summercat88
2019-12-14T18:29:20+00:00 14.12.2019 19:29
Hi, ich fand deine Story ganz toll. Mach weiter so.
Antwort von:  Maginisha
15.12.2019 07:21
Hallo summercat88! Vielen Dank für das Lob. :)
Von:  CallistaTears
2019-12-13T10:11:55+00:00 13.12.2019 11:11
*schnief*
Wirklich schon vorbei?
Ich hab die beiden so in mein Herz geschlossen, dass ich mich über eine Fortsetzung (irgendwann mal ;) ) wirklich, wirklich freuen würde...
Ich hoffe einfach mal :)

Bis dahin LG Calli
Antwort von:  Maginisha
13.12.2019 16:55
Hallo CallistaTears!

Eine Fortsetzung wird es wohl eher nicht geben. Ich hatte es mal überlegt, aber nee, ich denke, die beiden sind so glücklich und sollen es auch in den Köpfen der Leser bleiben. Da jetzt wieder Konflikte einzustreuen käme mir irgendwie gemein vor.

Aber ich habe schon ein neues Projekt in der Mache (siehe Weblog). Da könnte es eventuell in den nächsten Tagen schon das erste Teaser-Kapitel geben. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  KaffeeFee
2019-12-10T15:22:23+00:00 10.12.2019 16:22
Awwwww purer rosa Zuckerguss mit Sträuseln! Ist das süß... schade, dass es schon vorbei ist.

Alex und Natscha... der Hammer! Ich bin begeistert! Ohhh, sie heiraten *.* zauberhaft! Und derTanz zwischen Nick und Javier...hach ja... *seufz*

Ich will nicht, dass es vorbei ist!!! *auf den Boden schmeiß* (<-- hihi, das hab ich letztens im Supermarkt gemacht, weil da ein Kind voll den Wutanfall geschoben hat und die Mama schon am verzweifeln war... der Blick war göttlich!)

Lass dir gesagt sein, ich bin total in die Story verschossen und wenn es irgendwann mal eine Fortsetzung gibt, bin ich definitiv dabei!

Da war sie, die KRawatte. Definitiv ganz anders, als erwartet. Aber hui, kann Nick dominant sein und ran gehen... man man man, stille Wasser und so... Javier kitzelt auf jeden Fall das Richtige aus ihm raus.

Ich wünsche dir schonmal frohe Weihnachten,
koffeinhaltige Grüße,
die KaffeeFee :*
Antwort von:  Maginisha
10.12.2019 16:57
Hallo lieb KaffeeFee!

Erst nochmal danke für die vielen Kommentare. Die haben mir das Schreiben etwas versüßt. :)

Eine Fortsetzung hatte ich mal angedacht, aber inzwischen habe ich schon wieder eine tolle, neue Idee, die mir besser gefällt. Die beiden dürfen hier so glücklich bleiben, wie sie sind. :)

Das Nick eigentlich führen kann, hab ich ja immer schon mal mitschwingen lassen. Er brauchte halt nur sicheren Boden unter den Füßen und den gibt Javier ihm. Und Javier darf sich auch mal fallen lassen, wenn er sicher ist, dass ihn jemand auffängt (oder festhält. ^_~) Die beiden werden auf jeden Fall glücklich miteinander.

Ich wünsche dir auch eine schöne Rest-Weihnachtszeit und schon mal einen guten Rutsch ins nächste Jahr. Vielleicht sehen wir uns dann ja bei meiner neuen Geschichte wieder (wenn ich es aushalte, solange mit dem Schreiben zu warten. :D)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  _Delacroix_
2019-12-10T11:20:58+00:00 10.12.2019 12:20
Oh, sie ist zu Ende. Da wird einem gleich ein bisschen schwer ums Herz und das obwohl es eigentlich ein sehr schönes Ende ist, das gut zur Story passt. Und eine schöne Geschichte muss ja auch enden, weil sonst isse irgendwann nicht mehr schön.
Lange Rede, kurzer Sinn, ich finde, du hast die Story wirklich richtig gut umgesetzt. 
Vom Anfang bis zum Ende.
 
Danke, dass du mir damit so oft den Montag versüßt hast.^^
Antwort von:  Maginisha
10.12.2019 12:33
Na gerne doch. Ich freue mich ja auch, wenn jemand Spaß am Lesen meines Krams hat. ^__^

Und ja, irgendwann muss Schluss sein, sonst läuft und läuft und läuft das ja immer weiter und das ist dann auch irgendwie eigenartig.

Jetzt ist erst mal Weihnachten aber im neuen Jahr gibt es vielleicht wieder was Neues. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  FreeWolf
2019-12-10T06:42:34+00:00 10.12.2019 07:42
Aaaaw. Es ist so schön zu sehen, dass sie gemeinsam was aufbauen <3 danke!
Antwort von:  Maginisha
10.12.2019 08:08
Gerne. Ich hab die beiden auch lieb. :)
Von:  z1ck3
2019-12-09T20:13:14+00:00 09.12.2019 21:13
Hihihi und neiiiiinnnnn...ich will die schildkrötenschritte mitmachen! Buhuu ich hasse es, wenn stories enden! Super gemacht! Danke für die briden Zuckerschnecken! Und überhaupt
Antwort von:  Maginisha
09.12.2019 21:43
Das kann aber seeehr lange dauern. ^_~

Ich danke noch einmal für die Kommentare und wünsche erst mal ein frohes Weihnachtsfest!

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  z1ck3
10.12.2019 01:06
Danke dir auch! Ich hoffe du schreibst noch mehr neue stories💕
Von:  z1ck3
2019-12-09T19:28:02+00:00 09.12.2019 20:28
Neiiin kein letztes Kapitel!!! Schreib weiter bis sue alt ubd grau und tatterich sind die beiden süßen Forelleriche! 😊
Antwort von:  Maginisha
09.12.2019 20:31
Guckst du nächstes Kapitel. ^_~


Zurück