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Cursed

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin endlich wieder im Lande. Tut mir leid, dass es jetzt doch so lange gedauert hat. Das nächste Kapitel erscheint dann wieder wie gewohnt Dienstag Nachmittag.
Viel Spaß und liebe Grüße
Lycc Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heyho. Ich hatte die ganze Zeit angenomme, dass ich dieses Kapitel schon gepostet hatte. ^^" Hups.
Naja, es kann hier jedenfalls wieder vermehrt zu Fehlern gekommen sein, weil ich es nun recht kurzfristig hochgeladen und vorher nicht nochmal gelesen habe.
Weißt mich also gerne auf grobe Schnitzer meinerseits hin. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es ist wieder so weit. Die Planeten stehen in einer Reihe, die Abonneneten tanzen nackt durch die oberpfälzer Wälder und die Lichter am Funkmasst morsen geheime Botschaften durch die sternenklare Nacht. Und das bedeutet, dass es auch für mich wieder Zeit ist ein Kapitel zu posten *dramatische Musik*
Um es mit den Worten Heinz Erhards zu sagen: "Ich habe dieses Machwerk... gemacht." Das Kapiel habe ich grade geschrieben, einmal drübergelesen und lade das jetzt einfach hoch. ^^" Vielleicht (höchstwahrscheinlich) wirds nochmal überarbeitet, aber ich wollte es jetzt trotzdem posten.
Also dann. Bleibt gesund, passt auf euch auf und versucht euren Schlafrhytmus besser im Griff zu behalten als ich gescheiterte Seele. xD

Übrigens, Fun Fact: Der Titel des Kapitels ist eine Anspielung an eine spezielle Szene aus Romeo & Julia. Fällt wahrscheinlich keinem auf (Spiegelt sich auch echt nur sehr abstrakt im Kapitel wieder), aber ich musste da irgendwie dran denken und hatte auf die Schnelle keinen besseren Titel. Für Vorschläge bin ich allerdings immer offen. ^~^ Komplett anzeigen

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Verflucht

Cursed
 

Kapitel 1 – Verflucht
 

Rote Augen, in denen ein unbändiges Feuer flackerte, starrten ihn lauernd an.

Ein Mund aus dem zwei feine, spitze Reißzähne ragten, grinste ihm boshaft entgegen.

Aiden fuhr aus dem Bett hoch.

Das schrille Klingeln seines Weckers hatte ihn aus dem Schlaf und damit auch aus seinem Traum gerissen, wofür er ausnahmsweise sogar dankbar war. Aiden träumte oft seltsame Dinge – was wohl in der Natur von Träumen lag – aber das war selbst für ihn eine Spur zu abgedreht.

Verschlafen massierte sich Aiden die linke Schulter. Er hatte wohl auf ihr gelegen, denn sie fühlte sich seltsam verspannt an und schmerzte sogar leicht. In aller Ruhe begann er sich eine Jeans und ein weinrotes T-Shirt überzustreifen. Vor dem Spiegel, der an der Schranktür angebracht worden war, blieb er stehen und betrachtete sich. Kurze braune Haare, schmale Statur und vergleichsweise geringe Körpergröße.

Durchschnitt.

Aiden war immer Durchschnitt – in der Schule, im Sport, im Aussehen. Der Fluch des Ordinären.

An ihm war eben nichts Besonderes, daher fiel er auch nie jemandem auf – ganz im Gegenteil – zu seinem Leidwesen wurde er sogar regelmäßig übersehen.

Aiden seufzte einmal flach und wandte sich kopfschüttelnd von seinem Spiegelbild ab. Er schlüpfte in seine Turnschuhe und steifte sich eine schwarze Jacke über. Im Vorbeigehen warf er sich seine Schultasche über die Schulter ehe er sein Internatszimmer verließ um zum Frühstück in den Speisesaal zu gehen.
 

Im Saal herrscht reges Treiben, da viele Schüler sowie Aiden erst kurz vor Unterrichtsbeginn zum Essen gingen um möglichst lange im Bett bleiben zu konnten.

Zwischen den verschlafenen Gesichtern seiner Mitschüler entdeckte Aiden schließlich wen er suchte. Mit einem Tablett bewaffnet, auf dem nur eine Tasse schwarzen Tees und ein unbelegtes Brötchen lagen, ließ er sich auf einen unbequem Holzstuhl fallen.

„Morgen“, nuschelte ihm sein Gegenüber mit vollem Mund entgegen.

„Morgen Lukas.“ Dieser schlang seinen Bissen hinunter und blickte irritiert zu seinem Schulfreund rüber.

„Man, siehst du scheiße aus“, platze er heraus. Aiden verzog keine Miene, sondern entgegnete nur sarkastisch: „Wie immer versüßen mir deine lieblichen Worte den Morgen ungemein. Ich hab nicht gut geschlafen. Schlecht geträumt und dann auch noch mit einer verspannten Schulter aufgewacht.“

„Dein Glück, dass Sport heute ausfällt.“ Lukas setzte eine mitfühlende Mine auf und Aiden nickte zustimmend während er sich ohne großen Appetit ein Stück seines Brötchens in den Mund schob.
 

Der Tag verlief weitestgehend normal. Unterricht, unangekündigte Leistungskontrolle, plötzlicher Platzregen während der Mittagspause – also alles wie immer.

Aiden hat schon beim Aufstehen gespürt, dass er heute einfach im Bett hätte liegen bleiben sollen und auf genau dieses himmlische Möbelstück ließ er sich nun rücklings fallen.

„Man bin ich froh, dass dieser Tag vorbei ist“, sagt er laut zu sich selbst und erhielt unerwarteterweise eine Antwort.

„Tja. Ich schätze, dann hab ich schlechte Nachrichten für dich.“ Wie angestochen fuhr Aiden aus dem Bett hoch, konnte aber niemanden entdecken. Sein Zimmer war vollkommen leer.

Nein, eingebildet hat er sich diese hämische Stimme ganz bestimmt nicht und sie gehörte auch zu niemanden, den er kannte.

„Wer ist da?“, fragt er in die Leere seines Zimmers hinein und schaute sich dabei suchend um.

„Das 'Wer' ist eher nebensächlich. Das 'Was' sollte dir Sorgen bereiten.“ Aiden fuhr herum. Er hatte versucht zu erhören von wo die fremde Stimme kam, die ihn mit diebischer Freude verspottete und zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass sie direkt in seinem Kopf zu sein schien.

„Okay, dann eben 'WAS' ist da?“, antwortet Aiden nun gereizt und bemüht um eine feste Stimme.

„Das kriegst du schon noch mit“, kam es belustigt zurück, wie um das Gespräch zu beenden.
 

'Bitte was?' Er stutzte.

Was sollte das denn bitte? Wer oder Was auch immer sich da ein Scherz mit ihm erlaubte, Aiden fand ihn ganz und gar nicht witzig.

Er fragte noch ein paar mal in die Leere seines Zimmers, erhielt jedoch keine Antwort mehr und kam sich auch bald ziemlich albern dabei vor.

Er entschloss sich dazu, der verhöhnen Stille in seinem Zimmer zu entfliehen und in einen der Gemeinschaftsräume zu gehen. Am Nachmittag und Abend waren sie zwar oft überlaufen, aber alles war besser als allein in seinem Zimmer zu bleiben.

„Wolltest du nicht etwas Schlaf nachholen?“, begrüßte ihn Lukas' vertraute Stimme. Aiden winkte ab.

„Lass uns doch ne Runde Tischkicker spielen.“ – gesagt, getan.

Aidens Gedanken kreisten und Lukas brachte ihm eine Niederlage nach der anderen bei, bis Aiden endgültig die Lust an dem Spiel verlor.

„So schlecht hast du ja ewig nicht gespielt. Vielleicht hättest du doch lieber noch ne Runde an der Matratze gehorcht.“

Es war nicht nur die Müdigkeit, die Aiden aus dem Konzept brachte. Er fühlte sich auch durchgängig beobachtet. Von wo oder von wem konnte er zwar nicht sagen, aber er hatte die ungute Vorahnung, dass der Besitzer der unheimlichen Stimme ihn noch nicht in Ruhe lassen würde.

'Das merkst du schon' klang verdächtig als würde etwas auf ihn zukommen.

Der Gemeinschaftsraum leerte sich nach und nach, doch Aiden wollte noch nicht wieder in sein Zimmer zurückkehren. Solange er hier mit den Anderen war konnte er so tun als wäre nichts passiert und er gab sich alle Mühe das Bedürfnis sich umzusehen zu unterdrücken.

Doch es half alles nichts. Zur Ruhezeit fand er sich allein in seinem Zimmer wieder.
 

Allerdings, war alles wie immer. Keine Stimme, keine Geister, keine Mitschüler, die sich einen Spaß erlaubten.

Unruhig wälzte sich Aiden in seinem Bett umher. Das Gefühl beobachtet zu werden hatte sich verändert sobald er sich ins Bett gelegt hatte. Seitdem fühlte er einen geradezu hungrigen Blick auf sich ruhen, der ihm das Einschlafen unmöglich machte.

Der Zeiger der Uhr hatte die Eins schon lange hinter sich gelassen, als er endlich in den Schlaf hinabglitt.

„Na, na, na, so einfach mach ich es dir nicht.“ Aiden riss die Augen auf. Die Stimme klang dieses mal nicht in seinem Kopf wider, sondern schien von seiner Bettkante aus zu kommen.

Und tatsächlich, blickten ihn aus der Dunkelheit des Raumes, zwei rot glühende Augen entgegen. Aiden wollte schreien, doch noch ehe er den Mund öffnen konnte, spürte er wie dieser ihm gewaltsam zugedrückt wurde.

Seine vor Angst geweiteten Augen blicken in das lodernde Rot seines Gegenübers, der ihn belustigt anfunkelte. Das Gesicht des Fremden war ihm nun so nah, dass er selbst im Halbdunkeln einzelne Züge erkennen konnte.

Rote Augen, in denen unbändiges Feuer flackerte und ein hämisch grinsender Mund, aus dem zwei spitze, feine Reißzähne ragten.

Genießerisch beobachtete die Gestalt wie verschiedene Emotionen über Aidens Gesicht huschten. Schock, Angst, die Erkenntnis sich keinem Menschen gegenüber zu wissen, Hilflosigkeit und schließlich Panik.

Geduldig wartet er bis Aiden seine Gefühle unter Kontrolle gebracht hatte und wieder aufnahmefähig war.

„Also“, begann er mit einem übertriebenen Lächeln, das seine Reißzähne im fahlen Mondlicht blitzen ließ. „Ich habe wenig Lust dir die ganze Zeit den Mund zuzuhalten, daher sage ich dir einfach wie es läuft: Du schreist. Jemand kommt. Ich verschwinde. Du erzählst was passiert ist und wer auch immer vor dir steht wird dir versichern, dass du nur einen Albtraum hattest.

Du wirst wieder alleingelassen. Ich komme wieder zurück und der Spaß geht von vorn los.

Wenn du also schreien willst, dann schrei'.“

Sofort löste sich der grobe Griff um Aidens Kiefer, doch das Gesicht des lebenden Albtraums blieb so dicht wie zuvor.

Er blickte ihn herausfordernd an und entblößte seine Zähne in voller Länge. Aiden kämpfte gegen den Impuls zu schreien und biss sich schließlich auf die Unterlippe. Mit gespielter Enttäuschung zogen sich die roten Augen etwas zurück.

Aiden setzte sich auf und rückte hastig mit dem Rücken an die Wand am Kopfende des Bettes, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die Gestalt auf seiner Bettkante zu bringen. Absolut gelassen und mit vorfreudiger Miene saß dieser auf dem himmelblauen Bettbezug und beobachtete sichtlich amüsiert Aidens Reaktion.

„Wer“, setzte Aiden an, aber verbesserte sich sofort. „Was bist du?“ Überrascht zog der Schatten die Augenbrauen hoch.

„Du lernst schnell“, erwiderte er mit einem erfreuten Lächeln. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und beantwortet Aidens Frage ganz beiläufig mit „Dein Todesurteil.“

Aiden schluckte schwer und biss sich erneut auf die Lippe. Sollten Schmerzen einen nicht aus Träumen aufwachen lassen? Aiden schmeckte bereits sein eigenes Blut.

Keine Chance – er war wach.

Wieder beobachtete der Schatten geradezu genießerisch, wie Aidens Gedanken und Gefühle sich überschlugen.

„Aber... aber warum... weshalb also... ich meine...-“

„Keine Ahnung“, unterbrach der Schatten sein Gestammel.

„Das 'Wer' und 'Warum' liegt nicht bei mir und es ist mir auch relativ egal.“ Eine kurze Pause folgte. „So. Ich schätze das genügt um dir für heute Nacht den Schlaf zu rauben.“ Mit diesen Worten griff der Schatten völlig selbstverständlich nach Aidens Arm und in diesem Moment begann der eh schon formlose Körper der Albtraumgestalt sich vollkommen aufzulösen.

Vom Ort der Berührung aus ging sein Körper schnell in schwarzen Rauch auf. Die kleinen Schwaden zogen sich zu Aidens Arm, umschlangen diesen für einen Moment und verschwanden dann gänzlich darin.
 

Nun war es um Aidens Selbstbeherrschung geschehen. Wie von Sinnen stürzte er aus dem Bett und durch das Halbdunkel des Raumes. Mit beeindruckender Treffsicherheit betätigte er im Vorbeirennen den Schalter für das Badezimmerlicht und sah für einen kurzen Moment lang nur Sterne, da die plötzliche Helligkeit seinen Augen zu schaffen machte.

Als er wieder klar sehen konnte, schob er seinen Ärmel bis zur Schulter hoch und begutachtete die Stelle an der der Schatten – wie Aiden ihn für sich getauft hatte – ihn berührt hatte.

Nichts. Sein Arm war völlig in Ordnung. Auch in seinem Gesicht, wo der Schatten ihm den Mund zugehalten hatte, war nichts Außergewöhnliches zu erkennen.

In seinem Unterbewusstsein glaubte Aiden ein unterdrücktes Lachen wahrnehmen zu können, doch das hätte er sich genauso gut auch nur einbilden können. Recht behielt sein ungebetener Besucher dennoch – an Schlaf war gar nicht mehr zu denken. Stattdessen überschlugen sich seine Gedanken förmlich.

Er sollte sterben. Warum? Was hatte er getan? Und warum sollte der Schatten das erledigen? Was verflucht noch mal war dieser Schatten überhaupt?

Aiden wusste nur eins – er hatte Angst und er konnte mit niemandem sprechen.

Keiner würde ihm glauben. Er glaubte ja selbst nicht, was hier passierte.
 

„Man, du siehst ja noch beschissener aus, als gestern.“ Lukas starrte ihn ungläubig an und eine Spur von Sorge schlich sich in deinen Blick. „Hast du überhaupt geschlafen?“ Aiden winkte ab.

„Albträume“, gab er müde zur Erklärung ab und das war nicht mal gelogen, auch wenn es eigentlich nur EIN – leider sehr realer – Albtraum war.

Die ersten zwei Unterrichtsstunden kämpfte Aiden noch gegen die Müdigkeit an, in der dritten übermannte sie ihn schließlich.

„Aiden Moore!“ Er schreckte hoch. „Langweile ich dich?“ Aiden musste einige Mlae blinzeln, bis seine Augen sich an das grelle Licht gewöhnten und den Blick auf seine Geschichtslehrerin ermöglichten, die bebend vor Zorn neben ihm stand und die Arme vor der Brust verschränkte.

Aiden ließ die Standpauke geduldig über sich ergehen, ignorierte das Feixen seiner Mitschüler und vor allem das schadenfrohe Grinsen des Schattens, welches er ganz deutlich spüren konnte.

Mühevoll quälte er sich durch die restlichen Unterrichtsstunden, wobei Lukas ihn zweimal wecken musste bevor der Lehrer etwas bemerkte.
 

So führte sein erster Weg nach Ende der letzten Stunde zurück in sein Zimmer. Er warf die Tasche in die Ecke, zog die Schuhe aus und wusch sich das Gesicht.

„Dir macht das Ganze wohl auch noch Spaß, was?“ Aiden hatte wütend klingen wollen, doch dazu war er einfach zu müde. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Komm wenigstens raus und antworte mir, Schatten!“

Doch nichts rührte sich. Seufzend bewegte er sich auf sein Bett zu und hielt mitten in der Bewegung inne. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder den Schatten auf seiner Bettkante sitzen. Resigniert steuerte er seinen Stuhl an, drehte die Lehne Richtung Bett und setzte sich rittlings auf die Sitzfläche. Die Arme auf der Rückenlehne verschränkt starrte er wartend die Bettkante an bis ihm die Augen irgendwann unfreiwillig zufielen.

„Ja.“ Aiden schreckte erneut hoch. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er eingeschlafen war.

„Was?“ Irritation mischte sich in seine Müdigkeit.

„Ja“, wiederholte der Schatten. „Mir macht das Ganze tatsächlich Spaß“, beantwortete er die Frage, die Aiden zuvor im Bad gestellt hatte. Der Schatten hatte bewusst so lange mit seiner Antwort gewartet, bis ihm die Augen zugefallen waren. Im eingeschalteten Deckenlicht des Zimmers konnte Aiden seinen Quälgeist endlich genauer betrachten.
 

Er saß tatsächlich an der gleichen Stelle auf dem Bett wie die Nacht zuvor, hatte die Beine übereinander geschlagen und stützte sich nach hinten mit den Händen ab. Schwarzes, langes Haar ging nahtlos in einen schwarzen Schatten über, der wie ein Umhang seine Schultern umhüllte und ihm sanft bis zu den Knöcheln um den Körper fiel.

Bis auf sein Gesicht, den Hals und die Hände war alles in ein tiefes Schwarz gehüllt. Sein Körper schien aus fester Materie zu bestehen, jedoch verschmolz dieser mit dem Umhang, welcher wiederum tatsächlich nur aus Schatten oder instabilen Partikeln zu bestehen schien.

Sanft wehte er um den schlanken Körper der blasen, rotäugigen Gestalt, welche so unwirklich in der gewohnten Umgebung seines Zimmers wirkte.

Aiden riss den Blick von ihm los und konzentrierte sich auf das Wesentliche.

„Warum soll ich sterben?“ Der Schatten seufzte

„Du scheinst doch nicht so schnell zu lernen, wie ich dachte.“ Er entfaltete seine Beine, drehte sich im Sitzen um die eigene Achse und ließ sich auf Aidens Bett fallen, so dass er nun parallel zur Bettkante lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er tat das in einer einzigen fließenden Bewegung und ohne Aiden auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Seine Körperhaltung wirkte entspannt, die Augen des Schattens waren jedoch hellwach und lauernd.

„Wie ich bereits sagte, interessiert mich weder das 'Wer' noch das 'Warum'.“

„Wenn du hier bist, um mich zu töten, warum bin ich dann noch nicht tot?“

„Weil das 'Wann' und 'Wie' ganz und gar meine Entscheidung ist.“

„Verdammt, kannst du dich nicht ein einziges Mal verständlich ausdrücken?“, fragte Aiden, der so langsam mit den Nerven am Ende war, und musste prompt die Konsequenzen dafür tragen.

Er hatte nur geblinzelt, doch der Schatten lag plötzlich nicht mehr entspannt auf der Bettkante. Stattdessen spürte Aiden nun eine Hand, die grob seine Haare packte und seinen Kopf in den Nacken zog. An seiner Kehle konnte er die Schärfe einer Klinge fühlen, die die selbe Temperatur wie sein eigener Körper zu haben schien.

„Das bedeutet, dass ich dir wenn mir danach ist die Kehle durchschneide. Vielleicht verschlinge ich auch einfach Stück für Stück deine Seele, bis nichts mehr von dir übrig ist außer einer leeren Hülle. Oder ich mache dir das Leben so zur Hölle, dass du deinem Leid von selbst ein Ende setzt.“

Der Atem des Schattens streifte Aidens Ohr, so nah war er ihm gekommen. „War dir das jetzt verständlich genug?“ Der Schatten ließ seine Worte einige Sekunden lang wirken, ehe er langsam den Griff um Aidens Haare lockerte. „Schatten“, sagte er belustigt, „ein reichlich einfallsloser Name. Wenn du mich unbedingt ansprechen musst, dann nenn' mich Reel.“

Und mit diesen Worten glitt seine Hand zu Aidens Schulter, wo er das gleiche Kunststück wie letzte Nacht mit seinem Arm vollzog und verschwand.

Aiden klammerte sich noch eine gefühlte Ewigkeit an der Stuhllehne fest. Sein Körper war wie eingefroren und als er es endlich schaffte sich von der Lähmung zu befreien mit der Reel ihn belegt hatte, fühlten sich seine Finger völlig verkrampft an.
 

In den nächsten Tagen meldete sich Reel kein einziges Mal zu Wort. Er tauchte auch nicht mehr auf, sobald Aiden einschlief und auch das hämische Lachen, dass er zuvor gelegentlich in seinem Unterbewusstsein zu hören glaubte, verstummte. Nur das ständige Gefühl beobachtet zu werden blieb.

Doch auch ohne die nächtlichen Besuche schlief Aiden nur sehr wenig. Reels Schweigen war noch schlimmer als seine sarkastischen und bissigen Kommentare, denn die Ungewissheit zerrte zunehmend an Aidens Nerven.

Knapp eine Woche war seit Reels letztem Besuch vergangen als Aiden beim Aufwachen wieder in die roten Augen blickte. Ratlos und konzentriert musterten sie ihn von der Bettkante aus. Unsicher was er tun sollte verharrte Aiden in der Bewegung. War es jetzt etwa so weit? Sollte er jetzt sterben? „Hast du dich für das 'Wann' entschieden?“ fragte Aiden vorsichtig, als der Schatten keine Anstalten machte etwas zu sagen oder sich zu bewegen.

„Tatsächlich“, begann dieser nach einer kurzen Pause, „beschäftigt mich ausnahmsweise mal das 'Warum'. Normalerweise ist es mir egal, aber normalerweise ist es auch mehr als offensichtlich.“ „Heißt das, dass ich weiterleben darf?“ Schlagartig kehrte die Belustigung in Reels Gesicht zurück. „Sei nicht albern“, antwortete er, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. „Du bist mit mir verflucht worden, also werde ich dich töten.“ Reel ließ seine Worte abermals wirken und betrachtete genießerisch, wie der kleine Funken Hoffnung in Aidens Augen erstickte.

„Ich beobachte dich noch etwas und wenn mir das zu langweilig wird, denke ich mir eine schöne Möglichkeit aus dir das Leben zu nehmen“, endete er mit zuckersüßer Stimme und sah ihm dabei eindringlich in die Augen.

Aiden spürte wie sich die schmalen Finger des Dämons plötzlich um seinem Hals legten und im nächsten Moment löste dieser sich wieder in schwarzen Rauch auf.

Leben und leben lassen

Kapitel 2 – Leben und leben lassen
 

Am darauffolgenden Wochenende schlenderten Aiden und Lukas durch die Stadt.

Sie gehörten zu den Internatsschülern, die auch am Wochenende nicht zu ihren Eltern fuhren. Stattdessen nutzten die beiden Jungs die Zeit gern um durch die Geschäfte stöbern und in die Arcade-Halle zu gehen.

Hier draußen zwischen all den Menschen und all dem Lärm vergaß Aiden sogar die schrecklichen Gefühle, die ihn seit Reels Erscheinen ständig begleiteten.

„Lass uns zum Abschluss noch 'ne Runde Beat-Saber spielen“, schlug Lukas vor. Sein bester Freund schielte auf seine Armbanduhr.

„Ich glaube daraus wird nichts mehr. Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir unseren Bus“, gab Aiden bedrückt zurück.

„Ach Mann. Naja, da kann man nichts machen.“ Die beiden verabschiedeten sich mit einem Kicken vom Besitzer der Halle und traten raus auf den Gehweg. In schnellem Schritt liefen sie zur Haltestelle. Dort angekommen konnten sie eine Gruppe Schüler beobachten, die das gleiche Ziel wie sie verfolgten.

„Hey.“ Lukas stieß Aiden mit dem Ellenbogen an. „Guck mal, wer da kommt.“ Mit dem Kinn deutet er auf die sich nähernde Gruppe und Aiden konnte ein Mädchen mit blonder Flechtfrisur ausmachen. Mara.

Aiden war im ersten Jahr am Internat mit ihr in einer Projektgruppe gewesen und hatte sich seit dem in sie verguckt. Außer Lukas wusste niemand davon.

Die vier Mädchen liefen quatschend und lachend in ihre Richtung. Ein weiteres blondes Mädchen – Sophie – zog ihr Handy aus der Tasche und begann im Gehen auf dem Bildschirm herumzutippen. Als die Gruppe die Straße erreichte, blieben sie stehen um ein vorbeifahrendes Auto abzuwarten.

Die drei anderen waren allem Anschein nach in ein spannendes Gespräch vertieft, denn sie unterhielten sich angeregt und niemand von ihnen achtete auf Sophie, die auch an der Straße nicht von ihrem Handy aufsah und ungebremst auf die Fahrbahn lief.

Aiden reagierte instinktiv. Er sprintet auf sie zu, stieß sie mit aller Kraft zurück in die Richtung aus der sie kam und kniff die Augen zusammen in Erwartung eines Aufpralls.
 

Reifen quietschten. Umstehende Menschen schrien auf. Doch Aiden spüre keinen Schmerz.

Als er es wagte die Augen wieder zu öffnen, stellte er erleichtert fest, dass er unverletzt war. Allerdings stimmte etwas nicht. Er stand an der Bordsteinkante und nicht mitten auf der Fahrbahn, wo er eigentlich hätte sein sollen.

Aiden versuche einen Schritt nach vorne zu machen und musste mit Entsetzen feststellen, dass seine Beine ihm nicht gehorchen wollten.

Reel hatte im letzten Moment die Kontrolle über den Körper an sich gerissen und sich mit einer geschickten Bewegung vor dem anfahrenden Auto weg gerollt. Nur um Haaresbreite hatte es ihn verfehlt.

Nun stand er da. Unschlüssig was er tun sollte und mit Aidens steigender Panik im Hinterkopf. Reel konnte sie mehr als deutlich spüren, obwohl er seine eigenen und Aidens Emotionen von einander abgeschirmte.

Das blonde Mädchen saß erschrocken auf dem Bürgersteig und starrte ihn fassungslos an. In ihrer großen, silbernen Gürtelschnalle konnte Reel sein Spiegelbild sehen und es eröffnete ihm, dass die Körperübernahme alles andere als perfekt verlaufen war. Aus der Reflektion blickten ihn nicht Aidens braune, sondern seine eigenen roten Augen entgegen. Einer Eingebung folgend zog Reel sich sofort zurück und überließ Aiden diese unangenehme Situation.

Wieder an der Macht über seinen eigenen Körper wurden diesem sofort die Knie weich und er sackte in sich zusammen.

Der Fahrer des Wagens war inzwischen ausgestiegen und auch Lukas und die drei Mädchen waren zu ihnen geeilt.

„Ist alles in Ordnung?“

„Du kannst doch nicht einfach so auf die Straße rennen.“

„Brauchen wir einen Krankenwagen?“

Aiden versicherte allen Umstehenden immer wieder, dass ihm nichts fehlte. Er wollte unter keinen Umständen in ein Krankenhaus und da auch Sophie bis auf ein paar Schürfwunden und blaue Flecken vom Sturz unverletzt war, entschied man dass weder Krankenwagen noch Polizei nötig waren und jeder ging seiner Wege.
 

Wieder allein in seinem Zimmer fragte Aiden nach langem Hadern vorsichtig: „Reel? Reel, bist du da?“ Doch wie immer, wenn er versuchte von sich aus ein Gespräch mit dem Schatten – oder was auch immer er war – zu beginnen, erhielt er demonstrativ keine Antwort.

Aber auch ohne Reel verlief die Nacht für Aiden ohne Schlaf – zu wirr und rastlos waren seine Gedanken.
 

Als Aiden am nächsten Morgen nach dem Frühstück sein Zimmer betrat, konnte er beobachten wie sich schwarzer Nebel aus seinem Körper zu lösen begann und sich auf seiner Bettkante zu der mittlerweile recht bekannten Gestalt des jung-aussehenden Schattens formte.

Seine Körperhaltung wirkte weniger entspannt als zuvor und auch das spöttische Lächeln war verschwunden. Konzentriert lagen seine scharfen Augen auf dem Jungen ihm gegenüber. Betont ruhig bewegte sich dieser zu seinem Stuhl, auf dem er erneute rittlings Platz nahm ohne seinen Besucher aus den Augen zu lassen.

Mit der Rückenlehne zwischen sich und der Gestalt auf seinem Bett fühlte er sich ihm etwas weniger ausgeliefert. Natürlich würde Reel eine Stuhllehne nicht aufhalten – das hatte er bereits eindrucksvoll bewiesen, aber es half Aiden dennoch ruhig zu bleiben.

„Du hast meinen Körper übernommen“, begann er vorsichtig als Reel ihn weiter musterte, aber nicht sprach.

„Warum hast du sie gerettet?“, überging er Aidens Frage und ließ ihn überrascht die Augenbrauen hochziehen. Damit hat er nun wirklich nicht gerechnet.

„Also... naja... so ganz sicher bin ich mir da auch nicht. Ich wollte ihr halt helfen“, begann Aiden unsicher.

„Aber...WARUM?“ Reels brennender Blick verstärkte seine Nervosität.

„Ich schätze ich... naja... laut dir muss ich ja eh sterben und da wollte ich, dass mein Tod wenigstens noch jemandem hilft. Ich bin losgerannt bevor ich so richtig darüber nachgedacht habe. Außerdem dachte ich, das 'Warum' interessiert dich sowieso nicht.“ Reel schlug die Augen nieder und verzog den Mund zu einem bitterem Lächeln.

Als er wieder aufsah waren seine Augen weich und voller Schmerz, doch kehrte die Härte und Kälte so schnell zurück, dass Aiden fast glaubte es sich nur eingebildet zu haben. Der Schatten erhob sich und ging langsam aber zielsicher auf Aiden zu. Ungerührt legte er eine Hand unter dessen Kinn und zwang ihn so ihn anzusehen.

Aiden widerstand dem Drang seine Hand weg zu schlagen. Er hatte gelernt, dass es besser war, den Schatten nicht unnötig zu provozieren. Suchend und etwas unschlüssig blickte dieser ihn an.

„Du bist seltsam. Ich verstehe dich einfach nicht“, sagte er enttäuscht und löste sich in Rauch auf.

Den ganzen Sonntag über grübelte Aiden und versuchte sich einen Reim auf den Zwischenfall in der Stadt und das seltsame Gespräch zu machen. Reel blieb die ganze Zeit still. Er konnte ihn nicht einmal mehr fühlen. Sogar die Augen, die ihn ununterbrochen zu beobachten schienen, konnte er nicht mehr auf sich spüren. Reel hatte sich so sehr von ihm abgeschirmt, dass Aiden nichts mehr von ihm wahrnehmen konnte.
 

„Warum hast du mich eigentlich nicht einfach sterben lassen? Bin ich dir noch nicht langweilig genug?“ Aiden versuchte immer wieder mal Reel zu einem Gespräch zu bewegen. Natürlich funktioniert das nie, aber Aiden gab die Hoffnung nicht auf, dass Reel – wie schon zuvor – seine Frage verspätet bei seinem nächsten Besuch beantwortete.

Aiden fürchtete sich vor ihm, aber die Ungewissheit ängstigte ihn weitaus mehr. Er wollte endlich wissen, was hier los war.

Und tatsächlich erschien Reel in dem Moment in dem Aiden der Schlaf überkommen wollte an seinem gewohnten Platz auf der Bettkante.

„Ich lass mir doch nicht von irgendeinem Autofahrer mein neues Spielzeug kaputt machen. Du gehörst MIR und nur ich entscheide, wann und wie du stirbst.“ Die Art wie der Schatten die Worte aussprach und der hungrige Blick, der in seinen Augen lag ließen Aiden unwillkürlich erschaudern und die blitzenden Reißzähne, die ihm bösartig entgegen grinsten, verstärkten sein Unbehagen noch weiter. „So leicht mache ich dir das Sterben nicht“, säuselte Reel genießerisch ehe er nach der Hand des müden Jungen griff und wieder verschwand. Von nun an konnte Aiden seinen ungewollten Mitbewohner wieder spüren.
 

„Vielleicht doch lieber das Blaue.“ Aiden verzweifelte. Der Schulball rückte näher und er konnte sich nicht für ein Hemd entscheiden. Er wollte alles richtig machen, denn dieses Jahr hatte er sich fest vorgenommen Mara zu fragen, ob sie ihn begleiten würde. Vielleicht war es seine letzte Chance.

Unschlüssig stand er vor Lukas, der sich bereits für das waldgrüne Hemd entschieden hatte, welches die eifrige Verkäuferin für ihn herausgesucht hatte.

„Weißt du was?“, entgegnete Lukas resigniert, „Du nimmst einfach gar keins, fragst Mara, ob sie dir beim Aussuchen hilft und nutzt diese Gelegenheit dann um sie beim Shoppen zu fragen, ob sie deine Begleitung sein möchte.“ Aiden stutzte.

„Mit der Idee hättest du auch fünf Hemden eher rausrücken können.“ Lukas zuckte nur die Achseln, während Aiden bereits das Hemd aufknöpfte und es von seinen Schultern gleiten ließ noch ehe er den Vorhang der Umkleidekabine geschlossen hatte.

„Was zum? Alter, seit wann hast du denn bitte ein Tattoo?“ Lukas war aufgesprungen und zu ihm gelaufen. Verwirrt blickte Aiden seinen besten Freund an.

„Was?“ Lukas drehte ihn um und betrachtete interessiert seinen Rücken.

„Krass! Warum erzählst du mir so was nicht? Sieht echt cool aus. Viel zu tough für so 'nen Lauch wie dich“, witzelte er.

Irritiert drehte sich Aiden so, dass er seinen Rücken im Spiegel sehen konnte und betrachtete mit Entsetzen das schwarze Symbol, welches sein linkes Schulterblatt zierte. Es war etwa handgroß und bildete ein verschlungenes Ornament, dessen filigrane Ausläufer sich sogar ein kleines Stück weit über seine Schulter hinweg in Richtung seiner Brust zogen.

„Ich...ähm...“, begann Aiden. „Hab ich total vergessen dir zu erzählen. Das hab ich mir in den Ferien im Urlaub stechen lassen“, log er.

„Hat das ne tiefere Bedeutung?“

„Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Ich fand es einfach cool und hab es spontan ausgewählt.“ Aiden hatte sich dazu entschieden, niemandem von Reel zu erzählen. Zum Einen würde ihm eh niemand glauben und zum Anderen wollte er niemanden in Gefahr bringen. Er konnte den Dämon einfach noch nicht einschätzen.
 

Wieder im Internat liefen die beiden Jungs Mara über den Weg.

„Hey Mara“, begann Lukas locker.

„Hi, wart ihr shoppen?“, fragte sie und deutete auf die Tüte in Lukas Hand.

„Ja“, erwiderte er mit einem nonchalanten Lächeln und zeigte subtil auf seinen besten Freund. „Aber Aiden ist ein hoffnungsloser Fall. Er hat den Modegeschmack eines Ziegelsteins. Vielleicht kannst du dich ja mal seiner annehmen. Du kennst dich mit so was bestimmt besser aus als ich.“ Prüfend begutachtete Mara Aiden.

„Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Für dich finden wir schon was“, gab sie mit einem Lächeln zurück. „Wollen wir morgen nach dem Unterricht mal in der Stadt schauen?“

„Gerne“, meldete sich Aiden endlich zu Wort. „Danke, dass du das machst“, ergänzte er mit einem verlegenen Lächeln.

„Kein Problem. Dann treffen wir uns morgen am Haupttor – sagen wir so gegen 15 Uhr?“ „Gebongt“, freute sich Lukas und Aiden unterdrückte ein Jubeln. Sie verabschiedeten sich und Aiden ging grinsend in sein Zimmer.
 

Dort angekommen vernahm er sofort die vertraute Stimme seines Todesengels.

„Du stehst auf die Kleine.“ Ein resignierter Seufzer entfuhr ihm. Reel war nun wirklich der Letzte mit dem er über solche Dinge sprechen wollte.

„Ja und? Ich finde, ich sollte sie fragen. Vielleicht ist das meine letzte Chance mit ihr auf den Ball zu gehen bevor du mich umbringst.“

„Stimmt“, kam es unerwarteterweise von der Bettkante aus zurück. „Du solltest dein Leben nutzen solange du es noch hast.“ Verschmitzt blitzten ihn die feinen Reißzähne seines Gegenübers an und verpassten Aiden wie immer eine Gänsehaut.

„Was soll das mit dem Tattoo eigentlich?“, fragte Aiden leicht gereizt.

„Hm?“

„Das auf meinem Schulterblatt!“

„Das ist kein Tattoo.“ Aiden verdrehte die Augen.

„Sondern?“

„Mein Fluchmal“, antwortete Reel wie selbstverständlich.

„Toll. Und wie werde ich das wieder los?“ Der Dämon zeigte ihm wieder sein betont zuckersüßes Lächeln, als er entgegnete „Genauso wie mich – nämlich gar nicht.“ Aiden seufzte wieder.

„Großartig.“

„Nun beschwer' dich mal nicht. Ich hatte ein Opfer, die trug es mitten im Gesicht. Der Ort wird nämlich rein zufällig ausgewählt. Die Zeit, die ich bei ihr war, musste sie es jeden Tag überschminken.“ Kurz überlegte Aiden.

„Sag mal, Reel“, begann Aiden dann vorsichtig. „Wie viele hast du eigentlich schon getötet?“ Der Dämon machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Keine Ahnung. Weißt du noch wie viele Mücken du schon in deinem Leben erschlagen hast? Oder wie viele Spielzeuge du schon kaputtgemacht hast?“ Stille trat ein.

Reel erhob sich von seinem Stammplatz und wollte gerade nach seinem aktuellen Opfer greifen um zu verschwinden, als Aiden sich doch überwand noch einmal zu fragen.

„Reel?“ Der Angesprochene hielt in der Bewegung inne. „Warum lebe ich noch?“ Verständnislos blicken ihn die roten Augen des Schattens an.

„Bist du so scharf darauf von mir getötet zu werden?“

„Nein! Es ist nur... ich bin doch eigentlich langweilig. Was hält dich bei mir?“ Nun war es Reel, der seufzte und Aiden glaubt wieder ein trauriges Lächeln zu erkennen.

„Um ehrlich zu sein, bin ich irritiert. Normalerweise ist offensichtlich wieso jemand mit mir verflucht wurde, aber bei dir finde ich einfach keinen Grund. Mich wundert ganz einfach, warum sich jemand die Mühe macht, einen Rachedämon zu rufen um einen Schuljungen zu töten.“

„Mich hast du für die Frage ausgelacht“, stellte Aiden trocken fest.

„Jetzt werd bloß nicht frech!“, warnte ihn der Dämon. „Außerdem“, fügte er mit einem genussvollen Lächeln hinzu, „bist du viel unterhaltsamer als du glaubst.“ Ehe Aiden noch etwas sagen konnte, spürte er schon eine Hand an seiner Schulter und Reel löste sich auf.
 

Aiden war schon viertel vor Drei am Haupttor. Lukas war nicht mitgekommen.

„Sag einfach mir wäre was dazwischen gekommen. Denk dir was aus.“ hat er zu Aiden gemeint und hatte ihn dann allein in die Eingangshalle geschickt. Pünktlich um Punkt 15 Uhr erschien auch Mara.

„Hi. Wartest du schon lange?“

„Nein. Bin auch gerade erst gekommen“, log Aiden. Suchend blickte sich Mara um.

„Kommt Lukas gar nicht mit?“

„Der hat noch Training. Er meinte wir sollten ruhig alleine gehen. Er hat sein Hemd ja schon.“

„Ach so, na dann. Wollen wir?“ Fröhlich schritt Mara voran.

Sie ließ ihn ein Hemd nach dem anderen anprobieren und kombinierte sie im Geiste mit verschiedenen Krawatten und Fliegen. Schließlich entschied sie: „Weinrot! Weinrot ist einfach deine Farbe. Hast du eine schwarze Krawatte?“ Aiden nickte. „Dann also das weinrote.“

Auf dem Weg zur Kasse blieb Mara erneut stehen. „Hier!“ Aiden zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich?“

„Vertrau mir. Das wird gut aussehen.“ Sie hielt ihm einen Gürtel in reinem Weiß hin.

„Also gut. Dann also auch noch den weißen Gürtel“, gab sich Aiden lachend geschlagen.

„Und mit wem wirst du zu dem Tanz gehen“, fragte Mara bemüht beiläufig, während sie mit gespieltem Interesse die Auswahl auf einer Auslage betrachtete.

„Also... ich...“, druckste Aiden herum. „Ich hatte gehofft, vielleicht würdest du mit mir hingehen.“ Verlegen sah er zu ihr rüber. Mara wirkte ein wenig überrascht, fing sich jedoch schnell wieder, lächelte ihn an und antwortete fröhlich: „Gerne.“

Auf dem Weg zurück zur Bushaltestelle hakte sie sich unauffällig bei ihm ein und Aiden musste sich zusammenreißen um nicht breit zu grinsen.
 

Am nächsten Morgen erwachte Aiden zu einem recht ungewohnten Bild.

Reel hatte sich auf seinem Schreibtisch breit gemacht und las in einem seiner Bücher. Einige weitere lagen überall im Zimmer verstreut.

„Morgen?“, begrüßte Aiden seinen Mitbewohner vorsichtig.

„Deine Auswahl an Büchern ist gelinde gesagt schrecklich“, überging der Dämon ihn und ließ das Buch achtlos aus der Hand auf den Boden fallen.

Tatsächlich besaß Aiden fast ausschließlich Lehr- und Fachliteratur. Er war nun wirklich keine Leseratte. Wortlos erhob sich Aiden aus dem Bett, sammelte die Bücher auf und stellte sie als Stapel neben seinen Schreibtisch, auf dem Reel nun im Schneidersitz saß. Ohne ihn weiter zu beachten ging Aiden zum Bad – oder vielmehr war das sein Plan gewesen. Denn noch ehe er einen Fuß über die Schwelle setzen konnte, spürte er wie eine Hand ihm von hinten unsanft an die Kehle griff.

„Ich mag es gar nicht“, hörte er den Dämon direkt an seinem Ohr, „wenn man mich ignoriert.“

Reels scharfe Fingernägel bohrten sich in seinen Hals, aber Aiden zwang sich ruhig zu bleiben.

„Ich kann mich immer noch dafür entscheiden, dich gleich zu töten oder dir zumindest weh zu tun.“ „Schon gut. Schon gut. Tut mir leid“, presste Aiden hervor und im nächsten Moment hatte Reel sich schon wieder aufgelöst.

„Du machst mich echt fertig, weißt du das?“ Natürlich wusste er das. Genau das war ja sein Ziel.

Mit noch immer pochendem Herzen machte Aiden sich fertig für den Unterricht.
 

„Morgen.“

„Wie lief's?“, überging nach Reel nun auch Lukas Aidens Begrüßung.

„Sie geht mit mir auf den Ball.“

„Na das ist doch perfekt. Ich hab dir gesagt das klappt. Glückwunsch, man.“

Der Schrecken des Morgens saß ihm noch etwas in den Knochen, als die beiden Jungen den Klassenraum betraten. Immer wenn er glaubte ein wenig besser mit Reel auszukommen, erinnerte ihn dieser daran, dass er doch nur ein Dämon und ein Arschloch war.

Doch selbst von einem Dämonen-Arschloch würde er sich die Freude auf den Ball nicht verderben lassen. Nun musste er bloß noch bis dahin am Leben bleiben.
 

Auf dem Weg zu seinem Zimmer machte Aiden kurzentschlossen noch einen Umweg in die Bibliothek.

Er entschied sich für einen Krimi, eine Science-Fiction Novelle und einen Historienroman. Die Fantasy und Mystery Abteilung überging er großzügig. Wieder in seinem Zimmer sortiert er seine Lehrbücher in den Schrank und legte seine drei Leihexemplare quer darüber. Er durfte nicht vergessen sie vor Ablauf der Leihfrist zurückzubringen.

Es war Aiden lieber, wenn Reel in der Nacht las, als wenn er auf dumme Gedanken käme. Mit dem Sehen und Lesen in der Dunkelheit schiene der Dämon ja anscheinend keinerlei Probleme zu haben.

Und tatsächlich saß Reel am nächsten Morgen mit der Sci-Fi Novelle auf dem Schreibtisch, während Krimi und Historienroman ordentlich neben ihm auf dem Tisch lagen.

„Morgen“, begrüßte ihn Aiden ein Lächeln unterdrückend.

„Morgen“, kann es etwas später von Reel zurück, ohne dass er jedoch von seinem Buch aufsah.

Während er sich fertig machte, schielte Aiden immer wieder zu dem Schatten rüber, doch dieser las konzentriert weiter und schien seine Blicke gar nicht zu bemerken. Er hatte das Buch bereits zu gut drei Vierteln durchgelesen.

Als Aiden in die Knie ging um seine Schuhe anzuziehen, legte Reel es dann doch zu den beiden anderen auf den Tisch und ging mit einer Berührung von Aidens Kopf in diesen über.

So brachte Aiden Reel alle paar Tage eine neue Auswahl an Büchern mit und Reel machte ihm zum Dank das Leben nicht ganz so schwer.
 

„Was passiert eigentlich mit dir, wenn du dein Opfer getötet hast?“, fragte Aiden irgendwann. Er machte gerade Hausaufgaben an seinem Schreibtisch, während Reel ausgestreckt auf dem Bett lag – den dritten Band von 'Das Lied von Eis und Feuer' in den Händen. (Zu Aidens Überraschung war der Dämon tatsächlich ein Enthusiast von Fantasy-Romanen.)

Der Angesprochene sah von seinem Buch auf. „Ich schlafe. Und das so lange, bis die nächste arme Seele mit mir verflucht wird.“

„Kling ziemlich langweilig.“

„Verstehst du jetzt, was ich mit 'du bist unterhaltsamer als du glaubst' meinte?“ Aiden nickte stumm. Das erklärte warum der Dämon so lange bei ihm blieb ohne ihn zu töten. Solange Aiden lebte war Reel ein gewisses Maß an Freiheit gegeben. Schweigend machte er sich wieder an seine Englischaufgaben.
 

Die Tage verliefen für Aiden selten so gut, wie in letzter Zeit. Und das, obwohl er mit einem Rachedämon verflucht worden war. Mit diesem kam er zunehmend besser zurecht.

Sie hatten einen unausgesprochenen Pakt – Reel würde Aiden am Leben lassen, um selbst etwas leben zu können und Aiden ermöglichte es ihm dafür, dieses bisschen Freiheit bestmöglich zu nutzen. Er würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ihm sein Leben mit Reel besser gefiel, aber es war auf jeden Fall spannender und ganz und gar nicht mehr durchschnittlich.

Der Dämon musste sich immer innerhalb eines Radius von ca. 200 Metern um sein Opfer aufhalten. Andernfalls begann das Mal auf Aidens Schulter höllisch zu schmerzen und Reel spürte den selben Schmerz in seiner Brust.

Folglich konnte er sich nur in diesem kleines Radius frei bewegen, doch entgegen aller Befürchtungen, gewöhnten sich beide recht schnell an die dauerhafte Anwesenheit des anderen. Reel war es durch seiner früheren Opfer sowieso gewohnt und seine Lese-Affinität ließ ihn oft stundenlang still in einer Ecke sitzen, was Aiden seinen nötigen Freiraum brachte.

Doch was für den Jungen ein noch größerer Grund zur Freude war: Mara flirtete ihn immer wieder verhalten an und Aiden gab sein Bestes um es ihr möglichst charmant gleichzutun.
 

So verflogen die Tage und der Abend des Schulballs kam.

Treppen rauf und Treppen runter

Kapitel 3 – Treppen rauf und Treppen runter
 

„Das ist doch... wie?... Häää!?!“ Aiden fluchte.

Verzweifelt kämpfte er mit seiner schwarzen Krawatte und auch sein Verbündeter 'das YouTube-Tutorial' vermochte nicht ihn zu retten.

Skeptisch sah Reel von seinem Buch hoch – 'Lost Boy' in der englischen Originalfassung.

Aiden hatte es extra in der Buchhandlung in der Innenstadt bestellen lassen um seinen Schatten zu bestechen. Dieser bekam das Buch und würde sich dafür für die Dauer des Balls nicht in Aidens Körper aufhalten.

Wenn Reel in der Etage unter der Aula blieb, in der der Tanz stattfinden sollte, würden sie ihren Maximalabstand nicht überschreiten.

Seufzend legte der Dämon das Buch zur Seite und sprang mit einer geschmeidigen Bewegung vom Schreibtisch, landete nahezu lautlos und huschte entspannt zu Aiden. Mit einer raschen Berührung des Handybildschirms ließ er den Sprecher des Tutorials verstummen.

Wortlos nahm er Aiden die Enden der Krawatte aus den Händen und entwirrte das Durcheinander, welches Aidens erfolglose Versuche verursacht hatten.

Mit geschickten Bewegungen verknoteten Reels schlanke Finger den schwarzen Stoff. Fachmännisch zog er die Krawatte fest, deren Ende perfekt mit Aidens weißem Gürtel abschloss. Zufrieden betrachteten die roten Augen ihr Werk.

„Ein doppelter Windsor-Knoten. Einen einfachen solltest selbst DU beherrschen“, sagte er gespielt spöttisch.

„Wozu denn? Lange lebe ich ja eh nicht mehr und für die Zeit, die mir noch bleibt, hab ich ja dich“, gab Aiden grinsend zurück. Galgenhumor hatte sich mittlerweile zu ihrer zweiten Sprache entwickelt. Manchmal schaffte Aiden es auf diese Weise sogar dem Dämon ein aufrichtiges Lachen zu entlocken.

„Wie gut tanzt du?“, fragte dieser plötzlich.

„Was?“

„Wie gut du tanzt.“

„Ähm... so unterer Durchschnitt?“

„Dann trag' Socken in schwarz oder weinrot.“ Verwirrt sah Aiden auf seine hellblauen Socken runter.

„Aber-“, begann er.

„Doch!“, schnitt Reel ihm das Wort ab. „Man kann die Socken auch bei langen Hosen sehen – besonders bei Anzughosen.“

„Aber was hat das denn damit zu tun, wie gut ich tanze?“, fragte der immer noch sichtlich irritierte Aiden, während er sich geschlagen zu seiner Kommode bewegte. Der Dämon seufzte.

„Wenn man besonders gut tanzen kann, dann würde man zu solchen Gelegenheiten weiße Socken tragen, um die Aufmerksamkeit auf die Beine und das Tanzen zu lenken. Michael Jackson ist ein gutes Beispiel dafür.“

„Du kennst dich wirklich gut aus,“ gab Aiden anerkennend zu.

„Bin viel rum gekommen“, winkte Reel ab. Endlich zog Aiden ein Paar schwarzer Socken aus der Schublade und ließ sich mit diesen aufs Bett fallen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass ihm der Kampf mit der Krawatte mehr Zeit geraubt hatte, als er angenommen hatte. Schnell zog er seine Schuhe an und ging Richtung Zimmertür. Jackett war keine Pflicht und es war auch viel zu warm dafür, also ließ er es weg.

„Hey!“, rief Reel ihn zurück und drückte ihm sein Buch in die Hand.

„Vergiss mich nachher bloß nicht!“

„Ich bin mir sicher, du wirst dich mir ins Gedächtnis rufen“, gab Aiden zurück und zwinkerte seinem rotäugigen Schatten zu.
 

Mit dem Buch in der Hand und Reel im Körper marschierte er schnellen Schrittes los.

Er wollte Mara in der Eingangshalle treffen, doch vorher musste er das Buch in einem Klassenraum unter der Aula deponieren. Er wählte einen Geschichtsraum und legte das Buch auf einen Tisch in der ersten Sitzreihe. Verstohlen eilte er zur Haupthalle zurück und erschien dort grade rechtzeitig, um Mara in einem bodenlangen asymmetrischen Kleid und silbernen Riemchenschuhen die Treppe hinab schreiten zu sehen.

Zu Aidens freudiger Überraschung trug auch sie weinrot. Ihre Haare waren zu einem wahren Meisterwerk verflochten und einzelne kleine Blüten in der Farbe ihres Kleides gaben ihrer Frisur den letzten Schliff.

Aiden klappte die Kinnlade runter. Mara sah aus wie eine Prinzessin aus einem Märchen. Gentlemanlike bot er ihr am Treppenende seinen Arm an und Mara hakte sich dankbar ein.

„Du siehst absolut umwerfend aus“, platzte es aus Aiden heraus und Mara lief sofort rot an.

„Danke.“ gab sie mit einem verlegenen Lächeln zurück. „Du auch. Weinrot ist eben einfach deine Farbe.“

„Dir selbst steht sie aber auch sehr gut.“ Verlegen lächelnd machten sie sich gemeinsam auf den Weg zum Unterrichtsflügel und stiegen dort die Treppen zur Aula hoch. Dort angekommen sicherten sie sich zwei Plätze, bevor Aiden sich bei Mara entschuldigte und mit einer Ausrede aus dem Saal stahl. Flink huschte er die Treppen in die nächsttiefere Etage hinab und wich auf dem Weg weiteren Pärchen und kleinen Gruppen aus.

Im Geschichtsraum angekommen löste sich der vertraute schwarze Nebel von ihm und manifestierte sich zu der schlanken Gestalt des Dämons.

Mit prüfendem Blick richtete dieser erneut die Krawatte des Kleineren und zog dessen Kragen grade.

„Tu nichts, was ich tun würde“, sagte er mit einem schwachen Lächeln. „Und stirb bloß nicht.“

„Ich weiß, ich weiß. DAS Privileg gebührt ganz allein dir“, antwortete Aiden mit gespielter Dramatik in der Stimme. Schmunzelnd griff Reel nach seinem Buch und machte es sich auf dem Lehrertisch bequem. Kopfschüttelnd betrachtete Aiden den gepolsterten, leeren Stuhl des Lehrers bevor er sich umdrehte und mit den Worten „Bis nachher.“ aus dem Zimmer verschwand.

Wieder bei Mara entschuldigte er sich erneut für seine Abwesenheit, bevor er sich zu ihr setzte und sie gemeinsam auf den Beginn der Eröffnungsrede warteten.
 

Unter sich hörte Reel die Musik des Balls. Über die Hauswand hatte er sich aufs Dach geschlichen und betrachtete nun traurig den Himmel. Viele Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte existierte er nun schon auf diese Weise. In so langer Zeit veränderte sich viel, aber der Himmel war eine Konstante. Die einzige Konstante auf die Reel sich verlassen konnte.

Wenn er den Sternenhimmel betrachtete, konnte er für einen Moment ignorieren, wie viel Zeit bereits vergangen war und was die Zeit ihm alles genommen hatte.

Der Walzer unter ihm verklang und nach einer kurzen Pause ertönten die zarten Klänge eines Stückes, das Reel nur zu bekannt war. Ein Pianist, der einst mit Reel verflucht worden war, hatte es oft gespielt und der Dämon hatte gefallen daran gefunden.

Es war ein verträumtes und melancholisches Stück – hier in der Orchesterfassung.

Mit sicheren Schritten bewegte sich Reels Silhouette über den Giebel. Er ließ sich von der Musik führen und tanzte geschickt ohne eine feste Schrittfolge über die Dachziegel. Eine einsame Träne ran über seine blasse Wange während seine Lippen stumm einen Namen flüsterten.

Lange blieb er auf dem Dach, betrachtete den Nachthimmel und tanzte. Reel wusste nicht mehr, wann er es sich das letzte mal gestattet hatte zu weinen.

Vor seinen Opfern, tat er es nie.
 

Aiden gab sich größte Mühe sich wie ein Gentleman zu verhalten und versuchte sich beim Tanzen möglichst wenig zu blamieren. Rhythmusgefühl war noch nie seine Stärke gewesen, doch Mara half ihm immer wieder aus der Klemme indem sie ihm den Takte laut vorzählte und ihn ab und an wieder in die richtige Richtung schob. Irgendwann wurde von Klassik auf Pop gewechselt und so tanzten und redeten sie die ganze Nacht, bis der Ball offiziell für beendet erklärt wurde und die Schüler von müden Lehrkräften in die Schlaftrakte gescheucht wurden.

Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt Aiden kurz inne. „Ich hab heute Vormittag ein Buch im Geschichtsraum liegen lassen. Wartest du kurz hier? Ich hole es schnell“, unterbrach er sein Gespräch mit Mara.

„Na gut, aber beeil' dich. Die Lehrer werden schon ungeduldig.“

Aiden lief die paar Stufen, die er zu weit gelaufen war, wieder hoch um sein Buch und seinen Dämon einzusammeln.

Dieser klappte nur wortlos sein Buch zu, drückte es seinem Opfer in die Hand und und verschwand in dessen Körper. Aiden stutzte.

Reel hatte irgendwie fertig ausgesehen und so schweigsam war er sonst auch nicht. Allerdings verstand Aiden selten, was in dem eigensinnigen Dämon vorging und er wollte sich die gute Laune auch nicht verderben lassen. Eilig richtete er den Lehrertisch wieder ordentlich her, schloss die Tür und lief zurück zu seiner Begleitung, die bereits ungeduldig auf ihn wartete.

In dieser Nacht schlief Aiden selig. Mara hatte ihm zum Abschied einen Kuss gegeben.

Einen Echten. Auf den Mund. Noch roter als ihr Kleid, war sie dann im Mädchen-Trakt verschwunden und Aiden hatte einige Sekunden gebraucht um zu begreifen, was grade passiert war. Müde und glücklich war er nach einer schnellen Dusche in sein Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
 

Als Aiden gegen Mittag erwachte, war Reel nirgends zu sehen. Auch das Buch lag noch unangetastet an der Stelle, an die Aiden es bei seiner Rückkehr gelegt hatte.

Verwirrt fühle er in sich hinein. Er hatte mittlerweile gelernt, Reel zu spüren. So konnte Aiden herausfinden, wo sein Schatten war, auch wenn er sich grade nicht in seinem Körper befand.

Aiden konzentrierte sich und spürte eine Art mentale Mauer, mit der Reel sich von ihm abgeschirmt. So konnte der Dämon sicher gehen, dass Aiden seine Emotionen nicht erahnte.

Dem Jungen war aufgefallen, dass er manchmal vage spüren konnte, wie es Reel grade ging oder was er grade fühlte. Dass es sich bei ihre Verbindung nicht um eine Einbahnstraße handelte, war Reel bewusst, aber nur selten waren Opfer geschickt genug (und lang genug am Leben) um diese Verbindung bewusst nutzen zu können. In solchen Fällen musste er sich dann mit einigen Tricks, die Reel sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte, vor seinen Opfern schützen.

Aiden war noch dazu ein besonderer Fall.

Je mehr Zeit er mit ihm verbrachte und je mehr Sympathien er für den Jungen entwickelte, umso leichter schien es für ihn zu werden den Dämon zu lesen und das musste er so gut wie möglich verhindern.

Niemanden ging an, was in Reels Kopf vor sich ging. Er wühlte gern im Geist anderer, aber seinen eigenen schütze er vehement.

Grade gegenüber Aiden musste er aufpassen, denn zu seiner Überraschung hatte sich der Schuljunge als erstaunlich geschickt in der Nutzung ihrer Verbindung erwiesen und noch dazu weckte er in Reel immer wieder Erinnerungen aus anderen Zeiten, die ihn unwillkürlich schwach werden ließen.
 

Den ganzen Tag verschanzte sich der Schatten.

Erst am nächsten Morgen fand Aiden seinen dämonischen Mitbewohner an dessen gewohntem Platz auf dem Schreibtisch vor.

„Morgen“, begrüßte er ihn vorsichtig und erhielt als Antwort nur ein knappes Nicken.

Aiden versuchte gar nicht erst zu erfragen was los war. Wenn der Dämon nicht sprechen wollte, dann sprach er auch nicht. Schlimmstenfalls verlor er die Geduld und reagierte wütend oder sogar aggressiv, und darauf hatte Aiden nun wirklich keine Lust.

Stattdessen hievte er sich aus dem Bett und begann in seinem Kleiderschrank nach einem Paar Socken zu suchen. Schweigend zog er sich an und sah dabei immer wieder verstohlen zu seinem Dämon. Erneut schaffte er es nicht Reels Schweigen zu ertragen.

„Danke“, gab er leise von sich, während er in seine Schuhe schlüpfte.

„Hm?“, fragend schaute der Angesprochene von seinem Buch auf und sah den Jungen endlich an. „Danke, dass du mir den Abend überlassen hast.“

„A Deal is a Deal. Und ich war nicht besonders scharf darauf dich dabei zu beobachten, wie du dich hoffnungslos blamierst“, antwortete der Dämon trocken und wich seinem Blick aus.

Während Reels Augen wieder zu den Buchseiten wanderten, stand Aiden unschlüssig vor der Zimmertür. Kurzentschlossen überwand er die paar Schritte zum Schreibtisch und streckte Reel seinen Arm entgegen. Verwirrt sah dieser ihn an.

„Wir müssen los“, erklärte Aiden mit einem flüchtigen Blick zur Tür.

„Oh.“ Vorsichtig legte der Angesprochene das Buch zur Seite und griff nach dem dargebotenen Arm. Noch bevor der schwarze Nebel vollständig verschwunden war, konnte Aiden eine gewisse Unruhe von seinem Rachedämon ausgehen spüren. Diese kämpfte Reel allerdings schnellstmöglich nieder und schickte Aiden stattdessen einen kurzen, stechenden Schmerz, der ihm unmissverständlich klar machte, dass er Reel wohl lieber nicht drauf ansprechen sollte.

„Schon gut. Tut mir leid“, murmelte Aiden schuldbewusst und verließ schließlich sein Zimmer.
 

Auf dem Flur traf er auf Lukas und zwei weitere Jungs seines Jahrgangs, die ebenfalls auf dem Weg zum Frühstück waren. Nach einer knappen Begrüßung reihte er sich neben Lukas und vor den beiden anderen Jungen ein. Verschlafen wechselten sie einige Worte.

An der Treppe zur Haupthalle angekommen spürte Aiden plötzlich einen starken Stoß im Rücken. Einer der Mitschüler hinter ihm war wohl gestolpert und dabei gegen Aiden geprallt. Dieser verlor nun das Gleichgewicht, taumelte einige Schritte nach vorn und rutschte schließlich von einer Treppenstufe ab.

Hart schlugen Aidens Schulter und Hüfte auf die steinernen Stufen bevor sein Körper begann den Gesetzen der Physik folgend die Treppe hinunterzustürzen.

Zu Aidens Glück waren Reels Reflexe weitaus besser als seine eigenen und so riss der Dämon erneut die Kontrolle über den Körper an sich.

Instinktiv schütze er Aidens Kopf mit den Armen vor dem Aufprall, bevor er verbissen in Richtung des Geländers griff und dieses glücklicherweise auch zu fassen bekam.

Durch den Halt des Geländers gebremst, kam Aidens Körper abrupt auf den Stufen zum Stillstand. Aiden hatte noch nicht recht verarbeitet was hier passierte.

Er fühlte sich taub und entfremdet. Alles passierte so schnell und der Schmerz, den er hätte spüren sollen, war dumpf und schwach.

Doch nun, da sein Körper nicht mehr fiel, gab Reel die Kontrolle wieder ab und der Schmerz durchzog Aiden nun in vollem Ausmaß.

Kurz von diesem übermannt gab Aiden einige gequälte Laute von sich und fluchte leise während er sich die geschundene Schulter hielt.

„Aiden! Alles in Ordnung?“ Lukas kam um ihm aufzuhelfen, doch Aidens Beine gaben beim Versuch aufzustehen nach.

„Fuck!“, fluchte er erneut als er wieder in sich zusammensackte. Vorsichtig stemmte er sich ein zweites Mal am Treppengeländer hoch und hatte dieses Mal auch Erfolg damit.

„Verdammt! Ich bring dich besser ins Krankenzimmer.“ Mit zusammengebissenen Zähnen und weiteres Fluchen unterdrückend, hievte Aiden sich die restlichen Stufen hinunter und dann in Richtung Krankenzimmer.
 

Dort angekommen erklärte Lukas der Schwester, was passiert war.

„...aber er hat sich abgerollt wie ein Pro“, endete er witzelt deine Ausführungen und grinste Aiden aufmunternd an.

„Du hattest wirklich großes Glück. Wer weiß, was dir passiert wäre, wenn du die gesamte Treppe hinunter gestützt wärst.“ Besorgt zog die Krankenschwester die schmalen Augenbrauen hoch.

„Du hast dir einige Prellungen zugezogen, aber nichts Ernstes soweit ich das beurteilen kann. Vielleicht solltest du trotzdem dem Krankenhaus einen Besuch abstatten.“

„NEIN!... Ich meine... Ich glaube das wird nicht nötig sein.“ Nervös lächele Aiden die Schwester an, auf deren Gesicht sich erneut Sorge abzeichnete.

„Das musst du selbst wissen. Ich kann es dir nur als Herz legen, Aiden. Behalte deine Prellungen im Auge und falls dir noch etwas anderes auffällt oder du dich unwohl fühlst, komm bitte sofort wieder zu mir.“

„Zu Befehl“, gab sich Aiden geschlagen.

„Außerdem befreie ich dich vom Sportunterricht. Erstmal nur für diese Woche. Falls du eine Verlängerung der Sportbefreiung brauchst, komm bitte nächsten Montag noch einmal her.“ Aiden nickte schweigend.

Langsam liefen er und Lukas über den Flur. Zum Einen taten Aiden alle Knochen weh und zum Anderen hatte es keiner von beiden besonders eilig zum Englischunterricht zu kommen und nun hatten sie eine legitime Ausrede fürs Zuspät-sein.

„Dein Schutzengel hat echt zu tun bei dir“, begann Lukas. „Erst springst du todesmutig vor ein Auto und jetzt wählst du den Direktweg beim Treppensteigen. Beides hätte echt scheiße für dich enden können und trotzdem bist du ohne ernsthafte Verletzungen davongekommen. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden, sonst verpasst du mir noch 'nen Herzinfarkt.“

„Sorry. Ich werde versuchen nicht all zu bald draufzugehen“, antwortete Aiden, wobei die Worte einen bitteren Nachgeschmack hinterließen.
 

Gelangweilt quälte er sich durch den restlichen Schultag. Jedes Mal, wenn er von seinem Platz aufstand oder sich hinsetzte, schmerzten seine Prellungen an der Hüfte und mehrmals beging er den fatalen Fehler, seinen Rucksack aufsetzen zu wollen und jedes Mal meldete sich daraufhin seine Schulter mit einem stechenden Schmerz.

Zurück in seinem Zimmer legte sich Aiden vorsichtig auf sein Bett. Im Laufe des Tages hatte der Schmerz, welchen die Prellungen verursachten, mehr und mehr zugenommen.

„Ich werde mich morgen keinen Millimeter bewegen können“, stöhnte er mit dem Arm über den Augen. Er brauchte nicht aufzusehen um zu merken, dass Reel sich neben ihm materialisierte. Er konnte die vertraute Präsenz neben sich deutlich spüren.

„Jammer nicht rum. Ich hätte dich auch noch ein paar Stufen weiter fallen lassen können.“

„Danke, dass du mich überhaupt aufgefangen hast. Aber es fühlt sich unglaublich seltsam an, wenn du meinen Körper übernimmst.“

„Also soll ich dich nächstes mal einfach fallen lassen?“

„NEIN! Das meinte ich doch gar nicht...“ Erschöpft und resigniert seufzte er. „Ich sag nur, dass es sich seltsam anfühlt. Bitte rette mich auch weiterhin. Wie du sicher weißt, möchte ich eigentlich noch nicht sterben.“

„Dann hör auf zu Jammern. Schmerz zeigt, dass du noch am Leben bist. Und grade du solltest wissen, dass sich dieser Umstand sehr schnell ändern kann.“ Ein kurzes Schweigen entstand als Aiden plötzlich ein Gedanke kam.

„Warum tat es eigentlich so weh als du mir die Kontrolle zurück gegeben hast? Letztes Mal tat es doch auch nicht weh.“

„Das hatte nichts mit der Kontrollübernahme an sich zu tun. Was du gespürt hast, war der Schmerz vom Sturz. Du konntest ihn vorher nicht spüren, weil diese Art Schmerz hauptsächlich an den Körper gebunden ist.“

„Heißt das, DU hast den Schmerz beim Sturz gespürt?“

„Du bist also doch nicht ganz so schwer von Begriff.“

„Ein einfaches 'Ja.' hätte mir auch gereicht“, maulte er Reel an, der mit einem vielsagenden Grinsen seine Reißzähne entblößte.

„Brr. Ich krieg jedes mal eine Gänsehaut, wenn du das machst.“

„Und genau darum macht es so viel Spaß“, antwortete der Dämon und grinste noch breiter.

„Du bist anstrengend.“

„Danke. Ich geb' mir ja auch die größte Mühe.“
 

Schwerfällig hievte sich Aiden aus dem Bett und bewegte sich mühevoll in sein Badezimmer.

Im Spiegel begutachtete er seine Blessuren. Mehrere kleine und mittlere blaue Flecken übersäten seinen ganzen Körper, gekrönt von zwei riesigen Hämatomen, die auf seiner Schulter und seiner Hüfte thronten.

Vorsichtig betastete er die blau-grünlichen Flecken und verzog sofort schmerzverzerrt das Gesicht. Ein müdes Seufzen entfuhr ihm. Von diesem Treppensturz würde er wohl noch eine ganze Weile was haben.

Frisch geduscht und mit geputzten Zähnen verließ er das Bad. Sein Rachedämon saß wie immer auf dem Schreibtisch – d ie Beine übereinander geschlagen und die Nase in einem Buch.

Aiden legte sich in sein Bett und spielte einige Runden eines Mobile Games auf seinem Handy um sich abzulenken, bevor er seine Nachttischlampe löschte und sich schlafen legte.

„Nacht, Reel.“

„Jetzt schon?“ Überrascht zog er die Augenbrauen hoch.

„Ja... Ich bin aus völlig unerfindlichen Gründen echt erschöpft. Ich will ja nicht spekulieren, aber es könnte an meinem spektakulären Sturz von der Treppe liegen.“ Ungelenk drehte er sich noch einige schmerzhafte Male in seinem Bett herum, dann schlief er endlich ein.

Schmerzen kommen und gehen

Kapitel 4 – Schmerzen kommen und gehen
 

Der Morgen begann genauso schrecklich wie Aiden ihn sich vorgestellt hatte.

Sein Wecker klingelte und schon beim Versuch nach seinem Handy zu greifen begann sein gesamter Körper vehement zu protestieren.

Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr ihm und entlockte Reel ein schadenfreudiges Lachen.

Mit zusammengebissenen Zähnen rollte Aiden sich aus dem Bett.

Reel entschied, dass sein Opfer wohl unterhaltsamer sein würde als sein Buch und legte es zur Seite. Amüsiert beobachtete er, wie Aiden sich langsam in seine Kleidung quälte und ihm immer wieder entnervte Blicke zuwarf. Übermäßig freudig erinnerte Reel ihn daran, dass er am Vorabend vergessen hatte seinen Rucksack für diesen Schultag zu packen, und betrachtete genießerisch, wie sich Frustration auf Aidens Gesicht breit machte.

„Wenn du dich den ganzen Tag in diesem Tempo bewegst wird das ziemlich langweilig heute.“ Aiden wollte grade zu einer bissigen Antwort ansetzen, als Reel von seinem Platz aufsprang und zu ihm hinüber schlenderte.

„Lass mich mal was probieren.“ Mit diesen Worten schob er Aiden zu seinem Bett und zwang ihn sich zu setzen.

„Was-“

„Shhh! Ich sagte – lass mich was probieren.“ Mit flinken Fingern knöpfte er das karierte Hemd auf für das Aiden sich entschieden hatte, nachdem er daran gescheitert war, sich ein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Das Hämatom an seiner Schulter gab ihm dafür einfach nicht genügend Bewegungsspielraum.

„HEY! Was-“

„SHHH!“ Reels glühende Augen ließen keinen weiteren Widerspruch zu, weshalb Aiden sich nun widerwillig von dem schwarzhaarigen Dämon das Hemd ausziehen ließ. Grober als er es sich erhofft hatte, griff der Dämon nach seiner malträtierten Schulter.

Aiden biss die Zähne zusammen. Er würde ihm nicht die Genugtuung geben seinem Schmerz eine Stimme zu verleihen und so schluckte er ihn tapfer hinunter. Reel schloss seine unmenschlichen Augen und setzte eine konzentrierte Miene auf.

Langsam begann er sich aufzulösen und zeitgleich spürte Aiden, wie der Schmerz in seinem gesamten Körper nachließ. Reel verschwand vollständig in seinem Körper und kurz danach war auch der Schmerz vollkommen verschwunden. Und nicht nur das.

Die Prellungen waren ebenfalls nirgends mehr zu finden – weder die kleinen blauen Flecken noch die großflächigen Hämatome. Vorsichtig inspizierte er die Stellen, die bis eben noch dunkelblau-grünlich gefleckt gewesen waren.

„Wow! Alles verheilt... Moment... Soll das heißen, dass du mich die ganze Zeit über hättest heilen können?“, fuhr er seinen inneren Dämon an, doch erhielt überraschenderweise keine Antwort. Verwirrt horchte er in sich hinein. Reel war noch da. Er konnte seine Präsenz eindeutig spüren, doch es fühlte sich an, als würde sein Bewusstsein schlafen.

„Reel?“ Aiden konzentrierte sich, aber Reel schien ihn nicht zu hören. Alles was er von ihm wahrnehmen konnte, war eine Art unruhiger Schlaf.

„Verdammt! Was soll das jetzt wieder? Und zum Frühstück schaffe ich es jetzt auch nicht mehr.“ Etwas besorgt und mit neugewonnener Schmerzfreiheit eilte er aus seinem Zimmer und zu seiner Klasse.
 

Reel hatte die Augen geschlossen um sich besser konzentrieren zu können, doch als er sie nun wieder öffnete, befand er sich nicht mehr mit Aiden in dessen Zimmer. Verwirrt sah er sich um und fand sich auf einem Dach wieder. Über ihm schimmerte der Nachthimmel und unter ihm breitete sich eine altertümliche Stadt aus. Musik fand ihren Weg an sein Ohr. Musik, wie er sie lange nicht mehr gehört hatte, und wie auf Stichwort konnte Reel in diesem Moment mehrere in Kapuzenumhänge gehüllte Gestalten durch die Gasse unter ihm rennen sehen.

„Unglaublich, wie leise sie sein können, obwohl sie so viele sind.“ Die vertraute Stimme kam von einer weiteren Kapuzengestalt, die nun aufrecht neben Reel auf dem verwitterten Dach stand.

Tränen stiegen ihm in die Augen. Er versuchte zu sprechen, doch seine Stimme versagte. Stattdessen sprach die Person in dem verschlissenen, mitternachtsblauen Umhang mit sanfter Stimme weiter.

„Gibst du dir immer noch die Schuld dafür?“ Unter Tränen nickte Reel.

„Wie könnte ich nicht? Ich hab dich umgebracht.“

„Und ich hab dir nie die Schuld dafür gegeben.“ Reel schluckte seine Tränen hinunter und sah in die strahlend blauen Augen unter der Kapuze.

„Ich vermisse dich.“ Die schmalen Lippen der Gestalt verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. „Es tut mir so leid, dass ich nicht bei dir sein kann, Relakesch.“ Erneut schossen Reel Tränen in die Augen. Verzweifelt versuchte er sie weg zu blinzeln. Dennoch begannen die zarten Züge des Gesichtes unter der Kapuze zu verschwimmen.

„Nein! WARTE!“ Gegen seinen Willen begann sich die Welt um ihn herum aufzulösen. Nachthimmel und Stadt verloren ihre Form und verschwanden. „NEIN, BITTE!“ Doch Reel befand sich nun wieder in Aidens Inneren. Schnellstmöglich kämpfte er seine Gefühle nieder und schloss alles, was dieser Traum hatte hochkochen lassen, wieder im tiefsten Winkel seine Seele weg.
 

Ein kurzer stechender Schmerz riss Aiden aus seinen Gedanken. Reels Bewusstsein war wieder wach und anscheinend ziemlich aufgewühlt.

„Entschuldigung“, zog Aiden die Aufmerksamkeit seiner Lehrerin auf sich. „Darf ich bitte auf die Toilette gehen?“ Schnellen Schrittes verließ er das Klassenzimmer.

„WAS HAST DU GEMACHT?“, fuhr Reel ihn wütend an sobald sie allein waren.

„Ich? Ich hab gar nichts gemacht! DU hast irgendwas gemacht! Und dann waren die blauen Flecken alle weg und du hast plötzlich geschlafen!“ Die roten Augen sahen ihn eindringlich an. Schließlich entschied er, dass Aiden ihn nicht anlog.

„Also hat's funktioniert?“ Wechselte er schnell das Thema, knöpfte erneut ungefragt die obersten Hemdknöpfe auf und begutachtete Aidens Schulter.

„Moment! Du wusstest gar nicht, ob das funktioniert?“

„Ich hatte eine Ahnung. Ich bin ein Rachedämon – Heilen ist also keine meiner Stärken.“

„Aber es hat trotzdem geklappt“, stellte Aiden fest.

„Ja. Unsere Verbindung ist also stark genug, dass ich nicht nur deinen Geist, sondern auch deinen Körper beeinflussen kann.“ Irritiert sah Aiden in die roten Augen vor ihm.

„Aber warum warst du dann für...“ Er sah auf seine Armbanduhr. „...knapp 2 Stunden weg?“

„Ich nehme an es hat seinen Preis, wenn ein Rachedämon seine Fähigkeiten zum Heilen und nicht zum Zerstören einsetzt... Das könnte noch ganz interessant werden.“ Aiden verzog das Gesicht. Die Art wie Reel die Worte aussprach, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

„Wie lange hattest du schon die Theorie, dass du mich heilen könntest?“

„Hm? Eine ganze Weile.“

„Also hast du dir absichtlich Zeit gelassen, um mich leiden zu sehen“, stellte Aiden nüchtern fest und erhielt ein boshaftes Grinsen zur Bestätigung.
 

Mit einem resignierten Seufzer und einem unterdrückten, beruhigten Lächeln kehrte Aiden wieder in seine Klasse zurück. Reels Abwesenheit hatte ihm mehr Sorgen bereitet als er sich selbst eingestehen wollte.

Wieder in der Klasse begrüßte ihn der besorgte Blick seines besten Freundes.

„Alles in Ordnung? Ist irgendwas, weil du von der Treppe gefallen bist?“

„Nein nein. Alles okay“, versuchte Aiden ihn zu beruhigen und wandte sich dann wieder dem Unterricht zu.

In der Pause gesellte sich auch Mara zu ihnen und erkundigte sich nach Aidens Zustand.

„Wie geht’s deinen Prellungen? Konntest du die Nacht über wenigstens ein bisschen schlafen?“

„Ja... also geschlafen hab ich nicht besonders, aber mir geht’s schon wieder ganz gut“, stammelte Aiden verlegen und wurde etwas rot.

„Gut genug, dass du am Wochenende mit mir in die Stadt gehen könntest?“

„Öhm... J- Ja... Ich meine, gerne.“

„Super“, quietschte Mara fröhlich. „Dann treffen wir uns am Samstag Vormittag in der Haupthalle. Sagen wir 10:30 Uhr?“

„Ja. Ich freu' mich“, gab Aiden begeistert zurück.

„Perfekt. Ich mich auch.“ Lächelnd hüpfte das blonde Mädchen über den Hof zu ihrer Schwester ein paar Meter weiter, deren unergründlicher Blick auf Aiden ruhte. Wieder bei ihrer Schwester angekommen, begann Mara auch schon vergnügt auf diese einzureden.

Ein Stoß in die Rippen brachte Aiden wieder in die Realität zurück.

„Mütter, versteckt eure Töchter! Aiden der Herzensbrecher ist unterwegs“, feixte Lukas begeistert.

Verlegen blickte Aiden zur Seite.

Die folgenden Stunden verbrachte er damit, das Date im Geiste durchzuspielen und lauschte nur halbherzig dem Unterrichtsstoff seiner Lehrer. Seine Gedanken kreisten ununterbrochen um Mara und den kommenden Samstag.
 

Am Abend riss ihn Reel schließlich doch aus seiner Träumerei. Gedankenverloren tippte er auf seinem Handy herum und beobachtete, wie seine Monster in „Summoners War“ eine Stage nach der anderen frei räumten als Reel plötzlich unvermittelt vor ihm stand.

„Wie spät ist es?“ Aiden sah ihn irritiert an.

„Ähm... ungefähr halb acht.“

„Nicht ungefähr. Wie spät genau.“

„19:27 Uhr. Aber warum...“ Bevor Aiden reagieren konnte, griff der Dämon nach seiner freien Hand und zog sie grob zu sich. Mit einer gezielten Bewegung führte er seinen Dolch über die Handfläche des perplexen Aiden, dem nun ein kurzer Schmerzensschrei entfuhr bevor er seine Hand reflexartig zurückzog.

„AUA! Was zum?! REEL!“ Ungerührt ließ dieser die Klinge wieder verschwinden und griff besitzergreifend nach der blutenden Hand. „Reel! Was...“

„Halt still!“ Herrisch legte der Dämon seine feingliedrigen Finger auf die Schnittwunde und schloss konzentriert die Augen. Erneut konnte Aiden spüren, wie der Schmerz abebbte und Reel sich langsam auflöste.

Nachdem sein Dämon sich de-materialisiert hatte, wusch sich Aiden das Blut von der Hand. Tatsächlich war der Schnitt vollständig verheilt. Bei genauem Hinsehen konnte Aiden jedoch eine feine Linie auf seiner Handfläche erkennen. Kaum sichtbar aber unbestreitbar vorhanden zeichnete sich dort eine schmale Narbe ab, wo Reel ihn eben geschnitten hatte.

„Na toll... noch etwas, was ich wohl nie wieder loswerde.“ Vorsichtig horchte er in sich hinein und fand den Verantwortlichen für die Narbe schlafend in seinem Unterbewusstsein vor. Resigniert seufzte er.

„Du bringst mich wirklich noch ins Grab... Im wahrsten Sinne des Wortes.“

Einige Minuten vergingen als er plötzlich Reel in sich erwachen spürte. Ruhiger als beim letzten Mal löste sich der schwarze Nebel von Aidens Körper und nahm die vertraute Form des jung-aussehenden Dämons an.
 

Reel betrachtete Aidens Hand und ein zufriedener Ausdruck zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Wie lange war ich weg?“, fragte er ohne von Aidens Hand aufzusehen. Mit einem Blick auf sein Handy antwortete dieser „16 Minuten.“

„Hm...“ Reel wirkte nun etwas weniger zufrieden.

„Das geht bestimmt schneller...“ Vorsichtig strichen die blassen Finger über die frische Narbe. „Und bestimmt auch besser...“ Schweigend beobachte Aiden seinen Dämon.

Einerseits beunruhigte es ihn zu tiefst, dass Reel anscheinend wirklich keinerlei Skrupel hatte, ihn zu verletzen nur um etwas auszuprobieren. Andererseits fühlte es sich seltsam gut an, dass Reel ein solches Interesse daran zeigte, sich darin zu verbessern ihn zu heilen.

Plötzlich überkam Aiden eine ungute Vorahnung, die sich sofort bestätigte.

Reels bösartiges Grinsen entblößte seine Reißzähne und im nächsten Moment sah Aiden erneut die Klinge aufblitzen, die ihn erst vor wenigen Minuten zum Bluten gebracht hatte. Erfolglos versuchte er seine Hand aus dem eisernen Griff des Dämons zu winden und Panik begann in ihm aufzusteigen.

„Reel! REEL, NEIN! Das reicht doch! Lass mich! BITTE!“ Wieder trat dieser genießerische Ausdruck in die roten Augen, den Aiden so sehr hasste und noch mehr fürchtete. Langsam zog der Dämon sein Opfer näher zu sich heran. Aidens Widerstand bereitete Reel dabei offensichtlich eher Vergnügen als Schwierigkeiten, was Aidens Panik noch weiter ansteigen ließ.

Egal, ob Reel ihn im Nachhinein wieder heilen konnte – den Schmerz würde er spüren und bei lebendigem Leib aufgeschnitten zu werden gehörte definitiv nicht zu den Dingen, die Aiden gern über sich ergehen lassen würde.

Unnachgiebig umklammerten die schlanken Finger Aidens Handgelenk, während die roten Augen sich beim Näherkommen in seine Seele zu brenne schienen.

Als die Klinge die empfindliche Haut an Aidens Unterarm berührte, erreichte seine Panik ihren Höhepunkt.

Reel hatte sich nun nicht mehr unter Kontrolle und brach in schallendes Gelächter aus.

„Schon gut. Schon gut. Ich ärgere dich doch bloß. Für heute lass ich dich in Ruhe.“ Doch um Aiden war es geschehen. Unaufhaltsam rannen ihm Tränen über die Wangen. Sofort ließ Reel von seinem Handgelenk ab und zog sich einen kleinen Schritt weit zurück.

Der Dämon hielt einen Moment inne, bevor er unerwarteter Weise eine sanftere Miene aufsetzte und wieder näher kam.

„Hör auf zu weinen. Wenn dein Mädchen dich so sieht, erkennt sie sofort was für eine Heulsuse du bist.“ Der sanfte Unterton in seiner Stimme irritierte Aiden so sehr, dass er tatsächlich aufhörte zu weinen.

Vorsichtig strichen die Finger, die ihn eben noch so schmerzhaft festhielten, über seine braunen Haare, bevor sie und ihr Besitzer sich in schwarzen Nebel auflösten, welcher kurz Aidens Körper umschwebte, um dann in ihm zu verschwinden.

Emotional noch etwas aufgelöst ließ sich Aiden auf sein Bett sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Immer wieder zeigte sich, wie wenig Aiden den Dämon verstehen konnte. In dem einen Moment band er ihm die Krawatte und im nächsten hielt er ihm einen Dolch an die Pulsschlagadern.

„Du machst mich fertig“, flüsterte er so leise, dass er sich nicht einmal sicher war, ob Reel ihn überhaupt hören konnte.

Der Dämon hielt Wort. Den Rest des Abends schwieg er und strahlte eine gewisse Ruhe aus, wenn Aiden in sich hineinhörte. Fast glaubte er, dass Reel ein schlechtes Gewissen hatte, weil er ihn zum weinen gebracht hatte, doch so viel Empathie traute er seinem Quälgeist eigentlich nicht zu.
 

Unbeweglich saß Reel auf der Bettkante im Zwielicht des nächtlichen Zimmers und beobachtete Aidens schlafende Gesicht. Er genoss es sehr ihn zu ärgern und auch ihm Angst zu machen, aber Aiden weinen zu sehen, war zu viel für ihn. Ungewollt trat ihm ein Bild von lang vergangenen Zeiten vor die Augen und weckte seinen Beschützerinstinkt. Sanft strich er eine braune Haarsträhne aus dem jungen Gesicht.

„Verdammt... Ich schätze, da ist doch noch etwas Menschliches in mir...“, flüsterte der Schatten mit einem traurigen Lächeln.
 

Die nächste Zeit hielt Reel sich etwas zurück. Nicht genug, um Aiden falsche Schlüsse ziehen zu lassen, aber doch mehr als er es sonst tat. Aiden war nach dem Vorfall am Abend reserviert ihm gegenüber, doch er schien die ungewohnte Zurückhaltung des Dämons zu schätzen zu wissen.

Nach dem Unterricht ging er in die Bibliothek um Reel neuen Lesestoff zu besorgen.

„Du wirst ja langsam wirklich ein Stammgast hier“, begrüßte ihn die Bibliothekarin freudig. Sie war, wie für den Job geschaffen. Langes rotes Haar, welches sie immer in einem ordentlichen Pferdeschwanz zurück band, schlichte Kleidung, dezentes MakeUp und eine Brille mit dicken Gläsern.

„Ja, ich schätze schon“, antwortete Aiden mit einem verhaltenen Lächeln.

„Suchst du etwas Bestimmtes oder stöberst du nur?“

„Ich glaube ich schaue mich erst mal nur um.“ Routiniert scannte sie die Bücher ein, die Aiden zurückbrachte.

„Ich hoffe, du lässt die Schule nicht schleifen um die ganzen Bücher zu lesen. Die Menge an Romanen, die du in einer Woche verschlingst ist wirklich beeindruckend.“

„Ach, das passt schon“, winkte er ab.

Zielsicher steuerte Aiden auf den hinteren Teil der Bibliothek zu. Im vorderen und mittleren Teil waren Fachbücher und Ähnliches zu finden, während im hinteren Teil Bücher zur Unterhaltung standen.

Aiden durchquerte zuerst die Abteilung für Biologie, wo sich zwei Mädchen nicht über ein Projektthema einig wurden, dann Physik, in der ein Junge aus der Abschlussklasse über einer Ausgabe von Quantenmechanik II verzweifelte und schließlich Chemie, in der er auf Maras ältere Schwester und zwei weitere Mädchen – vermutlich Freundinnen von ihr – traf. Erneut ruhte ihr unergründlicher Blick auf Aiden. Ganz verständlich, wenn man darüber nachdachte. Immerhin versuchte er ihre kleine Schwester zu daten.

Nach diesem unangenehmen Blickkontakt fand sich Aiden in der Mystery-Abteilung wieder. Unschlüssig schlenderte er zwischen den Regalen umher, wartend auf eine Reaktion seitens Reel.

„Schon was interessantes entdeckt?“, flüsterte er seinem Dämon in sich zu.

„Hm... guck mal da links.“ Schweigend tat Aiden wie ihm geheißen, als er plötzlich eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahrnahm.

Hätte schlimmer laufen können

Kapitel 5 – Hätte schlimmer laufen können
 

Noch bevor Aiden erkennen konnte was passierte, materialisierte sich Reel neben ihm und warf ihn zu Boden. Instinktiv vergrub Aiden sein Gesicht an Reels Brust, während dieser seinen Kopf mit den Armen schützte.

Der Aufprall schmerzte dennoch und Aiden hörte lautes Krachen in der zuvor so stillen Bibliothek.

„Aiden? Alles okay?“

„Hm... ich glaube schon... was ist passiert?“ In der Position, in der er sich momentan befand, konnte Aiden nicht wirklich etwas sehen oder sich bewegen. Er war quasi unter dem Körper des Dämons begraben, sein Gesicht an dessen Brust und die Finger im Schock des Sturzes haltsuchend in Reels Oberteil festgekrallt.

Nun da ihm seine Situation bewusst wurde, begann Aiden ein wenig rot zu werden. Warum, war ihm selbst nicht so ganz klar.

„Ich glaube, das Regal hinter uns ist umgestürzt und hat im Domino-Stil die anderen Regale mitgenommen. Und wir liegen jetzt drunter... glücklicherweise in dem Zwischenraum zwischen Regal und Boden und nicht zerquetscht zwischen den Regalen“, stellte Reel trocken fest.

„Oh... Und jetzt?“

„Hört sich an, als hätten die anderen hier mitbekommen, was passiert ist. War ja auch nicht zu überhören. Ist wohl besser, wenn die mich nicht sehen.

Pass auf, sobald ich dematerialisiere werden die Bücher aus dem Regal auf dich fallen. Also verteidige dich mit deinen dünnen Ärmchen, vor den bösen, gefährlichen Stapeln gebundenen Papiers, okay?“ Reel wartete bis Aiden ein schwaches Nicken von sich gab, seine Finger aus seinem Hemd löste und seinen Kopf mit den Armen abschirmte, bevor er dematerialisierte.

Wie von Reel vorhergesagt, regneten die Bücher auf Aiden nieder und trafen ihn im Magen und an den Armen.

„Ist jemand verletzt?“, konnte Aiden die sonst so leise Stimme der Bibliothekarin hören.

„Mir geht’s gut, aber könnte mich vielleicht jemand hier raus holen?“, rief Aiden um auf sich aufmerksam zu machen.

„Oh Gott. Da ist ja jemand drunter! Alles in Ordnung?“

„Ja, ja. Aber holt mich bitte hier raus.“ Die Umstehenden begannen die Bücher zur Seite zu räumen um Aiden einen Weg zu bahnen. Nach einigen Minuten war es ihm möglich mit etwas Hilfe unter dem Regal hervor zu kriechen.

„Und dir geht es wirklich gut? Keine Verletzungen?“

„Alles in Ordnung, Frau Eden. Nur ein paar blaue Flecken“, versuchte Aiden die junge Bibliothekarin zu beruhigen – mit mäßigem Erfolg.

„Geh bitte auf jeden Fall zur Krankenschwester. Soll ich dich begleiten? Soll jemand anderes mitkommen? Tut dir auch wirklich nichts weiter weh?“

„Mir geht es gut. Wirklich!“ Doch Frau Eden bestand darauf, dass Aiden das Krankenzimmer aufsuchte. Allerdings konnte er sie davon überzeugen, allein zu gehen.
 

Auf dem Weg dort hin meldete sich Reel aggressiv zu Wort.

„Was zur Hölle tust du?“

„Hä? Na ich gehe zur Schwester. Ist das nicht offensichtlich?“

„Wie blöd bist du eigentlich?“, beschwerte sich Reel lautstark, aber nur für Aiden hörbar. „Hast du schon wieder vergessen, dass du erst vor ein paar Tagen mit Prellungen der übelsten Sorte bei ihr auf der Matte standest?“ Aiden blieb abrupt stehen. Er begann zu verstehen worauf der Dämon hinaus wollte.

„Hier mal ein kleiner Biologie-Exkurs für dich: Selbst oberflächliche Hämatome brauchen bis zu drei Wochen um vollständig zu verheilen und was du an der Schulter und der Hüfte hattest, war alles andere als nur oberflächlich. Wie also hast du vor deine Wunderheilung zu erklären, du Genie?“ Ein einsichtiges Seufzen entfuhr Aiden.

„Schon gut. Du hast ja recht. Aber deshalb braucht du mich doch nicht gleich so anzufahren.“

„Anscheinend ja schon. Dich darf ich echt keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Unschlüssig blieb Aiden auf dem Flur stehen, ehe er kehrt machte und in Richtung des Jungentraktes schlurfte. „Hoffentlich kriegt das Frau Eden nicht mit, sonst schleift die mich höchstpersönlich zur Krankenschwester.“
 

Wieder auf seinem Zimmer, ließ Aiden die Ereignisse in der Bibliothek Revue passieren.

Beim Gedanken daran, wie er unter Reel gelegen hatte, spürte er wie sein Gesicht heiß wurde und er schob das Bild sofort wieder aus seinem Kopf. Bestimmt passierte das nur, weil die Situation so unglaublich peinlich war. Genau! Das musste es sein. Schnell lenkte er seine Konzentration auf andere Dinge.

„Was das Regal wohl zum Umstürzen gebracht hat? Die Dinger sind super schwer und als ich an dem Regal kurz vorher vorbeigelaufen bin, war da niemand.“ Grübelnd lag Aiden auf seinem Bett und Reel rücklings auf dem Boden – die Beine gegen den Tisch gelehnt. Wie der Dämon dort so lag, sah mehr als unbequem aus, aber Aiden wunderte mittlerweile gar nichts mehr, was die Sitzgewohnheiten seines Mitbewohners anging. Gedankenverloren drehte dieser einen Stift zwischen seinen schmalen Fingern und starrte die Decke an. Auch ihm schien einiges durch den Kopf zu gehen. Plötzlich klopfte es an der Tür.

Reflexartig rollte sich der Dämon rückwärts ab, kam auf die Füße und sprang Aiden entgegen, um grade noch rechtzeitig dessen Arm zu fassen zu kriegen und zu verschwinden.

Als die blonde Frau das Zimmer betrat, schlug der Kugelschreiber, den Reel bis eben noch in der Hand gehalten hatte, klappernd auf dem Laminat auf.

„Aiden Moore?“, ertönte die schrille Stimme der Sekretärin. „Der Direktor möchte dich wegen des Vorfalls in der Bibliothek sprechen. Geh bitte sofort in sein Büro.“ Aiden nickte und machte sich daran seine Schuhe wieder anzuziehen. Die Sekretärin machte keinerlei Anstalten Aiden allein zu lassen, sondern blieb ungeduldig im Türrahmen stehen. In schnellem Schritt eskortierte sie ihn anschließend bis vor die Tür des Direktors, wo sie höflich anklopfte.
 

„Herr Gruber? Aiden Moore– der Junge aus der Bibliothek – ist jetzt da.“ Energisch wurde Aiden durch die Tür geschoben und fand sich schließlich in einem ordentlichen, aber unglaublichen vollen Büro wieder. Überall stapelten sich Akten und Papiere, Regale platzen aus allen Nähten und Schublagen quollen über.

Ohne Aufzusehen wies ihn der Direktor an, sich zu setzen und Aiden tat wie ihm geheißen.

„Du bist also unter dem Bücherregal in der Bibliothek eingeklemmt worden. Geht es dir gut? Warst du bei der Schwester?“

„Ja, mir geht es gut“, überging Aiden hastig die Frage nach der Krankenschwester.

„Hast du eine Ahnung, wie es dazu kommen konnte? Hast du mit dem Regal irgendwelchen Unsinn getrieben oder hast du jemanden gesehen, der etwas getan hat, was er besser hätte lassen sollen?“, fragte er und sah Aiden dabei durchdringend an.

Der anschuldigende Unterton in der Stimme des Direktors reizte Aiden. Reichte es nicht, dass Reel ihm regelmäßig auf den Keks ging?

„Ich hab das Regal jedenfalls nicht umgeworfen, falls sie darauf hinauswollten. Das Ding ist ja schließlich auf MICH gefallen. Außerdem ist es doch viel zu schwer um es einfach so umzuwerfen“, erwiderte Aiden bemüht um eine feste Stimme. Schließlich hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen.

Vielleicht war es die Berufserfahrung, doch der Rektor schien zu merken, dass Aiden etwas vor ihm verbarg.

„Bist du dir ganz sicher, dass es nichts gibt, was du mir sagen möchtest? Wenn rauskommt, dass du doch irgendetwas mit dem Vorfall zu tun hattest, kann das für dich schwerwiegende Folgen haben. Es hätte jemand verletzt oder sogar getötet werden können und auch der Sachschaden ist nicht zu unterschätzen.“ Fest sah er den Jungen an, in der Hoffnung ihn doch noch zu einem Geständnis zu bewegen.

„Ich hab nichts getan und auch niemanden gesehen“, beharrte Aiden und wich dem stechenden Blick aus. Geschlagen seufzte der ältere Herr und fuhr sich durch das schüttere Haar.

„Wie oft ich diesen Satz während meiner Zeit als Direktor hier nun schon gehört habe... Alles klar, du kannst gehen. Aber schau bitte noch einmal bei Frau Eden vorbei und versichere ihr, dass es dir gut geht. Die Arme ist völlig aufgelöst.“ Stumm nickte Aiden, bevor er sich schnellstmöglich aus der Bürotür schob, bevor der Direktor seine Meinung doch noch änderte.

'Na, da hab ich ja nochmal Glück gehabt', dachte Aiden auf dem Rückweg. Glück, dass er nicht erschlagen wurde. Glück, dass niemand Reel gesehen hatte und Glück, dass er ohne Strafe und ohne Anruf bei seiner Mutter – oder noch viel schlimmer: bei seinem Vater – davongekommen war.

„Ist aber schon seltsam. Wie konnte dieses Regal einfach so umstürzen? Vielleicht war es einfach marode oder der Boden uneben“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Reel enthielt sich einer Antwort.
 

Auf dem Rückweg passierte Aiden einen der Gemeinschaftsräume. Noch immer grübelnd bemerkte er Lukas erst, als dieser bereits direkt neben ihm stand und ihn ansprach.

„Whoah! Schleich dich doch nicht einfach so an mich ran!“

„Ich bin überhaupt nicht geschlichen... Hat dich das Regal vielleicht doch am Kopf getroffen?“, feixte Lukas. „Aber mal ehrlich. Was is passiert? Geht's dir gut?“ Aiden machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Bin glimpflich davongekommen. Ich hatte nochmal Glück. Der Direx hat es bei einer Verwarnung belassen.“ Etwas verdutzt schaute ihn Lukas an.

„Ich meine doch, ob du verletzt bist, du Trottel! Du bist verdammt nochmal unter einem Bücherregal begraben wurden!“

„Achso. Ja. Nee. Also mir ist nichts passiert. Ich bin glücklicherweise in einem Zwischenraum und nicht direkt unter dem Regal gelandet.“

„Was zur Hölle hattest du überhaupt in der Bibliothek zu suchen? Da treibst du dich doch sonst nie rum.“ Skeptisch beobachtete Lukas seinen besten Freund.

„Öhm...“, geriet Aiden ins Straucheln. „Also ich... ehm... Mellie! Genau, wegen Mellie. Sie hat sich ein bestimmtes Buch gewünscht und Mom wollte, dass ich vorher mal nachsehe, ob es das hier gibt. Schließlich würden Bücher, die nicht angemessen sind, nicht in der Schulbibliothek stehen.“ Aiden hasste es seinen besten Freund anlügen zu müssen – und das jetzt schon zum zweiten mal. Außerdem würde seine Mutter niemals kontrollieren, was seine kleine Schwester Mellie so für Bücher las. Sie vertraute ihr da vollkommen. Aber Aiden brauchte nun einmal eine Ausrede für seinen Aufenthalt in der Mystery-Abteilung und Mellie las tatsächlich gern Fantasy und Mystery – ganz ähnlich wie Reel, wie Aiden nun feststellte.

„Aha“, meinte Lukas, schien allerdings noch nicht so recht überzeugt zu sein. Dennoch wechselte er das Thema. „Naja, Hauptsache dir geht’s gut. Auf dir scheint ja in letzter Zeit echt ein Fluch zu liegen.“

„Wem sagst du das?“, seufzte Aiden und fasste sich unbewusst an die rechte Schulter, auf der – verborgen unter Aidens Shirt – Reels Mal prangte.

„Hoffentlich kriegst du wenigstens dein Date morgen unbeschadet über die Bühne.“ Kurz musste Aiden schlucken. Was, wenn Reel Mara etwas antat? Oder er während des Dates, tatsächlich wieder in einen Unfall verwickelt wurde? Schnell schob er den Gedanken bei Seite. Es waren nur Unfälle. Nicht mehr und nicht weniger. Er hatte in letzter Zeit einfach Pech. Es würde schon nichts passieren.

Und was Reel anging: Aiden verstand zwar nicht annähernd, was in dem Dämon vor sich ging, aber er bildete sich ein ihn zumindest grob einschätzen zu können. Mara etwas anzutun, hätte für Reel nur Nachteile, also würde er es auch nicht tun.

„Das hoffe ich auch. Und vor allem hoffe ich, dass ich mich vor Mara nicht total blamiere“, versuchte er die Stimmung etwas aufzulockern und sich selbst abzulenken.

„Ach das packst du schon“, antwortete sein Freund und klopfe ihm ermutigend auf die Schulter.

„Auf dem Ball hast du das doch auch ganz gut hingekriegt. Weißt du was? Wir spielen jetzt eine Runde Tischkicker. Ich schulde dir noch eine Revanche und so kriegst du den Kopf mal 'n bisschen frei.“ Eigentlich hatte Aiden jetzt wirklich keinen Nerv dafür, aber andererseits hatte Lukas vielleicht recht.

„Ich spiele mit Schwarz!“, gab er also grinsend zurück und sprintete vor in den Gemeinschaftsraum. „He! Unfair. Nur weil bei Weiß die Verteidiger ein bisschen klemmen.“
 

Am nächsten Morgen wachte Aiden ungewöhnlich früh auf. Er hatte unruhig geschlafen, zu nervös war er wegen des heutigen Dates mit Mara, gewesen.

Reel fand er zwar am üblichen Platz auf dem Schreibtisch vor, allerdings hatte er dieses mal kein Buch vor der Nase, sondern einen von Aidens karierten Blöcken und einen Kugelschreiber. Gedankenverloren fuhr er mit dem Stift über das Papier und bemerkte Aiden dadurch erst, als dieser sich schwungvoll aus dem Bett rollte.

„Hm? Du bist ja schon wach.“ Eilig klappte er den Block zu und legte ihn hinter seinem Rücken auf den Tisch. Skeptisch beobachtete Aiden die Szene. Normalerweise hätte er sich jetzt den Kopf darüber zerbrochen was der Dämon nun schon wieder trieb, aber für heute schob er den Gedanken beiseite. Heute sollte es nur um ihn und Mara gehen. Seit Monaten träumte er von einem Date mit der hübschen Blondine und nun da er Wirklichkeit wurde, würde er sich nicht von dem Dämon ablenken lassen.

Zielsicher steuerte er auf seinen Kleiderschrank zu um dann unschlüssig vor den geöffneten Schranktüren stehen zu bleiben. Einige Minuten lang starrte er schweigend vor sich hin, bis ihn ein genervtes Seufzen aus seinen Gedanken riss. Selbstsicher sprang Reel vom Tisch, lief zum Schrank und schob Aiden bei Seite, wobei seine Hand ein bisschen länger auf Aidens Brust ruhte, als es nötig gewesen wäre. Wieder kam in Aiden dieses seltsame Gefühl auf, welches er entschieden ignorierte. Ständig brachte der Dämon ihn aus dem Konzept.

„Das hier“, holte ihn die Stimme eben dieses Dämons wieder in die Realität zurück.

„Das Mädchen meinte doch, dass weinrot deine Farbe sei. Sie wird sich freuen, wenn du ihren Rat beherzigst.“ Noch etwas verwirrt nahm Aiden Reel das weinrote T-Shirt aus der Hand. Dazu holte er noch eine saubere Jeans aus dem Schrank und kramte im Schubfach herum, bis er zwei Socken gleicher Farbe zusammen hatte.

Nachdem er im Bad fertig war, schlüpfte Aiden in seine schwarzen Turnschuhe und warf sich seine graue Sweatjacke über. Als er zum Nachttisch ging um sein Handy zu holen, blieb er kurz neben dem Schreibtisch stehen und warf dem karierten Block darauf einen interessierten Blick zu.

„Denk nicht mal dran!“, kam es drohend von seinem Bett, auf dem Reel es sich mittlerweile bequem gemacht hatte.

„Schon gut.“ Beschwichtigend hob Aiden die Hände und wandte sich seinem Handy zu, doch Reels Blick blieb undurchdringlich.

„Reel... hör mal, also das heute ist mir echt wichtig.“

„Das ist mir schon bewusst.“

„Ja, aber... also... ach, du weißt genau worauf ich hinaus will. Machen wir wieder einen Deal? Du hältst dich heute zurück und hast dafür wieder einen Wunsch frei.“

„Hm... ich weiß ja nicht...“

„Verdammt Reel, bitte!“ Aidens Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an und Reel glaubte zu sehen, wie sich kleine Tränen in den Augenwinkeln bildeten. „Tu mir das jetzt nicht an.“

„Schon gut, du Heulsuse. Hör auf zu flennen. Wenn dein Mädchen das mitbekommt, serviert sie dich garantiert ab.“ Mit diebischer Freude ergänzte er: „Aber mit einem Buch kommst du dieses mal nicht davon.“ Aiden fing sich wieder.

Normalerweise weinte er nicht sofort bei jeder Kleinigkeit los, aber dieser plötzliche Schock hatte ihn einfach unvorbereitet getroffen. Der Dämon schaffte es einfach immer wieder ihn an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Plötzlich wurde ihm bewusst, was Reel eben gesagt hatte.

„Was willst du denn stattdessen?“, fragte er mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Und wieder schenkte sein Dämon ihm dieses reißzahn-entblösende Grinsen, welches Aiden mittlerweile mehr als alles andere hasste.

„Das sag ich dir dann schon.“ Noch immer grinsend erhob er sich langsam vom Bett und stand nun nur wenige Zentimeter vor Aiden. Herausfordernd legte er seinem Lieblingsspielzeug eine Hand unters Kinn. „Also, meine kleine Heulsuse, haben wir einen Deal?“ Reels Hand verbot es Aiden irgendwo anders hinzusehen als in die dämonischen Augen seines Gegenübers, deren brennendem Blick er erfolglos auszuweichen versuchte.

„Ist ja nicht so, als ob ich eine Wahl hätte“, presste er schließlich mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Sehr gut“, gab Reel mit einem übertrieben freudigen Grinsen zurück. „Brave Heulsuse.“ Provokant strich er ihm mit dem Daumen über die Wange, bevor er endlich von ihm abließ und dematerialisierte.

Ein paar Augenblicke blieb Aiden noch schweigend im Zimmer stehen. Der Dämon raubte ihm wirklich den letzten Nerv. Er traute sich gar nicht darüber nachzudenken, was Reel wohl von ihm verlangen würde.

Dann klopfte es an seiner Zimmertür und Lukas kam um ihn zum Frühstück abzuholen.

„Du siehst irgendwie blass aus. Bist wohl echt nervös, wegen deines Dates, was?“, spielerisch stieß Lukas seinem besten Freund mit dem Ellenbogen in die Rippen in der Hoffnung ihn ein bisschen abzulenken und aufzumuntern.

„Hm? Äääh ja. Das Date. Genau.“ Skeptisch sah Lukas ihn an.

„Stimmt irgendwas nicht? Es ist doch nur die Nervosität vor dem Date, oder?“ Aiden fühlte sich ertappt.

„Klar. Was denn sonst? Nur das Date“, versuche er sich zu rechtfertigen.

Erneut entschied Lukas, dass Aiden schon mit ihm reden würde, wenn ihm danach wäre. Er war nicht die Art von Person, die ewig nachbohrte.
 

Im Speisesaal setzen sich die beiden Jungs an ihren üblichen Stammplatz. Lukas wie immer mit einem Tablett voller Rührei, Marmeladentoast, Waffeln und einer Tasse Kaffee. Im Vergleich dazu, wirkten die Tasse schwarzen Tees und das einsame Salamibrötchen auf Aidens Tablett schon fast verloren.

„Wie schaffst du es nur jeden Tag bis zum Mittagessen zu überleben, mit den paar Krümeln in deinem Magen?“

„Ich kann Morgens eben nicht so viel essen. Ist schon 'n Wunder, dass ich überhaupt mehr als eine Tasse Tee runter kriege.“

In diesem Moment tauchte in Aidens Augenwinkel ein blonder, geflochtener Haarschopf auf.

Mara kam grade vom Büfett zurück und setzte sich an einen Tisch zu ein paar anderen Mädchen. Aiden erkannte einige von ihnen aus der Innenstadt wieder. Darunter auch Sophie – das Mädchen, das auf die Straße gelaufen war – und auch Maras Schwester und deren beiden Freundinnen, die Aiden in der Bibliothek gesehen hatte.

Fröhlich schnatterten sie durcheinander und Mara kicherte häufig verlegen.

„Die sprechen garantiert auch grade über euer Date“, meinte Lukas und zwinkerte Aiden zu.

Verlegen versteckte dieser sein Grinsen hinter seiner Teetasse.

Den Tag nicht vor dem Abend loben

10:20 Uhr – also pünktlich 10 Minuten zu früh – stand Aiden in der Haupthalle. Nervös wippte er auf und ab, während sein Blick immer wieder zu seinem Handy wanderte. Nur vier Minuten nach ihm, betrat auch Mara die Halle und Aiden stellte fest, dass sie sich seit dem Frühstück noch einmal umgezogen hatte. Sie trug nun ein hellgrünes Kleid, welches mit dezenten, roten Rosen bestickt worden war und wie immer waren ihre Haare ein wahres Meisterwerk der Flechtkunst.

Als sie näher kam bemerkte Aiden, dass auch Mara etwas nervös zu sein schien. Eine leichte Röte lag auf ihren Wangen und ein schüchternes Lächeln auf ihren Lippen. Als sie Aidens T-Shirt unter seiner Jacke hervorblitzen sah, verstärkte sich ihr Lächeln sichtlich.

'Danke Reel', dachte Aiden still bei sich.

„Hi, also... ähm... wollen wir dann?“ Verlegen erwiderte Aiden ihr Lächeln.

„Gerne.“ In bester Gentleman-Marne öffnete er ihr die Tür und Mara klackerte mit den leichten Absätzen ihrer roten Riemchenschuhe die Eingangstreppe hinunter.
 

Gemeinsam liefen sie zur Bushaltestelle und trafen dort auf einige wenige Mitschüler. Mara und Aiden beschränkten sich daher auf unverfänglichen Small-Talk.

Der Bus kam, alle Schüler zeigten ihren Schülerausweis vor und suchten sich einen Platz. Aiden ließ Mara am Fenster sitzen und als er sich neben sie setzte, berührte seine Hand versehentlich ihre. Nervös wollte er sie ein Stück zurück ziehen, doch seine Hand bewegte sich nicht.

„Halt still“, kam es von Reel in Aidens Kopf und sofort merkte er, was der Dämon damit meinte. Schüchtern erwiderte Mara die Berührung und schließlich verschränkten sich ihre Finger ineinander.

„Wo möchtest du denn gerne als erstes hin?“, fragte Aiden um das Schweigen zu brechen.

„Bubbletea!“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Mara. Überrascht schaute Aiden sie an. Etwas ertappt wurde sie rot und schaute zur Seite.

„Ähm... also. Sophie hat beim Frühstück drüber geredet und seitdem hab ich total Lust auf Bubbletea.“ Aiden musste etwas schmunzeln.

„Alles klar. Dann also Bubbletea.“ Noch immer händchenhaltend stiegen sie an ihrer Haltestelle aus und liefen in Richtung Shopping-Mall, wo sie ihr erster Weg zum Bubbletea-Stand führte. Aiden bezahle ihre beiden Getränke und Hand in Hand schlenderten sie weiter. Ab und an blieb Mara vor einem Schaufenster stehen und betrachtete Kleider, Blusen oder Schuhe. Zu Aidens Erleichterung ging sie jedoch in keinen der Läden hinein, obwohl Aiden ihr mehrfach versicherte, dass es ihm absolut nichts ausmachen würde.

Vor dem Thalia blieben sie erneut stehen. Früher hätte Aiden diesen Laden gar nicht weiter beachtet, doch seit er mit Reel klar kommen musste, war er ein ums andere Mal hier gewesen um Bücher zu besorgen, die es in der Schulbibliothek nicht gab.

„Können wir hier bitte mal kurz rein gucken?“, riss Mara ihn aus seinen Gedanken.

„Klar“, gab er lächelnd zurück und ohrfeigte sich innerlich dafür, dass er selbst während eines Dates mit dem Mädchen seiner Träume an diesen verdammten Dämon dachte. Ein leises Lachen von diesem zeigte Aiden, dass Reel seine Gedanken ebenfalls mitbekommen hatte. Ein Seufzen unterdrückend folgte Aiden der hübschen Blondine in den Laden. Er wollte nicht, dass sie sein Seufzen falsch interpretierte.
 

Interessiert begutachtete Mara das Regal mit den aktuellen Bestsellern. Reel schloss sich ihr an, hielt sich jedoch an seinen Deal mit Aiden und blieb still.

Anschließend zog Mara Aiden weiter durch den Laden. Vorbei an den Krimis und dem young-adult Segment, hin zur Fantasy-Abteilung.

„Zumindest bei Büchern scheint das Mädchen einen guten Geschmack zu haben“, stellte Reel mit unterdrückter Freude fest. Aiden musste erneut schmunzeln. Doch rief er sich sofort zur Ordnung, schob jeden Gedanken an den Dämon energisch beiseite und sah zu Mara hinüber. Diese ließ ihren Blick konzentriert über die Cover und Buchrücken wandern auf der Suche nach etwas Ansprechendem. Aiden stellte fest, dass sie sich dabei leicht auf die Unterlippe biss. Ihm war diese Eigenart von ihr schon ein paar mal im Unterricht und wenn sie in der Bibliothek las aufgefallen.

„Ist das hier nicht eigentlich ein Videospiel?“, fragte sie und deutete auf eine Reihe an Buchrücken, die eine beeindruckende Menge an Platz auf dem Regal einnahm.

In diesem Moment jubelten Reel und Aiden zeitgleich innerlich auf.

„Ja. Das kenne ich. Die Spiele sind wirklich gut“, beantwortete Aiden Maras Frage und nahm eines der Bücher in die Hand. Auf dem Cover war ein Mann in weißer Kutte abgebildet, der in einer Menschenmenge stand und wissend unter seiner Kapuze hervor lächelte. Assassin's Creed – prangte der Schriftzug über dem Mann.

„Aber das sind ziemlich viele Teile. Und die haben gar keine Nummern“, stellte Mara unschlüssig fest. Verwirrt nahm Aiden die Bücher genauer unter die Lupe. Tatsächlich – keine Nummern.

„Also chronologisch käme die Geschichte von Altaïr als erstes. Um den geht’s im ersten Spiel der Reihe.“

Das Buch auf dessen Cover der genannte Assassine abgebildet war stand an vierter Position im Bücherregal. Unschlüssig sahen Mara und Aiden einander an und rätselten eine Weile herum.

„Die Reihenfolge steht hinten in den Büchern drin“, kam es von Reel nachdem er sich das Elend eine Weile lang mit angesehen hatte. Er hatte die Reihe kürzlich innerhalb einer Woche vollständig verschlungen und kannte die Werke daher in und auswendig.

Aiden schlug die letzte Seite in dem Band den er in Händen hielt auf und lachte leise auf.

„Guck mal“, zeigte er Mara die Seite, auf der die korrekte Reihenfolge der Bücher abgedruckt war. Nun musste auch Mara lachen.

Kurzentschlossen nahm sie den Band, der laut der Liste der erste war, in die eine Hand und griff mit der anderen nach Aidens. Gemeinsam schlenderten sie zur Kasse.

Anschließend wanderten sie noch eine Weile durch die Mall und unterhielten sich. Zum Mittag gingen sie Pizza essen und teilten sich die Rechnung.

„Hast du nicht einen Wunsch, wo du hin willst? Wir machen die ganze Zeit nur was ich will“, meinte Mara auf einmal. „Wo gehst du sonst hin, wenn du in die Stadt gehst?“

„Lukas und ich gehen meistens in die Arcade-Halle“, gab Aiden ein wenig peinlich berührt zurück.

„Da war ich noch nie drin. Lass uns da hingehen.“ Aiden war sichtlich überrascht. Er hatte Mara nicht für jemanden gehalten, der sich an Videospielen versuchen würde. Allerdings wusste sie auch, dass es sich bei Assassin's Creed um eine Videospielreihe handelte, also vielleicht schätze er sie auch einfach falsch ein.

„Gerne“, gab er daher zurück.
 

In der Arcade angekommen begrüßte ihn der Besitzer von der Kasse aus mit einem Nicken, welches Aiden verhalten erwiderte.

„Du scheinst hier ja richtig bekannt zu sein“, stellte Mara mit einem verschmitzten Lächeln fest und Aiden wurde wieder rot.

Gemeinsam probierten sie verschiedene Spiele aus.

Mara hatte Rhythmusgefühl, das wusste Aiden spätestens seit des Schulballs, die Steuerung war intuitiv und laut ihrer Aussage, hatte sie noch nie eine VR-Brille getragen. Daher stellten sie sich als erstes bei Beat-Saber an.

Begeistert schwang Mara die Move-Controller im Takt der Musik und unterdrückte immer wieder ihr Lachen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sie spielten noch einige andere Spiele, aber Beat-Saber blieb bis zum Ende Maras Favorit.

„Oh nein. Wir müssen los. Sonst schaffen wir den Bus nicht mehr“, stellte Mara traurig mit einem Blick auf die Uhr fest. „Ich hätte gerne noch einmal versucht meinen Rekord in Beat-Saber zu schlagen.“

„Du wirst noch zu einer richtigen Gamerin“, antworte Aiden grinsend.

„Vielleicht“, grinste sie zurück.

Aiden nahm Mara an die Hand und gemeinsam verließen sie die Halle – aber natürlich nicht, ohne sich mit einem weiteren Nicken von dem Besitzer zu verabschieden.
 

An der Haltestelle angekommen, setzten sie sich zusammen auf eine kleine Mauer neben dem Haltestellenhäuschen.

„Ich fand den Tag heute wirklich sehr schön.“ Verlegen lächelte das blonde Mädchen Aiden an.

„Ja, ich auch. Das müssen wir unbedingt mal wiederholen“, stimmte ihr Aiden zu.

„Hier. Als kleines Dankeschön.“ Mit roten Wangen hielt sie ihm ein kleines Kästchen hin.

„Danke... aber sollte nicht eigentlich der Junge dem Mädchen etwas schenken?“ Nervös nahm er ihr das fliederfarbene Kästchen ab.

„Ach quatsch. Das sind doch nur alberne Klischees“, gab Mara mit einem Zwinkern zurück.

Neugierig lüftete Aiden den Deckel. Ein Lederarmband, welches mit drei silbernen Perlen verziert worden war, kam zum Vorschein. „Ich hoffe das ist dir nicht zu kitschig.“

„Nein nein, es ist perfekt“, beruhigte Aiden sie. Kurz überlegte er, wie er sich bei ihr bedanken könnte.

„Bei Valefar, jetzt küss sie doch endlich“, kam es entnervt von Reel.

Aiden sah von dem Armband auf und stellte fast, dass Maras Gesicht seinem sehr nah gekommen war. Unsicher sah er sie an und kam ihr vorsichtig näher. Und tatsächlich tat Mara es ihm gleich. Reel mauerte sich in diesem Moment vollständig ein und ließ die beiden allein.

Schüchtern berührten sich ihre Lippen das erste Mal – abgesehen vom Abend des Schulballs – und bei einem Mal blieb es nicht. Sie küssten sich bis der ankommende Bus sie unterbrach. Schnell schob Aiden das Kästchen mit dem Armband in seine Hosentasche und stieg mit Mara in den Bus.
 

Zurück im Internat brachte Aiden Mara – die er jetzt offiziell als seine Freundin bezeichnen durfte – bis zur Haupttür des Mädchentraktes.

Dort küssten sie sich noch einige Male bis es Reel endgültig reichte. Er gönnte es Aiden, aber die Situation war ihm einfach zu viel.

Entschlossen riss er die Kontrolle über den Körper an sich, drehte diesen um und ließ Mara wortlos stehen. Aidens Proteste ignorierte der Dämon schweigend, während er zurück zum Zimmer ging.

Dort angekommen gab der er die Kontrolle wieder ab und löste sich vom Körper seines Opfers. Wutendbrand fuhr Aiden ihn an.

„Was sollte das denn bitte? Warum hast du das gemacht? Wir hatten doch einen Deal.“

„Pass auf, wie du mit mir redest!“ Angriffslustig funkelten ihn die roten Augen an. Schnell überwand er die wenigen Schritte, die sie voneinander trennten und griff in das weinrote Shirt. „Zum Einen gehörst du immer noch mir und ich kann mit dir machen was ich will.“ Seine Stimme klang hart und aggressiv. „Und zum Anderen galt unser Deal nur für die Dauer des Dates.“ Sein Mund verzog sich zu einem bösen Grinsen und Aiden lief es kalt den Rücken hinunter. Der Griff des Dämons zwang ihn dazu in dessen Augen zu sehen und in dem flammenden Rot glaubte er eine Mischung aus Eifersucht und unsagbar tiefer Trauer zu erkennen. Mit Eifersucht hatte er bei dem besitzergreifenden Dämon irgendwo gerechnet, aber Trauer?

Reel schien Aidens Blick zu bemerken. Grob stieß er ihn gegen die Zimmertür, bevor er dem Jungen an die Kehle griff und in dessen Körper überging.

Irgendwann würde der launische Dämon Aiden noch in den Wahnsinn treiben. Erst half er ihm mit Mara und dann machte er so was.

Aiden war sich mittlerweile sicher, dass der Dämon selbst nicht so genau wusste, was er wollte. Nur woran das lag, konnte er sich beim bestem Willen nicht erklären. Um genau zu sein, wusste Aiden überhaupt nichts über Reel.

Die Trauer, die er manchmal bei ihm sehen und spüren konnte, musste einen Grund haben. Aber er bezweifelte, dass Reel ihm dahingehend irgendeine Frage beantworten würde.

Mit einem resignierten Seufzer ließ Aiden sich auf sein Bett fallen. Vorsichtig horchte er in sich hinein und stieß gegen eine Mauer. War ja klar. Reel stocherte ständig in seinem Kopf herum, doch wenn Aiden dasselbe versuchte, blockte er ab.

Trotzdem war der Tag schön und das Date ein Erfolg gewesen und das konnte ihm auch Reels kindisches Verhalten nicht kaputtmachen.
 

Plötzlich fiel ihm das Armband von Mara wieder ein. Besser gelaunt setzte er sich auf, holte das kleine Kästchen aus seiner Hosentasche und begutachtete dessen Inhalt gründlich.

Er bemerkte ungewöhnliche Symbole, die in die silbernen Perlen eingearbeitet wurden. Vorsichtig fuhr er mit den Fingern über die kunstvolle Gravur und glaube ein leichtes Kribbeln zu spüren.

Gewissenhaft legte er sich das Armband um. Es dauerte eine Weile bis er den silbernen Verschluss mit einer Hand schließen konnte.

Und als er es endlich schaffte, bereute er es sofort.

Ein brennender Schmerz breitete sich über seinen gesamten Arm aus und ein erschreckter Schmerzensschrei entfuhr nicht nur ihm, sondern auch Reel. Der Dämon löste sich von seinem Körper und sank vor ihm auf die Knie. Unter Schmerzen krümmte er sich am Boden und hielt sich schwer atmend die Brust.

Aiden versuchte verzweifelt das Band von seinem Handgelenk zu lösen und als er es nach einigen Versuchen endlich los bekam, ließ der Schmerz sofort nach.

Reel blieb am Boden hocken. Das Armband schien dem Dämon viel größere Schmerzen verursacht zu haben als ihm. Wie er da so saß, bekam Aiden fast Mitleid.

„Reel. Alles okay mit dir?“

„Was bei Valefar, war das denn?“ Der Dämon atmete schwer und sah ihn nicht an während er sprach.

„Ich weiß nicht.“ Kurz beobachtete er die Gestalt, die noch immer zusammengekauert auf dem Zimmerboden hockte. Schließlich kniete er sich neben Reel und griff vorsichtig nach dessen Schulter. Energisch schüttelte dieser die Hand ab und griff Aiden stattdessen an die Brust um dann zu dematerialisieren.

Aiden hatte es nicht geschafft ihm vorher in die Augen zu sehen und er wusste mittlerweile, dass es immer ein schlechtes Zeichen war, wenn der Dämon Augenkontakt mied.

Wieder konnte Aiden die Barriere zwischen sich und Reel deutlich spüren. Vorsichtig hob er das Armband vom Boden auf.

„Seltsam...“ Es sah vollkommen normal aus. Konnte das Armband wirklich der Verursacher der Schmerzen gewesen sein?

Noch etwas verwirrt legte er das Band auf seinen Nachttisch und ging anschließend grübelnd ins Badezimmer um sich fürs Bett fertig zu machen. Normalerweise vermied er es ins Bad zu gehen, wenn Reel sich innerhalb seines Körpers befand, doch so wie es aussah hatte er wohl keine andere Wahl.

Schnell huschte er durch seine Abendroutine und legte sich anschließend ins Bett. Unschlüssig spielte er noch einige Runden 'Summoners War' auf seinem Handy, bevor er das Licht aus machte und sich umdrehte. Ein letztes Mal sah er nach Reel – mit unverändertem Ergebnis. Der Dämon blieb weiterhin stumm hinter seinen selbst hochgezogenen Mauern und ließ Aiden nicht an sich heran. Allerdings stieß er ihn auch nicht von sich weg, wenn Aiden nach ihm sah.

Langsam begann er tatsächlich sich Sorgen um seinen Dämon zu machen. Zumindest genügend um ihn in dieser Nacht unruhig Schlafen zu lassen.
 

Als Aiden am nächsten Morgen verschlafen aus dem Bett stieg, galt sein erster Gedanke auch wieder dem Dämon. Zu seiner Überraschung löste dieser sich von seinem Körper, sobald Aiden in sich hineinhörte.

„Reel? Alles in Ordnung?“ Ruhig nahm der Angesprochene auf der Bettkante Platz.

„Keine Sorge. So schnell wirst du mich nicht los“, gab er zurück und zeigte Aiden mit einem Lächeln seine Reißzähne.

Und zum ersten Mal wirkt diese Geste tatsächlich beruhigend auf ihn. Einerseits jagte sie ihm noch immer einen Schauer über den Rücken, andererseits bedeutete sie auch, dass es Reel wieder gut ging.

„Aber was war das? Was hast du gemacht?“ Er sah Aiden eindringlich an. Dessen Blick wanderte automatisch zu seinem Nachtschrank und dem darauf liegenden Armband.

„Ich hab nur das Band um gemacht und plötzlich fühlte sich mein Arm an, als stünde er in Flammen.“ Kritisch betrachtete der Dämon das unscheinbare Band, jedoch ohne es zu berühren. „Schutzsiegel.“

„Was?“ Verwirrt sah Aiden ihn an.

„Da sind Schutzsiegel in die Perlen eingraviert. Sie werden verwendet um böse Geister und Dämonen abzuwehren.“

„Also solche wie dich“, stellte Aiden trocken fest. Zur Bestätigung zeigte Reel ihm erneut seine Reißzähne in einem wissenden Lächeln.

„Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es dir auch Schmerzen bereiten könnte. Für Menschen sind diese Siegel eigentlich vollkommen ungefährlich.“ Unschlüssig starrten sie beide das unauffällige Lederband an, als ob es ihnen die Antwort verraten könnte.

„Hm... naja, wieder was gelernt. Du solltest es trotzdem lieber nicht mehr tragen, Sunshine.“

„Auf keinen Fall!“, bestätigte Aiden. „Aber... es ist ein Geschenk von Mara.“ Resigniert seufzte Reel.

„Es tat nicht weh, als du es nur in der Hand hattest, also sollte es kein Problem darstellen solange du es nicht um machst. Trotzdem frag ich mich, wo das Mädchen ein Schutzamulett her hatte. Ist ja nicht so, dass man die Dinger an jeder Straßenecke bekommt.“ Ein Schatten legte sich auf Reels Gesicht. „Es sein denn...“ Schnell schob er den Gedanken beiseite. So viel Pech auf einmal konnte er einfach nicht haben.

„Könnte sie so was in einem Second-Hand-Shop gefunden haben? Sie hat erzählt, dass sie gerne in solche Läden geht.“ Aiden suchte nach einer plausiblen Erklärung.

„Kann schon sein“, gab Reel zurück, schien jedoch nicht wirklich überzeugt davon.

Mit kreisenden Gedanken zog Aiden sich an und ging zum Frühstück.

Gegeneinander und Miteinander

Im Speisesaal angekommen deckte sich Aiden wie üblich mit einem spartanischen Frühstück und einer Tasse Earl Grey ein. Als er gegenüber von Lukas Platz nahm fragte dieser sofort: „Und? Wie lief´s?“ Aiden wollte grade anfangen zu erzählen, als er Mara den Saal betreten sah. Kurz schaute sie sich suchend um, bevor sie unverwandt auf Aiden zukam, ihm einen flüchtigen Kuss gab und dann weiter zum Büfett schlenderte.

Als Aiden seinen Blick von der hübschen Blondine losreißen konnte und wieder zu seinem Freund sah, zeigte dieser ihm ein Grinsen von nie dagewesener Breite.

„Aiden, der Herzensbrecher“, prustete er hervor.

„Psst, nicht so laut“, ermahnte ihn Aiden mit rotem Kopf. Freudig fasste er sein Date vom Vortag in wenigen Sätzen zusammen.

„Mara und Videospiele? Das hatte ich nun echt nicht erwartet“, schloss Lukas den knappen Bericht seines besten Freundes.

„Thema Videospiele: Wollen wir heute in die Arcade oder hast du ab jetzt keine Zeit mehr für mich?“, fragte Lukas mit einem Zwinkern.

„Lass mich mal meinen Terminkalender checken. Jetzt nach meinem sozialen Aufstieg, bin ich sehr gefragt, musst du wissen“, witzelte Aiden. Plötzlich verfinsterte sich Lukas Miene.

„Ach verdammt. Das hab ich ja total vergessen. Die Schulmeisterschaft findet bald statt und deshalb, hat der Trainer für alle, die am Wochenende nicht nach Hause fahren, eine zusätzliche Trainings-Einheit angeordnet.“

„Also bist DU derjenige, der hier viel gefragt ist“, gab Aiden mit einem Lachen zurück.

„Tut mir echt leid, Mann.“

„Kein Ding. Ohne dich geht unser Volleyball-Team doch hoffnungslos unter.“

Lukas war eine echte Sportskanone. Einem Schmetterball von ihm, hatte man als untrainierter Spieler nichts entgegenzusetzen, wie Aiden im Sportunterricht schmerzhaft in einem unfreiwilligen Selbstversuch erfahren hatte.

Gemeinsam vertrieben sie sich noch etwas die Zeit, bis Lukas zum Training musste.
 

„Hm... und was mach ich jetzt“, fragte Aiden sich selbst während er ziellos durch das Internatsgebäude wanderte.

„Wenn ich mich recht erinnere, hast du deinen Teil unseres Deals noch nicht erfüllt“, hörte er die vertraute Stimme seines Dämons in seinem Kopf. Schlagartig kehrte das ungute Gefühl vom Vortag zurück, als Reel ihm eröffnet hatte, dass er dieses Mal nicht mit einem Buch davon käme.

Doch aus der Nummer kam er nicht mehr raus. Er hatte ihm einen Wunsch versprochen und Reel würde diesen einfordern.

„Wie schlimm wird's?“, fragte er daher nur.

„Das merkst du dann schon“, kam es amüsiert aus seinem Inneren. „Schnapp' dir deine Jacke und geh zur Bushaltestelle. Und vergiss dein Portmonee nicht“, ergänzte er.

Aiden konnte sich nicht wirklich ausmalen, was der Dämon vorhatte, aber er hoffte, dass es nicht zu teuer wurde. Das Schulgeld war hoch und Aiden stammte nicht unbedingt aus einer reichen Familie. Viel Geld hatte er also nicht zur Verfügung. Dennoch tat Aiden, was Reel ihm aufgetragen hatte und fand sich schließlich in der Innenstadt wieder.
 

„Und jetzt?“, fragte er, unschlüssig ob er die Antwort wirklich hören wollte.

„Geh einfach hier die Straße runter.“ Den Weg, den Reel ihn entlang schickte, kannte Aiden nur zu gut. Es war derselbe, den er schon oft mit Lukas genommen hatte und den er am Vortag auch mit Mara entlanggelaufen war – der Weg in Richtung Arcade.

„Jetzt gleich hier links“, ließ ihn Reel wissen und Aiden überkam eine ungute Vorahnung. Nach ein paar weiteren Schritten blieb er stehen. Ein Schild wies in eine Gasse die links von der Straße abging. 'Eden Club' prangte in roter Schnörkel-Schrift auf schwarzem Grund.

„Nein! Das kann nicht dein Ernst sein!“ Aidens Hand begann zu zittern.

„A Deal is a Deal. Du weißt wie das läuft.“

„Aber...“

„Kein 'Aber'!“, würgte der Dämon ihn ab. Unschlüssig blieb der brünette Internatsschüler einige Minuten vor dem Schild stehen.

Schließlich setzte er sich in Bewegung und machte einige unsichere Schritte auf das Bordell zu.

Er konnte deutlich spüren, wie Reel sein Lachen zu unterdrücken versuchte. Als Aiden nach langem Zögern seine Hand auf die Klinke legte, hielt Reel es nicht mehr aus und er brach in schallendes Gelächter aus.

„Schon gut. Schon gut. Ich hätte nicht gedacht, dass du das tatsächlich machst“, eröffnete er ihm, als er es endlich schaffte sein Lachen unter Kontrolle zu bekommen.

„Jetzt geh schnell zurück, bevor dich noch jemand sieht“, wies er sein Opfer mit sanfter Stimme an. Hastig eilte dieser zurück. Hier gesehen zu werden, wäre die reinste Katastrophe.

„Dachtest du wirklich, ich würde dich in ein Bordell schicken?“, fragte er den noch immer etwas verstörten Aiden, als dieser wieder an der Hauptstraße ankam.

„Dir traue ich alles zu“, gab er trocken zurück.

„Sei doch nicht so gemein“, antwortete ihm der Dämon gespielt gekränkt. „Ich hab nie gesagt, dass du in den Eden Club sollst. Ich meinte den Laden, der hinter der Gasse an der Straße liegt.“ Aiden schritt an dem rot-schwarzen Schild vorbei und besah sich das dahinter liegende Geschäft.

„Ein Bastelladen?“, fragte Aiden ungläubig.

„Künstlerbedarf“, korrigierte ihn Reel. Ohne weitere Fragen zu stellen, betrat er das Geschäft.

Unschlüssig schritt er jedes einzelne Regal ab um sich selbst und Reel einen Überblick zu verschaffen. Anschließend schickte dieser ihn ein zweites Mal durch den Laden, um ihn einkaufen zu lassen, was er haben wollte. Zu Aidens Glück, gab sich der Dämon mit wenig zufrieden – ein Set Bleistifte verschiedener Stärken, ein Zeichenbuch in Größe A4 und eine Packung mit einigen kleinen Papierrollen, die wie Stifte aussahen.

„Die sind zum verwischen und verblenden“, hatte ihm Reel erklärt. Diese Dinge in den Händen ging er zur Kasse und musste weitaus mehr Geld auf den Tisch legen als er angenommen hatte.
 

„Man ist das teuer“, fluchte er leise mit einem traurigen Blick auf sein Portmonee als er den Laden wieder verließ.

„Wäre dir der Eden Club doch lieber gewesen?“ Entnervt verdrehte Aiden die Augen. „Guck nicht so. Ich hab doch gesagt, mit einem Buch kommst du dieses mal nicht davon. Sei lieber froh, dass ich so genügsam bin.“

Auf dem Rückweg passierte er erneut das rot-schwarze Schild. Schnell sah er in eine andere Richtung und Reel ließ wieder ein unterdrücktes Lachen hören.

„Du bist doof“, gab Aiden, der nun auch leicht schmunzeln musste, zurück.

„Das trifft mich jetzt aber“, erwiderte der Angesprochene amüsiert.

„Für einen Dämon hast du wirklich ungewöhnliche Hobbys“, stellte Aiden fest und versuchte ihr Gespräch nicht abreißen zu lassen.

„Wieso? Ich finde Messerkampf und meine-Opfer-in-den-Wahnsinn-treiben eigentlich ganz passend.“ Wieder konnte Aiden ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

„Du weißt was ich meine.“ So leicht würde er den Dämon dieses mal nicht seinen Fragen ausweichen lassen.

„Hm. Es ist ja nicht so, dass ich groß die Wahl hätte. Ich muss mich immer innerhalb eines festen Radius um mein Opfer bewegen. Da bleiben einem nicht viele Optionen.“ Jetzt wo Aiden darüber nachdachte, hatte der Dämon natürlich recht. Seine Freiheit war durch den Träger seines Fluchmals stark eingeschränkt.

„Sei doch froh drüber“, riss dieser ihn aus seinen Gedanken. „So hast du auch ab und an mal deine Ruhe vor mir.“ Aiden konnte Reel zwinkern spüren.

Er konnte ihre Verbindung mittlerweile sehr zuverlässig nutzen und wenn Reel gut drauf war, stieß er ihn auch nicht weg, wenn er ihm zu nah kam. In solchen Momenten konnte er die Gefühlswelt des Dämons ganz eindeutig spüren und ihn – wie Aiden glaubte – ein wenig besser verstehen. Leider kam das nur sehr selten vor.
 

Während Aiden an der Haltestelle wartete, kamen einige Mitschüler auf ihn zu. Sie unterhielten sich lautstark und beachteten ihn nicht weiter, doch plötzlich bemerkte Aiden, wie die Anderen leise zu lachen und zu flüstern begannen. Abfällig betrachteten sie die Tüte in seinen Händen. Der Name des Ladens war blau auf weiß quer über die Tüte gedruckt. Schnell nahm Aiden diese in die Arme und verbarg den Aufdruck. Dann kam endlich der Bus.

„Was war das denn?“, fragte Reel ohne seine Verwirrung vor Aiden zu verbergen.

„Kunst und Musik sind im Internat verpönt“, flüsterte Aiden ihm etwas niedergeschlagen zu.

„Sport wird nur deshalb akzeptiert, weil unsere Volleyball-Mannschaft so erfolgreich und der Trainer mit dem Direktor verschwägert ist.“

„Was für ein bescheuertes Internat ist das denn bitte?“, platzte der Dämon heraus.

„Eins mit Schwerpunkt auf Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften“, antwortete Aiden trocken.

„Da hast du dir aber ein beschissenes Internat ausgesucht.“ Reel zeigte ganz offen sein Missfallen und Aiden ließ den Satz unkommentiert.
 

Wieder zurück in der Haupthalle des Internats eilte Aiden schnellen Schrittes zum Jungentrakt – die Tüte eng am Körper und den Aufdruck mit den Armen verdeckt.

Als er sein Zimmer betrat, löste sich Reel von ihm und nahm ungeduldig die Tüte entgegen.

In der Zeit die Aiden brauchte um seine Schuhe auszuziehen, schaffte Reel es auf den Schreibtisch zu klettern, das Zeichenbuch von seiner Plastikfolie zu befreien und die Sicherheitsklebchen vom Metalletui der Bleistifte zu entfernen. Freudig wie ein Kind saß er im Schneidersitz auf der Tischplatte und begutachtete seine neuen Errungenschaften. Kurz überlegte er, dann entschied er sich für einen der Bleistifte und ließ ihn schwungvoll über die erste Seite tanzen – und zwar mit der linken Hand, wie Aiden überrascht feststellte.

Ordentlich stellte er seine Schuhe an ihren Platz und hängte seine Jacke an ihren Garderobenhaken. Anschließend sammelte Aiden die Reste der Verpackungen ein, die sein dämonischer Mitbewohner achtlos vom Tisch hatte fallen lassen.

Ordnung war Aiden wichtig. Sein Zimmer war eines der wenigen Dinge in seinem Leben, über die er Kontrolle hatte – oder zumindest gehabt hatte. Seit der Dämon ebenfalls hier lebte, war es weitaus chaotischer als er es sich gewünscht hätte.

Er nahm eben nicht nur Aiden selbst, sondern auch dessen Zimmer in gewisser Weise in Besitz.

Von seinem Bett aus folgten Aidens braune Augen den Bewegungen des Dämons. Konzentriert bearbeitete dieser das Papier und schien alles um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen.

Das war vermutlich auch der Grund dafür, dass Aiden es sich erlauben konnte, ihn so lange zu beobachten ohne einen sarkastischen Kommentar oder einen vielsagenden Blick zu ernten.

Wie die in Schatten gehüllte Gestalt dort saß, hatte etwas meditatives für ihn, weshalb Aidens Augen viel länger als es ihm bewusst war auf dem jung-aussehenden Mann ruhten.

Schließlich riss er seinen Blick von dem malerischen und ungewöhnlichen Bild los. Entspannt streckte er sich auf seinem himmelblau bezogenen Bett aus und spielte einige Runden seines Mobile Games.

Aiden wollte wissen, was Reel so konzentriert zeichnete, aber der Gedanke an das letzte Mal als er den Block, in den dieser gezeichnet hatte, auch nur angesehen hatte, versicherte Aiden, dass der Dämon ihm den Gefallen nicht tun würde.

Immer wieder wanderte sein Blick zu Reel, über dessen Gesicht immer wieder verschiedene Emotionen wanderten. Am stärksten fiel Aiden erneut diese unerklärliche Trauer auf, die er besonders in letzter Zeit oft bei ihm bemerkte, obwohl Reel sie zu verstecken versuchte. Beim Zeichnen war sie jetzt ganz offen zu sehen.

Eigentlich hatte Aiden vorgehabt noch durch die Gemeinschaftsräume zu streifen und dabei vielleicht auf Mara zu treffen, doch er wagte es nicht Reel jetzt zu unterbrechen. Er war sich sicher, dass er ihm das mehr als übel nehmen würde. Auch wollte Aiden unter keinen Umständen das Bild zerstören, dass durch den starken Kontrast zwischen dem gewöhnlichen Internatszimmer und der unkonventionellen Schönheit des Dämons entstand.
 

So verbrachten sie den Nachmittag gemeinsam in Schweigen. Aiden an seinem Handy – das er später gegen seine PS Vita eintauschte – und Reel hinter seinem neuen Sketchbook und trotzdem glaubte Aiden, dass er von nun an besser mit seinem Dämon klar kommen würde.

Einige Zeit später seufzte dieser plötzlich leise, klappte das Sketchbook zu und legte es behutsam neben sich auf den Tisch.

„Stimmt was nicht?“ Aiden sah ihn fragend an.

„Sunshine, dein Magen knurrt so laut, da kann sich ja keiner bei konzentrieren“, gab er als Erklärung ab, klang dabei aber keinesfalls wütend.

„'Tschuldige.“ Nach einem kurzen Blick auf die Uhr richtete Reel sich auf und kam zu Aiden ans Bett.

„Offiziell beginnt das Abendessen ja erst in ein paar Minuten, aber vielleicht hast du ja Glück und sie öffnen heute schon etwas früher.“ Die feingliedrige Hand des Dämons ruhte einige Sekunden auf dem braunen Haarschopf des Jüngeren, bevor Reel sich auflöste.

Erneut schlüpfte Aiden in seine Schuhe und verließ sein Zimmer. Er hatte nicht zu Mittag gegessen und da er zum Frühstück nicht viel runter bekam, hing ihm jetzt der Magen in den Kniekehlen.
 

Im Speisesaal angekommen stellte er fest, dass er nicht der einzige war, der etwas verfrüht zum Abendessen erschienen war. Der Teil des Volleyball-Teams, der übers Wochenende im Internat geblieben war, stand bereits im Saal und beobachtete mit hungrigem Blick wie das Büfett aufgebaut wurde.

Suchend sah Aiden sich um bis er Lukas fand.

„Was ist hier denn los?“ Dieser sah ihn freudig überrascht an.

„Aiden! Was machst du denn schon so früh hier?“

„Hunger“, wies er seinen besten Freund grinsend auf das Offensichtliche hin.

„Ja klar. Was frag ich auch so blöd. Hast du den Tag schön mit deiner Angebeteten verbracht?“ Aidens Grinsen erstarb. Tatsächlich hatte er Mara außer beim Frühstück heute gar nicht gesehen. „Nein. Sondern mit meiner PS Vita“, antwortete Aiden etwas schuldbewusst und fing sich einen freundschaftlichen Schlag auf den Kopf ein.

„Du unverbesserlicher Nerd. Da hast du seit gestern 'ne Freundin und heute ignorierst du sie schon.“

„Mach ich gar nicht! Ich hab nur beim Zocken die Zeit vergessen. Darum war ich auch nicht beim Mittagessen“, rechtfertigte er sich und bekam wieder ein schlechtes Gewissem, da er seinen besten Freund anlügen musste.

„Und was machst du schon so früh hier? Und dann gleich mit dem ganzen Team.“

„Unser Training ist grade beendet wurden und wir sind alle gleich zum Essen gegangen.“ Plötzlich wurde Aiden brutal von der Seite angerempelt.

„Na wen haben wir denn hier. Ist das nicht unser Möchtegern-Künstler?“ Wie schnell verbreiteten sich Gerüchte in dieser Schule denn bitte?

„Ich hab nur Bleistifte gekauft“, versuchte sich Aiden kleinlaut zu rechtfertigen, doch das Kind war bereits in den Brunnen gefallen und das wusste er auch. Völlig egal was er jetzt sagte, es würde ihm nichts nützen.

'Kunst' und 'Musik' waren an dieser Schule Trigger-Worte und Markus' laute, bassige Stimme tat ihr übriges. Schnell waren sie das Zentrum der Aufmerksamkeit.

„Ach komm schon, Markus. Jetzt mach hier keine Szene“, schaltete Lukas sich ein.

„Dann entschuldige dich wenigstens. Rennst hier rum und rempelst Schüler an, die wirklich auf dieses Internat gehören, Prolet.“ Markus – der Schüler der ihn angerempelt hatte – war im Abschlussjahrgang. Er war dafür bekannt gern Ärger zu machen, daher vermieden es die meisten Schüler mit ihm aneinander zu geraten. Und so hielt es auch Aiden.

„Jetzt mach aber mal 'n Punkt. DU hast IHN angerempelt und Aiden gehört hier genauso her wie jeder andere von uns“, fuhr Lukas ihn aufgebracht an.

„Ist schon okay. Dann entschuldige ich mich halt.“ Aiden war die ganze Situation mehr als unangenehm und er wollte nur, dass sie möglichst schnell endete.

„NEIN! Nein, machst du nicht. Dich trifft keine Schuld, also entschuldigst du dich gefälligst auch nicht!“, beharrte Lukas. Der große Volleyballspieler war es nicht gewohnt, dass man ihm widersprach und die Situation drohte zu eskalieren. Doch dann kam der rettende Satz von einem anderen Mitschüler: „Es gibt Essen“, rief jemand über das Geraune der Gruppe hinweg und sofort war alles andere egal. Hungrig fielen die ersten – einschließlich Markus – über das Büfett her.

„Gerettet vom Schulessen“, stellte Lukas trocken fest.

„Trotzdem solltest du Rückgrat zeigen. Hab mal´n bisschen Selbstvertrauen“, predigte Lukas und Aiden ließ die Belehrung stillschweigend über sich ergehen.
 

Kurze Zeit später standen die beiden Jungen auch am Büfett. Nachdem sich beide die Tabletts ordentlich vollgeladen hatten gingen sie zu ihrem Stammplatz.

Auf dem Weg dorthin trafen sie wieder auf Markus, der ihnen breitschultrig entgegen marschierte. Als er etwa auf ihrer Höhe war, wurde Aiden erneut angerempelt – allerdings nicht von Markus. Jemand hatte ihn von hinten gestoßen und nun nahm die Katastrophe ihren Lauf.

Aiden sah sein Tablett – und alles was er darauf aufgestapelt hatte – durch die Luft fliegen. Allem voran der Teller heißer Tomatensuppe, den er bis eben so gewissenhaft ausbalanciert hatte.

Ein kurzer, überraschter Schmerzensschrei entfuhr Markus, der nun von oben bis unten mit Aidens Abendessen bedeckt war.

„Was fällt dir ein, du dreckiger Proleten-Bastard?“ Bedrohlich baute er sich vor ihm auf, holte aus und versenkte kurzerhand seine rechte Faust tief in Aidens Magengrube.

Dieser hielt dem Schlag nicht stand, sondern klappte sofort in sich zusammen. Lukas wollte seinem Freund zur Hilfe eilen, donnerte sein Tablett achtlos auf den nächsten Tisch und sprang auf Markus zu. Doch dieser packte ihn grob am Kragen und schleuderte ihn in die Menge umstehender Schüler, zwischen denen Aiden glaubte eine blonde Flechtfrisur zu erkennen.

Oh nein. Er wollte nicht, dass Mara ihn so sah. Aiden lag noch immer am Boden und hielt sich den schmerzenden Magen als Markus sich wieder ihm zuwandte.

Rittlings setzte er sich auf den Körper des viel kleineren Jungen. Mit der linken Hand drückte er Aidens Oberkörper auf den Boden und mit der rechten schlug er zu. Einmal, Zweimal – Einen dritten Treffer landete er nicht.

Markus stockte. Der Ausdruck in Aidens Augen hatte sich verändert und nun funkelten sie ihn angriffslustig an. Reel hatte die Kontrolle über Aidens Körper übernommen und setzte jetzt alles daran sein Lieblingsspielzeug zu beschützen. Die Überraschung seines Gegners ausnutzend stieß er Markus von sich und kam wieder auf die Füße. Markus tat es ihm gleich, so dass sie sich nun gegenüberstanden.

Neue und alte Wunden

Lauernd umkreiste Reel in Aidens Körper den Muskelprotz, dessen Haltung auf Erfahrung im Kampfsport hinwies. Doch Reel hatte dem Jungen einiges voraus, selbst wenn er jetzt mit dem untrainierten Körper Aidens vorlieb nehmen musste.

Problemlos wich er jedem Angriff aus und so langsam begann ihm das Ganze richtig Spaß zu machen. Kurz spielte er mit seinem Gegner, dann ging auch Reel zum Angriff über.

Geschickt nutzte er eine Lücke in Markus' Deckung und brach ihm mit einem Handballenschlag das Nasenbein.

Reel hörte das Knacken und in diesem Moment war es um ihn geschehen. Seine dämonische Natur gewann die Oberhand und sie hatte Hunger nach mehr.

Markus war niemand der schnell aufgab. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, doch Reel konnte seinen Schmerz deutlich sehen und er genoss ihn zutiefst.

Mit einem grotesken Grinsen stürzte er wieder auf ihn los. Anfangs war es sein Ziel gewesen Aiden zu beschützen und seinen Körper während des Kampfes möglichst nicht zu verletzten. Nun wollte er nur noch seinen Gegner leiden sehen – und er wusste genau, wie er das erreichen konnte.

Spielend leicht wich er jedem Angriff aus und nutze jede Gelegenheit um selbst einige Schläge zu platzieren.

Bei einem Faustschlag gegen den Kiefer hörte und spürte Reel Aidens Fingerknochen brechen, doch das Adrenalin und der Blutrausch überdeckten alles.

Reel landete viele Treffer von denen er wusste, dass sie längerfristige und schmerzhafte Folgen für seinen Gegner haben würden.

Sein letzter Schlag galt Markus' Schlüsselbein. Ein gezielter Treffer und es brach.

Der Junge heulte unter Schmerzen auf und wich zurück, doch der Dämon hatte noch nicht genug. Langsam schritt er auf ihn zu, den Mund zu einem genussvollen Grinsen verzogen.
 

„REEL!“ Er hielt abrupt inne. Erst jetzt bemerkte er, dass Aiden schon seit einiger Zeit erfolglos versuchte ihn zu stoppen. Er hatte weder dessen Stimme gehört, noch seine Verzweiflung gespürt, doch nun stürzte beides in vollem Maße auf ihn ein.

„Hör auf! Bitte Reel! Das reicht doch. Er hat genug.“ Der Herzschlag des Dämons beruhigte sich etwas und auch der rote Schleier, den der Blutrausch um seinen Verstand gelegt hatte, lichtete sich. Bereitwillig zog er sich zurück und übergab die Kontrolle wieder an Aiden.

„Das wird weh tun“, warnte er ihn leise vor und tatsächlich musste Aiden sich unglaublich zusammenreißen um nicht laut aufzuschreien und loszuheulen. Seine Magengrube, sein Gesicht und seine linke Hand schmerzten höllisch und raubten ihm fast den Atem. Endlich kam ein Lehrer um den Kampf abzubrechen, der längst beendet war.
 

Markus wurde umgehend auf die Krankenstation und anschließend ins örtliche Krankenhaus gebracht und Aiden schickte man auf sein Zimmer. Er sollte am Montag Morgen sofort nach dem Frühstück beim Direktor im Büro erscheinen.

Eigentlich hätte man ihn auch zur Krankenschwester geschickt, doch er schaffte es irgendwie allen Anwesenden mehr oder weniger glaubhaft weiszumachen, dass er unverletzt sei.

Reel hatte ihm dazu geraten, denn nur so konnte er Aiden heilen ohne Verdacht zu erregen. Dieser war mit Freude auf den Vorschlag eingegangen, immerhin konnte er so auch der Gefahr entgehen ebenfalls ins Krankenhaus gebracht zu werden.

Unter Schmerzen ließ er sich von der Sekretärin zurück zu seinem Zimmer eskortieren. Dort angekommen schloss er schnell die Tür hinter sich und schleppte sich zu seinem Bett, auf das er sich mit einem schweren Seufzer sinken ließ.

Langsam löste sich der schwarze Nebel von Aidens Körper und formte sich zu der vertrauten Gestalt des Dämons. Kurz betrachtete er den Jungen auf der Bettkante, der vorsichtig seine linke Hand begutachtete.

Ein leises „Tut mir leid.“ lenkte Aidens zu seinem Dämon aufsehen. Dieser schaute mit einem Blick, den Aiden nicht richtig deuten konnte, an ihm vorbei.

„Was war denn überhaupt los mit dir? Warum hast du mich nicht gehört?“

Aiden wusste nicht recht, ob er wütend oder dankbar sein sollte und seine Schmerzen machten es ihm nicht unbedingt leichter einen klaren Gedanken zu fassen.

„Ich weiß nicht“, antwortete der Dämon bemüht ruhig. „Ich war einfach im Blutrausch und habe die Kontrolle verloren. Außer dem Kampf habe ich nichts mehr wahrgenommen.“

Aiden versuchte ihm in die Augen zu sehen, doch er wich ihm immer wieder aus.

Kurz schwiegen beide.

„Markus wird schon wieder“, versuchte Aiden sich selbst und auch Reel zu beruhigen. Doch dieser warf ihm nur einen verwirrten Blick zu.

„Der Junge? Der ist doch egal. Den WOLLTE ich schließlich verletzen.“ Jetzt war es an Aiden verwirrt dreinzuschauen. „Ich hatte nicht vorgehabt, DEINEN Körper dabei zu beschädigen, aber ich hab mich zu einem riskanteren Kampfstil hinreißen lassen und das frustriert mich.“ Aiden versuche zu verarbeiten, was der Dämon da grade gesagt hatte.

Dass er Markus ins Krankenhaus befördert hatte, ließ ihn also vollkommen kalt, aber dass er Aiden verletzt hatte, tat ihm leid. Einerseits ärgerte ihn diese Doppelmoral. Andererseits freute er sich heimlich darüber einen Sonderstatus bei ihm zu haben. Auch wenn es nur der Status des Lieblings-Spielzeugs war.
 

„Zeig mal her.“ Reel kniete sich vor ihm auf den Boden und bedeutete Aiden ihm seine verletzte Hand zu reichen. Sanft nahm er die schmerzenden Finger in seine Hände und tastete sie behutsam ab.

Für Aiden war es immer noch seltsam, wenn Reel ihn berührte. Der Dämon tat das zwar auch um in seinen Körper überzugehen, aber diese Berührungen waren immer sehr kurz und zweckmäßig.

Das hier fühlte sich irgendwie anders an und Aiden war sich nicht sicher, ob das etwas Gutes war oder nicht.

„Kannst du das heilen?“, fragte er um sich von seinen Gedanken abzulenken. Reel blickte etwas besorgt drein.

„Prinzipiell schon. Aber es ist nicht so als würde ich die Zeit zurück drehen oder eine Wunderheilung wirken. Ich vermute, dass ich lediglich den Selbstheilungsprozess deines Körpers für einen kurzen Moment auf ein absolutes Maximum beschleunigen kann. Das würde die Narbe in deiner Handfläche erklären. Der Schnitt ist nicht einfach verschwunden, sondern hat Spuren hinterlassen. Ich nehme mal an bei deinen Fingern wird das genauso sein.“

In Aiden stieg Panik auf. Konnte Reel ihn jetzt etwa doch nicht heilen? Musste er nun doch in ein Krankenhaus? Nein! Alles nur kein Krankenhaus. Allein der Gedanke an diese medizinische Einrichtung löste bei Aiden bereits Schnappatmung aus.

„U...und was heißt das jetzt? Muss... Muss ich...“ Zunehmend wurde er panischer.

„Aiden! Aiden, ganz ruhig. Was hast du denn auf einmal?“ Reel hielt Aiden an den Schultern fest und schaute ihm fest in die Augen, doch dieser schien einfach durch ihn hindurch zu sehen.

„Ich kann dich trotzdem heilen, aber wir müssen das ein bisschen vorbereiten. Beruhige dich!“ Noch immer zitterte der Junge am ganzen Körper. Kurzentschlossen nahm der Dämon nun Aidens Gesicht zwischen die Hände und zwang diesen so ihn anzusehen.

„AIDEN! Es ist alles in Ordnung. Beruhige dich wieder!“ Und tatsächlich ließ der Schock nach und sein Atem normalisierte sich langsam wieder. Mit einer Mischung aus Verwirrung und Sorge betrachteten ihn die roten Augen an.

„Geht's wieder?“ Noch immer ruhte Reels linke Hand auf Aidens Wange als dieser etwas abwesend nickte.

„Was war das denn grade?“ Reel war ehrlich besorgt. Aiden musste einige Male schwer schlucken ehe er wieder Worte hervorbringen konnte.

„Ich hab eine Phobie vor Krankenhäusern und dachte ich müsste da jetzt doch hin“, gab er beschämt zur Antwort und sah peinlich berührt zum Boden. Er schämte sich sehr für seine Nosocomephobie und kam sich schrecklich erbärmlich dabei vor bei einem Anfall gesehen worden zu sein.

Ein beruhigtes Seufzen entfuhr Reel.

„Ich dachte schon du hast irgendwelche inneren Verletzungen oder so.“ Ein letztes Mal strich er mit dem Daumen über Aidens Wange, bevor er nun auch seine zweite Hand zurückzog. Aiden konnte noch einen kurzen Moment lang die Wärme spüren, die diese dort hinterlassen hatte, dann war auch sie weg.
 

Der Dämon hatte sich mittlerweile wieder den gebrochenen Fingern zugewandt.

„Geht's dir wirklich wieder gut? Das wird nicht angenehm.“ Der Angesprochene nickte leicht. „Den Zeige- und Mittelfinger müssen wir erst richten. Ansonsten wachsen sie schief zusammen wenn ich sie heile.“

„Und das wird weh tun, nehme ich an“, fragte Aiden mit einem mulmigen Gefühl.

„Darauf kannst du dich verlassen.“ Schnell huschte der Dämon ins Bad und kam mit einem sauberen Handtuch zurück, welches er Aiden hinhielt.

„Hier. Nimm das zwischen die Zähne.“ Verwirrt blickte dieser ihn an. „Damit du dir nicht auf die Zunge beißt oder dir die Zähne abbrichst. Außerdem dämpft es eventuelle Schreie.“ Reels Ausführungen trugen nicht unbedingt dazu bei Aidens Angst zu mindern, trotzdem nahm der das Handtuch entgegen und biss beherzt darauf.

„Halt dich mit der anderen Hand am besten irgendwo fest. Das hilft den Schmerz zu ertragen.“ Aidens weiter aufsteigende Angst ließ ihn intuitiv nach dem ersten greifen, was ihm ins Auge fiel – und das war Reels Schulter.

Kurzentschlossen klammerte er sich daran fest. Der Dämon wirkte erst etwas überrascht, schmunzelte kurz und fuhr dann unbeirrt mit seiner Erklärung fort.

„Ich werd dir jetzt nacheinander die beiden Fingerknochen wieder gerade zusammen schieben. Das wird weh tun, aber du packst das schon. Versuch einfach den Schmerz in deine andere Hand zu leiten und so stark zu zudrücken, wie es weh tut. Bereit?“ Aiden kralle sich fester in Reels Schulter, bevor er zögerlich nickte.

„Okay. Dann eins, zwei!“ Auf 'zwei' rückte er den schiefen Knochen des Mittelfingers gerade. Aidens unverletzte Hand krallte sich mit aller Kraft in Reel fest und seine Zähne bohrten sich mit ähnlicher Intensität in das Handtuch.

Kurz gab Reel dem Jungen Zeit sich zu sammeln, dann richtete er den Zeigefinger. Aiden ließ erneut einen gedämpften Schrei hören, bevor er mit der Stirn gegen Reels Schulter sank.

Dieser hielt die gebrochenen Finger fest zwischen seinen Händen um zu verhindern, dass die Knochen sich wieder verschoben. Schwer atmend barg Aiden sein Gesicht an Reels Schulter und der Dämon gab ihm die Zeit die er brauchte.

„Für einen kleinen Internatsschüler hast du das ganz gut überstanden“, lobte er ihn mit sanfter Stimme. Aiden rückte nun etwas zurück und sah ihn mit tränennassen Augen an. „Ich werd dich jetzt schnell heilen und dann sind auch die Schmerzen weg. Okay, Sunshine?“ Wieder ein schwachen Nicken von Aiden, der mittlerweile das Handtuch aus seinem Mund genommen hatte. Noch immer die gebrochenen Finger zwischen den Händen schloss Reel die Augen. Langsam löste er sich auf und ließ eine traurige Leere zurück.
 

Aidens Schmerzen waren mit seinem Dämon verschwunden. Seine Finger, sein Gesicht und auch seine Magengrube fühlten sich wieder vollkommen normal an.

Ein paar Augenblicke lang sah er noch auf die Stelle vor sich, wo bis eben noch Reel gekniet hatte, und Aiden wünschte ihn sich tatsächlich zurück. Warum genau, das wusste er selbst nicht so recht.

Eigentlich sollte er froh sein, dass er jetzt mal wieder wirklich seine Ruhe hatte, aber momentan hätte er nichts gegen seine Gesellschaft gehabt.

Noch etwas verweint betrachtete Aiden seine Finger. Er konnte sie problemlos bewegen und sie sahen auf den ersten Blick auch nicht allzu schief aus – soweit er das durch den Tränenschleier beurteilen konnte.

Er horchte in sich hinein und fand Reels Bewusstsein wie erwartet schlafend vor.

„Danke“, flüsterte er leise, obwohl er wusste, dass er ihn nicht hören konnte.

Aiden machte sich bettfertig. Irgendwie fühlte es sich komisch an, wenn Reel nicht auf dem Schreibtisch oder dem Bett saß. Er hatte sich mittlerweile so an dessen Anwesenheit gewöhnt, dass er ohne ihn das Gefühl hatte, dass etwas fehlte.

Schweigend saß er auf seinem Bett – unschlüssig was er mit dem Rest des Abends noch anfangen sollte.

Das Knurren seines Magen erinnerte ihn daran, dass er noch immer nichts gegessen hatte. Sein Abendessen war ja auf Markus gelandet bevor er auch nur einen Bissen davon hatte nehmen können. In letzter Zeit hatte er wirklich erstaunlich viel Pech.

Frustriert kramte er seinen Süßigkeiten-Vorrat hervor und öffnete eine Packung Kekse. Immer wieder sah er nach Reel und fragte sich, wie lange er wohl dieses mal schlafen würde.

Schließlich ließ er sich aufs Bett fallen und griff nach seiner PS Vita. Dabei stieß er etwas von seinem Nachtschrank, das mit einem leisen Knall zu Boden fiel. Verwirrt sah Aiden nach und sein Blick fiel auf das Armband von Mara.

Verdammt! MARA! Aiden hatte sie total vergessen.

Erst Aidens unfreiwilliger Abstecher in die Innenstadt und dann der Ärger im Speisesaal. Hoffentlich dachte sie nicht, dass er ihr aus dem Weg ging und plötzlich kam ihm ein Gedanke.

Was hielt Mara wohl von der Prügelei? Würde sie ihn dafür jetzt verlassen? Er hatte sie doch grade erst für sich gewonnen.

'Eigentlich müsste ich wütend auf Reel sein', kam es ihm in den Sinn, doch er verwarf den Gedanken wieder. Reel hatte ihn nur beschützen wollen und das war etwas außer Kontrolle geraten. Oder besser gesagt: Reel war etwas außer Kontrolle geraten. Aber die Schuld für die Prügelei konnte er ihm nun wirklich nicht geben.

Markus hatte zwar total überreagiert, aber er hatte wahrscheinlich auch angenommen, dass Aiden ihn absichtlich mit der Suppe bekippt hatte. Blieb also noch die Person, die ihn angerempelt hatte, aber Aiden konnte beim besten Willen nicht sagen, wer das gewesen war.

„Ist ja auch egal. Ist vermutlich eh nur ein Versehen gewesen“, sagte er laut zu sich selbst und wandte sich wieder dem Lederband mit den Silberperlen zu.

Das dieses unscheinbare Schmuckstück ein Talisman gegen böse Geister und Dämonen sein sollte, konnte er noch nicht so richtig fassen. Wo Mara es wohl her hatte? Bestimmt wirklich aus einem Second-Hand-Shop. Wer weiß, wie das da hingeraten ist. Langsam schwirrte Aiden der Kopf vor lauter Sorgen und Fragen unterschiedlichster Natur.

'Hoffentlich ist Mara nicht sauer auf mich', schloss er seine Gedankengänge und drehte die silbernen Perlen zwischen den Fingern. Dabei viel sein Blick auf die feine Narbe in seiner Handinnenfläche. Ein letztes Mal sah er nach dem noch immer schlafenden Dämon, dann legte er das Band behutsam zurück auf den Nachtschrank und nahm wieder seine Konsole zur Hand.
 

Reel sah die Ereignisse des Abends erneut vor sich ablaufen. Erneut schlug er den Jungen zusammen. Erneut hörte er Knochen brechen.

Doch als er sich dieses mal von dem Körper löste, sah er sich nicht Aiden gegenüber. Die Gestalt in dem mitternachtsblauen Umhang stand vor ihm. Sie öffnete den Mund, doch es kam kein einziges Wort heraus, stattdessen bahnte sich ein kleines Rinnsal aus blutigem Rot seinen Weg über die schmalen Lippen. Beständig floss es über die blasse Haut und tropfte in immer kürzeren Abständen vom Kinn seines Gegenübers.

„Relakesch“, ertönte schwach die Stimme, die Reel so vertraut wie keine sonst war.

Dann brach die zierliche Gestalt in sich zusammen.

„Nein!“ Reel sank auf die Knie. Verzweifelt wiegte er den zerbrechlichen Körper in seinen Armen, während das Blut unaufhaltsam weiter floss. Mit erstickter Stimme flüsterte er immer wieder einen Namen.
 

Als er die Augen endlich wieder öffnete, fand er sich in Aidens Körper wieder. Eilig materialisierte er sich und tatsächlich war es Aiden und keine Kapuzengestalt von der er sich löste. Etwas enttäuscht ließ er sich auf die Bettkante sinken.

Aiden schlief. Eine Weile betrachtete er, wie sich dessen Brust rhythmisch hob und senkte und kam dabei selbst wieder etwas zur Ruhe. Vorsichtig nahm er dem Jungen die Konsole aus der Hand, mit der er eingeschlafen war, und legte sie auf den Nachtschrank.

Dabei fiel ihm das Schutzband ins Auge und er verzog grimmig das Gesicht. Böse starrte er das magische Schmuckstück einen kurzen Moment lang an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem schlafenden Aiden zuwandte.

Bedacht darauf ihn nicht zu wecken, begutachtete er die geheilten Finger. Perfekt waren sie nicht zusammengewachsen, aber für die Umstände sahen sie ganz gut aus. Sanft strich er über jedes einzelne Fingerglied und ein trauriger Seufzer entfuhr ihm, dann zog er sich zurück und nahm seine Zeichenutensilien auf.

Mit feinen Linien setzte er seine letzte Zeichnung fort – langes glattes Haar, das sanft im Wind wehte, freundliche aber gebrochene Augen, die viel zu naiv auf die Welt sahen, und schmale Lippen, die selbst unter größten Schmerzen ein Lächeln tragen konnten.

Immer wieder blitze ein blutiges Rinnsal vor Reels geistigem Auge auf, doch er schob es konsequent beiseite und führte seinen Stift unbeirrt mit sanften Bewegungen weiter.

Schlimmer geht immer

Die ersten Töne der Instrumental-Version von 'The Wolven Storm' aus 'The Witcher 3' verkündeten Aiden, dass er aufstehen musste. Er wechselte den Weck-Klingelton seines Handys regelmäßig, um sich nicht zu sehr an einen davon zu gewöhnen und ihn eventuell zu verschlafen. Mit einer routinierten Bewegung griff er zu seinem Handy und ließ das Musikstück verstummen. Nun hörte er leise wie ein Bleistift in kurzen Bewegungen über Papier gezogen wurde.

Er sah auf und fand seinen Dämon an seinem üblichen Platz vor.

„Guten Morgen, Sunshine“, begrüßte ihn dieser.

„Morgen. Wie lange bist du schon wach?“ Reel zog eine Augenbraue hoch. „Du weißt, wie ich das meine“, ergänzte Aiden seine Frage.

„Kann ich nicht genau sagen. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber all zu lange kann es nicht sein.“

Intuitiv sah Aiden wieder auf die Finger seiner linken Hand und wiederholte, was er am Vorabend nach Reels Verschwinden gesagt hatte.

„Danke.“ Der Dämon machte nur eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich dann wieder seiner Zeichnung zu.

Lustlos machte Aiden sich für den Unterricht fertig. Er war ja nie ein Morgen-Mensch gewesen, aber heute wollte er sein Zimmer am liebsten gar nicht verlassen. Er hatte Angst vor seinem anstehenden Besuch beim Rektor, Angst vor den Blicken der anderen und den Gerüchten, die sich garantiert schon verbreitet hatten. Und vor allem, hatte er Angst davor auf Mara zu treffen. Er wollte sie gern wiedersehen, aber er fürchtete sich vor ihrer Reaktion.
 

Eigentlich hatte er sich längst dazu entschieden das Frühstück ausfallen zulassen, als es plötzlich an seiner Tür klopfte. Reel schloss hastig sein Sketchbook, ließ den Bleistift fallen und griff nach Aiden, der ihm eilig entgegengekommen war.

Die letzten Schwaden von Reels schwarzem Schatten zogen sich grade in Aidens Körper zurück, als die Tür ein Stück weit aufschwang und Lukas seinen dunkelblonden Kopf ins Zimmer steckte.

„Morgen“, begrüßte er seinen besten Freund, betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Alles okay mit dir? Du hast gestern nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet.“ Aiden seufzte schwer.

„Ja. Tut mir leid. Ich hab mein Handy gestern gar nicht mehr in die Hand genommen. Hatte da einfach keinen Nerv für.“ Lukas versuchte zu ergründen was mit seinem Freund los war, aber konnte sich einfach keinen Reim auf das Ganze machen.

„Markus hast du's gestern echt gezeigt. Ich wusste gar nicht, dass du Kampfsport machst.“ Kurz wanderte sein Blick zum Schreibtisch und dem darauf liegenden Zeichenutensilien.

„Du scheinst ja viel mehr Geheimnisse vor mir zu haben als ich dachte.“ Lukas meinte das nicht als Vorwurf, aber für Aiden fühlte es sich so an. Er hasste es seinen besten Freund belügen zu müssen und nicht offen mit ihm reden zu können. Schuldbewusst sah er zu Boden.

„Tut mir leid.“

„Ach. Du wirst schon deine Gründe haben. Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, aber nichts erzählen musst.“ Dankbar sah Aiden wieder zu ihm hoch. „Wann musst du zum Direx?“

„Nach dem Frühstück“, antwortete er niedergeschlagen. Lukas sah auf die Uhr.

„Na dann sollten wir uns beeilen, damit wir vorher noch was essen können.“

Aiden wollte kein Frühstück, aber Lukas war extra vorbeigekommen um nach ihm zu sehen. Ihn jetzt allein zum Essen gehen zu lassen, hätte sich für Aiden wieder wie Verrat angefühlt, also begleitete er ihn.
 

Im Saal war es lauter als sonst, doch sobald Aiden an einem Tisch vorbeilief, senkte jeder dort seine Stimme. Er versuchte es zu ignorieren, holte sich schnell sein übliches Frühstück und vergrub an seinem Platz sein Gesicht in der Teetasse.

Immer wieder bemerkte er, wie im Saal sein Name geflüstert und auf ihn gedeutet wurde. Ein paar mal sah er sich suchend um, aber Mara war nirgends zu sehen, was in Aiden im gleichen Maße Erleichterung und Enttäuschung auslöste.

Er fühlte sich in dem offenen Saal und mit all den Blicken auf sich so unwohl, dass er seinen Besuch im Büro des Direktors schon fast herbeisehnte.

Als Lukas endlich mit dem Essen fertig war, bat er ihn darum in der ersten Stunde für ihn mitzuschreiben und machte sich dann auf den Weg zum Büro. Immer wieder begegneten ihm Mitschüler, die ihn verstohlen musterten. Prügeleien waren im Internat eine absolute Seltenheit und Aiden war immer ein unauffälliger Schüler gewesen. Es war also nur verständlich, dass er nun Gesprächsthema Nummer Eins war.

Einmal tief durchatmen, dann klopfte er an.
 

Der Direktor empfing ihn müde und bedeutete ihm sich zu setzten.

„Du schon wieder“, stellte er mit einem Seufzen fest. „Erst Bücherregale, dann Mitschüler?“, fragte er mit einem unschlüssigen Blick auf Aiden. „Gewalt wird an meiner Schule nicht toleriert und ich hätte nicht gedacht, dass ich hier überhaupt einmal einen Fall haben würde, bei dem ein Schüler einen anderen krankenhausreif schlägt. Ein solches Verhalten ist absolut unentschuldbar, aber hast du trotzdem etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Aiden konnte dem Mann ansehen, dass er nicht so recht glauben konnte, dass der schwache Aiden es gewesen war, der einen viel größeren Schüler aus der Abschlussklasse ins Krankenhaus befördert hatte.

„Es war ein Unfall“, versuchte Aiden sich zu verteidigen und begann die Geschichte aus seiner Sicht zu erzählen. Den Teil, wo ein Rachedämon seinen Körper übernahm und statt seiner kämpfte, ließ er großzügig aus. Den Aggressionsschub erklärte er damit, schon des öfteren von Markus provoziert worden zu sein und dass er verhindern wollte, dass nun auch noch Lukas mit hinein gezogen wurde.

Nachdem er zuende erzählt hatte, nahm der Rektor unschlüssig seine Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel.

„Klingt für mich nach einer Kurzschlussreaktion, aber dennoch ist es Körperverletzung. Da Markus allerdings derjenige war, der als erstes handgreiflich wurde und du bisher noch nicht negativ aufgefallen bist, sehe ich von einer Suspendierung noch einmal ab.

Das Umstürzen des Bücherregals in der Bibliothek war nicht dein Verschulden, daher streiche ich das aus deiner Akte und somit ist die Schlägerei dein erster Verstoß.“ Erleichtert atmete Aiden auf. „Thema Bibliothek – das wäre doch eine gute Strafe für dich. Bei dem Vorfall sind drei Regale zu Bruch gegangen und sämtliche Bücher durcheinander geraten. Frau Eden kann nun folglich jede helfende Hand gebrauchen, die sie bekommen kann, um alle Bücher wieder ordnungsgemäß in die neuen Regale einzusortieren.

Du wirst... sagen wir 40 Stunden in der Bibliothek aushelfen. Wende dich nach dem Unterricht bitte an Frau Eden, damit sie dir sagen kann, wann genau du ihr zur Hand gehen sollst.“ Aiden nickte eifrig. Mit Strafarbeiten konnte er grade noch leben. Konzentriert schrieb der Direktor sich eine Notiz, dann sah er wieder zu Aiden hoch.
 

„Deine Eltern werden natürlich auch informiert.“ Nun wurde Aiden schlagartig blass.

„M... Meine Mutter... Es reicht doch, wenn sie meine Mutter informieren“, versuchte er das Schlimmste doch noch zu verhindern. Etwas irritiert blätterte der Rektor Aidens Akte auf seinem Schreibtisch durch.

„Ah, deine Eltern leben getrennt. So wie ich das sehe, ist es aber dein Vater, der das Schulgeld zahlt.“

„Das stimmt, aber meine Mutter hat das Haupt-Sorgerecht.“

Kurz blickte der ältere Mann zwischen Aiden und seinen Papieren hin und her, dann seufzte er wieder laut.

„Nun gut. Dann werde ich Frau Moore anrufen. Sie wird es deinem Vater schon mitteilen, wenn sie es für nötig hält.“ Wieder eifriges Nicken von Aiden. „Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?“ „Noch nicht.“ Der Junge blickte schuldbewusst zur Seite. Seufzer Nummer 3 folgte.

„Dann tu das bitte umgehend. Ich bin ungern der Überbringer schlechter Nachrichten. Du hast bis 12 Uhr Zeit. Dann rufe ich sie an.“

„Aber ich hab doch Unterricht“, merkte Aiden kleinlaut an. Seufzer Nummer 4.

„Dann rufe ich sie eben um 13:30 Uhr an und du kannst dich vorher in der Mittagspause bei ihr melden. Aber Gnade dir Gott, wenn ich dort anrufe und Frau Moore nicht weiß, wovon ich rede.“

Der Rektor musterte ihn mit strengem Blick.

„Ich rufe sie sofort nach dem Essen an“, versicherte ihm Aiden.

„Dann kannst du jetzt gehen.“ Kurz zögerte Aiden.

„Wie geht es eigentlich Markus?“ Es hatte ihn eine Menge Überwindung gekostet, diese Frage zu stellen und nicht so schnell er konnte aus dem Büro zu flüchten, doch er wollte sein Gewissen beruhigen. Etwas überrascht sah ihn der Direktor an.

„Der Junge muss noch einige Zeit im Krankenhaus bleiben. Soweit ich weiß, hat er einen angebrochenen Unterkiefer, ein gebrochenes Schlüsselbein, mehrere Rippenfrakturen und eine ganze Menge blauer Flecken, aber er wird wohl keine bleibenden Schäden davon tragen. Außer seines verletzten Stolzes vielleicht.“

Erleichterung erhellte Aidens Gesicht. Skeptisch ergänzte der Rektor: „Und du bist unverletzt davongekommen? Schon wieder?“

„Ich schätze, ich hab einfach einen guten Schutzengel“, versuchte Aiden dessen Zweifel zu mindern.

„Dann sollte dieser Schutzengel lieber dafür sorgen, dass du nicht ständig in Ärger verwickelt wirst.“ In seinem Inneren konnte Aiden leise Reels Stimme hören.

„Ich geb' mir ja Mühe, aber der Junge ist einfach eine Katastrophe.“ Er musste ein Schmunzeln unterdrücken. Endlich erhob sich Aiden von seinem Stuhl, verabschiedete sich höflich und ging zur Tür. Als er die Klinke in die Hand nahm ergänzte der Rektor noch einmal: „Lass deine Besuche hier bei mir im Büro bitte nicht zur Gewohnheit werden.“

„Ich bemühe mich“, antwortete Aiden und verließ zügig den Raum.
 

Als Aiden in die Klasse zurückkehrte, wurde es schlagartig still. Schnellen Schrittes huschte er zwischen den Tischen hindurch zu seinem Platz und versuchte dabei die Blicke der Anderen zu ignorieren. Die Lehrerin fuhr mit ihren Ausführungen zur Kurvendiskussion fort, doch der Großteil der Aufmerksamkeit galt nun Aiden.

Um sich herum hörte er seine Mitschüler tuscheln.

„War Aiden nicht auch der, der in der Bibliothek unter dem Regal lag?“

„Hätte nie gedacht, dass Aiden sich mal prügeln würde.“

„Naja man sagt ja, dass die Stillen oft die Gefährlichsten sind.“

„Hast du mitbekommen, wie oft der Selbstgespräche führt? Und nun prügelt er sich auch noch. Bei dem stimmt doch was nicht.“

„Ich sitze in Chemie neben Aiden. Meinst du ich darf mich nach dem Vorfall umsetzen?“

Lukas tat so, als würde er all das nicht hören.

„Wie ist es gelaufen? Darfst du an der Schule bleiben?“

„Ja, aber ich muss 40 Stunden in der Bibliothek helfen und der Rektor ruft meine Mom an.“

„Na, da hast du ja nochmal Glück gehabt.“ Aiden nickte zustimmend.

Den gesamten Unterricht über spürte Aiden die Blicke seiner Mitschüler und hörte immer wieder ihr Geflüster. Dann erlöste ihn die Pausenklingel.

Doch im Speisesaal wurde es nicht besser, denn dort warteten nur noch mehr abschätzige Blicke und wilde Gerüchte auf ihn.

Am Büfett hielten die Anderen kaum merklich etwas Abstand von ihm und wenn er an einem Tisch vorbei lief, verstummten die Gespräche meistens.

Lukas tat weiterhin so, als wäre nichts passiert und Aiden war seinem besten Freund unsagbar dankbar dafür. Beim Essen unterhielten sie sich nur über belangloses Zeug und Aiden zwang sich dazu im Saal nicht nach Mara Ausschau zu halten.

„Ich muss noch schnell bei meiner Mom anrufen“, seufzte Aiden unglücklich.

„Die weiß noch gar nichts von den tollen Neuigkeiten?“ Lukas zog die Augenbrauen hoch. „Uh. Na dann drück ich dir die Daumen. Du packst das schon.“
 

Schnellen Schrittes zog sich Aiden in den Jungentrakt und in sein Zimmer zurück. Er wollte nicht, dass ihm jemand bei diesem Gespräch zuhörte. Bei Reel würde er das nicht vermeiden können, aber bei dem Dämon war das eben auch eine ganz andere Sache.

„Du willst also wirklich unbedingt mithören?“, fragte Aiden diesen, als er keinerlei Anstalten machte sich von seinem Körper zu lösen.

„Warum denn nicht? Es wird doch grade interessant.“ Reel meinte das überhaupt nicht böse. Für ihn war es einfach ganz selbstverständlich, dass er alles mitbekam. Immerhin war Aiden sein Eigentum.

Dieser atmete einmal tief durch und tippte dann auf das Hörer-Symbol beim Kontakt seiner Mutter.

Während er dem Tuten lauschte wurde sein Herzschlag immer schneller. Im Kopf hatte er sich bereits einige Worte zurecht gelegt, aber wie er sich kannte würde er sofort alles vergessen sobald seine Mutter den Hörer abnahm. Und genau das passierte jetzt auch. Aiden hörte die Stimme seiner Mutter und sofort war sein Kopf vollkommen leer.

„Aiden? Schön, dass du endlich mal wieder anrufst. Aber hast jetzt nicht noch Unterricht?“

„Hi, Mom. Nein also Ja. Ich hab grade Mittagspause.“

„Ist was passiert? Bist du krank? Du klingst so komisch.“ Aidens Mom klang besorgt.

„Nein, nein. Alles okay. Also so mehr oder weniger. Also ähm...“

„Aiden. Wenn was passiert ist, dann musst du mir das sagen.“

„Ich weiß...“ Es fiel Aiden unglaublich schwer die richtigen Worte zu finden.

„Geht es dir wirklich gut? Ich mache mir jetzt doch etwas Sorgen.“

„MIR geht es schon gut. Aber ich hab was angestellt.“ Kurze Stille am anderen Ende der Telefonleitung.

„Egal was es ist, Aiden, du kannst mir immer alles sagen. Das weißt du oder?“

„Ja. … Also... Bitte sag es Vater nicht.“ Aiden zögerte. Er wusste nicht so recht wie er ihr beichten sollte, dass er einen Mitschüler krankenhausreif geschlagen hatte. Plötzlich spürte er eine starke innere Ruhe. Reel nutze ihre Verbindung um Aidens Nervosität zu mindern und gab ihm dabei auch unbewusst das Gefühl nicht allein zu sein. Aiden atmete erneut tief durch und fuhr dann so schnell fort, dass er fast über seine eigenen Worte stolperte.

„Direktor Gruber wird heute deswegen noch bei dir anrufen. Ich hab mich geprügelt. Aber ich werde nicht der Schule verwiesen. Meine Strafe habe ich auch schon bekommen und es passiert garantiert nie wieder.“ Aidens Mutter brauchte erst mal einen kurzen Moment um bei Aidens Worten hinterher zu kommen und sie zu verarbeiten.

„OH GOTT. Geht es dir gut? Wer war der andere Junge? Warum hat man dich bestraft? DU bist doch verprügelt wurden. Da werde ich …“

„Mom, NEIN“, unterbrach Aiden sie. „ Es war nur ein Versehen. Die ganze Prügelei war nur ein großes Missverständnis. Mir ist nichts passiert, aber der andere Junge ist jetzt im Krankenhaus.“

Wieder kurze Stille.

„DU hast den Jungen geschlagen?“

„Ja, Mom“, antwortete er schuldbewusst. Eigentlich war er nicht Schuld an der Prügelei, aber er fühlte sich schlecht, weil er seiner Mutter Sorgen und Ärger bereitete.

Außerdem sah er Reel als Teil seiner Verantwortung. Er hatte ihn zwar nicht einmal annähernd unter Kontrolle, aber Aiden war der einzige, der überhaupt Einfluss auf den Dämon nehmen konnte.

Ein tiefes Seufzen erklang aus seinem Handy.

„Wie ist das ganze denn passiert?“ Schnell wiederholte Aiden, was er auch dem Rektor schon erzählt hatte.

„Tut mir leid, Mom. Bitte sag Vater nichts“, schloss er seinen Bericht.

„Wir reden da später nochmal drüber. Meine Pause ist bald vorbei und deine sicherlich auch. Außerdem hab ich ja noch einen Anruf, auf den ich mich freuen darf.“ Aiden schwieg. Er konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme deutlich hören. „Und du bist wirklich unverletzt?“, kam es wieder etwas sanfter von seiner Mutter.

„Ja. Ich hatte Glück.“

„Na dann mach, dass du wieder in den Unterricht kommst. Und Aiden?“

„Ja. Mom?“

„Pass' bitte besser auf. Und ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch.“ Dann legte sie auf. Lautstark seufzte Aiden und ließ sein Handy sinken.

Die Ruhe, die Reel noch immer ausstrahlte, half Aiden seinen Herzschlag schnell zu normalisieren und seine Gedanken zu ordnen.

Ein Blick auf seine Handyuhr verriet ihm, dass er fast die gesamte Pause mit Telefonieren verbracht hatte, also ließ er sein Handy wieder in der Hosentasche verschwinden und öffnete widerwillig seine Zimmertür.
 

Reel hörte auf ihre Verbindung zu nutzen und Aiden fühlte sich sofort wieder etwas unwohler. Eilig hastete er durch die Gänge zurück zu seinem Fachraum vor dessen Tür Lukas auf ihn wartete.

„Und? Wurdest du enterbt?“

„Nein. Vorerst bin ich noch Teil der Familie“, gab Aiden mit einem schiefen Lächeln zurück.

In den folgenden Stunden wiederholte sich, was er auch in der ersten schon erlebt hatte.

Im Biounterricht saß Mara vor ihm, doch sie sprach ihn nicht an und Aiden wollte auch nicht unbedingt mit ihr sprechen wenn so viele Leute um sie herum waren. Und so verließ er nach Unterrichtsende den Raum ohne mit ihr geredet zu haben.

„Hast du Bock 'ne Runde Mario Kart zu spielen?“, versuchte Lukas ihn nach Ende der letzten Stunde abzulenken.

„Gerne, aber ich muss zu Frau Eden wegen meiner Strafarbeit.“

„Oh, stimmt ja. Kannst ja Bescheid sagen, wenn du danach noch Zeit und Lust dazu hast.“

„Mach ich.“
 

Vor der Bibliothek verabschiedeten sie sich. Lukas ging Richtung Gemeinschaftsraum davon und Aiden wandte sich Frau Edens Tresen zu. Etwas ungläubig schaute sie ihn an.

„Du bist wegen neuer Bücher hier?“

„Leider nein. Herr Gruber hat mich zur Strafarbeit her geschickt.“

„Also war es doch kein Missverständnis. Dir hätte ich gar nicht zugetraut in Ärger zu geraten.“ Aiden lächelte schief.

„Ich mir eigentlich auch nicht.“

„Naja, aber ich bin momentan wirklich für jede helfende Hand dankbar. Und so schlimm wird es schon nicht.“ Die Bibliothekarin lächelte ihm aufmunternd zu.

„Also es wäre schön, wenn du immer nach dem Unterricht hier vorbei kommen könntest, wenn du Zeit hast und dann so lange bleibst wie es für dich passt. Ich schreib dann auf wie lange du da warst damit du nicht über deine 40 Stunden kommst.“ Aiden war überrascht. Er hatte damit gerechnet, sich nach der Bibliothekarin richten zu müssen, aber sie schien das Ganze recht locker zu sehen.

„Klar. Mach ich.“

„Super. Dann zeig ich dir jetzt, womit du anfangen kannst.“ Mit sicheren Schritten navigierte die rothaarige Frau sie beide durch das Labyrinth aus Bücherregalen – vorbei an der Physik-Abteilung, in der wieder der Oberstufler saß und lernte.

Kurz bevor sie das Regal erreichten, welches zuvor auf Aiden gestürzt und nun durch ein neues ersetzt worden war, entdeckte er Mara. Sie stöberte durch das letzte noch gefüllte Regal und ließ ihren Blick unschlüssig über die Buchrücken wandern.

Plötzlich schaute sie auf und sah Aiden direkt an. Offensichtlich etwas erschrocken sah sie erst zum Regal zurück und dann doch wieder zu ihm. Dann ertönte die Stimme der Bibliothekarin.

„Aiden? Hier lang.“ Schnell folgte Aiden dem Klang einige Regale weiter. Vor sich sah er einen Rollwagen voller Bücher, eine Rollleiter und Frau Eden.

„Sortiere die Bücher bitte entsprechend ihrer Kennung in die neuen Regale ein. Und pass' mit der Leiter auf, okay?“ Aiden nickte. „Hast du irgendwelche Fragen zu der Sortierung?“

„Nein, ich weiß Bescheid.“ Seit er Reel mit Büchern versorgen musste, kannte Aiden sich in der Bibliothek ziemlich gut aus und konnte die Kürzel aus Buchstaben und Zahlen, die als Kennungen dienten, problemlos deuten.

„Perfekt. Wenn du los willst oder fertig bist, melde dich bitte bei mir am Tresen ab.“ Wieder Nicken von Aidens Seite. „Alles klar. Viel Erfolg.“ Sie drehte sich um und schritt davon, wobei ihr feuerroter Zopf fröhlich auf und ab hüpfte.

Unfälle passieren

Aiden wandte sich dem Rollwagen zu. Mehrere tausend Bücher warteten darauf wieder an ihren rechtmäßigen Platz geräumt zu werden. Mit einem kurzen Seufzen nahm er das erste Buch zur Hand, begutachtete die Kennung auf dessen Rücken, sortierte es an seinen Platz im Regal und nahm das nächste Buch.

Nach einiger Zeit hörte er wieder Reels Stimme.

„Das werden langweilige 40 Stunden.“

„Tut mir ja schrecklich leid, dass meine Strafe nicht spannender ist“, gab Aiden bissig zurück und bemühte sich dabei möglichst leise zu sprechen. Sie waren hier nicht allein und es wurde schon genügend über seine „Selbstgespräche“ gelästert. Noch etwas wofür er auf den Dämon sauer sein konnte.

Sowieso schien alles im Chaos zu versinken seit er da war und je mehr Aiden darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Gedanklich noch mit seinem Ärger beschäftigt, nahm er das nächste Buch zur Hand – Oberstes Regalbrett, wie ihm die Kennung verriet.

Er schob die Leiter in Position und kletterte hinauf.

Oben angekommen streckte er den Arm aus um das Buch an seinen Platz zu stellen als er auf einmal spürte, wie sich die Leiter unter ihm bewegte.

Schockiert musste er feststellen, dass sie langsam aber sicher zur Seite kippte und er es nicht mehr schaffte sich am Bücherregal festzuhalten.

Aiden fiel – die Augen geschlossen in Erwartung des Aufpralls.

Doch seine Landung war weitaus sanfter als er erwartet hatte. Als er die Augen öffnete, blickte er direkt in ein flammendes Rot. Reel hatte sich von ihm gelöst, ihn aufgefangen und hielt ihn nun wie eine Prinzessin in seinen Armen.

Schnell ließ er Aidens Beine nach unten rutschen um mit der nun freien Hand die Leiter aufzuhalten, welche auf sie beide zuraste. Der andere Arm hielt nach wie vor Aidens Oberkörper und drückte ihn fest an seine Brust.

Völlig perplex sah er zu seinem Dämon hoch. Schon wieder rettete er ihn.

Und hatte Reel schon immer so gut gerochen?

Was?

Woran dachte er denn da?

War das der Schock?

Das Adrenalin? Ganz bestimmt!

„Alles okay?“, holte Reel ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

„Was? Ähm. Ja.“ Hastig richtete er sich auf und löste sich von Reel. Dieser schaute Aiden, der seinem Blick vehement auswich, einen Moment lang unschlüssig an. Bestimmend, aber nicht grob, griff er unter sein Kinn und zwang ihn so ihm in die Augen zu sehen. In diesem Moment hörte der Dämon Schritte auf sie zukommen und verschwand schnell im Körper seines Opfers.

Frau Eden kam um die Ecke.

„Alles in Ordnung? Ich dachte ich hätte etwas gehört.“ Aiden zwang sich zur Ruhe.

„Alles okay. … Aber ich glaube mit der Leiter stimmt was nicht.“ Verwirrt betrachtete die Bibliothekarin die Leiter, welche nun am Boden lag.

„Da ist ja unten eine Rolle abgebrochen. Hast du dir wehgetan?“

„Nein. Sie ähm... ist gebrochen, als ich auf die unterste Sprosse getreten bin“, log Aiden sie an und erntete einen erleichterten Blick von ihr.

„Na, ein Glück. Du scheinst ja eine magische Anziehungskraft auf Unfälle zu haben. Und es wäre doch sehr wünschenswert, wenn sich in meiner Bibliothek niemand mehr als einen Papierschnitt zuzieht.“ Etwas skeptisch sah sie zwischen Aiden und der kaputten Rolle hin und her.

„Ich hab sie nicht absichtlich kaputt gemacht, Frau Eden. Das müssen sie mir glauben.“

„So schätze ich dich auch nicht ein. Du hast wohl wirklich einfach nur Pech. Wobei du ja immer glimpflich davon zu kommen scheinst. Also quasi Glück im Unglück.“ Das Lächeln, welches sie ihm schenkte, war ehrlich und aufmunternd.

„Du hast ja ganz schön was geschafft heute“, stellte sie mit einem Blick auf das nun schon ganz gut gefüllte Regal anerkennend fest. „Ich werde den Hausmeister bitten, morgen früh eine neue Rolle anzubringen. Du solltest für heute erst einmal Schluss machen. In einer halben Stunde gibt es sowieso Abendessen.“
 

Gedankenverloren ging Aiden durch die Flure zum Speisesaal. Ihm schwirrte der Kopf und es fiel ihm schwer seine Gedanken zu sortieren. Schon wieder passierte ihm so ein seltsamer „Unfall“ und was war das nur für ein komisches Gefühl, das er eben bei Reel hatte?

Was auch immer es war, Aiden wusste nicht was er damit anfangen sollte. Wahrscheinlich spielte der Dämon nur wieder Spielchen mit ihm.

Bevor er es so recht bemerkte, stand er vor dem Speisesaal.

„Fertig für heute?“, holte ihn Lukas' Stimme in die Realität zurück.

„Hm? Ähm... ja. Für heute bin ich fertig.“

Sie aßen an ihrem üblichen Stammplatz und Aiden versuchte weiterhin die Blicke und das Getuschel der Anderen zu ignorieren – mit mäßigem Erfolg. Anscheinend begann es bereits die Runde zu machen, dass Aiden erneut in einen Zwischenfall verwickelt gewesen war. Wie zur Hölle war es möglich, dass die halbe Schule bereits jetzt wusste, dass in der Bibliothek etwas geschehen war mit dem er etwas zu tun hatte?

„Kommst du mit auf mein Zimmer zum zocken?“ Lukas tat weiterhin so, als würde er nichts von all dem mitbekommen und es gab Aiden das Gefühl zumindest einen kleinen Teil seines Lebens noch halbwegs unter Kontrolle zu haben.

„Nein. Ich bin ziemlich fertig. Ich schätze ich bin einfach nicht dafür geschaffen stundenlang Bücher hin und her zu schleppen.“ Lukas lachte leise.

„Tja, du bist und bleibst halt einfach ein Lauch.“
 

Nach dem Essen zog sich Aiden schnellstmöglich in sein Zimmer zurück. Zum Einen war er wirklich erschöpft von seiner Arbeit in der Bibliothek und zum Anderen fürchtete er, Reel könnte auf dumme Gedanken kommen, wenn er ihn noch länger nicht raus ließ. Er spürte bereits seit zwei Stunden, wie der Dämon zunehmend ungeduldiger und unruhiger wurde.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und sofort löste sich schwarzer Nebel von seinem Körper.

„Endlich!“ Reel streckte sich und wanderte einige Runden durch den Raum.

„So lange war das jetzt auch wieder nicht“, versuchte Aiden es zu relativieren.

„Du bist ja auch nicht derjenige, der sich nicht frei bewegen kann und die ganze Zeit still sein muss.“

„Wo du das mit dem 'still sein' ja so ernst nimmst“, kam es von Aiden mit einem genervten Unterton, der Reel gar nicht gefiel.

„HEY! Pass auf was du sagst. So leicht wie dir hab ich es bisher kaum jemandem gemacht. Du hast verdammt nochmal eine Menge Glück, dass ich dich so gut leiden kann. Normalerweise würde ich meinem Spielzeug so ein Benehmen nicht einfach so durchgehen lassen.“

Reels Blick war hart und Aiden bereute seinen Unterton sofort. Klar ging ihm der Dämon gehörig auf den Keks, aber recht hatte er trotzdem. Es musste ziemlich langweilig für ihn sein, wenn Aiden im Unterricht, beim Essen oder bei der Strafarbeit war. In seinem Zimmer konnte Reel sich frei bewegen und sich die Zeit vertreiben, aber außerhalb dieser vier Wände war er gezwungen sich in Aidens Körper zu verbergen.

„Schon gut. Ich weiß. Tut mir leid“, gab Aiden nach. „Und danke, dass du mich in der Bibliothek gerettet hast. Schon wieder.“

Reel ließ sich mit einem Seufzer aufs Bett sinken. Warum fiel es ihm so schwer, wütend auf den brünetten Internatsschüler zu sein? Warum konnte er bei ihm einfach nicht konsequent bleiben?

„Schon gut, Sunshine. Wie gesagt: Du bist mein Lieblings-Spielzeug und ich will nicht, dass du kaputt gehst bevor ich das Interesse an dir verliere.“ Nun war Aiden dran zu seufzen.

„Natürlich.“

„Aber mal ganz abgesehen davon: Es ist schon etwas ungewöhnlich wie oft ich mein Eigentum beschützen muss.“ Ein ernster und besorgter Ausdruck trat auf Reels Gesicht.

„In letzter Zeit hatte ich tatsächlich auffällig viel Pech.“ Aiden griff sich seinen Drehstuhl und setzte sich in gewohnter Manier rittlings mit der Rückenlehne nach vorn darauf. Allerdings rückte er den Stuhl zuvor näher ans Bett. Er verstand den Dämon zwar nicht wirklich, aber er hatte mittlerweile auch keine Angst mehr vor ihm. Solange er ihn nicht provozierte hatte er gute Chancen, dass Reel ihm nichts antat.

„Das ist schon etwas mehr als nur Pech. Scheint fast so, als hätte es da jemand auf dich abgesehen.“

„Warum sollte es jemand auf mich abgesehen haben?“ Aiden hatte zwar heimlich die selbe Vermutung gehabt, aber er hatte sie für absurd gehalten.

„Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum jemand dich mit einem Rachedämon verflucht hat, der dich töten sollte.“

„Danke, dass du dass nicht tust.“

„NOCH nicht.“ Reel zeigte ihm wieder seine Reißzähne in einem bösen aber verspielten Lächeln, welche Aiden noch immer einen Schauer über den Rücken jagten. „Sieht so aus, als wäre wer-auch-immer-dich-verflucht-hat ziemlich sauer, dass ich dich noch nicht getötet habe und nimmt das Ganze jetzt selbst in die Hand.“

„Du glaubst also, dass jemand all das tut, nur um mich umzubringen? Aber warum?“ Reel seufzte erneut.

„Die Frage haben wir doch schon mal diskutiert. Ich habe keine Ahnung und ich weiß auch nicht wer mich gerufen und dich mit mir verflucht hat.“ Aiden wurde hellhörig.
 

„Sag mal, Reel. Also das ganze Dämon-rufen und Leute-verfluchen. Wie funktioniert das eigentlich? Und wer tut so etwas?“ Reel ließ sich nach hinten aufs Bett fallen – und stieß sich dabei prompt den Kopf an der Zimmerwand.

„Aua.“ Ein weiterer tiefer Seufzer entfuhr seiner Kehle, während Aiden ein Lachen unterdrückte. „Das ist eigentlich gar nicht mal so kompliziert. Mit der richtigen Vorbereitung und den richtigen Zutaten kann selbst ein Anfänger einen Rachedämon auf jemanden ansetzten.“ Aiden war mehr als verwirrt.

„Was für Vorbereitung? Und was meinst du mit Anfänger?“ Reel schien ganz offensichtlich viel mehr zu wissen als er sagte. Der Dämon schwieg, doch Aiden wollte ihn nicht so leicht davonkommen lassen.

„Reel.“ Ungeduldig stand Aiden von seinem Stuhl auf und ging zum Bett rüber. Er wollte Reel in die Augen sehen können, doch so wie der Dämon jetzt auf dem Bett lag konnte er das von seinem Platz aus einfach nicht.

Kurzentschlossen ließ er sich neben Reel aufs Bett sinken und sah ihn von der Seite aus an. Das Schwarz seiner Kleidung und seiner Haare bildete einen starken Kontrast zu den himmelblauen Bettbezügen. Die roten Augen wichen Aiden eine kurze Zeit lang aus, kehrten aber schließlich zu ihm zurück.

„Schon gut, Sunshine. Sieh mich nicht so an.“ Langsam setzt er sich wieder auf und sah tief in das treue Braun von Aidens Augen.

„Ein mächtiger Magier braucht nichts weiter dazu, aber jeder andere würde einige Dinge benötigen. Deinen Geburtsnamen, Geburtsdatum, eine Haarsträhne und etwas Blut – nicht nur einige Tropfen, sondern schon einige Milliliter.

Dazu noch das Wissen um das Ritual und zumindest ein klein wenig magisches Talent. Das Ritual mit dem man mich rufen kann, gehört zu den simpelsten und wenig riskanten. Dabei wird die betreffende Person mit einem zufälligen Rachedämon verflucht, der den Umständen entspricht.“ Das war etwas viel für Aiden. Reel sah es in seinen Augen und erklärte ihm alles noch einmal langsam.

„Es gibt also Magier.“

„Ja. Hexen und Zauberer.“ Reel spuckte die Worte nahezu aus.

„Also will eine Hexe oder ein Zauberer meinen Tod und hat sich dafür wahrscheinlich meinen Namen, Geburtsdatum, Haare und Blut besorgt. Gruselig. Und du bist aus einem Pool von allen existierenden Rachedämonen zufällig für mich ausgewählt worden?“

„Nicht so ganz von allen Rachedämonen. Die meisten kämen für dich nicht in Frage, da du für sie nicht die passenden Umstände hergibst.“ Aiden gab sich wirklich Mühe, aber es fiel ihm schwer plötzlich an Dinge zu glauben, die er sein Laben lang für Fiktion gehalten hatte. Natürlich lebte er jetzt schon seit einiger Zeit mit einem Dämon, aber das war eine ganz andere Sache.

„Was für Umstände?“

„Es gibt verschiedene Unterarten von Rachedämonen. Zum Beispiel Erinnyen – sie können ausschließlich auf Kriminelle angesetzt werden und töten ihre Opfer indem sie diese langsam in den Wahnsinn treiben. Oder Onryōs, die prinzipiell auf jeden angesetzt, aber durch ein Ritual geläutert und damit von ihrem Opfer abgebracht werden können.“

„Und was sind die Umstände um mit dir verflucht zu werden?“ Reel seufzte.

„Es gibt keine. Darum bin ich auch relativ 'beliebt' bei der Wahl des Dämons. Ich töte alles und jeden. Keine Bedingungen. Keine Ausnahmen.“ Reel sah Aiden eindringlich an. Zur Hölle nochmal, waren seine Augen schön.

Trauer fand ihren Weg auf Reels Gesicht.

„Der einzige Nachteil, mit dem der Beschwörer leben muss, ist meine Eigensinnigkeit. Viele Dämonen lassen sich lenken, haben feste Routinen und Vorgehensweisen, oder richten sich sogar nach den Wünschen ihres Beschwörers. Aber ich nicht. Ich töte wie und wann ich will.“

„Das habe ich bemerkt.“ Aiden schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Reel? Danke, dass du mich noch nicht getötet hast.“ Der Dämon musste lachten und ließ sich wieder nach hinten aufs Bett fallen – dieses mal bedacht darauf, sich nicht den Kopf an der Wand anzuschlagen.

„Kein Problem, Sunshine. Ich hab ja schließlich auch was davon.“ Einen kurzen Moment lang betrachtete Aiden das verschlungene Muster, welches Reels lange Haare auf der Bettdecke bildeten. Es faszinierte Aiden auf eine seltsamen Art und Weise.

Schließlich ließ auch er sich nach hinten aufs Bett fallen.
 

„Warum brauchst du keine besonderen Umstände? Warum tötest du bedingungslos jeden?“

Reel stieß einen tiefen Seufzer aus. Er schien heute mehr zu seufzen als zu reden.

„Willst du das wirklich wissen?“ Aiden drehte seinen Kopf zu seinem Dämon und dieser tat es ihm gleich. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter von einander entfernt und Aiden konnte Reels gleichmäßigen Atem auf seiner Haut spüren.

„Ich hasse einfach die ganze Welt. Meine Rachegelüste sind so stark, dass ich kein spezifisches Ziel brauche.“ Seine grausamen Worte und der sanfte Ton in dem er sie aussprach waren so gegensätzlich, dass Aiden unweigerlich in eine Art Bann gezogen wurde, wodurch er einige Momente brauchte ehe er deren Bedeutung so recht verstand.

Die roten Augen wenige Zentimeter vor ihm wirkten gebrochen. Trauer und Wut mischten sich in den lodernden Flammen.

„Warum?“ Aidens Stimme klang leise und sanft. Reel brach den Blickkontakt ab und atmete lautstark aus.

„An der Stelle solltest du aufhören.“

„Hm?“ Reel drehte sich wieder zu ihm und sprach mit weicher Stimme weiter.

„Wenn du weiter nachfragst, muss ich wütend werden und ich liege grade so bequem. Also belass' es bitte einfach hierbei. Okay, Sunshine?“

„Okay.“ Aiden war etwas enttäuscht, dass Reel ihm nicht antworten wollte. Andererseits hatte sich der Dämon ihm weitaus mehr geöffnet als er es angenommen hatte. Momentan waren fast alle Mauern zwischen ihnen verschwunden. Er konnte ihn über ihre Verbindung deutlich spüren und Aiden genoss das sehr. Noch mehr freute ihn nur, dass es Reel ganz ähnlich zu gehen schien. Er wollte den Moment nicht zerstören, daher hielt er Aiden davon ab weitere Fragen zu stellen. Schweigend lagen sie beide auf dem Bett.

Reels Schatten bewegte sich ruhig – wie eine Flamme in Zeitlupe tanzte er über das Hellblau des Bettbezugs. Aiden war nahezu hypnotisiert.

Reel seinerseits genoss die Nähe seines Lieblingsspielzeugs. Seine Sinne waren weitaus schärfer als die eines Menschen und jetzt grade nutzte er sie um Aidens Geruch, seinen Herzschlag, seinen Atem und sogar seine aktuelle Gefühlslage wahrzunehmen und sicher in seinem Geist abzuspeichern. Erinnerungen waren das einzige, was Reel behalten konnte. Also sammelte und pflegte er sie gewissenhaft.

Wie lange war es her seit er das letzte mal so entspannt und ruhig war? Wie lange hatte er sich nicht mehr erlaubt, jemanden so nah an sich heran zu lassen?

Reel konnte es nicht mehr leugnen. Aiden weckte in ihm etwas, von dem er gedachte hatte, es für immer in sich weggeschlossen zu haben.

Immer wieder wurde Aidens Gesicht vor Reels geistigem Auge von einem anderen überlagert. Manchmal erschienen ihm Aidens Augen nicht braun sondern blau. Manchmal wirkte es als wären seine Haare plötzlich viel länger und heller als sonst. Und Manchmal glaubte Reel ein schmaleres, blasseres Gesicht vor sich zu sehen.

Aber das immer nur für einen kurzen Augenblick, dann verschwand die Illusion. Doch das Bedürfnis ihn zu beschützen blieb.
 

Schließlich musste Aiden den Moment doch zerstören. Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf. Reel tat es ihm gleich und schenke ihm einen unergründlichen Blick.

„Ich... ich werd' duschen gehen.“ Aiden zog sein Schlafzeug unter der Bettdecke hervor und ging ins Bad. Die Magie des Augenblicks verflog.

Als er das Badezimmer wieder verließ, saß Reel noch immer auf dem Bett. Er hatte sich mit einem Buch und seinen Zeichenutensilien am Fußende eingerichtet. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und sein Sketchbook im Schoß saß er da. Aiden versuchte gar nicht erst sein Schmunzeln zu unterdrücken. Er legte seine Sachen zur Seite und ging zum Bett, dann krabbelte er unter die Decke und kuschelte sich ins Kissen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete er die ungewöhnlich schöne Schattengestalt am anderen Ende seines Bettes.

„Gute Nacht, Reel.“ Der Angesprochene sah von seiner Zeichnung auf und zu ihm hinüber.

„Gute Nacht, Sunshine.“

„Reel?“

„Hm?“

„Warum nennst du mich manchmal 'Sunshine'?“ Reel lachte leise auf.

„Du hast lange durchgehalten ohne zu fragen.“ Nun musste auch Aiden lachen.

„Du hast also schon darauf gewartet?“

„Es ist eine Anspielung auf deinen Namen“, erklärte Reel. „'Aiden' ist eine Verniedlichung des Namens Aodh und geht auf einen Sonnengott aus der keltischen Mythologie zurück.“ Aiden war erneut beeindruckt von Reels unglaublichen Allgemeinwissen.

„Das wusste ich gar nicht.“

„Tja, Bildungsauftrag erfüllt würde ich sagen.“ Mit einem Zwinkern ergänzte er: „Träum´ was schönes, Sonnenscheinchen.“
 

Reel verbrachte die nächsten Stunden damit den schlafenden Aiden zu beobachten. Immer wieder verglich er ihn mit seiner Zeichnung. Er suchte Parallelen und Ähnlichkeiten und wurde in einigen Punkten fündig, aber nicht in genügend um seinen Beschützerinstinkt zu rechtfertigen. Mit einem tiefen Seufzer riss er seinen Blick von dem brünetten Jungen los und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu. Sanft strich er über das Papier und ein trauriges Lächeln schlich sich auf seine Lippen.

„Ich dachte ich hätte das hinter mir gelassen, aber ich sehe Aiden an und vermisse dich.“ Bitterkeit brach seine Stimme und leise fiel eine einzelne Träne auf das Papier.
 

Als Aiden die Augen wieder öffnete, saß Reel noch immer am anderen Ende des Bettes – nun mit dem Roman in der Hand und dem Sketchbook neben sich.

„Guten Morgen, Sunshine“, begrüßte ihn der Dämon mit einem sanften Lächeln.

„Morgen.“ Aiden machte seinen Wecker aus und ließ sich wieder zurück ins Kissen sinken.

„Na na na. Time to rise and shine.“ Spielerisch zog Reel die Bettdecke nach unten und erntete ein leises Grummeln.

„Schon gut. Schon gut.“ Widerwillig rollte sich Aiden aus dem Bett und wanderte verschlafen ins Badezimmer.

Reels offener Umgang mit ihm freute ihn. Endlich glaubte er dem Dämon näher gekommen zu sein und ihn etwas besser zu verstehen. Gut gelaunt verließ er das Bad und packte seinen Rucksack für den heutigen Unterricht. Ein Blick auf die Uhr ermahnte ihn zur Eile und so zog er zügig seine Schuhe an und warf sich seine Jacke über.

„Handy“, kam es beiläufig von Reel.

Schnellen Schrittes ging Aiden zum Nachtschrank und griff nach seinem Handy. Dabei fiel sein Blick auf das Lederband mit Silberperlen. Nach kurzem Zögern steckte er es entschlossen in seine Hosentasche. Ein leises Seufzen von Reel ließ ihn wissen, dass auch der Dämon das Band bemerkt hatte und Aiden versuchte sich zu rechtfertigen.

„Ich weiß. Aber es ist trotzdem ein Geschenk von Mara und wenn ich es schon nicht tragen kann, dann will ich es wenigstens dabei haben.“

„Ich sag doch gar nichts.“ Reel war offensichtlich nicht begeistert, aber überraschender Weise schien er dieses mal nicht das Bedürfnis zu haben sich mit ihm zu streiten oder er hielt sich Aiden zuliebe zurück und dieser rechnete ihm das hoch an.

Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen ging er zu Reel und hielt ihm seinen Arm hin. Dieser legte sein Buch aufs Bett und richtete sich auf. Sanft schob er den dargebotenen Arm zur Seite und berührte stattdessen ganz nonchalant Aidens Wange. Nachdem Reel sich vollständig aufgelöst hatte, fuhr auch Aiden flüchtig mit den Fingern über seine Wange.

Es klopfte an seiner Tür und von draußen konnte er Lukas' Stimme hören. Energisch schüttelte Aiden den Kopf und machte sich auf den Weg.

(Un)einigkeit

Kaum hatte Aiden sein Zimmer verlassen, verflog seine gute Laune. Die abschätzigen Blicke seiner Mitschüler und die wilden Gerüchte, die sich nahezu überschlugen, erinnerten ihn schnell daran, dass er noch immer nicht mit Mara gesprochen hatte. Er fühlte sich unwohl außerhalb seines Zimmers – nahezu unsicher.

„Lass dir nichts anmerken, Sunshine. Wenn du so tust als würde es dich nicht verletzten, dann verlieren sie früher oder später das Interesse.“ Normalerweise störte es Aiden, wenn Reel mit ihm sprach, während er sich mit jemand anderem unterhielt, aber jetzt grade war er ihm mehr als dankbar, denn es gab ihm das Gefühl nicht allein zu sein.
 

Nach dem Mittagessen nahm Aiden all seinen Mut zusammen und lief zu Mara. Schweigend gingen sie in einen stillen Flur im Unterrichtstrakt.

„Tut mir leid, dass ich in letzter Zeit nicht mit dir gesprochen habe. Ich wollte dich nicht ignorieren“, fing Aiden kleinlaut an. Mara atmete tief durch.

„Schon gut. War vielleicht besser so. So hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich hätte nicht gedacht, dass du jemand bist, der sich prügelt.“

„Bin ich auch nicht! Ich wollte das nicht. Das musst du mir glauben.“

„Ich glaube dir doch. Du bist viel zu nett um jemanden absichtlich zu verletzten. Du wolltest Lukas beschützen, ober?“ Aiden nickte vorsichtig. Er fühlte sich schrecklich dabei sie anzulügen, aber er hatte nicht wirklich eine andere Wahl.

„Ich verstehe es, wenn du jetzt sauer auf mich bist oder nichts mehr mit mir zu tun haben willst.“ Schuldbewusst sah er zu Boden.

„Aiden. Ich war etwas schockiert, aber ich möchte immer noch deine Freundin sein. Aber du musst ehrlich zu mir sein. Warum hast du nicht aufgehört? Warum hast du Markus so schlimm zugerichtet? Und warum bist du in letzter Zeit so seltsam? So warst du doch sonst nicht.“

Er wich ihrem Blick aus und schwieg, also gab Mara ihm eine Gnadenfrist.

„Wir reden nach dem Unterricht weiter. Entscheide dich bis dahin, ob du mit mir reden willst oder nicht.“ Dann ging sie zurück zu ihren Freundinnen und ihrer Schwester.
 

„Warum machst du das, Mara? Willst du wirklich deinen guten Ruf wegen ihm riskieren?“

„Ist er das wirklich wert? Was ist wenn er wirklich gewalttätig ist und dich auch schlägt?“ Mara seufzte.

„Er ist nicht gewalttätig. Er wollte nur nicht, dass Lukas verletzt wird.“

„Das sah nicht so aus. Er hatte Spaß daran. Ich hätte ihm das ja auch nie zugetraut, aber jetzt hab ich wirklich Angst vor ihm.“

Mara versuchte Aiden zu verteidigen. Sie war nach wie vor verliebt in ihn, auch wenn sie nicht abstreiten konnte, dass er sich in letzter Zeit veränderte.

„Sierra, bitte sei nicht so unfair. Es gibt bestimmt eine logische Erklärung dafür.“ Sierra mochte Aiden nicht besonders, das war offensichtlich.

„Mach die Augen auf, Schwesterlein. Mit ihm stimmt etwas ganz gewaltig nicht. Erst geht er mit dir aus und dann ignoriert er dich tagelang. Er führt Selbstgespräche und will ganz offensichtlich im Zentrum der Aufmerksamkeit sein.“ Nun war Mara irritiert.

„Wie kommst du denn bitte darauf?“

„Bist du da noch nicht selbst drauf gekommen? Er wird ständig in irgendwelche „Unfälle“ verwickelt und bleibt immer auf wundersame Weise unverletzt. So viel Glück im Unglück kann man doch gar nicht haben. Das sind niemals nur Zufälle. Aiden ist ganz eindeutig ein Hypochonder und gefährlich ist er obendrauf.“

„Mara, wir sind deine Freundinnen und wir wollen nur das beste für dich. Nicht das du dich da zu sehr in irgendetwas hineinsteigerst und was dummes tust. Es gibt jetzt schon Gerüchte, weil du mit Aiden zusammen bist. Das kann dir so viel kaputt machen. Bitte denk nochmal drüber nach.“
 

„Reel, ich...“

„NEIN! Vergiss es! Das steht nicht zur Diskussion! Du wirst dem Mädchen NICHTS sagen.“ Kaum war Mara verschwunden, hatte sich Reel vor ihm materialisiert.

„Aber Reel. Ich glaube ich liebe sie wirklich und ich will sie nicht verlieren. Ich will wenigstens vor ihr keine Geheimnisse haben müssen.“ Die Augen des Dämons brannten vor unterdrückter Wut. Er wollte nicht riskieren gesehen oder gehört zu werden, aber zeitgleich wollte er am liebsten explodieren. Es war ihm völlig unverständlich, dass Aiden ihr Geheimnis so einfach preisgeben wollte. Und all das nur wegen irgendeines Mädchens, mit dem er grade mal seit ein paar Tagen zusammen war.

„Ich sagte NEIN! Und dabei bleibt es!“ Wut und Verzweiflung mischten sich in Aidens Stimme als er antwortete.

„Du verstehst das nicht! Wie solltest du auch? Für dich sind ja alle Menschen nur Spielzeuge. Dir war doch garantiert noch nie jemand wichtiger als du selbst.“

„PASS AUF WAS DU SAGST!“ Grob griff er dem Kleineren an die Kehle und drückte ihn gewaltsam gegen die Wand hinter ihm. Tränen stiegen Aiden in die Augen und er konnte kaum atmen, dennoch sah er Reel unverwandt in die Augen. Sein standhafter Blick veranlasste den Dämon dazu den kleinen Brünetten los zu lassen.

„Ich will sie nicht verlieren“, flüsterte Aiden nun mit weicherer Stimme. Reel wich seinem Blick aus.

„Sollte nicht eigentlich ich dich in den Wahnsinn treiben?“ Reel schüttelte seine Schwäche ab und sprach kalt weiter.

„Mach was du willst. Aber wenn mir nicht gefällt wohin das führt, dann töte ich dich. Oder das Mädchen. Oder wen auch immer ich grade will.“ Ohne auf eine Antwort von Aiden zu warten, zog er sich in dessen Körper zurück.
 

Nach dem Unterricht trafen sich Aiden und Mara auf dem Schuldach. Der begehbare Teil war nur klein und dem leichten Nieselregen war es zu verdanken, dass sie heute völlig allein hier oben waren.

„Hast du dich entschieden, Aiden?“ Mara wirkte weniger zuversichtlich als noch in er Mittagspause.

„Mara ich... ich kann nicht. Ich liebe dich und ich bitte dich mir zu vertrauen. Ich weiß, dass das viel verlangt ist.“

„Aiden, ich will bei dir bleiben und ich bin mir sicher, dass das alles nur ein Missverständnis ist, aber du musst mit mir reden. Ich kann keine Beziehung führen, die auf Geheimnissen aufgebaut ist. Ich will doch nur, dass du ehrlich zu mir bist.“ Aiden konnte Reel deutlich in seinem Unterbewusstsein spüren und schwieg daher.

„Aha. Ich bedeute dir also nicht wirklich etwas. Du trägst ja nicht mal das Armband, dass ich dir geschenkt habe. Und das, obwohl es dir doch angeblich gefällt.“

„Das kann ich erklären.“ Schnell zog Aiden das Band aus seiner Hosentasche. „Ich hab heute Morgen verschlafen und hab es so schnell nicht um bekommen. Das ist nicht so einfach mit nur einer Hand“, log er sie an. Mara schien positiv überrascht, dass Aiden ihr Band die ganze Zeit bei sich trug.

„Oh. Dann lass mich dir helfen.“ Bevor Aiden reagieren konnte nahm Mara ihm das Band aus der Hand und begann es ihm ums Handgelenk zu legen.

„Warte! Ich...“ Doch es war schon zu spät. Ein brennender Schmerz breitete sich in seinem Arm aus. Aiden stieß Mara von sich und befreite sich von dem Armband, doch es hatte bereits genügend Schaden angerichtet. Unter Schmerzen löste sich Reel von seinem Körper. Der Schatten des Dämons flackerte aggressiv und Aiden konnte unbändigen Hass von ihm ausgehen spüren.

Maras Augen weiteten sich in Unglaube und Angst.

„Reel. Reel, beruhige dich, bitte.“ Doch er ignorierte ihn. Langsam aber stetig schritt er auf das blonde Mädchen zu. Aiden konnte ihn nicht kontrollieren. Er hatte keinerlei Macht über ihn, aber er konnte auch nicht zulassen, dass Reel Mara tötete. Einem Impuls folgend lief er zur Dachkante. Seine – oder viel mehr Maras – letzte Chance war es, auf Reels Beschützerinstinkt zu vertrauen. Oder eben darauf, dass Reel verschwinden würde, sobald Aiden starb.

„Reel! Lass sie in Ruhe oder ich springe.“ Der Angesprochene drehte sich zu ihm um und so konnte er endlich einen Blick auf dessen Gesicht erhaschen. Purer Hass spiegelte sich darauf wieder und zum ersten mal seit langem, hatte Aiden wieder Angst vor seinem Dämon.

„DU wagst es MICH zu erpressen?“ Reel wandte sich wieder Mara zu.

„Reel! Ich bluffe nicht. Ich springe wirklich.“ Mara war vor Angst erstarrt und Reel stand nur noch wenige Schritte von dem Mädchen entfernt.

„REEL!“ Sein Dämon drehte sich zu ihm und in diesem Moment nahm Aiden allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte, schloss die Augen und sprang.

„NEIN!“

Aiden schloss instinktiv die Augen und als er sie wieder öffnete, befand er sich wieder auf dem Dach und in Reels Armen. Er sah zu ihm hoch und blickte in zwei wutentbrannte, dämonische Augen, die ihn kalt anfunkelten. Ohne ein weiteres Wort stellte Reel ihn auf dem Dach ab und ging schnellen Schrittes wieder auf Mara zu.

„MARA! LAUF!“ Endlich löste sich ihre Starre, sie drehte auf dem Absatz und rannte um ihr Leben. Aiden erkaufte ihr Zeit und sprang noch drei weitere Male vom Schuldach, um es Reel unmöglich zu machen ihr zu folgen.

Immer wieder fing er ihn auf, bis er ihn nach dem vierten Mal gar nicht mehr los ließ, sondern grob in seinen Armen festhielt.

Mit brennendem Blick sah der Dämon ihn an.

„DU BIST EINFACH...“ Reel rang nach Worten. Aidens angsterfüllte Augen ließen seinen Zorn zum größten Teil verrauchen und er ließ ihn wieder los.

„Du bist einfach unglaublich“, schloss er mit leiserer Stimme und sein Schatten begann sich zunehmend ruhiger zu bewegen.

Sanfter als Aiden erwartet hatte, griff ihm Reel unters Kinn und sah ihn an.

„Ich verstehe dich einfach nicht. Warum bist du so?“ Die Frage galt weniger Aiden als viel mehr ihm selbst.

„Hoffen wir, dass die kleine Hexe ihre Klappe hält und nicht auf dumme Gedanken kommt.“

Mit einem leisen Seufzer ging er wieder in Aidens Körper über. Aiden sammelte das Armband und seine Gedanken und ging dann wieder nach unten.
 

Zurück in seinem Zimmer löste sich sein Dämon abermals von ihm.

„Was sollte das, Reel? Du hättest Mara umgebracht? Einfach so? Warum wolltest du sie unbedingt töten?“ Aiden war wütend, doch Reel stand ihm dahingehend in nichts nach.

„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin ein Dämon! Natürlich mache ich was ich will und töte wen ich will. Und du wagst es, MICH erpressen zu wollen!“

„Du kannst das vielleicht nicht nachvollziehen, aber stell dir vor: Mir ist Mara wichtig. Und dank dir sterbe ich ja eh bald, da kann ich wenigstens noch Maras Leben retten. Ich werde nicht zulassen, dass du ihr etwas antust. Dir ist dieses Gefühl vermutlich völlig fremd, aber ich liebe sie!“

Aiden war bereits drauf gefasst von Reel für diese Worte bedroht und verletzt zu werden, doch mit dem was jetzt passierte rechnete er nicht.

Reel schwieg.

Aiden sah ihm an, dass er ihn überraschender Weise getroffen hatte. Ohne ein weiteres Wort griff der Dämon nach Aidens Arm und verschwand.

Aiden blieb allein zurück. Unschlüssig ließ er sich aufs Bett sinken und betrachtete das Band mit den Schutzsiegeln.

Er hatte Reel schon einige male wütend gesehen, aber so hasserfüllt, wie er Mara angesehen hatte, hatte er ihn noch nie erlebt. Es war nicht nur das Schutzband oder der Schmerz. Da war mehr, aber Reel wollte nicht mit ihm sprechen. Grade als er dem Dämon endlich etwas näher kam, musste so etwas passieren und er spürte wieder die Mauern zwischen ihnen.
 

„Ich glaubte, sie sei eine Hexe. Vielleicht sogar die Hexe, die dich mit mir verflucht hat.“ Zum allerersten mal war es Reel, der das Schweigen zwischen ihnen nicht mehr ertrug. „Ich bin kein großer Fan von Magiern.“

Aiden war überrascht. Schnell setzte er sich auf und sah zu seinem Dämon. Dieser hatte sich neben dem Bett materialisiert und saß nun auf dem Boden mit dem Rücken gegen das Bett gelehnt. Reel sah ihn nicht an, aber er konnte deutlich spüren, dass dem Dämon sein Kontrollverlust leid tat.

„Du meinst Mara könnte meinen Tod wollen?“, fragte Aiden ungläubig.

„Nicht unbedingt. Ich war mir sehr sicher, als sie dir so engagiert das Schutzband anlegte, aber ihre Reaktion auf mich war unpassend. Ich denke nicht, dass sie diejenige ist, die dich verflucht hat. Aber es ist immer noch möglich, dass sie genau weiß, was es mit diesem Band auf sich hat.“

„Was genau hast du denn gegen Magier? Es muss ja was Ernstes sein, so wütend wie du warst. Oder soll ich lieber nicht fragen?“ Reel seufzte schwer.

„Nein. Schon okay. Es war ein Hexer, der mir das hier angetan hat. Mit einem Magier hat es angefangen und das werde ich niemals verzeihen.“ Aiden rutschte vom Bett runter und setzte sich neben Reel. Flüchtig sah dieser zu ihm hinüber und fuhr dann mit seiner Erklärung fort.

„Oft sind es Magier, die mit mir verflucht werden. Die meisten Rachedämonen sind nicht mächtig genug um mit einen Magier fertig zu werden – ich schon.

Flüche sind extrem beliebt, wenn es darum geht einen anderen Magier zu töten, weil es unmöglich ist nachzuvollziehen wer den Fluch ausgesprochen hat. So brauchen sie sich selbst nicht die Hände schmutzig zu machen, sondern können die Drecksarbeit auf mich abwälzen.“

Reel zwang sich dazu ruhig und emotionslos zu klingen, doch Aiden ließ sich nicht von ihm täuschen. Er spürte Reels Schmerz.

„Ich habe überstürzt reagiert und die Kontrolle verloren – schon wieder. Tut mir leid, Aiden.“

Aiden wusste nicht, was er sagen sollte. Zögerlich griff er nach Reels feingliedriger Hand und hielt sie fest. Der Dämon wirkte überrascht, stieß ihn jedoch nicht weg.

„Tut mir leid, dass ich dich angeschrien hab“, entschuldigte sich jetzt auch Aiden und ein bitteres Lachen klang aus Reels Kehle.

„Du bist der erste unter meinen Opfern, der das gewagt und überlebt hat.“ Vorsichtig drückte er dessen Hand. „Aber lass das nicht zur Gewohnheit werden. Sonst treib ich dir das ganz schnell wieder aus.“ Aiden musste ungewollt Schmunzeln. Eigentlich hätte er sauer sein sollen, aber mal wieder war ihm das unmöglich.

Sein Dämon wirkte so zerbrechlich, wie er dort saß und Aiden konnte ihm einfach nicht böse sein, wenn er sich ihm öffnete. Also schluckte er seinen Zorn erneut runter.

„Du meintest 'ein Hexer hat dir das angetan'. Heißt das, du warst mal ein Mensch?“ Reel seufzte schwer. Vorsichtig lehnte er seinen Kopf gegen Aidens.

„Bitte frag nicht, Sunshine.“

„Okay.“ Nach einem kurzen Moment des Zögerns tat Aiden es Reel gleich und lehnte sich bei ihm an. Er war froh, dass der Zwischenfall auf dem Dach ihn doch nicht seine Verbindung zu Reel gekostet hatte.

Allerdings fürchtete er um seine Beziehung zu Mara, aber darüber wollte er jetzt gar nicht nachdenken. Er verschob jeden Gedanken an Mara und die Folgen des Zwischenfalls auf morgen. Ihr würde eh niemand glauben, wenn sie jemandem von Reel erzählte. Und jetzt grade wollte er sich einfach nur an seinen Dämon lehnen und an gar nichts denken.

Eine ganze Weile saßen sie zusammen auf dem Zimmerboden, hielten die Hand des anderen und lehnten sich aneinander. Doch irgendwann wurde der Boden einfach zu unbequem und Aiden musste sich ungelenk hoch stemmen.

Eigentlich wollte er sein Zimmer heute am liebsten gar nicht mehr verlasse, aber er wollte auch Frau Eden nicht schon am zweiten Tag hängen lassen.
 

Und so verbrachte er die letzten Stunden bis zur Bettruhe mit seiner Strafarbeit in der Bibliothek.

Dieses mal gestaltete sie sich allerdings weitaus angenehmer als am Vortag. Sie verlief ohne brechende Leitern und Aiden konnte sich die Zeit damit vertreiben mit Reel zu sprechen.

Er selbst konnte nur flüstern, aber dennoch genoss Aiden es sehr, sich ungezwungen mit seinem Dämon unterhalten zu können. Reel erzähle ihm Geschichten von seinen vergangenen Opfern und Aiden erzählte – oder flüsterte – von seiner Familie, der Schule und seinen Hobbys. Die Gespräche waren eher leichter und oberflächlicher Natur, doch Aiden hatte das Gefühl, dass sie ihre Verbindung festigten und es lenkte ihn von der langweiligen Arbeit ab.

Bisher schienen auch noch keine neuen Gerüchte die Runde gemacht zu haben. Zumindest nicht, dass Aiden es mitbekommen hätte.

Wieder in seinem Zimmer holte er sofort seine Schlafsachen und verschwand damit im Bad um sich eine lange heiße Dusche zu gönnen. Reel machte es sich wieder auf Aidens Bett gemütlich und begann zu zeichnen.

Doch irgendetwas schien ihn abzulenken. Reel konnte sich nicht richtig konzentrieren und machte ständig Fehler. Entnervt legte er den Stift zur Seite und betrachtete seine alten Zeichnungen. Langsam schweifte sein Geist ab.

Aus dem Bad konnte er das Prasseln der Dusche hören und für einen kurzen Moment war er versucht zum Ursprung des Geräusches zu gehen. Doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Wie kam er überhaupt darauf? Was bei Valefar wollte er denn da drinnen? Mit einem Kopfschütteln wandte er sich wieder seinem Zeichenbuch zu.

Aiden verließ das Bad in einem zu großen weißen T-Shirt und einer karierten Boxershort. Und aus unerfindlichen Gründen zog dieser Anblick Reels rote Augen nahezu magisch an. Aiden schien davon nichts zu bemerken und sortierte ordentlich seine Kleidung weg.

Anschließend schnappte er sich seine PS Vita und kuschelte sich neben Reel ins Bett. Dieser klappte schnell sein Sketchbook zu und tauschte es gegen seinen Roman. Nach einigen Minuten ließ er jedoch auch diesen auf die Bettdecke sinken und lehnte sich stattdessen an Aiden um ihm beim Spielen zuzusehen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er Nähe vermisste – körperliche und platonische. Alles an Aiden wirkte beruhigend auf ihn. Sein Geruch, der Klang seiner Stimme, sein Herzschlag, seine Wärme – einfach alles.

„Du bist heute ja richtig anhänglich“, witzelte Aiden mit sanfter Stimme.

„Pass auf was du sagst, Sunshine.“ Reel schmiegte sich an Aidens braune Haare und beobachtete weiter die Figuren auf dem Konsolen-Bildschirm.

Die plötzliche Zutraulichkeit seines Dämons irritierte Aiden, aber sie störte ihn nicht wirklich. Ihre Beziehung war schließlich von Anfang an recht speziell gewesen und Aiden versuchte dem nicht all zu viel Bedeutung beizumessen.
 

Am nächsten Morgen galt Aidens erster Gedanke Mara. Er wollte schnellstmöglich mit ihr sprechen und ihr endlich alles erklären. Hastig schrieb er ihr eine WhatsApp Nachricht mit der Bitte sich zu treffen.

Reel hatte die Nacht erneut lesend auf Aidens Bett verbracht und beobachtete die Szene skeptisch.

Beim Essen und im Unterricht wich Mara Aiden aus. Sie wirkte ängstlich und nervös, schien jedoch noch nicht mit jemandem über das Gesehene gesprochen zu haben, wie Aiden beruhigt feststellte, denn niemand von den Anderen teilte Maras Nervosität.

Auf seine Nachricht antwortete sie nicht und so fand Aiden sich nach dem Unterricht in seinem Zimmer wieder. Ungeduldig starrte er sein Handy auf dem Nachtschrank an, während er auf dem Bett saß. Reel hatte es sich wieder auf dem Schreibtisch bequem gemacht und war in einem Buch versunken.

Aidens Blick schweifte von seinem Handy auf das daneben liegende Objekt. Ohne weiter darüber nachzudenken stand er auf, griff nach dem Sketchbook und schlug die erste Seite auf.

Reel zeichnete atemberaubend schön. Die Gestalt, die die Zeichnung abbildete, hatte sehr langes, glattes Haar, welches ihr sanft über den Rücken fiel.

Auf der nächsten Seite war die gleiche Person – dieses mal an einem Tisch sitzend – zu sehen und auf der dritten Seite blickte ihm ein Portrait der mysteriösen Figur aus hellen Augen entgegen. Ihre Gesichtszüge waren weich und sie wirkte sehr zerbrechlich. Schnell blätterte Aiden durch die übrigen Seiten und stellte fest, dass Reel die langhaarige Gestalt auf jeder einzelnen verewigt hatte. Sie war sein einziges Motiv und auf unerklärliche Weise versetzte diese Erkenntnis Aiden einen leichten Stich.

„Wer ist das?“, fragte er betont beiläufig.

Ablehnung

Im nächsten Moment spürte Aiden wie ihm das Zeichenbuch gewaltsam entrissen und eine Hand in seinem Gesicht versenkt wurde. Er taumelte und fiel auf das Bett zurück. Der Dämon knurrte ihn mit entblößten Reißzähnen an und seine Augen loderten vor Wut.

Überrascht fasste sich Aiden an die schmerzende Wange und musste mit Entsetzten feststellen, dass Reels scharfe Nägel dort feine blutige Linien hinterlassen hatten.

Angst stieg in ihm hoch und schnürte ihm die Kehle zu.

Reel brauchte einen Moment bis ihm bewusst wurde, was hier grade passierte und was er tat. Sofort verstummte sein Knurren.

„Aiden?“ Der Angesprochene hielt sich noch immer die Wange und sah nun nach unten. Reel machte einen Schritt auf ihn zu und wollte nach seiner Verletzung sehen. „Aiden, ich...“

„NEIN!“ Schwungvoll stieß er den Dämon von sich.

„Lass mich in Ruhe! Verschwinde!“ Aidens angestaute Wut bahnte sich gemeinsam mit einigen Tränen einen Weg ins Freie. „Das machst du immer! Kaum fange ich an dir ein bisschen zu vertrauen, rammst du mir ein Messer in den Rücken. Warum versuche ich's überhaupt? Du bist eben doch nur ein Monster!“ Erst jetzt wurde Reel so richtig klar, was er Aiden angetan hatte.

Er hatte ihn geschlagen und Aiden konnte nicht mal im Ansatz den Grund für Reel heftige Reaktion erahnen.

Ungezügelt schrie Aiden nun seine ganze Enttäuschung und seinen Frust hinaus.

„Du bist impulsiv, launisch, besitzergreifend und hast absolut keine Selbstbeherrschung. Du hast nicht nur meinen Ruf an der Schule ruiniert, sondern auch meine Beziehung. Aber dir ist das ja alles egal. Für dich bin ich nur ein dummes Spielzeug, das du jederzeit wegwerfen und ersetzen kannst. Du hättest wenigstens so nett sein und mich sofort töten können, anstatt mich hier noch durch die Hölle gehen zu lassen.“

Die Tränen brannten in den Kratzern auf seiner Wange, aber Aiden ignorierte den Schmerz. Frustriert wandte er seinen Blick von Reel ab und kehrte ihm den Rücke zu.
 

Dieser stand noch einen kurzen Moment lang schweigend da und starrte Aidens Rücken an. Schon wieder hatte er die Kontrolle verloren und schon wieder war es Aiden, der die Folgen ertragen musste. Schuldbewusst nahm er das Zeichenbuch vom Boden auf und ging damit zum Schreibtisch. Sanft strichen seine Finger über das Papier, dann legte er es schweren Herzens in die unterste Schublade und schloss sie wieder.

Aiden sprach kein Wort mit ihm. Er sah ihn nicht einmal an. Irgendwann ging er ins Bad und kam mit einigen Pflastern auf der Wange wieder raus.

Reel fühlte sich schrecklich. Am liebsten wäre er wütend geworden, aber er konnte einfach nicht. Normalerweise wäre das kein Problem gewesen. Reel konnte zu jedem beliebigen Zeitpunkt ohne ersichtlichen Grund aus der Haut fahren und das tat er auch häufig, aber jetzt grade ging es einfach nicht. Lieber würde er wie üblich Wut und Hass fühlen als... Schuld.

Aber es half nichts. Die einzige Wut die er aufbringen konnte, war auf sich selbst. Und er verstand nicht warum.

Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster. Das Fensterbrett war der Platz im Zimmer, der am weitesten vom Bett entfernt war und auf diesem blieb Reel nun.

Ein leises Pling riss Aiden aus seinen Gedanken und er war dankbar für die Ablenkung. Mara hatte ihm geantwortet. Vielleicht hatte die Neugier ihre Angst besiegt oder ihr lag wirklich genügend an Aiden um trotz ihrer Angst mit ihm sprechen zu wollen.

Er atmete tief durch, dann stand er auf und begann sich seine Schuhe anzuziehen. Reel bemerkte das, sprang auf und bewegte sich so schnell auf Aiden zu, dass dieser ihn erst bemerkte als der Dämon sich bereits auflöste und in ihm verschwand. Reel stellte fest, dass Aiden nun auch seinerseits Mauern zwischen ihnen hochgezogen hatte und fühlte sich noch miserabler.

Ohne ein weiteres Wort verließ Aiden das Zimmer und machte sich auf den Weg zum Schuldach.
 

Mara traf kurz nach ihm ein.

„STOPP! Bleib auf Abstand!“ Aiden tat was Mara verlangte und blieb an der Dachkante, während Mara an der Tür stehen blieb. Der Regen wurde stärker.

„Mara, ich kann dir das alles erklären. Ich...“ Doch Mara unterbrach ihn sofort.

„Ich will es gar nicht wissen. Die Anderen wissen gar nicht, wie recht sie haben. Ich hätte auf Sierra hören sollen. Du bist gefährlich. Halt dich von mir fern und sprich mich nie wieder an. Ich will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben!“

„Aber...“

„Leb' wohl, Aiden.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Aiden blieb allein zurück und der Regen durchnässte seine Kleidung.
 

Irgendwann schaffte es Aiden zurück in sein Zimmer. Verzweifelt vergrub er sein Gesicht im Kopfkissen und begann zu weinen.

Reel materialisierte sich neben ihm. Unschlüssig wie er sich verhalten sollte, betrachtete er einen Moment lang die verletzliche Gestalt auf dem Bett. Wortlos setzte er sich auf die Bettkante und begann nach kurzem Zögern damit über Aidens braune Haare zu streichen.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun“, flüsterte er mit weicher Stimme. Aiden reagierte gar nicht – er hatte einfach keine Kraft mehr um den Dämon weg zu stoßen. Also ließ er sich von ihm den Kopf streicheln und sank irgendwann in einen traumlosen Schlaf.

Als er wieder aufwachte saß Reel noch immer neben ihm. Wortlos setzte Aiden sich auf, nahm sich seine Schlafsachen und ging ins Bad.

Flüchtig sah er in den Spiegel und stellte fast, dass die Pflaster fehlten. Auch die Kratzer waren verschwunden und sein Gesicht war vollkommen unverletzt. Reel hatte ihn anscheinend im Schlaf geheilt. Freiwillig hätte Aiden das momentan nicht zugelassen und der Dämon schien das geahnt zu haben.

Unsicher betrachtete er seine linke Hand – seine leicht schiefen Finger und die feine Narbe in der Handfläche – und musste unwillkürlich seufzen. Ihm war das alles zu viel.

Es war mitten in der Nacht, aber dennoch ließ er es sich nicht nehmen ausgiebig zu duschen. Leider schaffte es das Wasser nicht seine Sorgen weg zu spülen und so verließ er das Bad nur wenig entspannter als er es betreten hatte.

Reel schien sein ablehnendes Verhalten richtig gedeutet zu haben und hatte sich auf das Fensterbrett zurückgezogen. Ohne Buch oder Zeichenblock saß er dort und starrte hinaus in die wolkenverhangene Nacht. Aiden hatte nicht damit gerechnet, Reel mit seinen Worten tatsächlich getroffen zu haben, doch was er gesagt hatte war nur die Wahrheit gewesen. Eine sehr wütende Form der Wahrheit, aber die Wahrheit.

Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es bereits nach 3 Uhr morgens war und so stieg er zurück ins Bett und versuchte erfolglos noch etwas zu schlafen.
 

Seinen Weck-Ton machte er aus noch bevor er richtig anfing. Lustlos machte er sich fertig und zog sich an. Als er bereit zum Losgehen war, hielt er Reel emotionslos seinen Arm hin ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Dieser ging brav in Aidens Körper über und schwieg ebenfalls.

Auf dem Flur erwartete ihn Lukas.

„Aiden. Alles okay? Du siehst ja furchtbar aus.“ Aiden winkte ab.

„Bitte frag nicht.“ Unschlüssig sah sein bester Freund ihn an.

„Okay. Wenn du meinst.“ Auf dem Weg in den Speisesaal versuchte er Aiden mit belanglosen Gesprächen abzulenken und dieser war ihm äußerst dankbar dafür. Ohne richtiges Interesse lauschte er Lukas' vertrauter Stimme. Seine lebhafte Art zu Erzählen wurde durch wildes Gestikulieren und ausdrucksstarke Vergleiche unterstützt und gab Aiden für einen kurzen Moment das Gefühl, dass alles wieder normal war.

Beim Essen erzählte er Lukas in knappen Worten, dass Mara ihn wegen der ganzen Gerüchte verlassen hätte. Schon wieder musste er wegen Reel lügen und seine Wut bekam einen weiteren Schub.

„Das tut mir voll leid für dich, Aiden. Da hast du sie endlich erobert und dann so was. Willst du nach dem Unterricht deinen Frust bei na Runde Smash Bros. raus lassen? Beziehungsweise nach deiner Strafarbeit.“ Aiden lächelte dankbar.

„Gerne. Ich arbeite ein paar Stunden in der Bibliothek und dann komme ich vorbei.“

Für Lukas war das Thema damit gegessen. Er würde nicht weiter nachfragen oder Aiden darauf ansprechen. Wenn er ihm die Umstände erzählen wollte, dann würde Aiden das schon von sich aus tun.

Mara warf ihm immer wieder flüchtige Blicke zu. Sie schien wirklich niemandem von dem Vorfall erzählt zu haben, aber es gab auch so schon genügend Gerüchte über Aiden. Das Neuste behauptete, Aiden würde seine Unfälle inszenieren um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aufmerksamkeit war so ziemlich das letzte, was er momentan wollte, aber wer sollte ihm das schon glauben?
 

Der Tag wurde nicht besser. In der ersten Stunde wurden den Schülern die Termine für die Abschlussprüfungen dieses Schuljahres mitgeteilt. Prüfungen hießen für Aiden Stress pur, dafür würde sein Vater schon sorgen.

Als Aiden in der Bibliothek antrat bemerkte auch Frau Eden sofort das etwas nicht stimmte und sah ihn mit sorgenvollen Augen an.

„Geht es dir nicht gut? Fühlst du dich krank? Oder ist das nur die Prüfungsangst?“

„Nur die Prüfungen“, log Aiden.

„Na dann. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Du bist ein cleverer Junge und schaffst das schon.“

Lustlos erfüllte er seine gleichförmige Aufgabe, wobei ihn einzig allein die Aussicht aufs Zocken mit Lukas motivierte. Nach knapp drei Stunden verabschiedete er sich von der Bibliothekarin und ging anschließend sofort zu Lukas aufs Zimmer.

Sein Raum sah ganz anders aus als Aidens. Sie hatten die gleichen Möbel, aber Lukas hatte seine umgestellt. Chaos und Unordnung beherrschten sein Zimmer. Spielkonsolen, Gamehüllen und Merchandise säumten die Regale und an der Wand prangte ein riesiger Fernseher.

Stundenlang blieben die Jungen im Zimmer und spielten verschiedene Spiele. Das Abendessen ließen sie ausfallen und vernichteten stattdessen etliches an Chips, Schokolade, Keksen und Gummibärchen. Die Zeit mit Lukas brachte Aiden endlich wieder auf andere Gedanken und war wie Urlaub von seinem Gefühlschaos. Doch wie jeder Urlaub musste auch dieser enden.

Zur Nachtruhe verließ er die Nerd-Höhle seines besten Freundes und schlurfte zurück zu seinem Zimmer.
 

Dort angekommen nahm der schwarze Nebel sofort die Form des Dämons an. Aiden hatte Reel ganz absichtlich den ganzen Tag lang nicht die Möglichkeit gegeben, sich von ihm zu lösen und gesprochen hatte er mit ihm auch nicht. Nun materialisierte er sich vor seinem Lieblingsspielzeug und sah ihn aus unglücklichen Augen an.

„Aiden. Wir müssen reden.“ Und damit ging Aidens gute Laune wieder den Bach runter.

„Warum? Du lässt ja offensichtlich lieber Taten sprechen.“

„AIDEN! Ich meine es ernst. Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Es tut mir leid, dass ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe und es tut mir leid, was mit dem Mädchen passiert ist.“

„MARA! Ihr Name ist Mara und sie ist nicht nur irgendein Mädchen! Warum fällt es dir so schwer sie beim Namen zu nennen?“

„Dann tut es mir eben leid, was mit Mara passiert ist, aber um den Namen geht es doch gar nicht. Verdammt nochmal, Aiden. Glaubst du, mir ist nicht bewusst, dass ich oft die Kontrolle verliere? Glaubst du, ich mache das absichtlich? Ich will dich nicht verletzten und ich will auch nicht mit dir streiten. Seit Jahrhunderten habe ich in dir endlich mal wieder jemanden gefunden, den ich wirklich mag. Normalerweise hasse ich meine Opfer und sie hassen mich. Aber mit dir ist es anders. Bitte Aiden, sprich mit mir.“

Aiden war sich unschlüssig. Reel schien es ernst zu meinen und er wirkte unsagbar unglücklich, aber Aiden war immer noch wütend. Der Dämon stürzte sein ganzes Leben ins Chaos und hatte dann die Nerven vor ihm zu stehen und sich einfach zu entschuldigen.

„Man, warum kann man mit dir nicht mal richtig streiten?“ Aiden ließ sich aufs Bett fallen. Er zog die Beine an den Körper und stützte seine Arme auf die Knie. Unschlüssig setzte Reel sich mit gebührendem Abstand neben ihn und sah ihn an.

Aiden nuschelte in seine Arme: „Mara hat gar nicht erst versucht mich erklären zu lassen. Sie hat mir gar keine Chance gegeben um sie zu kämpfen. Vielleicht lag ihr doch nicht so viel an mir.“

Reel hob die Hand um Aiden zu berühren, doch nach einem kurzen Zögern zog er sie wieder zurück. Er könnte es nicht ertragen jetzt von ihm abgewiesen zu werden, also riskierte er es nicht. In unglücklichem Schweigen saßen sie auf dem himmelblauen Bettzeug.

„Tut mir leid, dass ich dich 'Monster' genannt hab. Das war nicht fair.“ Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Reels Lippen.

„Warum? So falsch liegst du damit doch gar nicht.“

„Doch! Du bist anstrengend, herrisch und schwierig, aber du bist kein Monster.“

Mit einem amüsierten Seufzen ließ sich der Dämon nach hinten fallen und Aiden tat es ihm gleich.

Wieder lagen sie gemeinsam auf dem Bett und sahen einander an, während zumindest einige der neuen Mauern zwischen ihnen wieder fielen. Dennoch kam Reel der Platz auf dem Bett, der zwischen ihnen lag, unendlich groß vor.

„Sperr mich bitte nicht ein und schweig mich nicht an. Ich hab doch nur dich“, flüsterte er ihm leise zu und Aiden bemerkte den gebrochenen Ausdruck in den roten Augen.

„Tut mir leid. Kommt nicht mehr vor.“

Ihm gefiel der Gedanke, für Reel etwas besonderes zu sein, und bereute es, ihm das Gegenteil unterstellt zu haben.

Verdammt, er hatte jedes Recht sauer auf Reel zu sein, aber es fiel ihm einfach schwer.
 

Nach einer Weile klopfte es plötzlich an der Zimmertür. Schnell rollte sich Reel zu Aiden rüber, griff nach seiner Hand und ging in seinen Körper über.

„Aiden Moore?“ Die strenge Stimme gehörte der Sekretärin, welche Aiden ein gefaltetes A4-Blatt in die Hand drückte und anschließend ohne ein weiteres Wort verschwand. Kaum war die Tür hinter ihr wieder ins Schloss gefallen, löste sich Reel von Aiden. Der faltete den Zettel ein Stück weit auf, las den Namen es Absenders und faltete die Nachricht sofort wieder zusammen – dafür hatte Aiden jetzt absolut keinen Nerv.

Unglücklich legte er den Zettel auf seinen Nachtschrank und ließ sich wieder aufs Bett sinken. Aiden nahm sein Handy zur Hand. Er wollte sich einfach nur ablenken und auf andere Gedanken kommen.

Reel war ebenfalls genügend mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und zog sich mit einem Buch auf das Fensterbrett zurück.

Irgendwann ergab sich Aiden seinem Schicksal und nahm doch wieder die Nachricht zur Hand. Je weiter er las, desto trüber wurde seine Laune bis er mit einem unglücklichen Seufzen das Papier in der Schublade seines Nachtschranks verschwinden ließ und ins Bad ging um zu duschen.

Als er endlich in seinem Bett landete und versuchte einzuschlafen, spielten seine Gedanken Tennis. Unruhig wälzte er sich im Bett herum bis ihn die Erschöpfung endlich übermannte.
 

Die nächsten Tage fühlten sich seltsam an. Reel hielt einen gewissen Abstand zu Aiden und dieser beschäftigte sich nahezu durchgängig mit seinem Lernstoff. Entweder war er im Unterricht, bei seiner Strafarbeit in der Bibliothek oder an seinem Schreibtisch über Lehrbücher und Hefter gebeugt.

Reel beobachtete ihn oft vom Fensterbrett aus und war sich unsicher, ob Aiden sich so in den Lernstoff stürzte um sich von ihm abzulenken oder ob es einen anderen Grund dafür gab.

Allerdings war er ihm in gewisser Weise dankbar dafür. So hatte Reel Gelegenheit seine Gedanken zumindest halbwegs zu sortieren.

Er musste sich eingestehen, dass Aiden ihm etwas bedeutete und das war ein Problem für ihn. Nicht nur das seine Sympathien für den Jungen ihn regelmäßig aus dem Konzept brachten, sie machten ihn auch schwach. Aiden war ihm wichtig und damit hatte Reel wieder etwas zu verlieren und das machte ihm mehr Angst als er sich eingestehen wollte.

Je näher die Prüfungen rückten, desto mehr bereitete ihm Aidens Verhalten Sorgen. Er wurde zunehmend auch Anderen gegenüber stiller, blieb länger wach um zu lernen und schlief immer unruhiger.
 

Als Aiden wie jeden Abend im Bad war, wurde Reels Aufmerksamkeit plötzlich von seinem Buch weggerissen. Er hörte, wie jemand unregelmäßig scharf einatmete und immer wieder unterdrückt schluchzte. Bei Reel schrillten alle Alarmglocken.

Sofort sprang er auf die Tür zu und ins Bad hinein.

Aiden hockte in seinen Schlafklamotten vor dem Waschbecken auf dem kalten Fliesenboden und wandte ihm den Rücken zu. Mit schnellen Schritten kam der Dämon auf ihn zu und versuchte Aiden ins Gesicht zu sehen. Er sah vollkommen fertig aus – seine Augen waren rot und geschwollen, seine Haare klebten ihm nass an der Stirn und er weinte bitterlich.

„AIDEN. Aiden, was hast du?“ Panisch suchte Reel nach Verletzungen, konnte jedoch keine erkennen und seine Befürchtung, Aiden könnte versuchen sich etwas anzutun, schien ebenfalls unberechtigt gewesen zu sein.

Vorsichtig umfasste er Aidens Schultern, doch dieser schien Reel überhaupt nicht wahrzunehmen. Er zitterte am ganzen Körper und schluckte immer wieder schwer. Einem Impuls folgend nahm Reel ihn in den Arm und ein tiefes Schluchzen ließ Aidens ganzen Körper beben. Er unterdrückte sein Weinen jetzt nicht mehr, sondern ließ seinen Tränen freien Lauf.

Eine kurze Weile lag er so in Reels Armen bis dieser bemerkte, wie Aiden auszukühlen begann.

Kurzerhand legte er sich Aidens Arm um den Hals, wobei dessen Kopf kraftlos gegen Reels Brust sank. Mit dem einen Arm stütze er Aidens Oberkörper und mit dem anderen nahm er seine Beine auf. Vorsichtig trug er ihn so zu seinem Bett rüber.

Als er ihn behutsam auf der Matratze absetzte, stellte Reel fest, dass Aiden sich in seinem Oberteil festgekrallt hatte und keinerlei Anstalten machte ihn wieder loszulassen.

„Was ist denn nur los mit dir, Sunshine?“, flüsterte er besorgt. Aiden ließ Reel nicht los, sondern barg weiterhin sein Gesicht an dessen Schulter und weinte.

Reel setzte sich mit ihm aufs Bett und stütze Aiden, dessen Körper völlig kraftlos in sich zusammengesunken war. Sanft strich er ihm über den Rücken und den Kopf, und versuchte den in Tränen aufgelösten Aiden zu beruhigen.
 

Irgendwann schlief dieser ein und hielt Reel dabei noch immer fest. Kurz überlegte er Aidens Finger aus seinem Oberteil zu lösen, entschied sich jedoch schnell dagegen. Stattdessen rutschte der Dämon vorsichtig ein Stück nach hinten um sich gegen die Wand zu lehnen. Das Kopfkissen im Rücken und den verweinten, schlafenden Aiden im Arm lag Reel auf dem Bett und lauschte dem zunehmend ruhiger schlagenden Herzen seines zerbrechlichen, kleinen Lieblingsspielzeugs.

Und da hatte es Reel wieder. Er war in Panik geraten aus Angst er könnte Aiden verlieren und er hasste sich für diese Schwäche.

Aidens Zustand bereitete ihm große Sorgen und er verstand dessen Ursache nicht. Gelenkig angelte er den Zettel aus der Schublade des Nachtschranks, bedacht darauf Aiden nicht zu wecken. Doch dieser begann genau in diesem Moment sich enger an seinen Dämon zu kuscheln. Reel fühlte sich ertappt und ließ mit einem leisen Seufzen den Zettel wieder in der Schublade verschwinden.

„Wenn du mir nach dem Aufwachen nicht erzählst was mit dir los ist, dann lese ich das Ding trotzdem. Klar?“, flüsterte Reel genervt. Es war mehr eine Rechtfertigung ihm selbst gegenüber als eine Drohung an Aiden.

Geteiltes Leid

Es war Samstag, daher klingelte kein Wecker. Als Aiden schließlich von allein wach wurde, brauchte er eine Weile um zu realisieren wo er war und was passiert war. Er lag auf Reels Brust und seine Finger waren in den schwarzen Stoff seines Oberteils gekrallt. Reel schien zu Aidens Überraschung ebenfalls eingeschlafen zu sein. Sein Kopf lehnte gegen Aidens und er konnte seinen gleichmäßigen Atem hören.

Aiden war peinlich berührt – ins besondere weil er nichts außer seinem Schlafshirt und einer Boxershort trug – aber andererseits genoss er Reels Zuwendung. Nach ihrem Streit und Reels distanziertem Verhalten hatte er dieses Maß an Fürsorge nicht von ihm erwartet.

Zaghaft löste Aiden seine Finger aus Reels Oberteil, der darauf unbewusst reagierte und seine Arme im Schlaf enger um ihn schlang. Nur zögerlich gab sich Aiden der Umarmung hin. Die ganze Situation war mehr als seltsam für ihn und er wusste nicht wie er damit umgehen sollte, also blieb er einfach liegen und lauschte Reels ruhigem Herzschlag.

Nach einiger Zeit wachte auch er auf. Sanft strich Reel Aiden die Haare aus der Stirn und sah ihn forschend an.

„Geht's dir besser, Sunshine?“ Aiden nickte schwach und wurde rot. Reel hingegen schien keinerlei Unbehagen ob dieser seltsamen Situation zu verspüren. Zögerlich befreite Aiden sich aus Reels Armen und wich seinem Blick aus, doch Reel hatte nicht vor ihn so einfach davon kommen zu lassen.

„Aiden...“ Dieser seufzte tief und begann zu erzählen.

„Tut mir leid. Ich hab einfach... Es ist alles so viel.“

„Wegen meiner Kontrollverluste?“ Reels Stimme klang ehrlich besorgt. Er wollte nicht Schuld an Aidens Zusammenbruch sein.

„Ja... Nein... Auch. Ach man, dass ist alles so schwer.“ Er schlug die Hände vor die Augen. Kurzerhand zog er die Nachricht aus der Schublade und reichte sie seinem Dämon.
 

Es handelte sich um den Ausdruck einer E-Mail, die mit der Bitte um Weiterleitung an die Schule geschickt worden war. „Im Auftrag: Phillip Moore?“

„Mein Vater“, gab Aiden unglücklich zur Erklärung ab. „Er kriegt es nicht mal hin die Nachricht selbst zu schreiben oder auch nur sich an meine Mail-Adresse zu erinnern. Oder anzurufen. Oder einen Brief zu schicken. Oder zumindest so zu tun, als wäre ich sein Sohn und nicht irgendeiner seiner Angestellten.“ Reel strich ihm tröstend über die Wange.

„Niemand kann sich seine Eltern aussuchen.“ Schnell überflog er die Nachricht. „Stimmt ja. Dein Vater zahlt das Schulgeld. Der Rektor hatte das erwähnt.“

„Und er wird das Schulgeld nur weiter zahlen, wenn ich dieses Jahr zu seiner Zufriedenheit – also mindestens mit einer 2,0 – abschneide. Meine Mutter kann das nicht allein bezahlen und ich müsste die Schule verlassen.“ Aidens Gesichtsausdruck wurde zunehmend unglücklicher.

„Du magst diese Schule doch eh nicht besonders“, warf Reel wenig mitfühlend ein, bereute es jedoch sogleich im Stillen.

„Schon. Aber ich mag Lukas. Und ich muss ja nur noch ein Jahr durchhalten. Außerdem verbessert es die Chancen an vielen Unis wenn man seinen Abschluss hier macht.

Und ganz abgesehen davon wird mein Vater seine Erwartungen auf Mellie projizieren, wenn ich sie nicht erfülle.“

„Mellie? Deine kleine Schwester, richtig?“ Wieder nickte Aiden.

„Ich muss also gute Noten in den Prüfungen schreiben und ich krieg es einfach nicht hin. Ich hab dieses Schuljahr nicht besonders gut aufgepasst und jetzt muss ich eine ganze menge Stoff nachholen.

Vater scheint irgendwie mitbekommen zu haben, dass meine Noten schlechter geworden sind und nun erwartet er, dass ich das alles nur durch die Prüfungsnoten ausgleiche.“ Aidens Stimme begann zu brechen und Tränen stiegen ihm in die Augen. „Dafür brauche ich nahezu überall eine glatte Eins. Wie soll ich das denn schaffen?“ Reel ließ die Mail achtlos auf das Bett fallen und nahm Aiden wieder in den Arm.

„Ach, Sunshine.“ Nach ein paar Minuten beruhigte sich Aiden langsam wieder. Er sprach nie mit jemandem über die Probleme mit seinem Vater, aber bei Reel brauchte er gar nicht erst versuchen etwas zu verbergen. Er konnte seinen Dämon nicht anlügen und ausnahmsweise war er einmal dankbar dafür. Es fühlte sich befreiend an endlich offen über den Druck sprechen zu können unter dem er stand.

„Danke Reel“, murmelte er leise an dessen Schulter.

Nach einiger Zeit löste sich Aiden wieder von ihm. Seine Augen waren noch etwas geschwollen vom Weinen, aber er war so ruhig wie seit Tagen nicht mehr. Sich bei Reel auszuweinen, hatte eine schwere Last von ihm genommen – besonders, da er von seinem Dämon nicht so viel Verständnis erwartet hatte.

Etwas besser gelaunt zog er sich um und wollte sich an seinen Schreibtisch setzten um zu lernen, doch Reel hielt ihn fest bevor er seinen Drehstuhl erreichen konnte.

„Frühstück!“

„Aber Reel, ich...“

„Vergiss es! Du bist ein Wrack und du gehst jetzt frühstücken!“ Es war sinnlos mit Reel zu streiten, also ergab sich Aiden seinem Schicksal und zog seine Schuhe an.
 

Lukas war allem Anschein nach noch nicht aufgestanden. Zumindest war er im Speisesaal nirgends zu sehen und Aiden wusste, dass er ein Langschläfer war.

Der heute verhältnismäßig leise Speisesaal und die Tasse Tee halfen Aiden dabei seine Nerven zu beruhigen. Ohne viel Appetit knabberte er an seinem Brötchen und sah sich im Saal um. Die anderen Schüler betrachteten ihn noch immer mit Argwohn und ab und an konnte er die Anderen über ihn sprechen hören, doch das war momentan sein kleinstes Problem.

Die Ruhe, die Reel in seinem Inneren ausstrahlte, half Aiden all das zu ignorieren und sobald er mit dem Essen fertig war, ging er ohne Umwege in sein Zimmer zurück. Er wollte nicht noch mehr wertvolle Lern-Zeit verlieren.
 

Reel materialisierte sich neben ihm und betrachtete den Stapel an Büchern und Heftern auf dem Schreibtisch.

„Ganz schön viel für einen allein“, stellte Reel besorgt fest.

„Wem sagst du das?“ Ungefragt begann er damit die Hefter durchzusehen und einige herauszusuchen.

„Och Reel. Bring doch bitte meine Ordnung nicht durcheinander.“ Der Dämon begann schon wieder Aiden auf den Keks zu gehen.

„Deutsch, Englisch und Geschichte kann ich übernehmen. Latein kriege ich vielleicht auch noch hin. Beim Rest müssen wir mal gucken.“

„Was?“

„Ich kann deinen Körper übernehmen und in deinem Kopf mit dir sprechen. Folglich kriegt es niemand mit, wenn ich dir bei deinen Prüfungen helfe.“

„Aber... das ist doch... Meinst du wirklich du schaffst eine glatte Eins in den Prüfungen?“ Betrug war eigentlich absolut nicht Aidens Art, aber je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee.

„Hast du eine Ahnung, wie viele Opfer ich schon verschlissen habe? Ich lebe schon ziemlich lange und bin eine ganze Menge rum gekommen. Ich lese viel und war die letzten Wochen während jeder einzelnen Unterrichtsstunde in deinem Körper. Mit etwas Übung und Lernen krieg ich das schon hin. Mach dir keine Sorgen, Sunshine.“ Reel nahm den gesamten Stapel an Heftern und legte sie auf dem Boden aus.

Deutsch, Englisch, Latein und Geschichte schob er gleich auf seine Seite.

Aiden kniete sich gegenüber von ihm auf den Boden und begann ebenfalls durch die Hefter zu sehen. Mathe, Biologie und die Wirtschaftswissenschaften nahm er auf seine Seite – für diese Fächer hatte er bereits am meisten gelernt.

„Okay, deine Sportprüfung kann ich auch machen. Und Musik...“ Aiden unterbrach ihn.

„Musik kriege ich allein hin.“ Die Art und Weise wie er das sagte und dabei weg sah, machte Reel stutzig.

„Musik ist also dein Ding?“ Aiden wich seinem Blick aus. „Hey! Aiden! Sieh mich an. Hör auf zu versuchen etwas vor mir zu verstecken. Das schaffst du eh nicht. Also: Raus damit!“

„Tut mir leid. Das ist an dieser Schule zur Gewohnheit geworden. Ich... ja, Musik ist irgendwie mein Ding.“

„Und was genau heißt 'irgendwie' bei dir?“ Reel mochte es absolut nicht, wenn Aiden nicht ehrlich zu ihm war und so klang bei ihm nun unwillkürlich ein passiv-aggressiver Unterton durch.

„Ich... hab mal ein bisschen Klavier gespielt“, gab Aiden kleinlaut zu und über Reels Augen huschte freudige Überraschung.

„Warum spielst du nicht mehr?“

„Um es mit den Worten meines Vaters zu sagen: Auf ein paar Tasten herum zu klimpern, wird mir mit meiner Karriere nicht weiterhelfen.“ Reel wirkte fast schon wütend als er antwortete.

„Aber darum geht es doch gar nicht. Musik, Kunst, Tanzen – das macht man nicht für den Erfolg sondern zum Spaß. Klar gibt’s da ein paar Ausnahmen, aber die sind jetzt egal. Du hast doch gern gespielt, oder?“ Aiden war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Reel dem so viel Bedeutung beimessen würde.

„Ja, schon. Aber... ich war nie besonders gut.“

„Ist doch egal. Hörst du mir nicht zu, Sunshine? Für den Spaß, nicht für den Erfolg. Du musst unbedingt mal für mich spielen!“

„Aber...“

„Kein 'Aber'. Hier ist der Deal. Wir schaffen all deine Prüfungen und dafür spielst du anschließend für mich ein Stück auf dem Klavier.“ Aiden überlegte kurz.

„Wenn wir es nicht schaffen, dann spiele ich auch nicht. Und wenn wir es doch schaffen, dann spiele ich nur wenn niemand anderes das mitbekommt.“

„Deal!“ Zu Aidens Überraschung schien das Reels Motivation stark zu steigern. Dass der Dämon eine Schwäche fürs Zeichnen hatte, wusste Aiden bereits, aber dass das gleiche auch für Musik galt war ihm neu. Als Aiden sich für den Ball fertig gemacht hatte war ihm Reels Wissen übers Tanzen aufgefallen, aber er hatte sich dabei nichts weiter gedacht.

Reel übernahm den Großteil des Lernstoffs für die Fächer Geschichte, Deutsch, Englisch, Latein und auch für Sozialkunde. Bei allen anderen Fächern versuchte er so viel wie möglich zu verstehen, um Aiden im Zweifelsfall auch dabei weiterhelfen zu können.

Aiden richtete sich mit neuer Motivation am Schreibtisch ein und Reel machte es sich mit einigen Fachbüchern und Heftern auf dem Bett bequem.
 

„Hast du zufällig ein Gummiband oder so was?“, kam es nach nur wenigen Minuten von Reel. Aiden war etwas irritiert, begann aber in seinen Schreibtischschubladen zu kramen, wobei ihm Reels Zeichenbuch ins Auge fiel. Schnell schob er die Schublade wieder zu und suchte weiter bis er endlich fündig wurde.

Reel kam zu ihm, nahm das Gummiband entgegen und begann sich seine Haare nach hinten zu streichen. Die langen Haare des Dämons schienen ihm beim Lernen ins Gesicht zu fallen, daher band er sie nun zurück. Das ermöglichte Aiden einen freieren Blick auf das hübsche Gesicht seines dämonischen Mitbewohners, welches bisher immer zum Teil von den schwarzen Strähnen verdeckt gewesen war.

Es war ungewohnt Reel mit einem Zopf zu sehen, aber er stand ihm erstaunlich gut. Plötzlich erregte ein kurzes, metallisches Aufblitzen Aidens Aufmerksamkeit.

„Du trägst einen Ohrring?“ Sofort verfinsterte sich Reels Gesicht und Aiden wusste, dass er schon wieder ein Tabuthema erwischt hatte.

„Schon gut, schon gut. Geht mich ja auch gar nichts an“, ruderte er daher schnell zurück. Kurz berührte Reel den dezenten Silberschmuck, bevor er die Augen niederschlug und Aiden flüchtig über den Kopf strich.

„Richtige Antwort, Sunshine.“ Reel hatte den kleinen Internatsschüler wirklich gern, aber bei bestimmten Themen konnte er einfach nicht anders als aus der Haut zu fahren und daher war er auch mehr als erleichtert, dass Aiden von allein aufhörte nachzufragen.

Mit gebundenen Haaren ließ er sich aufs Bett fallen und nahm das Lehrbuch wieder auf.
 

So verbrachten sie die nächsten Tage über Büchern und Heftern, bis Reel irgendwann während des Lernens aufstand und zum Schreibtisch hinüber ging.

Sanft legte er Aiden von hinten eine Hand auf die Stirn.

„Reel. Was...?“

„Dachte ich's mir doch. Du hast Fieber.“

„Nein. Ich darf nicht krank werden. Ich muss heute noch mindestens 4 Seiten für Bio durcharbeiten und ...“

„Es bringt überhaupt nichts wenn du das verschleppst. Glaubst du, ich merke das nicht? Du hast doch schon seit mindestens zwei Tagen Kopfschmerzen, oder?“

„Und Schwindelgefühl“, gab Aiden kleinlaut zu. Reel seufzte und drehte den Stuhl zu sich um. Aiden versuchte sich wieder zurück zu drehen.

„Nein, ich muss noch...“ Doch Reel drehte ihn bestimmend wieder zu sich und nahm den kleineren Aiden kurzerhand einfach auf den Arm. Seine Proteste ignorierend trug er ihn zum Bett rüber.

„Ich kann selber laufen.“

„Weiß ich. Machst du aber offensichtlich nicht. Du bleibst jetzt gefälligst im Bett und lässt das mit dem Lernen für heute bleiben. Ein Abend Pause wird dich schon nicht umbringen.“

„Stimmt. Das ist ja deine Aufgabe“, gab Aiden mit einem frechen Grinsen zurück und Reel musste unweigerlich schmunzeln.

„Deinen Humor hast du noch, also ist es noch nicht kritisch.“ Aiden gab sich geschlagen und machte es sich im Bett gemütlich. Reel räumte die Bücher und Hefter aus diesem heraus, stellte ihm seine Wasserflasche auf den Nachtschrank und setzt sich anschließend auf die Bettkante. Erneut fühlte er Aidens Stirn und bestätigte noch einmal seine These.

„Dich darf ich wirklich nicht aus den Augen lassen.“ Aiden sah ihn aus müden Augen an und schlief kurz darauf auch schon ein.
 

Noch eine Weile nachdem er eingeschlafen war, strich Reel ihm über die Haare. Wieder betrachtete er konzentriert das Gesicht seines Lieblingsspielzeugs und war überrascht darüber, wie stark er – und die ganze Situation – ihn doch an jemand ganz anderen erinnerte. Und diese Erinnerung tat unglaublich weh.

Schließlich schüttelte Reel seine melancholischen Gedanken ab, bewaffnete sich wieder mit dem Geschichtshefter und ließ sich mit dem Rücken gegen das Bett auf den Boden sinken.
 

Die nächsten Abende zwang Reel Aiden immer wieder dazu früher mit dem Lernen aufzuhören als dieser es gern gehabt hätte. Jedoch sah er ein, dass es seiner Gesundheit gut tat, also ließ er Reel´s doch recht eigenwillige Fürsorge über sich ergehen.

Auch diesen Abend blieb er davon nicht verschont und musste sein Biobuch verfrüht zur Seite legen. Nachdem er frisch geduscht das Bad verlassen hatte, richtete er sich im Bett ein und griff nach seiner Handheld-Konsole. Sein Blick wanderte zu seinem Dämon hinüber, der noch auf dem Schreibtisch saß, und nach kurzem Zögern legte er die PS Vita an ihren Platz auf dem Nachtschrank zurück.

„Kannst du mir bitte die schwarze Tasche geben, die neben dir steht?“ Reel tat was Aiden von ihm wollte und dieser holte einen alten Lenovo Laptop aus der Tasche und klappte ihn auf. Nachdem dieser mit der Soundkulisse eines startenden Düsenjets hochgefahren war, loggte Aiden sich bei Netflix ein.

Lukas hatte ihm einen Nutzer auf seinem Account eingerichtet und ihm auch die Zugangsdaten für sein Prime-Konto gegeben, aber Aiden nutze diese Möglichkeiten seit Reel da war nur selten. Er hatte sich bisher immer unwohl dabei gefühlt irgendwas zu schauen während sein Dämon daneben saß, aber jetzt hatte er einfach Lust sich von einer Serie berieseln zu lassen.

Reel beobachtete die Szene eine Weile, bis Aiden seinen Blick bemerkte und ein Stück weit zur Seite rutschte um ihm Platz zu machen. Dieser nahm das nonverbale Angebot an und machte es sich ebenfalls im Bett gemütlich.

Aiden ließ ihn eine Serie auswählen und angelte sich in der Zwischenzeit eine Tüte Gummibärchen aus seinem Vorrat. Er war heute gut mit dem Lernen vorangekommen und wollte sich ein bisschen dafür belohnen. Reel schien denselben Gedanken gehabt zu haben. Ungefragt mopste er ihm einige der Gummitiere, umfasste anschließend Aiden von hinten und stützte sein Kinn auf dessen Schulter. Aiden wusste noch immer nicht so recht, was er mit der plötzlichen Zutraulichkeit des Dämons anfangen sollte, also tat er einfach so als wäre nichts passiert und startete die Folge.
 

Irgendwann siegte jedoch seine Neugier.

„Warum bist du eigentlich in letzter Zeit so... anhänglich?“

„Stört es dich?“, stellte Reel die Gegenfrage mit einem amüsierten Unterton und kuschelte sich provokant noch näher an ihn. Aiden überlegte eine Weile.

„Es ist ungewohnt.“ Reel lachte leiste auf bevor er antwortete.

„Du kannst mir das nicht verübeln. Dich will ich mal sehen, wenn du mehrere Jahrhunderte nur von Leuten umgeben bist, die du hasst und die dich hassen.“ Reels Stimme glitt während seiner Worte ungewollt vom Provokanten ins Traurige und Aiden überkamen plötzlich Schuldgefühle. „Entschuldige“, gab er kleinlaut von sich. Reel verstärkte als Antwort nur seinen Griff um Aidens Taille und wandte sich wieder dem Bildschirm des Laptops zu, doch Aidens Gedanken kreisten noch weiterhin um das eben Gesagte.

Reel hatte ihm noch immer nicht verraten wie lange genau er schon lebte, aber selbst wenn er 'nur' von einigen hundert Jahren ausging, musste der Dämon mittlerweile ziemlich vereinsamt sein. Die einzigen Leute mit denen er sprechen konnte waren seine Opfer und die waren logischerweise alles andere als begeistert von Reels Anwesenheit.

Das alles erklärte seine eigenwilligen Umgangsformen und sein ungewöhnliches Verhalten zumindest teilweise.

Und nun hing eben dieser Rachedämon auf Aidens Schulter und kuschelte sich an ihn. 'Ich schätzte damit werde ich dann jetzt wohl leben müssen', akzeptierte er die Folgen von Reels Sympathien für ihn und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Serie zu.

Nach einigen Folgen schloss Aiden den Laptop und ging sich die Zähne putzen. Reel richtete sich währenddessen wieder am unteren Ende des Bettes ein und steckte seine Nase brav in das Lateinbuch. Aiden störte es mittlerweile nicht mehr, wenn Reel auf seinem Bett saß während er schlief, und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte der Dämon sich davon sowieso nicht beirren lassen. Egal wie gut die beiden sich inzwischen verstanden, er sah Aiden nach wie vor als sein Eigentum an und so verhielt er sich ihm gegenüber auch.
 

Aiden war schon längst eingeschlafen, als der Vollmond das Zimmer in fahles Licht tauchte und Reel zum Fenster zog. Er legte das Buch wieder aus der Hand und setzte sich auf die Fensterbank um den Sternenhimmel zu betrachten. Keine einzige Wolke versperrte ihm den Blick und er genoss die Aussicht, die ihn so sehr an seine Vergangenheit erinnerte.

Melancholisch ließ er seine Stirn gegen die kühle Scheibe sinken und betrachtete den Mond und die Sterne. Ohne es zu merken glitt er in einen unruhigen Schlaf und fand sich erneut in einem Traum wieder.
 

Erneut sah er die zierliche Kapuzengestalt vor sich und erneut sank diese auf die Knie ohne das Reel etwas dagegen tun konnte. Blut floss unaufhaltsam aus dem Mundwinkel und einer Wunde in der Brust der zerbrechlichen Gestalt. Verzweifelt sank Reel in sich zusammen und weinte über dem leblosen Körper.

Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung und hörte eine leise Stimme, die ihn rief. Reel weigerte sich auf sie zu hören, doch die Hand auf seiner Schulter ließ nicht von ihm ab und auch die Stimme verstummte nicht.

Schließlich drehte er sich doch mit einer schwungvollen Bewegung um und sah direkt in Aidens braune Augen. Sie waren unnatürlich weit aufgerissen und auch aus Aidens Mundwinkel begann nun langsam Blut zu laufen. Reel sah an dem Jungen hinunter und stellte mit Entsetzten fest, dass seine eigene Hand ein Messer hielt, dessen Klinge nun tief in Aidens Brust steckte. Schnell färbte Blut den Boden um ihn herum tiefrot und auch Aidens Körper sank nun leblos in sich zusammen.
 

Aiden wachte auf, was genau ihn geweckt hatte konnte er allerdings nicht sagen. Verschlafen sah er sich um und wurde schnell auf Reels Silhouette aufmerksam, die sich dunkel gegen das einfallende Mondlicht am Fenster abzeichnete. Zu Aidens Überraschung flackerte der Schattenumhang aufgeregt und auch Reel selbst zuckte immer wieder unruhig.

„Reel?“ Keine Reaktion. Aiden verließ sein Bett und ging zögerlich auf seinen Dämon zu, der allem Anschein nach auf der Fensterbank eingeschlafen war. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und seine Hände zu Fäusten geballt – Reel hatte einen Albtraum, das konnte Aiden im hellen Licht des Vollmonds problemlos erkennen. Vorsichtig umfasste er seine Schulter und versuchte ihn durch sanftes Rütteln zu wecken. „Reel? Reel!“

Plötzlich wurden die roten Augen aufgerissen und Aiden grob am Kragen seines T-Shirts gepackt, doch Reel bemerkte schnell, dass er nicht mehr schlief und fiel Aiden nun vollkommen unvermittelt um den Hals.

Eine ganze Weile drückte er den perplexen Aiden fest an sich und dieser konnte Reels rasenden Herzschlag gegen seine Brust hämmern spüren. Beruhigend strich er ihm über den Rücken und wartete geduldig bis sein Dämon langsam wieder zur Ruhe kam.

„Reel, was ist denn los?“ Doch er schüttelte nur stumm den Kopf ohne Aiden loszulassen. Unschlüssig blieb Aiden mit dem vollkommen fertigen Reel mitten im Zimmer stehen. Reel würde ihm nichts sagen, also entschied er sich einfach dazu ihn vorsichtig mit sich zu ziehen und aufs Bett zu setzten.
 

Nach einigen weiteren Minuten fing sich Reel endlich wieder. Noch immer etwas unruhig gab er Aiden frei und sah ihn mit einem Blick an, den Aiden nicht zu deuten wusste.

„Geht´s wieder?“ Reel seufzte leise.

„Passt schon. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab. Schlaf weiter.“ Reel wollte aufstehen, doch Aiden hielt ihn fest. Sein Dämon sah so fertig aus, dass Aiden ihn jetzt einfach nicht allein lassen wollte.

„Bleib hier.“

„Willst du das wirklich?“ Aiden hatte noch keine Gelegenheit gehabt ihm zu antworten, da bekam er schon die Quittung für seine Aufforderung. Reel hatte es bereits geschafft die Folgen seines Albtraums zu überspielen und wieder sein diebisches Grinsen aufzusetzen. Bevor Aiden reagieren konnte, wurde er von Reel rücklings aufs Bett gedrückt.

Die roten Augen und vor allem die gefährlich scharfen Reißzähne waren ihm bedrohlich nah, doch Aiden kämpfte seine Angst zurück. Er kannte Reel mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er ihm etwas vorspielte und er weigerte sich ihm das dieses Mal durchgehen zu lassen.

Reel machte das immer wenn er etwas vor Aiden verbergen wollte, doch dieses Mal würde Aiden seiner Angst nicht nachgeben.

Entschieden nickte er und antwortete mit bemüht fester Stimme: „Ja! Bleib hier! Ich mach mir Sorgen um dich!“ Auf Reels offensichtliche Überraschung folgte ein leises Seufzen und anschließend ließ er sich schwer auf Aiden sinken.

„Ich verstehe dich einfach nicht“, nuschelte er leise in dessen Halsbeuge.

Erleichterung breitete sich in Aiden aus. Er war sich zwar sicher Reels Fassade einigermaßen durchschaut zu haben, aber seine Reaktion hatte er nicht voraussagen können.
 

Nach einigen Minuten rutschte sein Dämon wieder von ihm runter und ließ sich stattdessen neben ihm ins Kopfkissen sinken. Kurz sah Aiden ihn irritiert an.

„Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben, Sunshine“, grinste Reel ihm entgegen und Aiden sah ein, dass er für den Rest der Nacht wohl sein Bett teilen musste. Mit einem schwachen Seufzen legte er sich zu Reel und schlüpfte wieder unter die Bettdecke.

„Du bist wirklich seltsam“, kam es leise von Reel. Seine Augen schienen im Mondlicht ganz leicht zu glühen.

'Wunderschön', dachte Aiden ganz unwillkürlich, doch über seine Lippen kam lediglich ein sarkastisches: „Du bist ja auch nicht gerade normal“, und entlockte Reel damit ein leises Lachen.

„Auch wieder wahr.“ Reel kuschelte sich ins Kissen und schloss die Augen, aber Aiden betrachtete noch eine Weile das hübsche Gesicht des Dämons neben ihm.

Seine Züge waren definiert und seine Haut unnatürlich blass – schon fast weiß oder eher gräulich. Seine langen schwarzen Wimpern und schmalen Lippen verliehen ihm eine nahezu androgyne Schönheit, die Aiden immer wieder faszinierte.

Irgendwann fielen aber auch ihm endlich die Augen zu und er sank in einen ruhigen Schlaf.

Prüfungsstress

Der Handy-Wecker klingelte und Reel entfuhr ein unzufriedenes Knurren. Er war diese Nacht endlich einmal von Albträumen verschont geblieben und fand es gar nicht lustig jetzt aus dem Schlaf gerissen zu werden. Routiniert griff Aiden zum Handy und ließ es mit einem Tippen auf die Schlummer-Taste verstummen. Dankbar kuschelte sich Reel näher an ihn und Aiden tat es ihm – im Delirium des Halbschlafs – gleich.

Reels linker Arm ruhte unter Aidens Kopf, während sein rechter Arm eng um dessen Oberkörper geschlungen war. Verschlafen vergrub Aiden seine Finger in Reels Oberteil und sog den Geruch des Dämons tief ein. Selten hatte er sich so sicher und geborgen gefühlt wie jetzt, doch das zweite Klingeln seines Weckers holte Aiden wieder in die Realität zurück.

Langsam wurde er sich seiner Situation bewusst und Röte stieg ihm ins Gesicht.

Aiden machte den Wecker nicht aus und so musste nun auch Reel unter größtem Unwillen die Augen öffnen. Er genoss Aidens Nähe und wollte ihre Umarmung noch nicht aufgeben, doch dieser ließ ihm nicht wirklich eine Wahl.

Unbeholfen löste sich Aiden aus seinen Armen und Reel ließ ihn widerstrebend los. Der albtraumlose Schlaf hatte ihm gut getan und Reel fühlte sich so ausgeglichen, wie seine launische Natur es eben zuließ.

Als Dämon konnte aber musste er normalerweise nicht schlafen. In letzter Zeit verspürte er allerdings immer wieder Müdigkeit. Das passierte manchmal, wenn er länger bei einem Opfer blieb und sich vergleichsweise oft außerhalb von dessen Körper aufhielt. Dadurch musste er eine lange Zeit einen eigenen Körper aufrechterhalten und das kostete ihn mehr Kraft als er es gern gehabt hätte.
 

Vom noch warmen Bett aus beobachtete Reel, wie sich Aiden für den Unterricht fertig machte.

Es war nichts Ungewöhnliches an seiner Morgenroutine und genau das liebte Reel so sehr an diesem Anblick – Aiden störte sich keineswegs an der Anwesenheit des Dämons.

Er schien allem Anschien nach tatsächlich keine Angst mehr vor ihm zu haben und das beruhigte Reel, auch wenn es zugleich etwas beängstigendes für ihn hatte, dessen Ursprung er nicht erklären konnte. Er hatte dieses Gefühl bisher nur bei einer einzigen anderen Person gehabt und Reel begann immer mehr von dieser in Aiden zu sehen.

Unverwandt verfolgten die roten Augen Aidens Bewegungen ohne das dieser es so recht zu bemerken schien.

„Stimmt was nicht?“, riss er Reel unvermittelt aus seinen Gedanken.

„Hm?“

„Wir müssen langsam los.“ Das unschuldige Lächeln mit dem Aiden vor ihm stand, ließ Reel unwillkürlich schmunzeln. Sanft legte er seine Hand auf Aidens Wange und ging in dessen Körper über.
 

Die Prüfungen rückten immer näher und das spiegelte sich in der allgemeinen Stimmung der Schüler wieder. Viele wirkten ein wenig bedrückt und immer wieder sah Aiden Mitschüler mit aufgeschlagenen Heftern und Büchern durch die Gänge laufen oder in den Gemeinschafts- und Klassenräumen sitzen. Selbst beim Essen hatten einige Schüler ihre Lernmaterialien offen neben sich liegen.

Die Prüfungen an diesem Internat waren bekannt dafür sehr fordernd und anspruchsvoll zu sein. Auch war es nichts Ungewöhnliches für die Schüler hier – ähnlich wie Aiden – mindestens ein Elternteil zu haben, welches gute Leistungen erwartete. Was eigentlich auch nicht verwunderlich war, wenn man die Höhe der Schulgebühren und den gesellschaftlichen Status der Schüler bedachte.

„Und wie läuft es bei dir mit dem Lernen?“ Selbst Lukas merkte man ein wenig Prüfungsstress an.

„Eigentlich gar nicht mal so schlecht. Und bei dir so?“ Stellte Aiden die Gegenfrage, doch Lukas winkte ab.

„Frag lieber nicht. Mit etwas Glück bestehe ich alle Prüfungen und schaffe hier und da vielleicht sogar ne 3 oder 2. Aber auf viel mehr kann ich leider nicht hoffen. Außer in Sport natürlich.“

„Ach, du packst das schon“, versuchte Aiden ihn aufzumuntern.

„Lass uns lieber schnell das Thema wechseln. Sonst werd´ ich noch depressiv.“ Lukas setzte wieder sein jungenhaftes Lächeln auf und begann über das neuste Update von Summoners War zu reden.

Mit einem Ohr lauschte Aiden seinen Ausführungen und mit dem anderen versuchte er zu hören, worüber sich die restlichen Schüler unterhielten.

Der allgemeine Prüfungsstress hatte zumindest einen Vorteil – die Gerüchte über Aiden gerieten wieder in den Hintergrund und er war bisher auch von weiteren Anschlägen verschont geblieben. 'Vielleicht hat unserer Magier ebenfalls Prüfungen', hatte Reel angemerkt, jedoch hatte Aiden eine ganz andere Vermutung. Er war die letzten Tage über kaum aus seinem Zimmer raus gekommen. Wer auch immer es auf ihn abgesehen hatte, hatte schlicht und ergreifend keine Gelegenheit gehabt ihn in einen „Unfall“ zu verwickeln.

Plötzlich erregte eine blonde Flechtfrisur Aidens Aufmerksamkeit. Mara sah ihn böse an und machte einen weiten Bogen um ihn, bevor sie sich dann zu ihrer Schwester und ihren Freundinnen setzte. Lukas bemerkte Aidens Blick.

„Hey, mach dir nichts draus. Es gibt so viele Mädchen. Da findest selbst du Lauch was passendes.“ Er zwinkerte Aiden aufmunternd zu und erntete ein schiefes Lächeln von ihm.
 

Gemeinsam gingen sie in ihren Fachraum. Die morgige Matheprüfung war die erste der Prüfungen und dementsprechend vollgepackt war nun die Mathestunde. Aiden gab sein Besten um mit dem Stoff mitzuhalten und auch Reel lauschte brav der Lehrerin.

In der Umkleide vor und nach dem Sportunterricht wurden die anderen Jungen schnell auf Aidens neues 'Tattoo' aufmerksam und so hatten die Gerüchte über ihn wieder neuen Zündstoff.

Reel übernahm seit zwei Wochen während der Sportstunden Aidens Körper um sich daran zu gewöhnen und besser einschätzen zu können, welche Leistungen glaubhaft waren.

Aiden war nie besonders gut in Sport gewesen, daher wäre es mehr als auffällig wenn er auf einmal Schulrekorde brechen würde.

Reel hatte durchaus seinen Spaß daran den Körper zu steuern und Aiden hatte ordentlich damit zu tun den Dämon davon abzuhalten etwas dummes während des Sportunterrichts zu tun oder jemandem bei einem unfairen Völkerball-Treffer an die Gurgel zu gehen.

Lukas bemerkte Aidens ungewöhnliches Verhalten, hielt sich zu dessen Glück jedoch an seinen Grundsatz sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Irgendwann würde er Lukas gern alles erklären, aber momentan würde Reel das nicht zulassen und Aiden wollte auch nur ungern seine Freundschaft zu Lukas aufs Spiel setzten. Maras Reaktion war ihm noch lebhaft im Gedächtnis und dort würde sie wohl auch noch eine ganze Weile bleiben.
 

„Sag mal, Aiden. Hast du deine Strafe in der Bibliothek eigentlich mittlerweile abgearbeitet?“

Aiden antwortete mit einem Nicken.

„Ja. Ich bin letzte Woche fertig geworden. Frau Eden war richtig traurig, weil sie jetzt wieder alles allein machen muss.“ Lukas lachte kurz auf.

„Das glaube ich gern. Die Menge an Büchern, die du durch die Gegend geschleppt hast, war echt unglaublich. Kein Wunder, dass du auf einmal einen so starken Wurfarm hast.“ Lukas sah ihn forschend an. Die Anmerkung mit dem Wurfarm war eindeutig ein Versuch beiläufig etwas über Aidens plötzliche Sportlichkeit in Erfahrung zu bringen, aber Aiden überging ihn einfach.

„Ja. Aber ich bin wirklich froh endlich fertig damit zu sein. Ich hatte ja so schon kaum genügend Zeit um zu Lernen.“

„Dieses Jahr scheinst du ja richtig ehrgeizig an die ganze Sache ran zu gehen.“ Aiden winkte ab. „Ich hab dieses Jahr echt nachgelassen, darum will ich das mit den Prüfungen ausgleichen.“ Wieder bedachte Lukas ihn mit diesem unschlüssigen Blick.

„Du musst es ja wissen.“ So langsam störte ihn Aidens Verschwiegenheit ihm gegenüber doch. Lukas hätte nie angenommen, dass sein bester Freund so häufig etwas verstecken würde, doch er würde nichts dazu sagen. Zumindest vorerst nicht.
 

Am Abend lief Aiden unruhig im Zimmer auf und ab. Die morgige Prüfung machte ihn schrecklich nervös und er kam einfach nicht zur Ruhe. Irgendwann reichte es Reel.

„Verdammt, Sunshine! Du machst mich ja ganz kirre.“

„Tut mir leid. Aber ich kann einfach nicht anders.“ Mit einem entnervten Seufzen schwang sich Reel vom Bett und lief zu ihm hinüber. Bestimmend nahm er Aidens Gesicht zwischen die Hände und sah ihm fest in die Augen.

„Du lernst seit Wochen ununterbrochen. Heute im Unterricht konntest du fast alle Aufgaben fehlerfrei lösen und ich bin ja auch noch da. Also mach dich nicht fertig. Wir schaffen das morgen. Du darfst jetzt nur nicht die Nerven verlieren.“ Aiden sah unverwandt in das fesselnde Rot der Augen seines Gegenübers. Er seufzte schwach und legte seine Hände auf Reels Unterarme.

„Du hast ja recht.“

„Ganz genau. Also sein brav und hör auf deinen Dämon.“ Spielerisch zwang er sein kleines Lieblingsspielzeug sich aufs Bett zu setzen und schob ihm seinen Laptop zu. Aiden musste lachen.

„Du willst doch nur Grimm weiter gucken.“

„Vielleicht“, gab Reel mit einem frechen Zwinkern zu und setzte sich ebenfalls aufs Bett. Aiden klappte den Laptop auf und öffnete Prime.

Während sie die Serie weiter schauten, kuschelte Reel sich wieder von hinten an Aidens Schulter. Sein gleichmäßiger Atem an seinem Ohr half Aiden wieder zur Ruhe zu kommen und dafür nahm er auch bereitwillig den engen Griff um seine Taille in kauf. Reels Anhänglichkeit war inzwischen zum Normalzustand geworden und Aiden hatte sich nach einigen Tagen daran gewöhnt.

Er hatte das Gefühl, dass der Dämon dadurch umgänglicher geworden war und ihm seltener auf den Keks ging. Entspannt lehnte er sich an Reel und wandte seine Aufmerksamkeit dem Laptop-Bildschirm zu.

Nach nur zwei Folgen schloss Aiden den Laptop wieder. Er wollte heute etwas früher ins Bett gehen um morgen möglichst ausgeschlafen zu sein. Reel war wohl etwas unglücklich darüber, sagte jedoch nichts.

Aiden ging duschen, Zähne putzen und anschließend ins Bett, wo er sich unruhig hin und her wälzte. Seine Gedanken kreisten ununterbrochen und ließen ihn einfach nicht in den ersehnten Schlaf sinken.

Nach einiger Zeit hörte er wieder das leise Seufzen vom anderen Ende des Bettes – Papier raschelte und die Matratze bewegte sich ein wenig. Im nächsten Moment spürte er eine feingliedrige Hand auf seinem Kopf. Reel setzte sich am Kopfende auf die Bettkante und strich beruhigend über das braune Haar. Aiden schloss wieder die Augen und konzentrierte sich auf die sanfte Berührung.

Reel gab ihm das Gefühl nicht allein zu sein und das half ihm ungemein, wodurch Aiden einige Minuten später auch schon eingeschlafen war.
 

Als das Klingeln seines Handyweckers Aiden zwang seine Augen zu öffnen, saß Reel noch immer auf seiner Bettkante.

„Guten Morgen, Sunshine.“ Verschlafen machte Aiden seinen Wecker aus und setzte sich im Bett auf. Seine Haare standen wild in alle Richtungen ab und ließen Reel unwillkürlich schmunzeln.

„Ja, ich weiß. Ich muss unbedingt mal wieder zum Friseur.“ Rechtfertigte sich Aiden und versuchte fahrig seine Haare mit den Fingern zu bändigen – mit mäßigem Erfolg.

„Ich finde du solltest sie wachsen lassen.“ Reel hielt Aidens Finger fest und und begann dann seinerseits sanft die braunen Haare zurück zu streichen. Mit langen Haaren würde er der Person auf seinen Zeichnungen noch viel ähnlicher sehen.

Aiden betrachtete Reels Gesicht. Er lächelte, aber schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Schließlich ließ er wieder von Aiden ab und erlaubte ihm so aus dem Bett aufzustehen.

Ab heute wurde es ernst. Ab heute hatte er fast jeden Tag eine Prüfung zu bestehen. Schnell durchlief er seine Morgenroutine, zog sich an und überprüfte seine Schultasche. Taschenrechner, Formelsammlung, Stifte, Papier, Geodreieck, Zirkel – alles da.

„HEY!“ Aiden hatte die Hand schon auf der Türklinke gehabt, hielt nun inne und lief schnell zum Bett zurück. „Entschuldige, Reel.“

„Du bist ja wirklich total durch, wenn du sogar schon mich vergisst.“ Aufmunternd legte er ihm eine Hand auf die Wange und strich ihm mit dem Daumen darüber.

„Wir packen das schon. Mach dich nicht fertig, Sunshine.“ Dann ging er in seinen Körper über und Aiden verließ sein Zimmer.
 

Der heutige Beginn der Prüfungsphase drückte die Stimmung im Speisesaal – es war nahezu beängstigend still.

10 Minuten vor dem regulären Unterrichtsbeginn saßen dann alle Schüler auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Akribisch sortierte Aiden nun schon zum fünften mal seine Stifte und Materialien neu und seine Nervosität wuchs weiter an.

„Bleib ruhig, Sunshine. Wir beide kriegen das schon hin.“ Reel nutze ihre Verbindung um Aidens Angst so gut wie möglich zu mindern.

Die Prüfungsbögen wurden ausgegeben und Reel musste sich wirklich bemühen um sein kleines Lieblingsspielzeug zu beruhigen.

Nach der Belehrung wurden die Prüfungsbögen aufgeschlagen und der Kampf begann. Verbissen löste Aiden eine Aufgabe nach der anderen und nur zwei mal machte Reel ihn auf einen Flüchtigkeitsfehler aufmerksam.

Aiden unterstrich sein Ergebnis der letzten Aufgabe und im selben Moment ermahnte die Klingel alle Schüler dazu ihre Stifte niederzulegen. Mit einem erleichterten Seufzen ließ sich Aiden im Stuhl nach hinten sinken.

Die Mathelehrerin sammelte alle Bögen ein und die Schüler verließen geordnet den Raum. Dabei traf Aiden wieder auf Lukas.
 

„Und? Wie ist es bei dir gelaufen?“ Lukas wirkte recht gelassen als er antwortete.

„Ganz okay, glaube ich.“ Mathe war neben Sport und Wirtschaftswissenschaften eines seiner stärkeren Fächer, auch wenn er das nie raus hängen ließ. Sprachen waren nicht sein Ding, ansonsten verstand er den meisten Lernstoff recht schnell. Lukas war sehr intelligent, aber er war kein großer Fan vom Lernen.

Was er in Prüfungen aufschrieb waren größtenteils nur Dinge, die er eh aus dem Kopf wusste und nicht zuvor gezielt gelernt hatte. Für Aiden würde diese Herangehensweise in einer Katastrophe enden, aber für Lukas schien es zu funktionieren.

Gemeinsam gingen sie wieder in dem Speisesaal. Die Prüfung hatte insgesamt über 4 Stunden gedauert und nun war es bereits Zeit fürs Mittagessen.

„Willst du nach dem Essen zum Zocken vorbei kommen?“ Doch Aiden winkte ab.

„Ich will noch etwas für Englisch lernen.“ Tatsächlich war morgen zum ersten mal Reel dran.

Er beherrschte viele Sprachen. Immerhin wurden im Laufe seines Lebens nun schon viele Personen verschiedenster Abstammung mit ihm verflucht und jedes mal hatte er sich in deren Kopf breit gemacht und so schnell die nötige Sprache erlernt.

Die eigenen Muttersprache war etwas so grundlegendes im Kopf eines jeden, dass Reel es sich nach einigen Versuchen problemlos angeeignet hatte diese von seinen Opfern zu adaptieren.

Englisch gehörte dabei noch zu einer der häufigsten Sprachen und daher beherrschte er diese nicht nur mündlich, sondern konnte sie auch problemlos lesen und schreiben. Die morgige Prüfung wäre für ihn also mehr eine Formsache als alles andere.

Latein wurde von den Hexen und Hexern, die mit Reel verflucht worden waren, häufig verwendet. Es war die gängige Sprache der Magie und während die Magier versuchten Reel mit verschiedensten Zaubern oder Ritualen loszuwerden, hatte dieser sich nach und nach auch diese Sprache angeeignet.
 

Nach dem Essen kehrte Aiden in sein Zimmer zurück. Rücklings ließ er sich aufs Bett fallen und atmete tief durch. „Eine geschafft. 12 kommen noch.“ Reel materialisiert sich neben ihm auf dem Bett.

„Die morgige Prüfung ist eine Kleinigkeit. Um die brauchst du dir also keine Gedanken machen.“

„Bist du dir sicher, dass du die volle Punktzahl schaffst?“

„Ich hatte seeehr viel Zeit um Englisch zu lernen. Glaub mir, Sunshine. Das wird kein Problem. Was ist übermorgen dran?“

„Chemie“, antwortete Aiden unglücklich. Chemie lag weder Aiden noch Reel besonders gut. Sie hatten beide nur leidlich dafür gelernt und taten sich recht schwer mit den meisten Themengebieten. Mit einem unglücklichen Seufzen ließ sich Reel nach hinten aufs Bett fallen und sah Aiden von der Seite an.

„Danke“, kam es leise von Aiden.

„Ich hab doch kaum was gemacht. Die zwei Fehler hättest du irgendwann auch selbst bemerkt.“

„Das meine ich doch gar nicht. Ohne dich hätte ich heute wahrscheinlich einen totalen Nervenzusammenbruch gehabt.“ Reel drehte sich auf die Seiten um Aiden besser ansehen zu können und dieser tat es ihm gleich. Behutsam strich er seinem Lieblingsspielzeug eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Du brauchst dringend etwas mehr Selbstvertrauen, Sunshine. Du hättest das heute alles problemlos auch ohne mich geschafft. Du musst dir nur mehr zutrauen.“ Schuldbewusst sah Aiden in die roten Augen.

„Ich weiß. Tut mir leid.“

„Keine Angst. Das kriegen wir schon noch hin. Wer sich mit einem Rachedämon streiten kann, der sollte sich auch von einer Schulprüfung oder seinem Vater nicht unterkriegen lassen. Und im Zweifelsfall hab ich genügend Selbstbewusstsein für uns beide.“ Aiden konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken als er antwortete.

„Das glaube ich dir gerne.“ Spielerisch fuhr Reel ihm durch die Haare.

„Du bist echt nicht normal. Eigentlich sollte ich dich töten und nun helfe ich dir mit deinen Schulprüfungen.“ Ein unterdrücktes Lachen fand seinen Weg aus Aidens Kehle.

„Das Gleiche hab ich mich auch schon gefragt, aber ich dachte ich frage lieber nicht nach.“ Eine kurze Pause entstand. „Aber mal ehrlich, Reel. Warum machst du's? Meine Prüfungen haben doch überhaupt nichts mit unserem eigentlichen Deal zu tun.“ Reel stieß hörbar die Luft aus.

„Keine Ahnung. Ich schätze, ich mag dich einfach. Und es ist ja nicht so, als hätte ich all zu viel besseres zu tun.“

„Ich mag dich auch, Reel.“ Dieser sah seine Chance Aiden mal wieder etwas zu ärgern und ergriff sie sofort. Mit einer schnellen Bewegung überwand er die kurze Distanz zwischen ihnen, drückte den Kleineren in die Laken und grinste ihn mit entblößten Reißzähnen an.

„Bist du dir da sicher?“, fragte er provokant nur wenige Zentimeter von Aidens Gesicht entfernt, doch dieser blieb unverändert ruhig.

„Jap. Ich bin mir absolut sicher.“ Reel war sichtlich überrascht und musste lachten. Das Aiden keine Angst mehr vor ihm hatte, war ihm bewusste gewesen, aber mit einer so abgebrühten Reaktion hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Ertappt ließ er seinen Kopf auf Aidens Brust sinken. Selbst sein Herzschlag hatte sich kaum beschleunigt. Reel kuschelte sich an ihn und blieb einfach liegen. Aiden roch so gut und war so unglaublich gemütlich.

Nach wenigen Augenblicken spürte er, wie Aiden begann seinen Rücken zu kraulen und mit seinen Haaren zu spielen. Er hatte sich wohl wirklich an Reels ungewöhnlichen Wunsch nach Nähe gewöhnt und nahm ihm diesen auch nicht übel.
 

Seidig glitten die schwarzen Strähnen zwischen Aidens Finger. Noch nie hatte er so rabenschwarzes Haar gesehen wie bei Reel. Er bemerkte zwar, dass Aiden mit seinen Haaren spielte, störte sich allem Anschein nach aber nicht daran.

Aiden achtete darauf den Ohrring seines Dämons nicht zu berühren, denn er befürchtete er könnte ihm das übel nehmen und Aiden wollte diese zugegeben etwas ungewöhnliche Situation noch nicht auflösen. Anfangs war es schwierig für ihn gewesen mit Reels Verhalten klar zu kommen, aber inzwischen genoss er dessen Zuneigung richtig.

Ein weiteres Mal nahm er eine Strähne des schwarzen Haares zwischen die Finger und betrachtete wie sie im einfallenden Licht glänzte. Wunderschön.

Sein Blick fiel auf den Schattenumhang, der ruhig über die Bettbezüge flackerte. Vorsichtig versuchte Aiden ihn zu berühren und dieser schien auf ihn zu reagieren. Er konnte ihn nicht wirklich anfassen, da der Schatten keine feste Form besaß, aber Aiden konnte ihn dennoch spüren. Wie ein schwacher Luftzug war er zwar eindeutig da, aber nicht greifbar.

Ruhig zog sich der Schatten zu Aidens Hand hin und umschlang diese sanft. Ein kleines Stück weit kletterte die Schwärze seinen Arm hinauf, doch Aiden empfand das nicht als beunruhigend. Ganz im Gegenteil – er hatte das Gefühl der Schatten wollte ihn beschützen und Aiden begann zu vermuten, dass er immer Reels Gefühlslage widerspiegelte.

War er wütend oder aufgewühlt, dann flackerte der Schatten wild und ungezügelt. War Reel hingegen entspannt – so wie jetzt – dann verhielt sich auch der Schatten ruhig. Aiden konnte nicht anders als immer wieder aufs neue fasziniert von dem hübschen Dämon zu sein, der nun auf seiner Brust eingeschlafen zu sein schien. Gedankenverloren fuhr Aiden ihm wieder mit den Fingern durch die Haare und nickte irgendwann ebenfalls ein.
 

Doch sein Schlaf hielt nicht lange an. Nach circa einer halben Stunde wachte Aiden wieder auf und versuchte widerstrebend Reel zu wecken. Eigentlich wollte er ihn gern weiterschlafen lassen, aber Aiden hatte sich vorgenommen heute noch zu lernen, also begann er sanft an Reels Schulter zu rütteln. Dieser knurrte unzufrieden und vergrub sein Gesicht noch tiefer an Aidens Brust.

„Reel. Ich muss noch lernen.“ Doch dieser machte keinerlei Anstalten sich von ihm runter zu bewegen. „Och man, Reel.“ Widerwillig setzte sich der Angesprochene auf und starrte Aiden böse an.

Der entschuldigte sich knapp, schnappte sich seinen Chemie-Hefter und wollte sich grade am Schreibtisch einrichten, als Reel wieder hinter ihm auftauchte und ihn kommentarlos zum Bett zurück zog.

Kurz versuchte Aiden sich zu wehren, gab es jedoch schnell wieder auf. Der Dämon setzte sich auf das Bett, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und zog Aiden bestimmend in seine Arme. Dieser fand sich schließlich in einer ähnlichen Umklammerung wie beim Netflix gucken wieder – Reels Arme um seine Taille geschlungen und dessen Kopf auf seiner Schulter ruhend. In dieser Position konnte Aiden lernen ohne das Reel ihn loslassen musste.

„Du hättest auch einfach was sagen können“, ermahnte ihn Aiden.

„Wozu denn? Du gehörst mir und ich mache mit dir was ich will.“ Demonstrativ drückte er ihn enger an sich und schmiegte sich an seine Schulter. Mit einem resignierten Seufzen schlug Aiden seinen Hefter auf und wandte sich lustlos den Reaktionen der Alkalisalze zu.

Ferienbeginn

Reel behielt recht – die Englischprüfung am nächsten Tag war für ihn keine große Sache.

40 Minuten vor Abgabe war er bereits fertig und gab die Kontrolle wieder an Aiden ab, der den Bogen noch einmal durchblätterte und anschließend zufrieden zuklappte.

Den Rest der Zeit verbrachte er damit sich mit Reel zu unterhallten. Dieser hatte ihm beigebracht ihre Verbindung zur Kommunikation zu nutzen ohne dabei tatsächlich sprechen zu müssen.

Es war schwierig und anstrengend, aber Aiden konnte immer wieder Erfolge verzeichnen. Der Trick war seine Gedanken direkt an Reel zu adressieren, aber das klang leichter als es war, da dieser nicht in seinen Geist eindrang.

So hätte Reel Aidens Gedanken zwar problemlos hören können, aber er hätte ALLES gehört und nicht nur was an ihn adressiert war. Der Dämon hatte ihm versprochen nicht ungefragt in seinem Geist herumzustochern, da es zum Einen auch für Reel mit Anstrengung verbunden und zum Anderen eine Art Vertrauensbeweis gegenüber Aiden war, den dieser sehr begrüßte.

Ihre Unterhaltung während der Prüfung verlief daher von Aidens Seite aus eher holprig, aber er schaffte es schon besser per Gedanken mit seinem Dämon zu sprechen als noch vor einigen Tagen und damit war er schon zufrieden.
 

So arbeiteten sie sich gemeinsam durch eine Prüfung nach der anderen. Bei der Sportprüfung achtete Reel darauf immer genau die Werte zu erzielen, die Aiden brauchte um grade so noch eine Eins zu bekommen. Das brachte ihm zwar einige irritierte Blicke des Lehrers ein, aber sonst schien niemand etwas zu bemerken. Alle waren viel zu sehr mit ihren eigenen Fitnesstests beschäftigt und beachteten Aidens Werte gar nicht.

„So gut war ich in Sport noch nie“, stellte Aiden begeistert fest.

„Kein Wunder. Du bist total untrainiert, Sunshine. Da müssen wir unbedingt mal was gegen machen.“ Aiden stutze.

„Warum das denn?“

„Weil der Magier, der es auf dich abgesehen hat, bestimmt nicht so schnell aufgeben wird und es durchaus von Vorteil sein kann, wenn du und dein Körper ein wenig belastbar sind.“ Das sah Aiden ein. Er hatte den mordlüsternden Magier schon fast wieder vergessen. Es war einfach zu surreal.

Andererseits war es ja mittlerweile auch zur Normalität für ihn geworden, sich sein Zimmer mit einem Dämon zu teilen, also sollte er sich auch an den Gedanken gewöhnen können, die Zielscheibe eines Hexers oder einer Hexe zu sein.
 

Heute stand die letzte Prüfung an – Biologie. Wenn Aiden diese auch so gut wie die anderen schrieb, hatte er gute Chancen sein Ziel zu erreichen und auf dem Zeugnis dieses Jahr die von seinem Vater gewünschten Noten zu erzielen.

Daher hatte sich Aiden mit Lukas verabredet, um mit ihm das Ende der Prüfungszeit mit einem Gaming-Abend zu feiern. Reel war davon nicht besonders begeistert gewesen, da es für ihn bedeutete sich nicht aus Aidens Körper lösen zu können, aber er hatte es ihm zuliebe kommentarlos hingenommen.

Es klingelte, die Prüfungsbögen wurden eingesammelt und in Aiden machte sich Erleichterung breit. Er war gut mit den Aufgaben zurechtgekommen und blickte nun zuversichtlich der Notenverkündigung entgegen.

Die fand an dieser Schule erst innerhalb der Sommerferien statt. Das Schuljahr wurde optimal ausgenutzt, alle Prüfungen in den letzten drei Wochen geschrieben und die Noten dann drei Wochen später gemeinsam mit den Zeugnissen entweder zu den Schülern nach Hause geschickt oder ihnen im Internat überreicht. In der vierten Ferienwoche fand für alle, die wollten und es sich leisten konnten, eine Klassenfahrt statt.

Die fünfte Woche war wieder frei und in der sechsten fanden sich die meisten Schüler bereits wieder im Internat ein um sich auf das neue (im Falle von Aidens Klasse: das letzte) Schuljahr vorzubereiten.
 

Aidens Euphorie kannte kaum Grenzen. Nicht nur das die Ferien anstanden und er endlich mal wieder seine Mutter und seine Schwester sehen würde, in diesen Zeitraum fiel auch noch seinen 18. Geburtstag. Er konnte nur sehr selten nach Hause fahren, da seine Familie quasi am anderen Ende des Landes wohnte und die Zugverbindungen sehr teuer waren, aber seine Mutter hatte extra Geld zurück gelegt damit Aiden zu seinem Geburtstag heim kommen konnte.

„FREIHEIT!“ Auch Lukas war von der allgemeinen Freude über die beendeten Prüfungen erfasst worden. Mit einem breiten Grinsen und beschwingten Schritten hüpfte er nahezu durch den Schulflur.

Nach dem Essen gingen sie sofort auf Lukas‘ Zimmer. Aiden hätte vorher eigentlich gern noch seine Sachen auf sein Zimmer gebracht und kurz mit Reel gesprochen, aber Lukas zog ihn gleich mit sich.

„Du fährst zu deinem Geburtstag nach Hause, oder? Dann bist du volljährig, wenn du wiederkommst und kannst mir die ganzen P18 Games holen. Wie cool ist das denn?“ Aiden lachte auf und antwortete sarkastisch: „Genau Lukas. Das ist ja auch der einzige Vorteil wenn man 18 ist.“ „Ja gut. Vielleicht nicht der einzige, aber auf jeden Fall ist es einer.“

„Wann fährst du heim?“, fragte nun Aiden.

„Schon morgen“, gab Lukas schuldbewusst zu. „Ich wollte dir eigentlich schon früher Bescheid geben, aber das ist während der Prüfungen irgendwie untergegangen. Du sahst immer so gestresst aus und da wollte ich dich damit nicht auch noch belasten.“ Aiden sah etwas unglücklich aus. Er war nicht darauf gefasst gewesen sich schon morgen für die Dauer der Ferien von ihm verabschieden zu müssen.

„Schade. Aber da kann man nichts machen. Vielleicht sehen wir uns ja sogar schon zur Klassenfahrt wieder. Mein Vater meinte, dass er sie mir bezahlt, wenn ich in den Prüfungen gut abschneide. Quasi als Belohnung.“

Das war zwar nicht so ganz die Wahrheit, aber auch nicht all zu weit von ihr entfernt. Sein Vater wollte ihm die Fahrt tatsächlich bezahlen wenn Aiden gut Abschnitt, aber das hatte nichts mit einer Belohnung zu tun. Sein Vater erhoffte sich lediglich, dass Aiden auf diesem Wege Beziehungen zu den anderen Schülern knüpfte und festigte, da ihm diese später im Berufsleben von Nutzen sein konnten. Schließlich war es zu vermuten, dass viele seiner Mitschüler irgendwann einmal hohe Positionen in Wirtschaft oder Politik bekleiden würden.

Aber eigentlich war Aiden der Grund auch egal. Er freute sich einfach nur über die Aussicht seinen besten Freund doch schon nach nur vier Wochen wiederzusehen.

„Das wäre ja absolut genial. Du musst mir unbedingt Bescheid geben, sobald du da was weißt.“ Aiden nickte und nahm seinen Controller auf. Lukas hatte bereits die Disc eingelegt und das Spiel gestartet. Aiden wollte jetzt nicht an seinen Vater und auch nicht an die Prüfungen denken. Er wollte sich einfach nur zusammen mit Lukas an der Konsole solange die Stunden um die Ohren schlagen bis es Nachtruhe wurde und er rüber in sein eigenes Zimmer gehen musste – und genau das taten sie auch. Nur zum Abendessen machten sie dieses Mal eine kurze Pause.
 

Als Aiden dann doch wieder in sein eigenes Zimmer musste, warf er sich sofort rücklings aufs Bett und griff nach seiner PS Vita – Hauptsache er dachte nicht an die Prüfungen. Er war zuversichtlich sie gut geschrieben zu haben, aber dennoch war er nervös wenn er daran dachte, wie viel von deren Ergebnis abhing, daher war nun Ablenkung geboten.

Nach einiger Zeit wurden seine Hände, die noch immer seine Konsole hielten, plötzlich energisch zur Seite geschoben. Reflexartig ging Aiden ins Pause-Menü und spürte im selben Moment auch schon wie Reel seinen Kopf auf seiner Brust ablegte.

Teils etwas genervt, teils belustigt betrachtete Aiden den Dämon und fragte ihn mit einer Stimmlage als würde er mit einem kleinen Kind sprechen: „Fühlst du dich vernachlässigt? Brauchst du Aufmerksamkeit?“ Reel konterte in einem kindlichen aber fordernden Ton: „Ja! Beachte mich gefälligst!“ Aiden musste leise lachen. Mehr oder weniger bereitwillig legte er seine Konsole bei Seite und wandte sich seinem aufmerksamkeitsbedürftigen Dämon zu.

Zärtlich fuhr er ihm durch die Haare und kraulte seinen Rücken, was dieser mit einem zufriedenen Summen quittierte und seine Arme enger um Aidens schmalen Körper schlang. Besitzergreifend krallten sich seine Finger in dessen hellblaues Oberteil und dieser drückte seinerseits seinen Dämon enger an sich.

Er hatte Reel in letzter Zeit – und besonders heute – tatsächlich ziemlich vernachlässigt und nun holte er das nach.

Aiden schuldete ihm eine Menge – ohne seinen Dämon hätte er die Prüfungen niemals so gut überstanden und dafür war er ihm unglaublich dankbar. Auch rechnete er es Reel hoch an, dass er widerstandslos zugelassen hatte, dass Aiden den Tag heute mit Lukas verbrachte. Er hatte fast schon mit einigen bissigen Kommentaren oder einem ungeduldigen Gefühl im Hinterkopf gerechnet, aber Reel hatte sich tatsächlich brav zurückgehalten.

Mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen strich er weiterhin durch die schwarzen Haare und spielte ab und an mit einer Strähne.

Nach einer Weile griff er wieder nach seiner PS Vita und begann von neuem zu spielen. Mit Reel auf der Brust war das mehr als umständlich, aber Aiden arrangierte sich damit, wobei er ihm zwischendurch immer wieder den Nacken kraulte um Reel ruhig zu halten.
 

Irgendwann musste er ihn dann doch hochscheuchen um duschen zu gehen. Lukas würde morgen recht früh vom Internat abgeholt werden und Aiden wollte sich unbedingt noch von ihm verabschieden. Reel knurrte ihn leise an, aber Aiden ließ sich davon nicht groß beeindrucken und fuhr ihm zur Entschuldung noch einmal durch die schwarzen Haare, als Reel sich dann doch endlich widerwillig aufgesetzt hatte.

Die Aussichten darauf bald endlich wieder nach Hause zu können, beflügelten Aiden nahezu, auch wenn seine Laune durch die Sorge um die Prüfungsergebnisse und seine Sorge Reel mit nach Hause nehmen zu müssen, getrübt wurde. Dennoch schlief er in dieser Nacht verhältnismäßig ruhig.
 

Reel saß – wie er es die letzten Nächte meistens getan hatte – auf dem unteren Ende des Bettes. Endlich konnte er wieder entspannt ein Buch zur Hand nehmen und musste sich nicht auf eine von Aidens Prüfungen vorbereiten, doch aus irgendwelchen Gründen konnte er sich nicht so recht auf 'Tintenherz' konzentrieren.

Geräuschlos schlich er zum Schreibtisch und holte sein Zeichenbuch wieder hervor.

Nachdem er durch die bereits gefüllten Seiten geblättert und jede Zeichnung erneut betrachtet hatte, schlug er eine noch leere Seite auf und setze den Stift an. Kurz zuckte sein Blick zu dem schlafenden Aiden. Reel blätterte erneut durch seine alten Zeichnungen und sah dann wieder zu seinem kleinen Internatsschüler. Dann begann er zu zeichnen.

In den groben Linien könnte man schnell den Oberkörper und Kopf einer Person erkennen, die im Bett lag und schlief. Als es daran ging die Gesichtszüge zu verfeinern und die Haare zu zeichnen, zögerte Reel erneut, schüttelte seine Schwäche jedoch entschieden ab.

Entschlossen setzte er denn Stift an und verlieh der schlafenden Gestalt Aidens seligen Gesichtsausdruck, aber die schmalen Züge und langen Haare einer ganz anderen Person. Und so füllte eine weitere Darstellung dieser Person die weiße Seite des Buches, über die Reel nun behutsam strich und ein liebevolles Lächeln huschte über seine Lippen.

„Er ist zwar nicht du, aber ganz unähnlich ist er dir nicht“, flüsterte er der Zeichnung leise zu.
 

Aidens Wecker riss ihn aus dem Schlaf. Er hatte nun eigentlich Ferien, aber er hatte seinen Wecker an gelassen um heute noch mit Lukas frühstücken zu können.

Reel saß an seinem üblichen Platz, die Beine übereinander geschlagen und einen Roman in den blassen Händen.

„Guten Morgen, Sunshine.“ Reel wirkte recht gut gelaunt, was Aiden auf die abgefallene Anspannung nach Abschluss der Prüfungen schob.

Als Aiden versuchte aus dem Bett zu klettern, hielt Reel ihn unvermittelt fest und zog ihn zu sich. Kurz schlang er seine Arme um ihn und schmiegte sich an seine Brust. Erst als Aiden die Umarmung erwiderte und Reel den Kopf kraulte, ließ er wieder von ihm ab. Reel schien heute wirklich ungewöhnlich gut gelaunt. Ein deutliches Lächeln lag ihm auf seinen Lippen, welches Aiden nicht so recht einzuordnen wusste, doch er entschied sich dazu es einfach hinzunehmen und nicht weiter nachzufragen. Bei dem Dämon war das meistens die bessere Wahl.
 

Als Aiden von seinem Zimmer auf den Flur trat, lief er Lukas quasi in die Arme.

„Morgen, Aiden. Du sieht ja richtig fröhlich aus. Freust du dich so sehr mich loszuwerden?“, witzelte er und grinste seinen besten Freund an.

„Aber absolut! Wenn du weg bist, dann kann ich endlich mit meinen anderen dutzend Freunden abhängen, die ich hier am Internat habe“, antwortete er sarkastisch. Lukas war Aidens einziger richtiger Freund hier. Die meisten waren ganz nett zu ihm (zumindest war das der Fall gewesen bis durch Reel die Gerüchteküche zu brodeln angefangen hatte), aber als „Freund“ hätte er hier sonst niemanden bezeichnet.

Der Speisesaal war ziemlich leer. Bis auf die Schüler, die heute abgeholt wurden oder eh früh aufstanden, nutzen alle den ersten Ferientag um auszuschlafen. Auch Mara war nirgends zu sehen. Nach dem, was Aiden so mitbekommen hatte, würden sie und ihre Schwester erst etwas später abgeholt werden, da ihre Mutter einen wichtigen Geschäftstermin hatte und ihr Vater im Ausland war.

Mara war die einzige Person von der er gehofft hatte, dass sie möglichst früh nach Hause fuhr, aber Aiden war das Glück eben selten hold.
 

Beim Essen erzählte Lukas auf Aidens Nachfrage wohin er diese Ferien so mit seinen Eltern reisen würde. Üblicherweise war es ein Abenteuer-Urlaub – dieses Mal drei Wochen Afrika. Aiden war kein Freund von großer Hitze, daher beneidete er ihn nicht um diese Reise, aber dass er selbst vermutlich der einzige Schüler dieser Schule war, der seine Ferien ohne Urlaub im Ausland verbringen würde, bedrückte ihn schon ein wenig. Andererseits war „Zuhause“ der beste Urlaub den er sich nach 5 Monaten Internat vorstellen konnte.

Aiden half Lukas dabei seinen Koffer und Rucksack die Treppen hinunter in die Eingangshalle zu schleppen und wartete mit ihm bis der dunkelgrüne Sportwagen seines Vaters vorfuhr.

Aiden mochte Lukas' Eltern. Genau wie Lukas machten sie sich nicht viel aus ihrem Reichtum. Klar, sein Vater fuhr ein teures Auto, Lukas hatte immer die neusten Spiele-Konsolen und technischen Spielereien und seine Mutter gab Unmengen für ihren Garten und irgendwelche Gemälde aus, aber keiner von ihnen verhielt sich Aiden gegenüber hochnäsig. Sie waren ganz normale Menschen, nur das Geld für sie eben keine große Rolle spielte.

Lukas hatte ihm gesagt, dass sein Vater sich zwar gewünscht hätte, dass er sich nicht unbedingt den einzigen „armen“ Schüler der Schule als Freund aussucht, aber als besonders schlimm hatte er es wohl nicht empfunden. Außerdem hatte Aiden nie das Gefühl, dass Lukas' Vater ihn nicht leiden konnte. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Aidens Vater Geld und Einfluss hatte, aber Aiden machte sich sowieso keine großen Gedanken darüber. Immerhin war er mit Lukas befreundet und nicht mit dessen Eltern.

Knirschend hielt der Wagen auf dem Kiesweg hinter zwei anderen teuren Autos, in die weitere Mitschüler einstiegen.

Schnell verabschiedeten sich die beiden Jungs von einander, wechselten noch einige Worte mit Lukas' Vater – einem hochgewachsenen Mann mit markanter Kieferpartie – und dann verließ die dunkelgrüne Nobelkarosse auch schon wieder das Gelände des Internats und ließ Aiden allein zurück.

Schweigend schritt er die Gänge entlang, durch die immer wieder die polternden Räder von Rollkoffern zu hören waren. Wieder in seinem Zimmer ließ sich Aiden schwer auf sein Bett fallen. Die Zugverbindung, die er rausgesucht hatte, fuhr erst in ein paar Tagen. Alles andere wäre zu teuer gewesen.
 

„Hm. Und was mach ich jetzt noch 4 Tage lang ganz alleine?“ Reel materialisierte sich neben ihm auf dem Bett.

„Hey! Was heißt hier 'ganz alleine'? Ich bin ja schließlich auch da.“ Reel klang fast ein wenig beleidigt und Aiden musst über diese Tatsache ein Lachen unterdrücken.

„Als ob ich bei dir eine Wahl hätte“, versuchte Aiden den Dämon zu ärgern, doch dieser schien ihm das tatsächlich übel zu nehmen. „Ach Reel. So habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich bin doch froh, dass du da bist und ich nicht ganz alleine bin.“ Entschuldigend wollte er mit den Fingern durch die schwarzen Haare fahren, doch Reel winkte ab und stand vom Bett auf.

„Schmollst du jetzt etwa, Reel? Ich meinte doch nur, dass ich mit dir das Zimmer nicht verlassen kann. Dir sieht man sofort an, dass du kein Mensch bist“, versuchte Aiden die Situation noch zu retten. Reel sah ihn an und ein verstohlenes Grinsen zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Kurz schloss er die Augen und setze ein konzentriere Mine auf.

Aiden konnte beobachten wie der schwarze Schatten sich langsam an Reels Körper anlegte und mit dessen festen Konturen verschmolz. Seine Haut nahm einen etwas natürlicheren Ton und seine Züge eine etwas menschlichere Form an und als er die Augen wieder öffnete, war das faszinierende Rot einem extrem dunklen Braunton gewichen.

Reel sah nun tatsächlich wie ein Mensch aus. Wie ein ziemlich blasser, ganz in schwarz gekleideter Mensch, der lange nicht mehr beim Friseur war – aber wie ein Mensch.

Diese Maskierung schien recht anstrengend gewesen zu sein, denn Reel atmete schwer.

Auf Aidens beeindruckten Gesichtsausdruck hin schenkte er ihm ein überlegendes Grinsen, welches den Blick auf seine Zähne freigab. Als Reißzähne konnte man sie zwar nicht mehr bezeichnen, aber Reels Eckzähne waren doch deutlich länger als es bei einem normalen Menschen der Fall war.

Aiden unterdrückte ein Schmunzeln und sagte nichts weiter zu diesem kleinen Fehler. Sein Dämon in Menschengestalt wirkte so stolz auf seine Verwandlung, dass er ihm das jetzt nicht kaputt machen wollte.

„Okay, damit hab ich nicht gerechnet. Willst du mir auch verraten, wie lange du das jetzt schon kannst?“

„Ich hab's mir in den letzten Nächten selbst beigebracht. Ich kann meine Messer aus meinem Schatten erschaffen und verschwinden lassen und ich kann mit meinen Fähigkeiten deinen Körper heilen, also wollte ich eigentlich nur ausprobieren, ob ich auch meinen eigenen Körper auf diese Weise beeinflussen kann. Und siehe da: es klappt. Allerdings ist das ziemlich anstrengend und schränkt mich stark ein. In meinem richtigen Körper kann ich mich viel besser bewegen und habe schärfere Sinne.“
 

Aiden umkreiste ihn und versuchte sich an den ungewöhnlichen Anblick zu gewöhnen, was ihm zum größten Teil auch ganz gut gelang. Reel sah nicht so viel anders aus, aber diese Augen – die dunklen Augen waren einfach nicht Reels und das irritierte ihn zutiefst.

„Kannst du deine Augen wieder rot machen?“ Reel sah ihn fragend an.

„Wieso? Du hast dich doch grade beschwert, dass ich zu unmenschlich aussehe.“

„Ja, aber das ist komisch. Vor mir brauchst du sie ja schließlich nicht zu verstecken.“ Reel sah ihn weiter eindringlich mit diesen falschen Augen an, die Aiden so störten. Er schien genau zu wissen, dass das nicht der eigentliche Grund für Aidens Bitte war. „Außerdem mag ich deine roten Augen viel lieber“, gab er sich schließlich peinlich berührt geschlagen, was Reel ein zufriedenes Schmunzeln entlockte. Schnell ließ er seine Augen wieder ihre natürliche Farbe annehmen und sah Aiden direkt an.

„Besser?“ Aiden nickte. Langsam erschien Reels Schattenumhang wieder und auch sonst nahm sein Körper wieder die altbekannte Form an.

„Das ist echt cool“, gab Aiden zu.

„Ein bisschen muss ich das noch üben, aber ich denke ich kann die Verwandlung lang genug aufrechterhalten.“

„Du versuchst jetzt aber nicht Lukas zu ersetzten, oder?“ Reel warf ihm einen genervten Blick zu. „Sunshine, du gehörst mir. Wenn ich nicht wollen würde, dass du was mit ihm zu tun hast, dann könnte ich das problemlos verhindern. Wenn ich eine menschliche Form annehmen kann, kann ich mich ganz einfach freier bewegen und mich auch außerhalb deines Zimmers von dir lösen. Unseren maximalen Abstand müssen wir zwar trotzdem einhalten, aber es ermöglicht mir eine sehr viel größere Freiheit.“

Daran hatte Aiden noch gar nicht gedacht. Auf diese Weise könnte er Reel einfach mit in die Stadt nehmen und dieser konnte sich dort ungeachtet der anderen Menschen um sie herum frei bewegen, solange er in Aidens Nähe blieb.

„Lass uns das morgen mal ausprobieren.“ Reel klang aufgeregt. Die Aussichten auf ein weiteres Stückchen Freiheit beflügelten ihn. Aiden war sich nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Andererseits sah Reel nicht so aus, als würde er sich davon abbringen lassen und Aiden hatte eh nichts besseres vor, also gab er seinem Dämon nach und betrachtete dessen vor Aufregung leuchtenden, roten Augen.

Die fabelhafte Welt des Aiden

„Und was machen wir heute?“, fragte Aiden und Reel lächelte ihn wissend an.

„Naja was heute Nacht passiert, ist ja klar.“ Reel setzte sich wieder dicht neben Aiden auf das Bett und lehnte sich zu ihm hinüber während er sprach. Lasziv ließ er dabei seine Finger über Aidens empfindlichen Hals gleiten, was diesem einen Schauer über den Rücken und Angst in die Augen jagte. Reel lachte auf.

„Du wirst für mich Klavier spielen. Oder hast du unseren Deal schon vergessen?“ Aiden stockte. Natürlich. Aiden hatte es ihm versprochen. Was sonst hätte Reel auch meinen können? Der Dämon erfasste Aidens Gedanken sofort und grinste ihn wissend an, was Aiden eine leichte Röte ins Gesicht trieb.

„Ach, du bist doof.“ Doch Reel grinste ihn nur weiter an.

„Und bis dahin können wir ja mal ausspannen. Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet in meinem Leben mal Schulprüfungen ablegen zu müssen und heute ist schließlich der erste Tag, an dem wir wieder frei haben.“

„Du willst 'Tintenherz' weiterlesen, oder?“ Ertappt ließ sein Dämon seine Reißzähne in einem frechen Grinsen aufblitzen. Aiden musste lachen und war ein wenig stolz darauf Reel mittlerweile so gut einschätzen zu können. Dieser griff nach dem Gummiband auf dem Nachtschrank, band sich die Haare zurück und nahm sein Buch zur Hand.

Aiden schnappte sich seinerseits seine PS Vita und setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand aufs Bett. Auf Reels auffordernden Blick hin streckte er seine Beine aus und ermöglichte ihm so seinen Kopf auf Aidens Schoß zu legen.
 

So verbrachten sie mehrere Stunden, bis Aiden Reel wieder aufscheuchen musste.

„Reel, meine Beine sind eingeschlafen.“ Widerwillig setzte sich der Angesprochene auf und sah ihn an. Dieses flammende Rot fing Aidens Blick einfach jedes Mal.

Bis Aiden seine Beine endlich wieder spüren konnte, hatte sich Reel bereits auf den Bauch gelegt und las weiter.

Aiden betrachtete ihn eine kurze Weile, konnte dem Drang jedoch nicht widerstehen. Vorsichtig zog er an dem dünnen Gummiband, welches Reels lange Haare notdürftig zusammenhielt. Der Dämon bemerkte das zwar sofort, ließ ihn jedoch gewähren. Aiden öffnete den Zopf und ließ erneut die schwarzen Strähnen zwischen seine Finger gleiten.

Ein Grinsen unterdrückend fing er an sie zu verflechten. Als er noch zuhause gewohnt hatte, hatte Aiden oft die Haare seiner Schwester geflochten. Mellie war traurig gewesen, weil die anderen Mädchen in ihrer Klasse so tolle Frisuren trugen, also hatte sich Aiden mit ihr hingesetzt und es geübt. Ihre Mutter verließ das Haus immer schon vor ihnen und hatte keine Zeit um Mellie die Haare zu machen und um sie selbst zu flechten war sie damals noch zu jung gewesen.

Nun flocht er Reel einen filigranen Kranz, der seine Haare zurückhielt.

Nur noch mit dem Gummiband fixieren und ... ein leises Schnalzen ertönte. Unglücklich sah Aiden das zerrissene Band an und Reel rollte nur mit den Augen.

„Entschuldigung.“ Ohne Halt durch das Gummiband oder Aidens Finger fielen ihm die Haare wieder ins Gesicht zurück.

„Schon gut, Sunshine. Ich bin ja vorher auch ohne ausgekommen.“ Mit einem Seufzer setzte er sich wieder auf und fuhr seinerseits Aiden durch die Haare. „Mach dir nichts draus.“ Den Rest des Tages strich sich Reel immer und immer wieder die Haare zurück und Aiden fühlte sich jedes Mal schlecht dabei.

Zwischendurch verwandelte Reel sich auch ab und an mal in seine menschliche Gestalt und nach einiger Zeit wieder zurück. Er schien das morgen wirklich unbedingt mal in der Öffentlichkeit ausprobieren zu wollen, daher übte er nun fleißig.
 

Es war Mitternacht – Nachtruhe. Alle Schüler, die das Internat nicht gleich am ersten Ferientag verlassen hatten, befanden sich seit mindestens zwei Stunden auf ihren Zimmern. Ungeduldig saß Reel auf dem Schreibtisch und ließ die Beine baumeln, während Aiden in seine dunkle Jeans und ein schwarzes Shirt schlüpfte. Noch die schwarzen Turnschuhe dazu und er war fertig. Ein Deal ist ein Deal, also würde er heute Nacht für Reel Klavier spielen.

Der Dämon sprang vom Tisch auf und stellte sich neben ihn an die Tür.

„Nur keine Angst, Sunshine. Das wird lustig, glaub mir.“ Reel schien sich tatsächlich richtig auf ihre Nacht-und-Nebel-Aktion zu freuen und Aiden ließ sich ein wenig davon anstecken. Nachts durch das Internat zu schleichen war eine typische Mutprobe, die innerhalb der Ferien auch weniger schwer bestraft wurde. Er wartete darauf, dass Reel in seinen Körper überging, doch stattdessen schloss dieser die Augen und nahm seine menschliche Form an – abgesehen von den Augen, was Aiden auf eine gewisse Art freute.

Auf Aidens fragenden Blick hin antwortete Reel nur: „Ich will ja auch was von dem Spaß haben“, und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
 

Nachdem er kurz an der Tür gelauscht hatte, ergriff er Aidens Hand und zog ihn mit sich in den Flur. Nahezu lautlos schlich er voran und Aiden versuchte es ihm gleichzutun – mit mäßigem Erfolg. Aiden konnte ohne die Lichter in dem fensterlosen Flur kaum etwas erkennen und ließ sich quasi blind von Reel durch die Gänge führen.

Vor der Treppe blieb Reel stehen und legte Aidens freie Hand auf das Geländer. Die andere hielt er weiterhin fest und führte ihn hinunter. Langsam durchquerten sie die Eingangshalle in der jedes noch so leise Geräusch laut widerhallte und Aiden einen Schauer über den Rücken jagte.

Vorsichtig tastete er sich vor und verließ sich darauf, dass Reel ihn in die richtige Richtung navigierte. Die Echos seiner Schritte wurden leiser, woraus Aiden schlussfolgerte, dass sie die Halle hinter sich gelassen und den vorderen Teil des Unterrichtstrakts „Süd“ betreten hatten.

Ihr Ziel – die Musikräume – lagen ganz hinten in diesem Trakt.

Ab jetzt wurde es etwas knifflig. In diesen Fluren gab es Bewegungsmelder für die Deckenbeleuchtung und wenn sie einen von denen auslösten, würde der gesamte Flur und die Eingangshalle in Flutlicht getaucht werden, was dann schwer nicht zu bemerken wäre.

Reel hatte Aiden versichert sich die Position jedes Melders gemerkt zu haben und auch Aiden selbst kramte angestrengt in seinem Gedächtnis und versuchte sich an die kleinen weißen Kästchen an den Wänden zu erinnern.

Mit bedachten Bewegungen schlichen sie langsam an der Wand entlang und duckten sich unter den Meldern hinweg. Zu ihrem Glück hatte man sie nur im vorderen Trakt verbaut und so konnten sie im hinteren Trakt wieder nochmal laufen. Sehen konnte Aiden zwar immer noch nichts, aber Reel führte ihn zielsicher durch die Flure.

Der Weg zu den Musikräumen war Aiden noch nie so lang vorgekommen, doch endlich legte Reel Aidens Hand auf eine Türklinke. Vorsichtig drückte er sie runter und musste feststellen, dass sie verschlossen war. Natürlich. Seit wann ließen die Lehrer auch bitte Ihre Fachräume unverschlossen? Vor allem während der Ferien.
 

Aiden spürte wie Reel seine Hand losließ und neben ihm in die Hocke ging, dann hörte er einige sehr leise metallische Geräusche und schließlich ein etwas lauteres Klicken.

Ein Druck auf die Klinke und die schwere schalldichte Tür schwang auf. Reel hatte das Schloss mühelos geknackt und so konnten sie nun den Raum betreten. Sorgfältig schloss Aiden die Tür hinter ihnen. Der Raum war zwar schalldicht, aber dass galt nur solange auch alle Türen und Fenster geschlossen waren.

Durch die mehrfach-verglasten Fenster fiel das Mondlicht und ermöglichte es Aiden endlich wieder etwas zu sehen. Schnell gewöhnten sich seine Augen an das schwache Licht und er steuerte zielsicher auf den großen Flügel in der Ecke das Raumes zu. Er war so ausgerichtet, dass der Mondes direkt die Tasten beschien, doch Aiden hätte diese zur Not sogar blind gefunden.

Die Jahre in denen er Klavier gelernt hatte, hatte er quasi seine gesamte Freizeit an dem Instrument verbracht und es fühlte sich erstaunlich gut an jetzt wieder hier zu sitzen.

Sanft strich er über die elfenbeinfarbenen Tasten und ließ mit einem gefühlvollen Anschlag einen zarten Ton erklingen. 'Na dann hoffen wir mal, dass dieser Raum wirklich schalldicht ist' dachte er bei sich, atmete einmal tief durch und begann dann sein Lieblingsstück zu spielen.
 

Reel beobachtete wie Aiden Platz nahm und seine Finger routiniert über die Tasten gleiten ließ. Es hatte etwas magisches wie sein Lieblingsspielzeug im fahlen Mondlicht vor dem Instrument saß. Schweigend nahm Reel wieder seine dämonische Gestalt an. Mit eingeschränkten Sinnen und Fähigkeiten durch die Flure zu schleichen hatte ihm Spaß gemacht und ihn an früher erinnert, doch Aidens Klavierspiel wollte er im Vollbesitz seiner dämonischen Sinne wahrnehmen.

Die ersten Töne erklangen und zauberten Reel unverwandt ein Lächeln auf die Lippen. Das Hauptthema aus 'Die fabelhafte Welt der Amelie' gehörte zu seinen absoluten Favoriten. Der Pianist, der einst mit Reel verflucht worden war, hatte das Stück oft für ihn gespielt um sich mehr Lebenszeit zu erkaufen. Der Dämon hatte eine Schwäche für Musik und das hatte jenes Opfer gut auszunutzen gewusst.

Doch Aiden spielte nicht um sein Leben. Er spielte auch nicht wirklich für Reel. Er spielte für sich selbst. Reel konnte deutlich sehen, wie sehr Aiden im Spiel aufging und alles um sich herum vergaß. Andächtig schloss er die Augen und lauschte der verführerischen Melodie.
 

„Warum hast du damals wirklich mit dem Klavierspielen aufgehört?“, fragte er nachdem der letzte Ton verklungen war.

Aiden sah auf die elfenbeinfarbenen Tasten hinunter und seufzte leise.

„Mein Onkel. Ich habe angefangen Klavier zu spielen und bin ziemlich schnell richtig gut darin geworden. Damit war ich der einzige in der Familie der ein Instrument spielte. Bei einer Familienfeier erzählte dann mein Onkel stolz, dass er vor einigen Wochen auch angefangen hätte Klavier-Unterricht zu nehmen.

Natürlich haben ihn alle gedrängt etwas vorzuspielen. Er setzte sich an mein Klavier und begann ohne Noten Stücke zu spielen, die ich erst nach monatelangem Üben beherrscht habe.

Er lernte es viel schneller als ich. Ich war nichts Besonderes mehr. Ich hatte schon viel länger Unterricht, hatte in jungem Alter damit angefangen und übte täglich, und trotzdem überflügelte mich mein Onkel ziemlich schnell. Das hat mir die Freude am Spiel kaputt gemacht und ich hab einfach aufgehört.

Dann konnte mich keiner mehr mit ihm vergleichen. Seitdem habe ich kein Klavier mehr angefasst.“ Niedergeschlagen blickte Aiden zu Boden.

„Du bist ein absoluter Idiot, Sunshine.“ Aiden war irritiert. Er hatte sich Trost von Reel erhofft, doch stattdessen schien er sogar sauer auf ihn zu sein und wurde beim Sprechen immer lauter.

„Wie kann man nur ein so erbärmlich kleines Selbstvertrauen haben? Du liebst das Klavierspiel – das sieht man dir an und du bist verdammt gut darin.

Du hast Jahre lang kein Klavier angefasst und spielst hier 'Die fabelhafte Welt der Amelie' nahezu fehlerfrei und ohne Noten. Warum lässt du dir das von deinen Minderwertigkeitskomplexen kaputt machen?“ Überrascht sah Aiden zu ihm auf. Die roten Augen loderten wütend.

„Aber...“

„Kein 'aber'! Wenn einem etwas wichtig ist, dann muss man darum kämpfen und es nicht einfach so aufgeben! Außerdem ist es doch völlig egal ob er besser ist als du oder nicht. Es wird immer jemanden geben der besser ist. So ist das Leben – mal gewinnt man und mal verliert man alles. Wichtig ist, dass man sich nicht kampflos ergibt. Aber du hast einfach aufgegeben und dich von anderen definieren lassen.“ Aiden verstand nicht, warum das Reel so viel bedeutete, doch Unrecht hatte er nicht. Aiden hatte es noch nie aus dieser Perspektive betrachtet und nun kam er sich furchtbar schwach und erbärmlich vor.

Reel hockte sich vor ihm auf den Boden und sah ihn von unten an. Sein Blick und auch seine Stimme waren weich und er sprach nun wieder leiser.

„Tut mit leid, dass ich grade so aus der Haut gefahren bin, aber so was macht mich einfach wütend. Warum machst du deine Leidenschaft an Anderen fest? Reicht es nicht, dass es dir Spaß macht? Klar ist es cool, wenn man der Beste ist oder der Einzige der etwas kann, aber um Erfolg geht es dir beim Spielen doch eigentlich gar nicht, oder?“ Schuldbewusst schüttelte Aiden den Kopf.

Er liebte es am Flügel zu sitzen und zu spielen, und er war oft traurig darüber gewesen es nicht mehr zu tun. Er hatte es sich selbst verboten und das alles nur aus gekränktem Stolz und seiner eigenen Minderwertigkeitskomplexe.

„Na na. Kein Grund zu weinen.“ Sanft strichen Reels Finger über seine Wange.

Aiden hatte gar nicht bemerkt, wie sich die Tränen ihren Weg gebahnt hatten, doch nun saß er da und weinte. Schon wieder.

Behutsam nahm Reel ihn in den Arm und strich ihm zärtlich über den Kopf. Innerlich ohrfeigte er sich dafür Aiden schon wieder zum weinen gebracht zu haben.

„Tut mir leid, Sunshine. Ich hab mich in Rage geredet. Du hast wirklich wunderschön gespielt.“ Aiden schüttelte den Kopf.

„Du hast ja recht“, gab er mit versucht beherrschter Stimme zurück und löste sich wieder von Reel. Mit dem Handrücken wischte er seine Tränen weg und sah ihn direkt an.

„Danke, Reel.“ Dieser seufzte nur und strich Aiden noch einmal liebevoll über den Kopf.

„Du bist schon seltsam.“
 

Nachdem Aiden sich wieder im Griff hatte, machten sie sich auf den Rückweg.

Reel verriegelte die Tür hinter ihnen wieder und navigierte Aiden sicher durch die Flure.

Allerdings schienen die häufigen Verwandlungen ihren Tribut zu fordern. Reel war erschöpft, wurde unkonzentriert und bemerkte seinen Fehler zu spät.

Der Gang wurde in plötzliches Flutlicht getaucht, was sowohl ihn als auch Aiden für einige Augenblicke blendete. Nun blieb ihnen nur noch die Flucht nach vorn.

Schnell zog Reel Aiden hinter sich her in die Haupthalle und die Marmorstufen hoch zum Wohntrakt der Jungen.

In der Ferne konnte er hören, wie eine Tür schwungvoll aufgeschlagen wurde und eine strenge Stimme durch den Gang hallte. Fluchtartig stürzten sie durch den dunklen Flur von dem die Zimmer abgingen und erreichten endlich ihre Tür. Kaum war diese hinter ihnen ins Schloss gefallen, sahen sie einander an und mussten unwillkürlich lachen.

„So viel zu 'Ich hab mir das alles gemerkt'“, kam es frech von Aiden. Reel ließ sich – noch immer lachend – mit dem Rücken gegen die Tür sinken.

„Ich bin müde, okay?“ Ihr kleiner Ausflug war etwas anders verlaufen als geplant, aber erfolgreich war er dennoch gewesen.

Aiden zog sich sein Schlafzeug an und ging sich die Zähne putzen. Glücklicherweise konnte er morgen ausschlafen, denn es war schon weit nach Mitternacht.

Als er das Bad wieder verließ, lag Reel zusammengerollt auf seinem Bett. Aiden musste schmunzeln und betrachtete eine Weile das Gesicht seines schlafenden Dämons. Einzelne Strähnen seines schwarzen Haares fielen ihm ins Gesicht und Aiden strich sie behutsam zurück. Reel wirkte nun erstaunlich jung – nur wenig älter als Aiden selbst – höchsten 20 vielleicht 21.

Sanft rüttelte er an seiner Schulter, erhielt jedoch keine Reaktion. Nach kurzem Zögern legte er sich einfach zu ihm ins Bett und schlüpfte unter die Decke, was sich als recht schwierig herausstellte, da Reel auf dieser eingeschlafen war. Eine Zeit lang beobachtete Aiden ihn noch, dann schlief auch er endlich ein.
 

Sie schliefen bis mittags und Aiden war der erste, der die Augen wieder aufschlug.

Reel hatte sich im Schlaf nicht nur an ihn gekuschelt, sondern ihn vollkommen vereinnahmt. Sein Kopf lag auf Aidens Schulter, seine Arme umklammerten eisern seinen Oberkörper und eins seiner Beine lag quer über Aidens Hüfte. Aber eigentlich wunderte ihn das schon gar nicht mehr.

Zärtlich fuhr er Reel durch die Haare bis auch dieser endlich seine roten Augen öffnete und Aiden ansah.

„Guten Morgen, Reel.“

„Morgen, Sunshine.“ Schlaftrunken kuschelte er sich an Aiden und wartete darauf, dass dieser ihm den Nacken kraulte. Mit einem Schmunzeln gab der dem stummen Wunsch nach.

„Die Verwandlung muss ja wirklich anstrengend sein. Du bist sofort eingeschlafen.“ Verschlafen nuschelte Reel seine Antwort in Aidens Shirt.

„Dich will ich mal sehen, wie du das Erscheinungsbild deines Körpers nur durch Willenskraft änderst.“

„Ich sag ja schon gar nichts mehr.“ Nach einer Weile versuchte er Reel zum Aufstehen zu bewegen, was dieser solange mit einem unterschwelligen Knurren quittierte, bis Aiden ihn daran erinnerte, dass sie heute in die Stadt gehen und Reels neue Fähigkeit ausprobieren wollten.

Endlich konnte sich Aiden aus der Umklammerung befreien und ins Bad verschwinden. Nach einem kurzen Abstecher in den Speisesaal, ging es dann zur Bushaltestelle und in die Innenstadt.
 

Dort suchte sich Aiden eine verlassene Seitengasse und Reel löste sich von ihm. Langsam nahm er wieder seine menschliche Gestalt an und die falschen Augen rückten an die Stelle der glühend-roten.

Reel war aufgeregt. Endlich konnte er sich mal wieder – mehr oder weniger – frei unter Menschen bewegen, also griff er eilig nach Aidens Hand und zog ihn mit sich. Sein Ziel war der Laden für Künstlerbedarf, in den er Aiden schon einmal geschickt hatte.

Er brauchte nichts Neues, aber er wollte einfach einmal selbst in den Laden gehen. So richtig als Mensch und nicht nur als Aidens ungesehener Begleiter.

Aiden kannte diese Art von Verhalten von seinem Dämon nur zu gut und eigentlich machte es ihm inzwischen auch nicht mehr viel aus, aber die irritierten Blicke der Passanten erinnerten ihn wieder daran, dass es für zwei Jungs nicht unbedingt üblich war händchenhaltend durch die Stadt zu laufen. Kurz überlegte er sich von Reel loszureißen, aber dafür kannte er ihn einfach viel zu gut.

Aidens Widerstand würde ihn nur umso mehr beflügeln und dann konnte er sich auf was gefasst machen. Also ertrug er das unbehagliche Gefühl von allen angestarrt zu werden und achtete darauf niemandem in die Augen zu sehen.

Der Laden war zu Aidens Erleichterung recht leer und Reel löste sich auch bald freiwillig von ihm um beide Hände frei zu haben. Eifrig untersuchte er verschiedene Produkte und probierte einige Stifte aus. Mit seinem begeisterten Gesichtsausdruck erinnerte er Aiden an ein Kind im Spielzeugladen und so verbrachten sie eine ganze Weile in dem Laden ohne etwas zu kaufen. Für Reel war es eine Erfahrung, die er so nie hatte sammeln können.

Die Fähigkeit sich unter Menschen bewegen zu können, eröffnete ganz neue Möglichkeiten für ihn, von denen er niemals gedacht hatte, sie noch zu bekommen. Aiden ertrug das Spiel ohne ein Anzeichen von Unmut. Er konnte es Reel nicht verübeln und seinen Dämon so zu sehen, hatte schon etwas unterhaltsames für ihn.
 

Irgendwann konnte Aiden dessen Erschöpfung immer deutlicher spüren und er begann sich Sorgen um ihn zu machen.

„Reel, du hältst die Verwandlung jetzt schon seit über drei Stunden aufrecht. Du solltest langsam Schluss machen.“

„Aber...“ Reels Unterlippe bebte leicht und seine viel zu dunklen Augen blickten Aiden unglücklich an. Er wollte dieses Stück Freiheit nicht schon wieder aufgeben müssen, aber er wusste selbst, dass Aiden recht hatte.

„Okay, Sunshine.“ Wieder ergriff er Aidens Hand und ließ sich von ihm aus dem Laden führen. Auf dem Rückweg hielt Aiden noch an einem Drogeriemarkt und kaufte eine Packung schwarzer Haargummis.

„Als Entschädigung für das, was ich zerrissen hab.“ Reel lachte leise auf und drückte dankbar seine Hand.

Noch immer verfolgten sie überall die argwöhnischen Blicke. Reel allein wäre mit seinem unkonventionellen Erscheinungsbild schon ein Blickfang gewesen, aber die Tatsache, dass er auch noch dauerhaft Aidens Hand hielt und ihn 'Sunshine' nannte, brachte ihnen eine Menge ungewollter Aufmerksamkeit ein und Aiden betete inständig, dass niemand aus dem Internat ihn so sah.

An einer Fußgängerampel mussten sie warten und Reel stützte erschöpft seinen Kopf an dem von Aiden ab. Unauffällig rückte die Frau, die bis eben noch direkt neben ihnen gestanden hatte, einige Schritte zur Seite und auch ein junger Mann hinter ihnen nahm etwas Abstand.

Aiden lief genauso rot an wie das Ampelmännchen vor ihm, zwang sich jedoch dazu Reel nicht von sich zu stoßen. Zum einen wäre das mehr als unfair ihm gegenüber gewesen und zum anderen genoss er dessen Nähe ja für gewöhnlich auch.

Endlich wechselte die Ampel auf Grün und die Menschentraube setzte sich in Bewegung.

Nur noch hier um die Ecke und dann konnte Reel sich endlich in seinem Körper ausruhen. Schwungvoll bog Aiden mit Reel an der Hand rechts ein – und prallte zurück.

Wenn die Gefühle Tennis spielen

Aiden war ungebremst in einen bulligen Typen mit kurzer Stoppelfrisur und Jeansjacke gerannt, der ihn jetzt wütend anfunkelte.

„Entschuldung.“ Aiden wollte sich umdrehen und wieder gehen doch der Mann hielt ihn am Kragen fest.

„Nicht so schnell, du kleines Miststück.“ Grob wurde Aiden zurück gezogen und in die Gasse geschubst. Reel fing ihn auf, bevor er stolpern und stürzen konnte, und erfasste schnell ihre Lage.

In der Gasse standen noch vier weitere junge Männer mit ähnlichem Aussehen und Bierflaschen in den Händen.

„Na was haben wir denn hier?“ Bedrohlich umringten sie die beiden. Ein paar Schlägertypen, die Ärger suchten und bei der Gelegenheit vielleicht gleich noch etwas Geld abgreifen wollten, wie Reel feststellte.

Sofort schob er Aiden schützend hinter sich und dieser klammerte sich an dessen Ärmel fest.

„Zwei kleine Schwuchteln.“ Der Mann von der Ampel hatte sich soeben auch noch dazu gesellt. Also sechs gegen zwei – ihre Chancen standen mal wieder großartig.

Reel knurrte leise und analysierte ihre Gegner: der Typ mit dem grünen Shirt zog sein linkes Bein leicht nach, der mit der hässlichen Hose trug eine Sonnenbrille obwohl es in der Gasse recht düster war (konnte dadurch also schlechter sehen) und außerdem trug der mit den vielen Aufnähern an der Jacke vermutlich ein Messer in der Hosentasche.
 

Der in Grün kam als Erster auf sie zu und wollte nach Aiden greifen. Instinktiv trat Reel seitlich nach dessen schwachem Bein. Dieses gab nach, der Mann knickte ein und bekam als Bonus auch noch Reels Knie vors Kinn geknallt.

Reel war erschöpft, in der Unterzahl und hatte Aiden zu beschützen, daher spielte er nun nicht lange mit seinen Gegnern herum. Das Überraschungsmoment ausnutzend ging er zum nächsten Angriff über. Der Typ, bei dem Reel ein Messer vermutete, war am gefährlichsten, also musste er ihn als nächstes ausschalten.

Dieser zog auch sofort ein silbernes Klappmesser aus der Tasche und stürzte auf ihn los. Mit zwei koordinierten Bewegungen und einem geschickten Schlag brach er ihm den rechten Arm und das Messer fiel klirrend zu Boden.

In der nächsten Bewegung nahm Reel dieses auf und führte es in einem gekonnten Zug über die Brust des Mannes. Unaufhaltsam quoll das Blut aus dem Schnitt hervor und verfärbte die Jacke und deren Aufnäher rot.

Er war nicht tief genug um ernsthaften Schaden zu verursachen, aber tief genug um ihn fürs erste unschädlich zu machen und eine hübsche Narbe zu hinterlassen.

Nummer zwei und drei griffen ihn gleichzeitig an. Geschickt ließ Reel ihre Angriffe ins Leere laufen und nutze die riesigen Lücken in deren Deckung um dem einen gewaltsam das Schlüsselbein zu brechen und ihm anschließend des Knie so heftig in die Magengrube zu rammen, dass dieser sich übergeben musste.

Der andere ging nun mit einer leeren Bierflasche auf ihn los, doch Reel wich auch diesem Angriff mühelos aus, drehte seinem Angreifer den Arm auf den Rücken, bis dieser die Flasche fallen lassen musste, und brachte ihm einen Tritt in die Kniekehle bei. Abschließend rammte er dessen Kopf schonungslos gegen die Hauswand neben ihm, woraufhin dieser bewusstlos zusammensank.

„REEL!“ Er fuhr herum. Die beiden übrigen Männer hatten sich an Aiden vergriffen und einer von ihnen bedrohte Reels Lieblingsspielzeug mit einem weiteren Messer, ähnlich dem das Reel grade erst erbeutet hatte und welches er nun in einer Kurzschlussreaktion warf.

Zielsicher landete die glänzende Klinge in der Schulter des Mannes mit Sonnenbrille, der Aiden von hinten festhielt. Schmerzerfüllt heulte er auf, als die Klinge sich bis zum Heft in dessen Fleisch versenkte. Zeitgleich verlor Reel nun sämtliche Selbstbeherrschung.
 

Ungezügelt flammte der tiefschwarze Schattenumhang um seine Schultern auf und lodernd rote Augen stachen aus dem blassen Gesicht hervor.

Ein einziger blitzschneller Tritt befördert den letzten Unverletzten – den Typen von der Ampel – mit nun gebrochenen Rippen an die Hauswand hinter ihm. Besitzergreifend umschlang Reel Aidens Körper und auch sein Schatten tat es ihm gleich und hüllte den Kleineren fast vollständig ein. Ein bedrohliches Knurren entfuhr Reels Kehle und wer von den Männern noch in der Lage dazu war, ergriff nun panisch die Flucht.

Doch Reels Anspannung ließ nicht wirklich nach. Noch immer drückte er Aiden fest an sich und dieser begann nun beruhigend auf seinen aufgebrachten Dämon einzureden. Vorsichtig griff er über seine Schulter hinweg um Reels Nacken zu erreichen und kraulte ihn geduldig.

Nach und nach schien dieser sich wieder zu beruhigen und ließ seinen Kopf auf Aidens Schulter sinken.

Wenig später löste er sich in schwarzen Nebel auf und verschwand in Aidens Körper.

Dieser konnte die Erschöpfung seines Dämons nun noch deutlicher spüren und auch so etwas wie Angst. Keine Angst vor den Männern – die hatten keinerlei Chance gegen ihn gehabt – sondern Angst um Aiden. Der starke Beschützerinstinkt, den Reel ihm gegenüber immer wieder bewies, freute Aiden insgeheim mehr als er sich selbst eingestehen wollte.

„Danke, Reel“, flüsterte er ihm zu, erhielt jedoch keine wirkliche Antwort. Reel schlief zwar nicht, aber so richtig wach war er auch nicht.

Mit schnellen Schritten lief er an einem bewusstlosen Schläger vorbei, der von seinen Kameraden einfach zurückgelassen worden war, und steuerte die Bushaltestelle an.

Im Bus ließ Aiden den Überfall noch einmal Revue passieren. Reel hatte problemlos vier bewaffnete Männer ausgeschaltet und er selbst konnte sich nicht mal lange genug vor zwei Typen verteidigen, bis Reel ihn retten kam. Immer wieder wurden ihm seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten schmerzlich bewusst.
 

Wieder im Zimmer angekommen lief Aiden sofort zum Bett, auf dem sich Reel auch gleich materialisierte, zusammenrollte und einschlief. Leise kniete sich Aiden vors Bett, stütze sich mit den Armen auf der Bettkante ab und beobachtete wie sich Reels Brustkorb gleichmäßig hob und senkte. Zärtlich strich er ihm die Haare aus dem Gesicht, die in Reels Atem leicht hin und her wippten.

Ein leises Seufzen unterdrückend fuhr er ihm mit den Fingern über die blasse Wange.

Aiden konnte seine Gefühle für den launischen Dämon nicht leugnen, egal wie sehr er es auch versuchte.

Und das obwohl er ganz genau wusste, dass er für ihn nur ein Spielzeug war – zwar sein Lieblingsspielzeug, aber eben nur ein Spielzeug. Für ihn war er nur Eigentum und trotzdem fühlte Aiden sich bei ihm so wohl wie sonst bei niemandem.

Warum musste er ausgerechnet für Reel so empfinden? Das machte alles nur noch komplizierter. Mal ungeachtet der Tatsache, dass er ein Dämon war, war er auch noch ein Mann und lebte schon viel länger als Aiden und war schrecklich launisch und besitzergreifend.

Hatte Aiden jetzt etwa Stockholm-Syndrom?

Ganz abgesehen davon schien Reel sowieso nur für die Schönheit in seinem Skizzenbuch ernsthaft Augen zu haben – mit Aiden spielte er nur. Das war ihm spätestens seit dem Zwischenfall klar, als er ungefragt das Buch aufgeschlagen und sofort eine von Reel verpasst bekommen hatte.

Sehnsüchtig ruhten seine Augen auf dem blassen Gesicht. Schweren Herzens riss er sich von dessen Anblick los und schnappte sich seine Konsole um sich abzulenken.

Bedacht darauf Reel nicht zu wecken, machte er es sich neben ihm auf dem Bett bequem und begann zu spielen.

Irgendwann zog Reel Aidens Aufmerksamkeit wieder auf sich. Er hatte im Schlaf nach ihm gegriffen und vergrub nun seine schmalen Finger in Aidens T-Shirt. Dieser musste leicht schmunzeln und kraulte ihn als Reaktion darauf liebevoll hinterm Ohr, woraufhin Reel sich noch etwas enger an ihn kuschelte.
 

Auf das Abendessen musste Aiden nun leider verzichten. Er wollte Reel nicht wecken, also angelte er erneut etwas aus seinem Süßigkeiten Vorrat. Lukas hatte ihm alles Essbare, was er noch im Zimmer hatte, zur Verfügung gestellt damit es nicht schlecht wurde und Aiden war nun sehr dankbar dafür. Sein eigener Vorrat war während der Prüfungszeit beträchtlich geschrumpft und wäre heute ansonsten wohl zur Neige gegangen.

Zum Duschen musste er dann schließlich doch Reels Finger aus seinem Shirt lösen – oder zumindest versuchte er das. Selbst im absoluten Tiefschlaf machte er es Aiden nicht leicht und so weckte er ihn nach einigen Minuten doch ungewollt auf. Verschlafen rieb er sich die roten Augen und entblößte seine Reißzähne beim Gähnen.

„Ich geh nur duschen. Schlaf weiter“, beruhigte Aiden ihn und verschwand im Badezimmer.
 

Als er es wieder verließ, saß Reel auf dem Fensterbrett und betrachtete den Sternenhimmel. Sobald er jedoch Aiden bemerkte und dieser sich zum Bett bewegte, schwang er sich von der Fensterbank und gesellte sich wieder zu ihm. Nonchalant schlang er seine Arme um Aiden und schmiegte sich müde an ihn.

„Geht's dir gut? Hast du bei dem Vorfall in der Stadt was abbekommen?“ Aiden ließ sich auf die Umarmung ein und sog Reels Geruch tief ein bevor er antwortete.

„Mir geht’s gut. Ich bin nur ein wenig frustriert.“ Reel stutzte.

„Warum das denn?“

„Ich bin einfach so schwach. Ohne dich bin ich total wehrlos und dir dazu auch noch ein Klotz am Bein. Das ärgert mich.“ Aiden hatte schon recht. Für Reel wäre es weitaus einfacher, wenn Aiden sich zumindest ein bisschen verteidigen könnte und dann würde er sich auch weniger Sorgen um ihn machen.

„Ich bringe es dir bei“, entschied Reel daher kurzerhand. Aiden löste sich von ihm und sah ihn irritiert an.

„Das Kämpfen meine ich. Ich werd's dir beibringen. Morgen früh fangen wir an.“ Aiden wollte etwas erwidern, aber ihm fiel gar kein Grund dafür ein, also gab er es auf und ließ stattdessen seinen Kopf wieder gegen Reels Brust sinken. Aufmunternd fuhr dieser ihm durch die braunen Haare und sog seinen Geruch tief ein..
 

Den Rest der Nacht verbrachte Reel entweder wach oder in nur unruhigem Schlaf. Aiden war in seinen Armen eingeschlafen und sein zu großes Schlaf-Shirt war ihm dabei gefährlich weit von der Schulter gerutscht. Okay, vielleicht hatte Reel dem auch ein wenig nachgeholfen, aber wer wird sich dann an solchen Kleinigkeiten aufhängen? Vorsichtig schob er seine Hand vom Saum her unter den Stoff und legte so ein gutes Stück von Aidens Rücken frei.

Reel biss sich fest auf die Unterlippe bis er sein eigenes Blut schmeckte und zog das weiße Shirt schnell wieder zurecht. 'Verdammt. Corvo, wo bist du, wenn man dich mal braucht?' Selbstbeherrschung war nie eine von Reels Stärken gewesen, aber in diesem einen Zusammenhang hatte er mehr als genug Übung in Zurückhaltung.

Reel wollte Aiden. Das wusste er nun schon seit einiger Zeit und normalerweise nahm sich Reel was auch immer er wollte – so hielt er es schon sein Leben lang. Aber DAS war die eine Sache, zu der er niemals jemanden zwingen wollte.

Also hielt sich Reel zurück und konzentrierte sich auf Aidens unschuldiges Gesicht. Gebrochene blaue Augen tauchten in seinem Geist auf und erinnerten ihn an Nächte, die er am liebsten für immer aus seinem Gedächtnis brennen wollte. Nein, diesen gebrochenen Ausdruck wollte er nie wieder sehen – und schon gar nicht in Aidens Augen. Behutsam zog er die Decke höher und um Aidens Schultern.
 

Am nächsten Morgen machte Reel sein Versprechen wahr und wies Aiden an in bequemer Kleidung in den Wald zu gehen, der an das Internat angrenzte. Als sie diesen ein Stück weit betreten hatten, materialisierte sich Reel und schritt neben Aiden her bis sie eine Lichtung mit halbwegs ebenem Grund fanden. Dann begann Reel mit dem Unterricht.

„Du bist klein, also gibst du ein schlechtes Ziel ab. Außerdem bist du untrainiert und unerfahren, daher solltest du sowieso davon absehen selbst anzugreifen. Also bringe ich dir erst mal bei wie du ausweichst und blockst, damit du lange genug durchhältst.“ Reel ließ seinen Schattenumhang verschwinden um Aiden einen besseren Blick auf seinen Körper zu ermöglichen und ging in Position. Die Beine in leicht versetzter Schwert-Stellung für optimalen Halt und Beweglichkeit und die Arme zum Schutz erhoben. Aiden tat es ihm gleich.

„Du stehst nicht richtig.“ Ein grober Stoß von der Seite und Aiden strauchelte.

„Wenn deine Hacken auf einer Linie liegen, bist du seitlich leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Stell sie etwas versetzt zueinander auf. Und die Arme höher. So wie du sie jetzt hältst, hast du eine riesige Lücke in deiner Verteidigung und zwar genau vor deinem Gesicht.“ Reel korrigierte Aidens Haltung.

„Das könnte dir etwas komisch vorkommen, weil dir so deine eigenen Hand ein wenig im Weg ist und du dadurch nicht richtig sehen kannst, aber daran gewöhnst du dich.“ Reel nahm ebenfalls wieder die Verteidigungs-Haltung ein und führte ihm nun den Passiv-Block vor.

Dabei schnellen Ober- und Unterarm in einem engen Winkel nach oben um den Kopf vor Schlägen zu schützen. „Wichtig ist, dass du den Arm wirklich eng an den Kopf legst. Ansonsten“ Reel schlug mit der flachen Hand auf Aidens Block-Versuch und machte ihm so seinen Fehler schmerzhaft bewusst. „kriegst du nämlich deinen eigenen Arm mit voller Wucht ins Gesicht.“

Aiden zuckte zusammen und sah Reel leicht verärgert an.

„Du hast einfach viel zu viel Spaß dabei.“ Dieser zeigte ihm als Antwort nur mit einem Grinsen seine Reißzähne und fuhr mit seiner Erklärung fort.

„Außerdem musst du immer bedenken, dass du nicht nur deinen Kopf sondern auch deine Ohren schützt. Ein einfacher Schlag mit der hohlen Hand aufs Ohr reicht aus, um ein Trommelfell zu zerreißen und jemanden unwiderruflich auf dieser Seite taub zu machen.“ Reel deutete die beschriebene Handform und Bewegung an.

„Daher musst du auf einen wirklich engen Winkel zwischen Ober- und Unterarm achten.“ Reel ließ Aiden die Passiv-Blöcke aus beiden Richtungen ein paar mal trocken üben, dann ging auch er wieder in Position.

„Flache Hand – keine hohle Hand! Beide Richtungen. Ich greife an. Du blockst. Verstanden?“ Aiden kontrollierte noch einmal seine Haltung und nickte dann.

Erst langsam, dann immer schneller regneten Schläge von links und rechts auf Aidens Kopf ein. Reel schlug nicht wirklich kräftig zu, aber mit ausreichend Kraft um ihn jeden einzelnen falsch ausgeführten Block deutlich spüren zu lassen.

Nach einer Weile – Aidens Oberarme waren bereits rot und taten ziemlich weh – gönnte Reel ihm endlich eine Pause. Einige Minuten ließ er ihn zu Atem kommen, dann zog er ihn wieder auf die Füße.
 

„Eine Sache machen wir noch, danach entlasse ich dich für heute.“ Reel zwinkerte ihm ermutigend zu und ging in Position. Aiden nahm alle Kraft zusammen, die er noch aufbringen konnte und tat es ihm gleich.

„Wir spielen das gleiche Spiel wie eben, aber dieses Mal darfst du auch angreifen.“

„Also quasi wie Schattenboxen.“ Reel musste bei diesem Wort ein wenig schmunzeln und nickte.

„Genau. Bist du bereit?“ Aiden atmete tief durch und nickte ebenfalls.

Reel verlangte ihm in dieser letzten Übung eine ganze Menge ab. Erbarmungslos nutzte er die Lücken, die durch Aidens eigene Angriffe entstanden und zwang ihn immer wieder sich zu bewegen, indem er ihn umkreiste oder ihren Abstand zueinander veränderte.

Erst als Aiden kräftemäßig an seine Grenzen stieß, brach Reel das Training ab. Völlig am Ende ließ Aiden sich auf einen Baumstumpf sinken.

„Gar nicht mal schlecht für den ersten Versuch“ lobte ihn Reel und Aiden antwortete schwer atmend: „Ich hab dich doch kein einziges Mal richtig getroffen.“

„Darum ging es ja auch gar nicht. Du solltest dich verteidigen und das hast du ganz gut hinbekommen. Du darfst dich nicht mit mir vergleichen. Als Dämon bin ich einem Menschen eh überlegen und viel mehr Übung als du habe ich auch. Du hast dich wirklich gut geschlagen.“ Aufmunternd fuhr er ihm über den Kopf und brachte die braunen Haare noch ein bisschen mehr durcheinander.

„Nächstes mal zeig ich dir, wie man sich aus Griffen um den Hals und die Handgelenke befreit.“ Aiden wollte etwas erwidern, entschied sich jedoch dazu die Luft lieber zu sparen. Reel setzte sich neben ihn ins Gras, lehnte den Rücken gegen den Baumstumpf und den Kopf gegen Aidens Bein. Trotz der Jahreszeit war es hier unter dem dichten Blätterdach noch angenehm kühl. Tief zog Aiden die frische Luft in seine Lungen und genoss die besondere Atmosphäre des Waldes.

Nach einer Weile trieben ihn dann Hunger und der Wunsch zu duschen ins Internat zurück.
 

Als er satt, geduscht und in frischer Kleidung aufs Bett fiel, fühlte er sich so gut wie lange nicht mehr. Reel saß wieder auf dem Schreibtisch und Aiden griff nun nach seinem Handy. Es gab da eine Sache, die ihn schon die ganze Zeit nicht losließ, und so gab er nun „Symptome für Stockholm-Syndrom“ in das Fenster der Google-Suche ein.

Nach ein paar Minuten und vielem Zweifeln änderte er seine Suchparameter dann doch zu „lgbtq+“. Ganz unwissend war er in der Richtung nicht. Seine Tante Bonnie war in der Community aktiv und setzte sich für sie ein, aber so richtig beschäftigt hatte Aiden sich damit nie.

Schnell landete er auf tumblr, scrollte durch einige Posts, las mal auf dieser mal auf jener Website einen Artikel oder einen Blog-Eintrag und stieß auch hin und wieder auf einige Bilder.

An dem Blog eines Jungen, der sich in einen Mitschüler verliebt hatte, blieb er besonders lange hängen. Er schrieb Aiden in vielen Punkten aus der Seele, auch wenn seine Situation mit Reel doch ein ganzes Stück komplizierter war.

Plötzlich nahm er eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahr.

Ohne dass Aiden es bemerkt hatte, war Reel hinter ihm aufs Bett geklettert und sah ihm über die Schulter. Dieser verdeckte nun panisch sein Handy-Display und lief hochrot an. Reel entfuhr ein belustigtes Glucksen und er knuffte Aiden grinsend in die Seiten.

„Nawwww. Das muss dir doch nicht peinlich sein.“ Spielerisch biss er ihm ins Ohr und begann ihn zu kitzeln. Aiden war sehr empfindlich was Kitzeln anging und versuchte sich unter Lachen aus Reels Umarmung zu winden, doch der Dämon hatte viel zu viel Spaß daran ihn zu ärgern, als dass er ihn jetzt schon wieder freigegeben hätte.

Aiden versuchte erfolglos sich gegen Reels flinke Hände zu wehren und hatte mittlerweile schon kleinen Tränen vom Lachen in den Augen.

Als er ihn endlich wieder freigab, war Aiden völlig fertig und sein Zwerchfell schmerzte leicht. Schwer atmend lag er auf dem Bett – den grinsenden Reel neben sich. Amüsiert beobachteten die roten Augen wie Aidens Gesicht langsam wieder eine natürliche Farbe annahm.

Als Reel nun erneut nach ihm griff, versuchte Aiden reflexartig sich zu verteidigen, doch Reel schob seine Hände sanft zur Seite um sich an ihn kuscheln zu können. Aidens Herzschlag war noch etwas beschleunigt, kam jedoch langsam wieder zur Ruhe. Liebevoll begann Aiden wieder durch die schwarzen Haare zu fahren und seinem Dämon den Nacken zu kraulen.

Flüchtig warf er seinem Handy einen Blick zu, doch noch bevor seine Gedanken wieder dorthin zurückkehren konnten, begann es plötzlich zu klingeln.

Seine Mutter rief ihn an – vermutlich wegen Aidens morgiger Heimreise. Erschöpft aber gut gelaunt tippte er das grüne Hörersymbol an und begrüßte sie überschwänglich.

Reel lauschte dem Telefonat nur halbherzig und konzentrierte sich lieber auf Aidens Geruch und Nähe. Als dessen gute Laune sich aber auf einmal in Luft auflöste und seine Miene sich verfinsterte, wurde Reel hellhörig und setzte sich auf um nun doch vernünftig mithören zu können.
 

„Es tut mir so leid, Aiden. Ich will dich doch so unbedingt endlich wieder zuhause haben, aber ich kann das einfach nicht bezahlen. Ich brauche das Auto für die Arbeit und der Rechtsstreit wegen der Versicherungssumme kann sich noch Wochen oder Monate hinziehen.“ Aiden versuchte gefasst zu bleiben und bemühte sich um eine feste Stimme.

„Ich verstehe das schon, Mom. Ich komme klar. Mach dir keine Gedanken. Wir können ja nachfeiern.“ Seine Mutter konnte seine Tränen nicht sehen, aber vor Reel konnte Aiden sie nicht verstecken. Tröstend legte er die Arme um ihn.

„Schon gut, Mom. Ich bin okay, wirklich. Das ist halt einfach blöd gelaufen. Wichtig ist, dass dir dabei nichts passiert ist. Ich muss jetzt auch los. Wir reden später weiter, okay?“

„Na gut. Wenn sich was ändert, sag ich dir sofort Bescheid. Mach´s gut, mein Spatz.“

„Bye Mom.“ Schnell legte Aiden auf bevor seine Stimme ihn verraten konnte. Schweigend ließ er sich in Reels Arme sinken und von ihm trösten.

Seine Mutter war in einen Autounfall verwickelt gewesen. Alle Beteiligten waren glücklicherweise unverletzt geblieben, aber die Versicherung des Unfallverursachers weigerte sich zu zahlen und nun war ein Rechtsverfahren eingeleitet worden. Bis das durch war, blieb Aidens Mutter auf den Kosten sitzen. Sie war auf das Auto, welches nun einen Totalschaden hatte, für ihren täglichen Arbeitsweg angewiesen.

Da waren die über Dreihundert Euro für Aidens Zugtickets nach Hause und zum Internat zurück einfach nicht mehr drin und seine Mutter musste die Tickets stornieren.

Dazu kämen ja auch noch, die Kosten für die Geburtstagsfeier und die Kosten die Aiden im Haushalt verursachen würde. Im Internat zahlte sein Vater alle anfallenden Kosten, wie Wasser, Strom, Lebensmittel und ab und an spendierte er ihm auch neue Anziehsachen, aber bei einem Heimatbesuch müsste seine Mutter dafür aufkommen. Kurz gesagt: Aiden konnte seine Familie doch nicht besuchen und würde die gesamten Sommerferien allein im Internat verbringen müssen.

Naja, nicht ganz allein.
 

Reel verstand gut was grade in seinem kleinen Internatsschüler vor sich ging – vermutlich besser als dieser es erahnen konnte. Heimweh und die Sehnsucht nach geliebten Personen waren ihm alles andere als fremd. Zärtlich strich er ihm über den Rücken bis sein Körper nicht mehr vom Schluchzen bebte.

Noch etwas schwach aber zielsicher rückte Aiden plötzlich ein Stück zur Seite und setzte sich zwischen Reels Beine. Ihm war jetzt alles egal. Er wollte sich einfach nur von Reel trösten lassen und der Dämon nahm sich ja schließlich auch immer was er wollte. Also machte Aiden es sich in dessen Schoß gemütlich, vergrub sein Gesicht an Reels Hals, seine Finger in dessen Oberteil und weinte leise weiter.

Reel war ein wenig überrascht, ließ Aiden jedoch gewähren. Allem Anschein nach war er wohl nicht der einzige, der die Nähe des anderen brauchte. Bereitwillig schloss er ihn enger in die Arme und strich durch die nassen Haare.

Es fiel Reel grade wirklich schwer Aidens Situation nicht auszunutzen, aber er rief sich immer wieder die blauen Augen und die von ihm so verhassten Nächte ins Gedächtnis – so behielt er die Kontrolle über sich.

Sie blieben eine ganze Weile so, bis Aidens Handy erneut klingelte.

Kontrolle

'Mellie' stand dieses mal auf dem Handy-Display und Aiden drückte den grünen Hörer.

„Hallo Bruderherzchen. Wie geht’s dir so?“ Die Stimme aus dem Telefon klang bedrückt und noch recht jung.

„Wie soll's mir schon gehen? Ich kann halt nicht nach Hause.“

„Mama meinte du hättest es ganz gut aufgefasst... Du hast ihr wieder was vorgespielt, oder? Keine Angst, ich verrate dich nicht. Ich will ja auch nicht, dass Mama sich Sorgen macht.“

Reel war etwas überrascht. Aidens kleine Schwester schien ihn wirklich gut zu kennen. Sie hatte das vorherige Telefonat überhaupt nicht mitbekommen und trotzdem wusste sie ganz genau, was grade in ihrem großen Bruder vorging.

„Es ist einfach unfair“, brach Aiden nun heraus. „Ich war seit 5 Monaten nicht mehr zuhause und Vater schwimmt praktisch im Geld und trotzdem muss ich meinen 18. Geburtstag im Internat verbringen. Nicht mal Lukas ist da.“

„Ich vermisse dich total, Aiden.“ Mellie klang unglaublich traurig und noch jünger als zuvor.

„Ich vermisse dich auch, Sprotte. Rufst du mich an meinem Geburtstag an?“

„Exakt um Mitternacht! Darauf kannst du dich verlassen!“ Die freche Antwort seiner kleinen Schwester brachte Aiden zum schmunzeln. Gott, wie sehr er das kleine Energiebündel vermisste.„Sag mal, Aiden. Wenn Lukas sonst wo ist, heißt das dann, dass du an deinem Geburtstag ganz alleine bist?“

„Lukas ist in Afrika.“

„Aideeeen. Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ Aiden sah kurz zu seinem Dämon hoch.

„Nein, ich bin nicht alleine. Mach dir keine Gedanken.“ Reel konnte sein Lächeln nur schwer zurückhalten und empfand immer größere Sympathie für die Besitzerin der frechen Stimme am anderen Ende der Telefonleitung.

„Sehr gut. Bei dir muss man ja immer Angst haben, dass du vereinsamst. Ist es noch jemand, der im Internat bleiben muss?“

„Ja, so ähnlich. Da hat sich zufällig was ergeben“, verbog Aiden die Wahrheit ein wenig.

„Perfekt.“ Mellie klang nun erleichtert und sehr viel fröhlicher. „Also schade und so, aber schön, dass du dadurch nicht alleine bist. Ich muss gleich los zum Hockey-Training. Wir hören uns. Hab dich lieb.“

„Ich dich auch, Sprotte. Mach sie fertig.“

„Worauf du dich verlassen kannst.“ Dann legte sie auf.

Aiden ging es jetzt schon wieder etwas besser. Mellie hatte ein Talent dafür Aiden immer wieder aufzumuntern. Ihre positive Energie steckte einfach an.
 

Ein Blick auf die Handy-Uhr verriet ihm, dass es schon langsam Zeit fürs Abendessen wurde. Er hatte wirklich lange in Reels Schoß zugebracht, aus dem er nun ungelenk hinauskletterte. Als er sich im Zimmer ausstreckte knackten seine Gelenke und er spürte bereits die ersten Anzeichen eines Muskelkaters.

„Du hast mich heute ganz schön gequält. Morgen kann ich mich bestimmt kaum noch bewegen.“ Elegant entfaltete Reel seine Beine, sprang vom Bett auf und bewegte sich hinter ihn. Spielerisch biss er Aiden ins Ohr, in welches er anschließend verschwörerisch „Ach Quatsch. Eigentlich war ich doch noch ganz lieb zu dir“, flüsterte und sich auflöste. Aiden lief ein Schauer über den Rücken. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet.
 

Im Speisesaal saß Aiden allein am Tisch. Beim Essen unterhielt er sich mittels ihrer Verbindung mit Reel und beobachtete über seine Teetasse hinweg die Menschen um ihn herum. Mara saß mit ihrer Schwester und zwei anderen Mädchen an ihrem üblichen Platz und Aiden schaute schnell an ihr vorbei. Als nächstes fiel sein Blick auf den Tisch, der dem Personal vorbehalten war.

Frau Eden – die Bibliothekarin – und einige Lehrer erkannte Aiden wieder. Auch der Rektor und seine Sekretärin aßen grade.

Aus seiner eigenen Klasse fand er nur wenige Schüler. Die meisten waren entweder schon abgereist oder aßen einfach nicht in diesem Moment. Zügig schob sich Aiden den letzten Bissen seines Abendessens in den Mund und brachte dann sein Geschirr weg.
 

Wieder im Zimmer klingelte sein Handy nun schon zum dritten Mal. Dieses Mal war es Lukas, der sich noch einmal bei seinem Freund melden wollte.

Reel interessierte das Gespräch nicht besonders, also wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Skizzenbuch zu und setzte sich wieder auf die Fensterbank. Mellies freche Art hatte ihn an jemand anderen erinnert und so begann er mit groben Linien zwei Oberkörper anzudeuten. Der linke war schmaler und dem Anschein nach eher weiblich, der rechte etwas größer, etwas breiter und offensichtlich männlich.

Der männlichen Figur schenkte er kurze, dunkle Haare – noch kürzer als Aidens – während das Mädchen einen locker geflochtenen Zopf erhielt, der sanft über ihre Schulter nach vorn fiel. Beide erhielten die gleiche schmale Nase, wobei sie bei dem Jungen etwas schief saß – so als wäre sie schon einmal gebrochen gewesen.

Die frechen Augen des Mädchens und die verstohlen des Jungen hatten eine sehr ähnliche Form und auch ihre Gesichtszüge ähnelten einander stark. Sie waren beide zwischen Anfang und Mitte 20.

Eine feine Narbe zog sich über die Wange des Jungen, eine weitere über seine Lippe und nach kurzem Zögern ergänzte Reel auch noch einige Bissspuren an dessen Hals, wobei Reels Mundwinkel leicht nach oben zuckten.

An der rechten Hand des Mädchens fehlte der kleine Finger, um die Handknöchel des Jungen waren wiederum auf beiden Seiten dünne Bandagen gewickelt. Beide trugen einfache, altertümliche und etwas schmutzige Kleidung und schienen den Betrachter der Zeichnung unverwandt anzusehen. 'Gut getroffen', lobte Reel sich still selbst und betrachtete die Gesichter der Zwillinge, die er soeben zu Papier gebracht hatte.

Ihr freches Grinsen und sein eher emotionsloser Ausdruck waren ebenso in Reels Gedächtnis eingebrannt, wie ein ganz bestimmtes paar blauer Augen.

Das Bild der Geschwister versetzte Reel einen Stich ins Herz mit dem er nach so langer Zeit nicht mehr gerechnet hatte. Energisch blinzelte er einige Tränen zurück. Allem Anschein nach vermisste er die beiden Chaoten noch immer viel mehr als er vermutet hatte.

'Aber das hat man eben davon, wenn man sein Herz an jemanden hängt.' Reel sah kurz zu Aiden hinüber. 'Und wie es aussieht, bin ich grade dabei den selben Fehler erneut zu begehen.'

Aiden hatte sein Telefonat längst beendet und sich mit seinem Handy aufs Bett zurückgezogen. Er bemerkte Reels Blick überhaupt nicht.

Um Aiden doch einfach nur zu töten, war es längst zu spät. Reel mochte seinen Sunshine mittlerweile viel zu gern und auch die Freiheit, die dieser ihm ermöglichte, wollte Reel nicht ohne weiteres aufgeben.
 

„Reel?“ Er fuhr zusammen und sah ertappt wieder zu Aiden hoch, der nun direkt vor ihm stand. Reel war so tief in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er ihn überhaupt nicht bemerkt hatte.

„Alles okay? Du siehst irgendwie... unglücklich aus.“ Schnell klappte Reel sein Skizzenbuch zu und atmete tief durch. Seine Unachtsamkeit ärgerte ihn, weshalb seine Antwort nun unpassend schnippisch ausfiel.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Eifersüchtig starrte Aiden das Skizzenbuch an. Er hasste das blöde Ding inzwischen wirklich.

„Dann halt nicht.“ Eingeschnappt drehte Aiden auf dem Absatz um und lief Richtung Badezimmer, aber Reel hielt ihn fest.

„Lass mich!“ Doch gegen den Dämon hatte Aiden keine Chance. Eisern zog er ihn zu sich, drehte ihn um und versuchte ihm in die Augen zu sehen.

„Was ist den jetzt los mit dir? Zick' mich gefälligst nicht an!“ Aber Aiden versuchte nur sich wieder loszureißen.

Jetzt reichte es Reel. Er ließ seinem kleinen Lieblingsspielzeug ja eine ganze Menge durchgehen, aber irgendwo war auch mal Schluss. Unnachgiebig verstärkte er seinen Griff, nahm Aiden am Kinn und drehte ihn grob zu sich. Er durfte sich selbst keine Schwäche erlauben, also musste er dringend sein Verhalten Aiden gegenüber ändern.

„Ich sagte: Zick'. Mich. Nicht. An! Du weißt ganz genau, dass ich so was nicht leiden kann.“ Trotzig starrten ihm die braunen Augen entgegen, in denen sich kleine Tränen bildeten. Reels loderndem Rot konnten sie jedoch nicht lange standhalten. Geschlagen ließ Aiden daher den Blick wieder sinken und hörte auf sich zu wehren, aber Reel war noch nicht fertig mit ihm.

Er zwang Aiden seinen Kopf zur Seite zu neigen und biss ihm schonungslos in den Hals, wo er eine hübsche, tiefe Bisswunde hinterließ.

Erschrocken fasste sich Aiden an die schmerzende Stelle und sah Reel fassungslos an.

„So merkst du‘s dir vielleicht. Ich hab dich wirklich lieb, Sunshine, Aber du bist mein Eigentum, also nimm dir nicht zu viel mir gegenüber raus.“ Die Worte waren nicht nur an Aiden, sondern auch an Reel selbst gerichtet. Er hatte sich fest vorgenommen, sich dieses Mal nicht von Aidens Tränen erweichen zu lassen, aber so ganz gelang ihm das nicht.

Behutsam strich er ihm eine Träne von der Wange. Er rechnete damit, dass Aiden nun sauer auf ihn sein würde – zu recht – aber zu seiner Überraschung schlang der stattdessen seine Arme um Reel und vergrub sein Gesicht an dessen Brust.

Reel brachte es einfach nicht fertig sein kleines Lieblingsspielzeug abzuweisen und streichelte ihm nun doch resigniert den Kopf. „Du bist wirklich seltsam, Sunshine.“

Aiden hasste dieses blöde Skizzenbuch. Eigentlich hatte er Reel aus offensichtlichen Gründen immer für sich allein und trotzdem war er immer nur die zweite Wahl für ihn. Sobald Aiden angefangen hatte sich einzugestehen, dass er Reels Zuneigung wollte, ergriff ihn unglaublich schnell die Eifersucht.

Er wollte das gar nicht, aber Aiden konnte einfach nichts dagegen tun. Irgendwann löste er sich wieder von seinem Dämon, entschuldigte sich kleinlaut und verschwand ins Bad ohne Reel noch einmal in die Augen zu sehen.
 

Er entledigte sich seines T-Shirts und betrachtete sich im Spiegel. Reels Biss hatte beachtliche Spuren hinterlassen, welche er nun vorsichtig betastete. Dabei glitt sein Blick zu dem Fluchmal, dessen schmale Ausläufer sich ein Stück weit über seine Schulter erstreckten, dann zu der Narbe und den schiefen Fingern seiner linken Hand.

Überall hinterließ der Dämon seine Besitz-Zeichen und Aiden wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte.

Nach dem Duschen klappte er seinen Badezimmer-Schrank auf und holte eine Packung Pflaster hervor. Die Wunde hatte inzwischen aufgehört zu bluten. Kurz zögerte er, dann legte er die Pflaster ungenutzt wieder zurück und verließ das Bad.

Wieder im Zimmer fand er Reel mit einem Buch am unteren Bettende sitzend vor. Für ihn war die Sache seit dem Biss erledigt und er war Aiden auch nicht wirklich böse.

Aiden legte sich ins Bett und wälzte sich ein paar mal unruhig herum.

Schließlich kletterte er dann aber doch über die Matratze und zu Reel rüber. Dieser hob seinen Arm ein wenig und ließ Aiden darunter krabbeln, so dass er sich an seine Brust kuscheln konnte.

„Tut mit leid, Reel.“ Wortlos strich dieser durch die braunen Haare bis Aiden einschlief.

Es fiel Reel so unglaublich schwer eine Balance bei ihm zu finden. Er wollte Aiden – und das mittlerweile nicht mehr nur körperlich.

Er sah in ihm einen Ersatz für jemand, an den er vor langer Zeit einmal sein Herz gehängt hatte. Gleichzeitig wollte er Aiden aber auch nicht aus seiner Rolle als sein Eigentum ausbrechen lassen. Er wusste einfach nicht, wie er am besten mit ihm umgehen sollte und das ärgerte ihn nur noch mehr.

Vorsichtig lehnte er sich nach vorn, um Aidens schlafendes Gesicht betrachten zu können.

„Bei Valefar, warum musst du es mir so verdammt schwer machen?“ Zärtlich strich er ihm die Haare aus der Stirn und berührte sie sanft mit den Lippen.
 

In dieser Nacht träumte Reel nach langem mal wieder von früher. Er lief durch eine belebte altertümliche Stadt, eine zierliche Gestalt in einem mitternachtsblauen Kapuzenumhang an seiner Hand. Mit flinken Schritten folgte er einigen weiteren Personen in ähnlicher Kleidung. Zwei von ihnen – die Zwillinge – erkannte er auch von hinten. Ravens geflochtener Zopf hüpfte freudig auf und ab, während sie die Gruppe gekonnt durch die engen Gassen navigierte. Ihr Bruder folgte nur wenige Schritte hinter ihr.

Sie passierten eine besonders schmale Stelle zwischen zwei Hauswänden und dann standen sie auch schon mitten im Getümmel.

Das Stadtfest war in vollem Gange, alle waren bester Laune, es war laut, es war voll, es wurde getrunken, es wurde getanzt, es wurde gehandelt – perfekte Bedingungen für Taschendiebe.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin verteilten sich die Anderen in verschiedene Richtungen quer über den Marktplatz. Nur Reel und seine schwer atmende Begleitung blieben zurück.

„Alles okay?“ Die Bewegung der Kapuze ließ ein Nicken erahnen. Einige Strähnen platinblonden Haares hoben sich wunderschön von dem dunklen Stoff des Umhangs ab. Behutsam strich Reel diese zurück unter die Kapuze.

Er liebte diese Farbe, aber hier sollte sie lieber niemand sehen. Endlich sahen zwei umwerfend blaue Augen unter der Kapuze hervor und zu Reel auf.

„Entschuldige. Ich kann einfach nicht mit den anderen mithalten.“ Aufmunternd drückte Reel die zierliche Hand in seiner.

„Ach was. Das musst du ja auch gar nicht. Du hast dich gut geschlagen.“ Zärtlich berührten seine Lippen die schmalen der Person unter der Kapuze.

„Überanstrenge dich nicht, okay?“ Eifriges Nicken. Sanft zog Reel die blasse Schönheit mit sich in die Menge. Er gab sich alle Mühe die vielen Leute von dieser fern zu halten. Sie passierten einen stark angetrunkenen Mann und Reel erleichterte ihn mit der freien Hand im Vorbeigehen um seinen Geldbeutel.

„Och Relakesch!“ Vorwurfsvoll blickten ihn die blauen Augen an, die er so sehr liebte. Doch Reel hatte für diesen Blick nur ein jungenhaftes Grinsen übrig und lief schnell weiter, bevor der Mann seinen Verlust bemerkte.

Sie verbrachten den ganzen Abend gemeinsam auf dem Fest. Reel überließ das Stehlen größtenteils den anderen und als es dunkel wurde half er seiner Begleitung auf das Dach der Kirche zu klettern. Schweigend betrachteten sie den Sternenhimmel. Irgendwann spürte Reel das Gewicht eines Kopfes schwer auf seiner Brust und hörte einen ruhigen Atem. Sorgsam wickelte er seinen Umhang enger um sie beide und schloss für einen Moment die Augen.
 

Als er sie wieder öffnete stand die Sonne bereits hoch am Himmel und er spürte noch immer das warme Gewicht auf seiner Brust. Doch als er hinunter sah, erblickte er kein platinblondes sondern braunes Haar. Reel musste schwer schlucken und versuchte verzweifelt seine Tränen weg zu blinzeln. So ganz gelang ihm das jedoch nicht und eine einzelne verräterische Träne ran seine Wange hinunter und tropfte von seinem Kinn.

Nur wenig später wachte auch Aiden auf. Er sah Reel sofort an, dass etwas nicht stimmte, aber er wagte es nicht nachzufragen. Stattdessen kuschelte er sich nur schweigend in dessen Arme. Aiden konnte Reels Herzschlag deutlich spüren – er war hektischer als gewöhnlich.

Reel schlang die Arme enger um ihn und vergrub sein Gesicht in den braunen Haaren, bis sich sein Herzschlag nach einiger Zeit wieder beruhigte.

„Du wirst mir nicht verraten was los ist, oder Reel?“ Ein sanfter Biss ins Ohr war alles, was Aiden als Antwort erhielt. „Warum beißt du mich in letzter Zeit ständig?“

„Warum nicht? Du weißt doch, dass ich immer mache was ich will.“ Resigniert seufzte Aiden und ließ sich wieder gegen seinen Dämon sinken.

„Ich hab morgen Geburtstag“, versuchte er das Thema zu wechseln und Reel abzulenken.

Dieser strich ihm flüchtig über den Rücken.

„Ich weiß. Tut mir leid, dass du ihn hier verbringen musst.“

„Schon okay.“ Aiden schmiegte sich enger an Reel. Er wollte nah bei ihm sein, auch wenn Reel ihn nicht richtig an sich heranließ. Spielerisch fuhr Aiden mit den Fingern über Reels Brust und nestelte an seinem Kragen. Gebannt verfolgten die roten Augen jede der unbedachten Bewegungen, bis Reel sich nicht mehr beherrschen konnte.
 

Zielsicher griff er Aiden unters Kinn, drehte ihn zu sich und drückte seine Lippen auf Aidens. Sofort verlangte seine Zunge Einlass und Aiden war so überrascht, dass er dem kein Einhalt gebieten konnte. Munter erkundete Reels Zunge Aidens Mundhöhle und nahm sie in Besitz.

Reel schmeckte so gut. Ihn zu küssen fühlte sich ganz anders an als bei Mara. Reel war fordernder. Viel fordernder. Nahezu begierig und Aiden wusste nicht, ob er Reel geben konnte, wonach es diesem verlangte.

Ungefragt schickte der Dämon seine Hände auf Wanderschaft unter Aidens zu großes Schlaf-Shirt und bewegte sich gefährlich nah an seine letzte Hemmschwelle heran.

Bestimmend zog er Aiden näher zu sich, schob sein Bein zwischen Aidens nackte Oberschenkel und ließ seine Zunge lüsternd erst über seine Wange und dann seinen Hals gleiten. An der Bisswunde machte er Halt, liebkoste sie stürmisch und vergrub seine Zähne dann ein zweites mal nur knapp unter den bestehenden Löchern in der empfindlichen Haut.

Aiden stöhnte schmerzerfüllt auf. Ihm ging das alles viel zu schnell. Reel überrumpelte ihn und nun fasste er endlich wieder einen halbwegs klaren Gedanken.

„Reel. Reel, stopp.“ Doch der Dämon war wie im Rauschzustand und zog gierig an Aidens Boxershort.

„REEL! NEIN! ... Bitte.“ Die ersten Worte schrie er ihm entgegen, dass letzte war nur noch ein leises Wimmern. Reel sah in die braunen Augen und ein Paar blauer Augen traten an ihre Stelle. Sofort ließ er von Aiden ab und zog sich schwer atmend zurück.
 

„Tut mir leid. Sunshine, das tut mir so leid.“ Völlig verstört zog Aiden sein Shirt wieder zurecht und schlang zusätzlich auch noch schützend seine Bettdecke um sich. Reel war von ihm weggerückt und vergrub nun das Gesicht in seinen Händen.

„Es tut mir so leid.“ Seine Stimme war nur ein Flüstern und Aiden konnte ihn kaum verstehen.

Nachdem er seine Gedanken ein wenig sortiert hatte, zog er sich zügig einen Pullover und eine Jogginghose über. Dann näherte er sich vorsichtig wieder Reel.

Mit etwas Abstand setzte Aiden sich neben ihn aufs Bett. Er wollte etwas sagen, aber er fand keine Worte, also nahm er nach langem Zögern einfach Reels Hand.

„Tut mit leid“, hörte er ihn leise flüstern und drückte zur Antwort sanft seine Hand. Es dauerte ein wenig ehe Reel den Druck erwiderte, woraufhin Aiden ihre Finger miteinander verschränkte.

Reels Gier hatte ihm Angst gemacht, aber nichts desto trotz musste er sich eingestehen, dass ihm seine Küsse ungemein gefielen. Und dass sein Dämon sich um seiner Willen stoppen konnte, bedeutete doch auch etwas, oder?

Unsicher strich er mit dem Daumen über Reels Handrücken ohne ihn loszulassen und endlich sahen ihn die roten Augen zumindest für einen kurzen Moment wieder an. Aiden hatte sie noch nie so unglücklich gesehen. Schuldbewusst wich Reel seinem Blick aus und Aiden rückte ein winziges Stück näher.

„Reel? Reel, sieh mich an. Bitte.“ Zaghaft kam er der Bitte nach. „Ich bin nicht sauer – glaube ich – aber mach sowas nicht mit mir. Du... bist mir zu schnell.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“ Der Dämon sprach noch immer sehr leise.

„Hast du dich wieder im Griff?“ Reel nickte und Aiden überwand die restliche Distanz zwischen ihnen. Entschlossen umklammerte er seinen Arm und stützte seinen Kopf an Reels Schulter ab. Der lebhafte Schatten umhüllte ihn sanft und legte sich schützend um Aidens Körper.

Irgendwann ließ auch Reel seinen Kopf auf den von Aiden sinken und seine schwarzen Haare mischten sich mit Aidens braunen.
 

„Hast du dich wirklich wieder im Griff?“ Reel bejahte kleinlaut. Dann setzt sich Aiden wieder auf, sah ihn an und rückte noch etwas enger an ihn. Reels Arm schob er hinter seinen Rücken, so dass dieser Aiden nun umfasste, und legte seinerseits eine Hand auf Reels Wange. Unsicher näherte er sich dem unglücklichen Gesicht seines Dämons.

Dieser bemerkte was Aiden vorhatte und ließ ihn gewähren, da der Schock von eben ihm seine Selbstbeherrschung vorerst vollständig zurückgegeben hatte.

Sanft berührten Aidens Lippen die von Reel und dieser erwiderte den Kuss zurückhaltend. Seine Zunge und auch seine Hände hielt er dieses mal im Zaum und begnügte sich mit einigen unschuldigen Berührungen ihrer Lippen. Als Aiden sich wieder von ihm löste, sah Reel ihn nachdenklich an.

„Du bist wirklich seltsam, Sunshine.“

„Ich weiß.“ Tröstend gab er ihm einen letzten flüchtigen Kuss und Reel war nun wieder etwas ruhiger. Aiden hatte deutlich spüren können, wie aufgewühlt sein Dämon gewesen war und wie unglaublich leid ihm sein Kontrollverlust tat.

Zögerlich legte Reel nun auch seinen zweiten Arm um ihn und als Aiden sich nicht dagegen wehrte, schloss er ihn fest in seine Arme.

Eigentlich hatten sie jetzt mehr Gründe um miteinander zu sprechen als je zuvor, doch stattdessen blieben sie beide schweigend auf dem Bett sitzen und hielten sich aneinander fest.
 

Als sie es endlich aus dem Bett schafften war es fast schon wieder Abend. Nach einem zärtlichen Kuss auf die Stirn entließ Reel Aiden aus seinen Armen. Dieser schlüpfte in seine Schuhe, ließ Reel in seinen Körper übergehen und ging zum Abendessen in den Speisesaal.

Sowohl er als auch Reel schwiegen, aber neue Mauern waren zwischen ihnen nicht zu spüren. Auch als sie wieder im Zimmer waren, sprach keiner von beiden ein Wort.

Als Aiden nach dem Duschen aus dem Bad kam, saß Reel auf der Fensterbank. Gedankenverloren betrachtete er den wolkenverhangenen Himmel, während sein Schatten ruhig um seine Schultern lag und gelegentlich nervös zuckte.

Aiden stellte sich zu ihm ans Fenster und beobachtete das trübe Wetter. Beiläufig griff er nach Reels Hand und hielt sie fest. Der Dämon seufzte schwer und drückte zärtlich die Hand seines Sunshines. „Heute Nacht schläfst du besser allein.“ Liebevoll strich Reel ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er ihn wieder losließ und mit wehendem Schattenumhang aus dem Fenster und über die Hausfassade auf das Schuldach verschwand.
 

Reel zog die frische Abendluft tief ein. Sie half ihm einen klaren Kopf zu bekommen und seine Gedenken zu sortieren. Fast hätte er die eine Sache getan, von der er immer zu wissen geglaubt hatte, sie niemals jemandem antun zu können.

Bei Aiden kollidierten seine Lust und sein Beschützerinstinkt miteinander und Reel wusste einfach nicht wie er damit umgehen sollte.

Allein schon sich vorzustellen, wie sich Aidens zarter Körper unter seinem eigenen aufbäumte, brachte ihn fast um den Verstand. Reel stellte sich Aiden in noch so einigen anderen Positionen vor, während er seiner Fantasie freien Lauf ließ.

Happy Birthday Sunshine

Aiden blieb allein in seinem Zimmer zurück. Das war mal wieder typisch für Reel – er verschwand einfach, wenn er es wollte, aber wenn Aiden das versuchte, brannte bei dem Dämon fast eine Sicherung durch.

Resigniert sah er noch eine Weile aus dem Fenster, bevor er sich auf sein Bett zurückzog. Zumindest gab ihm das die Gelegenheit seine Gedanken halbwegs vernünftig zu sortieren.

Reel hätte ihn fast... und trotzdem blieben seine Gefühle für ihn unverändert. Aiden litt wohl wirklich am Stockholm-Syndrom. Unschlüssig legte er sich aufs Bett und starrte im Halbdunklen die Zimmerdecke an.

Verdammt nochmal! Warum zur Hölle musste er sich unbedingt in Reel verlieben? Einen Mann! Einen Dämon! Einen unglaublich launischen, besitzergreifenden, impulsiven, anstrengenden, provokanten Dämon!

Mit umwerfend schönen Augen und einer beschützerischen Art, die Aiden einfach schwach werden ließen. Verdammt, es war hoffnungslos und dabei hatte er doch sowieso keine ernsthaften Chancen bei ihm.

Oder vielleicht doch? Aiden hatte der Person auf den Zeichnungen eine Sache voraus: Er war hier. Reel liebte vielleicht diesen Geist – wie Aiden die Figur mit den langen Haaren für sich nannte – aber der Dämon brauchte körperliche Nähe und hatte... gewisse Bedürfnisse und da war Aiden eindeutig im Vorteil.

Verzweifelt schlug er sich die Hände vors Gesicht. Er wusste einfach nicht, wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte und das ängstigte und verunsicherte ihn zutiefst.
 

Erst eine ganze Weile später schwang sich Reel lautlos wieder ins Zimmer, um nach Aiden zu sehen.

Dieser wälzte sich unruhig im Bett umher und bemerkte nach einiger Zeit die Silhouette seines Dämons gegen das gedämpfte, einfallende Mondlicht. Zögerlich schritt er durchs Zimmer auf ihn zu und stellte sich neben ihn ans Fenster.

„Kannst du nicht schlafen, Sunshine?“ Aiden seufzte leise und stützte sich mit den Armen auf der Fensterbank ab. Reel unterdrückte den Wunsch Aiden zu berühren und zwang sich stattdessen weiter aus den Fenster zu sehen. Langsam klarte der Himmel auf und gab den Blick auf die Sterne frei.

Schließlich stieß Reel einen tiefen Seufzer aus, schwang seine Beine vom Fensterbrett und saß nun genau vor Aiden, der ihn unschlüssig ansah.

„Eigentlich wollte ich damit ja bis morgen früh warten, aber ich kann ihn dir genauso gut auch jetzt geben.“ Reel streckte seine Hände mit den Handflächen nach oben aus und schloss konzentriert die Augen.

Sein Schatten verdichtete sich über seinen Händen zu einer Art undurchsichtigen Sphäre, welche sich einige Sekunden später wieder auflöste und den Blick auf eine vollkommen schwarze Klinge freigab.

Aiden machte seine Schreibtischlampe an und drehte sie zu sich, um den Dolch in Reels Händen besser sehen zu können. Er war kurz und unauffällig mit einem schmalen Heft und einem leicht gerillten Griff. Vorsichtig übergab Reel die Klinge an Aiden, der diese ehrfürchtig musterte.

In den Heft war ein kleiner, ungeschliffener, roter Stein eingearbeitet und auf der Klinge erkannte Aiden eine geschwungene Gravur. „Sunshine“, lass er laut vor und Reel räusperte sich verlegen.

„Ich weiß. Ein Dolch war nicht unbedingt die Nummer Eins auf deinem Wunschzettel, aber dafür hat er einen praktischen Nutzen.“ Nonchalant griff Reel nach dem Dolch und schloss seine Hand um die scharfe Klinge. Als er sie wieder öffnete, sah Aiden, wie Blut aus einem dünnen Schnitt in Reels Handfläche hervorquoll.

„Das ist ein dämonischer Dolch. Er funktioniert also auch bei mir.“ Zur Demonstration zeigte er Aiden den Schnitt.

„Reel!“ Schnell legte Aiden den Dolch zur Seite und griff nach Reels verwundeter Hand.

„Keine Sorge, Sunshine. Das heilt schnell bei mir.“ Abwinkend entzog Reel ihm seine Hand und ließ seinen Schatten diese einhüllen, um die Blutung zu stoppen.

„Ich will, dass du den Dolch immer bei dir trägst. Damit kannst du dich im Fall der Fälle verteidigen und wenn ich nochmal … die Kontrolle verlieren sollte, dann kannst du ihn auch gegen mich einsetzten.“

„Aber ich kann doch nicht...“

„Doch, kannst du!“ Eindringlich sah er in Aidens braune Augen und gab ihm die schwarze Klinge wieder in die Hand.

„Ich werd dir beibringen, wie du mit dem Dolch umgehst, damit du dir dabei nicht wehtust und ich werde ab jetzt besser aufpassen, aber dass Selbstbeherrschung nicht unbedingt zu meinen Stärken gehört, weißt du ja inzwischen selbst.“

Schützend legte sich Reels Schatten um Aidens Schultern und gab damit Reel Absichten preis. Er hatte Angst um sein Lieblingsspielzeug. Er wollte, dass Aiden sich verteidigen und sich im Zweifelsfall sogar gegen Reel zumindest notdürftig zur Wehr setzen konnte.

Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Aidens Lippen, als er nun wieder zu den geliebten roten Augen hinauf sah.

„Danke. Er ist wirklich wunderschön.“ Reel erwiderte sein Lächeln und gab nun doch dem Drang nach, Aiden eine zu lange Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Flüchtig sah er auf Aidens Armbanduhr – der Zeiger hatte soeben die Zwölf passiert.

„Happy Birthday Sunshine“, flüsterte er leise und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

Kaum beugte er sich wieder zurück, hörten beide Aidens Handy klingeln. Reel zog seine Hand zurück und zwinkerte ihm zu.

„Lass sie lieber nicht warten.“ Einen kurzen Moment sah Aiden ihn nur irritiert an, dann verstand er, was sein Dämon meinte – Mellie natürlich. Sie hatte versprochen ihn direkt um Mitternacht anzurufen.

Schnell lief Aiden zu seinem Bett, legte den Dolch auf den Nachtschrank und nahm sein Handy von selbigem. Lautstark und schief trällerte Aidens kleine Schwester die erste Strophe von 'Happy Birthday' in den Hörer und Aiden musste das Handy ein Stück weit von seinem Ohr weghalten.

Reel beobachtete die Szene und konnte sein Schmunzeln nicht unterdrücken. Mellie erinnerte ihn irgendwie an Raven und so langsam verstand er, warum es Aiden so wichtig war, sie vor dem Leistungsdruck ihres Vater zu beschützen.

Abwesend wanderte sein Blick wieder aus dem Fenster, hinter dem der Sternhimmel zunehmend sichtbarer wurde.
 

Überschwänglich gratulierte Mellie ihrem Bruder. „Und? Bin ich die erste, die dir gratuliert?“

„Tatsächlich bist du erst die zweite.“

„Waaaaaas? Wie das denn?“ Aiden erkannte seinen Fehler. Mellie wusste, dass er ein Einzelzimmer hatte und das im Internat eigentlich eine strenge Nachtruhe galt.

„Ähm... Also... Reel hat heimlich mit mir reingefeiert und mir kurz vor dir gratuliert.“

„Reel? Wer ist das denn?“, stutze Mellie.

„Ähm, das ist der von dem ich dir erzählt hatte. Der, der auch nicht nach Hause fahren kann.“

„Achso. Stimmt ja. Bestell' mal schöne Grüße.“

Die Geschwister unterhielten sich noch eine ganze Weile und Reel lauschte dem unauffällig.
 

„Liebe Grüße und ein Dankeschön von Mellie, dafür dass du mich nicht vereinsamen lässt“, zog Aiden Reels Aufmerksamkeit wieder auf sich, nachdem er sein Telefonat beendet hatte. Dieser musste unwillkürlich schmunzeln und wandte sich wieder seinem Lieblingsspielzeug zu.

„Wie solltest du auch vereinsamen, wenn ich dauerhaft um dich rum bin.“ Aidens Lächeln ging in ein Gähnen über, während er wieder zum Fenster rüber kam. Ungelenk kletterte er auf die Fensterbank und setzte sich neben Reel.

„Hast du dich unter Kontrolle?“ Der Angesprochene nickte und Aiden rutschte näher an ihn heran. Reel legte einen Arm um ihn und zog ihn seinerseits näher an sich. Aidens Geruch war ihm mittlerweile so vertraut, dass er ganz automatisch ruhig wurde, wenn er ihn wahrnahm.

Irgendwann spürte er, wie Aidens Kopf schwer gegen ihn lehnte – er war eingeschlafen. Vorsichtig nahm Reel ihn auf den Arm und trug ihn zum Bett, wo er ihn behutsam ablegte und zudeckte. Als er sich vom Bett zurückziehen wollte, wachte Aiden auf und hielt ihn fest.

„Bleib.“ Sanft strich Reel ihm über die Wange und seufzte schwach.

„Bist du dir sicher?“

„Du hast dich doch im Griff, oder?“ Leise bejahte Reel und setzte sich zu ihm. Aiden hielt Reel an seinem Oberteil fest und ließ sich von ihm über den Kopf streichen bis er wieder einschlief.
 

Als Aiden wieder aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Reel saß neben ihm auf dem Bett mit dem Rücken an der Wand und war ebenfalls eingeschlafen, jedoch schlug er sofort die Augen auf als Aiden sich aufsetzte.

„Gut geschlafen, Sunshine?“ Verschlafen nickte Aiden. „Also. Heute hast du ausnahmsweise mal die Entscheidungsgewalt. Was willst du machen?“ Aiden war ein wenig überrascht. Er war es nicht gewohnt, dass seine Dämon ihm freiwillig Entscheidungen überließ. Kurz überlegte er.

Im Zimmer waren sie immer – das fiel also weg. Im Internat konnte Reel sich selbst in seiner menschlichen Gestalt nicht frei bewegen, da Schüler und Lehrer wusste, dass er nicht hierher gehörte. Außerdem wollte Aiden auf keinen Fall Mara über den Weg laufen.

Beim Gedanken an eine weitere Trainingseinheit meldete sich Aidens Muskelkater schmerzhaft. Das würde er sich also gewiss auch nicht antun.

Folglich entschied er sich für die Innenstadt. Mit Reel in die Stadt zu gehen, war zwar letztes Mal nicht so entspannt verlaufen, aber sein Dämon wollte sich dieses mal nach ihm richten, also wurde es vielleicht ja doch ganz lustig.

Aiden zog sich an und wollte Reel nur schnell in seine Körper übergehen lassen, doch dieser hielt ihn fest.

„Mein Geschenk war an eine Bedingung geknüpft. Erinnerst du dich?“ Geschickt spielte er mit dem schwarzen Dolch, warf ihn in die Luft, ließ ihn eine 360-Grad-Drehung vollführen und fing ihn wieder auf.

Zielsicher umkreiste er Aiden und zog ihm von hinten das T-Shirt ein gutes Stück weit hoch.

Vorsichtig legte er den Dolch an Aidens unterem Rücken an und ließ seinen Schatten sich dort sammeln. Ähnlich wie bei der Entstehung der Klinge selbst, erschien nun eine schwarze Halterung um den unauffälligen Dolch. Passgenau schmiegte sie sich um Aidens Körper und Reel versteckte beides unter Aidens Shirt. Es war weit genug um die Ausbeulung durch den Dolch zu verbergen und das leichte Material, aus dem dieser bestand, schränkte Aidens Bewegungen in keinster Form ein.

Aiden bedachte seinen Dämon mit einem geschlagenen Blick, doch dieser ließ sich davon nicht beirren.

„Versuch gar nicht erst mit mir darüber zu diskutieren!“ Aiden musste leise lachen.

„Ich kenne dich inzwischen gut genug um zu wissen, dass das zwecklos ist.“ Reel knuffte ihn spielerisch in die Seite und ging in seinen Körper über.

Auf dem Weg nach draußen packte Aiden sich im Speisesaal etwas zu essen ein, bevor er zur Bushaltestelle lief.
 

In der Innenstadt angekommen suchte Aiden sich wieder einen Ort, wo er allein war und wo sich Reel materialisierte und seine menschlichere Form annahm. Diese falschen Augen störten Aiden wirklich ungemein, aber flammendes Rot war nun doch ein wenig zu auffällig.

Unverwandt nahm Reel wieder Aidens Hand und dieser akzeptierte es dieses mal einfach. Selbst wenn Reel sich heute nach Aiden richten wollte, blieb Reel doch immer Reel und das konnte und wollte Aiden gar nicht ändern.

Ziellos schlenderten sie durch das Einkaufscenter. Reel hatte sich die Haare hochgebunden und zog mit seiner unkonventionellen Schönheit die Blicke aller Umstehenden auf sich. Dieses Maß an ungewollte Aufmerksamkeit löste noch immer ein gewisses Unbehagen in Aiden aus, aber er versuchte es einfach zu ignorieren.

Reel hingegen war ziemlich gut gelaunt. Diese neue Art der Freiheit war noch immer neu und aufregend für ihn und Aiden musste über seine kindliche Freude immer wieder heimlich schmunzeln.

Als sie an einem Game-Shop vorbeiliefen, zog Aiden ihn in den Laden. Er hatte zwar nicht das Geld um sich tatsächlich etwas zu kaufen, aber er stöberte einfach gern und manchmal fand er günstig gebrauchte Spiele, die er sich leisten konnte.

Reel hatte ihm angeboten, seine flinken Finger einzusetzen um Aiden zu besorgen, was auch immer er aus dem Laden haben wollte, aber Aiden hatte entschieden verneint. Zum Einen ging es gegen Aidens moralischen Kompass und zum Anderen wollte er nicht, dass Reel seine Fähigkeiten für solche Lappalien einsetzte. Er wusste, dass sein Dämon gewisse kleptomanische Neigungen hatte, aber es lag ihm fern, diese auch noch zu fördern.

Also hielt Reel seine Finger im Zaum und richtete sich brav nach seinem Sunshine.

Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, bei jeder Gelegenheit auf den Geländern zu balancieren während sie durch die Mall liefen. Reel achtete dabei nicht wirklich darauf wo er hintrat und trotzdem lief er sicheren Schrittes auf der schmalen Metallschiene. Die Aufmerksamkeit, die er damit generierte schien ihn noch mehr anzustacheln und Aiden konnte nur resigniert seufzen und hoffen, dass niemand von der Security sie bemerkte.

Und genau so ein Uniformierter lief nun mit zügigen Schritten und strenger Miene auf sie zu. Reel bemerkte ihn ebenfalls, sprang vom Geländer, schnappte sich Aidens Hand und flüchtete mit ihm durch die Menschenmenge in den nächsten Gang. Aiden ließ sich dabei von Reels unbedarfter Art und seinem diebischen Lachen anstecken, und entwickelte ebenfalls eine gewisse Freude an ihrer Flucht.

Geübt manövrierte Reel sie durch die Menschenmassen und hängte den Mitarbeiter der Security-Firma mühelos ab. Das alles erinnerte ihn stark an seine Zeit mit den Zwillingen und er genoss es mit kindlicher Begeisterung.
 

„Du bist wirklich unmöglich, Reel.“ Aiden musste unwillkürlich lachen. Normalerweise hätte er sich über so einen Zwischenfall geärgert, aber bei Reel brauchte er das gar nicht erst versuchen. Zum Einen konnte er seinem Dämon eh nicht wirklich böse sein und dieser würde sich durch Aidens Ärger nur besonders angestachelt fühlen. Und zum Anderen machte es Aiden irgendwie auch Spaß, ausnahmsweise mal etwas zu riskieren.

„Ich glaube wir sollten erst mal kurz woanders hingehen. 'Tschuldige Sunshine.“ Auch Reel konnte sein Grinsen nicht verbergen während er darauf wartete, dass Aiden wieder zu Atem kam.

„Ja, das klingt vernünftig.“ Sie verließen die Mall durch einen Seiteneingang und setzten sich in dem angrenzenden Park auf die Wiese. Aiden kramte seine eingepackte Verpflegung aus dem Rucksack und genoss die Sonne, während Reel von hinten seine Arme um ihn schlang und sein Kinn in gewohnter Manier auf Aidens Schulter ablegte. Zwischendurch stahl er Aiden immer wieder eine Weintraube oder ein Stück von der angeschmolzenen Schokolade, die dieser eingepackt hatte.

Aiden hatte absichtlich einen etwas abgelegenen Platz im Park ausgesucht, an dem eher selten Menschen vorbeikamen. Mit Reel durch die Mall zu schlendern machte ihm Spaß, aber am liebsten hatte er seinen Dämon doch für sich allein.
 

„Du hast da was.“ Aiden drehte sich zu Reel um und spürte plötzlich, wie eine Zunge zärtlich über seinen Mundwinkel leckte. Aiden lief sofort hochrot an und Reel brach in kicherndes Gelächter aus. Peinlich berührt wich Aiden seinem Blick aus und erreichte damit nur, dass Reel ihn noch enger an sich zog und seine Zunge ein weiteres mal spielerisch über seine Wange tanzen ließ.

„Du bist doof“, nuschelte Aiden mit noch immer rotem Kopf und einem verlegenen Lächeln.

„Und du bist seltsam“, konterte Reel mit einem frechen Grinsen. Er hatte unglaublich viel Spaß daran Aiden zu ärgern – besonders, wenn dieser sich dabei so niedlich genierte.

In diesem Moment kam ein junges Pärchen mit Hund vorbei und musterte die beiden Jungs mit Irritation und Abfälligkeit.

Aidens Lächeln erstarb augenblicklich und Reel war einfach nur genervt. Wie viel Pech konnte er denn bitte haben? Böse starrte er die Störenfriede an, wobei ihm ein leises, tiefes Knurren entfuhr und seine Augen für einen kurzen Moment in ihrem natürlichen Rot aufflammten.

Der Hund war der erste der reagierte, sich losriss und sofort panisch die Flucht ergriff. Erschrocken jagte das Pärchen ihrem flüchtigen Vierbeiner hinterher, der jedes Rufen seiner Besitzer ignorierte und alles daran setzte, möglichst viel Distanz zwischen sich und den entnervten Dämon zu bringen.

„Reel!“

„Schon gut. Tut mir leid.“ Mit einem resignierten Seufzer löste sich Reel von Aiden und gab ihn wieder frei. Dieser schenkte ihm ein besänftigendes Lächeln und packte seine restliche Verpflegung wieder ein. So ein kleines bisschen freute ihn Reels Reaktion ja doch, aber das würde er ihm gegenüber niemals zugeben. Schließlich war die Aktion absolut impulsiv, riskant und unüberlegt gewesen – typisch Reel eben.

„Lass uns in die Arcade-Halle gehen. Ich hab irgendwie Lust eine Runde 'Zombyte' zu spielen.“

„Was immer du dir wünschst, Sunshine.“ Spielerisch griff Reel unter Aidens Kinn und schenkte ihm einen flüchtigen Kuss bevor er ihn wieder an die Hand nahm und mit sich durch den Park über den langen Weg zur Arcade-Halle zog.

Aiden konnte sich der Anziehungskraft, die sein Dämon auf ihn ausübte, nicht wirklich erwehren und das einzige was ihn momentan davon abhielt, den Tag mit Reel richtig genießen zu können, war mal wieder seine eigene Unsicherheit. Wenn er sich nicht grade unwohl fühlte, weil irgendwer sie komisch ansah, dann ruinierte er sich selbst die Laune. Ständig fragte er sich, ob Reel grade eigentlich an den Geist aus seinem Zeichenbuch dachte und ob sein Dämon diesen jetzt lieber hier bei sich hätte.

Der Park war zu dieser Jahreszeit sehr belebt und sie begegneten vielen Passanten. Aiden bemerkte schnell, dass die Hunde, die einige mit sich führten, ihnen aus dem Weg gingen und zum Teil sogar regelrecht die Flucht ergriffen.

„Hunde – und auch die meisten anderen Tiere – erkennen spätestens an meinem Geruch, dass ich potenziell gefährlich bin. Daher halten sie instinktiv Abstand von mir. Einige wenige reagieren auch aggressiv, aber die bemerken ihren Fehler spätestens, wenn ich zurückknurre“, erklärte Reel ihm emotionslos.
 

In der Arcade-Halle angekommen bedachte der Besitzer Aiden mit einem etwas verwirrten aber unbekümmerten Blick, was dieser zu schätzen wusste. Die Halle war vergleichsweise leer, das Licht wie immer schummrig und die Umgebung war für Aiden fast genauso vertraut, wie sein eigenes Zimmer. Daher nahm das unbehagliche Gefühl nun endlich ab und er wurde etwas entspannter.

Reel hielt sich bei den meisten Spielen zurück und beschränkte sich darauf Aiden zuzusehen. Nur bei einigen Multiplayer-Titeln schloss er sich Aiden auf dessen Wunsch hin an.

Um 'Beat-Saber' machte Aiden einen Bogen. Er mochte das Spiel, aber es erinnerte ihn an Mara und an sie wollte er jetzt nicht denken.

Einige Besucher bedachten die beiden Jungs mit missbilligenden Blicken und selbst Reel schien langsam genervt davon. Böse starrte er jeden an, der sie schief ansah und diese wichen seinem drohenden Blick schnell aus. Reel verwendete nur seine dunklen, menschlichen Augen, aber böse gucken konnte er auch mit diesen sehr wirkungsvoll.

So verbrachten sie den Rest des Tages in der Arcade-Halle, bis es Zeit wurde zurück zum Internat zu fahren. Hand in Hand liefen sie zur Bushaltestelle zurück und passierten dabei wieder die Ampel, an der sie bei ihrem letzten Besuch dem Mann begegnet waren, der sie später angegriffen hatte. Die Ampel sprang auf Grün und die Jungs und alle Umstehenden setzten sich in Bewegung.

Plötzlich zog Reel Aiden grob nach vorn und riss ihn mit sich zu Boden, wobei er Aidens Kopf mit den Armen schützte.

Unsicherheit und Zweifel

Alle anderen Fußgänger auf der Straße sprangen ebenfalls panisch zur Seite und der silberne PKW, welcher ungebremst auf die Menge zugerast kam, verfehlte sie dabei nur knapp. Aufgebracht riefen alle durcheinander und beschwerten sich lautstark über den fahrerflüchtigen Wagen, aber Reel kümmerte sich ausschließlich um seinen Aiden.

„Alles in Ordnung, Sunshine?“ Behutsam half er ihm von der Straße auf und lief mit Aiden an der Hand zum Bürgersteig.

„Sieht aus, als würde unser Magier keinen Urlaub machen.“ Aiden seufzte unglücklich.

„Ja. Scheint so.“

Gemeinsam zogen sie sich wieder an einen ruhigen Ort zurück, damit Reel in Aidens Körper übergehen konnte. Zuvor schenkte er seinem Liebesspielzeug einen besorgten Blick aus seinen nun wieder roten Augen und gab ihm einen liebevollen Kuss, den er gleich nutzte um zu de-materialisieren.

Im Bus fühlte sich der leere Sitzplatz neben Aiden irgendwie kalt an. Mit Reel war es eben doch anders, als mit einem normalen Menschen, aber immerhin hatte er seinen Dämon dadurch für sich allein.
 

Wieder im Zimmer warf sich Aiden aufs Bett und begann seine Geburtstags-Nachrichten zu beantworten. Reel materialisierte sich ebenfalls auf dem Bett, machte es sich mit dem Kopf auf Aidens Schoß bequem und ließ sich von ihm kraulen.

„Danke Reel. Es war wirklich schön heute.“ Aiden war mit seinem Handy fertig und wandte sich jetzt wieder seinem Dämon zu. Zärtlich fuhr er ihm durch die Haare und spielte mit den schwarzen Strähnen, die er inzwischen aus dem Zopfgummi befreit hatte.

„Auch wenn ich dich schon wieder fast in Schwierigkeiten gebracht habe und du nur knapp einem weiteren Anschlag durch einen mordlüsternden Magier entgangen bist?“ Aiden musste unwillkürlich lachen.

„Seit du bei mir bist, hab ich meine Maßstäbe was das angeht etwas angepasst.“ Reel setzte sich auf und krabbelte ein Stück näher an Aiden. Besitzergreifend schlang er seine Arme um ihn und schenkte ihm einen hingebungsvollen Kuss.

„Vielleicht sollte ich dich einfach nie wieder aus diesem Zimmer raus lassen. Dann bin ich die einzige Bedrohung für dich.“ Liebevoll biss er Aiden ins Ohr und dieser begann ihm sanft den Nacken zu kraulen.

„Aber dann könntest du das Zimmer auch nicht mehr verlassen und du bist nicht unbedingt der Typ, der freiwillig etwas von seiner Freiheit aufgibt.“

„Auch wieder wahr.“ Reel schmiegte sich eng an Aiden und sog dessen Geruch tief ein. Er musste wirklich aufpassen. Wenn er so nah bei Aiden war, bekam er schon wieder Lust und dabei wollte er auf keinen Fall noch einmal die Kontrolle bei ihm verlieren.

Wenig später ging Aiden zum Duschen ins Bad und Reel nutzte diese Zeit um seine Begierden wieder in den Griff zu bekommen.

Er hatte irgendwie das Gefühl, dass Aiden etwas dummes vorhatte und er wollte auf keinen Fall einen folgenschweren Fehler begehen.
 

Aiden duschte lange. Seine Gedanken kreisten und das prasselnde Wasser beruhigte ihn. Er hatte einen Entschluss gefasst um seine Zweifel endgültig zu zerstreuen oder eben zu bestätigen. Unschlüssig zupfte er an seinen Haaren. Eigentlich wäre er längst zum Friseur gegangen und hätte sie sich wieder kurz schneiden lassen, aber Reel gefielen seine Haare lang besser, also ließ er sie wachsen. Vorsichtig strich er über die Bisswunden an seinem Hals. Sie bluteten längst nicht mehr, aber schmerzten bereits bei leichten Berührungen. Ein schwaches Seufzen entfuhr Aiden und er versuchte seine Sorgen mit dem Wasser wegzuspülen.

Nach einer ganzen Weile stieg er aus der Dusche und trocknete sich ab. Beim Blick in dem Spiegel fiel ihm wieder das Fluchmal auf seiner Schulter auf. Es war total egal wie das hier gleich ausging, er gehörte so oder so Reel. Sein Dämon würde ihn eh niemals freigeben und Aiden wollte endlich wissen woran er war.

Reels Zuneigungsbekundungen verliehen ihm Zuversicht, dass sein Dämon vielleicht doch ernsthafte Gefühle für ihn hegte und dann sah er wieder, wie Reel seine Zeichnungen ansah und Aidens Minderwertigkeitskomplexe zerschmetterten sein mühevoll angesammeltes Selbstvertrauen wieder.

Er brauchte endlich Gewissheit und heute war es soweit.

Aiden würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen.
 

Als er das Bad wieder verließ trug er nur sein übliches Schlafshirt und eine Boxershort. Reel saß noch immer auf dem Bett und Aiden kam nun mit leichter Röte im Gesicht auf ihn zu. Bemüht selbstbewusst schlang er seine Arme um Reels Nacken und setzte sich auf seinen Schoß.

Reels Vorahnung schien sich also doch zu bestätigen. Glücklicherweise hatte er sich geistig und nun auch körperlich darauf vorberietet, ansonsten hätte das hier böse für seinen kleinen Sunshine ausgehen können.

Aiden begann ihn zu küssen und Reel ließ sich auf das Spiel ein. Er hielt sich vorerst zurück und gab Aiden die Chance sich wieder von ihm zu befreien, doch dieser schien entschlossen das jetzt durchzuziehen. Unsicher suchten Aidens Hände ihren Weg unter Reels Oberteil und dieser wehrte sich nicht dagegen.

„Bist du dir sicher, dass du das hier willst?“, fragte Reel kalt zwischen zwei Küssen und Aiden bejahte. 'Entschuldige Sunshine. Aber anders wirst du wohl nicht auf mich hören.' Reel wollte das hier nicht tun, aber er sah keinen anderen Weg um Aiden wirksam von seinem Vorhaben abzubringen.

Bestimmend übernahm er die Führung, zog Aiden sein Shirt aus und drückte ihn unsanft aufs Bett. Seine Beine schob er herrisch auseinander und nahm Aiden durch sein Körpergewicht jede Möglichkeit der Flucht. Reels Fingernägel zeichneten feine rote Linien auf den wehrlosen Körper unter ihm und seine Zähne brachten die alten Bisswunden erneut zum bluten.

Aiden fuhr zusammen. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Reel tat ihm weh und beherrschte seinen Körper schonungslos.

Er war eben doch nur ein austauschbares Spielzeug für Reel und dessen Gier schien ihn nun nahezu zu verschlingen. In Aidens Augen bildeten sich kleine Tränen, aber er fand sich mit seiner Rolle ab und widersetzte sich nicht.

Grob hielt Reel ihn fest, während die flammend roten Augen, die Aiden doch eigentlich so sehr liebte, ihn fordernd ansahen.

„Willst du das hier wirklich?“ Reel verlangte eine Antwort, doch Aiden brachte kein Wort heraus, also wurde der Dämon laut.

„WILLST DU ES?“ Nun hielt Aiden es nicht mehr aus. Er brach in Tränen aus und schüttelte verzweifelt den Kopf.
 

Reel zog sich sofort zurück und setzte den kleinen Aiden wieder auf.

„Tut mir leid, Sunshine. Ich dachte anders merkst du es dir nicht.“ Weinend zog Aiden seine Beine an den Körper und sah ihn fassungslos an.

„Hör zu, ich will ehrlich mit dir sein. Ich will dich und das weißt du. Aber ich will nicht mit dir schlafen, wenn DU es nicht auch wirklich willst. Und du bist ganz offensichtlich noch nicht bereit dafür. Was wolltest du hiermit überhaupt erreichen?“ Aiden schluchzte noch immer heftig und fing sich nicht wirklich wieder. Reel hielt Abstand von ihm, obwohl er seinen Sunshine am liebsten in den Arm nehmen würde.

„Ich... Ich...“ Die Tränen flossen ununterbrochen über Aidens Wangen und Reel konnte das einfach nicht mehr mitansehen.

Zögerlich streckte er eine Hand nach ihm aus und fragte vorsichtig: „Darf ich?“ Aiden nickte und ließ sich von Reel die Tränen aus dem Gesicht streichen und von ihm in den Arm nehmen. Als sein Herzschlag sich langsam wieder normalisierte, fragte Reel ihn erneut.

„Was sollte das denn, Sunshine?“ Aiden schwieg kurz, bevor er eine Antwort hervorbrachte.

„Ich... also ich... Ich bin ja jetzt schon 18, aber ich bin immer noch... naja Jungfrau. Und ich...“ „Das ist doch kein Grund sich zu irgendwas zu zwingen. So klein ist doch dein Selbstwertgefühl auch wieder nicht, oder? Was ist der eigentliche Grund, Sunshine?“ Eine Weile druckste Aiden herum bis er endlich mit der Sprache herausrückte.

„Versprichst du mir, dass du nicht sauer wirst?“

„Sunshine, du kennst mich. Versprechen kann ich das nicht, aber ich geb' mir die größte Mühe.“

„Es ist wegen... Du liebst die Person, die du immer in dein Skizzenbuch zeichnest, oder?“ Reels Gesichtszüge entgleisten. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen und er wusste nicht wie er darauf reagieren sollte.

„Du siehst die Zeichnungen immer so an und... und ich weiß das du... also... Sex ist eben das einzige, was ich dieser blöden Zeichnung voraus habe.“ Aidens Tränen begannen wieder zu fließen. Seine Minderwertigkeitskomplexe brachen jetzt ungezügelt aus ihm heraus. Reel löste sich wieder von ihm und sah ihn nur schweigend an. Aiden liebte Reel, aber sein Herz gehörte ganz offensichtlich jemand anderem.

„Für dich bin ich nur ein Spielzeug und ein schlechter Ersatz, oder?“ Reel konnte nichts erwidern. Er war völlig perplex und es gab auch nichts, was er jetzt hätte sagen können. Aiden hatte recht, und er deutete Reels schuldbewusstes Schweigen und seinen ausweichenden Blick richtig.
 

Enttäuscht und verweint flüchtete Aiden aus dem Bett und rannte ins Bad.

Reel brauchte einen Moment um zu realisieren, dass dieser dabei den schwarzen Dolch mitgenommen hatte. Nun packte ihn die Panik und er stürzte Aiden Hals über Kopf hinterher. Dieser stand vor dem Spiegel und schnitt sich mit dem Dolch ungeschickt einzelne Strähnen seiner Haare ab.

„Sunshine...“ Vorsichtig versuchte er Aiden den Dolch abzunehmen, doch dieser wehrte sich entschieden dagegen. Eine von Aidens unbedachten Bewegungen endete mit einem tiefen Schnitt von Reels Brustmitte bis hoch zu seiner rechten Schulter. Der plötzliche Anblick von so viel Blut brachte Aiden wieder zu Sinnen. Seine Augen weiteten sich und er ließ sich bereitwillig von Reel den Dolch aus der Hand nehmen.

Leise wimmerte er eine Entschuldigung, doch Reel legte nur die blutige Klinge zur Seite und redete beruhigend auf ihn ein.

„Schon gut, Sunshine. Alles in Ordnung.“

„Nein... Nein, nicht in Ordnung. Das tut mir so leid.“ Behutsam umfasste Reel seine Schultern und führte ihn zum Bett zurück. Routiniert legte er seine Hände auf den Schnitt und ließ seinen Schatten sich dort sammeln. Dieser bildete eine dünne, schwarze Schutzschicht über der Wunde, die das Austreten von weiterem Blut verhinderte. Nachdem Reel sich von der Qualität der kleinen Schattensphäre überzeugt hatte, wandte er sich wieder Aiden zu.

Zügig holte er eine Schere und ein Handtuch, und führte Aiden zum Schreibtischstuhl. Dort legte er ihm das Handtuch um die noch immer nackten Schultern und begann ihm die Haare zu schneiden. Aiden hatte mit dem Dolch ganze Arbeit geleistet. Einige Strähnen waren noch unberührt, während andere unglaublich kurz abgeschnitten waren. Notdürftig brachte Reel die braunen Haare wieder in Form.

„Bei Gelegenheit musst du dir die vernünftig schneiden lassen.“ Aiden schwieg und ließ Reels Versuche widerstandslos über sich ergehen.

„Es tut mir leid. Ich wollte dir damit nie wehtun“, ergriff Reel wieder das Wort, da Aidens Schweigen starkes Unbehagen in ihm auslöste.

„Hast du aber.“ Aidens Schluchzen zwang Reel mit dem Schneiden aufzuhören und er kniete sich nun stattdessen vor ihm auf den Boden um ihn ansehen zu können. Vorsichtig nahm er seine Hände und drückte sie sanft.

„Ich weiß und das tut mir unendlich leid.“ Die roten Augen sahen ihn flehend an und Aiden wich ihnen aus. Noch einmal legte Reel zärtlich seine Hand auf Aidens Wange und wischte einige Tränen fort. Dann richtete er sich wieder auf und versuchte weiter Aidens Frisur zu retten.

Als er mit dem Ergebnis mehr oder weniger zufrieden war, wuschelte er einige male durch die braunen Haare und begann dann aufzuräumen. Aiden blieb ungerührt sitzen bis Reels ihn wieder zum Bett zurück führte und ihn in seine Bettdecke einwickelte, da er bereits auszukühlen begann.

„Wen zeichnest du da immer?“

„Aiden, bitte.“ Aiden wandte den Blick ab und seine Stimme klang leise und unglaublich verletzt als er weitersprach.

„Lass mich bitte alleine.“ Reel war sich unsicher. Er hatte Angst, Aiden könnte sich doch noch etwas antun, aber er musste ihm jetzt wohl einfach vertrauen. Unglücklich zog er sich durch das Fenster aufs Schuldach zurück.
 

'Er ließt mich viel besser, als ich erwartet hatte. Tja, mein Fehler.' Reel seufzte schwer und betrachtete den Sternenhimmel, der heute zum ersten Mal in seinem Leben nicht tröstend auf ihn wirkte. Ganz im Gegenteil – heute schien er ihn nur immer wieder an seine Fehler zu erinnern. Geschlagen breitete er sich auf dem blass-roten Ziegeldach aus, schloss die Augen und sank in einen unruhigen Schlaf, der ihn erneut von seinem Engel mit den langen Haaren träumen ließ.
 

„Alles in Ordnung, Relakesch? Du siehst unglücklich aus.“ Fragend sahen ihn die strahlend blauen Augen an und Reel brachte es nicht fertig zu lügen.

„Ich glaube, ich habe einen schlimmen Fehler begangen.“ Ruhig ließ sich die vertraute Gestalt in dem Kapuzenumhang neben ihm auf das Dach sinken.

„So schlimm wird es schon nicht sein. Erzähl's mir. Wir finden bestimmt eine Lösung.“ Reel seufzte schwer.

„Ich hab jemandem das Herz gebrochen.“

„Aber so was machst du doch ständig. Warum ist es jetzt so eine große Sache?“

„Weil ich ihn eigentlich mag und er seit Ewigkeiten der erste ist, den ich nicht verletzten oder töten möchte.“ Verständnisvoll sah ihn die Person neben ihm an.

„Wenn du ihn magst, warum hast ihm dann das Herz gebrochen?“ Reel war sichtlich überrascht von dieser Frage.

„Na, weil ich dich liebe. Und das werde ich auch immer tun.“

„Relakesch... Ich bin tot. Du musst endlich weitermachen und dem armen Jungen eine ernsthafte Chance geben. Sprich mit ihm.“ Verstört sah Reel seinen Engel an und erkannte erst jetzt, dass er sich nicht wie üblich in der altertümlichen Stadt befand, auch trug er nicht wie sonst ähnliche Kleidung wie Raven und ihr Bruder. Er saß noch immer auf dem Dach des Schulgebäudes und trug seinen lebendigen Schatten um die Schultern. Träumen tat er trotzdem.

„Aber... aber Angel. Ich kann doch nicht...“

„Warum denn nicht? Relakesch, wie lange trauerst du mir jetzt schon nach? Wie viele Jahrhunderte? Du bist nicht mehr, wer du mal warst und ich bin schon lange tot.“ Sanft nahm die Gestalt in Mitternachtsblau Reels Gesicht zwischen die Hände.

„Ich will, dass du endlich wieder glücklich bist. Ich kann es nicht mehr sehen, wie zerfressen von Rachsucht du bist. Aiden macht dich glücklich, also sei gefälligst bei ihm. Hörst du?“ Ungezügelt liefen Reel Tränen über die Wangen. Der Schleier den diese vor seinen roten Augen bildeten, ließ die Konturen der Kapuzengestalt verschwimmen und als dieser sich wieder lichtete, war er wieder allein auf dem Dach.
 

Noch etwas verwirrt setzte er sich auf, zog seine Beine an den Körper und atmete einige Male tief durch um seinen Herzschlag wieder zu beruhigen. Auf diese Art hatte er noch nie geträumt.

Er blieb noch eine Weile auf dem Dach und überlegte, wie er nun weiter vorgehen sollte. Aiden machte ihn nicht nur schwach, er stellte seine gesamten Prinzipien auf den Kopf.

Reel hatte schon öfter Opfer gehabt, die für ihn etwas besonderes gewesen waren und die er nicht sofort getötet hatte, aber Aiden war nochmal anders.

Bisher hatte er immer angenommen, dass es an dessen Ähnlichkeit zu Reels großer Liebe gelegen hatte, aber nun war er sich da nicht mehr so sicher. Klar sahen die beiden einander nicht ganz unähnlich, aber Aiden war doch jemand vollkommen anderes. Vielleicht projizierte er ja doch nicht mehr nur seine alte Liebe auf Aiden, sondern hatte inzwischen echte Gefühle für den kleinen Internatsschüler entwickelt. Und nun hatte er ihn nicht nur zum Weinen gebracht, sondern ihm auch noch das Herz gebrochen.

Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und kletterte wieder ins Zimmer zurück.
 

Aiden lag mit dem Gesicht zur Wand im Bett und sah ihn nicht an. Trotzdem bemerkte er ihn über ihre Verbindung sofort und murmelte ihm nur verweint zu: „Geh weg.“ Reel ließ sich davon nicht abschrecken und setzte sich einfach auf die Bettkante.

„Das ist jetzt vielleicht ein bisschen spät, aber ich … Wenn du möchtest erzähle ich es dir. Ich erzähle dir alles, was du wissen möchtest.“ Aiden ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

Letztendlich richtete er sich doch auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sah Reel nun endlich an.

Seine Augen waren rot und geschwollen vom Weinen und Reels schlechtes Gewissen biss ihn bei diesem Anblick immer wieder. Schützend wickelte Aiden die Bettdecke um sich und sah seinen Dämon auffordernd an. Dieser seufzte und machte es sich gegenüber von Aiden im Schneidersitz auf dem Bett bequem. Tief atmete Reel durch, dann begann er zu erzählen.

Relakesch I - Engel

Reel war angespannt. Möglichst lautlos bewegte er sich über den Dielenboden, der hin und wieder ein verräterisches Knarren von sich gab. Das leise Schnarchen vom anderen Ende des Bettes versicherte ihm, dass er noch nicht aufgeflogen war und so schlich er weiter unbemerkt durchs Zimmer.

Ein paar Münzen, die offen auf einem Holztisch lagen, fanden ihren Weg in Reels Besitz, eine silberne Taschenuhr und eine Brosche mit Blumenmotiv folgen im Anschluss.

Nun galt seine Aufmerksamkeit dem Nachtschrank neben dem Bett. Vorsichtig tastete er sich an das Objekt seiner Begierde heran – eine beschlagenen Schatulle. Sie war von ihrem Besitzer in dem kleinen Möbelstück verstaut worden und Reel machte sich nun verstohlen daran sie aus ihrem Versteck zu holen.

Ein eisernes Schloss hielt die Schatulle verschlossen, die für ihre Größe erstaunlich schwer war.

Grade noch rechtzeitig bemerkte Reel die dünne Schnur, die an einen eigens dafür an der Schatulle angebrachten Ring befestigt worden war.

Die Schnur war durch ein Loch in der Rückwand des Nachtschranks gefädelt, zu dem darüber liegenden Regal gezogen und dort befestigt worden.

Hätte Reel nun an der Schatulle und damit an der Schnur gezogen, wäre das Regal und alles was darauf aufgestapelt worden war auf ihn niedergestürzt und hätte den schlafenden Besitzer alarmiert. Umsichtig begutachtete er den Mechanismus bevor er mit einem behutsamen Schnitt seines Dolches die Schnur von seinem Diebesgut trennte.

Das Regal blieb intakt, der Mann auf dem Bett schnarchte friedlich weiter und Reel zog sich leise zurück.

Auf dem Rückweg zum Fenster achtete er darauf, keine der knarrenden Dielen zu betreten, die er auf seinem Hinweg bereits als solche erkannt hatte.

Vor dem Fenster wartete Corvo ungeduldig auf ihn. Vorsichtig nahm er ihm das kleine aber schwere Kästchen ab, damit Reel beide Hände zum Klettern frei hatte. Corvo schaffte es auch mit nur einer Hand mühelos die Hauswand hinabzusteigen, aber Reel hatte doch lieber beide Hände zur Verfügung.

Unten angekommen verschwanden sie sofort in die nächste dunkle Gasse und huschten davon. Es war Nacht, aber die beiden Diebe hätten ihren Weg durch die Straßen der Stadt auch mit verbundenen Augen gefunden und fanden sich in der Dunkelheit mühelos zurecht.

Ihr Ziel war eine verlassenen Taverne in der Nähe der Stadtmauern, welche ihnen nicht nur als Unterschlupf, sondern auch als Zuhause diente.

Neben der verbarrikadierten Eingangstür hing ein verwittertes Holzschild von dem die Farbe bereits abblätterte. Früher hatte darauf wohl einmal 'Zur tanzenden Krähe' gestanden, doch nun nannten alle diesen Ort nur noch 'Das Krähennest'.
 

Raven wartete bereits ungeduldig und als sie die beiden vertrauten Silhouetten in den Schatten der Gassen entdeckte, fiel ein größer Teil ihrer Anspannung endlich von ihr ab. Der Auftrag war nicht schwer gewesen, aber es konnte immer etwas schief gehen und sie machte sich so oder so immer Sorgen um die beiden.

Über einen versteckten Zugang verschafften sich die Jungs Zutritt zu dem heruntergekommen Gebäude und wurden von ihrer Anführerin und einigen weiteren Dieben begrüßt. Raven nahm die Schatulle entgegen und machte sich daran das Schloss zu öffnen. Wenn es um das Knacken von Schlössern ging, war sie die unübertroffene Meisterin dieser Stadt. Ihre Werkzeuge waren ihr größter Schatz und obwohl sie jeden, der es lernen wollte, in dieser Kunst unterwies, hatte noch niemand ihr Level erreicht.

Daher dauerte es auch nicht lang, bis ein metallisches Klicken ertönte und die Schatulle bereitwillig ihren Inhalt preisgab. Eine ganze Menge glänzender und abgegriffener Münzen kam zum Vorschein und löste Jubel unter den jungen Dieben aus. Reels Opfer war der Eintreiber eines Geldleihers gewesen und die Schatulle und ihr Inhalt hätte an dessen Arbeitgeber gehen sollen. Nun würde er stattdessen den Dieben dabei helfen am Leben zu bleiben.

Es gab mehrere Diebesgilden in der Stadt und Reels war eine der kleineren und wenig respektierten. Das machte ihr Leben am Stadtrand nicht grade leichter, aber die meisten hier kannten eh nichts anderes und Raven tat alles in ihrer Macht stehende um ihre Diebe zu beschützen.

„Gut gemacht, Jungs. Damit kommen wir eine Weile über die Runden“, beglückwünschte die lebhafte Brünette sie und umarmte beide gleichzeitig. Raven und Corvo waren mit ihren 19 Jahren die beiden ältesten in ihrer Gilde und Vorbilder für alle anderen – einschließlich Reel. Er war damals nur 8 Jahre alt gewesen, als die Zwillinge ihn aufnahmen und seit dem waren sie für ihn das, was einer Familie am nächsten kam. Nun war er 16 und übernahm selbst eine gewisse Verantwortung für die jüngeren Diebe seiner Gilde.
 

Reel zog sich auf das löchrige Dach ihres alten Pubs zurück. Er liebte es von hier aus den Sternenhimmel zu betrachten und irgendwann gesellte sich auch Raven zu ihm. Sie war eher selten hier oben anzutreffen, da das instabile Dach sie nervös machte, aber sie wusste, dass sie Reel hier finden würde.

„Lief alles ohne Probleme?“

„Ja. Nur eine kleine Schnur-Falle. Nichts womit ich nicht umgehen könnte.“ Raven seufzte erleichtert auf.

„Lange wird es nicht reichen. Vor allem nicht, wenn wir der Invi-Gilde bald auch noch Schutzgeld zahlen müssen.“

„Ich weiß. Hast du schon ein neues Ziel für mich, Raven?“ Die junge Anführerin druckste ein wenig herum bevor sie antwortete.

„Schon... Aber ich weiß nicht ob wir uns das zutrauen können. Andererseits gehen uns langsam die Optionen aus. Die anderen Gilden grenzen unser Territorium immer stärker ein und wir brauchen die Beute, sonst sind die Krähen bald Geschichte.“

„Was hast du im Sinn?“

„Das Anwesen von Lord Griefs“, rückte Raven endlich mit der Sprache heraus. Normalerweise versuchte sie das Risiko zu minimieren, aber sie brauchten das Geld – oder viel mehr die Schuldscheine die Lord Griefs seit Kurzem in seinem Besitz hatte.

Raven erzählte ihm, dass Griefs einige hohe Mitglieder der Invi-Gilde – ihrem größten Rivalen – finanziell im Griff hatte und diese wollten ihre Schuldscheine schnellstmöglich aus dessen Besitz entwendet wissen.

Sie selbst zu stehlen, bot für die Invi-Diebe ein zu großes Risiko, da Griefs ihre höchsten Mitglieder mit seinen Scheinen völlig im Griff hatte. Aber auch so hätte sich vermutlich kein Freiwilliger gefunden, der tollkühn oder schlichtweg einfach wahnsinnig genug gewesen wäre, sich mit einem der mächtigsten und gefürchtetsten Bewohner dieser Stadt anzulegen.

Reel schwieg für einen Moment bevor er antworte.

„Das wird... interessant. Mit viel Vorbereitung und etwas Glück könnten wir das schaffen. Aber es ist ja eh nicht so, als hätten wir eine Wahl.“ Raven seufzte erneut. Sie rückte ein Stück näher an Reel und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie war eigentlich niemand, der gern Verantwortung übernahm, aber irgendwie war sie dennoch die Rolle der Anführerin gerutscht und nun erfüllte sie diese nach bestem Wissen und Gewissen.

Reel lehnte seinen Kopf gegen ihren und betrachtete weiter die Sterne. Er genoss Ravens geschwisterliche Zuneigung sehr. Sie und Corvo waren für Reel das, was einer Familie am nächsten kam und er würde Raven zweifelsfrei als seine Schwester bezeichnen.

„Ich mache es. Ich übernehme die Vorbereitung für das Griefs-Anwesen.“ Die Vorbereitung für einen solchen Beutezug war zeitaufwendig. Es galt das Gelände und Gebäude auszukundschaften, den Tagesablauf aller Bewohner und Angestellten in Erfahrung zu bringen und auswendig zu lernen, und die perfekte Gelegenheit für den Einbruch zu wählen.

Raven hatte in ihrer Rolle als Anführerin nicht die Zeit dafür und Corvo hatte einfach nicht die Geduld. Er war ein hervorragender Kletterer und Free-Runner, und im Dolch-Kampf konnte nicht einmal Reel ihm das Wasser reichen, aber er war ungeduldig und neigte zu Fehleinschätzungen, wenn es um Risiken ging.

Außerdem würde er sich darum kümmern müssen, die anderen über die Runden zu bringen, bis sie bereit für den großen Einbruch waren. Den übrigen Dieben traute Reel eine Aufgabe dieser Wichtigkeit einfach nicht zu, also blieb nur er selbst für den Job übrig.

„Aber sei vorsichtig. Du weißt, wenn ich eine andere Möglichkeit sehen würde, dann würde ich dich das nicht machen lassen.“

„Ich weiß. Mach dir keine Sorgen. Ich kann schon auf mich aufpassen.“ Ein kurzes, wissendes Lachen entfuhr Raven, aber sie erwiderte nicht.

Plötzlich hörten sie leise Schritte hinter sich. Corvo setzte sich wortlos neben seine Schwester und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem schrägen Dach zurück. Raven und Reel taten es ihm gleich und schweigend betrachteten sie den Himmel. Corvo wusste bereits über das Griefs-Anwesen Bescheid. Ohne mit ihm vorher darüber zu sprechen, hätte Raven Reel diesen Vorschlag nicht unterbreitet.
 

Am nächsten Abend begann Reel seinen Auftrag. Corvo begleitete ihn um sicherzugehen, dass sich die Routinen der Stadtwachen nicht verändert hatten und Reel dadurch nicht in Schwierigkeiten geriet. Er war eher der schweigsame Typ, aber Reel kannte ihn lang genug um ihm seine Sorge dennoch anzumerken. Ein Anwesen war eine ganz andere Nummer als Taschendiebstahl oder einfache Einbrüche.

Gemeinsam kundschafteten sie die Umgebung aus und suchten gute Verstecke für Reel um von dort aus das Anwesen zu beobachten. Nach gut drei Stunden wurde Corvo zappelig.

„Wer ist es dieses mal?“, fragte Reel beiläufig.

„Die Zofe einer Händler-Tochter. Ein bisschen schüchtern, aber mit einem unglaublich wohlgeformten Körper.“ Reel unterdrückte ein Schmunzeln. Corvo sah gut aus und hatte viele Liebschaften, die er gerne für seine Diebstähle ausnutzte.

„Na dann zisch schon ab. Ein Haus kann ich auch allein beobachten“, witzelte Reel und zwinkerte ihm wissend zu. Dankbar grinste Corvo ihn an.

„Alles klar. Du packst das hier schon.“ Grob fuhr er Reel durch die Haare, dann verschwand er mit unglaublicher Geschicklichkeit über die Dächer ins nächste Stadtviertel. Reel sah ihm einen Moment lang hinterher und richtete anschließend seine Haare. Er hatte sie zurückgebunden und Corvo hatte viele Strähnen aus dem Zopf gelöst.

Endlich konzentrierte er sich wieder auf das große Gebäude vor ihm. Hinter vielen der Fenster in den unteren Etagen war warmes Licht zu sehen, während weiter oben nur zwei Fenster erleuchtet waren. Eines von diesen beiden obersten Fenstern wurde nun geöffnet und Reel duckte sich reflexartig noch tiefer in die Schatten.

Er erkannte langes, helles – fast schon weißes – Haar und weiße Kleidung. Die Gestalt wirkte nahezu mystisch im Licht des Halbmondes und Reel konnte nicht anders als von ihrem Anblick gefesselt zu werden. Er vergaß seine eigentliche Aufgabe völlig und beobachtete nur noch die Schönheit am Fenster.

Reel wusste nicht wer sie war. Vielleicht die Tochter von Lord Griefs? Er war um die 40 Jahre alt und verheiratet, also wäre es durchaus möglich, aber hatte Lord Greifs überhaupt Kinder? Keine von denen Reel wusste, aber er kümmerte sich normalerweise auch nicht besonders um die Familienplanung der gehobene Schicht. Das Mädchen am Fenster sah nicht aus, als gehöre sie zum Personal, auch hätte sie in diesem Fall keine Zeit zum Sterne-gucken gehabt. Also wer war sie?

Reel konnte seine Augen nicht von der platinblonden Schönheit lassen und beobachtete diese, bis sie sich in ihr Zimmer zurückzog und das Licht löschte.

Endlich konnte er sich wieder auf seine Aufgabe konzentrieren, doch immer wieder glitten seine Gedanken zu dem blonden Engel aus der obersten Etage.
 

Die Sonne ging auf und Müdigkeit überkam Reel. Er wartete die nächste Patrouille ab und machte sich dann auf den Weg zurück zum Krähennest.

Dort angekommen zog er sich sofort in seine Ecke zurück und schlief ein. Corvo kam ebenfalls erst am Morgen zurück. Er legte einige Münzen, ein Brosche und zwei geschmückte Weinkelche in ihre Beute-Truhe. Am Abend würden er und Raven ihrem Schwarzmarkthändler einen Besuch abstatten und ihre Beute versilbern.

Auf dem Weg zum Dach lief er an Reel vorbei. Dieser lag zusammengerollt auf seinem notdürftigen Nachtlager und schlief. Das Jahr neigte sich bereits dem Ende zu und es wurde von Tag zu Tag kälter. Mit einem kurzen Seufzen zog Corvo seinen Kapuzenumhang aus und legte ihm um Reels Schultern. Fast jeder Dieb trug einen solchen Umhang in dunklen, unregelmäßigen Grautönen. Schwarz erzeugte zu scharfe Konturen, dreckiges Grau hingegen verwischte diese und erlaubte es dem Träger sich perfekt in die nächtliche Stadt einzufügen.

Raven beobachtete ihren Bruder vom Türrahmen aus. „Softie“, flüsterte sie ihm grinsend zu, als er an ihr vorbeilief. „Klappe, Prinzessin“, konterte Corvo mit einem unterdrückten Schmunzeln.
 

Als Reel wieder aufwachte, fiel sein Blick auf den verschlissenen Kapuzenumhang. Er faltete ihn grob zusammen und ging in den ehemaligen Schankraum. Raven saß auf dem Bartresen und organisierte ihre Finanzen. Sie trug ihren Umhang und schenkte Reel einen wissenden Blick. Dieser verstand sofort was sie meinte, nahm sich eine Schüssel Eintopf und setzte sich neben sie – Corvos Umhang auf dem Schoß.

„Wie lief´s gestern Nacht?“, eröffnete Raven das Gespräch.

„Ganz gut. Ich hab einen guten Einblick in die Arbeitszeiten des Personals bekommen. … Aber sag mal... Hat Lord Griefs eigentlich Kinder?“ Raven sah ihn verwirrte an.

„Nicht das ich wüsste. Wieso?“

„Ich hab jemanden im Fenster der obersten Etage gesehen, der nicht zum Personal gehört. Ich glaube es ist ein Mädchen, etwa in meinem Alter, mit langen, weißen Haaren.“

„Weiß? Das ist ungewöhnlich. Schick ruhig die anderen los um Informationen einzuholen oder frag Corvo, wenn du ihm seinen Umhang wieder gibst. Er schnappt bei seinen Liebschaften ab und an ein paar interessante Dinge auf.“

Reel aß seine Portion und machte sich dann auf die Suche nach Corvo. Auf dem Dach wurde er fündig. Reel setzt sich neben ihn und reichte ihm seinen Umhang.

„Danke.“ Doch Corvo winkte nur ab und warf sich den Umhang mit einer schwungvollen Bewegung um die Schultern.

„Sag mal, Corvo. Weißt du zufällig etwa über ein Mädchen mit langen weißen Haaren? Sie ist etwa so alt wie ich und lebt in Lord Griefs Anwesen.“ Corvo sah in unschlüssig an, dann stahl sich ein diebisches Grinsen auf sein Gesicht.

„Bist du etwa verliebt, Reel?“, stachelte er ihn an.

„Es geht nur um meinen Auftrag. Ich muss über jeden Bewohner des Anwesens Bescheid wissen um den Einbruch ideal planen zu können“, rechtfertigte sich Reel während sich eine ertappte Verlegenheit auf sein Gesicht schlich. Corvo überlegte einen Moment.

„Ich hab da tatsächlich etwas über ein Mädchen mit weißen Haaren gehört. 18 Jahre alt, schmaler Körper, blasse Haut und gibt ein eher kränkliches Bild ab.“ Reel nickte.

„Ja, so sah sie aus. Wer ist das?“

„Lord Griefs Ehefrau“, verkündete Corvo ganz trocken.

„Was?“ Reels Gesichtszüge entgleisten. „Aber... sie ist doch erst 18 und Lord Griefs ist... irgendwas um die 40.“ Corvo überging ihn einfach und sprach weiter.

„Das Mädchen ist ein beliebtes Thema bei den adligen Frauen und ihren Hofdamen. Nach dem was ich so gehört habe, ist sie im Alter von 12 Jahren mit ihm zwangsverheiratet worden und lebt seit dem wie in einem goldenen Käfig bei ihm.“ Reel dachte zurück an die hübsche Gestalt am Fenster und empfand Mitleid.

Corvo stand auf und fuhr Reel wieder durch die Haare. Noch hatte er sie nicht zurückgebunden, aber das würde er nachholen bevor er zum Anwesen aufbrach.

„Ich hab heute Nacht noch eine Verabredung. Viel Glück mit Lady Griefs, Kleiner.“ Mit diesen Worten ließ Corvo ihn allein. Einen kurzen Moment lang grübelte er noch über die neuen Informationen nach, dann band er sich seine schwarzen Haare zusammen und machte sich ebenfalls auf den Weg.
 

Reel bezog pünktlich zu Sonnenuntergang sein Versteck mit freier Sicht auf das Fenster im Obergeschoss, an dem er gestern das Mädchen gesehen hatte. Und tatsächlich wurde es von schummrigem Licht erhellt, sobald die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwunden war. Immer wieder sah Reel flüchtig dort hinauf, in der Hoffnung noch einmal einen Blick auf den hübschen Engel zu erhaschen. Und wie es schien, war das Glück ihm hold, denn knapp eine Stunde später öffnete sich das Fenster erneut und lenkte Reels Aufmerksamkeit auf sich. Das Mädchen wirkte melancholisch und Reel verstand nun auch den Grund dafür. Sehnsüchtig betrachtete er die ungewöhnliche Schönheit.

Sie kam jeden Abend circa eine Stunde nach Sonnenuntergang ans Fenster und Reel sehnte diesen Moment jeden Tag herbei. Das Mädchen faszinierte ihn und er wusste nicht wieso. Vielleicht war es ihr exotisches Aussehen oder die Tatsache, dass sie für Reel unerreichbar war.

Irgendwann wurde er unaufmerksam und begann seine Deckung zu vernachlässigen. Insgeheim wünschte er sich fast von ihr gesehen zu werden, auch wenn das mehr als dumm von ihm war.
 

Es kam wie es kommen musste und eines Abends fiel dem Mädchen ihr nächtlicher Besucher auf.

Sie erschrak und überlegte kurz um Hilfe zu rufen, entschied sich jedoch dagegen. Die dunkle Gestalt beobachtete sie nur aus der Ferne und sie war seit langem die erste interessante Abwechslung, die sich ihr in ihrem öden Alltag bot. Also stellte sie lediglich vorsichtig Blickkontakt her und schwieg. Es war so dunkel, dass sie ihren mysteriösen Besucher kaum erkennen konnte, aber er verschwand nie vollständig in den Schatten und ermöglichte ihr so, ihn halbwegs im Auge zu behalten.

Irgendwann wurde ihr befohlen das Licht zu löschen und sie musste vom Fenster zurücktreten.

In dieser Nacht konnte sie kaum schlafen. Die ganze Zeit fürchtete sie, die Schattengestalt könnte in ihr Zimmer einsteigen, aber verraten wollte sie ihn auch nicht. Außerdem war sie sich nicht einmal sicher, ob es nicht sogar besser wäre, wenn er in ihr Zimmer einbrach. So würde sie wenigstens einmal etwas Interessantes erleben und an ihrem Leben hing sie sowieso seit 6 Jahren nicht mehr.
 

Am nächsten Abend suchte sie vom Fenster aus die Umgebung nach einem auffälligen Schatten ab, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Sie wollte schon traurig aufgeben, als plötzlich eine Figur im dunklen Kapuzenumhang aus dem Schatten trat und wartete bis sie ihn fokussieren konnte. Lady Griefs Herz machte einen kleinen Hüpfer. Er war tatsächlich wiedergekommen.
 

So verliefen auch die folgenden Nächte und Reel wusste ganz genau, dass er einen schwerwiegenden Fehler beging. Das Mädchen suchte ihn jeden Abend und jeden Abend gab er sich ihr zu erkennen. Warum sie ihn nicht verriet war ihm ein Rätsel, aber andererseits verstand er ja auch nicht warum er sich ihr überhaupt zeigte. Sie faszinierte ihn einfach ungemein und irgendwann reichte es Reel nicht mehr, sie nur von weitem zu betrachten. Er wollte wissen, wer dieses Mädchen wirklich war und es konnte ja auch sehr hilfreich für seinen Einbruch sein, wenn er sich mit ihr anfreundete. Es hatte leider als äußerst schwierig herausgestellt an Informationen über Lord Griefs und dessen Personal und Anwesen zu kommen, daher wäre ein Informant innerhalb dieser Mauern Reels beste Chance. 'Corvo besorgt sich seine Informationen schließlich auch so, also warum sollte ich das nicht auch versuchen?', dachte Reel bei sich und suchte nach Ausreden um seinen Wunsch zu ihr zu gehen zu rechtfertigen.
 

Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Rufen und ließ Reel aufschrecken. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er die Zeit vergessen und von einer Patrouille überrascht worden war. Jetzt hieß es schnell sein und die Flucht nach vorn ergreifen. Hecktisch huschte er vom Dach und durch die Gassen Richtung Anwesen.

Kurzentschlossen schlich er sich zur Rückseite des Gebäudes und begann dort die Hauswand zu erklimmen. Den restlichen Wachen und Hausangestellten wich er dabei mehr oder weniger problemlos aus – schließlich kannte er deren Routinen inzwischen recht gut.

Über das Dach erreichte er das einzige geöffnete Fenster – das des Mädchens – und schwang sich durch dieses ins Zimmer um sich vor den Blicken der nahenden Wachen zu verbergen.

Sie erschrak, aber brachte kein einziges Wort hervor. Die lauten Rufe von draußen ließen sie wissen was sie zu wissen brauchte und dennoch schrie sie nicht um Hilfe.

Reflexartig zog sie ihren Besucher vom Fenster weg und schloss die Vorhänge um sie beide vor neugierigen Blicken zu schützen.

Draußen wurde es nur langsam wieder leiser und Reel fand endlich seine Stimme wieder.

„Danke“, flüsterte er seiner Retterin leise zu.

„Kein Problem... glaube ich...“, kam die gestammelte Antwort.

„Du bist Lady Griefs, oder? Lord Griefs Frau.“ Sie sah ertappt zur Seite und nickte.

„Und du bist?“

„Ähm... du kannst mich Reel nennen“, antwortete er nervös und unsicher, warum er ihr seinen Namen genannt hatte.

„Also... ehm... Du solltest dich vielleicht eine Zeit lang hier verstecken, bis sich die Aufregung wieder gelegt hat.“ Das war das mit Abstand spannendste, was ihr je passiert war und der Junge in der verschlissenen Kleidung mit den ungeschnittenen, tiefschwarzen Haaren war der mit Abstand schönste Mensch, der ihr je begegnet war.

Reel nickte zögerlich. „Warum verrätst du mich nicht?“ Sie schwieg kurz, dann konterte sie mit einer Gegenfrage. „Warum beobachtest du das Anwesen?“

„Schon gut. Keine Fragen, keine Lügen, okay?“ Reel ging mit seiner bloßen Anwesenheit bereits ein viel zu großes Risiko ein, da würde er nicht auch noch Fragen beantworten. Es sich mit seiner Retterin verscherzen, wollte er allerdings auch nicht.

„Ich hoffe du hast dich nicht zu unwohl wegen meiner Besuche gefühlt, Lady Griefs“, versuchte Reel das Gespräch in eine belanglosere Richtung zu lenken.

„Nenn mich bitte nicht so.“ Sie schien ehrlich unglücklich mit dieser Anrede und Reel konnte es ihr nicht verübeln.

„Dann sag mir wie du heißt.“ Sie zögerte einen Moment und sah Reel forschend an bevor sie leise antwortete: „Nathalie.“

„Schöner Name. Passt zu dir.“ Sie wurde ein wenig rot. Es war das erste mal seit 6 Jahren, dass sie ungezwungen mit jemand anderem als Lord Griefs oder dem Personal des Anwesens sprach. Und dazu schien Reel auch noch in etwa in ihrem Alter zu sein.
 

Corvo hatte recht gehabt. Nathalie war tatsächlich sehr schmal und wirkte schwach und kränklich. Das konnte man trotz des weiten Rüschen-Nachthemdes erkennen, aber es tat ihrer Schönheit keinen großen Abbruch. Ihre Augen waren leuchtend blau, aber hatten einen gebrochenen Ausdruck, den Reel nicht so recht zu deuten wusste.

Schließlich entschied Reel, dass es draußen wieder sicher für ihn war.

„Dann lass ich dich jetzt mal wieder allein, Lady Nathalie.“ Er zwinkerte ihr zu und ging zum Fenster.

„Reel? Kommst du... Kommst du morgen wieder?“ Reel stutzte. Sie verblüffte ihn immer wieder.

„Wenn du willst.“

„Du bist das einzige interessante, was mir hier passiert. Also komm bitte wieder.“ Reel wusste nicht so recht, was er mit dieser Antwort anfangen sollte.

„Sag mal, hast du gar keine Angst vor mir? Ich könnte hier sein um dich zu töten. Ich bin sogar bewaffnet.“ Zur Demonstration zog er seinen Dolch hervor und führte betont beiläufig einige Tricks damit vor. Doch sie blieb ganz ruhig.

„Ich hab keine Angst vor dem Tod. Und du hast doch nicht vor mich zu töten, oder?“

„Nein, eigentlich nicht. Also dann. Bis Morgen.“ Und im nächsten Augenblick war er auch schon durchs Fenster verschwunden.
 

Mit einem Dauergrinsen im Gesicht stahl sich Reel wieder in die Schatten. Verdammt, er hatte sich grade verliebt – in die Ehefrau seines nächsten Opfers. 'Toll... da hab ich ja mal wieder ein Glück.' Er war noch nie ernsthaft verliebt gewesen und es fühlte sich so belebend an. Reel konnte den nächsten Abend kaum abwarten.

Bei seinem nächsten Besuch fand er schnell einen sicheren Weg aufs Dach und damit in Nathalies Zimmer.

Anfangs unterhielten sich nur über belanglose Dinge, damit Reel nichts über den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit preisgeben müsste, aber durch seine allabendlichen Besuche entwickelte sich schnell eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen und Reels Anwesenheit war für Nathalie immer weniger ein Grund zur Nervosität.

„Guten Abend, Lady Nathalie“, erklang die vertraute Stimme des jungen Diebes. „Was machst du?“ Gedankenlos ließ er seinen Umhang in der Nähe des Fensters, durch welches er täglich ein- und ausstieg, fallen und kam zu Nathalie aufs Bett. Ungefragt ließ er sich neben ihr aufs Bett fallen und sah sie an.

„Ich lese. Doktor Luis – mein Leibarzt – hat mir heute ein neues Buch mitgebracht. Magst du mal einen Blick rein werfen?“ Auffordernd hielt sie ihm das Buch hin, doch dieser winkte ab.

„Das ist nicht so unbedingt mein Ding.“

„Ach komm schon. Sieh es dir wenigstens mal an. Es ist wirklich interessant.“ Reel wurde leicht rot und sah beschämt zur Seite. „Ich kann nicht...“, druckste er herum. Verwirrte sah Nathalie ihn an. „Was meinst du?“

„Nathalie, ich kann nicht lesen.“ In diesem Moment wurde ihr ihr Fehler bewusst. Natürlich, woher sollte er es auch können? Sie wusste mittlerweile, dass Reel nicht nur aus ärmlichen Verhältnissen stammte, sondern mehr oder weniger auf der Straße lebte. Ans Lesen lernen war da natürlich gar nicht zu denken.

„Entschuldige bitte, das war unsensibel von mir. Wenn du willst kann ich es dir beibringen. Es ist gar nicht so schwer.“ Reel sah sie unschlüssig an.

„Naja, ich kann es ja mal versuchen.“ Nathalies Gesicht hellte sich auf. Sofort rückte sie ein Stück näher an Reel, damit sie gemeinsam in das Buch sehen konnten und begann damit ihm die einzelnen Buchstaben zu erklären.

Reel machte relativ schnell Fortschritte. Er hatte schon immer ein gutes Gedächtnis gehabt und einige wenige Buchstaben und Wörter kannte er durch Schenken-Namen und ähnliches vorher schon.

Nathalie blühte in ihrer Rolle als Lehrerin richtig auf und Reel konnte nicht anders, als sich von ihrem Enthusiasmus anstecken zu lassen.

Irgendwann schwirrte Reels Kopf vor lauter Buchstaben und Nathalie beendete den Unterricht für diesen Abend.

Schwärmerisch sahen ihr Reels Augen entgegen. Sie waren hellgrau – eine ungewöhnliche Augenfarbe und Nathalie liebte sie.

„Du bist wunderschön, weißt du das?“ Nathalie wurde rot. Sie war es nicht gewohnt Komplimente zu bekommen und besonders von Reel bedeutete ihr das viel. Verlegen rollte sie sich auf den Rücken und schlug die Hände vor die Augen um ihre Röte zu verstecken.

Reel beobachtete sie amüsiert. Er brachte sie gerne in Verlegenheit. Unverwandt ließ Reel seinen Blick von Nathalies Gesicht weiter nach unten wandern. Der Kragen von ihrem Nachthemd war verrutscht und gab ein gutes Stück ihrer Brust frei, die in ihrer momentanen Körperhaltung noch flacher wirkte als eh schon.

Reel stutzte. Unauffällig zog er an dem Band, dass den Kragen noch notdürftig zusammenhielt. „Nathalie?“

„Ja?“ Sie setzte sich auf und Reel sah ihr nicht in die Augen sondern etwas tiefer. Nathalie folgte seinem Blick und bemerkte schnell was ihn so verwirrte. Die Schnürung ihres Nachthemdes hatte sich durch ihr Aufsetzten nun völlig gelöst und gab ihre gesamte Brust frei. Sie lief hochrot an und sah beschämt zur Seite. „Reel, es tut mir so leid. Ich … Ich wollte dich nicht anlügen... Ich...“ Reel wusste nicht so richtig wie er regieren sollte. Er war völlig perplex.

„Wie heißt du wirklich?“

„ … Nathaniël“, gab dieser beschämt von sich.

„Darf ich?“ Reel machte sich daran das Nachthemd weiter zu öffnen um sich zu vergewissern. „NEIN!“ Panisch zog Nathaniël die Schnur wieder fest und bedeckte seine Blöße.

„Ich bin ein Mann. Ja. Ich... ich wollte nicht lügen, aber ich... Reel, ich dachte dann magst du mich vielleicht nicht mehr.“ Tränen bildeten sich in seinen blauen Augen.

Vorsichtig rückte Reel näher und berührte sanft seine Wange um diese wegzuwischen. Nathaniël hatte in letzter Zeit so viel Angst und Zweifel angestaut, dass diese jetzt in Form von Tränen hervorbrachen. Zaghaft legte Reel seine Arme um ihn und dieser weinte leise an Reels Brust.

„Hasst du mich jetzt?“, schluchzte er leise in Reels Leinenhemd.

„Wie kommst du denn da drauf? Klar, finde ich es nicht in Ordnung, dass du mich belogen hast, aber dafür hasse ich dich doch nicht.“

„Wirklich nicht?“, murmelte er verweint.

„Versprochen.“

„Danke.“ Reel hielt ihn fest, strich behutsam über seinen Rücken und verhedderte ab und an seine Finger in Nathaniëls langen Haaren.
 

Irgendwann bemerkte Reel, dass Nathaniël eingeschlafen war. Unkoordiniert flogen seine Gedanken durcheinander. Reel war schon früher aufgefallen, dass er Frauen nicht als anziehend empfand, daher hatte ihn seine Zuneigung für Nathalie doch sehr gewundert. Aber wie sich herausstellte fühlte er sich zu Nathaniël und nicht zu Nathalie hingezogen und irgendwie beruhigte ihn das fast schon wieder. Eine weitere Phase der sexuellen Verwirrung konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Relakesch II – Was das Herz verbiegt

Nach und nach fiel mehr morgendliches Sonnenlicht in das Zimmer und ermahnten Reel, dass es höchste Zeit für ihn war zu gehen. Sanft weckte er Nathaniël, indem er ihm zärtlich die Haare aus dem Gesicht strich und ruhig auf ihn einredete.

„Ich muss jetzt wirklich los.“ Verschlafen richtete dieser sich auf und rieb sich die Augen. Liebevoll strich Reel ihm die Haare glatt und wartete bis er richtig wach war.

„Ich muss gehen.“ Langsam stieg er aus dem Bett und sammelte seinen Umhang auf.

„Bis heute Abend, Nathaniël.“ Reel betonte den Namen besonders und schenkte ihm ein verliebtes Lächeln, dann verschwand er aus dem Fenster.

Nathaniël blieb allein zurück und ließ den letzten Abend noch einmal Revue passieren. Er war über alle Maßen glücklich, dass Reel ihn nicht für seine Maskerade hasste. Es wäre unerträglich für ihn gewesen, Reel zu verlieren. Er war das einzig Positive in seinem sonst so eintönigen Leben.
 

Für Reel war diese Zeit ein wahrer Drahtseilakt. Es war schwer die Balance zwischen seiner Verantwortung den Dieben gegenüber und seiner Liebe zu Nathaniël zu finden. Eigentlich sollte Reel das Griefs-Anwesen beobachten und ausspionieren, stattdessen verbrachte er nun seine gesamte Zeit in Nathaniëls Zimmer.

Er verheimlichte seine Identität und den anfänglichen Grund seiner Besuche vor ihm. Aber andererseits hing das Überleben seiner Familie von seiner Arbeit hier ab, also fasste Reel schweren Herzens einen Entschluss – er würde versuchen von Nathaniël Informationen zu bekommen und sich endlich wieder mehr auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren, auch wenn es ihm schwerfiel und er Nathaniël keinesfalls ausnutzen wollte.

Allein der Gedanke daran tat ihm in der Seele weh, aber wie immer hatte Reel nicht unbedingt eine andere Wahl und die Umstände zwangen ihn zu baldigem Handeln. Reel wollte weder das Vertrauen seines Engels missbrauchen noch wollte er das Leben seiner Familie riskieren, aber er musste diese schmerzliche Entscheiden fällen – egal wie verbissen er sich auch dagegen sträubte.

Raven hatte ihm subtil zu verstehen gegeben, dass sie ahnte, dass etwas mit Reel nicht stimmte. Das wiederum bedeutete, dass auch Corvo davon wusste und dieser hatte einen wirklich kurzen Geduldsfaden. Wenn Reel nicht bald Ergebnisse lieferte, würde der impulsive Dieb selbst nachforschen und das könnte sowohl für ihn als auch für seinen unschuldigen Nathaniël böse enden.

Also legte Reel sich im Geiste gezwungener Weise einige Worte und Fragen zurecht, die er Nathaniël stellen wollte um unauffällig an Informationen zu kommen, doch als er endlich Luft holte und den Mund öffnete, wurde er von einem hektischen Klopfzeichen an der Zimmertür abgewürgt und Nathaniël wurde schlagartig blass.

Panisch scheuchte er Reel vom Bett und in Richtung Fenster.

„Schnell! Du musst gehen!“ Reel gehorchte, griff geistesgegenwärtig seinen Umhang und flüchtete durch das Fenster aufs Dach.

Nur einen Wimpernschlag später konnte Reel hören, wie unter ihm die Zimmertür schwungvoll aufgestoßen wurde und schwere Schritte den Raum betraten. Leise fiel die Tür wieder ins Schloss und niemand im Zimmer sagte ein Wort. Einen kurzen Moment lang konnte Reel nur einige undeutliche Geräusche hören, bis ein lautes Quietschen des Bettes verkündete, dass jemand unsanft auf dieses geworfen worden war.

Für die nächsten paar Minuten konnte Reel nur drei Dinge unter sich hören: Das rhythmische und immer schneller werdende Quietschen des Bettes, das schwere Atmen und Stöhnen eines Mannes in den späten Vierzigern und Nathaniëls unterdrücktes leises Wimmern.

Reel war völlig erstarrt. Er wollte sich verzweifelt die Ohren zuhalten, er wollte Nathaniël retten, er wollte weglaufen – aber er konnte nicht. Stattdessen saß er nur vollkommen machtlos und unfähig sich zu rühren auf dem Dach, während er hilflos dabei zuhören musste, wie nur wenige Schritte von ihm entfernt sein Liebster brutal vergewaltigt wurde.

Sein Kopf war völlig leer, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und sein Körper kämpfte verbissen gegen den aufkommenden Würgereiz an, während der junge Dieb, der sich doch sonst immer nahm, was er wollte, sich nun seine eigene Machtlosigkeit und Schwäche eingestehen musste.

Eigentlich hätte Reel nicht überrascht sein dürfen. Es war offensichtlich, dass Lord Griefs Nathaniël nicht ohne Grund und schon gar nicht aus Liebe geheiratet hatte. Dennoch war Reel hierfür nicht bereit gewesen.
 

Nach einiger Zeit verließen die schweren Schritte endlich wieder das Zimmer und Nathaniëls gebrochenes Schluchzen war alles, was vom Zimmer aus noch zu hören war.

Vorsichtig schwang Reel sich durch das Fenster wieder in den Raum. Nathaniël lag zusammengekauert auf dem Bett und weinte leise. Als er Reel bemerkte verbarg er beschämt sein Gesicht im Kopfkissen. Er wollte so nicht von Reel gesehen werden.

Dieser kam dennoch zum Bett, setzte sich zu der zerbrechlichen Gestalt und begann ihm behutsam über den Kopf zu streichen. Es war für Reel nicht das erste Mal, dass er sich in solch einer Situation befand. Raven war etwas ganz ähnliches an dem Tag passiert, an dem sie auch ihren Finger verloren hatte.

Corvo hatte sichergestellt, dass Reel sich um sie kümmern konnte und war dann wortlos für einige Stunden verschwunden. Es war das erste und einzige mal gewesen, dass Reel ihn hatte weinen sehen.

Als Corvo zurückkehrte, war er blutverschmiert und verletzt gewesen, und Reel hatte sich bis heute nicht getraut ihn zu fragen, was genau an diesem Abend passiert war. Aber vielleicht war das auch besser so. Schließlich hatte es sich bei den Männern, die sich an seiner Schwester vergangen hatten, um Stadtwachen gehandelt. Sie hatten Raven beim Stehlen erwischt und die Gelegenheit genutzt bevor man sie zu ihrer Strafe geführt und den Finger abgeschnitten hatte.
 

Raven hatte all das glücklicherweise nur ein einziges mal erleiden müssen. Nathaniël hingegen ertrug das vermutlich seit er verheiratet worden war immer und immer wieder.

Beruhigend strich Reel seinem Liebsten über den Kopf, bis dieser wieder genügend Kraft aufbringen konnte um sich auf zu setzten.

„Darf ich?“ Reel breitete seine Arme ein wenig aus und Nathaniël lehnte sich zögerlich an seine Brust. Behutsam nahm Reel ihn in den Arm und strich ihm über den Rücken, während dieser sein Gesicht in dessen altem Leinenhemd vergrub und es mit seinen Tränen durchnässte.

Als Nathaniël wieder aufstehen konnte, führte Reel ihn sanft in den Nebenraum, in welchem Nathaniëls Diener bereits ein Bad vorbereitet hatte. Dem Diener, war diese Prozedur also auch mehr als vertraut, was Reels Vermutung erneut untermalte.

Er half Nathaniël in den Zuber und dieser hielt sich ununterbrochen verkrampft an Reels Kleidung fest. Die langen weißen Strähnen schwebten im Badewasser und Reel half ihm beim Waschen seiner Haare.

Das Wasser wurde bereits kalt als Nathaniël endlich den Zuber verließ. Behutsam wickelte Reel die zerbrechliche Gestalt in ein Tuch, trocknete ihn ab und brachte ihn zurück zum Bett. Dieses war von Nathaniëls Diener bereits frisch bezogen wurden und ein neues Nachthemd lag sauber gefaltet auf der Bettdecke.

Widerstandslos ließ sich Nathaniël von Reel wieder ankleiden, in die saubere Decke einwickeln und in den Arm nehmen.

Normalerweise vermied er aus Angst körperliche Nähe, aber Reel wollte er einfach nicht abweisen. Er hatte sich dazu entschieden, seinem Dieb zu vertrauen. Letztendlich war er Nathaniëls einziger Lichtblick im Leben und seine Nähe wirkte tatsächlich beruhigend auf ihn.

Die ganze Nacht blieb Reel wach und kümmerte sich um seinen platinblonden Engel.

Er hatte schon länger die Vermutung gehabt, dass Nathaniëls Zurückhaltung ihm gegenüber auf seine Geschichte mit Lord Griefs zurückzuführen war, aber nun hatte er Gewissheit und sein Hass auf den Lord wuchs immer weiter.
 

Die Sonne war schon seit einer Weile aufgegangen als Nathaniël endlich wieder aufwachte. Zärtlich streichelte Reel seinen Kopf und sprach betont ruhig.

„Angel, ich muss gehen. Dein Diener könnte jeden Moment zurückkommen und meine Schwester wundert sich bestimmt auch schon wo ich bleibe.“ Nathaniël sah ihn erschrocken an.

„Nein! Nein, bitte bleib. Lass mich nicht allein.“

„Ich komme ja wieder. Aber ich muss wirklich gehen. Ich würde ja auch lieber bei dir bleiben, aber es geht nicht.“

„Reel bitte.“ Nathaniëls Stimme klag flehend und in seinen blauen Augen bildeten sich Tränen. „Angel...“ Reel konnte ihn jetzt einfach nicht im Stich lassen. Behutsam nahm er ihn in den Arm und dieser schmiegte sich an ihn.

„Wie lange läuft das mit Griefs eigentlich schon so?“, gab Reel irgendwann seiner Neugier nach. Nathaniël zögerte einen Moment lang, dann seufzte er schwer und begann zu erzählen.

„Seit 6 Jahren. Mit 12 wurde ich an Lord Greifs verheiratet. Er hatte meinen Eltern Geld und politischen Einfluss angeboten, wenn sie mich als Mädchen verkleiden und unter falschem Namen an ihn verheiraten. Meine Eltern sind adlig aber mittellos und mein gesundheitlicher Zustand ist sehr instabil, was wiederum zu hohen Arztkosten führt.

Kurz gesagt: Meine Eltern haben ihre Chance genutzt und mich verkauft.“ Reel drückte Nathaniël entschuldigend an sich und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Er hatte nun das Gefühl ebenfalls etwas von sich preisgeben zu müssen und er rang lange mit sich, ob und was er ihm erzählen sollte.

„Angel... Möchtest du wissen, warum ich eigentlich angefangen habe das Anwesen zu beobachten?“

Nathaniël nickte stumm und sah ihn durch seine platinblonden Haare hindurch an. Reel atmete tief durch, dann erklärte er ihm seine Situation. Er wollte Nathaniël nicht mehr anlügen und es fühlte sich so schrecklich an ihm nicht zeigen zu können, wer er wirklich war. Immerhin trafen sie sich jetzt schon seit circa einem Monat und Nathaniël wusste bis jetzt praktisch nichts über ihn.

Dieser lauschte Reel geduldig und wirkte nur wenig überrascht.
 

„Mir war schon klar, dass du nicht in erster Linie wegen mir hier bist.“

„Angel... Ich... Ja, ich bin nur zum Anwesen gekommen um hier einzubrechen, aber inzwischen komme ich für dich.“

„Ist schon okay. Ich bin es gewohnt benutzt zu werden.“ Nathaniël bemühte sich um einen emotionslosen Tonfall, aber Reel konnte deutlich hören, dass seine Worte ihn verletzt hatten.

„ANGEL NEIN! Ich... Verdammt so ist das nicht! Nathaniël, ich will bei dir sein.“ Einen Moment lang sahen sie einander schweigend an. „Vorausgesetzt, dass du einen miesen Dieb in deiner Nähe dulden würdest.“ Nathaniël wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Er hätte es besser wissen müssen, aber als Reel es so deutlich ausgesprochen hatte, übermannte ihn die Enttäuschung einfach. Eigentlich gab es auch gar keinen Grund für ihn sauer auf Reel zu sein. Immerhin hatte dieser bis dahin ja gar nicht gewusst, dass er überhaupt existierte.
 

Resigniert ließ er seinen Kopf auf Reels Schulter sinken und fasste einen Entschluss.

„Ich helfe dir. Für irgendwas muss meine Ehe mit Lord Griefs ja gut sein. Und so kann ich ihm endlich auch mal eins auswischen.“ Reel war verdutzt. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Zögernd legte er die Arme um Nathaniël und streichelte seinen Rücken.

„Hasst du mich jetzt dafür?“

„Nein. Ich hasse Lord Griefs, aber dich doch nicht.“ Sanft schmiegte er sich an Reel. „Versprichst du mir was? Bitte benutze mich nie wieder. Wenigstens bei dir möchte ich mich sicher fühlen. Ich will dir vertrauen können.“

„Angel, ich schwöre bei Valefar, dass ich dir nie wehtun, dich niemals anlügen und dich nie wieder benutzen werde.“ Erleichtert umschlang Nathaniël seinen Dieb mit den Armen und drückte ihn fest an sich. Er hatte sich dazu entschieden ihm zu vertrauen und wenn das ein Fehler war, dann würde er eben den Preis dafür zahlen.

„Ich liebe dich“, hauchte er die Worte leise an Reels Brust. Dieser war nur kurz überrascht, wurde leicht rot und drehte dann Nathaniëls Kopf zu ihm.

„Ich dich auch, Angel.“ Sanft lehnte er seine Stirn gegen Nathaniëls und strich ihm liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Darf ich?“, kam die geflüsterte Frage von Reel, während er sich ihm langsam immer weiter nährte. Nathaniël nickte leicht und ein schüchternes, noch etwas ängstliches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Zärtlich schenkte Reel ihm einen unschuldigen Kuss auf die Lippen, den Nathaniël zaghaft erwiderte.
 

Erst als die Sonne ihren Zenit schon lange überschritten hatte, kam Reel endlich wieder im Krähennest an.

„REEL! Bei Valefar, wo warst du? Du bist nicht zurückgekommen, also war ich beim Griefs-Anwesen und du warst nirgends zu finden. Ich dachte sie hätten dich erwischt.“ Raven fiel ihm um den Hals und brüllte ihm dabei ununterbrochen Flüche ins Ohr. Reel fühlte sich schrecklich, aber er hätte Nathaniël heute morgen einfach nicht allein lassen können.

„Tut mir leid. Mir ist was Unerwartetes dazwischen gekommen, aber mich hat niemand gesehen. Keine Sorge“, versuchte Reel erfolglos sie zu beruhigen.

„Was heißt hier 'Keine Sorge'? Du kannst doch nicht einfach so verschwinden! Du spinnst wohl!“ Noch immer drückte ihn die zierliche Diebin fest an sich.

Als sie ihn endlich wieder freigab, wischte sie sich schnell einige Tränen weg und betrachtete ihn prüfend. „Geht´s dir wirklich gut? Was ist passiert?“

„Ja, alles okay. Mir ist was dazwischen gekommen, was uns später beim Einbruch sehr hilfreich sein kann.“ Er konnte Raven nicht anlügen, aber die Wahrheit zu sagen kam auch nicht in Frage, also verbog er diese einfach ein wenig. Raven sah ihn skeptisch an, aber fragte erst mal nicht weiter nach.

„Es tut mir wirklich leid. So war das nicht geplant.“ Unschlüssig beäugte sie Reel, bevor sie resigniert seufzte und ihm einen geschwisterlichen Kuss auf die Stirn gab.

„Du machst mich wirklich fertig, Reel.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“

„Wenn du so einen Mist nochmal ohne eine gute Ausrede abziehst, dann binde ich dich hier irgendwo fest. Und jetzt zisch ab. Du siehst aus, als würdest du gleich im Stehen einschlafen.“ Dankbar lächelte Reel Raven an und schob sich an ihr vorbei.

Auf der Treppe lief er in Corvo hinein, der ihn unvermittelt am Kragen packte und festhielt.

„Wehe du bringst so eine Scheiße nochmal! Wenn meine Schwester wegen dir nochmal weint, dann gnade dir Valefar.“ Reel kannte Corvo lang genug um zu wissen, dass es hier nicht nur um Raven ging. Corvo hatte sich ebenfalls Sorgen um ihn gemacht und nahm ihm das verdammt übel.

„Ich weiß. Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor.“ Resigniert ließ der muskulöse Dieb ihn wieder los und fuhr ihm durch die schwarzen Haare.

„Du musst besser auf dich aufpassen, Kleiner.“ Der Angesprochene sah schuldbewusst zu Boden und ließ seinen Kopf gegen Corvo sinken. Schützend schlang dieser seine Arme um ihn und drückte ihn kurz an sich. „Und jetzt geh endlich schlafen.“ Schnell ließ er ihn wieder los und scheuchte ihn die Treppe hoch. Auch ihm schenkte Reel ein dankbares Lächeln und verzog sich dann in seine Schlafecke, in der er sich zusammenrollte und sofort einschlief.
 

Die letzten Sonnenstrahlen kämpften noch gegen die einbrechende Nacht, als Reel bereits wieder aufwachte. Verschlafen rieb er sich die Augen und stieg die Treppe hinunter.

Im ehemaligen Schankraum herrschte reges Treiben. Die jüngeren Diebe machten sich bereit, um im Laufe des Abends die angetrunkenen Schenken-Gänger um ihr restliches Geld und Wertgegenstände zu erleichtern. Corvo schien die Zeit bis zu seinem heutigen 'Treffen' zu überbrücken und spielte mit seinem Messer, während er auf dem Tresen saß. Raven wiederum wuselte durch den Raum und stellte sicher, dass jeder seine heutige Aufgabe und sein Einsatzgebiet kannte.

Reel hüpfte auf den Tresen und setzte sich zu Corvo. Eigentlich sollte er jetzt los zu Nathaniël, aber er hatte seine Beziehungen zu den Zwillingen in letzter Zeit wirklich stark vernachlässigt und das tat weder ihm noch den Zwillingen gut.

Mit geübten Fingern zog auch Reel seinen kurzen Dolch hervor und versuchte Corvos Tricks zu imitieren. Dieser beobachtete das Ganze aus dem Augenwinkel und begann wortlos seine Spielereien etwas deutlicher und langsamer vorzuführen um es Reel ein wenig leichter zu machen diesen zu folgen.

„Seid ihr zwei bald mal fertig?“, lenkte Raven mit frecher Stimme irgendwann die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich.

Reel sah sich um und stellte erschrocken fest, dass außer der jüngsten Diebe fast alle bereits aufgebrochen waren. Er hatte vollkommen die Zeit vergessen. Forsch begann Raven an den Haaren ihres Bruders zu zupfen.

„Deine Haare sind zu lang.“ Mit einem tiefen Seufzen rutschte Corvo vom Tresen und setzte sich auf einen der morschen Barhocker, so dass er jetzt tiefer als Reel saß. Lässig warf er seinen Dolch in die Luft, der dort eine 180-Grad-Drehung vollzog, bevor Corvo ihn an der Klinge wieder auffing, um ihn dann über seine Schulter hinweg mit dem Griff voran an Reel zu übergeben.

Natürlich hätte Reel ihm die Haare auch mit seinem eigenen Dolch schneiden können, aber Corvo wusste genau, wie neidisch Reel auf seine schwarze Klinge war und dass es ihn unglaublich freute, wenn er diese mal benutzten durfte.

Routiniert kürzte Reel die dunklen Strähnen, bis Corvo und auch seine Schwester damit zufrieden waren.

Diese nutzte die Gelegenheit und ließ sich ebenfalls von ihm die Haare – oder zumindest den Pony – schneiden. Reel war feinfühliger als Corvo und konnte mit dem Messer geschickter umgehen als Raven, daher war er meistens derjenige, der den Dieben die Haare schnitt und das machte ihm auch irgendwie Spaß. Reel selbst ließ seine Haare meistens wachsen und ließ sich nur manchmal die Spitzen kürzen, wenn sie ihm zu weit über die Brust reichten und ihn zu stören begannen.
 

Schließlich mussten sie dann doch alle drei langsam aufbrechen und ihre heutigen Aufgaben erfüllen. Raven musste diese Nacht noch einen Neuling einweisen. Corvo hatte an diesem Abend einen jungen Wachen als Ziel, dem er einen Schlüssel und einige Infos abjagen wollte. Und Reel war sich sicher, dass Nathaniël bereits auf ihn wartete.

Corvo musste in den gleichen Bezirk wie Reel und begleitete ihn bis zum Anwesen, wobei er Reel mal wieder hoffnungslos abhing. Die Dächer der Stadt waren zweifelsfrei Corvos Territorium und niemand konnte ihm da etwas vormachen.

Er erwartete Reel bereits, als dieser endlich schwer atmend an seinem ursprünglichen Versteck ankam. Dabei musste er feststellen, dass Nathaniël tatsächlich auf ihn wartete und sein Fenster einladend weit offen stand.

Auch Corvo war das natürlich nicht verborgen geblieben und besah sich diesen Umstand mit skeptischem Blick. Wie üblich enthielt er sich jedes Kommentars und sah Reel stattdessen nur vielsagend an. Mit einem resignierten Seufzer wuschelte er ihm durch die Haare und sagte zum Abschied nur „Mach nichts dummes.“ Dann verschwand er wieder über die Hausdächer.

Reel wartete bis Corvo außer Sichtweite war, dann kletterte er über den üblichen Weg zu Nathaniël.
 

Dieser schritt durch das Zimmer und summte dabei leise vor sich hin. Reel beobachtete ihn eine Weile belustigt bevor er ihn auf sich aufmerksam machte.

„Was treibst du denn da?“ Nathaniël fuhr peinlich berührt zu ihm herum.

„Reel! Erschreck' mich doch nicht so!“ Er betrat das Zimmer und schenkte Nathaniël mit dessen Einverständnis einen flüchtigen Kuss.

„Ich übe“, beantwortete er Reels Frage, der ihm nur einen irritierten Blick zuwarf. „In einer Woche findet ein Bankett statt, auf das ich Lord Griefs begleiten soll und da muss ich dann auch tanzen. Das hab ich lange nicht mehr gemacht, also übe ich nochmal um mich nicht zu blamieren.“

„Vorbildlich, Lady Nathaniël“, zog Reel ihn auf, woraufhin er nur einen scheltenden Blick erntete. „Nenn mich nicht 'Lady'. Du weißt ganz genau, dass ich das nicht leiden kann.“

„Schon gut. Tut mir leid. Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“ Nathaniël sah ihn unglücklich an. Manchmal war er für Reels Geschmack doch etwas zu empfindlich, daher versuchte er ihr Gespräch schnell wieder in eine andere Richtung zu lenken.

„Was genau musst du denn tanzen? Was ich von deinem Üben so mitbekommen habe, sah ein wenig seltsam aus.“ Wieder ein anklagender Blick aus den hübschen blauen Augen.

„Ja. Weil es eigentlich ein Paartanz ist.“

„Na dann lass mich dir helfen. Zeig mir wie´s geht, dann können wir zusammen üben. Vorausgesetzt, du gestattest mir diesen Tanz.“ Reel verbeugte sich theatralisch und hielt Nathaniël seine Hand hin, wie er es auf den Tanzplätzen bei Stadtfesten oft gesehen hatte. Nathaniël musste unwillkürlich schmunzeln. „Du kannst tanzen?“

„Finde es doch einfach heraus“, antwortete Reel verschwörerisch und mit einem verschlagenen Grinsen, dem Nathaniël einfach nichts entgegen zu setzten hatte.

Unbeholfen führte er seinem Dieb die Tanzschritte vor und dieser verinnerlichte diese sofort.

Nach nur wenigen Minuten nahm er Nathaniël an die Hand und führte ihn mit eleganten Bewegungen durch den Tanz, während Nathaniël die Schritte im Takt laut mitzählte. Er war sichtlich überrascht von Reels bis dato ungekanntem Talent.

„Warum fällt dir das so leicht?“

„Keine Ahnung. Tanzen liegt mir einfach. Mit Musik ist es leichter, aber ich kann auch nur zu einer Melodie in meinem Kopf tanzen. Du musst dich nur drauf einlassen.“ Nathaniël versuchte Reels Rat zu beherzigen, aber er konnte sich einfach nicht auf eine Musik einlassen, die er überhaupt nicht hören konnte. Also änderte er seine Strategie und konzentrierte sich stattdessen nur auf Reel. Er sah ausschließlich in die wunderschönen hellgrauen Augen und ließ sich nicht vom Takt sondern von Reel führen. Und siehe da – auf einmal konnte er tanzen.

Eine ganze Weile bewegten sie sich so durch das Zimmer, bis Nathaniëls Gesundheitszustand sie zu einer Pause zwang.

„Alles okay, Angel?“ Besorgt betrachtete Reel seinen Liebsten, der sich mit schwer gehendem Atem aufs Bett gesetzt hatte.

„Ja. Schon okay. Mach dir keine Sorgen. Das hab ich manchmal. Darum darf ich mich nicht zu sehr anstrengen.“ Erschöpft lehnte er sich gegen Reels Brust und lauschte seinem ruhigen Herzschlag.
 

„Reel?“

„Hm?“

„Sag mal... ist das eigentlich dein richtiger Name? Also nicht das ich was gegen 'Reel' einzuwenden habe, aber der Name ist so kurz.“ Reel seufzt tief.

„'Reel' ist der Name, den die Zwillinge mir gegeben haben. Mein vollständiger Name lautet 'Relakesch', aber so nennt mich niemand. Ist auch viel zu lang für einen Dieb.“ Nathaniël überlegte kurz.

„Relakesch. Gefällt mir. Der Name klingt schön. Darf ich dich so nennen?“ Ein überraschtes Lachen entfuhr Reel.

„Wenn du unbedingt willst. Tu was du nicht lassen kannst.“ Eigentlich mochte Reel seinen vollen Namen nicht besonders. Er erinnerte ihn immer an die Zeit bevor er die Zwillinge traf, aber Nathaniël konnte er diese Bitte einfach nicht abschlagen. Vielleicht war es ja auch an der Zeit mit dem Namen 'Relakesch' endlich etwas anderes zu verbinden, als Gefangenschaft und Angst.

Relakesch III - Unschuld (Zensiert)

Reel hielt Nathaniël eng umschlungen und strich ihm die eine oder andere lange Haarsträhne hinters Ohr. Nach und nach spürte er, wie Nathaniëls Gewicht an seiner Brust immer schwerer wurde und schließlich stellte er fest, dass sein Angel eingeschlafen war.

Behutsam legte er ihn ins Kissen, wobei sich die Schnürung seines Nachthemdes löste und dessen Kragen gefährlich verrutschte. Gebannt betrachteten Reels hellgraue Augen die freigelegte Brust. Nathaniëls Haut war zart und weiß – abgesehen von den unschönen blauen Flecken, die Lord Griefs Hände an einigen Stellen auf Nathaniëls zierlichem Körper hinterlassen hatten.

Reel spürte Lust in sich aufwallen, doch er drängte sie entschieden zurück, legte die Bettdecke um Nathaniëls Körper und zog sie gewissenhaft bis zu dessen Schultern hoch.

Als er sich abwenden wollte, um zu gehen, drehte sich Nathaniël um und griff im Halbschlaf nach Reels Umhang.

Schwächlich vergruben sich seine Finger in dem verschlissenen Stoff und hielten Reel fest. Sanft strich er über Nathaniëls Wange und flüsterte ihm beruhigende Worte zu, während er vorsichtig die schmalen Finger aus seinem Umhang löste und dann erneut Nathaniëls Blöße bedeckte, die durch dessen Drehung wieder freigelegt worden war.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Nathaniël schlief, widmete sich Reel endlich wieder seiner eigentlichen Aufgabe.

Gewissenhaft beobachtete er die letzten geschäftigen Angestellten und Wachen, die noch ihrer Arbeit nachgingen, und prägte sich den Grundriss der untersten Etage ein. Er war mittlerweile recht geschickt darin, sich ungesehen durch den Bediensteten-Trakt zu bewegen. Die Beleuchtung hier war nur spärlich und die meisten Personen, die sich noch durch die Gänge bewegten, wollten nur so schnell wie möglich mit ihrer Arbeit fertigwerden und ins Bett gehen, weshalb niemand genauer auf Bewegungen in den Schatten achtete.

Als endlich die letzten Bediensteten zu Bett gegangen waren und nur noch einige wenige Wachen ihre gleichförmigen Runden drehten, konnte sich Reel fast völlig frei durch das Anwesen bewegen und es sich einprägen. Und das war auch allerhöchste Zeit, denn die Zwillinge hatten Reel schon mehr als einmal nach seinem Fortschritt gefragt und ihn an ihre Deadline erinnert.

Ein letztes Mal sah er noch durch Nathaniëls Fenster, bevor er sich auf den Heimweg machte.
 

Dort angekommen traf er auf Raven, die im Schankraum einen jungen Dieb von circa 9 Jahren verarztete. Der Junge sah schrecklich aus – seine Lippe war aufgesprungen, eines seiner Augen war vollkommen zugeschwollen, sodass er dadurch nichts mehr sehen konnte, aus seiner Nase lief träge ein schmales Blutrinnsal und sein Gesicht und Körper waren von großen Flecken in dunklem Blau und Violett übersät.

„Was ist passiert?“, fragte Reel besorgt und kniete sich neben den Jungen.

„Die Invi-Gilde“, gab Raven bedrückt zur Antwort ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Schuldbewusst nahm Reel den vergleichsweise sauberen Stofffetzen aus der Wasserschüssel und begann damit, dem Jungen behutsam das Blut vom Gesicht zu tupfen.

Dieser versuchte tapfer sein Weinen zu unterdrücken und Reel schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. Mit sanften Fingern half er Raven dabei den Jungen zu verarzten und trug ihn anschließend die Treppe hinauf. Reel hatte entschieden ihn heute in seiner Schlafecke schlafen zu lassen. Sie war weitaus gemütlicher, als die Schlafstellen der meisten anderen im Krähennest und der Junge konnte etwas erholsamen Schlaf gut gebrauchen. Reel blieb bei ihm sitzen bis er eingeschlafen war und machte sich dann möglichst lautlos auf den Weg nach unten.

„Schläft er?“, fragte Raven, während sie aufräumte und die anderen Diebe vor der Invi-Gilde warnte, sobald diese den Schankraum betraten.

„Ja, aber ich kann mir vorstellen, dass die Schmerzen ihm keine ruhige Nacht erlauben werden“, gab Reel bedrückt zur Antwort. „Das ist meine Schuld, weil ich den Einbruch noch nicht fertig vorbereitet habe, oder?“ Raven seufzte leise und sah ihn unschlüssig an. Sie wollte ihm kein schlechtes Gewissen einreden, aber irgendwo hatte er schon recht.

„Gib dir nicht die Schuld dafür. Du tust dein Bestes, das weiß ich.“ Tröstend strich sie ihm über den Kopf und gab ihm einen geschwisterlichen Kuss auf die Stirn. „Du solltest auch langsam schlafen gehen. Du siehst müde aus. Wenn du willst, kannst du mit bei mir schlafen. Corvo ist sowieso nicht da.“ Reel nickte dankbar und verzog sich dann in das ehemalige Büro der Schenke.

Die Zwillinge hatten sich dort eingerichtet, auch wenn Corvo nur selten im Krähennest schlief.

Müde rollte er sich auf dessen Seite der Schlafstelle zusammen und kuschelte sich in seinen Umhang. Im Halbschlaf konnte er irgendwann auch Raven über die knarrenden Bodendielen schleichen hören. Schweigend legte sie sich neben Reel, strich ihm noch einmal zärtlich über den Kopf und schlief dann ebenfalls ein.
 

An nächsten Abend fand er sich zur üblichen Zeit bei Nathaniël ein.

„Stimmt was nicht, Relakesch? Du siehst irgendwie unglücklich aus.“ Reel erschrak für einen Moment. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Nathaniël so schnell bemerken würde, dass ihn etwas bedrückte und ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen.

„Die Zeit für den Einbruch läuft mir langsam davon und die Vorbereitungen stellen sich als weitaus zeitaufwendiger heraus, als ich erwartet hatte. Die Wachen in der zweiten Etage machen mir Probleme und ich finde den Tresor einfach nicht.“ Nathaniël überlegte kurz.

„Also von einem Tresor weiß ich nichts, aber wenn Lord Griefs etwas Wertvolles verstecken wollte, dann würde er das in seinem Arbeitszimmer tun. Der Großteil seines Geldes ist woanders untergebracht, um es vor Diebstahl zu schützen – wo genau weiß ich leider nicht – aber nach Geld suchst du ja nicht. Und die Wachen in der Zweiten Etage sind zum größten Teil seine persönlichen Leibwachen. Das bedeutet, dass sie ihn auf Reisen begleiten.“ Reel horchte auf.

Auf seinen überraschten Blick hin antwortete Nathaniël nur trocken: „Glaubst du etwa, dass ich hier den lieben langen Tag verbringe und nichts von dem mitbekomme, was sich vor meiner Zimmertür abspielt? Ich hab dir gesagt, dass ich dir helfen will, also lass mich auch helfen.“ Reel wollte Nathaniël beschützen und ihn eigentlich so weit wie möglich aus seinen Problemen raushalten, aber allem Anschein nach hatte er nicht unbedingt eine Wahl.

In groben Zügen erläuterte Reel ihm, wie er sein Vorgehen bisher geplant hatte und Nathaniël half ihm seine gedanklich Lücken zu füllen. Trotz seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit, kannte er die Abläufe im Anwesen sehr gut und erlaubte Reel neue Perspektiven auf den geplanten Einbruch.

Es wurde zunehmend später und bald fielen Nathaniël immer wieder die Augen zu.

„Du solltest langsam schlafen, Angel“, sagte Reel, während er ihm eine lange Strähne aus dem Gesicht strich.

„Ich will nicht! Als ich gestern eingeschlafen bin, warst du einfach weg. Du hast dich gar nicht verabschiedet.“ Daran hatte Reel gar nicht gedacht. Er hatte Nathaniël einfach nur nicht wecken wollen.

„Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dich alleine fühlst.“ Entschuldigend nahm er Nathaniël in den Arm und schmiegte sich an ihn. Dieser tat es ihm gleich und kuschelte sich genießerisch in das schwarze Leinenhemd. Es roch nach Straßenstaub, morschem Holz und vor allem nach Relakesch. Nathaniëls nackte Beine lugten gefährlich weit unter seinem weißen Nachthemd hervor und Reel musste sich zusammenreißen, um seine Hände nicht über die zierlichen Oberschenkel wandern zu lassen, weshalb er schnell seinen Blick von ihnen abwandte. Nathaniël bemerkte Reels Unruhe und seine strahlend blauen Augen suchten die hellgrauen von Reel.

„Stimmt was nicht?“ Nathaniël rutschte unbedarft auf Reels Schoß herum und machte es ihm somit nicht unbedingt leichter seine Selbstbeherrschung zu bewahren. Er wollte Nathaniël nicht sagen, was das Problem war, aus Angst er wurde dann jeglichen Körperkontakt mit ihm meiden.

„Ich mache mir nur Sorgen. Ein junger Dieb aus dem Krähennest ist gestern verletzt worden und ich würde gerne nachsehen, wie es ihm geht“, verbog er die Wahrheit daher ein wenig.

Nathaniël sah ihn etwas beleidigt an, aber er akzeptierte, dass Reel eben mehr Familie als nur ihn hatte. Mit einem schwachen Seufzer rutschte er wieder von Reels Schoß und dieser atmete erleichtert auf.

„Ich komme morgen wieder. Versprochen. Und dann tanze ich wieder mit dir, okay?“ Flüchtig schenkte er ihm einen liebevollen Kuss und warf sich dann wieder seinen Umhang über.

„Bis morgen, Relakesch.“ Dann verschwand der hübsche Dieb aus dem Fenster. Für Reel klang es noch immer etwas seltsam, wenn Nathaniël ihn mit seinem vollen Namen ansprach, aber irgendwie freute es ihn auch. 'Reel' war der Name eines Diebes und Nathaniël sah ihn eindeutig nicht nur als solchen. Für ihn war er in erster Linie einfach nur Relakesch.

Mit flinken Schritten machte er sich auf den Rückweg zum Krähennest.
 

Dort angekommen begegnete er Corvo, der ihn mit unschlüssigem Blick musterte, sich aber wie üblich jedes Kommentars enthielt. Es war eher ungewöhnlich, dass Corvo sich um diese Uhrzeit im Krähennest aufhielt. Normalerweise trieb er sich von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang in den Schlafzimmern anderer Leute rum.

Reels Gedanken sprangen im Dreieck. Er liebte Nathaniël und er wollte mit ihm schlafen, aber aus offensichtlichen Gründen würde er das niemals tun. Sein Kopf und auch sein Herz wussten das, aber sein Körper verstand es einfach nicht.

Energisch schüttelte Reel den Kopf und versuchte auf andere Gedanken zu kommen.

„Reel. Du bist ja schon zurück“, begrüßte ihn die etwas gequälte aber dennoch freudige Stimme des armen Jungen, den die Invi-Gilde an ihrer Territoriums-Grenze aufgegriffen und zusammengeschlagen hatte.

Reel setzte schnell ein aufmunterndes Lächeln auf und kam zu ihm.

„Ja. Mir ist was dazwischen gekommen und ich musste flüchten.“ Das war nicht einmal gelogen, auch wenn natürlich jeder etwas ganz anderes als die Wahrheit in diesen Satz hineininterpretieren würde.

„Dich haben sie erwischt? Verdammt, Reel. Du zerstörst mein ganzes Weltbild“, witzelte der Junge frech und Reel schenkte ihm ein amüsiertes Lachen.

„Was heißt hier 'erwischt'? Ich bin ja wohl hier und nicht in der Gewalt der Wachen, oder?“

„Auch wieder wahr“, gab der Junge noch immer grinsend zu.

„Und was für Katastrophen sind dir heute so passiert?“, fragte Reel und wuschelte dem Jungen kurz durch die dunklen Locken.

„Nichts. Meine Verletzungen tun fast nicht mehr weh“, log er ganz offensichtlich, doch Reel sagte nichts dazu, sondern schenkte ihm nur einen anerkennend Blick.

„Zeigst du mir ein paar Messertricks?“ Die Augen des jungen Diebes schauten ihn bittend an und dieser blickte besorgt auf die ungeübten Fingerchen den Jungen, von denen einer augenscheinlich gebrochen war. Dieser bemerkte den Blick und sah flehend in die hellgrauen Augen.

„Bitte! Nur meine linke Hand ist verletzt. Mit der Rechten kann ich es doch versuchen oder? Bitte, Reel!“ Reel seufzte schwer.

„Okay, hier ist der Deal. Ich werde dir Messertricks beibringen, wenn du vorher einen anderen Trick meisterst.“ Der Junge sah ihn unschlüssig an.

„Was den für einen Trick?“ Scheinbar aus dem Nichts zog Reel eine Münze hervor und ließ sie geschickt über seine Finger tanzen. Fasziniert verfolgten die Augen des Jungen das Geldstück – in einem Moment war es da und im nächsten verschwunden. Schlussendlich hielt Reel ihm die Münze vor die Nase und sah ihm direkt in die Augen.

„Wenn du das hier schaffst, dann machen wir mit Messern weiter.“ So blieben die beiden eine ganze Weile auf dem Tresen sitzen und ließen Münzen über ihre Finger tanzen, bis nach und nach auch die anderen Diebe sich wieder im Krähennest einfanden. Immer wieder bemerkte Reel dabei, wie Corvos grüne Augen ihn mit einem Hauch von Sorge bedachten.

„So. Die Technik hast du verstanden. Jetzt musst du bloß noch üben.“ Ermutigend gab er dem kleinen Dieb das silberne Geldstück und hüpfte vom Tresen. Der Junge übte fleißig weiter und Reel machte sich so langsam auf den Weg nach oben.

Seine Sorgen um Nathaniël holten ihn allerdings bereits auf der Treppe schnell wieder ein und schon ein einziger Gedanke an den hübschen, platinblonden Adligen reichte aus, um Reel wieder völlig aus dem Konzept zu bringen. Verdammt, er wollte doch einfach nur Sex.
 

Unschlüssig saß Reel auf seinem Schlafplatz, als Corvo plötzlich das Zimmer betrat und zu ihm hinüber kam. Reel hatte momentan keinen Nerv für ihn übrig und wollte ihn verscheuchen, doch Corvo ließ sich davon nicht beeindrucken. Wortlos setzte er sich neben Reel und ließ seine flinken Fingern unter Reels Leinenhemd wandern.

Dieser erschrak und versuchte sich zu wehren, aber gegen den Älteren hatte er keine Chance. Corvo ignorierte die Beschwerden und zog Reel zu sich.

„Jetzt hab dich nicht so. Ich weiß zwar nicht genau, was momentan mit dir los ist, aber allein scheinst du das ja nicht auf die Reihe zu kriegen, also zier dich nicht so.“ Kurz stockte Reel, während Corvo ungerührt fortfuhr. Für einen Moment hielt dieser nun doch inne um Reel seine langen Haare aus dem unglücklichen Gesicht zu streichen.

„Wenn du es wirklich nicht willst, dann musst du dich nur ernsthaft gegen mich wehren.“ Doch Reel hatte längst akzeptiert, dass Corvo recht hatte. Er wollte Nathaniël, aber aus offensichtlichen Gründen konnte er mit ihm keinen Sex haben.

Widerstandslos ließ er sich von Corvo ausziehen und rücklings in die Decke drücken. Dessen erfahrene Zunge glitt über Reels Brust und umkreiste stürmisch seine Brustwarzen, während er sein Bein bestimmend zwischen Reels Oberschenkel schob. Dieser begann seinerseits seine Hände unter den abgetragenen Stoff und über Corvos vernarbte Brust und Schultern gleiten zu lassen. Zu den meisten dieser Narben kannte Reel die Geschichte und bei einigen war er sogar persönlich dabei gewesen.

Corvos Hände machten sich an Reels Hüften zu schaffen und schoben seine Beine weiter auseinander. Das Gefühl von Corvos Körper so nah an seinem und Corvos Zunge und Lippen auf seiner Brust ließen Reels letzte Hemmungen fallen. Bereitwillig zog er Corvo an sich und umschlang dessen Unterkörper mit seinen Beinen.

Dieser drückte ihn grob nach unten, während seine andere Hand Reels Hüfte in Position brachte. Sein Atem ging schwer und Reel vergrub haltsuchend die Finger seiner linken Hand in den kurzen braunen Haaren, während er sich mit der anderen in die ausgeprägten Rückenmuskulatur krallte.

Forsch begann Corvo Reel vorzubereiten. Er wollte mit ihm schlafen, aber unnötig wehtun wollte er ihm dabei nicht. Sein Vorgehen war alles andere als zärtlich, aber er hielt sich Reel zuliebe etwas zurück.

Der kleinere Körper bäumte sich lustvoll unter ihm auf und sein Gesicht war schmerzverzerrt.

Dass es ihm dennoch gefiel, war offensichtlich. Ungeniert ließ Corvo seine Hand an Reel herunterwandern, woraufhin dieser zu stöhnen begann und Corvo ein genießerisches Grinsen ins Gesicht trieb.

„Corvo... ich...“

„Keine Sorge, Reel. Du kommst nicht bevor ich das will.“ Reel vertraute auf die Erfahrung des Älteren und ließ ihn mit sich machen, was er wollte.

Nach einiger Zeit des groben Vorspiels brachte Corvo sich in Position, was Reels Herz nervös einen Schlag aussetzten ließ. Als Reel Corvo endlich in sich spürte, vermischte sich seine Lust mit Dehnungsschmerz und doch genoss er seine Nähe. Verzweifelt verbiss er sich immer wieder in dessen Schultern und Hals, um Corvo an seinen zwiegespaltenen Empfindungen teilhaben zu lassen. Mit der Zeit gelang es Reel immer mehr sich auf drauf einzulassen und gab sich ihm hin. Immer wieder schmeckte er Corvos salzige Haut und bald auch sein Blut, da seine Lust ihm die Kontrolle über die Stärke seiner Bisse raubte.

Man konnte über Corvo ja sagen was man wollte, aber von verstand eine ganze Menge von dem was er tat.

Schwer atmend rollte er sich von Reel und blieb auf dem Rücken liegen.

„Das kannst du besser“, gab Corvo trocken von sich und sah an die brüchige Zimmerdecke. Reel war noch nicht wieder zu Atem gekommen und erwiderte daher nichts.

„Ich bring dir das schon noch bei.“ Ruhig setzte sich Corvo wieder auf und zog sich an.

„Warte nächstes Mal nicht so lange, sondern komm einfach gleich zu mir. Okay, Kleiner?“ Mit diesen Worten fuhr er Reel einmal durch die Haare, stand auf und ließ ihn allein zurück.
 

Für Reel war es das erste Mal gewesen, dass er mit einem Mann geschlafen hatte. Und dann auch noch mit Corvo... So hatte er sich das nun wirklich nicht vorgestellt.

Eine Weile überlegte er, ob Raven etwas mit Corvos Verhalten zu tun hatte, andererseits war 'Lust' etwas mit dem sich Corvo sehr gut auskannte. Also stammte die Idee mit Reel zu schlafen vermutlich doch von ihm selbst.

Vorsichtig zog Reel sich wieder an. Er konnte nicht sitzen und auch das Aufstehen bereitete ihm Schmerzen, aber es ging ihm jetzt eindeutig besser als zuvor und dafür war er Corvo äußerst dankbar.

Resigniert ließ er sich wieder auf die Decke sinken und legte sich auf den Bauch. So waren die Schmerzen am wenigsten zu spüren.

So würde das jetzt also laufen? Er würde seine Lust gegen Schmerzen eintauschen? Es war ja nicht so, dass es Reel nicht gefallen hätte, aber allein der Gedanke daran von jemand anderem kontrolliert zu werden – selbst wenn es sich bei diesem Jemand um Corvo handelte – machte ihn fast rasend.
 

Irgendwann schlief er dann doch ein. Eigentlich hätte er seinen Schlafplatz heute wieder an den jungen Dieb abgegeben, aber nach dem Zwischenfall mit Corvo hätte er ihm das so wie so nicht zumuten wollen.

Als er wieder aufwachte erinnerten ihn die Schmerzen beim Aufstehen sofort wieder an Corvo. Resigniert seufzte er und machte sich auf den Weg nach unten in den Schankraum. Zu seinem Unglück gehörten die smaragdgrünen Augen, auf die sein Blick traf, nicht Raven sondern ihrem Bruder und Reel spürte wie ihm leichte Röte ins Gesicht stieg. Corvo verbarg ein wissendes Grinsen und nun sah ihn auch Raven an. Irritiert wanderte ihr Blick zwischen Reel und ihrem Bruder hin und her. Ein entnervtes Seufzen entfuhr ihr und sie wandte sich wieder ihren Finanzen zu.

Reel wollte zurück in seine Schlafnische flüchten, doch Corvo folgte ihm.

„Reel! War das für dich ein Problem?“

„Ja... Nein... Ach, weiß ich nicht. Es fühlt sich nicht richtig an.“

„Wieso nicht? Es ist doch nur Sex und ich zwinge dich schließlich zu nichts.“ Reel seufzte schwer. Für Corvo war das natürlich kein Problem, aber Reel liebte eigentlich Nathaniël und selbst wenn er nicht mit ihm schlafen konnte, so fühlte es sich dennoch an, als würde er ihn betrügen. Andererseits war es besser mit Corvo zu schlafen, als Gefahr zu laufen die Kontrolle bei Nathaniël zu verlieren. Daher antwortete er einfach nur mit: „Du hast ja recht“ und sah zu Corvo hoch. „Tut mir leid, dass ich geflüchtet bin.“

„Passt schon. Das war dein Erstes Mal, oder?“ Reel nickte peinlich berührt. „Das erklärt einiges. Tut mir leid, dass ich dir wehgetan hab.“ Reel grinste ihn schief an, griff Corvo an den Hals und drückte sanft auf eine der Bisswunden. Corvo zuckte kurz zusammen und grinste zurück.

„Okay, ich schätze in dem Punkt haben wir Gleichstand. Trotzdem hab ich das Gefühl, ich sollte mich bei dir entschuldigen.“ Ehe Reel es sich versah, saß Corvo plötzlich zwischen seinen Beinen und zog an seiner Hose.
 

„Vertrau mir.“ sagte er verschwörerisch auf Reels erschrockenen Blick hin und dieser hörte auf sich zu wehren.

Schnell befreite er Reel von seiner Hose und zog ihn näher zu sich. Sicher umfassten seine Hände Reels Hüfte, währten seine Zunge lasziv über seine Leiste wanderte.

Reels feingliedrige Finger krallten sich erneut in Corvos dunkle, kurze Haare und schnell entlockte Corvo ihm das eine oder andere lustvolle Stöhnen.

Immer weiter nährte sich Corvos Mund Reels Körpermitte, welche auf dessen Liebkosungen reagierte. Corvos heißer Atem in Reels Leistenregion machten diesen unglaublich an und seine Finger verstärkten ihren Griff.

Reels linke Hand löste sich aus den kurzen Haaren und wanderte auf Corvos Schulterblatt, wo sie weitere feine rote Linien hinterließ und Corvo damit noch weiter anspornte.

„Corvo ich...“ Doch dieser ignorierte ihn einfach, ließ Reel ekstatisch aufstöhnen und seine Fingernägel in Corvos Schultern vergraben.

Herausfordernd sah er Reel in die Augen.

„Och Corvo. Musstest du mich dabei jetzt unbedingt angucken?“ Corvo grinste ihn überlegen an und pustete ihm provokant ins Gesicht, was Reel nur mit einem leicht angewiderten Blick quittierte. Der brünette Dieb lachte auf und Reel schob ihn energisch von sich, um sich wieder anziehen zu können.

„Das bringe ich dir auch noch bei. Man weiß nie, wann man's mal brauchen kann.“ Ein leicht entnervtes Seufzen entfuhr Reel. Corvo war bereits wieder aufgestanden, fuhr durch Reels schwarze Haare und verließ mit einem wissendes Zwinkern das Zimmer.

Bei Reels zweiten Betreten des Schankraums, schien Raven bereits erahnt zu haben, was passiert war – war auch zu erwarten gewesen, schließlich kannte sie Corvo schon ihr ganzes Leben und Reel seit über 8 Jahren.

Sie enthielt sich jedes Kommentars, warf ihrem Bruder allerdings einen scheltenden Blick zu.
 

Als Reel diesen Abend zu Nathaniël kam, fühlte er sich sehr viel sicherer. Er empfand seinen platinblonden Engel nach wie vor als erregend, aber er hatte seine Begierde dank Corvo jetzt besser im Griff. Nathaniël wartete bereits auf ihn und warf sich ihm sofort in die Arme.

„Wie geht’s dem kleinen Dieb?“, erkundigte er sich nach dem verletzten Jungen.

„Besser. Danke, der Nachfrage. Wie ist es dir ergangen, Angel?“ Nathaniël schmiegte sich an ihn.

„Ich hab dich vermisst.“ Sanft schenkte Reel ihm einen unschuldigen Kuss auf die Lippen.

Spielerisch zog er Nathaniël in die Zimmermitte und küsste ihn erneut.

„Würdest du mit mir tanzen?“ Nathaniël erinnerte sich an Reels Versprechen vom Vortag und nahm sein Angebot dankbar an. Der anstehende Ball bereitete ihm Sorgen und mit Reel zu tanzen gab ihm immer ein Gefühl der Sicherheit. Generell fühlte er sich bei Reel immer sicher und geborgen, obwohl er eigentlich Angst vor körperlicher Nähe hatte.

Als Nathaniël erneut begann außer Atem zu geraten, führte Reel ihn wieder zum Bett. Dort kuschelte Nathaniël sich in dessen Arme und sie fuhren mit ihrer Planung des Einbruchs fort.

„Lord Griefs wird in zwei Wochen einen Geschäftsfreund besuchen. Die Anreise, Aufenthalt und Abreise werden insgesamt voraussichtlich zwei bis drei Tage in Anspruch nehmen. Das wäre also die perfekte Gelegenheit für dich und die Diebe. Schaffe wir die restliche Vorbereitung bis dahin?“

Reel überschlug alles im Kopf.

„Mit etwas Glück müssten wir das schaffen können.“ Gemeinsam schlugen sie sich die Nacht um die Ohren und überarbeiteten ihren Einbruchsplan.

Erst kurz vor Sonnenaufgang kuschelte Nathaniël sich müde ins Bett. Reel schlang ihm die Bettdecke um die Schultern und gab ihm einen liebevollen Gutenachtkuss.

„Bleib hier, Relakesch.“

„Angel, ich kann nicht. Mein Bruder bringt mich um und meine Schwester ist beim letzten Mal fast gestorben vor Sorge.“ Unglücklich sahen die blauen Augen ihn an.

„Aber ich kann ja bleiben, bis du eingeschlafen bist. Okay?“ Nathaniël nickte mit einem schwachen Lächeln und schloss die Augen. Reel hielt seine Hand und streichelte ihm über den Kopf bis er sicher war, dass Nathaniël schlief. Dann machte er sich auf den Heimweg.
 

Die nächsten Tage verfeinerten sie ihren Plan und Reel gab den Zwillingen das Datum für den Einbruch bekannt.

Auch seine körperliche Beziehung mit Corvo wurde für Reel nach und nach immer weniger unbehaglich, auch wenn er es Corvo immer schwerer machte, die Oberhand zu behalten.

Er gewöhnte sich daran seine empfundene Liebe aufzuteilen – körperliche Liebe für Corvo und emotionale für Nathaniël. Richtig fühlte es sich für ihn trotzdem nicht an, aber es war die bestmögliche Lösung.
 

So rückte der Tag des Einbruchs näher.

Relakesch III – Unschuld (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Relakesch IV – Zwei Welten

Schließlich war es soweit. Die Diebe konnten am Morgen beobachten, wie Lord Griefs und zwei seiner Leibwächter in seine Kutsche stiegen um die Stadt zu verlassen und wie von Nathaniël vorhergesagt, kamen sie auch am Abend nicht wieder.

Geduldig warteten sie bis die Wache seine Runde von neuem begann, dann schlichen sie los. Reel kannte den Grundriss des Anwesens mittlerweile im Schlaf und führte die Zwillinge zielsicher zur Rückseite des Gebäudes. Wie jeden Abend lüftete die Magd die Küche und eröffnete den Dieben so einen Zugang.

Die drei drückten sich eng an die Hauswand, bis wie verabredet das Glöckchen zu schellen begann. Nathaniël hielt sich perfekt an ihren Zeitplan. Nur wenige Sekunden später verließ die Magd die Küche, um zu erfahren was Lady Griefs für einen Wunsch hatte, und die Diebe nutzen ihre Chance. Reel stieg als erstes durch das Fenster – die Zwillinge folgten ihm sofort. Es war dunkel in der Küche. Die Magd hatte die Kerze, welche die einzige Lichtquelle dargestellt hatte, mit sich genommen und nun erleuchtete lediglich der Mond den Weg der Diebe notdürftig.

Aber Reel hätte sich auch in völliger Dunkelheit hier zurecht gefunden und so führte er die Zwillinge problemlos zur Tür. Mit ruhigem Atem lauschte er an dieser und wartete bis die schweren Schritte des Wachen, welcher im Flur patrouillierte, die Küchentür passierten und dann hinter sich ließen.

Mit einem leisen Knarren öffnete Reel die Tür und schlich lautlos den Flur hinunter in Richtung der Dienst-Treppen.

Wie die meisten Anwesen verfügte auch das von Lord Greifs über mehrere Treppenaufgänge. Einen großen, pompösen für Besucher und mehrere kleine unauffällige für Bewohner und Bedienstete – und genau einen von diesen steuerte Reel nun an.

Die Magd, welche Nathaniël zu sich gerufen hatte, würde den Aufgang wählen, welcher der Küche am nächsten war, also wählte Reel einen anderen aus. Geschickt umging er die Wachen und die wenigen Bediensteten, die am späten Abend noch durch die Gänge huschten und so erreichten sie ihre Zieletage ohne unangenehme Zwischenfälle. Dort angekommen bemerkte er schnell die Wache, welche speziell nur für die Bewachung von Lord Griefs Arbeitszimmer und Schlafgemach eingeteilt war. An ihm würden sie nicht ohne Weiteres vorbeikommen. Raven und Corvo warfen ihm einen fragenden Blick zu und auch Reel wurde langsam ungeduldig.
 

Dann kam endlich das ersehnte Signal. Die Magd, welche Nathaniël zu sich gerufen hatte, stürmte panisch auf die Wache zu und berichtete von einen Eindringling, den sie und Lady Griefs angeblich so eben vom Fenster aus beobachten hatten. Sofort nahm dieser die Warnung ernst und folgte der aufgeregten Magd die Gang hinunter zur nächstgelegenen Treppe.

Nun war Raven dran – routiniert holte sie ihre Werkzeuge hervor und machte sich am Türschloss zu schaffen. Einige atemlose Sekunden später schnappte es bereits auf und die drei Diebe betraten das dahinterliegende Zimmer. Gewissenhaft schloss Reel die Tür hinter ihnen.

Nun begann der kritische Teil, denn Reel hatte keine Ahnung wo das Versteck sein könnte und auch Nathaniël hatte ihm dabei nicht weiterhelfen können, also hieß es nun: suchen.

Sie teilten sich auf, tasteten die Wände und Möbel ab, schauten hinter jedes Gemälde und untersuchten jede verdächtige Bodenplatte – ohne Erfolg.

„Bist du sicher, dass es hier ist?“ Raven wirkte unruhig und auch Reel wurde zunehmend nervös.

„Ja. Es muss einfach hier sein.“

Verzweifelt suchten seine Augen den Raum ab und blieben an einem Bücherregal hängen. Irritiert trat er näher an dieses heran und begutachtete es genauer.

Die Buchrücken waren allesamt fein-säuberlich beschriftet worden – nicht wenige in Latein, wie Reel nun bemerkte – aber eines stach dennoch heraus. 'Mercucio' prangte auf dem Rücken – das war der Name einer Geschichte die Nathaniël sehr mochte und mit der er Reel das Lesen beigebracht hatte.

Lord Griefs war kein Freund von fiktiver Literatur, dass hatte Nathaniël ihm zweifelsfrei versichert. Er interessierte sich ausschließlich für 'Fachliteratur', was genau für ein 'Fach' das war, wusste allerdings niemand.

Tatsache war, dass 'Mercucio' nicht in dieses Regal gehörte, weshalb Reel es nun vorsichtig hervorzog. Schnell bestätigte sich sein Verdacht als er versuchte es zu öffnen. Die Seiten waren penibel zusammengeklebt und nur der Buchdeckel ließ sich aufschlagen. Darunter kam ein Hohlraum hervor, welcher in die verleimten Seiten geschnitten worden war und in dem sich zwei Schlüssel befanden. Der eine war groß, golden und aufwendig verziert.

Der zweite war sehr viel kleiner und unauffälliger. Er bestand aus Eisen und war bereits dunkel angelaufen, was vermuten ließ, dass er schon um einiges älter war. Auch war der Schlüsselbart sehr viel raffinierter verarbeitet als der des Goldenen.

Reel zögerte nicht lang und nahm beide Schlüssel an sich. Corvo und Raven hatten bereits damit begonnen, die übrigen Bücher zu untersuchen und Corvo hob triumphierend einen Stapel aus dem oberen Regal herunter.

Eine stabile Holzkiste war mit Buchrücken verkleidet und zwischen den anderen Büchern platziert worden. An der Rückseite hing ein massives Schloss, welches offensichtlich zu dem goldenen Schlüssel gehörte.

Flink schloss Reel die Truhe auf und Corvo verstaute den Inhalt in dem Leinendeutel, welchen er eigens dafür mitgebracht hatte. Als er fertig war, warf er ihn sich über die Schulter und band ihn dort fest. Raven und Reel stellten inzwischen die Truhe und 'Mercucio' wieder an ihre Plätze.

„Fertig. Verschwinden wir.“ Zustimmend nickten sie einander zu und liefen zur Tür zurück. Der Wache schien glücklicherweise noch immer mit dem angeblichen Eindringling beschäftigt zu sein und so verließen die Diebe den Raum unbehelligt.

Raven schloss die Tür wieder ab und gemeinsam schlichen sie den Flur hinunter. Reel hörte Schritte und führte sie daher nicht in die Richtung aus der sie gekommen waren, sondern zu dem Treppenaufgang, welcher ihnen am nächsten war.

Dort angekommen wollte er die erste Stufe nach unten betreten als eine Gestalt mit wehendem platinblondem Haar aus der obersten Etage zu ihm hinunter rannte.
 

„Nicht“, ertönte ein warnendes Flüstern.

Corvo zog sofort seinen Dolch und wollte ihren Zeugen zum Schweigen bringen bevor dieser Alarm schlagen konnte, doch Reel hielt ihn davon ab. Schützend stellte er sich vor Nathaniël und wehrte Corvos Angriff so lautlos wie möglich ab.

„Hier lang.“ Nathaniël griff in den Ärmel von Reels Leinenhemd und zog ihn energisch mit sich. Im nächsten Moment hörten auch die drei Diebe wovor Nathaniël sie gewarnt hatte. Schwere Schritte stiegen schnell die Treppe zu ihnen hinauf und auch vom Flur aus konnten sie Wachen auf sich zukommen hören. Raven war noch völlig perplex, aber Corvo reagierte rechtzeitig, zog seine Schwester mit sich und folge Nathaniël und Reel die Treppe hinauf.

Nathaniël lief barfuß voraus und öffnete schnell seine Zimmertür. Als Reel, Corvo und auch Raven diese passiert hatten, schloss er sie zügig und bedeutete den Dieben still zu sein.

„Versteckt euch!“, flüsterte er ihnen zu, während er selbst mit schnellen Schritten zum Bett zurück huschte und ein paar mal unterdrückt husteten musste.

Reel griff sich die Zwillinge und schob sie in Nathaniëls großen Kleiderschrank, in dem er sich selbst schon ein ums andere Mal versteckt hatte. Er selbst schlüpfte mit einer schnellen Bewegung unters Bett.

Nur einen Wimpernschlag später klopfte es bestimmend an der Zimmertür.

„Ja?“ Nathaniël bemühte sich so normal wie möglich zu klingen und das gelang ihm auch recht gut.

„Lady Griefs? Darf ich eintreten?“

„Komm herein.“ Die Tür wurde geöffnet und zwei bewaffnete Wachen betraten den Raum.

„Wir konnten keinen Eindringling ausfindig machen. Das Anwesen ist sicher, Lady Griefs. Aber wenn Ihr dennoch beunruhigt seid, kann ich einen meiner Männer vor Eurer Tür postieren.“

„Ich danke Euch für das Angebot, aber ich vertraue auf euer Urteil. Wenn Ihr der Meinung seid, dass kein Unbefugter das Anwesen betreten hat, dann glaube ich Euch und bin beruhigt.“ winkte Nathaniël höflich ab und musste erneut husten.

„Geht es Euch gut? Soll ich Euren Arzt rufen lassen?“ Der Wache wirkte sichtlich besorgt.

„Nein, alles in Ordnung. Nur ein leichter Anfall. Das geht gleich wieder vorbei.“

„Wie Ihr wünscht, Lady Griefs. Ich wünschte eine geruhsame Nacht.“ Mit diesen Worten verließen die beiden Bewaffneten das Zimmer und ihre Schritte entfernten sich wieder. Als sie vollständig verklungen waren, verließen die Diebe ihre Verstecke.
 

Reel setzte sich sofort zu Nathaniël und erkundigte sich nach dessen Gesundheitszustand.

„Geht's? Brauchst du deine Medizin?“

„Nein nein. Das ist bloß vom Rennen. Ist gleich wieder weg.“ Sorgenvoll betrachtete Reel seinen Liebsten, bevor er ihm sanft einige Haare aus dem Gesicht strich und seine Stirn an dessen lehnte.

Nun traten auch die Zwillinge näher. Corvo schob seine Schwester hinter sich und hielt seinen Dolch in Nathaniëls Richtung – bereit ihn jederzeit einzusetzen.

„Lady Griefs nehme ich an?“ Die Zwillinge behielten Nathaniël mit argwöhnischem Blick im Auge. Reel stellte sich schützend vor ihn und sah seine Geschwister flehend an.

„Bitte, Corvo. Lass ihn in Ruhe. Er hat uns gerettet und wird uns nicht verraten.“ Nun schaltete sich auch Raven ein.

„Reel, was habe ich dir über vorschnelles Vertrauen beigebracht?“

„Das hier ist was anderes. Wir kennen einander schon lange – seit knapp drei Monaten um genau zu sein.“

„Drei Monate? Also seit du das Anwesen beschattest. Darum hat das also so lange gedauert.“ Raven sah ihn scheltend und ein wenig enttäuscht an. Corvo ließ langsam seinen Dolch sinken und steckte ihn zurück in die Scheide. Er seufzte kurz, dann sah er Reel forschend an.

„Kleiner... Mit einer verheirateten Frau zu schlafen ist die eine Sache, aber sich in eine zu verlieben eine ganz andere.“

„Bruderherz... Ich glaube nicht, dass wir hier eine Frau vor uns haben.“ Irritiert betrachteten die Zwillinge die angebliche Lady Griefs.

„Ähm... Ich bin Nathaniël. Freut mich“, stellte dieser sich zögerlich vor und unterdrückte ein weiteres mal sein Husten. Corvo hatte die Information offensichtlich noch nicht so recht verarbeitet und sah ihn nur weiter verwundert an. Raven hingegen erfasste die Lage sofort.

„Das erklärt, warum über 'Lady Griefs' so wenig bekannt ist und sie sich immer im Anwesen aufhält“, stellte sie trocken fest und nährte sich Nathaniël mit großem Interesse.

Corvo entschied, dass von der zierlichen, platinblonden Gestalt keine ernsthafte Gefahr ausging und ließ seine Schwester gewähren. Reel stellte sich zu seinem Angel und nahm ermutigend dessen Hand.

Nathaniël hatte Angst, aber er war auch aufgeregt. Er hatte sehr selten die Gelegenheit neue Leute kennenzulernen und er hatte sich schon lange gewünscht Reels Geschwister einmal persönlich zu treffen.

Raven beschränkte sich darauf Nathaniël anzusehen, aber Corvo griff ihm plötzlich völlig unvermittelt an die Brust um das Gesagte auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Nathaniël zog scharf die Luft ein und Reel schlug Corvos Hand sofort weg.

„HEY! Was-“

„Corvo, lass gut sein“, würgte Raven ihn streng ab. „Tut mir leid. Mein Bruder ist immer ein wenig forsch. Nimm es ihm nicht übel.“

„Schon okay. Ich mag es nur nicht, wenn man mich anfasst“, erklärte Nathaniël unsicher und suchte Halt bei Reel, der sich schützend vor ihn stellte.

„Kann ich verstehen“, versuchte Raven die Lage wieder zu beruhigen. Jetzt verstand auch Corvo endlich, was es für Nathaniël bedeuten musste mit Lord Griefs verheiratet und in diesem Anwesen eingesperrt zu sein. Erkenntnis machte sich in seinen grünen Augen breit und er gab ein leises „Tschuldige“ von sich.

„Dann warst du es, der uns bei unserem Einbruch geholfen hat, oder?“ Nathaniël nickte.

„Ich hab die Küchenmagd gerufen und behauptet, ich hätte draußen jemanden gesehen. Dann habe ich so lange auf sie eingeredet, bis sie geglaubt hat auch jemanden gesehen zu haben.“

„Außerdem hat er mir mit der Planung geholfen und mir alle Informationen besorgt, an die ich selbst nicht rangekommen bin“, ergänzte Reel stolz und drückte Nathaniël leicht an sich. Dieser schlang seine Arme um Reels Taille und kuschelte sich an ihn. Für ihn war es das erste Mal, dass jemand ihn beschützte und ihm gefiel dieses Gefühl.
 

„Ach Reel. Mit dir ist wirklich nie etwas einfach.“ Corvo fand die ganze Situation inzwischen wohl recht amüsant. Er schien ihm nicht böse zu sein – Reel glaubte sogar fast ein wenig Stolz in seinen smaragdgrünen Augen zu erkennen – und da von Nathaniël keine Gefahr ausging, entspannte er sich so langsam.

Raven hingegen hegte noch einen gewissen Argwohn ihm gegenüber. Sie fürchtete die Folgen, die Reels Beziehung zu Nathaniël mit sich bringen würde. Corvo hatte recht: sich in eine verheiratete Frau zu verlieben – egal ob sie nun wirklich eine Frau war oder nicht – war äußerst gefährlich. Besonders wenn es sich bei dem Ehemann um einen Adligen von Lord Griefs Format handelte.

Er war mächtig und gefürchtet, sowohl unter den Adligen als auch unter dem gemeinen Volk. Gerüchte besagten sogar, dass er Beziehungen zu Magiern und Hexen pflegte.

„Also los. Erzählt schon. Wie ist das mit euch beiden passiert?“ Raven lehnte sich gegen einen der Bettpfosten und Corvo setzte sich im Schneidersitz auf das untere Bettende. Auch Nathaniël kletterte zurück ins Bett und Reel gesellte sich sofort zu ihm, damit sein Angel sich wieder an ihn kuscheln konnte.

Die Diebe blieben fast die ganze Nacht im Anwesen und sprachen mit Nathaniël.

Erst kurz bevor die Sonne aufging, machten sie sich daran das Zimmer zu verlassen. Der Trubel, den ihr Einbruch verursacht hatte, hatte sich längst gelegt, also sollten sie unbehelligt aus dem Anwesen entkommen können. Reel verabschiedete sich mit einem letzten Kuss von seinem Liebsten, dann führte er die Zwillinge durch das Fenster, übers Dach und hinaus in die Freiheit.
 

Im Krähennest wurden sie stürmisch begrüßt. Die jüngeren Gildenmitglieder hatten sie sehnsüchtigst erwartet und die Angst, ihre drei wichtigsten Diebe könnten erwischt worden sein, hatte sie zunehmend unruhiger werden lassen.

Reel und die Zwillinge hatten entschieden niemandem von Nathaniël zu erzählen. Einen Informanten in den Reihen der Adligen zu haben, könnte nützlich sein und je weniger Personen davon wussten, umso sicherer war es für ihn und auch für Reel.

Ravens Prioritäten hatten sich nach wie vor nicht geändert – die Sicherheit ihrer kleinen kaputten Familie stand an erster Stelle.

Ihr Einbruch war ein voller Erfolg gewesen. Sie waren nicht gesehen worden und hatten das, was die Invi-Gilde wollte.

Als Reel in seine Taschen griff, stießen seine Finger plötzlich auf etwas kleines, metallisches. Irritiert zog der den schwarzen Schlüssel, der nicht zu der Truhe gepasst hatte, aus der Tasche. Verwirrt betrachtete er das filigrane Stück Metalls. Reel hatte keine Ahnung, wozu der Schlüssel diente, aber er gab auch so ein ganz hübsches Schmuckstück – und vor allem eine gebührende Trophäe – ab, also fädelte er ihn auf ein altes Lederband und legte ihn sich um den Hals.
 

Auch nach ihrem Einbruch besuchte Reel Nathaniël weiterhin fast jeden Abend. Dieser begann nun zum ersten mal in seinem Leben seine gesellschaftliche Position auszunutzen und belauschte regelmäßig Lord Griefs, dessen Gäste und die Angestellten des Anwesens. Mit den so gesammelten Informationen ermöglichte er den Dieben des Krähennests einige Einbrüche, deren Risiko ohne Insiderwissen viel zu hoch gewesen wäre.

Reels Besuche waren Nathaniëls einzige Lichtblicke und schon bald lebte er nur noch für diese.

„Sag mal Angel. Würde es jemand bemerken, wenn du morgen nicht in deinem Zimmer wärst?“ Nathaniël sah ihn irritiert an.

„Ich habe morgen keinen Termin mit Doktor Luis und Lord Griefs ist noch bis mindestens Übermorgen auf Reisen. Also würde es eigentlich niemand bemerken. Was hast du denn vor?“ Reel schenkt ihm einen verschwörerischen Blick.

„Ich will dich entführen. Also wenn du mich lässt. Deine Krankheit zwingt dich ja dazu bei Lord Greifs zu bleiben, aber das heißt doch nicht, dass ich dich nicht für die Dauer des morgigen Stadtfestes entführen kann, oder?“ Nathaniëls Miene hellte sich auf. Er durfte das Anwesen nicht ohne Lord Griefs verlassen und dieser hielt nicht viel von Stadtfesten. Nun hatte er die Gelegenheit dennoch auf eines zu gehen und es endlich einmal mit eigenen Augen zu sehen.
 

Am darauffolgenden Tag lief Nathaniël aufgeregt im Zimmer auf und ab. Er konnte es kaum erwarten heute endlich das Anwesen verlassen zu können und einmal wie ein normaler Mensch das Stadtfest zu besuchen. Als Reel sich endlich durch das Fenster schwang, fiel Nathaniël ihm sofort um den Hals. Er hatte seinen geliebten Dieb unglaublich vermisst.

Wie verabredet brachte Reel einen abgetragenen, mitternachtsblauen Kapuzenumhang, ein altes Leinenhemd und eine von Ravens dunkelgrauen Hosen mit. Zügig schlüpfte Nathaniël in die Hose und das etwas zu große Hemd, welches zu seiner Freude noch ein wenig nach Relakesch roch, dann ließ er sich von diesem den bodenlangen Umhang umlegen.

Sanft strich er ihm die langen, platinblonden Haare zurück und verbarg sie gewissenhaft unter der weiten Kapuze. Reel konnte sein Lächeln nicht unterdrücken. Sein Angel war einfach wunderschön und er einfach viel zu verliebt in ihn.

Ein aufforderndes Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Corvo hockte auf der Fensterbank und wippte ungeduldig auf und ab.

„Hallo Corvo“, begrüßte Nathaniël ihn mit einem unschuldigen Lächeln. Reel nahm ihn an die Hand und führte ihn zum Fenster. Nathaniëls Nervosität stieg. Bei Reel fühlte er sich immer sicher und geborgen, aber bei allen Anderen ließ schon allein der Gedanke an Körperkontakt Angst in ihm aufsteigen.

Corvo hatte – seit einer Standpauke von seiner Schwester und drohenden Blicken von Reel – ein gewisses Verständnis dafür entwickelt und versuchte Nathaniël zu beruhigen.

„Keine Angst. Ich werd' dich nicht unpassend anfassen oder dich fallen lassen.“ Nathaniël wurde ein wenig rot. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass jeder wusste was sein Zusammenleben mit Lord Griefs mit sich brachte, aber andererseits hieß dass auch, dass er seine Schwäche nicht vor Reel oder den Zwillingen zu verbergen brauchte.

Zögerlich nahm er Corvos dargebotene Hand und ließ sich mit Reels Hilfe von Corvo Huckepack nehmen. Nathaniël war sehr schmächtig und leicht, daher bereitet sein zusätzliches Gewicht Corvo nur wenig Probleme, während er über das Dach zur Rückwand des Anwesens und über die Fassade hinunter auf die Straße kletterte. Reel hätte es sich nicht zugetraut, seinen Liebsten sicher aus seinem Zimmer zu entführen, daher hatte er Corvo um Hilfe bitten müssen. Dieser hatte Reel diesen Gefallen gern getan, obwohl Raven noch immer Bedenken hatte Nathaniël mit in die Innenstadt zu nehmen.

In einer Seitengasse außerhalb des Blickfelds der Wachen verabschiedete Corvo sich vorerst und ließ die beiden Verliebten allein. Das lag nicht zwingend an seinem Feingefühl, sondern eher an seinem Unwillen im Schritttempo durch die Gassen zu schleichen. Nathaniël war ungeübt, unerfahren, schwächlich und hatte eine schlechte Kondition – in seinem Tempo den ganzen Weg zum Treffpunkt zu laufen, wäre für den ungeduldigen Corvo die reinste Folter gewesen. Daher huschte er nun mit flinken Schritten über die Dächer davon und ließ Reel und dessen Engelchen allein in der dunklen Gasse zurück.

Gewissenhaft richtete Reel den mitternachtsblauen Umhang und ging sicher, dass keine der verräterischen, platinblonden Strähnen hervorlugte. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, doch in der Gasse umgeben von windschiefen Gebäuden und brüchigen Dachüberständen kam so gut wie kein Tageslicht an. Reels Augen waren das Halbdunkel der Stadt gewohnt, daher konnte er Nathaniëls Nervosität auch im staub-grauen Schatten der Häuser problemlos erkennen. Ermutigend nahm er ihn an die Hand und drückte sie sanft.

„Es wird alles gut gehen. Ich pass auf dich auf, versprochen.“ Dankbar erwiderte er den Druck und schenkte Reel ein verlegenes Lächeln.

„Danke, Relakesch.“ Kurz schlang er die Arme um ihn und zog den Geruch des jungen Diebes tief ein. Reel drückte flüchtig seine Lippen auf Nathaniëls Stirn, dann lief er mit ihm an der Hand durch das Labyrinth aus kopfsteingepflasterten Straßen und engen, schmutzigen Gassen.

Für Nathaniël war das alles unglaublich aufregend. Er hatte die Stadt sein Leben lang nur durch die Fenster seines Zimmers oder die der Kutsche sehen können, aber nun stand er hier – in bürgerlicher Kleidung, Schlamm an den Schuhen und die Person, die er liebte an seiner Hand. Zum ersten Mal fühlte er sich wirklich als Teil der Welt und nicht nur als unbeteiligter Beobachter.
 

Einige Straßen vom Marktplatz entfernt trafen sie wieder auf die restlichen Diebe des Krähennests. Die Jüngeren von ihnen beäugten Nathaniël mit Neugier und Misstrauen, was sich jedoch schnell verflüchtigte, da er von Reel begleitet wurde und auch die Zwillinge offenkundig keinerlei Probleme mit dessen Anwesenheit zu haben schienen. Raven bedachte Reel mit einem vielsagenden Blick, dann bedeutete sie den Dieben ihr zu folgen und setzte sich mit flinken Schritten in Bewegung.

Reel nahm Nathaniël an die Hand, nickte ihm aufmunternd zu und zog ihn zügig mit sich. Reel kannte den Weg nur zu gut, dennoch versuchte er mit seinem Liebsten an der Hand mit den anderen Schritt zu halten. Er wollte Nathaniël nicht das Gefühl geben, dieser würde ihn einschränken oder ausbremsen, aber zeitgleich wollt er ihn auch nicht überfordern.

Endlich blieben die Kapuzengestalten vor ihnen stehen und Raven raunte ihnen einige letzte Anweisungen zu. Schnell verteilten sich die Diebe und verschwanden zwischen den vielen Leibern der Festbesucher. Die Zwillinge warfen Reel und Nathaniël einen letzten prüfenden Blick zu und verschwanden dann ebenfalls.

„Heute Abend treffen wir uns wieder mit den anderen. Bis dahin hast du mich ganz für dich allein“, erklärt Reel mit einem frechen Grinsen und schenkte ihm einen flüchtigen Kuss bevor er ihn mit sich durch die Menschenmenge zog.

Nathaniël erlebte eine wahre Reizüberflutung. All die Gerüche und Klänge. Etliche Menschen liefen und riefen durcheinander, Kinder wuselten zwischen den Beinen der Erwachsenen umher, Marktschreier versuchten ihre Ware an den Mann zu bringen und junge Frauen und Mädchen führten ihre elegantesten Tanzschritte vor.

Nathaniëls blaue Augen leuchteten vor Aufregung und kindlicher Freude und Reel konnte sich an diesem Anblick nicht sattsehen.

Nathaniël hatte diese Art von Musik bisher immer nur aus der Ferne von seinem Fenster aus hören können und er hatte sich immer gefragt, wie man dazu wohl tanzte.

Er war anfangs ein wenig verwirrt, da er bisher nur die biederen Tänze der Adligen kannte. Wie gebannt verfolgten seine blauen Augen die wehenden Röcke der Tänzerinnen und schnellen Schritte ihrer Tanzpartner.

Reel bemerkte Nathaniëls Faszination und blieb mit ihm neben der Tanzfläche stehen. Die Musiker stimmten soeben ein neues Stück an und mit ausladenden Bewegungen sausten nun nur noch die jungen Frauen über den Steinboden, während die Umstehenden im Takt der Musik mit den Füßen stampften und in die Hände klatschten. Ganz unbewusst fing Nathaniëls Fuß an zu wippen und ein Blick zu Reel eröffnete ihm, dass auch dieser sich von der Musik hatte anstecken lassen. Rhythmisch trommelten seine Finger an seiner Hüfte und sein ganzer Körper wippte unauffällig zum Klang der Musik.

Am liebsten hätte Reel mitgetanzt, aber dieses Stück war den jungen Frauen und Mädchen vorbehalten und Reel wollte sich keinen Ärger einhandeln solange er Nathaniël bei sich hatte. Er hatte schon mehr als genug damit zu tun, seinen Liebsten vor ungewolltem Körperkontakt mit anderen Festbesuchern zu schützen.

Der Marktplatz war brechend voll und so passierte es schnell, dass man einander anrempelte oder anstieß, also legte Reel einen Arm um seinen Liebsten und stellte sicher, dass niemand ihn anfasste. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag gemeinsam und Reel zeigte ihm alles, was das Stadtfest zu bieten hatte.
 

Als die Sonne allmählich unterging, wurden Fackeln auf dem ganzen Marktplatz entzündet, die alles in ein warmes, schummeriges Licht tauchten. Für Reel war dies das Signal, sich wieder mit den anderen Dieben zu treffen.

Sanft zog der Nathaniël mit sich durch die weniger stark besuchten Gassen um den Marktplatz herum. Je weiter sie gingen, umso weniger Menschen begegneten ihnen und umso deutlicher konnte Nathaniël Musik und lautes Gelächter aus einer Gasse vor ihnen hören.

Sie bogen in eine breite Sackgasse ein und nun konnte Nathaniël den Ursprung des Gelächters auch sehen.

Knapp zwei Dutzend junger Männer und Frauen tummelten sich um ein Feuer.

In dessen flackerndem Licht machte Nathaniël die Zwillinge aus und auch einige andere der schmuddelig gekleideten Feiernden, glaubte er als Krähendiebe identifizieren zu können.

Behutsam zog Reel seinem Angel die Kapuze ein wenig tiefer ins Gesicht und schob ihn schützend hinter sich, bevor sie sich dem regen Treiben nährten.

Lautstark wurde Reel empfangen, während Nathaniël nur flüchtige Blicke zugeworfen wurden. Sofort hielt jemand dem schwarzhaarigen Dieb einen Tonkrug hin, den Reel mit einem dankenden Nicken annahm und Nathaniël weiter an den anderen vorbeizog.

Endlich erreichten sie die Zwillinge und setzten sich neben sie auf den staubigen Boden, ihre Umhänge als Unterlage nutzend.

Reel roch vorsichtig an seinem Krug, verzog kurz das Gesicht und reichte ihn dann wortlos an Raven weiter, die diesen begeistert annahm und in einem Zug leerte. Auf Nathaniëls verwirrten Blick hin erklärte er nur knapp: „Ich trinke keinen Alkohol.“

„Willst du mal probieren?“, meldete sich nun Raven zu Wort, die es irgendwie geschafft hatte schon wieder einen vollen Krug in der Hand zu halten. Zögerlich nahm Nathaniël das dargebotene Getränk an und nippte daran. Sein Gesicht hellte sich auf und er nahm einen großen Schluck, bevor Raven sich wieder einschaltete und den Krug wieder an sich nahm.

„Nah nah nah. Nicht so gierig. Das Zeug macht böse Kopfschmerzen“, warnte Raven mit einem verschmitzten Lächeln und trank anschließend den restlichen Met selbst aus. Verlegen leckte sich Nathaniël über die schmalen Lippen, an denen noch immer ein wenig von dem süßen Honigwein klebte.
 

Die lodernden Flammen des Feuers wärmten sein Gesicht und die ausgelassene Stimmung der feiernden Diebe steckte ihn an.

Sobald Reel ihm den Arm um die Schultern gelegt und Raven ihm ihren Krug angeboten hatte, gehörte er ganz einfach dazu. Niemand sah ihn komisch an und alle akzeptierten ihn als Teil ihrer Gruppe.

Die Anderen banden ihn in ihre Gespräche ein und immer wieder wurden ihm Met und verschiedene Speisen angeboten, die fröhlich von Hand zu Hand wanderten. Reel bedeutete ihm irgendwann, mit dem Met kürzer zu treten und tatsächlich fühlte sich Nathaniël irgendwie benebelt. Als er versuchte aufzustehen, verlor er sofort das Gleichgewicht und Reel musste ihn festhalten, was ihm ein kurzes Lachen entlockte. Nathaniël schenkte ihm einen dankbaren Kuss und kicherte verlegen.

Plötzlich rief jemand laut Reels Namen und dieser fuhr mit dem Kopf herum. Die Diebe mit ihren improvisierten Instrumenten stimmten eine wilde, von der Fidel dominierte Melodie an und die gesamte Gruppe warf Reel wissende Blicke zu. Corvo klopfte ihm auffordernd auf die Schulter und raunte ihm „Mach schon. Ich pass' auf dein Engelchen auf“, zu, während er subtil auf Nathaniël deutete. Reel schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ließ sich von Raven schwungvoll auf die Beine ziehen.

Und in diesem Moment legten die Instrumentalisten erst richtig los. Sie spielten wie Besessene und die Tänzer standen ihnen dahingehend in nichts nach.

Allen voran Reel wirbelten diese um das Feuer und schienen die hektische Musik mit ihren leichtfüßigen Bewegungen nahezu herauszufordern. Nathaniëls Augen folgten Reels eleganten Schritten wie in Trance, während die anderen Umstehenden sie lautstark anheizten.

Nathaniël wusste nicht, ob er einen Tanz oder einen Kampf vor sich sah. Die Musiker und Tänzer schienen darum zu wetteifern, wer schneller der Musik folgen konnte und so steigerten sie das Tempo mehr und mehr.

Mühelos und mit nahezu weiblicher Eleganz hielt Reel mit jeder Temposteigerung Schritt und selbst als Raven aus dem Takt und schließlich auch aus dem Gleichgewicht geriet, tanze Reel vollkommen frei weiter bis sich die Instrumentalisten geschlagen geben mussten und mit einem lauten Finale das Stück beendeten.

Der Jubel der Umstehenden schwoll erneut an und Reel erhielt anerkennende Blicke und Applaus, bevor er und Raven sich wieder zu Nathaniël und Corvo setzten. Beide atmeten schwer, aber ein glückliches Grinsen lag auf ihren Lippen.

„Ich wusste ja gar nicht, dass du auch so tanzen kannst“, lobte Nathaniël mit vom Alkohol geröteten Wangen.

„Das war doch noch gar nichts“, rief Raven beschwipst dazwischen. „Normalerweise wirbelt er stundenlang so durch die Gegend und treibt bei jeder Gelegenheit die Musiker und Barden in den Wahnsinn.“ Nathaniël schluckte schwer. Ihm war vollkommen bewusst, dass er der Grund dafür war, dass Reel heute aufs Tanzen verzichtet hatte.

Dieser erfasste Nathaniëls Gedanken sofort und schlang beruhigend die Arme um ihn.

„Mach dir keine Gedanken. Tanzen kann ich immer. Aber mit dir Zeit zu verbringen ist etwas besonderes und mir viel wichtiger.“ Sanft berührte er Nathaniëls schmale Lippen mit seinen eigenen und schmiegte sich an ihn. Ein amüsiertes Grölen ertönte von einigen Dieben, welches jedoch schnell in allgemeines Feiern überging. Dankbar kuschelte Nathaniël sich an Reel und genoss dessen Zuneigung. Ihm gefiel es, von den Anderen als gleichberechtigt angesehen zu werden, aber noch mehr gefiel ihm sein Sonderstatus bei Reel.

Relakesch V – Ruhe vor dem Sturm (Zensiert)

Einige Zeit später zog Reel seinen Liebsten behutsam auf die Beine. Er gab den Zwillingen ein Zeichen und schritt dann langsam mit Nathaniël an der Hand die leeren Gassen entlang, in denen nur der Lärm der Feiernden leise widerhallte.

Reel führte ihn zu einer alten, verlassenen Kirche und gemeinsam erklommen sie die Stufen zum Glockenturm, wobei sie immer wieder kurze Pausen einlegten, damit Nathaniël zu Atem kam. Oben angekommen half Reel ihm auf das Dach, auf dem sie es sich schließlich gemütlich machten. Nathaniël schmiegte sich an Reels Brust und dieser legte seinen Arm und Umhang schützend um ihn. Gemeinsam betrachteten sie den Sternenhimmel.

„Danke, Relakesch“, hauchte er leise in den staubigen Stoff von dessen Oberteil und sank dann in einen tiefen Schlaf.
 

„Hier steckt ihr“, machte Corvo eine ganze Weile später auf sich aufmerksam und ließ Reel damit aus seinem Halbschlaf hochschrecken. „Die Sonne geht bald auf. Wir müssen dein Engelchen zurückbringen.“ Unglücklich sah Reel ihn an. Er wollte seinen Liebsten nicht wieder in dessen goldenen Käfig sperren, aber er hatte keine andere Wahl.

Zärtlich strich er ihm die Haare aus dem Gesicht und redete leise auf ihn ein um ihn zu wecken. Irgendwann – grade noch rechtzeitig bevor Corvo die Geduld verlor – schlug Nathaniël endlich die Augen auf und gemeinsam stiegen sie die Stufen des Kirchturms wieder hinab.

„Ich trage dich. Sonst kommen wir da heute nicht mehr an“, entschied Corvo kurzerhand und ging vor Nathaniël in die Knie. Dieser kletterte müde auf dessen breiten Rücken und ließ sich von ihm mit schnellen Schritten zurück zum Anwesen und in sein Zimmer tragen.

Dort angekommen verfrachteten Corvo und Reel den angetrunkenen Nathaniël in sein Bett. Corvo schwang sich bereits aus dem Zimmer, Reel ließ sich jedoch noch etwas Zeit.

„Tut mir leid, dass ich dich wieder hier lassen muss. Am liebsten würde ich dich mit ins Krähennest nehmen.“

„Ist schon okay, Relakesch. Heute Nacht habe ich so intensiv gelebt, wie in den vergangenen 18 Jahren nicht. Außerdem würde ich eh nicht zum Dieb taugen“, tröstete Nathaniël seinen Liebsten und wie zur Bestätigung überkam ihn in diesem Moment ein Hustenanfall. Aufmunternd hielt Reel seine Hand, bis er den Anfall überwunden hatte und sich erschöpft wieder in die Kissen sinken ließ.

„Schlaf noch ein wenig, Angel. Ich komme bald wieder.“ Er gab ihm einen letzten zärtlichen Kuss und verschwand dann widerwillig aus dem Zimmer.

Während er sich seinen Weg zurück zum Krähennest bahnte, kletterten die ersten Strahlen der Sonne bereits über den östlichen Horizont und tauchten die Stadt in goldenes Licht.
 

Am nächsten Tag wachte Reel zu zwei smaragdgrünen Augen auf, die ihn begierig musterten. Reel seufzte belustigt und zog Corvo kommentarlos zu sich in die Laken. Schnell entledigten sie sich ihrer Oberteile und Corvo drückte Reel wie üblich nach unten, doch dieses Mal würde sich dieser nicht so einfach unterwerfen lassen.

Geschickt brachte er den größeren Körper über sich aus dem Gleichgewicht, indem er Druck in Corvos Ellenbogenbeuge ausübte und ihn schnell von sich rollte.

„So spielen wir jetzt also? Von mir aus gerne“, gab Corvo mit einem belustigten Grinsen von sich und ließ seine hungrigen Augen über Reels Körper gleiten, der nun triumphierend über ihm thronte.

Routiniert umfasste er Reels Hüfte und spielte seine physische Überlegenheit aus, um Reel nun wieder zu Fall zu bringen, doch dieser gab noch nicht auf.

Verbissen stemmte er die Beine gegen Corvos Hüfte und stieß ihn kraftvoll von sich. Dessen Überraschung ausnutzend riss Reel wieder die Kontrolle an sich und fixierte Corvo gekonnte unter sich. Doch auch dieser wusste, wie man dieses Spiel spielte und er war nicht nur weitaus erfahrener darin, sondern auch älter, größer und kräftiger.

Mit einer gelenkigen Drehung befreite er sich aus Reels Griff und umklammerte seinerseits dessen Handgelenke. Corvo lag noch immer unter Reel, doch sie wussten beide, dass Corvo schon längst wieder die Oberhand gewonnen hatte.

Genießerisch langsam zog der Reel zu sich runter und fuhr ihm mit der Zunge über die Brust. Reel durchfuhr der übliche wohlige Schauer und genau darauf hatte Corvo gewartet. Geschickt nutzte er Reels kurze Unachtsamkeit aus, zog dessen Arme zur Seite und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Ehe Reel es sich versah, wurde er erneut von dem brünetten Dieb in die Laken gedrückt, der ihn überlegen angrinste.

Reel kämpfte. Er kämpfte wirklich, aber gegen Corvo hatte er einfach keine Chance. Der Ältere ließ ihm keine Möglichkeit mehr ihm zu entkommen und schließlich erstarb Reels Gegenwehr.

„Nah nah nah. Noch nicht aufgeben. Du hast dich so gut geschlagen.“ Corvos Griff lockerte sich ein klein wenig und Reel startete einen letzten verbissenen Versuch. Flink entzog er Corvo seine Handgelenke, duckte sich unter ihm hinweg und stieß ihn seitlich zu Boden. Ein letztes mal erkämpfte er sich die Führung und sah nun schwer atmend in die grünen Augen unter sich.

„Du bist gut“, lobte Corvo anerkennend und mit einem lüsternem Unterton.

„Ich lerne vom Besten“, gab Reel mit heißem Atem zur Antwort und damit war entschieden, dass er für heute gewonnen hatte.

Eilig befreite er sich von seiner Hose und Corvo tat es ihm gleich. Bereitwillig zog er Reel zu sich und schlang seine Beine um dessen Hüfte. Reels Zähne vergruben sich erneut in Corvos Halsbeuge, während er seine Hände genießerisch über dessen vernarbten Oberkörper wandern ließ.

Reel gefiel es deutlich besser, wenn er die Kontrolle hatte, daher genoss er es jetzt ganz besonders seine Dominanz gegenüber Corvo auszuspielen. Lustvoll schmiegte er sich an ihn und schob dessen Hüfte in Position. Corvo hatte genügend Übung, also musste Reel bei ihm keinerlei Vorsicht walten lassen und so ließ er seiner Lust völlig freien Lauf.

Corvo stöhnte lustvoll auf und zog Reel gierig enger an sich.

Obwohl dieser sich die Führung erkämpft hatte, ließ Corvo es sich dennoch nicht nehmen, seinem Verlangen Ausdruck zu verleihen. Er machte Reel ganz offen klar, was er von ihm erwartete und Reel versuchte dem gerecht zu werden.

Stürmisch liebkosten Reels Lippen und Zähne die empfindliche Haut an Corvos Hals und ließen diesen vor Lust und Schmerzen aufstöhnen. Seine Beine pressten sich eng an Reels Hüfte und seine Hände krallten sich genießerisch in die sehnigen Muskeln auf dessen Rücken.

Reels Bewegungen passten sich der wachsenden Lust an und entlockten Corvo mehrfach genussvolles Stöhnen, welches Reel immer weiter antrieb, bis Corvos muskulöser Körper nach einem letzten sündhaften Aufbäumen kraftlos unter ihm zum erliegen kam und auch Reel mit einem unterdrückten Stöhnen auf dessen heißer Brust zusammensank.

Es hatte sich so gut angefühlt, endlich an der Macht zu sein und selbst das Tempo zu bestimmen.

Corvo war zwar erfahren, aber äußerst eigensinnig und zwang Reel immer sein eigenes Tempo auf. Damit war jetzt Schluss! Von nun an würde Reel sich so oft wie möglich an die Macht kämpfen und Corvo schien diese Idee zu gefallen. Er hatte durchaus seinen Spaß an ihrem kleinen Dominanzspielchen und er hatte keinerlei Probleme damit sich auch immer wieder mal von Reel unterwerfen zu lassen.

So erarbeitete Reel sich seine Gleichberechtigung gegenüber Corvo und empfand so auch selbst sehr viel mehr Genuss an ihrer körperlichen Beziehung.
 


 

Nathaniël gehörte seit dem Stadtfest ganz offiziell zu Reel und auch die Zwillinge sahen ihn immer mehr als Teil der Krähendiebe an. Nathaniël entpuppte sich schnell als zuverlässiger Informant und lieferte den Dieben regelmäßig Schlüsselinformationen für Einbrüche, Überfälle und Erpressungen.

Immer wieder half Corvo Reel dabei seinen Liebsten aus seinem goldenen Käfig zu entführen und manchmal begleitete Raven ihn auch ganz einfach in Nathaniëls Zimmer – so auch diesen Abend.

Nonchalant saßen die drei auf Nathaniëls Bett. Dieser warf sich immer wieder seine langen Haare über die Schultern nach hinten, da sie ihm ständig ins Gesicht rutschten.

„Das kann sich ja keiner mitansehen“, reichte es Raven irgendwann. „Rutsch mal ein Stück nach vorn.“ Nathaniël leistete der Aufforderung folge und schon begann Raven mit geübten Fingern die seidigen, platinblonden Strähnen kunstvoll zu verflechten.

„Deine Haare sind so schön lang. Da hat man so viele Möglichkeiten was Hübsches draus zu machen.“ Nathaniël seufzte schwer.

„Ich hasse meine Haare. Sie sind absolut unpraktisch, viel zu lang und unglaublich auffällig. Ich muss sie immer verstecken, wenn ihr mich mit in die Stadt nehmt und bei Bällen gucken mich immer alle komisch an.“ Reel schlang seitlich die Arme um seinen Angel und hauchte ihm einen aufmunternden Kuss auf die Stirn.

„Ich lieb deine Haare. Die Farbe ist genauso einzigartig wie du und sie steht dir fantastisch.“ Nathaniël schenkte ihm ein dankbares Lächeln und Raven verflocht weiterhin so behutsam wie möglich die silbernen Haarsträhnen.

Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, fixierte sie alles mit einem hellblauen Satin-Band, welches Nathaniël ihr reichte. Ungeduldig zog die freche Diebin ihn nun vom Bett und vor den Spiegel.

„Gefällt's dir? Ich finde, ich habe mich mal wieder selbst übertroffen.“ Sofort erhellte sich Nathaniëls Gesicht. Seine strahlend blauen Augen begannen nahezu zu leuchten und er drehte sich verlegen vor dem großen, schmuckvoll verzierten Spielgel hin und her.

„Wow. Raven, du bist eine wahre Künstlerin.“

„Endlich erkennt mal jemand mein Potenzial“, witzelte sie frech und betrachtete zufrieden ihr Werk. „Und es passt sogar gut zu deinem Kleid.“ Schlagartig verfinsterte sich seine Miene wieder ein wenig, doch Nathaniël schluckte seinen Kommentar zu seinem Hass für Kleider einfach hinunter und schenkte Raven nur wieder ein anerkennendes Lächeln.

„Willst du auch mal eins anprobieren? Du trägst ja immer nur Hosen.“ Nun waren es Ravens smaragdgrüne Augen die zu leuchten begannen.

Reel saß nur kopfschüttelnd auf dem Bett und versuchte erfolglos sein breites Grinsen zu verbergen. Nicht nur amüsierte ihn der Anblick von Raven – der Anführerin der Krähendiebe – in den Kleidern einer Adligen, sondern es freute ihn einfach ungemein, dass seine Schwester und sein Liebster nun so gut miteinander auskamen. Und das obwohl Raven anfangs solche Bedenken bezüglich seiner Beziehung zu Nathaniël geäußert hatte.

Mit einem glücklichen Lächeln beobachtete Reel die Modenschau, die Raven und Nathaniël mit kindlicher Freude vollzogen und gab hin und wieder lobende Kommentare ab.

Das Nathaniël eine ungewöhnliche Schönheit war, war Reel vollkommen bewusst. Mit seinem zierlichen Körper, der Porzellan-Haut und seinem leicht kränklichen Erscheinungsbild, welches von seinen langen, silbrig platinblonden Haaren und seinen strahlend blauen, gebrochenen Augen vervollständigt wurde, sah er aus, wie nicht von dieser Welt und bildete einen starken Kontrast zu der grauen Stadt und den düsteren Gassen in denen sich Reel sein Leben lang herumtrieb.

Nicht zuletzt auch deshalb hatte er seinem Liebsten den Spitznamen 'Angel' gegeben.
 

Doch auch der freche Rabe, den Reel seine Schwester nannte, erstrahlte plötzlich in ungewohntem Federkleid. Sie trug nun ein beiges, knöchellanges Kleid mit leicht ausgestelltem Rock und langen, enganliegenden Ärmeln. Die dunkelbraune Korsage, welche ihre Figur sehr vorteilhaft betonte, und die Goldapplikationen des Kleides wurden von einer großen Smaragdbrosche abgerundet, die farblich perfekt zu ihren aufgeweckten Augen passte.

Doch die Diebin war nach wie vor als solche zu erkennen. Ihr fehlender kleiner Finger, die feinen Narben, die sich über ihre Haut zogen, und der jungenhafte Ausdruck auf ihrem Gesicht bildeten einen auffälligen Kontrast zu der edlen Kleidung, die sie trug.

Dennoch fühlte Raven sich zum ersten mal seit langem wieder wie ein richtiges Mädchen. Normalerweise war sie immer in erster Linie ein Dieb und nur in zweiter Linie eine Frau und dementsprechend kleidete sie sich auch.

„Du kannst es haben, wenn du möchtest“, eröffnete Nathaniël ihr plötzlich. „Dir steht es eh viel besser als mir und ich hab ja genügend andere Kleider.“ Ravens Augen leuchteten. Natürlich war ein Kleid absolut unpassend für die Tätigkeiten einer Diebin, aber das war Raven in diesem Moment völlig egal.

Es wurde langsam Zeit für die Diebe zu gehen, also schlüpfte Raven wieder aus ihrer neuen Errungenschaft und in ihre eigene verschlissene Kleidung. Gewissenhaft faltete sie das Kleid zusammen und verschnürte es sicher für den Transport.

„Ich lass euch nochmal kurz allein. Und danke dir für das Kleid. Es ist wirklich wunderschön.“ Raven umarmte Nathaniël und gab ihm intuitiv zum Abschied einen schwesterlichen Kuss auf die Stirn. „Bleib nicht mehr so lange, okay Reel?“ Mit einem sanften Lächeln warf sie sich ihren Umhang um die Schulten und verschwand durch das Fenster.
 

Reel blieb noch einen Moment und kuschelte mit seinem Liebsten, als dieser plötzlich unter seine Haare und an sein Ohr griff. Geschickt löste er einen seiner Ohrringe und reichte ihn Reel. Es war ein einfacher, recht schmuckloser, Silber-Ohrring – eigentlich zu schlicht für eine Adlige, aber Nathaniël trug sie sehr gerne, da sie sich nicht so häufig in seinen langen Haaren verfingen wie andere.

„Ich hab gesehen, dass du ein Ohrloch hast, darum wollte ich dir einen meiner Lieblings-Ohrringe schenken, damit du mich nicht vergisst.“ Reel sah ihn mit einem sanften Lächeln an und schenkte ihm einen Kuss.

„Als ob ich dich jemals vergessen könnte.“

„Dann sieh es als Glücksbringer und als Dankeschön“, meinte Nathaniël nur und Reel ließ sich von ihm den Ohrring festmachen.

Eigentlich wurde er nicht gern an sein Ohrloch erinnert, denn auch dieses war ein Relikt aus der Zeit, als Reel noch nicht zu den Zwillingen gehört hatte. Als er noch kein Dieb, sondern nur ein Sklave gewesen war.

Sklaven wurden Ohrlöcher gestochen, damit man ihre Kennmarken daran befestigen konnte – so, wie man es auch bei Nutztieren auf dem Viehmarkt tat.

Doch Reel wollte seinen Angel nicht mit dieser Geschichte belasten, denn seiner Meinung nach, hatte er Nathaniël schon viel zu viel von seiner charmanten Naivität genommen. Also bedankte er sich lediglich mit einem unschuldigen Kuss auf die Wange bei ihm und legte den Arm um seinen Liebsten.
 


 

5 Jahre später
 

Reel war mittlerweile 21 und Nathaniël 23 Jahre alt. Mit steigendem Alter wurde ihm immer häufiger verboten, Lord Griefs auf Bälle zu begleiten und so wurden seine Ausflüge mit Reel und den Zwillingen schnell seine einzige Möglichkeit das Anwesen zu verlassen. Leider sank dadurch auch die Menge an Informationen, die er den Dieben liefern konnte, doch diese hatten glücklicherweise dank Nathaniëls Vorarbeit inzwischen ein beachtliches Netzwerk aufgebaut und sich den Respekt der Invi-Gilde erarbeitet.
 

Wie so oft saßen Reel und Nathaniël auf dessen Bett, nachdem die Zwillinge ihn nach einem ihrer Ausflüge wieder dorthin zurückgebracht hatten.

Plötzlich ertönte das warnende Klopfen an der Zimmertür, welches Reel mehr als alles andere fürchtete und noch mehr hasste. Widerwillig aber zügig schwang er sich aus dem Fenster und auf das Dach des Anwesens. Wie schon so oft wurden unter ihm die schweren Schritte Lord Greifs' laut und Reels Körper gefror.

Völlig unvermittelt erhob Griefs die Stimme. Er klang aggressiv und berechnend.

„Du kleine Kröte hältst dich wohl für besonders clever, nicht wahr? Dachtest du wirklich ich bemerke deinen Verrat und deine Spionage nicht? Ich gebe zu, es hat eine Weile gedauert, aber nun können dir auch deine dreckigen Diebe aus dem Krähennest nicht mehr helfen. Ich verlange mein Eigentum zurück!“

Reel stockte der Atem. Eine unbändige Angst überkam ihn. Angst um Nathaniël, um Raven, um Corvo und um all die anderen Diebe. Lord Griefs war wirklich niemand, den man gegen sich aufbringen wollte, dass wusste in dieser Stadt jeder.

Reel wurde hellhörig. Unter sich konnte er nun ein völlig neues Geräusch hören. Nathaniël rang nach Atem und schlug hilfesuchend mit Armen und Beinen um sich, was dumpfe Schläge auf dem Bett verursachte.

Griefs würgte Nathaniël – Reel konnte es deutlich hören und sein bildliches Vorstellungsvermögen spielte ihm die Szene ungewollt vor seinem geistigen Auge ab.

In diesem Moment gewann sein Beschützerinstinkt die Oberhand und verdrängte jeden anderen Gedanken. Reels Starre löste sich und unbändiger Hass vernebelte seinen Geist. Er wusste selbst nicht, dass er sich so schnell bewegen konnte, doch nur einen Wimpernschlag später stand er mit gezogenen Dolch im Zimmer und ging mit rasendem Blick auf den Lord los.

Dieser war so von dem wilden Dieb überrumpelt, dass er nicht mehr reagieren konnte. Eher er es sich versah, rammte Reel ihm seinen Dolch zwischen die Rippen und stieß ihn von dem hustenden Nathaniël. Schützend umschlang er diesen und hielt ihn sicher in seinen Armen.
 

Einen kurzen Moment lang hörte Reel nichts außer Nathaniëls keuchenden Atem, dann vernahm er plötzlich ein Gemurmel von dem sterbenden Lord Greifs. Er presste Worte in einer Sprache hervor, die Reel nicht einmal annähend verstand. Sie war ihm völlig fremd, doch die Art und Weise wie Griefs die Worte aussprach ließ nichts Gutes vermuten.

Wie gebannt starrten die beiden Liebenden den blutenden Körper neben sich an, bis dieser endlich verstummte und mit leblosen Augen liegen blieb.

Für einige wenige Sekunden schien die Welt stehen zu bleiben. Reel hatte ihn getötet. Er hatte seinen ersten Mord begangen und die darauf folgende Stille war ohrenbetäubend.

Plötzlich schrie Nathaniël mit gequälter Stimme auf während seine gebrochenen blauen Augen noch immer auf Reel ruhten. Nun konnte auch dieser den Grund dafür in seinem Augenwinkel erkennen. Eine flackernde Dunkelheit schien sich bedrohlich um ihn zu legen. Nathaniël rutschte in Panik von ihm weg und Reel ergriffen unsägliche Schmerzen.

Das Herz in seiner Brust schien zu brennen, sein Schädel fühlte sich an wie mit Stacheldraht durchzogen und durch seine Adern schien nun statt Blut siedender Essig zu fließen. Vor seinen Augen färbte sich alles rot, ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und der starke Geruch von Blut, Schweiß und Angst stieg ihm in die Nase.

Endlich ließen die Schmerzen nach und Reels Sinne gewöhnten sich an die übermäßige Reizüberflutung. Voller Angst suchte er Nathaniël. Dieser hockte zusammengekauert in einer Zimmerecke und starrte ihn ungläubig an.

„Angel?“ Reels Stimme klang entfremdet in seinen eignen Ohren und er konnte Tränen über seine Wangen fließen spüren.

„Relakesch?“ Nathaniëls Stimme war nur ein verzweifeltes Flüstern und dennoch konnte Reel ihn problemlos verstehen. Unsicher nährte er sich seinem Liebsten und passierte dabei den mannshohen Spiegel. Reel erschrak und wich panisch zurück. Aus dem Spiegel sah ihm ein Monster entgegen, welches so direkt aus der Hölle entsprungen zu sein schien.

Ein wallender Umhang aus tiefstem Schwarz nahm Reels Körper in Besitz. Seine Haut erschien gräulich-blass und frei von Narben. Seine hellgrauen Augen, auf die Reel immer so stolz gewesen war, waren einem dämonischen, flammenden Rot gewichen und in seinem Mund spürte er plötzlich die gefährlichen Reißzähne eine Raubtieres.

Verzweifelt sank Reel in sich zusammen. Es gab keinen Zweifel – die monströse Gestalt im Spiegel war tatsächlich seine eigene.

„Angel...“ Nathaniël biss die Zähne zusammen und schluckte seine Angst hinunter. 'Das ist immer noch Relakesch', betete er sich selbst immer und immer wieder im Geiste vor und nährte sich langsam der am Boden kauernden, schwarzen Gestalt.

Behutsam berührte er dessen Schulter und kniete sich neben ihn. Er versuchte ihm in die Augen zu sehen, doch dieses stechende Rot löste in Nathaniël solche Panik aus, dass er ihm wieder ausweichen musste. Dennoch nahm er all seinen Mut zusammen und schlang trötend die Arme um seinen Liebsten.

„Es wird alles wieder gut“, flüsterte er immer und immer wieder um Reel und auch sich selbst irgendwie zu beruhigen.

All die Sinneseindrücke, die nun so verstärkt auf Reel einstürzten, machten es ihm zusätzlich schwer klare Gedanken zu fassen. Als er es dennoch endlich schaffte, löste er sich wieder von Nathaniël. Er betrachtete seinen Liebsten und stellte fest, dass auch dieser nicht völlig von Lord Griefs Fluch verschont geblieben war. Auf seiner Brust prangte ein etwa handgroßes, schwarzes Symbol mit verschlungenen Ausläufern, die sich bis hoch zu dessen Hals zogen.

Behutsam fuhr Reel das fremdartige Mal mit den nun noch schmaleren Fingern nach.

Nathaniël schien das sichtlich unangenehm zu sein, daher wollte Reel sich wieder von ihm zurückziehen, doch in diesem Moment begann sich sein eigener Körper völlig unvermittelt aufzulösen. Panisch wich Reel von Nathaniël zurück, doch es war bereits zu spät. Sein Körper verlor seine Form und ging in schwarze Schwaden über, die sich lauernd um Nathaniël wanden und anschließend in diesem verschwanden.

Nathaniël blieb allein im Zimmer zurück und sah sich mit angst-geweiteten Augen suchend um.

„Relakesch? Relakesch, wo bist du?“

„Angel?“, erklang Reels panische Stimme in Nathaniëls Innerem.

„Relakesch, was ist hier los? Ich hab Angst.“ Plötzlich ergriffen unerträgliche Schmerzen den schmächtigen Körper und gequältes Wimmern entfuhr seiner Kehle. Es fühlte sich an, als würde Nathaniëls Inneres bei lebendigem Leibe verschlungen werden. Er sank auf dem Boden zusammen und hielt sich die Brust. Die Schmerzen raubten ihm den Atem und in seinem Unterbewusstsein spürte er Reels steigende Verzweiflung.

„Angel, es tut mir so leid. Ich kann es nicht kontrollieren. Ich will das nicht!“ Im nächsten Moment erstarb Nathaniëls Wimmern und ein lebloser Ausdruck trat in die wunderschönen, blauen Augen.

Die plötzliche Stille lähmte Reel und eine kleine Ewigkeit später verschwamm sein Blick, bis ihn nichts als schwarze Leere umgab.
 

Er hatte diese neue, dämonische Macht nicht unter Kontrolle und die angeschlagene Kondition des kränklichen Nathaniël hatte dieser auch nichts entgegenzusetzen.

Reels Rachsucht hatte sich ungewollt an Nathaniël entladen und dessen gebrochene Seele innerhalb kürzester Zeit verschlungen.

Reel hatte ihn getötet. Er hatte seinen geliebten Engel ermordet. Oder viel mehr: Das, was Griefs aus ihm gemacht hatte, hatte ihn ermordet.

Mit Nathaniël erstarb auch das letzte Licht um Reel und sein Bewusstsein verschwand endgültig in den Schatten.

Relakesch V – Ruhe vor dem Sturm (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Verliebt

„Als ich das nächste mal die Augen öffnete, war ich an irgendeinen Magier gebunden und fühlte nichts anderes als unbändige Rachsucht“, schloss Reel seine Geschichte. Immer wieder waren ihm beim Erzählen Tränen in die Augen gestiegen und er hatte sie jedes Mal verbissen niedergekämpft. Nun schwieg er und auch Aiden wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte.

Viele von Reels Eigenarten, sein unbändiger Hass auf Magier und auch sein Verhalten Aiden gegenüber machten jetzt sehr viel mehr Sinn für ihn. Wortlos rutschte er nun endlich wieder näher an den unglücklichen Dämon heran und nahm ihn in den Arm. Dieser gab sich der Umarmung hin und schlang seinerseits die Arme um ihn.

„Danke, dass du es mir erzählt hast. Verzeihen tue ich dir zwar noch nicht, aber ich hasse dich nicht dafür und verstehe, warum es dir so schwer fiel.“

„Danke.“ Reel vergrub sein Gesicht in Aidens Halsbeuge und leise flossen einige Tränen. Es tat ihm gut endlich einmal mit jemandem über seine Vergangenheit und seine Verluste gesprochen zu haben und irgendwie war es befreiend zu wissen, dass er sich vor Aiden nicht zu verstecken brauchte.

Seine Geschichte hatte lange gedauert und draußen ging bereits langsam die Sonne auf. Aiden war müde und das Gleiche schien auch für Reel zu gelten.

Immer schwerer wurde dessen Gewicht auf Aidens Schulter, also zog er ihn schließlich mit sich zum Kopfende des Bettes und kuschelte sich ins Kissen – den stillen Reel noch immer in seinen Armen. Haltsuchend umschlangen seine Arme Aidens Körper und dieser legte schützend die Bettdecke um Reels Schultern.

Eine Weile kraulte Aiden seinem Dämon den Kopf, bis beide in einen traumlosen Schlaf sanken.
 

Die roten Augen Reels waren die Ersten, die sich wieder öffneten. Verschlafen lauschte er Aidens ruhigem Herzschlag und genoss seine Nähe. Es beruhigte ihn ungemein zu wissen, dass Aiden ihn nicht für sein unfaires Verhalten ihm gegenüber hasste und dass er völlig offen mit ihm sprechen konnte. Er war seit Nathaniël und den Zwillingen der erste, vor dem er seine Gefühle und Schwächen nicht verbergen brauchte.

Mit einem bittersüßen Lächeln auf den Lippen kuschelte er sich näher an dessen Brust und sog seinen vertrauten Geruch tief ein. Er hätte es nicht ertragen Aiden zu verlieren.

Er war eben doch mehr für ihn als nur ein Ersatz, auch wenn er sich lange vor diesen Gefühlen versperrt hatte. Es hatte sich für Reel wie Verrat an Nathaniël angefühlt, aber er wollte sich nicht mehr von seinen Schuldgefühlen kontrollieren lassen. Er hasste es fremdbestimmt zu werden und dennoch hatte er sich davon einschränken lassen.

Sich Aiden anzuvertrauen half ihm mit seiner Vergangenheit abzuschließen und Aiden endlich die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die er verdiente.

Plötzlich spürte er eine Hand, die zärtlich durch seine Haare fuhr. Aiden war ebenfalls aufgewacht und begann ihm nun sanft den Kopf zu kraulen, was Reel unglaublich beruhigte.

Aiden war immer noch ein wenig sauer auf seinen Dämon – immerhin hatte er ihm das Herz gebrochen – aber er hatte sein Wort gehalten und ihm wirklich alles erzählt – jedes schmerzhafte Detail. Er hatte nichts vor ihm verborgen und sich ihm vollkommen geöffnet, und Aiden kannte ihn gut genug um zu wissen, wie viel Überwindung ihn das gekostet hatte. Reel lag also wirklich etwas an ihm und das freute ihn ungemein.

Zögerlich rutschte Reel etwas hoch und suchte den Blickkontakt mit Aiden. Die roten Augen wirkten verletzlich und Aiden hatte das Gefühl, dass ausnahmsweise einmal er Reel beschützen musste. Sein Dämon konnte nicht gut mit Gefühlen umgehen und seine Schwäche Aiden gegenüber offen zu zeigen, war der größtmögliche Vertrauensbeweis gewesen.

Das hübsche, blasse Gesicht hing nur wenige Zentimeter über Aidens und einige schwarze Strähnen kitzelten ihn an der Nase. Liebevoll strich er sie Reel hinter die Ohren, legte dabei seine Hände auf Reels Wangen und zog ihn sanft zu sich runter.

Er schenkte ihm einen langen, zärtlichen Kuss und schloss dabei die Augen. Reel tat es ihm gleich und zum ersten Mal dachte er dabei ausschließlich an Aiden. Endlich konnte er sich seinen Gefühlen für den kleinen Internatsschüler hingeben und das kostete er nun voll aus.

Es fühlte sich so gut und so richtig an ihn zu küssen, und er wollte seine Lippen am liebsten nie wieder von seinen nehmen.

Irgendwann musste er sich dann aber doch von ihm lösen und seine Augen suchten die seines Sunshines. Dieser lächelte ihn aufmunternd an und zauberte damit auch Reel ein Schmunzeln auf die Lippen. Behutsam lehnte er seine Stirn gegen Aidens.

„Danke, Sunshine.“ Er strich zärtlich über Reels Wange, drückte seine Lippen ein weiteres Mal kurz auf Reels und zog ihn dann wieder neben sich ins Kopfkissen.

Sie blieben den ganzen Tag im Bett und kuschelten sich aneinander, während sie Netflix schauten und Aiden seinen Süßigkeiten Vorrat plünderte.

Sie brauchten einander und endlich waren sie auch beide bereit das zuzugeben.
 

Nachdem die Sonne untergegangen war, zog Reel ihn zum Fenster.

„Vertraust du mir?“ Aiden nickte und ließ sich von seinem Dämon auf den Arm nehmen. Frische Abendluft wehte durch das offene Fenster ins Zimmer und Reel stieg auf das Fensterbrett.

Aidens zusätzliches Gewicht bereitete ihm keinerlei Probleme, während er sich über die schmuckvolle Fassade leichtfüßig zum Dach bewegte.

Dort angekommen setzte er Aiden behutsam ab und achtete darauf, dass dieser sicher auf dem schrägen Dach stehen konnte. Gemeinsam setzten sie sich auf die blass-roten Ziegel und betrachteten den Nachthimmel. Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen und die Sterne waren heute wirklich atemberaubend. Der Sichelmond tauchte alles in schwaches, fahles Licht und ließ alles surreal erscheinen.

„Wunderschön“, staunte Aiden und lehnte sich gegen Reels Schulter. Dieser legte einen Arm um ihn und auch sein Schatten umschlang Aidens Körper ein kleines Stück weit.

Aiden hatte vorher nie verstehen können, weshalb Reel so häufig in die Nacht hinaussah, doch nun begriff er die Verbindung zur Vergangenheit und er fühlte sich ihm so nah wie nie zuvor.

Irgendwann bemerkte Reel, wie Aiden in der kühlen Nachtluft zu frieren begann, und rutschte schnell hinter ihn. Er setzte sich so hin, dass Aiden nun zwischen seinen Beinen saß, schlang von hinten seine Arme um ihn und schmiegte sich an seine Wange.

Aiden lehnte sich in die Umarmung hinein und ließ sich von Reels Schatten einhüllen. Erstaunlicherweise schien dieser tatsächlich ein wenig zu wärmen und Aiden genoss das angenehme Gefühl, welches der Schatten auf seiner Haut hinterließ. Vorsichtig griff er über seine Schulter um Reels Nacken zu erreichen und kraulte diesen sanft, woraufhin sich Reel noch enger an ihn schmiegte. Es tat ihm gut, sich endlich völlig auf Aiden einzulassen, und er war ihm dankbar für seine Geduld.
 

Sie blieben so lange dort oben, bis Aiden begann immer wieder kurz einzunicken.

„Lass uns wieder runter gehen, Sunshine.“ Behutsam nahm Reel den müden Aiden wieder auf den Arm und brachte ihn ins Zimmer zurück, während dieser sich an seinem Dämon festklammerte. Er hatte keine Höhenangst, aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich vom Dach des mehrstöckigen Gebäudes hinunter in die Tiefe bewegten, trieb Aiden zwangsläufig Adrenalin ins Blut.

Als Reel ihn auf dem Bett absetzte, klammerte er sich noch immer an ihm fest.

Sanft zog er ihn zu sich um in die fesselnden, roten Augen zu sehen.

„Ich liebe dich.“ Reel war kurz etwas überrascht, aber er fing sich schnell wieder und schenkte Aiden ein verliebtes Lächeln.

„Du weißt, dass das mit uns beiden nicht leicht wird.“

„Mit dir ist nie etwas leicht“, konterte Aiden grinsend und Reel musste unwillkürlich lachen. Liebevoll küsste er Aidens Lippen.

„Ich liebe dich auch, my little Sunshine.“ Aiden wurde ein wenig rot und Reel konnte nicht anders als amüsiert zu grinsen. Aiden sah einfach zu niedlich aus, wenn er sich genierte und Reel wurde dieses Anblicks nie überdrüssig.

Spielerisch knuffte er ihn in die Seiten und ärgerte ihn ein wenig. Nur halbherzig wehrte sich Aiden und zog stattdessen einfach Reel zu sich aufs Bett, der sich diese Gelegenheit nicht entgehen ließ und Aiden sanft ins Ohr biss.

Er wusste selbst nicht so recht, warum ihm das so viel Spaß machte, aber er vermutete, dass es an Aidens Reaktion lag. Er wurde dabei jedes mal rot und Reel konnte spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
 

Kurzerhand zog er Aiden auf seinen Schoß und küsste seinen Hals, wobei er darauf achtete die empfindlichen Bisswunden nicht zu berühren. Seine Küsse wanderten hoch zu Aidens Wange, seinen Mundwinkel und schließlich seinen Lippen.

Zärtlich ließ er seine Zunge über diese gleiten und um Einlass bitten. Kurz zögerte Aiden, dann öffnete er die Lippen leicht und nahm Reels Zunge bereitwillig auf. Behutsam tastete diese sich vor – bereit sich jederzeit zurückzuziehen, wenn es Aiden zu viel wurde.

Doch er ließ sich auf das Spiel ein und begann seinerseits seine Zunge verhalten auf Wanderschaft zu schicken. Reel schmeckte so unglaublich gut und seine Zurückhaltung nahm Aiden ein wenig die Angst.

Der Dämon achtete darauf seine Hände oberhalb von Aidens Kleidung zu belassen, während dieser seine Arme in seinem Nacken verschränkte. Zögerlich wurden Reels Küsse ein wenig fordernder und auch da ging Aiden ein gutes Stück weit mit.

Reel wollte ihn nicht an seine Grenzen bringen, aber er musste wissen wie weit er bei ihm gehen durfte, ohne dass es für seinen kleinen Sunshine unangenehm wurde. Er ging behutsam vor und achtete dabei genau auf Aidens Reaktion.

Ihre Küsse wurden zunehmend leidenschaftlicher und langsam musste Reel wirklich aufpassen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Zärtlich fuhr er ihm mit der Zunge über die Wange und ließ sie sich ihren Weg hinunter zu Aidens Hals bahnen.

Lustvoll übersäte er diesen mit leidenschaftlichen Küssen und saugte sich einige Male daran fest, um hübsche, rote Stellen auf der weichen Haut zu hinterlassen.

Aidens Körper reagierte instinktiv auf Reels Zuneigungsbekundungen und schmiegte sich enger an den schönen Dämon. Seine Finger suchten Halt in dem schwarzen Haar, während Reel seine Zunge noch ein kleines Stück tiefer schickte.

Lüsternd liebkoste er Aidens Schlüsselbein und den kleinen Teil seiner Brust, den das T-Shirt preisgab. Aiden stöhnte leise auf und brachte Reel damit fast um den Verstand, während seine Hände instinktiv hinunter an Aidens Hüfte wanderten und ihn näher zogen.
 

Plötzlich spürte Aiden eine Erhebung unter sich, die ihn wieder in die Realität zurückholte.

„Reel … Reel ich kann nicht.“ Der Dämon ließ sofort – wenn auch nur sehr widerwillig – von ihm ab.

„Ich weiß. Ist schon in Ordnung, Sunshine. Lass dir die Zeit, die du brauchst. Ich lauf dir ja schließlich nicht weg.“ Reels Stimme war sanft und er strich ihm liebevoll die wirren Haare glatt. Er war keinesfalls sauer oder enttäuscht, wie Aiden vielleicht glaubte. Ganz im Gegenteil – er hatte nicht erwartet, dass Aiden ihn überhaupt so weit gehen ließ.

Behutsam nahm er dessen Hände in seine und hauchte einen zarten Kuss auf die leicht schiefen Finger der linken Hand. Aiden wurde wieder rot und schenkte ihm seinerseits einen verhaltenen Kuss auf die Wange, bevor er vorsichtig wieder von Reels Schoß rutschte.

„Tut mir leid, wenn ich dich gedrängt haben sollte.“

„Nein, nein. Alles in Ordnung. Mir geht’s gut.“ Aiden verstärkte seine Aussage mit einem unschuldigen Lächeln und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Er war unglaublich müde.

„Hast du dich im Griff?“, fragte Aiden vorsichtshalber nochmal nach. Reel horchte kurz in sich hinein, dann nickte er und Aiden hob die Decke einladend an.

Grinsend krabbelte der Dämon unter diese und kuschelte sich an ihn. Besitzergreifend schlang er die Arme um Aiden und schenkte ihm einen langen Gutenachtkuss bevor sie beide einschliefen.
 

Als Aiden wieder aufwachte, umklammerte Reel noch immer eisern seine Taille. Die scharfen Reißzähne hatten sich im Kragen von Aidens Schlaf-Shirt verbissen und hinterließen dort kleine Löcher, die Aiden nur mit einem schwachen Seufzen zur Kenntnis nahm.

Dieses leise Geräusch reichte aus, um auch den Dämon zu wecken, der seine Zähne aus dem Shirt löste und schuldbewusst zu Aiden hoch sah.

„Tschuldige“, kommentierte er die Löcher und nestelte ein wenig an diesen herum.

„Schon okay.“ Aiden fuhr ihm durch die wirren Haare und schenkte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe. Reel quittierte diesen indem er seine Zunge spielerisch über Aidens Wange gleiten ließ und ihm zärtlich am Ohr knabberte.

Plötzlich unterbrach Aidens knurrender Magen den Moment und beide mussten unweigerlich lachen. Aiden wurde rot und ließ sich von Reel hochziehen, so dass sie nun beide aufrecht im Bett saßen. Ein weiteres mal biss er Aiden sanft in den Hals, dann scheuchte er ihn aus dem Bett.

„Na los. Wenn du dich beeilst, kriegst du noch was zu Essen ab.“
 

Aiden huschte ins Bad und putzte sich die Zähne.

Als er in den Spiegel sah, wanderte sein Blick zu seinem geschundenen Hals. Er war über und über mit roten Knutschflecken und einigen Bissspuren bedeckt. Vorsichtig betastete er diese und musste schmunzeln. Reel blieb eben doch Reel.

Nur wie er die Zeichen und Liebesbisse seines Dämons im Speisesaal verbergen sollte, war ihm noch unklar. Es war Sommer, also würde ein Schal oder ein Rollkrangenpullover auffallen, aber seinen Hals offen zu zeigen wäre weitaus problematischer.

Schnell zog Aiden sich an und kramte anschließend durch seinen Schrank bis er sein altes Zecken-Halstuch fand. Gewissenhaft versteckte er seinen Hals darunter und drehte sich dann zu Reel.

„Geht das so?“ Reel setzte ein schelmisches Grinsen auf, zog das Tuch bei Seite und saugte sich ein weiteres mal an Aidens weicher Haut fest. Zufrieden betrachtete er den neuen roten Fleck und grinste Aiden herausfordernd an.

„So gefällst du mir eindeutig besser.“ Aiden sah ihn scheltend an und schüttelte nur den leicht Kopf.

„Du bist wirklich unmöglich.“ Zuckersüß lächelte Reel ihm mit blitzenden Reißzähnen entgegen und Aiden wickelte sich das Tuch erneut um. Dann zog er seinen Dämon zu sich, schenkte ihm einen langen Kuss und wartete bis Reel sich in seinen Körper zurückzog.
 

Im Speisesaal angekommen, stellte Aiden fest, dass er fast allein war. Der Großteil der Schüler war inzwischen abgereist und wer noch hier war, war bereits mit dem Essen fertig. Nur fünf Schüler, die Aiden nicht kannte, und die Krankenschwester waren noch im Saal. Und letztere kam nun mit offensichtlich guter Laune auf ihn zu.

„Aiden, du bist ja auch noch hier. Was soll den das Halstuch? Wir haben 25 Grad.“ Skeptisch betrachtete sie Aiden.

„Ich hab ein wenig Halsschmerzen und will nicht riskieren, dass sie schlimmer werden“, log er geistesgegenwärtig.

„Ach so. Du weißt, dass du jederzeit im Krankenzimmer vorbeikommen kannst. Ich kann mir deinen Hals mal ansehen, wenn du möchtest.“

„Nein, nein. Ist wirklich nicht so schlimm“, winkte er ab und zog das Tuch unauffällig ein wenig enger um seinen Hals.

Als Aiden mit dem Essen fertig war, flüchtete er schnell wieder in sein Zimmer, bevor noch jemand auf das Halstuch aufmerksam wurde.
 

Nach circa einer Stunde im Zimmer kam Reel auf Aiden zu und schob ihm seine Sportkleidung hin. „Zieh dich um. Wir gehen noch eine Runde im Wald trainieren. Ich will mir nicht ständig Sorgen um dich machen müssen.“ Reel untermalte seine Aufforderung indem er Aiden frech einen Kuss stahl und an seinem T-Shirt zog. Halbherzig wehrte sich Aiden und saß dennoch nur wenige Sekunden später mit nacktem Oberkörper vor seinem Dämon.

Mit einem frechen Grinsen platzierte Reel noch einige Knutschflecken und sanfte Bisse auf Aidens Brust, während er an dessen Gürtel nestelte. Klappernd öffnete sich die Gürtelschnalle und Reel zog gierig an der Jeanshose.

Eigentlich wollte er grade noch viel weiter gehen, aber er wollte Aiden nicht drängen, weshalb er seine Hände dazu zwang, ihre Wanderschaft auf Aidens Oberkörper zu beschränken. Zärtlich glitt seine Zunge über Aidens Brust hinauf zu dessen geschundenem Hals, den er sanft liebkoste, bevor er seine Zunge wieder tiefer schickte.

Dreist umspielte sie Aidens Brustwarzen und Reel konnte nicht anders, als auch dort sanfte Bisse zu hinterlassen. Aiden zuckte zusammen, wehrte sich jedoch nicht dagegen. Genießerisch umschlang er stattdessen Reels Nacken und krallte sich in den schwarzen Haaren fest. Immer wieder entfuhr ihm ein leises Stöhnen und jedes mal verstärkte sich anschließend Reels Griff um seinen Körper.

Unauffällig schob sich sein Bein zwischen Aidens Oberschenkel und dieser brauchte eine Weile um das zu bemerken. Zu abgelenkt war er von den Liebkosungen durch Reels Zunge und den zärtlichen Bissen an seiner Brust gewesen.

Schließlich zog Aiden seinen forschen Dämon bestimmend wieder zu sich hoch und küsste ihn leidenschaftlich. Reels Hände wanderten tiefer, doch Aiden fing sie schnell mit seinen eigenen ab. Reel stockte und sah in die braunen Augen seines Liebsten.

„Du wolltest eigentlich mit mir trainieren gehen. Weißt du noch?“, witzelte Aiden und zog Reels Hände wieder höher.

Flüchtig drückte er seine Lippen auf Reels, dann wand er sich aus dessen Umklammerung – oder zumindest versuchte er das. Geschickt hielt Reel ihn fest und platzierte einen sanften Kuss auf seinem Nacken. Erst dann gab er ihn frei und beobachtete, wie Aiden sich umzog.

Dieser wurde rot, als er den hungrigen Blick der flammenden Augen auf sich bemerkte, was Reel nur noch weiter amüsierte.

Als er endlich fertig umgezogen und bereit zum Gehen war, ließ Reel seine Hand unter Aidens Shirt gleiten und zog ihn zu sich. Prüfend betastete er den Dolch an Aidens unterem Rücken und sah ihn zufrieden an. Erneut stahl er sich einen Kuss von seinem Sunshine und ging in dessen Körper über.

Aiden wickelte sich vorsichtshalber wieder sein Halstuch um, dann verließ er das Zimmer.
 

Auf dem Weg über den Campus begegnete er glücklicherweise niemandem und so konnte sich Reel schon kurze Zeit nach Betreten des Waldes wieder neben Aiden materialisieren. Wortlos nahm er dessen Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. Aiden konnte sein Schmunzeln nicht unterdrücken und spürte erneut wie ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg.

Die frische, feuchte Waldluft wirkte belebend auf ihn und Aiden freute sich tatsächlich richtig darauf mit Reel zu trainieren.

Dieser ließ ihn zuerst die Passiv-Blöcke vom letzten mal wiederholen und stellte stolz fest, dass Aiden sich sehr schnell wieder ins Training einfand. Daher konnte Reel schon nach kurzer Zeit mit der nächsten Abwehrtechnik fortfahren.

„Leg deine Hände um meinen Hals. Ich werd' dir zeigen, wie man aus Würgegriffen entkommt.“ Unsicher leistete Aiden der Aufforderung folge und ehe er es sich versah, wurden seine Handgelenke gepackt und von Reels Hals gerissen, während dieser zeitgleich einen flinken Schritt nach hinten machte. Noch bevor Aiden es so richtig bemerkte, hatte sich Reel von ihm befreit und stand nun circa einen Meter von ihm entfernt.

„Die Technik ist sehr einfach, aber wirksam“, erklärte Reel. „Wichtig ist, dass du als erstes deine Kehle sicherst, indem du dein Kinn nach unten auf die Brust drückst. Dann musst du nur noch die Hände deines Gegners wegziehen und dabei ein Stück nach hinten gehen. Schon bist du frei und kannst zum Gegenangriff übergehen oder flüchten.

Eine zweite Variante wäre, die Arme von innen durch die Arme des Angreifers zu schieben und diese dann durch Druck in die Ellenbogenbeugen vom eigenen Hals zu lösen.“ Auch diese Variante führte Reel ihm vor.

Es waren simple Techniken, also ließ er sie Aiden nur einige wenige Male üben – bedacht darauf, Aidens geschundenen Hals nicht mit seinen scharfen Fingernägeln zu verletzen.

„Das sind übrigens Techniken, die gerne in Selbstverteidigungskursen für Frauen gelehrt werden“, witzelte er zwischendurch und wurde von Aiden mit „Du beherrscht die Techniken ja schließlich auch.“ gekontert, was ihm ein anerkennendes Lachen entlockte.
 

Als letztes wollte Reel ihm noch die Grundlagen der Handhabung eines Dolches beibringen.

„Reel, wolltest du mir nicht noch zeigen, wie man aus Griffen um die Handgelenke entkommt?“ Ein frechen Grinsen huschte über Reels Lippen.

„Eigentlich schon. Aber zum Einen finde ich es wichtiger, dass du dich nicht versehentlich selbst mit deinem Dolch abstichst und zum Anderen würde ich es mir damit ja selbst schwerer machen, dich zu ärgern. Was hab ich denn davon, wenn du dich aus meinen Griffen winden kannst?“ Aiden war kurz verdutzt, was Reel ausnutzte um sich einen Kuss von ihm zu stehlen und Aiden somit ein belustigtes Schmunzeln entlockte, während sich eine leichte Röte seines Gesichts bemächtigte.

„Du bist doch doof.“ Zärtlich umschlang Aiden Reels Nacken und stellte sich auf die Zehenspitzen, wodurch er nun fast genauso groß wie sein Dämon war.

Sanft drückte er seine Lippen auf Reels und ließ kurze Zeit später seine Zunge über diese wandern. Instinktiv öffnete Reel sofort leicht den Mund und nahm Aidens Zunge bereitwillig in Empfang. Vergnügt umspielte er sie mit seiner eigenen, während seine Arme sich unter Aidens Shirt um dessen Taille schlossen.

Nach einiger Zeit zog sich Aidens Zunge wieder zurück und Reel ließ sie nur sehr ungern gehen. Aidens braune Augen suchten Reels rote und zum ersten Mal fiel dem Dämon auf, dass diese nicht einheitlich braun waren.

Den Rand der Iris zierte ein dunkler Ring, der fast schon schwarz erschien, während sich nahe der Pupille dezente, blass-grüne Fasern in verschiedensten Nuancen durch das Braun zogen.

Sie passten perfekt zu Aiden: auf den ersten Blick gewöhnlich, aber bei genauerer Betrachtung unglaublich vielschichtig – besonders, wenn man die übermenschliche Sinneswahrnehmung eines Dämons hatte.

„Du bist wunderschön“, flüsterte Reel ihm zu, um den Bann, den Aidens Augen auf ihn gelegt zu haben schienen, zu brechen. Aiden stieg weiter die Röte ins Gesicht und mangels einer schlagfertigen Antwort, schenkte er Reel stattdessen einen zurückhaltenden Kuss und hauchte ein verlegenes „Danke“.

Schließlich zog Reel seine Hände wieder unter Aidens Shirt hervor und brachte dabei auch gleich den kleinen, schwarzen Dolch mit. Behutsam legte er ihn Aiden in die Hand und ließ eine seiner eigenen Klingen erscheinen. Kurz räusperte er sich um auch den letzten Rest des Banns abzuschütteln und sich wieder auf das Training konzentrieren zu können.

Gewissenhaft wies er Aiden in die Grundzüge des Messerkampfes ein und zeigte ihm die idealen Angriffspunkte für die schmale Klinge. Dieser gewöhnte sich schnell an das Gefühl des Metall-Hefts in seiner Hand und an das leichte Gewicht des kurzen Dolches.
 

Zum Abschluss kämpften sie noch eine Runde Schattenboxen gegeneinander, bis Aiden letztendlich die Puste ausging. Reel bemerkte, dass Aiden schwächelte und nutzte es geschickt aus.

Mit einer flinken Bewegung duckte er sich unter dessen Angriff hinweg anstatt ihn zu parieren und schritt schnell hinter Aidens Rücken. Frech schlang er von hinten seine Arme um den verdutzen Aiden und drückte ihn an sich, um ihm jegliche Bewegungsfreiheit zu nehmen, und ließ seine Zunge einmal über seine Ohrmuschel tanzen. Ein wohliger Schauer durchlief Aidens ganzen Körper und ein verliebtes Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen, als Reel nun begann zärtlich an seinem Ohr zu knabbern.

Langsam wanderten Reels Arme etwas tiefer und schlossen sich erneut um Aidens Taille, was diesem erlaubte seine eigenen Arme wieder zu bewegen. Eine Hand legte er auf Reels Unterarm, mit der anderen griff er hinter sich und kraulte dessen Nacken, was Reel mit einem summenden Geräusch quittierte, das Aiden entfernt an das Schnurren einer großen Katze erinnerte.

„Morgen werden die Prüfungsnoten bekannt gegeben und die Zeugnisse verteilt“, warft Aiden irgendwann unvermittelt ein.

„Keine Angst. Das wird schon gut gehen“, versuchte Reel ihn aufzumuntern und schmiegte sich eng an ihn.

„Wollen wir zurück gehen? Es wird schon spät.“ Reel biss ihm ein letztes Mal liebevoll ins Ohr, dann gab er ihn wieder frei. Aiden hob sein Halstuch auf, welches er zu Beginn des Trainings beiseite gelegt hatte, band es sich um und ließ sich von Reel an die Hand nehmen.

Kurz bevor sie den Wald verließen, hielt Reel ihn fest.

„Du gibst einen erstaunlich guten Messerstecher ab“, lobte er Aiden spielerisch und ging mit einer zärtlichen Berührung ihrer Lippen in seinen Körper über.

Noch einen Schritt weiter (Zensiert)

Aiden beeilte sich in sein Zimmer zu kommen, denn er wollte vor dem Abendessen unbedingt noch duschen gehen. Mit einem Blick in den Spiegel, wurde ihm wieder schmerzlich bewusst, dass er noch immer nicht bei einem richtigen Frisör gewesen war , obwohl seine Haare das mehr als nötig hatten.

Als er das Badezimmer wieder verließ, lag Reel rücklings auf dem Boden, stützte die Beine an der Bettkante ab und las. Sein Schatten tanze vergnügt über den hellen Parkettboden und seine schwarzen Strähnen bildeten einen wirren Rahmen um sein blasses Gesicht.

Ein breites Grinsen stahl sich bei diesem Anblick unweigerlich auf Aidens Lippen. Sein Dämon war wirklich unmenschlich schön und er gehörte nur ihm allein.

Behutsam kniete er sich neben ihn und wartete bis Reel sich ebenfalls aufsetzte. Frech griff dieser an Aidens Kragen und zog ihn sanft zu sich, um ihn zu küssen und dabei zu dematerialisieren.
 

Der Speisesaal war etwas voller als beim Frühstück. Mara, ihre Schwester und eine ihrer Freundinnen – Sophie, wenn Aiden sich über die Distanz nicht irrte – saßen an ihrem üblichen Platz und unterhielten sich über die morgige Notenvergabe. Aiden versuchte schnell wegzuhören. Er wollte jetzt nicht daran denken.

Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie die Krankenschwester ihn etwas besorgt musterte, aber er wich ihrem schnell Blick aus.

„Wollen wir morgen in die Stadt gehen um deine bestandenen Prüfungen zu feiern?“, meldete sich Reel plötzlich in seinem Inneren zu Wort und Aiden musste aufpassen, dass er nicht versehentlich laut antwortete.

„Falls ich überhaupt in allen Fächern die erforderlichen Noten habe.“

„Wird schon passen. Ansonsten gehen wir halt in die Stadt um dich abzulenken“, kam es unbekümmert von seinem Dämon und Aiden unterdrückte ein schwaches Schmunzeln. Er musste sowieso bald in die Stadt um einen Friseur aufzusuchen, also passte ihm das sehr gut.

„Von mir aus.“ Reel jubelte stumm in Aidens Innerem und machte es ihm dadurch noch schwerer sein Schmunzeln vor den Anderen im Speisesaal zu verbergen. Schnell aß er seine Portion auf, brachte sein Geschirr weg und machte sich auf den Rückweg.
 

Im Zimmer angekommen löste sich Reel von ihm und stahl sich einen Kuss, bevor er es sich wieder mit einem Buch auf dem Bett gemütlich machte. Aiden schlüpfte aus seiner Jeans und dem T-Shirt, und zog stattdessen sein Schlafshirt an.

Reel folgte diesem Tun mit großem Interesse und ließ seine Augen sündhaft über den jugendlichen Körper vor ihm gleiten. Unbedarft ließ Aiden seine Jeans von seinen Beinen und auf den Boden gleiten, während er sich sein Shirt über den Kopf zog. Die Bewegungen seiner Arme, ließen seine Schulterblätter und das darauf prangende Fluchmal erotisch wandern.

Aidens Wirbelsäule zeichnete sich sanft unter der Haut des untrainierten Rückens ab und Reels scharfe Augen konnten jedes Zucken der vom Training stark beanspruchten Muskeln genaustens wahrnehmen, bevor Aiden wieder in sein Schlafshirt schlüpfen konnte.

Als dieser Reels hungrigen Blick auf sich bemerkte, lief er hochrot an und entlockte Reel damit ein anzügliches Grinsen, welches seine Reißzähne zur Geltung brachte.

„Das machst du doch mit Absicht, oder?“, kam es vielsagend von Reel.

„Eigentlich nicht. Ich wollte nur...“ Doch bevor Aiden seine Antwort zu Ende bringen konnte, zog Reel ihn schon zu sich aufs Bett.

Rücklings lag er nun auf dem Laken, die von ihm so geliebten roten Augen nur wenige Zentimeter über ihm. Aiden konnte einfach nicht widerstehen und zog Reel zu sich hinunter, um ihn zu küssen.

Noch bevor Reels Zunge um Einlass bat, öffnete Aiden leicht die Lippen.

Reel schmeckte einfach so gut und ihr Zungenspiel fühlte sich mittlerweile unglaublich natürlich für ihn an.

Fasziniert betastete Aidens Zunge die gefährlichen Reißzähne, während Reels Hände sich den altbekannten Weg unter das Schlafshirt bahnten. Nach und nach übernahm er wieder die Führung und löste seine Lippen von Aidens, um seine Zunge auf Wanderschaft über dessen Hals zu schicken. Genussvoll liebkoste er jeden roten Knutschfleck und jede liebevoll platzierte Bissspur.

Lustvoll begann er an der karierten Boxershort zu ziehen, als er seine Lippen von Aidens zierlichem Körper löste und in die braunen Augen sah.
 

„Darf ich?“, fragte Reel mit sanfter Stimme und hielt dabei unverwandt Blickkontakt. Aiden zögerte kurz, aber ein einziger Blick in die roten Augen reichte aus, um den letzten Rest seiner Zweifel zu zerstreuen. Selbstbewusst nickte Aiden und schenkte ihm einen langen, leidenschaftlichen Kuss zur Bestätigung.

Schnell entledigte sich Reel seines Oberteils und wandte sich dann wieder Aiden zu, der diese Gelegenheit nutzte um einen Blick auf Reels nackten Oberkörper zu erhaschen.

Zuerst blieben seine Augen an einem kleinen, schwarzen Schlüssel hängen, der um Reels Hals baumelte – der Schlüssel aus Griefs Arbeitszimmer, wie Aiden nun wusste – dann wanderte sein Blick zu der langen Narbe, die sich von Reels Brustmitte bis hoch zu seiner rechten Schulter zog. Aiden hatte ihm die Wunde erst kürzlich zugefügt, doch sie war bereits fast vollständig verheilt und nun fuhr er sie zärtlich mit den Fingern nach.

Sanft griff Reel unter Aidens Kinn und richtete dessen Aufmerksamkeit damit wieder auf seine roten Augen, während er Aiden geschickt sein Schlafshirt über den Kopf zog, woraufhin dieser genüsslich Reels Nacken umschlang und ihn zu sich zog.

Wieder trafen ihre Lippen aufeinander und schnell dominierte Reels Zunge Aidens Mundhöhle. Gierig nahm er sie in Besitz und umspielte herausfordernd Aidens Zunge. Lasziv ließ er sie nun über Aidens Lippen, Wange und Hals hinunter zu seiner Brust wandern, wo Reels Reißzähne immer wieder sanft in die weiche Haut bissen.

Mit genussvollen Küssen wanderten Reels Lippen über Aidens Bauch und noch tiefer hinunter.

Lustvoll verwöhnte Reel seinem Liebsten mit einem zärtlichen Vorspiel.

„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte er noch einmal vorsichtshalber nach und als Aiden mit hochrotem Kopf nickte, schmiegte Reel sich eng an ihn und begann liebevoll an seinem Ohr zu knabbern.

„Versuch dich zu entspannen. Ich verspreche dir, ich bin ganz vorsichtig. Vertrau mir einfach.“ Heiß streifte Reels Atem Aidens Wange, während er ihn so behutsam wie möglich beherrschte.
 

Völlig außer Atem sank Reel auf Aidens Brust, welche sich hektisch hob und senkte. Instinktiv fuhr dessen Hand in Reels schwarze Haare und tätschelte ihm zärtlich den Kopf.

Erst nach einer Weile hievte Reel sich wieder hoch und schenkte Aiden einen sanften Kuss.

„Lass uns duschen gehen.“ Aiden streckte sich auf dem Bett aus und seufzte schwer. Er wollte jetzt nicht aufstehen, aber Reel ließ ihm nicht unbedingt eine Wahl.

Kurzerhand nahm er ihn einfach auf den Arm und trug den erschöpften Aiden ins Bad, wo er ihn kommentarlos in die Dusche stellte.

Das Wasser wirkte unglaublich erfrischend und belebend auf Aiden, auch wenn es mit Reel zusammen in der Duschkabine recht eng war. Frech stahl sich dieser einen Kuss von ihm und zog Aiden eng an sich. Wieder fiel Aidens Blick auf die Narbe, die er Reel zugefügt hatte. Sanft fuhr er sie mit den Fingern nach, bis Reel ihn mit der Hand abfing. Aidens Augen wanderten hoch zu Reels roten und dieser küsste ihn sanft auf die Stirn.

„Ist schon in Ordnung. Ich mach dir deswegen keinen Vorwurf“, versuchte er ihn zu beruhigen.

„Tut mir trotzdem leid“, flüsterte Aiden schuldbewusst und schmiegte sich an seine warme Brust, während das Wasser ihm über Kopf und Körper floss. „Die Narbe wird bleiben, oder?“ Reel seufzte verhalten.

„Ja. So was verschwindet selbst bei mir nicht einfach so und außerdem war es ein dämonischer Dolch. Das ist eine ganz andere Hausnummer als eine gewöhnliche Klinge. Aber das ist schon in Ordnung so. Es war nicht deine Absicht und irgendwo hab ich´s ja auch verdient“, versuchte er Aiden zu beruhigen und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

Sanft lege er die Finger unter sein Kinn und zwang Aiden so, ihm in die Augen zu sehen. „Und so hab ich auch gleich etwas, was mich immer an dich erinnert. Sieh es als Ausgleich für das Fluchmal, das ich dir verpasst habe.“ Damit entlockte er nun auch Aiden ein unterdrücktes Schmunzeln. Wenn er es so betrachtete, gefiel ihm der Gedanke immer mehr, ebenfalls ein Zeichen auf Reels Körper hinterlassen zu haben – zumal das kaum jemand von sich behaupten konnten. Nur sehr wenige Narben zogen sich durch die blasse Haut und keine von ihnen war so groß und auffällig, wie die, welche Aiden ihm zugefügt hatte.
 

Nach einigen Minuten biss Reel ihm sanft ins Ohr, dann machte er das Wasser aus und sie verließen die Dusche.

Aiden wickelte sich in sein Handtuch und wandte Reel anschließend den Rücken zu um auch ihm eins raus zu suchen. Doch der Dämon nutzte die Gelegenheit, zog dreist an Aidens Handtuch und platzierte einen frechen Kuss auf dem Fluchmal auf dessen Schulterblatt.

„Meins!“, flüsterte er ihm verschwörerisch ins Ohr und schlang besitzergreifend seine Arme um ihn. Aiden entfuhr ein verlegenes Lachen und er schmiegte sich seinerseits an seinen Liebsten.
 

Irgendwann schafften sie es dann doch aus dem Bad raus und Reel beobachtete Aiden dabei, wie er frische Kleidung aus seinem Schrank suchte.

Plötzlichen flogen ein blass-rotes T-Shirt mit verwaschenem Assassin's Creed Logo und eine karierte Boxershort auf ihn zu. Geschickt fing er sie im Flug auf und sah Aiden, der sich nun seinerseits anzog, etwas irritiert an.

„Ich kann mir auch einfach selbst Klamotten erschaffen“, erklärte Reel mit einem schiefen Lächeln.

„Na und? So hast du wenigstens mal was anderes als Schwarz an. Nicht, dass dir Schwarz nicht stehen würde, aber deswegen kannst du ja trotzdem mal was anderes ausprobieren.“ Reel entfuhr ein amüsiertes Lachen und er schlüpfte in Aidens Sachen.

Wie dieser feststellte, gab der unkonventionell schöne Dämon mit seinen roten Augen, der blassen Haut, seinen feingliedrigen Fingern und dem eigenwilligen Schatten ein recht gewöhnungsbedürftiges Bild ab, wie er dort in Aidens Nerd-Shirt in dem ordinären Internatszimmer stand.

Kurzentschlossen umfasste Aiden die Taille seines unmenschlich schönen Dämons, kuschelte sich an ihn und flüsterte seinerseits ein leises „Meins!“ an dessen Brust.

Mit einem glücklichen Schmunzeln auf den Lippen drückte Reel ihn an sich und vergrub sein Gesicht in dessen nassen Haaren. Auch sein Schatten legte sich wie der Flügel einer Krähe um die Beiden und hüllte sie in das vertraute Schwarz.

Nachdem sie sich endlich wieder von einander lösen konnten, bezogen sie das Bett frisch und setzten sich darauf. Aiden wollte sich an ihn kuscheln, doch zuckte schnell wieder zurück.

„Deine Haare sind ja klitschnass“, stellte er mit etwas angeekeltem Gesicht fest. Genervt holte er ein Handtuch aus dem Bad und setzte sich hinter Reel, um ihm sanft die Haare trocken zu rubbeln. Dieser schloss dabei die Augen und genoss Aidens Zuneigung.

Als dieser mit dem Ergebnis zufrieden war, schenkte er Reel einen frechen Kuss auf den Nacken und kuschelte sich nun endlich müde in dessen Arme, in denen er kurze Zeit später auch schon einschlief.
 

Aiden wachte zu Reels gleichmäßigem Atem auf und sog dessen vertrauten Geruch tief ein. Nach einigen Minuten spürte er, wie Reels Finger zärtlich über sein Fluchmal fuhren und Aidens Augen suchten die seines Dämons.

„Guten Morgen, Sunshine. Hast du gut geschlafen?“ Bestätigend gab Aiden ihm einen Kuss und schmiegte sich an ihn. Frech ließ Reel seine Hand nun an Aidens Rücken hinunter wandern und entlockte Aiden ein kurzes, schmerzerfülltes Zucken, als er begann sich an dessen Boxershort zu schaffen zu machen. Ein diebisches Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen und er fragte sanft: „Hab ich dir sehr wehgetan?“ Aiden sah prüfend zu seinem Dämon hoch.

„Schon etwas, aber das ist in Ordnung. Ich fand es sehr schön“, verlegen brach er mit nun roten Wangen den Blickkontakt ab.

„Sunshine, dass muss dir doch nicht peinlich sein. Und ich fand es auch sehr schön mit dir, falls du dir darüber Sorgen gemacht haben solltest.“ Ermutigend drückte Reel seinen Liebsten an sich und schenkte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Du bist süß, wenn du rot wirst.“ Mit einem verlegenen Lachen vergrub Aiden sein Gesicht an Reels Brust um seine Röte zu verstecken und ließ sich von ihm den Kopf streicheln.
 

Plötzlich fuhr Aiden erschrocken hoch.

„Verdammt! Wie spät ist es? Heute ist doch die Notenvergabe!“ Panisch sprang er aus dem Bett – seine aufkommenden Schmerzen ignorierend. In nicht einmal 5 Minuten musste er in der Aula sein. Hektisch zog er sich eine Jeans über, schlüpfte in seine Schuhe, wickelte sich fahrig sein Zeckentuch um den Hals und ließ sein Schlafshirt einfach an. Reel wechselte in dieser Zeit wieder in seine übliche Kleidung und ging in Aidens Körper über.

Mit schnellen Schritten eilte dieser durch die leeren Flure des Internats. Der Widerhall seiner Schritte und seines Atems erinnerten ihn an die Nacht, als er mit Reel durch diese Gänge geschlichen war um für ihn Klavier zu spielen, doch er hatte jetzt keine Zeit um daran zu denken.

Als er vor der Doppelflügeltür der Aula stand, atmete er einige Male tief durch, dann drückte er die Klinke runter.
 

„Kaum beginnen die Ferien, ist kein Verlass mehr“, kommentierte der Rektor streng die Gruppe von Schülern, die lustlos vor ihm stand. Aiden war bei weitem nicht der einzige, der offensichtlich grade erst aufgestanden war. Etliche verschlafene Paar Augen sahen aus müden Gesichtern unter ungekämmten Haaren hervor.

Mit vorwurfsvollem Blick begann der Rektor die Namen aller im Internat verbliebenen Schüler in alphabetischer Reihenfolge vorzulesen. Wann immer auf den vorgelesenen Namen keine Reaktion folgte, ließ er nur ein anklagendes „Verschlafen!“ verlauten und machte einen knappen Vermerk.

„Moore, Aiden“, schallte es durch die viel zu große Aula und Aiden schluckte schwer. Reel tat sein bestes um den hektischer werdenden Herzschlag seines Sunshines zu beruhigen und dieser wusste das zu schätzen.

„Grade so nicht verschlafen, wie ich sehe“, stellte der Rektor zynisch fest und übergab dann ohne großes Tamtam das Blatt Papier an Aiden, das diesem solche Nerven gekostet hatte.

Unsicher nahm er sein Zeugnis entgegen und stellte sich wieder an seinen Platz zurück. Mit zitternden Händen drückte er den Wisch an seine Brust um nicht draufsehen zu können. So wartete er angespannt, bis der Rektor allen erlaubte die Aula zu verlassen.
 

Unsicheren Schrittes ging Aiden zu seinem Zimmer zurück. Dort setzte er sich aufs Bett und traute sich noch immer nicht, auf sein Zeugnis zu sehen.

Reel materialisierte sich vor ihm, kniete sich auf den Boden um Aiden in die Augen sehen zu können und nahm dessen Hände aufmunternd in seine.

„Ich trau mich nicht“, flüsterte Aiden leise. „Was, wenn ich es nicht geschafft hab?“

Kurzerhand nahm Reel ihm das Papier ab und begann mit steigender Begeisterung vorzulesen.

„... und in Musik Prüfungsnote 1,1 und Jahresnote 1,2“, schloss Reel. Aiden war wie erstarrt. Er konnte es einfach nicht fassen.

Als sich Aidens Paralyse endlich löste, sprang er sofort auf und fiel seinem Dämon um den Hals. „Wir haben's geschafft. Wir haben's wirklich geschafft!“ Reel ließ das Zeugnis auf das Bett fallen und schloss die Arme um Aiden.

„Ich sagte ja 'Es wird alles gut.'“, bestätigte Reel und versuchte seine Erleichterung zu verbergen, auch wenn ihm vollkommen bewusst war, dass Aiden ihn problemlos durchschaute.

„Danke“, flüsterte dieser und schenkte ihm einen dankbaren Kuss auf die Lippen. Noch einmal drückte Reel seinen kleinen Sunshine fest an sich, dann gab er ihn wieder frei.

Stolz fotografierte Aiden sein Zeugnis und schickte das Foto an seine Mom. Anschließend steckte er es behutsam in eine Klarsichtfolie und heftete es ab.

Mit einem erleichterten Seufzer und ausgebreiteten Armen ließ er sich aufs Bett fallen. Endlich war diese Anspannung von ihm abgefallen und ein glückliches Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

Reel setzte sich neben ihn und begann durch die braunen Haare zu fahren.

„Deine Haare sehen schrecklich aus“, stellte er belustigt fest. Schwungvoll setzte Aiden sich wieder auf und hüpfte euphorisch aus dem Bett.

„Na dann lass uns in die Stadt gehen und endlich was dagegen unternehmen.“ Vom Glück beflügelt eilte Aiden zu seinem Schrank und suchte sich ein T-Shirt raus. Dabei viel sein Blick auf sein Flanellhemd, dass ganz hinten zwischen den Shirts lag und welches er aufgrund seiner Größe nie getragen hatte. Es wurde von dem gleichen Muster wie Aidens Zeckentuch geziert und ihm fiel sofort jemand ein, der darin bestimmt umwerfend aussehen würde.
 

Reel beobachtete die ganze Szene und konnte sein Schmunzeln einfach nicht unterdrücken. Er war einfach nur glücklich, weil Aiden glücklich war.

Dieser hielt ihm plötzlich ein rot-schwarz-kariertes Hemd vor die Nase, welches selbst Reel etwas zu groß sein würde.

„Probier' mal, ob dir das passt“, meinte Aiden mit leicht geröteten Wangen und Reel leistete dem Folge. Er ließ seinen Schatten die Konturen seiner Kleidung verschlingen und als dieser sich wieder zurückzog, waren die langen Ärmel von Reels Oberteil verschwunden und er trug nun ein schwarzes T-Shirt. Mit einer eleganten Bewegung schlüpfte er in das weiche Hemd und richtete den Kragen. Reel knöpfte es nicht zu und sah Aiden fragend an. Dieser legte nonchalant eine Hand an Reels Hüfte, die andere an seine Wange und zog ihn zu sich runter um ihn zu küssen.

„Man, hab ich einen gutaussehenden Dämon“, lobte Aiden mit einem verliebten Lächeln und entlockte damit auch Reel ein verlegenes Lachen.

„Du bist süß“, gab er das Kompliment zurück und schenkte ihm seinerseits einen zärtlichen Kuss.

„Sag mal, warum trägst du eigentlich immer nur Schwarz? Ist das so eine Dämonen-Sache?“ Reel musste leise auflachen.

„Ja, so könnte man es nennen. Meine Kleidung besteht genau wie meine Dolche aus meinem Schatten. Ich kann ihn so manipulieren, dass er sich nach meinem Willen bewegt oder eben eine neue Form annimmt. Daher ist alles, was ich erschaffe zwangsweise schwarz.

Wenn diese manipulierten Schatten-Fragmente zu lange oder zu weit von meinem Körper entfernt sind, nehmen sie wieder ihre ursprüngliche Form an und werden wieder zu einem Teil meines Schattens.“

„Verstehe – glaube ich. Darum werden deine Augen bei deiner Verwandlung auch so dunkel, oder?Aber warum behält dann mein Dolch seine Form?“, frage Aiden ein wenig verwirrt.

„Genau, es legt sich quasi ein Teil meines Schattens über meine rote Iris.“ Reel griff geschickt hinter sich, nahm den schwarzen Dolch vom Nachtschrank und deutete auf den Heft.

„Dass dein Dolch sich nicht auflöst, liegt an dem Stein. Er besteht nicht aus meinem Schatten, sondern aus meinem Blut und bildet damit eine Art autonomen Energiekern, der den Dolch mit genügend dämonischer Macht versorgt um seine Form zu behalten. Ich hoffe du findest das jetzt nicht zu gruselig oder eklig.“

„Nein, absolut nicht. Das erklärt, warum der Stein rot ist, obwohl du ja nur schwarze Dinge erschaffen kannst.“

Reel nickte bestätigend und ließ seine Hände – mitsamt Dolch und Scheide – routiniert unter Aidens Shirt wandern. Sanft zurrten seine flinken Finger die Riemen um Aidens Taille fest und verweilten um einiges länger als es nötig gewesen wäre an seinem Körper. Reels feingliedrige Hände fühlten sich so vertraut auf Aidens empfindsamer Haut an und er genoss das Gefühl der Geborgenheit, das Reels Nähe in ihm auslöste.

Noch einen Schritt weiter (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Später Abschied (Zensiert)

In der Stadt angekommen, führte sie ihr erster Weg zum Friseur. Erst wollte man Aiden dort nur einen Termin geben, aber nachdem sich eine der Friseurinnen seine Haare etwas länger besah, nahm sie ihn aus Mitleid doch noch schnell vor ihrer nächsten Kundin dran.

Reel ließ die Couch links liegen und setzte sich stattdessen auf die breite Fensterbank im Wartebereich – den leicht genervten Blick der Geschäftsführerin ignorierend.

„Wie ist das denn passiert? Identitätsfindung?“, fragte die Friseurin schließlich, während ihr Blick prüfend zwischen Aidens geschundenem Hals, seinen katastrophalen Haaren und dem wartenden Reel hin und her wanderte.

„Nervenzusammenbruch in der Prüfungsphase“, erklärte Aiden knapp und winkte ab.

Als sie den Laden wieder verließen, zupfte Reel ständig an Aidens Haaren herum. Auf dessen leicht genervtes Seufzen hin, meinte er nur: „Die sind zu kurz“, und zupfte weiter an den Strähnen, bis es Aiden reichte und er einfach Reels Hand nahm und ihre Finger miteinander verschränkte.

Ungezwungen schlenderten sie durch die Gänge der Mall und streiften die vielen Schaufenster nur mit flüchtigen Blicken.

Reels Aufmerksamkeit galt hauptsächlich Aiden und seine Sinne waren durch die Verwandlung stark eingeschränkt. So bemerkte er das große 'G' aus grüner Neonschrift zu spät, welches sich aus seiner Halterung löste und nun ungebremst auf ihn und Aiden niederstürzte.

Reflexartig zog er Aiden an der Hand nach vorn, doch Reel war zu langsam und der Leucht-Buchstabe traf Aiden schmerzhaft am Arm, bevor er scheppernd und mit sprühenden Funken auf dem Boden aufschlug.

Aidens Schmerzensschrei ging in den allgemeinen, überraschten Aufrufen unter und Reel drückte ihn schnell an sich, um Aiden zu helfen seinen Schmerz zu verbergen. Energisch zwang sich Aiden zur Ruhe und versuchte gleichmäßig zu atmen, obwohl der Schmerz sich bis hoch zu seiner Schulter zog.

Es ärgerte Reel ungemein, dass er so unaufmerksam war und Aiden dadurch sogar verletzt wurde.

Mit vor Ärger zusammengebissenen Zähnen ließ er seine Augen suchend durch die umstehenden Menschenmenge wandern, von denen einige Glassplitter von ihrer Kleidung klopften, doch es waren einfach zu viele und er konnte niemanden ausmachen, der ihm verdächtig vorkam.

Stattdessen blieb sein Blick an einem jungen Mann hängen, der zwischen den Scherben auf dem Boden hockte und sich ähnlich wie Aiden den Arm hielt. Auch ihn hatte der Leuchtbuchstabe nicht verfehlt sondern wuchtig am Oberarm getroffen.

Nun nahm der mörderische Hexer es also auch in Kauf, Unbeteiligte zu gefährden. Aiden schien zu derselben Schlussfolgerung gekommen zu sein und wandte reumütig den Blick ab. Er sah die Schuld für diesen Zwischenfall ganz eindeutig bei sich und das fraß an seinem Gewissen.

Einige Besucher eilten zu dem Verwundeten, während Reel und Aiden das Durcheinander nutzten um unerkannt zu fliehen und sich schnellen Schrittes in eine Seitengasse nahe der Mall zurückzuziehen.
 

Nach wie vor konnte er es absolut nicht hinnehmen, wenn jemand anderes Hand an seinen Sunshine legte, und dass es nun dennoch jemandem gelungen war, ärgerte Reel zutiefst und nagte unaufhörlich an seinem Stolz.

Behutsam betastete er Aidens schmerzenden Unterarm und vermutete ein tiefgreifendes Hämatom und einen Haarriss in der Elle.

„Das tut mir so leid. Ich hab nicht richtig aufgepasst. Das ist meine Schuld, aber keine Angst. Da muss ich nicht mal was richten. Ich kann dich problemlos heilen“, versuchte er Aiden zu beruhigen und legte sanft seine Hände auf dessen Unterarm. Konzentriert schloss er die mittlerweile wieder roten Augen, ließ seinen Schatten sich um Aidens Verletzung legen und im nächsten Moment spürte er auch schon wie sein Bewusstsein in einen tiefen Schlaf sank.

Kaum war Reel verschwanden, ließen Aidens Schmerzen sofort nach. Allerdings machte sich nun stattdessen das starke Gefühl von Einsamkeit in ihm breit. Er war es einfach nicht mehr gewohnt allein zu sein und hier in der Innenstadt – so kurz nach einem Anschlag – fühlte er sich unglaublich unsicher.

Vorsichtig hob Aiden das rot-schwarz-karierte Flanellhemd vom Boden auf und klopfte gewissenhaft den Straßenstaub davon ab. Nach kurzem Zögern schlüpfte er dann selbst hinein. Das Hemd roch nach Reel und er fühlte sich weniger allein und ausgeliefert wenn er es trug.

Er wollte es auf keinen Fall riskieren erneut von dem Magier, der es auf ihn abgesehen hatte, angegriffen zu werden und im schlimmsten Fall auch noch jemand anderen mit hineinzuziehen. Also huschte er nun mit nervösem Blick und in das zu große Hemd gehüllt zur Bushaltestelle und fuhr zum Internat zurück.

Doch auch in der Vertrautheit seines eigenen Zimmers änderte sich an diesem unangenehmen Gefühl nicht viel. Er wartete den ganzen Abend, aber selbst als Aiden ins Bett ging, schlief Reel noch immer. Angespannt wälzte er sich unter seiner Decke umher und fand einfach keine Ruhe. Kurzentschlossen schwang er seine Beine wieder aus dem Bett und wanderte zu seiner Garderobe, wo er zielsicher das karierte Hemd vom Haken nahm und anschließend ins Bett zurück krabbelte.

Mit einem tiefen Seufzen legte er sich wieder ins Bett, kuschelte sich in das weiche Flanellhemd und sog den vertrauten Geruch seines Dämons genussvoll ein. Einige Male drehte er sich noch im Bett herum, dann schlief er endlich ein.
 

Als Reels Bewusstsein wieder erwachte, war es bereits mitten in der Nacht. Lautlos materialisierte er sich neben dem Bett und betrachtete Aidens schlafendes Gesicht.

Ein glückliches Schmunzeln stahl sich auf die blassen Lippen, als er sein Hemd in Aidens Armen bemerkte und er konnte nicht anders, als diesen Anblick festhalten zu wollen. Zügig holte er sein Zeichenbuch aus dem untersten Schubfach des Schreibtisches hervor und kniete sich vor dem Bett auf den Boden.

Vorsichtig strich er über die letzte Zeichnung von Nathaniël und bedachte sie mit einem bittersüßen Lächeln, dann schlug er eine neue, weiße Seite auf und begann zu zeichnen.

Mit weichen Linien verewigte er Aidens träumendes Gesicht, welches zum Teil in dem rot-schwarzen Stoff des Hemdes verschwand, in das er sich kuschelte. Auch seine Finger suchten Halt in dem Hemd und er hielt es eng mit den Armen umschlungen.

Detailliert bildete Reel den sichtbaren Teil des zarten Halses und des Schlüsselbeins ab, und stellte dabei fest, dass die Heilung auch seine Bisse und Knutschflecken hatte verschwinden lassen. Die würde er zeitnah erneuern müssen – so ein Unglück aber auch.

Aidens Haare zeichnete er mit gemischten Gefühlen. Sie waren viel zu kurz für seinen Geschmack, aber andererseits hatte diese Frisur eine Geschichte und Reel wollte das Bild auch nicht unnötig verfälschen, also zeichnete er genau das, was er sah.

Schließlich war Reel sich sicher, dass das hier nicht das letzte Mal sein würde, dass er die Gelegenheit bekam Aiden auf dem Papier festzuhalten.
 

Die Sonne begann bereits zögerlich über den Horizont zu klettern, als Reel endlich mit dem Ergebnis zufrieden war und das Skizzenbuch zuklappte. Für einen kurzen Moment wanderten seine Augen wieder zu Aiden, dann schlug er die Seite, die er die letzten Stunden so gewissenhaft bearbeitet hatte, wieder auf und legte das Skizzenbuch offen auf den Nachtschrank.

Zuletzt platzierte er noch einen liebevollen Kuss auf Aidens Stirn, dann krabbelte er – bedacht darauf diesen nicht zu wecken – zu Aiden ins Bett, schlang von hinten die Arme um ihn und kuschelte sich genießerisch an.
 

Aiden spürte eine angenehme Wärme an seinem Rücken, das vertraute Gewicht eines Armes, der um seinen Oberkörper geschlungen war, und einen ruhigen Atem, der sanft seinen Nacken streifte.

Einige Minuten blieb er noch so liegen und genoss Reels Nähe, ehe er sich dann doch vorsichtig in dessen Armen umdrehte und den Dämon damit aus seinem Halbschlaf erwachen ließ.

Dieser berührte Aidens Lippen sanft mit seinen und drückte ihn anschließend eng an sich.

„Ist mit deinem Arm alles in Ordnung?“, flüsterte er mit weicher Stimme und fuhr zärtlich durch die braunen Haare.

Aiden brummte bestätigend zur Antwort und schmiegte sich schläfrig an Reels Brust.

Erst eine ganze Weile später setzten die beiden sich im Bett auf, wobei Aidens Blick schnell auf seinen Nachtschrank fiel und ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg.

Es war ihm ein wenig peinlich, dass Reel ihn offensichtlich nicht nur mit dem Hemd in seinen Armen gesehen, sondern ihn sogar so gezeichnet hatte.

„Du zeichnest wirklich gut.“

„Ich hatte ja auch ein hinreißendes Model“, gab Reel das Kompliment zurück und ließ Aiden damit noch weiter erröten.

Vorsichtig nahm dieser das Skizzenbuch vom Nachtschrank und legte es auf seinem Schoß ab, als sich plötzlich eine Erkenntnis in ihm manifestierte.

„Das ist das erste Mal, dass du mich gezeichnet hast“, stellte er mit einem Schmunzeln fest und auch Reel fiel diese Tatsache erst jetzt auf.

„Stimmt“, bestätigte er mit überraschter Stimme und legte seine Arme von hinten um Aidens Taille. Dieser zögerte kurz, nahm dann aber doch den Rand der Seiten zwischen die Finger, sah Reel in die Augen und frage vorsichtig: „Darf ich?“

Reel gab ihm zur Antwort nur einen Kuss auf die Wange, schmiegte sich an ihn und sah über dessen Schulter hinweg auf die Zeichnung hinunter.
 

Behutsam schlug Aiden die erste Seite auf, von der ihm Nathaniëls gebrochene Augen entgegen blickten. Er empfand nun kaum mehr Eifersucht, sondern vielmehr Mitleid für den jungen Mann aus einer anderen Zeit, dessen Abbild ihm vom Papier her ansah.

„Er war wirklich schön“, stellte Aiden fest, während er weiter durch die Seiten blätterte.

„Ja, das war er wirklich“, hauchte Reel eine traurige Antwort. „Aber auf eine ganz andere Art als du.“ Ein Lächeln mit bitterem Nachgeschmack erschien auf Aidens Lippen.

„Du musst das nicht sagen, nur damit ich mich besser fühle. Ich komme damit schon klar.“

„Das ist es nicht. Ich bin einfach nur ehrlich“, gab Reel mit einer solchen Selbstverständlichkeit von sich, dass jeder Zweifel an dieser Aussage im Keim erstickte. Eine Hand löste sich von Aidens Taille und fuhr behutsam über eine der Seiten. „Egal wie sehr ich mich an ihn klammere und wie sehr ich mich dagegen wehre, Nathaniël ist Teil eines früheren Lebens und das muss ich akzeptieren.“ Aiden spürte, wie sich der Griff um seine Taille verstärkte und der Herzschlag, welchen er an seinem Rücken fühlen konnte, schneller wurde.

Entschlossen schluckte er seine aufkeimenden Minderwertigkeitskomplexe runter und schmiegte sich an Reel, während er ihm tröstend durch die Haare fuhr.

„Ich war früher jemand anderes“, fuhr Reel irgendwann mit leiser Stimme fort. „Der Dämon, der ich heute bin, hätte an Nathaniël kein Interesse gefunden und ihn vermutlich recht schnell kaputt gespielt. Sein Körper und sein Geist waren einfach zu zerbrechlich.

Er würde sich auch nicht mehr in die Person verlieben können, die ich heute bin.“ Vorsichtig zog Reel die Hand von der Seite zurück und legte sie wieder an Aidens Taille, der das Buch nun behutsam auf das Bett legte und sich zu seinem Dämon umdrehte. Er wollte ihm in die Augen sehen können und was er sah, tat ihm im Herzen weh – Reel weinte.

Stumm hatten die Tränen zu fließen begonnen und in seinen roten Augen lag der schmerzhafte Ausdruck von Abschied. Tröstend schlang Aiden die Arme um ihn und schmiegte seine Wange an Reels, der seine Finger haltsuchend in Aidens Oberteil vergrub.

Es fiel Reel schwer nach so langer Zeit endlich loszulassen und Aiden akzeptierte das.

„Ich liebe dich so wie du jetzt bist. Mit deinen roten Augen, deinen Reißzähnen, deinem Schatten und deiner Dreistigkeit“, flüsterte er Reel beruhigend ins Ohr, woraufhin dieser Aiden dankbar an sich drückte.
 

Als Reel sich wieder aus Aidens Armen löste, wollte dieser das Zeichenbuch voll schmerzhafter Erinnerungen schließen, doch Reel hielt ihn davon ab. Zielsicher schlug er die Seite auf, auf der er die Zwillinge verewigt hatte und zeigte sie Aiden.

„Das sind Raven und Corvo so wie ich sie in Erinnerung habe. Da müssen sie etwa 24 Jahre alt gewesen sein. Das war das letzte Mal das ich sie gesehen habe.“

„Fragst du dich manchmal, was mit ihnen passiert ist?“

„Niemand hat sich je für Diebe oder Straßenkinder interessiert, also gibt es keine Aufzeichnungen, aber ich bin mir sicher, die beiden haben die Krähendiebe auch ohne meine Hilfe zu einer respektablen Gilde gemacht. Zumindest wünsche ich mir das für sie.

Ich kann mir auch beim besten Willen nicht einen der Beiden ohne den Anderen vorzustellen, also hoffe ich, dass sie zusammen gestorben sind. Für Corvo und Raven stand das zumindest immer außer Frage.

Sie waren sich sicher, dass wer gemeinsam auf die Welt kommt, diese auch gemeinsam verlässt und daran haben sie nie einen Zweifel aufkommen lassen.“ Ein bittersüßes Lächeln zeichnete sich auf Reels Lippen ab und erneut stiegen ihm Tränen in die Augen. Die Zwillinge waren tot. Daran gab es keinen Zweifel und er würde sie nie wiedersehen. Er würde nie wieder mit Corvo über die nächtlichen Dächer rennen oder mit Raven zu wilden Fideln tanzen.

„Ich bereue seit damals, dass ich mich nie von ihnen verabschieden konnte. Raven hat bestimmt alle Hebel in Bewegung gesetzt um rauszukriegen, was im Anwesen passiert ist. Und Corvo ist garantiert kopflos durch die Stadt gerannt und hat jeden angeblafft oder zusammengeschlagen, der es gewagt hat ihn darauf anzusprechen.“ Reels Stimme brach.

Er hatte sich immer dazu gezwungen, jeden Gedanken an die Zwillinge entschieden beiseite zu schieben, weil er sie als Schwäche empfunden hatte, und nun wurde ihm zum ersten mal das volle Ausmaß des Lochs bewusst, welches der Verlust seiner Geschwister in seine Seele gerissen hatte. Reels Körper begann unvermittelt zu zittern und sein Kopf füllte sich mit einer lähmenden Leere.

Aiden wollte sich nicht mal vorstellen, wie schrecklich es für ihn wäre Mellie zu verlieren und Reel hatte nicht nur eine Schwester, sondern gleich seine gesamte Familie mit einmal verloren, also schlang er nur tröstend seine Arme um Reel, der nun völlig von seinen Gefühlen übermannt wurde und in Aidens Schoß zusammenbrach.
 

Aiden wusste nicht wie lange er Reel im Arm gehalten und ihm vorsichtig über den Rücken gestrichen hatte, bis dieser seine Gefühle wieder unter Kontrolle bekam.

„Danke“, flüsterte der Dämon leise und Aiden hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, bevor er seine Stirn gegen Reels lehnte und ihm liebevoll in die Augen sah.

„Du beschützt mich und ich beschütze dich. So funktioniert eine Partnerschaft.“ Ein glückliches Lächeln stahl sich auf ihrer beider Gesichter.

„Ich liebe dich, Sunshine.“ Reels Stimme war unglaublich zärtlich und ließ Aidens Mundwinkel noch weiter nach oben wandern, während er „Ich dich auch“ antwortete und Reel einen weiteren beruhigenden Kuss schenkte.

„Obwohl du weißt, was ich bin und was ich alles getan habe? Du kennst meine Kontrollverluste und meine Vergangenheit. Warum hast du trotzdem keine Angst?“ Aiden strich ihm sanft über die Wange und sah ihm unverwandt in die Augen.

„Blöde Frage. Weil ich dich liebe. Habe ich doch grade gesagt“, kam die Antwort ganz unverblümt. „Außerdem weiß ich, dass du nicht so schlimm bist, wie du tust.“ Zur Untermalung drückte er seine Lippen ein weiteres Mal auf Reels und schenkt ihm ein verliebtes Lächeln, welches nun endgültig die Schatten von Reels Gesicht vertrieb.

„Du bist wirklich seltsam, Sunshine“, kam es von dem Dämon, bevor er den Kuss dankbar erwiderte.

Schließlich meldete sich Aidens Magen lautstark zu Wort und erinnere ihn daran, dass es bereits Mittag war und er heute noch nichts gegessen hatte.

„Ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass du Hunger hast“, witzelte Reel und knuffte Aiden liebevoll in die Seite. Ein letztes Mal berührten sich ihre Lippen noch, dann kletterte Aiden aus dem Bett um sich anzuziehen.
 

Im Speisesaal spürte Aiden ständig einen stechenden Blick auf sich ruhen, aber er konnte beim besten Willen nicht ausmachen woher er kam. Der Saal war vergleichsweise gut gefüllt. Am Tisch des Personals wurde verhalten diskutiert, während von mehren Schüler-Tischen angeregtes Gemurmel zu hören war.

„Stimmt was nicht?“ Reel war Aidens Unruhe nicht verborgen geblieben und dieser erklärte ihm nun per mentaler Verbindung seine Sorge.

Suchend ließ er seine Augen durch den Raum wandern, aber nichts erregte seine Aufmerksamkeit. Mara, Sierra und Sophie saßen an ihrem üblichen Platz und beachteten ihn gar nicht. Gleiches galt für den Lehrer-Tisch und das Küchenpersonal. Niemand bedachte den Internatsschüler, der allein an seinem Platz aß, auch nur mit einem einzigen Blick.

„Vielleicht doch nur Einbildung“, schloss Aiden mit einem leisen Seufzen, als plötzlich doch ein paar strenger Augen ihren Weg zu Aiden fanden. Mit nahezu mechanischer Effizienz erhob sich eine Gestalt von ihrem Stuhl und schritt so zügig auf Aiden zu, dass dieser sich dazu zwingen musste, dem Drang zu fliehen nicht nachzugeben.

„Ich bin keine Postbotin! Die Jugend heutzutage hängt doch eh immer am Handy, also verwende es doch bitte auch.“ Sichtlich genervt drückte die Schul-Sekretärin Aiden erneut einen gefalteten A4-Zettel in die Hand, bevor sie sich wieder abwandte und mit klackenden Absetzen davon-stöckelte.

'Phillip Moore' prangte am unteren Ende der Nachricht und Aiden seufzte schwer. Welche Katastrophe wartete den nun wieder auf ihn?

Ohne großen Appetit leerte Aiden seinen Teller und machte sich dann auf den Weg zurück in sein Zimmer.
 

„Na dann wollen wir mal.“ Die Lippen aufeinander gepresst und Reels Arme um die Taille, entfaltete Aiden die Mail. Erleichterung und Freude machten sich in seinem Inneren breit, nachdem er diese überflogen hatte.

Sein Vater war mit seiner Leistung zufrieden und hatte entschieden ihm die Teilnahme an der Klassenfahrt nun doch zu ermöglichen. Laut der Mail wussten der Rektor und auch Aidens Mom bereits Bescheid. Aiden war also mal wieder der Letzte der erfuhr, dass schon wieder etwas über seinen Kopf hinweg entschieden wurde. Typisch!

Aber Aiden wollte sich die gute Laune nicht verderben lassen.

„Glückwunsch, Sunshine“, gratulierte Reel ihm und drückte ihn eng an sich.

„Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“ Aiden drehte sich in den Armen seines Liebsten um und schmiegte sich seinerseits an diesen. Zärtlich begann Reel an Aidens Ohr zu knabbern und ihn in Richtung Bett zu navigieren. Schließlich gab es da noch ein paar Knutschflecken und Bissspuren die er neu platzieren musste.
 

Lasziv ließ er seine Zunge über Aidens Ohrmuschel gleiten, bevor er sich aufs Bett fallen ließ und Aiden mit sich zog, der die Mail mittlerweile achtlos hatte fallen lassen und sich nun rittlings auf Reels Schoss wiederfand. Langsam wanderten Reels Lippen Aidens Hals hinunter und als dieser die vertrauten Reißzähne an seiner Haut spürte, schob er Reel sanft aber bestimmt ein kleines Stück weit von sich weg.

Überrascht und ein wenig verletzt schauten ihn die roten Augen an.

„Ich will auf der Klassenfahrt nicht die ganze Zeit ein Halstuch tragen müssen.“ Reel wich seinem Blick trotzig aus. Er war beleidigt – das hätte Aiden selbst mit verbunden Augen erkannt.

„Ach komm schon. Ist doch nur für ein paar Tage. Schmoll' nicht.“ Sanft nahm er Reels blasses Gesicht zwischen die Hände und drehte dieses wieder zu sich um ihn zu küssen, als sich plötzlich der Ausdruck diebischer Freude auf dieses stahl, den Aiden mittlerweile recht gut kannte.

„Das beschränkt sich auf den sichtbaren Teil deines Körpers, oder?“ Bevor Aiden reagieren konnte, zog Reel ihm sein T-Shirt über den Kopf und saugte sich an der weichen Haut seiner Brust fest. Munter wanderten Reels Hände über Aidens nackten Oberkörper, während sein Mund dreist weitere rote Flecke und einige zärtliche Bisse auf diesem hinterließ.

Eine Weile ließ Aiden sich das gefallen, dann begann er seinerseits an dem schwarzen Oberteil seines Dämons zu ziehen.

„Gleiches Recht für alle“, witzelte er auf Reels überraschten Blick hin und dieser ließ sich bereitwillig von Aiden ausziehen.

Das Lederband und dessen Anhänger hoben sich dunkel von der blassen Haut ab und Aiden ließ behutsam die Finger darüber gleiten.

„Wofür war der Schlüssel eigentlich?“ Reel sah ihn kurz irritiert an.

„Keine Ahnung. Das hab ich nie raus gefunden. Aber es wird wohl irgendwas wichtiges gewesen sein, sonst hätte Griefs ihn nicht so gut versteckt.“ Kurz schwiegen beide, dann seufzte Aiden tief.

„Jetzt hab ich die Stimmung versaut, oder?“ Ein amüsiertes Lachen erklang aus Reels Kehle.

„Och, nicht unbedingt.“ Lustvoll ließ der Dämon eine Hand über Aidens Rücken wandern und umfasste mit der anderen dessen Hintern, während seine Lippen die seines Sunshines suchen und seine Zunge forsch um Einlass bat.

Frech umspielte sie Aidens Zunge und nahm dessen Mundhöhle in Besitz, was diesem immer wieder ein verhaltenes Stöhnen entlockte. Genussvoll verschränkte er die Arme in Reels Nacken und ließ die rabenschwarzen Haare durch seine Finger gleiten, während er spürte wie seine Hose plötzlich enger zu werden schien.

Aiden genoss Reels warme Brust direkt an seiner und dieser zog ihn gierig näher, wodurch er bei seinem Dämon nun das gleiche spüren konnte, was ihm an sich selbst auch aufgefallen war.

Es fiel Reel sichtlich schwer sich dem Drang zu erwehren, seine Zähne in dem weichen Hals zu vergraben, doch er behielt die Kontrolle über sich – zumindest in gewissem Maße.

Fordernd machte er sich an Aidens Gürtel zu schaffen und dieser leistete ihm keinerlei Widerstand. Kurz darauf landete die Jeans auch schon achtlos auf dem Zimmerboden und Aiden erneut auf Reels Schoß. Neugierig ließ er seine Hände über den sehnigen Oberkörper gleiten und versuchte nun selbst einen Knutschfleck auf der blassen Haut seines Dämons zu hinterlassen – mit wenig Erfolg.

„Tut mir leid, Sunshine. Aber die verheilen bei mir noch bevor sie richtig entstehen“, erklärte Reel amüsiert, als er Aidens enttäuschten Gesichtsausdruck sah. „Aber versuch's ruhig weiter. Ich mag, wie es sich anfühlt.“ Diese Worte und Reels herausfordernder Blick setzten Aidens Verlegenheit die Krone auf und er konnte spüren, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und er zunehmend rot anlief.

Reel ließ unterdes seine Hände lüsternd über Aidens Oberschenkel wandern und zog ihn gierig wieder näher an sich.

Zu seiner großen Freude wurde Aidens Verlegenheit recht schnell von seiner Lust verdrängt.

Eine Weile ließ er Aiden sich an ihm ausprobieren, dann übernahm er sanft aber bestimmend wieder die Führung.
 

Kraftlos sank Aiden schließlich in Reels Armen zusammen und spürte dessen Herzschlag hektisch gegen seine Brust pochen. Eine Weile lang war nur schwergehender Atem zu hören, dann konnte Aiden endlich wieder sprechen.

„Tut mir leid. Das ist nicht ganz so gelaufen, wie geplant“, entschuldigte sich Aiden kleinlaut für seine Unbeholfenheit, doch Reel schenkte ihm nur einen sanften Kuss und strich ihm zärtlich über den Rücken.

„Alles okay. Ist eine Frage der Übung, also mach dir keine Gedanken. Du warst gar nicht schlecht.“ Verlegen schmiegte Aiden sich an die schützende Brust seines Dämons und nestelte an dem schwarzen Schlüssel. Er war warm durch die Nähe zu Reels Körper und das filigrane Stück Schmiedekunst bildete einen faszinierenden Kontrast zu der hellen Haut.

Reels Finger fuhren zärtlich durch die braunen Haare und kraulten dabei liebevoll Aidens Kopfhaut. Er konnte spüren, wie dessen Herzschlag sich langsam beruhigte und Aiden sich genussvoll an ihn schmiegte.

„Du riechst gut“, flüsterte dieser leise und sein Atem streifte dabei sanft Reels Brust.

Nur kurze Zeit später richtete er sich dann aber doch auf, um in die geliebten roten Augen sehen zu können.

„Lass uns duschen gehen“, schlug Aiden vor und hauchte Reel einen Kuss auf die Lippen, doch der zog ihn entschieden wieder zu sich.

„Nein! Ich will noch mit dir kuscheln.“ Kurz war Aiden etwas perplex, aber eigentlich wunderte ihn an dieser Situation nur, dass ihn Reels eigensinniges Verhalten überhaupt noch überraschte. Mit einem resignierten Seufzer und einem unterdrückten Schmunzeln gab er sich geschlagen und kuschelte sich wieder an Reels warmen Körper.

Er genoss das Gefühl von Reels Fingern und dessen lebendigem Schatten, die zärtlich über seinen Körper strichen und ihm immer wieder angenehme Schauer über den Rücken laufen ließen. Nie hätte er gedacht, dass aus seinem Fluch ein solcher Segen werden würde, aber nun lag er hier in Reels Armen und war einfach nur glücklich.

Später Abschied (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Abflug

„Er passt nicht rein.“

„Natürlich passt der. Lass mich einfach machen.“

„Nein, er geht nicht rein.“ Aiden ließ sich erschöpft auf den Boden seines Zimmers sinken, während Reel weiter versuchte den roten Pullover in den völlig überfüllten Koffer zu quetschen, bis das Geräusch eines sich schließenden Reißverschlusses von Reels Erfolg kündete.

„Bitte sag mir, dass das alles war.“ Aiden überlegte kurz und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, bis dieser an einem rot-schwarz-karierten Hemd hängen blieb.

„Fast alles.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst.“ Reel seufzte tief und streckte sich rücklings auf dem Boden aus. Resigniert hievte Aiden sich hoch, sammelte Reels Hemd auf und verstaute es in seinem Rucksack.

„So! Problem gelöst.“ Reel war mittlerweile auch wieder vom Boden aufgestanden und schlang nun von hinten seine Arme um Aiden. Zärtlich begann er in üblicher Manier am Ohr seines Liebsten zu knabbern und seine Hände unter dessen Shirt wandern zu lassen.

„Schon wieder?“, kam es belustigt von Aiden.

„Hey. Ich kann dich immerhin die ganze nächste Woche nicht haben. Während dieser verfluchten Klassenfahrt werden wir beide schließlich so gut wie nie allein miteinander sein.“ Reel war nicht besonders begeistert von diesem Umstand, aber er akzeptierte ihn – wenn auch nur extrem widerwillig.

Lüstern glitt seine Zunge über Aidens Ohrmuschel und seine Hände hinunter in die dunkelblaue Jeans.

„Oder hast du etwa keine Lust, Sunshine?“ Mit einem frechen Grinsen drehte der Angesprochene sich um und schmiegte sich seinerseits mit einem anzüglichen Schmunzeln eng an Reel.

„Was für 'ne blöde Frage.“
 

Am nächsten Morgen schleppte Aiden hastig seinen Koffer die breite Marmortreppe hinunter in die große Eingangshalle, aus welcher die Stimmen dutzender aufgeregter Schüler drangen. Wie üblich war Aiden mal wieder spät dran.

Reel hatte es ihm möglichst schwer gemacht sein Zimmer pünktlich zu verlassen und Aiden konnte ihm nicht mal böse deshalb sein. Schließlich gefiel ihm der Gedanke, Reel die ganze Woche in seinem Körper einsperren zu müssen und ihn nicht berühren zu können, genauso wenig wie seinem Dämon.

„Morgen, Langschläfer. Auch schon wach?“, begrüßte ihn Lukas mit einem sarkastischen Grinsen.

„Ach, sei doch still“, kam die amüsierte Antwort von Aiden, während er seinen Koffer zu den anderen stellte und grade noch rechtzeitig vor der Einweisung durch die Lehrer neben Lukas Stellung bezog.

Die diesjährige Klassenfahrt ging nach Hokkaido. Offiziell war das Ziel dieser Reise, den Schülern die Kultur einer mächtigen aber fernen Wirtschaftsmacht näher zu bringen, die Gruppendynamik zu verbessern und die Selbstständigkeit der Schüler zu fördern. Inoffiziell wusste allerdings jeder, dass die Klassenlehrerin von Aidens Klasse schlichtweg Hobby-Sinologin war und dieses Interesse nicht selten auf ihre Schüler abfärbte, weshalb auch alle bereitwillig den fast eintägigen Flug ans andere Ende der Welt auf sich nahmen.
 

Nur kurze Zeit nachdem die Lichter für die Nachtruhe im Flieger gedimmt wurden, konnte Aiden bereits ein leises Schnarchen neben sich hören. Lukas war mit seinen Kopfhörern auf den Ohren eingeschlafen, aber Aiden fand keine Ruhe. Seit sie vom Boden abgehoben waren, hatte Aiden mit starker Flugangst zu kämpfen – und zwar nicht mit seiner eigenen.

„Was ist denn los mit dir? Normalerweise hast du doch auch kein Problem mit Höhe“, fragte Aiden seinen Dämon stumm über ihre Verbindung.

„Das ist es nicht. Hier drinnen hab ich keine Kontrolle über die Höhe oder den Flug und im Falle eines Absturzes, habe ich hier drin nicht wirklich einen all zu großen Handlungsspielraum.“

„Ein Flugzeugabsturz kann dich doch nicht töten, oder?“

„Mich nicht. Aber dich. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in dem Fall beschützen könnte, Sunshine.“ Reels Unruhe wuchs weiter und steckte so langsam auch Aiden an.

„Man Reel. Du machst mich ja ganz kirre. Statistisch gesehen ist das Flugzeug doch das sicherste Verkehrsmittel. Es wird schon nichts passieren.“

„Hast ja recht. Deshalb fühle ich mich hier drin trotzdem nicht wohl.“ Aiden versuchte seinen nervösen Dämon über ihre Verbindung zu beruhigen, was sich als weitaus schwieriger herausstellte, als er angenommen hatte. Wenn Reel das für ihn tat, schien es ihm immer sehr leicht zu fallen, aber Aiden hatte eher das Gefühl, dass Reels Unbehagen auf ihn abfärbte, als dass er es mindern konnte.

Und das blieb den gesamten Flug über so. Lediglich die zwei Umstiege erlaubten es den beiden Reels Unruhe nieder zu kämpfen.
 

So war Aiden völlig übermüdet, als das Flugzeug endlich auf Hokkaido landete und die gesamte Klassenstufe in einen Bus umstieg um weitere 2 Stunden bis zu ihrem Ziel – einem Onzen – zu fahren. Sie passierten eine mittelgroße Stadt, die sie im Laufe der Woche noch besuchen würden, und fuhren dann für weitere 15 Minuten in Serpentinen einen Berg hinauf. Die Bäume, die in dichter Anordnung die Straße säumten, warfen dunkle Schatten und sperrten die glühende Abendsonne aus.

Im Bus war es vergleichsweise leise. Die meisten Schüler hatten so wie Aiden auf dem Flug nur wenig oder gar nicht geschlafen – wenn auch aus anderen Gründen. Dank des Zeitzonenwechsels war es bereits früher Abend des zweiten Tages, als der Bus endlich vor einem großen, traditionell gestalteten Gebäude zum Stillstand kam und seine Insassen an die lange benötigte frische Luft entließ.

Aiden streckte sich, seine Knochen knackten laut und sein gesamter Körper schmerzte. Reel war die Tage vor der Abreise nicht unbedingt zimperlich mit ihm gewesen und das stundenlange Sitzen auf eingeengtem Raum kombiniert mit der Schlaflosigkeit hatte ihm den Rest gegeben.

Nur halbherzig lauschte er der Einweisung seiner Lehrerin und war entsprechend verwirrt, als sich plötzlich alle in Bewegung setzten.

„Hier lang.“ Lukas zog seinen besten Freund in die richtige Richtung und Aiden folgte ihm. Wie sich herausstellte, bezogen nun wohl alle die Zimmer, die sich zum allgemeinen Missfallen als traditionell eingerichtete 10-Personen-Zimmer entpuppten.

Die Nobel-Schüler waren solche Wohnverhältnisse nicht gewohnt und die meisten waren wenig begeistert davon, auch wenn es nur für einige Tage war. Aiden nahm es mit einem resignierten Augenverdrehen hin und ignorierte das verwöhnte Maulen seiner Mitschüler. Stillschweigend wählte er die Tatami-Matte in einer der Zimmerecken für sich aus und legte seinen Rucksack darauf ab.

„Wow. Noch weniger Privatsphäre als ich erwartet hatte“, konnte Aiden Reels genervte Stimme in seinem Inneren hören, was ihm ein leichtes Schmunzeln entlockte.

Nur kurze Zeit später setzen sich erneut alle in Bewegung und ließen Aiden ahnungslos stehen.

„Wir sollten nur schnell die Koffer auf die Zimmer bringen und dann zum Abendessen in den Speisesaal gehen. Hast du vorhin überhaupt zugehört?“ Lukas war sichtlich amüsiert und Aiden hatte nur ein ertapptes Grinsen für ihn übrig.
 

„Ab 20 Uhr sind alle Schüler im Gebäude und ab 22 Uhr haben sich alle auf ihren Zimmern zu befinden. Das Verlassen des Geländes ist nur in Gruppen von mindestens zwei Personen gestattet. Der Schrein nebenan ist mit Respekt zu behandeln und den Anweisungen der Schreindiener ist folge zu leisten“, erklärte die Klassenlehrerin mit ernster Miene und strengem Blick. Neben ihr stand eine junge Japanerin in der traditionellen Kleidung der Mikos und meldete sich nun in erstaunlich gutem Deutsch ebenfalls zu Wort.

„Mein Name ist Yukiko. Ich bin eine der Schreindienerinnen und stehe euch für alle Fragen zur Verfügung. Ich bitte euch die Besucher des Schreins nicht zu stören und euch auf dem Gelände angemessen zu verhalten. Außerdem muss ich darauf hinweisen, dass es strengstens verboten ist, den See hinter dem Schrein zu betreten, Steine oder ähnliches hinein zu werfen oder Wasser daraus zu entwenden. Ansonsten wünsche ich euch viel Spaß und eine schöne Woche.“ Mit diesen Worten verbeugte sich die junge Miko höflich und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Schrein.

„Ein heiliger See. Aha“, witzelte Lukas, doch Aiden stieß ihm grob den Ellenbogen in die Rippen.

„Und wenn schon. Lass sie doch. Andere Länder, andere Sitten.“

„Andere Frauen, andere ...“ Ein weiter Stoß in die Rippen brachte Lukas endlich zum Schweigen. Auch wenn Aiden dabei ein Schmunzeln unterdrücken musste.

Beim Essen ließ er seine müden Augen durch den Raum wandern. Viele seiner Mitschüler hatten zu seiner – und vor allem zu Reels – Belustigung so ihre lieben Probleme mit den Essstäbchen. Ein Mädchen mit nur all zu vertrautem blonden Haarschopf gab schließlich auf und ließ die Stäbchen verärgert auf den Tisch fallen. Aiden wich den erschöpfen Augen aus, die zwischen den blonden Strähnen hervorlugten, bevor diese seine eigenen treffen konnten.

„Was ist eigentlich zwischen euch beiden passiert? Mara scheint ja unglaublich sauer auf dich zu sein.“ Lukas sah zwischen Aiden und dem Mädchen hin und her, doch Aiden winkte nur ab.

„Frag nicht. Sie hat jedes Recht sauer auf mich zu sein, aber ich hab mich entschuldigt und versucht das mit ihr zu klären. Sie hatte allerdings kein Interesse daran, also kann ich es nicht ändern.“ Aiden seufzte und wandte sich leicht genervt wieder seinem Essen zu.

Schon wieder verschwieg Aiden ihm etwas. Lukas machte sich zunehmend Sorgen um seinen besten Freund. In den letzten paar Monaten hatte er sich verändert – dieses Tattoo, seine Verschwiegenheit, sein distanziertes Verhalten ihm gegenüber, die ganzen Unfälle, die Prügelei mit Markus, diese Sache mit Mara und seine ständigen Alleingänge. Normalerweise mischte Lukas sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein, aber so langsam machte er sich ernsthafte Sorgen.
 

An diesem Abend gingen alle frühzeitig schlafen. Der Jetlag und die lange Reise forderten ihren Tribut und so war bereits um kurz nach 8 nur noch ruhiges Atmen und leises Schnarchen aus den Zimmern zu hören. Dennoch wachte Aiden nur knapp 4 Stunden später wieder auf und konnte anschließend beim besten Willen nicht mehr einschlafen. Reel war seit knapp 40 Stunden in seinem Inneren eingesperrt und dessen Unruhe übertrug sich erneut auf Aiden.

So leise wie möglich schlich er sich aus dem Zimmer und lief barfuß über den Holzboden der Veranda zum hinteren Teil des Onzens. Hier war es um diese Zeit menschenleer und man hatte eine schöne Aussicht auf den 'verbotenen' See, in dem sich der Mond glitzernd spiegelte.

„Freiheit! Endlich!“

„Schh. Nicht so laut“, rief Aiden seinen Dämon zur Ordnung, der seinen Körper ausstreckte und sich ein paar Mal tänzelnd um die eigenen Achse drehte. Die frische Luft berauschte ihn und ließ ihn unvorsichtig werden.

Elegant schwang er sich auf das Geländer der Veranda und zog Aiden am Kragen zu sich.

„Du trägst mein Hemd“, merkte Reel begeistert an und drückte seine Lippen fordernd auf Aidens. Er vermisste seinen Geschmack so sehr – seinen Geruch, seine Wärme.

Gierig verlangte seine Zunge Einlass und Aiden gab diesem Verlangen bereitwillig nach. Reel saß so auf dem Geländer, dass er Aiden, der auf dem Boden stand, problemlos zwischen seine Beine ziehen konnte. Eng drückten sich Reels Oberschenkel an Aidens Hüften, während er seine Hände unter das zu große Schlafshirt und über Aidens verführerisch weiche Haut wandern ließ.

Dieser schmiegte sich seinerseits näher an seinen hübschen Dämon und vertiefte willig ihre Küsse.

Es fühlte sich so gut an, ihn endlich wieder berühren zu können. Es war nur knapp zwei Tage her, aber es fühlte sich an wie zwei Ewigkeiten.

Liebevoll schlang Reel seine Arme um ihn und ging seiner Lieblingbeschäftigung nach – Aiden am Ohr knabbern. Und dieser genoss es in vollen Zügen.

„Tut mir leid, dass ich dich diese Woche so vernachlässige“, flüsterte Aiden leise, während er Reel zärtlich den Nacken kraulte.

„Sollte es auch. Mir gefällt das gar nicht.“ Reel klang kindlich beleidigt, aber er war nicht wirklich sauer. Er wusste wie sehr Aiden sich auf diese Reise gefreut hatte, aber seinen Sunshine so lange nicht für sich zu haben missfiel ihm ungemein.

„Ich sollte dich nie wieder loslassen. Immerhin gehörst du mir.“ Zärtlich strichen die feingliedrigen Finger über Aidens Schulter und liebkosten das dunkle Fluchmal darauf, während sein Schatten schützend den zierlichen Körper umschlang.
 

Plötzlich fuhr Reel zusammen. Er hörte Schritte über den Holzboden schleichen. Ein kurzer Blick in die braunen Augen, dann löste Reel sich widerwillig auf.

„Aiden? Was treibst du denn hier draußen? Es ist mitten in der Nacht.“

„Lukas. Ich … ähm … Ich brauchte einfach frische Luft.“ Aiden log und Lukas sah ihm das sofort an. Mit einem tiefen Seufzen stützte er sich mit den Armen auf dem Geländer ab, auf dem bis eben noch Reel gesessen hatte, und sah hinaus in den Nachthimmel.

„Was ist in letzter Zeit los mit dir? Und bitte lüg mich nicht an. Ich mach mir echt Sorgen um dich. Dein Tattoo? Die Prügelei? Die Sache mit Mara? Ständig weichst du mir aus, wenn ich nachfrage und du verbringst unglaublich viel Zeit alleine in deinem Zimmer oder sonst wo.“ Lukas klang ehrlich besorgt und Aiden kannte diesen Ausdruck bei seinem besten Freund nicht.

„Lukas... Ich... Mir geht’s gut. Wirklich. Ich hatte etwas Ärger in letzter Zeit, aber das meiste davon, hab ich wieder in den Griff bekommen – hoffe ich.“ Aiden wollte Lukas nicht anlügen, aber zum Einen würde Reel es ihm garantiert sehr übel nehmen, wenn er Lukas einfach so von seinem Dämon erzählte, und zum Anderen war ihm Maras Reaktion noch lebhaft in Erinnerung.

„Verdammt Aiden! Du hast doch sonst nie so viele Geheimnisse vor mit gehabt. Zumindest hatte ich das immer angenommen. Was ist jetzt auf einmal anders? Vertraust du mir nicht mehr? Ich merke dir an, dass was nicht stimmt. Wenn du schon nicht mit mir reden willst, dann sprich wenigstens mit irgendwem anders darüber.“ Lukas sah ihn aus verletzten Augen an und Aiden brachte es einfach nicht fertig ihn schon wieder anzulügen.

„Ich habe jemanden zum Reden. Mach dir keine Gedanken. Es ist nur... Ich glaube einfach nicht, dass du meine momentanen Sorgen verstehen könntest und ich will dich da nicht mit reinziehen. Mara hasst mich seitdem, aber ich hab mittlerweile einen Weg gefunden damit klarzukommen. Ich bin nicht mehr alleine.“ Bei dem letzten Satz konnte Lukas beobachten, wie ein verschwörerisches Lächeln über Aidens Lippen huschte und seine Augen zum Sternenhimmel abglitten. Ihm selbst versetzten die Worte seines besten Freundes tiefe Stiche. Aiden sprach also mit jemand Außenstehendem und auch mit Mara hatte er gesprochen, aber ihm – seinem besten Freund – vertraute er sich nicht an.

„Wo verdammt bist du da reingeraten? Ist das der Grund, für deine ständigen 'Unfälle'? Hast du dich mit der Mafia angelegt oder was? Ehrlich Aiden. Machst du irgendwas Illegales? So was sieht dir absolut nicht ähnlich.“

„Nein, nichts Illegales. Ehrlich. Vertau' mir. Du kennst mich doch.“

„Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Aidens Augen wanderten wieder zu Lukas.

„Irgendwann erzähle ich es dir. Versprochen. Aber momentan will ich dich da einfach nicht unnötig mit reinziehen.“ Lukas sah ihn forschend an, konnte allerdings kein Anzeichen einer Lüge ausmachen, und entschied daher Aidens Worten Glauben zu schenken.

„Na gut. Aber versprich mir, dass du auf dich aufpasst.“

„Ich hab jemanden der mich beschützt. Mach dir keine Sorgen.“ Wieder dieses wissende Lächeln, welches Lukas dieses mal einen Schauer über den Rücken jagte. Es passte ihm absolut nicht, dass Aiden sich so vehement weigerte mit ihm zu sprechen und seine Sorgen hatten sich durch dieses Gespräch auch nicht wirklich zerstreut.

„Wir sollten wieder ins Zimmer gehen.“ Lukas setzte sich bereits mit einem resignierten Seufzen in Bewegung, aber Aiden rührte sich nicht.

„Geh ruhig schon vor. Ich komme gleich nach.“ Lukas beäugte ihn skeptisch, setzte seinen Weg dann jedoch mit aufeinander gepressten Lippen fort.
 

Sofort nachdem Lukas' Schritte verklungen waren, materialisierte sich Reel wieder auf dem Geländer. Die Arme um Aidens Körper geschlungen begann er verschwörerisch in dessen Ohr zu flüstern.

„Du willst ihm also irgendwann alles sagen?“

„Er ist mein bester Freund – streng genommen sogar mein einziger Freund. Ich will ihn nicht verlieren.“ Reels Griff verstärkte sich und seine Zunge wanderte besitzergreifend über Aidens Hals.

„Reel, wir hatten darüber gesprochen. Nicht während der Klassenfahrt. Bitte.“

„Aber du gehörst mir. Und ich will, dass man das sieht.“ Reel ließ wieder sein kindliches Schmollen durchklingen, wohl wissend, dass es Aiden ein resigniertes Schmunzeln entlocken würde.

„Du bist unmöglich, Reel.“

„Was erwartest du von mir? Ich bin dein Dämon.“ Mit einem frechen Grinsen stahl sich Reel einige Küsse, die Aiden hingebungsvoll erwiderte.

„Sunshine, ich will trotzdem, dass du vorher mit mir darüber sprichst und wir zusammen entscheiden, ob wir jemandem verraten was ich bin. Das ist immerhin keine Kleinigkeit.“

„Versprochen.“ Aiden nahm das hübsche Gesicht seines Dämons zwischen die Hände und sah tief in die von ihm so geliebten, nicht-menschlichen Augen. „Weißt du, ich will dich wirklich nicht für immer verheimlichen müssen. Aber ich glaube Lukas wäre momentan schon allein mit der Tatsache überfordert, dass ich einen Freund habe und keine Freundin.“ Aiden blickte besorgt drein, doch in Reels roten Augen leuchtete Freude auf.

„Ich bin jetzt also ganz offiziell dein Freund?“, fragte Reel verschmitzt und entlockte Aiden ein kurzes, glucksendes Lachen.

„Ich dachte, das wäre klar. Spätestens seit wir einander unsere Liebe gestanden und miteinander geschlafen haben.“ Nun musste auch Reel lachen.

„Naja, ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen.“ Sanft strich er durch die braunen Haare und schenkte Aiden einen weiteren liebevollen Kuss. Ein paar Minuten blieben sie noch so – dicht beieinander und den Sternenhimmel betrachtend – bis Aiden entschied, dass es höchste Zeit war ins Zimmer zurück zu gehen.

„Ich will dich aber noch nicht loslassen“, maulte Reel, doch Aiden ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Lukas wird sich sonst nur Sorgen machen und mich suchen kommen.“ Reel seufzte tief und gab seinen Liebsten widerwillig frei.

„Sunshine? Krieg ich noch einen Kuss?“ Bereitwillig lehnte Aiden sich vor und schenkte seinem Dämon einen langen Kuss, bis dieser de-materialisierte.

Anschließend schlich er zurück ins Zimmer und tatsächlich war Lukas grade dabei wieder von seiner Matte aufzustehen und sich auf die Suche nach Aiden zu machen. Er schenkt diesem einen prüfenden Blick, bevor er sich wieder hinlegte.

Aiden krabbelte seinerseits wieder unter die Bettdecke und kuschelte sich in das karierte Flanellhemd. Kaum schloss er seine Augen, sank er wieder in einen tiefen Schlaf.

Stille Wasser

Am nächsten Morgen fand sich Aiden neben Lukas in einem Bussitz wieder. Er war müde und hatte wenig Lust auf den heutigen Ausflug. Lieber hätte er die Stadt oder den Tempel erkundet, anstatt den Vize-Chef einer erfolgreichen IT-Firma zu treffen, der irgendwie über tausend Ecken mit einem der Lehrer seines Internats verwand war.

Anfangs hatten Lukas' und sein Nerd-Herz bei der Aussicht auf diese Exkursion höher geschlagen, doch dann hatte man ihnen eröffnet, dass sie von den Platinen, die dort produziert wurden, nicht wirklich etwas zu sehen bekommen würden. Die Klasse würde sich bei ihrem Rundgang hauptsächlich mit der Geschäftsführung, der Personalabteilung und dem Marketing auseinandersetzten. War ja klar. Es war eben immer noch ein Wirtschaftsinternat. Was hatte Aiden erwartet?

Erfolglos versuchte er sich für die langweiligen Ausführungen und Fragerunden zu begeistern, bis sie gegen 15 Uhr endlich in die Stadt entlassen wurden.
 

Kaum hatte ihre Lehrerin die Einweisung beendet, stoben die Schüler in kleinen Gruppen von mindestens zwei Leuten auseinander. Sie hatten circa 4 Stunden zur freien Verfügung und niemand wollte auch nur eine einzige Minute davon verschwenden.

Lukas war prinzipiell ein Chaot, aber für diese Reise hatte er einen erstaunlich detaillierten Plan aufgestellt und so ließ Aiden sich von ihm zielsicher durch die Straßen ziehen.

Auf den Besuch in einigen Otaku-Läden, folgte eine Pause an einem Streetfood-Stand, an dem Lukas eine Runde Takoyaki ausgab, woraufhin sie den Rest ihrer Freizeit in einer Arcade verbrachten.

Am Abend fand sich die gesamte Klassenstufe dann wieder in ihrer Unterkunft und zum Abendessen ein.

Aiden rutschte bei letzterem dauerhaft nervös auf seinem Stuhl umher und Lukas versuchte mehrfach aus ihm herauszubekommen, was mit ihm nicht stimmte, doch Aiden wich ihm jedes mal aus.

Im Bad beeilte er sich, um noch vor Lukas fertig zu werden, damit dieser keine Fragen stellte. Anschließend flüchtete er sofort wieder in den Hinteren Teil des Onsens.

Als sie allein waren, löste Reel sich von seinem Körper und nahm sicherheitshalber seine menschliche Gestalt an.

„Tut mir leid, Reel“, entschuldigte sich Aiden, doch Reel schnappte sich einfach seine Hand und zog Aiden mit sich. Ungezwungen wanderten sie am Ufer des Sees entlang und genossen ihre Zweisamkeit. Er wollte Aiden den Urlaub keinesfalls madig machen, aber es fiel Reel unglaublich schwer sich so lange ruhig im Körper seines Sunshines zu verbergen und ihn nicht für sich allein zu haben.

Daher musste Aiden seinen Dämon schon fast dazu zwingen nach einer knappen halben Stunde endlich zum Gebäude zurück zu gehen, wo Reel ihn allerdings dreist festhielt und sich noch einige Küsse stahl.
 

Plötzlich bemerkte Reel Schritte, die sich eilig nährten. Er befürchtete schon, dass Lukas erneut seine Zweisamkeit mit Aiden stören würde, doch der Klang der Schritte schallte von einer anderen Richtung her.

Schnell schnappte er sich Aiden und beide verbargen sich im Schatten am Rand der Veranda. Von dort aus konnten sie beobachten, wie eine Gestalt über den Rasen zum See eilte. Die Person trug dunkle Kleidung und hatte sich die Kapuze ihres Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen. Am Ufer des Sees kniete die Gestalt nieder und wandte den beiden stummen Beobachtern den Rücken zu, sodass diese nicht sehen konnte, was die unbekannte Person dort trieb.

Nach einigen Minuten erhob sich die Figur wieder, schaute sich verstohlen um und eilte dann wieder zur Seite des Onsens. Reel glaubte dabei eine helle – vielleicht sogar blonde – Haarsträhne unter der Kapuze hervorlugen zu sehen.

Nachdem die Gestalt verschwunden war, schlichen auch Aiden und Reel zum See, welcher unheilvoll in der Dunkelheit der Nacht glitzerte.

„Vielleicht hat sich jemand zum Rauchen rausgeschlichen“, vermutete Aiden, doch Reel hatte plötzlich ein ungutes Gefühl in der Nähe des Gewässers. Prüfend fuhr er die Ufersteine mit den Fingern entlang ohne dabei die dunkle Grenze zu überschreiten, welche das Seewasser auf die Steine zeichnete.

„Halt dich bitte von dem See fern, okay? Irgendwas hier macht mich nervös und ich bin nicht besonders scharf darauf, herauszufinden woran das liegt.“ Reel wirke besorgt und diese Sorge übertrug sich sofort auf Aiden. „Sei einfach vorsichtig. Okay, Sunshine?“ Schützend schlang Reel seine Arme um ihn und schenkte Aiden einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, bevor er ihn an die Hand nahm und sanft mit sich zurück zur Veranda zog.

Kurze Zeit später musste Aiden seinen eigenwilligen Dämon dazu zwingen sich wieder in seinen Körper zurückzuziehen, da er fürchtete Lukas könnte von seiner Neugier – oder seiner Sorge – überwältigt werden und ihn suchen kommen.
 

„Stellt euch bitte alle vor dem Gebäude auf“, wies die Lehrerin ihre Schüler am nächsten Morgen an, die ihrer Aufforderung lärmend folge leisteten.

„Hm... Nein. Die Sonne blendet“, stellte sie unglücklich fest.

„Wie wäre es vor dem See?“, schlug Mara freudig vor und ihre Idee fand regen Anklang. Schnell positionierten sich alle Schüler vor dem ruhigen Gewässer. So auch Aiden, als dieser plötzlich einen groben Stoß in die Rippen spürte.

Er stolperte einen Schritt nach hinten, wobei er mit dem Fuß an einem Stein oder dem Bein eines Mitschülers hängen blieb und ungebremst nach hinten stützte. Aiden hielt die Luft an, schloss die Augen und im nächsten Moment spürte er, wie das kühle Wasser des Sees über ihm zusammenschlug.

Instinktiv wollte er zurück an die Oberfläche schwimmen, als er plötzlich spürte, wie eine kalte Hand oder Klaue seinen Knöchel packte und ihn gewaltsam in die Tiefe zog. Aiden geriet in Panik. Verzweifelt versuchte er sich aus dem unnachgiebigen Griff zu befreien, doch der Bewohner des Sees riss ihn unaufhaltsam in die Tiefe.

Reflexartig griff Aiden unter sein Shirt und zog seinen Dolch hervor, den er nun verbissen über die Klaue seines Angreifers führte, doch dieser ließ nicht von ihm ab. Stattdessen bemächtigte sich nun eine zweite Klaue seines Unterschenkels und riss ihn noch aggressiver mit sich. Aiden drohte so langsam die Luft auszugehen, seine Lunge brannte und er fürchtete jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren.

Endlich waren sie tief genug um ungesehen zu bleiben, also löste sich nun der rettende, schwarze Nebel von Aidens Körper und bildete sich zu der Gestalt seines Dämons, der brutal Aidens Angreifer attackierte. Dunkles Blut zog sich in Schwaden durch das Wasser und die Griffe um Aidens Bein lösten sich endlich.

Aiden spürte noch die vertraute Berührung von Reels Hand, die sich schnell an seinen Knöchel legte, um sich wieder zu dematerialisieren, dann verbarg er hektisch seinen Dolch wieder unter seinem Shirt und ruderte anschließend mit den Armen um endlich wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Dort angekommen schnappte er hustend nach Luft und kletterte unsicheren Schrittes aus dem Wasser. Klitschnass, mit verstörtem Blick und unter dem schallenden Gelächter seiner Mitschüler stand er am Ufer.
 

Verzweifelt versuchte er zu erklären, dass er gepackt und in die Tiefe gezogen wurde, doch erntete er darauf nur abschätzige Blicke und verhöhnendes Gelächter. Niemand glaubte ihm.

„Ein Seemonster... Na klar... Also langsam wird’s echt peinlich.“

„Jetzt geht sein Theater wieder los.“

„Na, das war doch Absicht.“

„Was für ein Freak. War Aiden schon immer so?“ Die Sprüche nahmen kein Ende und entfachten erneut das Feuer im Herd der Gerüchteküche.

„Und woher kommen dann die hier?“, fragte Aiden um seine Aussagen zu untermalen und deutete auf die blutigen Kratzer, die die Klauen in seinem Bein hinterlassen hatten.

„Ach, du hast dich bestimmt nur an ein paar spitzen Steinen aufgeschrammt“, tat seine Klassenlehrerin Aidens Einwand ab. Sie vermutete, dass ihr Schüler lediglich einen Schock hatte und daher auf so eine absurde Geschichte kam oder eben tatsächlich auf auf der Jagd nach Aufmerksamkeit ist. In dem Alter war das schließlich nicht unüblich.
 

Hilfesuchend sah Aiden zu seinem besten Freund, doch fand zu seiner Enttäuschung auch in Lukas' Augen nur skeptischen Unglaube und sofort bereute er, überhaupt die Wahrheit gesagt zu haben anstatt von Anfang an eine unschuldigere Lüge zu erfinden.

„Bestimmt hat sich Seegras oder sowas um dein Bein gewickelt. Kann doch sein“, versuchte Lukas ihn zu beschwichtigen. Er glaubte den Gerüchten nicht – dafür kannte er seinen besten Freund zu gut – aber Aidens Geschichte, von etwas gepackt und in die Tiefe gezogen worden zu sein, klang nun mal alles andere als glaubwürdig. Außerdem hatte Lukas in letzter Zeit mehrfach die Erfahrung machen müssen, dass Aiden nicht immer ehrlich zu ihm war und er bei Weitem nicht so viel über seinen besten Freund wusste, wie er geglaubt hatte.
 

Aiden gab es auf. Er entschuldigte sich bei seiner Lehrerin für die Umstände und bat darum den Ausflug dieses Vormittags ausfallen lassen zu dürfen um duschen zu gehen. Widerwillig hatte diese ihm die Erlaubnis erteilt und war mit dem Rest der Klasse aufgebrochen.

Aiden lief in den Onsen zurück, wo er sich schnellstmöglich seiner durchnässten Kleidung entledigte. Eigentlich wäre er gern in die heiße Quelle gestiegen, aber aufgrund seines Fluchmals war es ihm leider nicht erlaubt. Tattoos galten als Zeichen der Yakuza – der japanischen Mafia – und waren daher in japanischen Bädern strengstens verboten. Also musste Aiden sich mit einer gewöhnlichen Dusche zufriedengeben.

Erst als er anschließend wieder in seinem 10er-Zimmer ankam, war es für Reel sicher sich wieder von Aidens Körper zu lösen ohne Gefahr zu laufen von fremden Augen beobachtet zu werden.

Sofort griff er nach Aiden, schlang seine Arme um ihn und drückte den kleineren Körper fest an sich.

Er hatte Aidens anhaltende Nervosität die ganze Zeit über spüren und nicht wirklich mindern können. Hecktisch hämmerte sein Herz gegen dessen Brust und Aiden klammerte sich haltsuchend an seinem Dämon fest. So nah wie in diesem See war Aiden dem Tod noch nie gewesen und das hinterließ seine Spuren.

Beruhigend strich Reel ihm über den Rücken und erkundigte sich nach seinem Zustand. Vorsichtig begutachtete er die hässlichen Kratzer auf Aidens Haut. Sie waren nur oberflächlich und bluteten kaum, aber es gefiel Reel überhaupt nicht, dass jemand oder etwas anderes als er selbst Zeichen auf seinem Liebsten hinterließ.

„Soll ich dich heilen?“, fragte er daher mit sanfter Stimme, doch Aiden verneinte energisch.

„Nein! Ich will nicht, dass du mich alleine lässt!“ Ängstlich klammerte er sich noch fester an Reel und dieser schloss ihn seinerseits enger in die Arme.

„Ist ja schon gut. Ich lass nicht zu, dass dir was passiert“, versicherte er dem verstörten Aiden und versuchte ihn wieder zu beruhigen, doch dieser krallte sich verbissen in Reels Shirt fest und flüsterte nur.

„Reel? Ich hab Angst. Dieses Mal dachte ich wirklich ich muss sterben.“

„Das würde ich nie zulassen“, kam Reels sanft geflüsterte Antwort. „Du gehörst mir und ich erlaube es niemandem dich mir wegzunehmen.“ Aiden wusste, dass das Reels Art war ihm zu sagen, dass er ihn beschützen würde, und es entlockte ihm ein leichtes, beruhigtes Schmunzeln.

Nachdem Aiden seine innere Ruhe halbwegs wiedergefunden hatte, desinfizierten und verbanden sie seine Kratzer, um das Eindringen von Dreck und ähnlichem zu verhindern.
 

Nachdem das geschafft war, liefen sie ein weiteres Mal zu dem unheilvollen See. Er glitzerte unschuldig in der Sonne des Vormittags, doch Aiden und Reel verspürten beide dasselbe Unbehagen in der Nähe des Gewässers. Alles wirkte völlig normal, doch Reel konnte den schwachen aber unverkennbaren Geruch von Blut wahrnehmen – allerdings nicht Aidens Blut, dessen Geruch und Geschmack er überall wiedererkennen würde. Nein, dass hier war nicht einmal menschlich.

Was auch immer Aiden angegriffen hatte, war magischer oder dämonischer Natur und Reel hatte es schwer verwundet. Viel mehr Sorgen bereitete ihm allerdings die Gestalt vom Vorabend, die diesen Angriff höchstwahrscheinlich zu verantworten hatte.

„Sunshine, ich weiß das ist jetzt unsensibel und dass du es nicht hören willst“, begann Reel mit ruhiger Stimme. „Aber ich fürchte meine anfängliche Vermutung Mara betreffend war doch nicht ganz unberechtigt.“ Aidens Miene verfinsterte sich schlagartig und seine Antwort fiel entsprechend gereizt aus.

„Wieso? Warum sollte sie was damit zu tun haben? Alles, was wir gesehen haben, war eine Person in dunkler Kapuzenjacke, die nachts am See war.“ Reel konnte Wut in sich hochkochen spüren, doch er schluckte sie runter und sprach bemüht beherrscht.

„Korrigiere. Wir haben eine Person gesehen, unter deren Kapuze blonde Haare hervorlugten, und nur wenig später wirst du in den See gestoßen und von einem Wasserwesen in die Tiefe gerissen.“

„Mara ist nicht die einzige Blondine in unserer Klassenstufe. Außerdem könnte die Person ja auch gar nichts mit dem Angriff zu tun gehabt haben. Das weißt du nicht!

Nicht alles Schlimme, was passiert, muss immer zwingend auf einen bösen Magier zurückzuführen sein.“ Reel fiel es mit jedem Wort, das Aiden aussprach, schwerer seinen aufkommenden Zorn ob Aidens Ignoranz Mara gegenüber zu unterdrücken. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er konnte spüren, wie seine Fingernägel sich in seine Handflächen bohrten.

Aidens schützendes Verhalten für das Mädchen reizten ihn ungemein und so bemächtigte sich ganz unwillkürlich ein unterschwelliges Knurren seiner Kehle und seine Stimme wurde immer lauter.

„Aiden, daran glaubst du ja wohl selbst nicht! Wie wahrscheinlich ist es denn, dass das nur ein gewöhnlicher Unfall war? Mach deine hübschen Augen auf! Mit dem Mädchen stimmt was nicht! Sie ist viel zu gefasst, dafür dass sie bereits auf mich getroffen ist, wenn ich schlecht drauf bin und sie ist auffällig oft in der Nähe, wenn du in einen Anschlag verwickelt wirst. Irgendwas versteckt sie, das spüre ich.

Bei Valefar, warum verteidigst du sie eigentlich? Sie hat dich stehen lassen, ignoriert dich seit Wochen und ist bestimmt auch an den Gerüchten, die über dich kursieren, nicht ganz unbeteiligt. Liebst du sie etwa immer noch so sehr?“

Nun platzte auch Aiden der Kragen.

„Aha! DAS ist es also! Du bist eifersüchtig und vermischt deshalb dein Feindbild von Mara mit dem der Magier, damit du eine Ausrede hast um sie zu hassen.“ Reel blieben die Worte im Hals stecken. Er wusste selbst nicht, ob es daran lag, dass Aiden eventuell einen Nerv getroffen hatte oder an seiner Enttäuschung darüber, dass Aiden tatsächlich immer noch Gefühle für das Mädchen zu hegen schien.

Wütend biss er die Zähne zusammen um nicht doch noch etwas zu sagen, was die Situation nur schlimmer machen würde. Grob packte er Aiden am Handgelenk und zog sich in dessen Inneres zurück, wo er sich beleidigt hinter seinen Mauern verschanzte.

Er verstand einfach nicht, wie Aiden so Ignorant gegenüber Maras verdächtigem Verhalten sein konnte. Allerdings war er sich selbst nicht sicher, ob in seinen Verdacht nicht doch auch eine gewisse Eifersucht reinspielte. Aber eifersüchtig auf ein kleines Mädchen? Nein. Aiden gehörte ihm und das würde auch so bleiben. Da war Reel sich sicher.
 

Aiden wollte am liebsten schreien. Er hasste es, wenn Reel einfach aus Situationen flüchtete, sobald sie unangenehm für ihn wurden. So konnte er nie vernünftig mit ihm streiten und solche Dinge ausdiskutieren. Unterdrückt fluchte Aiden vor sich hin, als sein Blick plötzlich auf eine Miko traf, die ein gutes Stück entfernt am Seeufer kniete und besorgt ins Wasser starrte. Sie schien ihren Streit und Reel unmenschliches Verhalten überhaupt nicht bemerkt zu haben, sondern konzentriert sich ausschließlich auf das Gewässer vor ihr.

Aiden beobachtete das Mädchen einen kurzen Moment lang, unsicher wie er sich verhalten sollte, als sie sich unvermittelt umdrehte und Aiden mit einem so anklagenden Blick direkt in die Augen sah, als hätte sie ihn soeben bei einem Mord beobachtet. Dieser durchdringende Blick löste in Aiden ein solches Unbehagen aus, dass er sich nur knapp in gestottertem Japanisch bei der jungen Frau für die Störung entschuldigte und dann schnellen Schrittes zum Onsen lief.

Aiden zog sich in das Zimmer zurück und versuchte sich mit seinem Handy abzulenken. In sich konnte er seine eigene und auch Reels Wut kochen spüren, was es ihm sehr schwer machte sich auf seine Nachrichten zu konzentrieren.
 

Pünktlich zum Mittagessen fand sich Aidens Klasse wieder in der Unterkunft ein. Lukas warf ihm einen besorgten Blick zu und traute sich kaum seinen besten Freund anzusprechen.

„Alles okay? Bist du so wütend auf mich, wegen vorhin?“ Aiden sah ihn verwirrt an.

„Was? Nein. Wie kommst du darauf?“

„Du hast einen Blick drauf als würdest du am liebsten jemanden abstechen.“ Auf Aidens Verwirrung folgte ein resigniertes Seufzen.

„Ja, aber das ist nicht deine Schuld.“ Lukas wollte erfragen was passierte war, aber sein Gefühl sagte ihm, dass Aiden ihn dahingehend wohl wieder nur anlügen würde. Aiden ließ unterdessen seinen Blick durch den Raum wandern und ganz unwillkürlich blieb er an Mara hängen. Ihre Haare waren wie immer geflochten, aber sie wirkten heute weitaus weniger verspielt als sonst, wie Aiden nun bemerkte.

„Sag mal, Lukas. Ist dir in letzter Zeit etwas seltsames an jemandem aus unserer Klassenstufe aufgefallen?“, fragte Aiden möglichst beiläufig.

„Du meinst abgesehen von dir?“, konterte Lukas mit einer etwas gereizten Mischung aus Resignation und Enttäuschung, doch Aiden war mit seinen Gedanken so weit weg, dass er Lukas' leicht anklagenden Unterton gar nicht bemerkte.

„Ich dachte eher an... ich weiß nicht... Mara vielleicht?“ Nun war Lukas maximal verwirrt.

„Was?“ Er starrte Aiden so ungläubig an, als hätte dieser sich grade vor seinen Augen in einen Vampir verwandelt.

„Ach vergiss es. Ist ja auch egal“, ruderte Aiden wieder zurück und schüttelte abwinkend den Kopf, während er sich wieder seinem Essen zuwandte.
 

Am Ausflug des Nachmittags konnte Aiden teilnehmen und sich endlich ein Bild von der Gegend machen. Zwar wanderte sein Blick immer wieder prüfend zu Mara, aber dennoch ebbte Aidens Ärger so langsam ab und ermöglichte es ihm die Reise mehr zu genießen.

Auch Reel beruhigte sich so langsam wieder, doch er blieb weiterhin besonders aufmerksam. Egal, ob das Mädchen nun die mörderische Hexe war oder nicht, Reel würde nicht zulassen, dass ein weiter Anschlag seinen Liebsten so nah an den Tod brachte.

Aiden strafte ihn konsequent mit Schweigen, welches er erst am späten Abend brach. Die meisten Schüler hatten sich mittlerweile wieder in ihren Zimmern eingefunden, als Aiden endlich mit einem schuldbewussten Seufzen aufstand, sich bei Lukas mit einer Ausrede entschuldigte und nach einem ruhigen Ort im abendlichen Onsen suchte.

Er hatte Reel versprochen ihn nicht anzuschweigen und er wollte dieses Versprechen nicht länger brechen.

Der vertraute, schwarze Nebel löste sich aus seinem Körper und verdichtete sich einen guten Meter entfernt von Aiden zu Reels Gestalt, der ihm einen unschlüssigen Blick zuwarf.
 

Er wollte etwas sagen, aber schloss seine Lippen dann doch wieder um den Spieß einmal umzudrehen. Auch er konnte Schweigen und das tat er nun demonstrativ.

Aiden verstand diesen Wink sofort und sein schlechtes Gewissen meldete sich abermals.

„Entschuldige. Ich weiß, ich hab Mist gebaut, aber...“ Doch da würgte Reel ihn auch schon ab.

„Kein 'Aber'! Du hast Mist gebaut! Du hast dein Versprechen mir gegenüber gebrochen. Du hast mich angeschrien und du hörst mir nicht mal richtig zu, obwohl du genau weißt, dass meine Wahrnehmung schärfer ist als deine.

Und das alles nur aus Sturheit. Ich dachte immer ich wäre der Eigensinnigere von uns beiden.“

Die braunen Augen seines Liebsten sahen ihn erschrocken und etwas verletzt an.

Verdammt, warum schaffte es Aiden immer wieder, dass Reel sich schuldig fühlte, obwohl er doch jedes Recht hatte sauer zu sein. Oder war er jetzt doch wieder zu laut geworden oder zu weit gegangen? Ach bei Valefar, wenn es um Aiden ging verlor er einfach jegliche Kontrolle über seine Emotionen.

Resigniert seufzte er und versuchte seine Gedanken noch einmal etwas feinfühliger auszudrücken.

„Hör zu, Sunshine. Ich hab das alles nicht gesagt um dir wehzutun oder um dich zu kränken. Ich liebe dich und ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt nur weil ich meine Intuition ignoriert und dir nicht von meinen Vermutungen erzählt habe. Ich hab einfach Angst dich zu verlieren.“

Aiden biss sich frustriert auf die Lippe, doch er sah ein, dass Reel recht hatte.

„Ich weiß. Tut mir leid. Es ist nur... ich kenne Mara seit meinem ersten Jahr am Internat und ich hab sie immer angehimmelt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie so etwas Schreckliches tun würde. Ich WILL es mir nicht vorstellen. Das Bild, das ich von ihr habe, darf einfach nicht vollkommen falsch sein – das will ich nicht.“ Aidens Blick sank gen Boden. Reel überwand indessen die Entfernung zwischen ihnen und fuhr Aiden aufmunternd durch die Haare.

„Vielleicht ist sie auch gar nicht diejenige, die mich beschworen hat.

Aber sie weiß auf jeden Fall mehr, als sie uns glauben lässt. Tatsächlich würde es für eine mordlüsternde Hexe wenig Sinn machen, dir das Armband mit den Schutzsiegeln zu schenken. Und ihre Reaktion, als sie mich damals auf dem Dach gesehen hat, war auch zu... unprofessionell für eine Hexe die fähig und kaltblütig genug wäre um einen Mitschüler zu verfluchen.

Trotzdem möchte ich, dass du ihr gegenüber vorsichtiger bist. Ich traue ihr keinen Meter weit über den Weg.“ Aiden wollte kurz etwas erwidern, entschied sich jedoch dagegen. Stattdessen schlang er lieber die Arme um seinen Dämon und lehnte sich an ihn.

„'Tschuldige, dass ich nach unserem Streit nicht mit dir gesprochen hab. Dabei hab ich dir versprochen, sowas nicht mehr zu machen.“

„Richtig. Dafür wollte ich mich eh noch rächen.“ Reel griff sanft unter Aidens Kinn und zog mit der anderen Hand sein Shirt zur Seite. Der Knutschfleck, den Reel nun auf Aidens Schlüsselbein platzierte, war für seine Verhältnisse recht dezent und dankbarerweise so gelegen, dass Aiden ihn ohne größere Probleme unter dem Kragen seines T-Shirts verstecken konnte.

Aiden verbarg sein resigniertes Schmunzeln an Reels Brust. Klar – wenn Aiden sich nicht an seine Versprechen hielt, dann würde Reel das erst recht nicht tun. Da konnte Aiden seinem Dämon nicht mal böse für sein.

Ein paar Minuten genoss er noch seine Nähe, dann löste er sich aus Reels Armen, gab ihm einen flüchtigen Kuss und wartete bis er dematerialisierte. Reel konnte es kaum erwarten wieder abzureisen und endlich wieder mehr Zeit mit Aiden allein zu haben, doch für den Moment würde er sich gezwungenermaßen mit ein paar abendlichen Minuten zufriedengeben müssen.

Kleine Unwahrheiten

Aiden schlief ausgesprochen miserabel in dieser Nacht. Zum Einen vermisste er es mit Reel zu kuscheln und zum Anderen kreisten seine Gedanken immer wieder um Mara. Reel hatte schon recht – sie war auffallend oft anwesend, wenn Aiden in Schwierigkeiten geriet, aber andererseits war das auch zu erwarten – schließlich gingen sie auf die selbe Schule und hatten viele Kurse gemeinsam.

Ruhelos wälzte er sich unter seiner Decke herum und vergrub sein Gesicht in Reels kariertem Hemd, bis er endlich einschlief.
 

Für den nächsten Tag wurden die Schüler der Klassenstufe in mehrere Gruppen eingeteilt, je nachdem wer an welchem Ausflug teilnehmen wollte. Aiden und Lukas entschieden sich gegen ein weiteres Geschäftsmeeting und meldeten sich lieber für die kulturelle Option des Tages. Und so standen sie gemeinsam mit ihrer Klassenlehrerin, Yukiko und einigen anderen Schülern in der Morgensonne vorm Tempel.

„Der Schrein wurde der Legende nach zu Ehren des Wassergeistes Kanochowa errichtet, der in diesem See leben und die Umgebung und deren Bewohnern vor schlechten Einflüssen und bösen Mächten schützen soll. In den darauffolgenden Jahrzehnten entstand dann nach und nach die wunderschöne Tempelanlage um den Schrein herum, die ihr heute bewundern könnt“, erklärte Yukiko und ein bitterer Geschmack machte sich in Aidens Mund bemerkbar. 'Ein Schutz-Geist also. Naja, so würde ich's nicht unbedingt bezeichnen', dachte er ganz unwillkürlich,während die Erinnerung an die unangenehme Begegnung mit dem recht unfreundlichen Bewohner des Sees in ihm wieder wach wurden.

Die junge Japanerin führte ihre Besucher durch die weitläufige Tempelanlage und klärte sie begeistert über die Geschichte der Gebäude und Gärten auf.

Nachdem ihre Tour beendet war, löste sich die Gruppe auf um eigenständig das Gelände zu erkunden.

Anwohner äußerten ihre Wünsche am Schrein, Touristengruppen spazierten durch die gepflegte Anlage und Gruppen von kichernden Mädchen suchten die schönsten Kulissen für Social-Media-Fotos. Zu letzteren gehörten auch einige Mädchen die Aiden recht gut kannte. Sophie ließ sich von Mara unter einem Torbogen fotografieren, wobei diese allerdings eher lustlos und gezwungen dreinblickte. Als Mara sich zu ihm umwandte, brach Aiden eilig den Blickkontakt ab.
 

Er und Lukas wandelten durch den friedlichen Tempel, doch wie Aiden es mittlerweile schon fast gewohnt war, blieb das nicht lange so. Nur knapp 10 Minuten nachdem sie losgegangen waren, spürte Aiden plötzlich, wie sich ein Eimer kalten Wassers über ihn ergoss.

Erschrocken quietschte das Mädchen hinter ihm auf und entschuldigte sich in so schnellem Japanisch, dass sie dabei nicht nur über ihre Füße, sondern auch über ihre eigenen Worte zu stolpern schien.

Lukas brach in schallendes Gelächter aus und auch von Reel vernahm er ein unterdrücktes Kichern, während Aiden dastand, wie ein begossener Pudel. In gebrochenem Japanisch beruhigte er die junge Miko, die ihm versehentlich den Putzeimer übergekippt hatte.

„Tja, du hast halt einfach eine sehr eigenwillige Wirkung auf Frauen“, witzelte Lukas und Aiden drehte sich schwungvoll zu ihm um, um seinem besten Freund einen schiefen Blick zuzuwerfen, als das Mädchen plötzlich erneut aufquietschte.

Aiden drehte sich wieder zu ihr, doch konnte nur noch beobachten, wie das Mädchen ihn mit erschrockenem Blick anstarrte und dann schon nahezu panisch und ohne ihren Eimer die Flucht ergriff.

Verwirrt sah Aiden ihr hinterher und auch Lukas war sichtlich irritiert.

„Was war das denn grade?“

„Keine Ahnung. Vielleicht glaubt sie ja, du gehörst zur Yakuza“, spekulierte Lukas mit einem Blick auf Aidens Rücken, auf dem das Fluchmal durch das nasse, weiße T-Shirt hindurchschien.

„Na toll. Ich geh mir schnell was Trockenes anziehen.“ Mit diesen Worten ließ Aiden ihn stehen und hastete genervt zum Onsen zurück.
 

„Komisch. Was sollte das?“ Aiden glaubte mittlerweile nicht mehr wirklich an Zufall, aber für einen Anschlag war ein Eimer Wasser eindeutig zu harmlos.

„Keine Ahnung Sunshine. Aber die Reaktion der Miko gefällt mir nicht. Klar verbindet man mit Tattoos immer noch die Yakuza, aber eigentlich sind die heutzutage nicht mehr so präsent und Tattoos gesellschaftlich akzeptierter. Ich fürchte fast, die Kleine weiß ganz genau, dass du ein Fluchmal trägst.“ Reel machte sich Sorgen, dass konnte Aiden ganz eindeutig spüren und es beunruhigte ihn zutiefst.

Mit trockenem Shirt und kreisenden Gedanken lief Aiden wieder zum Tempel hinüber und schritt dort geistesabwesend zwischen den Touristen und Besuchen umher. Innerlich spekulierten er und Reel über die Vorfälle seit Beginn der Klassenfahrt und über die Folgen, die es haben könnte, dass das Tempelmädchen nun wusste, dass sich ein Verfluchter in ihrer Gegend aufhielt.

„Könnte es sein, dass der Wassergeist mich angegriffen hat, weil er deine dämonische Macht als feindselig wahrgenommen hat?“ Reel überlegte kurz.

„Prinzipiell schon, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein 'Schutzgeist' so aggressiv reagieren würde. Vor allem weil meine dämonische Energie eher schwach erscheint, solange ich mich in deinem Körper verberge. Vielleicht hat ja die kleine Hexe etwas damit zu tun.“

„Hm...“, Aiden war unschlüssig. „Trotzdem hab ich das Gefühl, als hätten wir was angestellt. Du hast den Wasserdämon schwer verletzt und der scheint ja für den Tempel sehr wichtig zu sein.“

„Keine Angst“, versuchte Reel ihn zu beruhigen. „Ich hab ihn nicht getötet und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein so alter Elementar-Dämon allzu zerbrechlich ist. Also mach dir keine zu großen Sorgen.“

Plötzlich wurde Aiden aus seinen – und Reels Gedanken – gerissen.

„Verdammt! Den hab ich ja total vergessen.“ Auf dem Kiesweg kam ihm Lukas entgegen – und er war nicht allein. Er und Sophie unterhielten sich angeregt, doch als ihn Aidens Blick traf, verfinsterte sich seine Miene schlagartig.

Aiden hatte ihn einfach stehen lassen und ihn über sein Gespräch mit Reel völlig vergessen. Entsprechend entnervt war Lukas nun, also atmete Aiden tief durch und ging zu den beiden rüber.

„Hey. Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen und hab dich total vergessen“, entschuldigte sich Aiden kleinlaut. Lukas war nicht nachtragend und seufzte nur resigniert.

„Schon okay. Du bist ja in letzter Zeit eh etwas... abwesend“, winkte er ab, wirkte aber dennoch sichtlich verletzt. Nun schaltete sich auch Sophie ein.

„Vielleicht liegt was in der Luft. Mara ist seit der Klassenfahrt auch ein bisschen komisch. Sie meinte, dass sie nur mal kurz aufs Klo geht und ist dann einfach nicht wiedergekommen.“ Sie blickte bedrückt zur Seite und nestelte nervös an ihrem Rocksaum.

In seinem Innern konnte Aiden ein mahnendes 'Ich hab´s dir ja gesagt.' spüren, auch wenn Reel es nicht wirklich aussprach.

Lukas schaute lediglich etwas irritiert zwischen Sophie und Aiden hin und her, bis er schließlich einfach nur resigniert seufzte und das Thema wechselte.

„Dann bilden wir jetzt einfach eine Dreiergruppe“, entschied er kurzerhand und lief den Kiesweg weiter – Sophie und Aiden folgten.

Mara tauchte während des Tempelbesuchs nicht wieder auf. Sophie wollte ihr Fehlen schon melden gehen, als Mara wie selbstverständlich durch den Flur ihrer Unterkunft in Richtung des Speisesaals schlenderte. An diesem Punkt verabschiedete Sophie sich von den Jungs und lief ihrer Freundin nach.
 

Am Abend stahl sich Aiden nach dem Duschen wieder schnellstmöglich aus dem Schlafraum und lief zum üblichen Platz auf der Veranda. Reels Arme schlossen sich um Aiden und dieser lehnte sich erschöpft aber genießerisch in die Umarmung.

„Ach man. Ich dachte immer die Prüfungen oder mein Vater oder du würden mich irgendwann fertig machen. Aber nun muss ich mich mit einer Hexe in meiner Klasse rumschlagen und selbst mein bester Freund glaubt mittlerweile, dass ich entweder kriminell oder einfach nur völlig bescheuert bin.“

Reel wollte ihn gerne aufmuntern, aber er wusste nicht wirklich wie, also streichelte er ihm nur schweigend über den Rücken und fuhr tröstend durch die braunen Haare. Es war nicht so, dass er Lukas hasste, aber er hegte auch keine besonderen Sympathien für den Jungen.

„Ich will Lukas nicht ständig anlügen müssen, aber ich will ihn auch nicht mit in die Sache reinziehen. Ich hab ja meinen Dämon, der mich beschützt, aber für ihn würdest du das nicht machen, oder?“ Reel schüttelte resigniert den Kopf und hauchte Aiden einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, bevor er sich mit den Armen auf dem Geländer abstützte.

„Ich hatte schon befürchtet, dass du mich darum mal bitten würdest.“ Aiden stutzte. Schweigend stellte er sich neben seinen Dämon und schaute ebenfalls auf den unheilvollen See. „Sunshine, ich bin nach wie vor ein Dämon, auch wenn ich dir gegenüber mittlerweile recht zahm geworden bin. Mein Hass und meine Rachsucht sind nach wie vor stark genug um mich ohne schlechtes Gewissen morden zu lassen, und dass solltest du nicht vergessen.

Du bist eine Ausnahme und einen solchen Sonderstatus bekommt man bei mir nicht so leicht.“ Nun war es an Aiden zu seufzen. Reels Worte klangen zwar fast schon wie eine Drohung, aber Aiden kannte ihn gut genug um zu wissen, dass sein Dämon sie nicht als solche gemeinst hatte. Er war schlicht und ergreifend ehrlich.

„Verstehe. Da kann ich dir keinen Vorwurf machen. Aber das mit Lukas macht mir einfach zu schaffen und dann auch noch die Sache mit Mara. Verdammt, so hatte ich mir die Abschlussfahrt nicht vorgestellt.“

Reel wollte Aiden wieder in seine Arme schließen, doch ein lautes Knacken ließ ihn zusammenfahren. Aufmerksam durchsuchten seine roten Augen das Halbdunkel, konnten jedoch nichts auffälliges entdecken. Trotzdem fühlte er sich beobachtet, weshalb er Aiden nur noch schnell einen Kuss schenkte und dann eilig dematerialisierte.
 

Als Lukas das Bad verließ, war Aiden bereits verschwunden. Eine Weile haderte er mit sich, dann gab er seiner Sorge – oder vielleicht doch eher seiner Neugierde – mit schlechtem Gewissen nach und lief suchend durch die Unterkunft. Und tatsächlich fand er Aiden am selben Platz auf der Veranda vor, wie in der ersten Nacht im Onsen, doch dieses Mal war er nicht allein.

Lukas konnte im Halbdunkeln keine Details ausmachen, doch bei der Figur neben Aiden handelte es sich eindeutig um einen jungen Mann in schwarzer Kleidung. Er wandte Lukas den Rücken zu und so konnte er dessen Gesicht im besten Fall im Halbprofil sehen.

Der Fremde war schwarzhaarig und blass, aber eindeutig kein Japaner. Er und Aiden sprachen sehr leise, daher konnte Lukas nicht hören worüber sie sich unterhielten, aber es schien sich um ein ernstes und vertrauliches Gespräch zu handeln.

Neugierig lehnte er sich weiter vor um vielleicht doch einige Gesprächsfetzen zu erhaschen, stieß dabei jedoch ungeschickterweise eine kleine Kommode an und verursachte so ganz unfreiwillig ein lautes Knacken. Reflexartig duckte er sich wieder hinter die Ecke und aus dem Blickfeld der unbekannten Gestalt.

Einige Sekunden hielt Lukas den Atem an, doch er hörte keine Schritte auf sich zukommen sondern nur seinen eigenen Herzschlag, der hektisch gegen seinen Brustkorb hämmerte. Warum er plötzlich solche Panik schob, verstand Lukas selbst nicht, doch die Gestalt in Schwarz löste einfach ein starkes, unerklärliches Unbehagen in ihm aus.

Als er sich endlich traute wieder hinter der Ecke hervorzulugen, war der unheimliche, junge Mann verschwunden und Aiden stand allein auf der hölzernen Veranda.

Lukas beeilte sich um vor ihm wieder in ihrem 10er-Zimmer anzukommen, und tatsächlich betrat Aiden den Raum nur wenige Sekunden nach ihm mit einem besorgten und abwesenden Ausdruck im Gesicht.

Die ganze Nacht grübelte Lukas darüber nach, was sein bester Freund wohl mit einer so zwielichtigen Gestalt zu tun haben könnte, aber er konnte sich partu keinen Reim darauf machen.

Nur bei einer Sache war er sich sicher: Wer auch immer der Kerl war, er war der Grund für Aidens seltsames Verhalten und das gefiel Lukas überhaupt nicht. Der Typ war ihm unheimlich und die Tatsachen, dass er den Grund hierfür nicht verstand, beunruhigte ihn nur umso mehr.
 

Auch für Aiden verlief die Nacht wenig erholsam. Reel musste keinen Körper aufrecht erhalten, fühlte sich hier unwohl und wollte Aiden keine Sekunde aus den Augen lassen. Daher schlief er nicht, sondern nutzte die Zeit um sich Sorgen zu machen und vor sich hin zu grübeln. Diese innere Unruhe beeinflusste leider auch Aidens Schlaf und so nahmen seine Augenringe am nächsten Morgen schon fast historische Ausmaße an.

Er teilte Reels ungutes Gefühl.

Die Reaktion der Miko auf sein Fluchmal und die Befürchtung, am letzten Abend beobachtet worden zu sein, schürten dieses noch zusätzlich.

Dennoch besuchten Aiden und Lukas am nächsten Nachmittag erneut das Tempelgelände, als sich plötzlich eine zögerliche Stimme hinter ihnen meldete.

„Entschuldigung? Dürfte ich euch beide um Hilfe fragen?“ Die Angesprochenen drehten sich um und standen nun einem hübschen Mädchen mit hüftlangem, schwarzem Haar gegenüber, die sie hilfesuchend aus großen, dunklen Augen ansah. Sie trug die typische Kleidung einer Miko und schien, als wäre ihr die Situation sichtlich unangenehm.

„Klar. Worum geht’s denn?“, antwortete Lukas frei heraus ohne auf seine Aussprache zu achten, was es der jungen Japanerin etwas schwerer machte, seine Worte richtig zu deuten.

„Ähm.“ Sie deutete auf ein kleines Seitengebäude. „Zwei Kisten. Die sind schwer und sollen ins Haupthaus.“

„Kein Problem“, entschieden Lukas und setzte sich sofort in Bewegung. Aiden und die hübsche Miko folgten ihm.

„Die hier“, sie deutete auf eine von zwei großen Holzkisten „nach da.“ Nun zeigte sie auf einen Seiteneingang des Hauptgebäudes gut 200 Meter entfernt.

„Alles klar.“ Völlig selbstverständlich und betont leichtfertig hievte Lukas die erste Kiste hoch und brachte sie mit schweren aber sicheren Schritten in die angewiesene Richtung.

Nun war Aiden mit dem Mädchen allein, welches nun auf die zweite Kiste deutete und ihn auffordernd ansah. Aiden unterdrückte sein Seufzen, setzte stattdessen ein höfliches Lächeln auf und machte einige Schritte auf sie zu, als plötzlich ein stechender Schmerz seinen gesamten Körper durchzuckte.
 

Instinktiv wollte er einen Schritt zurückweichen, doch sein Rücken prallte gegen eine Mauer, die zuvor nicht dort gewesen war. Mit steigender Panik sah Aiden sich um.

Im Raum war es dunkler als zuvor. Jemand hatte die Tür geschlossen. Und das Mädchen, das ihn hierher geführt hatte, wich nun mit schnellen Schritten vor ihm zurück – den ernsten Blick unerbittlich auf ihn gerichtet.

Aidens Fluchmal brannte und der Schmerz schien stetig anzusteigen. Reel in seinem Inneren unterdrückte nach Kräften den Drang Aidens Körper zu verlassen, doch auch er spürte die anschwellenden Schmerzen mehr als deutlich.

'LAUF!' war der einzige Gedanke, der klar bei Aiden ankam, doch er konnte ihm nicht folge leisten.

Eine Art Barriere schnitt Aiden jeden Fluchtweg ab und der ansteigende Schmerz lähmte ihn zunehmend.

Mit einem Gefühl wie tausend glühende Nadelstiche breitete er sich von seinem Mal ausgehend über seinen gesamten Körper aus. Die Schmerzen wanderten seine Wirbelsäule entlang, runter in seinen Rücken und hoch bis unter seine Schädeldecke, bahnten sich ihren Weg über seine Schulter bis zu seiner Brust und raubten ihm dort den Atem.

Aiden kämpfte verzweifelt dagegen an, aber sank dann doch auf die Knie, wo er sich mit zusammengebissenen Zähnen zusammenkrümmte. Durch den dichten Schleier den der Schmerz um ihn legte, konnte er mehrere Schemen wahrnehmen, die sich in gebührendem Abstand um ihn versammelten. Dann verlor er das Bewusstsein.
 

Aidens gequälter Körper protestierte gegen jede Bewegung. Seine Erinnerungen kehrten jedoch sofort zurück und schlagartig war Aiden wieder wach. Ruckartig fuhr er vom Boden hoch und bereute es sofort. Sein Kopf pulsierte, alles um ihn herum schien sich plötzlich zu drehen und er musste gegen den gewaltsamen Drang ankämpfen sich zu übergeben.

„Alles okay, Sunshine?“, vernahm er die beruhigende Stimme in seinem Inneren.

Aiden sah sich suchend um. Er war nicht mehr in dem kleinen, hölzernen Häuschen. Die Wände, der Boden und selbst die Decke waren aus grauem Gestein, die Luft war kalt und feucht und es roch ein wenig modrig – ein Kellerraum also. Klasse.

„Was ist passiert?“ Aidens Kopf fühlte sich noch immer an, wie tief unter Wasser. Um ihn herum liefen Gestalten in weiter, zeremoniell wirkender Kleidung und hielten dabei immer gut 3 Meter Abstand von ihm.

„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, wir sind in einen Bannkreis geraten“, mutmaßte Reel nur für Aiden hörbar.

„Einen Bannkreis?“

„Eine Art magische Falle, wenn man so will. Ich vermute, sie hat auf mich reagiert und dir daher so große Schmerzen bereitet. Tut mir leid.“

„Schon okay. Ist ja nicht deine Schuld. Wo sind wir hier? Wie lange war ich bewusstlos?“

„Nur ein paar Minuten und soweit ich das mitgekriegt habe, sind wir jetzt unter dem Haus.“ Um sie herum wurde man langsam darauf aufmerksam, dass Aiden wieder bei Bewusstsein war und die Gestalten wurden deutlich hektischer.

„Und was passiert jetzt?“ Aiden versuchte immer noch die Situation zu erfassen.

„Weiß ich nicht genau, aber ich bin mir sicher, dass sie über mich Bescheid wissen. Ich versuche so viel von ihren Gesprächen mitzubekommen, wie möglich, aber das ist nicht so einfach. Mein Japanisch ist etwas eingerostet, alle reden durcheinander und die Schmerzen lenken mich ab.“

„Schmerzen? Ich merke kaum noch was.“ Aiden war verwirrt. Klar, auch er verspürte noch immer einen dumpfen Schmerz, aber er war bei weitem nicht mehr so erdrückend.

„Hm. Wir befinden uns jetzt wohl in einem anderen Bannkreis, der mich stärker einschränkt als dich. Ich hab auch nicht ganz alles mitbekommen, was passiert ist.

Verdammt. Ich bin ganz ehrlich zu dir. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich in diesem Zustand beschützen kann und ich kann den Bannkreis definitiv nicht durchbrechen.“

„Schon gut. Wir finden eine Lösung“, versuchte Aiden sie beide zu beruhigen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie diese Lösung aussehen sollte.

Plötzlich zog ein etwas lauteres Gespräch die Aufmerksamkeit der beiden auf sich und sie lauschten konzentriert.
 

Einem Neuankömmling wurde offensichtlich die Situation erklärt.

„Er hat sich nicht verwandelt, als er den Kreis betreten hat. Es handelt sich also nicht um einen Dämon erster Ordnung. Entweder er ist ein Magier, der arme Junge ist verflucht oder er ist einfach nur tätowiert und wir haben uns geirrt.“

„Letzteres möchte ich doch stark anzweifeln“, schaltete sich die junge Miko ein, die Aiden unter einem Vorwand in die Falle gelockt hatte. „Er hat auf den Bannkreis reagiert, also MUSS mit ihm etwas nicht stimmen. Ich bin mir sicher, ER ist Schuld an Kanochowas Zustand.“ Sie war wütend und sprach hektisch.

„Das finden wir schon heraus. Wenn er ein Magier ist, lassen wir ihn für sein Verbrechen angemessen büßen und wenn er verflucht ist, werden wir den Jungen befreien und den Fluch ein für alle mal vernichten. So oder so wäre das Problem damit gelöst.“
 

Reel hatte für Aiden nach bestem Wissen den Dolmetscher gespielt und bemerkte erst jetzt, was genau er da grade übersetzt hatte.

„'Mich von meinem Fluch befreien' – geht das denn?“ Reel schwieg. Bisher war es noch nie jemandem gelungen sich von ihm zu befreien, aber bisher hatte er auch niemandem so recht Gelegenheit dazu gegeben. Die Tatsache, dass jeder Magier, der bisher mit ihm verflucht worden war, versucht hat ihn loszuwerden, schürte in ihm die Vermutung, dass es durchaus möglich war Fluchdämonen zu töten oder zu fangen. Aiden gegenüber hatte er bisher immer das Gegenteil behauptet und das würde ihm jetzt wohl um die Ohren fliegen.

„REEL! Antworte mir gefälligst! Ist es möglich meinen Fluch zu lösen?“

„Sunshine... so einfach ist das nicht...“

„Ja oder nein?“ Reel seufzte. Verdammt, er hasste es mit Aiden zu streiten. Wenn er ihn jetzt anlog, würde er es merken und ihm niemals verzeihen. Und wenn er die Wahrheit sagte? Tja, Aiden hatte zwar gesagt, er würde ihn lieben, aber auch so sehr, dass er die Chance aufgeben würde wieder ein normales Leben zu führen? Tatsache war, dass Aiden niemals wirklich „frei“ sein würde, wenn Reel bei ihm blieb. Außerdem war Reel vollends von Aiden abhängig, während Aiden auch problemlos ohne den Dämon leben konnte.

„Ja... Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber vermutlich kann man mich wieder loswerden“, gestand er schuldbewusst und bereitete sich schon mal auf Aidens Enttäuschung und Wut vor, die nun auf ihn einprasseln würden.

„Verdammt Reel! Du hattest mir versprochen, keine Geheimnisse mehr vor mir zu haben. Warum hast du mir das nicht erzählt? Das ist nicht fair von dir! Vertraust du mir etwa nicht?“

Reel wollte grade zu einer Entschuldigung ansetzten, als sich plötzlich die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes auf sie richtete und ihr Gespräch damit vorzeitig beendete.

Von Seelen und Glaskugeln

Die Personen, die bis eben noch so geschäftig durch den Raum gewuselt waren, bezogen nun Positionen am Rand des in den Boden eingelassenen Kreises in dessen Mitte sich Aiden befand. Er bemerkte erst jetzt die vielen filigranen Symbole und geometrischen Figuren, die den Boden in einem komplexen Muster zierten.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin füllte sich der Raum mit einem unverständlichen, fremdartigen Gemurmel und mit ihm setzte auch der Schmerz in Aidens Fluchmal wieder ein. Doch dieses mal war es anders. Kein Brennen oder Stechen – es fühlte sich viel mehr an, als würde man ihm das Mal mitsamt der Haut vom Körper ziehen.

Aiden setzte grade zu einem Schrei an, als der Schmerz schon wieder abebbte. Das Gemurmel verstummte und Aiden nahm im Halbdunkeln des Kellerraums den vertrauten Schatten wahr, der sich unruhig um seinen Arm schlang und dann in Gestalt eines jungen Mannes manifestierte. Reel kniete neben Aiden auf dem Boden und hielt sich schwer atmend die Brust.

Schnell schüttelte er seine Schwäche ab, stellte sich schützend vor Aiden und funkelte den Leiter des Rituals aus vor unbändiger Wut lodernden Augen an.

Erst gab es wieder Zoff mit Aiden und jetzt wagte es dessen Verursacher auch noch ihm seinen Willen aufzuzwingen und sein Gespräch zu unterbrechen. Dazu kam auch noch Reels Frust, der sich während der Klassenfahrt in ihm angestaut hatte, und all das entlud sich jetzt in einer derart bösartigen Aura, dass selbst Aiden es mit der Angst zu tun bekommen hätte, wenn er Reel mittlerweile nicht so gut kennen würde.
 

Mit blitzenden Reißzähnen ließ der Dämon ein drohendes Knurren erschallen, welches von den Steinwänden des Raumes dröhnend widerhallte.

Diejenigen, die das Ritual durchgeführt hatten, wichen nun unsicheren Schrittes zurück und flüsterten leise Schutzgebete. Nur der Mann, der als letztes zu den anderen gestoßen war und das Ritual angeleitet hatte, blieb standhaft und erhob gebieterisch die Stimme.

„Da haben wir also unseren Übeltäter. Wer hätte gedacht, dass der arme Junge von ein Fluchdämon einer so hohen Stufe besessen ist.

Aber das ist nichts, womit wir nicht fertig werden, also fürchte dich nicht, mein Kind.“

„Moment. Also nur damit ich das richtig verstehe: Ihr seid wirklich dazu in der Lage den Fluch von mir zu nehmen?“, frage Aiden mit einer Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung ob Reels Unaufrichtigkeit. Reels Knurren verstummte sofort und er sah nun entgeistert zu seinen Sunshine.

„Absolut“, kam es unverwandt von dem Herren am anderen Ende des Raumes. „Ein unterirdische Kammer des Sees befindet sich direkt unter dem Boden dieses Raumes und verstärkt die Macht reinigender Zauber und Rituale in einem solchen Maße, dass kein Fluch ihnen mehr standhalten kann.

Es könnte zwar schmerzhaft für dich werden, aber wenn du den Exorzismus überlebst, dann bist du anschließen auf jeden Fall fluchfrei. Also atme einfach tief durch. Wir beginnen.“

„Moment. Was?! NEIN! Ich will aber gar keinen Exorzismus. Ich will meinen Dämon behalten, okay?“ Das war nicht Aidens Plan gewesen. Er wollte doch nur wissen, ob es THEORETISCH möglich war und nicht gleich den Praxistest machen. Entschlossen klammerte er sich an Reels Arm fest und dieser hüllte ihn instinktiv in seinen Schatten ein.

Der Mann war sichtlich irritiert von diesem Verhalten, doch fing sich nach nur wenigen Sekunden wieder.

„Wie lange leidest du bereits unter diesem Fluch?“

„Ähm... seit ein paar Monaten, glaube ich.“

„Ungewöhnlich. Man würde annehmen, dass ein Dämon mit einem solchen Machtpotenzial seine Opfer schneller tötet. Naja, ich schätzte er hat stattdessen deinen Geist vereinnahmt und eine willige Marionette aus dir gemacht. Wie bedauerlich.

Du glaubst, es seien deine Gedanken und Wünsche, aber eigentlich ist es nur dass, was dieses Monster dich denken lässt. Du bist zu seinem Spielzeug geworden.

So kannst du doch nicht weiterleben. Hab keine Angst vor den Schmerzen. Sie gehen vorüber und anschließend ist deine Seele frei. Also fürchte dich nicht, mein Kind.“

„Nein, Nein! Sie verstehen nicht. Ich...“ Doch das Wiedereinsetzten des mystischen Chorus übertönte jede Einwände.
 

Zu seiner Überraschung verspürte Aiden anfangs kaum Schmerzen, doch Reel neben ihm griff sich sofort an die Brust und sank mit zusammengebissenen Zähnen in sich zusammen.

„Reel! Nein nein nein. Halt durch!“ Panisch umfasste er den Oberkörper seines Dämons, der vor Schmerzen bebte als Aiden plötzlich eine körperlose Kraft spürte, die ihn gewaltsam zurückzog. Auf Reel schien eine ähnliche Macht zu wirken und ehe sie es sich versahen, wurden sie in getrennte Hälften des Kreises gezogen. Die Hälften bildeten nun zwei eigenständigen Bannkreise, die sich nur an einer einzigen Stelle im Mittelpunkt des eigentlichen Kreises berührten und deren Insassen von einander trennten.
 

Aiden kämpfte verbissen gegen diese körperlose Kraft an, doch Reel schien ihr nicht viel entgegensetzten zu können.

Die Schmerzen trieben ihm Tränen in die roten Augen, durch die er Aiden nur noch verschwommen wahrnehmen könnte. Sein ganzer Körper schrie. Jede Seele, die er sich im Laufe seines Lebens einverleibt hatte, schien nun in ihm zu rebellieren.

Die Qualen raubten ihm die Sinne – er konnte den Singsang des Rituals nicht mehr hören und den kalten Steinboden unter sich nicht mehr spüren. Nur seine Augen hielten sich verbissen an Aiden fest.

Reel konnte spüren, wie ihre Verbindung langsam zu zerreißen begann. Nein! Das durfte nicht passieren. Er konnte Aiden nicht auch noch verlieren. Durch seinen Tränenschleier konnte er beobachten, wie auch Aiden sich unter den zunehmenden Schmerzen auf dem Boden wand und ihm kam schlagartig eine Erkenntnis.

Der Exorzismus richtete sich nur gegen Dämonen. Für normale Menschen war er harmlos. Aiden litt also nur unter diesen Schmerzen, weil Reel sich an ihn klammerte.

Die Exorzisten hatten Recht – Reel konnte sich der Macht dieses Ortes nicht entziehen und wenn er Aiden nicht freigab, würde er ihn mit sich ins Verderben reißen.

Nathaniël zu verlieren hatte ihn fast den Verstand gekostet. Das konnte er kein weiteres mal ertragen und das konnte er auch Aiden nicht antun. Nein. Er würde nicht zweimal den selben Fehler begehen.

Ein letztes Mal prägte er sich den Anblick des kleinen Internatsschülers ein, an den er sein Herz verloren hatte und ein einzelner Gedanke klang klar durch das Schmerz-Inferno: 'Ich hätte dich gerne nochmal gezeichnet.' Dann schloss er die Augen und ließ ihn los.
 

Ihre Verbindung riss in Fasern, wie ein Seil, das jemand angeschnitten hatte, und Reel ließ es geschehen. Besser so, als wenn er Aiden, der am anderen Ende hing, mit sich zog.

Doch so leicht machte sein Sunshine es ihm nicht.

Aiden konnte Reels letzten, klaren Gedanken noch hören bevor er spürte, wie sein Dämon aufgab. Ihre Verbindung zerriss immer weiter und Reel ließ es einfach zu.

„Vergiss es! Ich werd´ dich nicht los und du wirst mich nicht los!“ Aiden schrie die Worte über die Geräuschkulisse des Rituals hinweg, sammelte alles, was er an Kraft noch aufbringen konnte, und klammerte sich an Reels Seele fest. Er würde ihn nicht gehen lassen. Niemals!

Reel hatte ihm eingebläut, dass er für das, was ihm wichtig war, kämpfen müsse. Und genau das tat er jetzt.

Zielsicher robbte er zu der Stelle, an der ihre Bannkreise sich berührten, und schrie Reel dabei immer wieder mit allem, was seine Lunge hergab, an.

„VERDAMMT, HILF MIR GEFÄLLIGST!“

„Sunshine nein! Wenn du nicht loslässt, stirbst du! Wirf dein Leben nicht einfach so weg! Lass los!“

„Nein! Wir stehen das hier zusammen durch. Entweder wir schaffen das oder wir gehen eben zusammen drauf! Ohne dich werd´ ich eh bald umgebracht! Also bleib gefälligst hier und beschütz´ mich, so wie du´s mir versprochen hast!“

Inzwischen hatte Aiden den Berührungspunkt ihrer Bannkreise erreicht. Erfolglos schlug er einige Male mit der Faust gegen die Wand aus magischer Energie, bis er intuitiv unter sein Shirt griff und die kleine, schwarze Klinge hervorzog.

Verbissen hob er sie mit beiden Armen über den Kopf und rammte sie mit letzter Kraft in das Symbol auf dem Steinboden, von welchem die Wand zwischen ihm und seinem Liebsten emporschoss.
 

Ein kurzer, ungerichteter Sturm fegte durch den Raum, so als befände er sich in einer Schneekugel, die jemand zu kräftig schüttelte. Dann war es plötzlich totenstill.

Reel lag regungslos vor ihm auf dem Boden und Aiden verließen nun auch noch die letzten Kräfte.

Er spürte, wie etwas in ihm zerbrach, während er mühevoll zu der schwarzen Gestalt kroch, die immer formloser zu werden schien.

In Verzweiflung streckte Aiden die Hand nach Reel aus, der sich vor seinen Augen in schwarzen Nebel auflöste. Doch noch bevor Aiden ihn erreichen könnte wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor abermals das Bewusstsein.
 

Ein dumpfer Schmerz war das erste, was Aiden wahrnehmen konnte. Er fühlte sich so schwach und ausgelaugt, dass allein schon das Öffnen seiner Augen ihm wie eine unmögliche Aufgabe erschien.

„REEL!“ Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz. Panisch versuchte er in sich hineinzuhören und fand... nichts... Er konnte niemanden spüren. Er war wieder ganz allein in seinem Körper.

Tränen stiegen in ihm hoch und ein bitterliches Schluchzen bemächtigte sich seiner Kehle.

Noch nie in seinem Leben hatte er sich so leer und verlassen gefühlt, wie in diesem Moment.

Aiden hatte keine Ahnung, wo er war und es war ihm auch völlig egal. Also versuchte er gar nicht erst die Augen zu öffnen, sondern blieb einfach liegen und schlief vor Erschöpfung erneut ein.
 

Das nächste Mal wachte er zum unregelmäßigen Klappern von Geschirr auf.

Unter Anstrengung schlug er die Augen auf und versuchte sich umzusehen. Er lag in einem Bett in einem kleinen, weiß tapezierten Zimmer. Eine junge Miko – etwa im selben Alter wie Aiden – hatte soeben ein Tablett auf dem Tisch neben ihm abgestellt und so das Klappern verursacht.

„Oh. Du bist wach“, kam es in überraschend flüssigem Deutsch. „Wie fühlst du dich?“

Aiden wollte zu einer Antwort ansetzten, doch stattdessen brachen einfach nur Tränen aus ihm hervor. Er fing an bitterlich zu weinen und versuchte gar nicht erst seinen Gefühlsausbruch zu zügeln.
 

Shizuka war sich unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Man hatte ihr deutlich eingebläut Vorsicht wallten zu lassen und allem mit einem hohen Maß an Skepsis zu begegnen. Doch wie vorsichtig soll man denn bitte sein, wenn ein Gleichaltriger in Tränen ausbricht?

Sie war diejenige gewesen, die ihn versehentlich mit Wasser bekippt und anschließend ihrem Hohepriester gemeldet hatte, daher fühlte sie sich für ihn verantwortlich und hatte sich sofort freiwillig gemeldet sich um ihn zu kümmern.

Sie wollte ihn jetzt nicht allein lassen, also setzte sie sich behutsam und mit gebührendem Abstand auf die Bettkante und beobachtete den brünetten Jungen schweigend bis er seiner Trauer nicht mehr unterlag.

Vorsichtig half sie ihm sich im Bett aufzusetzen und reichte ihm ein Glas Wasser, das er in einem Zug hinunterstürzte.

„Fühlst du dich etwas besser?“, versuchte sie ein Gespräch anzufangen, doch Aiden wollte nur eine Sache wissen.

„Wo ist Reel?“

„Was?“

„Wo ist Reel? Mein Dämon! Wo ist er?“ Aidens Stimme klang brüchig, aber fester, als er es sich in seinem momentanen Zustand zugetraut hätte.

„Ähm... Also... Da.“ Sie sah ihn etwas verwirrt an und zeigte auf Aiden. Nun war auch er verwirrt.

„Aber ich spüre ihn nicht.“

„Aber er ist noch da. Guck.“ Zögerlich deutete Shizuka nun auf Aidens rechte Schulter, über die sich noch immer einige dünne Ausläufer des dunklen Fluchmals zogen.

Überrascht verdrehte Aiden sich so weit sein Körper es zuließ, um das schwarze Mal zu betrachten, das nach wie vor sein Schulterblatt zierte und fuhr es ein Stück weit mit den Fingern nach. Es wirkte etwas blasser als Aiden es in Erinnerung hatte, aber da konnte er sich auch irren.

Konzentriert schloss er die Augen und suchte in seinem Inneren nach der vertrauten Präsenz und tatsächlich – ganz schwach und kaum wahrnehmbar spürte Aiden seinen eigensinnigen Dämon komatös schlafen. Erneut stiegen ihm Tränen in die Augen, aber dieses mal vor Erleichterung.

Reel war noch da. Er war nicht alleine. Sie waren beide nur so schwach, dass Aiden ihn nicht sofort hatte finden können.
 

„Du hast den Exorzismus einfach aufgebrochen. Sowas ist noch nie passiert. Der Bannkreis in dem du warst, ist von innen nicht gegen dämonische Angriffe geschützt, aber normalerweise ist auch nicht damit zu rechnen, dass ein Mensch eine dämonische Waffe ziehen würde.“

„Mein Dolch! Wo ist er? Ich brauche ihn!“

„Den hat der Hohepriester.“

„Es ist meiner! Ich will ihn zurück!“

„Da musst du mit dem Hohepriester drüber sprechen. Aber erst mal solltest du wieder zu Kräften kommen. Ich hab dir was zu Essen mitgebracht.“ Sie reichte ihm eine Schüssel und Aiden fiel hungrig über dessen Inhalt her.

„Ich heiße übrigens Shizuka. Ich bin eine Miko hier.“

„Aiden. Verfluchter“, stellte Aiden sich zwischen zwei Bissen knapp vor.

„Wie lange war ich eigentlich weg?“, fragte er irgendwann.

„Es ist jetzt kurz nach 11 Uhr und der Exorzismus war gestern am späten Nachmittag. Also hast du knapp einen halben Tag geschlafen.“
 

„Und wie geht es jetzt weiter?“ Man war sich darüber im klaren, dass Aiden noch immer verflucht war, also würde man ihn wohl kaum einfach so gehen lassen. Seinen Dolch hatte man ihm weggenommen und Reel wirkte auch nicht so, als würde er bald wieder aufwachen.

Aiden war also auf sich allein gestellt und völlig wehrlos.

'Moment! Was, wenn Reel gar nicht mehr aufwachte? So schwach wie jetzt war er noch nie gewesen', schoss es für Shizuka unhörbar durch Aidens Kopf.

„Tja. Das weiß ich auch nicht. So einen Fall hatten wir noch nie.

Die meisten glauben, dass du das getan hast, weil der Dämon deinen Geist korrumpiert hat.“

„Schwachsinn! Ich hab das gemacht, weil ich nicht will, dass ihr mir Reel wegnehmt“, protestierte Aiden wehement.

„Du kennst seinen Namen?“

„Natürlich kenne ich seinen Namen. Wir leben schließlich seit mehreren Monaten zusammen.“

„Warum eigentlich?“

„Was?“

„Warum hat er dich noch nicht getötet. Er hat ja sogar so viel riskiert nur um dich zu retten. Das entspricht nicht grade dem typischen Verhalten eines Rachedämons.“

„Reel ist ja auch kein typischer Rachedämon. Er beschützt mich. Das hab ich ja versucht zu erklären, aber euer toller Hohepriester hört ja nicht zu.“ Shizuka ignorierte Aidens sarkastischen Unterton, auch wenn ihr seine Respektlosigkeit ihrem Hohepriester gegenüber missfiel.

„Wie gesagt: er glaubt, deine Worte und Taten wären nur ein Produkt des dämonischen Einflusses.“ Aiden seufzte laut.

„Was mache ich denn, wenn Reel nicht mehr aufwacht?“ Shizuka sah ihn nachdenklich an. Sie war sich nicht sicher, ob Aidens seltsames Verhalten tatsächlich nur auf den Einfluss des Dämons zurückzuführen war, oder ob da doch etwas anderes hinter steckte.
 

„Das ist auch nicht das einzige seltsame“, überging sie seine Frage. „Der Dämon hat eine erhebliche Menge an Macht für dich geopfert. Von so etwas hab ich wirklich noch nie etwas gehört.“ Aiden horchte auf.

„Was meinst du mit 'Macht geopfert'?“

„Na als er deine Seele geflickt hat“, kam es wie selbstverständlich von Shizuka.

„Bitte WAS?“ Jetzt war Aiden vollends verwirrt.

„Also: Stell dir eine Seele als eine Art Glaskugel vor. Deine ist bei dem Exorzismus beschädigt worden, weil dein Dämon und du nicht richtig getrennt werden konnten.

Sie ist jetzt so fragil und kaputt, dass sie eigentlich zerbrechen müsste, aber der Dämon“

„Er heißt Reel“, korrigierte Aiden sie bissig.

„Reel hat einen Teil seiner eigenen Seele genutzt um deine zu retten. Ein Stück seiner Seele hat sich wie ein Schutzfilm um deine Glaskugel gelegt und die Risse repariert, die dich ansonsten zerstören und töten würden.“ Aiden rauchte der Kopf. Er brauchte ein wenig um all das zu verarbeiten.

„Aber wie...? Und... also... was?“

„Die Seele eines Menschen ist im Normalfall solide. Eine starre Kugel, die du nicht verändern kannst. Bei Personen mit sehr starker magischer Macht sieht das anders aus.“ Shizuka bemerkte Aidens verwirrten Gesichtsausdruck und machte eine kurze Pause, bevor sie nun mit ihrer Erklärung etwas ausholte.
 

„Magie lässt sich im Grunde genommen auf die Fähigkeit runterbrechen etwas zu manipulieren.

Elementarmagie manipuliert die Elemente. Man zwingt Feuer, Wasser, Erde oder Luft seinen eigenen Willen auf.

Derjenige, der dich verflucht hat, hat im Grunde genommen seine Magie genutzt um dich und Reel zu manipulieren und eure Existenzen aneinander zu binden. So weit verstanden?“ Aiden nickte zaghaft und Shizuka fuhr fort.

„Dein Dämon verfügt über eine große Menge magischer Macht.

Er kann seinen Schatten dazu manipulieren ihm eine feste Form zu geben – wie wir im Bannkreis beobachten konnten. Und ich bin mir sicher, ein Dämon mit seinem magischen Potential kann seine Opfer auch direkt manipulieren indem er ihren Körpern seinen Willen aufzwingen oder ohne Umwege gleich ihre Seelen angreift.“ Sie sah fragend zu Aiden, der unbewusst nickte. Er kannte Reels Fähigkeiten und das Wort „Manipulation“ fasste diese tatsächlich ganz gut zusammen.

„Wie es aussieht, ist er auch dazu fähig nicht nur seinen Körper sondern auch seine eigene Seele zu manipulieren und zu verformen.

Er ist quasi dazu in der Lage seine Glaskugel einzuschmelzen, einen Teil davon abzuspalten, ihn zu nutzen um deine Glaskugel zu reparieren und aus dem Rest wieder eine solide Kugel zu formen um selbst eine stabile Seele beizubehalten.

Auch wenn diese jetzt vermutlich kleiner und schwächer ist als zuvor.“

Aidens Kopf brauchte ein wenig um Shizukas Worten zu folgen und sie gab ihm diese Zeit, obwohl sie Aidens Unwissenheit doch sehr verwunderte.
 

„Auch sehr mächtige Magier haben diese Fähigkeit der Seelen-Manipulation. Aber sie ist ausgesprochen selten und sogar noch gefährlicher.

Deinem Dämon muss wirklich viel an dir liegen, wenn er ein solches Risiko auf sich nimmt, nur um dich zu beschützen.“

Ein geflüstertes „Ja“ war alles was Aiden hervorbrachte, so geistesabwesend war er momentan.

Er trug nun also einen Teil von Reels Seele in sich. Was bedeutete das für ihn? Ist er jetzt nicht mehr hundertprozentig menschlich? Was würde mit seiner Seele passieren, wenn er stirbt? Und was bedeutete diese Abspaltung für Reel?

„Sag mal, Shizuka. Woher weißt du das eigentlich alles?“

„Ich bin spirituell begabt. Darum lerne ich alles, was es über Magie zu lernen gibt.“

„Ich meine, woher weißt du, wie meine Seele aussieht?“

„Das ist einfach.“ Unverwandt legte sie eine ihrer kleinen Hände auf Aidens Stirn und die andere auf seine Brust direkt über seinem Herzen. „Wenn ich jetzt meine Energie von einer Hand in die andere fließen lassen, dann durchquert sie dabei ganz unwillkürlich deine Seele und lässt mich so basierend auf der Stromänderung ein Bild davon interpretieren. Quasi wie ein Seelen-MRT.“

Shizuka betrachtete Aidens verwirrtes Gesicht eine Weile bevor sie sich einen – für ihre Verhältnisse – unhöflichen Satz erlaubte.

„Für jemanden in deiner Position kennst du dich aber erheblich schlecht mit Magie aus. Es weiß doch jeder, dass die Seele irgendwo zwischen Kopf und Herz sitzt.“

„Wieso 'für jemanden in meiner Position'? Ich bin ein ganz normaler Schüler. Ich hab nichts mit Magie zu tun.“

„Aber du hast es doch geschafft einen ziemlich mächtigen Fluchdämon zu bändigen. Wie soll das denn ohne Magie funktionieren?“ Aiden spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.

„Das... ähm... Reel kann mich halt einfach gut leiden. Das hat nichts mit Magie zu tun.“

„Das glaub ich dir nicht. Jemanden 'gut leiden können' heißt nicht, dass man seine gesamte Existenz für denjenigen aufs Spiel setzt. Schon gar nicht bei einem Rachedämon. Was für ein Ritual hast du verwendet? Welche Art von Magie du benutzt du um ihn zu binden?“

„Gar keine! Ich sagte doch: Ich beherrsche keine Zauberei. Wir sind nur...“

„Nur was? Na los. Raus damit!“ Doch Aiden lief nur weiter rot an und vergrub sich in seiner Bettdecke. Shizuka ging in der Zwischenzeit ihre geistigen Stichpunkte noch einmal durch, in der Hoffnung selbst auf eine Antwort zu kommen.
 

„Er hat ein beachtliches Opfer für dich gebracht.

Du sagst, er beschützt dich und wirst zur Tomate, wenn ich dich nach dem Grund frage.

Du hättest dich von dem Fluch befreien lassen können, hast aber lieber dein Leben riskiert um das zu verhindern. Dazu noch der Tränenausbruch als du dachtest, er wäre weg.“

„Verdammt. Reel und ich sind ein Paar, okay? Bist du jetzt zufrieden?“ Shizuka sah deutlich überrascht aus. Sie hatte diese Vermutung zwar auch schon gehabt, aber sie als kitschige Fantasie abgetan. Nach der anfänglichen Überraschung schlich sich nun ein wissendes Schmunzeln auf ihr Gesicht.

„DAS wiederum erklärt einiges.“

„Du findest das nicht... naja... seltsam?“ Aiden lugte mit noch immer rotem Kopf unter seiner Bettdecke hervor.

„Nicht wirklich. Ich könnte dir aus dem Stehgreif zwei Dutzend mythologische oder historische Beispiele für Beziehungen zwischen Menschen und Dämonen nennen. Auch wenn ich keine Geschichte kenne, in der sich ein Mensch einen Rachedämon ausgesucht hat. Überhaupt sind es eigentlich immer Dämonen erster Ordnung in den Geschichten.“ Shizuka stutzte über diese plötzliche Erkenntnis und revidierte ihre Aussage lieber noch einmal. „Naja gut. Vielleicht ist es doch ein bisschen seltsam“, gab sie nun zu und sah zu Aiden rüber, dessen Gesicht langsam wieder eine natürlich Farbe annahm.
 

„Dämonen erster Ordnung?“, fragte er etwas peinlich berührt angesichts seiner Unwissenheit.

„Wir bezeichnen Dämonen, die als solche geboren werden und einen eigenen physischen Körper haben, als Dämonen erster Ordnung. Sie sind im Grunde genommen eine eigenen Klasse von Lebewesen. Unser Schutzdämon Kanochowa gehört beispielsweise zu dieser Klasse.“

„Reel gehört nicht dazu. Richtig?“

„Genau“, bestätigte Shizuka und fuhr dann mit ihrer Erklärung fort. „Dein Dämon gehört zur zweiten Ordnung – auch Fluchdämonen genannt – die parasitär von anderen Lebewesen oder Orten leben. Stark vereinfacht ausgedrückt: Sie wurden durch einen Fluch zu Dämonen und waren vorher etwas anderes. Fluchdämonen können zuvor Menschen gewesen sein, die zu Lebzeiten verflucht oder im Moment ihres Todes von starken Gefühlen zerfressen wurden.

Ich vermute, dass dein Reel zu dieser Sorte gehört, oder?“ Aiden nickte bestätigend. Er kannte Reels Geschichte und wusste, dass dieser im Moment des Fluchs von unbändigem Hass und Rachegelüsten erfüllt gewesen war. Shizukas Erklärung machte also Sinn.

„Fluchdämonen können aber auch Tiere oder sogar Gegenstände gewesen sein, die über lange Zeit das Ziel starker Gefühle waren. Oder eben verflucht wurden.“

Aiden versuchte sich so viel wie möglich zu merken. Shizukas unglaubliches Wissen machte ihm seine eigene Ahnungslosigkeit schmerzhaft bewusst und jetzt wo er keine physischen Waffen zur Verfügung hatte, wollte er sich wenigstens mit Wissen bewaffnen so gut es ging.

Und Shizuka war wirklich eine umfassende und freigiebige Informationsquelle.

Fake it till you make it

„Und wie geht es jetzt weiter? Also mit mir? Ihr werdet Reel und mich sicherlich nicht einfach so gehen lassen, oder?“

„Bedaure. Du wirst die ganze Sache dem Hohepriester erklären müssen und du wirst dich vor ihm für den Angriff auf Kanochowa verantworten müssen.“ Aiden seufzte schwer. Er hatte die ganze Zeit über so eine ungute Vorahnung gehabt, dass der Zwischenfall am See noch ein unangenehmes Nachspiel für ihn haben würde, aber hierauf war er nicht vorbereitet gewesen.

„Okay. Dann bringen wir das Ganze mal hinter uns.“ Aiden hievte sich aus dem fremden Bett und versuchte aufzustehen. Er war noch etwas wackelig auf den Beinen, aber hielt sich tapfer.

„Was? Nein. Das geht noch nicht“, schaltete sich Shizuka besorgt ein.

„Doch. Das geht. Je eher wir das klären umso schneller komme ich hier wieder weg. Außerdem will ich meinen Dolch wieder haben. Am besten sofort! Ganz abgesehen davon stecke ich jetzt schon bis zum Hals in Ärger oder hat euer toller Hohepriester etwa auch daran gedacht sich eine glaubwürdige Ausrede für mein Verschwinden einfallen zu lassen?“ Shizuka stutzte. Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht.
 

Aiden hatte sich einen Plan – oder eher eine grobe Strategie – zurechtgelegt. Reel war momentan nicht da um sein Selbstbewusstsein aufzubauen, aber Aiden wollte sich das nicht anmerken lassen. Er war hier ganz eindeutig unterlegen und auf sich allein gestellt, aber er wollte zumindest so tun als wüsste er was er tat.

Also atmete er einmal tief durch und ging mit betont festem Schritt auf die Tür zu.

„Aber...“ Shizuka versuchte ihn aufzuhalten – mit wenig Erfolg. Also seufzte sie schließlich nur resigniert und führte ihn stattdessen durch den Flur zum Büro ihres Hohepriesters. Besser so, als wenn er unbeaufsichtigt durch das Gebäude wanderte.
 

„Du solltest dem Hohepriester deine Beziehung zu Reel lieber verschweigen. Er könnte das missverstehen. Und versuch respektvoll zu sein“, ermahnte Shizuka Aiden bevor sie höflich anklopfte und eintrat.

Aiden folgte ihr so selbstbewusst wie möglich und startete das Gespräch so, wie er es von Reel erwartet hätte.

„Ich will meinen Dolch zurück! Sofort!“ Der Hohepriester war sichtlich überrascht, ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er legte betont langsam seine Lesebrille zur Seite und erwiderte unbeeindruckt Aidens Blick.

„Du bist wach. Und allem Anschein nach auch schon wieder ziemlich fit. Sehr gut. Setzt dich.

Dann sprechen wir über Dämonen – und zwar über den Schaden, den du unserem Schutzdämon zugefügt hast, und über das äußerst ungewöhnliche Verhalten deines Fluchs.“ Aiden blieb demonstrativ neben dem dargebotenen Stuhl stehen.

„Erst will ich meinen Dolch. Ohne ihn sag ich gar nichts.“ Der Mann hohen Alters, der auf der anderen Seite des Schreibtisches saß, fuhr sich fahrig durch das kurze, graue Haar, bevor er sich entnervt das Nasenbein mit Daumen und Zeigefinger massierte. Das würde also so ein Gespräch werden.

„Wo hast du den Dolch überhaupt her? Dämonische Waffen sind überaus selten. Wie bist du in dessen Besitz gelangt?“ Der fordernde Tonfall in der Stimme des Hohepriesters missfiel Aiden zunehmend und dieses Gefühl wurde durch die überhebliche Wortwahl des Mannes nur verstärkt.

„Ich sagte doch bereits: Es ist MEINER! Reel hat ihn extra für mich gemacht. Also will ich ihn sofort zurück!“

„Wie hast du ihn dazu gebracht? Wie ist es dir gelungen, einen Dämon dazu zu zwingen dir eine Waffe zu fertigen?“

„Verdammt nochmal! Der Dolch war ein Geburtstagsgeschenk. Kriege ich ihn jetzt endlich wieder?“ Dem Hohepriester schien der Gedanke, dieses seltene Stück wieder abgeben zu müssen, nicht besonders zu gefallen. Dennoch öffnete er eine Schublade seines Schreibtischs und holte eine längliche, kleine Holzkiste hervor, die mit Banderolen versiegelt worden war, und überreichte sie widerstrebend Aiden.

„Warum 'Sunshine'?“, fragte der Hohepriester betont beiläufig und sprach ihn damit auf die Gravur in der Klinge an, während Aiden hastig die Banderolen von der Kiste riss und seinen Dolch voller Erleichterung wieder an sich nahm. Er konnte spüren, wie sich die verräterische Röte seines Gesichts bemächtigen wollte und schüttelte sie so gut wie möglich ab.

„Ich weiß wirklich nicht, was Sie das angeht“ schmetterte Aiden sie Frage zynisch ab. In ihm hatte sich inzwischen eine ganze Menge Frust angestaut.

AIden wusste, dass er in gewaltigem Ärger wegen seines plötzlichen Verschwindens steckte, er hatte einen halben Tag seiner Klassenfahrt verpasst, sein Körper fühlte sich noch immer wie nach einem Marathon an und am aller schlimmsten: er hatte sich mit Reel gestritten, bevor dieser in den Schlaf gezwungen worden war.

Aiden hasste es, wenn Dinge unerledigt blieben und nun wusste er nicht, ob und wann er Gelegenheit kriegen würde das Ganze mit Reel zu klären.

Aber daran durfte er jetzt gar nicht denken, sonst lief er Gefahr erneut in Tränen auszubrechen. Also schluckte er seine Angst und seine Befürchtungen runter, klammerte sich an seinem Dolch fest und setzte wieder eine möglichst selbstbewusste Miene auf.
 

„In Ordnung“, riss der Hohepriester wieder das Wort an sich. „Weiter im Text: Was ist die Geschichte hinter deinem Fluch? Und warum hast du unseren Schutzdämon angegriffen?“

„ICH hab niemanden angegriffen. Euer angeblicher Schutzdämon hat versucht mich umzubringen nachdem ich in den See gefallen war. Reel wollte mich nur beschützen und hat ihn dabei verletzt.“

Sowohl der Hohepriester als auch Shizuka sahen ihn ungläubig an.

„Da kann was nicht stimmen. Kanochowa greift niemanden einfach so an. Hast du etwas getan um ihren Zorn auf dich zu ziehen? Oder dein Dämon vielleicht?“

„Nein. Weder ich noch Reel haben irgendwas getan.“ Plötzlich fiel Aiden wieder die Gestalt ein, die Reel und er am Abend vor dem Vorfall am See beobachtet hatten und diese Beobachtung teilte er nun auch seinen Gesprächspartnern mit.
 

„Das klingt verdächtig nach einer Ausrede. Eine 'unbekannte Person' und du warst 'zufällig' ganz allein draußen und bist damit der einzige, der diese Gestalt gesehen hat.“

„Aber es ist die Wahrheit“, beharrte Aiden und sah dem Hohepriester unverwandt in die dunklen Augen, um deren Iris sich ein blasser Kornealring zog. „Ich vermute, dass derselbe Magier dahinter steckt, der mich auch mit Reel verflucht hat.

Da Reel mich nicht tötet, hat sein Beschwörer angefangen Anschläge auf mich zu verüben. Wäre es möglich, dass der Dämon aus dem See von ihm manipuliert oder aufgehetzt wurde?“

„Kiko hatte erwähnt, dass Kanochowa sich ungewöhnlich verhalten hatte. Es wäre doch möglich, dass das auf Aidens Magier zurückzuführen ist, nicht wahr?“, schaltete sich nun Shizuka wieder ein. Der Hohepriester schien noch nicht vollends überzeugt zu sein, aber er wog die Gefahren gegeneinander ab.

„Ein freilaufender Magier auf unserem Tempelgelände ist ein gewaltiges Risiko, vor allem, wenn er sogar schon anfängt sich an unserer Kanochowa zu vergehen. Magier und Hexen haben keinerlei Respekt für unseren Weg der Magie und ihnen ist jedes Mittel recht um ihre Ziele zu erreichen. Je nachdem zu welchem Zirkel er oder sie gehört, könnte allein schon dessen Anwesenheit gewaltige Probleme für uns verursachen.

Wenn dieser Magier es wirklich auf dich abgesehen hat, dann ist dein Dämon vermutlich wirklich der einzige Grund für dein langes Überleben.“

„Was Sie nicht sagen. Vielleicht sollte sich mein zukünftiger Mörder schon mal bei Ihnen dafür bedanken, dass sie Reel aus dem Verkehr gezogen haben“, wies Aiden ihn schnippisch auf seine aktuelle Situation hin.

„Das ist tatsächlich eher suboptimal. Und du hast keine Vermutung, um wen es sich dabei handeln könnte?“

„Nein. Keine Ahnung“, log Aiden ohne mit der Wimper zu zucken. Diese verrückten Tempeldiener hätten bei dem Exorzismus leichtfertig Aidens Tod in Kauf genommen, daher wollte er Mara nicht nur aufgrund einer vagen Vermutung in Gefahr bringen.
 

„Was ist mit eurem Schutzdämon?“,wechselte Aiden schnell das Thema um weiterem Nachfragen zu entgehen. „Haben wir sie schwer verletzt?“ Der Hohepriester zog eine Augenbraue hoch, sichtlich verwundert über Aidens Schuldbewusstsein.

„Nein, keine Sorge. Kanochowa ist sehr viel älter und mächtiger als du glaubst. Diese Verletzung wird sie eine Weile beschäftigen, aber ihr keinen bleibenden Schaden zufügen. Andernfalls würden wir hier jetzt auch nicht so entspannt sitzen und uns nett unterhalten.

Bleibt allerdings noch eine Frage offen.“ Der Hohepriester sah Aiden eindringlich an. „Warum hat dein Fluch dich eigentlich noch nicht getötet? Ich habe zwar schon davon gehört, dass ein Fluchdämon eigensinnig handelt und sein Opfer zum eigenen Vergnügen noch eine Weile am Leben lässt, aber mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Fluch sein Opfer beschützt hat. Also: was hast du getan um ihn zu bändigen?“ Aiden schluckte.

Shizukas Worte waren ihm noch immer im Gedächtnis und bis jetzt war das Gespräch ja eigentlich recht gut für ihn verlaufen. Das durfte er keinesfalls ruinieren.

Er wusste jetzt, dass die Tempeldiener Reels Hass auf Magier teilten. Also versuchte er dieses Wissen nun so geschickt wie möglich auszuspielen.

„Reel hasst Magier mehr als normale Menschen. Also hat er mir einen Deal angeboten und ich bin drauf eingegangen. Reel will den Tod des Magiers, der ihn beschworen hat, und da er sich nicht von mir entfernen kann, ist er auf meine Mithilfe angewiesen. Ich diene ihm quasi freiwillig als Mitfahrgelegenheit und er lässt mich dafür am Leben.“ Im Raum wurde es still. Aiden fürchtete schon, dass seine Lüge nicht so glaubwürdig war, wie er gehofft hatte, aber der Hohepriester schien eher besorgt als verärgert.

„Und du glaubst den Worten eines Dämons?“

„Im Gegensatz zu so manchen Menschen, hat Reel mich nie angelogen.“ Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in Aidens Mund. Direkt gelogen hatte Reel eigentlich wirklich nicht. Er hatte ihm manchmal etwas verschwiegen oder absichtlich missverständliche Formulierungen gewählt, aber direkt gelogen hatte er eigentlich nie. Zumindest hatte Aiden das immer angenommen.

Plötzlich riss ihn die Stimme des Hohepriesters wieder aus seinen Gedanken.

„Der Dämon steckt wohl wirklich ziemlich tief in deinem Kopf drin. Schade. Aber wir können ihn nun leider nicht mehr exorzieren. So einen Fall wie dich gab es noch nie und wir haben keine Ahnung, was alles passieren könnte, wenn wir einen weiteren Exorzismus an deiner beschädigten und korrumpierten Seele durchführen.

Shizuka hat dich bereits über den Zustand deiner Seele aufgeklärt, nicht wahr?“ Aiden nickte. „Äußerst ärgerlich. Du bist ein interessanter Fall, aber Experimente mit einem so mächtigen Dämon und einem Opfer, das so... unberechenbar ist, sind einfach zu riskant.“

So langsam begann Aiden sich zu fragen, wer hier das eigentliche Monster war. Moralisch war es für den Hohepriester also völlig vertretbar an einem Schüler zu experimentieren oder ihn im Zweifelsfall sogar umzubringen. Klasse.

„Andererseits“, fuhr der Hohepriester interessiert fort und ignorierte Aidens angesäuerten Blick, „wäre es ein Magier weniger, um den wir uns sorgen müssten, wenn du und dein Dämon ihn erledigen.“ Kurz überlegte er. „Shizuka.“ Die Angesprochene horchte auf. „Hol mir ein Pendel aus dem Vorbereitungsraum.“

„Sofort.“ Shizuka tat wie ihr geheißen und kam wenig später mit einem unscheinbaren Anhänger an einer Kette wieder. Er hatte die Form eines umgedrehten Tropfens und war aus einem glänzenden Metall gefertigt.
 

„Normalerweise verwenden wir solche Pendel um Verlorenes wieder zu finden, aber es hat auch eine Schutzfunktion. In seinem Inneren befindet sich Wasser aus dem See, dessen Macht in einem aufwendigen Ritual noch weiter verstärkt wurde. Es dürfte dich vor Zaubern boshafter Natur schützen. Mehr können wir nicht für dich tun.“

Aiden betrachtete skeptisch das unscheinbare Stück in seiner Hand, welches angeblich so mächtig sein sollte.

„Es hat allerdings einen Haken“, gestand Shizuka kleinlaut. Ihr tat Aiden zunehmend leid. „Das Wasser verliert den Großteil seiner Wirkung, wenn es sich zu weit von Kanochowas See entfernt. Kurz gesagt: Wenn du zurück fliegst und Reel dann noch nicht wieder wach ist, bist du leider auf dich allein gestellt.“

„Na klasse.“ Aiden warf dem Pendel noch einen letzten, skeptischen Blick zu, bevor er es sich um den Hals legte und unter seinem Shirt verbarg. Das kalte Metall ließ Aiden für einen Moment zusammenzucken bis es seine Körpertemperatur angenommen hatte. Es fühlte sich fremd auf seiner Haut an – ganz im Gegensatz zu Reels Dolch, den Aiden nun ebenfalls wieder an seinem Platz in der Halterung an seinem Rücken verstaute. Er war unglaublich Dankbar für das kleine bisschen Sicherheit, dass sein Dolch ihm in dieser unangenehmen Situation gab.

„Ich hoffe sehr, du kannst den betreffenden Magier aufspüren und ausschalten. Ein Zirkel ist immer nur so mächtig wie seine Mitglieder und jede Schwächung ist wünschenswert.“ In den eindringlichen Augen des alten Hohepriesters loderte Hass, der beinahe schon dem von Reel ähnelte.

'Welch Ironie', huschte es durch Aidens Kopf. 'Sieht fast so aus, als wäre er selbst auf dem besten Weg zum Fluchdämon.' Doch er behielt den Gedanken für sich. Den Hass des Hohepriesters auszuspielen, war die einzige Waffe, die Aiden momentan wirkungsvoll einsetzten konnte, also durfte er sie nicht verspielen.

„Ohne Reel wird das mit der Magier-Jagd jedenfalls nichts.“ Er warf dem Hohepriester einen vielsagenden Blick zu. „Und wie geht es jetzt weiter? Welche Ausrede haben sie sich für meine Lehrerin und meine Klasse ausgedacht um zu erklären wo ich die ganze Zeit gesteckt habe?“ Über das Gesicht des älteren Herren ihm gegenüber huschte ein unheilvolles Schmunzeln.

„Dir wird schon was einfallen. Ich hab so ein Gefühl, dass du ein recht fähiger Lügner bist.“ Aus Aidens Gesicht wich jegliche Farbe. Super. Das wurde ja immer besser.

Mit einem generösen Lächeln auf den Lippe wies der Hohepriester Shizuka an, Aiden zum Onsen zurück zu begleiten, während diesem der Kopf rauchte. Er brauchte eine Ausrede. Eine gute, glaubwürdige Ausrede, die ihm Ärger möglichst ersparte. Und der brauchte sie schnell.
 

„Schon eine Idee, was du sagen willst?“, erkundigte sich Shizuka und entlockte Aiden damit nur ein tiefes Seufzen.

„Nicht wirklich. Wenn ich mich nicht irre, beginnt die Polizei erst mit einer Suche, wenn eine Person über 18 mehr als 24 Stunden verschwunden ist. Also muss ich das nur irgendwie meiner Lehrerin erklären und mich zumindest nicht auch noch mit der Polizei rumschlagen.“ Grübelnd liefen sie über den Flur, als Aiden plötzlich ein Geistesblitz kam. „Shizuka? Habt ihr Alkohol im Tempel?“ Die Angesprochene sah ihn fragend an.

„Ähm. Ja. Schon. Aber sich zu betrinken, wird das Problem nicht lösen.“

„Doch. Genau das wird es.“ Diese Aktion würde Aiden ebenfalls Ärger einbrocken, aber glaubwürdig war diese Ausrede auf einer Klassenfahrt allemal.

Noch immer etwas verwirrt führte Shizuka ihn zu einem kleinen Abstellraum und reichte ihm zaghaft eine Flasche Sake aus diesem. Mit einem geschlagenen Ausdruck auf dem Gesicht öffnete Aiden deren Verschluss, nahm einen großen Schluck und spülte seinen Mund gründlich mit der hochprozentigen Flüssigkeit bevor er sie runter schluckte. Seine Nackenhaaren stellten sich auf und er verzog angewidert das Gesicht. Er war nie ein Fan von Hochprozentigem gewesen.

Prüfend hauchte er einmal in seine Hand und stellte zufrieden fest, dass er nun eine schwache Alkoholfahne hatte. Endlich verstand auch Shizuka was Aidens Plan war.

„Na ob das gut geht?“

„Es wird die reinste Katastrophe. Aber besser als erklären zu müssen, dass ich in einen Exorzismus geraten bin.“ Aiden bereitete sich schon mental auf die Standpauken vor, die ihn erwarten würden. Seine Lehrerin, seine Mom und vor allem sein Vater würden ihm den Kopf abreisen.

Also nahm er schnell noch einen zweiten Schluck und verzog abermals das Gesicht.

Zumindest an seinem Ruf in der Schule würde diese Aktion wohl nicht mehr viel ändern. Spätestens seit dem Zwischenfall am See war er so wie so als kompletter Freak verschrien. Also was soll´s?

Shizuka warf ihm einen mitleidigen Blick zu, bevor sie ihm die Flasche wieder abnahm und mit ihm in Richtung Onsen lief.
 

Es war inzwischen schon früher Nachmittag. In wenigen Stunden würde also die Polizei eingeschaltet werden.

Ein tiefer Atemzug, dann lief Aiden auf seine Lehrerin zu, die mit hängenden Schultern, bleichem Gesicht und ihrem Handy in der Hand auf der Treppe der Veranda saß.

„Um Gottes Willen! Aiden Moore, wo in drei Gottes Namen hast du gesteckt?“ Aiden holte grade Luft um zu antworten, als Shizuka sich plötzlich einschaltete. Mit tellergroßen Augen, der Unschuld eines Engels in der Stimme und betont gebrochenem Deutsch entschuldigte sie sich bei Aidens Lehrerin dafür, Aiden zum Trinken überredet zu haben und erklärte, dass er anschließend wohl im Tempel eingeschlafen sei.

Aidens Klassenlehrerin sah nun entsetzt zwischen Aiden und dem hübschen Mädchen hin und her und fragte besorgt: „Ihr habt doch nicht... also...“ Shizuka setzte eine übertrieben schockierte Miene auf und entgegnete besonders entsetzt: „Nein! Was denken sie denn von mir? Ich bin eine Tempeldienerin! So eine Unterstellung ist mehr als respektlos.“ Nun wich auch noch die letzte Farbe aus dem Gesicht der Lehrerin und verwandelte sie in den Zwilling einer Kalkwand.

„Ich... also... Natürlich. Tut mir schrecklich leid“, entschuldigte sie sich kleinlaut und wechselte dann schnell das Thema. „Danke, dass Sie Aiden wieder zurückgebracht haben. Ich rufe jetzt bei der Schule an und gebe Bescheid, dass er wieder aufgetaucht ist.“

Mit diesen Worten wand sie sich noch immer etwas durcheinander ihrem Telefon zu und drehte Aiden und Shizuka den Rücken zu.

„Danke“, kam es geflüstert von Aiden.

„Kein Problem. Viel Glück. Und versuch am Leben zu bleiben.“

„Ich geb´ mir Mühe.“ Shizuka verabschiedete sich mit einem aufmunternden Zwinkern und lief zum Tempel zurück, während Aiden ihr noch kurz nachsah. Dann atmete er tief durch und ging der nächsten Katastrophe entgegen, die bereits auf ihn wartete.

Allein

Shizuka war mit ihren Gedanken noch bei Aiden als sie im Tempelgebäude schwungvoll um die Ecke bog und in einen älteren Herren hinein stolperte.

„Oh. Ich bitte um Verzeihung, Hohepriester.“

„Schon in Ordnung, mein Kind. Ich wollte eh noch einmal mit dir sprechen.

Hat der Junge dir noch etwas anderes erzählt bevor ihr zu mir gekommen seid?“ Shizuka stockte. Sie fühlte sich verantwortlich für Aiden, aber ihren Hohepriester anzulügen könnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.

„Nichts wirklich wichtiges. Er war ziemlich durch den Wind als er aufwachte“, umschrieb sie die Wahrheit daher ein wenig. Ein skeptischer Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Hohepriesters und Shizuka wechselte schnell das Thema.

„Glaubt Ihr, dass es die richtige Entscheidung war, Aiden einfach so gehen zu lassen? Ganz allein?“

„Mach dir nicht zu viele Gedanken um ihn. Der arme Junge wird seinen nächsten Geburtstag vermutlich so oder so nicht mehr erleben. Wenn ihn der Magier nicht tötet, dann wird sein Dämon ihn erledigen sobald er keine Verwendung mehr für ihn hat.

Wir können leider nichts mehr für ihn tun. Die Risiken für einen weiteren Exorzismus können wir bedauerlicherweise nicht kalkulieren und ihn hier im Tempel zu behalten wäre vermutlich sogar noch gefährlicher.

Die Kombination aus einem so unzurechnungsfähigen Opfer und einem derart mächtigen Fluch, der nun auch noch einen persönlichen Groll gegen uns hegen dürfte, ist schlichtweg zu riskant.

Der Junge ist eine tickende Zeitbombe und je weiter er vom Tempel entfernt ist umso besser.

Dein Mitgefühl ziert dich, Shizuka, aber wir müssen sicherstellen, dass wir uns nicht im Explosionsradius aufhalten, wenn die Zeit für ihn abläuft.“ Shizuka nickte abwesend.

Sie fühlte sich schrecklich. Es war ihre Schuld, dass Aidens Seele Schaden genommen hatte und Reel unterdrückt wurde. Sie war es gewesen, die ihn als Verfluchten identifiziert und ihn ihrem Hohepriester gemeldet hatte, und nun musste Aiden die Konsequenzen für ihr Handeln tragen.
 

Geschlagene drei Stunden dauerte es bis alle Betreffenden über Aidens Wiedererscheinen informiert waren und eine weitere Stunde verbrachte Aiden mit seiner Mutter am Telefon. Als das Telefonat endlich endete, fühlte sich Aiden als müssten seine Ohren bluten, so lange hatte er sich den immer gleichen Standpauken verschiedener Personen ergeben müssen.

Und sein Leidensweg war noch nicht beendet.

Dem finalen Gegner – seinen Mitschülern – musste er sich noch stellen.

Aiden atmete tief durch, sammelte seinen Mut und ging durch die Tür. Kaum betrat er das Zimmer wurde es schlagartig totenstill. Niemand sprach mehr ein Wort und alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Aiden spürte, wie ihm die Luft knapp wurde, als hätte er plötzlich vergessen wie man atmet. Die Sekunden zogen sich ins Unendliche bis Aiden es nicht mehr ertrug, auf dem Absatz kehrtmachte und das Zimmer fluchtartig wieder verließ.

Im Weggehen hörte Aiden wie es hinter ihm wieder laut wurde und wilde Spekulationen durch den Raum flogen, aber er versuchte sie zu ignorieren. Er hatte jetzt ganz andere Probleme.
 

Ohne bewusst drüber nachzudenken war er auf die Veranda mit Blick auf den See gelaufen, auf der er sich die letzten Abende immer mit Reel getroffen hatte.

Mit einem unglücklichen Seufzen stützte er sich auf dem Geländer ab und sah nach draußen. Es war früher Abend und dementsprechend liefen dort noch vereinzelte Gruppen und Paare herum.

Aiden war zum Heulen zumute. Seine Mutter und auch seine Lehrer waren über alle Maße enttäuscht von ihm. Seine Mitschüler waren sauer, weil sie während Aidens Abwesenheit allesamt den Onsen nicht hatten verlassen dürfen und alle Ausflüge ausgefallen waren. Sein Vater war noch nicht zu erreichen gewesen, aber dem würden sicherlich auch die passenden Worte und Konsequenzen für Aidens Verhalten einfallen.

Und am allerschlimmsten: an Reels Zustand hatte sich noch nichts geändert. Er konnte ihn noch immer nur schwach spüren und in Aiden stieg erneut die Angst auf.

„Du darfst mich nicht alleine lassen“, flüsterte er leise in sich hinein und schluckte seine Tränen so gut wie möglich runter.
 

Über den Dielenboden konnte Aiden nach einigen Minuten Schritte hören, die erst zügig näher kamen, dann kurz stoppten und sich schließlich nur noch zaghaft nährten.

Mit einem besorgen Seufzen stellte sich Lukas neben ihn und stützte sich in ähnlicher Marne wie Aiden auf dem Geländer ab.

„Was zur Hölle ist los mit dir?“, kam es verdächtig beherrscht von Lukas, ohne das er Aiden ansah.

„Das würdest du nicht verstehen.“

„JA! Ganz genau! Ich versteh´s nicht. Und weißt du auch woran das liegt? Weil du nicht mit mir redest. Wie soll ich es da bitte verstehen?“

„Gar nicht. Darum geht es ja. Ich will dich in die Sache nicht mit reinziehen. Das ist so schon schwer genug.“ Aiden machte eine Pause, bevor er viel leiser ergänzte: “Du siehst ja was dabei rauskommt.“

„Aiden... Wir sind Freunde oder nicht? Du weißt, dass ich dich immer rausboxen würde, aber wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir nicht helfen.“

„Du könntest mir auch dann nicht helfen, wenn du´s wüsstest. Kannst du nicht einfach so tun als wäre alles normal?“ Aidens Stimme zitterte immer stärker. Er wollte jetzt nicht auch noch seinen besten Freund verlieren, aber er würde ihn auf gar keinen Fall in diese Sache mit reinziehen. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn Lukas nicht mehr mit ihm befreundet wäre. Dann wäre er nicht in seiner Nähe und würde nicht Gefahr laufen in einen Anschlag verwickelt und verletzt zu werden.

Lukas betrachtete seinen besten Freund nachdenklich. Er sah ihm an, dass Aiden es ernst meinte und dass es ihm ganz offensichtlich nicht gut ging.

„Ach verdammt. Okay, aber wenn du die Sache nicht bald in den Griff bekommst oder endlich mit mir darüber redest, dann kannst du dir einen neuen Freund suchen. Ich mach da nicht mehr lange mit.“

„Danke“, kam es kleinlaut von Aiden, der sich bemüht beiläufig eine Träne aus dem Augenwinkel wischte und schnell wieder nach draußen sah.

Eine Weile blieben sie noch dort stehen und schwiegen einander an. Dann fasste Aiden durch Lukas' Anwesenheit wieder genügend Mut um in ihr 10er-Zimmer zurück zu gehen.
 

Wieder wurde es schlagartig still, aber dieses mal ertrug Aiden die Blicke einfach, angelte sich sein Schlafzeug und ging dann betont ruhig zum Duschen.

Beim erneuten Verlassen des Zimmers, konnte er hinter sich hören, wie die anderen mit Fragen über Lukas herfielen, der diese nur mit einem genervten „Das geht euch nichts an!“ abschmetterte.

Aiden musste leise Schmunzeln. Selbst wenn er eigentlich sauer auf ihn war, hielt Lukas ihm dennoch den Rücken frei. Er hatte es wirklich nicht verdient so von Aiden behandelt zu werden, aber ihm fehlten momentan einfach die Alternativen.
 

Die Dusche hatte Aiden mehr als nötig. Seine Klamotten und auch er selbst rochen nach Angstschweiß und dem muffigen Keller, und sein Körper sehnte sich nach der wohltuenden Wärme des Wassers.

Also blieb er dort viel länger als nötig und versuchte seine Sorgen ein wenig wegzuspülen. Aber immer wieder glitten seine Gedanken und sein Blick auf seine linke Schulter. Reels Fluchmal erschien nun im hellen Badezimmerlichts eindeutig etwas blasser als es ursprünglich gewesen war.

Aidens Hand wanderte über das Besitzzeichen und fuhr es zärtlich nach. „Immerhin heißt das, dass du noch bei mir bist“, versuchte er sich selbst zu beruhigen und sammelte genügend Kraft um die angenehme Privatsphäre der Dusche wieder verlassen zu können.

Zurück im Zimmer begrüßte ihn das übliche, verurteilende Schweigen, aber Aiden nahm es einfach hin, schlurfte zu seinem Bett und drehte sich dort mit dem Gesicht zur Wand. Verborgen vor den Blicken der anderen kuschelte er sich in das rot-schwarz-karierte Flanell und schloss die Augen.

Aiden wollte nur noch schlafen. Zum Einen war er wirklich müde und wollte im Schlaf endlich mal eine Pause von seiner Angst nehmen. Und zum Anderen würde ihn so niemand ansprechen oder belästigen.
 

Und in etwa so lief die gesamte restliche Klassenfahrt ab. Obwohl seine Lehrerin ihn kaum aus den Augen ließ, hielt Aiden sich so gut wie möglich von allen anderen fern. So konnte er dem Spott entgehen und gleichzeitig vermeiden seine Mitschüler versehentlich in einen Anschlag zu verwickeln.

Lukas hielt sich überwiegend bei Sophie auf und erkundigte sich nur gelegentlich, ob es Aiden gut ging. Aber wenn er ehrlich war, war das Aiden auch ganz recht so. Er wollte jetzt mit niemandem sprechen und er hätte es auch nicht ertragen in seinem momentanen Zustand jemandem bei einem banalen Gespräch zuhören zu müssen.

Also versuchte er das Beste in seiner sozialen Isolation zu sehen.

Reels Zustand blieb unverändert. Weder in Japan noch während der Rückreise konnte Aiden eine Regung von ihm wahrnehmen, was Aidens Schweigen und Zurückhaltung allen anderen gegenüber noch konsequenter machte.
 


 

Wieder zurück im Internat lief Aiden wie programmiert auf direktem Weg in sein Zimmer. Er sehnte sich nach der Privatsphäre, die es bot, und hoffte in den vertrauten vier Wänden endlich wieder zur Ruhe zu kommen. Doch als er die Tür hinter sich schloss erwartete ihn nur eine erdrückende Leere.

Vom Flur konnte er seine lärmenden Mitschüler hören und trotzdem kam es ihm vor als herrsche in seinem Zimmer eine nahezu ohrenbetäubende Stille.

Hier war er ganz allein und niemand konnte sehen wie seine Gefühle ihn übermannten und er erneut in Tränen ausbrach.

Mit dem Rücken rutschte Aiden an der Tür hinunter, kauerte sich auf dem Boden zusammen und begann zu weinen.

Er vermisste Reel schrecklich und es gab niemanden dem er seine Sorgen und Ängste anvertrauen konnte – und von denen hatte er im Moment nun wirklich mehr als genug. Seine Einsamkeit lähmte ihn und schnürte ihm die Luft ab, also zog er einfach nur seine Beine an den Körper, legte den Kopf auf die Knie und schluchzte in die Leere seines Zimmers.
 

Die Ferien verstrichen Tag für Tag.

An Reels Zustand änderte sich nichts und Aiden schottete sich immer weiter von allem und jedem ab. Er entfloh der Einsamkeit seines Zimmers immer häufiger indem er auf die Lichtung im Wald hinterm Internat ging und trainierte. Er ging regelmäßig joggen, übte die Basisfiguren, die Reel ihm beigebracht hatte, und trainierte mit seinem Dolch bis seine Hände so wund waren, dass sie zu bluten begannen.

Aiden ertrug es nicht untätig herumzusitzen und die körperliche Erschöpfung betäubte seinen emotionalen Schmerz zumindest ein wenig.

Also zog er auch heute wieder seine Sportsachen an, zurrte seinen Dolch eng um die Taille und schlüpfte in seine Turnschuhe.

Zügig lief er durch das Internatsgebäude und vermied dabei jeden Blickkontakt.

Am Waldrand beschleunigte Aiden seine Schritte erneut und begann zu joggen. Die feuchte, frische Waldluft füllte seine Lungen und Aiden beschleunigte ein weiteres mal. Er wollte am liebsten vor allem davonlaufen – vor seinen Eltern, seinen Mitschülern, den Lehrern, dem Magier, der seinen Tod wollte, und vor seiner eigenen Angst.

Er lief seine übliche Route, durchquerte den Wald und kam nach circa einer halben Stunde des Laufens endlich auf der Lichtung an. Einer der Bäume dort hatte mehrfach als Aidens hölzerner Trainings-Partner herhalten müssen und trug entsprechende Zeichen seines Frusts.

Die Rinde wies tiefe Furchen auf und schälte sich an einigen Stellen bereits brüchig von dem darunterliegenden Holz.

Aiden vertiefte diese Wunden indem er seinen Dolch mit nahezu mechanischer Präzession immer und immer wieder in den gleichen, exakten Bewegungen über das Holz führte.

Diese Art des konzentrierten Trainings hatte etwas meditatives für ihn und half Aiden seine innere Ruhe zu bewahren.

Plötzlich riss ein lautes Knacken ihn aus seiner Trance. Aiden blickte erschrocken nach oben und sah, wie ein schwerer, eigentlich gesunder Ast exakt über ihm brach und nun mit alarmierender Geschwindigkeit auf ihn zuraste.

Panisch stolperte er nach hinten, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Reflexartig riss er seine Arme zum Schutz nach oben, kniff die Augen zusammen und schrie in seinem Geist Reels Namen.
 

Aiden spürte keinen Schmerz. Der Ast hatte ihn definitiv nicht verfehlt, aber getroffen hatte er ihn auch nicht.

Zögerlich öffnete er die Augen und erblickte das vertraute Schwarz von Reels Schatten.

Für einen kurzen Moment glaubte er seinen Liebsten endlich zurückzuhaben, doch etwas stimmte nicht. Reel war nirgends zu sehen und Aiden konnte ihn noch immer komatös in sich schlafen spüren.

Vorsichtig rutschte Aiden zur Seite und somit aus dem Einschlagsgebiet des Astes um sich nun ganz dem formlosen Schatten widmen zu können. Er strählte keinerlei Feindseligkeit aus – ganz im Gegenteil.

Das war eindeutig Reel, aber eben auch nicht ganz Reel. Es war nur ein Teil von ihm – sein instinktiver Teil.

Selbst während seiner absoluten Bewusstlosigkeit beschützte er Aiden.

Ein erleichtertes Lächeln stahl sich auf seine Lippen und Tränen begannen sich in seinen Augenwinkeln zu bilden. Freude und Enttäuschung mischten sich und überwältigten Aiden – und der Schatten reagierte auf diese Emotionen.

Zügig zog er sich zu Aiden zurück, ließ dabei den Ast zu Boden fallen und legte sich schützend ein gutes Stück weit um den Körper des Jungen.

Tröstend schlang er sich um seinen linken Arm, die Schultern und seinen Hals.

„Danke“, flüsterte Aiden dem Schatten zärtlich und mit tränenerstickter Stimme zu und dieser kletterte noch ein kleines Stück weiter an Aidens Hals hinauf.

Eine ganze Weile blieb Aiden auf dem Waldboden sitzen und ließ sich von Reels instinktgesteuerter Seite trösten. Sie reagierte auf seine Gefühlslage und ließ sich von Aidens Arm lenken.

Der Schatten konnte sich offensichtlich nicht vollständig von Aidens Körper lösen, sondern blieb dauerhaft dicht auf seiner Haut, während Reels menschliches Bewusstsein weiterhin in Aidens Innerem schlief.
 

Die Ausgangssperre stand bereits kurz bevor als Aiden sich endlich mit dem Gedanken abfand, wieder ins Internatsgebäude zurück zu müssen.

Widerwillig richtete er sich auf und seufzte schwer. Er musste seine Gefühle beruhigen um auch Reels Schatten wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Sanft zwang er ihn wieder in seinen Körper zurück und dieser leistete Aidens Wunsch folge. Nicht ganz freiwillig aber dennoch folgsam zog die formlose Dunkelheit sich von Aidens Hals zurück, wanderte auf sein linkes Schulterblatt und verschwand dort rückstandslos in dem verschlungenen Fluchmal.

Aiden fuhr es zärtlich mit den Findern nach, so wie er es seit dem Exorzismus regelmäßig tat, dann atmete er einmal tief durch und machte sich auf den Rückweg zum Haupttor des Internats.

Es wurde zur Sperrstunde abgeschlossen und Aiden wollte es vermeiden sich schon wieder Ärger einzuhandeln. Entsprechend eilig hatte er es nun.

So schnell seine Beine ihn trugen rannte Aiden den unebenen Waldweg entlang und es war als verleihe Reels Schatten ihm Flügel. Kühl streifte der Wind sein Gesicht während Aidens Ziel immer näher kam.
 

Als er durch die breite Flügeltür in die Eingangshalle spurtete erwartete ihn bereits der Direktor mit seinem massigen Schlüsselbund in der Hand.

„Aiden Moore – der übliche Ausreißer wie ich sehe.“

„Ja. Tut mir schrecklich leid. Ich hab...“ Doch da würgte der Direktor ihn schon mit einer strengen Handbewegung ab.

„Ausreden sind mir egal. Sieh einfach zu, dass du pünktlich bist. Alles andere interessiert mich nicht.“

„Zu Befehl“, gab Aiden kurz angebunden zur Antwort und eilte dann an ihm vorbei in Richtung des Jungentrakts. Erst jetzt viel ihm auf, dass er kaum außer Atem war. Der Sprint durch den Wald kam ihm wie eine Kleinigkeit vor und er fühlte sich als hätte er noch kilometerweit so rennen können.

Aiden schüttelte ein wenig den Kopf. ' Besser ich halte es wie die Hummeln – einfach nicht weiter darüber nachdenken.'

Durch die Gänge liefen vereinzelt vergnügte Schüler, die das beste aus den verbleibenden Ferientagen machen wollten. Sie alle sahen an Aiden vorbei wenn er ihnen entgegen kam, aber er konnte ihre Blicke in seinem Rücken spüren sobald er an ihnen vorbeigelaufen war.

Aidens freiwillige Selbstisolation hatte die Gerüchte über ihn zunächst angeheizt, doch nach einigen Tagen waren sie zu seiner Erleichterung mangels neuen Stoffes größtenteils verstummt.

Die urteilenden Blicke waren zwar geblieben, aber Aiden war das gleich. Er hatte momentan genügend wichtigere Dinge, um die er sich Gedanken machen musste.
 

Lukas hatte irgendwann aufgegeben und da Aiden nicht von sich aus sprach, sprachen sie mittlerweile gar nicht mehr miteinander.

Beim Essen saß Lukas an Sophies Tisch und Aiden wich schuldbewusst seinem Blick aus. In diesen Momenten musste Aiden sich immer verstärkt zur Ruhe zwingen um Reels Schatten im Zaum zu halten. Er durfte sich nicht vor den Augen der anderen zu starken Gefühlen hinreißen lassen und dadurch riskieren Reels animalische Seite freizusetzen.

Solange Aiden ruhig blieb gehorchte der Schatten ihm mehr oder weniger, aber Reels Beschützerinstinkt stellte Aidens Sicherheit über seinen Willen. Und diesem Instinkt entsprechend würde der Schatten sich verhalten.

Also stand Aiden nun eilig auf und brachte seinen noch recht gut gefüllten Teller weg. Der Appetit war ihm irgendwie vergangen und er wollte nur noch raus aus dem Speisesaal.

Von ihrem Tisch aus warf nicht nur Lukas sondern auch Sophie ihm einen besorgten Blick zu, und Aiden ignorierte beide, während er zügig den Raum voller lärmender Schüler verließ.

Es waren viele neue Gesichter dabei, denn morgen war der erste Tag des neues Schuljahres und die neuen Schüler waren bereits innerhalb der letzten Tage angereist.

Unter diesen hatte Aiden bereits den Ruf als eigenbrötlerischer Einzellgänger, aber dadurch hielten sie sich zumindest von ihm fern. Also war es ihm ganz recht so.
 

Aiden schlurfte wieder in sein Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Er hob seine linke Hand ein Stück weit über sein Gesicht und rief nach Reel.

Sofort kletterte die geliebte Schwärze von der Schulter aus seinen Arm empor und hüllte diesen ein. Munter umschlangen die dunklen Schwaden Aidens Finger und tanzten zwischen ihnen umher.

Aiden genoss dieses Spiel und trieb es so häufig wie möglich.

Da Reels instinktgesteuerte Seite nur bedingt bis gar nicht auf Worte reagierte, hatte Aiden andere Wege der Kommunikation finden müssen – und diese Spielerei war einer davon.

Flink huschten die Partikel dämonischer Macht über Aidens Hand und strichen zärtlich über die Schwielen, die das exzessive Training mit dem Dolch verursacht hatte.

Der Schatten konnte ihn nicht heilen, aber er tat instinktiv alles um Aiden zu beschützen und ihn zu trösten. Und Aiden war ihm mehr als dankbar dafür.

Er vermisste Reel noch immer, aber zumindest einen Teil von ihm zurück zu haben, schenkte Aiden neue Hoffnung und ließ ihn seine Einsamkeit ein wenig leichter ertragen.

Alte Feinde, neue Verbündete

Sein Wecker riss Aiden unsanft aus dem Schlaf. Ab heute musste er wieder die Schulbank drücken.

Er fürchtete sich schon die ganz Zeit vor diesem Tag, denn Unterricht bedeutete den ständigen Kontakt mit anderen Menschen und dieser bot nun da Reels animalische Seite so aktiv war noch mehr potenzielle Gefahren.

Widerwillig setzte er sich im Bett auf und sah nach dem schlafendem Bewusstsein in seinem Inneren. Das war jeden Morgen das erste, was er tat.

Reel schlief nach wie vor, also begrüßte Aiden nun als nächstes seinen Schatten. Er konnte spüren, wie er sich zaghaft auf seinem Fluchmal regte als Aiden es kurz mit den Fingern berührte.

Dann stand er endlich auf und ging lustlos seiner Morgenroutine nach.
 

Das Frühstück ließ er wie so oft ausfallen und ging auf direktem Weg in die Aula. Dort wurde jedes Jahr am ersten Schultag eine kurze Feierstunde abgehalten und jedes Jahr waren die Neulinge die einzigen, die dieser überhaupt richtig folgten.

Als Aiden die Aula betrat begrüßten ihn etliche gelangweilte Gesichter. Müde schlurfte er an ihnen allen vorbei auf der Suche nach einem freien Platz möglichst weit hinten im Saal.

Plötzlich durchzuckte ein kurzer, stechender Schmerz seinen Körper und ließ ihn instinktiv wieder einen Schritt zurückweichen. Der Schmerz verschwand sofort und Aiden zwang sich und Reels Schatten zur Ruhe.

Suchend ließ er seine Augen über die Umgebung wanden bis sie an einer seltsamen Markierung an der Wand hängen blieben. Sie war kaum zu sehen so schwach war deren Deckkraft, doch Aiden konnte sie zweifelsfrei sehen.

Vorsichtig trat er näher an das Zeichen heran, doch sobald er sich auf etwa einen Meter genährte, begann der Schmerz wieder einzusetzen.

„Seltsam.“ Aiden machte einen Bogen um die fremdartig anmutende Markierung und suchte sich schnell einen Platz. Darum würde er sich später Gedanken machen müssen, denn jetzt rief ersteinmal die strenge Stimme der Sekretärin die lärmende Schülermasse zur Ordnung.

Sophie warf Aiden einen Blick zu, den dieser nicht so recht zu deuten wusste, während er an ihr vorbeilief und im nächsten Moment begann auch schon die immer gleiche Eröffnungsrede des Direktors.
 

Ungehindert gingen die monotonen Worte in Aidens eines Ohr rein und aus dem anderen sofort wieder raus. Die Rede war wie jedes Jahr eintönig, farblos und uninspiriert – eine passende Vorhersage also für das, was die neuen Schüler hier für die nächsten Jahre so erwarten würde.

Aiden saß in der letzten Reihe ganz hinten. Die meisten seiner Mitschüler hatten ihre Aufmerksamkeit längst ihren Handys zugewandt und schenkten weder dem Direktor noch Aiden irgendwelche Beachtung.

In diesem machte sich zunehmend Unruhe bemerkbar. Das Stillsitzen und die große Menge an Menschen um ihn herum lösten in ihm ein seltsames Unbehagen aus, das Aiden nicht so recht einordnen konnte.

Das elektrische Knistern des Mikrofons und das kichernde Tuscheln seiner Mitschüler erschienen ihm ungewöhnlich laut und die massive Deckenbeleuchtung stach in seinen Augen. Verdammt, er wollte einfach nur wieder weg von hier. Doch da musste er jetzt durch.

Unauffällig sah er sich in seiner Sitzreiche um, und tatsächlich würdigte ihn niemand auch nur eines einzigen Blickes. Vorsichtig ließ Aiden den Schatten unter dem Ärmel seines Pullovers hervorlugen und ihn seine Finger umschlingen, was sie beide ein wenig mehr zur Ruhe kommen ließ.

'Das wird ein anstrengender Tag', stellte Aiden für sich fest und unterdrückte einen Seufzer.
 

Nach der Eröffnungsveranstaltung begann der reguläre Unterricht.

Aiden fiel es allerdings recht schwer sich in seiner aktuellen Situation auf Mathe oder Englisch zu konzentrieren – von dem neuen magischen Firlefanz ganz zu schweigen.

Im Laufe des Tages fielen Aiden noch drei weitere dieser seltsamen Symbole auf, die anscheinend niemand außer er sehen konnte.

Aiden wich ihnen so gut es ging aus, aber ewig würde er ihnen so nicht entgehen können und auch seine Informationen waren mehr als begrenzt. Reel schlief und ansonsten kannte Aiden niemanden, der sich mit Magie auskannte. Oder doch?

Unschlüssig starrte Aiden eines dieser seltsamen, blassen Symbole an der Flurwand an, dann zückte er einen Stift und kramte einen Fetzen Papier aus seinem Rucksack.

Möglichst akkurat kopierte er das Symbol auf seinen Zettel, fotografierte es ab und schickte es an Shizuka. Mehr konnte er jetzt nicht tun.

Mit einem geschlagenen Seufzer presste er sich nun an die gegenüberliegende Wand und schob sich mit möglichst großem Abstand an dem fremden Zeichen vorbei um in den Jungentrakt zu gelangen.

Zu Aidens Bestürzung schienen es jedoch jeden Tag mehr Zeichen zu werden. Immer wieder musste er ihnen ausweichen oder Umwege nehmen um ihnen nicht zu nahe zu kommen.

So konnte das nicht ewig weitergehen. Er musste sich wohl oder übel etwas einfallen lassen.
 

Sein Training wollte Aiden sich auch außerhalb der Ferien nicht nehmen lassen, also zog am Donnerstag der zweiten Schulwoche nach dem Unterricht endlich wieder seine Sportsachen über und machte sich auf den Weg.

Die Schüler wuselten vergnügt durch die Gänge und so langsam kehrte wieder der Alltagstrott im Internat ein – nur eben bei Aiden nicht.

Schnellen Schrittes eilte er durch die Gänge und raus ins Freie. Sofort verfiel er in einen zügigen Trab und folgte dem altbekannten Weg in das angrenzende Wandstück, wo er mit dem eigentlichen Joggen begann.

Er wollte endlich wieder den Kopf frei kriegen und hier im Wald musste er auch nicht auf irgendwelchen magischen Schnickschnack achten. Also schaltete er seinen Kopf aus und rannte die übliche Route über den unebenen Waldboden.

Flink übersprang er einen großen Ast, der ihm den Weg versperrte, und wich geschickt den moosbewachsenen Steinen aus, die den Boden säumten. Um sich herum konnte Aiden die kleineren und größeren Waldbewohner hören, wenn diese auf ihrer Flucht vor ihm im knackenden Gestrüpp verschwanden. Die feuchte Luft war erfüllt von surrenden Insekten und dem süßlichen Geruch sterbender Blumen und gehrendem Fallobst.

Die Anspannung der letzten Tag fiel endlich von ihm ab und Aiden genoss es in vollen Zügen. Das Laufen fiel ihm so leicht wie noch nie. Er rannte deutlich schneller als sonst und geriet dennoch kaum aus der Puste. Sein Training schien sich also endlich bezahlt zu machen.
 

„Aua.“ Aiden zuckte zusammen und sah mit einem genervten Seufzen auf seine rechte Hand runter. Er hatte sich soeben bei einem Schlag gegen seinen hölzernen Trainingsdummy erneut die Hornhaut in seiner Handfläche aufgerissen.

Routiniert steckte er den Dolch wieder weg und tupfte das Blut vorsichtig mit einem Taschentuch ab.

„Genug für heute“, entschied er mit einem Blick auf die Handyuhr, als grade einen neue Nachricht von Shizuka auf dessen Bildschirm aufploppte: „Bei dem Zeichen handelt es sich um eine Kombination aus zwei einzelnen Symbolen, darum hat es so lange gedauert das richtige zu finden, aber jetzt hab ich es.

Das eine Symbol ist ein gewöhnliches Schutzzeichen gegen böse Geister und Dämonen. Nichts besonders mächtiges, aber sensitiv genug, dass es dir und Reel Ärger bereiten könnte.

Das zweite Symbol, das eingearbeitet wurde, ist ein wenig komplexer. Wer auch immer es angebracht hat, weiß was er tut.

Man nennt es Crasulas Auge und es funktioniert in etwas wie eine Überwachungskamera.

Über diese Zeichen beobachtet der Magier also das Internat und schränkt gleichzeitig deinen Bewegungsspielraum ein.

Seid vorsichtig.“

„Na klasse.“ Erneutes Seufzen. Knapp bedankte er sich bei Shizuka und steckte sein Handy dann wieder weg.

Man ließ ihn anscheinend wirklich nie in Ruhe.

Aufmunternd wickelte sich der vertraute Schatten um Aidens Hand und dieser erwiderte sein Spiel.

„Wir packen das schon irgendwie“, flüsterte Aiden ihm leise zu und ein dankbares Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
 

Einen Moment lang zögerte er seine Rückkehr noch hinaus, dann setzte Aiden sich doch wieder in Bewegung. Er musste wieder ins Internat zurück, ob er nun wollte oder nicht.

Unwillig verließ er den Wald, schritt auf das viel zu prunkvolle Schulgebäude zu, erklomm die übertriebenen, weißen Stufen zu dem überdimensionalen Haupttor und fror vor diesem in der Bewegung ein.

„Verdammt. Das ist doch nicht wahr.“ Genau vor ihm nahm eines dieser vermaledeiten Symbole den gesamten Türrahmen ein. „Wie soll ich denn jetzt bitte wieder rein kommen?“

Plötzlich hörte Aiden Schritte hinter sich. Ein Gruppe Schüler kam offensichtlich grade aus der Stadt zurück und wollte zurück ins Gebäude.

Befremdlich beäugten sie Aiden, der unschlüssig neben der Tür stand, und ließen ihn dann einfach links liegen.

Nur eine einzelne Figur löste sich aus der Menschengruppe und blieb nun ebenfalls vor dem Türrahmen stehen. Unschlüssig blickte Sophie zwischen Aiden und der Tür hin und her, während Aiden sich im Geiste bereits einige Ausreden zurechtlegte.

Doch zu seiner Überraschung zückte sie nur schweigend ein Art kurzen Stock oder Stift, ging in der Mitte der Türöffnung in die Hocke und strich das zentrale Zeichen das Bannkreises mit einer schwungvollen Bewegung durch.

Aidens Augen weiteten sich und er musste aufpassen, dass seine Kinnlade nicht versehentlich Bekanntschaft mit seinem Schlüsselbein machte.

„Ich bin vielleicht blond, aber nicht blöd“, brach Sophies fröhliche Stimme die Stille bevor sie ihm ein wissendes Zwinkern schenkte und ihren Weg dann beschwingt fortsetzte.
 

Aiden brauchte einen Moment um das Gesehene zu verarbeiten, doch das Gefühl von Reels Schatten, der langsam seinen Hals hinaufkletterte, machte Aiden schnell das volle Ausmaß seiner Überraschung bewusst. Hektisch zwang er sich zur Ruhe und durchquerte den jetzt inaktiven Bannkreis um zu seinem Zimmer zu gelangen.

Sophie konnte die Zeichen sehen. Warum? Was bedeutete das? War sie eine Hexe? Vielleicht sogar DIE Hexe? Wollte Sophie seinen Tod? Aber warum sollte sie ihm dann helfen?

Aidens Gedanken überschlugen sich während er Reels Schatten um seine Finger tanzen ließ. Seine Augen folgten dem vertrauten Spiel und in Aiden machte sich wieder ein Gefühl der Einsamkeit breit. „Ich wünschte du wärst jetzt hier“, flüsterte er sehnsüchtig und beobachtete, wie die Schwärze sich tröstend um seinen Arm wand.

Den ganzen Abend lag Aiden auf seinem Bett und grübelte über Sophie nach.

„Ach verdammt, es hilft ja nix. Ich werde sie einfach fragen. Was soll dabei schon schief gehen?“, beschloss Aiden schließlich und sah fragend an die Zimmerdecke. Was soll dabei schon schief gehen?
 

Am nächsten Tag wollte Aiden mit Sophie sprechen, doch er würde damit bis nach dem Unterricht warten müssen, also quälte er sich durch jede der endlos zähen Lektionen, den Blick immer wieder auf Sophies blonden Hinterkopf gerichtet.

Aidens steigende Nervosität machte es ihm zunehmend schwerer den Schatten im Zaum zu halten. In weiser Voraussicht hatte er sich heute für einen schwarzen, hochgeschlossenen Pullover entschieden, der die Partikel dämonischer Energie, die sich nun von Aidens Fluchmal zu lösen begannen, recht gut kaschierte. Unaufhörlich konnte er spüren, wie diese seinen Arm und Rücken entlang kletterten, doch Aiden behielt die Kontrolle.

Er erlaubte dem Schatten sich um seinen Körper zu legen solange er unter seiner Kleidung verborgen blieb, aber hielt ihn streng aus dem Blickfeld der anderen.

Endlich erlöste ihn die Schulglocke, die die letzte Stunde für beendet erklärte. Aiden packte seine Sachen zusammen und stellte Blickkontakt mit Sophie her. Diese nickte ihm wissend zu und deutete subtil aus dem Fenster.

Aiden signalisierte, dass er verstanden hatte, und machte sich auf den Weg.

Er lief in die Eingangshalle hinunter und dann direkt zur Haupttür hinaus und auf den Hof. Unter dem Baum, den man von ihrem Klassenzimmer aus hatte sehen können, bezog er Stellung und wartete auf Sophie.
 

Diese bog nur wenige Minuten später ebenfalls um die Ecke. Wortlos zogen sie sich in das Waldstück zurück um ungestört reden zu könne und kein unnötiges Aufsehen zu erregen.

„Seit wann weißt du es?“, eröffnete Aiden dann das Gespräch mit skeptischer Miene.

„Nimm´s mir nicht übel, aber um zu merken, dass mit dir etwas nicht stimmt, muss man nun wirklich kein Genie sein.“ Aiden funkelte sie streng an. Er hatte jetzt wirklich weder Lust noch Zeit für solche Kinkerlitzchen. „Ich hab´s schon bemerkt als du mich damals in der Innenstadt gerettet hast“, eröffnete Sophie ihm. „Vor dem Auto. Erinnerst du dich? Ich hab sie damals gesehen – deine Augen.“ Aiden war sichtlich verwirrt.

„Sie waren rot“, erklärte sie deshalb.

„Achso?“ Aiden stutzte. Das war damals das erste Mal gewesen, dass Reel seinen Körper übernommen hatte. Vielleicht war ihm dabei ja ein Fehler unterlaufen, aber sicher war sich Aiden nicht. Seine Unsicherheit wollte er sich allerdings um keinen Preis anmerken lassen, also tat er es gespielt gleichgültig ab und wechselte das Thema. „Ja, das kann sein... Aber warum hilfst du mir? Bist du verantwortlich für den Mist der hier in der Schule abläuft? Wie viel genau weißt du?“

„Nicht viel. Nur das du ein Dämonen-Problem hast. Allerdings kenne ich mich mit sowas nicht besonders gut aus.“

„Und womit kennst du dich aus?“

„Eigentlich mit gar nichts so richtig“, gab sie verlegen zu. „Ich bin keine Hexe, falls du dich das fragen solltest. Ich bin im Grunde genommen gar nichts – nur ein normales Mädchen mit Interesse an Okkultismus.“

„Und allem Anschein nach auch einem entsprechenden Talent. Du kannst die Zeichen in der Schule sehen, also musst du eine Verbindung zu irgendeiner Art von Magie haben. Für alle anderen scheinen die Symbole unsichtbar zu sein.“ Aiden war skeptisch. Er war von Mara getäuscht wurden und entsprechend niedrig war nun sein Vertrauen in Sophie.

„Sehen? Nein, sehen kann ich sie nicht“, eröffnete ihm diese plötzlich. „Ich spüre sie nur. Das ist ein Talent, dass in meiner Familie schon seit Generationen weitervererbt wird. Dadurch bin ich in der Lage Auren und magische Potenziale zu spüren.

Am Haupttor konnte ich Magie spüren und deren Mittelpunkt habe ich dann ausgestrichen. Dort steht das Zentral-Zeichen, und wenn man dieses Zeichen beschädigt oder verändert, dann deaktiviert das den ganzen Bannkreis.“

„Und woher weißt du das, wenn du doch eigentlich nur ein ganz normales Mädchen bist und die Zeichen nicht einmal sehen kannst?“

„Ähm... Also... Das...“ Sophie wusste darauf offensichtlich keine befriedigende Antwort. „Naja, ist ja auch egal. Willst du jetzt, dass ich dir helfe oder nicht?“ Aiden speicherte diese unbeantwortete Frage in seinem Hinterkopf ab. Er würde schon noch dahinter kommen, aber jetzt gab es erstmal wichtigeres.

„Warum würdest du mir überhaupt helfen wollen? Du hast doch selbst gesagt: Ich hab ein Dämonen-Problem. Willst du dich wirklich in die Schusslinie begeben?“

„Ich hab keine Angst vor dir. Und auch vor dem anderen nicht. Ich kann eure Auren spüren – schon vergessen? Ich weiß ganz genau, dass dein Dämon kein übler Kerl ist.“

„Ungefährlich ist er trotzdem nicht. Das solltest du eigentlich auch spüren können.“

„Naja, also ehrlich gesagt empfange ich von ihm nur ziemlich schwache Schwingungen. Das spricht nicht grade für einen besonders gefährlichen Vertreter seiner Art.“ Aiden atmete einmal tief durch, brachte etwas Abstand zwischen sich und Sophie und ließ Reels instinktgesteuerter Seite freien Lauf.

Aiden hatte eine gewaltige Menge an Selbstbeherrschung aufbringen müssen um ihn während des Gesprächs ruhig zu halten und entsprechend heftig war nun Reels Reaktion auf die plötzliche Freilassung.
 

Sophies Augen weiteten sich schon bevor sie die düsteren Partikel erblicken konnten. Die Macht der Aura, die nun auf ihr feines Gespür einstürzte, überwältigte sie und raubte ihr den Atem.

Sie hatte sich geirrt. Sie hatte sich gewaltig geirrt. Das hier war zweifelsfrei die Aura einer rachsüchtigen Bestie und sie stand ihr zweifelsfrei feindselig gegenüber.

Von Furcht wie gelähmt sackte sie in sich zusammen und blieb hilflos auf dem Boden sitzen. Wie ein Häschen vor der Schlange hockte sie da und konnte nur stumm das Bild beobachten, dass sich nun vor ihr manifestierte.

Eine formlose Schwärze von ungesehener Tiefe erfasste Aiden, verschlang seinen linken Arm, vereinnahmte seine Schultern und wickelte sich besitzergreifend um seinen Hals.

Sophie verspürte Todesangst. Aiden jedoch schien seelenruhig. Er hob die von Schatten umschlungene, linke Hand an sein Gesicht und ließ die bedrohliche Finsternis ganz nonchalant an seiner Wange züngeln.

Sophie konnte spüren, wie die Feindseligkeit in der gefährlichen Aura langsam abnahm, und ihre Augen beobachteten, wie der Großteil des Schattens sich langsam wieder zu Aidens linker Schulter zurückzog.

Allmählich gewöhnte sich ihr Gespür an den übermächtigen Eindruck der dämonischen Aura und sie konnte wieder klarer denken.
 

„Reels dämonische Ausstrahlung wird auf ein Minimum reduziert solange er sich in meinem Körper verbirgt“, erklärte Aiden, ohne den Blick von der geliebte Schwärze zu nehmen, die sich munter um seine Finger schlang.

„Du kannst ihn kontrollieren?“, platzte Sophie fassungslos hervor.

„Nein, nur beruhigen. Aber das reicht meistens auch. Wenn du ihm keinen Grund dazu gibst, dann tut er dir im Normalfall auch nichts.“

„Und warum hältst du dich dann seit Japan von allen fern? Ich dachte du machst das aus Angst vor deinem Dämon.“

„Nein, Reel ist nicht das Problem. Jemand hat es auf mich abgesehen und verübt immer häufiger Anschläge auf mich und seit neustem werden dabei auch die Menschen in meiner Umgebung verletzt.“

„Dann ist es nicht die Schuld deines Dämons, dass du ständig in so komische Zwischenfälle verwickelt wirst?“ Sophie war sich sicher gewesen, dass Aidens „Unfälle“ auf seinen Dämon zurückzuführen wären, der versuchte ihn zu töten, aber nun da sie dessen Macht unverschleiert gespürt hatte, war ihr klar, dass der Dämon keine inszenierten Zwischenfälle nötig hatte um einem einfachen Schüler das Leben zu nehmen.

„Hör zu, Sophie. Die Schutzzeichen machen mir Probleme und du kannst sie ausschalten. Du hilfst mir mit dieser Sache und dafür erzähle ich dir alles, was ich über Dämonen und Magie weiß. Das ist es doch, was dich interessiert, oder?“ Sophie fühlte sich ertappt. Tatsächlich war das die ganze Zeit über ihr Ziel gewesen. Es war ihre okkulte Neugierde gewesen, die sie zu Aiden und wie es nun aussah auch in die Arme eines Dämons getrieben hatte und dennoch konnte sie dem Angebot nicht widerstehen.

„Abgemacht“, verkündete sie ihre Entscheidung.

Aiden gefiel das Ganze nicht. Eigentlich wäre es sicherer für Sophie, wenn er sie nicht noch tiefer in diese Sache mit hineinzog, aber andererseits war Aiden momentan wirklich auf Hilfe angewiesen.

Diese elenden Schutzsymbole machten ihm das Leben zunehmend schwer und er kam sich bei seinen täglichen Wegen durch das Internat inzwischen wie eine Maus im Labyrinth vor.

Außerdem war es ja Sophie selbst gewesen, die mit dieser Sache angefangen und ihre Hilfe angeboten hatte.
 

„Irgendwas ist in Japan passiert, nicht wahr? Seit dem schottest du dich ab und seit dem sind auch eure beiden Auren irgendwie... anders.“

„Ja, so kann man´s ausdrücken.“ Aiden seufzte. „Aber das ist eine längere Geschichte.“

„Also ich hab Zeit.“ Geschlagen hob Aiden die Augenbrauen und erklärte Sophie dann möglichst knapp seine Situation. Allerdings wählte er für sie die gleiche Version dieser Geschichte, die er auch schon dem Hohepriester erzählt hatte. Er wollte diese ganze Sache nicht durch seine Gefühle für Reel unnötig verkomplizieren und Sophie schien sich auch so schon schwer genug mit Aidens Ausführungen zu tun. Sie war eben keine so fachkundige Verbündete wie Shizuka.

Permafrost

„Also verstehe ich das richtig? Du bist verflucht, aber hast einen Deal mit deinem Dämon. Dieser Dämon ist momentan in einer Art Koma, aber du bist seit dem Exorzismus auf der Klassenfahrt dazu in der Lage einen Teil seiner Macht anzuzapfen und zu kontrollieren.

Seit einiger Zeit tauchen in der Schule Bannkreise und Schutzzeichen auf, die eindeutig magischen Ursprungs sind, und auf die du und dein Dämon empfindlich reagieren. Derjenige, der diese Zeichen anbringt, ist vermutlich die gleiche Person, die dich auch verflucht hat, und seither fleißig Anschläge auf dich verübt.

Richtig?“

„Naja. Mehr oder weniger. Ich kann Reel nicht wirklich kontrollieren. Daher kann ich mich den Zeichen auch nicht nähern. Wenn ich es doch versuche, fängt mein Fluchmal an wehzutun und Reel reagiert dann ganz automatisch – egal ob ich das will oder nicht.“

„Darum rennst du also seit Tagen so wirr durchs Internat. Ich hatte mich schon gefragt, warum du den magischen Potenzialen in der Schule so vehement ausweichst. Ich hatte schon fast befürchtet, dass dein Fluch deine motorischen Fähigkeiten oder deinen Orientierungssinn angreift.“ Aiden verdrehte die Augen.

„Nein, mir macht einfach nur ein Magier das Leben schwer. Sag mal, wie hast du das Zeichen in der Haupttür eigentlich deaktiviert?“

„Hiermit.“ Sophie zückte flink wieder den kleinen Stock und Aiden konnte ihn nun in Ruhe betrachten. Es war eine Art hölzerner Stab, der mit filigranen Zeichen versehen war und dessen spitzes Ende Spuren von Ruß aufwies.

„Er besteht aus dem Kern einer Eberesche. Ich hab ihn selbstgemacht“, verkündete Sophie mit Stolz in der Stimme.

Aiden wollte nach dem Stab greifen, doch Reels Schatten zeigte eine derart heftige Reaktion, dass er seine Hand sofort zurückzog. Wütend flammten die Partikel um Aidens Finger auf und wickelten sich enger um dessen Körper.

„Sieht aus, als würde Reel deine Begeisterung für diesen... Stock nicht teilen.“

„Endurias. Das ist ein Endurias“, erklärte Sophie mit Nachdruck, während sie das besagte Werkzeug schützend an sich drückte. Sie hatte zwar verkündet, keine Angst von dem Dämon zu haben, aber das hatte sich als Fehleinschätzung herausgestellt. Daher wollte sie ihm keinen unnötigen Grund geben wütend auf sie zu werden.

Ganz abgesehen davon, hatte es Sophie Monate gekostet einen funktionsfähigen Endurias anzufertigen und sie wollte nicht riskieren, dass er Dämon ihn beschädigte.

„Jedenfalls sollte ich wohl besser die Finger davon lassen. Reel kann was sowas angeht sehr... eigenwillig sein. Vor allem jetzt, wo ich nicht wirklich mit ihm reden kann.“ Aiden warf einen traurigen Blick auf seine von Schatten umschlungene Hand und seufzte schwer. Er vermisste Reel so schrecklich.

Tröstend kletterte die Schwärze Aidens Hals hinauf und streifte zärtlich seine Wange. „Schon gut. Danke Reel.“

„Wow. Der hat ja wirklich einen Narren an dir gefressen“, stellte Sophie mit einer Mischung aus Überraschung und vorsichtiger Belustigung fest.

„Ja, kann man so sagen.“

„Okay, ich helfe dir – beziehungsweise euch. Wenn hier ein marodierender Magier durch die Schule rennt, ist das für uns alle gefährlich. Außerdem ist das ja wohl das mit Abstand spannendste, was mir je passiert ist.“ Aiden verdrehte abermals die Augen. Sophie brachte sich hier in Lebensgefahr und das alles nur weil es „spannend“ für sie erschien. Er verstand sie wirklich nicht.

„Aber eine Sache muss ich noch wissen. Dein Dämon will doch nur den Magier töten, der dich verflucht hat, nicht wahr?

Wer nichts böses tut ist auch dann sicher, wenn er zaubern kann, oder?“ Sophie wirkte besorgt, weshalb Aiden mit einem überzeugenden „Genau“ antwortete, obwohl er sich da selbst nicht so ganz sicher war. Er konnte Reels tiefen Hass auf Magier gut verstehen und Aiden wusste inzwischen was er ihm so alles zutrauen konnte.

Die Schläger, die ihnen damals in der Stadt ans Leder wollten, hatte Reel übel zugerichtet obwohl sie nur gewöhnliche Menschen waren. Was genau der Dämon mit einem waschechten Magier anstellen würde, wollte Aiden sich eigentlich lieber nicht ausmalen.

„Gut.“ Sophie schien von seinen Worten überzeugt worden zu sein. „Dann haben wir einen Deal.“

„Das du Schweigen über diese Sache bewahrst, ist selbstverständlich, oder?“ Sophie nickte.

„Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich bin ziemlich gut darin Geheimnisse zu bewahren. Außerdem hat dein Dämon mir sehr unmissverständlich klar gemacht, dass er mir keinen Fehler durchgehen lassen wird.“ Aiden verdrehte genervt die Augen.

„Tu mir einen Gefallen und nenn´ ihn bei seinem Namen. Er heißt Reel.

Dir würde es auch nicht gefallen, wenn man dich immer nur 'Mensch' oder 'Mädchen' nennen würde.“ Verdutzt zog sie eine Augenbraue hoch.

„Okay. Wie du meinst.“ Eigentlich bevorzugte sie es den Dämon nicht bei einem Namen zu nennen. Sie wollte sich im Bewusstsein halten, womit sie es hier zu tun hatte, um kein weiteres mal einer so fatalen Fehleinschätzung zu unterliegen.

Aber Aiden zu provozieren erschien ihr auch nicht wirklich als eine clevere Idee. Also würde sie seiner Bitte entsprechen.
 

Als sie den Wald wieder verließen, hatte Aiden ein mulmiges Gefühl im Magen. Er hatte sich extra von allen fern gehalten und sogar Lukas von sich gestoßen um niemanden in Gefahr zu bringen, und nun zog er Sophie wissentlich mit in diese Sache hinein. Aber hatte er denn eine andere Wahl? Ob er es nun wollte oder nicht, er brauchte ihre Hilfe.

Noch in seinen Gedanken versunken trottete er den Weg zum Internat zurück.

Sophie lief mit etwas Abstand neben ihm. Skeptisch beobachtete sie ihren Mitschüler von der Seite her, fast schon als ob sie erwartete, dass jeden Moment erneut der schwarze Schatten erschien und über sie herfiel.

„Da bist du ja“, riss eine bekannte Stimme die beiden frisch Alliierten aus ihren jeweiligen Gedankengängen. Mit verwirrtem Blick stand Lukas vor ihnen und sah fragend hin und her.

„Ah, ich war grade auf dem Weg zu dir.“ Sophie hüpfte freudig auf ihn zu und hauchte Lukas einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Danke für das Gespräch, Aiden. Bis später.“ Und mit diesen Worten zog Sophie Lukas einfach mit sich. Dieser warf Aiden im Gehen noch einen enttäuschten Blick über seine Schulter zu und verschwand dann gemeinsam mit Sophie im Internatsgebäude.
 

Aiden fühlte sich schrecklich. Lukas hatte ihm immer den Rücken frei gehalten und Aiden hinterging ihn in einer Tour. Die Entrüstung in seinem Blick brannte sich in seinen Kopf ein und machte ihm erneut schmerzlich bewusst, wie allein er ohne Lukas war.

Erst jetzt spürte Aiden, wie weit sich Reels Schatten bereits seinen Weg über seinen Körper gebahnt hatte. Er umhüllte seinen Arme, züngelte an seiner Wange und schlang sich besitzergreifend um seine Taille.

„Schon gut, Reel. Beruhige dich. Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig werden, oder?“, redete er zärtlich auf ihn ein, während er die übernatürlichen Partikel sanft wieder in seinen Körper zwang.

„Wir zwei packen das schon irgendwie.“
 

Die Wochenenden und den größten Teil seiner Freizeit verbrachte Aiden in seinem Zimmer oder im Wald beim Training.

Mit Sophie hatte er per Handy vereinbart, dass sie die Schutzzeichen ausstrich, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatte. Dennoch tauchten immer wieder neue Symbole im Internat auf und machten Aiden das Leben schwer.

Sophie hatte sich bereiterklärt ein paar Recherchen anzustellen, auch wenn Aiden nicht wirklich wusste wie sie das anstellen wollte. Es war ja nicht so, als ob es Bücher über Hexen, Dämonen und Magie in der Schulbibliothek gab, oder man zuverlässige Quellen einfach so im Internet fand.

Aber momentan würde Aiden dankbar nach jeden Strohhalm greifen.

Lukas warf Aiden seit ihrem letzten Aufeinandertreffen noch häufiger und noch argwöhnischere Blicke zu und Aiden glaubte irgendwann seine sich aufstauende Wut fast schon greifen zu können.

Immer wieder konnte er beobachten, wie er versuchte mit Sophie zu sprechen und diese seinen Fragen offensichtlich auswich. Sie sah dabei immer wieder flüchtig zu Aiden rüber und machte seine Situation dadurch auch nicht unbedingt besser.
 

Nachdem die Schulglocke alle Schüler am Ende der letzten Stunde am Freitag ins Wochenende entließ, verschwendete Aiden keine Zeit, wechselte in seinem Zimmer sofort in seine Sportsachen und wanderte wie üblich in Richtung des Waldstücks um zu trainieren.

Jeden Blickkontakt meidend eilte er durch die Gänge und an seinen Mitschülern vorbei. Reel war im Laufe des Tages zunehmend unruhiger geworden und Aiden konnte nicht genau abschätzen wie lange er ihn noch zuverlässig im Zaum halten konnte. Also wollte er ihm und auch sich selbst schnellstmöglich die dringend benötigte Bewegung zukommen lassen.

In der Eingangshalle lief Lukas an ihm vorbei. Als er Aiden bemerkte, hielt er in der Bewegung inne, sah ihm einen Moment lang nach und begann dann nach kurzem Zögern die Verfolgung aufzunehmen.

In Aiden stieg Panik hoch. Egal was Lukas jetzt von ihm wollte, es würde emotional belastend für ihn sein und diese Kapazitäten hatte Aiden im Moment einfach nicht. Reel zu bändigen war auch so schon herausfordernd genug und die Halle war voller Schüler. Wenn er hier einem emotionalen Breakdown erlitt, würde das in einer Katastrophe für alle Anwesenden enden.

Also tat Aiden, was er in letzter Zeit meistens mit seinen Problemen tat – er lief vor ihnen davon.

Wie von der Tarantel gestochen flüchtete er aus der großen Haupttür hinaus auf den Campus und in den Wald hinein. Und tatsächlich schaffte er es Lukas – Sportskanone Lukas! – abzuhängen.

Leider hatte ihm dieser Zwischenfall dennoch das Training versaut.

Aiden konnte nicht so richtig abschalten. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Lukas. Was hatte er von Aiden gewollt? Eine weitere Standpauke? Ein Friedensangebot? Vermutlich wollte er wissen, warum er und Sophie zusammen im Wald waren.

Sophie. Sie hatte Lukas geküsst. Aiden war so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, das ihm gar nicht aufgefallen war, dass sein bester Freund jetzt eine feste Freundin hatte.

Schuldgefühle machten sich erneut in Aiden breit.

„Ich bin vor Lukas weggelaufen. Kann man noch kindischer und erbärmlicher reagieren?“

Und noch ehe Aiden seinen Gedanken weiter nachhängen konnte, blieb er mit der Schuhspitze an einem Ast hängen, kam ins straucheln und schlug sich schließlich schmerzhaft das Knie auf.

Resigniert betrachtete er sein malträtiertes Bein um das sich bereits Reels Schatten vorsichtig zu wickeln begann.

Aiden war zum Heulen zumute, also blieb er einfach auf dem feuchten Waldboden sitzen und ließ seine Stirn auf die Knie sinken, während die schwarzen Partikel sich schützend um ihn wanden.

Er hatte heute einfach nicht die nötigen Kapazitäten um mit all den kleinen Katastrophen umgehen zu können, die ihn heute immer wieder quälten. Aber er riss sich zusammen, klopfte sich den Dreck ab und führt seinen Weg – wenn auch etwas vorsichtiger – unbeirrt fort.
 

Als er später wieder zum Internat zurück trottete, blieb das beruhigende Gefühl, dass ihn sonst nach dem Training immer erfüllte, leider aus.

Und zu allem Überfluss wartete am Waldrand auch noch Lukas auf ihn. Heute war wohl wirklich nicht sein Tag.

Jetzt hatte Aiden keine Möglichkeit zur Flucht mehr und würde sich ihm stellen müssen.

Also atmete er einmal tief durch, rief sich selbst und Reel zur Ordnung und versiegelte seine Gefühle so gut er konnte in einem mentalen Eisblock.

Dann trat er in Lukas´ Sichtfeld.
 

„Sprich endlich mit mir!“, eröffnete Lukas sofort eindringlich das Gespräch. Er hatte es endgültig satt der Dumme zu sein, dem niemand etwas sagte und der von nichts wusste. „Warum schließt du mich aus? Ich hab dich nie hängen lassen und dir nie einen Anlass gegeben zu glauben, du könntest mir nicht vertrauen. Warum redest du mit gefühlt jedem außer mir?

Das ist nicht fair von dir! Wir sind Freunde und ich will dir helfen.“ Seine Stimme zitterte leicht und Aiden konnte erkennen, dass seine Augen glasig wurden. Die ganze Sache schien ihm wirklich nah zu gehen. „Ich verstehe ja, dass du grade eine harte Zeit durchmachst, aber verdammt nochmal Aiden, rede mit mir!“

Es tat Aiden in der Seele weh Lukas so zu sehen, doch er wusste einfach keine Alternative ohne ihn in Gefahr zu bringen. Und leider konnte Aiden sich auch nicht so recht auf das Gespräch konzentrieren. Auch für ihn war das hier eine emotionale Situation und Reels Schatten reagierte heftig darauf. Es verlangte Aiden eine Menge ab seinen Dämon jetzt zu bändigen und das obwohl er nach ihrem Training immer etwas zahmer war.

„Hörst du mir überhaupt richtig zu? Sieh mich gefälligst an!“

Einen Moment lang biss Aiden sich auf die Unterlippe um sich selbst und auch Reel zu beruhigen, dann begann er doch zu sprechen.

„Das hat nichts mit dir zu tun. Ich will dich nicht in Gefahr bringen, okay? Die ganze Sache ist auch so schon schwer genug und das Sophie nun mit in das Ganze verwickelt wurde, wollte ich eigentlich auch nicht.“ Jetzt platzte Lukas der Kragen.

„Wenn die Nummer zu gefährlich für MICH ist, dann solltest du meine Sophie da erst recht raus halten! Wenn ihr wegen dir etwas passiert, dann schwöre ich dir, dass egal wovor du momentan solche Angst hast, es wird nichts sein im Vergleich zu mir!“ Lukas schluckte seine Tränen sichtbar runter.

Er war zu tiefst verletzt von Aidens Verhalten und er ließ ihn seinen angestauten Frust nun deutlich spüren. „Und mal ganz abgesehen davon: Was glaubst du denn wie ich mich fühle, wenn mein angeblich bester Freund und meine feste Freundin Geheimnisse vor mir haben und egal was ich versuche, keiner von beiden mir auch nur ein Sterbenswörtchen sagt?

Das ist mehr als unfair von dir!

Ich geb´s auf! Mir reicht´s! Mach doch was du willst, du Freak!“ Und mit diesen Worten und zusammengebissenen Zähnen stapfte Lukas davon. In Aidens Kopf hallte sein letztes Wort schmerzhaft wider. Freak.

Energisch schüttelte er den Kopf. Er durfte nicht daran denken. Es war hier immer möglich, dass jemand Neugieriges von der lautstarken Auseinandersetzung angelockt worden war und nachsehen kam.

Also durfte Aiden jetzt nicht die Fassung und damit die Kontrolle über Reel verlieren. Ein paar mal atmete er tief durch, dann lief er möglichst ungerührt zu seinem Zimmer zurück.

Aiden stellte sich vor er sei in einem Eisblock eingefroren. Eine kalte Hülle, die die Außenwelt von ihm abschirmte und ihn unbeschadet alles überstehen ließ. Ein wenig wie Avatar Aang.

Dieses mentale Bild hatte sich als besonders wirksam erwiesen, wenn Aiden sich von seinen Emotionen abschotten musste. Und so fror er sich selbst ein und lief emotionslos an seinen Mitschülern vorbei durch die Flure bis zu seiner Zimmertür.

Erst als diese mit einem dumpfen Klack hinter ihm ins Schloss fiel, taute seine Eissphäre wieder auf.

Schwerfällig ließ er sich aufs Bett fallen und hörte auf Reels instinktive Seite zurückzuhalten. Er war so furchtbar müde und erschöpft – nicht nur körperlich, sondern vor allem seelisch.

Seine Einsamkeit machte ihm eh schon zu schaffen und der erneute Streit mit Lukas hatte ihm einfach den Rest gegeben. Er wollte nicht mehr. Ihm war das alles zu viel.

Hilflos kauerte er sich auf seinem Bett zusammen und ließ sich von dem vertrauten Schwarz einhüllen, während er in einen unruhigen Halbschlaf verfiel.
 

Plötzlich spürte Aiden eine seltsame Regung in sich. Zunächst konnte er sie nicht so recht einordnen, doch dann wurde ihm schlagartig klar, woher er dieses Gefühl kannte.

Es war Reel. Nicht nur seine animalische Seite, sondern auch sein menschliches Bewusstsein. Der komplette Reel.

Aiden saß sofort kerzengerade im Bett während die Partikel, die Aiden inzwischen so vertraut wie seine eigenen Gliedmaßen waren, sich zu der Gestalt seines geliebten Todesengels formten.

In Aidens Augen bildeten sich kleine Freudentränen und noch ehe er einen Muskel rühren konnte, fiel ihm Reel auch schon stürmisch um den Hals.

„Du lebst noch. Valefar sei dank, du lebst noch.“ Reel drückte den kleineren Körper so eng an sich, dass dessen Besitzer die Luft weg blieb, doch das war im Moment beiden egal.

Auch Aiden schlang seine Arme um den sehnigen Körper, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte, und krallte sich mit aller Macht daran fest.

Irgendwann wanderten die filigranen Finger seines Dämons hoch zu Aidens Wangen und die roten Augen fixierten das Gesicht vor ihnen. Reels Daumen strichen zärtlich über seine Wangen, während er seine Stirn an die seines Liebsten legte.

„Ich hatte solche Angst um dich, Sunshine.“ Bei diesem Spitznamen machte Aidens Herz einen fröhlichen Hüpfer. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er dessen Klang vermisst hatte.

„Du hast mir gefehlt“, hauchte Aiden mit tränen-erstickter Stimme und schenkte Reel schließlich einen Kuss, in den er all die Sehnsucht legte, die er in der vergangenen Zeit angesammelt hatte. Dann ließ er sich glücklich in Reels Arme sinken und sog seinen warmen Geruch tief in seine Lunge.

Er konnte deutlich spüren, wie eine schwere Last von ihm abfiel und er sich zum erstem mal seit Reels Verschwinden wieder geborgen und sicher fühlte.

Nachtigall und Lerche

Lange blieb Aiden in Reels Armen liegen, lauschte dem vertrauten Klang seines Herzschlags und klammerte sich an ihm fest. Reel hielt seinerseits seinen kleinen Sonnenschein fest und strich ihm beruhigend über Kopf und Rücken.

Aiden hatte unter seiner Abwesenheit gelitten, dass konnte Reel deutlich spüren und es tat ihm in der Seele weh sein Versprechen gebrochen und ihn allein gelassen zu haben.

Liebevoll wanderten seine Finger über Aidens Nacken und dann seine Wirbelsäule hinab, wobei Reel ein wenig stutzte. Unter seinen Fingern zeichneten sich Muskeln ab, die zuvor nicht dort gewesen waren.

„Wie lange war ich denn weg?“, flüsterte er schuldbewusst in Aidens Haaransatz. Er überlegte kurz.

„Etwa drei Monate.“ Reel schluckte schwer. Er hatte ihn ein viertel Jahr lang allein gelassen. Mit dem Wissen das Ziel eines mörderischen Magiers zu sein. Und dann auch noch die Situation, in der er ihn verlassen hatte – allein in einem fremden Land, in einem Bannkreis umgeben von durchgeknallten Fanatikern.

Entschuldigend drückte Reel den kleineren Körper in seinen Armen enger an sich.

„Es tut mir so leid. Ich hab dich einfach alleingelassen. Und dich vorher auch noch angelogen. Du hast für mich gekämpft und ich hab dich im Stich gelassen.“ Reels Stimme brach und sein eigenes Schluchzen unterbrach seine Worte. „Ich wollte nicht das das so kommt. Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht.“ Jetzt war es an Aiden seinen Liebsten zu beruhigen. Sanft wanderten seine Hände über dessen Rücken und seine Lippen zu Reels.

„Ist schon in Ordnung. Ich hatte viel Zeit um darüber nachzudenken. Ich bin dir nicht böse, aber du musst mir was versprechen.“

„Alles.“ Aiden sah fest in die roten Augen und hielt unverwandt Blickkontakt.

„Du darfst sowas nie wieder machen – mein Leben über deins stellen.

Ich bin absolut verloren ohne dich und wenn du nicht bei mir bist, erwischt mich der Magier eh früher oder später. Also mach das bitte nie wieder. Lass mich nicht nochmal allein.“

Aidens Blick ließ keinen Widerspruch zu, aber Reel hätte ihm momentan sowieso keine Bitte abschlagen können.

„Versprochen. Wir stehen das zusammen durch oder wir gehen gemeinsam beim Versuch unter.“ Besiegelt wurde dieser Pakt mit einem Kuss, gefolgt von Reels forschendem Blick, der nun zum ersten mal seit ihrer Wiedervereinigung über Aidens Körper glitt.

„Und jetzt musst du mir erzählen, wie du aus Japan zurückgekommen bist. Du scheinst ja auch ohne mich ganz gut zurecht gekommen zu sein.“ Grob umriss Aiden wie er dem Tempel und deren Bewohnern entgangen war und welche Odyssee er durchgestanden hatte um sein Verschwinden zu rechtfertigen.

„Shizuka meinte, du hättest mir bei dem Exorzismus das Leben gerettet und das meine Seele nur noch von dir zusammengehalten wird.“ Reel sah schuldbewusst zur Seite.

„Ich wollte dich nicht gehen lassen. Du hast mich festgehalten und dabei deine eigene Seele zerstört, da konnte ich dich doch nicht einfach gehen lassen.

Ich habe keine Ahnung was das für Folgen für dich haben wird. Ich hab dich verdorben und das kann ich nie wieder gutmachen.“ Schuldgefühle machten sich in Reel breit und verbaten es ihm seinem Liebsten in die Augen zu sehen, doch Aiden hatte sich allem Anschein nach wirklich ein Beispiel an seinem Dämon genommen, denn nun war er es, der Reel sanft unters Kinn griff und ihn auf diese Weise liebevoll zum Blickkontakt zwang.

„Ist schon okay so. Ich glaube, dass genau das mir schon ein paar mal das Leben gerettet hat.“ Reel stutzte. „Ich muss dir was zeigen.“

Aiden streckte seine Hand nach dem lebendigen Schatten aus und rief ihn mental zu sich. Sofort kletterte die Schwärze Aidens Arm empor, umschlang seine Schultern und beugte sich folgsam Aidens Willen.

Reels Augen weiteten sich. Überraschung, Stolz und Sorge mischten sich in seinem Blick. Testweise rief er seinen Schatten wieder zu sich, der seinem Willen sofort gehorchte. Die Kontrolle lag also hauptsächlich bei Reel, aber wenn er sich nicht bewusst dagegen zur Wehr setzte, konnte auch Aiden ihn steuern.

„Du bist absolut unglaublich“, hauchte Reel, während er seinen Schatten wieder auf Aiden überspringen ließ. Er löste sich nicht vollständig von Reel – das war auch gar nicht möglich, schließlich waren diese Partikel ein Teil von ihm – aber er fühlte sich ganz offensichtlich zu Aiden hingezogen. „Jeder normale Mensch würde in Panik verfallen, wenn ihm plötzlich dämonische Mächte folgen.“ Reels Gedanken rasten. Ihm bereitete diese Entwicklung mehr Sorgen als er Aiden gegenüber zugeben wollte. Eine dämonische Korruption bleib nie folgenlos, aber wie genau diese Folgen aussehen würden, konnte er nicht abschätzen.

„Ich bin ja auch nicht normal. Dafür liebst du mich schließlich.

Außerdem war dein Schatten sonst nicht so brav wie jetzt.“

„Natürlich nicht. Ich war ja nicht da, um meine Instinkte bewusst im Zaum zu halten. Es grenzt an ein Wunder, dass du ihn überhaupt bändigen konntest. Eigentlich würde sich eine rein dämonische Macht niemals einem einfachen Menschen unterwerfen, aber du scheinst es irgendwie geschafft zu haben.“

„Vielleicht weil du mich liebst.“

„Möglich. Vielleicht liegt es auch an dem Stück meiner Seele, dass jetzt zu dir gehört. Vielleicht ist aber auch einfach dein Geruch und deine Stimme inzwischen so eng mit dem Wunsch dich zu beschützen verknüpft, dass er sich sogar auf instinktgesteuerter Ebene manifestiert“, überlegte Reel laut. „Wenn dir sonst noch etwas auffällt, dann musst du mir das sofort sagen, okay?

Die Veränderung einer Seele ist keine Kleinigkeit. Sowas hab ich noch nie gemacht und es kommt normalerweise auch nicht vor.“ Eindringlich sah er Aiden an und sprach erst weiter als der seine Worte mit einem Nicken bestätigte. „Du bist echt was besonderes.

Und du hast allem Anschein nach nicht nur mich sondern auch meine Natur ziemlich gut im Griff, Sunshine“, flüsterte Reel ihm verschwörerisch ins Ohr und hinterließ einen zärtlichen Biss an diesem.

„Ich hab dich vermisst“, hauchte Aiden genießerisch und zog Reel näher zu sich.

„Sieht aus, als hätte ich dich in mehr als nur einem Sinne verdorben“, grinste Reel und zeigte Aiden seine gefährlichen Reißzähne.

Neugierig ließ er seine Hände über Aidens neuerdings muskulöse Schultern und Brust wandern.

„Gefällt´s dir?“, fragte Aiden zögerlich und beobachtete Reels flinke Finger.

„Du hast mir auch vorher schon gefallen. Ich liebe dich in einem zierlichen Körper und auch in diesem Körper.“ Enttäuschung fand ihren Weg auf Aidens Gesicht.

„Ich hatte gehofft es gefällt dir.“ Vorsichtig legte Reel seine Hände an Aidens Wangen und sah ihm eindringlich in die Augen.

„Tut es ja auch. Aber bei dir war auch vorher alles perfekt.

Jetzt mach ich mir allerdings nicht mehr ganz so viele Sorgen um dich, falls dich das tröstet.“ Aufmunternd schenkte er ihm einen Kuss und zauberte Aiden dadurch wieder ein Lächeln auf die Lippen.

„Na dann war es ja wenigstens nicht umsonst.“

„Das so wie so nicht. Jetzt stellst du auf jeden Fall eine größere Herausforderung dar, wenn ich dich wieder ärgern will.“ Ein verspieltes Grinsen zeichnete sich auf Reels Lippen ab und im nächsten Moment wanderten seine Finger auch schon unter Aidens Shirt und erkundeten die Ergebnisse von dessen Training.

Willig machte Aiden es sich auf Reels Schoß bequem, verschränkte seine Arme in dessen Nacken und schmiegte sich genießerisch an ihn.

„Lass mich nie wieder so lange alleine.“ Aidens Stimme klang leise und verletzlich, was Reel in seinem sündhaften Tun innehalten ließ. Schnell wich das schelmische Grinsen einem sanfteren Ausdruck und Reels Arme schlossen sich schützend um Aidens Körper.

„Nie wieder. Versprochen.“

Bei Aiden hatten die vergangenen drei Monate tiefe Wunden hinterlassen, die er nicht so einfach abschütteln konnte, und Reel akzeptierte das.

Sein Liebster hatte sich allein durchschlagen und mit der Ungewissheit leben müssen, ob Reel je wieder zu ihm zurückkehren würde. Für Reel war das alles leichter gewesen. Er hatte lediglich das Bewusstsein verloren und nur im Moment seines Aufwachens für wenige Sekunden mit der bewussten Angst kämpfen müssen, Aiden vielleicht getötet zu haben und nun an ein neues Opfer gebunden zu sein.

„Jetzt bin ich wieder da und du wirst mich nicht mehr los. Ganz bestimmt nicht.“ Tröstend strichen Reels schlanke Finger durch die braunen Haare und während er leise auf ihn einredete, wickelte sich auch Reels Schatten ein Stück weit um Aidens Körper.
 

„Ich muss dir übrigens noch was gestehen“, kam es nach einer Weile von Aiden. „Ich hab jemandem von dir erzählt. Es tut mir wirklich leid. Ich weiß wir wollten das zusammen entscheiden, aber ich hatte keine Wahl und...“

„Ist schon okay“, versuchte Reel Aiden zu beruhigen. „Ich war ja nicht da und ich weiß, dass du das nicht leichtfertig entschieden hast.

Wem hast du´s erzählt? Lukas?“ Reel hoffte inständig, dass es nicht Lukas war. Er hatte nichts gegen den Jungen, aber er mochte ihn eben auch nicht besonders.

„Nein. Sophie.“ Reel stutzte.

„Sophie? Die beste Freundin der kleinen vielleicht-Hexe? Wieso das denn?“ Reel gab sich Mühe nicht zu vorwurfsvoll zu klingen, doch es misslang ihm kläglich.

„Tut mir leid. Ich weiß wie das klingt, aber lass mich erklären.“ Dann umriss Aiden für seinen Dämon kurz die Umstände der Allianz mit Sophie und das Problem mit den Schutzzeichen.

„Oh man. Da haben wir uns ja echt in eine Misere rein manövriert.“ Reel seufzte schwer und massierte sich das Nasenbein mit Daumen und Zeigefinger. „Aber das kriegen wir schon irgendwie hin. Ich lass nicht zu, dass dir was passiert.“ Instinktiv umschlang Reels Schatten sie beide nun fast vollständig und hüllte sie in ihre eigene kleine Welt aus vertrauter Schwärze.

„Magst du mir eins dieser Zeichen mal zeigen? Ich würde gerne wissen womit wir es zu tun haben.“ Aiden nickte.

„Aber nicht mehr heute. Heute lass ich dich nicht mehr los. Und morgen vielleicht auch nicht.“ Reel konnte sein Schmunzeln nicht unterdrücken.

„Du nimmst dir mich viel zu sehr zum Vorbild. Aber ist schon gut. Ich bleib bei dir.“
 

Und das waren nicht nur leere Worte. Aiden verbrachte den restlichen Abend sicher und geborgen in Reels Schoß, der wiederum nicht die Hände von seinem geliebten, kleinen Sunshine lassen konnte.

Aber auch Aidens Küsse und Zuneigungsbekundungen konnten nicht das Nagen in Reels Gedanken verstummen lassen. Er hatte keine Ahnung ob und was für Spätfolgen es haben würde, dass er Aidens Seele verdorben hatte. Dass er seinen Schatten kontrollieren konnte war schon mal ein schlechtes Zeichen. Wenn ein Mensch dämonische Mächte beherrschen konnte, hieß das dass dieser Mensch eine Grenze überschritten hatte, von der er nie wieder zurückkehren konnte. Egal wie sehr er Aiden liebte, seiner Macht war das gleich und sie wird seinen Geist beeinflussen – genau wie sie es bei Reel selbst tat.

Die ganze Nacht drehten sich seine Gedanken im Kreis und beschworen Szenario um Szenario herauf – jedes katastrophaler als das vorherige.

Aiden hingegen schien sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Er war irgendwann auf Reels Brust eingeschlafen. Die Arme eng um dessen Körper geschlungen und das Gesicht in seinem schwarzen Oberteil vergraben, lag er selig wie ein Engel in Reels Armen und ließ sich von ihm über den Rücken streichen.

„Ganz egal was passiert, ich bleib an deiner Seite“, flüsterte der Dämon zärtlich in den braunen Haaransatz und sog den vertrauten Geruch tief ein.
 

Als Aiden am nächsten Morgen die Augen aufschlug, musste er mehrfach energisch blinzeln um sich zu vergewissern, dass er den letzten Abend nicht doch nur geträumt hatte. Doch Reel war wirklich genau da wo er sein sollte – in seinem Bett.

Erleichtert kuschelte er sich enger an seinen geliebten Dämon und konzentrierte sich auf dessen sanfte Berührungen.

Die vergangenen drei Monate hatte er sich leer und unvollständig gefühlt. Er hatte schlecht geschlafen und stand ununterbrochen unter Strom, aber jetzt war all das von ihm abgefallen. Jetzt war alles wieder gut.

„Gut geschlafen, Sunshine?“, begrüßte ihn die vertraute Stimme, deren Klang er so sehr vermisst hatte. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen richtete Aiden sich auf und schenkte Reel einen langen Kuss.

„Jap. So gut wie seit Monaten nicht mehr.“ Aiden strahlte ihn an und Reel verschob all seine Sorgen bezüglich der Seelenspaltung auf ein anderes mal. Er konnte daran jetzt eh nichts ändern und die Katastrophen würden schon früh genug ihren Weg zu ihnen finden. Das taten sie schließlich immer.

Stattdessen gab er sich jetzt Aiden hin und ließ es sich nicht nehmen ausgiebig mit ihm zu kuscheln bevor sie das Bett endlich verließen. Schließlich gab es da noch ein paar magische Siegel die begutachtet werden mussten.
 

Mit neuem Selbstbewusstsein und altem Dämon trat Aiden in den Flur und sah sich um. Tatsächlich musste er nicht lange suchen und deutete nur wenig später mit unschlüssiger Miene auf eine der Wände.

„Ich sehe was du meinst“, bestätigte ihm Reel. „Es wundert mich allerdings das du das Zeichen sehen kannst.“

„Sollte ich das nicht?“

„Nein, eigentlich können nur Lebewesen, denen magische Energie innewohnt, sie wahrnehmen. Selbst wenn du meiner Macht ausgesetzt bist, solltest du sie nicht sehen können.“

„Also noch eine Nebenwirkung von dem Exorzismus?“

„Vermutlich“, knurrte Reels mit zusammengebissenen Zähnen. Ihm gefiel das ganz und gar nicht. „Kannst du etwas näher ran gehen?“ Aiden zögerte.

„Wenn ich das mache, tut es weh und dein Schatten kommt raus.“

„Nein, wird er nicht. Du hattest nur solche Probleme, weil ich nicht da war um ihn im Zaum zu halten. Mir ging es anfangs genauso.“ In Aiden wurde eine Erinnerung getriggert. Der Schatten, der ihn die letzten 3 Monate lang so gewissenhaft behütet hatte, war die gleiche Macht, die vor so langer Zeit Nathaniël das Leben geraubt hatte. So langsam konnte er Reels Sorge doch nachvollziehen.

Trotzdem machte er nun einen zögerlichen Schritt nach vorn und spürte wie ihn schwach der bekannte Schmerz zu durchziehen begann.

Der Schatten blieb jedoch verborgen.

Schnell wich Aiden wieder zurück und lauschte Reels Urteil.

„Das hab ich mir doch gedacht. Das wird dir nicht gefallen, Sunshine.“ Aiden lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand gegenüber des Zeichens und starrte selbiges finster an während Reel zu erklären begann: „Dir ist es vielleicht auch schon aufgefallen, diese spezielle Art von Schmerz ist uns nicht neu.“ Er wartete und Aiden seufzte geschlagen.

„Nein, ist sie nicht. Es fühlt sich genauso an, wie bei dem Armband von Mara. Bitte sag mir, dass das nur daran liegt, dass es die gleiche Art von Magie ist. Es sind ja beides Abwehrzauber gegen Dämonen.“

„Jein. So einfach ist das nicht. Magie ist wie ein Fingerabdruck. Sie ist einzigartig bei jedem, der sie besitzt. So ausgeprägt, dass ich einen Magier an seiner Signatur erkennen könnte, ist mein Gespür zwar nicht, aber ich erkenne ob angewandte Magie von Magiern des gleichen Zirkels stammt oder nicht.“

„Zirkel?“, fragte Aiden etwas irritiert nach.

„Die meisten Hexen und Hexer schließen sich zu Zirkeln zusammen. Jeder Zirkel hat seine eigenen Regeln, Grundsätze und Art der Magie-anwendung. Dadurch, dass alle Mitglieder eines Zirkels das Zaubern auf die gleiche Art und Weise gelehrt bekommen, ähnelen sich ihre magischen Signaturen.“

„Darum fühlte sich der Exorzismus so anders“, bemerkte Aiden plötzlich.

„Genau. Die Exorzisten haben eine völlig andere Einstellung zur Magie und wenden sie grundlegend anders an. Daher unterscheidet sich ihre Signatur so stark, dass selbst du den Unterschied spüren konntest.“

„Das bedeutet, dass die Person, die die Siegel in der Schule anbringt, zum gleichen Zirkel gehört wie die Person von der Mara das Armband hatte.“ Reel seufzte genervt und schluckte seinen aufkeimenden Zorn runter.

„Oder, dass das Mädchen und der Beschwörer unter einer Decke – oder zumindest im selben Zirkel – stecken.“ Aiden wusste, dass Reels Vermutung Mara betreffend nicht unbegründet war trotzdem versetzte es ihm einen leichten Stich. Von allen Menschen an dieser Schule war Mara abgesehen von Lukas und Sophie diejenige, der er am wenigsten einen Mordanschlag zutraute.

Andererseits würde vermutlich auch niemand Aiden zutrauen einen rachsüchtigen Dämon in seinem Körper zu tragen. (Wobei sich das innerhalb der letzten 3 Monate auch geändert haben könnte.)

„Wie dem auch sei“, holte Reel ihn wieder in die Realität zurück. „Ziehen wir keine vorschnellen Schlüsse. Am besten behalten wir die ganze Sache im Auge und finden schnellstmöglich eine Lösung für das Problem.

Mein Beschwörer scheint unruhig zu werden, weil du ihm immer wieder entwischst. Er – oder sie – wird immer unvorsichtiger und könnte bald einen Fehler machen, der sie verrät.“

„Oder ihn“, ergänzte Aiden reflexartig und erntete ein resigniertes Seufzen von Reel.

„Ja. Oder ihn. In jedem Fall müssen wir vorsichtig sein.

Gegen die Schmerzen kann ich nichts machen, aber mit meinem Schatten solltest du nicht mehr zu kämpfen haben, solange du dich nicht direkt in so ein Zeichen reinstellst.

Das gibt uns ein bisschen mehr Handlungsspielraum.“ Aiden nickte stumm.

„Wir sollten auch mit Sophie reden. Ohne sie hätte ich schon so ein ums andere mal ziemlich in der Klemme gesteckt.“ Er konnte seinen Dämon mit den Zähnen knirschen spüren.

„Bei der Gelegenheit kann ich ihr gleich klar machen, was passiert wenn sie uns verrät. Und vielleicht erfahren wir von ihr ja auch was interessantes über das Mädchen.“ Aiden seufzte schwer.

„Du nennst Mara wirklich nicht gerne beim Namen, oder?“

„Hm?“

„Ist ja auch egal. Versprich mir nur, dass du dich Sophie gegenüber benimmst. Ich bin ihr echt was schuldig.“ Aiden konnte Reel zwar nicht sehen, aber er spürte ganz genau wie er ein herausforderndes Grinsen aufsetzte.

„Du hast doch nicht behauptet, dass du mich kontrollieren könntest, oder?“

„Nein?“

„Na dann lass mich doch ein bisschen Spaß haben.“

Alte Gewohnheiten (Zensiert)

Im Augenwinkel sah Aiden plötzlich zwei Mitschüler auf sich zukommen, die sich angeregt unterhielten. Als sie Aiden bemerkten verlangsamten sie ihren Schritt und warfen ihm argwöhnische Blicke zu, nur um dann doch flink an ihm vorbei und in das nächste Zimmer zu huschen.

„Was war das denn?“, fragte Reel irritiert. „Was hast du denn angestellt, während ich weg war?“

„Sagen wir´s mal so: meinem Sozialleben hat´s nicht gut getan.“ Flüchtig und betont gleichgültig umriss Aiden seine momentane Situation an der Schule, während er wieder in sein Zimmer zurück trottete.

„Tut mir leid“, kam es kleinlaut von Reel, als sie wieder unter sich waren und er sich von Aidens Körper lösen konnte. „Ich hab dich nicht nur allein gelassen, ich hab auch dafür gesorgt, dass du niemand anderen mehr hast, an den du dich wenden kannst.“ Schuldbewusst biss er sich auf die Unterlippe.

Ein schiefes Schmunzeln schlich sich auf Aidens Lippen, während er Reels Hände nahm und ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mundwinkel hauchte.

„Was ist denn los mit dir? So reumütig kenne ich dich ja gar nicht“, versuchte er die Situation ein wenig aufzulockern. „Es ist ja nicht deine Schuld, dass ein mordlüsterner Magier versucht mich um jeden Preis umzubringen und dabei auch Unschuldige mit reinzieht.

Mach dir keine Sorgen. Jetzt bist du ja wieder da. Jetzt ist alles wieder gut.“

Und mit diesen Worten ließ er sich vertrauensvoll in Reels Arme sinken und kuschelte sich an seine warme Brust. Mit einem beruhigten Seufzen vergrub Reel sein Gesicht in Aidens Haaren.
 

„Lass uns noch ein bisschen raus gehen“, nuschelte Aiden irgendwann gegen Reels Brust und löste sich ein Stück weit von ihm. „Ich will wieder mit dir trainieren.“ Reel konnte ein wissendes Grinsen nicht unterdrücken.

„Du willst mir doch nur zeigen, was ich alles verpasst habe und wie gut du mich inzwischen übertreffen kannst“, witzelte Reel und Aiden begann tatsächlich ertappt an seinem Shirtsaum zu nesteln.

„So weit, dass ich einen Dämon übertreffen könnte, bin ich noch nicht. Aber ich bin besser geworden und ich will, dass du das weißt.

Ich bin nicht mehr so schwach wie vorher, also brauchst du dir nicht mehr so viele Sorgen um mich zu machen.“ Ehe Aiden es sich versah hauchte Reel ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange und zog ihn wieder an sich.

„Ich mach mir IMMER Sorgen um dich. Das gehört halt einfach dazu. Du machst dir schließlich auch ständig Gedanken um mich.“

„Bei dir ist das auch nötig“, konterte Aiden frech und grinste seinen Dämon herausfordernd an.

„Ey! Dir ging´s wohl zu gut, während ich weg war.“ Sofort erstarb Aidens Lächeln.

„Nein. Mir ging gar nicht gut, während du weg warst.“

„Sunshine, tut mir leid. So war das nicht gemeint. Das war unsensibel von mir. Entschuldige bitte.“ Aiden barg sein Gesicht an Reels Schulter und schüttelte nur kurz den Kopf.

„Schon gut. Ich weiß. Es... nimmt mich nur immer noch ziemlich mit.“

„Ich passe ab jetzt besser auf. Versprochen.“ Aiden schenkte ihm ein besänftigendes Lächeln und einen Kuss, bevor er sich wieder von seinem Dämon löste und in seine Sportsachen schlüpfte.

„Darf ich?“, fragte Reel ihn als er grade seinen Dolch anlegen wollte.

Bereitwillig händigte Aiden ihm die Klinge und deren Halterung aus, wand ihm den Rücken zu und zog sein Shirt nach oben.

Zärtlich zurrten Reels schlanke Finger die Riemen fest um Aidens Taille und Schulter, bevor sie noch einmal liebkosend über die zarte Haut wanderten.

Schließlich zog er Aidens Shirt wieder zurecht. Jedoch nicht ohne noch einen frechen Kuss auf seinem Nacken zu platzieren.

„Meins“, flüsterte Reel verschwörerisch, während er über das Fluchmal strich und anschließend in diesem verschwand.

„Ich hab dich wirklich vermisst“, kam Aidens ebenfalls geflüsterte Antwort, bevor er sich seine Trainingsjacke und ein Handtuch schnappte, und sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf den Weg in den Wald machte.
 

Während sie die Gänge des Internats durchquerten, fielen Reel tatsächlich erstaunlich viele dieser lästigen Bannzeichen auf. Sie waren in verschieden Größen an allen möglichen Orten verteilt worden. Zumeist strategisch clever gegenüber von Türen oder in der Nähe von Kreuzungen, wie Reel bemerkte.

Doch das war nicht das einzige, was sich seit seinem unfreiwilligen Koma verändert hatte.

„Warum starren die dich denn alle so verwirrt an?“, fragte er zaghaft und in der Hoffnung nicht wieder unsensibel zu sein.

„Hm? Ich schätze, die sind es nicht gewohnt mich mit so guter Laute zu sehen. Die neuen Schüler kennen mich ja nur mit meinem 'lass mich in Ruhe'-Gesicht.“ Zu Reels Erleichterung schien Aiden diesen Umstand mit Humor zu nehmen und so erreichten sie den Wald ohne weitere Zwischenfälle.
 

Sobald sie unter dem dichten Blätterdach verschwanden und vor den Blicken neugieriger Augen verborgen waren, materialisierte sich Reel neben Aiden und nahm ihn bei der Hand.

Mit ineinander verschränkten Fingern spazierten sie zu der Lichtung, die immer wieder für ihr Training herhalten musste.

„Du warst ja wirklich fleißig“, stellte Reel mit einem Blick auf den malträtierten Baum fest, den Aiden in den letzten 3 Monaten fast täglich als Ziel für seinen Dolch missbraucht hatte.

„Als ob dir das nicht schon aufgefallen ist als du mich gestern den ganzen Abend über so schamlos begrabscht hast“, kam es belustigt von Aiden und entlockte Reel ein ertapptes Lachen.

„Tu jetzt bloß nicht so, als hätte es dir nicht gefallen.“

Aiden nahm die Körperhaltung ein, die Reel ihm bei seinem kleinen Selbstverteidigungskurs beigebracht hatte, und grinste ihn herausfordernd an. „Na gut. Dann spielen wir eben so. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, verkündete Reel bevor er ebenfalls in Position ging und begann seine geliebte Sonne lauernd zu umkreisen.

Aiden war von Reels Wiederkehr nahezu beflügelt. Selbstbewusst stürzte er auf ihn los, machte einen Ausfallschritt zur Seite und startete seinen ersten Angriff. Problemlos wich Reel ihm aus und drehte sich geschickt aus Aidens Reichweite.

„Na na na. Das kannst du doch bestimmt besser. Neuer Versuch“, stachelte Reel seinen Schützling an, der dieser Aufforderung ohne langes Zögern nachkam. So schnell sein Körper es ihm erlaubte, vollführte Aiden eine Finte zu Reels linker Seite, um dann von rechts zuzuschlagen. Doch auch dieser Angriff wurde abgewehrt und ehe Aiden es sich versah, bemächtigte Reel sich seines Handgelenks, schritt hinter ihn und klemmte den kleineren Aiden schließlich zwischen seinem Arm und seiner Brust ein.

„Du hast dir gemerkt, das links meine starke Seite ist und hast deshalb von meiner Rechten aus angegriffen. Sehr clever“, lobte Reel anerkennend. „Aber zu übermütig bist du trotzdem.“ Reel untermalte seine Aussage mit einem zärtlichen Biss in Aidens Ohr, an das er in dieser Position ganz hervorragend herankam.

Doch dabei wurde er auch unaufmerksam und Aiden wusste das.

Geschickt nutzte er die sich bietende Gelegenheit, duckte sich unter Reels Arm hinweg, drehte sein Handgelenk aus dessen Griff und wand sich schließlich gänzlich aus dessen Umklammerung.

Verdutzt blickten die roten Augen zwischen Aiden und der Distanz, die er zwischen sie gebracht hatte, hin und her, während sich auf Aidens Gesicht Triumph manifestierte.
 

„Du hast heimlich geübt“, warf Reel ihm entrüstet vor und Aiden brach in schallendes Gelächter aus.

„Was heißt hier 'heimlich'? Ich hab dir doch gesagt, ich hab trainiert. Und weil du mir nicht gezeigt hast, wie man aus Griffen um das Handgelenk entkommt, hab ich´s halt gegoogelt.“

„Na warte. Jetzt hast du die Bestie geweckt. Ich zeig dir was passiert, wenn man den Stolz eines Dämons ankratzt.“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht warf sich Reel wieder ins Kampfgeschehen. Die ersten paar Male ließ er sich noch von Aiden blocken, dann nutze er schonungslos jede noch so kleine Lücke für spielerische Angriffe und nur wenig später lag Aiden lachend am Boden.

Mit schmerzendem Zwerchfell und Lach-Tränen in den Augen versuchte er sich erfolglos gegen seinen Dämon zu wehren, der ihn gnadenlos auskitzelte.

„Das hast du jetzt davon“, postulierte Reel vergnügt, während er siegreich auf Aidens Hüften saß und ihn rücklings zu Boden drückte.

„Ich gebe auf. Ich ergebe mich.“ Aiden war völlig außer Atem, aber das vergnügte Grinsen verließ seine Lippen keine Sekunde. Es hatte schon etwas ziemlich anzügliches, wie Reel so dominant über ihm thronte und seine hungrigen Augen über seinen Körper wanderten.
 

„Du hast mich anscheinend wirklich vermisst“, stellt Reel mit einem wissenden Schmunzeln fest und Aiden wusste zunächst gar nicht so recht, was er damit meinte, bis Reel eine seiner Hände von Aidens Handgelenk löste und sie stattdessen lasziv über seinen Schritt wandern ließ.

Sofort schoss Aiden das Blut ins Gesicht und er versuchte seine Röte mit der einen nun freien Hand zu verdecken, denn die andere hielt Reel noch immer eisern in seiner Gewalt.

Reels Kehle entfuhr ein belustigtes Lachen.

„Nawww. Ist dir das etwas immer noch peinlich? Na, immerhin etwas, dass sich nicht verändert hat.“ Ungefragt schob er Aidens Arm beiseite um ihn zu küssen. Sofort entspannte der sich wieder etwas und ließ sich genießerisch auf die Küsse ein.

Sehnsüchtig glitt Reels Zunge über seine Lippen und er nahm sie bereitwillig in Empfang. Vergnügt umspielten ihre Zungen einander, so dass Aiden kaum bemerkte, wie Reel seine Hand wieder an seinem Körper hinunter und in seine Hose gleiten ließ.

Heiß stöhnte er in ihren noch immer andauernden Kuss und seine Finger vergruben sich tief in dem schwarzen Stoff von Reels Oberteil.

Dessen Lippen wanderten indes hinunter an seinen Hals und übersäten ihn mit leidenschaftlichen Liebkosungen.

Aiden stieß hörbar Luft aus und biss sich auf die Unterlippe, in dem verzweifelten Versuch sich länger zurückzuhalten. Reel hatte grade erst angefangen, doch er kam nicht wirklich dazu all zu viel mit Aiden anzustellen.

Er hörte ihn lustvoll unter sich aufstöhnen und spürte sogleich welchen Effekt seine Hand gehabt hatte.
 

„Du hast in meiner Abwesenheit wohl ziemlich Druck aufgebaut“, stellte Reel witzelnd fest und erreichte damit nur, dass Aiden sich wieder peinlich berührt hinter seinen Händen versteckte.

„Tut mir leid. Ich... du hast einfach... ach man.“ Reel unterdrückte ein amüsiertes Lachen und zog seine Hand wieder aus Aidens Hose. Gelenkig rollte er sich von Aiden und beobachtete ihn von der Seite, während er sich die Hand an dem Handtuch abwischte, das Aiden eigentlich gegen den Schweiß mitgebracht hatte.

Auffordernd hielt er es Aiden hin, als der sich endlich wieder traute sein Gesicht zu zeigen und ihn anzusehen. Beschämt versuchte er zu retten was noch zu retten war.

„Na toll. Jetzt ist die Hose hin. Wie soll ich dann jetzt wieder ins Zimmer kommen, ohne dass das jemand sieht?“ Mit einem scheltenden Blick aber einem schiefen Schmunzeln auf den Lippen sah er Reel an, doch der zog ihn einfach nur in seine Arme und drückte ihn an sich.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ich dich auch noch verloren oder dich verletzt hätte.“ Aiden schüttelte seine anfängliche Überraschung ab und schlang nun seinerseits die Arme um seinen Liebsten.

„Meins“, nuschelte er vielsagend an Reels Brust und zauberte ihm damit ein Lächeln auf die Lippen.

Als sie sich wieder voneinander lösten, sah Reel prüfend in Aidens Gesicht. Er war immer noch Aiden. Er hatte ihn nicht völlig wesensverändert durch seine dämonische Korrumption und auch die abweisende Persona, die Aiden sich in seiner Einsamkeit angeeignet hatte, war nur Fassade.

Sein Sonnenschein war immer noch der gleiche wie zuvor – nur eben ein bisschen tougher und diesen Umstand nahm Reel mit Freude hin.

Erleichtert strich er Aiden die Haare aus dem Gesicht und hauchte einen sanften Kuss auf seine Stirn.

„Du hast sie wachsen lassen“, stellte er erfreut fest, während er noch immer eine der braunen Strähnen in der Hand hielt. Ein verlegenes Lächeln huschte über Aidens Lippen.

„Ich dachte es gefällt dir vielleicht.“ Erneut konnte Reel nicht anders, als seinen Sunshine fest an sich zu drücken.

„Du bist süß.“
 

Unglücklich starrte Aiden auf seine Hose hinunter. Nachdem er endlich vom Waldboden aufgestanden war, hatte er feststellen müssen, dass auch dieser den ein oder anderen Fleck auf seiner Hose hinterlassen hatte.

„Na klasse.“

„Ach, sein doch nicht so negativ.“ Geistesgegenwärtig schnappte sich Reel Aidens Trainingsjacke und band sie ihm um die Taille.

„Nicht perfekt, aber bis ins Zimmer wird’s reichen. Außer dir starren seit neustem alle Leute, denen du begegnest, unverhohlen auf den Schritt.“

„Nein, ich glaube du bist da der einzige.“

„Ey.“ Reel zog ihn erneut spielerisch zu sich und drückte seine Lippen auf Aidens Mund.

„Ist das deine neue Strategie um mich dazu zu bringen die Klappe zu halten?“, witzelte Aiden provokant.

„Wieso? Hast du Einwände? Ich könnte dir stattdessen auch einen Dolch zwischen die Zähne stecken, wenn dir das lieber wäre.“

„Nah. Die Spielchen heben wir uns lieber fürs Schlafzimmer auf.“ Damit hatte Reel jetzt nicht gerechnet. Überrascht musterte er Aiden, der sich inzwischen aus seiner Umarmung gewunden hatte und sein Handtuch wieder einsammelte.

„Da hat wohl jemand sein Selbstbewusstsein wiedergefunden“, stellte Reel anerkennend (und durchaus ein wenig erregt) fest.

Aiden streckte ihm zur Antwort nur seine Zunge entgegen und grinste ihn frech an, bevor er seinen Dämon bei der Hand nahm und wieder zurück Richtung Internat zog.

Ihr eigentlich geplantes Training war ja nun durch ihren kleinen... Zwischenfall... frühzeitig beendet worden, also wollte Aiden schnellstmöglich zurück in sein Zimmer, duschen und frische Klamotten anziehen.
 

Als er die große Flügeltür zur Haupthalle öffnete, erhaschte er einen kurzen Blick auf seine Reflektion, die sich in deren großen Fenstern spiegelte, und musste unwillkürlich Schmunzeln.

„Du bist unmöglich“, schollt er Reel in seinem Inneren und erntete ein unschuldiges Grinsen von ihm.

„Alte Gewohnheiten legt man nur schwer ab.“ Aiden schüttelte in gespielter Resignation den Kopf und lief weiter zu seinem Zimmer – eine Hand über dem Knutschfleck, den Reel präsent an seinem Hals hinterlassen hatte.

Alte Gewohnheiten (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Timing ist alles

„Du hast wirklich Fortschritte gemacht, während ich weg war. Das hätte ich dir so gar nicht zugetraut, Sunshine.“ Aiden warf seinem Dämon einen vielsagenden Blick zu.

Reel hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht und beobachtete von dort aus, wie Aiden sich nach dem Duschen frische Sachen aus dem Schrank suchte. Unverhohlen klebten seine Augen dabei auf Aidens nacktem Oberkörper, auf dem sich sanft Muskeln zu definieren begannen.

„Um ehrlich zu sein, bin ich auch überrascht“, gab Aiden schließlich zu. „Ich bin ziemlich schnell besser geworden. Letztens hab ich sogar Lukas abgehangen, dabei war er schon immer viel schneller und ausdauernder als ich.“ Reel stutzte und auch Aiden schien so langsam zu realisieren, dass seine Leistungssteigerung doch ein wenig zu herausragend war, um nur auf ein paar Monate Training zurückzuführen zu sein.

„Komm mal kurz her.“ Aiden kam der Aufforderung nach und setzte sich noch immer ohne T-Shirt gegenüber von Reel aufs Bett.

Prüfend nahm der eine seiner Hände und begutachtete die malträtierte Handfläche und die Fingerballen, die von seinem exzessiven Dolch-Training mit Hornhaut überzogen waren.

„Wann hast du sie dir das letzte mal aufgerissen?“

„Gestern. Kurz bevor du wieder wach geworden bist.“ Skeptisch betrachtete Reel seine Hand, während er mit den Fingern sacht über die Blessuren fuhr.

„Dafür sieht´s ziemlich gut aus. Ist ungewöhnlich schnell verheilt, findest du nicht?“, frage Reel vorsichtig und in seiner Stimme schwang Sorge mit.

„Du meinst doch nicht, dass das auch eine Nebenwirkung von dem Exorzismus ist, oder?“

„Möglich wäre es. Ich hab keine Ahnung, was es mit einem Menschen macht, wenn er plötzlich einen Teil einer dämonischen Seele in sich trägt.

Im Grunde genommen, trägst du mich ja schon seit einiger Zeit mit dir rum und dein Körper ist dadurch meiner Macht ausgesetzt, aber jetzt wirkt sich all das auch ungefiltert auf dich aus.“

„Meinst du, ich werd jetzt auch zum Dämon?“

„Nein, das denke ich nicht. Zumindest nicht in nächster Zeit. Um jemanden vollständig in einen Dämon zu verwandeln muss schon mehr passieren.

Ich glaube für so einen massiven Eingriff in deine Physiologie und deine Natur bin ich gar nicht in der Lage. So mächtig bin ich nicht“, versuchte Reel ihn zu beruhigen und legte aufmunternd eine Hand an seine Wange. „Du bist ein Mensch. Das warst du vor der Seelenspaltung und das bist du auch jetzt noch. Du hast lediglich einen Dämon und dessen eigensinnige Macht an deiner Seite, die beide sehr starke Sympathien für dich hegen“, ergänzte Reel bemüht um ein Lächeln, doch Aiden schaute noch immer bedrückt drein und fachte seine Sorgen noch zusätzlich an. „Macht es dir Angst?“

„Ein wenig.“ Sofort zog Reel seine Hand zurück und wollte Abstand zwischen sie bringen doch Aiden hielt ihn geistesgegenwärtig fest. „Aber nicht vor dir! Du bist der einzige Grund, warum ich nicht schon wegen des mordenden Magiers völlig durchgedreht bin.

Vor dir hab ich keine Angst.“ Zur Bestätigung legte Aiden seine linke Hand auf Reels Schulter und rief dessen Schatten zu sich.

Sofort sprang der auf Aidens Arm über und umschlang ihn freudig. Munter kletterte die Schwärze an ihm empor und züngelte vergnügt an Aidens Wange.

Aiden schien dieses Spiel regelrecht zu genießen und ein beruhigendes Lächeln zeichnete sich auch seinen Lippen ab.

„Du bist wirklich unglaublich“, haucht Reel anerkennend und rückte wieder näher an seinen Liebsten heran.
 

Sophie saß auf einer der Bänke auf dem Campusgelände. Resigniert folgten ihre Augen Lukas, der rastlos vor ihr auf und ab lief. Die letzten 10 Minuten hatte er ununterbrochen entweder über Aiden geschimpft oder sich in Selbstzweifel gestürzt, weil er ihn beleidigt und einfach stehen gelassen hatte.

„Warum sagst du mir nicht einfach, was zur Hölle Aidens Problem ist? Dann hätte ich den ganzen Ärger ist.“ Lukas klang eher flehend als wütend und Sophie hätte ihm so gern geholfen, aber sie konnte nicht.

„Ich hab es Aiden versprochen. Und du weißt, dass ich keine Versprechen breche. Dazu lasse ich mich nicht von dir zwingen.“

„Nein, du hast ja recht. Das will ich auch gar nicht.“ Mit einem geschlagenen Seufzen ließ er sich schließlich neben seiner Freundin auf die steinerne Bank fallen. „Was soll ich denn deiner Meinung nach machen?“ Sophie überlegte kurz. Oder zumindest tat sie so. Sie hatte immerhin die letzten 10 Minuten über genügend Zeit gehabt um sich eine Lösung zu überlegen, aber sie wollte Lukas erstmal ausreden lassen.

Es war nötig, dass er sich alles von der Seele reden konnte und außerdem war es viel wahrscheinlicher, dass er ihren Rat annahm, wenn sie ihn erst auf Nachfrage preisgab und ihn nicht einfach ungewünscht dazwischen warf.

„So wie ich das sehe liegt die Hauptschuld bei Aiden. Das einzige, was du dir selbst anzukreiden hast, ist dass du ausfallend geworden bist und ihn beleidigt hast. Das war unter der Gürtellinie.“

Lukas sah bedrückt zu Boden.

„Das ist mir auch klar.“

„Also solltest du dich bei ihm dafür entschuldigen.“

„Was? ICH soll mich entschuldigen? Aber du sagtest doch grade, dass ER die Hauptschuld hat.“ Sophie seufzte. Warum mussten Männer nur immer so schwierig sein?

„Lass mich bitte ausreden.“

„Entschuldigung.“

„Also: Du entschuldigst dich bei ihm dafür, dass du ihn beleidigt hast. Damit ist dann alles, was du verbockt hast, bereinigt und niemand – auch du selbst – kann dir mehr was vorwerfen.“ Lukas rang mit sich. Es widerstrebte ihm, das er schon wieder derjenige sein sollte, der nachgab. Andererseits bräuchte er sich dann nicht mehr schuldig dafür fühlen, ausfallend geworden zu sein. Wenn ihre Freundschaft dann trotzdem zerbrach, dann ging das zu 100% auf Aidens Konto.

„Du hast recht“, verkündete er daher kleinlaut.

„Ich weiß“, kam es vergnügt von Sophie, bevor sie ihm mit einem Kuss wieder ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
 

„Mein Schatten steht dir wirklich gut“, merkte Reel mit einem Blick auf Aidens nackten, von Schwärze umschlungenen Oberkörper an und trieb ihm damit unwillkürlich das Blut in die Wangen.

„Du unverbesserlicher Lustmolch. Du denkst auch immer nur an das eine“, witzelte Aiden und bedeckte in gespieltem Entsetzen seine Blöße mit den Händen.

„Woran soll ich denn auch sonst denken, wenn du hier halbnackt vor mir auf dem Bett sitzt und mich festhältst?“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht machte Reel sich daran Aidens Arme beiseite zu schieben und der wiederum versuchte erfolglos sich spielerisch dagegen zur Wehr zu setzen, bis er durch Reels Zutun das Gleichgewicht verlor und mit einem vergnügten Quietschen nach hinten überfiel.

Schon wieder thronte Reel ganz nonchalant auf seiner Hüfte und Aiden missfiel dieser Umstand ganz und gar nicht.

Willig zog er an Reels Oberteil und der befreite sich sofort davon. Sehnsüchtig strichen Aidens Finger wieder über die lange Narbe auf Reels Brust.

„Meins“, klang es ganz unwillkürlich aus seiner Kehle und Reel konnte sein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Bestimmend suchten seine Lippen Aidens und ehe sie es sich versahen, verfielen ihre Zungen in ein stürmisches Liebesspiel.

Reel hatte Aidens Geschmack so sehr vermisst. Er hatte sich im Wald schon kaum zurückhalten können, aber jetzt konnte er endlich seinem Verlangen nachgeben.

Lüsternd wanderten seine Lippen wieder tiefer und saugten sich genussvoll an Aidens weicher Haut fest um sie mit weitere Knutschflecken und einigen zärtlichen Bissen zu schmücken.

Gierig glitt seine Zunge über Aidens Hals, hinunter über sein Schlüsselbein und umspielte dann seine Brustwarze, bevor er neben dieser einen weiteren hungrigen Biss platzierte.

Lustvoll bäumte Aidens Körper sich unter ihm auf, während er sich an dessen Hose zu schaffen machte. Warum hatte Aiden sich überhaupt die Mühe gemacht, sich eine neue anzuziehen?
 

Ein forderndes Klopfen an der Zimmertür ließ Aiden und Reel unvermittelt in ihrem Tun innehalten und beide waren davon so überrumpelt, dass sie nur wie vom Donner gerührt untätig die Tür anstarrten, die nun ohne weitere Vorwarnung einfach aufschwang.

Mit dem letzten bisschen Verstand, das Reel im Schock noch aufbringen konnte, verbarg er seinen Schatten, passte seinen Hautton und seine Zähne an und maskierte seine Augenfarbe. Diese kleinen Änderungen konnte er schneller vollziehen als seinen gesamten Körper in schwarzen Rauch aufzulösen und sich dann in Aidens Körper zu verstecken.

Und nur einen Wimpernschlag später stand die Tür gänzlich offen und gab den Blick auf einen völlig verstört dreinblickenden Lukas preis.

'Natürlich. Wer auch sonst? Der Junge hat aber auch ein beschissenes Timing', dachte Reel ganz unwillkürlich und unterdrückte mit Mühe und Not sein Knurren.

Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen stand Lukas perplex und unfähig sich zu rühren im Türrahmen. Kurz dachte er, er hätte ich im Zimmer vertan, aber der Gedanke ging so schnell wie er gekommen war.

Für ein paar unendliche Sekunden starrten sich beide Parteien einfach nur fassungslos an, bis Lukas schließlich ein paar mal schnell blinzelte und dann wie programmiert die Tür wieder schloss.

Mit leerem Kopf und gleichzeitig rasenden Gedanken machte er einige teilnahmslose Schritte durch den Flur in Richtung seines Zimmers.
 

„Verdammt! Das is jetzt nicht wahr“, fluchte Aiden und griff nach einem T-Shirt. Reel hatte sich nur resigniert von ihm runter gerollt und starrte jetzt mit seinem rachsüchtigsten Todesblick die unschuldige Zimmerdecke an.

„Warte hier“, wies Aiden ihn an und rannte dann ohne Schuhe und mit nassen Haaren Lukas hinterher, ohne auf eine Antwort zu warten. Frustriert schloss Reel die Tür hinter ihm. Verflucht. Warum hatte Aiden nicht einen Moment gewartet und ihn mitgenommen?

Was wenn ihm jetzt etwas passierte?

Was wenn der Teil von Reels Seele, der in seinem Körper steckte, rebellierte während Aiden allein war?

Aber hinterherrennen konnte er ihm auch nicht ohne weiteres. Auf dem Flur könnte er jederzeit von anderen Schülern oder Lehrern gesehen werden und dann hätte Aiden richtig Ärger am Hals.

Lukas' Zimmer war nur ein paar Räume weiter, folglich überschritten sie ihren Maximalabstand nicht. Also würde Reel wohl oder übel hier bleiben und auf Aiden warten müssen – wie ein braver, kleiner Dämon.
 

Aiden konnte noch sehen, wie Lukas' Zimmertür zu schwang. Eilig hechtete er hinterher, drückte die Klinke runter, trat ungefragt ein und schloss die Tür hinter sich.

„Lukas, ich-“

„Was war das denn? WER war das denn? Was...“ Lukas seufzte schwer und schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, Lukas. Ich hätt´s dir früher sagen sollen. Ich wusste nur nicht wie.“

„Wie wär´s mit nem einfachen 'Ich bin übrigens schwul' gewesen? Dachtest du echt, ich wäre damit nicht klargekommen?“ In Aiden machte sich ein wenig Erleichterung breit. Reel hatte es also doch noch rechtzeitig geschafft seine dämonischen Attribute zu verbergen. Na immerhin.

„Ich... Ich weiß nicht. Ich hatte einfach Angst, dass es dann komisch zwischen uns wird. Ich war mir ja auch gar nicht sicher und... also vor Reel wusste ich gar nicht... ach man...“ Aiden schlug sich die Hände vors Gesicht. Warum war er nur so blöd gewesen und hatte Reel drüben im Zimmer warten lassen? Jetzt war er ganz alleine hier und hatte keine Ahnung was er sagen sollte.

Aber da musste er jetzt durch.

„Ich versteh ja, dass dich die Trennung von Mara ziemlich mitgenommen hat – immerhin bist du seit deinem ersten Jahr in sie verknallt – aber dass du dir deswegen gleich irgendeinen zwielichtigen Typen suchst hätte ich nicht von dir erwartet.“

„So war das gar nicht. Ich...“, Aiden rang nach Worten. Schließlich seufzte Lukas einmal schwer und ließ sich auf sein Bett fallen.

„Tut mir leid. Ich sollte dir nicht so viele Vorwürfe machen. Ich hätte das einfach nur nicht von dir gedacht.“

„Ich ja auch nicht“, gab Aiden kleinlaut zu. „Aber mit Reel hat es einfach gepasst. Wir hatten zwar nicht unbedingt den besten Start miteinander, aber... naja, dank ihm weiß ich jetzt, dass ich anscheinend auch auf Männer stehe.“ Lukas zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

„Wer ist der Kerl überhaupt? Wo hast du so nen düsteren Typen kennengelernt?“

„Das ist ein bisschen komplizierter.“

„Oh man, Aiden. Du machst es dir auch nie leicht, oder?“ Lukas schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, dass sich sofort auf Aiden übertrug.

„Anscheinend nicht.“

„Aber mal ehrlich: Warum hast du´s mir nicht gesagt, sondern lieber unsere Freundschaft beendet?“

„Ich wollt´s dir nicht sagen, weil ich mir nicht sicher war, ob´s überhaupt was ernsthaftes ist oder doch nur ne Phase.“

„Du wolltest dich ausprobieren und hast den komischen Szene-Typen dafür benutzt“, folgerte Lukas mit einem wissenden Grinsen.

Aiden wollte ihm widersprechen, aber eigentlich gefiel ihm die Ausrede ganz gut, also sagte er erst mal nichts. „Mach dir nichts draus. Du bist nicht der einzige am Internat der ein kleines, schmutziges Geheimnis in Form eines Badboys hat.

Also... vielleicht bist du doch der einzige, aber ich weiß von ein paar Mädels, die da ähnliche Vorlieben haben. Man will wohl immer haben, was man nicht kriegen kann“, versuchte Lukas ihn aufzumuntern und zwinkerte ihm wissend zu. „Auch wenn die meisten Mädchen sich selten trauen ihren schlechten Einfluss mit ins Internat zu schmuggeln.“ Ungewollt blieb sein Blick an Aidens geschundenem Hals hängen, an dem er neben Knutschflecken auch ganz deutlich Bisswunden erkennen konnte.

„So schlimm ist er nun auch wieder nicht“, setzte Aiden zu einer Verteidigung an, auch wenn 'schlechter Einfluss' durchaus treffend für Reel war. „Jedenfalls wollte ich nicht, dass du davon weißt und ehe ich es so richtig gemerkt hab, hatte ich mich so sehr in Lügen und... anderen Sachen... verstrickt, dass ich es dir nicht mehr sagen konnte.

Es ist wie du gesagt hast: Es war bescheuert, dass ich unsere Freundschaft wegen sowas albernem riskiert habe. Ich hätte es dir einfach sagen sollen.“ Aiden war selbst von sich überrascht wie leicht ihm inzwischen Lügen und Halbwahrheiten über die Lippen kamen.

Am liebsten hätte er Lukas nie etwas davon erzählt. Er belog ihn ja selbst jetzt.

„Aber sag mal, Aiden. Was ist das jetzt mit dem Typen? Das ist nur ne Spielerei von dir, oder?“

„Reel und ich sind ein Paar. Es ist mir ernst mit ihm“, antwortete Aiden fast schon aus Reflex. Eigentlich wäre es cleverer gewesen zu behaupten, Reel wäre nur eine Affäre. Dann wäre die ganze Sache morgen bereits vergessen gewesen, aber Aiden brachte es nicht übers Herz ihn als Spielerei zu bezeichnen. Immerhin war er selbst lang genug nur ein Spielzeug gewesen und dieses schreckliche Gefühl wollte er Reel nicht aufbürden. Nicht mal in einer Lügengeschichte.

„Echt jetzt?“ Lukas verdrehte überrascht die Augen.

„Ja. Was ist denn so schlimm daran? Ist das jetzt etwa doch ein Problem für dich?“

„Nein. Ich frag mich nur, warum du dir ausgerechnet sowas aussuchst.“

„Was soll das denn jetzt heißen? Du kennst ihn doch gar nicht.“ So langsam wurde Aiden grantig.

„Hast ja recht. Tut mir leid. So war´s nicht gemeint.“

Lukas hatte ein ungutes Gefühl, was diesen Typen anging. Er hatte ihn nur für einen kurzen Moment gesehen, aber er hatte sofort dieses seltsame Gefühl in der Magengegend, das er auch schon in Japan gehabt hatte. Aber wie hätte der Kerl bitte von hier nach Japan und wieder zurück kommen sollen? Er war nicht mit ihnen im Flugzeug gewesen – das wäre Lukas aufgefallen – und er hatte ihn auch nur das eine mal auf der Veranda und sonst nirgends im Onsen, in der Stadt oder am Flughafen gesehen.

Also war es wohl nur Zufall.

Ganz abgesehen von der ganzen Japan-Geschichte hatte er auch seine anderen Gespräche mit Aiden nicht vergessen. Das sein bester Freund in etwas gefährliches geraten war, wusste er ja schon. Und nun kannte er auch die treibende Kraft dahinter.

Der Sache – oder eher dem Typen – würde er schon noch auf die Spur kommen.

Aber erstmal war er einfach nur heilfroh, dass Aiden wieder mit ihm sprach.
 

Aiden hingegen ohrfeigte sich innerlich für seine Schwäche. Er hätte sich nie mit Lukas versöhnen dürfen. Er hätte nie mit ihm sprechen dürfen. Verdammt, so brachte er ihn doch nur wieder in Gefahr. Aber das kleine Teufelchen auf seiner Schulter freute sich unendlich darüber seinen besten Freund zurückzuhaben – und dieses mal konnte er die Stimme der Unvernunft nicht Reel zuschreiben.

„Verdammt. Reel. Den hab ich ja völlig vergessen“, entfuhr es Aiden plötzlich. „Ich muss los. Wir reden später weiter. Bye.“ Und ehe Lukas antworten konnte, machte Aiden auf dem Absatz kehrt und verschwand aus der Tür.

Unwissenheit

Als Aiden wieder in sein Zimmer stürzte, lag Reel noch immer auf dem Bett. Erleichter schloss er die Tür hinter sich und ließ sich schwer neben ihn fallen.

„Er hat nichts gemerkt. Lukas hält dich für einen ganz normalen Menschen. Auch wenn ich glaube, dass er dich nicht besonders gut leiden kann.“

„Schön für ihn“, kam es schnippisch von Reel und Aiden sah ihn irritiert an.

„Bist du jetzt beleidigt?“

„Ja, bin ich. Ist dir eigentlich klar was grade passiert ist?“ Erst jetzt fiel ihm auf, wie müde und abgekämpft Reel aussah und mit welcher Unruhe ihn der vertraute Schatten umfing. Besorgt richtete Aiden sich auf.

„Reel! Ist alles okay? Geht´s dir nicht gut?“ Sein Dämon seufzte erschöpft und ließ sich in Aidens dargebotene Arme sinken.

„Du warst emotional aufgewühlt und mein Schatten hat darauf reagiert. Und zwar auch – oder eher ganz besonders – der Teil, der sich jetzt in deinem Körper befindet. Ich musste das Stück Seele, das du jetzt trägst, über die Entfernung kontrollieren, damit es nicht übergriffig wird.

Ich wusste gar nicht, dass das überhaupt geht, aber anscheinend bin ich trotz der Spaltung immer noch mit diesem Splitter verbunden.“

„Das hab ich gar nicht gemerkt. Es tut mir so leid, Reel. Das wollte ich nicht.“ Entschuldigend drückte er seinen Dämon an sich und strich ihm beruhigend über den Rücken.

„Das wäre nicht passiert, wenn du mich mitgenommen hättest. Wenn ich bei dir bin, kann ich deinen Splitter als Teil von mir bändigen, aber wenn du nicht direkt in meiner Nähe bist, geht das nicht so einfach.“ Reel machte eine kurze Pause. Müdigkeit, Sorge und Ärger mischten sich in seiner Stimme. „Außerdem rennt hier immer noch ein durchgeknallter Magier rum, der es auf dich abgesehen hat.

Du musst besser aufpassen. Mach doch nicht sowas unüberlegtes“, nuschelte Reel erschöpft in Aidens T-Shirt. „Ich könnte es nicht ertragen dich zu verlieren“ waren die letzten Worte, die Reel noch rausbrachte. Dann war er eingeschlafen.
 

Aiden kraulte den schlafenden Reel in seinen Armen, während seine Gedanken wild kreisten. Reel hatte sich solche Sorgen um ihn gemacht und Aiden hatte es nicht mal bemerkt. Wenn nun zwischen seinem und Lukas Zimmer ein Bannzeichen gewesen wäre, wäre er mitten hineingerannt. Oder wenn in dem Moment ein weiter Anschlag auf ihn stattgefunden hätte, dann wäre er völlig wehrlos gewesen. Er hatte nicht mal seinen Dolch dabei gehabt, ohne den er normalerweise nie sein Zimmer verließ.

Ganz zu schweigen davon, was hätte passieren können, wenn Reel nicht die dämonischen Mächte in Aidens Körper gebändigt hätte. Nicht nur ihm selbst hätte dabei etwas passieren können, sondern auch Lukas.

Reel hatte recht – Aiden musste wirklich vorsichtiger sein.

Shizuka hatte ihm erklärt, dass Reel nach der Spaltung seiner Seele vermutlich schwächer sein würde. Er durfte sich also nicht nur auf seinen Dämon verlassen.

'Shizuka', schoss es ihm erneut durch den Kopf. Die hatte er ganz vergessen. Er sollte ihr eine Nachricht schreiben, um sie über die neusten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen und sie über seine Nebenwirkungen zu befragen. Wenn jemand etwas über seinen Zustand wissen oder herausfinden konnte, dann war es Shizuka.

Mühselig angelte er sich sein Handy vom Nachtschrank und versuchte Reel dabei nicht zu wecken. Doch die Sorge war unbegründet. Reel schlief zwar unruhig, aber tief.
 

Die Nachmittagssonne brach stellenweise durch das Blätterdach und zauberte so ein hypnotisierendes Lichtspiel auf den moosbewachsenen Boden. Reel stand mit Aiden auf ihrer Waldlichtung.

Vergnügt umkreisten sie einander in einem Trainigskampf. Reel behielt die Oberhand, doch Aidens Widerstand wurde zunehmend heftiger.

Schließlich fiel Reel auf eine Finte herein, die Aiden geschickt nutzte um ihn von hinten zu greifen und dem Dämon seinen Dolch an Kehle zu halten. Reel spürte die Schärfe der Klinge an seinem Hals und wagte es nicht mehr sich zu rühren.

„Nicht schlecht. Du hast mich überrumpelt. Das war wirklich gut“, lobte Reel zaghaft, denn ihm dämmerte, dass hier etwas nicht stimmte.

„Ich hatte ja auch den besten Lehrer.“ Aidens Stimme klang seltsam entfremdet an Reels Ohr und als endlich die Klinge von seiner Kehle genommen wurde und Reel ihn wieder ansehen konnte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus.

Rote Augen, in denen ein unbändiges Feuer flackerte, starrten ihn lauernd an.

Ein Mund, aus dem zwei feine, spitze Reißzähne ragten, grinste ihm boshaft entgegen.

Das, was dort vor ihm stand, war nicht Aiden. Es war sein Körper, doch ein dämonischer Schatten schlang sich besitzergreifend um ihn, kletterte hoch bis in sein Gesicht und bedeckte dessen linke Hälfte.

Aidens Augen und Zähne waren durch Reels ersetzt worden und seine Miene war eine schmerzverzerrte Mischung aus Angst und Blutdurst.

Reel war unfähig sich zu rühren. Er fühlte sich wie damals in Nathaniëls Zimmer, als er zum ersten mal seine dämonische Gestalt in einem Spiegel erblickte – nur Sekunden bevor diese monströse Bestie dem zerbrechlichen Adligen dann das Leben genommen hatte.

Nun durchlebte Reel die Angst und Verzweiflung erneut, aber dieses Mal aus einer anderen Perspektive.

Er hatte Aiden das angetan. Es war allein seine Schuld. Er hatte Aiden nicht gehen lassen und ihn so zu einem Schicksal schlimmer als der Tod verdammt.

Zu einem Schicksal wie Reels.

Durch einen nassen Tränenschleier musste Reel mitansehen, wie sein geliebter Sonnenschein unter immer unmenschlicher werdenden Lauten völlig von seinem Schatten erstickt wurde.
 

Als Reel aufwachte, war sein Gesicht verkrustet von getrockneten Tränen. Mit rasendem Herzen setzte er sich auf um sich im Zimmer umzusehen, doch Aiden war nirgends zu finden.

Panik stieg in ihm hoch, bemächtigte sich seines Schattens und seiner Stimme und ließ ihn bewegungsunfähig auf dem Bett sitzen.

Endlich öffnete sich die Badezimmertür und gab den Blick auf einen gut gelaunten Aiden frei, der putzmunter und sorglos vom Zähneputzen kam.

„Oh, hab ich dich geweckt? Du hast... Reel? Reel, ist alles in Ordnung?“ Achtlos ließ Aiden alles stehen und liegen und eilte zu seinem Dämon, der völlig verstört und zitternd auf seinem Bett saß und lautlos weinte.

Sobald er ihn berührte, nahm der aufgewühlte Schatten ihn in Empfang, kletterte an seinem Körper empor und ließ sich beruhigt auf ihm nieder. Auch Reel hörte auf zu zittern, als er schützend die Arme um ihn schlang und sanft auf ihn einredete.
 

Nach einer Weile fand Reel seine innere Ruhe wieder und löste sich von Aiden.

„Was war denn los?“, fragte Aiden vorsichtig und strich ihm liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht, doch Reel wich seinem Blick aus.

„Reel, sieh mich bitte an. Immer wenn es dir nicht gut geht und du mir nicht sagen willst warum, meidest du den Blickkontakt mit mir.“ Verletzlich sahen ihn die roten Augen an und Aiden konnte nicht anders als einen tröstenden Kuss auf Reels Lippen zu hauchen. „Ich bin immer für dich da. Das weißt du.

Also bitte sprich mit mir.“ In seiner Stimme schwang Sorge, aber sein Lächeln war voller Zuversicht. „Egal was es ist. Wir beide schaffen das schon.“

Geschlagen kuschelte sich Reel wieder in Aidens Arme, sog dessen beruhigenden Geruch tief ein und schilderte ihm mit bemüht beherrschter Stimme seinen Albtraum.
 

„Meinst du, dass das wirklich passiert? Werd ich nach und nach zum Dämon?“ Aiden versuchte gefasst zu klingen, aber in seiner Stimme klang unüberhörbar Sorge.

„Nein, keine Angst. Wie gesagt: Es braucht schon etwas mehr, um einen Menschen in ein völlig anderes Wesen zu verwandeln.

Meine Träume haben mich schon immer gern gequält. Ein Magier hat mal behauptet, die Seelen, die ich verschlungen habe, würden in mir weiter existieren und sich in meinen Träumen an mir rächen.“

„Stimmt das?“ Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Reels Lippen.

„Keine Ahnung. Hab wegen dem blöden Spruch seine Seele verschlungen.

Aber falls das wirklich so ist, dann kam DER Traum garantiert von ihm.

Wenn ich ihn nicht schon getötet hätte, dann hätte er sich bestimmt spätestens jetzt über mich totgelacht.“ Aiden rollte mit den Augen, aber sein Schmunzeln konnte er trotzdem nicht unterdrücken.

„Du bist echt unmöglich.“
 

„So. Genug von gequälten Seelen.

Wir haben da ja noch ein ganz anderes Problem, um das wir uns kümmern müssen. Also mehr als eins, aber eine Katastrophe nach der anderen.“ Aiden sah ihn fragend an. „Wir müssen uns auf eine Story für Lukas einigen.“

„Verdammt! Den hatte ich glatt schon wieder vergessen. Heute ist echt nicht mein Tag.

Aber du hast recht. Und am besten weihen wir auch Sophie in die Geschichte mit ein.

Nicht das sie ihm nachher eine andere erzählt als wir.“ Reel nickte zustimmend.

„Ich kann die Kleine zwar noch nicht einschätzen, aber sie außen vor zu lassen, wäre zu riskant.

Was hast du Lukas denn erzählt als du bei ihm warst und mich hier allein im Zimmer mit unserem Schatten kämpfen lassen hast?“ Aiden warf ihm einen schiefen Blick zu und Reel versuchte gar nicht erst eine unschuldige Miene aufzusetzen.

„Tja, also um ehrlich zu sein, hat Lukas sich selbst eine Geschichte zusammengereimt und die hab ich einfach mit ein paar kleinen Änderungen übernommen.“

Reel brach in schallendes Gelächter aus, nachdem Aiden ihm erzählte, was Lukas sich zusammengereimt hatte.

„Oho, ich bin also dein verbotenes Abenteuer und schlechter Einfluss, in den du dich so sehr verstrickt hast, dass du nicht mehr von mir loskommst?“

„Ach halt doch die Klappe, Reel. So falsch liegt er damit ja nicht mal.“Aiden schimpfte zwar, aber auch er selbst musste lachen. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass er das Gespräch, das wir am Onsen hatten, SO interpretieren würde.“

„Also hast du dich jetzt in der Stadt in einen Kerl mit zweifelhaftem Charakter verliebt, der mit gefährlichen Leuten zu tun hat und dich mit reinzieht. Es gäbe schlimmere Fassaden. Das kriegen wir schon hin und all zu weit weg von der Wahrheit ist es ja auch nicht.“

„Die besten Lügen sind die, die auf der Wahrheit basieren“, zitierte Aiden.

„Und als schlechter Einfluss geh ich alle mal durch“, bestätigte Reel mit einem diebischen Grinsen.

„Warum werd ich das Gefühl nicht los, dass du das Ganze ausnutzen und viel zu sehr genießen wirst?“

„Lass mich doch. Ich will mich wenigstens ein bisschen an Lukas für sein unpassendes Timing rächen.“
 

„Also habt ihr diesen ganzen Aufriss nur veranstaltet, weil Aiden Angst davor hatte mir zu sagen, dass er auf zwielichtige Kerle steht“, fasste Lukas ihr Gespräch zusammen uns blickte skeptisch in die Runde.

Er und Sophie saßen auf Aidens Bett. Der saß wiederum auf seinem Drehstuhl, während Reel in menschlicher Gestalt hinter ihm auf dem Schreibtisch Stellung bezogen hatte.

„Wenn du es so formulierst klingt es viel schlimmer als es ist“, versuchte Aiden sich zu rechtfertigen.

„Du hast sogar mit Mara und Sophie darüber gesprochen, aber nicht mit mir.“ Beleidigt verschränkte Lukas die Arme vor der Brust.

„Mara musste ich es sagen. Immerhin war ich mit ihr zusammen, als ich es gemerkt habe. Und Sophie hat es selbst rausgefunden. Also musste sie mir versprechen, es niemandem zu sagen. Nicht mal dir“, log Aiden ohne mit der Wimper zu zucken.

„Dann habt ihr also darüber gesprochen, als ich euch beide am Waldrand getroffen hatte?“

„Genau“, bestätigte Sophie eine Spur zu eilig. „Aiden war so niedergeschlagen, also wollte ich ihn ein bisschen aufbauen.“ Ihr gefiel es gar nicht, ihr Schweigen jetzt durch eine Lüge zu ersetzten. Sie liebte Lukas und verstand seinen Unmut. Er wurde kategorisch ausgeschlossen und ohne Unterlass angelogen, aber sie hatte keine andere Wahl.

Immer wieder ermahnten sie die dunkel maskierten Augen des Dämon, der wie eine Schlange – ruhig aber jederzeit bereit zum Angriff – hinter Aiden saß, zu Gehorsam, und jagten ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Diese niederträchtige Bestie wusste ganz genau, dass Sophie seine Aura wahrnehmen konnte und beeinflusste sie bewusst auf diese Weise. Sie konnte ihre Gabe nicht 'abstellen' und so war sie ununterbrochen dessen Feindseligkeit und Übermacht ausgesetzt, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ und ihre Gedanken lähmte.

Er würde ihr keinen Fehltritt erlauben, da war Sophie sich sicher.

Die Geschichte, auf die sie sich geeinigt hatten, hatte sie ziemlich überrascht. Klar erklärte sie plausibel Maras Ablehnung, Aidens Geheimniskrämerei und Unsicherheit, sein distanziertes Verhalten und auch die Anwesenheit des jungen Mannes, als der sich die Bestie ausgab.

Aber das Aiden die Bürde auf sich nehmen würde, Lukas vorzuspielen, er und seine Dämon wären ein Paar, verwunderte sie schon etwas.

Andererseits fiel ihr auch keine bessere Ausrede ein und Mitspracherecht hatte sie auch nicht gehabt.

Also saß sie nun da und log auf Geheiß eines Dämons ihren Freund an. Wo war sie hier nur hineingeraten?

Besagtem Dämon schien diese ganze Scharade fast schon Spaß zu machen. Er hatte bisher noch kein Wort gesprochen, sondern nur sie und Lukas mit vielsagenden Blicken bedacht, während seine Hand über die Stuhllehne hinweg auf Aidens Schulter ruhte.

Vielleicht hatte der Dämon ihn ja zu dieser Pärchen-Ausrede gezwungen. Zutrauen würde sie es ihm.
 

Lukas seufzte schwer.

„Oh man. Du machst es dir auch nie leicht, Aiden.“

„Ich weiß. Tut mir leid. Ich hätte früher mit dir reden sollen.“

„Tja, wer hätte gedacht, dass Kommunikation Probleme löst?“ Lukas setzte ein schiefes Lächeln auf. Die ganze Sache löste gemischte Gefühle in ihm aus.

Auf der einen Seite war er froh, seinen besten Freund wieder zu haben. Auf der anderen war ihm klar, dass trotzdem nicht plötzlich wieder alles wie vorher sein würde. Dieser Typ – Reel – veränderte Aiden. Er hatte das gesamte Gespräch über nicht gesprochen, sondern ihn nur lauernd angestarrt, wie irgendein Psycho. Selbst als Lukas sich ihm vorgestellt hatte, war er nur schweigend an ihm vorbei gegangen und hatte sich hinter Aiden auf den Tisch gesetzt.

Den wiederum schien das komische Verhalten überhaupt nicht zu stören, obwohl Aiden eigentlich immer jemand gewesen war, der Wert auf Respekt und Ordnung legte.

„Tut mir jedenfalls leid, dass ich so... unpassend reingeplatzt bin. Das war ganz bestimmt nicht meine Absicht“, entschuldigte er sich abschließend. „Wir sollten dann auch so langsam los.“

Wie auf Befehl sprang Sophie vom Bett auf und wandte sich eilig Richtung Tür. Sie konnte gar nicht schnell genug aus diesem Raum entkommen und wollte einfach nur weg.

Fahrig verabschiedeten sie sich voneinander und als Lukas sich im Türrahmen nochmal zu Aiden umdrehte, traf sein Blick auf Reels. Der war nun ebenfalls aufgestanden und schlang von hinten besitzergreifend die Arme Aiden. Seine unnatürlich dunklen Augen funkelten Lukas herausfordernd an und jagten ihm einen kalten Schauer über den Rücken.
 

„Was hältst du von dem Typen?“, hörte Sophie Lukas im Flur fragen.

„Weiß ich noch nicht. Ich kenne ihn ja gar nicht. Aber um ehrlich zu sein, fühle ich mich in seiner Gegenwart unwohl“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Lukas brummt zustimmend.

„Ich hoffe wirklich Aiden weiß, worauf er sich da eingelassen hat.“ Mit einem flüchtigen Kuss verabschiedeten sie sich voneinander ehe Sophie sich auf den Weg in den Wohltrakt der Mädchen machte.

Auf der Treppe hielt sie für einen Moment inne. Verstohlen blickte sie sich um, bevor sie ihren Endurias aus der Tasche zog und das magische Potenzial, das sie an der Wand spüren konnte, eilig durchstrich.

„Du machst hier keinen Ärger mehr“, flüsterte sie triumphierend, steckte ihr Werkzeug wieder ein und setzte beschwingt ihren Weg fort.

Rachegelüste und Milchshakes

Wütend starrte sie den großen Spiegel vor sich an, durch den sie bis eben noch ihr Opfer beobachtet hatte und aus dem ihr nun lediglich ihre Reflexion entgegenblickte.

Schon wieder war einer ihrer mühevoll platzierten Spione von dieser vermaledeiten Stümperin zerstört worden. Wenn das so weiter ging, würde sie bald neue anbringen müssen.

Mit einem tiefen Seufzen lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und sah resigniert die Zimmerdecke an.

Sie musste das hier zu Ende bringen. Koste es was es wolle. „Für meine Fibi“, flüsterte sie leise zu sich selbst und ballte die Hände zu Fäusten.

Sie hatte extra einen Rachedämon beschworen um seinen Tod so qualvoll wie möglich zu gestalten. Hatte alles an Macht genutzt, was sie hatte aufbringen können, um einen möglichst hochrangigen und grausamen Vertreter seiner Art rufen zu können, und was hatte es ihr gebracht? Noch mehr Schwierigkeiten!

Warum meinte es das Schicksal nur so verdammt schlecht mit ihr? Wie konnte es denn sein, dass sie – ausgerechnet sie – an einer so simplen Aufgabe scheiterte? Und warum um alles in der Welt musste auch noch jeder von ihrem Versagen wissen?

„Na, versaut dir ein Laie mal wieder die Tour?“, hörte sie hinter sich wie auf Stichwort eine hämische Stimme. „Ich verstehe wirklich nicht, wie man eine so einfache Sache dermaßen gegen die Wand fahren kann. Das grenzt ja schon an fortgeschrittene Unfähigkeit.

Aber was soll man auch von einem Halbblut erwarten? Eigentlich hätte es niemanden überraschen dürfen, dass -“

„Es hat aber alle überrascht“, schnitt sie dem Mädchen, das sie so verächtlich titulierte, das Wort ab. „Und weißt du auch warum es alle überrascht hat? Weil es das erste Mal ist, dass ich nicht makellos perfekt bin.

Von dir ist man nur Gewöhnliches gewohnt, darum erwartet man von dir, dass du scheiterst. Aber bei mir ist es schon eine Überraschung, wenn ausnahmsweise mal nicht alles nach Plan läuft.“ Verdutzt starrte das unhöfliche Mädchen sie an, bevor sie wütend Luft durch die Nase ausstieß und zu ihr an den Spiegel kam.

„Nicht nach Plan? Süße, du hast auf ganzer Linie versagt.

Dein dämonischer Attentäter war nicht nur unfähig, sondern hat sich sogar von seinem Ziel – einem einfachen Schüler ohne magische Ausbildung – bannen und zum Wachhund machen lassen.

Dabei gibst du doch immer damit an, dass Beschwörungen deine Begabung seien, dir jedes Ritual gelänge und dir jeder Dämon unterläge.

Oder irre ich mich da, Miss Perfekt?“ Herausfordernd stachelten sie die grünen Augen an und die junge Halbblut-Hexe wollte grade zu einer schlagfertigen Antwort ansetzten, als ihr Streitgespräch jäh unterbrochen wurde.

„Meine Damen, dürfte ich Sie fragen, was Sie so spät noch hier zu suchen haben?“ Eine Frau mittleren Alters in Bleistiftrock und Blazer stand im Türrahmen und musterte die Mädchen streng.

„Ähm... Also... Wir haben nur...“

„Ich arbeite an meiner Abschlussprüfung. Es ist mir erlaubt diesen Raum bei Bedarf dafür zu nutzen. Was Miss Chavon hier tun, ist mir allerdings ein Rätsel.“ Provokant sah nun auch sie das Mädchen neben sich an und in deren Augen funkelte der reine Hass.

„Dann wird mich Miss Chavon nun am besten begleiten, nicht war?“ Auffordernd ruhte ihr strenger Blick auf der jungen Hexe, bis diese mit einem aufgesetzten, erzwungenen Lächeln den Raum verließ.
 

„Du darfst dich nicht aus der Ruhe bringen lassen“, riet die Frau ihr. „Gib die Kontrolle niemals auf. Magie tut nicht das, was du von ihr willst. Sie tut das, wozu du sie zwingst!

Bewahre Ruhe, behalte die Kontrolle, fokussiere dich auf dein Ziel.

Deine Prüfung ist im Grunde leicht, du hast sie dir nur etwas schwerer gemacht. Du machst das schon ganz richtig. Das Ziel beobachten und eine Angriffsfläche finden.

Zugegeben mit einem Dämon dieses Kalibers als Hindernis dürfte das knifflig werden.

Aber du schaffst das.“ Aufmunternd lächelte die Frau ihr zu und legte ihr ihre Hand auf die Schulter.

„Wenn ich nur herauskriegen würde, wie er es geschafft hat sich diesen vermaledeiten, ungehorsamen Rachedämon dermaßen gefügig zu machen.

Ich habe ihn korrekt beschworen. Das hab ich dutzende Male überprüft und er ist auch so mächtig, wie ich es kalkuliert hatte, aber trotzdem konnte Aiden ihn so mir-nichts-dir-nichts unter seine Kontrolle bringen.

Nicht mal ich als seine Beschwörerin kann dieser widerspenstigen Bestie einen Befehl geben, also warum kann es dieser einfache Junge?“

„Tut mir leid, meine Liebe. Das weiß ich auch nicht. Ich habe ihn mehrfach überprüft. Er hat definitiv keine magische Begabung. Aiden Moore ist so gewöhnlich wie man es nur sein kann.

Daher kann ich deine begonnene Prüfung auch nicht aufgrund unverhältnismäßiger Anforderungen abbrechen.“

„Und der Dämon? Der ist doch unverhältnismäßig.“

„Das ist schon richtig, aber den hast selbst mit in die Gleichung reingebracht. Er ist dein Verschulden.“ Sie seufzte geschlagen. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie ihre Prüfung nicht abgebrochen. Sie hatte sich diese Aufgabe aus gutem Grund ausgesucht und sie hatte auch Aiden nicht zufällig gewählt. Sie würde ihre Rache bekommen. Koste es was es wolle.

Ganz abgesehen davon, war sie noch nie vor einer Herausforderung davongelaufen und würde auch jetzt garantiert nicht damit anfangen.
 

„Übrigens gibt es gute Neuigkeiten. Vielleicht heitert dich das ein wenig auf“, riss die Stimme der förmlich gekleideten Frau sie wieder aus ihren Gedanken. „Der Seelenträger ist vor wenigen Minuten hier eingetroffen.“ Die Augen der Frau glänzten in freudiger Erregung, die sich sofort auch auf die junge Hexe am Spiegel übertrug.

„Der Seelenträger des Großmeisters? Wirklich? Darf ich ihn sehen?“

„Leider nicht, meine Liebe. Er wurde sofort zu den anderen Seelenträgern gebracht und dort eingeschlossen.

Aber mach dir nichts daraus. Du hast das große Glück in einer Generation geboren worden zu sein, die die Auferstehung des Großmeisters höchstwahrscheinlich miterleben darf.

Es fehlen immerhin nur noch 2 Träger zu seiner Vollendung.“ Die Lippen der Frau zitterten vor begeisterter Aufregung, doch das Mädchen verlor einen Teil ihres Enthusiasmus.

„Ja, und einer davon ist seit dessen Tod verschollen und nie wieder aufgetaucht“, merkte sie wenig hoffnungsvoll an.

„Sein nicht so pessimistisch. Seelen sind wie Magier – sie streben immer nach Vollkommenheit.

Wenn alle übrigen Teile der Seele versammelt sind, wird der letzte Träger seinen Weg früher oder später zu uns finden. Er wird sich regen und wir werden ihn finden.“ Die Frau richtete ihren Blick auf den Spiegel, vollführte einige schnelle Handbewegungen und im nächsten Moment wurde die Reflexion der beiden Hexen von einem einem anderen Bild abgelöst.

In schneller Folge prüfte die Frau jedes Bild, das die Siegel in der Schule liefern konnten.

„Dir gehen die Spione aus, Liebes.“

„Ich weiß. Und dabei hab ich sie extra mit einem Schutzzeichen kombiniert, um Aiden daran zu hindern diesen lästigen Dämon einzusetzen. Und eigentlich ist der Plan auch aufgegangen.

Er hat die Zeichen zwar bemerkt – was er als normaler Mensch ja eigentlich auch nicht können sollte -“, sie warf der älteren Hexe einen vielsagenden Blick zu. „- aber er hat sich den Zeichen nicht genährt. Ich konnte ihn damit sogar durch das Internat scheuchen, wie die miese, kleine Ratte, die er ist, aber Sophie musste ja unbedingt mitmischen.

Wenn es nicht ausgerechnet Sophie wäre, hätte ich mir längst was für diesen Störenfried einfallen lassen, aber es musste ja ausgerechnet dieser über-neugierige Möchtegern sein.“ Verzweifelt legte sie den Kopf in die Hände. „Das Schicksal hasst mich.“

„Na und? Schicksal ist etwas für Menschen. Hexen gestalten den Weg ihres Lebens selbst.

Der Großmeister hat sogar den Tod bezwungen, also wirst du es ja wohl schaffen mit ein paar Schülern fertig zu werden.

Aber vergiss eins nicht, Liebes. Wenn deine Deckung auffliegt, wirst du für den Zirkel nicht nur nutzlos, sondern auch zur Gefahr. Also reiß dich zusammen, übe dich in Geduld und errege keine unnötige Aufmerksamkeit.

Ansonsten kann auch ich – bei allem Respekt vor deiner Mutter – dir nicht mehr helfen.“
 

Für Aiden kam die Welt so langsam wieder ins Lot.

Reel war wieder bei ihm, Sophie half ihm mit den Bannzeichen und hielt ihm den Rücken frei, Shizuka fungierte bereitwillig als magisches Wikipedia und recherchierte betreffend Aidens Symptomen, und Lukas arrangierte sich um seiner Willen mit der neuen Situation und verbrachte wieder seine Zeit mit ihm.

„Wollen wir heute nach dem Unterricht mal wieder in die Innenstadt? Ich könnte mal wieder ein paar Runden in der Arcade vertragen“, schlug Lukas auf dem Weg von einem Klassenraum zum nächsten vor.

„Außerdem hat in der Mall ein neues Café aufgemacht, dass diese abgefahrenen Freak-Shakes verkauft. Da will ich unbedingt mal hin“, ergänzte Sophie mit leuchtenden Augen und enthüllte damit, wer wirklich die treibende Kraft hinter diesem Vorschlag war.

Aiden druckste ein wenig herum. Er wollte seine Freunde wirklich gerne begleiten, aber „Eigentlich hab ich Reel versprochen, den Nachmittag heute mit ihm zu verbringen.“

„Na dann bring ihn halt mit“, schmetterte Lukas seinen Einwand ungerührt ab. Er wollte diesen Typen besser kennenlernen. Nicht weil er ihn besonders mochte – eher im Gegenteil – sondern weil er wissen wollte, mit wem genau sein bester Freund seine Zeit verbrachte und wie gefährlich dieser Reel tatsächlich war.

Was war das überhaupt für ein bescheuerter Name? Reel. So heißt doch keiner!

Aiden setzte bereits zu einer weiteren Ausrede an, als er die amüsierte Stimme seines Dämons in seinen Gedanken vernahm: „Das klingt doch als könnte es unterhaltsam werden. Und bei der Gelegenheit kann ich mir endlich ein besseres Bild von der kleinen Okkultistin machen.“

Reel hatte ihm bereits offengelegt, dass er sich mit Lukas den einen oder anderen Spaß erlauben würde, aber er musste dabei eine menschliche Fassade wahren, also würde er schon nicht übertreiben.

Zumindest hoffte Aiden das. Im Zweifelsfall würde er ihn eben etwas runterregeln müssen.

Außerdem wollte auch Aiden endlich mal wieder in die Stadt und Zeit mit seinen Freunden verbringen (und einen dieser Freak-Shakes probieren, die gefühlt jeder aus der Schule bereits in seinem Instagram-Profil hatte).

„Okay, wenn es euch nicht stört, kommen wir mit.“

Sophie zwang sich dazu Aidens Lächeln zu erwidern, aber er durchschaute sie sofort. Sophie hatte Todesangst vor Reel und er konnte es ihr nicht verübeln.

Die Tatsache, dass sie auch nur im entferntesten etwas mit Magie am Hut hatte, war für seinen Dämon schon Grund genug, um in seiner Aura dauerhaft eine unterschwellige Feindseligkeit mitschwingen zu lassen. Ganz abgesehen davon stellte sie durch ihr Wissen über Reels Existenz ein potenzielles Risiko dar, das keiner von ihnen abschätzen konnte, und abgerundet wurde Reels Einstellung ihr gegenüber von Sophies Verbindung zu Mara.

Kurzum: Sie hatte einen wirklich schweren Stand bei ihm und Aiden bemitleidete sie dafür.

Aber vielleicht würde es ja tatsächlich helfen die Wogen zu glätten, wenn die vier etwas Zeit zusammen verbrachten.

Ein Verfluchter, ein Dämon, eine Okkultistin und ein Nerd auf einem Doppeldate – was sollte dabei schon schief gehen?

Freindschaftsbildende Maßnahmen

Am Nachmittag trafen die vier sich also in der Innenstadt. Aiden hatte Lukas und Sophie im Café geparkt und war dann Reel „abholen“ gegangen. Er konnte ja schließlich schlecht vor Lukas' Augen seinen Freund einfach aus schwarzem Nebel entstehen lassen.

„Na dann wollen wir mal.“ Reel streckte vergnügt seine Glieder und grinste Aiden verschmitzt an. Er würde es sich nicht nehmen lassen, Lukas ein wenig in den Wahnsinn zu treiben, und Aiden wusste das ganz genau. Mahnend sah er seinen Dämon an und seufzte resigniert, doch der schenkte ihm zur Antwort nur einen Kuss und ein unschuldiges Lächeln.

An dieser Stelle war jedes Wort vergebens, also griff Aiden einfach Reels Hand und bog mit ihm wieder aus der kleinen Gasse hinaus auf Fußgängerzone.
 

Sophie spürte den Dämon schon, bevor sie ihn sehen konnte. Kalt rann ihr der unangenehme Schauer über den Rücken und jagte ihr eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Seine dämonische Aura war ausgesprochen beängstigend für sie und Reel nutzte das ganz bewusst aus.

Entsprechend aufgesetzt wirkte ihr Lächeln, als Aiden und sein Fluch schließlich in ihr Sichtfeld traten. Lukas gelang es sehr viel besser trotz seiner Skepsis und seinem Argwohn ein offenherziges Lächeln zu zeigen. Und das obwohl ihm der Anblick der beiden händchenhaltenden Männer doch etwas unangenehmer war, als er sich eingestehen wollte.

Auch er hatte Reels Anwesenheit ganz unterbewusst gespürt. Die feinen Härchen auf seinen Armen hatten sich aufgestellt und irgendetwas in ihm ermahnte ihn zur Wachsamkeit. Doch wie üblich hatte er diese Eingebung als Unsinn abgetan.

„Das ging jetzt ja doch schneller als ich dachte.“

„Ich sagte doch, ich bin gleich wieder da.“ Aiden setzte sich auf die gepolsterte Bank am Tisch und Reel folgte ihm. Ganz selbstverständlich rückte er so dicht an Aiden heran, dass ihre Hüften und Oberschenkel sich berührten, und legte einen Arm um ihn.

Dass Lukas' Blick dabei instinktiv von dem Pärchen weg zuckte, blieb Reel nicht verborgen, also wartete er geduldig bis dessen Blick wieder zu ihnen zurückkehrte, ehe er Aiden einen Kuss auf die Schläfe gab und dann wieder Lukas mit einem provokanten Grinsen anfunkelte.

Aiden gehörte ihm und das würde er Lukas in aller Deutlichkeit spüren lassen. Die Tatsache, dass der Junge Reel nicht leiden konnte und Aiden so vehement von einer Beziehung mit ihm abgeraten hatte, machte dieses Spiel nur umso reizvoller für ihn.

Während Lukas sein Unbehagen bestmöglich verbarg und Reel es nach Kräften bestärkte, warf Aiden einen entschuldigenden Blick in Sophies Richtung.

Sie saß wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl und wäre wohl am liebsten auf der Stelle aufgestanden und davongerannt.

Irgendwie hatte Aiden im Laufe der Zeit wohl vergessen oder schlichtweg verdrängt, dass sein Dämon nicht unbedingt der umgängliche Typ war und dass er sehr sehr sehr(!) anstrengend sein konnte, wenn er es darauf anlegte.
 

„Also, habt ihr euch die Karte schon angesehen?“, versuchte Aiden diese unangenehme Situation zu unterbrechen und kniff Reel unterm Tisch beherzt in den Oberschenkel, um ihn unauffällig zur Ordnung zu ermahnen. Sein Dämon zuckte allerdings nicht einmal über den plötzlichen Schmerz, sondern drückte Aiden noch ein wenig enger an sich.

Trotzdem brach er den Blickkontakt mit Lukas vorerst ab und legte stattdessen wortlos dessen Handy auf den Tisch. Aiden schlug sofort genervt die Augen nieder, aber Lukas brauchte eine Weile um zu realisieren, dass es sein Handy war, das der zwielichtige Falschspieler da grade mit einem süffisanten Lächeln auf die Tischplatte gelegt hatte.

„He! Das is doch meins. Wie hast du...?“ Hastig nahm er sein Eigentum wieder an sich und starrte Reel wütend an.

„Muss dir wohl aus der Tasche gefallen sein, oder willst du mir etwa irgendwas unterstellen?“ Reels überheblicher Blick und sein herausfordernder Tonfall ließen keinen Zweifel daran, dass er Lukas bestohlen hatte, aber nachweisen konnte ihm das keiner.

Frustriert und mit weiter anschwellendem Zorn biss Lukas die Zähne zusammen. Er würde hier jetzt keine Szene veranstalten und Reel die Opferrolle als 'fälschlich Beschuldigter' auf einem Silbertablett servieren. Dass der Kerl provokant und über alle Maße dreist war, hatte er schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen festgestellt, aber dass er ihn innerhalb der ersten fünf Minuten schamlos beklauen würde, war doch eine Spur härter als er erwartet hatte.

Doch was das Schlimmste an der ganzen Situation war: Aiden sagte kein einziges Wort dazu. Er sah lediglich einmal vielsagend zu Reel rüber, ließ sich von ihm küssen und ignorierte den Vorfall dann einfach.

„Aiden, jetzt sag doch auch mal was.“

„Was soll ich dazu sagen? Ist doch nicht das erste mal, dass du dein Handy verlierst ohne es mitzukriegen.“ Diese Vorlage konnte Reel sich nicht entgehen lassen und setzte Lukas' kaltem Zorn mit einem weiteren Satz die Krone auf.

„Vielleicht solltest du besser auf die Dinge achtgeben, die dir wichtig sind, sonst verlierst du sie irgendwann vielleicht unwiederbringlich.“ Und als hätte es nichts mit seiner eben getätigten Aussage zu tun, kuschelte er sich noch etwas mehr an Aiden und hielt dabei unverwandt und triumphierend den Blickkontakt mit Lukas.

Aiden zwickte unter dem Tisch erneut Reel und rief ihn entschieden zur Ordnung, und dieses mal gehorchte ihm sein Dämon auch. Für den Rest ihres Cafébesuchs und das anschließende Window-Shopping beschränkte sich Reel auf seinen üblichen Sarkasmus und einfache Sticheleien.

Er durfte es bei Lukas nicht zu sehr übertreiben, sonst würde Aiden ihm das irgendwann nicht mehr nachsehen, aber Lukas machte es ihm so unglaublich leicht. Der Junge war ein offenes Buch und trug jede seiner Emotionen für jeden sichtbar auf seinem Gesicht. Jede Regung und jede noch so kleine Gefühlsschwankung konnte man ihm an der Nasenspitze ablesen und es war ihm nicht mal bewusst.

Mit Lukas würde er noch so seinen Spaß haben, da war Reel sich sicher.
 

„Was haltet ihr davon, noch einen kurzen Abstecher in die Arcade zu machen, bevor wir wieder zurück müssen?“ Lukas wollte ganz dringend irgendwo seinen Frust abbauen, und Videospiele waren momentan die beste Möglichkeit, die ihm einfiel.

Reel war ihm den ganzen Nachmittag gehörig auf den Keks gegangen. Er hatte sich eine Dreistigkeit nach der anderen erlaubt, aber sie immer so geschickt ausgespielt, dass Lukas nie als das eigentlich Opfer dastand. Der Kerl trieb schamlos seine Spielchen mit ihm und Aiden sagte kein einziges mal etwas dazu. Ganz im Gegenteil – er nahm Reel sogar noch in Schutz und verteidigte sein Verhalten.

Sophie hatte wohl Angst vor Aidens finsterem Freund und traute sich nicht etwas zu sagen, aber von Aiden hatte er eigentlich nicht erwartet, dass er sich so zurückhalten und derart Partei ergreifen würde. Hatte sein bester Freund sich so sehr verändert? Oder hatte er ihn einfach noch nie wirklich gekannt?

Da niemand ein Veto gegen Lukas' Vorschlag einlegte, bogen sie alle vier an der nächsten Ecke nach rechts ab und liefen die Straße zur Arcade-Halle hinunter.

Am Tresen im Eingangsbereich luden Lukas und Aiden ihre Karten auf, mit denen die meisten Spiele hier bezahlt und gestartet wurden.

Sophie stand auf verlorenem Posten. Sie interessierte sich kein Stück für Videospiele und litt noch immer unter Reels feindseliger Aura. Das hier musste einer der unangenehmsten Nachmittage ihres Lebens sein.

„Nachdem du einen so mutigen und entschlossenen Auftritt bei Aiden hingelegt hattest, hatte ich angenommen, du seist nicht dermaßen leicht zu verschrecken.“ Reel sprach so leise, dass nur Sophie ihn hören konnte und warf ihr unauffällig einen wissenden Blick zu.

„Du manipulierst deine Aura doch absichtlich um mir Angst zu machen.“

„Das stimmt schon, aber ich hatte schon gehofft, du würdest eine größere Herausforderung darstellen.“

„Bitte tu Lukas nichts.“ Reel stutzte. Das Mädchen neben ihm zitterte regelrecht vor Angst, aber trotzdem machte sie sich mehr Sorgen um ihren Freund als um sich selbst. Sie hatte wohl wirklich nichts von einer echten Hexe. Umso besser. Aber ihren Mut rechnete er ihr hoch an, also entschied er sich dazu, sie nicht noch weiter zu verängstigen, sondern ihr die Wahrheit zu sagen.

„Wenn ich dem Jungen ernsthaft etwas antun wollte, hätte ich das längst getan. Ganz abgesehen davon, würde Aiden mir das übel nehmen.“ Jetzt war es an Sophie verdutzt dreinzuschauen.

Dem Dämon war es also tatsächlich nicht egal, was Aiden von ihm hielt. Seine Meinung und Gefühle bedeuteten ihm genug um seine eigene Natur zu zügeln. Und endlich kam ihr die eigentlich so offensichtliche Erkenntnis: „Du liebst Aiden wirklich!“ Die ehrliche Überraschung in ihrer Stimme ließ Reel unwillkürlich auflachen.

„Du kannst doch Auren lesen und bist ansonsten auch nicht unbedingt auf den Kopf gefallen, aber dass meine Liebe zu Aiden keine Farce ist, merkst du erst jetzt?“ Noch immer etwas fassungslos starrte sie den Dämon an. Zum ersten mal sah sie ihn aufrichtig lachen, und auch seine Aura verlor – wohl eher unbeabsichtigt von ihm – einen Großteil ihrer Feindseligkeit.

„Naja, also... ich hatte halt angenommen... weil du so...“ Sie kam sich plötzlich furchtbar dumm dabei vor, diese offensichtliche Tatsache nicht bemerkt zu haben – beziehungsweise sie als albernes Hirngespinst abgetan zu haben – und eine schwache Schamesröte bemächtigte sich ihres Gesichts.

Nein, von einer echten Hexe hatte dieses naive Mauerblümchen wirklich nichts. Nichts an ihr erinnerte ihn an die Dinge, die er an Magiern so sehr verachtete – keine Arroganz, Überheblichkeit, Allmachtsfantasien oder Egoismus. Sie war einfach nur ein etwas zu neugieriges Mädchen mit gefährlichen Interessen und einem schwachen Talent für Magie, die sich Sorgen um ihren Freund und ihren Mitschüler machte.
 

„Was ist denn in euch beide gefahren?“ Irritiert standen Lukas und Aiden vor dem noch immer belustigt kichernden Reel und einer peinlich berührten Sophie.

„Ach nichts.“ Mit einem amüsierten Grinsen und hinter dem Rücken verschränkten Armen lief Reel in die schummerig beleuchtete Halle und konnte Lukas' gereizten Blick förmlich in seinen Hinterkopf stechen spüren.

„Hat er irgendwas mit dir gemacht?“

„Nein, Reel hat mich nur auf was hingewiesen. Ist aber egal. Bitte lass uns nicht weiter drüber reden.“ Aiden wollte schon sauer auf ihn werden, aber irgendwas an Sophies Gesichtsausdruck sagte ihm, dass Reel sich ausnahmsweise mal nichts zu Schulden kommen lassen hatte.

Als die anderen ihn wieder eingeholt hatten, musterte der grade aus einiger Entfernung den Retro-Abschnitt.

„Stimmt was nicht, Reel.“

„Ich will mal was ausprobieren.“

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung zog er Aiden in den hinteren Teil der Halle, wo die älteren Automaten standen und der daher vergleichsweise leer war. Die Spiele hier hinten liefen noch mit Münzgeld und nicht mit den modernen Karten, auf die man einfach Guthaben laden und sie dann über das Display des Automaten ziehen konnte.

Mit einem diebischen Schmunzeln auf den Lippen legte Reel seine Hand über den Münzeinwurf und Aiden konnte im schummerigen Licht erkennen, wie sich ein winziger Teil des lebendigen Schattens aus dessen Hand löste und sich an dem Automaten zu schaffen machte.

„Reel!“ Schnell stellte er sich vor den Einwurf des Spiels um zu verdecken, was sein Dämon dort trieb, aber bei dem schlechten Licht und den wenigen Menschen hier, wäre der kleine, schwarze Schatten vermutlich eh niemandem aufgefallen.

Einen Augenblick später prangten auf dem Bildschirm plötzlich die Worte 'press any button to start' und als Aiden dem Folge leistete, startete tatsächlich das Spiel, ohne das jemand Geld eingeworfen hatte.

„Du bist unmöglich!“ Aiden warf ihm einen scheltenden Blick zu, aber leider war er auch ein Stück weit beeindruckt und verdammt neugierig. „Wie hast du das gemacht?“ Reels Gesicht spiegelte Stolz wider und ein kindliches Grinsen lag auf seinen Lippen.

„Das ist gar nicht so viel anders, als Schlösser zu knacken.“

„Kannst du das bei jedem Automaten?“

„Ich glaube nur, wenn sie einen mechanischen Münzeinwurf haben“, antwortete Reel mit einem kritischen Blick auf die blinkende Spiele-Konsole. „Die elektronischen kann ich nicht so einfach manipulieren. Die funktionieren über Stromstärken und Spannung, dass ist zu komplex.“

Aiden war zwiegespalten. Einerseits empfand er es als falsch, die Automaten zu verwenden ohne dafür zu zahlen, andererseits nahm er ja auch niemandem etwas weg. Also was war schon dabei?
 

„Hast du das gesehen?“

„Nein, was meinst du?“, log Sophie mit bemüht unschuldiger Stimme.

„Er hat irgendwas an dem Automaten gemacht.“

„Ja. Eine Münze reingeworfen. Du bist so sauer auf Reel, dass du hinter allem, was er tut, irgendwas gefährliches oder kriminelles vermutest.“ Sophie hatte deutlich gespürt, dass Reel seine dämonische Macht eingesetzt hatte, aber abgesehen davon war seine Aura unverändert ruhig und irgendwie vergnügt geblieben.

Solange der Dämon mit Aiden interagierte, wurde er nahezu zahm, und erst wenn er sich bewusst Lukas oder ihr zuwandte, änderte sich das. 'Er spielt nur mit uns', schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. 'Er hegt keine ernsthaften Aggressionen gegen uns, sondern spielt uns was vor.' „Vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm, wie wir anfangs dachten.“ Verständnislos sah Lukas sie an.

„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“ Unvermittelt drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Hör doch endlich auf, die ganze Zeit nur Aidens Freund hinterher zu schnüffeln. Ich glaube fast, dass du Reel heute öfter angesehen hast als mich.“ Sie setzte eine überspitzt beleidigte Miene auf und zog ihrem Freund spielerisch am Ärmel. „Beschäftige dich doch ausnahmsweise mal mit mir, sonst muss ich noch davon ausgehen, dass du dich in Aidens Badboy verknallt hast, so wie du ihn die ganze Zeit anstarrst.“ Überrascht verfiel Lukas in ein nervöses Lachen.

„Hast ja Recht. Der Typ macht mich noch ganz kirre.“ Sie tauschten ein verliebtes Lächeln und einen unschuldigen Kuss miteinander, und verzogen sich dann in die entgegengesetzte Ecke der Halle.
 

Eine knappe Stunde verbrachten die vier in der Arcade-Halle, bevor sie wieder vor des Gebäude traten.

„Jetzt waren wir doch länger drin als geplant“, stellte Sophie mit einem kritischen Blick auf ihre Armbanduhr fest. „Wir werden wohl auf den nächsten Bus warten müssen. Den in 3 Minuten schaffen wir garantiert nicht mehr.“

„Vielleicht doch. Ich kenne eine Abkürzung. Kommt mit.“ Und schon schnappte sich Lukas Sophies Hand und rannte mit ihr los. Etwas perplex sahen Reel und Aiden einander an, bevor sie die Verfolgung aufnahmen und ebenfalls die Straße hinunter rannten.

Lukas bog in eine der vielen, kleinen Seitengassen ein und als Reel und Aiden ihm folgten, prallten sie ihm und Sophie schwungvoll in den Rücken. Die beiden waren direkt hinter der Ecke stehengeblieben und schauten nun etwas verloren in die Gasse hinein.

„Ups. Ähm... Wir sind dann auch schon wieder weg“, versuchte Lukas sie ungeschickt raus zu reden, doch die Typen in der Gasse hatten andere Pläne.

„Na na na. Nich´ so eilig, ihr Knirpse.“ Aiden biss sich auf die Lippe. 'Nicht schon wieder. Bitte nicht schon wieder irgendwelche Schläger. Seit wann gibt es hier denn so viele von denen?'

„Oh Scheiße. Nein!“ Einer der 6 Männer war wohl schon bei Aidens erster Erfahrung mit Leuten dieses Schlages dabei gewesen.

Aiden erkannte die Sonnenbrille wieder, die der Kerl trotz der Düsternis der Gasse trug und der Typ schien Aiden – und vor allem Reel – ebenfalls wiederzuerkennen, denn er machte auf dem Absatz kehrt, nahm die Beine in die Hand und flüchtete in Panik die Gasse hinunter.

Verdutzt schauten sowohl seine Freunde als auch Lukas und Sophie ihm nach.

Reel ließ Aidens Hand los und schob sich betont gelassen zwischen die drei Schüler und ihre Angreifer.

„Na sowas. Der scheint sich wohl an mich zu erinnern.

Es würde euch guttun von seiner Erfahrung zu profitieren und euch ebenfalls einfach zu verpissen.“

„Hör mal her, du kleiner Möchtergern-Punk.“ Einer von den übrigen fünf kam auf Reel zu und wollte ihn wohl am Kragen packen, doch der griff sich das Handgelenk des größeren Mannes, zog es schwungvoll zur Seite und drehte seinem Angreifer in einer flüssigen Bewegung den Arm auf den Rücken. Ein kurzer Tritt in die Kniekehle beförderte ihn zügig auf die Knie und so könnte Reel den Schläger mühelos mit einer Hand an Ort und Stelle halten.

Mit einem theatralisch enttäuschten Seufzer sah er die übrigen vier Kerle vor sich an. „Ich hab mich immer gefragt, warum Typen wie ihr nur im Rudel auftaucht, obwohl ihr euch doch eindeutig für körperlich überlegen haltet.

Aber wenn ich mir euch lernunfähige Idioten so ansehe, dann müsst ihr wohl immer mindestens zu viert unterwegs sein, damit ihr zusammengenommen genügend IQ-Punkte habt um lebensfähig zu sein.“ Genussvoll verdrehte Reel den Arm seines Gefangenen noch ein kleines Stück weiter und entlockte ihm so ein schmerzerfülltes Stöhnen.

Für die anderen in seinem Weg ließ er kurz seine roten Augen aufglühen und erzielte damit zügig den gewünschten Effekt. In Windeseile war die Gasse leer und nur die unglückliche Seele in Reels Gewalt war von den sechs gestandenen Männern noch übrig. Dem schenkte Reel verborgen vor den Augen der drei Schüler mit seinen scharfen Fingernägeln zierende Klauenspuren um sein Handgelenk und stieß ihn schließlich einfach zur Seite.

Eigentlich hätte er jetzt nicht übel Lust auf eine gepflegte Schlägerei gehabt, aber er konnte es auf keinen Fall riskieren, vor Lukas' Augen in einen Blutrausch zu verfallen, und er wollte auch Aiden nicht unnötig in Gefahr bringen. Also kamen die sechs Idioten allesamt glimpflich davon.

Ganz selbstverständlich vergrub Reel die eine Hand in seiner Hosentasche, nahm Aiden an die andere und lief mit ihm an dem Schläger vorbei, der noch immer fassungslos auf dem Boden hockte und sich sein zerkratztes, blutendes Handgelenk rieb.
 

Mit einem ähnlichen Maß an Fassungslosigkeit starrte auch Lukas ihnen hinterher. Nicht nur das Reel allem Anschein nach ein gefürchteter und durchaus fähiger Straßenkämpfer war, Aiden schien das Ganze auch noch vollkommen bewusst zu sein. Und es störte ihn kein bisschen.

Was hatte Aiden denn schon alles in der Gesellschaft dieses Typen erlebt, dass ihn die Brutalität, die Reel hier an den Tag legte, dermaßen kalt ließ?

Sophie beschäftigte indes etwas ganz anderes. Sie war fest davon ausgegangen, den Dämon aufs Ganze gehen zu sehen. Die Kampfeslust in seiner Aura war unverkennbar angeschwollen und Blutdurst war in ihm wachgeworden, aber er hatte diese Gelüste ausschließlich zum wirkungsvollen Verschrecken ihrer Gegner genutzt. Er hatte sich beherrscht, obwohl Dämonen zweiter Ordnung doch als besonders zügellos in der Auslebung ihrer Instinkte galten.

Reel war wohl tatsächlich sehr viel menschlicher als sie ihm zugetraut hatte, und so langsam glaubte sie auch Aidens Rolle bei dem Ganzen zu verstehen.

Fesselnd (Zensiert)

Lukas und Sophie standen unschlüssig an der Bushaltestelle und warteten auf den nächsten Bus. Aiden war mit Reel um die nächste Ecke verschwunden um sich von ihm „zu verabschieden“.

Als er wieder zu seinen beiden Freunden stieß, sahen die ihn noch immer mit blassen Gesichtern und leerem Blick an. Sie verarbeiteten wohl noch den Schock.

„Was hast du dir da für nen Typen ausgesucht? Hättest du nicht irgendwen normales nehmen können?“ Leicht gereizt verdrehte Aiden die Augen. Er konnte ja verstehen, woher Lukas' Abneigung gegen seinen Dämon rührte, aber so langsam könnte er Aidens Entscheidung doch wirklich akzeptieren.

„Er ist vielleicht nicht ganz einfach, aber du kennst ihn ja auch kaum. Du gewöhnst dich schon an ihn.“

„Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt will.“ Jetzt schaltete sich Sophie auch ein. Sie wollte verhindern, dass Lukas etwas dummes sagte ohne zu wissen, dass Reel ihn ganz genau hören konnte.

„Also ich fand es eigentlich ganz lustig heute. Ein bisschen seltsam, aber ich glaube wir kommen schon miteinander klar.“ Dieses mal war ihr Lächeln nicht so erzwungen und sie meinte ihre Worte tatsächlich ernst. Der Dämon war nicht besonders umgänglich, aber wenn man einmal verstand, dass viel von dem nur Fassade und Spielerei war, konnte man durchaus mit ihm zurechtkommen.

Außerdem verriet ihr seine Aura, dass auch Reel sie inzwischen wohl ein bisschen besser leiden konnte. Seit ihrem kurzen Gespräch am Tresen der Arcade, strahlte er Sophie gegenüber weniger Feindseligkeit aus und hatte wohl einen Großteil seines Argwohns abgelegt. Was genau ihn dazu bewogen hatte, verstand sie allerdings nicht.

„Ihr seid doch beide nicht ganz dicht“, stellte Lukas mit einem resignierten Seufzen fest, aber ergab sich seinem Schicksal als Überstimmter.

„In jeder Freundesgruppe muss es einen Normalen geben und es sieht so aus, als würde diese undankbare Aufgabe dir zufallen.“

„N komischer Kerl ist er trotzdem. Und für gefährlich halte ich ihn nach wie vor.“ Lukas sah Aiden eindringlich an. „Ich will nur nicht, dass dir was passiert. Okay?“

„Das Gleiche will Reel auch. Das kann ich dir versichern.

Du machst dir zu viele Gedanken. Ich kenne Reel – viel besser als du vielleicht glaubst. Und ich weiß ganz genau, worauf ich mich mit ihm einlasse.

Also mach dir keine Sorgen.“

„Um dich muss man sich immer Sorgen machen.“ Unwillkürlich musste nun auch Aiden schmunzeln. Lukas und Reel waren einander in einigen Punkten wirklich verdammt ähnlich, sie merkten es nur nicht.

Für den Rest der Rückfahrt hielt Lukas sich mit Aussagen betreffend Aidens zwielichtigen Freundes bestmöglich zurück. Er war absolut nicht mit dieser Beziehung einverstanden, aber er hatte seine Bedenken Aiden gegenüber kundgetan und mehr lag nicht im Bereich seiner Möglichkeiten. Er war nicht in der Position seinem besten Freund etwas zu verbieten, egal wie gerne er es in diesem Moment auch getan hätte.
 

Mit einem leisen Klacken fiel Aidens Zimmertür hinter ihm ins Schloss und sofort umgab ihn der vertraute, schwarze Nebel und bildete sich zu der Gestalt seines Liebsten aus.

„Du bist wirklich unmöglich.“ Aidens Versuch zumindest ein bisschen sauer zu klingen scheiterte kläglich. Er kannte Reel und seine Natur einfach zu gut, um ihm einen Vorwurf für sein Verhalten machen zu können. Wie Reel mit ihm umging war eben nicht die Norm, sondern der Sonderfall und das durfte Aiden nie aus den Augen verlieren.

„Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass ich Lukas nicht so leicht davonkommen lasse. Außerdem muss ich doch irgendwo meine dämonischen Gelüste ausleben. Dich kann ich mit solchen Spielereien ja nicht mehr kriegen.“ Reel schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen, das seine Reißzähne hervorblitzen ließ, und Aiden musste unwillkürlich schmunzeln. Sofort verlor er so auch den letzten Rest Strenge, den er versucht hatte sich zu bewahren. Trotzdem schlang Reel entschuldigend die Arme um ihn und fragte in nun sehr viel zahmerem Tonfall: „Bist du mir sehr böse wegen Lukas?“

„Nein. Ich kenn´dich doch und wusste worauf ich mich einlasse. Aber übertreib es nicht mit ihm.“

„Ich versuch´s. Aber er macht es mir so verdammt leicht und seine Mimik ist einfach zu komisch.“ Eigentlich wollte Aiden ihn ermahnen, doch leider musste er selbst lachen.

Unrecht hatte er nicht. Wenn man wusste, dass Reel keine seiner Sticheleien ernst oder boshaft meinte, war es schon lustig zu beobachten, wie schnell Lukas auf jede einzelne davon ansprang und Reel jedes mal genau in die Hände spielte.

„Du bist echt unmöglich. Du verdirbst mich – jetzt lache ich schon über meinen besten Freund.“

„Wer mit einem Dämon schläft, kann nicht erwarten seine Unschuld zu bewahren.“ Reel grinste ihn anzüglich an und stahl sich einen kurzen aber leidenschaftlichen Kuss von ihm. „Meins“, hauchte er zärtlich gegen seine Lippen und zog Aiden besitzergreifend näher.

„Fühlst du dich vernachlässigt, weil du mich heute nicht für dich allein hattest?“

„Ja, ein bisschen schon.“ Hungrig wanderten seine Hände unter Aidens Pullover und schlossen sich um dessen schlanke Taille. Sanft zog er ihn noch näher zu sich und begann liebevoll an seinem Ohr zu knabbern.

Aiden musste sofort verlegen kichern und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Egal wie vertraut ihm die Körperlichkeiten inzwischen waren, Aidens Herz setzte dennoch immer einen Schlag aus, wenn Reel sich ihm so zeigte, und er verfiel seinem Dämon jedes mal aufs neue.

Genussvoll verschränkte er seine Arme in Reels Nacken und holte sich den Kuss von ihm, den er plötzlich so unbedingt begehrte. Fordernd spaltete seine Zunge die Lippen seines Liebsten und umspielte vergnügt dessen gefährliche Reißzähne.

Aiden hatte wirklich jede Relation zur Realität verloren. Das Raubtiergebiss und die glühend roten Augen lösten keinerlei Angst mehr in ihm aus, sondern nur Sehnsucht und Zuneigung – oder wie jetzt in diesem Moment: unbändige Lust.
 

Gierig vergruben sich seine Finger in den Schwarzen Haaren und er spürte, wie sich Reels Bein dreist zwischen seine Oberschenkel schob. Bereitwillig ließ er sich von ihm hochheben und schlang seine Beine um Reels Hüfte, während ihre Küsse zunehmend intensiver wurden.

Zielsicher steuerte Reel das Bett an und fand sich schnell über Aiden gebeugt in selbigem wieder. Begierig zog der an dem schwarzem Oberteil und befreite den sehnigen Oberkörper von dem überflüssigen Kleidungsstück, bevor er seine Finger zärtlich über die lange Narbe gleiten ließ, die Reels Brust zierte.

„Meins“, flüsterte Aiden verschwörerisch und zog ihn bestimmend zu sich runter. Er wollte die warme Brust seines Liebsten an seiner eigenen spüren und kämpfe sich eilig aus seinem Kapuzenpulli heraus.

Lüsternd wanderten Reels Lippen den altbekannten Weg an Aidens Hals hinunter und über dessen Brust, was den wiederum dazu veranlasste immer wieder leise und genussvoll aufzustöhnen.

In diesem Moment war ihm die ganze Welt egal. Er wollte einfach nur Reel – und vielleicht noch eine weitere Kleinigkeit.
 

„Reel?“ Sofort wanderten die roten Augen wieder zu ihm hoch. „Tust du mir einen Gefallen? Ich will was ausprobieren.“ Mit einer Mischung aus Verwirrung und erregter Neugierde beobachtete Reel, wie Aiden in seinen Nachtschrank griff und ein paar schwarze Seidenfesseln hervorholte.„Handschellen sahen so unbequem aus.“ Aiden konnte ihm nicht in die Augen sehen, lief hochrot an und machte dadurch sämtliche Bemühungen Reels, sein Lachen zu verbergen, zunichte. Er war einfach süß, wenn er sich so genierte.

„Du bist niedlich. Besonders, wenn du rot wirst.“

„Lach mich nicht aus.“ Entschuldigend schmiegte Reel sich an ihn und hauchte einen liebevollen Kuss auf Aidens Mundwinkel.

„Mach ich doch gar nicht.“ Bereitwillig nahm er ihm die Bänder ab und sah Aiden eindringlich an. „Aber wehtun werd ich dir nicht.“

„Nein. Fesseln reicht.“ Aiden kam sich komisch dabei vor, das jetzt so auszusprechen, aber das war was er wollte, und endlich hatte er auch das nötige Selbstvertrauen um es laut zuzugeben.

„Damit hab ich zwar keine Erfahrung, aber ich geb mir Mühe.“ Ohne weitere Umschweife schenkte Reel ihm erneut einen aufmunternden Kuss auf die Lippen und vertiefte diesen lustvoll. Aiden ging willig darauf ein und vergaß im Rausch der Endorphine seine Scham.

Hungrig wanderte Reel wieder seinen Hals hinab und platzierte einige liebevolle Bisse und Knutschflecken auf der weichen Haut. Kaum merklich glitt eine seiner schmalen Hände Aidens Arm entlang und schob ihn über dessen Kopf in Richtung des Bettgestells.

Ein aufgeregter Schauer jagte durch Aidens gesamten Körper, als sein Handgelenk das kalte Eisen berührte, und fast von allein folgte sein zweiter Arm dem Vorbild des ersten.

Geschickt schlang Reel die schwarze Seide um die zierlichen Handgelenke und fixierte sie so am Kopfende des Bettgestells.

„Fester.“ Mit einem anzüglichen Schmunzeln auf den Lippen und einem gewissen Maß an Überraschung leistete Reel der Aufforderung Folge und zog das Band noch ein Stück enger. Irgendetwas hatte diese Mischung aus Dominanz und Unterwürfigkeit, die Aiden ihm heute zeigte, und er müsste lügen um zu behaupten, dass es ihm missfiel.
 

Noch einmal trafen ihre Lippen in leidenschaftlichen Küssen aufeinander und Aidens eingeschränkte Bewegungsfreiheit steigerte tatsächlich ihrer beider Lust. Doch noch war Reel nicht fertig mit ihm. Vorfreudig griff er sich ein Weiteres der schwarzen Seidenbänder und legte es Aiden über die Augen.

„Vertrau mir“, flüsterte er beruhigend in sein Ohr, während er das Band gewissenhaft verknotete.

Aidens Körper zitterte. Seiner Sicht beraubt spürte er jede von Reels Berührungen plötzlich um ein vielfaches intensiver. Schon allein wie seine feingliedrigen Finger zärtlich über seine Brust strichen, jagte Aiden eine Gänsehaut über den gesamten Körper.

Ein leichtes Zucken ging durch seinen Leib, als er Reels Zunge über seinen Hals lecken spürte. Sanft glitt sie über seinen Kehlkopf, hoch bis zu seinem Kiefer und dann wieder hinunter zu seinem Schlüsselbein.

Aiden wollte instinktiv nach ihm greifen, ihn weiter zu sich ziehen, sich in den geliebten, schwarzen Haaren festkrallen – doch die Fesseln hielten seine Hände zuverlässig an Ort und Stelle. Also blieb ihm nur, Reels Taille mit den Beinen zu umschlingen, doch auch das vergönnte sein Liebster ihm nicht lange.

Lüsternd machten sich die flinken Finger an Aidens Jeans zu schaffen, drückten seine Beine von Reels Hüfte weg und befreiten sie von dem störenden Stoff. Als Reel sich wieder zwischen seine Beine begab, traf Haut auf Haut.

Aiden hatte es nicht sehen können, aber auch Reel hatte sich seiner Kleidung in Gänze entledigt und gab sich nun vollkommen ihrem Liebesspiel hin.
 

Lasziv verwöhnte er Aidens Brust mit zärtlichen Bissen und lustvollen Küssen, während eine seiner Hände sich ihren Weg unter dessen Hüfte suchte um ihn sanft vorzubereiten.

Wieder wollte Aiden nach ihm greifen und wieder verboten seine eigenen Fesseln es ihm. Blind war er so viel empfindsamer und fürchtete ein wenig den Schmerz, der auf ihn zukam. Er wusste, dass ein einziges Wort von ihm genügen würde und Reel würde ihm die Fesseln wieder abnehmen, also begab er sich vertrauensvoll in seine Hände.

Unbedacht biss Aiden sich auf die Lippe um sein Stöhnen zu unterdrücken. Der Verlust eines Sinnes, schärfte alle anderen so drastisch, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Er konnte Reels Lust nahezu riechen, hörte seinen zunehmend schwerer gehenden Atem und schmeckte noch die Süße des Milchshakes vom Nachmittag, als Reel ihn küsste und anschließend genießerisch über seine Unterlippe leckte.

„Dich zu beißen, ist doch mein Job“, neckte die reizvolle Stimme seines Dämons ihn und kostete das Blut, dass Aiden durch seine Bemühungen leise zu sein, zutage gefördert hatte.
 

Reel vollführte hier einen Drahtseilakt wie nie zuvor. Aidens wehrloser Körper – gefesselt und seiner Sicht beraubt – bebte unter ihm vor Lust und alles an diesem Anblick verlangte von Reel dieser Lust nachzugeben.

Er war zwar derjenige, der hier augenscheinlich die Kontrolle hatte, doch Aiden war es, der die Bedingungen festlegte und die Forderungen stellte, und Reel war unfähig dem nicht Folge zu leisten.

Lustvoll geb er sich ihrem Liebesspiel hin und verbiss sich dabei einmal etwas zu fest in Aidens Hals. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus und raubte ihm noch zusätzlich die Sinne. Alles an Aiden wirkte berauschend auf ihn: sein Geruch, sein unterdrücktes Stöhnen, sein Geschmack, das lustvolle Zittern seines wunderschönen Körpers, doch Reel behielt die Kontrolle über sich – zumindest in gewissem Maße.
 

Für einige Sekunden hörte man nichts als den schwer gehenden Atem des ungleichen Paares.

Sanft nahm Reel seiner Sonne die Augenbinde ab und sah prüfend in die braunen Augen, in denen die Nässe kleiner Tränen glitzerte. Zärtlich wischte er sie mit dem Daumen weg und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er auch noch die Fesseln vom Bettgestell löste.

Die schwarze Seide hatte rote Striemen auf die zierlichen Handgelenke gezeichnet. Vorsichtig ließ Reel seine Finger über die Druckstellen wandern, zog Aidens Handgelenke zu sich und schenkte auch diesen schließlich je einen entschuldigenden Kuss.

„War´s wie du es dir vorgestellt hattest?“ Aiden rang noch nach Atem und überlegte kurz.

„Nein. Ich glaube, es war sogar besser.

Ich hab dich noch nie so intensiv gespürt. Es war... Was denn?“ Reel grinste ihn unverhohlen an und strich Aiden eine Haarsträhne aus dem schweißnassen Gesicht.

„Nichts. Ich hab nur mal wieder festgestellt, wie niedlich du bist. Und wie sehr ich dich inzwischen schon verdorben habe.“ Mit einem etwas hilflosen Lachen brach Aiden den Blickkontakt ab und lief erneut rot an. Wie zur Hölle konnte es sein, dass Reel es immer noch so leicht fertigbrachte, ihn in Verlegenheit zu bringen?

Der Schuldige kuschelte sich indes wieder an Aidens Brust und spielte mit einer der seidenen Fesseln, die er noch immer in der Hand hielt.

„Wo hast du die überhaupt her? Oder hattest du die etwas schon die ganze Zeit in deinem Nachtschrank?“

„Hab ich gekauft, als du im Koma warst. War ein Impulskauf.“

„Aber ganz offensichtlich ein guter“, ergänzte Reel, entließ das Band aus seinen Fingern und schloss seine Arme lieber um Aidens nackten Oberkörper.

Ganz intuitiv wanderte dessen Hand Reels Rücken hinauf und versteckte sich in den schwarzen Haaren, um Reel die Kopfhaut zu kraulen. Wieder drang dieses seltsam schnurrende Summen aus Reels Kehle und forderte Aiden dazu auf, weiter zu machen. Sanft strich Reels wieder ruhiger werdender Atem über Aidens Haut und ließ ihn angenehm erschaudern. Er liebte seinen zweischneidigen Dämon, der hier ganz zahm in seinen Armen lag und dabei dreist die roten Knutschflecken und Bissspuren auf seiner Brust mit den Fingern nachfuhr.
 

Schließlich scheuchte er seinen Dämon dann aber doch hoch. Aiden fühlte sich klebrig und sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche. Ganz abgesehen davon mussten sie jetzt auch schon wieder das Bett neu beziehen, aber eins nach dem anderen.

Als Aiden aus dem Bett aufstand, fiel ihm nicht nur der übliche Schmerz in seinem Hintern, sondern auch noch ein nicht zu unterschätzendes Brennen an seinem Hals auf. Verwirrt betastete er die betreffende Stelle und hörte sofort ein kleinlautes „Tut mir leid“ von Reel. Aiden hatte in der Hitze der Situation gar nicht mitbekommen, wie tief dieser eine Biss gewesen war, und sah nun überrascht auf das Blut an seinen Fingern.

Reel schloss von hinten die Arme um ihn und schmiegte sich entschuldigend an seine Wange. „War ein Versehen. Wenn du willst, kann ich´s nach dem Duschen heilen.“

„Vergiss es. Wegen so einer Kleinigkeit lass ich dich nicht nochmal freiwillig ins Koma fallen.

Außerdem hab ich so für die nächsten paar Tage etwas, was ich dir jedes mal vorhalten kann, wenn du mich mal wieder ärgerst.“ Reel musste ganz unwillkürlich bei Aidens frechem Tonfall lachen.

„Na gut, aber lass mich den Biss wenigstens verbinden.“

„Antrag stattgegeben.“
 

Und so fanden die beiden sich circa 30 Minuten später geduscht, mit nassen Haaren und in sauberen Sachen aus Aidens Schrank auf dem frisch bezogenen Bett wieder.

Seine Bisse dürften eigentlich keine Entzündungen hervorrufen können und hatten es bisher auch nicht getan, aber trotzdem tupfte Reel die Wunde behutsam mit der dafür vorgesehenen Alkohollösung aus dem Erste-Hilfe-Kasten ab.

Aiden zuckte unter dem Brennen immer wieder leicht zusammen, beschwerte sich jedoch nicht und ertrug Reels Fürsorge geduldig.

Zu guter Letzt klebte der noch ein großflächiges Mullpflaster über die Wunde und strich die Klebekanten gewissenhaft mit dem Daumen glatt. Ein letzter prüfender Blick, ein abschließender Kuss neben dem Pflaster und ein zufriedenes „Fertig.“ folgten.

„Du kannst das ja richtig gut“, stellte Aiden neckend fest und bedankte sich ebenfalls mit einem Kuss bei ihm, bevor er sich erschöpft in Reels Arme sinken ließ.

„Das heißt aber nicht, dass du jetzt unvorsichtig werden darfst. Ich bin besser darin Menschen auseinander zu nehmen, als sie wieder zusammenzuflicken.“ Schützend zog er Aiden näher und drückte ihn mit einem glücklichen Seufzen an sich. „Ich liebe dich, Sunshine.“

„Ich dich auch.“ Müde kuschelten sie sich zusammen ins Bett, Reel schlang seine Arme liebevoll um Aidens geschundenen Körper und der schmiegte sich vertrauensvoll an seine Brust.

In diesem Moment war Reel einfach nur dankbar, dass Valefar, Gott, oder wer-auch-immer ihm diese zweite Chance mit Aiden gewehrt hatte, obwohl er sie eigentlich gar nicht verdiente.

Dann fielen ihm die Augen zu und der Schlaf übermannte ihn.

Fasselnd (Adult)

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sackgassen

Hand in Hand liefen Reel und Aiden durch die Stadt. Endlich waren sie mal wieder allein hier – ohne störende Mitschüler oder nervende Okkultisten, und Reel kostete das voll aus.

Aiden hatte inzwischen das Unbehagen abgelegt, das ihn früher immer befallen hatte, sobald ein Passant sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde schief ansah. Jetzt waren ihm diese Blicke völlig egal und er ignorierte jedes böse Kommentar und jedes fiese Geflüster hinter vorgehaltenen Händen.

„Lass uns den langen Rückweg durch die Fußgängerzone nehmen“, schlug Aiden vor und zog Reel auch schon in die entsprechende Richtung ohne auf eine Antwort zu warten. Sie passierten ein Modegeschäft, um dessen Fassade ein Baugerüst stand, auf dem wiederum vier Arbeiter fleißig werkelten.

Plötzlich verstellte ihnen eine Gestalt in einem dunkelgrünen Kapuzenpullover den Weg. Reels Körper gefror, als ihm die verhängnisvollen, blonden Haarsträhnen auffielen, die verräterisch unter der Kapuze hervorblitzten.

Ehe er regieren konnte, streckte die Gestalt die Arme nach vorn, deutete mit den Handflächen in ihre Richtung und murmelte unverständliche Worte auf einer Sprache, die verdächtig an etruskisch erinnerte. Reel wollte sich schützend vor Aiden stellen, doch sein Körper schien wie erstarrt. Kein Muskel rührte sich, kein Ton drang aus seiner Kehle und auch sein Schatten gehorchte ihm nicht.

Er war zu schwach.

Der Magier vor ihnen war mächtiger als er, und Reel war zu schwach um sich selbst geschweige denn seinen Liebsten zu beschützen. Unfähig sich zu bewegen musste er dabei zusehen, wie Aidens Augen plötzlich aus den Augenhöhlen zu treten begannen und er panisch nach Luft rang.

Der feindliche Magier raubte ihm den Atem und ließ Aiden quälend langsam ersticken. Reel vernahm die kläglichen, stimmlosen Laute von seinem Liebsten und konnte noch immer nichts tun um ihm zu helfen.

Hilfesuchend sah er sich um und musste feststellen, dass niemand von den vielen Passanten die Szene zu bemerken schien. Und wenn doch, dann kümmerte niemanden von ihnen der Todeskampf des armen Aiden, dessen unnatürliches Röcheln immer leiser wurde.

Kraftlos sank er in sich zusammen, die leblosen Augen unverwandt auf Reel geheftet.
 

Aiden wurde von einem seltsamen Gefühl geweckt, das er nicht so recht zu deuten wusste. Irgendetwas ermahnte ihn dazu, seinen Schlaf zu unterbrechen, und er folgte dieser Eingebung.

Als er die Augen aufschlug umgab ihn vollkommene Finsternis. Nicht die winzigste Spur von Licht drang durch sein Fenster oder den Türspalt. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Suchend tastete er nach dem Schalter seiner Nachttischlampe, und als er diesen endlich zu fassen bekam und ihn betätigte, klärte sich sehr schnell der Ursprung der undurchdringlichen Dunkelheit.

Reels Schatten wand sich unkontrolliert und ungezügelt um das Bett und die beiden Liebenden, doch er schien nicht aggressiv, sondern vielmehr verängstigt zu sein. Also atmete Aiden tief durch, rief den Schatten zu sich und zwang ihn sanft zur Ruhe.

Endlich gab die lebendige Finsternis den Blick auf Reel frei, der sich mit angstverzerrtem Gesicht und unter ersticktem Stöhnen auf dem Lacken wand.

„Reel. Reel, wach auf.“ Sanft strich Aiden ihm über die Wange und redete beruhigend auf seinen Dämon ein, um ihn möglichst behutsam aus seinem Albtraum zu holen. Endlich öffneten sich die roten Augen und hefteten sich sofort auf Aiden. Instinktiv zog er Reel in seine Arme und der vergrub sein Gesicht an dessen schützender Brust.

„Ist ja gut. Es war nur wieder ein Albtraum. Es ist alles gut.“ Geduldig streichelte Aiden seinen Rücken und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr, bis Reels hektischer Atem sich langsam wieder normalisierte.

„War es der gleiche Traum wie beim letzten Mal?“ Reel schüttelte schwach den Kopf und vergrub sein Gesicht noch tiefer an Aidens warmer Halsbeuge. „Erzählst du mir, was es dieses Mal war?“ Er erhielt keine Reaktion, also setzte Aiden noch mal nach. „Ich weiß, du willst mich damit nicht belasten, aber du musst solche Sachen nicht mehr mit dir allein ausmachen. Ich will für dich da sein.“ Geschlagen seufzte sein Dämon und kitzelte dadurch mit seinem Atem Aidens Nacken.

„Na gut“, nuschelte er leise und ergab sich seinem Schicksal. In knappen Worten schilderte er Aiden auch diesen Traum und kuschelte sich dabei in dessen tröstende Arme.

„Du hast in letzter Zeit wirklich häufig solche Träume.“

„Ja. Ich fürchte der fehlerhafte Exorzismus hat mich doch mehr geschwächt, als ich angenommen hatte. Oder ich bin einfach noch nicht wieder ganz hergestellt. Und jetzt nutzen das die etwas mächtigeren Seelen, die ich verschlungen habe, aus, um mich für den Mord an ihnen zu bestrafen.“ Bestürzt ließ Aiden den Blick sinken und drückte ihn eng an sich.

„Also ist das Ganze meine Schuld.“ Reel sah erschrocken zu ihm hoch.

„So ein Schwachsinn. Ohne dich hatten diese spirituellen Extremisten mich damals einfach aus der Existenz gefegt. Das einzige, wofür du dir die Schuld geben darfst, sind die unvergleichlichen Glücksgefühle, die mich jedes mal überkommen, wenn ich dich sehe.“ Aufmunternd drückte er Aiden einen frechen Kuss auf die Schläfe. „Du bist das größte Glück, auf das ich nicht mal zu hoffen gewagt hatte. Und das letzte was ich will, ist dass du dich schuldig fühlst.

Wir haben doch schon darüber gesprochen.“ Aiden schenkte ihm ein beschwichtigendes Lächeln und zog Reel näher zu sich.

„Du hast recht. Tut mir leid.

Meinst du, du kannst wieder einschlafen?“ Reel zögerte.

„Ich denke, ich werde lieber etwas lesen, aber schlaf du ruhig weiter.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja, ganz sicher. Mir geht’s gut. Mach dir keine Gedanken, Sunshine.“

„Aber wenn irgendwas ist oder du dich unwohl fühlst, weckst du mich. Verstanden?“

„Zu Befehl.“ Ein zärtlicher Kuss besiegelte ihre Vereinbarung und Aiden ließ sich wieder ins Kopfkissen sinken. Sicherheitshalber vergrub er seine Finger in Reels Oberteil und kuschelte sich ein Stück weit an dessen Taille.

Reel versank indes in einem seiner Romane und versuchte das Echo seines Albtraums zu verscheuchen. Er hasste es, Aiden solche Sorgen zu bereiten, aber gleichzeitig war er über alle Maße froh darüber, sein Leid mit ihm teilen zu können und sich zumindest vor ihm nicht verstecken zu müssen.
 

„Sophie. Da bist du ja. Ich hab dich gestern nach der Schule gesucht und du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet.“ Mara lief auf ihre beste Freundin zu, die sie soeben in der geschäftigen Eingangshalle erspäht hatte.

„Entschuldige. Ich war in der Innenstadt und hatte mein Handy auf stumm geschaltet. Stimmt was nicht? Du siehst irgendwie nicht so gut aus.“

„Ach nichts. Ich hatte nur eine Meinungsverschiedenheit mit meiner Schwester. Seit sie nicht mehr an der Schule ist, ruft sie regelmäßig an und per Telefon mit ihr zu streiten ist irgendwie viel anstrengender als persönlich.“

„Dann leg doch nächstes mal einfach auf“, witzelte Sophie und grinste ihre Freundin frech an.

„Sierra würde vollkommen ausrasten.“

„Das stimmt. Sie würde sich so sehr aufregen, dass sie wieder diese roten Flecken am Hals bekommen.“ Beide Mädchen mussten unwillkürlich kichern und Mara wurde wieder etwas leichter ums Herz. Sie vermisste die Gespräche mit Sophie, denn seit sie und Lukas ein Paar waren verbrachte ihre bester Freundin kaum noch Zeit mit ihr.

„Warst du mit Lukas in der Stadt?“

„Ja, und mit Aiden.“ Schlagartig wich sämtliche Farbe aus Maras Gesicht.

„Sophie, ich hab dir gesagt, du sollst bei Aiden vorsichtig sein.“

„Ich weiß. Ich weiß. Bin ich doch auch.

Ich bin übrigens mit den Büchern fertig, die du mir geliehen hast“, wechselte sie schnell das Thema.

„Alles klar. Dann hole ich sie nachher einfach in deinem Zimmer ab, okay?“

„Genau.

Ich muss jetzt auch weiter. Hab ne Verabredung zur Englischnachhilfe.“ Mara blickte etwas enttäuscht drein. Sie hätte gerne noch etwas mit ihrer Freundin geredet, aber die schien sie zunehmend zu meiden.

„Okay. Schade. Dann viel Erfolg.“

„Dir auch. Du hast doch jetzt deinen aufbauenden Französisch-Kurs, oder?“

„Ja. Leider.“ Die beiden Mädchen umarmten sich zum Abschied und gingen dann ihrer Wege. Es brach Sophie das Herz ihre beste Freundin so zu vernachlässigen, aber sie wollte sie nicht versehentlich in Reels Schusslinie bringen. Der Dämon konnte Mara nicht leiden und Sophie konnte noch nicht einschätzen, wie viel Kontrolle Aiden tatsächlich über ihn hatte. Immerhin hatte er schon einmal versucht Mara etwas anzutun.

So langsam verstand Sophie, wie schrecklich es Aiden die ganze Zeit ergangen sein musste, denn nun war auch sie gezwungen, jeden in ihrer Umgebung anzulügen. Sie konnte weder zu Mara, noch zu Lukas oder Aiden ehrlich sein ohne zu riskieren, dass mindestens einer der Drei Schaden nahm.

Ihre einzige Chance bestand darin, Reels Beschwörer ausfindig zu machen und diese ganze Katastrophe ein für alle mal zu einem Ende zu bringen. Zumindest hoffe sie, dass diese Chance bestand.

Nachdenklich und etwas geknickt setzte sie ihren Weg zu Aidens Zimmer fort. Seit Reel wieder erwacht war, hatte sie sich nicht mehr getraut zu Aiden zu gehen, um sich von ihm weitere Einzelheiten über Dämonen und ihre Magie erklären zu lassen.

Aber jetzt wo Reel seine Feindseligkeit ihr gegenüber zum größten Teil abgelegt hatte, hielt sie es für eine gute Idee dieses Ritual wieder aufzunehmen. Nicht zuletzt auch weil der Dämon ihr gewiss ebenfalls so einiges beibringen konnte.

Sophie steckte eh bis zum Hals in dieser Nummer drinnen, also konnte sie genauso gut versuchen das Beste draus zu machen und zumindest ihre unbändige Neugierde zu befriedigen. Außerdem musste sie die Gelegenheit nutzen um mit den beiden ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Sie wollte diesen Magier endlich finden und sie würde jeder noch so kleinen Spur nachgehen um ihn oder sie zu finden, und all ihre Freunde in Sicherheit zu wissen,
 

Als sie vor Aidens Zimmertür stand, versuchte sie gezielt Reels Aura zu orten und stellte fest, dass sie ausgesprochen ruhig und schwach war, weshalb sie betont leise an der Tür klopfte.

„Sophie?“, fragte Aidens Stimme prüfend.

„Ja.“

„Komm rein.“ Zügig schob sie sich durch einen schmalen Türspalt und schloss sie wieder hinter sich, damit niemand einen Blick auf das Innere des Raumes erhaschen konnte. Aiden saß auf seinem Bett und las das Kapitel, das sie übers Wochenende als Englisch-Hausaufgabe aufbekommen hatten. Reel lag auf seinem Schoß und schien zu schlafen.

„Oh. Soll ich später wiederkommen?“

„Nein, passt schon. Weck´ ihn nur nicht auf.“ Aiden legte sein Lehrbuch zur Seite und rann seine Finger einmal zärtlich durch die schwarzen Haare.

„Bedrückt dich was, Sophie? Du siehst irgendwie fertig aus.“

„Ich hab auf dem Weg hierher schon wieder drei Siegel ausstreichen müssen. Es kommen einfach immer neue und ich kann die Aura des Magiers nicht darin spüren. Eigentlich merke ich es, wenn in meiner direkten Nähe Magie eingesetzt wird und ich kann das Muster der Aura dann aufschlüsseln und wiedererkennen, aber diese dämlichen Siegel sind einfach zu schwach. Ich kriege kaum ein Echo aus ihnen raus. Es ist zum verrückt werden.

Darum bin ich auch ständig nervös und fürchte bei jedem, der mir begegnet, er könnte der Magier sein und mir in den Rücke fallen, sobald ich mich nur ganz kurz umdrehe.

Ich glaube, ich werde langsam paranoid. Wie hältst du das nur aus?“ Aiden warf einen vielsagenden Blick auf den schlafenden Dämon in seinem Schoß und sah dann wieder zu Sophie hoch. „Ja gut. Blöde Frage“, gestand sie und wechselte das Thema.

Es war erstaunlich beruhigend all diese Worte endlich mal loszuwerden, aber sie war schließlich nicht hier um sich bei einem Verfluchten darüber auszuheulen, wie schwer doch ihr Leben war. „Ich hab übrigens mal nach dieser Praktik recherchiert. Also das Verschmelzen von mehreren Siegeln um neue zu erschaffen.

Ich hab mich durch elf verschiedene Schriften gewühlt und mein Übersetzungsprogramm damit gequält, und das Ergebnis lautet:“ Sie machte eine dramatische Pause. „Das das gängige Praxis in fast ganz Mitteleuropa ist.

So ziemlich jeder Zirkel unterrichtet das. Allerdings ist es eine der schwereren Techniken und wird nur von Fortgeschrittenen angewendet.

Weiterhelfen tut uns das aber auch nicht wirklich.“ Sophie hatte sich die Nächte um die Ohren geschlagen, aber ihre Suche war erfolglos geblieben. Die Basis-Siegel waren unter Magiern so verbreitet wie Kaffeemaschinen in deutschen Küchen, und auch das Beschwörungsritual, mit dem Reel vermutlich gerufen wurde, gab ihr keine neuen Anhaltspunkte. Überall stieß sie nur auf Sackgassen.

„Wie bist du überhaupt an irgendwas über Magie rangekommen? Du meintest doch, du wärst nur eine Okkultistin und gar keine richtige Hexe.“ Ertappt wich sie Aidens Blick aus.

„Das... öhm... also... Die Gabe mit den Auren wird in meiner Familie schon seit Generationen weitervererbt. Da hat sich im Laufe der Zeit ein bisschen was an Büchern und so angesammelt.

Man will ja schließlich wissen, was das für eine Welt ist, die man da spüren kann, also haben auch schon meine Vorfahren alles zum Thema Magie und Spiritualität gesammelt.“ Gelogen war das nicht. So weit ihr Stammbaum zurückreichte, war immer die erste Frau jeder Generation mit dieser Fähigkeit geboren worden. Einige sahen es als Gabe, andere als Familienfluch, aber egal was es nun war, entgehen konnte ihm niemand.

Aiden sah sie skeptisch an. Er war sich unsicher, wie weit er ihr vertrauen sollte, aber er ließ sie erstmal vom Haken. Es brachte nichts, sie in die Ecke zu drängen, immerhin war er auf ihre Hilfe angewiesen, und Reel schien ebenfalls seinen Groll ihr gegenüber abgelegt zu haben. Also seufzte er einmal resigniert und schob das Thema vorerst bei Seite.

Sie hatten so wie so nur circa zwei Stunden Zeit bis Lukas' Volleyball-Training beendet war und er sich zu ihnen gesellen würde.

„Wie weit waren wir letztes mal gekommen?“ Erleichtert über den Themenwechsel atmete Sophie einmal beruhigt durch.

„Du wolltest mir erklären, was genau auf der Klassenfahrt bei dem Exorzismus passiert ist. Und zwar dieses mal die Vollversion.“ Diese Informationen würden ihr zwar nicht bei der Suche nach dem Beschwörer weiterhelfen, aber es befriedigte ihre Neugierde und erklärte, warum Aidens Aura seither so verändert war.

Irgendwann mitten in Aidens Erzählung wurde Reel wieder wach. Kurz zuckte sein Schatten bei Sophies Anblick, doch er beruhigte sich sofort wieder als Aiden seinen Kopf kraulte. Unverändert entspannt blieb er auf dessen Schoß liegen und nahm die Anwesenheit des Mädchens stillschweigend hin.
 

Als es zwei Stunden später erneut an der Tür klopfte, schreckte Reel sofort hoch und Sophie konnte beobachten, wie er vor ihren Augen in seine menschliche Gestalt wechselte. Sie hatte angenommen, er würde sich auflösen und in Aidens Körper verschwinden, doch der Dämon schien andere Pläne zu haben.

Lukas betrat den Raum und noch während er im Türrahmen stand, verfinsterte sich seine Miene und er seufzte entnervt.

„Der is ja schon wieder hier“, stellte er mit einem vielsagenden Blick auf Reel fest. Der saß nun mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck neben Aiden auf dem Bett und schlang demonstrativ die Arme um ihn. Er war von Lukas' Anwesenheit mindestens genauso genervt, wie der von seiner. Wann immer Lukas da war, musste er seine menschliche Fassade aufrechterhalten und damit Kraft verschwänden und seine Sinne einschränken.

„Jetzt sei doch nicht gleich so abwertend. Da krieg ich ja fast das Gefühl, du könntest mich nicht leiden.“ Lukas verkniff sich jeden weiteren Kommentar.

„Reel ist echt gut in Englisch. Er hat mich durch meine Prüfung letztes Halbjahr gebracht, darum hat ich ihn gefragt, ob er uns mit der Textanalyse hilft.“ Schon wieder hatte Aiden diesen Idioten also einfach ungefragt angeschleppt. War ja klar.

Lukas verdrehte erneut die Augen, aber ergab sich seinem Schicksal. Resigniert ließ er seinen Rucksack auf den Boden fallen, setzte sich im Schneidersitz auf das Laminat und kramte seinen Hefter hervor.

Waffenstillstand

Nun da Lukas von Reels Existenz – wenn auch nicht von seiner wahren Natur – wusste, versteckte er sich nicht mehr. Wann immer Lukas Aidens Zimmer aufsuchte, saß Reel an dessen Seite.

Und Lukas revanchierte sich dafür, indem er auffallend oft unangekündigt ebendort auftauchte und die Zweisamkeit der beiden störte.

Reel machte seinen Besitzanspruch auf Aiden klar und Lukas tat, was er nur konnte, um ihm diesen wieder abzusprechen.

Aiden und Sophie standen eher ratlos daneben und konnten nur dabei zusehen, wie die beiden sich in ihrer Rivalität immer weiter hochschaukelten.
 

Erschöpft schlurfte Aiden am Waldrand entlang. Er und Reel hatten sich für ihr übliches Training auf ihre kleine Lichtung zurückgezogen, doch Aiden hatte nicht besonders lange durchgehalten, weshalb er nun schon wieder auf dem Rückweg zum Internat war.

Es war weniger sein Körper, der ihn auslaugte, sondern eher sein Geist. Die Schauspielerei vor Lukas, die anstehenden Zwischenprüfungen, die Suche nach dem Beschwörer, sein Argwohn gegenüber Sophie und nicht zuletzt auch seine eigene dämonische Korrumption – all das nagte unentwegt an ihm und raubte ihm die Nerven.

„Alles okay, Sunshine? Du seufzt grade zum vierten mal in nur zwei Minuten.“ Aiden war so in seinen Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Reel sich von ihm gelöst und vor ihm materialisiert hatte.

„Reel! Was machst du denn? Wenn dich jemand sieht -“

„Dann sehen sie nur deinen ausgesprochen attraktiven Freund, der zwar eigentlich nichts auf dem Internatsgelände verloren hat, aber ansonsten nicht weiter auffällt.“ Mit einem aufmunternden Lächeln deutete er auf seine menschliche Gestalt. Ein fünftes Seufzen entstieg Aidens Kehle und er ließ sich geschlagen gegen Reel sinken.

„Es ist grade einfach alles ein bisschen viel. Diese dämlichen Siegel machen mich irre und wir sind in den letzten Tagen keinen Schritt näher an den Magier ran gekommen.“ Beschwichtigend strich Reel ihm über den Rücken, als er plötzlich eine Gestalt in seinem Augenwinkel bemerkte.

Er wollte Aiden schon warnen, als er ihren Störenfried zweifelsfrei als Lukas identifizieren konnte.

Nun wollte er Reel also auch noch die Zweisamkeit beim Training nehmen. Das war zu viel. Wenn Lukas nun auch noch unangekündigt bei ihrem Training auftauchen konnte, durfte Reel seine Deckung wirklich nirgendwo mehr fallen lassen. Wut stieg in ihm hoch und vernebelte zunehmend seinen Geist. Das würde er dem Jungen nicht durchgehen lassen.
 

Als Lukas Aiden endlich fand, war der selbstverständlich in Gesellschaft seines besitzergreifenden Freundes. Aiden sah fertig aus und lehnte sich geschlagen gegen Reel.

Hatten die beiden Ärger? Hatte Reel ihn wieder in irgendwas gefährliches verstrickt? Oder versuchte er Aidens offensichtliche Schwäche in diesem Moment auszunutzen, um ihn zu irgendetwas zu überreden?

Lukas' Neugierde und Zorn gewannen die Oberhand über sein Gewissen. Schnell verbarg er sich hinter einem der vielen, dicken Bäume und versuchte das Gespräch zu belauschen.
 

Reel blieb das Verhalten des ungebetenen Gastes nicht verborgen und ein fieses Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Wenn Lukas unbedingt Dinge hören wollte, die nicht für seine Ohren bestimmt waren, dann würde er ihm etwas zum Lauschen liefern.

„Sunshine, du weißt ich bin immer für dich da und dass du dich immer auf mich verlassen kannst.“ Aiden nickte noch immer eng an seine Brust gekuschelt. „Du bist nicht alleine. Ich weiß alles über dich und du alles über mich. Wir schaffen das schon zusammen.“

„Danke. Ohne dich würde ich hier wirklich durchdrehen.“

„Eigentlich hattest du ja immer Lukas als Stütze, aber jetzt ist er eher zur Last für dich geworden. Tut mir leid, dass ich dir das kaputtgemacht hab.“

„Ach Quatsch. Ich hätte ihm so oder so nichts davon gesagt. Damit muss ich jetzt halt leben. Selbst wenn er alles wüsste, würde er es niemals verstehen.

Für ihn kommt es ja schon einem Weltuntergang gleich, wenn der Release-Termin eines Videospiels ein paar Monate nach hinten verschoben wird. Das, womit wir uns rumschlagen, konnte ich ihm niemals zumuten. Das wäre zu viel für ihn.“

„Aber dafür hast du ja mich.“ Reel strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hauchte einen berechnenden Kuss auf Aidens Stirn.

„Ja. Du bist der einzige, den ich nie anlügen muss.“

„Das könntest du auch gar nicht.“

„Stimmt. Dir konnte ich noch nie was vormachen, und da bin ich inzwischen wirklich froh drum.“
 

Das reichte. Mehr brauchte Lukas nicht hören. Mehr wollte er nicht hören.

Schweigend verließ er sein Versteck und lief zurück zum Schulhaus.

„Lukas?“ Erst jetzt fiel auch Aiden ihr ungesehener Zuhörer auf und er verstand sofort, warum Reel seine Sätze eben so ungewöhnlich formuliert und gezielt das Thema mit Lukas angesprochen hatte.

Mit leerem Blick sah Aiden ihm nach und auch Reel dämmerte so langsam, dass er grade zu weit gegangen war.

„Sunshine -“

„Ich will nichts hören!“ Reel fuhr erschrocken zusammen. „Ich hab dir deine Spielereien mit Lukas durchgehen lassen, aber ich hab dich gewarnt. Wenn ich das mit ihm nicht wieder grade biegen kann, hast du ein ernsthaftes Problem, dass kann ich dir versprechen.“ In Aidens sonst so weichen Augen spiegelten sich kalter Zorn und verletzte Tränen. „Grade bei dir hab ich mich darauf verlassen, dass du mir nicht in den Rücken fällst, dass ich dir vollkommen vertrauen kann, dass du ehrlich zu mir bist.“

„Sunshine, ich -“

„Is mir egal. Ich will´s nicht hören.

Und zwar solange nicht, bis ich den Mist, den du verzapft hast, wieder in Ordnung bringen konnte. Verstanden?“ Geschlagen und reumütig nickte Reel und gehorchte dem nonverbalen Befehl, als Aiden sein Handgelenk packte. Folgsam und wortlos löste er sich in schwarzen Nebel auf und verbarg sich in Aidens Körper.
 

Unglücklich sank Aiden auf seinem Bett zusammen. Lukas hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und weigerte sich, mit ihm zu sprechen – nachvollziehbar, nach dem was er gehört hatte.

Reel materialisierte sich in gebührendem Abstand vor ihm und haderte mit sich, ob er das Wort ergreifen sollte oder nicht. Doch Aiden nahm ihm die Entscheidung ab.

„Ich will´s nicht hören“, griff er allem vor, was Reel hätte sagen wollen, also verzog er sich schweigend auf die Fensterbank. Er wollte sich am liebsten selbst zerreißen für die Katastrophe, die er hier losgetreten hatte. Warum schaffte er es immer wieder alles Gute, was ihm passierte, zu zerstören? Warum konnte er sein Ego und seinen Geltungsdrang nicht einfach Aiden zuliebe runterschlucken und ihm der Partner sein, den er verdiente?

Das Jahr neigte sich dem Ende und entsprechend früh wurde es am Abend dunkel. Zu Reels Glück, denn erst nach Sonnenuntergang konnte er gefahrlos aufs Schuldach flüchten.

Aidens Ablehnung machte ihn fertig. Er wusste wie schwach und erbärmlich es wirken würde, wenn er jetzt einfach floh, aber er ertrug diese Situation einfach nicht länger. Und so war er gemeinsam mit den letzten Sonnenstrahlen verschwunden.

Aiden blieb allein zurück und wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. Reels feige Flucht ärgerte ihn, aber gleichzeitig wollte er ihn momentan auch einfach nicht in seiner Nähe haben. Ihm war klar, wie sehr Reel unter seinem Verhalten litt, aber das hatte er sich mehr als verdient.

Auf dem Dach brach Reel leise in Tränen aus. So schrecklich wie jetzt hatte er sich selten gefühlt. Er hasst sich für seinen impulsgesteuerten Egoismus und vor allem dafür, Aiden schon wieder wehgetan zu haben.

Verzweifelt vergrub er sein Gesicht in den Armen, die er verschränkt auf seine Knie gestützt hatte, und versank zuerst in Selbsthass und dann in einem unbeabsichtigten Schlaf, der selbstverständlich einen neuen Albtraum mit sich brachte.
 

Aiden drückte sein Gesicht ins Kissen und wollte am liebsten laut losschreien. Nichts lief glatt, nichts funktionierte, alles wurde nur immer noch schlimmer und jetzt fiel ihm sogar Reel in den Rücken. Aiden war eh schon am Ende mit seinen Nerven und jetzt auch noch das.

Vermutlich hätte er Reels Spielchen einfach schon viel früher Einhalt gebieten sollen. Er kannte ihn doch inzwischen gut genug um zu wissen, dass er zu solchen Dummheiten neigte, wenn er ihn nicht im Auge behielt. Er hätte es besser wissen müssen.

Unglücklich machte er sich bettfertig und verkroch sich unter seiner Decke. Das Bett war plötzlich so groß und kalt ohne Reel, und Aiden fühlte sich unwillkürlich zurückversetzt in die Zeit, in der sein Dämon im Koma lag.

Vielleicht hätte er ihm doch die Gelegenheit geben sollen, sich zu entschuldigen. Verdammt, er hatte mal wieder jedes Recht sauer auf ihn zu sein und trotzdem empfand er Sehnsucht nach ihm.
 

Mitten in der Nacht fuhr Aiden aus dem Bett hoch. Er konnte Reel im Zimmer spüren, machte das Licht an und sah seine schwarze Silhouette vor dem Fenster stehen.

„Lass mich in Ruhe. Ich hab dir doch gesagt, ...“ Aiden stockte. Reel zitterte, sein Schatten flackerte hektisch und sein Blick wirkte leer und abwesend. „Albtraum?“ Reel nickte.

„Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“ Betreten drehte er sich zum Fenster und wollte sich wieder zurückziehen, doch Aiden konnte ihn so nicht gehen lassen.

„Warte.“ Einladend breitete er die Arme aus. „Komm her.“ Etwas unsicher sahen die roten Augen zu ihm hinüber, dann gab Reel seiner Schwäche schließlich nach und ließ sich zaghaft in Aidens Arme sinken. Beruhigend streichelte der ihm über den Rücken und flüsterte sanft: „Egal wie sauer ich auf dich bin und auch wenn ich dich am liebsten gleich nochmal auseinandernehmen will, ich würde dich nie mit deinen Albträumen alleine lassen. Ich weiß, wie schlimm sie für dich sind.“ Dankbar kuschelte Reel sich an seine Brust und hauchte ein ersticktes „Danke“, während sein Schatten sich liebevoll um Aidens Körper wand und auf dessen Schultern niederließ.

„Schon gut. Aber glaub ja nicht, dass ich dir jetzt verziehen hab.“

„Ich weiß.“ Instinktiv vergrub Reel sein Gesicht noch tiefer in Aidens blassblauem Schlafshirt.

„Warum kann ich mit dir eigentlich nie richtig streiten?“

„Weil ich es nicht mag, wenn du sauer auf mich bist.“ Ein schwaches Schmunzeln stahl sich auf Aidens Lippen.

„Jetzt werd bloß nicht frech.“

„Gute Nacht, Sunshine. Ich liebe dich.“

„Nacht Reel. Ich dich auch. Obwohl du mir das manchmal wirklich schwer machst.“
 

Den Rest der Nacht blieb Reel von Albträumen verschont und so war er am nächsten Morgen zumindest halbwegs ausgeruht, als er aufwachte. Verschlafen richteten er und Aiden sich im Bett auf, doch als Reel ihn zur Begrüßung küssen wollte, wies der ihn entschieden zurück.

„Vergiss es. Ich bin immer noch sauer auf dich.“ Ein schuldbewusstes Seufzen drang aus Reels Kehle und sein Blick sank bedrückt zu Boden.

„Und wie kann ich das ändern?“

„Entschuldige dich bei Lukas. Und zwar anständig.“ Verärgert biss Reel sich auf die Lippe. Darauf hatte er ja so gar keine Lust, aber was tut man nicht alles für die Liebe? Widerwillig gab er sich seinem Schicksal und Aidens Bedingung geschlagen. Dann würde der mächtige Rachedämon der oberen Riege sich eben bei dem ahnungslosen Internatsschüler entschuldigen gehen.

„Wenn es dich glücklich macht, Sunshine. Alles, was du willst.“

„So ist´s brav.“ Triumphierend fuhr Aiden ihm durch die Haare und zog ihn nun doch nochmal zu sich. „Konntest du einigermaßen schlafen?“

„Ja. Wenn du da bist, ist´s immer nicht ganz so schlimm.“ Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Lukas nicht der einzige war, bei dem er sich entschuldigen musste. „Tut mir leid, Sunshine. Die Aktion gestern war übertrieben und unnötig. Ich war eifersüchtig und hab nicht nachgedacht.“

„Das kannst du laut sagen.

Und genau deshalb wirst du dich auch nicht nur bei mir, sondern auch bei Lukas entschuldigen.“ Reel musste ganz ungewollt lachen.

„Jetzt sofort?“

„Also wenn du heute noch deinen Kuss haben willst, dann ja.“

„Zu Befehl“, gab er sich mit einem schiefen Lächeln geschlagen.
 

Lukas schlurfte wieder zu seinem Zimmer zurück. Er war besonders früh beim Frühstück gewesen um Aiden und Sophie aus dem Weg zu gehen. Für ein Gespräch hatte er momentan einfach nicht die Nerven, außerdem wollte er Aiden noch etwas schmoren lassen.

Lustlos betrat er sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich und fuhr erschrocken zusammen.

„Was zur Hölle? Wie bist du... Nein. Egal. Ich will´s gar nicht wissen. RAUS! Sofort!“ Da saß die Wurzel allen Übels seelenruhig auf seinem Schreibtisch und drehte wartend einen Kugelschreiber zwischen den Fingern.

„Jetzt komm mal wieder runter. Ich -“

„Verpiss dich, oder ich ruf einen Lehrer. Du hast hier nichts zu suchen. Nicht im Internat und schon gar nicht in meinem Zimmer!

Aiden gehört dir – du hast gewonnen. Was willst du denn noch?“ Reel seufzte tief. Den Mist hatte er sich selbst eingebrockt, als musste er da jetzt durch. Lukas wollte schon zur nächsten wütenden Tirade ansetzten, doch Reel kam ihm zuvor.

„Es tut mir leid.“ Lukas starrte ihn irritiert an. Damit hatte er jetzt irgendwie nicht gerechnet. „Ich wusste, dass du uns belauschst, und habe Aiden deshalb dazu gebracht, Dinge zu sagen, die du falsch-verstehen würdest.“

„Das ändert nichts daran, dass er es gesagt und ganz offenbar auch so gemeint hat. Ihr habt Geheimnisse vor mir und für Aiden ist es belastend sie vor mir zu verbergen.“

„Du kennst nicht die ganze Geschichte.“

„Ja, weil sie mir keiner erzählt! Du tauchst hier wie aus dem nichts auf und nimmst plötzlich Aidens ganzes Leben in Beschlag. Du hast ihn einer kompletten Wesensveränderung unterzogen. Und dass du nicht ganz normal bist, steht ja wohl außer Frage.

Was zur Hölle ist eigentlich dein Problem? Warum bist du so ein Arschloch?“ Reel musste tief durchatmen. Sein innerer Schutzmechanismus wollte ihn die Frage wütend abschmettern lassen, doch das wäre hier nicht zielführend. Er musste sich besinnen und wohl oder übel wahrheitsgemäß antworten, wenn er das hier wieder in Ordnung bringen wollte.

„Aiden ist alles, was ich habe. Ich hab Angst ihn zu verlieren. Angst, dass du mit deiner Ablehnung mir gegenüber Zweifel in ihm säst. Er legt viel mehr Wert auf deine Meinung, als du glaubst.

Ich weiß selbst, dass ich alles andere als eine gute Partie bin, und Aiden weiß das auch. Trotzdem hat er sich für mich entschieden, obwohl er besser als jeder andere weiß, worauf er sich bei mir einlässt.

Ich liebe Aiden und das Letzte, was ich will, ist dass ihm irgendwas passiert. Das kannst du mir glauben.“ Völlig überrumpelt von so viel Ehrlichkeit und dem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck starrte Lukas den Eindringling an und lehnte sich haltsuchend mit dem Rücken gegen die Zimmertür. „Aidens Worte gestern klangen härter als sie sind.

Er will mit seinen Geheimnissen nur sichergehen, dass du nicht zwischen die Fronten gerätst.

Du kennst ihn doch. Wenn er könnte, würde er die Schuld der ganzen Welt auf sich nehmen, nur damit alle anderen zufrieden sind.“ Lukas nickte zustimmend. Aiden war schon immer harmoniebedürftig gewesen. Er ging jedem Kampf aus dem Weg und entschuldigte sich auch dann, wenn er gar nicht Schuld war, um Streit zu vermeiden.

Nicht zuletzt auch deshalb verstand Lukas nicht, was Aiden in diesem gewalttätigen, zwielichtigen, provokanten Arschloch sah.

„Wenn Aiden wegen dir was passiert oder du ihm das Herz brichst, dann bring ich dich um.“ Überrascht zog Reel die Augenbrauen hoch und ohne dass er es merkte, stahl sich ein schwaches, bittersüßes Schmunzeln auf seine Lippen.

„Falls das passieren sollte, lass ich mich freiwillig von dir aufknüpfen.

Hör zu, wir müssen keine Freunde sein, aber lass uns Aiden zuliebe irgendwie miteinander klarkommen.“

„Unter einer Bedingung.“ Lukas legte eine dramatische Pause ein und sah Reel streng in die Augen. „Brich nie wieder einfach so in mein Zimmer ein.

Wie zur Hölle bist du hier überhaupt reingekommen?“

„Fenster.“

„Das hier ist der dritte Stock.“

„Ja und?“ Völlig fertig mit der Welt schlug Lukas die Hände vors Gesicht und massierte sich die Schläfen.

„Oh man, Aiden. Warum konntest du dir nicht irgendwen normales suchen?“ Schwungvoll sprang Reel von Schreibtisch auf und hielt Lukas die Hand hin.

„Also, Waffenstillstand?“ Kurz beäugte Lukas die dargebotene Hand skeptisch, schlug dann aber doch ein.

„Waffenstillstand. Aber eine Frage hab ich noch.

Was ist mit Sophie? Ist sie in Gefahr?“ Reel rechnete ihm die Sorge um seine Freundin hoch an und überlegte kurz, um Lukas eine wahrheitsgemäße Antwort geben zu können.

„Nicht in viel größerer als du, denke ich. Aber lass mich dir einen Rat geben – oder eher zwei: Hör auf sie. Und pass auf sie auf.

Mara neigt dazu ihre Neugierde über ihre eigene Sicherheit zu stellen. Irgendwann wird sie das umbringen.“

Und mit diesen Worten wandte Reel sich dem Fenster zu, um wieder zu gehen. Geistig noch mit den Worten von eben beschäftigt, beobachtete Lukas, wie die schmale Gestalt sich routiniert aus dem Fenster faltete und trittsicher an der schmuckvollen Fassade hinüber zu Aidens Zimmerfenster hangelte.

Und alles geht in Flammen auf

Geschickt schwang Reel sich in Aidens Zimmer und ließ dort seine menschliche Fassade fallen. Er hatte zwar zumindest den zweiten Teil der Nacht erholsam schlafen können, aber dank seiner Albträume litt er noch immer unter akutem Schlafmangel, und das Maskieren des gesamten Körpers war ohnehin schon eine kräftezehrende Aufgabe.

Vor Lukas hatte Reel seine Schwäche verborgen, aber Aiden sah ihm die Erschöpfung sofort an.

„Hab mich bei ihm entschuldigt und einen Waffenstillstand mit Lukas ausgehandelt. Krieg ich jetzt meinen Kuss?“ Reel klang in diesem Moment so kindlich und bemitleidenswert, dass Aiden ein leises Lachen unterdrücken musste.

„Komm her.“ Bereitwillig nahm er Reels Gesicht zwischen die Hände und schenkte ihm einen liebevollen Kuss auf die Lippen. „Du siehst furchtbar müde aus.“ Reel schlang die Arme um Aidens Körper und hielt ihn eisern fest. Er roch so vertraut und war so angenehm warm.

„Lässt du mich noch ein bisschen bei dir schlafen, bevor du zum Unterricht musst? Nur fünf Minuten.“ Als Antwort zog Aiden ihn nur stumm zum Bett und ließ ihn sich an seine Brust kuscheln.

Besorgt kraulte er ihm die Kopfhaut und lauschte dem ruhigen Atem seines geliebten Dämons. Seine Albträume bereiteten ihm Kopfzerbrechen. Sie quälten Reel und raubten ihm den Schlaf und die Kräfte. Es brach Aiden jedes mal das Herz, ihn so verängstigt und verstört zu sehen, doch er wusste einfach nicht, wie er ihm helfen sollte.

Reel litt zunehmend unter seinem Schlafmangel und es würde wohl nicht lange dauern, bis auch alle anderen darunter leiden würden, denn sein Dämon konnte unerträglich launisch werden, wenn er müde war, und das würde in Gegenwart von Lukas oder Sophie früher oder später zu Problemen führen.
 

Abgesehen von diesen Launen, ausgelöst durch seinen Schlafmangel, verhielt sich Reel ab diesem Zeitpunkt für seine Verhältnisse ausgesprochen anständig und zügelte sofort seine dämonische Natur, sobald Aiden ihm einen mahnenden Blick zuwarf.

Lukas traute dem Frieden noch nicht so ganz, doch auch er hielt sich an ihren Waffenstillstand. Es gruselte ihn schon fast, wie zahm der missgelaunte Mistkerl plötzlich war. Aiden musste ihn tatsächlich ordentlich zusammengestaucht haben. Ihm lag also doch etwas an Lukas' Freundschaft und er ließ Reel wohl doch nicht ausnahmslos alles durchgehen. Wer hätt´s gedacht?
 

Für die junge Hexe, die es auf Aiden abgesehen hatte, kamen die Dinge hingegen noch lange nicht ins Lot. Ihr Versagen machte immer mehr die Runde und das ehrgeizige Mädchen zum allgemeinen Gespött. Gerade ihr – einer der fähigsten Beschwörerinnen des Zirkels – hätte die Bestie doch gehorchen müssen.

Aber dem war nicht so. Ihre eigene Waffe verweigerte sich ihr. Ihr eigenes Werkzeug diente einem anderen.

Vorgeführt und erniedrigt von einem einfachen, nicht-magischen Jungen – so wollte sie nicht gesehen werden. So durfte sie nicht gesehen werden.

Sie machte nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mutter zum Ziel von Hohn und Lächerlichkeit. Wenn ihr Tun nicht bald von Erfolg gekrönt wäre, würde sie nicht rechtzeitig als vollwertiges Mitglied des Zirkels anerkannt werden und würde nicht am Ritual des Großmeisters teilnehmen können.

Entschlossen ließ sie die scharfe, gebogene Klinge des schmuckvollen Ritualdolchs das Fleisch eines Hasen zerteilen. Das Tier hatte nicht mal die Gelegenheit sich zu wehren, so schnell verließ sein Blut den kleinen Körper und ergoss sich auf den Boden.

Der altbekannte, metallisch-süßliche Geruch stieg ihr in die Nase und sie setzte zu einer Beschwörungsformel an. Die vier Opfer, die sie in Form von vier schneeweißen Hasen dargebracht hatte, sollten ausreichen um ihr genügend niedere Diener zu verschaffen, um ihre Prüfung ein für alle mal zu beenden. Die Zeit für Katz-und-Maus-Spielchen war vorbei. Sie würde einfach das ganze Haus niederbrennen um dieses elende, kleine Mäuschen endgültig zu vernichten.
 

Die beiden Paare schlenderten grade, wie sie es in letzter Zeit häufiger taten, durch den Park, als Sophie plötzlich abrupt innehielt. Ihre Augen weiteten sich vor Angst und das Blut gefror ihr in den Adern.

„Sophie? Alles okay? Geht´s dir nicht gut?“ Besorgt musterte Lukas das bleiche Gesicht seiner Freundin.

Reel wollte schon genervt seufzen, als auch er bemerkte, was Sophie so verängstigte. Verdammt, warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Innerlich verfluchte er seine Erschöpfung und vor allem seine menschliche Fassade, die seine Sinne trübte und ihm die Kraft raubte.

Panisch blickte er sich in dem gut besuchten Park um, durch den unbekümmert Pärchen, Familien und kleine Gruppen spazierten. Sein Griff um Aidens Hand verstärkte sich und er tauschte einen wissenden Blick mit Sophie aus, die sich nun endlich aus ihrer Starre gelöst hatte.

Ohne ein weiteres Wort schnappten sowohl Reel als auch Sophie ihre Partner und zogen sie mit sich, während sie den breiten Sandweg entlang rannten. Von den Passanten wurden ihnen nur verwirrte Blicke und erschrockene Kommentare zugeworfen, aber die waren momentan ihr kleinstes Problem.

„Hey! Was soll das denn jetzt?“ Lukas versuchte sich von Sophie loszureißen, doch sie hielt ihn eisern fest.

„Vertrau mir einfach und lauf!“

Aiden verstand auch nicht so recht, was hier passierte, aber das musste er auch gar nicht. Reels Reaktion sagte ihm alles, was er wissen musste, also rannte er so schnell seine Beine ihn trugen.

„Die Gasse hinter der alten Feuerwehr“, rief Sophie Reel zu, der mit Aiden an der Hand vorneweg rannte, und gab ihm so eine Route, wo ihnen möglichst wenig andere Menschen begegnen sollten.

Sofort schlug Reel die entsprechende Richtung ein, wich auf dem Bürgersteig den Passanten aus und bog hinter das verfallene Gebäude ein, das vor etlichen Jahren mal Sitz der örtlichen Feuerwehr gewesen war.

„Was zum -“ Eine hohe, massive Absperrung mit der Aufschrift „Betreten verboten. Verletzungsgefahr durch fallende Dachziegel“ verstellte ihnen den Fluchtweg.

„Nein nein nein.“ Die steigende Panik und Atemlosigkeit der Flucht ließen Sophies Stimme unnatürlich hoch und quitschig klingen. Sie wollte sich umdrehen, doch die Präsenzen, die sie ungesehen verfolgt hatten, schnitten ihnen den Rückweg ab.
 

„Was ist denn bitte in euch gefahren? Wollt ihr mich verarschen?“ Lukas sah die anderen Drei völlig fassungslos an und befreite sich endlich aus Sophies Klammergriff. „Warum rennen -“

„Fresse halten, Lukas!“ Reel hatte gerade absolut keinen Nerv für ihn übrig und stellte sich schützend vor Aiden, der sich instinktiv mit dem Rücken gegen die Absperrung presste.

Auch Sophie drängte sich eng an die Holzdielen, die ihren Fluchtweg in eine Todesfalle verwandelt hatten, und zog Lukas so gut es ging zu sich.

„Mach was, Aiden!“

„Was denn? Ich weiß ja nicht mal, was genau los ist!“ Die Panik und Unruhe von Sophie und Reel übertrug sich auch auf Aiden.

„Sunshine, ich kann so nichts machen“, drängte Reel ihn und spielte damit auf seine menschliche Gestalt an. Die Dämonen, die ihr Peiniger ihnen geschickt hatte, waren schwach und kein Maß für Reels Macht, aber sie waren leider auch in extremer Überzahl – klassisches Kanonenfutter, aber so zahlreich wie die Sterne am Nachthimmel.

„Nein. Das geht nicht -“ Wenn Reel sich vor Lukas' Augen verwandelte, war alles für die Katz – alle Mühen und aller Ärger, den Aiden auf sich genommen hatte, um Lukas da raus zu halten.

Reel hatte ihm versprochen, dass er ohne Aidens ausdrückliche Erlaubnis alles Dämonische vor Lukas verbergen würde, aber er würde Aiden nicht beschützen können, wenn er ihn nicht freiließ – von den beiden anderen Mensch hier in der Gasse mal ganz zu schweigen.

„Sunshine!“ „Aiden!“ Aiden konnte erkennen, wie sich unförmige Gestalten aus dem Schatten der Gasse lösten und in ähnlicher Art und Weise, wie er es von Reel kannte, eine feste Form ausbildeten.

Doch im Gegensatz zu seinem hochrangigen Rachedämon besaßen diese armseligen Gestalten keinerlei Menschlichkeit mehr. Sie bewegten sich teilweise auf allen Vieren, waren so hager und dürr, dass man ihre Knochen unter der gräulichen Haut sehen konnte, und ihre Augen waren vollkommen rot – nicht nur wie bei Reel, dessen Iris einem lodernden Flammenmeer glichen, sondern der gesamte Augapfel leuchtete in dieser Farbe.

Erschrocken presste sich nun auch Lukas panisch an die Absperrung und stammelte einige unverständliche Wortfetzen. Endlich erkannte Aiden ihre Lage und erlaubte seinem Dämon lautstark das Handeln nach eigenem Ermessen.
 

Lukas' Herz schlug ihm bis zum Hals. In was für einen Horrorfilm war er denn hier geraten? Eben waren sie noch auf einem harmlosen Doppeldate gewesen und jetzt standen plötzlich Gollums fünf besessene Cousins vor ihnen und drängten sie in die Ecke. Und als wäre das alles noch nicht genug, musste Reel dieser albtraumhaften Szene auch noch die Kirsche aufsetzen.

Sobald Aiden ihm seine Erlaubnis erteilt hatte, war eine Art lebender Schatten aus seinen Schultern gebrochen und ein tiefes Knurren hallte von den Mauern der Gasse wieder. In einer Geschwindigkeit, dem das menschliche Augen kaum folgen konnte, bewegte er sich von einem ihrer Angreifer zum nächsten, rammte ihnen seine Dolche, Klauen und sogar Zähne in die Körper, und zerriss sie mühelos wie trockenes Herbstlaub.

Die besiegten Gestalten verloren ihre Form und ließen nichts zurück, was darauf hätte schließen lassen, dass sie je existiert hatten. Zumindest solange bis die nächste dieser abartigen Figuren sich aus den Schatten erhob und ebenfalls von dem rasenden Monster, das bis eben noch Aidens Hand haltend mit ihnen durch den Park geschlendert war, gnadenlos zerfetzt wurde.

Eine Bewegung in Lukas' Augenwinkel ließ ihn sich ruckartig von der absurden Szenerie abwenden und seinen Kopf drehen, nur um direkt in zwei pupillenlose, blutrote Augen zu sehen, die ihn willenlos fixierten. Lukas holte Luft um zu schreien, doch noch ehe er einen Laut hervorbringen konnte, zerfiel die Gestalt in winzige, schwarze Partikel und gab den Blick auf Aiden frei, der mit einem Dolch in den Händen hinter dem Dämon gestanden und ihn erstochen hatte.

„Was... Wie...“ Lukas brachte keinen zusammenhängenden Satz hervor. Das war alles zu absurd. Was passierte hier? Wo war er hier hineingeraten? Und warum war er anscheinend der einzige von ihnen, der komplett die Fassung verlor?
 

Die niederen Dämonen hatten aufgehört nachzukommen und eine trügerische Ruhe legte sich über die abgelegene Gasse. Sophie drückte aufmunternd seine Hand und streichelte ihrem Freund über den Rücken. Es musste schwer für ihn sein, ohne jegliche Vorwarnung auf diese Art und Weise mit Magie konfrontiert zu werden, und sie wollte ihm gerne beistehen, aber leider war sie selbst noch etwas neben der Spur und verarbeitete noch immer die abartigen Auren ihrer Verfolger.

„Sunshine. Alles okay?“ Aiden ließ die beiden anderen stehen und lief zu seinem Reel.

„Ja. Alles gut. Ich glaube nur Lukas hat das Ganze nicht so gut verkraftet.“ Ohne weiter auf den Geisteszustand des einzigen Unwissenden ihrer Gruppe einzugehen, prüfte Reel, ob Aiden unverletzt war, und hauchte ihm anschließend einen erschöpften aber erleichterten Kuss auf den Mundwinkel.

„Sophie! Komm her.

Wenn du dich beeilst, kannst du die Energiesignatur des Beschwörers noch spüren und daraus vielleicht Hinweise über die Identität des Magiers gewinnen, dem wir diese nette, kleine Überraschung zu verdanken haben.“ Sophie warf ihm einen finsteren Blick zu. Sie hasste es, wenn der Dämon in alte Muster verfiel – sie herumschubste, Lukas absichtlich leiden ließ und Aiden zunehmend verdarb. Reel war so verdammt zweischneidig und launisch, aber sie hatte sich das Ganze selbst eingebrockt und nun musste sie damit leben.

Widerwillig ließ sie Lukas los, nährte sich der Stelle, an der Reel die meisten dieser unglückseligen Marionetten getötet hatte, und erstarrte erneut als deren verdorbene Auren auf sie einschlugen.

„Ich kann nicht. Ich will nicht! Das ist... zu viel.“ Sophies Körper zitterte plötzlich unkontrolliert und sie musste sich aktiv gegen den Drang, die Flucht zu ergreifen, wehren.

„Jammer nicht rum. Es wird ja wohl kaum schlimmer sein, als meine Aura.“

„Doch, ist es! An deine Aura hab ich mich inzwischen gewöhnt und sie ist friedlicher, wenn du mit Aiden zusammen bist, aber das hier... Das ist einfach nur Hass, Verzweiflung, Trauer und Fanatismus.

Es tut weh. Das will ich nicht analysieren oder mir einprägen.“ Erschöpfung, Frust und der Schlafmangel fraßen Reels letztes bisschen Geduld auf und ehe irgendjemand reagieren konnte, stand er bereits vor Sophie und schloss seine Hand drohend um ihren Hals und drückte das arme Mädchen gegen die Hauswand.

„Was du willst, ist mir absolut egal. Das einzige, was dich nützlich macht, ist dein unglaublich feines Gespür für Auren und Energiesignaturen.

Glaubst du immer noch, dass das hier eine spannende, kleine Spielerei ist, mit der du dir die Zeit vertreiben und deine Neugier befriedigen kannst?“ Sophie stiegen Tränen in die Augen und der Griff um ihre Kehle nahm ihr die Luft zum Atmen. Panik lähmte ihren Geist und das bisschen Gegenwehr, das sie aufbringen konnte, prallte wirkungslos an dem Rachedämon ab.

„REEL! Das reicht. Lass sie los.“ Entschlossen schob Aiden sich zwischen seinen aufgebrachten Dämon und die verängstigte Sophie, und zwang ihn dazu seine Hände von dem Mädchen zu nehmen. „Lass deinen Frust gefälligst nicht an ihr aus. Wir wissen beide, dass du nicht wegen ihr so sauer bist.“ Geschlagen ließ Reel erst den Blick und dann auch seinen Kopf sinken und stütze ihn schwer auf Aidens Schulter ab.

„Du hast Recht. Tut mir leid.“ Er war einfach nur unglaublich müde und frustriert. „Entschuldige, Sophie. Ich hab überreagiert. Jetzt ist die Spur vermutlich eh schon weg.“ Sophie rieb sich noch etwas verunsichert den schmerzenden Hals und wollte grade zu einer Antwort ansetzen, als erneut dieses unangenehme, feindselige Gefühl durch ihren Körper schoss. Sofort wechselten sie und Reel besorge Blicke und schnappten sich erneut ihre Partner.
 

„Die nächste Welle kommt. Wir müssen hier weg.“ Geistesgegenwärtig legte Reel wieder seine menschliche Fassade an. „Sophie, in welche Richtung wird das unangenehme Gefühl schwächer?“

„Hier lang.“ Sie rannte voraus und zerrte den perplexen Lukas einfach mit sich. Der stand zwar immer noch völlig neben sich, besaß aber genügend Überlebensinstinkt um Sophie aus der dunklen Gasse heraus zu folgen.

Verbissen navigierte sie die Gruppe durch die Stadt, bis die Präsenz ihrer Verfolger endlich vollständig verschwand.

„Woher wusstest du, dass wir sie so loswerden?“

„Dämonen der zweiten Klasse, so wie diese Pappaufsteller oder auch ich selbst, brauchen einen physischen Anker um sich in der Welt zu halten. Und wie bei einem Anker sind wir an diesen gebunden und können uns nur in einem festgelegten Radius um ihn bewegen.

In meinem Fall ist dieser Anker Aiden. Für die Niederen ist es der Ritualkreis, der sie hergerufen hat. Solange man sich also außerhalb des Radius um das Ritual aufhält, können sie einen nicht erreichen.“ Sophie speicherte diese neue Information in ihrem Gedächtnis ab.

Warum musste es auch unbedingt immer nur um Dämonen gehen? Das war eines der Fachgebiete, mit denen sie sich fast gar nicht beschäftigt hatte, weil es viel zu gefährlich, bösartig und weit außerhalb ihrer Fähigkeiten war. Warum konnte es nicht mal um Astrologie gehen? Oder um Mythenkunde? Warum immer Dämonen oder Siegel?

„Was zur Hölle ist hier los?“, rief sich Lukas der Gruppe wieder ins Gedächtnis, die den armen Kerl inzwischen fast vergessen hatte und ihn nun etwas verwirrte Blicke zuwarf.

„Achja. Da war ja noch was“, kam prompt Reels wenig begeisterter Kommentar und Aiden seufzte nur schwer. All die Lügen und das monatelange Versteckspiel, seine Abschottung und Ausreden, die ganzen Mühen um Lukas aus der Sache rauszuhalten – alles hinüber.

„Wir waren eventuell nicht ganz ehrlich zu dir. ICH war eventuell nicht ganz ehrlich zu dir“, fing Aiden unbeholfen an und fand einfach nicht die richtigen Worte, um Lukas schonend zu erklären, was hier grade passiert war und warum. Verdammt, das war schwerer als er sich das Ganze vorgestellt hatte.

„Ein Magier will Aidens Tod. Ich bin ein Rachedämon, der ihn eigentlich umbringen sollte und ihn stattdessen jetzt beschützt – das ist ne längere Geschichte. Sophie wusste darüber Bescheid, weil sie ein Gespür für magische Energien und Auren hat. Und dir hat keiner was gesagt, damit du nicht völlig am Rad drehst.“

„REEL!“ Sophie und Aiden fuhren ihn unisono an, doch Reel war das momentan egal. Er war einfach nur müde und hatte keinen Nerv mehr für die sanfte Tour. Erschöpft schlang er die Arme um Aiden und stützte seinen Kopf auf dessen Schulter ab.

Aidens Zorn verrauchte zum größten Teil. Er konnte seinen Dämon ja verstehen, aber ein bisschen mehr Feingefühl hätte er sich doch von ihm erhofft.

„Schon okay. Ich kümmere mich um den Rest. Schlaf ruhig ein bisschen.“ Sanft drückte er Reel einen Kuss auf die Wange, bevor der sich in schwarze Partikel auflöste, Aidens Körper einen kurzen Moment lang umschwebte und dann darin verschwand.

Lukas starrte ihn nur ungläubig an und verfiel wieder in ein zusammenhangsloses Stammeln.

„Wie? Wo... Also... Was?“ Aiden seufzte erneut und wechselte einen vielsagenden Blick mit Sophie.

„Wir erklären´s dir.“

Ihr seid doch alle irre

Mit verschränkten Armen saß Lukas in Aidens Zimmer auf dessen Drehstuhl und beäugte die beiden skeptisch.

„Und die Geschichte soll ich euch abkaufen?“

„Hast du eine bessere Theorie um zu erklären, was heute in der Stadt passiert ist? Es ist die Wahrheit – dieses mal wirklich.“

„Und Reel ist jetzt grade...“

„Er schläft in meinem Körper. Es ist extrem anstrengend für ihn, eine menschliche Fassade aufrechtzuerhalten. Darum hat er euch vorhin auch so angefahren. Wenn er müde ist, fährt er schnell aus der Haut.“

„Dann scheint er aber dauerhaft unter akutem Schlafmangel zu leiden, so ätzend wie er immer drauf ist.“ Lukas zog provokant die Augenbrauen hoch und erwartete wohl eine Reaktion, aber Aiden seufzte nur geschlagen.

„Tut er momentan tatsächlich, aber das ist eine ganz andere Sache.

Reel ist hier jedenfalls nicht das Problem. Irgendwo im Internat rennt ein Magier rum, der versucht mich umzubringen, und jetzt weiß er oder sie, dass du auch mit von der Partie bist.

Und im Gegensatz zu Sophie und mir hast du keinen Dämon, der dich beschützt, oder einen ausgeprägten Aurenspürsinn, der dich frühzeitig vor Gefahren warnt.

Darum haben wir dir auch nichts von all dem erzählt.“

„Du hast schon mal besser gelogen, Aiden.

Ist dir eigentlich aufgefallen, wie oft du mich innerhalb der letzten Monate angelogen hast? Und jedes mal, wenn du dann augenscheinlich mit der Wahrheit rausrückst, entpuppt sie sich nur als eine neue Lüge.

Ich hab da keinen Bock mehr drauf. Mir ist das hier alles zu abgefahren. Mit Schwulen und Schlägertypen kann ich ja noch irgendwo umgehen, aber Hexen und Dämonen gehen mir zu weit. Das ist doch Irrsinn. Bin ich denn der einzig Normale hier?“

„Lukas, warte. So einfach ist das alles nicht.“ Sophie versuchte ihren aufgebrachten Freund zu beruhigen, obwohl sie dessen Gefühle durchaus nachvollziehen konnte.

„Vergesst es. Ich will damit nichts zu tun haben. Macht euren Scheiß alleine.“ Jetzt war es Aiden, dem der Kragen platzte. Er bemühte sich ja immer darum die Ruhe selbst zu sein – schon allein um Reel und dessen Schatten nicht unruhig zu machen – aber irgendwo war auch mal Schluss.

„Glaubst du wirklich, dass das so einfach ist?

Glaubst du, wenn man einfach 'aussteigen' könnte, würden wir uns immer noch mit einem mordlüsternden Magier rumschlagen?

Wir sind alle unfreiwillig in diese Sache reingeraten. Ausnahmslos. Selbst Reel hat sich das hier nicht ausgesucht.

Ich hatte befürchtet, dass du das nicht verstehen würdest, und dadurch noch mehr Grund gehabt, dir nichts davon zu erzählen.

Magier finden es nämlich nicht so cool, wenn Zivilisten über ihre Existenz und ihr Tun Bescheid wissen, und dass sie vor Mord nicht zurückschrecken um ihre Ziele zu erreichen, sollte eigentlich offensichtlich sein.“ Aiden redete sich regelrecht in Rage. Das war ja sonst eher Reels Art, aber jetzt grade konnte und wollte Aiden sich einfach nicht zurückhalten.

Er verstand ja Lukas' Standpunkt, aber der machte sich die Sache zu leicht und versuchte gar nicht erst, sich auch mal in Aiden hineinzuversetzen. Also schepperte er Lukas einfach alles an Kopf, was ihm im Moment so in den Sinn kam. „Wir haben versucht dich zu schützen, indem wir dir nichts sagen – das verurteilst du als Lüge und Vertrauensbruch.

Und jetzt wo du die Wahrheit kennst, ist es dir 'alles zu abgefahren' und du willst nichts damit zu tun haben. Wie zur Hölle hätte ich mich denn deiner Meinung nach verhalten sollen, damit du glücklich bist?“

„Aiden -“

„WAS?“ Sophie deutete zaghaft auf einen Punkt über Aidens linker Schulter und dessen Blick folgte ihrem Finger. Ein weiteres tiefes Seufzen erklang aus seiner Kehle, bevor Aiden tief durchatmete und seinen Herzschlag beruhigte, damit der dämonische Schatten, der auf seine Wut reagiert hatte, wieder zur Ruhe kam. Das Flackern wurde langsamer und die Partikel legten sich entspannt auf seine Schultern, wo sie noch einen kurzen Moment verweilten, bevor sie sich endgültig wieder in seinen Körper zurückzogen.

„'Tschuldigung. Wenn Reel schläft, muss ich den Schatten wieder verstärkt selbst unter Kontrolle halten und er reagiert dummerweise ziemlich stark auf meine Gefühlslage.“ Mit noch immer geweitete Augen und schwach bebender Unterlippe starrte Lukas ihn an.

„Tut das weh?“ Aiden sah ihn verdutzt an.

„Was?“

„Tut es weh, wenn er das macht?“ Erneut erklang ein tiefes Seufzen aus Aidens Kehle und er rief den Schatten wieder zu sich, um ihn Lukas vorzuführen.

„Nein. Er tut mir nicht weh. Reel und sein Schatten sind nur ziemlich... engagiert und ich muss sie ab und an ein wenig zügeln.

Aber Reel kann nichts dafür. Dämonen seiner Unterart neigen häufig zu mangelnder Selbstbeherrschung und extremeren Gefühlslagen, aber ich hab inzwischen den Dreh ganz gut raus und kann damit umgehen.“ Sophie bestätigte Aidens Aussagen mit einem zustimmenden Nicken, während der mühelos die schwarzen Schwaden seinen Arm entlang klettern und seine Finger umspielen ließ. „Seit dem Vorfall in Japan ist das alles zwar ein wenig komplizierter geworden, aber das kriegen wir schon hin.“ Nun war es an Lukas geschlagen zu seufzen und den Kopf in die Hände zu legen.

„Das ist doch alles völlig verrückt. Gestern hab ich mir noch Sorgen über den Mathe-Test nächste Woche gemacht und jetzt sitze ich hier und muss irgendwie verarbeiten, dass mein bester Freund verflucht, dessen Freund ein Dämon und meine Freundin eine Okkultistin ist.“

„Immerhin kannst du uns nicht vorwerfen, dass wir langweilig wären“, versuchte Sophie mit einem unsicheren Lächeln die Stimmung etwas aufzuhellen.
 

„Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Tja. Das ist die Frage. Wir haben kaum Anhaltspunkte, aber unser Magier scheint zunehmend nervös zu werden, also werden wir weiter warten müssen und versuchen ihn aus der Reserve zu locken. Irgendwann wird er einen Fehler machen, der uns zu ihm führt. Was anderes bleibt uns wohl nicht übrig.“

„Und dann? Was passiert, wenn wir wissen, wer dich umbringen will?“ Lukas sah ihn erwartungsvoll an, aber Aiden schwieg einen Moment, bevor er tatsächlich laut aussprach, was er schon seit Monaten dachte.

„Reel ist nicht unbedingt der größte Fan von Magiern jeglicher Art und auf diesen speziellen, den wir hier jagen, ist er ganz besonders schlecht zu sprechen.“

„Was soll das heißen? Wird er...“

„Reel ist, was er ist. Ich kann ihm ein gewisses Maß an Kontrolle geben, aber ich kann nicht seine Natur als Rachedämon unterdrücken. Magier sind der Hauptfokus seines Hasses und er kennt keine Gnade mit ihnen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich das mittlerweile auch nachvollziehen.

Sowohl er als auch ich haben genügend negative Beispiele kennenlernen müssen und wer auch immer meinen Tod will, ist nicht nur skrupellos, sondern auch gefährlich.

Ich weiß nicht mal, was ich getan habe, um diesen Hass zu verdienen, und trotzdem greift der Magier sofort zu Mord. Also ist es vermutlich das Beste, ihn ein für alle mal aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Sagst du grade ernsthaft, dass es für dich in Ordnung ist, ihn einfach umzubringen? Wirklich? Aiden, hörst du dir eigentlich selbst zu? Du redest hier grade davon, jemandem von dieser Schule das Leben zu nehmen. Vielleicht ist es sogar jemand aus unserer Klasse. Du willst einen Klassenkameraden von uns ans Messer – oder eher an einen Dämon – liefern.“

„Was sind denn die Alternativen? Mich umbringen lassen?

Und wie gesagt: Ich könnte Reel so wie so nicht davon abhalten. Selbst wenn ich wollte.“ Fassungslos starrte Lukas seinen besten Freund an. Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie Aiden es auch nur in Erwägung ziehen konnte, jemanden zu ermorden beziehungsweise ermorden zu lassen. War das hier wirklich noch der Aiden, den er kannte?

„Das ist doch Wahnsinn! Sophie, sag doch auch mal was dazu.“ Sophie druckste ein wenig herum, bevor auch sie mit ihrer ehrlichen Meinung rausrückte.

„Also um ehrlich zu sein finde ich, Aiden hat Recht. Mir gefällt der Gedanke ja auch nicht, aber ich habe die Aura des Magiers durch die niederen Dämonen gespürt und sie macht mir mehr Angst als Reels.

Er hat zumindest noch ein menschliches Herz, aber der Magier ist dermaßen von blindem Hass zerfressen, dass seine Aura verdorbener ist, als die eines Rachedämons.

Es würde mich nicht wundern, wenn der Beschwörer nach seinem Tod selbst zu einem Dämon werden würde. Seine Seele ist ebenso mächtig wie vergiftet, eine gefährlich Kombination. M

Ich fürchte, man kann ihn nicht mehr retten. Er ist eine Gefahr für jeden, der in seinen Weg gerät.“ Lukas sah hilflos zwischen den beiden hin und her.

„Ihr seid doch völlig gestört.“ Enttäuscht stand er auf und stapfte Richtung Tür. Er musste nachdenken und das Ganze erst mal irgendwie verarbeiten.

„Lukas, warte.“

„Ich bleib in der Schule. Auf dem Flur wird mich schon kein wildgewordener Magier anfallen. Da sind grade überall Schüler unterwegs und ihr meintet doch, dass Magier eher aufmerksamkeitsscheu sind.“

„Der, mit dem wir es zu tun haben, anscheinend nicht mehr so sehr.“

„Tja, das Risiko muss ich eingehen. Ihr könnt mir schließlich nicht 24/7 am Rockzipfel kleben und von Reel werde ich mich garantiert erst mal fernhalten.“ Er warf einen vielsagenden Blick zu Aiden, in dessen Körper der besagte Dämon noch immer unruhig schlummerte, dann stapfte er raus.
 

Mit einem Klacken fiel die Zimmertür ins Schloss und ließ Aiden und Sophie in unbequemer Stille zurück.

„Ich sollte ihm nach.“

„Nein, Sophie. Lass ihm Zeit. Erinnerst du dich daran, als du Reel zum ersten mal vollständig fühlen konntest? Danach hast du dich auch erst mal zurückgezogen um nachzudenken und zu verarbeiten, was ich dir über ihn erzählt hatte.

Für Lukas ist das Ganze noch mal eine Spur härter. Warte am besten bis morgen und sprich dann nochmal mit ihm.

Reel und ich werden uns erst mal ein wenig zurückhalten.“ Aiden sah bedrückt zu Boden. „Hast du seinen Blick gesehen, als ich meinte, ich habe kein Problem damit, wenn Reel den Magier tötet? Er hält mich für ein Monster.“

„Du weißt, dass er das nicht so gemeint hat, oder? Er ist wütend und aufgewühlt, aber er wird sich schon wieder beruhigen und deinen Standpunkt verstehen.“

„Das hoffe ich. Ich will ihn nicht schon wieder verlieren.“
 

Missmutig stapfte Lukas durch die belebten Schulflure. Das war doch alles Wahnsinn. Aiden zog es ohne zu zögern in Betracht, jemandem das Leben zu nehmen, und was noch schlimmer war: Sophie stimmte ihm dabei zu.

Das Aiden nicht mehr der Alte war, war ihm schon lange klar. Dieses Monstrum hatte ihn erfolgreich verdorben und Aiden selbst merkte es nicht mal. Aber Sophie? Sie stand nicht unter dem Einfluss des Dämons und war trotzdem der Meinung, dass der Magier besser sterben sollte.

Waren hier denn alle vollkommen verrückt geworden?

Auf der Suche nach Normalität blickte er sich in der großen Eingangshalle um und erspähte am anderen Ende den blonden Haarschopf von Mara, der zu einem simplen Pferdeschwanz hochgebunden war.

Auch sie wusste von der Bestie in Aidens Körper – also zumindest rudimentär von deren Existenz. Laut Aiden hatte sie die erste Begegnung mit dem Dämon ähnlich schlecht verkraftet wie er, aber abgesehen von ihrer Abneigung und Distanzierung gegenüber Aiden, schien sie ihr Leben zumindest oberflächlich völlig unbekümmert weiterzuleben.

Sein Blick ruhte noch immer auf seiner Mitschülerin, als sich plötzlich ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse aus der Schülermaße löste und zu Mara hinüber stolzierte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches außer man wusste, dass Alina Chavon und die beiden Dionea-Schwestern sich auf den Tod nicht ausstehen konnten.

Sophie hatte ihm erzählt, dass ihrer Eltern geschäftlich miteinander zu tun hatten und die Mädchen sich daher schon von klein auf kannten. Aber trotz ihres geringen Altersunterschiedes und ähnlichen Lebenswelten, waren sie nie auf einen grünen Zweig miteinander gekommen und anstatt einer Sandkastenfreundschaft entstand etwas, dass man wohl nur als „Ewige Mädchen-Fehde“ bezeichnen konnte.

Egal was Alina jetzt von Mara wollte, es würde nichts Gutes sein, also ging Lukas in Richtung der beiden Mädchen, um im Zweifelsfall „ganz zufällig“ eingreifen und Mara nach irgendwelchen Hausaufgaben oder sowas fragen zu können, und sie so aus einer unangenehmen Situation zu retten, falls es nötig wurde.

Das war zumindest sein Plan. Doch das Gespräch, dass er auf diese Weise nun mitbekam, verlief irgendwie gänzlich anders, als er es sich vorgestellt hatte.
 

„Na wen haben wir denn hier? Miss Perfect auf geheimer Mission? Versuchst wohl mal wieder erfolglos dein Versagen doch noch abzuwenden, was? Wie niedlich.

Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mit dieser albernen Maskerade irgendwen täuschst, oder?“ Innerlich verdrehte sie genervt die Augen und wäre dem Miststück vor sich am liebsten an die Gurgel gegangen, aber sie schluckte ihren Zorn professionell runter, setzte eine etwas zu freundliche Miene auf und antwortete mit betont zuckersüßer Stimme.

„Hallo Alina. Wenn du ausnahmsweise mal dein unglaubliches Mitteilungsbedürfnis zügeln und brav deinen ungewaschenen Mund halten würdest, könnte ich hier in Ruhe meine Arbeit erledigen und danach wieder verschwinden. Und keine von uns beiden müsste länger die Gegenwart der jeweils anderen ertragen.“

„Aber ich sehe dir doch so gern beim Scheitern zu.“ Auch Alinas Lächeln war süß wie eine Fliegenfalle und mindestens genauso verfänglich.

„Das verstehe ich. Es muss ein ungewohntes Hochgefühl für dich sein.

Wenn es deinem zerbrechlichen, kleinen Selbstbewusstsein so sehr hilft, darfst du mich natürlich gerne begleiten. Vielleicht lernst du dabei ja sogar noch etwas. Siegel waren doch eine deiner vielen Schwächen, nicht wahr?“ Beleidigt zog Alina die Luft ein, verschränkte die Arme vor der Brust und stapfte bockig von dannen.

Um sie in einem Wortgefecht zu schlagen, musste diese drittklassige Anfängerin schon früher aufstehen. Doch noch ehe sie ihren Sieg so recht genießen konnte, sprach sie auch schon die nächste Stimme mit einem strengen Unterton an.
 

„Miss Dionea, auf ein Wort.“ Hinter ihr stand die Sekretärin des Internats und sah sie tadelnd an. Ertappt biss sie die Zähne zusammen und ahnte bereits worauf das Ganze hinauslaufen würde. „Was hast du dir nur dabei gedacht? Ein derartiges Chaos, am helllichten Tag, mitten in der Stadt. Bist du noch ganz bei Trost?

Du hast Glück, dass ich diejenige bin, die hier die Aufsicht hat, und ich dein stümperhaftes Handeln totschweige. Wenn jemand davon erfährt, rollt nicht nur der Kopf dieser Kinder, sondern auch deiner und meiner.“

„Mir läuft die Zeit davon. Ich muss meine Prüfung bestehen, koste es was es wolle. Vorher darf ich nicht am Ritual des Großmeisters teilnehmen.“ Die Miene der Frau im Bleistiftrock wurde weicher.

„Ich verstehe ja dein Bestreben, aber bedenke doch bitte, was du hier alles riskierst.

Verliere nicht die Nerven, Liebes. Gewinne die Kontrolle über die Situation zurück, schmiede einen ausgeklügelten – und vor allem unauffälligen – Plan und erfülle deine Aufgabe.

Du wirst die Anerkennung bekommen, die dir zusteht. Zerstöre jetzt nicht alles, was du dir so mühevoll aufgebaut hast.“

„Sie haben recht. Tut mir leid. Und danke, dass Sie mir den Rücken freihalten.“

„Schon gut, meine Liebe. Aber verlass dich nicht zu sehr darauf. Ich kann dir nicht aus jedem Schlamassel helfen.“

„Verstanden.“
 

Völlig verdattert lehnte Lukas noch immer an der großen Marmorsäule und ließ das Gehörte noch einmal Revue passieren. Die beiden Gespräche, die er soeben unbeabsichtigt belauscht hatte, lagen nicht nur außerhalb von allem, was er Mara verbal zugetraut hatte, sondern ergaben für ihn dermaßen wenig Sinn, dass er für einen Moment an seinem eigenen Verstand zweifelte.

Warum konnte eigentlich kein einziger Mensch an diesem gottverdammten Internat halbwegs normal sein? War er der einzige hier, der wirklich der war, der er vorgab zu sein?

Wann war seine Schule denn bitte zu dieser unheiligen Fusion aus Irrenhaus und Freakshow geworden?

Die andere Hälfte der Geschichte

Tief atmete Sophie durch. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht unzählige fiktive Gespräche zu führen um sich auf das echte mit Lukas vorzubereiten. Sie liebte ihn und wollte ihn nicht verlieren, gleichzeitig wollte sie aber auch nicht mehr vor ihm verbergen müssen, wer und was sie war, also musste sie ehrlich zu ihm sein und darauf hoffen, dass er sie genau so sehr liebte, wie sie ihn.

Zaghaft klopfte sie an die Zimmertür und wurde von einem schroffen „Was?“ begrüßt.

„Ich bin´s. Sophie. Darf ich reinkommen?“ Lukas seufzte.

„Ja, komm rein.“ Zügig trat sie ein und sah Lukas entschuldigend an. Er hatte tiefe, dunkle Schatten unter den Augen und wirkte erschöpft und unglücklich.

„Wie geht’s dir?“

„Hab die halbe Nacht nicht geschlafen.

Ich kann´s immer noch nicht fassen.“ Geschlagen vergrub er das Gesicht in den Händen. „Und du weißt das schon die ganze Zeit?“

„Nicht die ganze Zeit. Erinnerst du dich an den Tag, als du Aiden und mich am Waldrand getroffen hast? Da hatten Aiden und ich den Deal geschlossen, zusammenzuarbeiten.

Wobei ich mir nicht sicher bin, dass ich das wirklich gemacht hätte, wenn ich gewusst hätte wie gefährlich es wirklich wird.“

„Aber das es Magie gibt, wusstest du schon, oder?“

„Ja. Die Gabe Auren zu spüren ist schon seit etlichen Generationen in meiner Familie. Es ist nicht direkt Hexerei, aber die Fähigkeit liegt auf einem spirituellen Level mit emotionaler Sensorik und Empfindungsmagie. Das ist also...“ Sophie hielt inne und Lukas fragend an. „Stimmt was nicht?“

„Du siehst süß aus, wenn du dich so für eine Sache begeisterst.

Allerdings hab ich nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was du grade gesagt hast.“ Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und zog die etwas perplexe Sophie neben sich aufs Bett.

„Du bist mir also nicht böse?“

„Wieso sollte ich?“

„Ich hab dich auch angelogen und ich bin auch nicht normal. Ich dachte, dass ist dir alles zu abgedreht.“ Lukas konnte ein schwaches Lachen nicht unterdrücken.

„Von euch dreien bist du die mit Abstand Normalste und ich bin wirklich froh, dass ich diesen ganzen Irrsinn nicht alleine, sondern mit dir zusammen durchstehen kann.“ Ein flüchtiger Kuss fand seinen Weg auf ihre Stirn. „Außerdem hab ich nicht das Gefühl, dass du dich gegen Aiden und seinen durchgeknallten Dämon hättest durchsetzten können.“ Ertappt verbarg Sophie ihre Verlegenheit hinter einem Lächeln und ließ sich von Lukas in die Arme schließen. „Aber ich muss dich trotzdem fragen: Glaubst du wirklich, dass der Magier sterben muss?“ Sophie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, denn sie wollte Lukas' Umarmung noch ein wenig auskosten und Kraft daraus ziehen.

„Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.“ Allein die Erinnerung an die schreckliche Aura jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. „Wie gesagt: Magier mögen es nicht, wenn man sich ihnen widersetzt oder wenn man zu viel weiß.

Nicht alle sind so, aber wenn jemand so weit geht, einen Rachedämon auf Aiden anzusetzen und uns mit Niederen durch die halbe Stadt zu jagen, dann ist dieser Magier zu gefährlich um ihn einfach zu ignorieren.“

„Glaubst du, du könntest den Magier sterben lassen? Egal wer es ist?“ Sophie sah ihn etwas verwirrt an. Ihr gefiel nicht in welche Richtung sich das Ganze entwickelte.

„Wieso fragst du mich das? Weißt du etwas, was ich nicht weiß?“ Instinktiv konzentrierte sie sich verstärkt auf Lukas' Aura und versuchte sie zu analysieren – Besorgnis, Verwirrung, Zwiespalt, Liebe und... Hunger. Irgendwie überraschte sie das nicht.

„Ich hab eine Vermutung und ich will ehrlich gesagt nicht, dass Aiden davon erfährt“, riss Lukas sie wieder aus ihrer Konzentration.

„Was? Aber wie... Woher?“

„Ich hab in der Eingangshalle ein Gespräch gehört und... ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll.“

„Lukas, ich flehe dich an. Sag mir, was du gehört hast und wer es war. Du hast gesehen, was in der Stadt passiert ist. Wir sind alle in Gefahr.“

„Sagst du dass, weil Aiden es dir eingeredet hat, oder weil du es wirklich weißt?“ Sophie sah ihn überrascht an und verstand die Frage nicht. „Naja, wissen wir denn, ob Aiden uns wirklich die Wahrheit sagt? Wissen wir, ob Reel ihn nicht manipuliert und ihm das eingeredet hat?“ Vorsichtig strich Lukas ihr über den Hals und vor seinem geistigen Auge blitzte wieder die Erinnerung an den Vortag auf, als der Dämon Sophie so brutal gegen den Wand gedrückt hatte.

„Reel ist nicht so schlimm, wie du denkst. Er ist zwar nicht ganz einfach und nicht unbedingt Herr über seine Natur, aber seine Liebe zu Aiden ist echt. Er würde es nicht wagen, ihn anzulügen oder ihn zu Schaden kommen zu lassen.“ Sophie war sich ja nicht über viele Dinge betreffend des eigensinnigen Fluchs sicher, aber Reels Aura verriet ihn.

Sophie konnte sie auch dann spüren, wenn Reel sich dessen gar nicht bewusst war, darum kannte sie inzwischen den Unterschied zwischen seiner 'echten' Aura und der Manipulation, die er Sophie so gern zum Spaß vorsetzte.

„Mara“, riss Lukas sie erneut aus ihren Gedanken.

„Was?“

„Ich hab Mara in der Eingangshalle mit Alina Chavon reden hören. Und anschließend noch mit der Sekretärin.“ Ratlos starrte Lukas seine Freundin an, die nun in ein seltsames, nervöses Lachen ausbrach.
 

„Mara kann Reel nicht gerufen haben“, erklärte Sophie, als sie sich endlich wieder in den Griff bekam.

„Aber du sagtest doch selbst, jeder könnte es sein.“

„Du verstehst mich nicht. Mara kann Reel nicht gerufen haben – im Sinne von 'sie ist nicht dazu in der Lage'. Sie ist zu schwach. Ihr Talent reicht dafür nicht aus.“

„Bitte was?“

„Mara ist meine beste Freundin, sie erzählt mir alles. Ich weiß, dass sie magisches Blut in sich trägt, aber es ist bei ihr dermaßen dünn geraten, dass ihre Begabung sogar noch schwächer ist als meine.

Sie kann kein Ritual durchführen, dass einen Rachedämon hervorbringen könnte – schon gar keinen von Reels Kaliber.

Das Risiko wäre ihr auch viel zu groß und sie würde es nie eingehen.“ Lukas starrte sie noch immer mit fassungslosem Blick an und Sophie bemerkte endlich, dass sie ja einen ganz wichtigen Punkt vergessen hatte. „Du darfst das keinem sagen. Ich hab ihr versprochen, es für mich zu behalten. Wenn irgendwer rausfindet, dass sie mir das anvertraut hat, dann ist das ihr Tod. Und meiner auch.“

„Weiß Aiden davon?“

„Nein, und er darf es auch nicht erfahren. Reel würde...“ Endlich verstand Sophie, worauf Lukas die ganze Zeit hinauswollte. „Verdammt.“ Geschlagen ließ sie sich wieder gegen ihn sinken.

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung. Vielleicht sollte ich Mara warnen. Sie ist Reel schon mal begegnet und das hat sie fast das Leben gekostet.“ Schnell umriss Sophie für Lukas, wie das Zusammentreffen abgelaufen war, das zu Maras Trennung von Aiden geführt hatte. Bisher hatte er nur gewusst, DAS es passiert ist, aber nicht wie genau.

„Das erklärt so einiges“, stellte Lukas trocken fest. Er hatte die ganze Zeit über nur die halbe Geschichte gekannt und so langsam stieg er hinter all die Rätsel, die sich dadurch für ihn ergeben hatten.

„Und das hat Mara dir alles erzählt? Einfach so?“

„Ihr Jungs versteht wirklich nicht, wie dieses ganze „beste Freundin“-Ding bei uns Mädchen funktioniert, oder?“
 

Finster starrte die junge Hexe ihren Spiegel an, durch den sie die Flure des Internats beobachten konnte. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. Ihr Anschlag in der Innenstadt war zwar nicht von Erfolg gekrönt gewesen, aber er hatte ihr einige interessante Einblicke ermöglicht.

Und eine ganz bestimmte Sache ließ sie seither nicht mehr los. Wenn sie wirklich recht behielt und sich nicht irrte, dann könnte sie wohlmöglich all die Schande, die sie über die Familie gebracht hatte, mit einmal wiedergutmachen und ihre Ehre wieder herstellen.

Familie und Ehre – wie auf Stichwort klingelte ihr Handy. „Schwesterherz <3“ prangte auf dem Bildschirm und die junge Hexe drückte geflissentlich auf den roten Hörer. „Nicht jetzt, Schwesterchen. Nichts jetzt.“

Ihr Blick glitt wieder zwischen die Seiten eines Buches, das sie sich sofort nach ihrer Rückkehr hatte aushändigen lassen. Die Biographie des Großmeisters ihres Zirkels.

Der vorletzte Teil seiner Seele hatte endlich seinen Weg in die Sammlung des Zirkels gefunden und bald würden all die gesammelten Splitter nach ihrem letzten verlorenen Bruder rufen. Bedauerlicherweise konnte das so seine Zeit dauern. Das letzte Teil war der erste, den der Großmeister je von sich getrennt hatte, und er hatte ihn ganz besonders gut verborgen. Er war seine erste Lebensversicherung gewesen und entsprechend sorgfältig hatte er ihn geschützt.

Wenn nun aber jemand den letzten Splitter auf eigene Faust finden und zum Zirkel zurückbringen würde,...

Sie malte sich die Szene im Geiste aus. Vielleicht wurde doch noch alles gut. Sie würde bekommen was sie wollte – Respekt, Ansehen, Macht, Rache für Fiona Bellis und Sicherheit für ihre Schwester. Letzteres war zwar inzwischen weniger ein Problem gewesen, aber das auch nur, weil sie es frühzeitig aus dem Weg geräumt hatte. Das diese Aktion nun einen derartig langen Rattenschwanz nach sich ziehen würde, hatte sie ja nicht ahnen können.

Wäre ihr das schon vorher bewusst gewesen, hätte sie Aiden einfach eigenhändig vor einen Bus geschubst oder ihm Zyankali in seinen dämlichen Tee gekippt.

Sehnsüchtig strich sie über eine der Buchseiten, auf der sich die Kopie einer Zeichnung aus den Schriften des Großmeisters befand.

Sie hatte sich nicht geirrt. Ihre Vermutung war korrekt. Ganz bestimmt. Das musste sie sein.

Aber zuerst musste sie dem Internat einen weiteren Besuch abstatten, um ihre Beobachtung doch noch einmal zu bestätigen.
 

Ärgerlich stapfte Mara nach ihrem aufbauenden Französisch-Kurs durch die Flure. Sie öffnete ihre Zimmertür, trat ein und sah sich plötzlich einem Spiegelbild von sich selbst gegenüber. Hastig schloss sie die Tür hinter sich und fuhr dann das Mädchen, dass ihre Kleidung, ihr Gesicht und ihren Körper trug wütend an.

„Bist du völlig irre? Ich hab dir gesagt, du sollst das lassen! Was, wenn jemand uns beide gesehen hätte? Hätte ich nicht zufällig gehört, dass mich – als eigentlich dich – jemand in den Mädchentrakt hat laufen sehen, wäre ich in den Gemeinschaftsraum gegangen und hätte erklären müssen, wie ich mich so schnell umziehen konnte und warum ich die Haare plötzlich ganz anders trage.“

„Du hast doch gesagt, dass ich mir dein Gesicht für meine Prüfung ausleihen darf.“

„Ich hatte ja auch keine Ahnung, dass du das ständig und ohne mir Beschied zu geben machen würdest. Ich hab dich sogar an meiner Stelle auf meine Abschlussfahrt fahren lassen, obwohl ich nicht mal weiß, was genau du da angestellt hast.

Hör zu, ich weiß, wie wichtig dir das Ganze ist, aber du kannst nicht einfach wann und wo du willst in meine Haut schlüpfen. Ich liebe dich und ich will dir helfen, aber denk doch auch mal an mich.“

„Ich denke an nichts anderes. Ich hab meine Prüfung gewählt, um dich zu beschützen. Damit es dir nicht wie Fibi ergeht.“

„Dann erklär´ mir doch endlich was genau du als deine Prüfung ausgesucht hast und was Fiona passiert ist. Du sagst mir immer nur, dass es kein Autounfall war, obwohl das die offizielle Erklärung ist. Was ist ihr denn passiert, dass ich Gefahr laufe, genauso zu sterben?“ Die falsche Mara seufzte schwer.

„Du weißt ganz genau, dass ich das nicht darf. Und du bist mittlerweile auch nicht mehr in Gefahr, denke ich. Trotzdem muss ich das hier zu Ende bringen. Für dich, für Fibi, für mich selbst und für unsere Familie.“

„Wage es jetzt nicht, mit dem „du bist eine Schande für die Familie“-Argument zu kommen. Es reicht schon, dass Mama das immer macht.

Das brauche ich nicht auch noch von dir.“ Plötzlich entgleisten die Gesichtszüge des maskierten Mädchens und sie ließ ihre Verkleidung fallen. Ihr Gesicht veränderte sich nur minimal, ihre Augen wurden heller, ihre Haare etwas glatter, ihre Statur wurde etwas schlanker und größer und ihre Stimmer klang nun weitaus weniger melodisch.

„Mara, das meinte ich doch gar nicht. Ich hab dir nie einen Vorwurf wegen deiner mangelnden Begabung gemacht. Du kannst nichts dafür, dass du eben mehr von Papa als von Mama hast.

Ich liebe dich und ich werde alles tun, um Mamas Ansprüchen gerecht zu werden. Dann hat sie keinen Grund, dich deswegen anzufahren.“ In Maras Augen bildeten sich verzweifelte Tränen und ihre Stimme wurde unwillkürlich lauter.

„Ja, sei du einfach weiter Mamas perfekte, kleine Hexe. Die fähige Tochter und nicht die, mit der 'mangelnden Begabung'. Ich bin ja nur die Schande der Familie, die nicht zur Hexe taugt, der man nichts erzählen kann, die man überall ausschließt und auf die niemand Hoffnungen zu setzen braucht.“

„Mara! Ich denke nicht so über dich und das weißt du ganz genau!“ Tröstend nahm Sierra ihre kleine Schwester in den Arm und drückte sie beruhigend an sich.

Mara weinte hemmungslos und wurde endlich ihre ganze Trauer los. Sophie war nicht für sie da, ihre Mutter konnte nichts mit ihrer unfähigen Tochter anfangen, ihr Vater war 24/7 mit der Arbeit beschäftigt und Sierra kümmerte sich um nichts anderes mehr als ihre Aufnahmeprüfung.

Niemand interessierte sich für Mara und ihre Sorgen. Sie fühlte sich einsam, ignoriert und zurückgelassen.

Natürlich war es unfair ihrer Schwester diese Dinge zu unterstellen. Sierra war immer für sie da gewesen, hatte sich nie etwas aus ihrer mangelnden Begabung gemacht und sie immer vor ihrer Mutter verteidigt, aber jetzt gerade wollte Mara sie einfach nur anschreien und weinen. Sie brauchte ihre Schwester und die war nicht für sie da gewesen und hatte sie am Telefon sogar weggedrückt, obwohl sie ihr immer das Gegenteil versprochen hatte.

„Es wird alles gut, Schwesterchen. Alles gut. Ich werde meine Prüfung bestehen, vollwertiges Mitglied werden und Mama wird wieder bessere Laune haben.

Du konzentrierst dich auf deine Schule, machst deinen Abschluss und machst Papa stolz.

Ich bin zwar Mamas Liebling, aber du bist Papas und weder er noch ich werden dich unter die Räder kommen lassen.“ Etwas beruhigter nickte Mara in die Schulter ihrer großen Schwester hinein. Sie wusste, dass das Sierras Art war, sie zu trösten, und momentan war das auch genau das, was sie brauchte – etwas Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer großen Schwester.
 

In Sierra brodelte es inzwischen. Diese elenden Verzögerungen machten nicht nur ihr selbst und ihrer Mutter Ärger, sondern auch Mara – und all das war nur Aidens Schuld.

Als sie erfahren hatte, dass Mara sich ausgerechnet in diesen vermaledeiten Ignoranten verguckt hatte, stand für sie fest, dass sie etwas dagegen unternehmen musste. Und nach dem, was ihrer besten Freundin Fibi wegen ihm passiert war, war es keine schwere Entscheidung für Sierra gewesen, Aidens Tod zu ihrer Prüfung zu machen.

Jeder junge Magier musste seine Fähigkeiten und seine Treue und Hingabe zum Zirkel beweisen, indem er oder sie entweder dem Zirkel einen Dienst erwies oder unter Beweis stellte, dass man vor nichts – nicht einmal Mord an einer Person aus der eigenen Sozialblase – zurückschreckte. So wusste der Zirkel, dass Sierra bedingungslos und skrupellos hinter ihren Leuten stand und fähig dazu war, einen Mord zu begehen ohne Spuren zu hinterlassen, die ihn mit ihr oder dem Zirkel in Verbindung brachten.

Werkzeug

„Tut mir leid“, war das Erste, was Reel sagte, als er aus seinem Schlaf erwachte und sich neben Aiden auf dem Bett materialisiere. „Ich hätte Sophie nicht so angehen dürfen und auch Lukas gegenüber nicht so vorlaut sein sollen. Tut mir leid, Sunshine.“ Betrübt ließ er seinen Kopf auf Aidens Schulter sinken und der nahm ihn bereitwillig in die Arme.

„Schon okay. Also eigentlich nicht okay, aber ich weiß, warum du so reagiert hast.

Fühlst du dich jetzt etwas besser?“

„Ein wenig, aber ich kann es kaum erwarten mich mit dir zusammen ins Bett zu kuscheln und weiter zu schlafen.“ Unwillkürlich stahl sich ein Schmunzeln auf Aidens Lippen.

„Du hattest dieses mal keinen Albtraum.“

„Nein. Vielleicht komme ich ja so langsam wieder zu Kräften. Der Exorzismus hat mich ganz schön mitgenommen, aber ich glaube ich erhole mich endlich davon.

Was hab ich eigentlich verpasst?“ Grob umriss Aiden für seinen Dämon, wie das Gespräch mit Lukas verlaufen war, und kraulte ihm dabei fast schon automatisiert den Nacken.

„Wenn der Junge irgendwas Dummes tut, was dich in Gefahr bringt, dann mach ich ihn kalt.“ Eigentlich wollte Aiden ihn reflexartig anfahren, aber er wusste es inzwischen besser. Es würde nichts bringen jetzt mit Reel darüber zu streiten. Seine oberste Priorität war Aiden, also stelle er alles und jeden anderen hinten an – mehr steckte da nicht dahinter.

Mit einem resignierten Schmunzeln drückte Aiden ihn noch enger an sich. Ihnen würde in Zukunft eine Menge Ärger ins Haus stehen, das hatte er im Gefühl, also genoss er einfach die Ruhe vor dem Sturm und schob auch seine Sorgen Lukas betreffend vorerst beiseite.
 

Der ging Aiden in der nächsten Zeit tatsächlich vehement aus dem Weg, obwohl sich das für zwei Klassenkameraden, die in fast jedem Fach nebeneinander saßen, ausgesprochen schwierig gestaltete.

Lukas sprach kaum ein Wort und warf Aiden immer wieder skeptische Blicke von der Seite zu. Es war ihm mehr als unangenehm, so nah an dem unmenschlichen Monster zu sitzen, das sich vor aller Augen verborgen im Körper seines besten Freundes versteckte. Doch gleichzeitig biss ihn dabei jedes mal sein schlechtes Gewissen.

Aiden hatte schon recht – was hätte er bitte tun sollen? 'Sich nicht auch noch in dieses Monster verlieben', kam es ihm unweigerlich in den Sinn, doch er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Er wusste selbst, dass man sich sowas nicht aussuchen konnte und dass es für Aiden bestimmt auch nicht unbedingt leicht gewesen war. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder das mitleiderregende Bild, das Aiden abgegeben hatte als er ihm nach Lukas' ungünstigem Timing gestanden hatte, dass er Reel liebte.

Unwillkürlich drang ein Seufzen aus seiner Kehle und er wollte am liebsten den Kopf auf den Schultisch legen. Gefühle für einen Dämon, einen mörderischen Magier am Hals und schmerzhafte Siegel, die ihn ausspionierten, überall im Internat – für Aiden musste das Ganze viel schwieriger sein und Lukas war ihm keine besonders große Hilfe.

Auf der anderen Seite lief es Lukas schon kalt den Rücken herunter, wenn er nur an den lebendigen Schatten und das monströse Aussehen von Reel dachte – von dessen Verhalten und Feindseligkeit mal ganz abgesehen.
 

Aiden hielt dieses unbequeme Schweigen und die seltsame Stimmung im Internat nicht lange aus. Er und Reel nahmen ihr übliches Training wieder auf und flohen gelegentlich in die Innenstadt. So kam Aiden mal auf andere Gedanken und Reel konnte austesten, wie viel er seinem Körper und seiner dämonischer Macht wieder zutrauen konnte.

Immerhin schlief er inzwischen wieder besser, solange Aiden währenddessen nicht von seiner Seite wich. Sobald sein geliebter Sunshine jedoch aufstand und ins Bad ging oder irgendetwas am Schreibtisch machte, suchten ihn sofort seine üblichen Albträume heim.

Diese Nacht hatte Reel allerdings durchschlafen können, also hatten er und Aiden sich spontan nach dem Unterricht auf den Weg in die Innenstadt gemacht und dieses Mal hatte Aiden sogar einen Grund dazu.

Froh über die Ablenkung nahm er sich zwei neue Schreibblöcke aus dem Regal im Schreibwarengeschäft und schlenderte anschließend mit Reel an der Hand durch die Gänge, damit sein künstlerisch-begabter Dämon seinem Interesse frönen und sich durch einige Stifte durchprobieren konnte. Mit den zwei Blöcken und einem Basis-Set an (viel zu teuren) Kohlemalern verließen sie schließlich den Laden und machten sich auf den Rückweg.

„Danke, Sunshine. Ich weiß, mein Hobby ist nicht unbedingt billig.“ Dankbar schenkte er Aiden einen Kuss auf die Lippen und drückte dessen Hand in seiner.

„Schon okay. Du bist ja genügsam. Außerdem hätte ich sonst Angst, dass du einfach im Laden klaust“, neckte er Reel vergnügt und erwiderte bereitwillig auf offener Straße und vor aller Augen ihren Kuss.

Hand in Hand liefen sie die Straße hinunter und fast hätten sie das Chaos vergessen können, in dem sie eigentlich streckten, doch dann meldete sich plötzlich dieses unangenehme Gefühl wieder, das Reel noch von ihrem letzten Doppeldate mit Lukas und Sophie kannte.
 

„Verdammt. Nicht schon wieder. Weg hier, Sunshine.“ Hastig zog er Aiden mit sich und lief einfach die Straße weiter runter. Ohne Sophies feinen Aurenspürsinn hatten sie keine Chance zu wissen, wo der Einflussbereich des Magiers endete, also hoffte Reel einfach, dass er instinktiv in die halbwegs richtige Richtung rannte.

Leider war das feine Gespür nicht das Einzige, was ihm im Gegensatz zu Sophie fehlte. Auch von ihrer Ortskundigkeit hatte Reel nichts und so ließ er sich von ihren unsichtbaren Verfolgern in eine Sackgasse treiben.

Drohend lösten sich die deformierten Gestalten in der menschenleeren Gasse aus den Schatten und fixierten die beiden Flüchtenden mit ihren pupillenlosen, roten Augen. Die Niederen umringten sie und schnitten ihnen den Weg ab, aber zu Reels Überraschung griffen sie nicht an. Sie hatten sie hierher in eine Falle gejagt und schienen nun auf etwas zu warten.

„Reel, was ist los? Warum bewegen die sich nicht mehr?“ Verunsichert klammerte Aiden sich an dessen Arm fest und der hüllte ihn schützend in seinen Schatten ein.

„Keine Ahnung, aber es gefällt mir nicht. Bleib dicht bei mir.“ Plötzlich vernahm Reel ein leises Murmeln aus dem Halbdunkel einer kleinen Seitengasse und ein schmerzhaftes Brennen breitete ich in seinem Körper aus. 'Ein Bannkreis. Verflucht!'

Aiden schien den Schmerz ebenfalls in seinem Fluchmal zu spüren und hielt sich erschrocken die linke Schulter, während Reel ihn instinktiv hinter sich schob um ihn vor der Quelle des verdächtig magischen Gemurmels zu beschützen.

Das Brennen vereinnahmte Reels gesamten Körper und verlangsamte seine Gedanken, aber es war Nichts im Vergleich zu den Qualen, die der Exorzismus in Japan verursacht hatte.

Die Niederen versammelten sich drohend um die Grenzen des Bannkreises und nun kam auch endlich die Gestalt aus den Schatten auf sie zu. Eine junge Frau – eher noch ein Mädchen – mit blondem Haar und verachtungsvollem Blick. Ihr Zauber verstummte und ein überhebliches Lächeln trat seiner statt auf ihre Lippen.
 

„Sierra?“, stellte Aiden mit Entsetzen fest. Jetzt verstand er überhaupt nichts mehr. „Aber warum -“ Aidens Stimme erstarb und wurde von einem gequälten Röcheln abgelöst. Mit weit aufgerissenen Augen schnappte er nach Luft und krallte sich hilfesuchend an Reel fest.

„Sunshine! Was hast du?“ Unweigerlich glitt sein Blick zurück zu der Hexe, die ihren erhobenen Zeigefinger auf Aiden richtete und stumm die Lippen bewegte. Flashbackartig kehrten die Bilder aus Reels Träumen zurück und hebelten kurzerhand seinen Verstand aus. Im Traum hatte er sich nicht rühren und Aiden nicht beschützen können, doch jetzt sah das anders aus.

Sein Schatten türmte sich mehrere Meter hoch über ihm auf, das Rot seiner Iris griff auf seine Augäpfel über und ein unmenschliches Knurren erklang aus seiner Kehle und ließ die Niederen um ihn herum instinktiv zurückweichen.

Reel machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Schatten Dolche formen zu lassen, sondern schmiedete sich die Klingen in Form von Klauen direkt an die Finger, während er in unkontrollierbarer Rage auf die junge Hexe zustürmte. Er sah nur noch sie und ihr süffisantes Lächeln. Er wollte nur noch ihr Blut und ihren Tod, alles andere verlor sofort jegliche Bedeutung.

Die Barriere des Bannkreises zerschmetterte er mühelos, aber seine Klauen fanden dennoch nicht ihr Ziel.

Nur eine Haaresbreite trennte die ungeschützte Haut der Hexe von Reels tödlicher Tobsucht, doch er konnte sie nicht überwinden. Egal was er tat, er kam nicht an dieses verachtenswerte Geschöpf vor ihm heran. Sie stand genau vor ihm – die Hexe, die Aiden so häufig fast das Leben genommen hätte, die für den Zwischenfall verantwortlich war, der zu dem Exorzismus und zu seiner Seelenspaltung geführt hatte.

Die Hexe, die Aidens zerbrochene und nun verdorbene Seele zu verschulden hatte, war so nah, dass Reel ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte, doch weder seine Klauen, noch seine Zähne oder sein Schatten drangen zu ihr durch. Alles schien an ihrer Haut einfach spurlos abzuprallen.

„Dummes Werkzeug“, flüsterte sie ihm zu, ohne sich auch nur in kleinster Weise von seinen unkontrollierten Angriffen beeindrucken zu lassen. „Ich bin deine Herrin. Du kannst mich nicht töten. Dein Ungehorsam allein ist schon absolut inakzeptabel, aber dass du tatsächlich versuchst Hand an mich zu legen, ist einfach nur albern.

Wirklich schade. Da habe ich schon so ein Pachtexemplar beschworen und es ist trotzdem nutzlos.“ Interessiert glitt ihr Blick über Reels eindrucksvolle Erscheinung und blieb schließlich in seinem Ausschnitt hängen. „Nun ja. Vielleicht bist du doch nicht völlig nutzlos.“ Nonchalant griff sie nach dem Band um Reels Hals und riss beherzt den Schlüssel an sich. „Du hast ja keine Ahnung, was du da als Schmuckstück mit dir herumgetragen hast, du wertloses Mängelexemplar. Du trägst buchstäblich den Schlüssel zu Großmeister Griefs Seele mit dir herum und es ist noch nie jemandem aufgefallen.

Einen sichereren Ort als den Körper eines hochstufigen Rachedämons hätte der Großmeister gar nicht wählen können. Er war wirklich ein Genie und er wird es wieder sein.“

Reels Blut gefror in seinen Adern. Griefs – das konnte nicht wahr sein. Die ganze Zeit über, hatte er die Seele des Mannes beschützt, der ihn zu diesem Leben verflucht hat und der Nathaniël... Sein Schatten flammte wütend um ihn auf, sein Knurren wurde wieder laut und unbändige Rachsucht drohte seinen ganzes Selbst vollkommen zu vereinnahmen.

„Reel.“ Einen Moment lang war er völlig verwirrt. Diese leise Stimme war Reel vertraut, aber irgendwie hatte er vergessen, zu wem sie gehörte und warum er sie jetzt und hier vernahm. Dann fiel endlich der rote Schleier, der seine Sinne vernebelte und seinen Geist zerfraß.

„Sunshine!“ Aiden kniete auf dem Boden, atmete schwer und hatte tränennasse Augen. Sofort ließ Reel von der Hexe ab, um sich um den verstörten Aiden zu kümmern. Er bekam zwar wieder Luft, aber seine Atemnot hatte eine ganze Weile angehalten, ehe Sierra mit ihrem Monolog den Zauber abgebrochen hatte.

„Hm. Eigentlich hättest du jetzt bewusstlos sein sollen. Seltsam.

Die Regeln verbieten es mir leider, dich mit einem einfachen Erstickungszauber zu töten. Es muss durch einen Dämonenangriff oder einen magisch verursachten „Unfall“ geschehen – so habe ich mir die Prüfung selbst ausgesucht. Aber wer hätte auch damit rechnen können, dass du so ein hartnäckiges Opfer wärst und dieser vermaledeite Dämon so unsagbar widerspenstig?

Ich weiß nicht einmal, ob deine Art diese Bestie zu zähmen und zu kontrollieren bewundernswert oder einfach nur abartig, widerwärtig und über alle Maßen ekelerregend ist. Aber du hast ohne magische Begabung einen Dämon in deine Gewalt gebracht und dafür verdienst du zumindest etwas Respekt.“ Schützend schlang Reel die Arme um Aiden und konzentrierte sich auf dessen Herzschlag, Atmung und Geruch. Seine Gedanken sprangen im Sechseck und drohten ihn erneut zu übermannen und seinen Verstand zu verschlingen, also musste er sich an Aiden als seinen Anker klammern, bevor seine Instinkte erneut die Kontrolle über ihn gewinnen konnten.

„Meine Niederen werden vermutlich nicht ausreichen, um dir endlich das Licht auszupusten, aber einen Versuch ist es wert. Dein Dämon scheint ja auch auf einem schmalen Grad zwischen Erschöpfung und völligem Wahnsinn zu wandeln.

Vielleicht tötet er dich ja doch noch selbst.“ Ein selbstgefälliges Schmunzeln umspielte ihre Lippen und der Hochmut in ihrer Stimme ließ bei Reel fast auch noch die letzte Sicherung durchbrennen, doch er hielt sich verbissen an Aiden fest und rief sich immer wieder ins Gedächtnis, dass er seine höchste Priorität war. Aidens Sicherheit und Überleben war wichtiger als Reels Rachsucht, also durfte er seinen dämonischen Gelüsten nicht nachgeben.

„Aber selbst wenn du auch hier wieder lebend rauskommst, kriege ich meine Rache. Dieses Baby hier -“ Sierra küsste den schwarzen Schlüssel in ihrer Hand. „- wird mir den Weg in den Zirkel und vielleicht sogar an Großmeister Griefs Seite ebnen und dann ist es nur noch ein Katzensprung bis zu unvorstellbarer Macht.

Du wirst sterben, Aiden Moore, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Dein dämonischer Wachhund wird dich nicht immer beschützen können. Du wirst für deinen Mord an Fibi bezahlen.“ Während sie sprach, war ihre Miene immer verzerrter geworden und Sierras Gesicht glich nun einer Maske des Wahnsinns.

Das was Sophie damals über die Auren der Niederen gespürt hatte, konnte Aiden nun unverkennbar in Sierras Stimme hören und in ihrem Gesicht sehen. Dieses Mädchen war völlig machtbesessen und rücksichtslos. Und Reel konnte seinen Liebsten nicht vor ihr beschützen.

Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Sierra sich plötzlich um, schnippte in die Finger und all die Niederen, die sie die ganze Zeit über belauert hatten, fielen nun über sie her. Doch Reel war am Ende seiner Geduld und Selbstbeherrschung angekommen.

In kaltem Zorn zerriss er jede erbarmungswürdige Gestalt, die es wagte, Aiden zu nahe zu kommen. Reel zerfetzte sie mit Klauen und Zähnen oder ließ seinen Schatten sie verschlingen, doch er wich Aiden dabei nicht für den Bruchteil einer Sekunde von der Seite. Er würde nicht zulassen, dass man ihn ihm wegnahm. Niemandem würde er diese Macht erlauben und niemand würde ihn erneut zu seinem Werkzeug machen.
 

Am Rande seiner Kräfte und Selbstbeherrschung sank Reel schließlich neben Aiden auf die Knie. Die Hexe war geflohen, die Niederen vernichtet und auch der Bannkreis war irgendwann verschwunden, doch Reel und Aiden saßen noch eine Weile unschlüssig auf der kalten Straße. Ihrer beider Köpfe waren hoffnungslos überfüllt mit Gedanken und vollkommen gelähmt zugleich.

Schließlich schlang Reel einfach stumm die Arme um Aiden, drückte ihn fest an sich, vergrub sein Gesicht in den braunen Haaren und flüsterte: „Ich liebe dich.“

Es war ein unbegründeter Impuls, der ihn zu diesen Worten brachte, doch irgendwie erschienen sie ihm angemessen. Reel verbannte vorübergehend alle Gedanken aus seinem Kopf, die nicht unmittelbar mit Aiden zu tun hatten. Er musste jetzt einfach ganz dringend an was anderes, als diese Begegnung denken. „Du wirst ganz kalt. Komm. Lass uns schnell zurück gehen.“ Abwesend nickte Aiden. Hier mitten auf der schmuddeligen, kleinen Straße war wirklich nicht der beste Ort, um diese ganze Sache einzuordnen und ihre neuen Erkenntnisse irgendwie zu sortieren.

Feindbild

„Sierra? Echt jetzt?“ Lukas sah Aiden völlig ungläubig an, der zusammengerollt in Reels Schoß saß und sich verbissen an dessen Arm festklammerte. Es war für Lukas immer noch mehr als unangenehm sich dieser rotäugigen Bestie gegenüber zu wissen, aber der schien momentan keinerlei Interesse daran zu haben, ihn von ärgern oder zu ängstigen.

Lukas war ziemlich verwirrt gewesen, dass Aiden ihn trotz seines ausdrücklichen Wunschs nach Abstand so vehement in sein Zimmer zitiert hatte, und noch entsetzter war er dann über dieses absurde Bild gewesen, das das ungleiche Paar abgab. Wie der unauffällige und brave Aiden sich so bereitwillig von der bedrohlichen, lebendigen Schwärze umfangen ließ, war einfach kein Anblick von dieser Welt.

„Ja, Sierra. Sie hat uns in die Enge getrieben und dann mit niederen Dämonen attackiert.“

„Aber das macht doch gar keinen Sinn. Warum hat sie sich euch gezeigt? Und warum lebt sie dann noch?“ Sophie warf einen vielsagenden Blick auf Reel, der mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein schien. Seine Aura war aufgewühlt und unsicher, seine sonst so lodernden Augen wirkten abwesend und leer und seine Arme umklammerten unnachgiebig Aidens Körper.

„Sie hat Reel gerufen, darum kann er sie nicht verletzen oder töten. Das hat Sierra zumindest gesagt und so war es dann auch. Reel konnte sie nicht mal berühren.“ Auch Aiden wirkte etwas durch den Wind, während er beschwichtigend Reels Nacken über seine Schulter hinweg kraulte und mit der anderen Hand fast schon meditativ über dessen Unterarm streichelte. „Außerdem hat sie Reel seinen Schlüssel gestohlen.“

„Was für einen Schlüssel?“ Unkoordiniert und unsortiert versuchte Aiden den anderen beiden zu erklären, was es mit Griefs und dessen Schlüssel auf sich hatte. Immer fester wurde dabei Reels Griff um seine Taille und auch der Schatten zuckte immer wieder unsicher, sobald Aiden den Namen des Hexenmeisters erwähnte.

Reel hatte Aiden zwar versichert, dass es okay wäre, wenn er den beiden von seiner Vergangenheit erzählte, aber es schmerzte ihn doch mehr als erwartet, dass seine eigene Geschichte so offengelegt wurde. Lukas' Blick zuckte immer wieder ungläubig zu Reels bemüht beherrschter Miene und Sophie hatte quasi das Wort „Mitleid“ quer übers Gesicht geschrieben – und Reel hasste beides. Er hatte weder die Nerven für Lukas' unqualifizierte Meinung, noch wollte er von irgendeinem dahergelaufenen Schulmädchen ob seiner tragischen Vergangenheit bemitleidet werden, aber momentan hatte er ganz andere Sorgen.
 

„Warte. Sagtest du 'Fibi'?“, riss Sophie Aiden plötzlich aus seiner wirren Erklärung.

„Ähm ja. Weißt du, wer das sein soll?“

„Natürlich. Fiona! Fiona Bellis. Die war in der Klasse über uns.

Sie ist vor circa einem Jahr in der Innenstadt von einem Auto überfahren worden. Es gab da diese Gedenk-Veranstaltung und danach wurde die ganze Sache einfach totgeschwiegen, um den Ruf der Schule nicht noch weiter zu schädigen.“

„Stimmt. Ich erinnere mich an sie. Also eher an die komische Veranstaltung“, bestätigte Lukas und kramte angestrengt in seinem Gedächtnis.

„Aber was hab ich denn damit zu tun? Ich kannte die doch gar nicht“, schaltete sich Aiden wieder ein. Auch er konnte sich noch flüchtig an das unauffällige Mädchen erinnern, aber eigentlich nur, weil sie zu der Mädchengruppe um Mara gehört hatte. Mehr wusste er über diese Fiona nicht.

„Sie und Sierra waren unzertrennlich.“ Sophies Stimme klang traurig. Auch sie hatte Fiona gut gekannt – schließlich waren sie in einer Clique gewesen – aber auch sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was sie mit Aiden zu tun gehabt haben könnte.

„Reel? Reel, nicht so fest.“ Erschrocken zuckte er zusammen und lockerte sofort seinen Griff um Aiden, der unbemerkt immer enger geworden war.

„Entschuldige. Ich war mit den Gedanken woanders.“

„Schon okay. Du denkst an den Schlüssel oder? Geht das wirklich? Können sie Griefs damit zurückholen?“ Resigniert vergrub Reel sein Gesicht in Aidens weichem Haarschopf.

„Ich fürchte schon. Wenn irgendein Bastard wieder ins Leben zurückkommen kann, dann ist es er. Und ich hab ihm dabei auch noch geholfen. Hätte ich diesen bescheuerten Schlüssel damals nicht mitgenommen, sondern ihn einfach zerstört oder liegenlassen, wäre das nicht passiert.

Wahrscheinlich hat er damals sogar Nathaniël nur so hart angegangen, weil ihm dieser vermaledeite Schlüssel so wichtig war.“ Etwas unbeholfen drehte Aiden sich in Reels Schoß um und zog ihn in seine Arme.

Schnell hatten die beiden quasi ihre Plätze getauscht und nun kuschelte Reel sich an Aidens Brust und ließ sich von ihm beruhigend über Kopf und Rücken streichen. Eigentlich vermied er es immer, vor den Augen von irgendwem anderes als Aiden Schwäche zu zeigen, aber jetzt gerade war es ihm egal. Lukas' Meinung tangierte ihn nicht und Sophie hatte ihn eh schon an seiner Aura durchschaut, also machte das nun auch keinen Unterschied mehr.
 

„Warum überrascht euch das eigentlich so wenig? Euch scheint es irgendwie gar nicht zu verwundern, dass Sierra und damit auch Mara aus einer Hexen-Familie stammen.“ Aiden sah forschend seine beiden Freunde an, die nun ertappte Blicke tauschten. Sofort wurde Aiden noch skeptischer und Reel öffnete wieder die Augen, die er in Aidens Armen instinktiv geschlossen hatte, um sich auf dessen sanfte Berührungen zu konzentrieren.

„Also... ehm...“, fing Sophie etwas unbeholfen an und spürte wie Reels Aura zunehmend an Feindseligkeit gewann. Drohend langsam richtete sich der Dämon wieder auf und fixierte sie dabei ununterbrochen mit diesen unangenehm brennenden Augen, in die nun auch das unmenschliche Lodern zurückkehrte. „Bitte seid mir nicht böse. Ich hätte nie gedacht, dass Sierra so was tun würde. Ich wollte doch nur Mara beschützen.“ Ihre Stimme überschlug sich fast und Tränen der Angst stiegen ihr in die Augen.

„Du wusstest, dass das Mädchen eine Hexe ist! Du hast es die ganze Zeit gewusst. Du wusstest, dass ein Magier Aidens Tod will, und hast trotzdem nichts gesagt.“ Mit zwei schnellen Schritten überwand Reel die Distanz vom Bett zu Sophie und griff wutentbrannt an den Kragen ihrer zitronengelben Bluse. Sein Schatten türmte sich ungezügelt bis zur Zimmerdecke auf und seine Augen brannten sich rachsüchtig in ihre Seele.

„Hey! Lass deine Finger von ihr“, schaltete sich Lukas todesmutig ein und versuchte sich zwischen seine Freundin und den zornigen Dämon zu schieben, doch der griff einfach auch nach dessen Kragen und zog ihn ruckartig zur Seite. Am liebsten würde er einfach beide in der Luft zerreißen. Sie hatten es gewusst und Aidens Leben einfach so aufs Spiel gesetzt, obwohl sie doch angeblich seine Freunde waren. Er sollte ihnen einfach die Lungenflügel raus reißen.

„Reel. Lass gut sein.“ Aidens Stimme klang weder ärgerlich noch bestimmend – nur müde und enttäuscht. Sanft legte er eine Hand auf Reels Unterarm und zupfte schwach an seinem Ärmel. „Es hätte uns nichts gebracht, wenn wir es eher gewusst hätten. Sierra hätte uns trotzdem angegriffen und wir wären nicht an sie rangekommen.

Du hättest Mara umgebracht, die ja anscheinend gar nichts mit meinem Fluch zu tun hatte, und Sierra dadurch nur noch wütender gemacht. Und wenn sie es unbedingt gewollt hätte, dann hätte sie mich heute in der Stadt einfach ersticken können.“ Reels schlechtes Gewissen zog ihm die Eingeweide zusammen. Aiden hatte recht und Reel konnte ihn trotz der großen Töne, die er immer spukte, nicht vor der mörderischen Hexe beschützen.

Sofort ließ er die beiden Schüler los und ballte die Hände zu Fäusten. Seine Machtlosigkeit ärgerte ihn und er wusste wie immer nicht, wohin mit seinem Selbsthass wenn er ihn nicht an jemand anderem auslassen konnte.

Aiden schien ihm das allerdings nicht übel zu nehmen. Er kannte seinen Dämon inzwischen in- und auswendig und wusste auch diese Reaktion richtig einzuordnen. Mit sanfter Miene zog er ihn wieder zurück zum Bett und dort in seine Arme.

„Was wisst ihr alles und woher?“, fragte Aiden streng und ohne den Blick von Reel zu nehmen seine beiden Freunde, die mit schuldbewusster Miene ihre Oberteile richteten und noch den Schock von Reels plötzlichem Angriff verdauten.

„Tut uns leid. Wir wollten dich wirklich nicht in Gefahr bringen, Aiden“, fing Sophie an und wiederholte dann, was Lukas ihr erzählt und was sie ihm daraufhin erklärt hatte. Aiden hörte ihr schweigend zu, aber sah sie kein einziges mal an.

Mehr Sorgen bereitete ihr allerdings Reels Verhalten. Dessen Finger krallten sich so fest in das Bettlaken, dass jeder einzelne von ihnen ein längliches Loch in die Baumwolle riss. Seine und auch Aidens Aura war völlig durcheinander und wechselten in so schneller Folge zwischen verschiedenen Emotionen, dass es Sophie während ihrer Erklärungen mehrmals aus dem Konzept brachte und sie sich verhaspelte.
 

Fasziniert drehte Sierra das unscheinbaren Stück Metall zwischen den Fingern. Das war er – der wortwörtliche Schlüssel zum Erfolg. Sie hatte eine Skizze davon in den Aufzeichnungen des Großmeisters gesehen, aber die Schwere von dessen Bedeutung erst erkannt, als sie das ungewöhnliche Schmuckstück um den Hals des Dämons entdeckt hatte.

Ihr Meister musste seinen Seelenspeicher einem der Dämonen, die er im Laufe seines Lebens geschaffen hatte, angehängt und ihn so vor feindlichen Angriffen geschützt haben. Großmeister Griefs war ja so unglaublich intelligent und talentiert. Ob er ihr wohl persönlich danken würde? Sie vielleicht sogar als seine Assistentin annehmen? Sierra verfiel in Tagträume während das Stück Schmiedekunst sich langsam auf ihre Körpertemperatur erwärmte.

Auch die Dolche des ungehorsamen Dämons waren ungewöhnlich, fiel ihr plötzlich auf. Sie ähnelten dem, der bei Großmeister Griefs Leiche gefunden worden war – auch davon hatte ein zeitgenössisches Zirkelmitglied eine Skizze und Beschreibung festgehalten. Der Dolch war allerdings kurze Zeit nach dem Mord gestohlen worden, weshalb man immer von einem 'normalen' menschlichen Täter ausgegangen. Doch an dieser Theorie wurden so langsam Zweifel wach. Konnte es etwa sein, dass Griefs sich ein Werkzeug erschaffen hatte, das selbst er nicht im Zaum halten konnte?

Es grenzte schon an eine Beleidigung, dass einem nicht-magischen Menschen wie Aiden gelungen sein sollte, woran selbst der Großmeister scheiterte. Allein der Gedanke machte sie rasend und widerte sie an. Aiden zähme diese Bestie durch emotionale Bindung und wenn man dem Getuschel seiner Zimmernachbarn Glauben schenken konnte, dann band er ihn auch körperlich. Erneut durchzuckte sie tiefer Ekel.

'Mit einem Dämon... und dieser Bastard hat meine kleine Schwester geküsst.' Plötzlich entgleisten ihre Gesichtszüge und der wertvolle Schlüssel rutschte ihr fast aus den Fingern. 'Verdammt, Mara!' Sierra hatte sie völlig vergessen.

Sie hatte sich von ihrem Erfolg berauschen lassen und sich dadurch nicht die Mühe gemacht, auch nur zu versuchen, ihre Identität zu verbergen. Aiden war kein Killer und dieses ungehorsame Werkzeug konnte sie nicht mal berühren. Aber der Dämon wusste garantiert von Mara, und Sierra würde sich nicht darauf verlassen, dass Aiden diese abartige Bestie im Zaum hielt.

Eilig verstaute sie den Schlüssel in ihrer Tasche, zog ihr Handy hervor und rief ihre Schwester an. Sie musste Mara so schnell wie möglich aus dem Internat rausholen und zum Zirkel bringen. Solange Sierra den Seelenspeicher hatte, würde ihr niemand den Zugang zum Zirkel verwehren – egal ob sie ihre Prüfung noch nicht bestanden oder eine nicht-Hexe dabei hatte.
 

„Ich bring das Mädchen um“, flüsterte Reel in kaltem Zorn auf Mara bezogen und löste endlich seine verkrampften Finger aus dem aufgerissenen Laken.

Lukas und Sophie sahen entsetzt zu dem Dämon hinüber, doch Aiden kraulte ihm nur beruhigend den Nacken und verarbeitete, was er soeben alles erfahren hatte. Reel war gerade zu erschöpft und zu aufgewühlt, um sich mit dem Töten einer nicht-magischen Hexe zu beschäftigen, also brauchte Aiden jetzt gar nicht auf diese Aussage eingehen.

Trotzdem blieb noch immer das Problem mit Sierra und ihrem Plan, den Großmeister ihres Zirkels zurück ins Leben zu holen – und der war ausgerechnet auch noch der Mann, der für Reels Schicksal als Rachedämon verantwortlich war. Was für ein makaberes Spiel trieb Fortuna hier nur mit ihnen?

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend und wirr kreisenden Gedanken machten sich Lukas und Sophie zur Nachtruhe wieder auf den Weg in ihre Zimmer und ließen Aiden und Reel vorerst allein.

„Tut mir leid“, flüsterte Reel kaum war die Tür ins Schloss gefallen und Ruhe eingekehrt. „Ich hab dir versprochen, dass ich dich beschütze, aber ich war völlig machtlos.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll, und das macht mir Angst.“ Beruhigend kraulten Aidens Finger Reels Nacken und Kopfhaut.

„Schon okay. Ich hab auch Angst, aber wir schaffen das schon irgendwie. 'Wir kriegen das zusammen hin, oder wir gehen gemeinsam beim Versuch unter' – das haben wir uns schließlich versprochen.“ Unwillkürlich verstärkte Reel seinen Griff um Aidens Taille und nickte schwach. 'Zusammen untergehen' war für Aiden leicht gesagt. Wenn er starb, würde für Reel der ewige Kreislauf aus Flüchen und Opfern weitergehen. Aiden würde sterben und mit seiner Seele sonstwas passieren, aber Reel würde ohne ihn weitermachen müssen.

Das war sein Schicksal, dem er nie für lange entkommen konnte. Das hier mit Aiden war ein kurzer Traum an der Sonne, bevor er wieder für immer in ewiger Dunkelheit versinken würde, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Reels Zeit mit seinem Liebsten war begrenzt, also sollte er sie genießen solange es noch ging.

„Ich liebe dich, Sunshine.“

„Ich dich auch, mein heißgeliebter, eigensinniger, anzüglicher, dreister Dämon mit den unvergleichlich schönen Augen und den geschickten Händen.“ Ein hingebungsvoller Kuss fand seinen Weg auf Reels Lippen und zauberte ein Lächeln auf selbige. Seine strahlende Sonne hatte wirklich ein einmaliges Talent dafür, die Regenwolken um Reel herum zu vertreiben, und dafür war er ihm unendlich dankbar.

Sollbruchstelle

„Verrätst du mir jetzt endlich, was los ist?“ Widerwillig ließ Mara sich von ihrer großen Schwester mitziehen, die zielstrebig mit ihr durch die Seitengassen der Innenstadt eilte.

„Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist. Aber erst mal musst du in meiner Nähe bleiben. Ich will nicht, dass du zwischen die Fronten gerätst und dabei verletzt wirst.“

„Verdammt, Sierra. Was hast du angestellt?“

„Gar nichts. Meine Prüfung ist eben anders verlaufen als geplant, aber ich habe es geschafft das zu meinem – zu unserem – Vorteil zu nutzen. Der Ärger mit Mom, meine Prüfung, der Zerfall des Zirkels – alles vorbei. Vertrau mir, Schwesterchen.“ Mara konnte das Gesicht ihrer Schwester nicht sehen, doch sie hörte an ihrer Stimmlage, dass Sierra wieder in Fanatismus hinabglitt. Das war eine Eigenschaft, die Mara schon immer an ihr und auch an ihrer Mutter zum Fürchten gefunden hatte. Ihr Vater hatte es immer auf den starken Einfluss der Magie oder die Ideologie des Zirkels geschoben und ignoriert, also tat Mara das Gleiche. Die Magie war eben ein großer Teil von Sierras Leben und ihre innigste Leidenschaft.

Inzwischen hatten sie die Tür eines unauffälligen Wohngebäudes erreicht, das sich völlig normal und unverdächtig ins Stadtbild einfügte. Sierra zog einen Schlüssel hervor, öffnete die Eingangstür und zog ihre Schwester mit sich.

„Was denn? Dachtest du etwa, der Zirkel würde sich in einem gruseligen Keller oder Katakomben unter einem alten Mausoleum treffen?“, scherzte Sierra als sie den ungläubigen Blick ihrer nicht-magischen Schwester bemerkte.

„Irgendwie schon.

Sierra, ich sollte nicht hier sein. Wenn man mich hier sieht, kriegen wir beide und Mom gewaltigen Ärger.“

„Keine Sorge. Ich mach das schon.“

„Das will ich sehen“, mischte sich eine strenge Frauenstimme in das Gespräch ein und Sierra schloss gewissenhaft die Haustür. Während Mara das Herz bis zum Hals schlug, verstaute Sierra betont entspannt und selbstsicher den Hausschlüssel in ihrer Tasche und zog stattdessen einen kleinen hellbraunen Lederbeutel hervor, der mit dunklen Runen versehen war.

Die Symbole waren nicht aufgemalt, sondern dem Schwein tätowiert wurden, bevor man es gehäutet und die Haut zu Leder gegerbt hatte. Das Ergebnis dieser mühsamen Prozedur war ein kleiner Beutel, der seinen Inhalt vor Aufspür-Zaubern schützte und gleichzeitig dessen Energiesignatur verbarg.

Sierra ging zwar nicht davon aus, dass Aiden oder sein dämonischer Wachhund dazu in der Lage wären, den Schlüssel aufzuspüren, aber die kleine Möchtegern Sophie hatte sich als weitaus nerviger herausgestellt, als sie je für möglich gehalten hatte. Also wollte sie kein Risiko eingehen.

„Der Innere Kreis muss zusammengerufen werden. Sofort“, verlange Sierra und hielt der Hexe mittleren Alters vielsagend den kleinen Beutel hin. Auf diesem Moment hatte sie gewartet. Jetzt würde sie die Anerkennung bekommen, die sie verdiente, den Respekt, der ihr zustand.

Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen ergänzte sie erklärend: „Das letzte Stück der Seele des Großmeisters ist heimgekehrt.“
 

Ratlos saß Mara auf einer kleinen Bank am Rand es großen Raumes im Untergeschoss des Hauses und beobachtete das wirre Treiben. 'Also doch ein gruseliger Keller' dachte sie ganz unwillkürlich, während Hexen und Magier geschäftig an ihr vorbeihuschten und sich aufgeregt unterhielten.

Sie hatte keine Ahnung, was genau hier eigentlich vor sich ging. Man hatte ihr nie etwas über den Zirkel, dessen Strukturen oder Ziele erzählt, weil sie zu unbegabt war, um jemals ein Teil davon zu werden, und als Außenstehende durfte sie nur so wenig wie möglich wissen.

Allein schon dass sie hier war, war ein Tabubruch, doch was auch immer Sierra hierher gebracht hatte, es war wohl wichtiger als die kleine nicht-Hexe in ihrer Mitte. Selbstverständlich. Alles war wichtiger als Mara.

Andererseits war das hier wohl eine wirklich große Sache und wenn Sierra Recht hatte, dann würde hiernach – was auch immer hier gerade passierte – alles besser werden. Zumindest für Sierra. Für Mara würde sich wohl nicht viel ändern, aber das war schon okay. Es war wie ihre Schwester sagte, wenn Sierra erfolgreich wäre, dann hatte ihre Mom eine Vorzeige-Tochter und würde Mara endlich in Frieden lassen. Zumindest hoffte sie das.

Die schwere Eisentür des Kellers wurde geöffnet und fünf hochrangige Zirkel-Mitglieder betraten den Raum, jeder mit einem schwarzen Lederkoffer in den Händen, die sie nahezu ehrfürchtig vor sich hertrugen und sie auf den Rand des gezeichneten Siegels auf dem Boden ablegten, wobei sie eine Lücke für einen weiteren Koffer ließen.

Irgendwie hatte Mara eisenbeschlagene Holztruhen oder etwas in der Art erwartet. Die ordinären Aktenkoffer nahmen der Szene viel von ihrer Mystik, aber darauf legte hier wohl niemand besonders großen Wert.

Zwei junge Magier brachten einen schmuckvollen Stuhl herein und stellten ihn präzise in die Mitte des Siegels. Es folge ihnen das Oberhaupt des örtlichen Zirkels – ebenfalls mit einem dieser Koffer in den Händen – und stellte sich neben das Sitzmöbelstück.

Auch Sierra betrat nun als Letzte den Raum durch die gleiche Tür wie die hochrangigen Mitglieder, legte ihren geöffneten Beutel in die Lücke zu den Koffern und genoss ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit, die diese Geste ihr bei den Umstehenden einbrachte.

Sie badete nahezu in den Blicken und sog das anerkennende Nicken und beeindruckte Getuschel tief in ihre Seele. Das hier war Sierras Triumph. Sie hatte vollbracht, woran Hexen und Magier ihres Zirkels seit Generationen scheiterten, und das wusste sie ganz genau.

Niemand würde sich an ihr Versagen mit dem fehlerhaften Dämon erinnern, dafür würde sie schon sorgen. Sie war keine Versagerin. Sie war ein Ausnahmetalent. Die geborene Hexe. Das Genie ihrer Zeit. Und spätestens jetzt musste das auch der Letzte anerkennen.
 

Ehrfürchtig und mit gesengter Stimme versammelten sich alle um den hergerichteten Zirkel. Nur Mara blieb unbeachtet auf der Bank am Rand sitzen und beobachtete mit wachsendem Unwohlsein, wie sich der Fanatismus auf immer mehr Gesichtern breitmachte. Ein Frösteln ging durch ihren Körper und sie konnte nicht sagen, ob er von dem feuchtkalten Klima in dem Kellerraum oder der unangenehmen Stimmung der Umstehenden rührte.

Ein letztes Mal wurde die schwere Flügeltür geöffnet und ein junger Mann Anfang 20 in einem edlen Anzug zum Ritualkreis geführt. Er wirkte abwesend, musste gestützt werden und schien kaum die Augen offen halten zu können, doch er ließ sich widerstandslos in die Mitte der Koffer bringen und dort auf den Stuhl setzen.

Das Zirkeloberhaupt watete bis die beiden Helfer den Ritualkreis wieder verlassen hatten und sich alle Aufmerksamkeit wieder auf ihm konzentrierte. Feierlich setzte er zu einer kurzen Rede an, in deren Folge er immer wieder den geöffneten Koffer in seinen Händen zeigte, einmal anerkennend auf Sierra hinwies und irgendetwas über den Mann im Stuhl erzählte. Viel mehr konnte Mara nicht aus diesem wirren Auftritt schließen, da sich das Zirkeloberhaupt aus welchen Gründen auch immer dazu entschlossen hatte, seine Ansprache auf Latein zu halten.

'Überdramatisiertes Theater', dachte Mara still bei sich und rutschte ungeduldig auf der Bank herum. Sie wollte endlich hier weg. Das hier war nicht ihre Welt und sie sollte eigentlich gar nicht hier sein. Aber auf der anderen Seite wäre Sierra nicht so aus dem Häuschen gewesen, wenn es sich hier um irgendeine Banalität handelte.

Sierra hatte sie aus der Schule geholt und hierher gebracht, also musste dieser ganze Zirkus ja irgendetwas mit Mara zu tun haben. Und da niemand es für nötig hielt, ihr irgendetwas zu sagen, musste sie beobachten und schlussfolgern, wenn sie etwas wissen wollte. Also schluckte sie das unbehagliche Gefühl runter und setzte sich etwas gerader hin um besser sehen zu können.
 

Das Zirkeloberhaupt beendete seine theatralische Rede, nahm einen prunkvollen und sehr alt anmutenden Ring aus dem Koffer und steckte ihn dem jungen Mann an den Finger, der inzwischen vollkommen von seinem Delirium übermannt worden war und nun bewusstlos auf der Sitzfläche hing. Alle Spannung und Kraft hatte seinen Körper verlassen und die Rücken- und Armlehnen waren das Einzige, was seinen Körper nun noch an Ort und Stelle hielten.

Das Zirkeloberhaupt verließ den Ritualkreis und positionierte sich so an dessen Rand, dass er den Mann in dessen Mitte frontal ansehen konnten.

Dann begann er den Text aus seinem Grimoire zu rezitieren.
 

In diesem Moment war es, als hätte jemand die Welt angehalten und begonnen, sie rückwärts zu drehen. Alles war gleich und trotzdem völlig anders. Die Stimme des Zirkeloberhaupts klang durchdringend und mächtig wie Donner, der übers Land rollte. Die Stimmen aller teilnehmenden Hexen und Magier verschmolzen zu einer einzigen und selbst die Steine der toten Kellerwände schienen im Gleichtakt mit ihnen zu schwingen.

Als würde man alle Tasten eines Klaviers gleichzeitig spielen, nahm ein überladenes Dröhnen den Raum ein und ließ die Luft vibrieren.

Mara war wie gelähmt. Ihr Körper rührte sich nicht, ihre Stimme versagte und sie war sich nicht einmal sicher, ob sie noch atmete. Ihr Kopf – nein, ihr gesamter Körper und Geist schienen wie tief unter Wasser und wurde von übermächtigem Druck zerquetscht.

Mara sah ihre Schwester, wie sie inmitten der Anderen um das Siegel stand und unisono lateinische Sprüche rezitierte, während ihre Augen fest auf den Mann im Stuhl gerichtet waren. Dann verschwamm der Anblick. Maras Augen wollten sich nicht mehr fokussieren und ihre Lippen weigerten sich, Worte zu formen. Irgendetwas zerdrückte Mara innerlich und nicht einmal Sierra schien es zu bemerken.

Die Stimmen und der begleitende Druck schwoll in einem durchdringenden Finale an. Und in Mara zerbrach etwas.
 

„Hat es nicht funktioniert?“

„Warum rührt er sich nicht?“

„Haben wir etwas falsch gemacht?“ Unruhiges Gemurmel füllte den Raum, während alle wie gebannt auf Malio, den jungen Mann in ihrer Mitte starrten. Er war ein vielversprechender Magier – begabt, ambitioniert, attraktiv, von guter Abstammung und kerngesund. Daher wurde ihm die Ehre zu teil, seinen Körper dem Großmeister zu geben.

Die Seele Griefs' hatten sie zwar zusammen, aber er brauchte eben auch einen Körper, um erneut in dieser Welt unter den Lebenden zu wandeln.

Um sicherzustellen, dass Meister Griefs ungehindert in den richtigen Körper gelangen konnte, hatte man Malios Geist mithilfe einiger pflanzlicher Mittel und Bewusstseins-Zauber in einen wehrlosen Zustand versetzt. Malio wollte zwar freiwillig Meister Griefs' Gefäß sein, aber gegen das Eindringen eines fremden Geistes oder gar einer fremden Seele wehrt man sich ganz instinktiv.

Dank der Vorbereitungen sollte Malio nun allerdings zur Sollbruchstelle in diesem Raum geworden sein und Griefs' Seele sollte daher dem Weg des geringsten Widerstands folgend in Malios Körper erwachen.

Ungeduldig zupfte Sierra an der Haut ihrer Fingerkuppen. Hatte sie sich vielleicht getäuscht und der Schlüssel enthielt doch nicht das fehlende Seelen-Fragment? Nein, das konnte nicht sein. Sie war sich absolut sicher, dass sie dieses mal keinen Fehler gemacht hatte. Sie hatte alles richtig gemacht und nichts vergessen.

Eine schwache Regung ging plötzlich durch Malios Körper und ließ das aufkommende Gemurmel wieder verstummen. Der junge Mann regte sich, hob angestrengt den Kopf und schlug unter größter Anstrengung und begleitet von leidvollem Stöhnen die Augen auf.

„Großmeister Griefs?“, fragte das Zirkeloberhaupt zögerlich und mit der Stimme eines unzulänglichen Kindes.

„Nein. Malio“, kam die gequälte Antwort genuschelt und ließ Entsetzen und Enttäuschung auf allen Gesichtern entstehen.

„Aber wieso? Wie konnte das passieren? Wir haben alles richtig gemacht.“

„Wenn ihr das hier als 'alles richtig machen' bezeichnet, dann ist mein Zirkel in meiner Abwesenheit wohl tief gefallen und es ist höchste Zeit, dass ich erneut die Führung übernehme.“ Erschrocken drehten sich alle zur Quelle dieser Worte um, nur Sierra wagte es nicht, sich zu rühren.

Beim Klang dieser Stimme gefror ihr das Blut in den Adern. Sie war so dumm – so unendlich dumm. Körperlose Seelen suchten sich immer den Weg des geringsten Widerstands und den bildete in diesem Raum nicht der sedierte aber immer noch mächtige Malio, sondern ein Mädchen mit mangelnder magischer Begabung.
 

Mara stand vor der Bank, auf der man sie unbeachtet hatte warten lassen. Ihre Augen waren berechnend, ihre Körperhaltung selbstbewusst und maskulin und das süffisante Lächeln auf ihren Lippen gehörte nicht zu dem Mädchen, das Sierra ihre kleine Schwester nannte. Kein Zweifel – das hier war nicht Mara, sondern Großmeister Griefs.

„Seit wann ist sowas“, Griefs deutete abfällig auf den zarten Mädchenkörper, in dem er nun steckte, „überhaupt in den Hallen des Zirkels erlaubt? Dieses Mädchen hat keinerlei Talent und übermäßig ansehnlich ist ihr Körper auch nicht.“

Die oberen Zirkelmitglieder brachen in unterwürfige Entschuldigungen aus, der Raum füllte sich mit aufgeregtem Raunen und alle versammelten sich um den Großmeister im Mädchenkörper.

Sierra wurde beiseite gestoßen und angerempelt, doch nichts davon nahm sie bewusst wahr. Sie hatte versagt. Sie hatte nicht nur das Ritual ruiniert, ihren Zirkel in Schwierigkeiten gebracht und ihren Großmeister in einen Mädchenkörper gesteckt, sondern hatte auch noch ganz nebenbei den Menschen verloren, den sie zu beschützen geschworen hatte.

Meister Griefs' Seele war stärker als Maras. Sie würde nicht wieder an die Oberfläche zurückkehren, solange er ihren Körper besaß. Und niemand würde Sierra dabei helfen, ihre Schwester zurück zu holen. Mara war nicht einmal ein Zirkelmitglied, also kümmerte ihr Schicksal niemanden. Sierra war auf sich allein gestellt und zum ersten Mal in ihrem Leben, machte ihr dieser Umstand unsagbare Angst.
 

„-erra? Sierra? Liebes, hörst du mich?“ Verwirrt sah sie zu der Frau auf, die sie sanft an der Schulter rüttelte und ihren Blickkontakt suchte. „Ich weiß, du machst dir Vorwürfe, weil du deine Schwester mit hierher gebracht hast, aber du musst dich jetzt zusammenreißen.

Du bist offiziell noch gar kein vollwertiges Mitglied, da du ja deine Prüfung noch nicht abgeschlossen hast, also kannst du für den Zwischenfall nicht verantwortlich gemacht werden. Mach dir also keine Sorgen.“ Noch immer perplex sah Sierra die Sekretärin ihrer alten Schule an. Zwischenfall. Sie nannte es 'Zwischenfall', dass Sierra soeben ihre Schwester um deren Körper gebracht hatte. „Großmeister Griefs will dich sehen. Also mach nicht so ein Gesicht, sondern sei stolz und selbstbewusst. Du bist eine Hexe, also verhalte dich auch wie eine.“ Energisch schon die Sekretärin ihren Schützling zur Tür und führte sie nach oben.

Man hatte eilig einen Raum für den wiedererweckten Großmeister hergerichtet und genau dort hinein wurde Sierra nun geschickt.
 

Als sie die Tür öffnete verschluckte sie sich kurz an ihrer Spucke. Der schutzlose Körper ihrer kleinen Schwester saß nackt auf der Bettkante und spielte mit Maras Smartphone herum. Als Griefs Sierra in der Tür bemerkte, ließ er es achtlos zu Boden fallen und wandte sich seiner Besucherin zu.

„Du bist also für diesen Schlamassel verantwortlich. Wie lautet dein Name?“

„Meister Griefs, verzeiht mir die Frage, aber warum habt ihr euch ausgezogen?“ Griefs seufzte schwer und verdrehte genervt die Augen.

„Gehorsam bringen sie euch hier wohl auch nicht mehr bei, wie mir scheint.“ Unsicher biss Sierra sich auf die Unterlippe.

„Sierra Dionea“, stellte sie sich knapp vor und wusste noch nicht so recht mit der Situation umzugehen.

„Dionea, also.“ Er drehte nachdenklich den Ring, den er inzwischen von Malio zurückbekommen hatte und der an Maras Hand nur auf ihrem Daumen richtig Halt fand. „Deine Blutlinie ist fast so alt wie meine eigene. Eine wahre Schande, dass deine Frau Mutter sich einen nicht-Magier zum Gatten erwählt hat. Du hättest so viel mächtiger sein können.

Und deine Schwester auch.“ Sierras Zähne mahlten aufeinander und knirschten hörbar. Sie war hin und her gerissen zwischen Wut, Trauer und Bewunderung. „Ich warte darauf, dass mir angemessene Kleidung gebracht wird“, beantwortete Griefs nun Sierras Frage verspätet und deutete auf die Anzughosen und Hemden, die überall im Zimmer verteilt lagen. „Ich weigere mich ein Kleid zu tragen und dieser Körper passt einfach in kein vernünftiges Kleidungsstück.“ Bei den Worten 'dieser Körper' griff er völlig selbstverständlich an Maras rechte Brust und drückte sie wie zur Bestätigung einmal in seiner Hand. „Wirklich unpraktisch der weibliche Körper. Unnötiges Fettgewebe, schwächliche Gliedmaßen und ein unförmiger Rumpf.“ Er guckte angewidert an sich herab. „Vom Fehlen eines Gliedes mal ganz zu schweigen.“

Sierra wollte sich übergeben. Für sie war Großmeister Griefs immer ein unfehlbarer Magier und möglicher Mentor gewesen, doch nun stellte sich heraus, dass er in Wirklichkeit ein misogynes, arrogantes Arschloch war, dass nun im Körper ihrer 18-jährigen kleinen Schwester steckte. Ekel und Wut mischten sich in ihr und töteten jedes bisschen Respekt, das sie vor ihrem Idol gehabt hatte.

„Kann ich mit meiner Schwester sprechen?“ Griefs sah sie überrascht aus Maras Augen an. Ein kurzes, kaum merklichen Zucken ging durch den fremdgesteuerten Mädchenkörper und Griefs überlegte verdächtig lang, bevor er ihr antwortete.

„Bedaure, halbe Dionea. Solange ich diesen Körper bewohne, bin ich auch an der Macht. Und für einen Wechsel auf einen anderen Körper, ist meine frisch zusammengesetzte Seele noch nicht stabil genug.“

„Den Körper wechseln?“ In Sierra keime Hoffnung.

„Aber natürlich. Glaubst du etwas, ich will in dieser schwächlichen, mangelhaften Hülle bleiben? Sobald ich weder im Vollbesitz meiner Kräfte bin, werde ich den Körper des jungen Malio übernehmen uns dieses unpassende Gefäß ablegen.

Aber bis es soweit ist,“, ein vielsagendes Lächeln stahl sich auf das vertraute und doch so fremde Gesicht, „werde ich die weltlichen Gelüste wohl in diesem Körper erkunden müssen. Eure moderne Welt hält ja so viele interessante Sünden und Verlockungen bereit.“ Genüsslich beobachtete Griefs, wie alle Farbe aus Sierras Gesicht wich. Er würde ihn ruinieren – er würde den unschuldigen Körper ihrer kleinen Schwester vollkommen ruinieren. „Na na na, kleine Halb-Hexe.

Du dachtest doch nicht etwa, dass du ungestraft davon kämst? Du hast es zu verantworten, dass ich vorläufig in diesem absolut unzureichenden Gefäß feststecke. Ich lass mich doch nicht von einem kleinen Mädchen wie dir vor meinem eigenen Zirkel lächerlich machen.

Dir wird schon noch bewusst werden, was du eigentlich angerichtet hast.“ Ein bösartiges Grinsen entstellte Maras kindliches Gesicht und ließ in Sierra Tränen aufsteigen. Das würde Mara ihr niemals verzeihen. Griefs hatte die Macht über ihren Körper und er würde sie schonungslos ausnutzen. Für ihn war Maras Körper nur eine Mitfahrgelegenheit, die er missbrauchen und, wenn es so weit war, gegen ein besseres Gefäß eintauschen konnte.

Mara war nicht magisch und nur eine Frau, also hatte sie keinerlei Wert für den Großmeister.
 

„Wie bist du eigentlich an meinen Schlüssel gelangt?“, wechselte er urplötzlich das Thema, doch in Sierra war das Fass inzwischen übergelaufen.

„Tut mir leid, aber ich habe leider nur das kurze, unzureichende Gedächtnis einer Frau und Halb-Hexe und hab es schon wieder vergessen.“ Griefs brach in schallendes Gelächter aus.

„Zumindest Reden kannst du gut. Schade, dass du nicht als Vollblutmagier geboren wurdest. Aus dir hätte noch werden können.

Du kannst dann gehen.“ Mit einem kurzen Fingerzeig ließ Griefs die Tür aufschwingen und fegte Sierra mit einer weiteren knappen Handbewegung mühelos aus dem Raum. Eigentlich war er nicht der Typ, der seine Macht für solche Kinkerlitzchen einsetzte, doch dieses Dionea-Mädchen gab einen all zu amüsanten Spielball ab. Aber da war noch etwas anderes, das Griefs eigentlich nicht wahrhaben wollte, doch er musste sich eingestehen, dass die Augen des Mädchens eine gewisse Angst in ihm auslösten. Das Feuer, das in ihren brannte, ähnelte dem, das er kurz vor seinem Tod in den hellgrauen Augen seines Mörders gesehen hatte.

Diese verfluchten, brennenden Augen – sie waren das Letzte gewesen, das er in seinem Leben gesehen hatte, und ihr Bild war das Erste gewesen, dass ihm durch den Kopf geschossen war, als er hier in diesem Mädchenkörper erwachte.

Allein die Erinnerung ließ ihn erschaudern und plötzlich fühlte er sich unsicher und verletzlich in dem nackten, zierlichen Mädchenkörper.

„WO BLEIBT MEINE KLEIDUNG?“

Der Feind meines Feindes

„Aber Mutter, wir müssen doch -“

„Sei still! Wir müssen gar nichts. Du kannst froh sein, dass dein Versagen nicht auf unsere Familie zurückfällt. Mara war für den Zirkel so wie so untauglich und wenn Großmeister Griefs es für eine angemessene Strafe hält, dann müssen wir das so hinnehmen.

Mir gefällt das auch nicht, aber wir haben keine Wahl. Der Zirkel steht über der Familie, das weißt du. Und Der Großmeister ist der Kopf des Zirkels. Selbst wenn ich es versuchen würde, hätte ich keinerlei Handhabe gegen ihn.

Wir können Mara nicht mehr helfen.“ In den Augen ihrer Mutter konnte Sierra die Hilflosigkeit und Wut erkennen, jedoch hielt sie sie professionell unter Verschluss. Ihr war das Schicksal ihrer jüngsten Tochter nicht gleich, aber sich von ihren Gefühlen übermannen zu lassen, würde niemandem etwas bringen. Also blieb sie kalt, hart und duldsam wie ein Felsen und hoffte, dass ihre ältere Tochter sich ein Beispiel an ihr nehmen würde.

Doch Sierra hatte andere Pläne. Ohnmacht und Hilflosigkeit verwandelten sich bei ihr stets in Wut und Rage. Rache war ihr als Gefühl wohl vertraut. Sie war die Basis vieler ihrer Zauber gewesen und der Antrieb hinter vielen ihrer Taten.

Wenn ihr Zirkel und ihre Mutter ihr nicht beistehen, dann würde sie sich eben anderswo Hilfe holen. Sie war stolz, das war sie schon immer gewesen, aber für Mara würde sie jeden Stolz und jedes bisschen Würde über Bord werfen. Um ihre kleine Schwester zurück zu bekommen, würde sie alles tun – ausnahmslos alles.
 

Ein unangenehmer Schauer durchlief Sophies Körper und ließ sie unwillkürlich zusammenfahren.

„Alles okay?“ Lukas sah sie besorgt an und auch Aidens und Reels Augen lagen sofort auf ihr. Die vier hatten sich in Aidens Zimmer versammelt und wälzten die Bücher und Schriftstücke aus Maras Besitz auf der Suche nach etwas über Wiederauferstehungen und Seelenfragmente.

Sophie war sich zwar schlecht dabei vorgekommen, sie einfach ungefragt aus ihrem Zimmer zu entwenden, aber Mara war nirgends zu finden gewesen, also hatte sie sie nicht fragen können.

„Ist sie es?“, fragte Reel mit einer unguten Vorahnung und musterte Sophies konzentriertes Gesicht.

„Ich glaube schon, aber irgendwie fühlt sich ihre Aura verändert an. Und sie verbirgt sie auch nicht so wie sonst. Irgendwas stimmt nicht.“ Lukas beobachtete mit zusammengebissenen Zähnen, wie Aiden reflexartig in seinen Nachtschrank griff und sich das Holster samt Dolch anlegte.

Er hasste Reel dafür, dass er Aiden zwang, eine Waffe zu tragen. Und er hasste Aiden dafür, dass er dem so selbstverständlich Folge leistete. Aber diskutieren war bei dem Dämon leider keine Option, also schluckte Lukas seinen Widerwillen runter und stand mit Sophie zusammen vom Boden auf.

„Sie kommt her“, stelle sie überrascht fest und sah ratlos zu Reel, dessen unruhiger Schatten und angespannter Körper seine Aggression preisgaben, auch ohne dass sie seine Aura bewerten musste.
 

Unaufgefordert wurde die Zimmertür geöffnet und zur allgemeinen Überraschung betrat nicht wie erwartet Sierra, sondern Mara den Raum.

Eilig schloss sie die Tür hinter sich, um ihre Zusammenkunft vor neugierigen Blicken zu schützen. Bevor jemand etwas sagen oder Reel auf sie losgehen konnte, ließ Sierra ihren Masken-Zauber fallen und enthüllte ihre wahre Identität. Sie hatte die Maske nur getragen, um sich ungestört im Internat bewegen und Sophie suchen zu können.

Sie wollte zuerst die beste Freundin ihrer kleinen Schwester auf ihre Seite ziehen, aber leider hing Sophie mit Lukas, Aiden und dessen vermaledeitem Fluch zusammen und Sierra hatte keine Zeit zu verlieren.

Reels unterschwelliges Kurren erfüllte sofort den Raum und Aiden hielt ihn entschieden am Arm zurück, damit sein Dämon nicht von seiner Rachsucht übermannt wurde.

„Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen“, platze Sierra plötzlich hervor und sank weinend auf die Knie. Völlig perplex schauten die Vier sie an. Aiden wollte einen zögerlichen Schritt auf sie zu machen, doch Reel schob ihn bestimmend hinter sich. Er würde kein unnötiges Risiko eingehen und Aiden nicht näher als nötig an diese mörderische Hexe heranlassen.

Also war es Sophie, die als Erste einen Schritt auf Sierra zu wagte. Immerhin waren die beiden Mädchen lange Zeit Freundinnen gewesen und Mara konnte ihre Aura deutlich spüren.

„Was ist passiert? Was hast du getan?“ Sierra brauchte eine Weile, um Worte zu formen. Reels Hass war fast zum Greifen, Aiden hatte eine Hand um den Griff seines Dolches gelegt und Sierra wurde von Schuldgefühlen und Scham gelähmt.

Sie war selbst ein wenig überrascht, wie wenig sie für diese Szene schauspielern musste. Andererseits ging es hier um Mara. Ihre kleine, unschuldige Mara, also verzieh sie sich selbst ihren viel zu echten Gefühlsausbruch vor Anderen und brachte schließlich brachte die verhängnisvolle Neuigkeit heraus.
 

„Wir haben unseren Großmeister erweckt und er hat Besitz von Maras Körper ergriffen. Er wird ihn ruinieren und zerstören, bevor er auf einen anderen wechseln kann. Er hat mit mir gesprochen und... und... Für ihn und den Zirkel hat sie keinen Wert, also wird mir niemand helfen, ihn aus ihrem Körper zu holen.“

„Und warum sollten wir dir helfen?“ Reels Stimme war beunruhigend gefasst. Aiden wusste, dass es immer ein schlechtes Zeichen war, wenn Reels Wut kalt statt heiß loderte. Sein Dämon stand entweder kurz davor, von seiner dämonischen Rachsucht übermannt zu werden, oder war von der Neuigkeit über Griefs Erwachen momentan so überfordert, dass er sie noch nicht recht verarbeitet hatte.

Beides war gefährlich, also verstärkte Aiden seinen Griff um Reels Arm, nahm seine andere Hand verborgen vor Sierras Blick von seinem Dolch und legte sie stattdessen beruhigend auf Reels Rücken.

„Weil zumindest einigen von euch Mara nicht egal ist“, antwortete Sierra, aber Reel verzog keine Miene. Ihm bedeutete das Mädchen nichts, also gab es für ihn keinen Grund ihr auch nur zuzuhören.

Andererseits ging es hierbei auch um Griefs. Und allein dieser Umstand machte die Sache für ihn schon wieder relevant. „Ich hab ihn so bewundert, aber Meister Griefs ist ganz anders, als ich immer gedacht hatte, und -“ Reels bitteres Lachen unterbrach ihren eh schon stockenden Redefluss und ließ alle Anwesenden erschrocken zusammenfahren. Keine Freude lag darin und selbst in Aidens Ohren klang dieses Lachen irgendwie falsch und fremd.

„Wie naiv bist du eigentlich? Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass Griefs etwas für die Nachwelt festhalten würde, was ihn in ein schlechtes Licht rückt?

Natürlich würde er nicht aufschreiben lassen, dass er ein pädophiles, selbstgefälliges, berechnendes, machtbesessenes und verlogenes Drecksschwein ist.

Jemandem blind folgen und sogar von den Toten zurückholen, den man überhaupt nicht kennt – das ist schon keine Naivität mehr, sondern pure Dummheit.“ Sierra sah den Dämon völlig fassungslos an. Der Hass in den roten Augen schien sie verschlingen zu wollen und für einen kurzen Moment fürchtete sie tatsächlich um ihr Leben.

Doch ihre mühsam antrainierte rationale Denkweise rief ihr wieder ins Gedächtnis, dass ihr fehlerhaftes Werkzeug sie nicht einmal berühren geschweige denn verletzen oder töten konnte. Aber auf sie einreden konnte er leider ganz problemlos. „Geschieht dir ganz recht.

Eigentlich hätte Griefs dir noch viel mehr wegnehmen müssen. Es ist fast schon lustig. Ich kann dich nicht anrühren, aber nun wirst du von deinem eigenen Idol bestraft.

Das ist besser als alles, was ich dir hätte antun können.“ Reels freudloses Lachen drang nicht nur Sierra in Mark und Bein. Sophie schlang schützend die Arme um ihren Körper und versuchte verzweifelt Reels rachsüchtige Aura auszusperren, Lukas kämpfte gegen seinen Fluchtinstinkt und Aiden wusste immer noch nicht, ob er eingreifen sollte.

In gewisser Weise stimmte er Reel zu. Sierra hatte mehrfach versucht ihn zu töten und hatte sowohl ihm als auch Reel Schmerzen zugefügt. Ganz unwillkürlich wanderte seine Hand an seine Kehle, wo er plötzlich wieder das Echo von Sierras Zauber spürte, der ihn in der Seitengasse fast zu Tode gewürgt hatte.

Nein, er würde Sierra jetzt nicht zur Hilfe eilen. Sollte Reel ruhig noch ein wenig seine Spielchen mit ihr treiben. Schließlich konnte er sie ja eh nicht anrühren.

Sierra hielt sich inzwischen die Ohren zu in dem verzweifelten Versuch, Reels niederschmetterndes Gelächter und seine Ausführungen darüber, was der alte Magier dem unschuldigen Mädchenkörper antun würde, auszusperren.

„Griefs wird das Mädchen niemals zurückgeben, darauf kannst du dich verlassen!

Oh bei Valefar. Allein der Gedanke – Lord Griefs im Körper einer kleinen Schülerin. Das ist gleichzeitig widerlich und absolut lächerlich.

Das Mädchen ist verloren. Sie kann wirklich von Glück reden, dass sie all das nicht mehr mitbekommt.“ Reel steigerte sich in seine eigenen Worte hinein. Sein Hass, die Neuigkeit über die Wiederauferstehung Griefs' und seine eigene Machtlosigkeit gegenüber seiner Beschwörerin lähmten seinen Verstand und überforderten ihn emotional. Zeigen würde er seinen momentanen extrem fragilen Zustand allerdings nicht – nicht solange die Hexe anwesend war.

Also übergab er seiner dämonischen Seite das Steuer und übertünchte jedes Gefühl mit psychischer Folter an Sierra.
 

„Reel, bitte!“, unterbrach ihn völlig unvermittelt Sophies verzweifelte Stimme. „Deine Aura tut mir weh und das ist immer noch Mara, von der du hier sprichst. Sie ist meine beste Freundin, also rede bitte nicht so von ihr.“

Erst jetzt fiel Aiden auf, dass auch Sophie weinte und ähnlich am Boden zerstört war wie Sierra. Und erst jetzt wurde ihm der Grund so recht bewusst. Mara. Es ging hier um Mara und nicht um Sierra. Mara, in die er so lange verschossen gewesen war und mit der er auf dem Schulball getanzt hatte. Seine Mitschülerin und Projektpartnerin Mara.

So langsam fraß sich die Erkenntnis durch Aidens Bewusstsein und ließ auch in ihm Sorge aufsteigen. Bei Reel war dieser Umstand allerdings noch nicht angekommen. Er gab sich vollkommen seinen dämonischen Spielen hin und setzte dem Ganzen noch die Kirsche auf. Er wollte Sierra leiden sehen und da er sie nicht anrühren konnte, musste er sie eben psychisch fertigmachen.

„Du kannst ins Präteritum wechseln. Sie war deine beste Freundin.“

„Was?“ Genussvoll ging er vor Sierra in die Hocke und brachte sein grinsendes Gesicht auf diese Weise ganz nah an ihres.

„Du hast deine kleine Schwester nicht nur verdammt, du hast sie umgebracht.“ Reel ließ seine Worte wirken und konnte Sierra dabei zusehen, wie sie zerbrach. „Du dachtest doch nicht wirklich das Griefs sich dazu herablässt, sich den Körper mit ihrer Seele zu teilen. Du hast es selbst gesagt, sie hat für ihn keinen Wert. Und selbst wenn er sie nicht hätte töten wollen, hätte er gar nicht die Wahl gehabt.

Ihr Hexen und Magier seht euch immer als überlegene Wesen, aber wenn man es mal genauer betrachtet, seid ihr uns Dämonen ähnlicher als den Menschen. Du kennst dich doch mit Meinesgleichen aus, das hast du schon mehrfach bewiesen. Also sag mir eins, wenn ein Dämon zweiter Art zum ersten Mal in den Körper eines Menschen ohne magische Begabung gebannt wird, was passiert dann?“

„Nein. Griefs ist kein Dämon, also gilt diese Faustregel nicht.“

„Und was genau macht dich da so sicher? Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen meine Opfer nicht unkontrolliert sondern gezielt zu verschlingen. Und Griefs wurde jetzt zum ersten Mal in einen bereits bewohnten Körper gesetzt.

Seine Macht wird dein kleines Schwesterherz einfach zerquetscht haben. Ihr Körper ist nur noch eine Hülle. Mehr nicht. Du hast sie getötet. Du hast deine kleine Schwester auf dem Gewissen.“
 

Hinter sich hörte Reel Aiden schluchzen und für einen Moment lang war er völlig verwirrt davon. Er hatte sich so sehr in sein Spiel mit Sierra vertieft, dass er komplett vergessen hatte, dass ja auch noch andere Leute in diesem Raum waren.

Überrascht stand er auf und drehte sich zu Aiden um, dem bereits vereinzelte Tränen über die Wangen rannen. Und endlich fiel auch bei Reel der Groschen und er ohrfeigte sich innerlich für jedes einzelne gesagte Wort.

„Sunshine. Verdammt, tut mir leid. Ich hab nicht... Ich... Verflucht!“ Besorgt kam er zu Aiden zurück und wischte ihm entschuldigend eine Träne von der Wange.

„Stimmt das? Ist Mara wirklich tot?“ Reel seufzte geschlagen. Der Anblick seines weinenden Sunshines hatte ihn ruckartig in die Wirklichkeit zurückgeholt und ihm seine eigentliche Priorität ins Gedächtnis zurückgerufen. Wenn er sich jetzt und hier von seiner emotionalen Lage übermannen ließ, konnte er nicht für Aiden dasein, also konzentrierte er sich seinen Sunshine, brachte sich selbst wieder unter Kontrolle und erklärte mit sanfter Stimme und so schonend wie möglich: „Ja, ich fürchte schon.

Ich kann es natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber es würde mich doch stark wundern, wenn sie unter Griefs unkontrollierter Macht noch Raum zum Existieren hätte. Er hat sie vermutlich schon während des Rituals erdrückt. Ihre Glaskugel ist zerbrochen und im Gegensatz zu dir, hat sie keinen Dämon, der sie notdürftig zusammenhalten kann.“
 

Aidens Tränen flossen weiter und er ließ sich widerstandslos von Reel in den Arm nehmen und den Rücken streicheln.

Sophie weinte an Lukas' Schulter und Sierra hockte wie versteinert am Boden. Darum hatte ihre Mutter sofort aufgegeben und Sierra keine Hoffnung gemacht. Sie hatte es längst gewusst. Ihr war klar gewesen, dass Mara verloren war und sie sie nicht mehr retten konnte. Sie hatte gewusst, dass der Großmeister, dem sie folgte, ihre jüngste Tochter getötet hatte, und trotzdem blieb sie so verdammt professionell ruhig.

In dem Moment brannte Sierras letzte Sicherung durch. Sie stand so schnell vom Boden auf, dass ihr Kreislauf nicht hinterherkam und ihr schwindlig wurde. Nichts desto trotz verkündete sie mit fester Stimme und voller Überzeugung: „Ich werde ihn umbringen!“

Erschrocken sahen die drei Menschen zu ihr, nur Reel hatte wieder dieses ärgerverheißende Schmunzeln im Gesicht.

„Jetzt sprichst du meine Sprach, kleine Mörderin.“ Er würde es genießen ihr beim Untergehen zuzusehen. Sollten sich doch die zwei Menschen, die er momentan am meisten auf dieser Welt hasste, gegenseitig die Köpfe einschlagen. Wenn Griefs die dumme, kleine Hexe tötete, war Aiden endlich vor ihr sicher. Also sollte es ihm recht sein.
 

„Und ihr werdet mir dabei helfen!“, ergänzte Sierra und wischte Reels finstere Vorfreude von dessen Gesicht. Die Mitleidstour hatte sie nur bedingt weitergebracht, also wechselte sie jetzt Strategie. Sie würde sich ihren widerwilligen Dämon schon noch gefügig machen – wenn auch nur über Umwege – und sie würde ihn spüren lassen, dass er sie am längeren Hebel saß, vor allem jetzt, wo diese Bestie ihr so unter die Haut gegangen war.

Sie hatte sich von ihrer Trauer übermannen lassen und sich dadurch angreifbar gemacht. Diesen Fehler würde sie nicht wiederholen. Von jetzt an gab es nur noch kalte Berechnung und heiße Rachsucht für Sierra.

„Bist du eigentlich völlig lernresistent?“, schaltete sich Sophie nun wieder ein. „Dein letzter Versuch, jemanden umzubringen, hat uns genau hierher geführt. Rache ist keine Lösung, verdammt!“

„Das ist mir egal. Ich hab nichts mehr zu verlieren.“

„Ich schon! Und die Jungs auch – einschließlich Reel.“ Sophie sah den besagten Dämon streng an. Seine rachsüchtige Aura hatte stechende Kopfschmerzen und Übelkeit bei ihr verursacht und er hatte nicht aufgehört, als sie ihn darum gebeten hatte. Und besonders Letzteres nahm sie ihm übel.

Reel drückte indes Aiden ganz instinktiv an sich und sein Schatten wickelte sich um dessen Gliedmaßen, wie um ihn festzuhalten. Bis jetzt hatte Griefs ihn und Aiden vermutlich nicht auf dem Radar, also war sein Sunshine wohl sicher, solange sie sich nicht einmischten.

„Das ist keine Bitte, sondern eine Feststellung.“ Der Ton, der in Sierras Stimme mitschwang, machte ihre Worte noch abstoßender für Reel. Diese hexentypische Arroganz und das berechnende Lächeln verrieten Reel, dass die junge Hexe nicht ohne Plan hierher gekommen war. Er kaufte ihr die Trauer um ihre kleine Schwester ab, aber er inzwischen erfahren genug im Umgang mit Magie-Nutzern um zu wissen, dass sie immer ein Ass im Ärmel hatten und sich nicht auf das Mitleid oder die Almosen Anderer verließen.

Und auch Sierra untermauerte diese Einschätzung als sie weitersprach: „Du weißt ganz genau, dass es nichts gibt, was du tun könntest, um mich aufzuhalten, wenn ich Aiden hier und jetzt töten wollte.“ Im Bruchteil eines Wimpernschlags stand Reel vor Sierra und knurrte sie mit entblößten Reißzähnen drohend an, während sein Schatten Aidens Körper hinter ihm schützend umschlang.

Sierra sah ihm unverwandt in die lodernden Augen. Ihr war klar gewesen, dass sie ihren widerspenstigen Beschworenen nicht ohne Weiteres für ihre Zwecke würde gebrauchen können, also musste sie ihn eben zwingen. „Ich kann dich genauso wenig leiden, wie du mich.“

„Darauf würde ich nicht wetten. Wir Dämonen sind schließlich für unseren unmenschlichen Hass bekannt.“

„Dass du auch wirklich immer Wiederworte geben musst. Hör zu, es ist ganz einfach.

Wenn ihr mir nicht helft, dann töte ich Aiden.

Es gibt für mich jetzt keinen Grund mehr, mich an irgendwelche Regeln zu halten, und du kannst mich nicht mal berühren. Also werdet ihr tun, was ich von euch will, und mir helfen, Mara zu retten!

Danach seid ihr mich los. Versprochen.“ Reel wollte am liebsten explodieren, ihr an die Kehle springen und sie ihr mit bloßen Händen herausreißen. Doch leider hatte sie Recht. Gegen seine Beschwörerin konnte er beim besten Willen nichts ausrichten.

„Das Wort einer Hexe ist nichts wert!“

„Das muss ich mir nicht von einem Dämon sagen lassen.“

„Immerhin hab ich noch keinen meiner Geschwister umgebracht.“ Sierra sog scharf die Luft ein und kämpfte um ihre Fassung. Reel wollte bereits verbal nachsetzen, da ließ ihn eine sanfte Hand auf seinem Rücken verstummen.

„Schon gut, Reel. Ich befürchte, wir sind hier nicht in der Position, Streit zu verursachen.“ Aiden hatte erneut eine Hand an seiner Kehle und Reel wusste ganz genau, was es mit dieser Geste auf sich hatte. Sein Blut kochte, und wenn Aiden ihn nicht bei Sinne halten würde, wäre es inzwischen längst übergekocht.

Doch wenn er zu weit ging, würde erneut sein Liebster den Preis dafür zahlen müssen, also zog er sich sofort von Sierra zurück und schlang die Arme schützend um Aiden. Seine Augen lagen jedoch weiterhin wachsam auf der jungen Hexe, die nun überrascht das ungleiche Paar musterte.

Aidens Art, den Dämon zu bändigen, mochte für sie zwar völlig unverständlich und ekelerregend sein, aber ganz offensichtlich funktionierte sie ausgesprochen effektiv – fast schon ZU effektiv.
 

„Selbst wenn Aidens Leben nicht auf dem Spiel stünde“, fing Sophie mit einem enttäuschten Blick auf ihre ehemalige Freundin Sierra an, „Wir wissen ja durch Reels Geschichte, was für eine Art Mensch Griefs ist, und wenn ich ehrlich bin, macht es mir Angst zu wissen, dass er hier frei herumläuft.

Und dann auch noch im Körper meiner besten Freundin.“ Lukas nickte zustimmend, schien aber noch halb in seinen eigenen Gedanken versunken zu sein. Dieser ganze Magie-Kram überforderte ihn noch immer.

Reel hatte absolut kein Interesse daran, Sierra zu helfen, doch auch ihm missfiel der Gedanken, dass Greifs wieder auf Erden wandelte. Allerdings ging es hier vornehmlich um Aidens Leben und ohne dessen Zustimmung konnte und würde Reel nichts tun, also sah er nun auf den betreffenden braunen Haarschopf herunter, der sich noch immer an seine Brust presste.

„Sunshine?“

„Ich fürchte wir haben keine Wahl.“ Reel nickte knapp und sah erneut zu Sierra, die offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, dass der Dämon sich so leichtfertig Aidens Willen beugen würde. Dass er innerlich am Rand eines Vulkans stand und jeden Moment erneut von Vernunft zu Rachsucht kippen konnte, schien ihr trotz ihres wachsamen Blicks und ihrem Wissen über Seinesgleichen allerdings zu entgehen.
 

„Hast du ihm eigentlich erzählt, wo du den Schlüssel herhast?“, erkundigte sich Reel bemüht beiläufig. Immerhin war es wichtig zu wissen, ob Griefs ihn auf dem Radar hatte.

Der Magier wusste schließlich nur, dass Reel und die Zwillinge ihm den Schlüssel damals gestohlen hatten, aber nicht dass Reel ihn im Moment seiner Verfluchung am Körper getragen und ihn auch als Dämon behalten hatte.

„Nein. Wieso? Er weiß ja wohl, dass sein Werkzeug ihn hatte.“ Tja, so viel zu Reels mühevoll bewahrter Selbstbeherrschung. Diese vermaledeite Hexe wagte es, hier einfach so hereinzuplatzen, Aiden zu bedrohen und sie zu erpressen, da ließ dieser Satz bei Reel den letzten Faden reißen.

Ähnlich wie in der Seitengasse der Innenstadt türmte sein Schatten sich nun bis zur Zimmerdecke auf und das Rot seiner Iris griff auf den Rest seiner Augen über.

Doch dieses mal war Aiden nicht bewegungsunfähig. Unnachgiebig klammerte er sich an Reels Taille fest und redete so lange bestimmend auf ihn ein, bis sein Dämon wieder halbwegs Herr seiner Sinne wurde.

„Ich bin nicht sein Werkzeug!“ Reel spuckte die Worte nahezu aus, während seine Augen vor unbändigem Hass brannten. Er war weder ein Werkzeug, noch gehörte er Griefs.

Wenn überhaupt dann war Aiden der Einzige, der von sich behaupten durfte, dass Reel ihm gehöre.

„Hast du eigentlich immer noch nicht gemerkt, dass es eine beschissene Idee ist, Reel zu provozieren?“ Aiden hielt seinen geliebten Dämon noch immer eng mit den Armen umschlungen und fuhr ihm mit den Fingern beruhigend über die Wirbelsäule. Griefs war ein emotionales Thema für ihn, also wollte Aiden sicherstellen, dass Reel sich nicht allein damit fühlte. Zumindest vor Sierras beleidigender Wortwahl wollte er seinen Dämon beschützen, immerhin war Aiden der Einzige hier, der ganz genau wusste, wie sehr Reel unter dieser ganzen Situation litt, auch wenn er es gegenüber Sierra, Sophie und Lukas nicht zeigte.

„Wieso hatte er den Schlüssel dann?“ Sierra ignorierte Aidens Einwurf, überspielte ihre Überraschung und ging im Kopf all ihre Theorien durch, die sie gehabt hatte, als ihr der Schlüssel um Reels Hals aufgefallen war. Doch all ihre Vermutungen hatten vorausgesetzt, dass dieser Umstand vom Großmeister so beabsichtigt gewesen war.

„Das geht dich gar nichts an. Sag mir lieber endlich, warum zur Hölle du mich so unbedingt umbringen willst“, schmetterte Aiden ihre Frage ab, noch bevor Reel den Mund öffnen konnte. Reels Vergangenheit ging Sierra absolut nichts an und würde ihn nur noch weiter emotional aufwühlen.

Außerdem wollte Aiden wirklich gern erfahren, was er denn in seinem Leben so schrecklich falsch gemacht hatte, dass er Sierras Hass und in ihren Augen sogar den Tod verdiente.

Während Reel unauffällig, kurz seinen Griff um Aiden verstärkte, um ihm für sein Einschreiten zu danken, schien Sierra erst mal ihren Geist neu ordnen zu müssen, um diese unerwartete Frage ordnungsgemäß beantworten zu können.

Sie rang eine kurze Weile mit sich, aber wenn sie ehrlich war, wollte sie, dass Aiden endlich erkannte, das er ein Mörder war und was er Sierra genommen hat.

Also seufzte sie einmal tief, ließ sich im Schneidersitz schwer zurück auf den Zimmerboden sinken und begann zu erzählen.

Verflucht sei Aiden Moore

„Huhu, Fibi? Hörst du mir zu?“ Erschrocken fuhr Fiona zusammen.

„Entschuldige Sierra. Was hast du gesagt?“

„Schmachtest du schon wieder diesen Jungen an? Mensch Fibi, der ist doch noch total jung.“

„Er ist nur eine Klasse unter uns“, rechtfertigte sie sich ertappt.

„Sag ich ja. Quasi noch ein Kind.“ Kichern steckten die beiden Mädchen die Köpfe zusammen und senkten die Stimmen, damit niemand anderes ihr Gespräch belauschen konnte. „Ich verstehe wirklich nicht, was du an dem Kerl findest.

Aber soll ich Mara mal fragen, wie er heißt und wie er so drauf ist? Sie geht in die gleiche Klasse wie er und hat fast alle Kurse mit ihm zusammen.“

„Bloß nicht, Sonst ahnt sie noch was. Du darfst das niemandem verraten.“

„Na gut. Aber ich hab´s dir angeboten.“ Sierra zwinkerte ihr vielsagend zu, während Fionas Blick wieder zu dem brünetten Jungen einige Tische weiter glitt. Seit die Schüler des neuen, untersten Jahrgangs im Internat waren, hatte Fiona sich zusehends in diesen einen Frischling verguckt und Sierra wurde es nie müde, ihre beste Freundin damit aufzuziehen.

„Verdammt Fibi, rede doch einfach mal mit ihm. Das geht jetzt schon seit Wochen so. Vom Anstarren wird er sich garantiert nicht in dich verlieben.“

„Ich trau mich nicht. Er kennt mich doch gar nicht. Was, wenn er mich total peinlich oder langweilig findet? Vielleicht mag er mich ja gar nicht. Kannst du mir nicht ein bisschen helfen?“ Vielsagend sah sie zu Sierra hinüber.

„Was soll ich denn tun? Ihn fragen, ob er dich mag?“

„Gott, nein! Auf keinen Fall. Ich dachte da mehr an etwas... Zauberhaftes. Kannst du nicht irgendwie auspendeln, ob er Gefühle für mich hat? Oder mir einen Stein geben, der mich mutiger oder interessanter macht? Oder gleich einen Liebestrank. Sowas geht doch bestimmt.“ Fiona lächelte sie derart unschuldig und flehend an, dass Sierra nur resigniert schmunzeln konnte.

„Na gut. Ich schau mal, was sich da machen lässt. Aber ich werde keinen starken Zauber auf dich oder ihn wirken. Das wäre viel zu gefährlich.“ Dankbar fiel Fiona ihrer besten Freundin um den Hals.

„Du bist die Beste.“

„Ich weiß. Es hat eben seine Vorteile, mit einer waschechten Hexe befreundet zu sein.“
 

Drei Tage später holte Sierra beim Frühstück endlich eine kleine Glasphiole aus ihrer Tasche, in der eine blassrote Flüssigkeit verlockend schimmerte, und reichte sie unauffällig Fiona.

„Das hier ist Iudicium Paridis – Das Urteil des Paris – eine einfache Tinktur zur emotionalen Manipulation.“ Fasziniert betrachtete Fiona das unscheinbare Fläschchen in Sierras Händen und wollte bereits danach greifen, doch die zog die Phiole schnell aus ihrer Reichweite. „Das ist keine Spielerei, verstanden?“

„Das weiß ich. Magie ist nie Spielerei.

Also was muss ich tun? Es trinken?“

„Bloß nicht. Iudicium Paridis ist extrem potent. Und außerdem ist da Mistel drin, also ist es giftig.

Es verstärkt vorhandene Liebesgefühle, kann aber keine Liebe erzeugen. Wenn er nichts für dich empfindet, dann hat der Zauber auch keine Wirkung.“

„Verstanden. Und wie funktioniert es, wenn man es nicht trinken darf?“

„Es wird über die Haut aufgenommen. Aber wie gesagt: es ist extrem potent. Drei Tropfen – mehr solltest du auf gar keinen Fall verwenden.“ Fiona nickte schwach. Geistig überlegte sie bereits, wie sie es bitte bewerkstelligen sollte, ihm exakt drei Tropfen direkt auf die Haut zu geben, ohne dass sie sich blamierte oder ihm wie ein Freak vorkam. „Wir sollten langsam los“, riss Sierra sie aus ihren Überlegungen. „Sonst kommen wir zu spät zur ersten Stunde.“
 

Nervös drehte Fiona das Fläschchen mit dem magischen Inhalt zwischen ihren Fingern, während sie es hinter ihrem Physikbuch vor neugierigen Blicke schützte. Wie sollte sie das nur anstellen? Vielleicht könnte sie in einem unbeobachteten Moment drei Tropfen auf seinen Jackenärmel geben? Oder 'Das Urteil des Paris' im Speisesaal auf den Griff seiner Gabel träufeln, während er nicht hinsah? Aber wie sollte sie das erklären, ohne wie eine Verrückte zu wirken, falls er sie dabei erwischte? Gedankenversunken schritt sie durch die Gänge, bog um eine Ecke und prallte prompt gegen einen Mitschüler.
 

„Ey! Pass doch auf“, beschwerte sich Aiden ruppig, als das bebrillte Mädchen ihn völlig unvermittelt über den Haufen rannte und er dabei den Stapel Papier verlor, den er für seine Klassenlehrerin zum Rektor bringen musste. Er war auch so schon zu spät dran, und jetzt lagen die Dokumente allesamt wild durcheinander im Schulflur auf dem Boden verstreut.

Hastig versuchte er die Blätter wieder aufzusammeln, bevor jemand auf sie treten oder das Öffnen einer Tür sie verwirbeln konnte.

„Ich helf´dir“, stammelte das Mädchen unbeholfen, bückte sich nach den Papieren und stieß dabei schwungvoll mit Aiden die Köpfe zusammen.

„Aua. Geht´s noch?“ Genervt hielt er sich den Schädel und rieb über die pochende Stelle. „Jetzt tritt doch nicht auf noch drauf. Die sind wichtig, verdammt nochmal.“ Energisch schob er das fremde Mädchen von sich und den Papieren weg, und sammelte die Formulare eilig vom Boden auf.
 

Der Junge, den sie doch so unbedingt beeindrucken wollte, schubste sie verärgert beiseite und presste dabei Fionas Physikbuch gegen ihren Oberkörper. Sie hörte ein knirschendes Knacken und ihr Körper erstarrte vor Entsetzen. Panisch winkelte sie das Lehrbuch ein Wenig an, um darunter lugen zu können, doch leider bestätigte dieser Blick ihre Befürchtung.

Aiden hatte mit seiner unbedachten Reaktion die gläserne Phiole zerbrochen, die sie reflexartig in der Mufftasche ihres Kapuzenpullis versteckt hatte und deren Inhalt nun die Baumwolle ihres Hoodies durchnässte und bis auf ihre Haut durchdrang.

Die Panik machte Fiona bewegungsunfähig und lähmte ihren Geist, also starrte sie nur weiter unter ihr angewinkeltes Lehrbuch, während Aiden inzwischen die Kurslisten seiner Klasse vom Boden aufgelesen hatte. Verwirrt warf er Fiona einen abschätzigen Blick zu, murmelte irgendetwas verärgert vor sich hin und eilte dann den Flur hinunter.

Jetzt würde er definitiv zu spät kommen und auch noch erklären müssen, warum die Listen nicht nach Klassenbuch sortiert waren und teilweise Schuhabdrücke aufwiesen. Super.

Das Geräusch von Aidens davoneilenden Schritten, die durch den fast leeren Schulflur hallten, rissen Fiona endlich aus ihrer mentalen Starre. Panisch rannte sie auf ihr Zimmer, um sich einen anderen Pullover anzuziehen, und überlegte dabei, ob sie Sierra von ihrem Missgeschick erzählen sollte. 'Sie wird nie wieder einen Zauber für mich wirken', schoss es ihr durch den Kopf. 'Aber was ist, wenn es Nebenwirkungen gibt? Sierra meinte, ich darf es nicht überdosieren.'

Kurz horchte Fiona in sich hinein, doch sie spürte noch keine Veränderung. Vielleicht hatte Sierra ja einen Fehler gemacht, oder 'Das Urteil des Paris' wirkte gar nicht bei ihr, weil sie ja bereits starke Gefühle für Aiden hatte.

Das Schellen der Unterrichtsklingel unterbrach ihre Gedankengänge. Hastig schlüpfte sie in einen trocken Pullover, schnappte sich ihr Physikbuch und rannte zu ihrer nächsten Stunde.
 

„Meine Güte, mach den Mund zu, sonst fängst du noch an zu sabbern“, witzelte Sierra, doch Fiona reagierte überhaupt nicht, sondern starrte nur weiterhin den brünetten Jungen am anderen Tisch an. „Huhu, Erde an Fibi.“ In einem Versuch ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wedelte sie mit der flachen Hand vor ihrem Gesicht und endlich entlockte Sierra ihr eine Regung.

„Meinst du, er würde auf unserem ersten Date eher mit mir spazieren oder ins Kino gehen? Im Kino kann man sich unauffällig berühren, aber beim Spazieren kann man sich besser unterhalten.“ Völlig perplex sah Sierra Fiona an. Sie war abwesend und wirkte fast, als hätte sie Drogen genommen oder Kopfschmerztabletten überdosiert. Überdosiert – das Wort hallte in Sierras Kopf wieder und eine ungute Vorahnung manifestierte sich in der jungen Hexe.

„Sag mal, Fibi, was hast du eigentlich mit dem restlichen Iudicium Paridis gemacht?“

„Hm?“ Abwesend sah sie an Sierra vorbei, sodass die wieder mit der Hand vor ihrem Gesicht wedeln musste.

„Das Urteil des Paris, was hast du damit gemacht?“

„Die Phiole ist kaputt gegangen“, antwortete Fiona ganz beiläufig und sah Sierra immer noch nicht an.

„Oh nein. Bitte sag mir nicht, dass du es abbekommen hast.“

„Hm?“

„Verflucht, Fibi! Das Zeug ist echt potent und du hattest ohnehin schon starke Gefühle für ihn. Hast du eine Ahnung, was das für eine Wirkung auf dich hat? Wie ist das überhaupt passiert?“ Doch Fiona war mit ihren Gedanken nur bei Aiden und hörte Sierra überhaupt nicht zu. Resigniert seufzte sie und zog ihre Freundin kurzerhand mit sich. Mit Aiden in Sichtweite war einfach kein vernünftiges Gespräch mit ihr zu führen.
 

In ihrem Zimmer ließ Sierra sich endlich in allen Einzelheiten erzählen, wie genau es zu dem Zwischenfall gekommen war, und raufte sich schon während Fionas Ausführungen die Haare.

Das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut. Aber in weiser Voraussicht hatte Sierra ihr kein Sagitta Aurea sondern nur Iudicium Paridis gegeben, das über eine Hintertür verfügte.

Die Wirkung hob sich auf, sobald die verzauberte Person das Objekt ihrer Begierde küsste. Sie musste also nur dafür sorgen, dass Aiden und Fiona einen Kuss austauschten. Das sollte doch irgendwie möglich sein.

Doch leider war Aiden nicht nur in keinster Weise an Fiona interessiert, sondern auch noch prüde und unsicher wie ein Grundschulkind. Beim Flaschendrehen in den Gemeinschaftsräumen wählte er immer die Strafe und nicht den Kuss. In Wetten ließ er sich entweder nicht verwickeln oder ertrug lieber die Schmach des Feiglings oder Wortbrechers, als sich zu einem Kuss bringen zu lassen. Das schränkte ihre Möglichkeiten massiv ein.

Fionas Zustand wurde indes immer besorgniserregender. Sie vernachlässigte die Schule, ihre AGs und Freundinnen, um Aiden nachzuspionieren, und Sierra musste sich allerhand Ausreden für ihre Abwesenheit und seltsames Verhalten einfallen lassen. Niemand durfte mitbekommen, dass ein missglückter Zauber für Fionas Zustand verantwortlich war. Das würde Sierras Image ruinieren, ihre einen Haufen Ärger wegen unerlaubter Anwendung eines Stufe 3 Zaubers an einem Außenstehenden einbringen und in einem Ausschluss aus dem Zirkel resultieren, da Sierra die Existenz von Magie freiwillig und unautorisiert einem Menschen preisgegeben hatte. Egal was passierte, sie musste diese Sache unter allen Umständen geheim halten und vertuschen.
 

Heimlich schlich Fiona den beiden Jungs hinterher. Wann immer sie Aiden nicht sehen konnte, stach es in ihrem Herzen und sie musste einfach zu ihm, also nutzte sie jede sich bietende Gelegenheit, um ihn zu beobachten und seine Stimme zu hören, auch wenn sie dabei vertrauliche Gespräche mit dessen bestem Freund Lukas belauschte.

„Du stehst echt auf sie, was?“, fing Lukas an und Fionas Herz klopfte wie wild. Die beiden redeten über sie.

„Sag das doch nicht so laut. Ich find´ sie halt total hübsch.“ Verlegen drehte sie eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. 'Er findet mich hübsch.'

„Hässlich ist sich nicht, das stimmt schon“, bestätigte Lukas und grinste wissend.

„Ganz und gar nicht hässlich. Und clever ist sie auch noch. In Bio ist sie mega gut und nett ist sie auch. Und sie beißt sich immer auf die Unterlippe, wenn sie angestrengt überlegt. Das ist total niedlich.“ Sofort biss Fiona sich auf die Unterlippe. Hatte sie diese Angewohnheit? Das war ihr nie aufgefallen, aber wenn Aiden es sagte, musste es stimmen.

„Igitt, hör bloß auf“, witzelte Lukas und boxte Aiden spielerisch in die Schulter. „Du stehst echt auf sie. Du solltest sie unbedingt ansprechen.“

„Und was soll ich bitte sagen?“

„Frag sie, ob sie dir bei Bio irgendwas erklärt oder dir bei den Hausaufgaben hilft.“

„Aber ich hab gar keine Probleme in Bio.“ Hörbar schlug sich Lukas mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Das ist ja auch gar nicht der Punkt. Das muss sie doch nicht wissen, du Trottel.

Das war doch nur eine Idee für einen Vorwand. Um sie direkt nach einem Date zu fragen, bist doch garantiert zu feige, oder?“ Ertappt wich Aiden seinem Blick aus. „Ich kenn dich doch.“

„Ist aber ne gute Idee. Ich werd sie um Hilfe bei den Hausaufgaben bitten.“ Fionas Herz wollte platzen vor Freude. Es schlug so heftig, dass sie sich sicher war, Aiden müsse es hören können, und in ihrer Euphorie verließ sie prompt ihr Versteck und stand nun für beide Jungs sichtbar an der Ecke des Gangs.

„So ist das richtig“, lobte Lukas und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. „Und guck mal, wie auf Stichwort. Da hinten ist sie.“ Lukas deutete in die Richtung, in der auch Fiona stand, und schob Aiden energisch dorthin.

Voller Vorfreude stellte Fiona sich Aiden in Erwartung eines Gesprächs in den Weg, doch der würdigte sie keines Blickes, ließ sie einfach links liegen und lief an ihr vorbei zu Sierras jüngerer Schwester Mara, die er mit geröteten Wangen um Hilfe bei den Biologie-Hausaufgaben bat.

Fiona beobachtete die beiden, sah wie Aiden verlegen mit seinen Fingern spielte und immer wieder nervös lachte. Er hatte nur Augen für sie und Fiona hatte er überhaupt nicht bemerkt.

Stumm floss eine Träne ihre Wange hinunter und ihr Herz zersprang in tausend kleine Scherben.
 

Von diesem Tag an änderte sich Fionas Verhalten drastisch. Sie wurde immer schweigsamer, vermied jeden Blickkontakt mit Aiden und bat Sierra bei jeder Gelegenheit darum, ihr doch einen weiteren Zauber zu geben.

Anfangs wollte sie nur etwas, dass ihre Haare glänzender oder ihre Haut reiner machen würde, doch schnell verlangte sie von Sierra Zauber oder Tränke, die ihren Körper schneller reifen lassen würden, ihre eine schönere Stimme oder neue Talente geben sollte, damit sie Aiden damit beeindrucken konnte. Und als Sierra ihr jede einzelne dieser Bitten abschlug und sich weigerte sie in ihrem Wahnsinn zu unterstützen, verfiel sie in völligen Selbsthass.

Sie verpasste Schulstunden, weil sie sich nicht motivieren konnte, das Bett zu verlassen, sie nahm rapide ab, weil sie sich davor fürchtete, Aiden im Speisesaal zu sehen, und schloss sich aus Angst, ihm im Internat zu begegnen, häufig in ihrem Zimmer ein.

Machtlos stand Sierra daneben und konnte ihrer besten Freundin nur beim Verfall zusehen. Sie hatte versagt. Sie hatte Aiden nicht dazu bringen können, Fiona zu küssen. Sie hatte ihre beste Freundin im Stich gelassen.
 

„Wollen wir in den Laden dahinten? Da gibt es total schöne Kleider“, versucht Sierra sie irgendwie abzulenken und aufzuheitern. Iudicium Paridis war zwar eine potente Substanz, aber auch nicht übermächtig. Sie musste die Gefühle, die Fiona für Aiden hegte, nur übertönen, dann würde die Wirkung von allein abklingen, denn wie die meisten Tränke und Tinkturen, hatte auch Iudicium Paridis eine Halbwertszeit. Wie lange diese allerdings bei der Menge sein würde, die Fiona abbekommen hatte, konnte sie nur schwer abschätzen.

Lustlos ließ die sich von Sierra mitziehen sah, als ihr Blick plötzlich an einem Jungen mit braunem Haarschopf hängenblieb. Da war er. Aiden. Und er kam direkt auf sie zu. Panik ergriff ihren Körper und Flucht war der einzige Gedanke, den ihr Geist noch zuließ.

Sierra realisierte zu spät was geschah und konnte nur noch tatenlos dabei zusehen, wie das Grauen sich vor ihren Augen entfaltete.

Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, drehte Fiona sich auf dem Absatz um und rannte so schnell ihre Beine sie trugen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Doch die Fußgängerampel, die sie dabei überquert hatten, war bereits von Grün auf Rot gewechselt.

Reifen quietschten, einige Passanten schrien erschrocken auf und ein durch Mark und Bein gehendes Scheppern kündete von dem verhängnisvollen Aufprall.

Fionas abgemagerter Körper bot kaum einen Widerstand, verdrehte sich unnatürlich im Flug und schlug mit einem dumpfen Laut auf dem unnachgiebigen Asphalt auf.

Vor Sierras Augen spielte die Szene sich wie in Zeitlupe ab. Sie konnte den erschrockenen Ausdruck auf Fibis Gesicht sehen, den stummen Schmerzensschrei von ihren Lippen ablesen und das Brechen ihres Genicks brannte sich in seiner vollen Grausamkeit und Endgültigkeit für immer auf ihrer Netzhaut und in ihren Geist ein.

Sie war tot. Fiona Bellis – ihre Fibi – war soeben gestorben. Getötet von unerwiderter Liebe. Instinktiv glitt Sierras Blick zu der Stelle, an der sie Aiden gesehen hatte, doch der war bereits in der lauten Arcade-Halle verschwunden und hatte den Unfall allem Anschein nach überhaupt nicht mitbekommen. Fibi lag hier draußen blutend auf der Straße – wegen ihm – und er amüsierte sich mit irgendeinem dämlichen Videospiel.

Unbändiger Hass stieg in Sierra auf. Wie konnte er es wagen, ihr ihre Fibi zu nehmen? Es war seine Schuld, dass die Phiole zerbrochen war. Er hatte Fibi falsche Hoffnungen gemacht und ihr den rettenden Kuss verweigert. Er war Schuld an ihrem Verfall, ihrem Selbsthass, ihrer Depression und nun auch an ihrem Tod. Und Sierra würde ihn das Gleiche nicht auch noch bei ihrer kleinen Schwester wiederholen lassen.

Rachsucht und unterdrückter Selbsthass vernebelten ihren Geist und in ihrem blinden Zorn erkor sie Aiden Moore als ihre Aufnahmeprüfung aus. Sie würde ihn leiden lassen, so wie Fibi gelitten hatte. Sein Tod würde langsam und qualvoll sein, so wie Fibis Verfall.

Sierra würde jedes Fünkchen magischer Macht gebrauchen, das sie aufbringen konnte, um den mächtigsten Rachedämon, den sie hervorbringen konnte, mit seinem Tod zu beauftragen, und dann würde sie sich an seinem Leid laben.

Fibi würde gerächt werden und Mara wäre in Sicherheit.

Der Gedanke setzte sich genau so deutlich in ihrem Kopf fest, wie das Bild der sterbenden Fibi, die auf dem kalten Asphalt ausblutete – Aiden Moore würde sterben.

Verflucht sei er.

Bonus - Ein Funken Menschlichkeit

>>Kurzes Vorwort zu diesem Kapitel: Das ist ein spontan entstandenes Bonus-Kapitel zu einem von Reels früheren Opfern. Es hat keine Story-Relevanz und spielt irgendwann nach Kapitel 25. Im Grunde genommen kann man es da fast überall einfügen.

Thematisch ist es eher bei Trauer/Schmerz einzuordnen, aber nicht zu heftig, und ist eher ein Drabble.

Es ist eine kleine Gedankenspielerei, die sich über recht lange Zeit in meinem Kopf gehalten hatte und die ich während eines Heimatbesuchs spontan auf meinem Handy getippt habe. Ich hoffe, das kleine Kapitelchen findet trotzdem ein wenig Anklang (und verkürzt vielleicht auch ein wenig die Warterei darauf, dass ich endlich mal wieder ein richtiges Kapitel zustande bringe ^^“).

Viel Spaß und liebe Grüße

Lycc «
 


 

„Wer ist das?“ Aiden betrachtete interessiert die Zeichnung, an der Reel grade arbeitete. Sie zeigte keine der Figuren, die er bereits kannte, aber Reel legte ganz offensichtlich genauso viel Liebe in die Darstellung dieser Person, wie er es auch tat, wenn er Aiden, Nathaniël oder die Zwillinge aufs Papier bannte.

„Ich hab dir doch erzählt, dass du nicht das erste Opfer bist, dass für mich etwas besonderes ist. Du bist der erste, in den ich mich verliebt habe.“ Ein flüchtiger Kuss fand seinen Weg auf Aidens Lippen. „Aber sie war die erste, die mich aus meiner Verdammung geholt hat. Die erste, die etwas besonderes für mich war und die mir am Herzen lag.“

„Erzählst du mir, wer sie war? Ihre Geschichte?“ Reel atmete einmal tief durch. Über sie zu sprechen würde ihm tiefe Stiche versetzen und alte Wunden aufreißen, immerhin war sie auch die erste gewesen, um die er seit Nathaniël geweint hatte. Aber er würde sich besser fühlen, wenn er sich Aiden anvertraute, also rückte er dicht an seinen Liebsten, legte die Zeichnung auf seinen Schoß und begann zu erzählen.
 

Reel erwachte aus seinem erzwungenen Schlaf in schwebender Dunkelheit. Wie immer, wenn er an ein neues Opfer gebunden wurde, brauchte er eine Weile um sich zu orientieren und seine Macht vollständig verwenden zu können. Also nutzte er diese Zeit immer um sich einen ersten Eindruck von der erbärmlichen Gestalt zu verschaffen, der er als nächstes einen qualvollen Tod bescheren würde.

Zu seiner ehrlichen Überraschung war die Bezeichnung „erbärmlich“ dieses Mal ausgesprochen präzise.

Ein winziger Blick in den Geist seines Opfers genügte um Reel wissen zu lassen, dass er an ein Mädchen von grade einmal fünf oder sechs Jahren gebunden war.

Die Überraschung war groß genug, dass sie selbst dem unersättlichen Rachedurst eines Dämons einen Dämpfer verpassen konnte.

Was konnte ein dermaßen junges Mädchen denn getan haben, um den grausamen Tod durch einen Rachedämon zu verdienen?
 

„Es hat geklappt! Ich habe es wirklich geschafft. Eine perfekte Beschwörung. Makellos. Fehlerfrei. Einfach meisterhaft!“ Von seinem Erfolg berauscht betrachtete der Magier das Sklavenmädchen vor ihm. Endlich hatte er eine sinnvolle Verwendung für seinen schwächlichen Bastard gefunden. Eine seiner Sklavinnen hatte ihm diese wertlose Existenz geboren und er hatte lange nach einem Nutzen dafür gesucht.

Ihre Mutter hatte das Ding genauso wenig gewollt wie der Hausherr selbst, und es zu entsorgen wäre mühsamer gewesen, als es zu behalten und vielleicht doch noch als Arbeitskraft einsetzen zu können.

Doch das vermaledeite Balg entpuppte sich als kränklich, schwach und unfähig.

Sie konnte keinen Wassereimer tragen, keine Wäsche waschen und taugte mangels Ausdauer nicht mal als Bote, aber kürzlich hatte er eine sinnvolle Verwendung für den Bastard gefunden.

Er war zwar ein Magier, aber unerfahren in der praktischen Anwendung seiner Kunst. Zu viele Dinge hatte er nur in der Theorie studieren aber nie anwenden können, und das Mädchen gab eine hervorragende Laborratte ab. Sie jammerte nicht, beschwerte sich nie, gehorchte ihm aufs Wort und weinte nahezu lautlos.

Und heute war ihm endlich die Beschwörung eines höheren Dämons zweiter Ordnung gelungen.

Ein wahrhaftiger Fluch, wie ihn auch die Mächtigen des Zirkels verwenden würden.

Das hatte er schon immer ausprobieren wollen und es war ihm tatsächlich gelungen, und als Bonus würde der Dämon sich auch noch um das Problem mit seinem unehelichen Gör kümmern. Sieg auf ganzer Linie.

Jetzt musste er das Ergebnis seines Experimentes nur noch loswerden, bevor der Dämon vollständig erwachte und möglicherweise übergriffig wurde, denn er hatte die Bestie zwar gerufen, aber bannen oder kontrollieren würde er sie nicht können – da war er sich sicher – und einen randalierenden Dämon dieser Stufe wollte niemand in seinem Anwesen wissen.

Ohne lange zu fackeln, packte er das stumme Bündel am Boden seines Labors und schliff es grob zur Tür.
 

Sie blieb stumm. Ihre Beine knallten schmerzhaft gegen jede einzelne steinerne Treppenstufe und der grobe Griff in ihrem Leibchen schnürte ihr die Luft zum Atmen ab, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Es hätte ihr nur noch mehr Schmerzen eingebracht, wenn sie sich gewehrt hätte, und die Kraft dazu fehlte ihr auch.

Sie hatte schon lange aufgegeben und interessierte sich nicht mehr wirklich für das, was mit ihr oder um sie herum geschah. Sie war wertlos, nutzlos, überflüssig, ungewollt. Niemanden kümmerte es, was mit ihr passierte, also kümmerte es auch sie selbst nicht mehr.

Der Dienstboten-Eingang zum Anwesen ihres Herren wurde geöffnet und ihr kleiner Körper schwungvoll hinaus geworfen. Mit einem lauten Krachen fiel die Tür wieder ins Schloss und verbannte sie auf die kalte Straße.

Wortlos rappelte sie sich auf und lief los. Wohin, wusste sie nicht, aber zu bleiben würde ihr nur weitere Schmerzen bringen. Wenn die Stadtwache sie in der Nähe der Villen und Anwesen fand, würde sie das Mädchen nicht nur ins Armenviertel schicken, sondern zuvor mindestens halbtot prügeln, also ging sie lieber freiwillig.
 

Sie befand sich grade in einer Seitengasse nahe des Marktes, als ein seltsamer, schwarzer Nebel um sie herum aufzog. Verwundert betrachtete sie die fremdartigen Schwaden, die sich um ihren hageren Körper wanden und sich vor ihr zur Gestalt eines jungen Mannes ausbildeten.

Rücksichtslos wurde sie von seiner Hand gegen eine der Hauswände gedrückt und das unmenschliche Gesicht des Fremden war nun ganz nah vor ihrem eignen.

Reißzähne, wie bei einem Monster aus ihren Albträumen, ragten aus dem Mund vor ihr und die Augen der dämonischen Gestalt brannten sich mit dem Feuer der Verdammten in ihre Seele.

Sie verstand nicht, was vor sich ging, und Tränen rannen ihr übers Gesicht, doch sie konnte den Blick nicht abwenden und noch immer drang kein Laut aus ihrer Kehle.
 

Reel hielt inne. Er hatte schon einige Opfer auf diese Weise begrüßt und über ihren kommenden Tod in Kenntnis gesetzt, und er hatte vor, das Ganze auch bei diesem eher ungewöhnlichen Fall so zu handhaben. Doch der Blick dieses Mädchens drang durch den Mantel seiner Rachsucht, Trauer, Verzweiflung und dämonischer Instinkte hindurch und ließ ihn innehalten.

Sie hieß ihn als ihren Todesboten willkommen.

Etlichen Opfern – Magiern wie Menschen – hatte Reel schon in die Augen gesehen und jeder von ihnen hatte die gleichen paar Ausdrücke gezeigt.

Menschen waren verstört, verängstig, völlig hilflos.

Magier waren schlimmer – sie waren fassungslos. Fassungslos über ihre eigene Machtlosigkeit, über die Erkenntnis ihr Schicksal doch nicht selbst in Händen zu halten, und fassungslos darüber, dass sie eben doch sterblich waren. Reel hasste nichts mehr, als diese Überheblichkeit. Die Annahme der Magier, sie seien höhere Wesen und daher befähigt sich über Menschen und ihr eigenes Schicksal hinwegzusetzen, ließ bei ihm alle Sicherungen durchbrennen und ihn in die typische Raserei eines Rachedämons verfallen.

Doch die erbarmungswürdige Gestalt, der Reel grade die Luft zum Atmen nahm, hatte nichts davon. Keine Überheblichkeit und keine Panik, kein Betteln, kein Flehen – nur Erschöpfung und der Wunsch nach endgültiger Ruhe.

Er konnte es nicht. Zum ersten Mal in seiner Existenz als Werkzeug der Rache brachte er es nicht übers Herz seine Aufgabe sofort zu erfüllen. Er wollte ihr einen schnellen und schmerzlosen Tod schenken, doch nicht einmal das bekam er hin.

Die Leere in ihren Augen weckte Erinnerungen an Reels Tage als Mensch und entzündeten einen Funken Menschlichkeit, dessen Existenz ihm bisher verborgen geblieben war.

Damals in der Diebesgilde hatte er diesen Blick voll Hoffnungslosigkeit häufiger in Kinderaugen gesehen als ihm lieb war, und auch ihn selbst hätte ohne die Zwillinge wohl ein ähnliches Schicksal ereilt.

Die Zwillinge – der Funken glühte heller – wie sehr er sie vermisste. Corvos Schutz und Ravens Fürsorge waren es gewesen, die ihn durch jeden Sturm in seinem Leben gebracht hatten.

Ehe Reel es sich versah, ließ er von dem Mädchen ab und ging vor ihr auf die Knie.

Er konnte es nicht. Bisher hatte er jedes seine Opfer ohne zu zögern so zeitnah und quälend wie möglich ermordet, doch dieses Kind konnte er nicht töten. Nicht weil sie ein Kind war, sondern weil sie symbolisch für einen großen Teil seines alten, menschlichen Lebens stand und diesen Teil von sich selbst konnte er einfach nicht umbringen.
 

Geschlagen besah er sich sein neues Opfer einmal genauer.

Das kleine Mädchen stand etwas ratlos vor ihm, nestelte an ihrem Leibchen und sah ihn unverwandt mit einem gewissen Ausdruck von Erwartung an. Ihre Haare waren augenscheinlich gewaltsam kurz geschnitten worden, ihre Kleidung war einfach, etwas schmutzig und viel zu dünn für diese Jahreszeit, und ihr zerbrechlicher Körper war von Schrammen, Abschürfungen und Hämatomen gezeichnet.

Instinktiv streckte Reel eine Hand aus, um ihren Kopf leicht zu drehen und so ihr Gesicht besser betrachten zu können, doch kaum bewegte sich seine Hand auf sie zu, zuckte sie und kniff die Augen zusammen wie in Erwartung einer Ohrfeige.
 

Sie bereitete sich mental auf den altbekannten Schmerz in ihrer Wange vor, doch stattdessen spürte sie etwas ihr völlig Neues - eine sanfte Berührung. Die schmalen Finger waren warm und strichen behutsam über ihr malträtiertes Gesicht. Überrascht schlug sie die Augen wieder auf. Der Fremde mit dem monströsen Äußeren hatte einen weichen Gesichtsausdruck und schenkte ihr ein kaum merkliches Lächeln. Die allesverschlingenden, roten Augen waren so schwer von Kummer, dass sie selbst Mitleid mit ihrem Todesengel bekam.

„Ist dir kalt?“ Die Stimme, die aus dem reißzahnbesetzten Mund zu ihr sprach, klang viel menschlicher als sie es erwartet hatte. Sie verspürte eine starke, instinktive Angst vor dem Dämon, doch sie fror bitterlich und hatte nichts zu verlieren, also nickte sie zaghaft.

Vorsichtig kam die schwarze Gestalt näher, legte behutsam die Arme um ihren kleinen Körper und hob sie mühelos hoch.

Sofort spürte sie seine Wärme und presste sich instinktiv enger an die Brust ihres Todesengels, dessen beängstigende Schwärze sie sicher umfing.
 

Etwas ratlos stand Reel in der Gasse und hatte nun gleich zwei Probleme, mit denen er irgendwie fertig werden musste – seine neu entfachte Menschlichkeit und das verlorene Kind auf seinem Arm.

Eine Weile wartete er in der dunklen Gasse, bis die Sonne unterging und die Straßen immer leerer wurden. Reel kannte sich in dieser Stadt nicht aus, aber im Allgemeinen waren Städte immer gleich aufgebaut und dank seiner dämonischen Augen würde er auch in der Finsternis der Nacht finden, wonach er suchte.

Verborgen vor den Blicken der Stadtbevölkerung schlich der Dämon durch die Gassen und machte endlich eine halbzerfallene, kleine Hütte ausfindig, die ihren Zwecken dienlich sein würde. Sie bot Schutz vor dem Wetter und vor fremden Augen, also war sie ausreichend.

Als er die Hütte betrat wurden zwei Schreie laut. Natürlich war Reel nicht der einzige, der diese kleine Unterkunft nutzen wollte. Zwei Männer, ganz offensichtlich Tagelöhner, starrten den Dämon mit dem schlafenden Kind auf dem Arm voll Panik und Unglaube an.

Reel ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle erklingen und sein Schatten bäumte sich bedrohlich auf. Das genügte schon um die beiden aus ihrer Bleibe zu vertreiben und zu Reels Entzücken hatten sie bei der Flucht ihren spärlichen Besitz zurückgelassen. Viel gab es nicht zu holen, aber ein wenig Proviant war noch übrig. Etwas Brot, Käse und zwei Äpfel - für die Kleine würde es reichen.

Reel richtete sich in der Ecke der Hütte ein, die am geschütztesten war, und drückte das fragile Bündel in seinen Armen wärmend an sich. Sie war viel zu klein für ihr Alter, viel zu schmächtig und offensichtlich alles andere als gesund. Ihr Kopf wirkte zu groß für ihren Körper und sie war physisch unterentwickelt – ein klares Zeichen von Mangelernährungen seit frühester Kindheit.

Aber da war noch etwas anderes. Sie war völlig kraftlos, ihre Muskeln schienen nicht richtig zu arbeiten beziehungsweise sich gar nicht erst auszubilden und Reel konnte die Krankheit in ihr buchstäblich riechen. Das war einer der zweifelhaften Vorteile seiner geschärften Sinne in seiner Rolle als übernatürliches Wesen. Er wusste bereits was das Kind erwarten würde. Ihr Körpergeruch verriet es ihm.

Das kleine Leben in seinen Armen war von Anfang an verwirkt gewesen, ihre Existenz zum Scheitern verurteilt, ihre Geburt zwecklos.

Es wäre gnädig ihr mehr Leid und Kummer zu ersparen, sie nicht langsam und qualvoll von ihrer Krankheit dahinraffen zu lassen, sondern sie schnell und effektiv zu töten, während sie vertrauensvoll in seinen Armen schlief.

Ein Stich in ihre Lunge und alles wäre vorbei, doch Reel konnte es nicht. Was wenn er bei seinem nächsten Opfer erwachte und der Funken Menschlichkeit wieder erloschen war? Wenn er nach und nach die Erinnerung an sein wahres Selbst, an Corvo, Raven und Nathaniël verlor?

Er wollte nicht endgültig zu einer willen- und seelenlose Bestie werden, wie viele andere Rachedämonen es waren.

Das kleine Ding in seinem Schoß tat ihm leid, aber er würde ihr nicht den leichten Ausweg schenken können. Sie würde seinen Egoismus ertragen und noch eine Weile für ihn leiden müssen, bevor sich ihr Wunsch nach Ruhe und Frieden endlich erfüllen würde.
 

Gewissenhaft wachte Reel über den Schlaf seins kleinen Opfers, strich ihr sanft über den Rücken und rief sich selbst immer mehr Details seines alten Lebens wieder ins Gedächtnis. Es schockierte und beschämte ihn, wie viel er bereits zu vergessen begonnen hatte, aber er wollte nicht zu einer Marionette der Magier werden, die er doch eigentlich verachtete wie nichts anderes auf der Welt.

Eine kaum merkliche Bewegung auf seinem Schoß riss ihn aus seinen Gedanken. Das kleine Bündel räkelte sich verschlafen und kuschelte sich auf der Suche nach Wärme enger in Reels Oberteil.

Erst einige Minuten später würde ihr bewusst, in welcher Lage sie sich befand, und sie entfloh instinktiv Reels Schoß.

Jedes Lebewesen verspürte diese Furcht vor Dämonen, und bei Tieren und kleinen Kindern wurde sie nicht von Vernunft gedämpft, was bei dem jungen Mädchen zu einer derart heftigen Reaktion führte.

Ihre natürliche Angst schüttelte den schmächtigen Körper, doch Reel blieb ganz ruhig und wartete geduldig bis die Kleine endlich vollkommen wach und aufnahmefähig wurde.

„Schon gut. Ich weiß, du hast Angst vor mir, aber ich werd dir nicht wehtun.“ Vorsichtig bot er ihr seine Hand da und das kleine Mädchen ergriff sie zögerlich. Ihre winzigen Finger waren knöchern, schief und ein wenig kalt.

„Ich heiße Reel.“ Das Mädchen blickte ihm ausdruckslos entgegen. „Du kannst doch auch sprechen, oder?“ Sie nickte zaghaft. „Willst du mir nicht verraten, wie du heißt?“ Sie sah beschämt zur Seite, hielt aber weiterhin Reels Zeige- und Mittelfinger mit ihrer kleinen Hand umklammert. Eine Antwort bekam er trotzdem nicht. Etwas verwirrt sah Reel die unglückliche Gestalt vor sich an.

„Hast du keinen Namen?“ Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf und sah zu Boden.

„Na na. Kein Grund zu weinen.“ Behutsam strich er über ihre Wange und wischte eine Träne weg. „Das heißt, dass du dir einen aussuchen kannst, der dir gefällt.“ Reel bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, doch leider vergaß er seine Reißzähne, die dabei bedrohlich aufblitzten und die Kleine verschreckt vor ihm zurückweichen ließen. Ein tiefes Seufzen erklang aus Reels Kehle.

„Tut mir leid, Kleine. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Doch das Mädchen kam nicht mehr zu ihm zurück, sondern sah ihn nur aus sicherer Distanz mit großen Augen an, also wechselte Reel das Thema. „Hier. Du hast bestimmt Hunger.“ Beschwichtigend bot er ihr den gestern erbeuteten Proviant an und das Mädchen gab ihrem leeren Magen nach und machte sich hungrig darüber her.

Reel beobachtete sie dabei und als sie seinen Blick bemerkte, hielt sie ihm unsicher einen der beiden Äpfel hin. Reel musste unwillkürlich schmunzeln.

„Nein Danke, Kleine. Iss du ruhig. Ich brauche nichts.“ Schon wieder blitzten seine Reißzähne bei seinem Lächeln auf und ließen das Mädchen zusammenzucken. „Tut mir leid.“ Schnell schloss Reel wieder seine Lippen und verbarg sein gefährliches Raubtiergebiss. „Wie wär’s wenn wir bei dem Thema mit deinem Namen weiter machen? Gibt es einen, den du gerne hättest?“ Sie sah ihn ratlos an und zeigte dann zaghaft auf ihn.

„Ich? Soll ich einen aussuchen?“ Vorsichtiges Nicken. Sie hatte sich immer einen eigenen Namen gewünscht und zwar einen, den jemand anderes ihr gegeben hat. Denn nur dann, hatte er auch Gewicht und war von Bedeutung. Der Mann mit den roten Augen sah sie nachdenklich an. Er nahm die Aufgabe, sie zu benennen, nicht auf die leichte Schulter, sondern dachte gründlich über seine Entscheidung nach.

„Wie wäre es mit Enja? Das bedeutet ‚Feuer und Flamme‘ -“ Er besah sich das hagere, schwache, kleine Mädchen. „- wobei in deinem Fall wohl ‚Funke‘ zutreffender ist.“ Ihre Augen begannen regelrecht zu leuchten. Alle Müdigkeit und aller Kummer verschwand für einen winzigen Augenblick aus ihrem Gesicht.

Enja - ihr eigener Name und er hatte sogar eine Bedeutung.

Ihre kindliche Begeisterung überwog die instinktive Angst vor dem Dämon und ließ sie zu ihm rennen. Freudestrahlend fiel sie ihm um den Hals und Reel erstarrte für einen Moment vor Überraschung.

„Schon okay, kleine Enja.“ Sanft schloss er sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. „ Freut mich, dass er dir so gut gefällt.“

Es fühlte sich gut an, nach so langer Zeit einmal wieder Nähe zuzulassen, und das arme Mädchen schien ebenfalls etwas Fürsorge und Zuwendung nötig zu haben. Also tätschelte er ihr bereitwillig den Kopf und hielt sie im Arm, bis ein plötzlicher Hustenanfall den zierlichen Körper schüttelte.

Schnell setzte er sie auf seinem Knie ab, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Das Mädchen schnappte mit hochrotem Kopf nach Luft und atmete dann einige male tief durch, dann schien es ihr urplötzlich wieder besser zu gehen.

Sorgenvoll betrachtete Reel seinen Schützling.

„Hast du das öfter?“ Sie nickte und rieb sich leicht das Brustbein. „Lass mich mal sehen.“ Vorsichtig platzierte Reel seine Hand an genau der Stelle, an der Enja Schmerzen zu haben schien, und spürte einen schwachen Herzschlag und flachen Atem.

„Hm... tut es sehr weh?“ Sie schüttelte den Kopf und umfasste Reels Handgelenk mit beiden Händen.

„Keine Angst. Ich lass dich nicht alleine.“ Reel hielt seine Lippen dieses Mal geschlossen während er sie anlächelte. „Ich werde ab jetzt bis zu deinem Tod immer an deiner Seite sein. Das kann ich dir versprechen.“ Dass diese Zeitspanne nicht so lang sein würde, wie sie im ersten Moment klang, musste er ihr ja nicht gleich auf die Nase binden.

Tatsächlich schien sie seine Worte als tröstlich zu empfinden, ließ sein Handgelenk los und streckte ihre Arme zaghaft in seine Richtung. Bereitwillig hob er sie wieder von seinem Knie und schloss die kleine Enja in seine Arme.

Sie war so ein liebes Mädchen und war nur deshalb mit einem Rachedämon verflucht worden, weil der selbstgefällig Magier, der sie gezeugt und die Gewalt über sie hatte, ausprobieren wollte, ob er dazu in der Lage war. Enja hatte nie etwas verbrochen und sich nichts zu Schulden kommen lassen, und dennoch litt sie ähnlich wie Reel unter den Allmachtsfantasien und der Arroganz der Magier. Reel würde nicht auch noch tun, was Enjas Peiniger von ihm wollte und sie töten. Er würde sie am Leben lassen und über die wachen so gut es ging - aus Protest. Zumindest redete er sich das ein. Protest. Es war nur sein Protest. Es hatte nichts damit zu tun, dass Enja ihn an sich selbst und an sein verlorenes Leben erinnerte. Es war kein Mitleid, dass er für sie empfand, nein es war purer Egoismus. Er wollte nur seine Erinnerungen behalten und dem Beschwörer eins auswischen. Mehr war da nicht. Ganz sicher. Und auch sein Wunsch nach Nähe und Zuneigung hatte hiermit überhaupt nichts zu tun.

Wenn er sich das Ganze nur überzeugend genug einredete, glaube er es sich vielleicht irgendwann selbst.
 

Haltsuchend klammerte sich das kleine Mädchen an ihrem Todesengel fest. Er war der erste, der ihr jemals Zuneigung gezeigt hatte, und er hatte ihr einen Namen gegeben, also würde sie ihm vertrauen, auch wenn alles in ihr danach schrie, sich von dem beängstigenden Mann mit den berennend roten Augen und den raubtierhaften Zähnen fernzuhalten. Sie überwand diese Angst und hielt sich entschlossen in ihm fest. Er war gut zu ihr, also wollte sie sich nicht vor ihm fürchten.

Reel hatte ein gewisses Maß an Erfahrung im Umgang mit Kindern wie Enja. In ihrer Gilde hatte er einige von ihrem Schlag erlebt, und nur die wenigstens hatten sich lange halten können. Kinder wie sie waren zu schwach um in einer Gruppe aus Dieben, Kleinkriminellen und Mördern allein zu bestehen, aber Enja war nicht allein. Reel hatte jetzt keine andere Aufgabe mehr, als über sie zu wachen. Er musste sich nicht um sein eigenes Überleben oder das Bestehen einer Gilde kümmern, sondern nur um dieses eine kleine Mädchen auf seinem Arm. Er musste sie nicht zur Selbstständigkeit erziehen oder sie irgendetwas lehren, er würde nur ihr Beschützer sein. Das sollte er als übernatürliches und fast unsterbliches Wesen ja wohl hinbekommen.

„Hör mal, Enja. Die Sonne geht bald auf und dann kann ich nicht mehr draußen rumlaufen. Mich darf niemand sehen, verstehst du?“ Sie löste ihre Arme von Reel und lehnte sich leicht zurück um ihn ansehen zu können. „Aber ich lass dich nicht alleine, keine Angst. Ich zeig dir mal, wie es aussieht und wie es sich anfühlt, wenn ich mich verberge. Dank immer dran, ich bin da. Auch wenn du mich nicht siehst, okay?“ Sie nickte etwas verständnislos und Reel stellte sie vorsichtig neben sich auf dem Boden ab. „Gerate jetzt nicht in Panik.“ Seine Hand legte sich sanft an ihre Wange und er begann sich aufzulösen. Enjas Augen weiteten sich. Ihr Engel verschwand vor ihren Augen, der schwarze Rauch umschwebte sie erneut und löste unbändige Angst in ihr aus. Sie war plötzlich mutterseelenallein in der Dunkelheit der windschiefen Hütte und Panik übermannte sich. Das kleine Mädchen brach in Tränen aus und weinte so bitterlich, dass Reel sich sofort wieder von ihrem zierlichen Körper löste und vor ihr erschien. „Ist ja gut. Ich bin doch da.“ Beschwichtigend nahm er sie wieder auf den Arm und drückte sie an sich. Der kleine Körper zitterte und ihr unregelmäßiges Schluchzen löste einen weiteren kurzen Hustenanfall aus.

Als sie diesen überwunden hatte, setzte Reel sie wieder auf seinem Schoß ab und sah sie sorgenvoll an. „Okay, das lassen wir in Zukunft wohl besser.“ Die kleinen Finger krallten sich verbissen in den Stoff seines schwarzen Oberteils und ihre verweinten Augen blickten flehend zu ihm hoch. „Schon gut. Ich mach das nicht nochmal.“
 

„Also blieb ich immer in meiner physischen Gestalt und an ihrer Seite. So könnten wir uns zwar nur nachts durch die Stadt bewegen, aber ihr schien das relativ egal zu sein. Sie schlief eh die meiste Zeit oder ließ sich von mir tragen.

Ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend. Der Winter rückte näher und ihre Atmung wurde immer schwächer. Bald würde entweder ihr Herz einfach aufhören zu schlagen oder ihre Lunge keine Luft mehr einziehen. Ich wusste, dass ihre Zeit bald kommen würde und Ich glaube, Enja wusste das auch. Sie konnte es genauso deutlich spüren wie ich, vielleicht sogar noch deutlicher.“
 

„Reel?“

„Ja, Enja?“

„Danke.“ Das kränkelnde Mädchen vergrub ihr Gesicht an der Schulter ihres Todesengels. Zu viel mehr war ihr Körper inzwischen nicht mehr in der Lage. Allein laufen konnte sie schon seit Tagen nicht mehr und auch ihre Arme hatten seit gestern den Dienst fast vollkommen eingestellt. Selbst das Sprechen war zu einer Herausforderung für sie geworden, sodass sie nur unter Anstrengung ein vages Flüstern hervorbrachte. Und dabei hatte sie doch erst vor Kurzem ihre Stimme wiedergefunden. Reel sprach so viel mit ihr, dass sie sich irgendwann endlich traute ihm zu antworten. Von ihrem Herren war sie für jeden Laut geschlagen worden, also hatte sie sich stets in Schweigen gehüllt, aber Reel freute sich über jedes Wort von ihr.

„Du solltest mir nicht danken.“

„Aber du bis immer lieb zu mir.“ Reel seufzte schwer und tätschelte seinem kleinen Schützling den Rücken.

„Nein. Nein, bin ich nicht. Ich bin egoistisch.“ Sie sah ihn fragend an. „Das bedeutet, dass ich immer nur das tue, was ich will und was für mich selbst am besten ist. Egal wie sehr ich anderen dabei wehtue.“

„Aber du tust mir doch nie weh.“ Wie auf Stichwort blieb ihr plötzlich die Luft weg und sie musste heftig husten um ihre Lungen wieder zur Arbeit anzuregen.

„Doch, tue ich“, beharrte Reel mit leiser Stimme und streichelte ihr beruhigend den Kopf.

„Dann ist es mir egal. Ich hab dich lieb, also ist es egal wenn du das machst.“ Geschlagen vergrub Reel sein Gesicht in ihrem wirren Haarschopf. Er spürte, wie die Tränen in ihm aufstiegen, doch er wollte auf keinen Fall, dass Enja ihn weinen sah. Er durfte sie seine Schwäche nicht sehen lassen.

Er verzichtete auch darauf ihr einen Vortrag darüber zu halten, dass auch jemand den man liebte einen nicht verletzen durfte. Für die Kleine würde diese Regel eh keine Anwendung mehr finden.

Stattdessen drückte er sie nur eng an sich und flüsterte ihr leise zu: „Ich hab dich auch lieb, mein kleiner Funke.“

Reel konnte Magier der obersten Ränge töten, er konnte Seelen verschlingen, den Geist seiner Opfer verzehren, sie in den Wahnsinn und den Selbstmord treiben, aber ein kleines, einsames Mädchen beschützen konnte er nicht. Er war eben doch nur ein Werkzeug der Rache und dieser Funken Menschlichkeit brachte ihm nichts als Kummer.

Er hatte sein menschliches Herz an dieses Kind gehängt – wohlwissend, dass sie den Frühling nicht mehr erleben würde. Er hätte das niemals zulassen dürfen. Sie war damals bereit gewesen zu sterben, doch jetzt klammerte sie sich an ihn und ihr erbarmungswürdiges Leben. Er hatte es für sie beide unnötig schwer gemacht mit seiner impulsiven Entscheidung und nun mussten sowohl das Kind als auch er selbst die Konsequenzen dafür tragen.

„Versuch ein bisschen zu schlafen. Ich pass´ auf dich auf, Enja.“ Sanft berührte er ihren Haaransatz mit den Lippen und streichelte ihren Rücken, während ihre Lider schwer wurden und sie an seiner Brust in einen ruhigen Schlaf sank.

Auch Reel spürte die Erschöpfung, die ihn schon seit Tagen plagte, deutlich in seinem Körper und seine Augen fielen gegen seinen Willen zu.
 

„Enja starb in dieser Nacht. Ich weiß nicht ob ihr Herz stoppte oder ihre Lunge versagte. Ich weiß nur, dass sie in meinen Armen starb, während ich schlief. Seitdem habe ich mein menschliches Herz und die Erinnerungen an mein altes Leben behalten.

Meistens hab ich es verflucht. Dämonen sind nicht dafür geschaffen Menschlichkeit zu besitzen. Die Gefühlswelten laufen konträr, manchmal triggert das Gewissen und oft genug wird man nahezu zerrissen zwischen menschlichen Gefühlen und dämonischen Gelüsten. Ich habe lange gebraucht um beides halbwegs in Einklang zu bringen und Kontrolle habe ich bis heute weder über das eine noch das andere.

Diese Zweischneidigkeit unterscheidet mich von vielen anderen Dämonen meiner Art und nur deshalb bin ich nach so langer Zeit immer noch ich – wenn auch verändert. Alles nur, wegen eines winzig kleinen, schwachen Funkens.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen des ersten Kapitels meines Erstlingswerks.
Neue Kapitel erscheinen immer Dienstag Nachmittag/Abend.
Da die Geschichte noch nicht zuende geschrieben ist, kann es unter Umständen vorkommen, dass ich Cursed zwischenzeitlich pausieren muss. Abbrechen werde ich die Geschichte aber nicht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute mal ein recht Mara-lastiges Kapitel. ^^"
Das nächste Kapitel erscheint vermutlich etwas verspätet, da ich in den Urlaub fahre und nicht weiß ob ich dann etwas hochladen kann. Ich entschuldige mich schonmal dafür und wünsche euch noch eine entspannte Woche. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute ist der Upload mal wieder pünklich. Das nächte Kapitel wird höchstwahrscheinlich entweder etwas verfrüht oder wenns ganz eng wird eine Woche später erscheinen, da ich ab Montag die ganze Woche auf der Gamescom sein werde.
Tut mir echt leid. Liebe Grüße Lycc Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, diese Woche ein wenig verfrüht. Nächste Woche dann wieder wie gewohnt am Dienstag.
Es ist dieses mal ein recht Dialog-lastiges Kapitel, aber sowas muss ja auch mal sein.
Liebe Grüße Lycc Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey, endlich wieder ein pünktlicher Upload. Und schon wieder ein Dialog-lastiges Kapitel, aber keine Sorge, das bleibt nicht so.
Liebe Grüße, Lycc Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heyho. Ja, jetzt (also eigentlich ja erst nächste Woche, wenn das nächste Kapitel kommt...) geht es endlich mit Reels Backstory los.
Die 5 Backstory-Kapitel (zu erkennen an dem Titelzusatz "Relakesch") haben ein wenig Überlänge (ca. 4000 Wörter). Die Backstory ist "ein bisschen" länger geraten als geplant. ^^"
Eigentlich hätte ich's auch in 6 reguläre Kapitel einteilen können, aber ich will nicht, dass ihr beim lesen vergesst, was zuvor eigentlich bei Aiden passiert ist. ^^"
Ich hoffe die Relakesch-Kapitel gefallen euch, auch wenn sie vom Stil ein wenig vom Rest der Story abweichen.
Gebt gerne eure Meinung ab und helft mir dadurch besser zu werden.
Liebe Grüße und bis nächsten Dienstag. ^~^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooooooo. Ich hoffe der kleine Stilbruch stört nicht zu sehr. Die Relakesch-Kapitel wirken beim Lesen vermutlich etwas "gerushed". Ich muste arg kürzen, damit die Backstory nicht absolute überlänge bekommt und das merkt man besonders im diesem Kapitel (finde ich persönlich).
Ich hoffe es gefällt euch trotzdem ein bisschen. Liebe Grüße
Lycc

FunFact: Der Name 'Nathaniel' bedeutet 'Geschenk Gottes'. Daher die Bezeichnung 'Engel'. ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, damit sind wir dann jetzt auch mit Reels Backstory durch. Nächste Woche kommen wir dann also wieder in der Gegenwart an. Ich hoffe ihr wisst noch, was vor 6 Wochen bei Aiden und Reel passiert ist. ^^" Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heyho. Kleine Info am Rande: Nächste Woche Dienstag (also an Weihnachten) erscheint kein Kapitel und die Woche drauf (da ist der Dienstag Silvester) auch nicht.
Ich versuche zwischen den Feiertagen eins hochzuladen, kann aber nichts versprechen.
Darum wünsche euch allen schonmal frohe und besinnliche Weihnachten (und ein geselliges und knalliges Silvester, falls wir uns vorher nicht nochmal lesen sollten).

Im neuen Jahr erscheinen die Kapitel dann (hoffentlich) wieder in gewohnter Regelmäßigkeit.
Bis dahin: Gehabt euch wohl. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heyho.
Die Verspätung tut mir leid. Ich versuche das in Zukunft zu vermeiden.
Ich hoffe ihr habt alle die Feiertage gut überstanden und seid erfolgreich in die neue Dekade gerutscht. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Verspätung tut mir leid. Bei mir geht es grade etwas drunter und drüber ^^"
Ich werde eventuell auch die Geschichte pausieren müssen. Aber ich breche sich auf keinen Fall ab. Keine Angst ;)
Eine Upload-Pause (in naher Zukunft) wird sowohl der Geschichte als auch meinen Uni-Noten gut tun. ^^" Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heyho. Das ist jetzt das letzte Kapitel, das ich vorbereitet habe.
In der nächsten Zeit werde ich leider auch nicht groß zum Schreiben kommen (böse Uni) und muss Cursed daher für ein paar Wochen pausieren. Eventuell erscheint ab und an mal ein Kapitel, wenn ich unerwarteter Weise doch eins fertig kriegen sollte.
Wenn der Stack of Work abgearbeitet ist, dann erscheinen die Kapitel (hoffentlich) wieder in gewohnter Regelmäßigkeit.
Danke für eure Geduld und bis bald. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich LEEEEEEEBE.
Es tut mir mega leid, dass es jetzt doch weitaus länger still war als geplant. Leider wird sich mein regelmäßiger Upload-Rhythmus auch in naher Zukunft wohl erstmal nicht wieder einpendeln. (Bitte steinigt mich nicht ^^")
Ich gebe mir Mühe, immer wieder mal ein Kapitel hochzuladen, aber das wird wohl eher sporadisch werden.
Das Kapitel ist jetzt erstmal ohne vorherige Kontrolle durch meine Beta-Leserin hochgeladen. Es kann also sein, dass ihr beim Lesen vermehrt über Fehler gestolpert seid.
Ich hoffe wir hören? lesen? schreiben? uns demnächst mal wieder.
Bye bye und bis dann. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da bin ich schon wieder. Und dieses mal sogar nur einen Tag zu spät :P
Dieses Kapitel war jetzt zugegeben sehr Dialog-lastig und das wird im nächsten Kapitel sogar noch ein bisschen schlimmer werden ^^" Wie das im 34.Kapitel aussieht, kann ich noch nicht sagen, weil ich das noch nicht geschrieben hab. Also lassen wir uns überraschen.
Ich hoffe euch hat dieses Kapitel trotzdem gefallen und wir lesen uns dann bald mal wieder.
Bis dahin: Bleibt gesund, passt auf euch auf und lasst euch nicht in Exorzismen verwickeln.
Tüdellü ^~^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mehr Dialog!!! Oh man, ich kann langsam keine wörtliche Rede mehr sehen ^^"
Ich muss zugeben, dass ich nicht so recht zufrieden mit diesem Kapitel bin. Aber da ich die nächsten Tage über nicht wirklich zum Schreiben kommen werde und dieses Kapitel das einzige ist, das ich noch "auf Vorrat" hatte, wollte ich es euch dennoch nicht vorenthalten. Ich hoffe, dass ist okay.
Also dann: bis zum sporadischen nächsten Mal.
Bleibt gesund. Passt auf euch auf. Finger weg vom Alkohol beim Kapitel verfassen. ^~^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Unzuverlässigkeit in Person (aka ich) hat es tatsächlich mal wieder geschafft ein Kapitel zu fabrizieren. Und irgendwie hat es ein Eigenleben entwickelt... Also weniger dieses und mehr das nächste Kapitel. Ich weiß selbst nicht so richtig was ich davon halten soll, aber hey, it is what it is.
Eventuell werden einige Kapitel noch mehr oder weniger stark editiert und verändert werden. Mal sehen wo das aktuelle Eigenleben dieser Story uns so hinführt ^^"
Also bis zum nächsten Kapitel (wann auch immer es erscheinen wird...) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Er ist endlich zurück. ^^ Ihr glaubt ja gar nicht, wie sehr ich meinen kleinen Rachedämon vermisst habe.
Hach jetzt kann das Chaos erst so richtig los gehen. Charakter-Mobbing, Weltuntergang und Kuscheln. Wie hab ich mich darauf gefreut, dass der Junge endlich wieder auftauchen darf.
(Jetzt muss ich das ganze bloß noch weiterschreiben ^^")
Ich hoffe das wird dieses mal nicht so sehr lange dauern. Also dann, wir hören,schreiben, lesen uns. ^~^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ist es denn schon wieder Dienstag? Ja, ist es. Und tatsächlich gibt es einen Upload. Horray :P
Noch n bisschen fluffy Stuff, bevor es im nächsten Kapitel wieder ein bisschen Ärger und Story gibt. ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (25)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  MarryDeLioncourt
2021-05-13T08:13:59+00:00 13.05.2021 10:13
Dämon hin oder her, wer so viel Liebe zeigt, kann doch gar nicht so böse sein. Ich hoffe, es geht bald weiter 🥰
Von:  MarryDeLioncourt
2021-05-13T08:12:43+00:00 13.05.2021 10:12
Wie herzergreifend🥺.
Und hoffentlich kommt es nicht dazu, dass Reel wieder allein sein muss, das macht einen ja mit ganz traurig.

Mein Fazit bis hier her-sehr schön geschrieben und ich bin gespannt wie sich die ganze Szenerie mit der hexen/magiergeschichte noch auflöst und welche Rolle Mara letztendlich spielt 🤔.
Auf jeden Fall sind Reel und Aiden zuckersüß, das begreift Lukas hoffentlich auch irgendwann. Und hey, die Entschuldigung von dem frechen Dämon war ja mal ein guter Schritt in die richtige Richtung.

Liebe Grüße Marry
Antwort von:  Lycc
13.05.2021 17:03
Hi. Und danke für deinen lieben Kommentar. Es ist immer ein wenig demotivierend, wenn man keine Rückmeldung bekommt, darum freut mich dein Feedback umso mehr.
Ich schreibe aktuell auch wiedr weiter, aber ein wenig wird es wohl noch dauer, ehe ich das nächste Kapitel fertig bekomme und posting-bereit habe.

Ja ja, Reel ist nicht so böse, wie er immer tut. Dass hat Aiden ja schon recht früh festgestellt. Er ist hat auch nur ne gequälte Seele (tut mir leid. Ich meins nicht böse, Reel, aber kaputte Charas sind halt die interessantesten. ^^")

Grüße zurück und hoffentlich bis bald.
Lycc
Antwort von:  MarryDeLioncourt
13.05.2021 18:53
Sehr gerne :). Ja, ich kenne das, zwar sieht man, dass die eigenen FF's aboniert sind, doch wenn die Rückmeldung ausbleibt, ist das komisch. Wollte schon viel früher was schreiben, aber konnte nicht aufhören zu lesen ^^.

Hihi, das kenn ich, mag es auch über Characktere zu schreiben, die nicht unbedingt perfekt sind, das hat mehr Drama-Potenzial XD und ich glaub Reel verzeiht es dir <3.
Antwort von:  Lycc
13.05.2021 19:13
Na hoffentlich. Ich hab ihm ja ziemlich übel mitgespielt ^^" Aber ich liebe ihn trotzdem.
Glücklicherweise bekomme ich etwas mehr Rückmeldung auf Fanfiktion.de und dort kann ich ja auch die Aufrufzahlen einsehen. Das hilft mit der Motivation. ^^
Antwort von:  MarryDeLioncourt
13.05.2021 19:48
Ja, schon ^^, aber hey, er ist ein Dämon, der muss das doch verkraften können XD.
Ah okay, ist Fanfiction.de ähnlich wie Animexx?
Antwort von:  Lycc
13.05.2021 21:10
Im Grunde genommen ist Reel auch nur ein Mensch. Das darf man nie vergessen. ^^"
Fanfiktion.de (wichtig: mit K. also die deutsche seite) ist so ähnlich wie Animexx, aber eben nur für Fanfics und eigene Geschichten, Essays, Gedichte oder Projekte. Das ist auch meine aktivste Seite. Also da hab ich die meisten Leser. Aber Uploads kommen hier und dort gleichzeitig. (Außer MimP. Das lade ich nur auf FF hoch, aber vielleicht mach ich das auch mal hier.)
Von:  Ana1993
2021-03-22T06:52:01+00:00 22.03.2021 07:52
Ey ey ey, Reel hat es aber faustdick hinter den Ohren. Wurde auch mal Zeit, dass Aiden ein Machtwort spricht ;)
Antwort von:  Lycc
22.03.2021 07:56
Ich hab nie behauptet, dass Reel lieb wäre. ;P
Von:  z1ck3
2020-10-06T17:34:09+00:00 06.10.2020 19:34
Dämon sei dank! Das war ja nicht zu ertragen, der arme Aiden! Ein Glück ist Reel zurück!
Antwort von:  Lycc
06.10.2020 22:13
Absolut. Mir wurde richtig leicht ums Herz nachdem ich das Kapitelende geschrieben hatte.
Von:  Toshi
2020-08-01T22:06:20+00:00 02.08.2020 00:06
ohhh, welch wendung!!
ich mag den namen Nathaniël übrigens sehr gern hihi
Antwort von:  Lycc
04.08.2020 14:03
Hi. Ich hab deine lieben Kommentare erst jetzt gesehen ^^“
Freut mich, dass Dir meine Geschichte soweit ganz gut gefällt und du mir hier sogar so nettes Feedback hinterlässt. ^~^
Ich werde hoffentlich auch bald wieder zum Schreiben kommen und Cursed updaten.
Liebe Grüße und vielen Dank fürs lesen und dein Feedback. ^~^
Antwort von:  Toshi
04.08.2020 19:26
Ach, sehr gern!
Und nur keine Eile :3
Von:  Toshi
2020-08-01T00:40:19+00:00 01.08.2020 02:40
Ahh, das war so schön :'> Wie die zwei da rumlagen und sich unterhielten.
Ich hab ja so ne Ahnung, wer Aiden verflucht haben könnte, aber ich halt mal noch den Mund >3<
Von:  Toshi
2020-07-31T23:09:00+00:00 01.08.2020 01:09
Ach, die Verabredung war echt süß :3 musste ein bisschen lachen, als Reel meinte, Aiden soll sie doch endlich küssen xD
Es tun sich immer mehr Rätsel auf, bin sehr gespannt, wie es weitergeht!
Von:  Toshi
2020-07-31T20:44:57+00:00 31.07.2020 22:44
Hey, ich bin ganz froh, dass ich heute entschieden hab, mal zu gucken, was es so Aktuelles bei den Fanfictions gibt :D Mir gefällt deine Geschichte bisher echt gut, ich werd auf jeden Fall weiterlesen. Ist ja noch genug da xD
(ein paar Tippfehler sind mir aufgefallen, stören aber nicht weiter beim Lesen)
Von:  Rentierchan
2020-06-25T04:17:19+00:00 25.06.2020 06:17
Ein Kapitel ohne Reel 😱
Wieder sehr spannend!
Da haben sie die Sache mit dem Exorzismus wohl nur noch verschlimmert 🙈
Antwort von:  Lycc
25.06.2020 12:19
Ja, es ist auch echt seltsam ohne Reel zu schreiben. Aber er kommt ja wieder. :P
Freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat und du mir immer noch treu bist. ^~^
Von:  Rentierchan
2019-12-17T16:42:59+00:00 17.12.2019 17:42
Das wünsche ich dir auch. Und nimm dir ruhig die Zeit. Auch wenn ich deine Geschichte liebe, das geht vor!
Antwort von:  Lycc
17.12.2019 17:52
Danke. Lieb von dir. ^^ <3


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