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Of being a fairy

Die Fee in Spe
von

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Unsichtbar

"Hast du deine Brotdose auch eingepackt?" Oliver rollte mit den Augen. "Ja, Mama, habe ich. Ich bin doch kein kleines Kind mehr", ächzte er vernehmlich und war schon halb zur Haustür heraus, als er noch einmal die Stimme seiner Mutter vernahm. "Sei vorsichtig unterwegs und hab einen schönen Tag!" Noch einmal rollte der junge Mann mit den Augen, ersparte sich aber jede Erwiderung. So wie seine Mutter ihn behandelte, könnte man glatt glauben, er sei erst sieben und nicht 17! Mehr als einmal hatte er sich darüber beschwert, doch stets waren die Klagen auf taube Ohren gestoßen. Irgendwann hatte Oliver dann aufgegeben. Sie meinte es ja nur gut, doch wann immer Nicole oder Thomas zu Besuch kamen, war es schon ziemlich peinlich, weil seine Mutter vor seinen ältesten Freunden wirklich kein Blatt vor den Mund nahm. Ungeniert hatte sie seine Freunde das letzte Mal ausgefragt, ob ihr "Kleiner" denn nun endlich eine Freundin habe. Oliver wäre am liebsten an die Decke gegangen.
 

Auf dem Weg zur Bushaltestelle kam er wie jeden Morgen an dem Mehrfamilienhaus vorbei, in dem sowohl Nicoles als auch Thomas' Familie wohnten und wie üblich erwartete Thomas ihn bereits. Sein Sandkastenfreund war schon immer ein Frühaufsteher gewesen, wie er im Buche stand. Ganz anders als Nicole, die sich immer erst auf den letzten Drücker aus den Laken schälte. "Moin. Hab' Nicoles Mutter eben schon getroffen. Nicole kommt gleich", begrüßte Thomas ihn grinsend. "Du schaust ja aus wie sieben Tage Regenwetter. War die Feier gestern so übel?" Fragend legte Thomas den Kopf schief. Oliver seufzte nur und schüttelte den Kopf. Zwar hasste er Familientreffen wie die Pest, woran auch sein Geburtstag nichts hatte ändern können, doch ausnahmsweise war das (noch) nicht das Problem. "Das Grauen kommt dieses Jahr erst am Wochenende. Meine Mutter macht ein Riesending draus. Keine Ahnung, wieso. Normalerweise drehen doch erst alle durch, wenn man 18 wird." Hilflos zuckte Thomas mit den Schultern, ehe er meinte: "Deine Familie ist eben ein wenig eigen." Ein wenig eigen war noch harmlos ausgedrückt, fand Oliver. Seine Familie hatte kräftig einen an der Klatsche.

Bevor er das jedoch laut ausführen konnte, stieß auch schon Nicole zu ihnen. Ihr Frühstück hing ihr noch in Form eines Toasts aus dem Mund und ihr etwas zerzaustes Haar ließ ahnen, dass Nicole heute wohl noch keine Bürste gesehen hatte, wenngleich ihr kurzes Haar eigentlich immer so wirr abstand wie jetzt. “Morgen Jungs, entschuldigt die Verspätung.” Thomas winkte ab, während Oliver praktisch zeitgleich scherzte: “Wie immer. Das haben wir einkalkuliert. Aber sag mal, welches Tier ist denn heute morgen auf deinem Kopf explodiert?” Eilig fuhr sich Nicole durchs Haar. “Keines”, brummte sie und schob sich dann eilig den restlichen Toast in den Mund. “Hab einfach verschlafen, das ist alles.” “Also doch wie immer”, bemerkte Thomas lachend, wofür er von Nicole einen leichten Schlag an den Hinterkopf kassierte.
 

So in die üblichen Frotzeleien und Scherze vertieft, fiel keinem der Drei auf, dass die kleinen Gänseblümchen am Wegesrand unvermittelt neue Blüten bildeten, während die Hecke, welche die Schüler passierten, trotz des Herbstes wie von Zauberhand ihre grüne Färbung zurück erlangte. Langsam nur, doch schnell genug, als dass ein geneigter Betrachter unweigerlich darüber hätte stolpern müssen, dass hier etwas außergewöhnliches geschah.

Weder das Trio noch die Anwohnerin, die mit ihrem Hund Gassi ging und doch nur auf ihr Handy starrte, hatten einen Blick übrig für das ungewöhnliche Verhalten der Pflanzen. Allein der Hund, kaum größer als eine Katze, blickte auf, bellte aufgeregt und schnüffelte begeistert in der Luft, die Nase den drei Freunden nach ausstreckend, den Blick fixiert auf den Quell der unsichtbaren Macht, die hier Einzug hielt.

Wenn es dem Blick eines Menschen auch entgehen mochte, für das Tier lag die Wahrheit offen. Er sah, war allen anderen entging. Ein paar durchscheinender Flügel, die in ihrer Form an einen Schmetterling erinnerten und doch gläsern anmuteten wie die einer Libelle. Das unsichtbare Zeichen eines Geschöpfes, das nicht von dieser Welt schien und doch enger mit ihr verankert war, als die meisten anderen Lebewesen. Wesen, die verborgen unter Menschen lebten, unerkannt und wie sich in diesem Moment zeigte: Unwissend.

Erblühen

Stöhnend ließ sich Oliver auf den Schreibtisch sinken, während Thomas neben ihm nur lachte. “Stell dich nicht so an. Soo schwer war der Test nun auch wieder nicht.” Den finsteren Blick, den er dafür von Oliver und Nicole gleichermaßen erntete, ignorierte er geflissentlich, wenn er ihn denn bemerkte. “Nicht jeder von uns ist ein verdammtes Genie”, brummte Nicole unwillig, sich zu den beiden Jungs herum drehend, die hinter ihr saßen. “Was habt ihr bei der vierten Aufgabe geschrieben? Mir fiel da überhaupt nichts ein.” Das war der Moment, in dem Oliver sich aus dem Gespräch ausklinkte. Wenn er jetzt noch hören musste, welche Lösung Thomas hatte - und die wäre sicherlich richtig - würde ihm direkt noch übler. Nein, dann ließ er das Unheil lieber auf sich zukommen und machte sich nicht weiter verrückt. Was dachte sich Mr. Fitzgerald auch dabei, andauernd diese unangekündigten Tests zu schreiben? Und immer an einem Freitag in der letzten Stunde! Man könnte beinahe glauben, er hätte nichts Besseres zu tun, als seine Schüler auf diese Weise zu quälen.

Wie von selbst wanderte Olivers Blick an Nicole und Thomas, die noch intensiv diskutierten, was denn nun die richtige Antwort für die vierte Aufgabe war, zu Anita. Seit zwei Jahren gingen sie nun schon in die gleiche Klasse, doch mehr als ein paar flüchtige Worte hatten sie beide nicht gewechselt. Eben das, was nötig war, wenn man sich zufällig im Flur begegnete oder doch mal bei einer Gruppenarbeit im selben Team war, was selten genug passierte, denn üblicherweise hatte er dafür Thomas und Nicole.

Leise seufzte Oliver in sich hinein, den Blick weiter auf Anita geheftet, die diesen scheinbar nicht bemerkte, denn sie unterhielt sich eindringlich mit Brandon. Eigentlich ein netter Kerl, doch uneigentlich mochte Oliver ihn nicht. Ständig lungerte er in Anitas Nähe herum. Ein Kindheitsfreund, hatte ihm Nicole gesteckt. Sie war lose mit Anita befreundet und ließ es sich nicht nehmen, Oliver regelmäßig damit aufzuziehen, dass er sich nicht traute, Anita doch einfach mal zu einem Treffen einzuladen. Ihren Neckereien zum Trotz hatte sie ihn jedoch auch nie verraten und Stillschweigen darüber bewahrt, dass Oliver in Anita verknallt war. Das hielt er Nicole wirklich zugute. Sie mochte wie eine Plaudertasche wirken, die achtlos über alles plapperte, was ihr unterkam, aber Wichtiges war bei ihr absolut sicher aufgehoben.
 

“He, Oliver? Erde an Oliver!” Verdattert riss er seinen Blick von Anita los und starrte Thomas an, der so breit grinste, dass Oliver ahnte, dass das nicht das erste Mal gewesen war, dass sein bester Freund ihn angesprochen hatte. “Da war wohl jemand… abgelenkt”, flötete Nicole feixend und warf einen demonstrativen Blick in Anitas Richtung. “Autsch!” Thomas war ihr auf den Fuß getreten, um sie zum Schweigen zu bringen. Schmollend legte Nicole ihren Kopf auf Olivers Tisch ab. “Hast du Lust, heut Abend ins Kino zu gehen? Es läuft dieser neue Streifen mit Lesley Tanner an. Du weißt schon, dieser Film über eine Apokalypse mit Zentauren und Elfen?” Verständnislos starrte Oliver Thomas an. Der seufzte nur leise. “Wir haben letzte Woche erst drüber gesprochen? The Art of the Chosen?”, hakte er nach, doch bei Oliver wollte der Groschen einfach nicht fallen. Klang für ihn nach einem Fantasystreifen und damit konnte er eigentlich nicht viel anfangen.

Ein breites Grinsen legte sich über Nicoles Züge. “Er ist in Gedanken eben noch ganz bei Anii~” “Psht!”, unterbrach Oliver sie hastig, drehte sich doch eben jene Anita gerade zu ihnen um. “Ihr wollt in The Art of the Chosen? Der Film soll wirklich gut sein.” “Komm doch mit, wenn du möchtest”, bot Nicole direkt an. Oliver biss sich auf die Zunge. Eigentlich hatte er gerade absagen wollen, doch Nicoles Frage könnte seine Meinung über den Film ziemlich schnell ändern. Seufzend schüttelte Anita den Kopf. “Ich kann leider nicht. Sorry.” “Dann verlegen wir das doch”, schlug Oliver vor. Sein Mund fühlte sich so trocken an, als habe er auf einer Socke gelutscht, so nervös war er. “Wie passt Sonntag?” “Sonntag ist ok”, nickte Thomas sofort und auch Nicole und Anita stimmten zu. “Dann treffen wir uns eine Viertelstunde vorher am Kino?”, fragte Nicole in die Runde. “Klingt gut. Das wird super.” Anitas Grinsen genügte, um dafür zu sorgen, dass in Olivers Magen ein Schwarm Schmetterlinge aufstob.

Dass etwas sehr ähnliches gerade nur wenige Meter entfernt vor dem Klassenfenster passierte, fiel zwar den vier Teenagern nicht auf, dafür aber einer Klassenkameradin, die mit großen Augen bestaunte, wie ein gutes Dutzend hellgelber Zitronenfalter einen kümmerlichen Busch umkreiste, in dessen Ästen Müll hing und der schon seit Urzeiten keine Blüte mehr erlebt hatte, weil er so stiefmütterlich behandelt wurde. Jetzt aber hatte er kleine zarte Blüten von sattem Rot ausgebildet und damit die Schmetterlinge angelockt, die um die frischen Blätter herumtanzten. In Verbindung mit einem Mitschüler hätte die junge Frau am Fenster dieses Wunder aber wohl nie gebracht.
 

Hätte Oliver geahnt, was das Wochenende für ihn bereit hielt, er hätte seinen Freunden nicht zugesagt und auch Anita hätte daran nichts geändert. Wie üblich hatten sich nicht nur seine Großeltern eingefunden, sondern auch Tanten und Onkel. Beinahe konnte er noch von Glück sagen, dass seine Familie nicht besonders groß war. Was ihm jedoch auffiel, war, dass alle einen ziemlichen Wirbel machten. Als wäre der 17. Geburtstag etwas besonderes. Darüber konnte Oliver wirklich nur den Kopf schütteln. Beinahe ergeben ließ er es über sich ergehen, als er die Kerzen auf einer Torte ausblasen musste und schließlich ein Dutzend Geschenke öffnete, während ihm seine Großmutter, die neben ihm saß, über die Schulter sah.

Als seine Mutter jedoch ungewohnt ernst innehielt, anstatt die Torte anzuschneiden, war er der Einzige, den dies zu überraschen schien. “Es gibt da etwas, das wir alle hier dir sagen müssen”, begann schließlich seine Großmutter in einem Tonfall, den sie sonst anschlug, wenn sie wissen wollte, ob ihr über alles geliebter Enkel denn nun endlich eine Freundin habe. Oliver runzelte die Stirn und sah in die Runde. Immer mehr hatte er das Gefühl, dass jeder hier im Raum genau wusste, worum es ging und nur er im Dunkeln tappte. “Was ist los?”, verlangte er zu wissen.

Die Züge seiner Großmutter entspannten sich, als sie nun nach seiner Hand griff. “Oliver, wir alle hier lieben dich sehr.” “Ich weiß”, entgegnete er nun schon lauernd. Oh Gott, wollten sie ihm etwa sagen, dass er adoptiert war? So klang es zumindest für ihn. Was sonst sollte es sein? “Es ist so, dass du einer ganz besonderen Familie angehörst”, fuhr seine Großmutter fort. Oliver nickte wie automatisch. Dass seine Familie besonders war, hätte er nie abgestritten, auch wenn er die Bezeichnung “schrullig” passender gefunden hätte. “Es ist so, dass wir keine Menschen sind. Oder zumindest… nicht alle von uns”, erklärte sie betont ruhig und erntete von Oliver doch nur verwirrte Blicke. “Oliver”, mischte sich nun auch seine Mutter ein. “Wir sind Feen.”
 

Oliver kannte keine Sache, die seine Mutter hätte sagen können und ihn mehr hätte verwirren können. Er hatte mit allem möglichen gerechnet. Etwas wie Adoption oder dass sein Vater gar nicht wirklich sein Vater war. Auch, dass er eigentlich einen Zwilling gehabt hatte oder etwas in der Art hätte Oliver begreifen können, doch Feen? Wie er das Wort auch wendete, es wollte in seinem Kopf einfach keinen Sinn machen. Nichts davon machte Sinn. Wie durch einen Schleier hindurch konnte er hören, wie seine Mutter und seine Großmutter versuchten, sich zu erklären, doch die Worte kamen nicht wirklich bei ihm an. “Was für ein Unfug”, schloss er schließlich ganz abrupt, doch ein nagender Zweifel blieb, als er die Blicke seiner Familie bemerkte. Alle sahen ihn an. Freundlich, verständnisvoll und überhaupt nicht so, als wäre hier ein riesiger Scherz im Gange.

“Ich weiß, das muss sehr verwirrend sein, Oliver”, ergriff schließlich sein Onkel das Wort. “Als wir es erfahren haben, konnten wir es auch erst nicht glauben, aber es ist wahr. Marthas Familie hat uns ins Vertrauen gezogen, damit wir dir beistehen können und du nicht das Gefühl hast, vor deiner eigenen Familie ein Geheimnis haben zu müssen.” Anscheinend war ihm anzusehen, dass er noch immer nicht so richtig wusste, was er von all dem halten sollte, denn seine Großmutter tätschelte ihm mitfühlend die Hand. “Das ist für alle erst einmal schwer zu glauben. Ich denke, am besten ist, wir zeigen es dir.” Seine Mutter löste sich von ihm und holte von der Fensterbank eine Zimmerpflanze. Ihre Blüte war geschlossen, doch das änderte sich sofort, kaum, dass sie in seine Nähe kam. Oliver konnte dabei zusehen, wie sich die große weiße Blüte entfaltete. Verwirrt sah er von der Pflanze zu seiner Mutter. “Was ist damit?”

Neben ihm schüttelte seine Großmutter den Kopf. “Ich denke, du brauchst einen richtigen Beweis.” Sie hatten ihren Satz gerade erst beendet, da schimmerten unübersehbar große schillernde Flügel, die Oliver an einen Schmetterling erinnerten oder an eine Libelle. Fassungslos starrte er die Flügel an, wollte die Hand ausstrecken um sie zu berühren, glaubte jedoch im Grunde nicht, dass das möglich war. Das musste ein Trick sein! Doch wider seiner Erwartungen, griff Oliver nicht ins Leere, sondern spürte eine glatte kühle Oberfläche unter seinen Fingern, ehe die Schwingen verblassten bis es war, als wären sie nie da gewesen.
 

Fassungslos starrte Oliver in die Runde. Was sich ihm in der nächsten Stunde offenbarte, überforderte ihn hoffnungslos und hätte man ihn am Abend gefragt, woran er sich erinnerte, wäre die Antwort ernüchternd kurz gewesen. Er war Nachkomme einer Fee. Mütterlicherseits. Feen erwachten im Alter von 17 Jahren. Feen hatte es schon immer gegeben, aber sie verbargen sich unter Menschen. Sie hatten Flügel und konnten Blumen blühen lassen. Soweit im Groben. Seine Mutter und ihre Schwester hatten noch sehr viel mehr erzählt, doch Oliver hatte sich nichts davon merken können. Zu sehr saß der Schock ihm in den Gliedern.

Eine Fee. Wie verdammt absurd war das bitte?! Und wieso traf es ihn als Jungen überhaupt?! Sollten Feen nicht nur Frauen sein? Bei Feen musste er sofort an diese kitschigen, kleinen Gestalten aus Fantasy-Romanen denken, die über Blumenwiesen flatterten und dabei albern kicherten. Das wäre so ziemlich das letzte, was er sein wollte. So etwas mochte sich ein fünfjähriges Mädchen wünschen, er aber ganz bestimmt nicht. “Du wirst sehen, es wird sich gar nicht so viel ändern. Es kann wundervoll sein, eine Fee zu sein”, hatte seine Großmutter ihm gesagt, doch schon jetzt erschien es ihm wie der blanke Horror. Wie sollte er das geheim halten? Würde er auch solche Flügel kriegen? Konnte er das nicht einfach ignorieren? Insgeheim nämlich nahm sich Oliver genau das vor. Er würde einfach sein ganz normales Leben weiterleben. Als hätt er nicht auch so genug um die Ohren. Er und eine Fee? Nein, ganz sicher nicht.

Feurig

Anitas Augen strahlten vor Glück, als sie nach der Schule bei sich Zuhause ankam und das Wochenende mit einem Drachengebrüll willkommen hieß. Bildung und Wissen waren wichtig, aber solange sie noch unbeschwert die Wochenenden und Ferien genießen konnte, wollte sie ihre Freizeit in vollen Zügen nutzen. "Bin wieder da", rief sie durch die Villa. Von oben hörte Anita ein Poltern und aufgeregtes Kichern. Kein Zweifel! Es handelte sich um ihre jüngeren Zwillinge Jo-Ann und Pascal, die wie Kaugummi unter Tischplatten zusammenklebten. Der Vergleich schlug ihr auf den Magen, erinnerte sie an die Frühjahresputzaktion der Schule, wo sie mit anderen Mitschülern das Los gezogen hatte, die klebrigen, harten Massen unterhalb der Tische zu entfernen. Man hätte diese Schandflecken verbrennen sollen! "Jo-Ann. Pascal. Wie lange wollt ihr noch da oben versauern?", sagte sie laut und zog sich die Straßenschuhe aus.
 

Ein enttäuschter Laut entfuhr Jo-Ann. Heute trug das Mädchen Haarspangen in Regenbogenfarben im Haar, schien sehr stolz auf ihre Sammlung zu sein. Dagegen rannte der Jüngste aus der Familie die Treppe hinunter und umarmte seine Schwester im Sturzflug. Beinahe verlor sie das Gleichgewicht, konnte sich aber im letzten Moment am Treppengeländer festhalten, sodass sie keine Bruchlandung erlitten. Hoffentlich waren die Zwillinge nicht beim Nachbarn gewesen, sonst käme der nach der Poolbenutzung wie ein Schlumpf zu ihnen rüber. Obwohl: einen stinksauren Schlumpf sah man nicht alle Tage!

"Es tut mir leid, Schwester", murmelte er reumütig. "Bitte sei nicht wütend auf mich." Sie legte die Stirn in Falten. "Äh? Wovon redest du, Pascal?" Kaum stellte sie ihre Frage, da überreichte er ihr einen in der Mitte zerteilten Pokal. "Aber...wie?" Tränen bildeten sich in seinen Augen. "Das war keine Absicht. Ehrlich! Wir haben nur Fußball gespielt", beichtete Pascal und Anita seufzte schwer. "Ihr habt schon wieder im Wohnzimmer randaliert?" Mit den Pokalhälften in den Händen stemmte sie diese in die Hüften. Dabei blickte sie Jo-Ann besonders ernst an. Ohne schlechtes Gewissen zuckte die mit den Schultern. Ihr war es offensichtlich egal, wie groß der Ärger heranwuchs, wenn der Familienvater davon in Kenntnis gesetzt würde. "Das war doch nur ein kleine Wette, wer zuerst einen Pokal erwischt", rechtfertigte sie sich. "Ist doch nur ein nutzloser Gegenstand." Sofort schüttelte Pascal den Kopf. "Aber unsere Schwester gewann vor zwei Jahren", begann er zu sprechen, bis Jo-Ann ihm das Wort abschnitt. "Ich bitte dich, Cali. Sie schafft es locker wieder, das Volleyballturnier zu gewinnen."

Anita hob eine Augenbraue. Oft herrschte im Kopf der 12-jährigen Schülerin mehr Chaos als Ordnung. Ihr Zimmer war der beste Beweis! "Dann hast du keine Einwände, wenn ich die Aufnahme unseres Gespräches Vater zeige, oder?", räusperte sich Anita scheinheilig und grinste über beide Ohren. Schlagartig wurde Jo-Ann blass, als sie das Handy sah. "Verdammt!" Wahrscheinlich von der eigenen Schwester verpfiffen zu werden, kratzte sehr an ihrem Stolz. "Dann übernimmst du heute den Abwasch, Anni", kam der Vorschlag von ihr. "Und du reparierst den Pokal nachher mit Sekundenkleber. Ich helfe dir auch." Während Jo-Ann empört die Wangen aufblies und in ihr Zimmer flüchtete, lächelte ihr Bruder. "Versprochen. Danke, Schwester." Keine drei Sekunden später folgte er seiner Zwillingsschwester, um sie moralisch zu unterstützen.
 

Jetzt stand sie alleine im Hausflur. Ein Pokal in zwei Hälften und eine stürmische Begrüßung erwiesen sich häufig als kein gutes Omen für das Wochenende. Wenigstens erlangte sie einen Triumph gegenüber den Satansbraten. Wie üblich waren ihr Vater und älterer Bruder Rainer um diese Uhrzeit in der Firma, somit blieben sie und die Zwillinge alleine zu Hause. Unterwegs zu ihrem Reich dachte sie schon nach, eventuell Sandra zu fragen, ob sie sich am Sonntag um die Zwillinge kümmerte, weil der Rest der Familie auf einer Geschäftsreise sein würde und sie selbst mit anderen zum Kino verabredet war. An der Universität studierte ihre älteste Schwester Kunst und lebte außerhalb der Familienvilla ihr eigenes Leben. Anita konnte es ihr nicht verübeln. Ein bisschen traurig lächelte sie über den Gedanken. Manchmal vermisste sie ihre Schwester und ihre tollpatschige Art.

Im Zimmer schmiss sie den Schulranzen auf das Bett und schaute nach ihren schuppigen Freunden. Riesige Terrarien besetzten ihr Zimmer, waren mit exotischen Bestandteilen dekoriert, sodass sich die Schlangen heimisch fühlten. "Na, wo seid ihr, meine kleinen Drachen?" Zuerst fand sie Peaches, ein Kornnatterweibchen, auf der Sand-Erde-Mischung und den Baumrinden. Die Schlange badete anschließend in der flachen Wasserschale. Dann, im anderen Terrarium, kroch die Sandboa Wüstel über die rote Erde, die aus dem Tsavo-Gebiet stammte, und auch gleich zwischen den Steinen verschwand. Zum Schluss kam die männliche Königspython Sir an der Reihe. Anscheinend schlief er auf dem Ast des kleinen Baumes und nahm nicht wahr, wie Anita darüber schmunzelte. Heute Morgen hatte sie die Schlangen gefüttert, daher ließ Anita ihre Haustiere erstmal in Ruhe. "Alle sind wohlauf."

Anita fiel rückwärts auf das Himmelbett, starrte eine Weile die Zimmerdecke an und versank regelrecht in Gedanken. Heute hatte sie sich mit Oliver, Thomas und Nicole verabredet. Es ging um den neuen Fantasyfilm. Sie freute sich sehr darauf. So konnte sie wieder mit Nicole über die Buchreihe reden und auch ihre engsten Freunde etwas mehr kennenlernen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Oliver sie oft im Blick hatte. Jedenfalls sagte es ihre weibliche Intuition, die häufig richtig lag. Vielleicht irrte sie sich auch und reimte sich was zusammen. Wenn sie genau darüber nachdachte, kannte sie das Trio schon fast zwei Schuljahre. Schulprojekte und die tägliche Begrüßung waren die einzigen Kommunikationen zwischen ihnen, bis auf mit Nicole. Die beiden waren dem Buchclub beigetreten. "Warum mache ich mir darüber Gedanken?", wunderte sich die Schülerin und wusste nichts von dem kommenden Drama.
 

Der Sonntagnachmittag begann. Zum Glück bejahte Sandra ihre Frage, auf die Zwillinge aufzupassen. Sie stand in der Schuld ihrer großen Schwester und überlegte, ihr ein Kunstbuch zu schenken. Unterwegs zum Kino schrieb sie noch mit Brandon. Am Samstag hatten sie eine Tour durch die Buchmesse Libra, die in der Nachbarstadt stattfand, unternommen.

»Wir haben tatsächlich von unserem Lieblingsautoren Autogramme bekommen! (*-*)«

Anita konnte ein Freudenschrei nicht unterdrücken. Die Menschen um sie herum sahen sie überrascht an und das kümmerte sie überhaupt nicht. Gerade ähnelte sie einem Honigkuchenpferd.

»Muss du mich daran erinnern! (:P) Alle gaffen mich an (>.<)«

Bei der Nachricht stellte sie sich gut vor, wie er schadenfroh grinste.

»Ist nicht mein Problem (XD). Halte deine Fangirl zurück oder so...«

Darauf verzog sie ihr Gesicht zu einem Schmollmund. Brandon hätte sich den Vorschlag sparen können. Ihr bester Freund hatte durch und durch ein gutes Herz, aber manchmal war sein Humor ziemlich schräg mit einer Prise Schadenfreude dazu. Sie seufzte.

»Nee, ist klar! Du solltest dir mal an die eigene Nase fassen. Außerdem bin ich gleich zum Kinotreffen verabredet.«

Frech bildete sich ein Grinsen auf Anitas Lippen. Manchmal war die beste Lektion ein Schluck der eigenen Medizin.

»Oh man :( Und ich bin nicht dabei...scheiß Familienausflug. Ohne dich ist es langweilig (-_-)«

Aus ihrer Sicht hatte er es gut. Mit der Familie gemeinsam die Zeit zu verbringen, kannte sie nur aus Büchern und Filmen.

»Ich will schon liebend gerne mit dir tauschen. Mein Terminkalender ist leider voll (:P)«

Die Retourkutsche hatte gesessen. Natürlich würde sie das später mit einem Curryessen wieder gerade biegen. Da sagte Brandon nie Nein.

»Na das kommt ja von Herzen *schmoll* Wir schreiben später wieder. Mutter nervt mich XD. Viel Spaß noch!«

Im letzten Moment verkniff sie sich ein Lachen. Es stimmte schon. Seine Mutter war eine Glucke, hart aber herzlich. Sie konnte sich noch erinnern, wie sie beide zu Halloween die Schminke von Frau Thermens benutzt und ausgesehen hatten, als ob sie von einer Clownsschule kamen. Brandons Mutter fand es nicht lustig und markierte die Freunde mit wasserfestem Fineliner als bunte Diebe. Das hieß, in der Sommerzeit stand auf ihrer Stirn "Bunte Diebe". Als einzige Möglichkeit entpuppten sich zwei Stücke Stoff. Das war ein Sommer der Schweißstirnbänder gewesen!
 

"Anita. Hier sind wir", rief Thomas ihr zu. Anita hob den Kopf. Vor dem Eingang des Kinos warteten schon er und Oliver. Von Nicole war nichts zu sehen. "Hey, bin schon da", winkte sie freudig zurück. Sie zeigte offen ihre Freude auf den Film und das nicht alleine. Dann schaute sie zu Oliver. Irgendwie schien er nachdenklich zu sein. Seine Augen waren nach unten gerichtet. Somit bemerkte er nicht die Besorgnis um ihn herum. Direkt fragte Anita: "Oliver, geht es dir gut?" Behutsam legt sie die Hand auf seine Schulter, worauf er leicht zusammenzuckte. "Ähm...was?" Ein schweres Seufzen entfuhr ihr. "Erde an Oliver. Ich wiederhole mich nicht nochmal." Sie warf ihm ein strengen Blick zu. Dass niemand ihr zuhörte, mochte sie einfach nicht.

Aus heiterem Himmel fing Thomas an, zu lachen. Zwischen ihnen spielte sich eine unterhaltsame Szene ab. "Da können wir uns glatt den Kinofilm sparen." Davon war Anita wenig begeistert. Nicht umsonst nahm sie sich heute von ihrer Familie frei und lief eine Stunde quer durch die Stadt. Daher sagte sie: "Wenn du so sehr auf unser Geld achtest, kannst du uns ruhig einladen." Die Zunge steckte sie frech aus. Thomas schmollte und nahm die Herausforderung mit einem Murren an. "Ach, das war ein Scherz. Nimm es nicht zu ernst." Als Okay zuckte er mit den Schultern und als Anita sich umdrehte, schien Thomas erleichtert zu sein. Das hätte seinem Geldbeutel ein Mottenloch verpasst. Soeben fragte er sich, wo Nicole mal wieder blieb. Diesmal blieben ihr fünf Minuten. Sein Blick glitt von einer zur anderen zur Straße und dann auf seine Armbanduhr.

Sofort bemerkte er dann, wie eine vertraute Stimme laut nach ihnen rief. "Ich habs geschafft." Als sie ankam, keuchte sie vor Anstrengung und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diesmal schüttelte Thomas mit den Kopf. "Stell dir mal einen Wecker. Das war heute sehr knapp und der Film fängt gleich an", tadelte er und erhielt von Nicole ein herzliches Grinsen. Seine beste Freundin würde sich wohl nie ändern. "Ich habe es doch noch geschafft. Bleib locker", sagte sie mit einem Schulterklopfen. Schnell vergaß Thomas ihre Unpünktlichkeit, sodass sie mit dem Kinotreffen weiter kamen.
 

Anita verkniff sich ein Lachen. Beide verhielten sich wie ein Liebespaar und könnten sogar zusammen passen. "Ohhh. Sind sie nicht süß, Oliver?", flüsterte sie zu ihm. Allerdings wirkte Oliver geistesabwesend, reagierte nicht auf Anitas Worte, bis sie ihm gegen die Rippen stieß. "Aua", brummte er. Nach Anitas Meinung hatte er es verdient. "Woran musst du ständig denken? Hmh?" Ihr Gesicht kam seinem sehr nah. Da er rot um die Nase wurde, wuchs ihre Neugier. Auch Brandons Wangen färbten sich rosa, wenn er ein Geheimnis verbarg. Oliver räusperte sich. "Ähm...ich habe mir Gedanken um den Film gemacht. Jap. Das ist alles." Zuerst hob sie eine Augenbraue, ließ ihn aber dann in Ruhe. Schließlich fing gleich der Film an.

"Verstehe", sagte Anita knapp. Daraufhin seufzte sie und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Irgendwann würde sie es herausfinden. Ob er wollte oder nicht! Kaum dreht sich Anita zu den anderen um, atmete Oliver erleichtert aus. "Lasst uns endlich reingehen", forderte Nicole und ging direkt voran. Als nächstes kam Anita dran. "Hey, warte. Ich will auch." Bevor sie hinein ging, gab sie den Jungs ein Handzeichen ihnen zu folgen. Es kribbelte in ihren Fingern. Ohne Umweg stand der Fim jetzt an der Tagesordnung. Zudem war ihr mal ein freier Tag gegönnt.
 

Zusammen bezahlten sie die Snacks und Drinks. Thomas nahm die Cola, Nicole die Sprite, Oliver die Chips und Anita die Popcorntüten. Im Kinosaal saßen die Freunde in der erste Reihe. Wenige Sekunden später füllten sich die Sitzplätze. "Wow, mit so vielen Kinobesuchern habe ich nicht gerechnet." Kurz warf Oliver einen Blick nach hinten, während die Mädchen schon mal das Popcorn überprüften. "Hmhm. Schmeckt lecker", meinte Nicole zufrieden. Auch Anita stimmte zu. Hinter ihr hörte sie die Menschen tuscheln Sie waren teilweise aufgeregt und freuten sich auf dem Film. Das Gleiche traf bei Anita auch zu. Neben ihr saß Oliver, der erneut in Gedanken versank. Vorsichtig tippte sie gegen seine Wange. "Hey, alles okay?" Geschwind holte sie ihn aus der Gedankenwelt. "Was? Ja, ich bin auch schon gespannt." Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

Der Vorspann fing an. Anita war so frech und klaute sich einen Chip aus Olivers Chipstüte. Gerade probierte sie das Stück, da fiel ihr auf, dass Oliver lächelte. Um ihr Mund klebten Chipskrümel und Popcornbutter, was sie fürs erste nicht bemerkte. "Sieh einmal, da kommt jemand aus seinem Schneckenhaus", grinste Anita. Dabei hatte sie sich noch Sorgen gemacht. "Du bist wirklich nett, Anita", sagte Oliver leise. "Aber...ohh! Der Film fängt an." Sofort verstummen die Stimmen, als im Saal Dunkelheit herrschte und die ersten Szenen sich zeigten. Später konnte sie noch nachhaken. Jetzt hieß es Fantasyfilm angucken. Besonders liebte sie Drama und Freundschaften, die Hindernisse überwältigen müssen. Allerdings spannte sie sich oft bei Fantasyfilmen an, wenn jemand auf tragische Weise für etwas Besonderes starb. "Endlich geht es los."

Knospe

Wenn Oliver ganz ehrlich war, hatte er von der ersten halben Stunde des Films kaum etwas mitbekommen. Sein Hirn war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, abzuwägen, ob er seine Freunde einweihen sollte. Vermutlich wäre seine Familie darüber nicht begeistert, zumal sie ihn eindringlich gewarnt hatte, wie gefährlich es war, sich jemandem anzuvertrauen, falls doch jemand plauderte. Aber könnte er das überhaupt vor Thomas und Nicole geheim halten? Die Zwei kannten ihn so gut wie sonst niemand. Selbst Anita, die er viel weniger kannte, hatte schon bemerkt, dass er abgelenkt war. Mit etwas Glück könnte er das gegenüber Nicole und Thomas darauf schieben, dass er ein bisschen verknallt in Anita war, doch früher oder später, da war er sich sicher, würden die Zwei ahnen, dass etwas nicht stimmte. Es war zum Haareraufen!

Bunte Bilder flackerten über die Kinoleinwand und hätte irgendjemand Oliver gefragt, woher denn auf einmal dieser Drache kam, er hätte es nicht sagen können. Oliver hatte nur eine sehr grobe Vorstellung, worum es in dem Film überhaupt ging. Ebensogut hätte ein brutaler Horrorsplatter laufen können oder die kitschigste romantische Komödie, die Hollywood zu fabrizieren wusste. Wie von selbst wanderte Olivers Blick zur Seite, zu Anita, die das zum Glück nicht bemerkte. Ebensowenig wie die Butter in ihrem Mundwinkel. Ein verstohlenes Grinsen huschte über Olivers Züge. Wären sie beide ein Paar, er würde die Butter einfach wegwischen, doch dazu hatte er im Moment nicht den Mut. Oliver zwang sich, wieder nach vorne zu schauen. Nicht, dass ihn noch jemand dabei ertappte, wie er Anita anstarrte. Diese Peinlichkeit würde er nach diesem bisher so verkorksten Wochenende nicht auch noch überleben. Dass Nicole längst bemerkt hatte, dass er über mehr als nur seine Gefühle für Anita grübelte, ahnte Oliver dabei nicht. Ebensowenig, dass Nicole längst Pläne gemacht hatte, um ihnen allen den Abend noch ein wenig zu versüßen. Sie kannte Oliver nämlich gut genug, um zu wissen, dass er einfach zusähe, wie die Gruppe sich nach dem Kinobesuch aufteilte, während er damit seine Chance verschenkte, Anita näher zu kommen. Jungs waren solche Idioten! Was für ein Glück, dass sie da war. Dafür hatte es sich gelohnt, auch fast zu spät zu kommen.
 

“Der Film war wirklich aufregend!”, ereiferte sich Anita und Oliver nickte aus reinem Reflex. Zumindest für die zweite Hälfte des Films stimmte das auf jeden Fall. Nur hatte er da schon fast nichts mehr verstanden, weil er während der ersten Hälfte fast nichts mitbekommen hatte. “Besonders gut hat mir die Szene gefallen, als Raymond sich plötzlich gegen Lisette und Cole wandte. Damit hätte ich einfach nie gerechnet! Ich war total sicher, dass Lisette die Verräterin wäre”, mischte sich Thomas in das Gespräch ein. “Habt ihr eigentlich auch das Ei bemerkt, das man ganz kurz sieht, während Lisette und Cole weglaufen? Wette, es gibt eine Fortsetzung.” “Eine? Du meinst zwei”, lachte Anita ungehemmt und meinte dann: “Das machen sie doch meistens so. Gibt es eigentlich eine Buchvorlage? Weiß das einer von euch?” Dieses Mal war es Nicole, die nickte. “Jap, gibt es. Ich habe die Romane sogar daheim. Meine Mutter hat sie vor einigen Jahren gelesen. Wenn du willst, leihe ich sie dir”, bot sie Anita an.

Oliver wünschte, er hätte die Bücher gelesen. Dann könnte er jetzt besser mitreden. Stattdessen war er schon froh, dass er überhaupt wusste, von welchen Charakteren seine Freunde hier sprachen. “Aber du musst auf Oliver warten. Ich hab ihm versprochen, dass er die Bücher zuerst kriegt”, grinste Nicole. Oliver stutzte. Natürlich hatte er nicht einmal gewusst, dass es Bücher zu diesem Film gab, doch im Stillen dankte er Nicole tausendfach dafür, dass sie ihn mit ihren Worten gut vor Anita dastehen ließ, auch wenn es ihm ein wenig peinlich war. “I-ist schon gut. Wenn du willst, kannst du sie zuerst lesen, Anita”, winkte er eilig ab. “Ach was, schon gut. Lies du ruhig zuerst. Aber wehe du spoilerst mich”, gab diese grinsend zurück. Lachend hob Oliver eine Hand wie zu einem feierlichen Schwur. “Du erfährst kein Wort von mir, versprochen.” "He, aber wehe ihr spoilert uns, wenn ihr alle Bände gelesen habt", mischte sich Thomas ein, dem auch gedämmert war, was Nicole hier einfädelte, die sofort mit einstimmte. "Genau, es sind nämlich fünf Bücher. Behaltet also hübsch alles für euch oder fachsimpelt ohne uns." Anita und Oliver lachten gleichzeitig. "Einverstanden, einverstanden", grinste Oliver seine beiden Freunde an. Was wäre er nur ohne die beiden?
 

Seit er denken konnte, war er schon mit Thomas und Nicole befreundet. Sie hatten alles zusammen durchgemacht. Kindergarten, Grundschule und schließlich die Aufteilung in neue Klassen. Zum Glück hatte man das Trio nie getrennt. Ohne die beiden hätte sich Oliver ziemlich einsam gefühlt und nicht anders wäre es auch Thomas und Nicole ergangen. Die Drei teilten einfach alles und hatten keine Geheimnisse voreinander. Als Thomas heimlich eine Maus adoptiert hatte, die er aus den Fängen der Nachbarskatze befreit hatte, hatten Nicole und Oliver geholfen, das kleine Tier zu verstecken und zu füttern, ohne dass Thomas' Eltern davon Wind bekamen. Letzen Endes waren sie leider dennoch aufgeflogen und hatten das Tier zusammen mit Thomas' Vater im Garten freigelassen. Als sich Nicole Hals über Kopf in Mark verliebt hatte, waren Thomas und er die ersten gewesen, denen sie sich anvertraute. Beide hatten für Nicole Spione gespielt und versucht, alles mögliche über Mark herauszukriegen. Das war so weit gegangen, dass Jonathan, ein Mitschüler von Mark, sogar gedacht hatte, Thomas wolle mit Mark anbandeln. Noch heute zog Nicole Thomas gerne damit auf, dem das nach wie vor tierisch peinlich war.

Und genauso hatte Oliver seinen Freunden ganz offen erzählt, dass er sich in Anita verguckt hatte, als er sich dessen bewusst wurde. Nicole hatte ihn nur ausgelacht, sehr zur Verwunderung der beiden Jungs. Das sei doch absolut offensichtlich gewesen. Sie wisse das schon seit Wochen, hatte Nicole großspurig kundgetan. Sie hatte jedoch nie auch nur den kleinsten Ton darüber verlauten lassen - niemandem gegenüber. Ebensowenig Thomas, der sogar versprochen hatte, sich mal bei seinen älteren Schwestern zu erkunden, wie man denn am besten ein Mädchen anspräche. Oliver wusste, dass er das nicht leichtfertig dahersagte, denn zweifellos müsste Thomas sich dafür allerlei Spott von Janina und Valerie anhören, die ihren süßen kleinen Bruder zu gerne neckten.

Nein, seinen Freunden konnte er blind vertrauen und dazu zählte er auch Anita, auch wenn Oliver klar war, dass er sie betreffend eine rosarote Brille trug. Anita war zwar in erster Linie Nicoles Freundin, doch sie verstanden sich alle zusammen ziemlich gut und wenn er ganz ehrlich mit sich war, wollte er vielleicht auch einfach nur, dass sie dazu gehörte und er sich auch ihr anvertrauen konnte. Immerhin würde so ein Geheimnis sie doch zusammenschweißen, oder? Auf der anderen Seite war die Vorstellung, ihr sagen zu müssen, dass er eine verdammte Fee war - selbst in seinem Kopf klang das schrecklich kitschig und falsch - so dermaßen unangenehm, dass Oliver sich schon jetzt auf den Mond wünschte. Hoffentlich würden seine Freunde ihm das überhaupt glauben.
 

Oliver atmete tief durch. Er hatte keine Ahnung, wie er das Thema am besten anschneiden sollte. Und wo. Hier auf offener Straße vor dem Kino erschien ihm allerdings nicht die beste Idee. "Habt ihr vielleicht Lust, noch irgendwo hinzugehen? Vielleicht etwas essen? Mäcces?", schlug er hörbar unsicher vor. Nicoles Grinsen wurde breiter. Das war ihr Stichwort. "Oh, das hätte ich fast vergessen. Meine Ma hatte für ihren Mädelsabend einen kleinen Raum in der Karaoke-Bar nicht weit von hier reserviert, aber Zwei haben wohl abgesagt. Wenn wir wollen, können wir die Reservierung nutzen." Zufällig war davon natürlich überhaupt nichts. Immerhin hatte sie, einer spontanen Eingebung folgend, den Raum selbst noch vor dem Kinobesuch reserviert. Nicole warf einen vielsagenden Blick zu Thomas, der wie ertappt dreinsah. Es war kein Geheimnis, wie sehr Thomas es hasste, zu singen. Zugegeben: Er war wirklich unmusikalisch wie ein Stück Brot. "J-ja, klingt gut. Was sagt ihr?", stammelte Thomas nun aber und sah eilig von Nicole zu Oliver und Anita. "Klar, wieso nicht?" Oliver zuckte mit den Schultern. Schlimmer zum Idioten machen als Thomas konnte er sich dabei ja nicht und immerhin würden sie in dem kleinen Raum nicht belauscht, sodass er seinen Freunden dort erzählen konnte, was ihm auf der Seele lag. "Ich war noch nie beim Karaoke", meinte Anita zögerlich, nickte dann aber. "Solange sich keiner beschwert, wenn ich schief singe, bin ich dabei." "Prima. Es ist auch wirklich nicht weit. Gleich hier um die Ecke. Sie haben da übrigens auch superleckere Kartoffelecken mit so einem Kräuter-Dip", meinte Nicole gut gelaunt, sich bei Anita einhakend und diese mit sich ziehend, damit diese es sich auch ja nicht anders überlegte.

"Smith... Smith..." Der Angestellte der Karaoke-Bar ließ seinen Finger über einen dicken Kalender wandern, dann nickte er, murmelte etwas Unverständliches, reichte Nicole dann aber einen Schlüssel über die Glastheke. "Möchtet ihr schon etwas zu Trinken bestellen? Dann könnt ihr es direkt mitnehmen", leierte der junge Mann herunter. Ihm war anzumerken, dass das einzige, was ihn an seinem Job interessierte, der Feierabend war. "Wir nehmen vier Cola mit", entschied Nicole kurzerhand und steuerte dabei schon den Kühlschrank neben der Theke an, um die Flaschen selbst herauszuholen. "Wir brauchen auch keine Einweisung. Ich kenne mich aus", flötete Nicole gut gelaunt weiter, während ihre drei Freunde etwas bedröppelt herumstanden. "Alles klar. Dann wünsch ich viel Spaß. Ich geb euch fünf Minuten vor Schluss eurer Session Bescheid."
 

Kaum, dass die Tür hinter ihm zugefallen war, dämmerte Oliver auch schon, dass hier nicht der Zufall, sondern Nicole am Werk war. Die saß schon neben Thomas, sodass nur noch neben Anita Platz war. Unsicher ließ er sich auf das dunkle Leder sinken. "Bevor wir anfangen...", begann er leise, "gibt es da noch etwas, das ich euch sagen muss." Nicole horchte merklich auf. Oliver ahnte, worauf sie hoffte, doch das hier würde ganz sicher kein Liebesgeständnis an Anita werden. "Meine Familie hat mir am Wochenende etwas erzählt", druckte er herum. Thomas grinste. "Etwa ein dunkles Familiengeheimnis?" Er ahnte ja nicht, wie nahe er damit der Wahrheit kam. "So ähnlich?", gab Oliver ausweichend zurück, seufzte dann und griff nach seiner Cola, nahm einen großen Schluck und begann dann stockend von der Familienfeier zu berichten.

"Naja", endet Oliver schließlich. "Das ist es jedenfalls. Sie sagen, ich bin eine Fee und hätte ich nicht die Flügel von Oma gesehen, ich würds nicht glauben. Echt nicht! Aber sie waren wirklich echt", beteuerte er, von einem seiner Freunde zum nächsten schauend. Nach Thomas' kleinem Scherz über das dunkle Familiengeheimnis hatte keiner mehr etwas gesagt, so offenkundig war der Ernst in Olivers Stimme gewesen. Jetzt, wo alles raus war, fühlte er sich fast etwas erleichtert, obwohl er nicht wusste, was seine Freunde eigentlich mit diesem Wissen anfangen sollten, wenn sie ihm denn überhaupt glaubten. "Also...", ergriff Thomas schließlich als erster das Wort, "kaufen wir dir jetzt Zauberstab und Tutu?" Schweigen legte sich über die Gruppe, dann prustete Oliver los und vertrieb die Anspannung damit. "Wag es ja nicht!" Thomas fiel ins Lachen ein. "Was sonstg? Beglitterst du mich?" Am liebsten hätte Oliver etwas nach seinem Freund geworfen, doch im Grunde war er heilfroh, dass Thomas das Ganze so gelassen nahm. Nicole kicherte leise in sich hinein und auch Anita lachte jetzt. "Wir werden das niemandem erzählen. Du bist immer noch du", befand Anita lächelnd und am liebsten hätte Oliver sie sofort in die Arme geschlossen, so dankbar war er ihr für diese Worte und dafür, dass ausgerechnet sie sie aussprach. Für Oliver war das Fee-Problem damit gefühlt schon halb erledigt. Immerhin änderte sich ja sonst nichts, oder? Alles blieb beim Alten. Er lebte sein Leben weiter, brauchte keine Geheimnisse vor seinen Freunden haben und vielleicht, nur vielleicht, fände er ja den Mut, Anita nach einem Date zu fragen.



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