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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Prolog

Seit je her begab es sich, dass in den Familien der größten und tapfersten Krieger ein Kind am Jahrestag eines Gottes geboren wurde, das seine Mutter oder seinen Vater an Stärke, Geschick und Intelligenz um ein Vielfaches übertreffen sollte. Gesegnet durch die Götter, denen ihre Eltern ihre Taten gewidmet hatten, sollten jene Kinder zu ihren erwählten Streitern werden, geboren als Krieger, auserkoren im Namen ihres Gottes zu handeln. Sie sollten mit unbändigem Willen ihr Schwert gegen ihre Feinde führen, von denen sie in einem fairen Zweikampf niemals zu besiegen sein sollten. Jene Kinder wurden kaum passender Dorashen genannt, was in der alten Sprache "Streiter der Götter" bedeutete.

Alsbald wurden die Fähigkeiten jener, die durch den Segen der Götter als Übermenschen geboren worden waren, von sämtlichen Kaisern der verschiedenen Zeitalter als Werkzeuge in Kriegszeiten genutzt. Der Ruhm der Dorashen wuchs mit jeder Schlacht, die sie zugunsten ihrer Herrscher wendeten, und mit jedem Jahr im Zeichen des Friedens, das durch ihre Klingen zustande gekommen war.

Doch was den Göttern gefiel, schürte die Angst und den Neid der Menschen, die von allen Völkern des Lichts am ehesten von verderbten Gefühlen heimgesucht werden konnten, und mit dem Ruhm der göttlich Berührten wuchs auch die Furcht und die Abneigung, die ihnen zuteilwurde. Einfache Bürger fürchteten die Macht der Dorashen, der einflussreiche Adel, der um das unglaubliche Potenzial der Gesegneten wusste, neidete ihnen ihr Ansehen bei den Imperatoren, und eines schlimmen Tages wurde selbst einer jener Kaiser von der Angst vor der Macht der Gottesstreiter übermannt.

Livar der Rechtschaffene, so wurde jener Herrscher ironischerweise genannt, der solch unsägliches Leid über die Erwählten der Götter bringen sollte. Die falschen Zungen seiner eifersüchtigen Berater versetzten den Kaiser in Unruhe, ebenso wie die zahlreichen Proteste des niederen Volkes. Denn was die einfachen Bürger nicht verstanden, erfüllte sie mit Schrecken, und was sie schreckte, das versuchten die Menschen seit jeher zu vernichten.

So begab es sich, dass Livar der Rechtschaffene der erste Kaiser der Reiche war, der den Dorashen nicht mit der Würde seiner Vorgänger entgegentrat. Und ein jeder Kaiser, der ihm folgte, führte seine Abneigung gegen die Gottesstreiter fort. Immer seltener schenkte ihnen der Herrscher seine Dankbarkeit, immer erbärmlicher wurde ihr Leben, in das sie gezwungen wurden, und immer selbstverständlicher wurde es, dass ihre Herren sie behandelten wie austauschbares Nutzvieh. Bald waren sie nichts weiter als die Geheimwaffe der Kaiser, die ein jeder Herrscher nur noch in Zeiten größter Not entblößte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld den Sieg für ihre Herren errangen, dann lebten sie ebenso unwürdig, wie es die Bettler in den Gossen der Städte taten. Sie waren verflucht zu einem Leben zwischen ewigem Kämpfen und ewigem Leiden.

So geschah es, dass sich in Zeiten, in denen die Kaiser sich kaum noch der schändlichen Taten ihres Vorgängers bewusst waren, die ersten Dorashen von ihrem Herrscher abwandten und ihn im Stich ließen. Ein Dorashen nach dem anderen folgte dem Beispiel der Abtrünnigen und bald waren sie in alle Himmelsrichtungen zerstreut.

Fortan wurden sie als Verräter geächtet und dazu gezwungen, ein Leben als ausgestoßene Vagabunden zu führen. Nicht wenige zogen als Räuber und Briganten durch die Lande, überfielen Handelskarawanen und stahlen, was sie zum Überleben benötigten, und mit jedem ihrer Verbrechen wuchs der Hass der Bevölkerung mehr. Schließlich blieb dem Kaiser keine Wahl mehr. Die Unruhen in seinem Volke waren zu groß, als dass er das Treiben der Dorashen hätte tolerieren oder jene gar um Vergebung für die Ungerechtigkeiten seiner Vorgänger hätte bitten können. Man ließ sie suchen und nicht wenige verblendete Dorashen-Jäger, hatten sich zum Ziel gesetzt, alle Gottesgesegneten vom Antlitz der Welt zu tilgen. Und obwohl die Dorashen unzähmbare Krieger waren, so waren ihnen die Soldaten und Patrouillen des Kaisers doch hundert zu eins überlegen. Die Helden von einst waren zu Feinden geworden.

Nach diesen Geschehnissen wurden nur noch sehr wenige Dorashen geboren und diejenigen, die noch auf freiem Fuß waren, mussten ein Leben voller Ungerechtigkeit ertragen, ein Leben als ständig gejagte Ausgestoßene, die von Ort zu Ort ziehen mussten, ein Leben als Räuber, ein Leben derer, gegen die sie einst zu Felde gezogen waren, ein Leben, das nur noch einem Zweck diente: Dem Überleben.
 

Der Junge war erst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, doch er war von solch kräftiger Statur, dass er schon hätte Mitte zwanzig sein können. Er lebte auf der Straße, seine Eltern hatte er, soweit er sich erinnerte, noch nie gesehen und ein Haus hatte er erst wenige Male in seinem Leben betreten. Er saß jeden Tag, unabhängig von den Launen des Wetters, am Rande der Straße, und ließ den leeren Blick seiner tiefschwarzen, ausdruckslosen Augen in den Himmel schweifen.

Der Junge hatte unglaubliche Kräfte, denen allein er es zu verdanken hatte, noch am Leben zu sein. Man achtete und verachtete ihn gleichermaßen hier in diesem Dorf, in dem er angeblich geboren wurde, ohne dass er selbst die leiseste Erinnerung an eine Familie hatte. Für einen kräftigen jungen Mann, wie er einer war, hatte man im Fürstentum von Vingrat immer Arbeit. In den weiten Ebenen wurde Getreide angepflanzt und auf den sanft geschwungenen Hügeln wurde Weinbau betrieben. Jede noch so niedere Arbeit, die man von ihm verlangte, erledigte der Junge gewissenhaft und besser, als es die meisten Knechte der ansässigen Landwirte taten, und dennoch wurde ihm nur ein mickriger Lohn ausgezahlt, der ihn gerade so am Leben erhalten konnte. Und obwohl es Zeiten gab, in denen der Hunger ihn beinahe den Verstand kostete, konservierte sein Körper seine beachtlichen Muskeln Jahr ein, Jahr aus.

Für die vielen Landwirte und Winzer war er ein interessanter Tagelöhner. Es gab niemanden, der ihn hier mochte und so beschwerte sich auch niemand, wenn man dem Jungen einen erbärmlichen Lohn gab. Er wurde verachtet, gehasst und im Stich gelassen. Er selbst wusste kaum etwas über sich, weder wer seine Eltern waren, noch woher die kreuzförmige Narbe an seiner Wange stammte oder warum sie nicht richtig verheilte, wie seine anderen Verletzungen. Er wusste lediglich seinen Namen und dass in seinen Adern besonderes Blut floss.

Der Junge war ein Dorashen.

Es war nichts anderes als die Furcht seiner Mitmenschen, die Furcht vor etwas Übernatürlichem, die ihn in sein unwürdiges Leben zwang. Er wusste, dass er froh sein konnte, einer der wenigen Dorashen zu sein, die noch nicht vertrieben worden waren und von Ort zu Ort ziehen mussten.

Das Dorf, in dem der Junge sein Leben fristete, seit er denken konnte, lag ganz im Norden des Fürstentums und trug den Namen Narinfen. Die Bevölkerung strotzte nicht gerade vor Reichtum, doch eigentlich fehlte es ihr an nichts, außer ein wenig Abwechslung. Deshalb bereitete es beinahe jedem Bewohner Narinfens ein diebisches Vergnügen, den jungen Dorashen zu schikanieren. Er war das perfekte Opfer. Obwohl er die Hoffnung längst aufgegeben hatte, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und den Dorfbewohnern je bessern würde, ließ er sich nur schwer aus der Ruhe bringen. Er saß oftmals einfach nur schweigend und regungslos da, auch wenn seine Mitmenschen ihn mit faulem Obst, Gemüse oder gar mit Steinen bewarfen.

So saß er auch an jenem Herbsttag, an dem es für diese Region ungewöhnlich kalt war, verloren und alleine auf der Straße. Hinter ihm, am Fuße eines sanft abfallenden Hanges, rauschte der Fluss Mirisa, der durch den Regen immer reißender wurde. Es war ein wirklich ungemütliches Wetter, stoßweise pfiff ein scharfer Wind durch die Gassen des beinahe menschenleeren Dorfes und wirbelte die vom Himmel fallenden Regentropfen wild durcheinander. Nur wenige Bewohner wagten sich bei diesen widrigen Bedingungen freiwillig aus ihren behaglichen Häusern und Hütten.

Der Junge hatte ohnehin keine Wahl, er hatte kein Obdach, doch das machte ihm längst nichts mehr aus. Er hatte schon eine Hand voll eisiger Winter auf der Straße überstanden und mehr als doppelt so viele brütend heiße Sommer. Sein Körper war durch die Wettereinflüsse gestählt worden und weder Hitze noch Kälte konnten ihm so schnell etwas anhaben. Seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt und von der Sonne gebräunt, seine Kleidung, kaum mehr als Lumpen, war zerfetzt und löchrig und als Gürtel für die viel zu große, flickenbesetzte Hose diente ihm lediglich ein altes Seil. Das einzige Werkzeug und zugleich die einzige Waffe, die er besaß, war ein verwittertes Hackebeil, das ihm einmal der örtliche Fleischer anstelle einiger Münzen als Lohn überlassen hatte. Er benutzte es für alles, wofür er seine Hände nicht verwenden konnte, rationierte damit seine seltene und meist spärlich ausfallende Verpflegung, stutzte sich die langen Haare auf dem Kopf und die spärlich sprießenden Bartstoppeln an seiner Wange und hatte sich damit schon mehr als einmal ein paar hungrige Wölfe oder streunende Hunde, die sich zu nahe an ihn herangewagt hatten, vom Leib gehalten. Das schlichte Metzgerwerkzeug war für ihn längst eine Verlängerung seines Armes geworden, ein Teil seines Körpers, der ebenso wenig wegzudenken war wie seine Hand.

Das einzige, was der Junge an diesem Tag zu essen hatte, war ein halber Laib Brot, der bereits schimmelte. Er hatte nie gelernt, wählerisch zu sein und stattdessen rasch begriffen, dass es ratsam war, jedes bisschen Nahrung so gut wie irgend möglich einzuteilen. Der Wind pfiff durch seine schwarzen Haare, ließ seine lose Kleidung wild um seinen Körper flattern und rüttelte heftig an den Weizenhalmen, die der Junge im Mundwinkel trug und auf denen er gedankenverloren herumkaute. Gerade als er eine dünne Scheibe Brot abschnitt, um sie sich einzuverleiben und seinen schimpfenden Magen zu beruhigen, kamen die Winzer aus ihren Weinbergen zurück ins Dorf. Der Einbruch der Nacht und der einsetzende Regen hatten sie dazu veranlasst, ihre Arbeit für den heutigen Tag zu beenden. Angeführt wurden sie von den Brüdern Padros und Valpen. Padros, der Ältere der beiden, war der Besitzer des größten Weingutes in der Grafschaft Vingrat und belieferte sogar den Kaiserlichen Hof. Er war der mit Abstand reichste Mann in Narinfen und verachtete den jungen Dorashen zutiefst.

Sein jüngerer Bruder Valpen dagegen schien ihm nicht wirklich mit Abscheu zu begegnen, denn er gehörte zu den wenigen Bewohnern Narinfens, die dem jungen Vagabunden ab und zu etwas Proviant in Form einer Weintraube oder eine Flasche Wasser überließen.

Padros hatte fürchterliche Laune. Das wechselhafte Wetter hatte seine Arbeiter ausgebremst und die Weinlese war an diesem Tag nicht so weit fortgeschritten, wie er es sich erhofft hatte. Als Padros den Dorashen erblickte, schnaubte er verächtlich durch die Nasenflügel. Für ihn war der junge Stadtstreicher genau das richtige Opfer, um seiner Wut freien Lauf zu lassen.

"Passt mal auf!", rief er seinem Bruder und den anderen Winzern zu. "Jetzt werde ich dem kleinen Teufelssohn da drüben mal ein paar Takte erzählen." Mit festen Schritten stapfte Padros auf den Dorashen zu, trat gezielt auf den halben Laib Brot und zerdrückte ihn unter seiner dicken Sohle zu Brei.

"Oh nein. Habe ich etwa gerade Eure Tagesration zertreten, oh mächtiger Krieger?", höhnte er. Erst jetzt hob der Junge hob den Kopf und blickte den Mann ausdruckslos an. Der Wind wehte ihm die Strähnen seines schwarzen Haares in die Stirn.

"Nicht meine Tagesration“, gab er tonlos zurück. „Das ist mein Vorrat für die ganze Woche.“

Padros erwiderte den ausdruckslosen Blick seines Gegenübers verächtlich und schob den zertretenen Laib Brot mit der Stiefelspitze in eine Schlammpfütze.

"Kann ich mir denken, dass du armer Schlucker wieder mal am Hungertuch nagst“, knurrte er wütend. „Aber mach dir nichts draus. Das Zeug war ohnehin schon verschimmelt. Ich habe dir nur einen Gefallen getan.“

Der Dorashen antwortete nicht. Stattdessen streckte er die Hand aus und griff nach dem zertretenen Laib. Ohne auf Padros zu achten, schnitt er sich eine weitere Scheibe ab und schob sich die schlammige Masse in den Mund, die einmal Brot gewesen war.

Als er bemerkte, dass seine Grausamkeit einfach ignoriert wurde, schwoll Padros‘ Zorn ins Unermessliche an. Er ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen und starrte voller Hass und Abscheu auf den Jungen herab.

„Du widerlicher, kleiner Penner“, grollte er. „Mach, dass du wegkommst!“

Padros trat dem Dorashen vor die Brust und dieser kippte etwas unbeholfen nach hinten um. Er betastete prüfend seine geschundenen Rippen und setzte sich wieder auf. "Ich werde hierbleiben“, erwiderte er. "Denn dies ist meine Heimat."

Die ruhigen Worte und der ausdruckslose Blick des Jungen machten Padros nur noch wütender. Er hörte die anderen Winzer in seinem Rücken tuscheln und beschloss, seinem Gegenüber dessen nichtssagenden Blick persönlich aus dem Gesicht zu wischen.

„Heimat! Von wegen!“, brüllte er und zog ein Messer aus seinem Gürtel. „Ihr Dorashen habt es nicht verdient, in unseren Dörfern geduldet zu werden! Ihr seid nur eine Bande von verfluchten, kleinen Halunken! Eine Ratte wie du hat in Narinfen nichts verloren! Ich schlag dich tot!“ Padros holte weit aus, doch bevor er zustoßen konnte, mischte sich Valpen ein.

"Padros, beruhige dich!“, rief er seinem Bruder eindringlich zu und packte ihn beim Arm. „Ich lasse nicht zu, dass du zum Mörder wirst." Seine Worte durchdrangen die dunkle Wolke aus Hass, die Padros umgab. Er ließ das Messer fallen und zögerte für einen Moment. Doch dann trafen seine Augen wieder den leeren Blick des Dorashen und etwas in Padros‘ Innerem schien zu zerbersten. „Misch dich da nicht ein!“, brüllte er seinen Bruder an und riss sich los. „Ein Mann, der einen Dorashen tötet, ist ebenso wenig ein Mörder wie ein Jäger, der einen Hirsch erlegt!“ Valpen stolperte zurück und purzelte mit einem erstickten Aufschrei den Hang hinunter, wo er in der aufziehenden Dunkelheit der Dämmerung verschwand. Padros würdigte seinen stürzenden Bruder nicht eines Blicks, sondern schlug dem Jungen die Faust ins Gesicht. Die Wucht des Treffers streckte den Dorashen zu Boden und Padros fiel wie rasend über ihn her. Er prügelte in blinder Wut auf sein Opfer ein, das sich unter seinen brutalen Schlägen zusammenrollte und seinen Körper mit den Armen schützte. Ein widerliches Knacken ertönte, als er dem Straßenjungen einen letzten, heftigen Tritt gegen den Kopf verpasste. Padros ließ kurz von dem Burschen ab und sah gehässig zu, wie er wegrobbte und sich mit einer Hand ins Gesicht fasste. Er tastete nach seiner malträtierten Nase und starrte fassungslos auf das dunkle Blut an seinen Fingern.

Padros knurrte verärgert und wollte erneut auf den Dorashen losgehen, doch als er bemerkte, dass sich der Gesichtsausdruck seines Gegenübers plötzlich veränderte, hielt er einen Augenblick lang inne.

„Ihr habt mich verletzt“, murmelte der Junge wie in Trance. Er war es gewohnt, mit faulem Obst und Steinen beworfen zu werden, doch noch nie hatte ihm einer der Bewohner Narinfens eine Verletzung zugefügt, die blutete. Der Schmerz in seiner gebrochenen Nase und der Anblick seines eigenen Blutes an seinen Fingern entfachten in der Brust des Dorashen ein überwältigendes Gefühl, das er bislang nicht gekannt hatte. Heiß und brodelnd kochte es in ihm hoch und fuhr in jede Sehne und jeden Muskel seines Körpers.

Padros‘ Zorn kehrte zurück. „Fein erkannt“, zischte er wütend, dann schlug er erneut zu.

Mit einem Mal schienen die sonst so leblosen Augen des Dorashen regelrecht aufzulodern. Seine Hand schoss blitzschnell nach oben und packte Padros derart heftig an der Kehle, dass es ihm den Atem verschlug und er erschrocken nach Luft schnappte. Dann erhob sich der Dorashen und schleuderte Padros, der nur noch ein ersticktes Gurgeln von sich geben konnte, mit einer einzigen Armbewegung zu Boden. Padros überschlug sich, rollte den Hang zum Fluss hinab und wurde, wie sein Bruder kurz zuvor, von der Dunkelheit verschluckt.

Doch anders als bei Valpen, folgten zwei Geräusche, zunächst ein dumpfer Aufprall, dann ein erstickter Schreckensschrei, beides gerade laut genug, um das Tosen der von Wind und Regen aufgewühlten Wellen des Mirisa zu übertönen. Der junge Dorashen, der sich eben noch rasend wie ein Berserker verteidigt hatte, erstarrte und der Glanz seiner Augen erlosch. Einer unguten Vorahnung folgend, stieg er mit unsicheren Schritten den Hang hinab und starrte in die Dunkelheit. Das Rauschen des Flusses wurde lauter und er konnte bereits die ersten Wellen erkennen, die vom Wind und den nachdrängenden Wassermassen immer weiter angepeitscht wurden.

Dann entdeckte er am Ufer eine zusammengesunkene Gestalt, die über einem ausgestreckten Körper kauerte. Der Dorashen näherte sich vorsichtig und erstarrte dann vor Schreck zu Stein.

Padros lag reglos am Boden und in seinen ausgebreiteten Gliedmaßen steckte nicht einmal mehr der kleinste Hauch von Leben. Der locker im Erdreich steckende Stein, an dem sein Schädel aufgeplatzt war wie eine überreife Melone, war über und über mit Blut bedeckt. Valpen kauerte über seinem Bruder und die Tränen rannen ihm über das Gesicht. Als er den Dorashen bemerkte, hob er den Kopf und sah dem jungen Mann direkt in die Augen.

"Du hast ihn umgebracht.“, hauchte er zitternd. Die gedämpften, unruhigen Stimmen der Winzer, die noch ratlos auf der Straße oben am Hang standen, brachten wieder Leben in die gelähmte Zunge des Jungen.

"Das...das wollte ich nicht.“, stammelte er und erst im nächsten Moment schien er zu begreifen, was Valpens verbittert hervorgestoßener Satz bedeutete. Mörder. Wie ein Pfeil bohrte sich das Wort in seinen Körper und er griff sich an die Brust, als hätte es sein Herz durchstoßen.

Valpen sah ihn tränenüberströmt an und es war unmöglich zu sagen, welche Gefühle außer Trauer sich in seinen Augen noch spiegelten.

"Nur wenige Dorashen wollten das, was sie taten“, flüsterte er mit bebender Stimme. "Du solltest besser von hier verschwinden, bevor es zu spät ist.“

Der Junge starrte ins Leere, als hätte er einen Geist gesehen. „Geh schon!“, rief Valpen drängend. „Du hast einen der einflussreichsten Männer aus Vingrat getötet. Man wird dich suchen! Verschwinde endlich!“

Der Schock hatte den jungen Mann für den Moment völlig verwirrt und in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber Valpens Worte rissen ihn aus seiner Starre. Er wusste nicht, ob er sich bei ihm bedanken oder entschuldigen sollte. So drehte er sich einfach ohne ein Wort um und lief davon. Und wieder übermannte ihn ein Gefühl, doch diesmal fühlte es sich nicht heiß und brodelnd an wie zuvor. Dieses Gefühl war bitterkalt und glitt wie ein Eiswürfel seinen Rücken hinab.

Der Junge war gerade einen Steinwurf weit gekommen, als er hinter sich einen langgezogenen Aufschrei und wilde Flüche und Drohungen hörte. Er lief wie ein Besessener, weg von den Hütten und Häusern Narinfens, wo er sein ganzes armseliges Leben verbracht hatte, ohne jemals wissentlich ein Dach über dem Kopf gehabt zu haben. Er wagte nicht zurückzublicken und rannte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, immer am Fluss entlang, bis er hinter sich plötzlich das Getrappel von Hufen vernahm.

"Sie haben die Pferde geholt!", schoss es ihm durch den Kopf. Die heiseren Schreie derjenigen, die hinter ihm her galoppierten, wurden mit jedem Schritt lauter, der ihn von Narinfen forttrug. Die Ebenen von Vingrat boten ihm keinerlei Deckung oder Sichtschutz und die drei Monde durchbrachen die dunkle Wolkendecke am Himmel und tauchten das Flachland verräterisch in ihr silbernes Licht. Der Junge leistete sich für einen Sekundenbruchteil den Luxus, froh darüber zu sein, dass seine Verfolger nicht mit Bögen oder Armbrüsten bewaffnet waren, doch die Gewissheit, dass sie ihn einholen würden, war dennoch so erdrückend, dass er in seiner Angst den letzten, verzweifelten Ausweg wählte, der ihm noch blieb. Er blickte zurück, sah, dass die Reiter, die ihn jagten, erschreckend nah gekommen waren, und stürzte sich dann mit einem heiseren Aufschrei in den Fluss.

Wind und Regen hatten den Mirisa zu einer reißenden Todesfalle werden lassen. Die ungebändigte Macht der tosenden Wellen traf den Jungen wie ein Rammbock und warf seinen Körper wie eine Puppe hin und her. Die gewaltige Kraft des Wassers verängstigte ihn mindestens ebenso sehr wie das immer lauter werdende Schnauben der Pferde in seinem Rücken zuvor. Seine Verfolger zügelten ihre Rösser und blieben am Flussufer stehen. Der Junge konnte sich vorstellen, welche Drohungen sie ihm hinterherriefen, die im Tosen der Wellen untergingen. Die Welt um ihn herum wurde ein einziger Strudel und aus dessen Mitte breitete sich eine undurchdringliche Schwärze aus, die ihn vollständig umfing.
 

Es dauerte mehrere Minuten, bis der Junge registrierte, dass er Uferschlamm auf seiner Haut spürte. Langsam und flatternd öffneten sich seine Lider und er blickte in einen Sternenhimmel, der klarer hätte kaum sein können. Das Unwetter war vorbei und der Fluss hatte ihn an Land gespült. Mühsam richtete er sich auf und beförderte in einem Hustenanfall eine beträchtliche Menge Wasser aus seinen Lungen zu Tage. Erschöpft blickte er sich um und stellte fest, dass er die Orientierung verloren hatte und nicht wusste, wo er sich befand. Dafür hatte das Hackebeil, sein einziger Besitz, den unfreiwilligen Ausflug in den Fluss überstanden und ruhte noch immer fest verstaut im Gürtel des Jungen. Seine Muskeln brannten, als er sich ächzend die Uferböschung hinaufschleppte, aber er war entkommen und am Leben.

Plötzlich spürte er wieder den stechenden Schmerz in seiner gebrochenen Nase und sofort waren die Erinnerungen an die letzte Stunde zurück, Padros‘ Tod und die Flucht aus Narinfen, und mit ihnen eine grausame Erkenntnis, die ihn wie ein Hammerschlag traf. Er war nun ein Ausgestoßener und ihm wurde bewusst, dass es dieses lodernde Gefühl gewesen war, dass ihn zu einem Mörder und Ausgestoßenen gemacht hatte. Nie wieder wollte er sich von seinen Gefühlen übermannen lassen, und er spürte, wie ihm dieser Entschluss einen kalten Panzer um sein Herz legte.

Der Junge befühlte seine malträtierte Nase. Seine Regenerationskräfte als Dorashen sorgten dafür, dass der Knochen bereits wieder zusammenwuchs, aber es würde eine unheilbare Narbe in seiner Seele zurückbleiben, die ihn für immer daran erinnern würde, dass er einen Menschen getötet hatte. Er streckte den Arm aus und pflückte zwei Grashalme, die an der Uferböschung wuchsen. Geistesabwesend schob er sie sich in den Mund, kaute darauf herum und erhob sich langsam. Silbernes Licht beschien die befestigte Straße, die sich durch die schier endlosen Felder der Ebenen von Vingrat schlängelte, als wollten die Monde ihm den richtigen Weg weisen, und der Junge setzte sich in Bewegung.

Nach Osten.

Es war ein warmer Sommermorgen in der großen Kaiserstadt Kaboroth. Der glänzende Turm des Herrscherpalastes, vor Äonen von den Lichtelfen, den längst verschollenen Ureinwohnern Gäas, errichtet, reflektierte grell blitzend die Strahlen der Morgensonne. In der Kaserne der Kaiserlichen Armee versammelten sich die Soldaten gerade in der Kantine, um sich vor der Ausübung ihrer täglichen Pflichten oder speziellen Sonderaufträgen zu stärken. Einer der letzten Soldaten, die eintrafen, war Sason, Hauptmann der Kaiserlichen Armee und Kapitän der Küstenklinge, einem kleinen Kriegsschiff der Flotte. Unter seinen Vorgesetzten und Untergebenen war er gleichermaßen beliebt, denn trotz seiner tiefenentspannten Art, für die ihn seine Leute sehr schätzten, erledigte er seine Aufträge immer zuverlässig und zur Zufriedenheit der ihm vorgesetzten Stabsoffiziere, wenn auch stets in äußerst minimalistischer Manier. Sason selbst genoss die Privilegien seines Ranges, die ihm eine Menge Freiheiten erlaubten. Er hatte es perfektioniert, ein entspanntes Leben in den Reihen der Armee zu führen, und solange Lynea, die Göttin des Friedens, ihre schützende Hand über Ganestan hielt, sah der Hauptmann keine Veranlassung, etwas an seiner Einstellung zu ändern. Als Kapitän eines Kriegsschiffes war es seine Aufgabe, die Küstengebiete des Reiches zu sichern und so hatte er es meist mit Piraten zu tun. In der Kaiserstadt selbst hatte er keine Aufgaben und konnte während seines Aufenthaltes an Land gemütlich die Füße hochlegen. Auch wenn er die Seefahrt liebte, war sie für ihn unweigerlich mit Arbeit verbunden und er konnte deshalb nicht behaupten, dass er das Meer besonders vermisste.

Sason war ein stämmiger Mann mittleren Alters, ein geborenes Kämpfertalent, und seine dunkle Hautfarbe ließ erkennen, dass er nicht aus dem Herzland des Kaiserreichs, sondern von den Südlichen Inseln von Grimhagen stammte. Sein schwarzes, krauses Haar war an den Seiten gründlich abrasiert und auf dem Scheitel zu mehreren Reihen ordentlicher Zöpfe geflochten. Im Gegensatz dazu stand sein ungepflegter Dreitagebart, der das Muttermahl über dem rechten Mundwinkel fast verschwinden ließ. Und obwohl er durch sein unrasiertes Antlitz recht wild wirkte, lag auf seinem Gesicht mit den dauernd lächelnden Lippen und den kleinen, treuen Hundeaugen ein stets freundlicher Ausdruck, der ihn einfach sympathisch wirken ließ. Viele Kinder, die in der Kaiserstadt lebten und den kraftstrotzenden Kapitän kannten, hatten in seiner Nähe ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit und nicht wenige von ihnen nannten ihn liebevoll Onkel Sason.

Der Hauptmann suchte sich mit seiner Morgenration den Weg zur Tafel der Offiziere und fand seinen Platz neben einem blonden Soldaten. Obwohl Aluc noch jung war, hatte er die Laufbahn eines Unteroffiziers im Eiltempo durchschritten und befand sich nun in einer Position, in der er Untergebene hatte, die mehr als doppelt so alt waren wie er. Wie Sason bekleidete auch er den Rang eines Hauptmanns und galt als aussichtsreichster Kandidat für eine Beförderung zum Stabsoffizier. Er sprühte nur so vor Ehrgeiz und auch wenn das eine Eigenschaft war, die der gemütliche Sason überhaupt nicht nachvollziehen konnte, so hegte er seinem jungen Kameraden gegenüber doch große Sympathien. Aluc würde es noch weit bringen und Sason würde der Letzte sein, der seinem kometenhaften Aufstieg in der Hierarchie der Armee im Weg stehen würde.

Der Hauptmann von den Südlichen Inseln nahm neben seinem Kollegen Platz und gähnte zur Begrüßung herzhaft.

„Guten Morgen“, erwiderte Aluc. „Du bist spät dran.“

Sason sah sich blinzelnd um und rieb sich den letzten Sand aus den Augen. Tatsächlich hatten bereits einige Soldaten ihre Mahlzeit beendet und standen auf, um den Speisesaal zu verlassen. „Und wenn schon“, murmelte er. „Es war spät gestern Nacht.“

„Das Leben in der Kaserne tut dir nicht gut“, stellte Aluc mit einem Blick auf Sasons Bauch fest. „Seit deinem letzten Auftrag hast du ein bisschen zugelegt. Wie lange hattest du jetzt schon nichts mehr zu tun?“ Sason blickte beleidigt an sich hinab. Tatsächlich wölbte sich das wenig schmeichelhafte Leinenhemd, das er anstelle seiner Offiziersrüstung trug, ziemlich unvorteilhaft über sein nicht zu übersehendes Bäuchlein. Er verschränkte die Arme unterhalb der Brust und verdeckte dadurch seine Speckreserven. „Drei Monate“, antwortete er und gähnte erneut. „Die Piraten halten sich bedeckt. Es gibt keine Aufträge für mich. Und was ist mit dir? Arbeitest du schon wieder fleißig an der nächsten Beförderung?“

„Man tut, was man kann“, erwiderte Aluc und grinste. „Wenn ich Stabsoffizier bin, weht hier jedenfalls ein anderer Wind, mein Freund.“

Sason lachte. „Kann‘s kaum erwarten!“, rief er und wuschelte Aluc durch die blonden Haare. „Ich sollte es wohl besser ausnutzen, dir momentan noch auf der Nase herumtanzen zu können.“ Aluc knuffte Sason mit dem Ellbogen in die Seite und erwiderte sein Lachen. Die beiden balgten sich ein wenig, dann widmete sich jeder seiner Mahlzeit. Sason besah sich die Holzschüssel, in der eine nicht näher definierbare, bräunliche Masse schwamm, und verzog angewidert den Mund. „Die Köche haben sich wieder selbst übertroffen“, brummte er missmutig und winkte eine der Bediensteten zu sich. „Ich kann mich nicht erinnern, dass Erbrochenes auf dem Speiseplan der Offiziere steht“, beschwerte er sich mit einem Augenzwinkern. „Außerdem glaube ich auch nicht, dass es der Entwicklung unserer Soldaten besonders zuträglich ist, wenn sie so einen Fraß serviert bekommen!“

Das Dienstmädchen, dem Sasons tägliche Beschwerden schon längst bekannt waren, blieb vorerst souverän. „Esst es oder lasst es bleiben“, erwiderte sie im Vorbeigehen. „Etwas anderes bekommt Ihr heute nicht auf den Tisch.“

Sason sah ihr grinsend nach. „Sie können mir einfach nicht widerstehen.“

„Knallkopf“, brummte Aluc und verpasste Sason einen weiteren kumpelhaften Schlag in die Rippen. „Und jetzt hör auf mit dem Theater und iss, sonst spucken sie dir eines Tages noch in den Eintopf.“

Als alle anderen Soldaten den Speisesaal bereits verlassen hatten, saß Sason noch immer an seinem Platz. Er hatte sich noch zweimal einen Nachschlag bringen lassen, allerdings nicht ohne dabei zu betonen, dass der Eintopf genauso fürchterlich schmeckte, wie er aussah. Inzwischen war der Geduldsfaden des Dienstmädchens bis zum Äußersten strapaziert. Aluc leistete seinem Kameraden noch Gesellschaft, allerdings nur, weil er der Ansicht war, das arme Mädchen nicht mit Sason alleine lassen zu können. „Du benimmst dich wie ein Schwein“, konstatierte er und war darum bemüht, das Dienstmädchen mit einem nervösen Lächeln zu beruhigen.

„Mir wird hier ja auch Schweinefraß vorgesetzt“, erwiderte Sason. „He, ich hätte gern nochmal so eine Schüssel! Wenn man genug davon isst, gewöhnt man sich an den Geschmack.“ Das Dienstmädchen schwang wütend ihre Schöpfkelle, doch bevor sie damit nach Sason werfen konnte, hielt sie überrascht inne. Ein untersetzter, braunhaariger Mann betrat den Speisesaal. Seine hellblauen Augen wirkten schreckhaft wie die eines Rehs, doch sein Gang war entschlossen und seine Brust stolz geschwellt. Als Aluc den Mann bemerkte, sprang er sofort auf und salutierte.

Sason erkannte den Neuankömmling erst, als dieser direkt vor ihm stand. „Hauptmann Sason!“, rief er mit dröhnender Stimme. Sason kippte fast von seinem Stuhl und ließ die Holzschüssel fallen. Ungläubig starrte er auf den goldverzierten Harnisch, der den fassförmigen Torso des Mannes bedeckte und auf dem der Löwenkopf prangte, das Zeichen von Kaiser Hilmandir.

„Brigadegeneral Legis!“, japste er erschrocken und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass er zur Begrüßung eines Vorgesetzten zu salutieren hatte. „Wie kann ich behilflich sein?“

Legis musterte Sason und rümpfte die Nase. Der Hauptmann gab in seinem einfachen Leinenhemd, das er noch dazu mit mehreren Klecksen Eintopf besudelt hatte, ein alles andere als standesgemäßes Bild für einen Soldaten seines Ranges ab. „In diesem Aufzug könnt Ihr mir überhaupt nicht behilflich sein“, antwortete Legis. „Ich habe eine äußerst wichtige Aufgabe für Euch. Seine Majestät persönlich hat Euch aufgrund Eures guten Rufes für diesen Auftrag ausgewählt. Aber wenn ich Euch jetzt so ansehe, bezweifle ich, ob das die richtige Entscheidung war. Vielleicht sollte ich mich doch lieber an Hauptmann Aluc wenden.“

Sason brach der kalte Schweiß aus. Auch wenn er alles andere als ehrgeizig war, war ein Auftrag von Kaiser Hilmandir persönlich der größte Vertrauensbeweis, den ein Soldat erhalten konnte. Unter diesen Umständen schob er seine allseits gepriesene und gelebte Gemütlichkeit beiseite und zum ersten Mal bereute er es, nicht in seiner Uniform zum Frühstück erschienen zu sein. „Entschuldigt vielmals, Brigadegeneral!“, rief er hastig. „Wenn es der Wunsch seiner Majestät ist, werde ich diesen Auftrag selbstverständlich annehmen und zu seiner vollsten Zufriedenheit durchführen!“

Legis wandte sich unbeeindruckt ab. „Euer Glück, dass Ihr ein Schiff befehligt, Sason“, brummte er. „Das ist für diese Aufgabe nicht ganz unerheblich. Legt Eure Uniform an und meldet Euch dann bei mir. Ich hoffe für Euch, dass Ihr mich nicht allzu lange warten lasst.“

„Unter gar keinen Umständen, das versichere ich Euch!“, erwiderte Sason und salutierte. „Ich mache mich sofort auf den Weg!“

Legis schien zufrieden, nickte Aluc zu, der ebenfalls salutierte, und drehte sich um. Kaum hatte er den Speisesaal verlassen, da rannte Sason auch schon davon.

Das Dienstmädchen, das der Hauptmann zuvor fast in den Wahnsinn getrieben hatte, trat schadenfroh grinsend neben Aluc. „Dass ich das noch erleben darf“, lachte sie. „Hauptmann Sason in Eile.“

Aluc kratzte sich verlegen an der Wange. „Ach, wisst Ihr, er hat zwar einen sehr gewöhnungsbedürftigen Sinn für Humor, aber er ist eigentlich ganz in Ordnung und im Grunde seines Herzens ein wirklich guter Kerl“, sagte er.

„Weiß ich doch“, erwiderte das Dienstmädchen und hob die Holzschüssel auf, die Sason hatte fallen lassen. „Aber nachdem er uns ständig herumscheucht, tut es wirklich gut, zur Abwechslung auch mal ihn rennen zu sehen.“
 

Noch im Laufen riss sich Sason sein schmutziges Hemd vom Leib. Er sprintete in die Wohnbaracken der Kaserne, in Richtung Südflügel, wo sich sein Zimmer befand. Als Offizier genoss er das Privileg, sich das Zimmer mit niemandem teilen zu müssen. Er pfefferte das Hemd in die Ecke, griff sich eine saubere Tunika und streifte sie sich über. Anschließend nahm er hastig die schwere Dienstrüstung von den Haken, an denen sie an der Wand hing. Obwohl er ein erfahrener Soldat war, nahm das Anlegen des Panzers eine gewisse Zeit in Anspruch und Sason fluchte bei jedem Riemen, den er zu schließen hatte. Als die Rüstung schließlich saß, zog er den Gürtel an der Taille zu, legte Schulterplatten und Knieschoner an und schlüpfte in seine Fellstiefel. Zuletzt gürtete er sich sein stählernes Langschwert um. So gerüstet verließ er sein Zimmer und hastete, so schnell es das zusätzliche Gewicht von Waffe und Panzer erlaubte, in Richtung der Quartiere der Generäle.

Legis saß hinter einem Pult voller Papierstapel und ließ eine Schreibfeder wild über ein Dokument tanzen, als Sason ohne anzuklopfen in seine Kammer platzte. Der Brigadegeneral legte die Feder beiseite, faltete die Hände und hob argwöhnisch eine Augenbraue. „Alle Achtung. Ihr seid schneller hier erschienen, als ich erwartet hätte.“

„Der Ruf meines Kaisers hat mir wohl Flügel verliehen“, erwiderte Sason atemlos. „Worum geht es also, Brigadegeneral?“

Zur Antwort schob Legis wortlos einen Zettel über sein Pult. Sason nahm ihn entgegen und besah ihn sich stirnrunzelnd. Es handelte sich um einen Steckbrief, auf dem das Gesicht eines vernarbten, einäugigen Dunkelelfen abgebildet war. „Wer ist das?“, fragte Sason.

Legis sah ihn mit seinen seltsam schreckhaften Augen durchdringend an. „Ein Dieb“, antwortete er. „Ihr wisst, dass die Abteilung der Stadtwache, die meinem Befehl untersteht, für die Strafverfolgung in den Bereichen Raub und Diebstahl zuständig ist, nicht wahr? Dieser Kerl auf dem Steckbrief ist ein besonders dreister Halunke. Er nennt sich Hiob. Es ist ihm gelungen, in den Kaiserpalast einzudringen und wertvollen Schmuck aus der Schatzkammer zu entwenden, darunter auch unersetzliche Erbstücke der Linie der Kaiser.“

Sason schob nachdenklich die Brauen zusammen. Ein Einbruch in die Kaiserliche Schatzkammer war zwar in der Tat ein an Dreistigkeit kaum zu überbietendes Verbrechen, das zusätzlich Fragen nach den Sicherheitsvorkehrungen im Palast aufwarf, aber er verstand nicht ganz, warum Legis ihm davon erzählte. Wie er selbst ausgeführt hatte, war die Stadtwache dafür verantwortlich, auf den Straßen Kaboroths für Recht und Ordnung zu sorgen. „Und was hat das mit mir zu tun?“, erlaubte sich Sason eine Frage.

„Hiob tanzt uns schon lange auf der Nase herum“, antwortete Legis. „Wir hatten bis vor kurzer Zeit nicht die geringste Spur von ihm. Nun aber berichten unsere Späher, dass er Kaboroth verlassen hat und sich auf einer kleinen Insel namens Notting im Küstengebiet von Shalaine aufhalten soll. Ihr werdet mit Eurer Mannschaft dorthin segeln, Hiob aufspüren, festnehmen und nach Kaboroth überführen. Hier soll ihm der Prozess gemacht werden.“

Sason verstand immer weniger. „Ihr wollt wegen eines Diebes ein Kriegsschiff mobilisieren?“, fragte er ungläubig. „Versteht mich bitte nicht falsch, Brigadegeneral. Dieser Dunkelelf muss für seinen dreisten Einbruch zweifellos zur Rechenschaft gezogen werden, aber haltet Ihr das nicht für ein wenig übertrieben?“

„Ihr habt diesen Befehl nicht zu hinterfragen, Hauptmann!“, wies Legis ihn streng zurecht. „Es ist der Wille des Kaisers und Ihr wurdet auserwählt, diesen Auftrag auszuführen. Ihr solltet Euch geehrt fühlen.“

„Selbstverständlich, Brigadegeneral Legis!“, rief Sason hastig. „Ich mache mich sofort auf den Weg!“

„Eines noch“, hielt Legis ihn auf. „Der Kaiser wünscht, dass dieser Dieb lebend und unversehrt in Kaboroth ankommt. Es hat oberste Priorität, dass Ihr ihn ohne Zwischenfälle in die Kaiserstadt überführt. Haben wir uns verstanden?“

Sason standen Dutzende Fragen ins Gesicht geschrieben, aber er wagte es nicht, weiter nachzuforschen. Stattdessen nickte er verwirrt, salutierte zum Abschied dienstbeflissen und verließ das Quartier des Brigadegenerals. Nachdenklich schlurfte er die Gänge der Kaserne entlang. Er verstand nicht, weshalb man einen Kapitän wie ihn damit beauftragte, mit einem bemannten Kriegsschiff in See zu stechen, um einen Dieb dingfest zu machen. Hinzu kam, dass sein Weg ihn in fremdes Hoheitsgebiet führte. Die Insel Notting gehörte zu Shalaine, dem Reich des Dunkelelfenkönigs Sard, und lag im Binnenmeer, das Ganestan und Shalaine trennte. Während sich Hiob in Kaboroth aufgehalten hatte, war es offenbar keiner Stadtwache gelungen, seine Spur aufzunehmen. Und nun, da sich der Dieb in seine Heimat zurückgezogen hatte, erreichte die Kaiserstadt plötzlich und wie aus dem Nichts ein Bericht über seinen neuen Aufenthaltsort. Sason kam die ganze Sache äußerst seltsam vor und ihm schwirrte regelrecht der Kopf. Aber es war der Wille seines Kaisers, diesen Dieb nach Kaboroth zu überführen und Sason hatte bei seiner Vereidigung geschworen, den Befehlen seines Herrschers bedingungslos Folge zu leisten. Der Hauptmann nahm diesen Schwur sehr ernst.

Geistesabwesend steuerte Sason auf den Wohnflügel der Unteroffiziere zu. Schon von Weitem konnte er aus einem der Räume dort das vertraute Geräusch von Eisen hören, das in regelmäßigen Abständen immer wieder auf Holz traf. Sason blieb vor ebenjenem Zimmer stehen und klopfte. Die dumpfen Klänge aus dem Inneren verstummten und nur Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Sason blickte in das gerötete Gesicht eines brünetten, bärtigen Mannes, der beim Anblick des Hauptmanns sofort die Hand zum militärischen Gruß an die Stirn hob, aus der sich das lockige Haar trotz des recht jungen Alters des Mannes bereits auffallend weit zurückgezogen hatte.

„Guten Morgen, Hauptmann!“, rief der Soldat zackig. Er trug seine Uniform, eine eisenbeschlagene Lederrüstung, und in seinem Gürtel steckte ein Schwert, mit dem er offenbar bis zur Ankunft des Hauptmanns auf einen an einer Kette von der Decke hängenden Holzklotz eingeschlagen hatte. Die braunen Augen des Mannes funkelten fröhlich und aufmerksam.

„Guten Morgen, Cedric“, erwiderte Sason den Gruß müde. „Ist Sparva auch hier?“

In einer der Hängematten an der rückwärtigen Wand des Zimmers bewegte sich etwas und schließlich kam der rotblonde Schopf einer jungen Frau zum Vorschein. Sie machte ein Gesicht wie ein Bär, den man unsanft aus seinem Winterschlaf geweckt hatte. Im Gegensatz zu ihrem Zimmergenossen trug sie keine Uniform und stattdessen nur eine einfache, weite Tunika und ein rotes Wams. „Ach, Hauptmann“, murmelte sie verschlafen und bewegte die Hand wie in Zeitlupe zur Stirn. „Ihr seid es.“

Die Gegensätzlichkeit der beiden Soldaten zauberte Sason sofort ein Lächeln auf das stoppelbärtige Gesicht. Er kannte Cedric und Sparva besser als jeden anderen Soldaten der Kaiserlichen Armee. Seit er in die Offiziersränge aufgestiegen war, begleiteten ihn die beiden als treue Feldwebel und waren von Beginn an ein fester Bestandteil seiner Mannschaft an Bord der Küstenklinge gewesen. Die drei Soldaten pflegten längst eine enge Freundschaft, die auf tiefstem Vertrauen untereinander fußte und die längst über ihr Dienstverhältnis hinausging.

„Hört mal her!“, erhob Sason seine Stimme und blickte zuerst Cedric und danach Sparva an. „Es gibt Arbeit für uns. Wir stechen in See.“

„Muss das sein?“, brummte Sparva und drehte sich in ihrer Hängematte um. „Es ist doch noch früh.“

„Ja, es muss sein“, erwiderte Sason nachdrücklich. „Außerdem ist es schon Vormittag. Es handelt sich um eine Mission, für die uns seine Majestät der Kaiser persönlich auserwählt hat.“

Sparva hob erneut den Kopf. Sie wirkte immer noch müde, aber nicht mehr so missmutig wie zuvor. Cedrics rotwangiges Gesicht fing an zu strahlen. „Was für eine Ehre!“, freute er sich überschwänglich. „Hast du gehört, Sparva? Wir wurden von oberster Stelle auserkoren!“

„Ich bin ja nicht taub“, murrte die Soldatin und schälte sich quälend langsam aus ihrer Hängematte. Sie nahm auf einem Stuhl Platz und fing an, ihre Lederrüstung anzulegen. „Wann soll es losgehen?“

„So bald wie möglich“, antwortete Sason. „Cedric, du trommelst die Mannschaft zusammen. Sorg dafür, dass ausreichend Verpflegung für eine Woche an Bord geschafft wird.“

„Verstanden!“, rief Cedric und salutierte zackig. Sparva nestelte an den Riemen ihrer Rüstung herum und schlüpfte mit den Füßen in ihre Stiefel. „Was ist unser Ziel?“, erkundigte sie sich.

„Die Insel Notting vor der Küste Shalaines“, erwiderte Sason. „Alles andere erkläre ich später. Wir treffen uns an der Pier. Noch bevor die Sonne ihren Zenit erreicht hat, setzen wir Segel.“

Obwohl die Insel Notting zum Herrschaftsbereich des Dunkelelfenkönigs Sard gehörte, bildeten die Menschen einen Großteil der Bevölkerung. Die Bewohner lebten fast ausschließlich vom Fischfang und fristeten ein bescheidenes Leben. Die Insel war aufgrund ihrer vielen Sonnenstunden ein angenehmes Fleckchen Land inmitten des Binnenmeeres, wenngleich deutlich sichtbar war, dass sie schon bessere Zeiten erlebt hatte. Besonders der einstmals prächtige Hafen war längst vor die Hunde gegangen und bestand inzwischen nur noch aus einem schmalen Anlegeplatz, an dem nicht mehr als zwei Schiffe gleichzeitig ankern konnten. Große Mauerreste, die halb im Meer versunken waren, zeugten noch von den Ausmaßen, die der Hafen in früheren Zeiten angenommen hatte.
 

Einer der Bewohner Nottings war Craig, ein blonder Waisenjunge von siebzehn Jahren, der sein Leben in einem kleinen Lager am Fluss fristete und damit vollauf zufrieden schien. Er brauchte nicht viel und das Nötigste konnte er sich selbst beschaffen. Da es selbst im Winter selten kalt wurde, war sein weites Hemd die perfekte Bekleidung für das angenehme Klima auf der Insel. Um über die Runden zu kommen, hatte er sich über die Jahre ein kleines Arsenal hilfreicher Werkzeuge zugelegt. Mit Hammer und Nägeln besserte er seinen aus Brettern und Schiffsplanken gezimmerten Unterstand aus, falls ein seltener Sturm ihn derartig beschädigt hatte, dass er den noch selteneren Regen nicht aufhielt, mit einer Säge schnitt er Treibholz auf die richtige Größe zu, um es zur Reparatur verwenden zu können, und seine alte Angel taugte noch genug, um den einen oder anderen dicken Fisch aus dem Wasser ziehen zu können.

Obwohl die alten Brandnarben auf seinem Nasenrücken und seinen Wangen die Geschichte einer schweren Vergangenheit erzählten, war Craig ein fröhlicher und lebenslustiger Zeitgenosse. Er war beliebt bei den anderen Bewohnern der Insel, da er stets tatkräftig mitanpackte, wann immer man ihn um etwas bat. Er verlangte nie etwas als Gegenleistung für seine Hilfe und nicht wenige seiner Mitmenschen schüttelten immer wieder verständnislos den Kopf, wenn er eine Bezahlung ablehnte. Sie konnten nicht verstehen, dass er alles, was er brauchte, eigentlich schon besaß.

Natürlich war der hochgewachsene Junge immer froh, wenn er umsonst ein paar Vorräte bekam. Es kam immer wieder vor, dass ihm der Fisch, den er für gewöhnlich an seinem kleinen Lager am Fluss angelte, zum Hals heraushing, und so freute er sich immer, wenn ihm einer der Inselbewohner ein Stück Räucherschinken oder ein wenig Gemüse überließ. Für die gesamte Bevölkerung Nottings war er schon so etwas wie ein Familienmitglied, das kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte. Allerdings hielt er sich mit Besuchen in den Wohnhäusern dezent zurück. Der einzige Ort, den er regelmäßig aufsuchte, war die Taverne der Insel.

Das einzige, was dem Craig wirklich fehlte, waren Abenteuer. Das Leben auf der Insel war eintönig und in seinem jugendlichen Tatendrang sehnte er sich danach, mit seinem Schwert loszuziehen und die Welt zu erkunden. Die Waffe, deren Griff und Heft mit Silber veredelt waren, war sein einziger wirklich wertvoller Besitz und er würde sich niemals davon trennen. Er verwahrte es sicher in einer Truhe in seiner Hütte, holte es aber immer wieder hervor, um es zu betrachten. Dann strich er andächtig über den meisterhaft geschmiedeten Stahl, drehte und wendete das Schwert in seinen Händen und sah zu, wie seine Klinge das Licht der Sonne blitzend reflektierte. Immer wieder malte er sich aus, wie er, mit der Waffe in seiner Hand, die größten Heldentaten vollbrachte, und er übte regelmäßig, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Er gab ein komisches Bild ab, wenn er das Schwert, das er nur mit beiden Händen führen konnte, gegen unsichtbare Feinde schwang und damit die Luft zerschnitt. Trotzdem fühlte er sich wie einer der Helden aus den alten Geschichten, die ihm seine Eltern immer wieder erzählt hatten, als sie noch am Leben gewesen waren. Eines Tages, das sagte er sich immer wieder, würde er seine Heimatinsel verlassen, um auf dem Festland das Abenteuer zu suchen, nachdem er sich sehnte. Doch bislang hatte er es noch nicht gewagt, zu seiner großen Reise aufzubrechen, und so tauschte er sein Schwert noch immer regelmäßig gegen seine Angel.

So hatte er auch an diesem Morgen die Rute ausgeworfen und wartete mit knurrendem Magen darauf, dass sich die Schnur spannte. Leider wollten die Fische nicht so recht beißen. Seit mehreren Stunden hielt Craig die Angel bereits ins Wasser und hatte bislang lediglich eine kleine Silberbarbe an Land ziehen können. Offenbar hatten sich ein paar Bluthechte aus dem offenen Meer in den Fluss verirrt, die sich nun über die heimischen Speisefische hermachten.

Craig verzog das Gesicht beim Gedanken an die Raubfische. Die Biester wurden im Normalfall gut zwei Meter lang, doch im offenen Meer erreichten sie in Ausnahmefällen sogar eine Körperlänge von bis zu fünf Metern. Craig hatte auch schon Schauermärchen von einigen Seeleuten gehört, die beim abendlichen Stelldichein in der örtlichen Taverne von Riesenviechern erzählten, die so lang waren, wie ein kleines Kriegsschiff der Armee. Craig glaubte nicht daran und selbst wenn die Geschichten wahr sein sollten, würde sich ein solches Ungetüm wohl kaum in diesen Fluss verirren. Dafür war das Wasser viel zu seicht. Vermutlich waren es nur Jungtiere, die hier Jagd auf andere Fische machten.

Bluthechte schreckten nicht vor Attacken auf Menschen zurück. Ein solcher Angriff endete zwar selten tödlich und wenn doch, dann waren meist mehrere ausgewachsene Raubfische daran beteiligt. Trotzdem waren sie alles andere als ungefährlich, denn ihre Zähne waren rasiermesserscharf und eine Begegnung mit ihnen führte in den meisten Fällen zu üblen Bisswunden. Im Normalfall waren sie Einzelgänger, da sie sich auch kannibalisch ernährten, aber ab und zu taten sie sich zu kleineren Schwärmen zusammen. Die Jungtiere waren eine Ausnahme. Sie lebten ausschließlich in Gruppen und hatten noch keine richtigen Zähne. Das machte sie jedoch nicht minder gefährlich, denn sie waren wie übergroße Blutegel, die sich im offenen Meer an den Körper ihrer wesentlich größeren Opfer hafteten und sich solange mit deren Blut vollpumpten, bis entweder kein Tropfen mehr übrig oder der Hecht ausgewachsen war. Riss man sich die schmarotzenden Fische vom Körper, resultierte das in schlimmen Fleischwunden und die Gefahr, sich eine schwerwiegende Infektion einzufangen, war enorm hoch. Craig hielt vorsichtshalber großzügigen Abstand zum Wasser. Schon oft hatte er davon gehört, dass sich Bluthechte sogar ein paar Meter über das Ufer robben konnten, um ihr nichtsahnendes Opfer zu packen und ins Wasser zu zerren oder ihm einen Brocken Fleisch aus dem Körper zu reißen.

Craig war in Gedanken völlig bei plötzlichen Angriffen von Bluthechten, als etwas laut prustend durch die Wasseroberfläche brach und sich direkt neben ihm ein länglicher Körper an ans Ufer hievte. Der Waisenjunge bekam einen Riesenschreck, schnellte aus der Hocke in die Höhe, rutschte im feuchten Gras aus und landete schmerzhaft auf dem Hinterteil. Für einen Augenblick blieb sein Herz fast stehen und er glaubte, tatsächlich von einem Bluthecht angefallen worden zu sein, doch statt rasiermesserscharfer Zähne an seiner Kehle spürte er eine speicheltriefende Zunge, die ihm über die vernarbte Wange leckte.

„Aufhören!“, beschwerte sich Craig und hob schützend seine Arme vor das Gesicht. Vor ihm kauerte ein schlangenartiges Reptil, das auf seinen Befehl hin wie ein Schoßhund den Kopf schieflegte und den Waisenjungen aus roten Augen treuherzig anglotzte. In seinen Mundwinkeln auf beiden Seiten jeweils ein langer, spitzer Fangzahn aus seinem Oberkiefer hervor. Statt Ohren wuchsen zwei flossenartige Auswüchse aus seinem Hinterkopf, die neugierig zuckten. Craig wischte sich mit dem Handrücken über seine triefnasse Wange und sah das rostrot geschuppte Wesen angeekelt an. „Du hast mich erschreckt, Knack“, schimpfte er und das ungewöhnliche Tier ließ traurig die Fortsätze an seinem Kopf hängen. „Ich habe schon gedacht, dass du ein Bluthecht bist, der mir das Bein abreißen will.“ Wie auf Kommando wuchtete das Reptil seinen langen Körper herum und verschwand mit lautem Platschen wieder in den sanften Wellen des Flusses.

Knack war ein jugendliches Exemplar eines Knuckers. Bei diesen Wesen handelte es sich um eine Unterart der Drachen, die sich nahezu perfekt an ein Leben im Wasser angepasst hatten. Im Gegensatz zu ihren geflügelten Vettern, die kaum ein lebender Mensch je zu Gesicht bekommen hatte, konnten sie kein Feuer speien, dafür verfügten sie über Giftzähne mit einem lähmenden Toxin, das für kleinere Lebewesen tödlich sein konnte. Ihren schlangenartigen Körper bewegten die Knucker mit zwei kurzen, aber kräftigen Beinen vorwärts, wobei Hinter- und Vorderläufe so weit voneinander entfernt waren, dass ihre Körpermitte ständig über den Boden schleifte. Sie waren nicht geschaffen, an Land längere Strecken zurückzulegen, umso wohler fühlten sie sich im Wasser. Über ihren Schultern wuchsen kleine, verkümmerte Flügel, die viel zu schwach waren, um ihre schweren Körper in die Lüfte heben zu können. Stattdessen wussten die Knucker sie sehr geschickt als Flossen einzusetzen.

Als Craig Knack vor drei Jahren gefunden hatte, war dieser noch ein Jungtier gewesen. Später hatte Craig erfahren, dass sich erwachsene Knucker nicht um ihren Nachwuchs kümmerten. Die Weibchen legten ein oder zwei Eier und brüteten, aber sobald die Jungen schlüpften, wurden sie von ihren Eltern ihrem Schicksal überlassen. Ein paar Möwen hatten in Knack leichte Beute gesehen und den frisch geschlüpften Drachen mit ihren scharfen Schnäbeln traktiert. Als Craig aufgetaucht war und die Vögel verscheucht hatte, war der Knucker bereits mehr tot als lebendig. Der Waisenjunge hatte Knack mitgenommen und ihn wieder aufgepäppelt. Seither lebte der Knucker hier am Flussufer. Craig hatte beschlossen, Knack von den anderen Inselbewohnern fernzuhalten, da er nicht genau wusste, wie sie auf einen lebendigen Drachen reagieren würden, auch wenn Knack mit seinen großen, treuen Hundeaugen nicht besonders furchterregend wirkte. Das Risiko, dass die Bevölkerung den Knucker für eine potenzielle Gefahr hielt, war Craig einfach zu groß. Hier am Fluss gab es ohnehin genug Platz für Knack und es bestand kaum die Möglichkeit, dass ihn jemand zufällig entdeckte.

Craig sah zu, wie der Knucker knapp unter der Wasseroberfläche als verschwommener, roter Streifen seine Kreise zog. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung seines langen Schwanzes, katapultierte er sich regelrecht in das Dickicht aus Tang und Algen in Ufernähe und tauchte Sekundenbruchteile später direkt vor Craig wieder auf. In seinen Kiefern zappelte ein ausgewachsener Bluthecht.

„Da ist ja ein toller Fang“, brummte Craig wenig begeistert. Knack gab ein zufriedenes Glucksen von sich und brach dem sich noch immer windenden Bluthecht in seinem Maul mit einem kräftigen Biss das Rückgrat. Als er seine Kiefer öffnete, fiel der glitschige Körper des Fisches zu Boden und landete neben der Silberbarbe im Gras. Craig musste mit Ernüchterung feststellen, dass Knacks Beute mehr als zehnmal so lang war, wie der von ihm geangelte Fisch. Diese Tatsache beleidigte seinen Stolz als Überlebenskünstler. Er gab es nur ungern zu, aber Bluthecht schmeckte ausgesprochen lecker. Noch dazu knurrte sein Magen nun schon seit Stunden und die Silberbarbe allein würde seinen Hunger mit Sicherheit nicht stillen können. Knack sah ihn an, wie ein Hund, der gestreichelt werden wollte. „Also gut“, seufzte Craig und fing an zu grinsen. „Das hast du wirklich nicht übel gemacht. Das ist ein richtiges Festmahl, was du mir da aus dem Wasser gefischt hast! Aber erschreck mich nicht wieder.“ Knack gluckste glücklich und wippte eifrig mit dem Kopf, bis Craig ihn unter dem Kinn kraulte.
 

Kurze Zeit später hingen der Bluthecht und die Silberbarbe auf Stöcken aufgespießt über einem prasselnden Feuer. Craig lief beim Anblick der Fische das Wasser im Mund zusammen, während sich Knack wie eine Schlange zusammengerollt hatte und döste. Der Knucker war ein Selbstversorger und hatte im Fluss weitere Fische gefangen, mit denen er sich den Bauch vollgeschlagen hatte, während sich Craig auf die Suche nach Feuerholz begeben hatte. Als der Waisenjunge der Meinung war, dass sein Mittagessen lange genug gebraten worden war, nahm er die Stöcke vom Feuer und fing an, die beiden Fische mehr schlecht als recht mit einem kleinen, viel zu stumpfen Messer zu filetieren. Die Gräten warf er achtlos beiseite und stürzte sich schließlich mit Heißhunger auf das übriggebliebene Fleisch. Die beiden Fische waren im Nu vertilgt und Craig legte sich gesättigt neben Knack ins Gras. Zufrieden tätschelte er seinen vollen Bauch. „Das hat wirklich ausgezeichnet geschmeckt“, lobte er sich selbst und streichelte die glatten Schuppen des Knuckers. „Danke für den Hecht. Der war echt lecker.“ Knack gab ein wohliges Knurren von sich. Er genoss die Streicheleinheit sichtlich. Craigs Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an.

„Mal angenommen, ich würde diese Insel verlassen wollen…“, wandte er sich wieder an den Knucker. „Würdest du mich dann begleiten?“ Er war überzeugt davon, dass der Wasserdrache ihn verstehen konnte. Knack bewegte seinen Kopf und sah Craig mit großen Augen an. „Ja, das würdest du“, gab sich der Waisenjunge selbst eine Antwort auf seine Frage. „Du würdest mit mir durch dick und dünn gehen.“ Craig ließ seinen Blick sehnsüchtig aufs Meer hinaus schweifen. Bei besonders gutem Wetter konnte man jenseits des Binnengewässers das Festland von Shalaine erkennen. Allein der Name der Heimat der Dunkelelfen klang verführerisch nach Abenteuern.

„Träumst du schon wieder, Craig?“

Die Stimme riss den Waisenjungen aus seinen Gedanken und er sah sich erschrocken um. Durch die Binsen an der Uferböschung kam ein großgewachsener Dunkelelf auf ihn zu. Obwohl die Falten in seinem Gesicht und die grauen Strähnen in seinem schwarzbraunen Haaren von seinem fortgeschrittenen Alter zeugten, war er eine große und stattliche Erscheinung. Selbst die einfache Tunika, die er trug, tat seinem eindrucksvollen Auftreten keinen Abbruch. An seinen spitzen Ohren hingen mehrere Messingringe und seine linke Gesichtshälfte wurde in der Vertikalen von einer langen, hässlichen Narbe geteilt. Dort, wo sich eigentlich ein Auge befinden sollte, klaffte ein dunkles Loch.

„Verdammt nochmal, Hiob!“, beschwerte sich Craig, dem schon zum zweiten Mal an diesem Tag beinahe das Herz stehen geblieben wäre. „Muss mich heute denn wirklich jeder zu Tode erschrecken?“

Der Dunkelelf kicherte wie ein kleiner Junge. „Aber Craig“, sagte er. „Ein Held lässt sich doch nicht so einfach erschrecken.“

Craig verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und wandte sich von Hiob ab. „Bist du nur hergekommen, um dich über mich lustig zu machen?“, fragte er den Dunkelelfen. Seit dem Tod seiner Eltern war Hiob wie ein Vater für ihn. Er hatte ihm alles beigebracht, was er heute wissen musste, um über die Runden zu kommen. Er hatte ihm gezeigt, wie man einen Unterstand baute, hatte ihm die besten Stellen zum Angeln verraten und ihn sogar ein paar Lektionen im Schwertkampf erteilt.

Hiob war auch dabei gewesen, als Craig Knack gefunden hatte. Er hatte dem Jungen geholfen, den Knucker wieder auf die Beine zu bringen. Craig konnte sich noch gut daran erinnern, wie er mit großen Augen dabei zugehört hatte, wie ihm Hiob von der Lebensweise der Knucker erzählt hatte. Der Dunkelelf war auch derjenige gewesen, der Craig den Ratschlag gegeben hatte, Knacks Existenz vor dem Rest der Inselbewohner zu verheimlichen.

Und zu guter Letzt stammte auch das Schwert, das der Junge hütete, wie seinen Augapfel, von Hiob. Craig wusste nicht, wie die wertvolle Waffe in seinen Besitz gelangt war, denn es war auf der ganzen Insel bekannt, dass der Dunkelelf kein Geld besaß. Hiob sah sich selbst als großer Dichter, aber tatsächlich war er ein hoffnungsloser Fall. Sein Talent und seine Begeisterung für Lyrik standen in keinem Verhältnis zueinander. Deshalb half er gelegentlich am Hafen beim Be- und Entladen von Handelsschiffen, um sich seine wenigen Münzen zu verdienen, die er benötigte, um am Leben zu bleiben. Ein Schwert wie jenes, das er Craig geschenkt hatte, überstieg das Fassungsvermögen seines Geldbeutels um Längen. Hiob hatte immer behauptet, es sei ein Erbstück von Craigs Vater gewesen, das er aus den Trümmern seines Hauses hatte retten können, nachdem dieses abgebrannt war. Aber der Waisenjunge konnte sich nicht erinnern, das Schwert jemals in den Händen seines Vaters gesehen zu haben.

„Ich wollte einfach mal nach dir sehen“, erklärte Hiob und setzte sich neben Craig ins Gras, wobei er Knack, der inzwischen eingenickt war, beiläufig über den Kopf strich. „Du hast dich schon seit zwei Tagen nicht mehr in der Taverne blicken lassen. Beißen die Fische so gut?“

„Sie werden gebissen“, erwiderte Craig lakonisch.

Hiob lachte und warf einen Blick auf Knack. „Du hast es echt gut, weißt du das?“, fragte er. „Es hat nicht jeder einen zahmen Knucker, der beim Fischfang hilft.“

Craig antwortete nicht, sondern starrte stumm aufs Meer hinaus. Hiob sah ihn eine Weile von der Seite an, dann richtete auch er seinen Blick in die Ferne. So saßen sie schweigend nebeneinander. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und ließ die Oberfläche des Binnenmeeres glitzern, wie den Goldhort eines Drachen. Am Horizont konnte Craig das Festland erahnen.

„Erzähl mir von deiner Heimat“, forderte er Hiob auf und durchbrach so die Stille.

Der Dunkelelf legte verwundert die Stirn in Falten. „Notting?“, fragte er. „Was soll ich dir denn darüber erzählen, was du noch nicht weißt?“

„Nein, nicht Notting“, erwiderte Craig und schüttelte energisch den Kopf. „Ich meine deine richtige Heimat. Die Heimat der Dunkelelfen. Die Heimat deines Volkes.“

Hiob lehnte sich nachdenklich zurück. „Shalaine“, murmelte er schließlich. „Es ist ein vielfältiges Land. An manchen Orten ist es rau und unwirtlich, an anderen fruchtbar und friedlich. Es gibt Gebirge, deren höchste Gipfel bis in die Wolken ragen, weite Ebenen, in denen riesige Herden von Weidetieren grasen, heimtückische Sümpfe voller stinkender Schlammlöcher und blutsaugender Insekten und tiefe Wälder mit erhabenen Bäumen, die wie Türme in den Himmel ragen. Und es gibt das Land im Osten, wo die Welt noch jung ist und ihr kochendes Blut an die Oberfläche speit. Die Dunkelelfen von Shalaine sind ein stolzes Volk. Sie mögen keine Fremden und brüsten sich mit ihrer vielgerühmten Tapferkeit. Das sind Überbleibsel längst vergangener Zeiten, als ihr Menschen noch eine Randerscheinung in Gäa wart und die Dunkelelfen noch mit den Lichtelfen um die Vorherrschaft gekämpft haben, lange bevor die Fünf über den Horizont kamen und diese Welt aus den Klauen der Alten Götter befreiten. Jetzt ist von dem einst so gewaltigen Reich der Dunkelelfen nur noch Shalaine übrig und trotzdem gibt es unter meinem Volk noch immer viele, die sich für die rechtmäßigen Herrscher Gäas halten. Diese Einstellung hat mein Heimatland seit jeher gespalten.“ Hiob sah Craig mit seinem gesunden Auge an. „Du kennst den Roten Kult, nehme ich an?“

Der Junge nickte geistesabwesend. „Ja, das sind die Anhänger der Alten Götter“, antwortete er. „Die Fanatiker, die Gäa in seinen Urzustand zurückversetzen wollen. So, wie es war, als die Dunkelelfen noch geherrscht haben. Bevor die Fünf die Alten Götter verbannt und den Menschen ihre Freiheit geschenkt haben.“

„Nicht nur den Menschen“, schmunzelte Hiob. „Auch den Waldelfen, den Zwergen und den Orks. Alle Völker Gäas haben unter der Knechtschaft der Dunkelelfen gelitten. Aber seitdem sind Jahrhunderte vergangen. Die Welt hat sich verändert und ein Großteil der Dunkelelfen hat den Alten abgeschworen. Der Rote Kult ist nichts weiter als ein Geschwür jenseits des Schattenwehrgebirges. Und das heutige Königreich von Shalaine ist die Bastion, die den Kult von Gäa fernhält.“

„Und trotzdem ist es ihnen beinahe gelungen, die Alten zu befreien und Gäa wieder ins Chaos zu stürzen“, stellte Craig verbittert fest. „Und das hat den Weltenkrieg ausgelöst. Den Konflikt, in dessen Wirren ich geboren worden bin.“

Hiob sah nachdenklich aus. Er strich sich durch seinen Pferdeschwanz und die Messingringe in seinen spitzen Ohren klirrten leise. „Das waren die Taten eines Einzelnen“, erwiderte er ruhig. „Und Shraic Nachtwandler ist gescheitert. Der Krieg ist lange vorbei.“

„Aber wer sagt denn, dass er nicht wieder versuchen wird, die Alten zu befreien?“, rief Craig und ballte die Fäuste. „Shraic Nachtwandler lebt noch. Da habe ich doch Recht, oder?“

„Tja, wer weiß das schon?“, murmelte Hiob und ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Vielleicht ist er wirklich noch irgendwo da draußen. Aber genug davon! Ich habe dir schon viel zu viel erzählt. Jetzt schläfst du heute Nacht am Ende noch schlecht.“ Der Dunkelelf knuffte Craig grinsend in die Schulter und der Waisenjunge musste einmal mehr schmerzhaft feststellen, dass in Hiobs alten Muskeln noch eine ganze Menge Kraft steckte. Er rieb sich die Schulter und starrte auf die feuchten Grashalme zwischen seinen nackten Zehen.

Knack ließ ein leises Schnarchen ertönen. Der Knucker war eingeschlafen und hatte seinen Kopf auf seinen schlangenartig zusammengerollten Körper gebettet. Seine lange Zunge hing ihm aus dem halb geöffneten Maul und die Fortsätze an seinem Hinterkopf zuckten im Traum.

„Ich glaube, ich werde Notting verlassen“, sagte Craig schließlich.

Hiob hob verblüfft die rechte Augenbraue. „So?“, fragte er überrascht. „Und wo willst du hin?“

„Weiß ich noch nicht“, antwortete Craig achselzuckend. „Nach Shalaine. Keine Ahnung. Irgendwohin, wo es mir auch etwas nützt, ein Schwert zu besitzen.“

„Ach, Craig“, seufzte Hiob und legte dem Jungen einen Arm um die Schulter. „Ich habe dir eine Waffe gegeben, damit du dich im Ernstfall verteidigen kannst. Warum willst du unbedingt kämpfen? Trotz allem, was mit deinen Eltern geschehen ist.“

In Craigs Kehle bildete sich ein Kloß. Bei dem Gedanken an den gewaltsamen Tod seiner Eltern brannten die alten Narben auf seinen Wangen, als habe er sich erst vor Kurzem das Gesicht versengt. „Ich will doch gar nicht kämpfen“, murmelte er leise. „Ich will nur nicht mein ganzes Leben auf dieser abgeschiedenen Insel verbringen.“

„Warum denn nicht?“, fragte Hiob. „Du hast hier deinen Frieden. Lyneas Geschenk ist unbegreiflich wertvoll. Du solltest es nicht so einfach fortwerfen.“

„Aber das ist langweilig!“, entgegnete Craig störrisch und sprang auf. „Es muss doch noch mehr geben, als den ganzen Tag Bluthechte zu angeln und sich altkluge Sprüche von einäugigen Dunkelelfen anzuhören. Mehr als ein Leben in einer Hütte am Fluss.“

„Ein friedliches Leben“, fügte Hiob hinzu und deutete auf das Binnenmeer hinaus. „Du hast keine Ahnung von der Welt dort draußen.“

„Wie denn auch?“, entfuhr es Craig. „Ich habe in meinem ganzen Leben ja noch nichts anderes gesehen, als diese verdammte Insel!“

Hiob schloss sein gesundes Auge. „Entschuldige“, bat er sanft. „Ich wollte dich nicht verärgern. Du bist längst alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Und ich kann dich nicht mehr davon abhalten, deinen Weg zu gehen.“ Der Dunkelelf winkte Craig zu sich heran. Ein wenig zögerlich nahm der Waisenjunge wieder neben ihm im Gras Platz.

„Uns bleibt jedenfalls nicht mehr viel Zeit gemeinsam“, sagte Hiob geistesabwesend.

Craig blinzelte den Dunkelelfen verwundert an. „Wie meinst du das?“, fragte er überrascht.

Hiobs Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln. „Damit meine ich, dass du dich noch mal in der Taverne blicken lässt, bevor du Notting verlässt“, antwortete er.

Und Craig hatte das Gefühl, dass der Dunkelelf wieder einmal mehr wusste, als er ihm sagte.

Notting war früher eine wohlhabende Insel gewesen, die ihren Reichtum ihrer zentralen Lage zwischen den Küsten des Kaiserreichs und des Königreichs Shalaine verdankte. Der Hafen war damals der wichtigste Umschlagplatz für Waren aller Art gewesen, die, zwischen den Dunkelelfen, der Bevölkerung von Ganestan und den Provinzen im Süden ausgetauscht wurden. Es hatte nicht einen Tag gegeben, an dem nicht mindestens zwei Schiffe in die Bucht gesegelt waren. Der Hafen war voll von Handelskoggen gewesen und bisweilen hatten große Frachtkähne mehrere Nächte auf offenem Meer ankern und darauf warten müssen, bis ein Anlegeplatz frei wurde. Als Knotenpunkt des Handels genoss Notting großes Ansehen unter Seefahrern und Kaufleuten. Mit den Händlern kam das Geld auf die Insel und ihre Bevölkerung fristete ein Leben in Wohlstand, das kaum einem anderen Einwohner Gäas außerhalb der großen Herrscherpaläste und Fürstenhäuser vergönnt war.

Doch der Reichtum war nicht von Dauer, denn eines schicksalhaften Tages lief eine Piratenflotte in den damals noch prächtigen Hafen ein. Es war der Tag, an dem Craig seine Eltern verloren hatte.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Weltenkrieg, als das Kaiserreich noch alle Hände voll damit zu tun hatte, wieder zur Normalität zurückzukehren, wimmelte es im Binnenmeer vor Seeräubern. Flüchtlinge und Kriegsverbrecher rotteten sich zu blutrünstigen Piratenbanden zusammen, die in regelmäßigen Abständen über die Gestade von Ganestan im Westen und die Küstengebiete von Shalaine im Osten herfielen. Plündernd und mordend zogen sie von Fischerdorf zu Fischerdorf und jedes Mal, wenn sie einen ihrer Beutezüge beendet hatten und mit ihren Schiffen wieder in See stachen, hinterließen sie nicht viel mehr, als einen Haufen rauchender Ruinen. Die Kaiserliche Flotte rang mit den Piraten lange um die Vormachtstellung im Binnenmeer und es sollte noch Jahre dauern, bis die Seestreitmächte von Ganestan das Korsarenproblem in den Griff bekamen.

Die Seeräuber von Varim dem Schwarzen waren zu jener Zeit die gefürchtetste Piratenbande im Binnenmeer. Ihr Kapitän war ein kriegerischer Dunkelelf und gehörte zu den meist gesuchten Verbrechern in ganz Gäa. Ihm wurde nachgesagt, während des Weltenkriegs ein Untergebener von Shraic Nachtwandler gewesen zu sein, der, nachdem sein Herr gescheitert war, kurzerhand mit einem Haufen Halsabschneidern losgesegelt war, um die Küstengebiete unsicher zu machen.

Craig konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als die Flotte von Varim über Notting hergefallen war. Die damals noch auf der Insel stationierte Wachtruppe der Dunkelelfen stellte sich den Piraten tapfer entgegen, doch sie waren der Masse und Grausamkeit ihrer Gegner nicht gewachsen. Die Seeräuber stürzten sich auf alles, was sich bewegte, und machten ihm im Handumdrehen den Garaus. Die Reihen der Dunkelelfen fielen viel zu schnell und es stand nichts mehr zwischen den Plünderern und den Häusern der Inselbewohner. Der Hafen brannte schon nach kurzer Zeit lichterloh und die mordende Horde kam auf der Suche nach lohnender Beute wie ein Sturm über die Bevölkerung von Notting.

Craig war damals gerade acht Jahre alt gewesen und er lebte mit seinen Eltern ganz in der Nähe des Hafens. Ihr Heim war eines der ersten Häuser, die dem Raubzug der Piraten zum Opfer fielen. Craig bemerkte zuerst nur das gedämpfte Johlen und Lachen der Seeräuber, doch bald war die Luft erfüllt von den verzweifelten Schreien der Inselbewohner, die vor den Piraten fliehen oder sich gegen sie verteidigen wollten. Als draußen auf der Straße das Chaos losbrach, wollte Craigs Vater nach dem Rechten sehen, doch als er im Begriff war, die Tür zu öffnen, wurde sie von außen gewaltvoll aufgebrochen und drei bewaffnete Männer drangen in das Haus der Familie ein. Der Anblick der blutbefleckten Säbel und ihrer mordlüsternen Augen brannte sich tief ins Craigs Gedächtnis ein. Sein Vater, der als Soldat im Weltenkrieg gekämpft hatte und, nachdem er seine rechte Hand verloren hatte, als Invalide aus der Kaiserlichen Armee entlassen worden war, stellte sich sofort zwischen die Seeräuber und seine Frau und seinen Sohn, doch es war ein hoffnungsloser Versuch, seine Familie zu beschützen. Die Piraten brachten ihn auf der Stelle um. Mit seiner Mutter ließen sich die Seeräuber mehr Zeit. Sie grölten und lachten, während sie sich an der hilflosen Frau vergingen, und erlösten sie erst von ihrem Leid, als sie keine Kraft mehr hatte, um nach Hilfe zu rufen oder um Gnade zu flehen.

Einzig Craig gelang die Flucht aus dem Haus. Durch die Hintertür rettete er sich schluchzend und zitternd ins Freie, verfolgt von den verzweifelten Schreien seiner sterbenden Mutter. Das Dorf stand bereits in Flammen und der panische Junge verlor in dem Chaos aus Feuer und Gewalt augenblicklich die Orientierung. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft und ließen seine Lunge brennen und seine Augen tränen. Flammen fraßen sich knisternd in Holz und dicke Balken zerbrachen funkensprühend. Überall tanzten die zerlumpten Gestalten der Piraten durch das tosende Inferno, schwenkten ihre blutigen Säbel und stießen schallendes Gelächter aus. Craig flüchtete sich ziellos in eine Gasse zwischen zwei lichterloh brennenden Häusern und dort lief er Varim dem Schwarzen direkt in die Arme.

Ihm lief noch heute ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er an seine Begegnung mit dem Piratenkapitän dachte. Wie ein Dämon war er aus den Rauchschwaden und den züngelnden Flammen aufgetaucht. In der Hand hielt er eine zweischneidige Axt, deren silberner Glanz vom Blut seiner früheren Opfer getrübt worden war, und sein Gesicht war unter einer weiten Kapuze verborgen. Craig war beim Anblick des hünenhaften Dunkelelfen zunächst wie gelähmt, doch als sich Varim bis auf drei Armlängen genähert hatte, kam wieder Leben in den Jungen. Er wirbelte herum und wollte fliehen, doch genau in diesem Augenblick stürzte ein Teil des Hauses neben ihm ein. Craig wurde von den herabfallenden Trümmern umgerissen und als er auf dem Rücken im Staub landete, fiel ihm eine brennende Dachlatte direkt ins Gesicht. Seine Haut zischte unter der Hitze und er schrie voller Pein auf, während er das glühende Holz mit panischen Bewegungen von sich stieß. Hilflos und wimmernd rollte er sich auf den Bauch und versuchte, seine Lider zu öffnen. Tränen schossen ihm vor Schmerz in die Augen und er spürte eine warme Flüssigkeit, die von seinen verbrannten Wangen tropfte. Für einen kurzen, fürchterlichen Moment befiel den Jungen die Angst, dass er blind sein könnte. Sein Blut rauschte ihm in den Ohren und er hörte die Geräusche seiner Umgebung wie durch Watte. Varims Schritte hallten dumpf in seinem Kopf und Craig war sich in diesen angstgeschwängerten Sekunden sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Wimmernd rollte er sich auf dem Boden zusammen und wartete darauf, dass ihm die Axt des Dunkelelfen den Gnadenstoß gab.

Doch dann hörte er, wie eine bekannte Stimme seinen Namen rief. Er nahm wahr, dass eine weitere Person die schmale Gasse betrat. Ein gedämpftes Grunzen ertönte und Craig zwang sich unter höllischen Schmerzen, seine Augen zu öffnen.

Vor sich erkannte er einen breitschultrigen Rücken, der sich schützend vor ihm aufgebaut hatte, und Ohrringe aus Messing, die im Feuerschein der brennenden Häuser glühten, wie frisch geschmiedetes Eisen.

„Hiob“, flüsterte Craig schwach. Der Dunkelelf kniete vor ihm in Staub und als er die Stimme des verletzten Jungen hörte, wandte er ihm das Gesicht zur Hälfte zu und lächelte zuversichtlich. Doch das konnte Craig nicht beruhigen. Er sah genau, dass Hiob unbewaffnet war und dass von Varims Axt frisches Blut zu Boden tropfte.

Nur mühsam und zitternd kam Hiob auf die Beine. „Kannst du aufstehen?“, fragte er und Craig fiel sofort auf, dass der Atem des Dunkelelfen stoßweise ging. „Du musst fliehen.“

Der Junge wusste, dass Hiob in einem Zweikampf mit Varim keine Chance hatte. „Und was ist mit dir?“, entgegnete er ängstlich. Hiob antwortete nicht, aber seine Rückenmuskulatur straffte sich. Varim wiederum erhob seine Axt zum Angriff.

Bevor er jedoch zuschlagen konnte, kam aus den Rauchschwaden das Kerngehäuse eines Apfels geflogen und traf den Piraten am Hinterkopf. Varim hielt mitten in der Bewegung inne und wirbelte herum. Dabei rutschte ihm die Kapuze vom Kopf. Craig konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen, doch dafür bemerkte er den Mann, der hinter dem Seeräuber aufgetaucht war. Sein kurzes Haar war schwarz und an ein paar Stellen bereits leicht ergraut. An seinem markanten Unterkiefer entlang sprossen dichte Bartstoppeln und auf seinem Gesicht lag ein schwermütiger, fast schon todtrauriger Ausdruck. Craig konnte später nicht mehr sagen, warum ihn der Anblick des Fremden plötzlich mit einem Gefühl der Geborgenheit erfüllte. Er saß einfach da, mit den Knien noch immer im Staub, starrte den Neuankömmling an und vergaß für ein paar wenige Augenblicke sogar den fürchterlichen Schmerz in seinen verbrannten Wangen.

Der Mann war in eine einfache, schwarze Tunika gekleidet, deren Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren. In der einen Hand hielt er ein großes Schwert, als wäre es aus Papier. Die breite Klinge war geschwärzt und an der Spitze der Schneide befand sich ein Widerhaken. In der anderen Hand hielt er einen Apfel, den er an seiner Tunika blank rieb und dann genüsslich hineinbiss.

„Kümmere dich um den Jungen“, rief er Hiob kauend und mit aller Gelassenheit zu. In diesem Augenblick holte Varim mit der Axt aus und schlug mit aller Gewalt zu. Der Fremde hob sein Schwert und wehrte den Hieb augenscheinlich mit Leichtigkeit ab. Der Mann warf den angebissenen Apfel weg und nahm Kampfhaltung ein. Varim setzte seinen wütenden Angriff fort, doch erneut stand die breite Klinge zwischen seiner Axt und dem Körper des Fremden. Craig starrte wie gebannt auf das Geschehen, doch er hatte keine Möglichkeit, das Duell weiter zu verfolgen, denn Hiob drehte sich zu ihm um und nahm ihn auf dem Arm. Dem Jungen entfuhr ein erstickter Schrei, als er einen Blick auf die linke Gesichtshälfte des Dunkelelfen erhaschen konnte. Vom Scheitel bis zum Kinn zog sich eine klaffende Schnittwunde durch Hiobs Antlitz. Dickflüssiges Blut lief ihm über den muskulösen Hals und sein linkes Auge fehlte.

„Sieh nicht hin!“, keuchte der Dunkelelf und presste Craigs Gesicht gegen seine Brust. Kaum berührten die verbrannten Wangen des Jungen den grobmaschigen Stoff von Hiobs Tunika, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Körper und der grub seine Fingernägel in die breiten Schultern des Dunkelelfen. Hinter ihm klirrten die Waffen der beiden Kämpfer. Hiob stieß ein gedämpftes Grunzen aus, dann lief er mit Craig in den Armen schwankend davon.
 

Neun Jahre waren seitdem vergangen. Craigs Elternhaus war den Flammen zum Opfer gefallen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Waise befühlte die längst verheilte, aber hässliche Brandnarbe in seinem Gesicht. Hiob hatte sich damals überhaupt nicht um seine eigene Verletzung geschert und erst den Jungen versorgt. Der Dunkelelf und Craig hatten den Ort des Geschehens damals noch nicht lange verlassen, als die Piraten wie aus heiterem Himmel auf einmal abgezogen waren, ohne die Insel vollständig zu plündern. Craig wusste bis heute nicht, wie der Zweikampf zwischen Varim und dem Fremden ausgegangen war. Man hatte ihm nur erzählt, dass Varim noch am Leben war und persönlich den Befehl zum Rückzug gegeben hatte. Den Mann mit dem Apfel wollte dagegen niemand gesehen haben. Für Craig stand fest, dass auch der Fremde noch lebte und dass es sein Verdienst gewesen war, dass sich die Piraten so plötzlich aus dem Staub gemacht hatten.

Als Craig ihn gefragt hatte, wer der Fremde gewesen war, hatte Hiob es ihm nicht sagen können oder wollen. „Wahrscheinlich ein Abenteurer aus dem Westen“, hatte er nur geantwortet, doch dabei hatte sein entstelltes Gesicht einen so ernsten Ausdruck angenommen, dass Craig das Gefühl beschlich, dass der Dunkelelf doch mehr über den Fremden wusste, als er zugeben wollte. Sooft Craig auch nachgehakt hatte, Hiob hatte ihn immer mit der gleichen Antwort vertröstet und stets beteuert, den Mann noch nie gesehen zu haben. Und schließlich hatte es Craig aufgegeben, den Dunkelelfen weiter mit seinen Fragen zu löchern.

Hiob hatte ihn zunächst in seiner ärmlichen Hütte nahe der Taverne aufgenommen. Vier Jahre lebten sie zusammen, doch je mehr Craig wuchs, desto weniger hielt er es in der Beengtheit der Hütte aus. Deshalb hatte er schließlich den Wunsch geäußert, sein eigener Herr sein zu wollen. Also hatte Hiob ihm dabei geholfen, den kleinen Unterstand zu errichten. Das war der Beginn von Craigs Leben am Flussufer gewesen. Nur mit einer Angel bewaffnet, war der Waisenjunge in sein neues Heim gezogen und hatte in der Folgezeit nach und nach weitere Werkzeuge angesammelt, die zur Ausbesserung seines Lagers unerlässlich waren.

Und dann hatte ihm Hiob eines Tages das Schwert geschenkt. Craig konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Waffe zum ersten Mal in seinen Händen gehalten hatte. Damals hatte es ihm noch große Mühen abverlangt, sie überhaupt anzuheben, aber der Anblick der geraden, glänzenden Klinge hatte ihn sofort fasziniert. Von da an hatte er den Entschluss gefasst, irgendwann zu einer großen Abenteuerreise aufzubrechen. Er wollte so sein, wie der Mann mit dem Apfel. Auch wenn Hiob seine Träumereien anfangs noch belächelt hatte, war Craig fest entschlossen, eines Tages durch fremde Länder zu ziehen und die Bevölkerung vor Ungerechtigkeit und Gewalt zu beschützen, genauso wie es der Fremde getan hatte, der Notting gerettet hatte.
 

Seit seinem Gespräch mit Hiob war ein Tag vergangen und Craig hatte sich eingestanden, dass er noch nicht den Mut aufbringen konnte, um seine Heimatinsel zu verlassen. Das Binnenmeer war so riesig und das Fischerboot seines Vaters, das seit Jahren unbenutzt nahe des Hafens im Sand lag, wirkte dagegen so winzig.

Der Waisenjunge war auf dem Weg zur Taverne. In seinen ausgelatschten Sandalen schlurfte er den staubigen Pfad entlang und warf immer wieder einen bedrückten Blick auf eines der niedergebrannten Häuser, die in regelmäßigen Abständen den Straßenrand säumten. Notting hatte sich bis heute nicht von dem Piratenüberfall vor neun Jahren erholt und der Anblick der Ruinen erinnerte Craig immer schmerzhaft an den Tag, an dem er seine Eltern und Hiob sein Auge verloren hatte. Obwohl er damals noch sehr jung gewesen war, konnte er sich noch genau daran erinnern, wie es auf der Insel ausgesehen hatte, bevor die Piraten an Land gegangen waren. Die Zerstörungen waren gewaltig gewesen und die Skelette der Gebäude wirkten wie Zeugen des damaligen Leids. Die Nachwirkungen, die der Angriff der Plünderer hinterlassen hatte, waren noch immer deutlich sichtbar und allgegenwärtig. Viele Häuser waren gar nicht erst wiederaufgebaut worden, nachdem sie den Feuern der Piraten zum Opfer gefallen war. Entweder waren ihre Bewohner bei dem Überfall ums Leben gekommen oder sie hatten Notting verlassen, nachdem sie ihr Heim verloren hatten. Deshalb waren niedergebrannte und rußgeschwärzte Ruinen kein seltener Anblick auf der Insel. Wo einst Wohlstand und Frieden geherrscht hatten, gab es nur noch Armut und Elend.

Nachdem die Wachtruppe des Hafens von den Piraten einfach niedergemetzelt worden war, hatten die Dunkelelfen Notting aufgegeben und die Insel schutzlos zurückgelassen. Der Versuch der Bewohner, eine Bürgermiliz aufzustellen, war gescheitert. Notting war vom schlagenden Herzen des Handels zwischen Ganestan und Shalaine zu einem verfaulten Apfel inmitten des Binnenmeeres geworden, und war in die absolute Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Insel war mittlerweile so verarmt, dass nicht einmal mehr für Piraten ein lohnendes Ziel abgab.

Seit dem Überfall von Varim war kein Schiff mehr mit schwarzen Segeln vor der Küste vor Anker gegangen. Das lag auch daran, dass die Kaiserliche Flotte im Binnenmeer ordentlich aufgeräumt hatte. Man munkelte bereits, dass es zwischen Ganestan und Shalaine keinen einzigen Piraten mehr gab. Die Flotte hatte die Gewässer endlich vollständig unter Kontrolle und sorgte für Ruhe und Frieden an den Gestaden.

Die Taverne lag auf einer kleinen Anhöhe auf der vom Meer abgewandten Seite des Dorfes und war zu weit vom Hafen entfernt, als dass sie damals von den Piraten direkt in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Der Mann mit dem Apfel hatte sich Varim entgegengestellt, bevor die Plünderer über das Gasthaus hatten herfallen können. Von der Eingangstür hatte man einen guten Blick über die gesamte Siedlung und konnte bis zur Anlegestelle sehen, die mit einem sich windenden Pfad mit dem Dorf verbunden war.

Craig war ein gerngesehener Gast in der Taverne. Preman, der Wirt, sah ihn beinahe als den Sohn an, den er nie gehabt hatte. Er war immer bereit, dem Jungen eine Mahlzeit anzubieten, wenn dieser genug von dem Fisch hatte, den er tagtäglich aus dem Fluss zog. Als Craig die Tür aufstieß und in den düsteren Schankraum trat, winkte Preman ihm fröhlich zu.

„Hallo!“, rief er und seine roten Backen schienen vor Freude zu glühen. „Du hast dich aber lange nicht mehr hier blicken lassen. Hast wohl Hunger bekommen, was? Warte einen Augenblick.“

Craig erwiderte die Begrüßung mit einem breiten Lächeln und setzte sich erwartungsfroh auf einen Hocker direkt am Tresen. Preman verschwand im hinteren Teil seines Gasthauses, aus dem es herrlich duftete, und kehrte kurz darauf mit einem Teller mit einem kleinen Käserad und einem Laib Brot, den er Craig zusammen mit einem großen, randvoll gefüllten Humpen Bier servierte.

Der Waisenjunge rieb sich vor Begeisterung die Hände und griff gierig nach dem Brotlaib, aus dem er ein großes Stück herausriss. „Gibt es irgendwas Neues?“, erkundigte er sich, während er noch mit vollem Mund kaute. Abgesehen davon, dass Preman ihn regelmäßig mit Mahlzeiten versorgte, die nicht aus Fisch bestanden, diente er Craig auch noch als Informationsquelle. Der Wirt bekam nahezu alles mit, was auf der Insel vor sich ging, wohingegen Craig in seinem Holzunterstand am Fluss ziemlich abgeschottet lebte. Meistens wusste Preman aber trotzdem nichts Interessantes zu berichten, denn es war selten, dass auf Notting etwas Außergewöhnliches geschah.

„Nicht wirklich“, antwortete Preman und zuckte die Schultern. „Alles ruhig. Durus hat sich beinahe den Daumen abgeschnitten, als er Holz sägen wollte, aber ansonsten ist nichts passiert.“

Craig seufzte. Kleine Handwerksunfälle waren für gewöhnlich tatsächlich das Aufregendste, was auf Notting geschah. Hier würde er nie das große Abenteuer finden, nachdem er sich sehnte. Das bedeutete wohl oder übel, dass er sich irgendwann doch in das Boot schwingen und das Binnenmeer überqueren musste.

Der Waisenjunge griff nach einem Messer, schnitt eine Ecke aus dem Käserad und blickte sich kauend im Schankraum um. Premans Taverne war selten gut besucht. Den meisten Bewohnern fehlte einfach das Geld, um sich den Luxus einer Bewirtung leisten zu können. In seltenen Fällen trafen sich die Fischer abends im Gasthaus, um gemeinsam mit einem Krug Bier anzustoßen. Doch das geschah meist nur, wenn sie einen besonders großen Fang gemacht hatten.

Ein Großteil von Premans Kunden bestand aus Seemännern und Kaufleuten auf der Durchreise, die eine Nacht auf Notting verbrachten. Aber auch solche Besuche waren rar gesät, denn seit es mit der Insel bergab gegangen war, legten kaum noch Schiffe im Hafen an. Craig mochte die Seeleute und ganz besonders die spannenden Geschichten, die sie für ihr Leben gern erzählten. In dem Waisenjungen fanden sie einen begeisterten Zuhörer, aber leider blieben die meisten von ihnen länger als einen Tag auf der Insel.

Auch die Taverne hatte vor dem Piratenüberfall bessere Zeiten gesehen. Das Gasthaus war während der Stoßzeiten vor Gästen fast aus den Nähten geplatzt. Seeleute hatten mit Vergnügen ihre Heuer für ein paar Krüge Bier verprasst und wohlhabende Händler hatten in Scharen in den Zimmern übernachtet, die Preman im Obergeschoss vermietete. Seine Gäste hatten ihm das Geld förmlich entgegengeworfen und der Wirt hatte sich dumm und dämlich verdient. Craig hatte die Taverne damals nie von innen gesehen, aber er konnte sich noch sehr gut an die lachenden und singenden Stimmen erinnern, die aus dem Gastraum bis hinaus auf die Straße geschallt hatten.

Doch die fetten Zeiten guter Laune und ausgelassener Stimmung waren längst vorbei. Craig wusste nicht, ob es in Premans Taverne schon immer so düster gewesen war oder die spärliche Beleuchtung auch nur eine Folge der Verarmung von Notting war. Fast schien es, als hätten die Piraten bei ihrem Überfall nicht nur Geld und Leben geraubt, sondern auch das Licht und die Hoffnung, nur um die Insel anschließend in Düsternis und Verzweiflung zurückzulassen.

Diesmal war neben Craig nur ein weiterer Gast anwesend. Es war ein stämmiger, junger Kerl mit sonnengebräunter Haut, der mit einem Krug Bier in der Hand in einer dunklen Ecke der Taverne an einem kleinen Tisch saß. Dicke Strähnen schwarzen Haares hingen ihm in die Stirn und seine Augen waren dunkel und glanzlos. Wie rußgeschwärzte Holzmurmeln lagen sie in den Höhlen und es kam Craig so vor, als würden sie jegliches Licht einfach schlucken. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass es in Premans Taverne ohnehin recht düster war.

Der Fremde trug abgewetzte Kleidung und klobige Stiefel aus ausgeblichenem Leder und an einem Seil, das er wie einen Gürtel um die Hüfte geschlungen hatte, hing ein altes Hackebeil. Craig runzelte die Stirn, als er die ungewöhnliche Waffe bemerkte. Er hatte den Mann noch nie gesehen und da Notting eine kleine Insel war, konnte er mit Sicherheit sagen, dass dieser Kerl ein Fremder war, der noch dazu einen ziemlich zwielichtigen Eindruck machte. Craig musste zwar zugeben, dass der junge Mann recht kräftig aussah, aber in den zerrissenen Lumpen, die er trug, gab er kein besonders imposantes Bild ab.

„Sag mal, wer ist dieser Kerl da?“, fragte er unbeeindruckt und lehnte sich zu Preman über den Tresen. „Der sieht ein bisschen aus, wie ein Pirat.“

Preman warf dem Waisenjungen einen nervösen Blick zu. Craig hatte sich keine Mühe gegeben, seine Stimme zu senken, doch falls der Fremde in der Ecke seine Worte gehört hatte, schien er sie zu ignorieren. Er zeigte jedenfalls keinerlei Reaktion, sondern trank stumm sein Bier.

„Er ist vor etwa einer Woche hier aufgetaucht und hat nach Arbeit gefragt“, flüsterte Preman dem Waisenjungen zu. „Seither repariert er im Hafen die Boote der Fischer. Keiner kennt ihn und er spricht nicht viel. Irgendwie ist er mir unheimlich. Aber er packt ordentlich mit an und bezahlt seine Zeche anstandslos, also kann er kein so übler Kerl sein.“

Preman verstummte schlagartig, als der Fremde zu ihm herüberblickte. Hastig griff der Wirt nach einem leeren Bierkrug, den er polieren konnte. Craig schob die Brauen zusammen und musterte den unbekannten Mann genauer. Dabei fiel ihm die blasse, kreuzförmige Narbe an seiner Wange auf.

„Hat der Kerl auch einen Namen?“, fragte er den Wirt.

Preman beugte sich zu ihm nach vorn. „Er hat sich mir als Vance vorgestellt“, antwortete er mit gesenkter Stimme. „Und er hat unglaublich viel Kraft. Er zieht die Boote der Fischer an Land, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. Als beim Entladen des Handelsschiffs, mit dem er hier angekommen ist, der Flaschenzug geklemmt hat, hat er die schweren Kisten alleine von Bord getragen. Mich hat er vorgestern auch nach Arbeit gefragt und ich habe ihn Holz hacken geschickt. Er hat den ganzen Tag lang Scheite gespalten, ohne müde zu werden oder auch nur ins Schwitzen zu kommen, und hat dabei so viel Brennholz produziert, dass es für den ganzen Winter reicht. Und als der Ochsenkarren mit dem neuen Mühlstein für den Müller umgekippt und im Graben gelandet ist, hat er den gesamten Wagen samt Mühlstein mit bloßen Händen wieder aus dem Dreck gezogen. Ich weiß nicht, was er zum Frühstück isst, aber ich möchte mich lieber nicht mit ihm anlegen.“

Langsam war Craig interessiert. „Hat er dir erzählt, wo er herkommt?“, erkundigte er sich, doch Preman schüttelte den Kopf. „Kein Sterbenswörtchen“, entgegnete der Wirt und warf einen kurzen, verstohlenen Blick auf den Fremden. „Er hat mir nur seinen Namen genannt und mir gesagt, dass er auf der Suche nach Arbeit ist. Aber es klang für mich so, als wollte er nicht ewig auf der Insel bleiben.“

„Kein Wunder“, schnaubte Craig. „Hier liegt ja auch der Hund begraben.“

„Ach ja!“, rief Preman. „Wie sieht es mit deinen Plänen für deine große Reise aus? Hiob hat mir erzählt, dass du Notting bald verlassen möchtest. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, wundert es mich sowieso, dass du noch hier bist. Hiob klang so, als würdest du schon mit einem Bein auf dem Festland sein.“

Craig spürte, wie seine Ohren rot wurden. Nachdem er sich gestern gegenüber Hiob so aufgespielt hatte, war es ihm nun mehr als unangenehm, zuzugeben, dass er es noch nicht fertiggebracht hatte, sein Herz in die Hand zu nehmen und von der Insel zu verschwinden. „Ich warte nur noch auf den richtigen Zeitpunkt“, antwortete er ausweichend.

„Du hast die Hosen voll“, stellte Preman fest und grinste von einem Ohr bis zum anderen.

„Ach, halt doch die Klappe!“, rief Craig beleidigt und stopfte sich eine Brotkrume in den Mund. „Ihr nehmt mich alle nicht richtig ernst. Aber kaum taucht hier so ein Fremder auf, der ein bisschen die Muskeln spielen lässt, erstarrt ihr alle vor Ehrfurcht.“

In diesem Moment stand der Mann in der Ecke auf. Craig hörte, wie er seinen Stuhl knarzend zurückschob, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Die schweren Lederstiefel stapften dumpf über den Dielenboden und Craig wusste, ohne sich umzudrehen, dass der Fremde direkt zum Tresen kam. Er konnte sehen, wie die Farbe aus Premans Gesicht wich. Der Waisenjunge spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er sich fragte, ob der Mann ihn gehört hatte. Bestimmt packte er ihn gleich am Kragen und würde ihm eine ordentliche Abreibung verpassen.

Craig hielt den Atem an, als der Fremde direkt neben ihm stehen blieb. Er wagte es nicht, den Kopf zu bewegen, sondern starrte wie versteinert auf die Gabel in seiner Hand. Dann hörte er, wie eine Münze auf den Tresen fiel.

„Ich bitte Euch“, rief Preman mit zittriger Stimme und hob abwehrend die Hände. „Ihr müsst doch nicht bezahlen. Ihr habt mir mit dem Brennholz wirklich sehr geholfen. Euer Getränk geht selbstverständlich aufs Haus.“

„Wie Ihr meint.“ Die Stimme des Mannes war tonlos. Er nahm die Münze wieder vom Tresen, ließ sie in einen kleinen Beutel unter seinem ausgeleierten Leinenhemd fallen und entfernte sich mit schlurfenden Schritten

Erst jetzt kam wieder Regung in Craig. Er drehte sich auf seinem Hocker um und blickte dem Fremden hinterher, als dieser das Gasthaus verließ. Im nächsten Moment packte ihn Preman am Ohr.

„Du bist ganz schön frech!“, fuhr er den Waisenjungen an. „Dieser Mann war mir und vielen anderen Inselbewohnern eine große Hilfe. Zeig ein bisschen mehr Respekt!“

Craig befreite sich aus Premans Griff und rieb sich das schmerzende Ohr. Am liebsten hätte er sich lautstark verteidigt, aber er wusste, dass der Wirt recht hatte. Außerdem schlug ihm sein Herz noch immer bis zum Hals. „Tut mir leid“, brummte er kleinlaut und rupfte einen Fetzen aus dem Brotlaib, den er lustlos zwischen seinen Fingern drehte. „Ich war nur so wütend, weil ihr mir überhaupt nichts zutraut.“

„Aber Craig“, seufzte Preman mitleidig. „Du musst uns doch nichts beweisen. Seit du ein Kind bist, lebst du allein am Fluss und versorgst dich selbst. Du hast uns allen schon längst gezeigt, dass in dir ein Kämpfer steckt.“

„Ein Überlebenskämpfer“, fügte Craig missmutig hinzu. „Aber das reicht mir nicht. Ich will andere Länder erkunden. Ist das denn so schwer zu verstehen?“

„Irgendwie schon“, gestand Preman. „Ich persönlich habe jedenfalls nicht vor, diese Insel zu verlassen.“

„Du hast aber auch deine Taverne“, entgegnete Craig und stopfte sich den Fetzen Brot in den Mund. „Ich lasse hier nichts zurück, außer vielleicht meine Angel.“

„Und was ist mit den Bewohnern dieser Insel?“, fragte Preman und wirkte ein wenig schockiert. „Lässt du uns etwa nicht zurück?“

Craig musste schwer schlucken, als ihm der Wahrheitsgehalt dieser Worte bewusst wurde. Sein Respekt vor dem Binnenmeer war eine Sache, die allein ihn aber nicht davon abhielt, augenblicklich in See zu stechen. Hier lebten zu viele Leute, an denen sein Herz hing, allen voran Hiob. Und plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob seine Angel tatsächlich das einzige war, was er auf der Insel zurücklassen würde.

Preman sah, dass der Junge hin- und hergerissen war. Er stellte den Bierkrug beiseite, den er gerade polierte, und stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen. „Hör mal, dir geht es hier doch nicht schlecht, oder?“, seufzte er. „Und du bist noch jung. Da ist es ganz normal, dass du dich zu Höherem berufen fühlst. Aber warte ein paar Jahre ab. Dann wirst du schnell bemerken, dass ein friedliches Leben auch seinen Reiz hat. Auch wenn es nur ein Leben in einer Hütte am Fluss ist.“

Die Worte des Wirts besserten Craigs Unentschlossenheit überhaupt nicht. Stattdessen streuten sie ein schlechtes Gewissen. Er fragte sich, ob er undankbar war, weil er sich nicht mit seinem friedlichen Leben begnügen wollte. Er hatte die Auswirkungen von Gewalt und Unrecht am eigenen Leib erfahren und dennoch sehnte er sich nach einem aufregenden Abenteuer.

Es schien Preman zufrieden zu stellen, dass Craig endlich Ruhe gab. Er deutete die plötzliche Schweigsamkeit des Jungen als dessen Erkenntnis, dass eine überstürzte Reise doch keine besonders gute Idee war. Offenbar stolz darauf, die richtigen Worte gewählt zu haben, griff der Wirt nach seinem Geschirrtuch und fuhr damit fort, den Bierkrug auf Hochglanz zu polieren.

Craig setzte sich mit einem Ruck auf. „Danke für den Käse“, murmelte er leise und schob Preman den Teller zu. „Ich werde mir mal ein bisschen die Beine vertreten.“ Mit hängenden Schultern drehte er sich um und ging mit schlurfenden Schritten zur Tür. Preman blieb alleine zurück und starrte ungläubig auf den Teller, auf dem noch ein halber Laib Brot und ein Käserad lagen, aus dem nur eine kleine Ecke herausgeschnitten worden war. Der Wirt kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Craig jemals auch nur einen winzigen Krümel einer Mahlzeit übrig gelassen hatte.
 

Dem Waisenjungen schwirrte der Kopf und er schlenderte gedankenverloren und ziellos über die Insel. Er wusste nicht, wie lange er schon unterwegs war, als ihn seine Füße schließlich zur Küste lenkten, ohne dass er es beabsichtigt hatte. Die salzige Luft war erfüllt vom wütenden Geschrei der Seemöwen. Sie kreisten auf der Suche nach Fischen in Schwärmen über der Wasseroberfläche oder hockten auf den Überresten der Kaimauer, die inzwischen lediglich als Wellenbrecher dienten, und verteidigten ihre Beute eifersüchtig gegen ihre hungrigen Artgenossen. Den hölzernen Lastenkran, nur ein Schatten seines mächtigen Vorgängers, der beim Angriff der Piraten zerstört worden war, bedeckte ein weißer Teppich aus Vogelmist und die rostige Umlenkrolle bewegte sich quietschend in einer schwachen Meeresbrise.

Craig setzte sich auf einen großen Felsen nahe der Anlegestelle und blickte über das Binnenmeer nach Norden, wo sich am Horizont die Küstenlinie des Festlandes abbildete. Der Waisenjunge seufzte. Kein anderer Platz auf Notting hätte seine Unentschlossenheit besser unterstreichen können. Gedanklich hing er schon längst irgendwo zwischen dem Festland und seiner Heimatinsel, doch noch immer konnte er sich nicht entscheiden, ob er zu seiner Reise aufbrechen oder doch lieber bleiben sollte.

Ein Fischer, ein gebrechlich wirkender Mann mit lederner Haut, kehrte gerade in seinem kleinen Boot von seinem Fang zurück. Er trug ein schweres, mit Meerwasser getränktes Netz ans Ufer, das randvoll mit zappelnden Fischen war. Craig musste bei diesem Anblick lächeln. Dieser Fang war so gut, dass der Fischer und seine Familie eine Weile davon leben konnten. Craig gönnte jedem Inselbewohner diese kleinen Erfolgserlebnisse, denn sie waren viel zu spärlich gesät.

Während der Alte seinen Fang genauer unter die Lupe nahm, schleppte sein Gehilfe das Boot an Land. Craig hielt den Atem an, als er erkannte, dass der Assistent des alten Fischers der Fremde war, dem er vorhin noch in Premans Taverne begegnet war. Ohne sichtliche Anstrengung und nur mit einer Hand zog er das kleine Fischerboot an die Küste. Craig wusste, dass diese Arbeit einfacher aussah, als sie in Wirklichkeit war, denn man musste gegen den schwachen, aber doch vorhandenen Brandungsrückstrom ankämpfen, der das Boot erfasste und zurück aufs offene Meer schieben wollte. Doch der Fremde bestätigte die Kraft, die Preman ihm zugesprochen hatte, und brachte den kleinen Kahn mühelos an den Strand.

Craig beobachtete das recht unspektakuläre Geschehen so gebannt, dass er Hiob erst bemerkte, als sich der einäugige Dunkelelf direkt neben ihn setzte. „Du träumst ja schon wieder“, begrüßte er den Waisenjungen grinsend. „Als ich dich weder in der Taverne, noch am Fluss gefunden habe, hatte ich mir schon Sorgen gemacht, dass du tatsächlich schon zu deiner Reise aufgebrochen bist. Du klangst gestern ziemlich entschlossen.“

„Sowas Ähnliches hat Preman auch schon gesagt“, entgegnete Craig abwesend. „Aber das heißt ja, dass du mir tatsächlich zutraust, die Insel zu verlassen.“

„Dir traue ich jede Dummheit zu“, lachte er. „Aber mal im Ernst. Hast du dir schon überlegt, wann du aufbrechen willst?“

Craig scharrte mit den Füßen im Sand und wich dem Blick des Dunkelelfen aus. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt aufbrechen werde“, murmelte er kleinlaut.

„Ach wirklich?“ Hiob klang überrascht. „Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin, mein Leben hier zurückzulassen“, erklärte Craig und hob den Kopf, um den Dunkelelfen hilfesuchend anzusehen. „Ich meine, Knack kann ich mitnehmen. Aber was ist mit dir? Wenn ich die Insel verlasse, sehen wir uns vielleicht nie wieder.“

Hiob rieb sich den Nacken und seufzte. „Eigentlich sollte es ja meine Aufgabe sein, dich von deinem Plan abzubringen, statt dich darin zu bestärken. Aber wegen mir brauchst du dir definitiv keine Gedanken zu machen. Ich werde ohnehin nicht immer da sein, um auf dich aufzupassen.“

„Wie meinst du das?“, entfuhr es Craig und er sah Hiob entsetzt an.

Der Dunkelelf hob abwehrend die Hände. „Das war doch nur so ein Spruch!“, verteidigte er sich lachend. „Ich wollte damit lediglich sagen, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst. Ich war schon immer ein Einzelgänger und komme auch alleine bestens klar. Wenn es also dein Wunsch ist, Notting zu verlassen, will ich dir nicht im Weg stehen. Aber ich glaube nicht, dass Preman und die anderen so begeistert sein werden, dich gehen zu lassen.“

Craig starrte nachdenklich auf seine Füße. Auch wenn Hiob ihn nicht davon abhalten wollte, zu seiner großen Reise aufzubrechen, fiel es ihm trotzdem schwer, seinen besten Freund einfach zurückzulassen. Er ließ seinen Blick schweifen und blieb wieder bei dem Fremden hängen, der gerade den Rumpf des Bootes nach möglichen Schäden absuchte. Dabei fiel ihm auf, dass zwei Grashalme aus seinem Mund ragten.

„Kennst du diesen Kerl?“, wechselte Craig das Thema und deutete mit einem Kopfnicken auf den schwarzhaarigen Mann.

Hiob folgte seinem Blick und grinste. „Ach, der“, antwortete er mit einer abwinkenden Handbewegung. „Der kam vor etwa einer Woche hier an, aber ich habe mich noch nicht mit ihm unterhalten.“

„Er ist ganz schön kräftig. Ich glaube, Preman hat deshalb Angst vor ihm.“

„Oh, ich glaube das liegt weniger an seiner Kraft, als an seiner Ausstrahlung“, entgegnete Hiob. „Die ist jedenfalls ziemlich einschüchternd.“

Craig erinnerte sich sofort wieder daran, wie gelähmt er sich gefühlt hatte, als der Fremde direkt neben ihm gestanden hatte. „Seine Ausstrahlung?“, wiederholte er verwundert und sah Hiob fragend an.

„Na klar“, antwortete der Dunkelelf und nickte wissend. „Jeder Dorashen hat diese Aura.“

Craig riss die Augen auf und wirbelte herum. Der Fremde unterhielt sich mit dem alten Fischer, der ihm für seine Hilfe eine Münze überließ.

„Dieser Kerl ist ein Dorashen?“, hauchte der Waisenjunge ehrfürchtig. „Ein Gottesstreiter? Aber er wirkt so…normal. Vielleicht ein bisschen düster. Aber schau dir mal die Fetzen an, die er trägt. So sieht doch kein Held aus.“

„Helden…“, sagte Hiob nachdenklich. „Helden sind die Dorashen schon lange nicht mehr.“

„Und du hast keine Angst vor ihm?“, fragte Craig ungläubig. „Ich meine, vor seiner Ausstrahlung?“

„Weshalb?“, lachte Hiob leise. „Der Kerl tut doch niemandem etwas. Und außerdem glaube ich, dass er nicht besser dran ist, als einer von uns.“

Craig warf dem Fremden einen verstohlenen Blick zu. Der Dorashen entfernte sich mit seinem spärlichen Lohn und sein Gesicht glich in seiner Ausdruckslosigkeit einer Maske.

Und Craig musste sich unweigerlich fragen, welches Unheil diese schwarzen Augen gesehen hatten, dass sie all ihren Glanz verloren hatten.

Am folgenden Tag legte die Küstenklinge am Pier von Notting an. Die Reise von Hauptmann Sason und seinen beiden Feldwebeln war ohne besondere Vorkommnisse vonstattengegangen. Die meisten Piraten, die früher in diesen Gewässern zuhauf anzutreffen waren, hatten längst ihren Standort gewechselt. Hier im Südwesten von Shalaine gab es kaum mehr nennenswerte Beute, dafür hatten die Seeräuber im vergangenen Jahrzehnt in dieser Gegend zu wild gewütet. Inzwischen hatten sich die meisten hinaus aufs offene Meer nach Norden gewagt oder weiter nach Süden, wo sie jedoch bei den hartnäckigen Bewohnern der Inseln von Grimhagen auf Granit bissen.

Wenn man sich Sason als Vertreter dieses Volkes ansah, war das nicht weiter verwunderlich. Seit jeher brachten die Südlichen Inseln die fähigsten Soldaten Gäas hervor, sehr zum Leidwesen der Dunkelelfen von Shalaine, die sich selbst in ihrem fast krankhaften Stolz als die tapfersten und größten Krieger der Welt bezeichneten. Sason war nur einer von vielen talentierten Offizieren in der Kaiserlichen Legion, die aus Grimhagen stammten. Die Bewohner der Südlichen Inseln galten außerdem als hervorragende Seefahrer und die meisten Kapitäne der Kaiserlichen Kriegsschiffe waren Sasons Landsleute.

Der Hauptmann trat an die Reling, als sein Schiff in die Bucht einlief, in der sich die Anlegestelle befand. Es war das erste Mal, dass er diese Insel betrat. Sofort fiel ihm auf, dass nirgendwo Truppen der Dunkelelfen zu sehen waren. Notting schien offenbar gänzlich unbewacht zu sein. Sason hatte von dem Überfall vor neun Jahren gehört. Heute war jener Tag innerhalb der Kaiserlichen Flotte gemeinhin als der letzte Raubzug von Varim dem Schwarzen bekannt. Nachdem der Dunkelelf mit seinen Rabauken zahlreiche Zivilisten gemeuchelt und einen Teil des Dorfes zerstört hatte, hatte er die Insel wieder verlassen und war seither verschwunden. Seit neun Jahren hatte man nichts mehr von dem einst so gefürchteten Piraten gehört. Es war fast, als habe es ihn nie gegeben. Sason bedauerte diesen Umstand ein wenig. Varim war einer der Gauner gewesen, die ganz weit oben auf der Liste des Hauptmanns standen. Es gab zwar keine persönliche Verbindung zwischen den beiden, aber die dreisten Überfälle des Dunkelelfen auf Siedlungen in den Hoheitsgebieten Ganestans waren für Sason die reinste Provokation gewesen. Nun war Varim verschwunden und absolut niemand wusste, wo er war oder was damals geschehen war. Inoffiziell galt er bereits als tot, aber Sason glaubte nicht daran. Der gefürchtetste Pirat seiner Zeit starb nicht einfach so. Tatsache war jedenfalls, dass man den Dunkelelfen auf dieser Insel zuletzt gesehen hatte. Hier hatte er zum letzten Mal Leben genommen und Häuser niedergebrannt.

Sason verwarf die Gedanken an Varim. Er war wegen eines anderen Dunkelelfen auf diese Insel gekommen. „Fertig machen zum Anlegen!“, rief er seinen Befehl und seine Mannschaft gehorchte augenblicklich. Zielstrebig liefen die Seeleute über das Deck, machten sich am Ruder und den Segeln zu schaffen und nur kurz darauf kam die Küstenklinge knarrend direkt neben der Landungsbrücke zum Stehen. Der Anker wurde zu Wasser gelassen und das Schiff an einem Hafenpoller vertäut. Sofort stand Cedric neben Sason und salutierte zackig. „Wir haben erfolgreich angelegt, Hauptmann“, meldete er dienstbeflissen. Sparva bequemte sich gähnend an Deck. Verschlafen blinzelte sie in die Sonne und schirmte ihre Augen dann mit dem Arm gegen die grellen Lichtstrahlen ab. Sie hatte die Hälfte der Reise verschlafen und war zu keinem Zeitpunkt durch besonders große Motivation aufgefallen. Aber nun hatten sie ihr Ziel erreicht und die junge Frau wollte diesen nervigen Auftrag so schnell wie möglich zu Ende bringen, um endlich wieder in ihre geliebte Hängematte in der Kaserne der Kaiserstadt zurückkehren zu können. Sie gähnte erneut, streckte sich und stellte sich dann neben ihrem Kapitän in Positur. Dieser staunte immer, was für einen Elan die lethargische Frau entwickeln konnte, wenn ein Auftrag in die entscheidende Phase ging. Sasons Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sparva gefiel es offenbar gar nicht, dass ihr Vorgesetzter nur herumstand und grinste.

„Wann legen wir los?“, fragte sie ungeduldig. „Je schneller wir hier fertig sind, desto schneller können wir wieder zurück.“

„Ich habe nur auf dich gewartet, liebste Sparva“, antwortete Sason und betrat die ausgefahrene Planke. „Du und Cedric folgt mir. Das sollte reichen, um diesen Langfinger dingfest zu machen. Der Rest der Mannschaft bleibt an Bord und bewacht das Schiff.“ „Großartig!“, rief Cedric begeistert und überholte seinen Hauptmann, um als erster an Land zu gehen. Sason schmunzelte angesichts des Tatendrangs seines Feldwebels und folgte ihm. Sparva bildete mit schlurfenden Schritten das Schlusslicht. Zu dritt machten sich die Soldaten auf den Weg zum Dorf.

„Wie gehen wir vor, Hauptmann?“, fragte Cedric voller Übereifer. „Teilen wir uns auf und durchsuchen die Siedlung getrennt? Oder habt Ihr schon ein ganz bestimmtes Ziel? Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte von Euren Informanten? Wissen sie wo genau sich unsere Zielperson aufhält?“

„Kannst du nicht einmal die Klappe halten?“, stöhnte Sparva sichtlich entnervt.

Auch Sason schien das unentwegte Geplapper seines Feldwebels allmählich zu reizen. „Wir bleiben zusammen“, brummte er. „Ich kenne lediglich Namen und Gesicht des gesuchten Dunkelelfen, aber nicht seinen genauen Aufenthaltsort. Und jetzt stillgestanden, Feldwebel!“ „Wie Ihr befehlt, Hauptmann!“, rief Cedric, salutierte zackig und sah davon ab, Sason weiterhin mit seinen Fragen zu löchern.

Dem Hauptmann gefiel das schon deutlich besser. „Wir werden uns ein wenig umhören müssen“, vermutete er. „Und in jedem noch so kleinen Kaff gibt es eine Kneipe mit einem Wirt, der außer Bier und warmen Mahlzeiten auch ein paar Informationen zu bieten hat. Wir suchen also die nächste Taverne auf und erkundigen uns nach diesem Hiob.“

Die Soldaten hatten Premans Taverne schnell ausfindig gemacht. Im Gleichschritt betraten sie das heruntergekommene Gasthaus. Die Tür quietschte in den Angeln und Sason erwartete, dass er und seine beiden Feldwebel sofort alle Blicke auf sich ziehen würden. Die Uniformen der Kaiserlichen Armee waren für viele arglose Bürger ein seltenes Bild. Doch zu Sasons Überraschung war das Gasthaus leer, bis auf einen jungen Mann, der in einer dunklen Ecke saß und die Kaiserlichen Soldaten keines Blickes würdigte. Nur der Wirt starrte sie mit offenem Mund an.

Sason nahm mit seinen Feldwebeln an einem freien Tisch Platz und massierte sich stöhnend den verspannten Nacken. Preman kam nervös heran und buckelte unterwürfig vor den Soldaten.

„Darf ich den Herrschaften etwas zu trinken anbieten?“, fragte er mit zittriger Stimme und rieb sich dabei die schwitzigen Hände.

„Sehr gerne“, erwiderte Sason. „Für mich bitte eine Posca.“ Cedric bestellte ebenfalls einen Krug mit Essigwasser und Sparva entschied sich für einen Becher mit warmer Ziegenmilch. Während Preman eiligst wieder hinter seinem Tresen verschwand, machte er seine beiden Feldwebel mit einem Kopfnicken auf den Mann in der Ecke aufmerksam.

„Seht Euch den an…“, murmelte Sason seinen Begleitern zu und blickte aus dem Augenwinkel zu dem jungen Mann hinüber. „Der hat Nerven wie Drahtseile.“ Cedric lehnte sich nach vorne, um ebenfalls einen unauffälligen Blick über die Schulter in die besagte Ecke werfen zu können. Sparva hatte freie Sicht, war aber darauf bedacht, den jungen Mann nicht direkt anzustarren.

„Der kommt mir bekannt vor“, flüsterte Sason, doch gerade als überlegte, wo er diesen Kerl schon einmal gesehen hatte, kehrte Preman zurück und stellte die drei Getränke auf den Tisch. Er wollte sich schnell wieder zurückziehen, doch Sason hielt ihn auf.

„Einen Augenblick bitte, Wirt“, rief er.

Preman rieb sich wieder nervös die Hände. „Kann ich Euch behilflich sein, mein Herr?“ Sason sah aus dem Augenwinkel, dass der junge Mann in der Ecke aufstand und die Taverne verließ. Der Hauptmann schob die Gedanken an den mysteriösen Kerl endgültig beiseite und widmete sich wieder ganz dem verunsicherten Wirt.

„Das kommt ganz darauf an“, sagte Sason gedehnt und kramte in einem Beutel, den er an der Hüfte trug. „Zunächst einmal möchte ich die Getränke bezahlen.“ Er holte ein paar Münzen aus dem Säckchen und ließ sie in Premans Hand fallen.

Der Wirt machte hastig eine tiefe Verbeugung. „Vielen Dank, mein Herr!“

„Ich hätte da noch eine Frage“, fuhr Sason fort und hielt Preman Hiobs Steckbrief entgegen. „Kennt Ihr diesen Dunkelelfen?“ Der Hauptmann bemerkte sofort, wie dem Wirt der kalte Schweiß ausbrach. Nach außen hin zeigte er keine Regung, aber innerlich jubelte er bereits. Auch Cedric und Sparva entging nicht, dass der Wirt etwas wusste. Cedric konnte ein breites Grinsen nicht verhindern.

„Was…was wollt Ihr von ihm?“, stieß Preman mühsam hervor.

Sason legte eine Hand an die Schläfe und stützte sich auf den Ellbogen. „Das war zwar keine Antwort auf meine Frage…“, stellte er fest. „…aber ich schließe aus Eurer Gegenfrage, dass Euch dieser Mann bekannt ist. Was wir von ihm wollen, geht Euch nichts an. Sagt uns einfach, wo er sich aufhält.“

„Hat er…hat er etwas verbrochen?“, stotterte Preman. Es war dem Wirt anzusehen, dass ihn die Situation völlig zu überfordern drohte.

Sasons Blick verfinsterte sich schlagartig. „Schluss jetzt mit diesen Gegenfragen!“, rief er drohend. „Ich muss Euch hoffentlich nicht daran erinnern, dass wir den Befehlen des Kaisers folgen. Ich frage Euch jetzt ein letztes Mal: Wo finden wir diesen Dunkelelfen?“

Preman zitterte inzwischen am ganzen Körper. „Ich…ich bin doch nur ein einfacher Wirt…“, druckste er hilflos herum. „Ich will mit solchen Angelegenheiten nichts zu tun haben!“

„Schon gut, Preman. Ich weiß, dass sie meinetwegen gekommen sind.“

Wie ein Geist war Hiob in der Kneipe erschienen. Cedric und Sparva wurden vom plötzlichen Auftauchen der gesuchten Person völlig überrascht. Sie sprangen sofort auf und zogen ihre Schwerter. Sason dagegen zuckte nur kurz zusammen, als er die Stimme des Dunkelelfen vernahm, dann wandte er sich gelassen um. Der Hauptmann hob gebieterisch die Hand. „Steckt die Waffen zurück“, befahl er ruhig, aber bestimmt. „Sichert die Tür.“

Cedric und Sparva kamen diesen Aufforderungen sofort nach. Sie schoben ihre Waffen zurück in die Gürtel und traten hinter Hiob, um ihm den Weg zur Tür zu versperren. Dabei hatten sie beide ihre Hand an den Schwertgriff gelegt und starrten den Dunkelelfen grimmig an. Selbst Cedrics ständiges Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden.

Hiob drehte seinen Kopf leicht nach rechts, um mit seinem gesunden Auge einen kritischen Blick über seine Schulter zu werfen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Sason zu.

„Euch haben wir gesucht“, meinte er und deutete mit dem Zeigefinger auf den Dunkelelfen, der keinerlei Regung zeigte. „Es freut mich, dass Ihr es uns so einfach macht und wir Euch nicht noch ewig suchen müssen. Die Fahrt zu dieser Insel war schon ermüdend genug.“ Sason gähnte, um seine letzten Worte zu unterstreichen. Hiob lupfte nur die Braue über seinem gesunden Auge.

„Und jetzt fangt bitte nicht damit an, so kurz vor dem Ziel Ärger zu machen und ergebt Euch einfach“, forderte Sason den Gesuchten.

Hiob machte keinerlei Anstalten, sich zu wehren oder zu flüchten. Stattdessen schloss er die Augen und breitete entwaffnend seine Arme aus. „In Ordnung“, sagte er. „Ich ergebe mich.“

Sason hatte fest mit einem Fluchtversuch gerechnet und starrte den Dunkelelfen ungläubig an. „Oh…nun…das hört man gerne“, stotterte er überrascht und räusperte sich. Seine eigene Verwunderung ärgerte ihn, aber er erlangte seine Fassung schnell wieder zurück. „Festnehmen!“ Cedric und Sparva nickten und banden dem Dunkelelfen, der sich kein bisschen wehrte, die Hände auf den Rücken.

„Sehr gut“, lobte Sason und brachte Hiob mit einem Klaps auf die Schulter dazu, sich umzudrehen. „Bringen wir ihn zu Schiff.“

Cedric und Sparva griffen Hiob bei den gefesselten Armen und führten ihn aus der Taverne. Sason blieb noch kurz stehen und nickte Preman zu, der kreidebleich war. „Schönen Tag noch“, verabschiedete er sich und folgte seinen Feldwebeln und dem Gefangenen.
 

Craig war unterdessen nicht entgangen, dass ein Schiff im Hafen von Notting ankerte. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er die Insel verlassen oder doch lieber bei den Leuten bleiben sollte, die ihn schon sein ganzes Leben lang begleiteten. Stundenlang hatte er sich über das Für und Wider das Hirn zermartert und schließlich hatte er von seinem Lager am Fluss aus die Segel mit den goldenen Löwenköpfen gesehen. Sofort hatte ihn die Neugier gepackt und er war zur Küste gelaufen. Nun stand er staunend an der Anlegestelle und betrachtete das Kriegsschiff, das dort fest vertäut vor Anker lag.

Die Soldaten an Bord beachteten den Jungen gar nicht, der ehrfürchtig zu ihnen hinaufblickte. Ein Fischer, derselbe, den Craig am Vortag mit dem Dorashen gesehen hatte, saß etwas abseits des Landungsstegs im Sand und flickte seine Netze. „Na, Craig?“, fragte er. „Interessierst du dich für die Schiffe der Kaiserlichen Armee?“

„Nicht wirklich“, gab Craig abwesend zurück. „Eigentlich wollte ich nur wissen, warum die Soldaten nach Notting gekommen sind.“

Der alte Fischer kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Wie kann man bloß so neugierig sein?“, wunderte er sich. „Vielleicht weiß im Dorf jemand etwas Genaueres. Vorhin sind drei Soldaten an Land gekommen und haben mich nach der Taverne gefragt. Vielleicht hat es sich bis nach Kaboroth herumgesprochen, dass Preman ein ausgezeichnetes Bier braut.“

„Ja, die segeln mit Sicherheit bis zu dieser gottverlassenen Insel, nur um Premans Gesöff zu probieren“, erwiderte Craig und verdrehte die Augen. „Ich werde mir das selbst mal ansehen. Kümmere du dich weiter um deine Netze.“

Der Fischer hob zum Gruß seinen Hut und ging dann wieder seiner Arbeit nach, während sich Craig auf den Weg zum Dorf machte. Er hatte noch nicht einmal die ersten Hütten erreicht, als ihm drei Krieger in Uniform entgegenkamen. Sie sahen ziemlich beeindruckend aus und der Junge spielte gerade mit dem Gedanken, vielleicht besser doch nicht nachzufragen, was sie auf der Insel verloren hatten, als er bemerkte, dass die Soldaten nicht allein waren. Hiob folgte ihnen und seine muskulösen Arme waren ihm mit kräftigen Stricken auf den Rücken gebunden. Craig blieb auf der Stelle stehen. Als Hiob ihn erblickte, riss er sein gesundes Auge auf, dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck.

„Hey…hey…“, stammelte Craig und ging wie in Trance auf die Soldaten und ihren Gefangenen zu. „Was soll denn das?“

„Kann man dir helfen, Junge?“, fragte Sason freundlich und blieb stehen.

„Du solltest nicht hier sein, Craig“, sagte Hiob. „Geh zurück zu deiner Hütte.“

Craig kam näher. „Was soll denn das heißen?“, fragte er und starrte den Dunkelelfen an. „Kannst du mir mal erklären, was hier los ist?“

Cedric trat Craig entgegen. „Keinen Schritt weiter!“, drohte er und zog sein Schwert ein Stück aus dem Gürtel.

Der Junge gehorchte. „Warum ist Hiob gefesselt?“, wollte er wissen.

Das Lächeln auf Sasons Gesicht verschwand. „Nun…“, hob er an. „Weil er ein Dieb ist und wir mit der Aufgabe betraut wurden, ihn zu fassen und nach Kaboroth zu überführen.“

Craig verstand die Welt nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er abwechselnd Sason und Hiob an. Der Dunkelelf wich seinem Blick aus. „Ein Dieb?“, wiederholte der Waise entgeistert. „Was soll er denn gestohlen haben? Das ist doch Blödsinn!“

Sason atmete tief durch und sah Craig durchdringend an. „Dieses Abgelegenheit geht dich nichts an. Wir haben den Auftrag bekommen, diesen Mann festzunehmen und nach Kaboroth zu bringen. Also geh uns aus dem Weg!“

Craig zitterte am ganzen Körper. „Auf keinen Fall“, erwiderte er heiser und wünschte sich, sein Schwert bei sich zu tragen. „Das lasse ich nicht zu!“

Sason trat einen Schritt zurück und umschloss den Griff seines Langschwerts. „Junge…“, grollte er drohend. „Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen.“ Auch Cedric und Sparva griffen nach ihren Waffen.

„Lasst ihn gehen!“, keuchte Craig gereizt. Ihm war egal, dass er drei gestandenen Soldaten gegenüberstand.

„Der Dunkelelf scheint dir ja wirklich wichtig zu sein“, knurrte Sason. „Nur zu. Wenn du so weiter machst, kannst du ihm im Gefängnis Gesellschaft leisten. Ich sage es nur noch einmal: Geh uns aus dem Weg!“

Craig biss die Zähne aufeinander, bis er sie knirschen hörte. Seine Knöchel wurden weiß und sein Blut rauschte ihm in den Ohren. „Nein“, erwiderte er nur störrisch.

Sason nickte Cedric finster zu. Der Feldwebel ging entschlossen auf den Jungen zu und packte ihn am Arm. Craig wehrte sich heftig und versuchte, sich aus dem Griff des Soldaten zu befreien, als plötzlich ein lautes Zischen und Knurren ertönte. Knack tauchte wie aus dem nichts aus den Binsen am Wegesrand auf und stürzte sich direkt auf Cedric.

Der Feldwebel konnte von Glück reden, dass er Armschienen trug. Der Knucker hatte sein Handgelenk anvisiert und bohrte seine Giftzähne nur in Leder, statt in Fleisch. Cedric ließ Craigs Arm erschrocken los und wurde von der Wucht des Angriffs des rostroten Drachen zu Boden geworfen. Mit einem gezielten Tritt befreite er sich aus Knacks Fängen, rappelte sich hastig auf und zog sein Schwert.

„Was bei Solas Licht ist das denn?“, fragte er mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

Sasons Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ein Knucker, wenn ich mich nicht irre“, beantwortete der Hauptmann die Frage seines Feldwebels. „Hat er dich erwischt?“

Cedric prüfte kurz sein Handgelenk und schüttelte den Kopf. „Nein, alles in Ordnung, Hauptmann.“

Sason nickte beruhigt und musterte den schlangenartigen Drachen. Der Junge war nur ein lästiges Ärgernis, aber ein Knucker war ein gefährlicher Gegner. Knack hatte sich schützend vor Craig aufgebaut und knurrte die Soldaten zornig an. Der Waisenjunge rappelte sich wieder auf und starrte den Drachen überrascht an. „Was machst du denn hier?“, rief er verwundert, aber erfreut zugleich. Knacks Antwort war ein aufmunterndes Knurren und Glucksen.

„Das Biest gehört zu dir?“, fragte Sason mit ungläubig, ehe sich sein Gesichtsausdruck wieder verfinsterte. „Langsam fängst du wirklich an, mir auf die Nerven zu gehen!“

„Selbst schuld!“, blaffte Craig bockig zurück. „Bevor ihr Hiob nicht freilasst, lasse ich euch jedenfalls nicht durch!

„Hör endlich auf mit diesem Blödsinn, Craig!“, meldete sich der Dunkelelf nun selbst zu Wort. „Es ist, wie der Hauptmann gesagt hat. Ich bin ein Dieb und habe mich freiwillig gestellt. Lass es gut sein, bevor du dich und Knack noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringst.“

Craig konnte nicht glauben, was er hörte. „Aber…aber…ein Dieb?“, stotterte er. „Wie kann das sein? Du warst doch die ganze Zeit hier bei mir?“

Hiobs narbiges Gesicht war hart und ausdruckslos. „Du hast mir doch nie geglaubt, dass das Schwert, das ich dir geschenkt habe, ein Erbstück deines Vaters war, nicht wahr? Bitteschön, du hattest recht. Ein versilbertes Heft, ein versilberter Knauf…das ist keine Waffe, die ich mir leisten kann.“

Craig sackte in sich zusammen und ging zitternd in die Knie. Er war sich sicher, dass Hiob ein gutes Herz hatte und wollte es nicht wahrhaben, dass sein Mentor ein berüchtigter Dieb sein sollte. Und auf keinen Fall wollte er wahrhaben, dass man ihm den Mann wegnahm, der nach dem Tod seiner Eltern wie ein Vater für ihn gewesen war. Seine Finger gruben sich tief in den staubigen Boden und rollten sich zusammen, bis sich seine Hände zu Fäusten ballten.

„Mach dich nicht unglücklich.“

Eine Hand legte sich auf seine Schulter und Craig hob den Kopf. Über ihm stand der Dorashen. Das Herz des Waisenjungen setzte einen Schlag aus. Im ersten Augenblick war er vor Ehrfurcht wieder wie versteinert, doch dann kam ihm der Gedanke, dass der Mann gekommen war, um ihm aus irgendeinem Grund zu helfen. Craig schöpfte neue Hoffnung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Soldaten mit einem Dorashen anlegen würden. Knack starrte den Fremden neugierig an, schien dann aber zu dem Schluss zu kommen, dass er keine Bedrohung für Craig darstellte.

Cedric und Sparva nahmen Kampfhaltung ein, während Sason den Neuankömmling misstrauisch beäugte. Er erkannte ihn sofort als den Mann aus der Taverne wieder und konnte sich erneut nicht des Gefühls erwehren, dass er sein Gesicht schon einmal gesehen hatte. „Kenne ich Euch?“, fragte er lauernd.

Craig entging nicht, wie der Fremde kaum merklich zusammenzuckte. „Möglich“, entgegnete er kühl. „Ich habe Euch aber noch nie gesehen.“

„Ihr seid doch nicht etwa hergekommen, um ebenfalls Ärger zu machen?“, gab Sason zurück. Fast beiläufig griff er nach seinem Langschwert.

„Keineswegs“, erwiderte der Dorashen. „Ich bin lediglich hier, um diesen Jungen davon abzuhalten, eine Dummheit zu begehen.“

Sasons angespannte Körperhaltung lockerte sich ein wenig und er ließ sein Schwert wieder los. „Das käme uns sehr gelegen“, gab er zu. „Wenn Ihr dafür sorgt, dass uns dieser Knirps nicht länger in die Quere kommt, werde ich großzügig darüber hinwegsehen, dass er unsere Arbeit behindern wollte.“

„Er wird keine Schwierigkeiten mehr machen“, versprach der Fremde. „Dafür werde ich sorgen.“

In diesem Augenblick wurde Craig schmerzhaft klar, dass der Dorashen nicht gekommen war, um ihm dabei zu helfen, Hiob aus den Fängen der Soldaten zu befreien. Der Waisenjunge ärgerte sich darüber, dass er diese verzweifelte Hoffnung gehegt hatte, aber der Fremde hatte keinen Grund, sich mit der Kaiserlichen Armee anzulegen. Stattdessen half er den Soldaten dabei, Hiob von der Insel zu schaffen.

Craigs Körper erzitterte und noch ehe er selbst wusste, was geschah, sprang er schon zornerfüllt auf. In einem Anflug von verzweifelter Wut wollte er sich auf die Soldaten stürzen, doch die Hand des Dorashen schnellte nach vorn und packte ihn am Arm. Der Waisenjunge wirbelte herum und versuchte, sich aus dem Griff des Fremden zu befreien. Er zog und zerrte, doch die Finger des Mannes hatten sich unnachgiebig wie ein Schraubstock um seinen Arm geschlossen.

„Was soll das?“, schrie Craig ihn an. „Was denkst du eigentlich, wer du bist? Lass mich los! Sie dürfen Hiob nicht mitnehmen!“

Knack hatte seine Meinung über den Dorashen geändert, als dieser Craig beim Arm gepackt hatte. Er duckte sich angriffslustig und knurrte den Mann drohend an. Doch der Fremde beachtete den fauchenden Knucker gar nicht.

„Dein Freund hat gesagt, dass er aus freien Stücken mit ihnen geht“, sagte er tonlos. „Du solltest seine Entscheidung akzeptieren.“

Craig starrte den Dorashen entgeistert an. „Das kannst du nicht machen“, japste er verzweifelt und nach einem letzten, hoffnungslosen Versuch, sich aus dem Griff des Mannes zu befreien, brach seine Gegenwehr. Fassungslos starrte er ins Leere und hörte wie durch Watte, wie Hiob ein langgezogenes Seufzen ausstieß.

„Lass gut sein, Craig“, sagte der Dunkelelf mit ruhiger Stimme. „Ich habe gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Man kann nicht ewig vor seiner Schuld davonlaufen. Früher oder später bezahlt man immer für seine Sünden.“

Ein Zittern durchlief den Körper des Dorashen, so heftig, dass Craig es deutlich in seinem Arm spüren konnte. Ein Tränenschleier ließ seinen Blick verschwimmen, als er den Kopf hob und in Hiobs einäugiges Gesicht sah. Er konnte erahnen, dass sich der Mund des Dunkelelfen zu einem traurigen Lächeln verzog.

„Unsere gemeinsame Zeit war von Anfang an begrenzt“, fuhr Hiob fort. „Und ich habe dir gesagt, dass du auf mich keine Rücksicht nehmen musst, wenn du wirklich zu deiner großen Reise aufbrechen willst.“

Sämtliche Kraft wich aus Craigs Gliedern. Seine Beine gaben nach und er sackte in die Knie. Der Dorashen lockerte seinen Griff und ließ den Arm des Waisenjungen los. Knack wirkte verunsichert, wich vorsichtig ein paar Schritte zurück und sah Craig sorgenvoll winselnd an.

Sason erkannte sofort, dass von dem Knucker keine Gefahr mehr ausging und der Widerstand des Jungen endgültig gebrochen war. Er nickte Cedric und Sparva zu und seine beiden Feldwebel steckten augenblicklich ihre Schwerter zurück in ihre Gürtel. Dann ergriffen sie Hiob bei den Armen und forderten ihn auf, weiterzugehen. Der Dunkelelf gehorchte ohne Gegenwehr und setzte sich in Bewegung.

„Leb wohl, Craig“, murmelte er leise, als er den auf dem Boden kauernden Waisenjungen passierte. „Pass gut auf ihn auf, Knack.“ Der Drache wippte mit dem Kopf und gab ein trauriges Zischen von sich.

Während Hiob von Cedric und Sparva abgeführt wurde, blieb Sason noch kurz zurück. Noch einmal startete er einen fieberhaften Versuch, sich daran zu erinnern, wo er das Gesicht des Fremden schon einmal gesehen hatte, doch es wollte ihm noch immer nicht einfallen.

„Der Junge will es vielleicht nicht wahrhaben, aber Ihr habt ihm einen großen Dienst erwiesen“, rief er ihm zu. „Die Armee dankt Euch für Eure Unterstützung.“

Der Fremde stand unbewegt wie ein Marmorstatue da. „Ich habe das bestimmt nicht für Euch getan“, erwiderte er monoton. „Ich wollte nur verhindern, dass er einen schwerwiegenden Fehler begeht.“

Sason räusperte sich, um zu verbergen, dass ihn die Antwort des Mannes reizte. „Nun, wie auch immer“, brummte er. „Ich verabschiede mich. Vielleicht sieht man sich ja eines Tages wieder.“

„Das hoffe ich nicht“, erwiderte der Fremde.

Sason runzelte die Stirn und wandte sich wortlos ab. Während er zur Küstenklinge zurückkehrte, konnte er den Blick des Mannes in seinem Rücken spüren.

Die Segel der Küstenklinge waren schon hinter dem Horizont verschwunden und es war bereits Abend, als Craig aus seiner Schockstarre erwachte. Der Dorashen war fort und es war lautes Geschrei, das ihn aus seiner Trance riss.

„Hau ab, du Mistvieh! Lass den Jungen in Ruhe!“

Der Waisenjunge sah sich um. Neben ihm hockte Knack und knurrte angriffslustig. Ein Stein kam angeflogen und landete polternd auf dem staubigen Verbindungsweg zwischen Dorf und Anlegestelle. Craig schüttelte sich und stand auf.

„Craig! Sieh zu, dass du von dort verschwindest!“

Blinzelnd wandte der Waisenjunge den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein gutes Stück den Weg hinauf hatten sich drei Dorfbewohner versammelt. Zwei warfen aus sicherer Entfernung mit Steinen nach Knack, der dritte hielt dem Knucker entschlossen einen langen Schiffshaken entgegen. Craig brauchte eine Weile, bis er verstand, was vor sich ging. Knack war ihm nicht von der Seite gewichen, seit die Soldaten Hiob mitgenommen hatten. Die drei Dorfbewohner hatten ihn auf dem Weg zur Anlegestelle entdeckt und da er sich nicht gerührt hatte, waren sie davon ausgegangen, dass er von dem Knucker angefallen worden war. Nun versuchten sie den Drachen zu vertreiben, wagten es aber nicht, ihm zu nahe zu kommen.

Ein Stein traf Knack direkt am Kopf. Der Knucker fauchte wütend, doch als er sah, dass Craig wieder zu sich gekommen war, verstummte sein aggressives Knurren. Er schüttelte seinen Kopf und glitt mit schnellen Bewegungen seiner kurzen Füße davon, wobei sein langer, schlangenartiger Körper von einer Seite zur anderen pendelte. Die beiden Steinewerfer folgten ihm ein Stück, bis der Knucker in den Binsen am Flussufer verschwunden war.

„Hört sofort auf!“, rief Craig wütend. „Lasst ihn in Ruhe!“

Der Dorfbewohner mit dem Schiffshaken ließ seine behelfsmäßige Waffe fallen und eilte zu dem Jungen hinüber.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich besorgt. „Bei den Göttern! Wenn ich gewusst hätte, dass sich so ein Ungetüm auf unserer Insel herumtreibt, wäre ich niemals so sorglos spazieren gegangen. Hat dich das Biest verletzt?“ Die beiden Steinewerfer kehrten zurück. Sie schienen sehr zufrieden damit zu sein, den Drachen vertrieben zu haben.

Craig wehrte sich heftig gegen den Mann, der ihn offenbar stützen wollte. Er hielt ihn an beiden Schultern fest und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen. „Mir geht es gut“, maulte er und wand sich aus dem Griff des Mannes. Dann stand er ohne Hilfe auf, drehte sich um und lief davon, der Bresche folgend, die Knack in die Binsen geschlagen hatte. Die Dorfbewohner sahen ihm verwundert nach.
 

Craig fand Knack bei seinem Unterstand. Die Schuppen des Knuckers hatten verhindert, dass er durch den Stein ernsthaft verletzt worden war. Jetzt saß er zusammengerollt am Ufer und beobachtete den Waisenjungen, der sich ihm näherte.

„Du hast auf mich aufgepasst, nicht wahr?“, fragte er den Drachen. Dieser wippte zur Bestätigung mit dem Kopf. „Du bist wirklich ein treuer Freund.“ Craig strich dem Knucker mit einem glücklichen Lächeln über den Kopf und Knack ließ ein wohliges Knurren ertönen.

Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen und im Norden braute sich mit dunklen Wolken ein Sturm zusammen. Vermutlich würde er nur über dem Binnenmeer toben und Notting verschonen. Nur ein warmer, auffrischender Wind kündete von dem fernen Unwetter. Craig blickte nachdenklich in die Ferne.

„Glaubst du, du kannst mich über das Binnenmeer führen?“, fragte er Knack. Der Knucker hob den Kopf, folgte Craigs Blick aufs Meer hinaus und nickte dann erneut. Der Waisenjunge konnte noch immer nicht akzeptieren, dass Hiob ein gesuchter Dieb sein sollte, aber nun, da sein Ziehvater und Mentor fort war, hielt ihn überhaupt nichts mehr auf seiner Heimatinsel. Vielleicht war das der Beginn des Abenteuers, nach dem er sich immer gesehnt hatte, auch wenn er sich das ganz anders vorgestellt hatte. Knack würde ihm folgen und mit dem Knucker an seiner Seite fühlte sich Craig nahezu unbesiegbar. Alle Zweifel der letzten Tage waren mit einem Mal wie weggeblasen. Mit grimmiger Entschlossenheit fing der Waisenjunge an, sich aus seinem Unterstand die wichtigsten Dinge zusammenzusuchen, die er auf seiner Reise benötigen würde. Er füllte einen großen Lederrucksack mit einigen nützlichen Werkzeugen, drei Feldflaschen voll Trinkwasser, einem Feuerstein samt Schlagring und ein paar Wundsalben, die Hiob hergestellt hatte. Außerdem rollte er eine warme Decke aus Lammfell zusammen, die in kalten Nächten unerlässlich sein würde, und band sie mit einem Strick an den Trageriemen des Rucksacks. Um Nahrungsmittel machte er sich noch keine Gedanken. Er hatte nicht vor, länger als einen halben Tag für die Überquerung des Binnenmeeres zu brauchen. Außerdem waren die Gewässer voll von Speisefischen und er hatte Knack bei sich. Craig konnte also getrost auf eine Angel verzichten. Der Knucker war im Wasser ein hervorragender Jäger und würde sie beide mit ausreichend Futter versorgen. Es graute dem Waisenjungen nur ein wenig davor, den Fisch im Notfall roh essen zu müssen. Auf dem Meer gab es schließlich kein Feuerholz. Vorsichthalber packte er noch eine Dose mit Salz ein, um den rohen Fisch ein wenig genießbarer zu machen.

Zum Abschluss öffnete Craig die Truhe, in der sein teuerster Schatz lag. Das Schwert war in schnödes Tuch eingewickelt, doch als der Waisenjunge den Stoff entfernte, leuchtete die Klinge in der Abendsonne wie pures Gold. Andächtig ließ der Waisenjunge seinen Blick über die makellose Waffe schweifen und schob sie schließlich, als er sich an ihrem Anblick sattgesehen hatte, vorsichtig in seinen Gürtel.

Craig schulterte den Rucksack, griff nach einem dicken Tau und gab Knack einen Wink. Der Junge und der Drache begaben sich gemeinsam zur Küste. Sie folgten nicht dem Weg, denn die Begegnung mit den Dorfbewohnern hatte Craig gezeigt, dass Hiob mit seinen Bedenken immer Recht gehabt hatte und die Bevölkerung der Insel Knack besser nicht zu Gesicht bekommen sollten. Bevor die beiden die Anlegestelle erreichten, glitt der Drache ins Meer und tauchte unter der Wasseroberfläche zum Landungssteg. Dort lag das alte Segelboot von Craigs Vater am Ufer. Der Waisenjunge war damit in ein paar seltenen Ausnahmefällen aufs Meer hinausgefahren, wenn die Fische am Fluss überhaupt nicht beißen wollten. Besonders weit hatte er sich in der Nussschale aber nie von der Küste der Insel entfernt. Die meiste Zeit lag das Boot mit dem Kiel nach oben verwahrlost am Strand. Craig hatte es nie für nötig befunden, den kleinen Kahn instand zu halten. Wind und Wetter hatten das Boot inzwischen halb mit Sand zugeschüttet. Der Waisenjunge mühte sich ab, um den Rumpf wieder auszugraben. Mit bloßen Händen schaufelte er den grobkörnigen Sand zur Seite und hatte sich die Finger in kürzester Zeit wund geschuftet, als sich das gesamte Boot auf einmal wie von alleine aus dem Sand erhob. Craig hob ungläubig den Kopf und starrte in das ausdruckslose Gesicht des Dorashen, der den Rumpf mühelos mit einer Hand aufstellte und umdrehte.

„Verlässt du diese Insel?“, fragte er.

Craig blinzelte den Fremden verwirrt an, doch dann rief er sich wieder zurück ins Gedächtnis, dass der Mann keinen Finger gerührt hatte, um Hiob zu helfen, obwohl er zweifelsfrei die Kraft dazu besaß. „Möglich“, brummte der Junge abweisend. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Kannst du mich mitnehmen?“, fragte der Dorashen ungerührt und schien den feindseligen Tonfall in Craigs Stimme gar nicht zu bemerken.

„Wie bitte?“, rief der Junge entrüstet. „Ist das dein Ernst? Warum sollte ich dir helfen? Du hast ja auch keine Anstalten gemacht, mir beizustehen.“

„Ich kann dir ein bisschen Geld dafür geben“, erwiderte der Dorashen. „Der Wirt wollte keine Bezahlung für sein Bier.“

„Das habe ich mitbekommen“, grummelte Craig. „Aber deine lausigen Münzen kannst du behalten.“

„Verstehe“, murmelte der Dorashen und kratzte sich am Hinterkopf. Wie er so unschlüssig dastand, tat er Craig irgendwie leid. Der Waisenjunge seufzte und beschloss, ein kleines bisschen weniger ruppig zu sein. „Warum willst du denn ausgerechnet mit mir segeln?“, fragte er vorsichtig.

„Ich bleibe nicht gerne lange am selben Ort“, erklärte der Dorashen. „Und offenbar kommen selten Schiffe auf diese Insel, die bereit sind, einen Passagier mitzunehmen. Da schien mir dein Boot eine willkommene Gelegenheit zu sein.“

Craig besah sich seinen kleinen Kahn. Das alte Holz roch süß und modrig und war von einem schmierigen Film aus Algen überzogen. Für ihn sah das Boot nicht nach einer willkommenen Gelegenheit aus, sondern vielmehr, als würde es schon bei der ersten Welle einfach in sich zusammenfallen. „Wo willst du denn überhaupt hin?“, erkundigte er sich und versuchte, möglichst gleichgültig zu klingen.

Der Dorashen zuckte die Schultern. „Ich habe kein Ziel“, antwortete er kühl. „Ein Ort ist so gut, wie jeder andere.“

„Klingt nicht, als wärst du besonders wählerisch“, stellte Craig fest und verengte seine Augen zu misstrauischen Schlitzen. „Du bist ein Dorashen, nicht wahr?“

Der Fremde zuckte zusammen und zum ersten Mal, seit Craig ihm in Premans Taverne begegnet war, sah er in seinem Gesicht den Anflug einer Regung. Seine sonst so glanzlosen Augen leuchteten für einen Sekundenbruchteil und in ihnen flackerte etwas auf, das Craig am ehesten als Angst bezeichnet hätte.

„Woher weißt du das?“, fragte der Mann und seine Stimme klang rau und keuchend, als würde ihm etwas den Brustkorb zuschnüren.

„Man hört halt so Gerüchte“, gab Craig zurück und spürte ein Kribbeln in seinem Bauch. Es gab vermutlich nicht viele Leute, die in den Genuss kamen, gemeinsam mit einem Dorashen zu reisen. Einen besseren Begleiter konnte man sich nicht aussuchen, wenn man sich in ein Abenteuer stürzen wollte. Craig war auf einmal sogar bereit, zu vergessen, dass er dem Fremden eine Mitschuld an Hiobs Festnahme gab. Und tief in seinem Inneren wusste er selbst, dass der Mann ihn nur davor bewahrt hatte, sich in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Wahrscheinlich sollte er ihm sogar dankbar sein. „Also gut“, murmelte er schließlich und machte eine auffordernde Handbewegung. „Meinetwegen kannst du mitkommen.“

„Danke, du hilfst mir damit wirklich sehr“, erwiderte der Mann, ohne dass man ihm seine Dankbarkeit angesehen hätte. Sein Gesicht war wieder ausdruckslos wie eine Maske und das kurzzeitige Leuchten in seinen Augen war längst von der tiefen Schwärze seiner Iriden geschluckt worden.

Craig fragte sich, ob alle Dorashen so merkwürdig waren. „Ich bin übrigens Craig“, stellte er sich vor und streckte dem Mann eine Hand entgegen. Sein Gegenüber ergriff sie und drückte sie kräftig. „Mein Name ist Vance“, sagte er tonlos.

„Also gut, Vance“, rief Craig. „Dann hilf mir mal, die Nussschale zu Wasser zu lassen.“ Er drehte sich um, stemmte sich mit beiden Füßen in den Sand und fing an, das Boot schnaufend vor Anstrengung auf die Gezeitenlinie zuzuschieben. Als Vance dazu kam, um ihm zu helfen, machte der Rumpf plötzlich einen Satz nach vorn. Der Widerstand ließ nach und Craig landete bäuchlings auf dem weichen Boden. Fluchend spuckte er Sand aus und sah dann, wie der Dorashen das Boot in aller Seelenruhe vor sich herschob. In kürzester Zeit hatte er den Strand überquert und stieß den kleinen Kahn mit einem sanften Schubs in die Wellen.

Craig rappelte sich hastig auf und klopfte sich den Sand von seiner zerschlissenen Hose. Rasch lief er zum Ufer, watete durch das seichte Wasser und schwang sich an Bord. Das Boot schwankte unter seinem Gewicht bedenklich und Craig hielt sich vorsichtshalber an dem kleinen Mast fest, um nicht ins Wasser zu fallen. Das Segel würde er vorerst nicht setzen müssen, immerhin hatte er Knack als Zugpferd. Erst, wenn der Knucker zu erschöpft war, um sich weiter vor das Boot zu spannen, würde sich Craig dem Wind und den Wellen überantworten. Vance stieß den kleinen Kahn noch tiefer ins Wasser und kletterte dann ebenfalls an Bord. Der Brandungsrückstrom erfasste die Nussschale und zog sie langsam aber sicher aufs Meer hinaus.

Der alte Fischer saß noch immer an der Anlegestelle und flickte seine Netze. Als sie an ihm vorbeikamen, hob er überrascht die dichten Augenbrauen. „Fahrt ihr so spät noch aufs Meer hinaus?“, rief er ihnen besorgt zu. „Passt bloß auf euch auf! Es wird bald dunkel und da draußen braut sich ein Sturm zusammen.“ An der Küste war die Wasseroberfläche, abgesehen von den sanften Brandungswellen, noch spiegelglatt, doch der wolkenverhangene Himmel kündete von den Naturgewalten, die über Binnenmeer tobten.

„Ich segele in ein Abenteuer“, antwortete Craig strahlend und fühlte sich in diesem Augenblick so frei, wie noch nie zuvor. „Richte Preman bitte Grüße von mir aus, wenn du ihn triffst. Wir werden uns eine ganze Weile nicht sehen.“

Der Fischer blickte verwundert von seinen Netzen auf. Er verstand kein Wort von dem, was Craig sagte. Der Waisenjunge störte sich nicht weiter an den verwirrten Blicken des Alten. Mit einem doppelten Knoten befestigte er das Tau am Bug seines Segelboots und warf das lose Ende ins Wasser. Knacks schuppiger Kopf tauchte aus dem Meer auf. Der Knucker beäugte Vance misstrauisch, doch als ihm Craig beruhigend zunickte, nahm er das Seil in den Mund, schlug einmal kräftig mit seinem langen Schwanz und zog das Schiff auf das Binnenmeer hinaus.

Craig machte es sich in dem Boot gemütlich. Verträumt blickte er zu seiner Heimatinsel zurück, die unter Knacks Einsatz rasch immer kleiner wurde. Dieses Mal gab es keinen Rückzieher. Ein wehmütiger Seufzer entglitt der Kehle des Waisenjungen. Vance, der ihm gegenübersaß, beobachtete ihn aus seinen dunklen Augen.

„Verlässt du deine Heimat zum ersten Mal?“, fragte er.

Craig nickte langsam. „Was ist mit dir?“, wollte er wissen. „Woher stammst du?“

„Narinfen“, erwiderte Vance und seine ohnehin schon ausdruckslosen Augen bekamen plötzlich einen seltsam abwesenden Blick. „Das wird dir nicht viel sagen. Es ist ein kleines Dorf im Süden von Ganestan.“

„Und wann hast du deine Heimat verlassen?“, fragte Craig neugierig. Er vergaß immer mehr, dass er gegen Vance ursprünglich einen Groll gehegt hatte.

Der Dorashen knetete seine Hände. „Vor ungefähr fünf Jahren“, antwortete er. „Ich schätze, ich war damals sogar noch ein wenig jünger als du.“

Craigs Blick wanderte verträumt in den Himmel, der immer dunkler wurde. Er fragte sich, wie viele Abenteuer er wohl schon erlebt haben würde, wenn er fünf Jahre lang auf Reisen gewesen war, und ob er bis dahin jemals wieder zurück nach Notting gekommen sein würde.

Eine größere Welle streifte das Boot und ließ es schwanken. Craig wandte sich um und konzentrierte sich auf das, was vor dem Bug lag. Knack steuerte mit dem Segelboot im Schlepptau genau auf den Sturm zu, der sich über dem Binnenmeer zusammenbraute. Eine dicke, schwarze Wolkenfront verdeckte den Himmel und obwohl der Knucker trotz seiner Last schnell vorankam, war die Sicht in der Abenddämmerung so schlecht, dass von der Küste von Shalaine nichts mehr zu sehen war.
 

Als die Nacht hereinbrach, stiegen die Wellen höher und warfen das Boot hin und her. Craig sah, wie sich Vance krampfhaft an der knarzenden Reling festhielt. „Das ist nichts, weswegen wir uns Sorgen machen müssten“, rief er dem Dorashen grinsend zu. „Du wirst doch nicht etwa seekrank?“

„Das nicht“, entgegnete Vance, auch wenn sein Gesicht kreidebleich war. „Aber ich mag die Kombination aus Wind und Wasser nicht besonders.“

„Wir werden schon nicht untergehen“, sagte Craig optimistisch, aber seine Zuversicht war nicht von langer Dauer. Je dunkler es wurde, desto höher wurden die Wellen. Der Sturm traf das Segelboot nicht mit voller Wucht, aber er wühlte das Meer dennoch zu einem brüllenden Durcheinander aus salziger Gischt und kaltem Wasser auf. Die Sterne am Nachthimmel wurden von einer alles erdrückenden Schwärze verschluckt.

Knack kämpfte verzweifelt gegen die Naturgewalten an. Jedes Mal, wenn er sich mit ein paar kräftigen Schwanzschlägen voran arbeitete, wurde er von einer mächtigen Woge zurückgeworfen, die das Boot, das er trug, erfasst und heftig hin und her warf. Craig rief dem Knucker über das Tosen des Sturms hinweg immer wieder aufmunternde Worte zu, doch schließlich musste auch er einsehen, dass der Kampf des Wasserdrachen vergebens war. In dem fauchenden Unwetter war keine Navigation mehr möglich und Craigs Herz sank in seiner Brust, als er erkannte, dass sie den Elementen schonungslos ausgeliefert waren. Er beugte sich über den Bug, so weit er sich traute. „Lass das Tau los!“, brüllte er. „Aber bleib in unserer Nähe!“ Knack reagierte sofort. Er öffnete seine Kiefer, die sich krampfhaft um das Seil geschlossen hatten. Craig holte die Leine sofort ein, während der Kopf des Knuckers noch einmal zwischen den Wellenbergen erschien, ehe Knack in die Tiefen des Binnenmeeres abtauchte, wo das Wasser weit weniger aufgewühlt war.

Prasselnder Regen setzte ein, der von den heftigen Sturmböen fast waagerecht über die Amok laufende Wasseroberfläche getrieben wurde. In kürzester Zeit waren Craig und Vance bis auf die Knochen durchnässt. Das Meer glich einem sich ständig bewegenden Gebirge mit tiefen Schluchten und hoch aufragenden Klippen aus Salzwasser. Selbst in der Dunkelheit konnte Craig genau sehen, wie sich die Wellen immer höher auftürmten, brachen und donnernd in die Tiefe stürzten.

Das Segelboot wurde zum Spielball der Natur. Ein gewaltiger Brecher rollte längsseitig über den kleinen Kahn hinweg und Craig duckte sich tief auf die Planken, um nicht über Bord geschleudert zu werden. Der Mast knarrte und quietschte unter der erdrückenden Macht der Welle, doch er hielt stand. Craig schluckte einen Schwall Meerwasser und bekam einen heftigen Hustenanfall. Das Salz brannte in seinen Lungen und auf seiner Haut, doch als er in Vances aschfahles Gesicht blickte, wusste er, dass der Dorashen noch schlimmer litt. Der schwarzhaarige Mann klammerte sich noch immer verzweifelt an die Reling und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden.

Die Erkenntnis, dass auch ein Gottesstreiter die Naturgewalten fürchtete, schenkte Craig neue Kraft. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er sich inmitten eines Sturms besser halten würde, als ein Dorashen, und obwohl ihn die Macht der tobenden Elemente noch immer ängstigte, fühlte er einen gewissen Stolz, der seine Brust schwellen ließ.

Die ganze finstere Nacht lang heulte und tobte der Sturm. Nässe und Kälte trieben mit jeder Welle, die das Segelboot rammte, mehr und mehr das Gefühl aus Craigs klammen Fingern. Regen und Wind peitschten sein Gesicht und rissen an seinem Hemd, aber der Waisenjunge hielt eisern stand. Nicht ein einziger Klagelaut entrang sich seiner Kehle. Stattdessen kniete er standhaft wie eine Gallionsfigur am Bug und trotzte dem wütenden Sturm.

Eine weitere Welle rollte Gischt spuckend über das Segelboot hinweg und dann war es plötzlich still. Das Heulen des Unwetters erstarb und der Regen ließ nach. Das Meer beruhigte sich und der Kahn wippte nur noch auf ein paar kleinen Wellen auf und ab. So vernichtend der Sturm auch über sie hereingebrochen war, so plötzlich hatte er wieder aufgehört.

Vance rollte sich zitternd zur Seite und übergab sich über die Reling. Craig wischte sich die Gischt aus dem Gesicht und rieb sich die vor Salz brennende Nase. Die Sterne waren noch immer hinter der Wolkendecke verborgen, aber der Himmel wirkte nicht mehr ansatzweise so dunkel und bedrohlich, wie während des Sturms.

Vance richtete sich stöhnend auf und legte sich eine Hand an die nasse Stirn. „Was machen wir jetzt?“, fragte er und klang ziemlich hoffnungslos. „Du hast die Orientierung verloren, nicht wahr?“

„Wir warten auf Knack“, erklärte Craig und bemerkte, dass er vor Kälte zitterte. Fröstelnd schlang er sich die Arme um den Körper. Seine Lammfelldecke war vollkommen durchnässt und konnte ihm in diesem Zustand unmöglich Wärme spenden. „Und dann müssen wir wohl oder übel ausharren, bis es wieder hell wird. Ohne die Sternbilder kann ich unmöglich sagen, ich welche Richtung wir segeln müssen.“ Vance kommentierte seine Worte nicht. Der Dorashen saß einfach nur da und starrte finster vor sich hin.

Die Stunden nach dem Sturm zogen sich endlos in die Länge und Craig wurde kälter, je mehr Zeit verging. Sein Rachen brannte von dem Salzwasser, dass er geschluckt hatte, und die erstem beiden Feldflaschen waren in Windeseile leer.

Der Waisenjunge wusste nicht, wie lange sie schon auf den Sonnenaufgang gewartet hatten, als direkt neben dem Boot Knacks Kopf aus dem jetzt wieder spiegelglatten Wasser auftauchte. Der vertraute Anblick des treuen Knuckers zauberte Craig ein Lächeln auf die Lippen, obwohl er erbärmlich fror. Der rostrote Wasserdrache wirkte erschöpft und die lange Zunge hing ihm hechelnd aus dem halb offenen Maul. Craig konnte nur ahnen, wie anstrengend es für den Knucker gewesen sein musste, stundenlang im Meer zu treiben und gegen die Wellen anzukämpfen.

Auffordernd klopfte er auf die Reling. „Komm an Bord und ruh dich ein wenig aus“, schlug er vor. Knack ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schlug seine Klauen in den Rumpf des Bootes und hievte sich ächzend aus dem Wasser. Der Kahn bekam Schlagseite und Vance fuhr erschrocken zusammen, als sich ein Schwall Meerwasser über die Bordwand ergoss. Knack rollte sich zwischen Craig und dem Dorashen zusammen und war schon kurz darauf eingeschlafen. Der vertraute Klang seines leisen Schnarchens ließ Craig schläfrig werden und schließlich nickte auch er ein.
 

Als er wieder aufwachte, war es noch immer dunkel. Craig schreckte sofort hoch. „Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte er hastig. Vance saß unbeweglich am Heck und blickte aufs Meer hinaus. „Weiß nicht. Ein paar Stunden vielleicht“, erwiderte der Dorashen.

Craig rieb sich die Augen. Seine Kehle fühlte sich schon wieder an wie ausgedörrt. Er kramte in seinem völlig durchnässten Rucksack nach der letzten Feldflasche und benetzte seine trockenen Lippen mit einem Schluck klaren Wassers. „Warst du die ganze Zeit wach?“, fragte er den Dorashen und streckte ihm die Feldflasche entgegen. Vance lehnte das Trinkwasser dankend ab und bejahte Craigs Frage mit einem Kopfnicken.

Der Waisenjunge fragte sich, wo sie sich wohl befanden. Er ließ seinen Blick ebenfalls über das dunkle Binnenmeer schweifen und suchte nach Anhaltspunkten. Der Himmel war noch immer bedeckt und die kaum sichtbaren, aber zweifelsfrei vorhandenen Strömungen konnten sie in den letzten Stunden nahezu überallhin getrieben haben.

Da entdeckte er am Horizont ein schwaches Licht, nicht mehr, als ein schmaler Silberstreifen, der Himmel und Meer dennoch deutlich voneinander trennte. Und je länger Craig dorthin starrte, desto breiter und heller wurde der Schein. „Der Tag bricht an“, stellte er erleichtert fest. „Da drüben ist also Osten.“

Die Dunkelheit der Nacht zerriss langsam unter den Strahlen der aufgehenden Sonne, die noch träge über den Horizont krochen. Und dann fiel Craig noch etwas ins Auge. In der Richtung, die er für Norden hielt, zeichnete sich vor dem immer heller werdenden Himmel ein dunkler Schatten ab.

„Land in Sicht!“, schrie er voller Begeisterung und die vorangegangen Stunden der Kälte und Erschöpfung waren vergessen. Er sprang überschwänglich auf, setzte sich aber sofort wieder hin, als das Boot unter seinen Bewegungen heftig schwankte. Knack wachte auf und hob neugierig den Kopf.

„Komm schon!“, rief Craig dem Knucker zu. „Es ist nicht mehr weit!“

Knack gähnte und wippte zustimmend mit dem Kopf. Dann glitt sein schlangenartiger Körper ins Wasser und Craig warf ihm das lose Ende des am Bug verknoteten Taus zu. Der Knucker biss beherzt zu und zog das Boot mit energischen Schwanzschlägen auf die Küste zu, die am Horizont aufgetaucht war.

Im Licht der Morgensonne kamen die Gestade rasch näher. Craig erkannte bald einen kleinen Gebirgszug, der über dem Binnenmeer thronte, und eine gut ausgebaute Straße, die an der Küste entlangführte. Einzelne Bäume wuchsen in die Höhe und schwache Wellen schlugen sanft gegen das glatte, felsige Ufer. Craig blickte sich nach beiden Seiten um. Weiter im Westen entdeckte er eine schmale Langzunge, auf der ein hohes Gebäude in den Himmel ragte, das er als Leuchtturm identifizierte. Offenbar befand sich dort eine Hafensiedlung und der Waisenjunge atmete erleichtert auf. Nach dem Sturm hatte er kurzzeitig befürchtet, für immer auf dem Binnenmeer verschollen zu sein.

Vance hatte kein Wort mehr gesagt, seit die Küste in der Morgensonne aufgetaucht war. Sein Gesicht hatte wieder etwas an Farbe zurückgewonnen, aber bei jeder Welle, die gegen die Bordwand des Segelboots schlug, warf er einen skeptischen Blick auf die Wasseroberfläche, als fürchtete er, dass sich das Meer jeden Augenblick wieder in ein tosendes Ungetüm verwandeln konnte. Doch das Wetter blieb ruhig und am Himmel, der immer mehr vom Licht der aufgehenden Sonne überflutet wurde, hingen nur ein paar einzelne Wolkenfetzen.

Craig entschied sich, Knack nicht sofort auf den Leuchtturm zusteuern zu lassen. Vorher wollte der Waisenjunge aber noch kurz an Land gehen, um dem Knucker eine kurze Ruhepause zu ermöglichen, und er war sich sicher, dass er auch Vance damit einen Gefallen tat. Seine Arme zitterten vor Vorfreude, als er sich weit über den Bug des kleinen Segelboots hinauslehnte, als könne er dadurch Knacks Schwimmtempo beschleunigen. Der Knucker war erschöpft und mühte sich sichtlich ab, zog aber weiterhin tapfer an der Leine, an dem er das Segelboot hinter sich herschleppte.

Schließlich schrammte der Kiel der Nussschale über den felsigen Uferboden und Craig sprang sofort von Bord und streckte seine Arme. Zum ersten Mal in seinem Leben betrat er Boden, der nicht zu seiner Heimatinsel gehörte. Für Craig war das ein äußerst feierlicher Moment und er blieb kurz stehen, um die Eindrücke dieses fremden Landes auf sich wirken zu lassen.

„Na endlich!“, freute er sich und drehte sich zu Knack um, der sich keuchend an Land schleppte. „Du warst großartig! Ohne dich wären wir aufgeschmissen gewesen!“

Der Knucker hechelte erschöpft und gab ein freudiges Glucksen von sich. „Ruh dich kurz aus“, sagte Craig mitfühlend.

Auch Vance ging an Land. Seine Knie zitterten kaum merklich, als er aus dem Boot kletterte. Es war ihm anzusehen, dass er heilfroh war, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. „Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte er sich.

„Ich sehe mich nur schnell ein wenig um, bis sich Knack erholt hat“, antwortete Craig. „Dort drüben habe ich einen Leuchtturm entdeckt. Vielleicht befindet sich dort eine Hafensiedlung.“

Vance schien abzuwägen, ob er lieber den Landweg wählen sollte. „Warte hier und pass auf das Boot auf, während ich weg bin!“, rief Craig ihm zu. „Vielleicht finde ich hier in der Nähe einen kleinen See oder einen Fluss, an dem ich meine Feldflaschen auffüllen kann.“

Knack knurrte zustimmend und rollte sich am Ufer zu einem Kreis zusammen. Vance nickte unwillig, band das Segelboot aber trotzdem an einem großen Felsen fest und setzte sich unweit der Gezeitenlinie in den Sand, während Craig den steilen Hang zur Straße emporstapfte.

Der Handelsweg war breit und gepflastert und obwohl Craig meilenweit sehen konnte, entdeckte er nicht einen einzigen Reisenden, der auf dieser Strecke unterwegs war. Er wunderte sich, denn die Straße war so gut ausgebaut, dass er damit gerechnet hatte, dass sie eine der wichtigsten Verbindungswege in diesem Teil von Shalaine darstellte. Offenbar hatte er sich geirrt. Er zuckte mit den Schultern und sah sich in der Gegend nach einer frischen Trinkwasserquelle um. Da er in nächster Umgebung weder einen See, noch einen Fluss entdecken konnte, merkte er sich die Stelle, an der sein Segelboot vertäut lag, und schlenderte suchend die Straße entlang. Im Osten wurde die Gegend zusehends bergiger und unübersichtlicher, deshalb entschied sich Craig, nach Westen zu gehen. Dort verdichteten sich die einzelnen Bäume zu einem kleinen Wäldchen.

Er war noch nicht weit gekommen, da entdeckte er etwas abseits der Straße einen schmalen, unscheinbaren Trampelpfad, der sich durch die Felsen schlängelte. Dahinter lag am Fuße der Ausläufer eines kleinen Berges und im Schatten einiger Bäume ein kleiner See und Craigs Herz machte vor Glück einen Satz, als er das frische Wasser erblickte. Jegliche Vorsicht vergessend rannte er los und ließ sich am Ufer des Sees erleichtert auf die Knie fallen. Er tauchte seine Arme so tief ins Wasser, dass die hochgekrempelten Ärmel seines Hemds nass wurden. In dem Wissen, dass er nicht mehr so streng auf die Einteilung seiner Vorräte achten musste, trank er gierig und benetzte sein salzverkrustetes Gesicht mit dem kühlen Nass. Es war eine wahre Wohltat nach der trostlosen Nacht auf dem Binnenmeer endlich wieder von Wasser umgeben zu sein, das er trinken konnte und Craig hätte noch Stunden an dem kleinen See verbringen können. Schließlich rief er sich wieder in Erinnerung, dass er nicht nach Wasser gesucht hatte, um darin zu planschen. Hastig füllte er seine Feldflasche randvoll und wollte sich gerade auf den Rückweg zu seinem Segelboot machen, als ihn ein Geräusch innehalten ließ.

Hinter einem gewaltigen Felsen rutschte irgendetwas Großes einen mit Schotter bedeckten Hang hinunter. Craig sah ein paar kleine Steinchen, die über den Boden rollten und ins Wasser plumpsten. Instinktiv machte er einen Schritt zurück. Dann schob sich ein riesiges Ungetüm hinter dem Felsen hervor. Es sah aus wie ein Wolf, hatte aber die Größe eines ausgewachsenen Rindes.

Beim Anblick des riesigen Monstrums erstarrte Craig vor Schreck. Obwohl er noch nie einen gesehen hatte, wusste er, dass es sich bei dieser Bestie um einen Warg handelte. Er wusste, dass die Orks von Darkenfell bekannt dafür waren, diese Ungetüme zu zähmen und auf ihnen in die Schlacht zu reiten. Und er wusste, dass Warge gefährliche Raubtiere waren, für die ein Mensch eine willkommene Zwischenmahlzeit war.

Das Wolfsmonster bewegte sich mit schwankenden Schritten auf den See zu und gab dabei ein hungriges Knurren von sich. Seine fast blinden, roten Augen blinzelten in die Sonne und Craig bemerkte erleichtert, dass der Warg ihn nicht entdeckt hatte.

Das Ungetüm senkte seinen Kopf und fing an, gierig zu trinken. Das Wasser verhinderte, dass der Warg Craigs Witterung aufnehmen konnte und während das Monster seinen Durst stillte, bewegte sich der Waisenjunge vorsichtig rückwärts. Sein Schwert hatte er in seinem Boot liegen lassen und ohnehin glaubte er nicht, dass er mit einem hungrigen Warg aufnehmen konnte. Das Vernünftigste war, sich unbemerkt aus dem Staub zu machen.

Craig entfernte sich rückwärtsgehend langsam von dem See. Dabei konzentrierte er sich mehr auf jede Bewegung des Wargs, als auf den Weg, und stieß mit der Ferse gegen einen kleinen Stein, der sich löste und polternd dem Trampelpfad hinabrollte. Der Warg riss sofort den Kopf in die Höhe und bleckte die mörderischen Zähne. Seine zusammengekniffenen Augen fixierten Craig und dann riss das Ungetüm mit einem furchterregenden Brüllen seinen Kiefer auf.

Der Waisenjunge drehte sich sofort um und rannte los. Hinter sich hörte er, wie der Warg mit langen Sätzen das Ufer des Sees umrundete und hinter ihm herjagte. Craig flüchtete sich zurück auf die Straße und zwischen den Felsen verlor ihn sein Verfolger kurz aus den Augen. Der Warg blieb stehen, nahm schnuppernd Witterung auf und sprintete wieder los.

Craig rannte so schnell es seine Beine ermöglichten, doch das unheilvolle Knurren des riesigen Wolfs kam immer näher. Der Waisenjunge wusste, dass er dem Ungetüm zu Fuß niemals entkommen konnte und mit einem gehetzten Blick über seine Schulter, bei dem er mit Schrecken feststellte, dass der Warg ihn fast eingeholt hatte, verließ Craig mit einem verzweifelten Satz die Straße. Er stolperte den felsigen Hang zur Küste hinab und mit einem spitzen Schrei stürzte er sich kopfüber ins Meer. Der Warg bremste scharf ab und blieb schlitternd am Ufer stehen. Die fürchterlichen Krallen seiner Vorderpfoten zerkratzten den Felsen, auf dem er stand. Wütend starrte er auf Craig hinab, der sich schwimmend über Wasser hielt. Der Waisenjunge drohte dem Monstrum mit einer Faust. „Verzieh dich, du Drecksköter!“, rief er dem Warg entgegen. Das Ungeheuer tigerte noch eine Weile frustriert am Ufer auf und ab, doch dann gab es auf und verschwand mit ein paar kraftvollen Sprüngen auf der Küstenstraße.

„Netter Empfang“, brummte Craig und ließ seinen Blick die Gezeitenlinie entlang schweifen. Er entdeckte nicht weit entfernt sein Boot und Knacks Schwanzspitze, die hinter einem Felsen hervorlugte. Da er sich nicht sicher sein konnte, dass sich der Warg endgültig entfernt hatte, hielt er es für besser, den Rest des Rückwegs schwimmend zurückzulegen. Mit gleichmäßigen Armzügen glitt er durchs Wasser und warf dabei immer wieder nervöse Blicke den Hang hinauf, doch der Warg blieb verschwunden.

Vance hob verwundert den Kopf, als sich Craig neben ihm aus dem Wasser schob. „Wo kommst du denn jetzt her?“, fragte er.

„Frag nicht“, brummte Craig. „Ich hatte eine nicht besonders spaßige Begegnung mit einem Eingeborenen. Komm, die Straße ist nicht sicher. Wir sollten zusehen, dass wir wieder von hier verschwinden.“

Er weckte Knack und der erschöpfte Knucker knurrte unwillig. Craig blieb aber hart, löste energisch das Tau, mit dem er sein Segelboot festgemacht hatte, und trieb seinen Freund zur Eile an. „Komm schon, das ist kein guter Ort für ein Nickerchen“, rief er drängend. „Vertrau mir. Sobald wir den Hafen im Westen erreicht haben, kannst du dir ein ruhiges Plätzchen suchen und schlafen, so viel du willst.“

Knack grummelte leise und hievte sich langsam auf seine kurzen Beine. Der Knucker riss sein Maul auf und gähnte herzhaft. Dann stellte er plötzlich aufmerksam die Fortsätze an seinem Hinterkopf auf, als in der Ferne das unheilvolle Heulen eines Wargs erklang. Vance griff nach seinem Hackebeil.

„Glaub mir, ihr wollt nicht wissen, was das ist“, brummte Craig und kletterte an Bord des kleinen Segelboots. Vance folgte ihm, ohne die Uferböschung aus den Augen zu lassen. Knack hob neugierig seinen Kopf und nahm Witterung auf, doch als Craig ihn erneut rief, machte er kehrt und glitt ins Wasser. Der Waisenjunge wusste, dass sein Partner erschöpft und ausgelaugt war, aber er wollte nicht, dass Knack als Mittagessen für einen Warg endete. Prüfend streckte er einen Finger in die Luft. Es wehte nur eine leichte Brise, aber sie kam aus Osten.

„Komm an Bord“, rief er Knack zu. „Dann kannst du dich ein wenig ausruhen. Der Wind wird uns in die richtige Richtung tragen.“

Der Knucker ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang aus dem Wasser, schlug seine Krallen in die Planken des kleinen Segelboots und hievte die Hälfte seines schlangenartigen Körpers mit einem angestrengten Ächzen an Bord, wo er hechelnd liegen blieb. Sein Schwanz hing noch immer ins Wasser, aber Knack schloss einfach die Augen und fing wenige Atemzüge später bereits zu schnarchen an.

Craig schmunzelte und strich seinem treuen Begleiter über den Kopf. Dann setzte er das Segel des kleinen Boots und ließ sich langsam nach Westen treiben.

Während sie an der Küste entlang segelte, behielt Craig die Straße im Auge, doch diese wirkte noch immer verlassen. Er war sich sicher, dass die Warge der Grund dafür waren, dass dieser Handelsweg nicht so hochfrequentiert war, wie er eigentlich erwartet hatte, doch er entdeckte auch keine wilden Tiere entlang der Straße. Wahrscheinlich war seine Begegnung mit dem Wolfsmonster nur ein unglücklicher Zufall gewesen, denn das Küstengebiet schien fast vollständig unbewohnt zu sein.

Schließlich segelten sie an dem kleinen Wäldchen vorbei, dass Craig bereits bei seinem kurzen Landgang entdeckt hatte. Die Bäume waren alt und moosbewachsen, doch trotz ihrer imposanten Größe war der Hain, den sie bildeten, nicht besonders dicht. Craig erkannte weiter im Landesinneren allerdings noch höhere Wipfel, deren Blätter im Wind rauschten. Nach Norden hin wurde aus dem lichten Wäldchen offenbar ein großer, dichter Forst.

Dann tat sich vor Craigs Augen eine natürliche Bucht auf, die von hohen, glatten Klippen gesäumt war. Mächtige Mauern grenzten die friedliche Lagune vom Festland ab und an der Küste lag eine große Hafenstadt. Craig erkannte ärmliche Fischerhütten aus verwittertem Holz und massive, aus Stein errichtete Gebäude mit Strohdächern. Auf den ersten Blick erinnerte ihn die Stadt an Notting, bevor die Piraten vor neun Jahren einen Großteil der Insel geplündert und niedergebrannt hatten. Augenblicklich fing das alte Narbengewebe in seinem Gesicht an zu pochen, als würde sich auch die Verletzung an den Überfall der Seeräuber erinnern. Craig rieb sich den Nasenrücken und die verbrannten Wangen. Dieser Hafenstadt schien ein solches Schicksal bislang erspart geblieben und der Waisenjunge bezweifelte, dass sie jemals von einem Piratenüberfall derartig in Mitleidenschaft gezogen werden konnte, wie Notting. Die Bucht mit ihren hohen Klippen bot natürlichen Schutz und von dem Leuchtturm aus, der auf einer weit ins Binnenmeer hineinragenden Landzunge erbaut worden war, konnte man feindliche Schiffe bereits aus meilenweiter Entfernung entdecken. Außerdem war die Anwesenheit der Kaiserlichen Armee an diesem Ort mehr als deutlich zu erkennen. Wimpel mit dem goldenen Löwenkopf flatterten im Wind und an einem besonders großen Gebäudekomplex aus massivem Stein hingen mächtige Banner mit demselben Motiv.

Mit offenem Mund steuerte Craig sein kleines Segelboot in die Bucht hinein und auf den Hafen zu. An den Landungsbrücken lagen mehrere Schiffe unterschiedlichster Größen vor Anker und die Hütten der Fischer erstreckten sich an der gesamten Küstenlinie entlang bis zu der Landzunge, auf der der Leuchtturm thronte, und den hohen Klippen, die die Bucht einrahmten. Vance schien dieser Anblick überhaupt nicht zu beeindrucken. Teilnahmslos saß er im Heck des Boots und schien es gar nicht erwarten zu können, die schwankenden Planken wieder gegen festen Boden austauschen zu können.

Craig weckte Knack. Der Knucker knurrte missgestimmt ob der Tatsache, dass er bereits zum zweiten Mal an diesem Tag um seinen Schlaf gebracht wurde. „Tut mir leid, Kumpel“, entschuldigte sich Craig kleinlaut. „Aber du weißt ja, wie das mit den Einwohnern ist. Wir können nicht wissen, wie die Leute auf dich reagieren.“ Er sah sich um und deutete schließlich auf die Klippen, die westlich der Landzunge aufs Meer hinausragten. „Du wirst nochmal schwimmen müssen“, stellte er fest. „Aber jenseits der Klippen findest du bestimmt ein ungestörtes Plätzchen, an dem du dich ausruhen kannst. Dort findet dich niemand. Ich werde dann später nach dir suchen.“

Knack gähnte müde und blinzelte Craig zögernd an. Er schien dem Jungen nicht von der Seite weichen zu wollen. „Komm schon“, drängte Craig. „Das erspart uns eine Menge Ärger. Was soll mir schon passieren? Ich bin ja nicht allein.“ Er warf Vance einen kurzen, verstohlenen Blick zu.

Knack protestierte quäkend, doch letztendlich ließ er sich über die Reling des Segelboots gleiten und tauchte ins Wasser. Craig sah dem rostroten Schatten nach, der sich mit gleichmäßigen Schlangenbewegungen entfernte und dann langsamer wurde. Knack streckte noch einmal den Kopf aus den Wellen und starrte Craig mit seinen großen Augen unsicher an. Doch der Waisenjunge hob nur den Arm und deutete auf die Klippen im Westen. Knack zögerte einen Moment, doch letztlich wandte er sich um, schloss seine Nasenlöcher und verschwand unter der Wasseroberfläche.

Craig wartete nicht länger, sondern manövrierte sein kleines Boot in Richtung der Anlegestellen. Er fand einen Platz, an dem er seinen Kahn vertäuen konnte, und betrat den Steg zusammen mit Vance.

„Ich danke dir“, sagte der Dorashen. „Du hast uns beide zwar fast umgebracht, aber du hast mich auch von dieser Insel weggebracht. Ich schulde dir was.“

„Was hast du jetzt vor?“, fragte Craig neugierig. Insgeheim hoffte er, dass sich Vance auf einen Streifzug ins Landesinnere begeben würde, auf dem er ihn begleiten könnte. Craig konnte sich nichts aufregenderes vorstellen, als mit einem Dorashen durch ferne Länder zu reisen.

Aber Vance musste ihn enttäuschen. „Ich werde mich hier nach Arbeit umsehen“, erklärte er achselzuckend. „Und wenn ich lange genug hier war, werde ich weiterziehen.“

Craig dagegen hatte nicht vor, lange in der Stadt zu bleiben. Er war zwar durchaus neugierig, sie bis in ihre abgelegensten Gassen zu erkunden, aber er konnte sich nur schwer vorstellen, dass das Leben hier viel ereignisreicher als auf Notting sein würde. Vor allem der kleine Bezirk mit den ärmlichen Fischerhütten erinnerte ihn stark an seine Heimatinsel.

Neben ihm kniete ein dunkelelfischer Fischer, der gerade seinen Fang inspizierte. In seinem Netz zappelten ein paar kleine Silberbarben und Meerbrassen und der Dunkelelf schien nicht besonders zufrieden zu sein.

„Kein guter Fang heute?“, erkundigte sich Craig.

Der Dunkelelf blickte auf. Schwarzes, strähniges Haar hing ihm wirr in die Stirn, die von einer waagerechten, blassen Narbe durchzogen wurde. Seine schwarzen Augen blitzten für einen Sekundenbruchteil wütend auf, doch dann entspannten sich die Gesichtszüge des Mannes. „Es könnte besser sein. Es war aber auch schonmal schlimmer“, antwortete er brummig und wandte sich wieder seinen Netzen zu. „Es reicht, um zu überleben.“

Craig stemmte die Hände in die Hüften und sah sich im Hafen um. Hier gab es keine Häuser, bis auf das große Gebäude mit den Bannern des Kaisers. Die eigentliche Stadt begann erst dahinter, wenn man von den maroden Fischerhütten am Rande des Hafens absah.

„Was ist das hier für eine Stadt?“, erkundigte sich Craig.

Der Dunkelelf ließ von seinem Fang ab und starrte den Jungen ungläubig an. „Das weißt du nicht?“, wunderte er sich. „Dann musst du zufällig hierhergekommen sein. Ziemlich mutig von dir, das Binnenmeer mit so einer Nussschale zu durchqueren.“ Er nickte in Richtung des kleinen Segelbootes, das Craig an der Anlegestellte festgebunden hatte. „Diese Stadt hier ist Eydar, das Tor zur Halbinsel Adamas“, fuhr der Dunkelelf fort. „So wird sie jedenfalls von diesen verfluchten Soldaten genannt.“

Craig entging nicht, dass in den Augen des Dunkelelfen Hass aufblitzte. „Du magst die Soldaten wohl nicht besonders, was?“, fragte er zögernd.

Der Dunkelelf zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich sollte ich ihnen dankbar sein“, brummte er missmutig. „Sie haben Eydar zu dem gemacht, was es heute ist. Bevor sich die Armee hier niedergelassen hat, war das nur eines von vielen Fischerdörfern an der Küste, die ständig den Raubzügen der Banditen und Plünderer aus dem Landesinneren zum Opfer gefallen ist. Seit die Soldaten hier sind, wagt es keine Räuberbande mehr, die Stadt zu überfallen. Mit ihnen kam die Sicherheit nach Eydar und mit der Sicherheit der Reichtum. Wobei Reichtum relativ ist. Die einen schwimmen im Geld, die anderen haben gerade genug, um zu überleben. Aber das ist trotzdem mehr, als wir hatten, bevor die Armee hier aufgekreuzt ist.“

„Lebst du schon lange hier?“, wollte Craig neugierig wissen.

Der Dunkelelf kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Du stellst ganz schön viele Fragen, weißt du das?“, sagte er misstrauisch. „Vielleicht solltest du dich erst einmal vorstellen, bevor du mich weiter löcherst.“

„Oh, Verzeihung“, rief Craig verlegen und streckte dem Dunkelelfen hastig die Hand entgegen. „Mein Name ist Craig.“

Der Dunkelelf deutete mit einem Kopfnicken auf Vance, der teilnahmslos danebenstand. „Und wer ist das?“, wollte er wissen.

„Ach, niemand Wichtiges“, erwiderte Craig und grinste nervös. „Weißt du, das ist alles neu für mich. Es ist nämlich das erste Mal, dass ich meine Heimatinsel verlassen habe.“ Noch immer hielt er dem Mann die Hand hin. Er hatte schon das Gefühl, dass seine Begrüßung einfach ignoriert werden würde, aber schließlich klopfte sich der Dunkelelf die schmutzigen Finger ab und stand auf.

„Du gehst wohl auf große Wanderschaft, was?“, brummte er und schüttelte Craigs Hand. Seine Arme waren dünn, aber sein Griff kräftig. „Hab ich auch mal versucht, war aber nicht mein Fall. Ich bin Gilroy. Und um deine Frage zu beantworten: Ja, ich lebe schon eine Weile hier, aber Eydar ist nicht meine Heimat. Ich komme ursprünglich vom Festland von Shalaine.“

„Das Festland von Shalaine“, wiederholte Craig ehrfurchtsvoll und erinnerte sich daran, wie Hiob ihm von seiner Heimat erzählt hatte. „Wie ist es da so?“

„Heiß“, antwortete Gilroy knapp.

Craig wartete kurz in der Hoffnung, dass Gilroy die Erzählung von seiner Heimat noch etwas ausführen würde, doch der Dunkelelf ging wieder in die Knie und fing an, die Fische, die er gefangen hatte, aus dem Netz zu nehmen und in eine Holzkiste zu legen. Seine Herkunft schien nicht das liebste Gesprächsthema von Gilroy zu sein, aber Craig kam ohnehin nicht dazu, weiter nachzufragen, denn ein brünetter Mann mit eitel in die Luft gereckter Nase kam den Steg entlang stolziert und steuerte direkt auf Craigs Boot zu.

„Aus dem Weg, Gilroy!“, rief er barsch und stieß dem Dunkelelfen im Vorbeigehen heftig das Knie gegen die Schulter. Gilroy verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorne und musste sich mit einem Arm abstützen, um nicht umzufallen.

„Aulus!“, zischte er gehässig. „Was soll das, du aufgeblasener Fatzke?“

Aulus drehte sich schwungvoll um und sein Pferdeschwanz fiel ihm über die Schulter. „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“, forderte er hochnäsig. „Sonst klage ich dich der Beamtenbeleidigung an. Und du weißt, dass Brigadegeneral Loronk die Zügel deutlich strenger angezogen hat.“ Gilroy drehte sich knurrend weg und hantierte an seinem Netz herum.

Aulus stemmte triumphierend die Hände in die Hüften und wandte sich Vance zu. „Nun zu dir!“, rief er anklagend. „Gehe ich recht in der Annahme, dass dies dein Boot ist?“

Vance blinzelte Aulus verwirrt an.

„Wer bist du denn?“, mischte sich Craig argwöhnisch ein.

Aulus reckte wichtigtuerisch die schmale Brust vor. „Ich kann mich nicht erinnern, dich angesprochen zu haben“, sagte er schnippisch und wandte sich wieder Vance zu, den er offenbar noch immer für den Besitzer des Segelboots hielt. „Ich bin Aulus, Novize des Ordens der Goldenen Falken. Seit Neuestem bin ich dafür verantwortlich, dass im Hafen alles seinen geregelten Gang geht. Und im Zuge meiner Aufgabe muss ich dich darüber informieren, dass diese Anlegestelle kostenpflichtig ist.“

„Halt mal die Luft an!“, rief Craig empört. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er vollkommen ignoriert wurde, nur weil er kleiner war als Vance. „Das ist mein Boot.“

„Ach wirklich?“, erwiderte Aulus und rümpfte die Nase. „Nun gut, dann wirst eben du die Hafensteuer entrichten. Im Grunde ist es ja auch egal, wer bezahlt.“

„Ich bin neu hier und wusste nicht, dass man für diese Anlegestelle bezahlen muss“, verteidigte sich Craig und bereute plötzlich, dass er sich so forsch eingemischt hatte. „Und leider habe ich überhaupt kein Geld bei mir.“

„Was ist mit deinem Schwert?“, fragte Aulus und seine Augen glänzten gierig. „Das sieht wertvoll aus. Ich denke, es würde als Bezahlung genügen.“

„Vergiss es“, sagte Craig entschieden. „Von meinem Schwert trenne ich mich nicht. Wenn es so ein großes Problem ist, dass ich mein Boot hier festgebunden habe, dann bringe ich es eben irgendwo dort drüben am Strand unter.“

„Dafür ist es zu spät!“, rief Aulus überheblich. „Du hast hier angelegt, ohne dich bei der Hafenmeisterin zu melden. Es ist ein Verbrechen, wenn du die Gebühr nicht entrichtest.“

„Ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit, mich irgendwo zu informieren!“, protestierte Craig.

„Das ist mir doch egal!“, entgegnete Aulus schnippisch und stapfte energisch mit dem Fuß auf. „Du kannst nicht bezahlen, also wirst du deine Schuld auf andere Art und Weise begleichen müssen!“

„Und du willst mich dazu zwingen?“, fragte Craig spöttisch und der selbstgefällige Ausdruck auf Aulus‘ Gesicht erstarb augenblicklich. Hektisch blickte er sich um, doch es waren keine Wachen in der Nähe, die er zu Hilfe rufen konnte. Er wich einen Schritt zurück, dann räusperte er sich und fuhr mit einer Hand über seinen Pferdeschwanz.

„Du kannst froh sein, dass ich heute so nachsichtig gestimmt bin“, verkündete er großspurig. „Ich lasse dir deinen Frevel ausnahmsweise durchgehen, weil du ein ahnungsloser Fremder bist. Aber solltest du erneut negativ auffallen, bekommst du gewaltigen Ärger, verstanden? Und jetzt schaff deine Nussschale hier weg!“ Er machte auf dem Absatz kehrt, bevor er feststellen konnte, dass seine Worte keine besonders einschüchternde Wirkung auf Craig hatten. Mit langen Schritten entfernte sich der Novize wieder von der Anlegestelle.

„Was war das denn für ein Aufschneider?“, wunderte sich Craig. Gilroys Blick verfinsterte sich. „Aulus ist ein Wichtigtuer, da magst du recht haben“, bestätigte er. „Aber er gehört zum Orden der Goldenen Falken und mit denen legt man sich besser nicht an.“

Craig blies grimmig die Backen auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mir doch egal, zu welchem Orden dieses aufgeblasene Großmaul gehört. Die machen mir keine Angst.“

Gilroy schüttelte ungläubig den Kopf. „Du scheinst dir hier wirklich schnell Freunde zu machen“, erwiderte er zynisch.

„Und wenn schon“, gab Craig ungerührt zurück und zuckte mit den Schultern. „Ich bin ja auch nicht hierhergekommen, um mich beliebt zu machen.“

Eydar war einst nur eine kleine Fischersiedlung an der südwestlichsten Küste der Halbinsel Adamas gewesen, doch mit der Kaiserlichen Armee waren der Handel und der Wohlstand in das Dorf gekommen. Das Reich der stolzen Dunkelelfen hatte sich mehrere Jahrhunderte lang gegen ein Friedensabkommen mit den Kaisern von Ganestan gesträubt, doch letztlich hatte sich das Königshaus von Shalaine dem Einfluss des Kaiserreichs beugen müssen. Geschadet hatte dieser Pakt den Dunkelelfen beileibe nicht und in Eydar waren die positiven Folgen des Abkommens besonders deutlich zu sehen. Aus einem kleinen Dorf, bestehend aus wenigen heruntergekommenen Fischerhütten, war durch die Anwesenheit der Kaiserlichen Armee eine wohlhabende Hafenstadt geworden.

Seit etwas mehr als zwei Jahrzehnten befanden sich in Eydar ein befestigter Stützpunkt der Truppen des Kaisers und ein Außenposten der Goldenen Falken, dem Kaiserlichen Informationsnetzwerk. Normalerweise arbeiteten Letztere im Geheimen, doch in Eydar war ihr Einfluss nicht zu übersehen. Ihre Aufgabe war es, die Bewohner der krisengeschüttelten Halbinsel zu beschützen. Adamas galt als Hochburg des Schmuggels und die Handelsstraßen im Landesinneren wurden von zahlreichen Räuberbanden heimgesucht. Die meisten Siedlungen waren Plünderern zum Opfer gefallen, doch die Dörfer und Städte entlang der Küste wurden von den Kaiserlichen Soldaten gesichert. Die hügeligen Gebiete weiter landeinwärts waren zu zerklüftet, um die Banditen aufzustöbern und auszumerzen, doch immerhin war es der Armee gelungen, die Bewohner der Küstenregionen vor der Bedrohung zu schützen.

Den Landweg wählten Handelskarawanen und Reisende trotz gut ausgebauter Straßen kaum noch, stattdessen hatten sich verschiedene Seerouten etabliert, auf denen Kaufleute ihre Güter an der Küste von Adamas entlang verfrachten konnten. Ohnehin war das Hinterland von Eydar zu unwegsam und tückisch, um es gefahrlos durchqueren zu können. Wenige Meter vor den neuen Mauern der Stadt erstreckte sich die Düstermarsch, ein weites Waldgebiet voller tückischer Tümpel und bodenloser Schlammlöcher. Vor Jahrhunderten war dieses Gebiet von den Dunkelelfen besiedelt worden, doch ihre Versuche, den Sumpf urbar zu machen, waren gescheitert und die Natur hatte sich ihren Raum wieder zurückgeholt. Inzwischen zeugten nur noch von Schlingpflanzen überwucherte und halb im Schlamm eingesunkene Ruinen von der einstigen Besiedelung der Düstermarsch.

Die neuen Bewohner dieser Gegend waren alles andere als gastfreundlich. Die fetten Riesenratten waren noch die harmlosesten Geschöpfe, die sich in den Wäldern herumtrieben. Obwohl sie bisweilen die Größe kleiner Hunde erreichten, wagten sie es nur in den seltensten Fällen, über lebendige Beute herzufallen. Sie waren Aasfresser und wenn irgendwo in der Düstermarsch ein Tier verendete, versammelten sich die Riesenratten in Scharen, um über den Kadaver herzufallen. Unter der Bevölkerung waren sie deshalb weniger als gefährliche Raubtiere, sondern eher als Überträger etlicher Krankheiten gefürchtet.

In den Tümpeln warteten Sumpfspinnen, riesige, langbeinige Krabben, auf unvorsichtige Opfer, die sich zu nahe an ein Schlammloch heranwagten. Auch sie stellten im Grunde keine Gefahr für das Leben eines arglosen Reisenden dar, aber ihre Scheren waren kräftig und scharf, sodass eine Begegnung mit einer Sumpfspinne schnell einen Arm oder einen Fuß kosten konnte.

Die tödlichsten Bewohner der Düstermarsch waren aber die blutrünstigen Warge. Glücklicherweise waren es meist nur Einzelgänger, die sich aus den Bergen in die Sümpfe verirrten, denn ein ganzes Rudel Warge war dazu in der Lage, einen Trupp bis an die Zähne bewaffneter Soldaten in Sekundenschnelle in Fetzen zu reißen.

Die Düstermarsch grenzte im Norden und Osten an die Ausläufer der Wolkenberge, einer Mittelgebirgskette, die sich bis an die Küste erstreckte. Dort befand sich, an der Mündung des Flusses Maldocan, die Hafensiedlung Khaanor, die wie Eydar unter der Kontrolle des Kaisers stand.

Die Wolkenberge waren ein noch lebensfeindlicheres Gebiet, als die Düstermarsch. Es gab dort kaum Vegetation und an den kahlen Berghängen nisteten Harpyien, die sich aggressiv auf jedes Lebewesen stürzten, das sich in ihr Territorium wagte. Schon als Einzelgänger waren die riesigen Vögel tödliche Raubtiere, doch in den Wolkenbergen brüteten sie in ganzen Kolonien. Die Luft war erfüllt von ihrem heiseren Krächzen, das wie eine schauerliche Warnung von den Berghängen zurückgeworfen wurde.

Dennoch gab es zahlreiche Reisende, die den beschwerlichen und gefährlichen Weg durch die Wolkenberge auf sich nahmen, um die Wolkenspitze zu erklimmen. Dort, auf dem höchsten Gipfel des Gebirges, lebte in einem mächtigen Tempel eine kleine Gruppe von Mönchen, die sich dem Studium der Magie der Blitze widmeten. Die talentiertesten Sturmmagier ihrer Zeit hatten ihre Fähigkeiten durch Meditation auf dem Berggipfel erlangt. Es war nur wenigen Pilgern vergönnt, die altehrwürdigen Gemäuer betreten zu dürfen und an den Übungen der Mönche teilzunehmen. Der Vorsteher des Tempels war der Hochmagier Ascor, ein mürrischer Dunkelelf, der eine tiefe Abneigung gegen andere Völker hegte. Das Kaiserreich duldete den Lehrmeister des Ordens, denn obwohl er zweifellos mächtige und zerstörerische Magie beherrschte, sah man ihn nicht als Gefahr für den Frieden an. Ascor schien keinerlei Interesse daran zu haben, von der Wolkenspitze herunterzusteigen und Khaanor mit seinen Blitzen dem Erdboden gleichzumachen. Noch nie hatte jemand erlebt, dass der Hochmagier seinen Tempel verlassen hatte.

In den Reihen der Kaiserlichen Armee konzentrierte man sich voll und ganz darauf, in Adamas für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Verbindungsachse zwischen Khaanor im Norden und Eydar im Süden stellte für die Kontrolle der Westküste der Halbinsel einen grundlegenden Faktor dar. Die Gefahr, die auf den Straßen herrschte, würde aufgrund des unwegsamen Geländes in der Düstermarsch zwar nur schwer zu bannen sein, aber dafür hatten die Kaiserlichen Truppen die Gestade zwischen Eydar und Khaanor fest im Griff. Die jeweiligen Befehlshaber standen miteinander in engem Kontakt und arbeiteten Hand und Hand, um die Küstengebiete zu sichern.

In Eydar hatte schon seit Jahren Syndus Elagabal das Sagen. Er war ein Abkömmling eines verarmten Adelsgeschlechts aus Ganestan und ein Veteran aus dem Weltenkrieg. Nachdem der Frieden in Gäa wiederhergestellt worden war, hatte man ihn auf seine alten Tage ehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen und ihn in die oberen Ränge der Goldenen Falken aufgenommen. Als solchem unterstanden ihm neben den anderen Agenten auch die in Eydar stationierten Truppen des Kaisers. Obwohl Syndus für den Kampf ausgebildet war, zog er Diplomatie roher Gewalt seit jeher vor. Er war inzwischen in die Jahre gekommen, doch trotz seines fortgeschrittenen Alters zeichnete sich unter dem weiten Stoff seiner Robe noch immer ein gestählter, sehniger Körper ab. Er hatte kaum von seiner früheren Kampfkraft und Agilität verloren, aber an Weisheit dazugewonnen. Bei den Soldaten war er beliebt und selbst die in Eydar heimischen Dunkelelfen, die dem Einfluss des Kaisers gemeinhin immer mit Abneigung begegneten, respektierten den alten Befehlshaber.

Syndus unterstand ein Bataillon von schlagkräftigen Soldaten, angeführt von zwei fähigen Kommandanten. Hinzu kamen weitere Mitglieder der Goldenen Falken, denen unterschiedliche Aufgabengebiete zugeteilt worden waren. Unter dem Schutz dieser Leute war Eydar zu einer Bastion herangewachsen, an der sich sämtliche Horden der Plünderer aus dem Gebirge oder der Düstermarsch die Zähne ausgebissen hatten, während Syndus selbst einen eingefleischten Zirkel seiner treuesten Gefährten um sich geschart hatte.

Einer von ihnen war Gancielle. Er stammte aus Kaboroth und war an der Akademie einer der besten Rekruten seines Jahrgangs gewesen. Er entstammte einer langen Ahnenreihe großer Feldherren und Generäle und den Abkömmlingen seiner Familie lagen Autorität und Ehrgeiz im Blut. So war Gancielles Vater in die Generalsränge aufgestiegen und sein jüngerer Bruder machte in Kaboroth Karriere als Hauptmann der Wache. Gancielle selbst war ein noch verhältnismäßig junger Soldat, hatte aber schon den Rang eines Kommandanten erreicht und führte eine Hälfte der Truppen von Eydar an. Er zeichnete sich durch eine gesunde Mischung aus Loyalität und Eigenständigkeit aus und war ein geborener Anführer, der es verstand, seine Untergebenen zu motivieren und zu Höchstleistungen anzutreiben. Gerechtigkeit und die Sicherheit der Zivilbevölkerung standen für ihn an oberster Stelle und durch sein junges Alter brachte er noch den nötigen Elan mit, um seine Soldaten mitzureißen.

Die andere Hälfte der Truppen stand unter dem Kommando von Rhist. Er war einige Jahre älter als Gancielle und stammte aus Isenheim, einer immer wieder krisengeschüttelten Region im Norden von Ganestan. Die dort lebenden Barbaren fielen regelmäßig durch Aufstände und Überfälle negativ auf, aber die abgehärteten Bewohner des eisigen Landes waren geborene Krieger und nicht wenige von ihnen hatten den Weg in die Reihen der Kaiserlichen Armee gefunden. Rhist war einer von ihnen und der war Rasch in den Rang eines Kommandanten aufgestiegen. Neben seiner Funktion als Stabsoffizier und Truppführer, war er auch der Quartiermeister der Kaserne von Eydar. In seiner Heimat Isenheim hatte er lange als Gehilfe eines Waffenschmieds gearbeitet, weswegen er sich darauf verstand, Rüstungen auszubessern und Klingen zu schärfen.

Allein Rhists äußerliches Erscheinungsbild verlieh ihm den Respekt einer Autoritätsperson. Auf seinen großgewachsenen Körper verteilten sich dicke Muskeln und es war bekannt, dass er rein körperlich der stärkste in Eydar stationierte Soldat war. Mit seinem buschigen Bart und den Kriegszöpfen in seinem blonden Haar wirkte er äußerlich wie ein Wilder, doch er hatte die Disziplin eines Kaiserlichen Soldaten längst verinnerlicht. Gelegentlich konnte er sein heißblütiges Temperament aber nicht zügeln und agierte bisweilen etwas kopflos. Dieses Verhalten sorgte immer wieder für Reibereien zwischen Rhist und dem durchdacht und analytisch vorgehenden Gancielle. Die beiden waren selten einer Meinung und ihre Rivalität war innerhalb der Truppen längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem hielten die beiden Kommandanten die in Eydar stationierten Streitkräfte zusammen und unter ihrer Führung war aus den Soldaten eine eingespielte Gruppe geworden, die ihre Befehlshaber geradezu abgöttisch verehrten. Sie sorgten für Recht und Ordnung auf den Straßen und waren der Schild, der sich an den Mauern von Eydar dem verbrecherischen Gesindel aus dem Inland entgegenstellte. Syndus hatte schon oft betont, dass er sich zu seiner Unterstützung keine besseren Kommandanten hätte aussuchen können.

Doch auch innerhalb seines Ordens hatte er zuverlässige Helfer. Als er nach dem Weltenkrieg nach Eydar versetzt worden war, hatte man Syndus einen jungen Novizen namens Bragi zur Seite gestellt. Er stammte wie Rhist aus Isenheim und war von einem ehemaligen Schüler zu einem hochrangigen Agenten der Goldenen Falken aufgestiegen. Seine Haarpracht war in dieser Zeit verschwunden, nicht aber sein wacher Verstand. Seit Jahren bildete er mit Syndus ein unerschütterliches Zweiergespann und war zum wichtigsten Berater seines alten Meisters geworden. Bragi unterstützte Syndus nach Kräften dabei, die Fäden zu ziehen, die den Frieden auf der Halbinsel sichern sollten, und als langjähriges Mitglied des Geheimdienstes genoss auch er hohes Ansehen unter den Soldaten. Er war ein Mann des Volkes und hatte immer ein offenes Ohr für die Sorgen der gemeinen Bürger. Es war zu großen Teilen sein Verdienst gewesen, dass Syndus sich das Vertrauen der Einwohner von Eydar hatte erarbeiten können. Der Respekt, den man der Kaiserlichen Armee und insbesondere den Goldenen Falken entgegenbrachte, war Bragi zu verdanken. Seine Volksnähe hatte der glatzköpfige Agent dabei nie verloren, auch wenn er in der Hierarchie des Nachrichtendienstes weit aufgestiegen war.

Syndus‘ persönliche Assistentin und Schülerin war Adria, eine hochveranlagte junge Frau mit einem scharfen Verstand und einer noch schärferen Zunge. Ihr wurde eine vielversprechende Zukunft vorausgesagt und zu ihrer Fortbildung hatte man sie Syndus anvertraut. Inzwischen hatte sie den Status als Lehrling längst überschritten und auch wenn ihre offizielle Beförderung noch auf sich warten ließ, war sie schon ein festem Mitglied von Syndus‘ engem Beraterstab. Ihre Fortschritte hatten sich mittlerweile bis nach Kaboroth herumgesprochen und da man wusste, dass sie nicht mehr lange die Schülerin Syndus‘ bleiben würde, hatte man reagiert und einen neuen Novizen nach Eydar geschickt, der an ihrer Stelle ausgebildet werden sollte.

Aulus war erst seit ein paar Wochen in Eydar stationiert und Syndus hatte noch nicht die nötige Zeit gefunden, um sich eingehend mit seinem neuen Schützling zu befassen. Dennoch war ihm bereits aufgefallen, dass der junge Mann ähnlich wie Adria über einen bemerkenswerten Scharfsinn verfügte. Soweit Syndus wusste, stammte Aulus von einem niederen Adelsgeschlecht ab und benahm sich noch entsprechend überheblich. Sein Ehrgeiz war nicht zu übersehen und so schoss er bei den gewöhnlichen Aufgaben, die man ihm übertrug, gerne über das Ziel hinaus. Syndus hatte bereits den Entschluss gefasst, den ehrgeizigen Burschen ein wenig zurechtzustutzen, denn unter seiner arroganten Fassade sah er großes Potenzial in ihm schlummern. Der alte Meister war überzeugt davon, dass Aulus es einmal weit bringen konnte, wenn er sein hochmütiges Gehabe bleiben ließ und sich auf seine Aufgaben konzentrierte.

Das letzte Mitglied der Goldenen Falken in Eydar war Lexa, eine Späherin aus Grimhagen. Während die meisten ihrer Landsleute als große Feldherren oder Seefahrer in die Geschichte eingegangen waren, war sie keine große Kriegerin, doch was ihr an Kampfkraft fehlte, machte sie durch List und ihre schnelle Auffassungsgabe wieder wett. Sie zog es vor, im Hintergrund zu agieren und war somit die einzige Agentin der Falken in Eydar, die tatsächlich im Verborgenen arbeitete. Nur die anderen Mitglieder des Ordens und ein paar ausgewählte Soldaten wie Gancielle und Rhist wussten von ihrer wahren Identität. Sie gab sich als Kräutersammlerin auf, die Heilpflanzen auf dem Martk verkaufte, doch ihre eigentliche Aufgabe war es, die Düstermarsch auszukundschaften und das Gebiet zu kartografieren. Leider ging dieser Prozess nur sehr langsam vonstatten, da die zahlreichen Gefahren der Wälder sie immer wieder dazu zwangen, ihre Streifzüge abzubrechen.

Seit einigen Wochen jedoch war Lexas Aufgabenbereich um einen weiteren Punkt ergänzt worden. In letzter Zeit kam es vermehrt dazu, dass Bewohner der Stadt oder reisende Abenteurer, die Eydar passierten, auf mysteriöse Art und Weise in der Düstermarsch verschwanden. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand in den Wäldern zu Tode kam, doch die Vorfälle hatten sich in den letzten Wochen besorgniserregend gehäuft. Man hatte die Sümpfe schon immer gemieden, so gut es ging, doch nun tuschelte man in den Gassen von Eydar von dunklen Mächten, die in der Düstermarsch am Werk waren, die jeden, der das Gebiet unvorsichtigerweise betrat, verschlangen. Um den Gerüchten ein Ende zu setzen war Lexa von Syndus mit der Aufgabe betraut worden, bei ihren Streifzügen durch die Sümpfe nach Hinweisen auf die verschwundenen Personen Ausschau zu halten, doch sie hatte bislang nicht die kleinste Spur gefunden. Man hatte sich auch mit den Befehlshabern in Khaanor in Verbindung gesetzt. Auch dort waren immer wieder Bewohner oder Reisende in den Sümpfen verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Vor ein paar Wochen waren drei Abgesandte des Katzenvolkes der Pardel nach Khaanor gekommen. Statt mit dem Schiff nach Eydar zu reisen, bestanden die Katzenmenschen darauf, ihre Reise auf dem Landweg fortzusetzen. Sie waren nie in Eydar angekommen und auch von ihnen fehlte jede Spur.

Inzwischen traute sich niemand mehr vor die Tore der Stadt und Abenteurer, die nach Eydar kamen, wurden eindringlich davor gewarnt, ihren Weg durch die Düstermarsch fortzusetzen. Die meisten ignorierten die Ratschläge jedoch und verschwanden wie ihre Vorgänger.

Das Rätsel um das Verschwinden der Leute hatte Syndus schließlich dazu veranlasst, einen Bericht über die besorgniserregende Lage in Eydar nach Kaboroth zu schicken. Das Kaiserreich hatte reagiert und kurzerhand ein bemanntes Kriegsschiff ausgesandt, um die Soldaten in Eydar zu unterstützen. Doch die Situation hatte sich seither eher verschlimmert.

Hauptverantwortlich dafür war Brigadegeneral Loronk. Der Ork war der Befehlshaber der nach Eydar ausgesandten Sondertruppen und durch seinen Rang war er Syndus vorgesetzt. Er hatte widerspruchslos das Kommando über die in Eydar stationierten Soldaten übernommen und damit geprahlt, die Verschwundenen in kürzester Zeit zu finden. Zunächst hatte er mit seinen Leuten in aller Regelmäßigkeit die Düstermarsch durchkämmt, doch nach jedem Streifzug war Loronk nur wieder mit leeren Händen zurückgekehrt, bis er schließlich sogar selbst einen Verlust hinnehmen musste. Während einer weiteren Erkundungsmission in die Wälder verschwand sein Fähnrich Yarshuk spurlos. Keiner der anderen Soldaten hatte gesehen, wie oder wann der Ork von der Gruppe getrennt worden war. Seitdem hielt sich selbst Loronk mit Ausflügen in die Düstermarsch zurück und man war keinen Schritt weitergekommen. Stattdessen hatten Syndus und seine Leute nun den Brigadegeneral am Hals und dieser hatte sich als äußerst ungemütlicher Zeitgenosse entpuppt.

Loronk war ein hünenhafter Ork mit einem fassförmigen Brustkorb, muskelbepackten Armen und breiten Schultern. In seinem kantigen Gesicht blitzten zwei schwarze Augen unter buschigen Brauen hervor und aus seinem Mund mit den wulstigen Lippen ragte auf der linken Seite ein langer Eckzahn. Der Zahn auf der anderen Seite war schon vor Jahren abgebrochen. Tiefe Falten durchzogen die hohe Stirn des Orks und seine schwarzen Haare waren an den Schläfen zu Kriegszöpfen geflochten worden. Loronk trug die vergoldete Rüstung eines Generals voller Stolz und die Waffe seiner Wahl war eine mit Dornen gespickte Kriegskeule, die er unter Einsatz seiner kräftigen Hände mit zerstörerischer Wucht durch die Luft zu schwingen verstand. Syndus mochte ihn nicht, aber er war zu friedliebend, um seine Abneigung offen zu kommunizieren. Der alte Befehlshaber hatte noch immer die törichte Hoffnung, dass sich das Rätsel um die Verschwundenen Leute von alleine lösen und Loronk mit seinen Truppen einfach wieder abziehen würde.

Gancielle und Rhist taten ihren Widerwillen dem Ork gegenüber schon etwas deutlicher kund. Die beiden Kommandanten waren ausnahmsweise einer Meinung und auch wenn Loronk ihnen vorgesetzt war, hatten sie aufgrund ihres eigenen hohen Ranges keine direkten Konsequenzen zu befürchten, wenn sie seine Befehle infrage stellten.

Loronk schien egal zu sein, was seine Untergebenen von ihm hielten. Er führte seine Soldaten mit eiserner Hand und duldete keinen Ungehorsam. Deshalb waren Gancielle und Rhist dem Ork ein Dorn im Auge, doch die beiden waren ein Problem, das sich nur schwer lösen ließ. Ihre eigenen Soldaten hielten noch immer treu zu ihren Kommandanten und es hatte längst einen Bruch zwischen den Truppen in Eydar und Loronks eigenen Rekruten gegeben.

Syndus schlug die angespannte Situation in der Hafenstadt schwer aufs Gemüt. Die Streitigkeiten zwischen den Kommandanten und dem Brigadegeneral waren alles andere als zielführend. Er hatte stets gepredigt, man möge sich angesichts der bedrohlichen Lage zusammenreißen, doch Syndus war die Kontrolle über den Außenposten seit Loronks Ankunft immer mehr entglitten. Der Ork hatte nun die Fäden in der Hand und er führte ein hartes Regiment, das nicht nur seine direkten Untergebenen zu spüren bekamen. Auch die Bevölkerung litt unter dem neuen Befehlshaber, denn Loronk ließ selbst das kleinste Vergehen hart bestrafen. Außerdem hatte er sämtliche Abgaben erhöht und stellenweise absurde Steuern eingeführt. Er verteidigte diese Maßnahmen mit der Behauptung, die Suche nach den Vermissten sei kostspielig, doch der Brigadegeneral unternahm kaum noch Expeditionen in die Sümpfe und insgeheim kursierte das Gerücht, dass er einen Großteil der Abgaben in seine eigene Tasche wirtschaftete. Nun fürchtete die Bevölkerung, dass sich Loronk dauerhaft in Eydar niederlassen wollte.

Syndus waren die Hände gebunden. Da ihm auf der Suche nach den Vermissten ebenfalls wenig Zählbares gelungen war, hatte er kein Recht, Loronks Rückversetzung nach Kaboroth zu beantragen. Die einzige Möglichkeit, den Brigadegeneral wieder loszuwerden, bestand darin, das Rätsel um das Verschwinden der Leute zu lösen, doch Syndus und seine Gefolgsleute standen in dieser Angelegenheit noch ganz am Anfang. Und die Zeit drängte, denn der Unmut der Bevölkerung nahm mit jedem Tag zu. Viele der heimischen Dunkelelfen sahen sich in der Annahme bestärkt, dass dem Kaiserreich Unterdrückung und Willkür folgten. Syndus musste hilflos zusehen, wie alles, was er in den vergangenen Jahren für ein friedliches Miteinander zwischen Menschen und Dunkelelfen getan hatte, unter Loronks Tyrannei einfach zerquetscht wurde. Sein Verantwortungsbewusstsein für die Bewohner von Eydar ging längst über seine Tätigkeit als Befehlshaber des Außenpostens hinaus. Er kannte jeden einzelnen Bewohner der Hafensiedlung und hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen, was die Bevölkerung dazu veranlasst hätte, Abneigungen gegen ihn zu hegen. Und nun kam dieser Brigadegeneral daher und trat seine Bemühungen mit Füßen. Er fühlte sich ein wenig wie ein Schafhirte, der nichts dagegen tun konnte, dass sich ein hungriger Wolf an seiner Herde gütlich tat. Syndus fürchtete sogar, dass Loronks herrisches Auftreten den labilen Frieden zwischen dem Kaiserreich und Shalaine empfindlich stören könnte. Seit er in Eydar lebte, hatte er sich eingehend mit der Kultur und Lebensweise der Dunkelelfen beschäftigt. Er wusste genau, dass selbst die Untersten ihres Volkes den Stolz hatten, für den die Bewohner Shalaines in ganz Gäa berühmt waren. Selbst wenn sie nur arme Fischer waren, so taten sie ihre Arbeit doch mit erhobenem Haupt und sahen sich als wichtiges und vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft. Keinem von ihnen wäre es jemals in den Sinn gekommen, ein Leben als Bettler zu fristen. Die Dunkelelfen hatten es noch nie toleriert, dass sich jemand über sie stellte, der nicht ihrem Volk angehörte. Sie hatten sich schon schwer getan, Syndus als neuen Magistraten zu akzeptieren. Und nun wurden sie von einem Ork unterdrückt. Syndus ahnte, dass sein Guthaben bei den Einwohnern von Eydar, das er sich in langen Jahren mühsam erarbeitet hatte, durch Loronks Einmischen beinahe verbraucht war.

Der in die Jahre gekommene Befehlshaber saß in seiner Kammer und massierte sich angestrengt die Nasenwurzel. Seit Loronks Ankunft marterten ihn unentwegt fürchterliche Kopfschmerzen und inzwischen wusste er nicht mehr, was er ohne seine treuen Berater tun würde.

Adria saß an ihrem Pult, an dem sie so oft Syndus‘ Lektionen gelauscht hatte, und war damit beschäftigt, einen ganzen Stapel von Zetteln und Dokumenten zu lesen und zu sortieren. Das Rascheln der Blätter und das leise Kratzen der Schreibfeder beruhigte ihren alten Lehrmeister und er sah verstohlen zu ihr herüber. Er konnte kaum glauben, dass sie vor gar nicht allzu langer Zeit noch seine unerfahrene Schülerin gewesen war. Nun war sie es, die in diesen Krisenzeiten Haltung und einen kühlen Kopf bewahrte, während er vor Kummer kaum noch klar denken konnte.

„Eine Nachricht aus Khaanor“, meldete Adria beiläufig und Syndus wandte ertappt den Kopf ab. „Ein seltsames Paar hat die Stadt auf der Suche nach den verschwundenen Abgesandten der Pardel erreicht. Es handelt sich bei den beiden um eine junge Eismagierin und einen großgewachsenen Krieger mit einer Streitaxt, der seiner Hautfarbe nach zu urteilen aus Grimhagen stammt. Man hat ihnen gesagt, dass die Diplomatinnen in der Düstermarsch verschwunden sind. Sie ließen sich trotz aller Warnungen nicht aufhalten und haben sich auf den Weg in die Wälder gemacht. Wir sollen die Augen nach ihnen aufhalten.“

Syndus entglitt ein gequältes Stöhnen. „Ich rechne nicht damit, dass wir sie je zu Gesicht bekommen werden“, seufzte er. „Ich lasse den Wachen am Tor trotzdem den Befehl geben, den Rand der Düstermarsch im Auge zu behalten. Vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder und jemand kommt wieder lebend aus diesem Sumpf heraus.“

Adria ließ ihre Schreibfeder los und blickte auf. Syndus konnte die Sorge in ihren Augen erkennen. Es war nicht weiter verwunderlich, dass sein Zustand sie bekümmerte. Seit sie in Eydar war, hatte sie ihren Meister noch nie so niedergeschlagen und ratlos erlebt. Sein einstmals haselnussbraunes Haar war ebenso wie sein gepflegter Bart in kürzester Zeit ergraut und an einigen Stellen bereits schlohweiß. Das Alter schien Syndus lange nichts anhaben zu können, doch nun schlug es erbarmungslos zu, fast als wollte es seine Versäumnisse der letzten Jahre im Eiltempo nachholen.

„Wir werden dem Verschwinden der Leute auf die Schliche kommen“, versuchte Adria ihren Meister aufzuheitern. „Habt noch ein wenig Geduld. Es wird sich alles zum Guten wenden.“

Syndus faltete seine sehnigen Hände und bettete sein Kinn darauf. „Das hoffe ich sehr“, erwiderte er müde. „Das ist die schlimmste Krise seit dem Weltenkrieg, die ich erlebe. Ich verstehe nicht, wie in diesen verdammten Sümpfen auf einmal fast jeder spurlos verschwinden kann, der sie betritt. Wenn es das Werk der Warge wäre, würden wir wenigstens Blut oder Leichenteile entdecken, aber dort draußen findet sich nicht einmal der kleinste Hinweis.“

Syndus wischte mit einer verzweifelten Armbewegung ein Tintenfass von seinem Pult und vergrub das Gesicht in den Händen. Trotzdem konnte er Adrias unschlüssigen Blick deutlich spüren. Seine junge Assistentin erhob sich von ihrem Stuhl, hob das Tintenfass behutsam auf und stellte es wortlos zurück auf den Tisch. Syndus ließ seine Hände sinken und starrte geistesabwesend auf die Tintenflecke, die das Fass auf dem Boden und seinem Pult hinterlassen hatte.

„Vielleicht haben die Leute recht“, murmelte er nachdenklich. „Vielleicht haben wir es tatsächlich mit dunklen Mächten zu tun.“

Adria runzelte vorwurfsvoll die Stirn. In diesen Tagen fragte sich Syndus oft, ob es nicht inzwischen er selbst war, der von seiner Schülerin etwas lernen konnte, und nicht andersherum. Die junge Frau nahm wieder Platz und griff nach ihrer Schreibfeder, doch ihr Blick war weiterhin auf ihren Meister gerichtet. „Ihr glaubt doch nicht etwa das Geschwätz der Bevölkerung?“, fragte sie ungläubig. „Das sind doch nur Ammenmärchen.“

„Mag sein“, erwiderte Syndus schwach und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster der Kammer. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er die Baumwipfel der Düstermarsch entdeckte, die hinter der Stadtmauer emporragten. „Aber Fakt ist, dass sich dort draußen etwas herumtreibt, von dem wir bislang noch nichts wissen.“

Ratford und Lazana kundschafteten die Düstermarsch nun schon seit zwei Tagen aus und waren mitten in das schwarze Herz der unwirtlichen Gegend vorgestoßen. Ihre Beine waren mittlerweile fast bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt, aber außer einigen Schlammtümpeln hatten sie noch mit keinen anderen Tücken der Düstermarsch Bekanntschaft machen müssen. Der schwere, würzige Geruch von vermodertem Holz hing in der Luft und raubte den beiden Reisenden fast die Sinne. Der Wald war erfüllt vom Zirpen zahlloser Insekten und dem Blubbern der Sumpflöcher, aus denen die stinkenden Gase der Verwesung in dunkelbrauen Blasen aufstiegen. Ab und zu ertönte in der Ferne ein unheilvolles Heulen, doch bislang waren keine hungrigen Raubtiere in Sicht. Den beiden Gefährten war allerdings bewusst, dass sich das jederzeit ändern konnte und so hielten sie sich in konzentrierter Anspannung bereit, sich gegebenenfalls verteidigen zu müssen.

Ratford war ein mächtiger Krieger von den Südlichen Inseln Grimhagens. Sein schweres Kettenhemd unter der eisernen Brustplatte klirrte bei jedem Schritt seiner stämmigen Beine und seine doppelseitige Streitaxt, die er mit beiden Händen führte, war schon so manchem Gegner zum Verhängnis geworden. Durch sein unrasiertes Gesicht und seinen meist mürrischen Blick wirkte Ratford grobschlächtig und grimmig und gab aufgrund seiner großgewachsenen Gestalt und seines muskulösen Körpers ein wirklich eindrucksvolles Bild ab. Seine Partnerin Lazana dagegen war schlank und elegant, aber nicht weniger gefährlich. In ihrer weißen, goldbestickten Robe, deren Saum durch den Marsch durch den Sumpf längst einen schlammigen Braunton angenommen hatte, wirkte sie wie die Tochter eines Adeligen. Lazana stammte aus Ganestan und hatte an der Universität für Magie in Kaboroth studiert. Inzwischen war sie eine talentierte Eismagierin geworden, die mit bloßer Gedankenkraft augenblicklich Wasser in ihrer Umgebung gefrieren lassen konnte.

Die beiden ungleichen Gefährten waren Gefolgsleute von Cord Dullahan, dem selbsternannten Rebellenkönig des Wüstenlandes Vanashyr. Seit Jahrzehnten befanden sich die dort heimischen Dünenmenschen in einem erbitterten Kampf um die großen Wasserquellen jenes Landes. Ihre Gegner waren die Katzenmenschen vom Volk der Pardel, die sich selbst als die wahren Herren Vanashyrs sahen. Cord selbst war kein Dünenmensch, doch sein Auftreten hatte den Konflikt entscheidend entschärft. Die Dünenmenschen verehrten sein Führungstalent und hatten ihn kurzerhand zu ihrem ersten König gekrönt. Seitdem befand sich Cord in Friedensverhandlungen mit dem König der Pardel, die jedoch nur schleppend vorankamen. Als Cord zu Ohren gekommen war, dass eine Botschafterin des Pardelkönigs mitsamt ihrer Leibgarde in der Düstermarsch verschollen war, hatte er verkündet, dass er diesem rätselhaften Verschwinden nachgehen würde, um dem Volk der Pardel so sein Entgegenkommen zu demonstrieren. Für die Suche nach den vermissten Abgesandten hatte der König der Dünenmenschen Ratford und Lazana ausgewählt, die schon zu seinen Weggefährten gezählt hatten, lange bevor er nach Vanashyr gekommen war, um den dort tobenden Krieg zu beenden.

Die Pardelbotschafterin war gerade auf dem Rückweg von Verhandlungen mit einem Fürsten der Dunkelelfen gewesen und ihre Spur verlor sich in Khaanor. Ratford und Lazana hatten erfahren, dass die Katzenfrau und ihre beiden Leibwachen per Schiff vom Festland von Shalaine auf direktem Wege zurück nach Vanashyr im Süden segeln wollten, aber vor der Küste von Adamas in einen schweren Sturm gerieten, der das Schiff beschädigte. Für die dringend benötigten Reparaturen hatte man Khaanor angesteuert, doch die Botschafterin hatte nicht warten wollen, bis das Schiff wieder seetauglich war. Also hatte sie entschieden, auf dem Landweg nach Eydar vorzustoßen, um von dort aus mit einem neuen Schiff weiter nach Süden zu segeln. Seit dem Tag, als die Botschafterin in der Düstermarsch verschwunden war, hatte man sie nicht mehr gesehen.

Ratford und Lazana wussten, wie wichtig die Aufgabe war, die Cord ihnen übertragen hatte. Wenn es ihnen gelang, dem Pardelkönig seine Botschafterin zurückzubringen, würde dieser Akt sein Vertrauen den Dünenmenschen gegenüber enorm steigern. Deshalb hatten sie auch die Warnungen der Bewohner von Khaanor ignoriert, die sie unter allen Umständen davon abhalten wollten, die Düstermarsch zu betreten. Die Befehlshaberin der Kaiserlichen Truppen der Hafensiedlung hatte sogar damit gedroht, die beiden zu ihrer eigenen Sicherheit einsperren zu lassen. Ratford und Lazana hatten sich davon allerdings nicht beeindrucken lassen und hatten die Stadt allen Warnungen zum Trotz nach Südosten verlassen.

Leider war die Düstermarsch groß, unwegsam und unübersichtlich und Ratford verlor allmählich die Geduld. „Das kann doch nicht sein“, beschwerte er sich lautstark. „Nichts zu sehen außer verrottendes Holz und stinkende Kadaver. Kannst du mir mal erklären, wie es möglich ist, dass drei Pardel so spurlos verschwinden?“

Lazana war anzusehen, dass ihr die stickige, warme Luft der Sumpfwälder zu schaffen machte. Auf ihr Stirn glitzerten einzelne Schweißperlen und ihre ansonsten blasse Haut war unter ihren hellblauen Augen gerötet. Dem seidigen Glanz ihres langen, blonden Haares taten die unangenehm schwülen Bedingungen der Düstermarsch allerdings keinen Abbruch. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie mit schwacher Stimme und stützte sich auf ihren Stab. „Aber vielleicht haben die Leute in Khaanor recht und unsere Suche ist sinnlos. Immerhin haben die Soldaten auch immer wieder Patrouillen ausgeschickt, die jedes Mal mit leeren Händen zurückgekehrt sind.“

„Blödsinn“, knurrte Ratford verärgert. „Diese Idioten haben doch nichts drauf. Die finden doch noch nicht mal einen dreibeinigen Wolf in einer Schafsherde.“

„Und warum finden wir dann auch nichts?“, warf Lazana ein. „Noch nicht einmal den kleinsten Hinweis?“

Ratford antwortete nicht auf die Frage seiner Partnerin. Er setzte seinen Weg fort und achtete einen Augenblick nicht darauf, wo er hintrat. Sein Fuß rutschte ab und versank bis zu den Knöcheln in einem Schlammloch. „Verdammter Dreck!“, brummte er wütend. Er war inzwischen so gereizt, dass er nicht mehr länger an sich halten konnte und unüberlegt mit seiner Axt auf den Tümpel eindrosch. Stinkender Morast spritzte in alle Himmelsrichtungen und landete in Ratfords unrasiertem Gesicht. Der Krieger zog seinen Fuß schmatzend aus dem Schlamm und fluchte wild vor sich hin. Aufgebracht suchte er sich ein besseres Opfer für seine Axt und trieb sie schließlich mit einem kräftigen Hieb und einem zornigen Aufschrei tief in den Stamm eines Baumes. Das Blattwerk erzitterte und aus den Wipfeln fiel Laub zur schlammigen Erde. Lazana trat hinter ihn und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Sofort löste sich Ratfords Anspannung ein wenig und seine krampfhaft zu Fäusten geballten Hände öffneten sich wieder. „Dieser Sumpf macht mich langsam wahnsinnig, Lazana“, gab er niedergeschlagen zu. „Aber wir können doch unmöglich mit leeren Händen nach Vanashyr zurückkehren. Cord wäre enttäuscht.“

„Ich weiß“, erwiderte Lazana bedächtig. „Aber vielleicht sollten wir uns damit abfinden, dass wir hier nicht weiterkommen. Wir haben unser Bestes gegeben. Cord wird das verstehen.“

Ratford schwieg einen Moment. Dann umfasste er den Griff seiner Axt und zog sie scheinbar mühelos aus dem Baumstamm. „Wir gehen weiter nach Süden, bis wir Eydar erreicht haben“, entschied er. „Wenn wir dann immer noch keine Spur gefunden haben, kehren wir nach Vanashyr zurück.“

„Vanashyr? Das ist aber ein ganz schön weiter Weg.“

Ratford und Lazana blickten überrascht auf. Am Wegesrand saß auf einem Baumstumpf ein blonder, schlanker Waldelf und strich sich den Schlamm von den Sohlen seiner Fellstiefel. Er trug feine Seidengewänder, an seinen Fingern glitzerten edelsteinbesetzte Ringe und an seinem Gürtel hing ein glänzendes Schwert. Seine prachtvolle Kleidung passte überhaupt nicht zu dem dichten Bart, der an seinem Unterkiefer wucherte. Ratford verengte die Augen zu Schlitzen und ließ den Schaft seiner Axt durch seine Hand rutschen. Er mochte es nicht, wenn sich ihm jemand unbemerkt näherte. „Wer bist du?“, fragte er knurrend. „Was tust du hier?“

Der Waldelf betrachtete geistesabwesend seine akkurat gestutzten Fingernägel. „Mein Name ist Tareglir“, antwortete er. „Und ich wohne hier.“

Ratford schürzte die Lippen. „Was denn?“, brummte er ungläubig. „Hier in diesem stinkenden Dreckloch? Sieht man dir in deinem feinen Fummel gar nicht an.“

„Es gibt hier auch ganz angenehme Plätzchen, wenn man weiß, wo man suchen muss“, erwiderte Tareglir ungerührt. „Und ich weiß das ganz genau. Ich kenne diesen Sumpf und seine Gefahren.“

„Gefahren“, zischte Ratford verächtlich und wandte sich ab. „Lass mich raten. Du willst uns warnen, dass es Wahnsinn ist, diese Wälder zu durchqueren.“ Er winkte Lazana energisch zu. „Komm, dieser Kerl verschwendet nur unsere Zeit.“ Die Eismagierin zögerte und musterte Tareglir misstrauisch.

„Zu schade“, seufzte der Waldelf. „Eigentlich wollte ich euch dabei helfen, einen sicheren Weg durch die Düstermarsch zu finden. Wenn ihr nicht auf mich hören wollt, will ich euch nicht länger aufhalten. Aber es ist wirklich tragisch, wie viele Wanderer meine Angebote in den Wind schlagen und kurz darauf für immer in den Sümpfen verschwinden.“

Ratford war bereits im Begriff gewesen, seinen Weg fortzusetzen, als er plötzlich innehielt und sich wieder umdrehte. „Du hast vor uns bereits anderen Reisenden deine Hilfe angeboten?“, fragte er aufgeregt. „Waren darunter auch Pardel?“

Tareglir strich sich über seinen langen, struppigen Bart. „Drei kriegerische Katzenfrauen, eine von ihnen mit einer besonders prächtigen Fellzeichnung im Gesicht?“, überlegte er laut. „Ja, so eine Gruppe habe ich vor einiger Zeit angetroffen. Sie waren auf dem Weg nach Eydar und hatten sich dabei ganz offensichtlich verlaufen. Ich wollte auch ihnen helfen, aber in ihrem falschen Stolz haben sie mich zurückgewiesen.“

„Das klingt ganz nach Ahravi“, stellte Lazana trocken fest.

„Du hast sie gesehen?“ Ratford war plötzlich ganz aufgeregt. Er ging hastig auf den Waldelfen zu und packte ihn bei den Schultern. „Weißt du, was aus ihnen geworden ist?“

Tareglir löste sich sanft, aber bestimmt aus Ratfords Griff. „Sachte, mein Freund“, mahnte er ruhig. „Wenn sie es nicht geschafft haben, Eydar zu erreichen, sind sie wohl in den Sümpfen zugrunde gegangen. Ich sage immer wieder, dass dieses Gebiet seine eigenen Regeln hat, aber auf mich will ja niemand hören.“

„Wo hast du sie getroffen?“, fragte Ratford ungeduldig.

„An der Küste“, antwortete Tareglir und deutete nach Westen. „Ich kann euch die Stelle zeigen, wenn ihr wollt.“

Ratford achtete nicht darauf, dass Lazana zu zögern schien. „Bring uns dort hin!“, verlangte er von Tareglir.

Der Waldelf erhob sich und klopfte sich den Staub von seinen Seidengewändern. „So sei es“, sprach er. „Dann folgt mir mal. Wenn ihr mit mir Schritt haltet, sollten wir bald dort sein. Wenn nicht, werdet ihr euch wohl hoffnungslos verlaufen. Und dann ist es am Ende noch euer Tod. Also seht besser zu, dass ihr nicht zu weit zurückbleibt.“

Er kicherte albern. Ratford und Lazana warfen sich vielsagende Blicke zu. Sie waren davon überzeugt, dass der Waldelf kurz davor stand, wahnsinnig zu werden, wenn er es denn nicht schon längst war. Doch seine Worte ließen in ihnen neue Hoffnung keimen. Er war ihre letzte Chance, doch noch einen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Abgesandten der Pardel zu finden und so folgten sie ihm, wenn auch zögerlich, durch die Wälder.

Schnell zeigte sich, dass Tareglir nicht zu viel versprochen hatte. Er schien sich in der Düstermarsch tatsächlich bestens auszukennen und wählte Wege, die nur er sehen konnte. Er bahnte sich seinen Pfad durch dichtes Gestrüpp und umging verborgene Schlammlöcher. Dabei setzte er jeden seiner Schritte mit Bedacht, war aber dennoch so zügig unterwegs, dass Lazana schon bald Schwierigkeiten hatte, ihm zu folgen, und Ratford unter seinem schweren Kettenhemd mächtig ins Schwitzen kam. Doch die Wege, auf denen Tareglir sie durch den Sumpf führte, erwiesen sich als sicher und vor allem trocken. Ratford war sich nicht sicher, ob der seltsame Waldelf einen Bogen um die Tümpel machte, weil es sich dabei um tückische Todesfallen handelte oder weil er sich einfach seine Kleidung nicht schmutzig machen wollte.

„Bitte“, flehte Lazana, aus deren Gesicht jegliche Farbe gewichen war. „Ich brauche eine kurze Pause.“ Erschöpft blieb sie stehen und stützte sich auf ihren Staub. Auch Ratford wollte die Gelegenheit nutzen, um wieder neuen Atem zu schöpfen, doch Tareglir blieb unerbittlich.

„Nicht hier“, warnte er und schlug sich, ohne auf seine Begleiter zu warten, wieder in die Büsche. „Zu viele hungrige Bestien in der Nähe.“

Wie zum Beweis seiner Worte ertönte ein schauerliches Heulen, das diesmal so nah klang, dass sich Ratfords Nackenhaare aufstellten. Der Krieger warf Lazana einen unentschlossenen Blick zu. Seine Gefährtin erhob sich tapfer und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

„Wenn es hier nur nicht so schwül wäre…“, murmelte sie leise. „Aber ich werde schon irgendwie durchhalten. Lass uns weitergehen, bevor dieser Wahnsinnige uns noch abhängt.“

„Kommt!“, hörten sie Tareglirs spöttische Stimme aus dem Dickicht. „Es ist nicht mehr weit bis zur Küste.“

Lazana schöpfte aus seinen Worten neue Kraft und folgte ihm, wobei sie mit ihrem Stab Schlingpflanzen und Dornengestrüpp aus dem Weg räumte. Ratford bildete mit griffbereiter Axt die Nachhut. Gemeinsam beeilten sich die beiden Gefährten, den Waldelfen wieder einzuholen.

Tareglir wartete zwar nicht auf sie, aber er rief ihnen immer wieder etwas zu, sodass sie seiner Stimme folgen konnten, bis sie seine extravagante Robe zwischen den Bäumen erkennen konnten. Hastig schlossen sie zu ihm auf, was der Waldelf mit einem breiten Grinsen zur Kenntnis nahm.

„Wir sind gleich da“, versprach er und noch bevor Ratford oder Lazana einen weiteren Klagelaut von sich geben konnten, lichtete sich der Wald und vor den Augen der beiden Gefährten erschien eine von Bäumen gesäumte Bucht. Am nördlichen Ufer ragte eine bewaldete Hügelkette aus dem schlammigen Marschland empor. Dahinter lag das Binnenmeer. Lazana seufzte bei diesem Anblick erleichtert und ließ sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder, der zwar unangenehm nach Verrottung roch, aber eine willkommene Sitzgelegenheit darstellte.

Tareglir blieb stehen. „An dieser Stelle habe ich sie getroffen“, verkündete er und deutete nach Süden. „Sie sind der Gezeitenlinie gefolgt.“

„Dann tun wir das auch“, brummte Ratford grimmig. „Irgendwo muss sich ja ein Anhaltspunkt finden lassen, was aus Ahravi und ihrer Garde geworden ist.“

„Täusch dich da mal nicht“, warnte Tareglir und grinste tückisch. „Dieser Sumpf verschlingt nicht nur Reisende, sondern auch die Spuren, die sie hinterlassen haben.“

Ratford verspürte plötzlich ein unangenehmes Zwicken in seinem Genick. Als habe ihn ein lästiges Insekt gestochen, fuhr er mit einer Hand an seinen Nacken und ertastete dort einen kleinen, gefiederten Gegenstand. Für einen Sekundenbruchteil glaubte er, dass ihm tatsächlich ein blutsaugendes Tier im Genick saß, doch als er den spitzen Gegenstand aus seinem Hals zog und ihn sich ansah, bemerkte er, dass es ein Blasrohrpfeil war. Ratford brauchte einen kurzen Moment, bis er begriff.

„Wir werden angegriffen!“, brüllte er dann, wirbelte herum und schwang seine Axt. Lazana reagierte sofort und sprang auf die Beine. In diesem Augenblick ertönte lautes Geschrei und aus dem Unterholz am Wegesrand brach eine Horde zerlumpter Dunkelelfen.

„Was sind das denn für Wichte?“, wollte Ratford von Tareglir wissen, doch der Waldelf war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Der Krieger knurrte wütend und wollte Verteidigungshaltung einnehmen, als er plötzlich einen heftigen Schwindelanfall verspürte und sein Blickfeld verschwamm. Ratford taumelte zur Seite und schüttelte heftig seinen Kopf, in der Hoffnung, die plötzliche Benommenheit auf diese Weise loszuwerden. Doch sein Sichtfeld klärte sich nur für einen Augenblick, dann wurde es erneut unscharf.

„Was…was ist das…?“, brummte er verwundert. Die Welt schien sich plötzlich unkontrolliert zu drehen und er hörte die wilden Schreie der Angreifer wie durch Watte. Ratford sah die Umrisse eines anstürmenden Dunkelelfen und schlug mit seiner Axt nach ihm. Er verfehlte ihn deutlich und die Wucht seines eigenen Hiebes brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Unbeholfen stolperte er den Weg entlang und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Der Krieger ließ seine Axt sinken und fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Ihm wurde übel und er konnte kaum noch etwas erkennen. Im Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und schwang seinen Arm instinktiv zur Seite. Er traf einen der Dunkelelfen mit dem Ellbogen im Gesicht und stieß ihn in den Dreck, aber fast im gleichen Moment wurde ihm selbst endgültig schwarz vor Augen. Ratford gab ein tiefes, kehliges Grunzen von sich, dann kippte er um und fiel der Länge nach zu Boden.

Lazana bemerkte mit Schrecken den Zustand ihres Partners und entdeckte in der Horde der anstürmenden Banditen eine steinalte Dunkelelfe mit wildem, feuerrotem Haar. Im Gegensatz zu den meisten anderen Angreifern trug sie vernünftige Kleidung und hielt ein Blasrohr in den fleckigen Händen, das sie sich an die spröden Lippen setzte und zielte. Lazana schlussfolgerte augenblicklich, dass die Alte damit Pfeile verschoss, die mit einem betäubenden Gift bestrichen waren.

Die blonde Frau breitete die Arme aus und konzentrierte sich. Zwischen ihren Händen verdichtete sie magische Energie zu spitzen Eiskristallen und mit einem Mal klirrte die Luft vor Kälte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen gefror der schlammige Boden zu Lazanas Füßen und die Steine und Bäume wurden von einer dünnen Frostschicht überzogen.

„Eine Eismagierin!“, kreischte die alte Dunkelelfe hysterisch. „Balam!“

Lazana riss erschrocken die Augen auf. Ein Dunkelelf in einer fadenscheinigen Robe und mit langem, dunkelbraunem Haar trat einen Schritt nach vorn. Seine geballte Faust ging in Flammen auf und im nächsten Moment schleuderte er Lazana einen mächtigen Feuerball entgegen, der ihren Eiszauber einfach zerschlug. Sie verlor das Gleichgewicht und die alte Dunkelelfe nutzte diese Gelegenheit sofort aus. Der Betäubungspfeil aus ihrem Blasrohr traf Lazana direkt oberhalb des Schlüsselbeins und bei ihr wirkte das Gift deutlich schneller, als bei Ratford. Sie blinzelte heftig, um gegen die einsetzende Benommenheit anzukämpfen, doch es war zwecklos. Sie verlor das Gefühl in den Beinen und sackte in die Knie. Verzweifelt streckte sie einen Arm nach Ratford aus, dann wurde auch ihr schwarz vor Augen und sie kippte zur Seite.

Die dunkelelfischen Banditen stießen triumphierendes Gelächter aus. „Gute Arbeit!“, rief die Alte und aus dem Dickicht am Rande der Bucht kam Tareglir hervor. Mit spitzen Fingern zupfte er ein paar Blätter und Ranken von seiner Seidenkleidung. „Selbstverständlich war das gute Arbeit, Mola“, bemerkte er hochnäsig. „Auch wenn ich mir Besseres vorstellen kann, als in diesem dreckigen Sumpf herumzuwandern.“

Mola grinste gehässig und steckte ihr Blasrohr zurück in den Gürtel, an dem außerdem noch ein Säbel und ein Dolch hingen. „Du Ärmster“, erwiderte sie höhnisch und betrachtete Ratford, der ausgestreckt im Schlamm lag. „Der Kerl sieht wirklich kräftig aus. Fjedor wird zufrieden sein. Komm doch mit uns, Tareglir. Diesen Fang werden wir bestimmt feiern.“

„Es ist mir egal, ob Fjedor zufrieden ist“, gab der Waldelf patzig zurück und rümpfte verächtlich die Nase. „Ich ziehe es vor, nach Khaanor zurückzukehren. Dieser Gestank ist ja unerträglich.“

„Tu, was du nicht lassen kannst“, brummte Mola und schnippte mit den Fingern. „Balam! Vela! Fesselt die beiden! Und dann schaffen wir sie weg!“

Der Feuermagier und eine Dunkelelfe, die aussah, wie Molas jugendliche Version, traten vor und gehorchten ihrer Anführerin wortlos. Sie beugten sich zu Ratford und Lazana hinab und legten ihnen schwere Metallketten an. Die beiden Gefährten spürten nicht mehr, wie sie von zahlreichen Händen an Armen und Beinen gepackt und unsanft durch den Schlamm gezerrt wurden.

Craig stellte schnell fest, dass das Leben in Eydar kaum etwas mit dem auf Notting gemeinsam hatte. Einzig das Armenviertel mit den maroden Fischerhütten nahe dem Hafen glich dem, was von seinem Heimatdorf nach dem Piratenüberfall übriggeblieben war. Die Stadt selbst aber strotzte vor Reichtum. Selbst einfache Wohnhäuser waren größer als jedes Gebäude auf Notting. Händler priesen Waren aus aller Herren Länder an. Vor allem die große Auswahl an Fleisch verschlug Craig die Sprache. Auf Notting war es eine Seltenheit gewesen, wenn er einmal einen Schinken auf den Teller bekommen hatte, während hier feinste Filets von exotischen Tieren feilgeboten wurden, von denen Craig noch nie gehört hatte.

Nachdem sich Gilroy wortkarg von ihnen verabschiedet hatte und etwas davon gemurmelt hatte, dass er noch eine Menge Netze zu flicken hatte, hatten Craig und Vance das Segelboot von der Anlegestelle losgemacht und an den nahen Strand gebracht, wo die Boote der Fischer im Sand lagen. Danach hatten sie sich auf den Weg in die Stadt begeben und nun schlenderte Craig mit seinem noch immer nassen Gepäck im Schlepptau staunend durch die breiten Straßen von Eydar. Vance war ihm bislang noch nicht von der Seite gewichen, aber Craig wusste, dass sich ihre Wege bald trennen würden, sofern der Dorashen wirklich nur mit ihm gekommen war, um in der Stadt Arbeit zu finden. Während auf Craig fast an jeder Ecke neue Eindrücke warteten, wirkte Vance desinteressiert und gelangweilt.

An einer Hauswand lehnte ein Waldelf und Craig musste sich sehr zusammenreißen, den Mann nicht allzu offensichtlich anzustarren. Dunkelelfen waren auf Notting ein häufiger Anblick gewesen, aber einen Waldelfen hatte Craig noch nie zuvor gesehen. Er war erstaunt, wie sehr sich die Ureinwohner von Shalaine von ihren Vettern aus den Dschungeln im Süden unterschieden. Während die Dunkelelfen von großem Wuchs waren und eine blasse, fast weiße Hautfarbe hatten, war dieser Waldelf klein und zierlich. Sein Gesicht hatte einen dunklen Teint, der Craig an die Farbe von Baumrinde erinnerte. Nur seine langen, spitzen Ohren teilte er sich mit den Dunkelelfen.

Eine Patrouille Kaiserlicher Soldaten kam ihnen entgegen. Ihre Schwerter blitzten im Sonnenlicht und als Craig das Zeichen des Kaisers sah, das kunstvoll auf ihre Lederrüstungen gestickt worden war, musste er an Hiob denken. Seine erste direkte Begegnung mit den Soldaten war nicht besonders gut ausgegangen und Craig machte unwillkürlich einen großen Bogen um die Patrouille. Trotzdem versetzte ihn auch dieser Anblick in Staunen, denn noch nie hatte er eine so deutliche Präsenz der Kaiserlichen Armee erlebt.

Überrascht stellte er fest, dass auch Vance den Soldaten nervös auswich. Craig blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn der Wagen eines Händlers rollte so knapp an ihm vorbei, dass er ihm beinahe über die Zehen gefahren wäre. Er drehte sich um und wollte schon ein paar wilde Flüche ausstoßen, doch dann entdeckte er die Stadtmauer.

Groß und mächtig ragte sie in den Himmel. Sie erstreckte sich einmal quer über den Zugang zur Bucht, in der Eydar lag. Nach Westen hin verschwand sie zwischen den Klippen, während sie im Osten bis an die Küste heranreichte und dort mit einer großen, steil abfallenden Felswand abschloss. Das zentrale Tor sah äußerst massiv aus und war zu Craigs Verwunderung verschlossen. Er hatte erwartet, dass täglich Scharen von Händlern in der Stadt ein- und ausgehen würden, aber dann rief er sich zurück in Erinnerung, dass auch die Küstenstraße merkwürdig verlassen gewirkt hatte.

Zwei große Türme aus robustem Mauerwerk flankierten das Tor und auf den Wehrgängen konnte Craig mit langen Speeren bewaffnete Soldaten erkennen, die dort Wache hielten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es eine Macht in Gäa gab, die diese Verteidigungsanlagen durchbrechen konnte. Eydar war bestens geschützt, aber Craig hatte nicht vergessen, dass sich Gilroy nicht besonders begeistert über die Anwesenheit der Soldaten geäußert hatte.

Überhaupt war es auffallend, dass trotz des offensichtlichen Wohlstandes der Stadt kaum ein glückliches Gesicht zu sehen war. Craig hatte zunächst gar nicht darauf geachtet, aber als sie einer zweiten Patrouille begegneten, sah er, dass auch die Einwohner den Soldaten auswichen und schüchtern die Blicke senkten. Eigentlich hatte er erwartet, dass sich die Bevölkerung sicher und beschützt fühlte, aber in den kurzen Begegnungen zwischen Soldaten und Bewohnern spiegelte sich etwas, das über bloßen Respekt hinausging. Die Bürger hatten Angst.

Craig konnte sich keinen Reim darauf machen, aber dann dachte er an seine kurze Begegnung mit Aulus. Der Kerl hatte etwas von den Goldenen Falken erzählt. Craig wusste, dass es sich dabei um den Nachrichtendienst des Kaisers handelte, aber ihm war nicht bekannt, inwieweit die Goldenen Falken und die Armee zusammengehörten. Wenn die zuständigen Offiziere der in Eydar stationierten Truppen aber ähnlich aufgeblasene Einfaltspinsel wie Aulus waren, dann konnte Craig den Unmut der Bevölkerung gut nachvollziehen.

Trotz allem überwog sein Staunen. Schon jetzt war er der Meinung, dass es sich gelohnt hatte, Notting zu verlassen, und er war begierig darauf, noch mehr von diesem fremden Land und dieser fremden Stadt zu entdecken. Bei all seiner Begeisterung bemerkte Craig zunächst gar nicht, dass er selbst auffiel, wie ein bunter Hund. Die Stadtbewohner, denen er und Vance begegneten, warfen ihm allesamt verstohlene Blicke zu. Zunächst glaubte Craig noch, dass sie Vance anstarrten, aber der Dorashen wirkte so unscheinbar wie ein Mauerblümchen. Er verhielt sich unauffällig und schließlich wurde dem Waisenjungen klar, dass er selbst im Mittelpunkt des Interesses stand.

Manche Blicke galten den alten Brandnarben in seinem Gesicht und Craig konnte in ihren Augen sehen, dass sie Mitleid mit ihm hatten. Doch am meisten Aufmerksamkeit erregte das Schwert, das in seinem Gürtel steckte. Der Anblick eines Jungen, der eine Waffe trug, um die ihn selbst Soldaten beneiden würden, verwunderte die Bevölkerung sichtlich. Craig blähte stolz die schmale Brust und ignorierte, dass seine abgewetzte Kleidung, in der noch immer Meersalz klebte, überhaupt nicht zu dem edlen Schwert an seiner Seite passte.

„Lass uns ein Gasthaus suchen“, schlug Vance vor und riss Craig unsanft aus dem Tümpel aus Selbstgefälligkeit, in dem er sich suhlte. Es war das erste Mal, dass er sich zu Wort meldete, seit sie den Hafen verlassen hatten.

„Wolltest du nicht nach Arbeit suchen?“, fragte der Waisenjunge und zwinkerte einem dunkelelfischen Mädchen zu, das ihn mit offenem Mund anstarrte.

„Schon“, erwiderte Vance. „Aber ich schulde dir was für die Überfahrt. Ich würde dich gerne auf ein Bier einladen.“

Craig entging nicht, dass die schwarzen, glanzlosen Augen des Dorashen ruhelos umherwanderten, fast als fürchtete er, dass jeden Moment ein wildes Tier aus einer der dunklen Gassen stürmen und ihn angreifen könnte.

„Ein Bier für eine Überfahrt“, lachte der Waisenjunge heiser. „Ich glaube, ich bin viel zu günstig. Aber ich sage nicht nein.“

„Das freut mich“, sagte Vance, auch wenn er alles andere als zufrieden wirkte. Craig wurde noch immer nicht schlau aus dem seltsamen Zeitgenossen. Einen Dorashen hatte er sich ganz anders vorgestellt. Die Geschichten über die Gottesstreiter waren schon immer weit auseinandergegangen. Die einen berichteten von ihnen als große Helden, voller Selbstbewusstsein und Gerechtigkeitssinn, während sie von anderen als heimtückische und verräterische Schurken und Wegelagerer stigmatisiert wurden. Aber Vance war weder das eine, noch das andere. In Craigs Augen war er nichts als ein unsicherer, eigenbrötlerischer Vagabund, der sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Er machte es ihm wirklich schwer, ihn zu mögen, aber Craig stellte zu seiner eigenen Verwunderung fest, dass er ihm aus irgendeinem Grund sympathisch war.

Sie erkundigten sich nach einem Gasthaus und schon der erste Passant, den sie fragten, konnte ihnen eines empfehlen und ihnen eine grobe Wegbeschreibung geben. Dank dieser Hilfe wurden sie bald fündig und standen nur kurze Zeit später vor der erwähnten Taverne. Es war ein zweistöckiges Gebäude nahe dem Stadttor und Craig schätzte, dass es in etwa dieselben Ausmaße hatte, wie Premans Kneipe. Über der Eingangstür hing ein schweres Schild, auf dem mit verwitterten Buchstaben aus Eisen der Name der Taverne stand.

Nebelbank“, las Craig vor und kratzte sich an der Nase. „Klingt irgendwie nicht besonders einladend.“

„Ich habe schon schlimmere Namen gesehen“, gab Vance tonlos zurück. „Willst du mein Angebot etwa doch noch ausschlagen?“

„Auf keinen Fall!“, rief Craig hastig, der sich schmerzlich in Erinnerung rief, dass er kein Geld besaß. Vielleicht wäre es mit Hinblick auf seine bevorstehende Reise doch nützlich gewesen, wenn er sich von den Bewohnern von Notting für seine Hilfe ab und an doch mit Münzen statt Nahrungsmitteln hätte auszahlen lassen. Geld hatte in seinem Leben nie eine Rolle gespielt, aber allein der wenig freundliche Empfang von Aulus hatte ihm deutlich gezeigt, dass man offensichtlich nicht weit kam, wenn man nicht bezahlen konnte. Craig war ein Selbstversorger, aber er hatte schon immer die Vorzüge zu schätzen gewusst, die es mit sich brachte, wenn man seinen Proviant nicht selbst durch Angeln oder Jagen auftreiben musste. Und ein kühles Bier war eine willkommene Abwechslung zu Wasser. Deshalb kam ihm Vances Einladung gerade recht.

Als sie die Taverne betraten, blieb Craig wie angewurzelt in der Tür stehen. Der Gastraum war bis auf den letzten Tisch mit Leuten belegt und die Luft war erfüllt vom Durcheinander ihrer Gespräche. Menschen und Dunkelelfen tranken und lachten zusammen und aus dem Obergeschoss, das über eine Treppe im hinteren Teil des Gasthauses zu erreichen war, drang melodisches Lautenspiel. Genauso musste es in Premans Kneipe zugegangen sein, bevor ganz Notting vor die Hunde gegangen war.

Hinter dem Tresen stand ein schlanker Waldelf, dessen wildes, haselnussbraunes Haar mit einem roten Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Als er Craig und Vance bemerkte, kam er grinsend hinter dem Tresen hervor und steuerte direkt auf die beiden Neuankömmlinge zu.

„Willkommen im Gasthaus Nebelbank!“, rief er überschwänglich. „Mein Name ist Aglir und ich bin der Schankwirt dieser bescheidenen Taverne. Fühlt Euch ganz wie zuhause! Wir bieten allerlei Getränke für ausgetrocknete Kehlen und zwei erschöpfte Wanderer werden hier auch ein warmes Bett für die Nacht finden.“

Bei den letzten Worten deutete er vielsagend auf Craigs Kleidung, die noch immer nicht richtig trocken war.

„Für den Anfang nehmen wir zwei Krüge Bier“, sagte Vance und sah sich im Gastraum um. „Vorausgesetzt, wir finden einen freien Platz.“

Aglir deutete eine Verbeugung an. „Aber selbstverständlich!“, versicherte er. „Geht einfach ins Obergeschoss, dort habt Ihr einen Tisch ganz für Euch allein.“

Vance nickte dem geschäftigen Waldelfen zu und bedeutete Craig mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Gemeinsam begaben sie sich ins Obergeschoss und fanden, wie Aglir versprochen hatte, einen freien Tisch zwischen einer Gruppe grölender Männer und einem weiteren Tresen. Dahinter stand eine dunkelelfische Schankfrau, die sich vor einem großen Weinregal aufgebaut hatte, in dem zahllose Flaschen lagerten. Ein weiterer Dunkelelf stand in der Ecke neben einem prasselnden Kaminfeuer und klimperte auf einer Laute herum. Einige Gäste stimmten zu seiner Melodie ein Lied an, aber sie sangen so schief und falsch, dass sich Craig am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

Mit gequältem Gesicht setzte er sich und streifte sich den Riemen seines Rucksacks von der Schulter. Vance nahm ihm gegenüber Platz und noch bevor einer der beiden die Gelegenheit hatte, die ausgelassene Stimmung auf sich wirken zu lassen, stand Aglir wie aus der Luft geschält neben ihrem Tisch und servierte ihnen zwei blecherne Krüge voll Bier. Der Schaum warf noch Blasen und sickerte in einer schmalen Bahn an der Außenseite des Humpens hinab.

Aglir streckte Vance auffordernd eine Hand hin, ohne dass das Grinsen von seinen Lippen verschwand. Craig fragte sich, wie der Waldelf wohl aussah, wenn er nicht lächelte.

Vance bezahlte anstandslos und nachdem Aglir die Münzen entgegengenommen und gezählt hatte, drehte er sich zufrieden um und eilte davon, ohne seine Gäste eines weiteren Blickes zu würdigen.

Craig griff nach seinem Humpen und prostete Vance zu. „Ich danke dir“, rief er glücklich.

„Ich habe zu danken“, entgegnete der Dorashen und setzte sich seinen Krug an die Lippen. Auch Craig trank einen Schluck und stellte fest, dass das Bier deutlich kühler war, als in Premans Gasthaus. Außerdem schmeckte es ganz anders. Zuerst war es so herb, dass Craig beinahe das Gesicht verzog, doch dann entfaltete es im Nachgang einen leicht süßlichen Geschmack, der ihn an den Geruch von Apfelblüten erinnerte. Er musste zugeben, dass ihm dieses Bier sehr behagte und er nahm gierig noch einen Schluck.

Auch Vance trank fleißig, doch es war nicht zu erkennen, ob es ihm mundete oder nicht. Craig kam kurz der abstruse Gedanke, dass Dorashen vielleicht gar keinen Geschmackssinn hatten.

Während sie so dasaßen und tranken, sprach keiner von ihnen ein Wort. Craig wurde die Stille allmählich unangenehm. Ringsum unterhielten sich die anderen Gäste und lachten ausgelassen, wohingegen er und Vance sich anschwiegen. Craig entschloss sich, die Stille zu durchbrechen, und räusperte sich geräuschvoll.

„Also“, begann er gedehnt. „Ich weiß ja noch immer fast nichts über dich. Ich kenne nur deinen Namen und deinen Heimatort.“

„Mehr weiß ich über dich auch nicht“, erwiderte Vance ungerührt.

„Du hast mich nie etwas gefragt“, stellte Craig fest. „Interessiert es dich überhaupt nicht, mit wem du das Binnenmeer überquert hast?“

„Eigentlich nicht“, gab Vance zu. „Wir haben es ja schließlich mehr oder weniger sicher geschafft. Das ist doch die Hauptsache.“

Craig seufzte verzweifelt. Offenbar war es nicht möglich, ein vernünftiges Gespräch mit Vance zu führen. Es kam ihm fast vor, als würde sich der Dorashen energisch dagegen wehren, mehr von sich preiszugeben, doch seine Verschlossenheit machte Craig nur noch neugieriger. Nervös kaute er auf seiner Unterlippe herum und versuchte, sich eine Frage zurechtzulegen.

Doch zu seinem Erstaunen kam ihm Vance zuvor. Er tippte sich mit dem Finger unter die Augen. „Woher hast du die?“, wollte er wissen.

Craig fasste sich unwillkürlich an das Narbengewebe an seinen Wangen. „Das ist passiert, als das Haus meiner Eltern von Piraten niedergebrannt wurde“, erzählte er und sein Blick verfinsterte sich. „Meine Eltern sind dabei umgekommen.“ Er hob den Kopf und sah Vance direkt in die ausdruckslosen Augen. „Und was ist mit dir? Woher hast du diese Narbe an deiner Wange?“

Vance zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er. „Sie war schon immer da, solange ich denken kann.“

Craig kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Dann hast du diese Verletzungen schon als Kleinkind davongetragen? Haben dir deine Eltern nie erzählt, wie das passiert ist?“

„Ich habe keine Eltern“, gab Vance zurück und stellte seinen Humpen ab. Craig konnte erkennen, dass er leer war. „Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, jemals welche gehabt zu haben.“

Craigs Magen krampfte sich zusammen. Er fragte sich, ob es schlimmer war, seine Eltern zu verlieren, oder seine Eltern überhaupt nicht zu kennen. Unbestreitbar war aber, dass Vance ein hartes Los gezogen hatte. Allmählich konnte Craig verstehen, weswegen der Dorashen so verschlossen und in sich gekehrt war.

„Kein Wunder, dass ich nichts über dich weiß“, stellte Craig fest. „Du weißt ja selbst nichts über dich. Bist du dir überhaupt sicher, dass dein Name Vance ist?“

„Ich denke schon. Die Leute aus meinem Heimatdorf haben mich so genannt.“

„Und bist du dir auch sicher, dass du ein Dorashen bist?“, fragte Craig neugierig.

In Vances Augen flackerte der Anflug eines panischen Leuchtens auf. Er sah sich gehetzt um, doch alle anderen Gäste waren zu sehr in ihre eigenen Gespräche vertieft, um etwas von der Unterhaltung zwischen ihm und Craig mitzubekommen. „Nicht so laut“, bat er dennoch mit gesenkter Stimme. „Ich bin ohne Zweifel ein Dorashen. Auch wenn es mir lieber wäre, ein normaler Mensch zu sein. Das würde mein Leben nämlich um ein Vielfaches vereinfachen.“

Craig senkte schuldbewusst den Kopf. Offenbar sprach Vance nicht gerne über seine wahre Identität. Das war auch nicht weiter verwunderlich, nachdem das Schicksal den Dorashen so übel mitgespielt hatte. In den meisten Gegenden fürchtete und verachtete man sie, aber für Craig waren sie Legenden. Er glaubte viel lieber den Geschichten, aus der alten Zeit, als die Dorashen noch gefeierte Helden gewesen waren, als den bösartigen Gerüchten, die in den letzten Jahrhunderten gestreut worden waren. Die Geschichten, die ihm sein Vater erzählt hatte. Wenn er sich Vance so ansah, konnte er einfach nicht glauben, dass er jemandem etwas Böses wollte. Und er wollte wahrscheinlich nicht als Dorashen erkannt werden, weil er sich in der Vergangenheit wegen des besonderen Blutes, das durch seine Adern floss, immer wieder Anfeindungen ausgesetzt gesehen hatte. Vielleicht verhielt er sich deshalb so verschwiegen und zurückhaltend. Craig begriff nun auch, warum es Vance so eilig gehabt hatte, Notting zu verlassen und auch nicht vorhatte, allzu lange in Eydar zu bleiben. Er wollte ständig seinen Aufenthaltsort ändern, bevor ihn jemand als Dorashen erkannte und ihm die Missgunst der Bevölkerung entgegenschlug.

Craig wurde plötzlich bewusst, dass er vermutlich eine der wenigen Personen war, die Vances wahre Identität kannten. Es lag also gewissermaßen in seiner Verantwortung, dass weiterhin geheim blieb, dass Vance ein Dorashen war. Für ihn war klar, dass er Stillschweigen bewahren würde. Craig fühlte sich bei diesem Gedanken plötzlich furchtbar wichtig, denn er begriff, dass er zu einem kleinen Kreis von Geheimnisträgern gehörte. Allerdings erinnerte er sich auch noch lebhaft daran, dass Hiob den Dorashen nur an dessen Aura erkannt hatte. Wenn es noch mehr Leute gab, die dazu in der Lage waren, würde Vance über kurz oder lang in Schwierigkeiten geraten.

Dem Waisenjungen schwirrte der Kopf. Wenn Vance seine gottgegebenen Fähigkeiten nutzen würde, um Gutes zu bewirken, dann würde er damit ganz Gäa zeigen, dass die Dorashen keine hinterhältigen Schurken waren. Er konnte die Namen aller Gottesstreiter reinwaschen, die in der Vergangenheit zu Unrecht verstoßen und verfolgt worden waren.

Aber Vance machte nicht den Eindruck, als würde er aktiv werden wollen. Seit Craig die Dorashen angesprochen hatte, wirkte er geistesabwesend und noch verschlossener. Der Waisenjunge konnte förmlich spüren, dass irgendetwas seinen Weggefährten hemmte. Etwas tief in seinem Inneren, das ihn dazu zwang, ständig davonzulaufen und sich zu verstecken. In gewisser Weise erinnerte er Craig an Knack. Auch der Knucker war kein bösartiges Wesen, aber trotzdem hatte die Bevölkerung Angst vor ihm. Und allein deshalb würde sie ihm mit Aggression begegnen und ihn vertreiben, wann immer sie ihn zu Gesicht bekamen. Craig hatte das dringende Bedürfnis, Vance zu helfen, aber er wusste nicht wie.

„Kann ich noch ein Bier bekommen?“

Craig hob den Kopf und sah, wie Vance der Dunkelelfe hinter dem Tresen seinen leeren Humpen entgegenstreckte. Die Schankfrau schüttelte den Kopf. „Von mir nicht“, sagte sie. „Bier gibt es unten bei Aglir. Ich schenke nur Wein aus.“

„Verstehe“, erwiderte Vance und wollte aufstehen, da schob ihm Craig eilig seinen Krug hin. „Bleib sitzen“, rief er hastig und stand seinerseits auf. „Du kannst mein Bier haben. Irgendwie ist mir die Lust daran vergangen. Außerdem wird es Zeit, dass ich mal nachsehe, was Knack so treibt und wo er sich verkrochen hat.“

„Wie du meinst“, gab Vance monoton zurück und griff etwas zögerlich nach dem Bierkrug.

„Wir sehen uns!“, rief Craig zuversichtlich und klopfte zum Abschied auf den Tisch. Dann schnappte er sich sein Gepäck, eilte die Treppe hinunter und verließ das Gasthaus Nebelbank.
 

Seine Schritte lenkten ihn fort von der Stadtmauer und zurück zum Hafen. Als er die Anlegestellen erreichte, wendete er sich nach rechts und steuerte auf die Landzunge mit dem Leuchtturm zu. In den Klippen dahinter gab es viele Felsnischen, in denen Knack Unterschlupf gefunden haben könnte.

Auf seinem Weg passierte Craig die Fischerhütten. Vor einer besonders heruntergekommenen Unterkunft kniete Gilroy im schlammigen Ufersand und flickte eines seiner Netze. Craig grüßte den mürrischen Dunkelelfen im Vorbeigehen und Gilroy hob den Kopf.

„He, Junge, wo soll es denn hingehen?“, fragte er.

Craig überlegte sich eine Antwort. Er wollte dem Dunkelelfen nicht auf die Nase binden, dass er nach einem Knucker suchte. „Ich will mir die Landzunge ansehen“, rief er schließlich. „Von den Klippen aus hat man bestimmt einen tollen Ausblick auf das Binnenmeer.“

„Wenn kein Nebel herrscht“, erwiderte Gilroy mit einem finsteren Kopfnicken. „Aber pass auf dich auf! In den Klippen brütet eine Kolonie von Felsharpyien. Die sind zwar nicht ganz so groß, wie die Biester in den Wolkenbergen, aber mindestens genauso bösartig. Und auch wenn sie sich hauptsächlich von Fisch ernähren, gibt es keine Harpyie in ganz Gäa, die Menschenfleisch verschmäht. Und so einen Knirps wie dich verspeisen sie zum Frühstück.“

Craig musste schlucken. Das klang in der Tat ungemütlich und er bereute es, dass er Knack geraten hatte, sein Glück auf der Suche nach einem Unterschlupf jenseits der Landzunge zu versuchen. Andererseits wusste Craig genau, dass der Knucker bestens in der Lage war, sich zu verteidigen. Er selbst verspürte hingegen wenig Lust auf eine Begegnung mit den Felsenharpyien.

„Danke für die Warnung“, rief er Gilroy zu. „Ich werde mich schon nicht fressen lassen! Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“

Der Dunkelelf kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Ja, fall nicht von den Klippen“, brummte er. „Sie sind zwar nicht allzu hoch und steil, aber ein Sturz könnte trotzdem ziemlich unangenehm werden.“

„Ich werde daran denken“, gab Craig zurück und winkte Gilroy zu, der sich gar nicht weiter um den jungen scherte, sondern sich wieder seinen Netzen zuwandte. Der Waisenjunge musste grinsen. Gilroy gab sich ruppig und unfreundlich, aber trotzdem hatte er sich seit Craigs Ankunft immer wieder als hilfsbereit erwiesen, auch wenn er so tat, als würde er einem Fremden nur ungern Auskunft geben. Vermutlich war das einfach die Art der Dunkelelfen von Shalaine. Craig erinnerte sich daran, dass Hiob ihm erzählt hatte, dass sie ein sehr stolzes Volk waren, das sich den Menschen überlegen fühlte. Vermutlich ging es einfach gegen ihr Selbstwertgefühl, Fremden allzu höflich zu begegnen.

Der Waisenjunge folgte der Gezeitenlinie nach Westen und seine Sandalen hinterließen deutliche Abdrücke im feuchten Sand. Das Kreischen der Möwen, die über dem Hafen kreisten, begleitete ihn und bald hatte er die Hütten der Fischer hinter sich gelassen. Vor ihm lag nur noch die Landzunge, die zur Bucht hin sanft abfiel, aber sich in Richtung Meer zu schroffen Klippen auftürmte.

An der Spitze der Felshänge stand der Leuchtturm. Erst jetzt, da er näher kam, konnte Craig die wirkliche Größe dieses Bauwerks erkennen. Mächtige Steinblöcke bildeten das Fundament, der Turm selbst bestand aus kleineren Mauersteinen, deren Ecken von Wind und Wetter zu sanften Rundungen geformt worden waren. Die Feuerplattform und das Dach bestanden aus Holz und Craig konnte im Schein des Leuchtfeuers in schwindelerregender Höhe die winzige Silhouette eines Soldaten sehen. Das Signallicht des Turms musste meilenweit zu sehen sein.

Der Eingang wurde von zwei weiteren Soldaten bewacht. Craig konnte sehen, dass sie in misstrauisch beäugten, und er entschied sich, einfach weiterzugehen, ehe man ihm noch unangenehme Fragen stellte. Der Leuchtturm befand sich auf dem höchsten Punkt der Klippen, sodass ihn der Rest seines Weges leicht bergab führte. Vorsichtig trat er den Rand der Felsen heran und spähte in die Tiefe. Wie Gilroy gesagt hatte, waren die Klippen tatsächlich weder hoch, noch steil. Craig war sich sicher, dass er den Hang vom Meer aus relativ bequem würde erklimmen können. Dafür waren die Felsen zerklüftet und ragten wie einzelne Dornen aus dem Wasser. Überall gab es kleine Nischen und Höhlen, in denen sich Knack bequem verstecken konnte. Craig seufzte leise. Es würde nicht so einfach werden, den Knucker zwischen den Felsen zu finden. Er hatte keine Lust, hinabzuklettern und die ganze Länge der Klippenfront abzusuchen. Stattdessen setzte er darauf, dass Knack ihn wittern und von alleine zu ihm kommen würde, wenn er in der Nähe war.

Das Rauschen der Brandung übertonte an diesem Ort sogar das Geschrei der Seevögel. Gischt schäumte zwischen den Felsen, an denen sich die Wellen geräuschvoll brachen. So wild und ungebändigt das Wasser an der Küste auch war, so ruhig und friedlich wirkte es auf dem offenen Meer. Der Sturm der vergangenen Nacht hatte Craig aber gezeigt, dass die Elemente launisch waren und eine Flaute jeder Zeit in einen zerstörerischen Orkan umschlagen konnte.

Die Sonne glitzerte auf der Oberfläche und nach Westen hin sah der Waisenjunge nichts als Wasser. Ein seltsames Gefühl der Sehnsucht erfüllte ihn bei diesem Anblick und ohne es zu wollen wandte er sich um und sah nach Süden. Am Horizont, ein kleines Stück links neben dem Leuchtturm, meinte er einen dunklen Fleck hinter den Wellen zu erkennen. Noch kam es ihm unwirklich vor, dass er Notting vermutlich eine ganze Weile nicht mehr betreten würde.

Craig schüttelte heftig den Kopf und riss sich aus seinen Träumereien. Jetzt war nicht der Augenblick, um über seine Heimat zu sinnieren. Er hatte seine Gründe gehabt, Notting zu verlassen, und jetzt war er hier in dieser fremden Stadt in diesem fremden Land. Er musste Knack finden und sich dann überlegen, wie es weitergehen sollte. Vielleicht sollte er einfach drauflos wandern, aber als er daran dachte, dass die Straßen in dieser Gegend nicht ohne Grund so spärlich genutzt wurden, verwarf er diesen Gedanken wieder.

Er erinnerte sich an Gilroys Warnung bezüglich der Felsharpyien und suchte den Himmel ab, doch er entdeckte lediglich einen großen Schwarm Möwen und einen großen Sturmtaucher, der auf der Thermik segelte und in Küstennähe nach lohnender Beute suchte. Es schienen nur harmlose Seevögel unterwegs zu sein und gerade, als sich Craig wieder entspannen wollte, ertönte plötzlich ein schrilles Krächzen. Sofort machte sein Herz einen Satz und er wirbelte erschrocken herum. Neben ihm ragte ein zerklüfteter Fels in die Höhe. In einer Nische hockte ein vogelartiges Wesen mit gefalteten Flügeln, das ihn aus kleinen, gelben Augen hungrig musterte. Seine Federn hatten den gleichen graubraunen Farbton wie die Klippen und Craig musste zweimal hinsehen, um den Vogel vor dem Hintergrund der Felsen zu erkennen, doch dann erstarrte er auf der Stelle.

Das geflügelte Ungeheuer war aufgerichtet nur so groß wie ein Kind, aber als es seine Schwingen ausbreitete, wirkte es sofort viel imposanter. Craig drehte sich der Magen um, als er die langen, wie Fleischerhaken gekrümmten Klauen des Vogels bemerkte. In seinen Fängen hielt das Untier die kümmerlichen Überreste von etwas, das nach Craigs Einschätzung einmal ein ausgewachsener Bluthecht gewesen war. Der Waisenjunge wusste mit Sicherheit, dass das kein harmloser Seevogel war, und noch bevor die Bestie ihren langen Schnabel öffnete und eine Reihe nadelspitzer Zähne präsentierte, wurde ihm klar, dass er auf eine Felsharpyie gestoßen war.

Craig griff hastig nach seinem Schwert, als der Raubvogel einen wütenden Schrei ausstieß und sich mit ein paar Flügelschlägen etwas unbeholfen in die Lüfte erhob. Im ersten Moment glaubte Craig, dass er das Ungeheuer erschreckt und vertrieben hatte, bis ihm klar wurde, dass die Harpyie in ihm einen schmackhaften Nachtisch sah. Sie flog einen kleinen Bogen, um Anlauf zu nehmen, und ging dann im Sturzflug zu einem Frontalangriff über.

Ratford erwachte mit schmerzendem Kopf und bemerkte als erstes, dass ihm fürchterlich kalt war. Er lag auf feuchtem Steinboden und durch das Dröhnen in seinen Ohren konnte er das hallende Geräusch von Wassertropfen hören, die in regelmäßigen Abständen zu Boden fielen. Außerdem vernahm er aus der Ferne das rhythmische Klopfen von Metall auf Stein.

Stöhnend richtete sich der bullige Krieger auf. Ihm wurde auf der Stelle schwindelig und als er eine kalte Felswand in seinem Rücken spürte, lehnte er sich sofort dagegen. Blinzelnd sah er sich um. Er befand sich in einer großen Höhle, die von flackerndem Fackelschein erhellt war. Seine Axt und seine Rüstung hatte man ihm abgenommen und er trug nur noch seine zerschlissene Tunika, die schmutzige Leinenhose und seine Lederstiefel. Sein Körper schien äußerlich unverletzt zu sein, aber er hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Ein unsichtbares Gewicht drückte auf seinen Kopf und machte ihn benommen.

In das Gestein war ein massives Gitter eingelassen, das den Weg versperrte. Dahinter gabelte sich die Höhle in zwei Gänge. Das metallische Klopfen kam aus dem linken Tunnel und die Fackeln warfen tanzende Schatten an die Felswände.

Ein Zittern durchlief Ratfords Körper und er schlang die muskelbepackten Arme um seinen Torso, um sich aufzuwärmen, doch seine Haut fühlte sich ebenso kalt an, wie der felsige Untergrund, auf dem er aufgewacht war. An den Handgelenken trug er schwere Metallschellen, die im schwachen Licht der Fackeln merkwürdig glänzten. Seine Füße waren mit den gleichen Fesseln aneinandergekettet. Ratford hatte keine Ahnung, wo er war oder wie lange er geschlafen hatte, aber allmählich kehrten seine Erinnerungen zurück. Er griff sich mit der Hand in den Nacken. Ihm war fast, als würde er den Pfeil in seinem Genick immer noch spüren.

Erst jetzt entdeckte er Lazana. Die blonde Frau lag etwas abseits auf einem Haufen verschimmelten Strohs. Auch ihr hatte man Metallfesseln angelegt und ihrem ohnehin schon blassen Gesicht fehlte die Farbe. Sie sah aus, wie eine Tote, doch Ratford erkannte, dass sich ihre Brust im Rhythmus ihres schwachen Atems langsam hob und senkte. Ihr Stab war wie Ratfords Axt verschwunden und ihre weiß glänzende Tunika war schlammbespritzt, von Wasser durchtränkt und zerrissen. Ansonsten schien sie aber unversehrt zu sein.

Unsicher taumelte Ratford zu seiner Partnerin herüber. Die Fesseln an seinen Füßen beeinträchtigten ihn enorm und er konnte nur kleine Schritte machen. Weitere Schwindelanfälle befielen ihn. Obwohl Lazana nicht weit entfernt war, stolperte er mehrmals über die Ketten und fiel auf den harten, feuchten Steinboden, schlug sich die Ellbogen auf und kam jedes Mal nur langsam und stöhnend wieder auf die Beine. Als er Lazana endlich erreichte, fiel er erschöpft vor ihr auf die Knie. Sanft tätschelte er ihre totenbleiche Wange und versuchte so, sie aufzuwecken. Es dauerte eine Weile, doch dann flatterten ihre Augenlider und sie sah ihren Gefährten verschlafen an.

„Ratford?“, flüsterte sie kaum hörbar. „Bist du das?“

„Ja, ich bin es. Geht es dir gut?“

Die Eismagierin setzte sich vorsichtig auf und fasste sich an den Kopf. „Ich bin jedenfalls nicht verletzt“, stellte sie fest. Ihre Stimme klang noch immer schwach und erschöpft. „Aber ich fühle mich so kraftlos. Wo sind wir hier?“

Ratford wollte sich aufrichten, doch er kippte unbeholfen zur Seite und blieb dann doch sitzen. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, knurrte er. „Aber ich habe nicht vor, besonders lange hierzubleiben. Diese Mistkerle aus dem Sumpf haben uns hier eingesperrt.“

„Ach ja…“, erinnerte sich Lazana. „Der Überfall.“ Die junge Frau schien plötzlich einen Geistesblitz zu haben. „Denkst du, dass Ahravi und ihre Leibgarde ebenfalls angegriffen wurde? Vielleicht wurden sie ebenfalls hierher verschleppt.“

„Möglich“, erwiderte Ratford grimmig. „Aber das können wir später herausfinden. Jetzt müssen wir erstmal hier raus! Ich will meine Axt wiederhaben.“

„Mein Stab fehlt auch“, bemerkte Lazana.

„Ich weiß“, brummte Ratford. „Aber das muss jetzt auch ohne Stab funktionieren. Kannst du mit deiner Magie ein Loch in das Gitter dort drüben schlagen?“

Lazana taxierte die Barriere und nickte anschließend schwach. „Das könnte schwierig werden, dürfte aber zu schaffen sein.“

„Das ist mein Mädchen!“, freute sich Ratford. „Dann hol uns mal hier raus!“

Lazana breitete ihre Arme aus, soweit es ihr ihre Fesseln ermöglichten, und konzentrierte sich. Ratford erwartete, dass die Luft jeden Augenblick beträchtlich kälter wurde, dann das Wasser an der Höhlenwand gefror und sich schließlich zwischen den Händen seiner Gefährtin ein kleiner Eiskristall bilden würde, den die Magierin nach Belieben zu einem gefrorenen Speer oder einem ausgewachsenen Schneesturm umformen konnte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen leuchteten die Metallfesseln an Lazanas Handgelenken in einem stechenden Hellblau auf und die junge Frau runzelte verwundert die Stirn. „Es geht nicht“, sagte sie verdrießlich.

„Was soll das heißen, es geht nicht?“ Ratford schob argwöhnisch die Brauen zusammen. „Versuch es noch mal!“

Lazana nickte wenig hoffnungsvoll. Sie schloss die Augen, um sich voll und ganz auf ihre Magie zu konzentrieren, doch erneut geschah nichts. Nur die dicken Fesseln an ihren Handgelenken fingen wieder an zu glühen. Erschöpft und geknickt ließ die junge Frau ihre Hände wieder sinken. „Zwecklos“, konstatierte sie verzagt. „Ich kann keine Zauber wirken.“

„Jetzt ist nicht der Augenblick für Spielchen“, rief Ratford und rang verzweifelt die Hände.

„Das sind keine Spielchen“, beteuerte Lazana. „Irgendetwas hemmt meinen Zauber. Ich denke, es sind diese Fesseln. Vermutlich bestehen sie aus Schleierstahl. Wahrscheinlich fühle ich mich deshalb auch so schwach.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, stöhnte Ratford entsetzt. Schleierstahl war zauberkundig bearbeitetes Metall, das bei Berührung magische Kräfte unterdrückte. Deshalb war es Gang und Gäbe in den Kerkern von Ganestan, Fesseln und Ketten aus genau diesem Material herzustellen, um magiekundigen Gefangenen jede Flucht unmöglich zu machen.

Ratford ballte wütend die Fäuste und stand schwankend und zähneknirschend auf. „Na gut, dann reiß ich dieses verdammte Gitter eben mit bloßen Händen raus!“ Der bullige Krieger packte die massiven Eisenstäbe und rüttelte wie ein Verrückter daran, doch das Gitter rührte sich keinen Zentimeter. Stattdessen wurde ihm wieder schwarz vor Augen und er sank erschöpft zurück auf den feuchten Steinboden.

Lazana sah traurig dabei zu, wie ihr Partner seiner Wut freien Lauf ließ, bis ihn die Kräfte verließen. Dann näherte sie sich ihm auf allen Vieren und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Das hat doch keinen Sinn. Spar dir deine Kräfte lieber, vielleicht wirst du sie noch brauchen.“

Ratford fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Er konnte die kalten Schweißperlen spüren, die sich an seiner Stirn bildeten. „Verdammt, was haben diese Mistkerle nur mit uns vor?“, krächzte er schwach. „Und warum wird mir ständig schwindelig? Ich beherrsche keine Magie, also kann es nicht an diesen verfluchten Fesseln liegen.“

„Das Gift der Veilchenfische“, ertönte eine spöttische Stimme. „Es lähmt die Gliedmaßen und trübt die Sinne. Das Schöne daran ist, dass es so lange wirkt. Die Veilchenfische benutzen es nur, um sich zu verteidigen, dabei bietet es so viele andere Möglichkeiten.“

Ratford hob den Kopf. Auf der anderen Seite stand die alte Dunkelelfe mit dem Blasrohr und grinste höhnisch. Hinter ihr stand etwa ein Dutzend zerlumpter Dunkelelfen. Die meisten von ihnen trugen Spitzhacken, während einige wenige den Höhlengang mit Fackeln erleuchteten.

„Sag mal…“, brummte Ratford mit gedämpftem Zorn. „Das sind doch die Mistkerle, die uns überfallen haben, nicht wahr?“

Lazana entdeckte neben der alten Dunkelelfe den Magier, der ihren Eiszauber mit seinem Feuerball zerschlagen hatte, und nickte finster. „Ja, das sind sie.“

Ratford sprang zornentbrannt auf, packte die Gitterstäbe erneut und rüttelte mit beängstigender Kraft daran. Das ohrenbetäubende Scheppern hallte dutzendfach von den Felswänden zurück und dröhnte bis in die hintersten Gänge des Höhlensystems.

„Ihr elenden Bastarde!“, brüllte Ratford und übertönte damit sogar den Lärm, den er durch das Rütteln verursachte. „Ihr dreckigen Feiglinge! Wenn ich euch in die Finger kriege, dann brech ich euch sämtliche Knochen im Leib! Lasst mich hier raus und ich wisch mit euch den Boden auf, ihr verdammten…ihr verdammten…Mistkerle…“ Ratfords Gebrüll erstarb ihm auf die Lippen, als ihm erneut schwindelig wurde. Er ließ das Gitter los und taumelte von den Eisenstäben zurück. „Nicht schon wieder…“, stöhnte er und stützte sich gegen die Felswand der Höhle, um nicht zu stürzen. Entkräftet sank er zu Boden.

Die alte Dunkelelfe trat an das Gitter heran. Auf ihrem faltigen Gesicht lag ein selbstgefälliges Grinsen, als sie auf den erschöpften Krieger hinabblickte. „Mach hier doch nicht so einen Lärm“, rief sie höhnisch. „Du lenkst damit nur die anderen Arbeiter ab. Außerdem tut dein Geschrei fürchterlich in den Ohren weh.“

„Ich reiß dir deine elenden Spitzohren gleich ab, wenn du mich nicht sofort hier rauslässt!“, entgegnete Ratford trotzig, aber seine sonst so grollende Stimme klang nicht mehr besonders furchteinflößend. Sein Atem ging stoßweise und er zitterte am ganzen Körper.

Das spöttische Grinsen der Dunkelelfe wurde noch breiter. „Fühlst du dich schwach?“, höhnte sie. „Ist dir vielleicht schwindelig? Dieses Gefühl der Kraftlosigkeit wird dich noch eine ganze Weile begleiten, also übernimm dich nicht. Es wäre doch wirklich schade, wenn so ein stattlicher Bursche wie du irgendwann einfach aus den Latschen kippt und sein Leben aushaucht, findest du nicht?“

Lazana sah Ratford besorgt an. Der bullige Krieger hatte nicht einmal mehr die Kraft, um der alten Dunkelelfe weitere Beleidigungen oder Drohungen an den Kopf zu werden. Er hockte auf dem kalten Boden und lehnte sich gegen die Felswand. Ab und zu drang ein gedämpftes Stöhnen aus seiner Kehle.

Lazana erkannte, dass sie den Banditen hilflos ausgeliefert waren. „Was wollt ihr von uns?“, fragte sie zaghaft.

Die Alte stolzierte vor dem Gitter auf und ab. „Zunächst einmal möchte ich mich und meine Begleiter vorstellen“, erklärte sie und genoss ihre Machtposition sichtlich. Sie deutete auf die junge Dunkelelfe, die ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, und den Feuermagier. „Das sind meine Tochter Vela und mein treuer Gehilfe Balam. Mein Name ist Mola und ich bin von jetzt an eure Vorgesetzte.“

„Du hast doch den Arsch offen“, meldete sich Ratford stöhnend zu Wort. Er wollte den Kopf heben und der alten Dunkelelfe einen wütenden Blick zuwerfen, doch sein Kinn fiel ihm sofort wieder auf die Brust zurück.

Mola zog ihren Säbel und schlug mit der flachen Klinge scheppernd gegen die Gitterstäbe. „Jetzt werd mal nicht frech!“, rief sie herrisch. „Sonst werde ich mir ernsthaft überlegen müssen, ob ich tatsächlich Verwendung für einen ungehobelten Flegel wie dich habe!“

Lazana begriff die volle Bedeutung dieser Drohung und robbte zu Ratford herüber. Sie strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Bitte reiß dich zusammen!“, flüsterte sie flehend. „Du kannst ja kaum noch die Augen offenhalten. Es wäre besser für uns, wenn wir uns ruhig verhalten, bis die Wirkung dieses Gifts nachlässt.“

Ratford hatte Schwierigkeiten, Lazana direkt in die Augen zu sehen. Immer wieder glitt sein Blick zur Seite, doch schließlich nickte er. „Meinetwegen“, murmelte er leise. „Auch wenn es mich anwidert, vor diesem Gesindel buckeln zu müssen.“

Lazana atmete erleichtert auf. Sie strich ihrem Gefährten über die stoppelbärtige Wange, ehe sie sich zu Mola umdrehte und sich wieder dem Gitter näherte. „Du bist unsere Vorgesetzte? Was meinst du damit?“, fragte sie vorsichtig.

Mola wirkte sehr zufrieden, dass Ratford endlich Ruhe gab. Sie steckte den Säbel zurück in ihren Gürtel und stemmte beide Hände in die Hüften. „Ihr beiden Hübschen werdet ab heute für mich arbeiten“, verkündete sie. „Ist das nicht schön?“

„Von was für einer Art Arbeit sprichst du?“, wollte Lazana wissen.

„Kindchen, was für eine Frage! Ihr seid hier in einer Höhle und meine Leute bringen euch Spitzhacken. Glaubt ihr, dass ihr für mich putzen werdet? Ihr habt die Ehre, für mich nach Sturmerz zu schürfen.“

„Sturmerz?“ Ratford hob langsam den Kopf. Nun war ihm klar, worum es sich bei dem fernen Klopfen von Metall auf Stein handelte. Es waren die Geräusche der anderen Unglücksraben, die den Banditen in die Hände gefallen waren, und in den Tiefen der Höhle mit ihren Spitzhacken die Felswände bearbeiteten. Ratford starrte Mola feindselig an, aber seine Stimme war ruhig und neutral. „Was wollt ihr denn damit?“

„Ihr sollt schürfen und keine Fragen stellen“, erwiderte die alte Dunkelelfe kühl.

„Und was ist, wenn wir da nicht mitmachen?“

Mola zuckte gleichgültig mit den Achseln. „Dann könnt ihr hier meinetwegen verschimmeln. Das ist euch überlassen.“

Ratfords Knöchel wurden weiß, als er erneut die Fäuste ballte, doch er konnte sich beherrschen. Resigniert sah er Lazana an. „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig“, murmelte er kleinlaut. Für den Augenblick mussten sich er und Lazana der alten Dunkelelfe geschlagen geben. „Meinetwegen. Gib mir eine Spitzhacke und ich nehme den ganzen Berg auseinander.“

„Ich wusste, dass ihr zur Vernunft kommen würdet.“ Mola lachte triumphierend. „Und jetzt bleibt zurück!“

Ratford und Lazana zogen sich widerwillig in den hinteren Teil der Gefängnishöhle zurück. Einer der Dunkelelfen trat nach vorn und öffnete die schwere Tür, die in das Gitter eingelassen war. Dann zogen die Schurken ihre Waffen.

„Kommt her!“, rief Mola ihren beiden Gefangenen zu. „Und macht ja keine Dummheiten.“ Sie zog betont langsam ihr Blasrohr aus dem Gürtel und tätschelte es vielsagend. Lazana erhob sich zögerlich und auch Ratford kam, wenn auch schwankend und taumelnd, auf die Beine. Der Krieger stützte sich mit einer Hand gegen die Felswand und arbeitete sich langsam, Schritt für Schritt vorwärts. Die Ketten an seinen Sprunggelenken klirrten drohend und kurz bevor er das Gitter passierte, stolperte er und fiel der Länge nach hin. Er konnte sich nicht rechtzeitig abfangen und prallte ungebremst auf den feuchten und unnachgiebigen Boden, wo er sich die Nase aufschlug.

„Du siehst jämmerlich aus!“, höhnte Mola und die anderen Dunkelelfen lachten schallend.

Lazana beugte sich zu ihrem Gefährten herab und half ihm auf. Sie spürte, wie Ratford vor Wut kochte, während das Blut von seiner Nase auf den Fels tropfte. Noch immer zitterte sein ganzer Körper, teilweise vor Erschöpfung, teilweise vor Zorn. Doch es gelang ihm wieder, seinen Ärger zu zügeln. Schwankend stand er da und wischte sich mit dem Arm das Blut unter der Nase weg.

Die Horde der zerlumpten Banditen erwartete sie mit erhobenen Waffen. Die beiden Gefährten sahen sich einem Dutzend schartiger Klingen gegenüber und warteten unruhig auf Anweisungen Molas.

Diese ließ sich nicht lange bitten. Auf einen Wink von ihr warfen zwei der Gauner den beiden Gefährten jeweils eine Spitzhacke vor die Füße. „Sollen wir etwa direkt mit der Arbeit beginnen?“, fragte Lazana empört. „Wir können uns doch kaum auf den Beinen halten!“

Mola gackerte gehässig. „Jetzt habt euch nicht so!“, spottete sie. „Dein Begleiter hat vorhin noch so große Töne gespuckt, jetzt kann er beweisen, dass er dazu fähig ist, ebenso große Taten folgen zu lassen. Außerdem wird die Wirkung des Gifts nicht ewig anhalten. Ein bisschen Bewegung wird euch sicherlich guttun.“

Ratford knirschte vor Zorn mit den Zähnen. Als er sich nach der Spitzhacke bückte und den Griff mit beiden Händen umschloss, war er für einen Augenblick versucht, herumzuwirbeln und den Pickel dem nächstbesten Dunkelelfen in den Schädel zu treiben. Doch er wusste, dass er für ein solches Manöver im Augenblick viel zu schwach war und tot sein würde, noch bevor er seinen Angriff durchführen konnte. Also atmete er tief durch und verhielt sich ruhig. Im Augenblick waren ihm und Lazana im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden, doch vielleicht würde sich schon bald eine Möglichkeit zur Flucht bieten.

Mola stieß den Krieger mit dem Knauf ihres Säbels an. „Vorwärts!“, befahl sie barsch. Ratford gehorchte. Mit gesenktem Haupt trottete er voran und gab sich alle Mühe, nicht über seine gefesselten Beine zu stolpern. Der Schmerz in seiner Nase und der Geschmack des Blutes, das über seine Lippen und in seinen Mund rann, erinnerten ihn deutlich an die Folgen eines Sturzes. Lazana folgte mit der ganzen Schurkenbande im Schlepptau. Die Banditen trieben ihre beiden Gefangenen, begleitet vom Rasseln der Ketten, in den Höhlengang, der nach links abzweigte. Das rhythmische Klopfen der Spitzhacken auf Stein wurde immer lauter. Zweimal zweigten Nebengänge ab, doch Mola trieb Ratford und Lazana unerbittlich weiter geradeaus.

Schließlich erreichten sie einen schmalen, von Holzbalken gestützten Stollen. Die Sklaven der Banditen hatten schon eine Menge Gestein abgetragen und sich tiefer ins felsige Erdreich vorgearbeitet. Als Ratford um eine Windung des Ganges bog, tat sich vor ihm ein größerer Hohlraum auf. Das Gestein der Wände und Decken war dunkelgrau, fast schwarz; und wurde von feinen, bläulich glänzenden Adern durchzogen.

„Sturmerz“, murmelte Ratford. Er wusste nicht viel darüber, außer, dass es ein seltenes Metall war, das für seine Härte und Widerstandskraft bekannt war. Da es nicht häufig zu finden war, dämmerte es Ratford allmählich, dass seine und Lazanas Gastgeber Schmuggler waren, die das Sturmerz im Geheimen abbauten und dann irgendwo in Gäa auf dem Schwarzmarkt verkauften. Und offenbar führten diese Gauner hier ein größeres Projekt durch. Anders konnte sich Ratford nicht erklären, weshalb sie zur Sturmerzförderung sogar arglose Reisende überfielen, gefangen nahmen und für ihre Zwecke arbeiten ließen. Der Krieger grunzte verbittert. Man hatte ihn und Lazana eindringlich davor gewarnt die Düstermarsch zu betreten. Nun hatten sie das Rätsel um die verschwundenen Leute gelöst, teilten gleichzeitig aber auch ihr Schicksal.

Im hinteren Teil der Höhle schufteten die Sklaven der Schmuggler. Ratford zählte über ein Dutzend ausgemergelter Gestalten, die mit gekrümmten Rücken und schwieligen Händen immer und immer wieder ihre Spitzhacken niederfahren ließen. In ihren trüben Augen lag nichts als Hoffnungslosigkeit und es war einzig die Angst vor dem Tod, die sie dazu trieb, weiterhin ihre Spitzhacken zu schwingen, obwohl sie vor Anstrengung und Erschöpfung stöhnten. Die Sklaven wurden von aufmerksamen Dunkelelfen bewacht, die nicht weniger zerlumpt und zwielichtig aussahen, als die Schurken, die Ratford und Lazana in den Sümpfen überfallen hatten. Wann immer sich ein Brocken Sturmerz aus der Wand löste, wurde er von einem der Schmuggler eingesammelt und in einer Kiste oder einem Sack verstaut. Die Ausbeute der Gauner war beachtlich. Ratford entdeckte in einer Ecke der Höhle mehrere bis zum Rand gefüllte Kisten, deren dunkler Inhalt bläulich schimmerte.

Die meisten der Sklaven waren einheimische Dunkelelfen, doch unter den abgemagerten, blasshäutigen Gestalten entdeckte Ratford drei Arbeiter, die nicht zum Rest passten. An der rückwärtigen Wand der Höhle mühten sich drei Pardelfrauen ab. Die schlanken und athletischen Körper der Katzenmenschen waren mit einem dünnen Pelz bedeckt und ihre scharfen, großen Augen waren verärgert auf das Gestein gerichtet, dass sie mit wuchtigen Hieben ihrer Spitzhacken bearbeiteten. Ihre langen, biegsamen Schwänze zuckten unruhig hin und her und an ihren Fingern blitzten scharfe Klauen.

Ratfords Blick verfinsterte sich. Er hatte es befürchtet. Die drei Katzendamen waren Ahravi, die Abgesandte des Pardelkönigs, und ihre beiden Leibwachen Kidhara und Banashi, nach denen er und Lazana die Düstermarsch abgesucht hatten. Somit hatten sie den ersten Teil der Aufgabe, mit der sie Cord betraut hatte, erfüllt. Sie hatten die vermisste Pardelbotschafterin gefunden. Der zweite Teil des Auftrags dagegen würde sich unter diesen Umständen als schwierig erweisen. Bislang hatte Ratford keine Fluchtmöglichkeit ausgemacht. Die Schurken, die hier Wache hielten und auf die Gefangenen aufpassten, waren zwar nicht besonders gut bewaffnet, aber viel zu viele, um sich mit ihnen anzulegen. Und Ratford konnte nur erahnen, wie viele Gauner sich noch in den abzweigenden Höhlengängen dieses Tunnelsystems versteckten.

„Steht hier nicht faul rum und glotzt!“, rief Mola herrisch und versetzte dem Krieger einen rüden Stoß in den Rücken. Ratford stolperte vorwärts und verfing sich in seinen Ketten. Geschwächt wie er war, konnte er einen weiteren Sturz nur mit Mühe verhindern, und als er sich stöhnend fing, stieg wieder diese fürchterliche Wut stieg in ihm hoch. Er wirbelte herum, aber besann sich dann doch noch rechtzeitig, bevor er sich auf Mola stürzen konnte. Verächtlich rümpfte er die blutige Nase und starrte die alte Dunkelelfe herausfordernd an.

„Du hast immer noch einen Rest Energie“, stellte Mola boshaft grinsend fest. „Und das obwohl ich dir eine ordentliche Dosis Gift in die Blutbahn gejagt habe. Beeindruckend. Aber spiel dich hier besser nicht auf. Du wirst schon noch sehen, dass die Arbeit in der Mine viel kraftraubender ist, als mein Gift.“

Aus der Gruppe der wachhabenden Dunkelelfen löste sich ein Mensch. Es war ein in Leder gekleideter Mann mittleren Alters mit schmächtigem Körperbau und einem stoppelbärtigen, in die Länge gezogenem Gesicht. In der Hand trug er eine zusammengerollte Peitsche und in seinem Gürtel steckte ein scharfes Kurzschwert. Ratford fühlte sich beim Anblick der kleinen, spitzen Nase an eine Ratte erinnert.

„Bringst du uns neue Arbeiter, Mola?“, fragte der Mann mit nasaler Stimme und beäugte Ratford und Lazana gierig aus listig funkelnden Augen.

Die Dunkelelfe drehte sich gelangweilt zu ihm um. „So ist es, Ratz. Sieh zu, dass sie ordentlich was zu tun bekommen. Aber nimm sie vorerst nicht allzu hart ran. Die Ärmsten sind noch geschwächt von ihrer Wanderung durch die Düstermarsch.“

Ratz kicherte. Es war ein hohes, fast fiepsendes Geräusch, dass Ratford in seinem Vergleich mit einer Ratte zusätzlich bestärkte. „Du hast ihnen dein Schlaflied wohl etwas zu intensiv gesungen. Aber das macht nichts. Ein paar Peitschenhiebe haben noch jeden munter gemacht.“

Er entrollte seine Knute und ließ sie drohend knallen. Einige der Sklaven im hinteren Teil der Höhle zuckten erschrocken zusammen. Ratford erkannte an den frisch verheilten Striemen auf ihren gebeugten Rücken, dass sie schon oft Bekanntschaft mit Ratz‘ Peitsche gemacht hatten. Der stoppelbärtige Mann schien so etwas wie der Oberaufseher zu sein. An seinem Gürtel klimperte ein Schlüsselbund. Vermutlich konnte man mit einem davon die Fesseln an den Handgelenken und Füßen der Gefangenen lösen. Ratford behielt diese Entdeckung vorerst im Hinterkopf.

Ratz baute sich vor dem Krieger auf, aber das war kein besonders beeindruckender Anblick. Ratford überragte den Aufseher um einen ganzen Kopf, aber offenbar fühlte sich Ratz mit seiner Peitsche deutlich überlegen. „Dann wollen wir mal“, rief er gehässig. „Ran an die Arbeit mit euch, sonst knallt es!“ Ratford hätte den feigen Wichtigtuer am liebsten mit seiner eigenen Peitsche erdrosselt, aber er beherrschte sich und ließ den Aufseher wortlos stehen. Er nickte Lazana zu und die beiden begaben sich mit ihren Spitzhacken zu den anderen Sklaven. Sie suchten sich eine Erzader in der Nähe der Pardelfrauen und fingen an, das Gestein mit gleichmäßigen Schlägen zu bearbeiten. Obwohl ihnen die Wirkung des Gifts noch immer zu schaffen machte, ließen sie sich nichts anmerken. Sie wollten Ratz keine Gelegenheit bieten, seine Peitsche an ihren Rücken zu testen.

Während sie auf die unnachgiebige Felswand einschlugen, sah sich Ratford unauffällig um. Abgesehen von Ahravi und ihren beiden Leibwachen, fiel ihm noch ein weiterer Gefangener auf, der nicht zu den übrigen Sklaven passte. Weit abseits von allen anderen Arbeitern stand ein junger, drahtiger Mann mit wirrem, aschblondem Haar, das er zu einem hohen, buschigen Zopf zusammengebunden hatte. Auf den Wangen seines wutverzerrten Gesichts sprossen Bartstoppeln und die weiße Tunika, die er trug, war am Rücken zerfetzt und hing in zerrissenen, blutigen Streifen von seinen Schultern. Ganz offensichtlich war er das Lieblingsopfer von Ratz, doch die entzündeten Striemen auf seinem Rücken schienen den jungen Mann gar nicht zu interessieren. Mit nimmermüder Kraft ließ er seine Spitzhacke niederfahren und Ratford konnte in seinen Augen lesen, dass er sich vorstellte, dass der Stein, den er bearbeitete, Ratz‘ Schädel war.

Der offensichtlich unbeugsame Wille des jungen Mannes imponierte dem erfahrenen Krieger. Bei Gelegenheit wollte er sich mit ihm unterhalten, doch für den Moment hatten die Pardelfrauen Vorrang. Unauffällig rückte Ratford ein Stück näher an die schuftenden Katzendamen heran.

„Pst…“, flüsterte er. „Ahravi.“

Die Pardelfrau hob überrascht den Kopf. Das feine Fell in ihrem Gesicht war ermattet vor Staub, doch in ihren großen Augen glänzte noch Überlebenswillen. Zunächst starrte sie den Krieger unverwandt an, doch schließlich erkannte sie ihn. „Ratford?“, hauchte sie ungläubig. „Was tut Ihr denn hier?“ Sie linste über die breiten Schultern des Mannes und entdeckte Lazana, die ihr müde zulächelte.

Ratford erwiderte den Blick der Katzenfrau grimmig. „König Cord schickt uns. Wir sollten nach Euch suchen und Euch sicher nach Vanashyr zurückbringen.“

„Cord? Warum sollte der König der Dünenmenschen so etwas tun?“ In Ahravis Stimme schwang Misstrauen mit und sie kniff skeptisch ihre Augen zusammen.

„Vermutlich, um Euch sturen Katzenmenschen zu zeigen, dass die Dünenmenschen nicht Eure Feinde sind!“, zischte Ratford gereizt. Die Pardel waren für ihren Argwohn und ihre Dickköpfigkeit weithin bekannt, aber es war nicht der richtige Augenblick, um sich gegenseitig zu misstrauen. Im Moment saßen sie alle im selben Boot.

„Es ist ein Zeichen seines guten Willens“, fügte Lazana mit gedämpfter Stimme hinzu. „Die Friedensverhandlungen kommen nicht wirklich voran. Cord erhofft sich von dieser Aktion, den Graben zwischen den Pardel und den Dünenmenschen endgültig zuschütten zu können.“

„Ein edles Ansinnen“, stellte Ahravi nüchtern fest. „Aber Ihr habt Eure Aufgabe wohl vermasselt, andernfalls wärt Ihr wohl kaum in Ketten hier.“

Ratford kratzte sich gequält an der Wange. Die Worte der Katzenfrau waren wie Salz in der Wunde, die der gelungene Überfall der Schmuggler in seinem Stolz hinterlassen hatte. Er war sich sicher, dass er und Lazana die Schurken bezwungen hätten, wenn Mola nicht so hinterhältig gewesen wäre und ihr Gift eingesetzt hätte.

„Zugegeben, das war tatsächlich nicht so geplant“, gestand er kleinlaut. „Aber nichtsdestotrotz haben wir Euch gefunden! Jetzt müssen wir Euch nur noch hier rausholen.“

Ahravi ließ die Spitzhacke sinken und sah ihn an. Ratford war sich nicht sicher, ob sich in ihren Augen Spott oder Hoffnungslosigkeit spiegelte. „Und wie stellt Ihr Euch das vor? Es sind so viele von diesen Schurken. Hinter jeder Biegung lauern ihre Wachen. Selbst wenn wir bewaffnet wären, hätten wir keine Chance. Unsere einzige Hoffnung ist, dass uns jemand von der Oberfläche zu Hilfe kommt. Aber die einzigen Leute, die nicht zu den Schmugglern gehören und in dieser Höhle auftauchen, betreten sie in Ketten.“

„He, Mieze!“, ertönte Ratz‘ schrille Stimme. „Sofort weiterarbeiten!“ Noch bevor der Aufseher seine Peitsche entrollen und sie schwingen konnte, hob Ahravi wieder ihre Spitzhacke und schlug wuchtig auf einen Brocken Sturmerz ein. Das Metall splitterte und rollte in kleinen Klumpen über den Höhlenboden. Sofort sprangen ein paar magere Dunkelelfen herbei, um das abgetragene Sturmerz einzusammeln.

Ratford verfluchte Ratz in Gedanken. Der Aufseher war aufmerksam wie ein Luchs. Selbst den kleinsten Fluchtversuch würde er sofort bemerken und entweder mit seiner Peitsche oder seinem Alarmgeschrei im Keim ersticken.

Ihm wurde wieder schwindelig, doch diesmal nicht wegen der Wirkung des Gifts. Es war die erdrückende Erkenntnis, dass Ahravi recht hatte, die ihm schwarz vor Augen werden ließ. Es war nicht möglich, ohne Hilfe von außerhalb aus dieser Höhle zu entkommen.

Craig hatte nicht einmal die Zeit, um sein Schwert zur Verteidigung zu heben. Die Harpyie war viel zu schnell und zielte mit ihren Klauen, die noch feucht vom Blut ihrer letzten Beute waren, direkt auf sein Gesicht. Mit einem erstickten Aufschrei warf sich der Waisenjunge zur Seite. Er spürte einen scharfen Luftzug, als die todbringenden Krallen der Harpyie seine Wange nur um Haaresbreite verfehlten. Dann verlor er das Gleichgewicht und stürzte ungebremst auf die Schulter. Stöhnend streifte er seinen Rucksack ab, der ihn in seiner Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte, und rappelte sich wieder auf.

Die Harpyie schrie frustriert, als sie ihr Opfer so knapp verfehlte. Mit heftigen Flügelschlägen schwang sie sich wieder höher in die Luft und nahm Anlauf für einen neuerlichen Angriff. Craigs Beine zitterten, aber er nahm tapfer Kampfhaltung ein. Er behielt die Harpyie fest im Blick und als sie erneut herabstieß, reckte er ihr das Schwert entgegen. Der Raubvogel ging ihm Sinkflug auf ihn los, wobei ihre ausgebreiteten Schwingen die Felsen streiften, machte einen Schlenker zur Seite und wich der Klinge geschickt aus. Noch während sie abdrehte, schlug sie mit ihren Klauen zu. Craig schrie schmerzerfüllt auf, als sie ihm einen Fetzen Haut aus dem Handrücken riss.

Diesmal setzte die Harpyie direkt nach. Sie landete neben Craig und schnappte mit ihrem Schnabel zu. Der Waisenjunge zog erschrocken sein Standbein weg und geriet sofort wieder aus dem Gleichgewicht. Die Harpyie kreischte triumphierend, schlug mit den Flügeln und hob ihren Körper vom Boden, um ihre furchterregenden Klauen in Craigs ungeschützte Brust zu graben.

In diesem Moment ertönte ein wütendes Zischen und Knack hievte sich über den Rand der Klippen. Mit gefletschten Zähnen stürzte er sich auf die Harpyie und warf sich mit voller Wucht gegen ihren schmalen Körper. Der Angriff des Knuckers kam so plötzlich, dass der gefährliche Raubvogel nicht mehr ausweichen konnte. Sie wurde von Knacks kräftigem Körper getroffen und zu Boden geschleudert. Desorientiert kreischte sie und hüpfte unbeholfen aus der Reichweite der schnappenden Kiefer des Drachens. Dann schwang sie sich flatternd unter Knacks aggressivem Knurren in die Luft. Sie zog am Himmel ihre Kreise, starrte hungrig auf den Jungen und den Knucker hinab und schien abzuwägen, ob sie trotz eines neuen Gegners einen weiteren Angriff riskieren sollte.

Craig ließ das Schwert sinken und griff nach der Wunde an seinem Handrücken. Sie war nicht tief und blutete auch nicht stark, aber sie brannte scheußlich. Vor Schmerz kniff er ein Auge zu und grinste Knack gequält an. „Du hast wohl einen siebten Sinn für Gefahr“, stellte er erleichtert fest. „Immer, wenn ich in der Klemme stecke, tauchst du auf und rettest mir den Hintern.“

In diesem Moment schrie die Harpyie so schrill und durchdringend, dass Craig erschrocken zusammenzuckte. Er richtete den Blick himmelwärts und sah sofort, dass der Raubvogel wieder zum Angriff überging. Im Sturzflug stieß die gefiederte Bestie herab und ging diesmal auf Knack los.

Der Knucker riss den Kopf in die Höhe und schnappte nach der Harpyie, doch sie wich geschickt aus und Knack erwischte nur ein paar lose Federn. Dann schlug sie dem Wasserdrachen ihre Klauen in die Flanke. Der Knucker brüllte vor Schmerz und beugte den Hals, um seinen Gegner zu erwischen, doch der Raubvogel hielt sich von seinem kräftigen Gebiss fern und schwang sich kreischend auf seinen Rücken. Mit einem tückischen Funkeln in den gelben Augen senkte die Harpyie den Kopf und grub ihre Zähne in Knacks Genick.

Die Schuppen des Drachen wirkten wie ein Kettenhemd und bewahrten ihn vor einer schlimmen Bisswunde. Dennoch durchdrangen die Zähne der Harpyie seinen natürlichen Panzer an ein paar Stellen und bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch. Der Knucker buckelte und warf den langen, kräftigen Hals wild hin und her, doch die Harpyie krallte sich auf seinem Rücken fest und blieb außerhalb seiner Reichweite.

Craig war unterdessen bemüht, seinen Freund zu unterstützen, aber als er sein Schwert erhob, erkannte er, dass es nahezu unmöglich war, die Harpyie zu treffen, ohne dabei auch Knack zu gefährden. Der Knucker bewegte sich viel zu ruckartig und der Raubvogel krallte sich trotzig auf seinem Rücken fest. Craig blieb nichts anderes übrig, als um die beiden Kontrahenten herumzutänzeln und auf eine Gelegenheit zu warten, der Harpyie die Klinge in den schmalen Körper zu stoßen.

Fürchterliches Knurren und Kreischen erhob sich auf den Klippen. Die beiden Bestien kämpften verbissen, doch ihre Frustration steigerte sich mit ihrer Raserei. Während Knack seinen Gegner nicht zu packen bekam, sosehr er sich auch wand, hackte die Harpyie immer wieder brutal mit ihren Krallen auf den Knucker ein, konnte ihn aber nicht ernsthaft verletzen, da sein Schuppenpanzer ihn zuverlässig vor tiefen Wunden schützte. Lediglich sein weicher Bauch war angreifbar, lag aber außerhalb der Reichweite der Harpyie.

Das gefiederte Ungetüm wechselte seine Taktik und biss Knack erneut in den Nacken. Mit wilden Kopfbewegungen riss die Harpyie ihre tödlichen Kiefer hin und her und versuchte, dem Knucker auf diese Weise das Genick zu brechen. Doch der Hals des Drachen war zu muskulös und kräftig. Alles, was die Harpyie erreichte, war, dass sich Knacks Wut immer weiter steigerte. Es gelang dem Knucker zwar nicht, seinen Gegner abzuschütteln, doch letztlich entschied der Gewichtsunterschied der beiden Kontrahenten den Kampf. Nach einem letzten Versuch, nach der Harpyie zu schnappen, der für Knack mit einem Maul voller Federn endete, wälzte sich der schlangenartige Drache kurzerhand auf den Rücken und überrollte seinen Gegner. Die Harpyie wurde unsanft gegen den unnachgiebigen Stein gerammt und verlor ihren festen Halt im Fleisch des Knuckers. Benommen versuchte sie wieder auf die Beine zu kommen, indem sie wie wild mit den Flügeln schlug, doch nun, da er seinen Gegner endlich los war, hatte Knack einen klaren Vorteil. Noch während die Harpyie hilflos flatterte und dabei laut und schallend kreischte, stürzte sich der Knucker auf die gefiederte Bestie. Ihre wütenden Schreie hoben zu einem ohrenbetäubenden Lärm an, als sich Knacks kräftige Kiefer um den dünnen Hals der Harpyie schlossen. Mit ruckartigen Bewegungen schleuderte der Drache das geflügelte Ungeheuer zwischen seinen Zähnen hin und her und schlug seinen Gegner dabei immer wieder heftig gegen die Felswand. Anfangs wehrte sich die Harpyie noch heftig und zerkratzte dem Knucker mit den Krallen den Hals und die Schnauze, doch nach und nach ebbte ihr gellendes Kreischen zu einem leisen Wimmern ab und erstarb schließlich ganz. Ihre ausgebreiteten Flügel zuckten noch ein paar Mal und verloren dabei weitere Federn, dann bewegte sich die Harpyie nicht mehr.

Knack öffnete sein Maul und ließ den Kadaver auf den Boden fallen. Mit der langen Zunge leckte er sich über die zerkratzten und zerbissenen Nüstern. Craig ließ beeindruckt sein Schwert sinken und starrte auf den regungslosen Körper der Harpyie. Noch immer erschauderte er beim bloßen Anblick der gekrümmten Klauen des Ungetüms. Und Gilroy hatte erwähnt, dass die Felsharpyien, die in den Klippen von Eydar brüteten, im Vergleich zu ihren Verwandten aus dem Landesinneren kleine Exemplare waren.

Vorsichtig beugte sich Craig zu Knack hinab und untersuchte seine Verletzungen. „Geht es dir gut?“, fragte er und tastete den Körper des Knucker ab. „Lass mich mal sehen.“ Aus ein paar kleinen Wunden an seiner Flanke und an seinem Hals sickerte etwas Blut, doch insgesamt wirkte Knack nur etwas erschöpft von dem Kampf und nicht ernsthaft angeschlagen. Craig wusste genau, dass sein Körper deutlich schlimmere Verletzungen davongetragen hätte, wenn er die Klauen der Harpyie richtig zu spüren bekommen hätte. Aber glücklicherweise hatte er dank Knacks Eingreifen nur ein wenig Haut eingebüßt.

Der Knucker legte den Kopf schief und Craig trat lächelnd einen Schritt zurück, damit der kleine Drache seine Wunden selbst mit der Zunge reinigen konnte. „Dich kriegt man nicht so schnell klein, was?“, grinste er erleichtert. Aus seinem Rucksack kramte er eine Dose mit einer Wundsalbe hervor, die er auf die Wunden des Knuckers schmierte. „Dieses Heilmittel hat Hiob hergestellt“, erklärte er. „Damit hat er schon die Verletzungen versorgt, die dir die Möwen zugefügt haben, als ich dich gefunden habe. Als du noch ganz klein warst.“

Damals hatte Craig den Drachen vor den Vögeln gerettet. Jetzt war er es, der von Knack vor einem Vogel gerettet worden war. „Zeig mir doch mal dein Versteck“, schlug er vor und ließ die Dose mit der Salbe wieder in seinem Rucksack verschwinden. Er streifte sich einen Riemen über die Schulter und erhob sich.

Knack wippte scheinbar zustimmend mit dem Kopf und bewegte sich mit schlängelnden Bewegungen auf die Klippen zu. Craig folgte ihm, achtete diesmal aber sehr genau auf die Felsen, die ihn umgaben. Er wollte nicht noch einmal von einer angriffslustigen Harpyie überrascht werden.

Knack glitt über den Rand der Klippen und kraxelte etwas unbeholfen die schroffe Felswand hinunter. Er kam an Land zwar relativ gut zurecht, aber Klettern gehörte nicht zu seinen Stärken. Craig blieb oben stehen, ging in die Knie und spähte vorsichtig über die Kuppe. Er konnte sehen, wie der Knucker etwa zwei Meter weiter unten in einer Nische verschwand. Knack streckte den Kopf heraus und starrte Craig erwartungsvoll an.

„Da hast du dich also verkrochen“, rief der Waisenjunge. „Gut, dann weiß ich jetzt, wo ich dich finden kann. Denkst du, du hältst es hier noch eine Weile aus?“

Als Antwort verschwand Knacks Kopf kurz in der Nische, nur um wieder mit einem Fisch zwischen den Zähnen aufzutauchen. Craig musste lachen. „Ich sehe schon, du lässt es dir hier richtig gut gehen“, grinste er und wurde dann wieder ernst. „Ich weiß noch nicht, wann ich diese Stadt verlasse. Es könnte noch etwas dauern. Du wirst dich also wohl oder übel noch eine Weile hier verstecken müssen. Aber sobald ich aufbreche, komme ich vorbei und hole dich ab!“

Er war noch keinen Tag in diesem fremden Land, aber schon jetzt war ihm klar, dass er ohne Knacks Hilfe nicht weit kommen würde. Sein Schwert war bislang jedenfalls noch nicht besonders nützlich gewesen, auch wenn Craig wusste, dass das weniger an der Waffe selbst lag, sondern vielmehr an seinen limitierten Fähigkeiten als Schwertkämpfer. Dennoch würde er nicht nach Notting zurückkehren. Diese Genugtuung gönnte er Preman nicht. Der Wirt und die anderen Bewohner seiner Heimatinsel sollten erst wieder von ihm hören, wenn er sich einen Namen gemacht hatte.

„Ich gehe zurück in die Stadt“, rief Craig dem Knucker zu, der gerade den Fisch in einem Stück hinunterwürgte. „Ich hoffe, die Harpyien machen dir nicht allzu viel Ärger.“

Knacks Antwort war ein langgezogenes Rülpsen. Dann drehte sich der Wasserdrache behäbig um und verschwand in der Nische zwischen den Felsen.

Craig erhob sich und trat einen Schritt vom Rand der Klippen zurück. Die Harpyienkolonie, von der Gilroy berichtet hatte, schien sich bis auf ein paar Einzelfälle ruhig zu verhalten. Trotzdem suchte Craig die Umgebung verstohlen nach Anzeichen gefiederter Raubtiere ab, ehe er sich umdrehte und sich auf den Rückweg nach Eydar begab.
 

Unterdessen erreichte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Reisender aus dem Inland die schützenden Tore der Stadt. Es war eine junge Frau, die in eine fellbesetzte Rüstung aus geschmeidigem Leder gehüllt war. Ein Waffenrock auf Pelz bedeckte ihre Beine und unter ihrem Brustpanzer blitzte ein Kettenhemd hervor. Massive Eisenplatten schützten ihre Fellstiefel und ihre Schulterplatten waren mit einem fragwürdigen Schmuck aus Wolfsschädeln verziert. An ihrem Gürtel hing ein blankes Schwert und in einem breiten Schulterriemen, der sich quer über ihren Torso erstreckte und einen mit Leder bespannten Rundschild auf ihrem Rücken.

Im Gegensatz zu ihrer wilden Gewandung, an der zu erkennen war, dass sie ein Mensch des Barbarenvolks Isenheims war, wirkte ihr Gesicht zart und jugendlich. Die zähen und wilden Stämme aus dem hohen Norden waren für ihre Streitsucht bekannt, doch seit das Kaiserreich ihre Heimat befriedet hatte, waren die Barbaren deutlich zivilisierter geworden.

Die junge Frau kam nicht aus der Düstermarsch, sondern aus dem Westen von der ständig von Banditen und Räubern heimgesuchten Handelsstraße, die Adamas entlang der Südküste mit dem Festland von Shalaine verband.

Die Wachen am Stadttor von Eydar rieben sich verwundert die Augen. Seit die Düstermarsch auf unerklärliche Weise Reisende verschlang, war ein Neuankömmling der aus dem Landesinneren kam, zu einem seltenen Anblick geworden. Die junge Frau in der Lederrüstung blieb vor dem verschlossenen Tor stehen und blickte hinauf zu den Wachen, wobei sie ihre Hand gegen die Sonne abschirmte.

„Darf man eintreten?“, rief sie laut.

„Wenn Ihr nicht gekommen seid, um Ärger zu machen!“, schallte es zurück.

„Ich bin auf der Durchreise“, versicherte die junge Frau. „Ich möchte nur meine Vorräte aufstocken.“

Eine Weile war es still, dann ging das Tor unter den knarrenden Drehungen einer Winde langsam auf. Die Abenteurerin wartete geduldig, bis sich die Torflügel vollständig geöffnet hatten und betrat die Hafenstadt. Ihr Blick viel sofort auf das große Gasthaus unweit der Stadtmauer und sie steuerte direkt darauf zu.

In diesem Moment bog Craig im Laufschritt um die Ecke und prallte direkt mit der Frau zusammen. Das Kettenhemd klirrte, doch die Abenteurerin blieb unbeeindruckt stehen, während Craig ins Straucheln geriet und auf die Nase fiel. Stöhnend rieb er sich das geschundene Kinn.

„Na, du Knirps?“, sagte die Frau und strich ihren Waffenrock glatt. „Du hast es wohl eilig, was? Aber mach nächstes Mal die Augen auf.“

Craig wollte schon heftig protestieren, doch als er wütend aufblickte, bemerkte er, dass ihm die Frau eine Hand entgegenreckte, um ihm aufzuhelfen. Verdattert nahm er ihre Hilfe an. Als er ihr ins Gesicht blickte, fiel ihm sofort auf, dass sie höchstens zwei Jahre älter war als er. Aber irgendetwas an ihr strahlte einen Vorsprung an Erfahrung aus, der weit über diese zwei Jahre hinausging.

„Ähm…tut mir leid“, entschuldigte er sich hastig und klopfte sich verlegen den Staub von der Hose. Die junge Frau war hübsch, auch wenn ihr Gesichtsausdruck so grimmig war, dass Craig fest davon überzeugt war, dass sie ein ganzes Wolfsrudel nur durch ihren Blick vertreiben konnte. Unter ihrer Rüstung zeichnete sich ein sehniger Körper ab und dunkelbraunes Haar hing ihr in wilden Strähnen in die Stirn.

„Schon in Ordnung“, murmelte sie. „Ich wurde schon von schlimmeren Dingen als einem kleinen Jungen angerempelt.“

Craig glaubte ihr das aufs Wort. Er warf einen kurzen Blick auf ihr Schwert, das seiner eigenen Waffe in nichts nachstand. Aber im Gegensatz zu seiner ausgeleierten Leinenkleidung machte ihre Rüstung mit dem Fellbezug einen verwegenen Eindruck.

„Ich gehe dann mal besser“, sagte er eilig und drehte sich um, um zum Gasthaus Nebelbank zurückzukehren. Allerdings hatte die junge Frau das gleiche Ziel, sodass sie schweigend nebeneinanderhergingen. Craig spürte, wie seine Ohren rot wurden. Die Stille war ihm unangenehm, aber er traute sich nicht, sie zu durchbrechen. Deshalb verlangsamte er seine Schritte und ließ der Frau etwas Vorsprung und schließlich betraten sie das Gasthaus nacheinander.

In Aglir regte sich sofort der Geschäftssinn, als er die Fremde direkt auf den Tresen zukam. Das ständige Lächeln auf seinem schmalen Gesicht wurde noch ein wenig breiter und er streckte feierlich seine Hände aus.

„Willkommen im Gasthaus Nebelbank!“, rief er der jungen Frau überschwänglich zu. „Für eine kleine Spende bekommt Ihr hier fast alles, was Euer Herz begehrt. Wir haben Betten, warme und kalte Speisen, Getränke und nicht zuletzt auch Informationen.“ Bei letzterem Wort zwinkerte er der Barbarin vielsagend zu, aber diese machte nur eine abwinkende Handbewegung.

„Schon gut, spart Euch das Geschwätz“, erwiderte sie mit rauer Stimme. „Gebt mir für den Anfang einfach einen Krug Met. Ob ich hier wirklich ein Bett will, überlege ich mir noch.“

Aglir lächelte unbeirrt weiter und rieb sich die Hände. „Nun, ich kann Euch versichern, dass Ihr in ganz Eydar kein Lager finden werdet, das es in Sachen Komfort mit unseren Betten aufnehmen kann“, entgegnete er. „Alle anderen Tavernen in dieser Stadt erblassen im Glanz des Gasthauses Nebelbank.“

„Hört mal her, Spitzohr“, zischte die Barbarin dem Waldelfen zu. „Ich habe den ganzen beschissenen Weg von Isenheim bis in diese Stadt zu Fuß zurückgelegt und habe dabei nicht ein einziges Mal in einem Bett geschlafen. Ich komme unter freiem Himmel bestens zurecht.“

Craig kam nicht umhin, das Gespräch zwischen der jungen Frau und dem Inhaber des Gasthauses mitanzuhören. Er sog scharf die Luft ein, als die Abenteurerin den Waldelfen so angriffslustig anfuhr, und auch ein paar andere Gäste hoben neugierig die Köpfe. Craig wusste, dass er selbst eine große Klappe hatte, aber er hätte es nie gewagt, Aglir derartig in die Schranken zu weisen.

Den Schankwirt schienen die scharfen Worte der Fremden aber nicht zu bekümmern. „Oh, eine wohlerzogene Dame mit einem großen Talent für das Überleben“, stellte er ungerührt und noch immer lächelnd fest. „Dann hoffe ich, dass Euer Geldbeutel ebenso prall gefüllt ist, wie der Schatz Eurer Erfahrung. Ein Krug Met bezahlt sich jedenfalls nicht von selbst.“

Die junge Frau verdrehte die Augen und griff in einen Lederbeutel an ihrem Gürtel. Sie holte ein paar Münzen heraus und zählte sie in Aglirs nicht gerade zurückhaltend vorgestreckte Hand. „Das sollte hoffentlich reichen“, brummte die Barbarin genervt. „Und jetzt bringt mir verdammt nochmal meinen Met!“

„Vielen herzlichen Dank für diese Spende, Freundin der Großzügigkeit“, säuselte Aglir und buckelte unterwürfig. „Der gewünschte Met kommt sofort.“ Tatsächlich stand in kürzester Zeit ein noch dampfender Krug auf dem Tresen. Aglir deutete zur Treppe. „Den Gastraum findet Ihr im Obergeschoss“, erklärte er knapp, wandte sich ab und beachtete die junge Barbarin anschließend gar nicht mehr, während er ihre Münzen in seinem eigenen Geldbeutel unterbrachte. Die Abenteurerin schnaubte verächtlich und genehmigte sich einen Schluck Met. Offenbar sagte ihr der Geschmack nicht besonders zu, denn Craig konnte deutlich sehen, wie sie das Gesicht verzog. Als die Frau einen Blick in den hinteren Teil des Gasthauses warf und den Waisenjungen entdeckte, zuckte dieser erschrocken zusammen und verschwand hastig über die Treppe ins Obergeschoss.

Dort herrschte noch immer reger Betrieb. Der Barde spielte ausdauernd auf seiner Laute und ignorierte das schiefe Grölen einiger Betrunkener, die zu der wohlklingenden Melodie lauten Gesang anstimmten. Die dunkelelfische Schankfrau füllte den Becher eines betrunkenen Mannes mit einem dunklen Rotwein nach, obwohl sich der Kunde kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Vance saß dort, wo Craig ihn zurückgelassen hatte, um nach Knack zu suchen. Er hielt einen leeren Bierkrug in der Hand und starrte ihn geistesabwesend an. Auch als sich Craig dem Tisch näherte, blickte er nicht auf.

„Den Fünf sei Dank, du bist noch da“, japste der Waisenjunge und ließ sich erleichtert auf einen Stuhl fallen. „Hast du etwa die ganze Zeit getrunken?“

„Nein“, erwiderte Vance tonlos. „Dafür habe ich nicht genug Geld. Hast du Knack gefunden?“

Craig nickte hastig. „Er versteckt sich jenseits der Klippen“, erklärte er. „Allerdings hat er dort ein paar unangenehme Mitbewohner.“

Vances matte Augen zuckten zur Seite und der Dorashen warf einen flüchtigen Blick auf die Stelle an Craigs Handrücken, an der ein Stück Haut fehlte. „Du hast dich verletzt“, stellte er tonlos fest.

Der Waisenjunge strich vorsichtig über die Wunde. „Ach, das ist nicht der Rede wert“, erwiderte er, auch wenn der Kratzer noch immer höllisch brannte. „Aber in Zukunft werde ich mich wohl besser von Felsharpyien fernhalten.“

„Das klingt vernünftig“, murmelte Vance und schwenkte den leeren Humpen in seiner Hand. Dann starrte er wieder stumm auf die Tischplatte.

Craig lehnte sich seufzend zurück. Die Antriebslosigkeit des Dorashen fing an, ihm auf die Nerven zu gehen. Es hatte sich spannend angehört, mit einem Gottesstreiter auf Reisen zu gehen, aber Vance war so anders als die großen Helden aus den alten Geschichten. Craig ließ den Blick durch das Gasthaus schweifen und entdeckte die Abenteurerin, die in diesem Moment mit dem Metkrug in der Hand schlurfend die Treppe nach oben kam und sich im Dachgeschoss nach einer Sitzgelegenheit umsah. Als sie bemerkte, dass bei Craig und Vance noch ein Platz frei war, schien es, als wollte sie sich zu den beiden gesellen, doch gerade als sie einen Schritt nach vorne machte, ertönte eine laute Stimme vom Nebentisch.

„He, Ihr da! Kommt doch mal rüber und setzt Euch zu uns!“

Craig warf dem Schreihals einen ärgerlichen Blick zu, doch er senkte erschrocken den Kopf, als er sah, dass es sich dabei um einen Soldaten der Armee handelte, nach seinem Umhang zu urteilen sogar um einen hochrangigen Offizier. Ein struppiger Bart von dunkelblonder Farbe wucherte in seinem Gesicht und hing in geflochtenen Zöpfen von seinem Kinn herab. Er war aufgestanden und winkte der jungen Frau zu, wobei seine eisblauen Augen vor Begeisterung leuchteten.

An seinem Tisch saß ein kleinerer Mann in Zivil mit einem bartlosen, kreisrunden Gesicht. Da er eine Glatze hatte, wirkte sein ganzer Kopf wie eine nahezu makellose Kugel.

Die junge Abenteurerin sah sich ein paar Mal verstohlen um. Dann schlenderte sie gemütlich zu den beiden Männern herüber und blieb vor ihrem unschlüssig stehen Tisch stehen. „Was wollt Ihr?“, fragte sie lauernd.

„Ihr seid aus Isenheim, nicht wahr?“, lachte der Soldat mit den Zöpfen im Bart und bat die Frau mit einer Handbewegung, sich zu setzen.

„Ist das so offensichtlich?“, erwiderte die Abenteurerin und nahm etwas zögerlich am Tisch der beiden Männer Platz.

„Nun, wir erkennen unseresgleichen auf den ersten Blick!“, prahlte der Bärtige mit stolzgeschwellter Brust und deutete auf sich und den Glatzkopf. „Bragi hier und ich stammen nämlich auch aus dem Norden, müsst Ihr wissen. Mein Name ist übrigens Rhist. Ich bin ein Soldat der Kaiserlichen Armee und einer der Kommandanten des hiesigen Außenpostens!“

Craig beobachtete das Geschehen aus den Augenwinkeln und dabei entging ihm beinahe, wie Vance plötzlich zusammenzuckte. Der Dorashen drehte sich vom Nebentisch weg und starrte weiter auf seinen leeren Bierkrug. Aus irgendeinem Grund schien er sich unwohl zu fühlen. Da Craig schon bemerkt hatte, dass Vance nicht gerade der gesprächigste Zeitgenosse war, entschied er sich, der Unterhaltung zwischen den beiden Männern und der jungen Barbarin so unauffällig wie möglich zu lauschen. Bei dem gewaltigen Sprachorgan des Mannes, der sich Rhist nannte, war es vermutlich nicht weiter schwer, ihrem Gespräch folgen zu können.

„Setz dich hin“, brummte Bragi gerade und zog den Soldaten energisch zurück auf seinen Platz. Dann lächelte er die Frau freundlich an. „Darf ich nach Eurem Namen fragen?“

„Ihr dürft“, erwiderte die Abenteurerin. „Ich heiße Tyra.“ Sie schien ihre Anspannung zu verlieren und allmählich etwas aufzutauen.

„Tyra…“, murmelte Craig gedankenverloren. Die Barbarin hörte ihn und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Rasch wandte Craig das Gesicht ab und tat, als hätte er noch nie etwas Interessanteres gesehen, als die Deckenbalken des Gasthauses. Zum Glück lenkte Rhist mit seiner dröhnenden Stimme Tyras Aufmerksamkeit sofort wieder auf sich.

„Sehr erfreut!“, rief er so laut, dass einige Gäste überrascht aufblickten oder empört die Köpfe schüttelten.

Bragi strich sich verlegen über den kahlen Schädel. „Erzählt, was führt Euch hierher, so fern der Heimat?“

Tyra verschränkte die Arme vor der Brust. Unter ihren Fingernägeln hatte sich eine Menge Schmutz angesammelt und auch ihre Rüstung war nicht besonders sauber. Dafür glänzten die Klingen ihrer Messer und Dolche mit ihrem Schwert um die Wette. „Ich komme aus der Eismarsch und bin bis an diesen Ort gereist, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben“, antwortete sie. „Ich gehe dorthin, wohin auch immer mich meine Füße tragen.“

Craig spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Diese Frau lebte seinen Traum! Er wusste zwar nicht, wo genau die Eismarsch lag, aber ihm war bekannt, dass Isenheim das nördlichste Gebiet auf dem Festland von Gäa war. Der Weg von dort bis nach Eydar musste unglaublich weit sein und Craig fragte sich, wie lange Tyra wohl schon auf Wanderschaft war. Ob sie sich auch dem Spott und Unverständnis ihrer Mitmenschen ausgesetzt gesehen hatte, nachdem sie ihnen von ihrer bevorstehenden Reise berichtet hatte? Langsam war Craig davon überzeugt, dass Vance nicht der richtige Gefährte für ihn war. Auch wenn er ein Dorashen war, ihm fehlte einfach die Abenteuerlust. Tyra schien da ganz anders zu sein. Vielleicht gelang es ihm, an ihrer Seite durch ferne Länder zu reisen, doch leider hatte er bislang wohl keinen besonders guten Eindruck auf sie gemacht.

Auch Rhist stand die Anerkennung ins Gesicht geschrieben. „Von den Eismarschen bis nach Eydar“, staunte er. „Das ist kein schlechtes Stück Arbeit für so ein junges Ding wie Euch. Alle Achtung. Jemanden wie Euch könnte die Kaiserliche Armee wirklich gut gebrauchen! Wollt Ihr nicht beitreten? Ich habe hier eine Menge Einfluss und könnte für Euch ohne Weiteres eine Aufnahme erwirken. Wie sieht es aus?“

„Tut mir leid, aber da muss ich Euch enttäuschen, Rhist. Ich bin nur auf der Durchreise“, erwiderte Tyra in aller Deutlichkeit, ehe sie an ihrem Krug nippte und abermals das Gesicht verzog. „Und bei der Qualität des hiesigen Mets werde ich auch wohl nicht allzu lange in dieser Stadt verweilen. Wie ertragt Ihr dieses Gesöff bloß?“

„Man gewöhnt sich daran“, versicherte Rhist grinsend. „Es ist wirklich schade, dass Ihr nicht bleiben wollt. Aber es tut gut, einmal mit jemandem aus Isenheim zu plaudern, der sich nicht auf der falschen Seite meines Schwertes befindet.“

„Habt Ihr hier in der Gegend etwa Probleme mit Barbaren?“, erkundigte sich Tyra und ihre Augen funkelten interessiert.

Rhist winkte ab. „Ach, das ist nicht der Rede wert“, versicherte er. „Es verirren sich immer wieder Plünderer und Schmuggler aus Isenheim nach Adamas, aber das ist nichts, womit wir nicht zurechtkämen.“

„Verstehe“, erwiderte Tyra, hob den Krug an die Lippen und leerte ihn in einem Zug. Sie schüttelte vor Ekel den Kopf und stand auf. „Nun, unter diesen Umständen empfehle ich mich. Ich werde mich hier mit Verpflegung eindecken, auch wenn es mir gar nicht gefällt, diesem raffgierigen Spitzohr noch mehr Geld in den Rachen zu werfen. Und dann suche ich mir einen Platz für die Nacht. Vielleicht bleibe ich noch ein oder zwei Tage hier. Aber dann reise ich weiter nach Norden.“

„Norden?“, erschrak Rhist. „Mädchen, das würde ich mir an Eurer Stelle sehr gut überlegen. Ihr habt auf Eurer Reise gewiss schon einige gefährliche Gebiete durchwandert und auch die Eismarschen sind kein angenehmer Ort. Ich will Euch wahrlich nicht Eure Fähigkeiten absprechen, aber die Sumpfwälder sollte man unbedingt meiden!“

Tyra schien wenig beeindruck und schob argwöhnisch die Brauen zusammen. „Ach, und weshalb, wenn ich fragen darf?“, wollte sie wissen.

Rhist sah auf seine Finger, die nervös auf dem Tisch trommelten. „Nun…das wissen wir nicht so recht…“, druckste er.

Bragi, der sich bislang dezent zurückgehalten hatte, sprang ihm helfend zur Seite. „In den letzten Wochen verschwinden in besorgniserregender Häufigkeit Reisende und Wanderer in der Düstermarsch. Wir haben noch nicht herausgefunden, was in den Wäldern vor sich geht und bis wir Genaueres wissen, können wir nur jedem davon abraten, dieses Gebiet zu durchqueren.“

Tyras Augen leuchteten vor Begeisterung. „Ein Sumpf, in dem auf einmal massenweise Leute verschwinden?“, wiederholte sie aufgeregt. „Das klingt interessant. Das könnte vielleicht endlich die Herausforderung sein, auf die ich gewartet habe.“

Craig schnappte am Nebentisch nach Luft. Tyra sprach ihm aus der Seele. Offenbar tat sich vor den Toren dieser Stadt eine ungeahnte Möglichkeit für ein großes Abenteuer auf.

„Ich kann mich nur wiederholen“, warnte Rhist eindringlich. „Ihr solltet Euch von der Düstermarsch fernhalten. Vor kurzer Zeit ist dort sogar ein Fähnrich der Armee verschollen, während er mit einem Trupp auf Patrouille war. Das ist keine Angelegenheit für einen dahergelaufenen Abenteurer.“

„Ihr klingt, als hättet Ihr Angst“, höhnte Tyra und Craig konnte nicht anders, als ihren Schneid zu bewundern. Als er sich den Soldaten auf Notting in den Weg gestellt hatte, hatte er sich vor Angst kaum bewegen können. Tyra dagegen verspottete einen hochrangigen Soldaten vor aller Augen, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich werde mir diese Düstermarsch einmal genauer ansehen“, fügte sie entschlossen hinzu und schob ihren leeren Krug über den Tisch, bis sie ihn vor Rhist abstellte. „Und Ihr werdet mich schon einsperren müssen, wenn Ihr mich aufhalten wollt. Aber nichts für ungut. Es war wirklich nett, mit Euch geplaudert zu haben.“

Tyra drehte sich schwungvoll um und ging mit entschlossenen Schritten davon, während Rhist und Bragi niedergeschlagen zurückblieben. Der Glatzkopf murmelte etwas, doch er sprach so leise, dass Craig kein Wort verstand. Statt weiter zu lauschen, lehnte er sich nach vorn und stieß Vance vorsichtig an.

„Hast du das gehört?“, flüsterte er. „In den Sümpfen vor der Stadt verschwinden immer wieder Leute.“

„Das klingt gefährlich“, erwiderte Vance monoton.

Craig verdrehte die Augen. „Denkst du nicht, dass man dieser Sache auf den Grund gehen sollte?“

„Das ist eine Angelegenheit der Armee“, brummte Vance. Er blickte verstohlen zu den beiden Männern am Nebentisch herüber. Sein nervöses Verhalten schien mit ihrer Anwesenheit zusammenzuhängen.

„Aber du bist ein Dorashen“, zischte Craig vorwurfsvoll. „Findest du nicht, dass du deine Kräfte zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen solltest?“

„Ich helfe, wo ich kann“, gab Vance mit rauer Stimme zurück. „Ich habe Netze geflickt und Boote repariert. Ich habe Bäume gefällt und Steine geschleppt. Ich habe Pflüge gezogen und Schmiedefeuer angefacht. Und ich habe verhindert, dass kleine Jungen Dummheiten begehen, die sie später bereuen könnten.“

Craig spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Und was hast du davon?“, entfuhr es ihm so laut, dass Rhist und Bragi am Nebentisch überrascht aufblickten. Der Waisenjunge grinste den beiden Männern verlegen zu, räusperte sich und senkte wieder die Stimme. „Für die Leute bist du doch nur eine billige Arbeitskraft und du wechselst ständig deinen Standort, weil du Angst hast, dass jemand erkennt, was du wirklich bist. Aber da draußen gibt es richtige Probleme. Probleme, bei deren Lösung es wahrscheinlich hilfreich wäre, auf die Kräfte eines Dorashen bauen zu können.“

„Du hast keine Ahnung von diesen Kräften“, murmelte Vance leise. Er sah Craig in die Augen, doch es kam dem Waisenjungen vor, als würde er direkt durch ihn hindurchblicken. „Du weißt nicht, was sie anrichten können, wenn man sie nicht zügeln kann.“

„Aber das wäre deine große Chance, den Leuten zu zeigen, was in dir steckt!“, rief Craig. Die Dickköpfigkeit des Dorashen verärgerte ihn von Minute zu Minute mehr. „Wenn du deine Kräfte dazu einsetzen würdest, diese Vermisstenfälle aufzuklären, statt sie an die Arbeit eines Knechts zu verschleudern, dann würde man dir mit dem nötigen Respekt begegnen. Du könntest ein Held sein!“

„Ich wünschte, ich wäre ein einfacher Knecht“, erwiderte Vance und sein Blick glitt endgültig ins Leere. „Ich habe nie darum gebeten, ein Dorashen zu sein, und ich wollte diese Kräfte niemals haben. Sie haben mich meine Unschuld und einen anderen Mann das Leben gekostet. Ich kann kein Held sein. Nicht solange ich nicht für meine Sünden gebüßt habe.“

Vances Stimme war heiser und klang, als würde sie aus weiter Ferne kommen. Craig runzelte nachdenklich die Stirn. Es waren nagende Schuldgefühle, die den Dorashen die ganze Zeit gehemmt hatten. Etwas, das in der Vergangenheit vorgefallen war, lastete schwer und erdrückend auf seinem Gewissen und in Vances abwesenden Augen, in denen nun ein gequälter und ängstlicher Schimmer lag, konnte Craig deutlich sehen, dass er die Geschehnisse von damals in seinem Inneren noch einmal durchlebte.

Eine ganze Weile war es still zwischen Craig und Vance. Ein bedrückendes Gefühl befiel den Waisenjungen und plötzlich klang selbst die Melodie des Lautenspielers alles andere als fröhlich. Hilflos musste er zusehen, wie sich Vance selbst quälte, und knetete dabei nervös seine Hände.

„Du hast jemanden umgebracht…“, hauchte er schließlich. Als wären seine Worte ein Pfeil, der sich tief in Vances Herz bohrte, zuckte der Dorashen zusammen. Craig konnte sehen, wie seine Lippen weiß wurden, als er sie krampfhaft aufeinanderpresste. Dann, ganz langsam und kaum merklich, nickte er.

Craig atmete tief durch. Vance ließ endlich den leeren Bierkrug los und starrte auf seine Hände, als würde dort noch immer das Blut des Mannes kleben, den er getötet hatte. Seine Schuld schien sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf seine Schultern zu legen. Sichtlich leidend sackte in seinem Stuhl zusammen und die Farbe wich aus seinem Gesicht.

„Wer war er?“, fragte Craig vorsichtig. Er wusste, dass seine Neugier Vance schmerzlich an die schreckliche Tat erinnerte, die er begangen hatte, aber er spürte ein dringendes Verlangen nach Aufklärung. Er konnte nicht glauben, dass dieser zurückhaltende, fast schüchterne Mann ein kaltblütiger Mörder sein sollte. Ein unangenehmer Schmerz durchzuckte ihn, als er daran dachte, dass er auch Hiob für unschuldig gehalten hatte. Und trotzdem hatten die Soldaten ihn mitgenommen.

„Ein Winzer aus dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.“ Vances Stimme war kaum mehr als ein ersticktes Röcheln. Es klang, als würde er keine Luft mehr bekommen.

Craig fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Mund fühlte sich auf einmal unangenehm trocken an und er spürte ein leichtes Kratzen in seinem Hals. „Und…warum hast du es getan?“

Vances Körper erbebte in einem Zitteranfall so heftig, dass sogar der Tisch anfing zu wackeln. Er riss die Augen auf und sein Blick ging wieder ins Leere. „Er…er hat mich beschimpft…“, stammelte er. „Er hat mich geschlagen…und dann…dann wurde ich auf einmal so wütend. Ich weiß nicht, was auf einmal über mich kam. Aber als ich wieder klar denken konnte, war er tot...“ Seine Stimme war schwach und schließlich brach sie. Craig wollte nicht wissen, welche schrecklichen Bilder sich vor Vances innerem Augen abspielten.

„Du bereust es, hab ich recht?“

„Jeden Tag.“ Vances Antwort war nur ein Flüstern. „Ich hatte in meinem Leben nie mehr als meine Unschuld. Und ich habe sie mir selbst genommen.“ Er lehnte sich nach vorn auf den Tisch und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Craig hatte Mitleid mit ihm. Er erinnerte sich, wie er mit Hiob am Hafen von Notting saß und dem Dorashen bei der Arbeit zugesehen hatte. Der Dunkelelf hatte damals gesagt, dass es Vance vermutlich nicht besser ging, als ihm oder Craig. Er hatte damit maßlos untertrieben. Den Waisenjungen hatte der Verlust seiner Eltern ohne Frage schwer getroffen, aber er hatte das große Glück gehabt, in Hiob einen Ziehvater zu finden. Verglichen mit seinem Schmerz musste Vances Schuldgefühl eine unvorstellbare Last sein, schwerer als jeder Baumstamm oder Steinblock. Und der Dorashen musste sie täglich mit sich herumschleppen.

Jetzt verstand Craig auch, warum Vance in der Gegenwart von Soldaten ständig so nervös und angespannt war. Als gesuchter Verbrecher konnte er jeden Augenblick erkannt und für seine Taten verhaftet werden. Er zog also nicht von Dorf zu Dorf, weil er fürchtete, von der Bevölkerung verstoßen zu werden, wenn seine wahre Identität bekannt wurde. Er hatte einfach Angst, dass irgendjemand sein Gesicht erkannte, wenn er sich zu lange an einem Ort aufhielt.

Und trotzdem konnte sich Craig des Eindrucks nicht erwehren, dass Vance kein schlechter Mensch war. Trotz seiner Angst vor den Kaiserlichen Truppen hatte er sich den Soldaten auf Notting ohne Weiteres gezeigt. Er war das Risiko eingegangen, verhaftet zu werden, nur um Craig, einen Jungen, den er nicht kannte, davor zu bewahren, sich unglücklich zu machen. Sein Eingreifen auf der Insel hatte verhindert, dass Knack in tausend Stücke geschlagen und Craig selbst für seinen Widerstand hinter Schloss und Riegel gesperrt wurde. So sehr der Waisenjunge sich auf Notting auch noch gegen seine Unterstützung gesträubt hatte, nun, da er nüchtern darüber nachdachte und das ganze Ausmaß von Vances Eingreifen verstand, musste er zugeben, dass er dem Dorashen zu Dank verpflichtet war. Craig wollte sich gern dafür revanchieren, aber wusste nicht wie. Er konnte nur versuchen, die Schuld, die sich Vance aufgeladen hatte, zu erleichtern.

„Du willst Buße tun“, stellte er fest und war selbst überrascht, wie entschlossen und ruhig seine Stimme angesichts dieses bedrückenden Themas klang. „Also gut. Warum fängst du dann nicht damit an, einen Teil deiner Schuld abzutragen, indem du der Bevölkerung hilfst? Und damit meine ich nicht, dass du weiterhin für ein paar lausige Münzen Netze flickst, damit du deine Sorgen in Bier und Selbstmitleid ertränken kannst. Ich spreche von einer Heldentat, die eines Dorashen würdig ist. Hilf diesen Leuten und mach dich auf die Suche nach den Vermissten!“

Kurz loderte etwas in Vances dunklen Augen auf und Craig glaubte schon, dass er sich endlich aus seiner schuldbeladenen Lethargie befreite, doch dann erlosch der Glanz wieder und ließ in seinem Gesicht nichts als zwei ausdruckslose, matte Kohleklumpen zurück.

Im Untergeschoss des Gasthauses wurde es plötzlich laut. Craig hörte das Klirren von Kettenhemden und das Stampfen schwerer Stiefel. Neugierig wandte er sich zur Treppe um und sah eine kleine Patrouille von Soldaten die Stufen heraufkommen. Angeführt wurden sie von einem braunhaarigen Mann in einer eisenbeschlagenen Uniform. Auf seinem bartlosen Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck. Craigs Miene verfinsterte sich, als er entdeckte, dass die Soldaten von Aulus begleitet wurden. Der Novize der Goldenen Falken reckte wichtigtuerisch das Kinn vor. Er genoss es sichtlich, dass plötzlich alle Augenpaare auf ihn und die Soldaten gerichtet waren. Mit schmierigem Grinsen suhlte er sich in der Aufmerksamkeit der Gäste und blähte unter seinem violetten Seidenhemd stolz die schmale Brust.

„Feldwebel!“, rief Rhist überrascht und stand auf. Erst jetzt bemerkte Craig das Langschwert, dass der stämmige Truppenkommandant auf der ihm abgewandten Körperseite am Gürtel trug. „Was soll dieser Aufmarsch?“

Der Anführer der Patrouille blieb wie vom Donner gerührt stehen und salutierte pflichtbewusst, als er seinen Vorgesetzten bemerkte. Der Rest der Soldaten tat es ihm gleich. Nur Aulus lehnte sich an die Wand und betrachtete seine penibel gestutzten Fingernägel.

„Bitte lasst Euch nicht stören, Kommandant“, rief der Truppführer. „Wir sind hier, um eine Verhaftung durchzuführen.“

„Eine Verhaftung?“ Rhist schob grimmig die Augenbrauen zusammen.

„Da, das ist der Kerl!“, schrie Aulus und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Tisch, an dem Craig und Vance saßen. Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Dort drüben sitzt er!“

Craig duckte sich instinktiv. Er hatte sich Aulus gegenüber ziemlich frech verhalten. Der Novize der Goldenen Falken hatte zwar angekündigt, ein Auge zuzudrücken, doch Craig war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er es sich nicht doch anders überlegt hatte. Im Schutz der Soldaten fühlte sich Aulus jedenfalls wieder deutlich mutiger.

Doch sein Fingerzeig galt nicht Craig, sondern Vance. Auf Aulus‘ Zeichen hin ging der Truppführer mit entschlossenen Schritten auf den Tisch zu und baute sich mit ernstem Gesicht vor dem Dorashen auf. „Ich bin Feldwebel Praharin“, stellte er sich vor. „Und ich muss Euch bitten, mit mir zu kommen.“

Vance nickte bedrückt und warf Craig einen kurzen Blick zu. „Also hat mich mein Schicksal am Ende doch eingeholt“, murmelte er und stand auf.

Als Feldwebel Praharin das Hackebeil bemerkte, das an dem Seil an Vances Hüfte hing, griff er sofort nach seinem Schwert. Auch Rhist, der sich offenbar für seine Untergebenen verantwortlich fühlte, obwohl er augenscheinlich nicht im Dienst war, tastete nach seiner Klinge.

„Händigt mir die Waffe aus!“, forderte Praharin barsch. Vance erstarrte und blickte den Feldwebel ausdruckslos an. Dann zog er das Hackebeil langsam aus seinem behelfsmäßigen Gürtel. „Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich meine Waffe stattdessen meinem Freund hier überlasse?“, fragte er ruhig. Sein Gesicht wirkte plötzlich nicht mehr angespannt, sondern sanft, und es kam Craig fast so vor, als wäre er erleichtert, dass seine ständige Flucht endlich ein Ende gefunden hatte.

Praharin blinzelte verwirrt und sah Rhist hilfesuchend an. Der Kommandant zuckte nur mit den Schultern. „Warum nicht?“, brummte er. „Ich denke, Ihr werdet selbst mit diesem Burschen fertig, Feldwebel.“ Er entspannte sich und setzte sich wieder neben Bragi an den Tisch.

Praharin deutete mit einem Kopfnicken auf Craig. „Gut, meinetwegen“, rief er etwas zögerlich. „Aber macht keine Dummheiten!“

Auch die anderen Soldaten hielten ihre Schwerter umklammert und waren bereit, im Notfall gewalttätig zu werden. Doch Vance hob beschwichtigend eine Hand und legte sein Hackebeil in aller Seelenruhe vor Craig auf den Tisch.

Der Waisenjunge starrte die Soldaten verbittert an. Er hatte gerade erst den tieferen Sinn hinter Vances Eigenarten zu entschlüsseln und war dabei, sich mit dem Dorashen anzufreunden, da wurde er ihm auch schon entrissen. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit nahmen ihm die Soldaten der Kaiserlichen Armee einen Weggefährten. Vances Verhaftung traf ihn dabei nicht annähernd so hart, wie Hiobs Inhaftierung, aber trotzdem fragte sich der Waisenjunge, ob auf ihm ein Fluch lag, der alle, die seinen Weg kreuzten, hinter Schloss und Riegel brachte. Er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu protestieren. Diesmal würde niemand da sein, der ihn davon abhielt, etwas Unüberlegtes zu tun.

Verwirrt richtete Craig seinen Blick auf das Hackebeil, das vor ihm auf dem Tisch lag. Die Klinge glänzte leicht im Kerzenschein des Gasthauses und er konnte deutlich erkennen, dass ihre Scharten schon dutzende Male ausgewetzt worden waren. „Was soll ich denn damit?“, fragte er brummig.

„Dieses Hackebeil hat mir immer gute Dienste erwiesen“, sagte Vance und reckte Praharin beide Hände entgegen. Sofort traten zwei Soldaten vor und legten ihm schwere Metallfesseln an. „Ich finde die Vorstellung fürchterlich, dass es irgendwo in einem staubigen Lager der Armee verrostet. Kannst du es für mich verwahren? Vielleicht erweist es sich eines Tages noch als nützlich.“

„Wenn du meinst…“, murmelte Craig und griff nach dem Beil. Es wog deutlich schwerer in seiner Hand, als er vermutet hatte.

„Entschuldigt die Störung, Kommandant“, hörte er Praharins Stimme. „Ich wünsche noch einen angenehmen Tag.

Dann setzte sich der ganze Trupp zusammen mit dem Gefangenen unter dem Klirren von Kettenhemden in Bewegung. Craig blieb alleine an dem Tisch zurück und alles, was davon zeugte, dass er bis eben noch Gesellschaft gehabt hatte, waren ein leerer Bierkrug und das Hackebeil in seiner Hand.
 

Kurze Zeit später standen die Soldaten zusammen mit Vance im Amtszimmer von Meister Syndus. Gancielle, der zweite Kommandant der Truppen von Eydar, sicherte mit grimmiger Miene die Tür, während Syndus im Beisein seiner Assistentin Adria hinter seinem breiten Pult saß und die Versammlung mit gefalteten Händen nachdenklich beäugte. Praharin platzte fast vor Stolz darüber, dass er dem alten Befehlshaber einen gesuchten Verbrecher präsentieren konnte, und auch Aulus grinste selbstzufrieden.

„Das ist dieser Mörder, Meister!“, rief der Novize übereifrig. „Ich habe sofort gewusst, dass ich sein Gesicht irgendwoher kenne, als ich ihn im Hafen entdeckt habe! Und dann sind mir wieder die Steckbriefe aus Kaboroth eingefallen.“

Syndus hob beschwichtigend eine Hand. „Bitte mäßigt Euch, Aulus“, bat er um Ruhe. „Ich sehe selbst, dass Ihr mir die gesuchte Person bringt. Feldwebel, hattet Ihr Ärger bei der Festnahme?“

Praharin schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat sich ohne Widerstand ergeben“, verkündete er.

„Gut gemacht“, lobte Syndus müde und Praharins Brust schwoll unter seiner Rüstung noch ein Stück an. „Ihr dürft Euch nun zurückziehen. Ab hier könnt Ihr alles Weitere uns überlassen.“

Praharin und sein ganzer Trupp salutierten synchron. Dann gab der Feldwebel seiner Patrouille mit einem Kopfnicken ein Zeichen und die Soldaten verließen Syndus‘ Amtszimmer unter dem dumpfen Stapfen ihrer schweren Stiefel.

„Was ist mit mir, Meister?“, fragte Aulus, als Praharins Trupp fort war. „Ich habe diesen Mann entdeckt! Habe ich mir dafür nicht eine Belohnung verdient?“

„Es ist den Mitgliedern unseres Ordens untersagt, ein Kopfgeld zu kassieren“, sprach Syndus. „Aber ich werde dafür sorgen, dass Euch eine angemessene Prämie ausgezahlt wird. Nun geht! Ihr habt gewiss noch eine Menge Arbeit zu erledigen.“

Das schien Aulus zu reichen. Er rieb sich gierig die Hände und grinste zufrieden. „Wie Ihr wünscht, Meister!“, näselte er unterwürfig. Dann drehte er sich um und schlenderte leise kichernd davon.

Gancielle schloss die Tür hinter ihm und schob einen breiten Riegel aus massivem Eisenholz vor. Syndus stützte sein Kinn auf die gefalteten Finger und musterte den Gefangenen genau. „So, dann wollen wir uns doch mal um Euch kümmern“, verkündete er seufzend. „Wie Euch sicher nicht entgangen ist, wirft Euch mein scharfsinniger Schüler Aulus vor, einen Mann getötet zu haben. Ist das korrekt oder widersprecht Ihr dieser Behauptung?“

„Das stimmt“, erwiderte Vance. Ein leichtes Zittern durchlief seinen kräftigen Körper und er senkte betreten den Kopf. „Vor fünf Jahren habe ich einen Mann umgebracht.“

„Vor fünf Jahren…“, murmelte Syndus. „Ihr müsst noch fast ein Kind gewesen sein…“ Er lehnte sich zurück und schnippte mit den Fingern. „Schreibt doch bitte mit, Adria.“

Sofort tauchte seine Assistentin eine Schreibfeder in ein Tintenfass. Aufmerksam hielt sie sich bereit und starrte Vance dabei durchdringend an.

Syndus wandte sich direkt an den Gefangenen. „Wie lautet Euer Name?“, wollte er wissen.

„Vance.“

Adrias Federkiel tanzte kratzend über das Papier. „Und der Eurer Familie?“, fragte Syndus.

„Falls ich einen habe, wurde er mir nie gesagt“, antwortete Vance tonlos. „Ich kenne ihn nicht.“

Syndus und Adria tauschte kurz ein paar Blicke aus. Dann schrieb die junge Frau erneut etwas auf.

„Schön. Woher stammt Ihr?“

„Wenn Ihr wissen wollt, wo ich geboren bin, kann ich Euch keine sichere Antwort geben. Aber ich glaube zumindest, dass ich ein Bürger Ganestans bin und aus Vingrat stamme. Jedenfalls habe ich meine Kindheit und Jugend in Narinfen verbracht.“

Syndus hob abwehrend die Hände. „Der Ort, an dem Ihr lange gelebt habt, sollte für unsere Zwecke völlig ausreichend sein. Narinfen in der Grafschaft Vingrat also.“

Wieder ließ Adria ihre Feder über das Papier wandern, diesmal länger als die beiden Male zuvor. Syndus strich sich durch den Bart und nutzte die Zeit, um sich zu überlegen, wie er seine nächste Frage formulieren sollte. Als der Federkiel seiner Assistentin verstummte, legte er die Hände vor seinem Kinn aneinander und sah Vance prüfend an. „Wer ist Euer Gott?"

Der junge Mann hob den Kopf und verengte die Augen zu Schlitzen. „Wie meint Ihr das?“, fragte er lauernd.

„Ihr seid doch ein Dorashen, oder etwa nicht?“ Adria sog scharf die Luft ein und Gancielles Miene wurde schlagartig zu einer Miene finsterer Entschlossenheit. Syndus dagegen blieb ruhig und zum ersten Mal seit langer Zeit huschte sogar der Anflug eines Lächelns über seine Lippen.

Vance schien aber überhaupt nicht glücklich über die Erkenntnis des Alten. Verbittert starrte er ihn an. „Allmählich glaube ich, dass mir jemand dieses Wort im Schlaf auf die Stirn tätowiert hat“, ärgerte er sich. „Fünf Jahre lang hat mich niemand als das erkannt, was ich bin und jetzt seid Ihr bereits der Zweite innerhalb von zwei Tagen.“

„Schon gut“, erwiderte Syndus und hob beschwichtigend die Hände. „Das ist meiner jahrelangen Erfahrung geschuldet. Aber Ihr müsst wirklich ein Talent dafür haben, Euch bedeckt zu halten, wenn Ihr fünf Jahre lang unerkannt bleiben konntet.“

Vance senkte wieder den Kopf und starrte auf einen unsichtbaren Punkt zwischen seinen Stiefeln. Syndus sah, wie sich Gancielles angespannte Körperhaltung lockerte. Neben ihm stieß Adria ein leises Seufzen aus.

„Der Meister hat Euch eine Frage gestellt“, erinnerte sie den Dorashen. „Welchem der Fünf verdankt Ihr Eure Kräfte? Am Jahrestag welchen Gottes kamt Ihr zur Welt?“

„Habt Ihr mir vorhin nicht zugehört?“, fragte Vance angesäuert. „Ich habe keine Ahnung, wann und wo ich geboren bin und ich habe keine Eltern, die mir gesagt haben, welchem Gott ich meine verfluchte Existenz zu verdanken habe. Es ist mir auch völlig egal. Ich will mit all diesen übernatürlichen Mächten nichts zu tun haben!“

Adria klappte den Mund auf und wollte etwas erwidern, doch Syndus hob eihaltgebietend die Hand. Seine Assistentin funkelte Vance empört an, doch sie fügte sich dem Willen ihres Meisters und verkniff sich eine bissige Antwort.

Syndus ließ den gedämpften Gefühlsausbruch des Dorashen auf sich wirken. Vance trat nach seinen Worten unruhig von einem Bein auf das andere. Er fühlte sich sichtlich unwohl, aber nicht, weil man ihm die Hände gefesselt hatte oder weil man drauf und dran war, ihn in einen Kerker sperren. Syndus schien es mehr, als schämte sich der junge Mann dafür, dass er seinen Emotionen für einen kurzen Augenblick gestattet hatte, die Kontrolle über seine Zunge zu übernehmen.

Der Alte nickte bedächtig und gab Adria einen Wink. Die junge Frau setzte ihr Kürzel unter den Zettel, auf dem sie Vances Daten notiert hatte, und reichte ihn an ihren Meister weiter. Auch Syndus unterzeichnete das Protokoll und rollte es sorgfältig zusammen. Er fixierte die Rolle, indem er sie mit einem roten Band umwickelte, und ließ aus einem silbernen Kerzenständer auf seinem Pult vorsichtig etwas Wachs auf das Ende des Bandes tropfen. Anschließend versiegelte er das Dokument, indem er seinen Ring in die flüssige Masse drückte. Er wartete kurz, bis das Wachs erkaltet war, und schob den Brief Adria zu.

„Wir entsenden später einen Botenfalken nach Kaboroth. Man wird dort entscheiden, wie mit Euch verfahren werden soll. Fürs erste seid Ihr ein Gast in unserem Kerker“, verkündete Syndus laut. Dann faltete er nachdenklich die Hände, bettete sein Kinn darauf und wandte sich an seine Assistentin und den Kommandanten. „Ich halte es für besser, wenn wir die Identität unseres Freundes hier vorerst geheim halten. Wir haben schon genug Ärger und es könnte unsere Truppen zusätzlich verunsichern, wenn bekannt würde, dass wir in unserem Kerker einen Dorashen beherbergen. Wobei unser Freund nicht gerade den Eindruck macht, als stelle er eine große Gefahr dar, nicht wahr?“

Vance starrte noch immer beharrlich auf den Boden. Wie er so mit hängenden Schultern und in seiner abgewetzten, löchrigen Kleidung dastand, glich er eher einem Häufchen Elend, als einem ehrfurchtgebietenden Krieger.

„Gancielle, Adria…“, fuhr Syndus unbeirrt fort. „Als Meister des Ordens der Ehernen Falken fordere ich Euch auf, dass auch Ihr Stillschweigen über die Identität dieses Mannes bewahrt! Wir werden lediglich Fähnrich Jel informieren, damit er weiß, mit wem er es zu tun hat. Verstanden?“

Seine Assistentin und der blonde Kommandant nickten entschlossen. Syndus seufzte zufrieden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Sehr gut. Gancielle, dürfte ich Euch bitten, den Gefangenen in die Obhut unseres Kerkermeisters zu übergeben?“

Gancielle trat vor und griff nach den Fesseln an Vances Handgelenken. Mit dem anderen Arm salutierte er dienstbeflissen. „Sofort, Meister Syndus.“

Der Dorashen drehte sich wortlos um. Obwohl der Gefangene keinerlei Anstalten machte, sich zu wehren, griff Gancielle sicherheitshalber nach seinem Schwert. Der Kommandant zog mit einem Ruck den Riegel vor der Tür zurück und stieß Vance durch den Rahmen. Der Dorashen ließ sich widerstandslos abführen.

Syndus blickte den beiden nachdenklich hinterher. „Ein interessanter junger Mann“, stellte er fest und fuhr sich gedankenverloren durch den ergrauten Bart. „Er ist auf den falschen Pfad geraten und nun quälen ihn die Folgen seiner Tat am meisten. Er verflucht den Gott, der ihn gesegnet hat. So verhält sich kein gewöhnlicher Dorashen.“ Syndus wusste, dass es töricht war, die Dorashen als gewöhnlich zu bezeichnen, aber Vance wirkte selbst für einen Gottesstreiter besonders sonderbar und atypisch. „Die wenigen, die es noch gibt, leben voller Stolz für den Namen ihres Gottes.

„Wahrscheinlich ist er einfach nur verzweifelt, weil er unseren Soldaten ins Netz gegangen ist“, vermutete Adria kühl. „Und nun bereut er seine Taten, weil er sich vor seiner Strafe fürchtet und im Angesicht des Kerkers bemerkt, dass jede Flucht unmöglich ist.“

Syndus musste schmunzeln. „Ihr seid noch jung, Adria, aber Ihr habt Euch bereits eine Menge Wissen angeeignet. Seit Ihr in diese Stadt entsandt wurdet, habe ich Euch alles beigebracht, was möglich war. Aber es gibt noch eine Vielzahl an Dingen, die Euch nur die Erfahrung lehren kann. Wenn ein Dorashen fliehen will, dann tut er es einfach. Nicht einmal Gancielle könnte ihn aufhalten.“

„Und trotzdem wollt Ihr so jemanden in unserem Kerker unterbringen?“, fragte Adria besorgt. „Wenn er plötzlich seine Meinung ändert und ausbricht, könnten unsere Soldaten und die Bevölkerung in Gefahr geraten.“

„Die Reue dieses Mannes ist aufrichtig“, erwiderte Syndus ruhig. „Er will seine Strafe verbüßen. Und wer sind wir, ihm diesen Wunsch zu verwehren?“

Seit die Soldaten Vance abgeführt hatten, saß Craig schweigend an seinem Tisch im Gasthaus Nebelbank und starrte gedankenverloren auf den leeren Bierkrug, den der Dorashen zurückgelassen hatte. Er drehte und wendete das Hackebeil in seinen Händen und fragte sich, ob er es seinem Besitzer je wieder zurückgeben konnte. Vermutlich nicht. Wenn Vance tatsächlich als Mörder verurteilt wurde, dann hatte er keine Gnade zu erwarten. Selbst wenn man ihn nicht hinrichtete, würde er viele Jahre in einem dunklen Kerker verschimmeln. Das konnte unmöglich die richtige Form von Wiedergutmachung sein.

Craig wusste genau, dass Mord ein furchtbares Verbrechen war. Er selbst hatte am eigenen Leib erfahren, welches Leid er über Angehörige brachte. Und trotzdem war er davon überzeugt, dass Vance nicht mit einem kaltblütigen Mörder und Verbrecher wie Varim zu vergleichen war. Der Piratenkapitän, der für die Zerstörung seines Heimatdorfs verantwortlich war, wurde bestimmt nicht von einem schlechten Gewissen gequält, obwohl er bestimmt schon oft getötet hatte. Dagegen hatte sich Vances Bericht so angehört, als habe er den Mann im Affekt erschlagen, und dennoch wurde er von seinem eigenen Schuldbewusstsein förmlich aufgefressen. Eigentlich hatte er durch die Vorwürfe, die er sich ständig selbst gemacht hatte, schon genug Buße geleistet. Aber Craig wusste, dass die Angehörigen des Mannes, der durch Vances Hand gestorben war, das ganz gewiss anders sahen. Bestimmt wollten sie ihn unter dem Henkersbeil sehen. Der Waisenjunge konnte dieses Gefühl gut nachvollziehen. Schon oft hatte er sich ausgemalt, wie er Varim eines Tages zur Rechenschaft ziehen und sich an ihm für alles Rächen würde, was er seiner Heimatinsel und seiner Familie angetan hatte.

„Alles in Ordnung bei dir, Junge?“

Craig hob missmutig den Kopf und sah zum Nebentisch. Der glatzköpfige Mann, der Bragi hieß, lehnte sich zu ihm herüber und blickte ihn sorgenvoll an. Offenbar tat Craig ihm leid, wie er da so einsam und verlassen saß. „Komm, setz dich doch zu uns“, schlug Bragi lächelnd vor.

Eigentlich war Craig überhaupt nicht nach Gesellschaft zumute, schon gar nicht der Gesellschaft von Soldaten, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatten, jeden, mit dem er Umgang pflegte, auf der Stelle zu verhaften. Aber Bragi wirkte so freundlich und Craig kam sich allmählich dämlich dabei vor, allein an einem Tisch zu sitzen und einen leeren Bierkrug anzustarren, dass er sein Angebot schließlich annahm. Etwas zögerlich setzte er sich neben den glatzköpfigen Mann und warf Rhist dabei einen finsteren Blick zu. Zufrieden stellte er fest, dass das Wirkung zeigte. Das breite Grinsen auf Rhists bärtigem Gesicht verschwand augenblicklich und der stämmige Soldat senkte betreten den Kopf.

„Du darfst es den Soldaten nicht übelnehmen“, seufzte Bragi und legte Craig beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir wirklich leid, dass sie deinen Freund festnehmen mussten.“

„Wir machen doch nur unsere Arbeit“, fügte Rhist kleinlaut hinzu.

„Schon gut“, brummte Craig verstimmt. „Ich kannte ihn ohnehin kaum. Ich glaube nicht, dass ich ihn als meinen Freund bezeichnen würde.“

„Ihr seid zusammen nach Eydar gekommen, nicht wahr?“ Bragis Augen funkelten listig. Er wirkte mit seinem runden Gesicht so unscheinbar, aber Craig spürte instinktiv, dass unter der Glatze ein messerscharfer Verstand steckte. Mit dem gleichen Blick hatte ihn Hiob manchmal gemustert und Craig war es jedes Mal vorgekommen, als würde ihm der Dunkelelf direkt in die Seele sehen.

„Ihr kriegt offenbar eine ganze Menge mit“, entgegnete der Waisenjunge und war darum bemüht, höflich zu bleiben. In dieser Stadt schien man sich ganz schnell Ärger einfangen zu können.

Bragi blähte stolz den Brustkorb und grinste breit. „Das will ich meinen!“, tönte er und klang auf einmal wie Rhist. „Schließlich bin ich ein Mitglied der Goldenen Falken! Wir haben unsere Augen und Ohren überall!“

„Wie dieser aufgeblasene Aulus…“, murmelte Craig leise. Für die Mitgliedschaft in diesem Orden musste man wohl ein besonders übersteigertes Selbstwertgefühl haben.

Bragi schienen seine Worte nicht im Geringsten zu stören und falls doch, tat er so, als hätte er sie nicht gehört. „Ich würde dich gerne auf ein Bier einladen“, verkündete er lächelnd.

Normalerweise nahm Craig so ein Angebot dankend an, aber im Augenblick war ihm der Durst vergangen. Deshalb schüttelte er den Kopf. „Danke, kein Bedarf“, sagte er bedrückt.

„Wie wäre es stattdessen mit einer kleinen Mahlzeit?“, fragte Bragi und zwinkerte ihm aufmunternd zu. „Sieh es als kleine Wiedergutmachung für die Festnahme deines Gefährten.“

Craig wollte auch dieses Angebot ausschlagen, doch dann bemerkte er, dass ihm der Magen in den Kniekehlen hing. Seit er nach Eydar gekommen war, hatte er noch nicht einen Bissen gegessen. „Das wäre vielleicht wirklich nicht schlecht“, murmelte er verlegen und wie auf Kommando knurrte sein Magen.

Bragi grinste breit. „Rhist, wärst du so gut und würdest unserem Freund hier etwas zu essen besorgen?“, fragte er seinen bärtigen Kameraden. Dieser verzog unwillig das Gesicht, doch Bragi blitzte ihn auffordernd an. Rhist seufzte resigniert und erhob sich. „Meinetwegen“, brummte er und trottete mit stapfenden Schritten davon. Als er an ihm Vorbeiging, erhaschte Craig einen deutlichen Blick auf das Schwert, das er am Gürtel trug. Die Klinge musste deutlich schwerer sein, als Craigs eigene Waffe, und sie war in einem guten Zustand. Offensichtlich kümmerte sich Rhist gut um sein Schwert. An ein paar ausgewetzten Scharten erkannte Craig, dass die breite Klinge schon das ein oder andere Mal im Einsatz gewesen war, und trotzdem glänzte der Stahl noch immer, als sei er gerade erst gehärtet und veredelt worden.

„Ist es normal, dass ein Kommandant der Armee den Tag in einem Gasthaus verbringt und Met trinkt?“, fragte der Waisenjunge misstrauisch und deutete auf Rhists leeren Krug.

Bragi lehnte sich zurück. Auch er war mit einem Stahlschwert bewaffnet, das jedoch deutlich schmaler und kürzer war. Kunstvolle Verzierungen schmückten den Griff und den Knauf und im Gegensatz zu Rhist schien Bragi noch nicht oft von seiner Waffe gebraucht gemacht zu haben.

„Eigentlich ist Rhist ein vielbeschäftigter Mann“, erklärte er nachdenklich. „Jedenfalls war er das früher. Aber der Wind in Eydar hat sich gedreht. Sein Trupp wurde von einem neuen Befehlshaber aus den Generalsrängen übernommen. Seitdem hat Rhist nicht mehr viel zu sagen.“

„Ein General ist hier?“, wiederholte Craig verblüfft. Der Vorposten in Eydar wirkte zwar relativ groß, aber er hatte nicht erwartet, dass die Armee derart hochrangige Mitglieder an diesen entlegenen Ort schicken würde. Er stellte sich vor, wie so ein General wohl war. Bestimmt war es ein harter, aber gerechter Mann in schillernder Rüstung, ein Mann, der schon alle Ecken der Welt gesehen und viele Schlachten geschlagen hatte.

Bragi schien seine Gedanken zu erraten. „Das klingt für dich vermutlich, als wäre ein Held in Eydar“, lachte er, aber seine Stimme klang rau und gequält, als hätte er gar keinen Grund, sich zu freuen. „Aber die Realität sieht anders aus. Ich hoffe, du musst den Brigadegeneral niemals persönlich kennenlernen. Das ist nämlich eine Erfahrung, auf die ich selbst gerne verzichtet hätte.“ Bragis Gesicht verfinsterte sich und Craig musste unwillkürlich schlucken. Das klang, als sei dieser General ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse.

Rhist kam zurück. Unter seinem Bart war sein Gesicht rot und er sah aus, als würde er sich gewaltig über etwas ärgern. In der einen Hand hielt er eine Holzschüssel, die mit einem noch dampfenden Gemüseeintopf gefüllt war, in der anderen einen neuen Krug Met. „Dieser Halsabschneider“, knurrte er wütend. „Ein Goldstück hat er mir dafür abgeknöpft! Der Fraß ist noch nicht mal drei Kupferlinge wert!“

Lieblos stellte er die Schüssel vor Craig ab. Etwas von dem Inhalt schwappte über den Rand und hinterließ braune Klekse auf dem Tisch.

„Lass es dir schmecken“, lächelte Bragi und ignorierte den Ärger seines Kameraden. Rhist setzte sich neben ihn und ließ sein gerötetes Gesicht hinter dem Metkrug verschwinden.

Craig tauchte den Holzlöffel in den Eintopf und probierte. Er war ziemlich heiß, schmeckte aber ganz passabel. Und vor allem sättigte er enorm. Schon nach wenigen Löffeln hatte Craig seinen Hunger gestillt. Sein Bauch rumorte nicht mehr länger, aber es gab noch eine Sache, die ihm quer im Magen lag.

„Sagt mal…“, fing er zögerlich an. „Welche Strafe wird Vance…also der Mann von vorhin…welche Strafe erwartet ihn?“

„Das kommt ganz darauf an“, antwortete Bragi und grinste noch immer. „Was hat er denn angestellt?“

„Er hat jemanden umgebracht.“

Sofort war Bragis Lächeln wie weggewischt. Er tauschte nervöse Blicke mit Rhist und atmete dann tief durch. „Nun, natürlich müssen die genauen Umstände noch geklärt werden…“, murmelte er und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Aber ich an deiner Stelle würde mich darauf einstellen, ihn nie wiederzusehen. Es sei denn, du besuchst ihn im Kerker. Tut mir wirklich leid, Junge.“

Craig ließ den Löffel in die halbleere Schüssel fallen. „Das dachte ich mur schon“, flüsterte er leise. Damit hatte sich seine Hoffnung, an der Seite eines Dorashen durch die Lande zu reisen, endgültig erledigt.

Er schob Rhist lustlos die Schüssel mit dem restlichen Eintopf zu und der Kommandant langte beherzt zu. Der Waisenjunge spürte, wie Bragi ihn forschend ansah und wieder versuchte, seine Gedanken zu erraten. Diesmal lächelte er nicht.

„Warum habt Ihr mir eigentlich eine Mahlzeit spendiert?“, fragte Craig vorsichtig.

Rhist blickte von der Schüssel auf. In seinem struppigen Bart klebten ein paar Kartoffelstückchen und eine Karottenscheibe. „Du meinst wohl, warum hat er es auf mich abgewälzt, dir eine Mahlzeit zu spendieren!“, korrigierte er mit vollem Mund und machte sich wieder über den Eintopf her. „Das wüsste ich nämlich auch gerne!“

Bragi sah Craig fest in die Augen. Der Waisenjunge fühlte sich dabei überhaupt nicht unwohl, sondern auf eine seltsame Art und Weise sicher und geborgen. Trotzdem konnte er Bragis Blick nicht lange standhalten und senkte verlegen den Kopf.

„Du sahst so verloren aus“, erklärte Bragi mit ruhiger Stimme. Craig kam der Gedanke, dass der Glatzkopf bestimmt ein guter Geschichtenerzähler war. „Und ich wollte dir zeigen, dass wir, die Diener des Kaisers, nicht böse und ungerecht sind. Es ist unsere Aufgabe, den Frieden zu bewahren und für Recht und Ordnung zu sorgen. Vieles, was wir tun, mag hart und unfair erscheinen, doch alles hat seine Berechtigung. Ich möchte, dass du das weißt, auch wenn wir dir deinen Freund genommen haben.“

„Nicht zum ersten Mal“, erwiderte Craig und spürte, wie ihm etwas die Kehle zuschnürte. „Ich danke Euch für den Eintopf, aber ich glaube, ich muss mir jetzt ein wenig die Beine vertreten. Auf Wiedersehen.“

Der Waisenjunge stand auf und neigte den Kopf vor Bragi, der ihn noch immer nachdenklich ansah. Von der Seite ertönte Rhists gieriges Schmatzen.

„Pass auf dich auf“, sagte der Glatzkopf zum Abschied. Craig hielt das zunächst nur für eine Floskel, doch während er sich umdrehte und die Treppe hinunterstieg, wurde er das Gefühl nicht los, dass sich Bragi tatsächlich um die einfachen Bewohner von Eydar sorgte.

Eine Weile schlenderte er ziellos durch die Stadt. Er überlegte sich, ob er im Kerker vorbeischauen sollte, aber er entschied sich dagegen. Stattdessen ging er zum Hafen. Er hatte die leise Hoffnung, Gilroy zu treffen und sich ein wenig mit dem eigenbrötlerischen Dunkelelfen unterhalten zu können, aber der Strand, an dem er am Vormittag noch seine Netze geflickt hatte, lag verlassen da. Vermutlich war er in seinem Boot hinaus aufs Meer gefahren, um zu fischen.

Also setzte sich Craig auf die Kaimauer und ließ die Beine baumeln. Er blickte aufs Meer hinaus, zählte die Schiffsmasten, die im Hafenbecken aufragten und beobachtete ein paar Fische, die sich nahe der Anlegestelle herumtrieben, bis er auch das satt hatte. Weil er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte, machte er sich auf den Rückweg zu Aglirs Gasthaus.

Davor traf er zu seiner Überraschung Tyra. „Ach, der Knirps!“, rief sie, als sie ihn bemerkte. „Na, rennen wir diesmal keine fremden Leute über den Haufen?“ So wie sie das sagte, klang es wie ein Witz, aber sie lachte nicht. Sie grinste noch nicht einmal.

„Jemand hat mir gesagt, dass es hilft, wenn man die Augen aufmacht“, erwiderte Craig in der Hoffnung, ihr wenigstens den Anflug eines Lächelns ins Gesicht zu treiben.

Tyras Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben. „Scheint eine sehr clevere Person gewesen zu sein“, stellte sie fest und nestelte an ihrem Schulterriemen herum. „Ich habe vorhin gesehen, wie ein paar Soldaten deinen Kumpel abgeführt haben. Der sah eigentlich gar nicht so aus, als hätte er Dreck am Stecken.“

„Er ist ganz in Ordnung, schätze ich“, murmelte Craig.

„Mach dir nichts draus“, fuhr Tyra fort und strich prüfend über die Klinge eines der vielen Messer, die sie am Körper trug. „Du wirst schon sehen, man kann auch alleine bestens klarkommen. Ich habe das nie anders gemacht.“

Craig sah sie nachdenklich an. Alleine war er ja nicht. Immerhin hatte er noch Knack und einen besseren Gefährten konnte er sich ohnehin kaum vorstellen. Trotzdem war es ein verlockender Gedanke gewesen, zusammen mit Vance Abenteuer zu erleben. Preman hätte Augen gemacht, wenn er erfahren hätte, dass Craig die Gesellschaft eines Dorashen genossen hatte.

„Also gut, ich muss dann mal los“, rief Tyra und wandte sich um. „Es ist schon viel zu spät.“

„Gehst du etwa in die Düstermarsch?“, fragte Craig überrascht und sofort schlug sein Herz schneller.

Tyra blieb stehen und blickte sich verstohlen um, als ob sie etwas Verbotenes täte. „Ist das so offensichtlich?“, wunderte sie sich. „Ich will mich dort draußen mal ein wenig umsehen.“

Craig scharrte unruhig mit den Füßen. „Hättest du was dagegen, wenn ich dich begleite?“, fragte er nervös.

Tyra musterte ihn von oben bis unten und der Waisenjunge zuckte zusammen, als er sah, wie sie skeptisch eine Augenbraue hob. „Ich hoffe, dein Schwert ist nicht nur Dekoration“, murmelte sie und wirkte nicht besonders begeistert, doch dann zuckte sie mit den Schultern. „Meinetwegen kannst du mitkommen. Aber steh mir nicht im Weg rum, verstanden?“

Craigs Herz machte vor Begeisterung einen Satz. Von Tyra konnte er bestimmt eine Menge über das Leben als Abenteurer lernen. Er musste einen Jubelschrei unterdrücken und fühlte sich auf einmal federleicht. Die Sorgen um Hiob und Vance waren auf einmal wie weggeblasen und seine Schritte waren lang und beschwingt, als er Tyra zur Stadtmauer folgte.

Die beiden Wachen am Tor machten ihnen nur widerwillig den Weg frei. „Viel Glück!“, rief ihnen einer der Soldaten zu. „Ihr werdet es brauchen.“

Tyra quittierte die Worte des Wächters nur mit einem höhnischen Lächeln. Offenbar ließ man Zivilisten nicht gerne passieren und Craig musste zugeben, dass das aufgrund der Tatsache, dass vor der Stadt immer wieder Leute spurlos verschwanden, durchaus nachvollziehbar war. Er selbst verspürte angesichts einer möglichen Herausforderung ein ekstatisches Kribbeln.

Die mächtigen Bäume der Düstermarsch wuchsen keinen Steinwurf von den Toren Eydars entfernt in den Himmel. Der Wind trug den würzigen Geruch von vermoderndem Holz an Craigs Nase und das Surren zahlloser Insekten an sein Ohr. Er spürte, wie der Sumpf nach ihm rief und er wollte ihn nicht länger warten lassen. Staunend folgte er Tyra und das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker, doch als er die ersten Bäume erreichte, hatte er augenblicklich den Eindruck, dass die Welt um ihn herum einige Nuancen dunkler wurde, und das beschwingende Gefühl der Vorfreude wurde unter dem dichten Blätterdach sofort erstickt.

Die Luft in der Düstermarsch war feucht und dick. Craig kam es zunächst so vor, als würde er gegen eine unsichtbare Mauer aus Watte ankämpfen müssen. Auf einmal wirkte auch Tyra angespannt. Craig sah selbst durch ihre Lederrüstung, wie sie die Schultern straffte.

„Du kommst aus Isenheim, nicht wahr?“, fragte er und versuchte damit, die bedrückende Atmosphäre zu vertreiben.

Tyras brauner Schopf wippte zur Antwort auf und nieder.

„Wie lange bist du schon fort aus deiner Heimat?“, erkundigte sich Craig weiter.

„Weiß ich nicht genau“, gab Tyra zurück. „Ich schätze, es dürften inzwischen vier oder fünf Jahre sein.“

Craig blieb die Spucke weg. Sie musste jünger gewesen sein als er, als sie ihre Heimat verlassen hat. „Da warst du ja noch ein Kind!“, entfuhr es ihm und er konnte seinen Respekt nur schwer verbergen.

„Ansichtssache“, brummte Tyra. „Für euch Milchtrinker aus dem Süden mag man in dem Alter noch ein Kind sein, aber bei uns im Norden sieht das anders aus. Dort gilt man mit zwölf Jahren als erwachsen und muss selbst zusehen, wie man über die Runden kommt.“

Craig kratzte sich nachdenklich an dem Narbengewebe an seiner Wange. Gäa schien eine ganze Menge Kinder hervorzubringen, die einen Großteil ihres Lebens ohne richtige Eltern verbringen mussten. Er hatte sich immer als Einzelfall gefühlt, als tragischen Waisenjungen, der sein hartes Los wacker ertrug. Aber kaum hatte er seine Heimat verlassen, musste er feststellen, dass es viele Leute gab, die ein schwereres Schicksal zu erdulden hatten. Zum Beispiel Vance. Oder Tyra. Obwohl sie nicht besonders unglücklich wirkte.

„Und wie bist du über die Runden gekommen?“, fragte er. Seine Stimme klang krächzend und er spürte, wie ihm das Atmen bei jedem Schritt schwerer fiel.

„Ich war die Gesellin eines Gerbers“, antwortete Tyra. „Dabei habe ich viel gelernt. Meine Rüstung habe ich persönlich hergestellt.“ In ihrer Stimme klang Stolz. Craig konnte ihr das nicht verübeln. Er stellte sich vor, wie die Abenteurerin die Wölfe, deren Schädel nun ihre Schultern zierten, selbst erlegt hatte.

Craig wollte der jungen Frau weitere Fragen stellen, doch er bemerkte, dass er sich seinen Atem besser sparen sollte. Inzwischen schwitzte er am ganzen Körper. Die unangenehme Wärme drückte auf seinen Schädel und verursachte hämmernde Kopfschmerzen. Tyra schien es nicht viel besser zu gehen. Unter ihrer fellbesetzten Rüstung musste sich ihr Körper anfühlen, wie in einem Backofen.

Sie waren noch nicht weit gekommen, da mussten sie bereits eine erste Pause einlegen. Craig war froh, dass der Vorschlag zur Rast von Tyra kam. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte ihr offenbar mehr zu schaffen, als ihr Stolz es zugeben wollte. Sie war im hohen Norden geboren und aufgewachsen, wo fast das ganze Jahr über Eis und Kälte herrschten und war die warmen Bedingungen in Shalaine nicht gewohnt. Dieses Klima musste für sie vollkommen unverträglich sein, wenn die drückende Hitze sogar Craig, der in den warmen Gefilden des Binnenmeeres aufgewachsen war, zu schaffen machte. Die Abenteurerin nahm auf einem Baumstumpf Platz und nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche. Ihr braunes Haar klebte feucht an der vor Schweißperlen glänzenden Stirn.

Auch Craig trank gierig und stöhnte erschöpft. Der schwere Geruch des vor sich hin rottenden Holzes schien seine Sinne zu betäuben. Er nahm sich die Zeit, um seine Atmung an die dicke, warme Luft der Düstermarsch zu gewöhnen, als Tyra plötzlich aufstand und anfing, sich aus ihrer Rüstung zu schälen.

Craig verschluckte sich fast an dem Wasser, das er gerade trank. Die Abenteurerin nahm ihren Waffenrock aus Pelz ab und legte ihn sorgfältig auf den Baumstumpf. Auch ihren ledernen Brustpanzer zog sie aus und zuletzt streifte sie sich die schweißgetränkte Tunika über den Kopf. Kurz blieb sie wie versteinert stehen und atmete tief ein, ehe sie ihre Rüstung und den Waffenrock wieder anlegte. Die völlig durchnässte Tunika band sie an ihrem Gürtel fest.

„Was glotzt du denn so?“, brummte sie missgestimmt, als sie bemerkte, dass Craig sie anstarrte. „Unter der Rüstung gehe ich ohnehin schon ein, da brauche ich nicht auch noch einen Unterrock. Und ich will bestimmt nicht auf Schutz verzichten.“

Craig hoffte, dass Tyra nicht auffiel, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Zum Glück waren seine verbrannten Wangen von der Hitze und durch den ganzen Schweiß ohnehin schon gerötet.

Tyras Arme waren nun frei und konnten einen Teil der überschüssigen Körperwärme abgeben. Sie sah direkt weniger erschöpft aus, auch wenn das grobe Leder ihres Brustpanzers, den sie nun auf ihrem nackten Torso trug, unangenehm an der Haut scheuern musste. Aber das war allemal besser, als bei lebendigem Leibe gedünstet zu werden.

Craig erhob sich und stellte erleichtert fest, dass seine Kopfschmerzen allmählich nachließen. Die Trinkpause hatte ihren Zweck erfüllt und offenbar gewöhnte sich sein Körper langsam an die hohe Luftfeuchtigkeit. Als er Tyra folgte, als sie ihren Weg fortsetzte, kam er viel besser voran, als vor seiner Verschnaufpause. Auch in den Schritten der Abenteurerin lag wieder deutlich mehr Kraft.

Das Blätterdach der Düstermarsch war so dicht, dass es das Tageslicht beinahe vollständig abschirmte. Nur stellenweise brach die Sonne durch die Baumwipfel und sandte ihre Strahlen, in denen unzählige Staubpartikel tanzten, hinab zum schlammigen Waldboden. Tyra suchte sich einen Weg durch das Labyrinth aus Tümpeln und Craig folgte ihr vorsichtig, wobei er genau darauf achtete, keinen falschen Schritt zu machen. Falls es hier jemals eine ausgebaute Straße gegeben hatte, waren ihre Pflastersteine längst im Morast des Marschlandes versunken.

Die Bewohner der Düstermarsch waren nicht zu sehen, doch von überallher erschallte das Zirpen von Insekten und das Zwitschern von Vögeln. Bisweilen durchschnitt ein schauerliches, aber weit entferntes Heulen die schwere Luft der Sümpfe. Tyra blieb wachsam und hielt mit einer Hand den Griff eines ihrer Messer umklammert. Im Zwielicht des Waldes wirkte jeder Schatten wie eine Bedrohung und jedes verdächtige Geräusch ließ Craig aufhorchen. Seine Abenteuerlust war ungebrochen, doch inzwischen hatte sich ein beklemmendes Gefühl eingestellt. Er verstand immer besser, weshalb die Bewohner von Eydar dieses Gebiet mieden wie die Pest.

Tyra suchte unentwegt nach Hinweisen auf die verschwundenen Leute, doch sie fand nichts Nützliches. An einigen Stellen war der Schlamm von zahlreichen Stiefeln zertreten, doch die Fußabdrücke verloren sich alle in den Tümpeln des Sumpfes. Nach mehreren Stunden war sie immer noch keinen Schritt weiter.

Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie zog ihr Schwert ein Stück aus dem Gürtel und lauschte in den Wald, als hätte sie das Gefühl, dass ihnen jemand folgte. Craig konnte regelrecht sehen, wie sie die Ohren spitzte, und er hielt die Luft an.

„Was ist los?“, flüsterte er atemlos.

Tyra regte sich eine ganze Weile nicht. Regungslos wie einer der riesigen Bäume, die sie umgaben, stand sie da und hielt ihre Klinge bereit. Dann, nach einer Zeit, die Craig schier endlos vorkam, entspannte sich ihre Körperhaltung und sie schob ihr Schwert zurück in den Gürtel.

„Ich dachte, ich hätte etwas gehört“, murmelte sie und seufzte dann resigniert. „War wohl Einbildung. Diese Hitze macht mich noch ganz wahnsinnig. Lass uns eine Pause machen und dann nach Eydar zurückkehren. Hier kommen wir nicht weiter.“

Craig nahm das Angebot dankbar an. Seufzend lehnte er sich an den moosbewachsenen Stamm eines mächtigen Baumriesen, von dessen Ästen Lianen herabhingen, die so dick wie seine Arme waren. Mit dem Handrücken wischte er sich über die schweißnasse Stirn und öffnete seine Feldflasche. In der schwülen Hitze der Düstermarsch war sein Wasserverbrauch deutlich höher, als er erwartet hatte. Prüfend schüttelte er die Flasche und zog eine Grimasse. Seine Vorräte gingen sogar noch schneller zur Neige, als auf dem Binnenmeer. Viel war nicht mehr übrig. Die Entscheidung, nach Eydar zurückzukehren, kam keine Sekunde zu früh.

Bei aller Erleichterung fand Craig es dennoch seltsam, dass er und Tyra, abgesehen von tückischen Schlammlöchern, bislang noch keinen wirklichen Hindernissen begegnet war. Sie waren weder von einem wilden Tier angegriffen, noch von Banditen überfallen worden. Irgendetwas Vergleichbares musste den Vermissten schließlich zugestoßen sein. Sie hatten sich wohl kaum in Luft aufgelöst.

Craig genehmigte sich noch einen Schluck Wasser und blickte auf den schmalen Pfad, der sich durch den Flickenteppich aus bodenlosen Schlammlöchern schlängelte. Plötzlich hörte er, wie Tyra ihr Schwert aus dem Gürtel zog. Er wirbelte herum und erstarrte auf der Stelle.

Kaum einen Steinwurf entfernt brach ein Warg aus dem toten Unterholz der Sumpfwälder. Das mächtige Raubtier war so groß wie ein Stier. Seine Vorderläufe waren deutlich kräftiger und länger, als die Hinterbeine und verliehen dem hundeartigen Ungetüm in Verbindung mit seinen muskelbepackten Schultern einen merkwürdig aufrechten Gang. Sein schlammbraunes Fell war kurz und struppig und hob sich kaum von der Umgebung ab. Hinter ihm pendelte ein buschiger Schwanz unruhig hin und her. Der Hals des Wargs war kurz, aber kräftig und aus seinem Maul, in das ein Menschenschädel passte, ragten mächtige Reißzähne, die in der Lage waren, auch dickste Knochen zu zermalmen. Von den Lefzen troff schaumiger Speichel und im Brustkorb des Untiers polterte ein bedrohliches Knurren. Die rotglühenden Augen waren klein und fast blind und das Monstrum presste seine Schnauze an den Boden, um gierig Witterung aufzunehmen. Dann hob es ruckartig den Kopf und starrte Craig und die kampfbereite Abenteurerin hungrig an. Es konnte die beiden mit seinen schlechten Augen zwar nicht richtig erkennen, doch seine feine Nase verriet ihm genau, wo sich seine Beute befand. Das Monstrum scharrte mit seinen kurzen Hinterläufen, ließ seinen Schwanz über den Boden peitschen und riss in einem markerschütternden Brüllen sein fürchterliches Maul auf.

„Nicht schon wieder“, stöhnte Craig vor Entsetzen und bewegte sich langsam und vorsichtig rückwärts, bis er auf gleicher Höhe mit Tyras Schwert stand. Seine erste Begegnung mit einem Warg war erst wenige Stunden her und er hatte sie noch längst nicht verdaut. Und diesmal war kein Meer in der Nähe, in das er sich mit einem verzweifelten Hechtsprung retten konnte.

Lexa war Craig und Tyra den ganzen Nachmittag über gefolgt, ohne dass sie es bemerkt hatten. Bragi hatte sie darüber informiert, dass die Abenteurerin aus Isenheim Wind von den Vermisstenfällen bekommen hatte und nun entschlossen war, dieses Mysterium im Alleingang aufzuklären. Ihr Kollege hatte Lexa gebeten, sich an Tyras Fersen zu heften und unbemerkt auf sie aufzupassen. Davon, dass die abenteuerlustige Frau in der Gesellschaft eines blonden Jungen unterwegs war, hatte Bragi allerdings nichts erwähnt. Zum Glück blieben Craig und Tyra die ganze Zeit über beieinander, sodass es Lexa deutlich einfacher fiel, beide gleichzeitig im Auge zu behalten.

Die Späherin der Goldenen Falken war eine Meisterin darin, sich ungesehen fortzubewegen, und in der Düstermarsch gab es mehr als genug Möglichkeiten, sich vor neugierigen Augen zu verbergen. Sie hatte sich hinter Felsen und Baumstämmen versteckt oder sich im Unterholz verborgen, während sie die beiden Abenteurer beobachtet hatte. Dabei war sie in ständiger Alarmbereitschaft gewesen, denn sie hatte fest damit gerechnet, dass Craig und Tyra die Opfer eines Angriffs oder Überfalls wurden. Doch es war nichts dergleichen geschehen. So blieb es ihr erspart, die beiden verteidigen zu müssen, doch gleichzeitig blieb das Rätsel um die verschwundenen Leute ungelöst. Die Späherin konnte zusehen, wie Tyra von Minute zu Minute immer frustrierter wurde.

Nur einmal wurde die junge Abenteurerin misstrauisch, als Lexa auf einen ausgetrockneten Farnwedel trat, der unter ihrem Stiefel knirschend zerbröselte. Es war kein lautes Geräusch, aber Tyra wurde sofort darauf aufmerksam. Wie angewurzelt blieb sie stehen, griff nach ihrem Schwert und lauschte in den Wald hinein. Lexa verfluchte innerlich den Spürsinn der Abenteurerin und hielt den Atem an, bis sich Tyras Verdacht zerstreute.

Lexa war den beiden so nah, dass sie ihr Gespräch belauschen konnte. Erleichtert hörte sie, dass sie eine kurze Pause einlegen und dann nach Eydar zurückkehren wollten. Es grenzte schon an Wahnsinn, die Düstermarsch aller Warnungen zum Trotz zu betreten, aber auch noch die Nacht in den Sumpfwäldern verbringen zu wollen, war schlichtweg lebensmüde.

Da trat plötzlich der Warg aus dem Unterholz trat und Lexa riss erschrocken die Augen auf. Sie wusste genau, dass die hundeartigen Monster die mit Abstand gefährlichsten Raubtiere in der Düstermarsch waren. Die Späherin verfluchte sich innerlich dafür, dass sie nur auf Craig und Tyra geachtet hatte, ohne sich nach Gefahren umzusehen. Doch die vergangenen Stunden waren derart ereignislos verlaufen, dass Lexa nachlässig geworden war. Sie zögerte, doch als der Warg schließlich zum Sprung ansetzte, verließ sie ihre Deckung, zog ihr Kurzschwert und lief los, um den beiden Abenteurern zu Hilfe zu eilen.
 

Craigs Gesicht wurde aschfahl und plötzlich wurde ihm schmerzlich bewusst, was Hiob und Preman damit gemeint hatten, als sie davon gesprochen hatten, dass ein friedliches und behütetes Leben auch seinen Reiz hatte. Nicht ein einziges Mal war er auf Notting einem wilden Tier begegnet, das ihm ans Leder wollte, abgesehen von ein paar jungen Bluthechten, die versucht hatten, in seine Zehen zu beißen, wenn er seine Füße ins Wasser gehalten hatte, um zu entspannen. Und nun war er noch nicht einmal einen Tag in einem fremden Land und begegnete schon zum dritten Mal einer Bestie, die offenbar Heißhunger auf Menschenfleisch hatte. Die ersten beiden Male hatte er Glück gehabt, aber jetzt war Knack viel zu weit weg, um zu wittern, dass Craig in der Klemme steckte. Vermutlich schlief er weit draußen in der Felsnische bei den Klippen und erholte sich von der anstrengenden Überquerung des Binnenmeers.

Tyra schien überhaupt keine Angst zu haben. Sie hielt ihr Schwert fest in der Hand und tastete nach einem der scharfen Messer, die sie in ihrem Schultergurt trug. Es wunderte Craig, dass sie ihren lederbespannten Schild scheinbar nicht nutzen wollte, aber der Anblick ihrer Klinge erinnerte den Waisenjungen daran, dass er auch nicht unbewaffnet war. Er zog sein Schwert aus dem Gürtel und hielt es fest in beiden Händen. Seine Arme zitterten so sehr, dass er bezweifelte, seine Waffe sinnvoll einsetzen zu können. Er musste sich schon sehr konzentrieren, sie nicht aus seinen verschwitzten Fingern rutschen zu lassen.

Dann passierte plötzlich so viel gleichzeitig, dass Craig überhaupt nicht mehr wusste, wie ihm geschah. Der Warg duckte sich knurrend zum Sprung und ging mit einem gewaltigen Satz auf Tyra los. Hinter Craig raschelte es und obwohl er vor Angst fast wie gelähmt war, wirbelte er herum und sah, wie eine dunkelhäutige Frau, deren Gesicht im Schatten einer weiten Kapuze lag, mit blankem Schwert aus dem Dickicht brach. Noch bevor er herausfinden konnte, ob die Frau auf ihrer Seite stand oder ein weiterer Feind war, stieß ihn Tyra heftig zur Seite. Das Schwert glitt ihm aus den Händen und flog im hohen Bogen in einen Tümpel. Craig verlor das Gleichgewicht, purzelte eine Böschung hinunter und fiel bäuchlings in das gleiche, stinkende Schlammloch, in dem schon sein Schwert gelandet war. Panisch hob er den Kopf und starrte hinauf zu dem Pfad durch den Sumpf, auf dem sich Tyra dem Warg unerschrocken entgegenstellte.

Die Abenteurerin aus Isenheim schien die fremde Frau, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, durchaus zu bemerken, aber sie ignorierte sie einfach und konzentrierte sich auf ihren Gegner. Der Warg sprang zähnefletschend auf sie zu und Tyra reagierte blitzschnell. Mit einem flinken Ausfallschritt entging sie den zuschnappenden Kiefern des Raubtiers und schlug mit seinem Schwert nach dem kurzen, wuchtigen Hals des Untiers. Der Warg jaulte auf, als ihn die Klinge aufschlitzte, und wollte sich unbeholfen um die eigene Achse drehen, um Tyra erneut anzugreifen. Doch die junge Abenteurerin ließ es gar nicht so weit kommen. Sie stieß dem riesigen Wolf das Messer zwischen die Rippen und der ganze Körper des Monsters erzitterte. Heulend vor Wut und Schmerz warf der Warg seinen Kopf herum und riss geifernd sein Maul auf. Tyra zückte reaktionsschnell ein zweites Messer. Ohne Rücksicht auf Verluste rammte sie es der Bestie mitten in den Rachen und bohrte es geradewegs ins Gaumendach. Der Warg konnte nicht einmal mehr zuschnappen. Er erstarrte sofort in seiner Bewegung, ehe seine roten Augen brachen und sein Körper erschlaffte. Das Ungetüm kippte leblos zur Seite und landete im Schlamm.

Tyra zog mit einem Ruck ihre beiden Messer aus der Flanke und dem Rachen des Kadavers. Sie wischte ihre Klingen am borstigen Fell des Wargs blank. Dann steckte sie die Waffen zurück in den Lederriemen und seinen Gürtel. Unbeeindruckt klopfte sie sich die behandschuhten Hände ab, drehte sich mit finsterem Gesichtsausdruck zu der fremden Frau um, die wie angewurzelt stehengeblieben war, und musterte sie misstrauisch.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie barsch.

„Das würde mich auch interessieren!“, meldete sich Craig zu Wort und kämpfte sich fluchend aus dem Tümpel. Sein Schwert zog er hinter sich her und die sonst so glänzende Klinge, war über und über mit Schlamm bedeckt. Craig selbst sah nicht viel besser aus und er stank wie eine Kloake. Als er es endlich zurück auf den Pfad geschafft hatte, warf er einen ungläubigen Blick auf den Kadaver des Wargs. Er hatte schon damit gerechnet, das Tyra einiges auf dem Kasten hatte, aber dass sie es mit einer solchen Bestie aufnehmen konnte, hatte er ihr nicht zugetraut. Sie hatte mehr als eindeutig bewiesen, dass sie kämpfen konnte.

Die fremde Frau schien ähnlich überrascht zu sein. Sie steckte ihr Kurzschwert zurück in die Scheide und streifte sich ihre Kapuze aus dem Gesicht. Darunter kam pechschwarzes, gescheiteltes Haar zum Vorschein.

„Sieht so aus, als hätte mein Versteckspiel ein Ende“, seufzte sie. „Mein Name ist Lexa.“

„Dann habe ich mir das vorhin doch nicht nur eingebildet“, stellte Tyra angesäuert fest. „Seid Ihr uns etwa den ganzen Weg von Eydar aus gefolgt?“

Craig starrte Lexa überrascht an, als diese langsam nickte. Sie musste eine wahre Meisterin darin sein, sich ungesehen fortzubewegen. Er hatte nicht bemerkt, dass sich jemand an ihre Fersen geheftet hatte.

„Und was soll das Ganze?“, wollte Tyra misstrauisch wissen. „Haben Euch Bragi und Rhist auf mich angesetzt? Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen!“

Lexa schluckte. Craig erkannte an ihrem Gesichtsausdruck sofort, dass Tyra mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. Sie trug nicht die Rüstung der Armee, sondern einen schlichten Lederbrustpanzer, an den eine weite Kapuze aus schwerem Stoff angenäht war. Wenn sie also keine Soldatin war, gehörte sie vermutlich dem Geheimdienst des Kaisers an.

„Gehört Ihr etwa auch zu diesen Goldenen Falken?“, fragte Craig verblüfft.

„Wir haben dasselbe Ziel“, sagte Lexa, ohne seine oder Tyras Frage zu beantworten. „Aber es ist sinnlos. Ich suche schon nach den Vermissten, seit die erste Person in der Düstermarsch verschwunden ist. Und bislang habe ich nicht einmal den kleinsten Hinweis entdeckt.“

„Dann habt Ihr Euch wohl nicht ausreichend angestrengt“, entgegnete Tyra kühl.

„Redet keinen Blödsinn. Ihr seid doch selbst noch keinen einzigen Schritt weitergekommen.“

Tyra knurrte verärgert. Lexa hatte ihren Stolz empfindlich getroffen, indem sie die ernüchternde Wahrheit ausgesprochen hatte. „Ich werde trotzdem nicht aufgeben“, zischte sie trotzig, aber nicht besonders überzeugend.

„Wenn Ihr unbedingt helfen wollt, dann verbündet Euch mit den Soldaten. Alleine ist es viel zu gefährlich“, rief Lexa, doch Tyra wollte davon nichts wissen.

„Ich will niemandem helfen“, erwiderte sie grimmig. „Ich bin nur auf der Suche nach Herausforderungen.“ Er deutete mit dem Daumen auf den Kadaver des Wargs. „Aber wenn diese zu groß geratenen Wölfe das einzige sind, was dieser Sumpf zu bieten hat, dann bin ich hier wohl doch falsch. Vielleicht sind diese Biester des Rätsels Lösung. Bestimmt haben sie die vermissten Leute angegriffen, getötet und mit Haut und Haaren verschlungen.“

„Glaubt, was Ihr wollt“, sagte Lexa und wandte sich ab. „Auf alle Fälle solltet Ihr besser nach Eydar zurückkehren, bevor die Nacht hereinbricht. Im Dunkeln findet Ihr nie und nimmer den Weg aus den Wäldern.“

Tyra verschränkte verstimmt die Arme vor der Brust. Mit einem Blick auf ihre Feldflasche, deren Inhalt sich dem Ende neigte, schien sie mit einem resignierten Seufzen doch zu dem Entschluss zu kommen, Lexas Ratschlag zu befolgen. Craig war das nur recht. So ungern er es auch zugab, die Sumpfwälder waren ihm unheimlich. Und seine Bewohner schienen nicht besonders freundlich zu sein. Er warf einen kurzen Blick auf den Kadaver des Wargs. Der Geruch des Todes hatte inzwischen weitere Bewohner der Sumpfhöhen angelockt. Die ersten Raben hüpften auf dem leblosen Körper des Ungetüms herum und pickten mit ihren scharfen Schnäbeln kleine Fleischhäppchen von den Knochen.

„Das war wirklich fantastisch!“, rief er beeindruckt.

„Kinderspiel“, erwiderte Tyra achselzuckend, als hätte sie nichts Besonderes geleistet. „Das Vieh war vielleicht groß und fett, aber die Eiswölfe, mit denen wir es in Isenheim ständig zu tun haben, sind wesentlich zäher.“

Die junge Abenteurerin imponierte Craig immer mehr. Vor allem bewunderte er, wie geschickt sie ihr Schwert geschwungen hatte. Ihre Waffe war bestimmt nicht viel leichter, als seine eigene Klinge, doch sie hatte sie locker in einer Hand gehalten, während Craig sich selbst mit beiden Händen noch abmühen musste, um einen vernünftigen Schwertstreich ausführen zu können. Dabei wirkte Tyra mit ihrem schlanken Körper und den drahtigen Gliedmaßen nicht einmal besonders kräftig.

Das Dickicht ringsum fing an zu rascheln. Farnwedel und Zweige knickten unter den Bewegungen zahlreicher Riesenratten, die das Blut des toten Wargs gewittert hatten. Ihre roten Augen leuchteten deutlich in den Schatten der Büsche und Sträucher. Die ersten Biester wagten sich aus ihrer Deckung und näherten sich vorsichtig dem Kadaver, wobei sie gehässig in Craigs und Tyras Richtung zischten. Der Waisenjunge verzog beim Anblick der räudigen Aasfresser angewidert das Gesicht.

„Lass uns von hier verschwinden“, schlug Tyra grimmig vor. „Bevor uns diese ekligen Mistviecher noch zu nahe kommen. Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Krankheiten die mit sich rumschleppen.“

„Ausgezeichnete Idee“, stimmte Craig erleichtert zu und heftete sich eiligst an Lexas Fersen, die bereits zwischen den Farnwedeln verschwunden war.

Zusammen mit Tyra holte er die Späherin der Goldenen Falken rasch ein, obwohl sie keine sichtbaren Anstalten machte, auf die beiden Abenteurer zu warten. Kaum war Lexa vor ihren Augen wieder aufgetaucht, da drosselte Tyra auch schon wieder ihr Tempo und Craig passte sich ihrer Geschwindigkeit an. Während des gesamten Rückwegs nach Eydar blieben die beiden auf Abstand, aber stets in Sichtweite. Lexa drehte sich ihrerseits nicht einmal zu ihren unfreiwilligen Begleitern um. Keiner sprach ein Wort. Schweigend und zielgerichtet suchten sie sich ihren Weg durch die Sümpfe. Nur ab und zu stieß Tyra einen gedämpften Fluch aus, wenn sie in ein Schlammloch trat oder mit dem Stiefel in einer Dornenranke hängenblieb. Jedes Mal riss sie sich wütend los und hackte mit ihrem Schwert auf Schlingpflanzen und Sträucher ein, die ihr den Weg versperrten. Das leise Schmatzen ihrer Schritte im Schlamm begleitete sie eine ganze Weile, bis die Nacht hereinbrach. Dann stimmten die Zikaden im Unterholz ein ohrenbetäubendes Konzert an, das alle anderen Geräusche der Sumpfwälder überdeckte. Es wurde dunkler und kühler unter den Baumkronen, doch die Luft war noch immer schwer von Feuchtigkeit. Craig war schwindelig und bei jedem Schritt zitterten seine Beine. Sein Kopf schien zu explodieren und das schrille Zirpen und Surren der Insekten, das ihm in den Ohren klang, besserte seinen elenden Zustand nicht im Geringsten. Jeder Muskel tat ihm weh und der Schweiß fühlte sich für ihn inzwischen an wie eine zweite Haut.

Endlich, nach einer Zeit, die Craig schier endlos vorkam, erreichten sie zu dritt den Waldrand. Der Waisenjunge mobilisierte seine letzten Kräfte und kämpfte sich japsend an Tyra und Lexa vorbei. Als er zwischen den Bäumen hervortrat, umfing ihn die Nacht mit angenehmer Kühle und dem silbernen Licht der drei Monde, die bereits hoch am dunklen Himmel standen. Er entdeckte das Stadttor, seufzte erleichtert und füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug gierig mit frischer Luft, die nicht so dick und drückend war, dass er das Gefühl hatte, von ihr erstickt zu werden. Sofort ging es ihm wieder ein bisschen besser und die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen, aber die Schwäche steckte ihm noch immer in den Gliedern.

Tyra fluchte leise und durchtrennte mit ihrem Schwert eine Liane, die sich auf Bauchhöhe von einem Baum zum anderen quer über den Weg spannte. Ihre Beine waren bis zu den Knien mit Schlamm bedeckt und sie sah abgekämpft aus, aber lange nicht so erschöpft wie Craig. Der Waisenjunge konnte kaum noch aufrecht gehen.

Am Tor hielten noch immer die gleichen Soldaten Wache, denen sie bereits begegnet waren, als sie Eydar gegen Mittag verlassen hatten. Als sie die beiden Wanderer und Lexa in ihrer Begleitung erkannten, kam sofort Bewegung in sie. Craig konnte hören, wie sie sich aufgeregt unterhielten. Dann ließen sie das Tor öffnen und die eisenbeschlagenen Flügel schwangen unter lautem Knarzen auf.

"Habt Ihr heute wieder Heilkäuter gefunden, Lexa?", fragte einer der Soldaten. Craig, der sich dankbar auf die Stadtmauer zuschleppte, wunderte sich, dass er offenbar nicht wusste, dass die Frau zum Orden der Goldenen Falken gehörte.

"Diesmal nicht“, antwortete die Späherin und deutete mit dem Daumen hinter sich. "Dafür bin ich auf diese beiden wagemutigen Abenteurer gestoßen."

Tyra durchquerte das Tor mit beschwingten Schritten. „Und ich habe kein Glück gebraucht!“, zischte sie den Soldaten triumphierend zu und klopfte im Vorbeigehen vielsagend auf den Knauf ihres Schwertes. Einer der Wachmänner murmelte etwas Unverständliches und kaum hatten Craig, Tyra und Lexa die Hafenstadt betreten, da schlossen er und sein Kollege das Tor wieder.

„Ich glaube, ich habe mir den ein oder anderen Krug Met verdient“, rief die Abenteurerin aus Isenheim und stieß Craig an. Sie lächelte zwar nicht, aber für einen Moment sah ihr Gesicht nicht grimmig aus. „Willst du dir nicht auch einen Schluck genehmigen?“

„Ich hab kein Geld“, erwiderte Craig stöhnend vor Erschöpfung. „Außerdem bin ich hundemüde.“

„Tja, dein Pech“, gab Tyra ungerührt zurück und drehte sich dorthin, wo sie Lexa vermutete. „Richtet Bragi und Rhist einen schönen Gruß von mir aus“, rief sie spottend, doch die Späherin der Goldenen Falken war spurlos verschwunden. So plötzlich sie in der Düstermarsch aufgetaucht war, so schnell hatte sie sich nun in Luft aufgelöst.

„Seltsames Weib“, brummte Tyra und schüttelte verständnislos den Kopf. Dann winkte sie Craig zum Abschied zu. „Vielleicht trifft man sich ja irgendwann doch noch bei einem Krug Met!“

Der Waisenjunge war zu müde, um zu antworten. Er hob nur wortlos und die Hand und trottete dann davon, um sich einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen.
 

Lexas Ziel war das Hauptgebäude des Außenpostens der Goldenen Falken. Meister Syndus erwartete sie bereits in seinem Amtszimmer. Adria und Aulus waren bei ihm und auch Bragi war anwesend. Syndus hatte sämtliche in Eydar stationierten Mitglieder der Goldenen Falken versammelt.

„Sie leben“, verkündete Lexa erschöpft, als sie die Kammer betrat und die erwartungsvoll angespannten Gesichter sah. Sie ließ sich müde in einen Stuhl fallen, streifte sich ihren Gürtel samt Schwert ab und hängte ihn über die Lehne. „Die beiden sind sicher nach Eydar zurückgekehrt.“

„Die beiden?“, wiederholte Bragi verblüfft. „Hatte Tyra etwa Gesellschaft?“

„Sie war in Begleitung eines blonden Jungen mit einem Gesicht voller Narben“, erklärte Lexa und strich sich mit einem Finger über die Wangen und den Nasenrücken.

„Das ist der Junge aus dem Gasthaus…“, murmelte Bragi nachdenklich.

„Doch nicht etwa dieser freche Kerl, der mir im Hafen so impertinent Widerworte geleistet hat?“, entrüstete sich Aulus.

Syndus beschwichtigte den aufgebrachten Novizen mit einer Handbewegung und wandte sich wieder Bragi zu. „Würdet Ihr mich bitte aufklären?“, forderte er ungeduldig.

„Aber selbstverständlich!“, rief der Glatzkopf hastig. „Der Junge war ein Gefährte des Mannes, den Feldwebel Praharin auf Hinweis unseres neuen Novizen festgenommen hat.“ Er deutete auf Aulus, der das Gespräch aufmerksam verfolgte und sich dabei gedankenverloren über das stoppelbärtige Kinn strich. „Nach der Verhaftung seines Freundes habe ich mich ein wenig mit ihm unterhalten, aber er hat mit keiner Silbe erwähnt, dass er vorhat, die Düstermarsch zu erforschen.“

„An einem Tag kommen drei Fremde nach Eydar und alle machen sie Ärger“, murmelte Syndus leise.

„Was diesen Abstecher in die Düstermarsch angeht, ist ja nochmal alles gutgegangen“, warf Lexa beruhigend ein. „Beide sind unversehrt, der Junge ist nur ein wenig erschöpft. Ich glaube, so schnell wird er keinen weiteren Ausflug mehr vor die Tore der Stadt unternehmen.“

„Euer Wort in Solas Ohr“, seufzte Syndus. „Das würde mir einige Sorgenfalten ersparen.“

„So ein Glück!“, rief Bragi erleichtert. „Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht, dass Tyra meinetwegen in den Tod rennt. Ich wollte sie lediglich auf die Gefahren der Düstermarsch aufmerksam machen. Wenn ich geahnt hätte, dass sie meine Warnung als Anlass nimmt, in die Sümpfe aufzubrechen, hätte ich ihr nie etwas von den Vermissten erzählt.“

„Nun, was Tyra betrifft, bin ich mir alles andere als sicher, dass wir unsere Sorgen los sind“, gab Lexa zu Bedenken. „Sie hat mir gegenüber bereits angekündigt, auch in Zukunft Streifzüge in die Düstermarsch zu unternehmen.“

Syndus runzelte argwöhnisch die Stirn. „Euch gegenüber?“, fragte er skeptisch. „Habt Ihr Euch den beiden etwa zu erkennen gegeben?“

„Es ließ sich nicht vermeiden“, erklärte Lexa sichtlich zerknirscht. „Sie wurden von einem Warg angefallen und ich wollte sie retten. Tyra ist mit der Bestie zwar alleine zurechtgekommen, aber ich habe meine Deckung verlassen. Sie haben mich natürlich entdeckt und sofort erkannt, dass ich den Goldenen Falken angehöre. Es hat Tyra gar nicht geschmeckt, dass Ihr mich auf sie angesetzt habt, Bragi.“

„Das habe ich erwartet“, brummte der Glatzkopf.

„Dann wissen die beiden also, dass Ihr für uns arbeitet“, fasste Syndus zusammen. „Das ist nicht gut, aber es ändert nichts an unserer Situation. Ihr sagtet, sie wurden von einem Warg angegriffen. Könnten diese Bestien vielleicht doch der Grund für das Verschwinden der Leute sein?“

„Das denke ich nicht“, erwiderte Lexa und schüttelte den Kopf. „Falls das der Fall wäre, hätten wir es längst bemerkt. Der Angriff eines Wargs hinterlässt deutliche Spuren. Was immer für das Verschwinden der Leute verantwortlich ist, es verwischt seine Fährten so gut, dass selbst ich noch keine Hinweise entdecken konnte. Ein wildes Tier tut so etwas nicht. Dahinter steckt etwas, das mit Intelligenz und Kalkül vorgeht.“

„Räuber?“, fragte Adria und rollte einen Federkiel zwischen ihren Fingern hin und her.

„Allmählich halte ich diese Möglichkeit für wahrscheinlich“, antwortete Lexa und verzog verzweifelt das Gesicht. „Irgendwo in der Düstermarsch müssen sie sich verstecken. Aber dieses Gebiet ist so groß und unübersichtlich, dass es Wochen dauern könnte, bis wir ihren Unterschlupf aufgestöbert haben.“

In der Kammer von Meister Syndus wurde es bedrückend still. Lexa rieb sich ihre Fußknöchel, die von ihrem Streifzug in die Düstermarsch in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Aulus saß stumm auf seinem Platz, hatte die stoppelbärtige Wange auf seine Hand gestützt und musterte die Späherin mit neugierigen Blicken. Bragi hielt sich den kahlgeschorenen Kopf und schien sich das Hirn zu zermartern. Adria kaute nervös auf ihrem Daumennagel herum und blickte hilfesuchend zu Syndus. Ihr Meister faltete nachdenklich die Hände und beugte sich in seinem Stuhl nach vorn.

„Habt Ihr einen Vorschlag, wie wir mit unserer jungen Abenteurerin verfahren sollen, Lexa?“, fragte er schließlich.

„Sie wird nicht aufgeben und es wieder versuchen, da bin ich mir sicher“, antwortete die Späherin. „Ich kann versuchen, sie weiterhin zu beschatten, aber nachdem ich mich ihr heute zu Erkennen gegeben habe, glaube ich, dass sie zukünftig noch misstrauischer und aufmerksamer sein wird, als sie es ohnehin schon war. Und dass sie sich von mir beschützen lässt, halte ich für ausgeschlossen.“

„Ich verstehe“, murmelte Syndus. „Vielleicht müssen wir tatsächlich zu drastischeren Maßnahmen greifen. Wir könnten die Tore der Stadt verschließen.“

„Ihr wollt eine Ausgangssperre verhängen?“, meldete sich Aulus verwundert zu Wort. „Ist das Euer Ernst?“

„Warum nicht?“ fragte Syndus und sah den Novizen so lange an, bis dieser verlegen die Augen niederschlug. „Wenn das der einzige Weg ist, um die Bewohner von Eydar zu schützen, sollten wir ihn möglicherweise beschreiten.“

„Ich bezweifle, dass uns das weiterhilft“, warf Lexa ein. „Es gibt zu viele Möglichkeiten, Eydar auf anderem Wege zu verlassen. Allein den Seeweg können wir unmöglich abschotten. Wenn jemand die aus der Stadt die Düstermarsch unbemerkt betreten will, dann wird es ihm auch gelingen.“

Syndus stieß ein langgezogenes Seufzen aus. „Wir sind also weiterhin machtlos und können nur auf die Vernunft der Leute hoffen, sich von den Wäldern fernzuhalten“, stellte er ernüchtert fest.

„Vielleicht ist es doch gar nicht so schlecht, wenn reisende Abenteurer auf unser Problem aufmerksam werden“, rief Aulus. „Wenn sie sich auf die Suche nach Hinweisen begeben, könnte das sehr hilfreich für uns sein. Warum lassen wir nicht einfach jeden in die Sümpfe gehen, der dieses Rätsel lösen will? Die Soldaten von Brigadegeneral Loronk gehen auf ihren Patrouillen doch viel zu laut vor. Die verjagen mit ihrem stümperhaften Auftreten jeden Räuber im Umkreis von drei Meilen. Aber diese Abenteurer kommen uns wie gerufen! Sie sind freiwillige und vor allem kostenlose Helfer und gehen noch dazu viel effizienter vor, als gewöhnliche Soldaten. Sie sind alleine und unauffällig und wenn alle von ihnen so begierig darauf sind, nach den Vermissten zu suchen, wie diese Tyra, dann werden sie die Düstermarsch in kürzester Zeit einmal vollständig umgekrempelt haben. Früher oder später werden sich schon Ergebnisse einstellen.“

„Aber bis dahin verschwinden noch mehr Leute in der Düstermarsch“, murmelte Syndus finster. „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da vorschlagt, Aulus? Ihr wollt Dutzende fahrlässig in den Tod schicken! Das kann nicht die Lösung sein. Wenn selbst Lexa keine Hinweise findet, dann werden irgendwelche dahergelaufenen Abenteurer mit Sicherheit auch scheitern.“

„Aber diese Abenteurer wollen es doch nicht anders!“, beharrte der Novize. „Sie sind doch ganz scharf darauf, den Löffel abzugeben. Warum sollen wir ihnen ihren Willen verbieten, wenn wir doch von ihnen profitieren könnten?“

Syndus sah seinen Schützling streng an. „Weil es unsere Aufgabe ist, die Bevölkerung zu beschützen“, wies er Aulus zurecht. „Und dazu gehören auch Abenteurer, so wagemutig sie auch sein mögen. Wir dürfen nicht von unseren Pflichten abweichen, auch wenn es dadurch schwerer wird, den Vermissten auf die Spur zu kommen.“

„Wir Ihr meint, Meister“, murmelte der Novize unterwürfig und deutete eine Verbeugung an.

„Verzeiht mir meine Ehrlichkeit, aber ich muss Euch widersprechen, Meister“, rief Bragi verbittert. „Wir sind nicht für die Sicherheit jedes dahergelaufenen Heißsporns zuständig. Eure Aufgabe als Befehlshaber dieses Außenpostens ist es, Eydars Zivilisten zu schützen. Und Ihr werdet ihr gerecht. Die Bevölkerung der Stadt ist sicher. Die Angst vor der Düstermarsch ist viel zu groß, keiner der Einwohner wagt sich freiwillig vor die Tore der Stadt. Von ihnen wird niemand verschwinden. Alles andere liegt nicht in Eurer Verantwortung. Es steht ohnehin nicht in unserer Macht, jeden Reisenden aufzuhalten, der die Düstermarsch durchqueren will. Also bleibt uns wohl oder übel nichts anderes übrig, als auf diese Abenteurer zu vertrauen. Alles, was wir noch tun können, ist jeden ausdrücklich vor den unbekannten Gefahren zu warnen, die in diesem Gebiet lauern. Sollte das nicht abschreckend genug sein, liegt es nicht länger in unserer Verantwortung, wenn weiterhin abenteuerlustige Hitzköpfe blindlings in ihr Verderben rennen.“

Syndus war anzusehen, dass ihn Bragis ehrliche Worte hart trafen. Der Meister des Außenpostens wusste genau, dass der glatzköpfige Agent die Wahrheit sagte, aber er hoffte noch immer, dass er dem rätselhaften Verschwinden der Leute endlich beikommen konnte, ohne weitere Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Er stützte seine Stirn auf die gefalteten Hände und kniff die Augen zusammen.

„Die Bevölkerung ist sicher…“, wiederholte er Bragis Worte gedehnt. „Sicher und gefangen in einem Käfig aus Angst. Das ist doch kein angenehmes Leben.“

„Gewiss nicht“, erwiderte das kahlköpfige Ordensmitglied. „Aber immerhin ist es ein Leben. Auch wenn es letztlich die Angst ist, die Eydars Bewohner schützt. Solange wir nicht genau wissen, wer oder was dort draußen sein Unwesen treibt, sollten wir uns glücklich schätzen, dass es keiner der Bewohner wagt, die Stadt zu verlassen. Belasst es vorerst dabei.“

Syndus vergrub das Gesicht in den Händen. Bragi und die anderen Mitglieder der Goldenen Falken sahen ihn mitleidig und zugleich erwartungsvoll an. Nur Aulus konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Er schien sehr zufrieden damit zu sein, dass Bragi seinen Vorschlag verteidigt hatte, nachdem Syndus ihn zunächst so vehement abgeschmettert hatte.

Als der alte Befehlshaber schließlich seinen Kopf hob, wirkten die Falten in seinem Gesicht mit einem Mal deutlich tiefer und seine ergrauten Haare noch eine Nuance weißer. Seine Augen waren glasig und lagen unter schweren Lidern.

„Lexa“, sagte er mit rauer Stimme. „Ihr behaltet die Abenteurerin aus Isenheim weiterhin im Auge. Folgt ihr wieder in die Düstermarsch, sollte sie erneut aufbrechen. Versucht, Euch so unauffällig wie möglich zu verhalten. Und bitte passt auf Euch auf!“

„Mir wird nichts geschehen“, versicherte Lexa. „Ich gebe mein Bestes.“

„Sehr gut“, fuhr Syndus müde fort. „Ansonsten halten wir uns an Bragis Vorschlag. Jeder Reisende, der nach Eydar kommt, wird von uns oder den Soldaten eindringlich davor gewarnt, die Düstermarsch zu durchqueren.“

Craig verbrachte die Nacht unter freiem Himmel. An der Stadtmauer fand er ein trockenes, windgeschütztes Plätzchen, an dem er sein Lager aufschlug. In einem richtigen Bett hatte er seit Jahren nicht mehr geschlafen, deswegen störte es ihn im Normalfall nicht, sich mit unbequemem Untergrund arrangieren zu müssen. Doch nachdem ihm von seinem Abstecher in die Düstermarsch jeder Knochen im Leib wehtat, wünschte er sich, wenigstens auf einer Matte schlafen zu können.

Immerhin war das Gras weich und als Kissen diente ihm ein moosbewachsener Stein, auf den er seinen Kopf bettete. Die Decke, die während des Sturms auf dem Binnenmeer klatschnass geworden war, war längst wieder getrocknet und Craig schlief vor Erschöpfung fast augenblicklich ein, als er sich auf den Boden legte.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte er, dass es unangenehm kühl und feucht geworden war. Dichter Küstennebel hing über Eydar und seine Decke hatte sich langsam aber sicher mit winzigen Wasserpartikeln vollgesogen. Fröstelnd setzte sich Craig auf und stöhnte, als er das Brennen seiner Muskeln spürte. Sein Körper schien nicht bereit, ihn seinen Ausflug in den Sumpf so schnell vergessen zu lassen. Außerdem stank er noch immer nach Tod und Moder. In seiner Erschöpfung hatte er es am Vorabend nicht mehr fertiggebracht, sich zu waschen.

Mühsam stand Craig auf und packte seine Sachen zusammen. Er fühlte sich noch immer müde und schwach, aber an Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Auch das Gras, auf dem er gelegen hatte, war durch den Morgennebel feucht geworden und Craig hatte nicht vor, sich eine Erkältung einzufangen.

Er trottete zum Brunnen, der in der Mitte des Marktplatzes stand und versuchte, die Blicke der Einwohner so gut es ging zu ignorieren. Alle, die so früh morgens schon auf den Beinen waren, starrten ihn an und hielten ihn in seiner schlammbespritzten Kleidung wahrscheinlich für einen Bettler. Mit einer Winde kurbelte er einen vollen Eimer aus dem Brunnenschacht, zog seine zerschlissene und dreckige Tunika aus und warf sie ins Wasser, das sich sofort braun färbte. Dann kniete er sich auf den Boden und knetete den schmutzigen Stoff, bis er wieder einigermaßen sauber war. Anschließend wiederholte er diesen Vorgang mit seiner Hose.

Craig holte noch zwei weitere Eimer mit Wasser aus dem Brunnen. Er wusch sich die Schmutzkruste, die über Nacht getrocknet war, und die Salzränder, die sein Schweiß hinterlassen hatte, von seinem Körper und säuberte sein Schwert. Er polierte die Klinge so lange, bis sie wieder glänzte, und wog sie anschließend zufrieden in der Hand. Nun, da nicht mehr vollständig schmutzig war, fühlte er sich direkt besser. Die Leute starrten ihn allerdings noch immer an. Er war zwar wieder sauber, dafür saß er nackt bis auf die Unterhose mitten auf dem Marktplatz. Besonders unangenehm war ihm das nicht, aber er sah trotzdem zu, dass er sich schnell aus dem Staub machte.

Seine nasse Kleidung breitete er zum Trocknen auf einem großflächigen Felsen aus, doch es dauerte eine Weile, bis die wärmespendenden Strahlen der Sonne ihren Weg durch den dichten Nebel gefunden hatten. Dann ging es aber ganz schnell und Craigs Tunika und Hose waren in Windeseile wieder trocken.

In der Zwischenzeit dachte der Waisenjunge nach. Lexa hatte erwähnt, dass sie schon lange erfolglos nach den Vermissten suchte. Er hatte die Bedingungen in der Düstermarsch am eigenen Leib gespürt. Die Aufgabe der Späherin musste unglaublich anstrengend sein. Die Sümpfe wirkten so groß und unübersichtlich, dass Craig überhaupt keine Vorstellung von ihren wahren Ausmaßen hatte. Eine einzelne Person würde Ewigkeiten brauchen, um das ganze Gebiet zu durchsuchen, es sei denn, es war jemand mit übermenschlichen Kräften. Aber der einzige, auf den das zutraf, saß jetzt im Kerker.

Craigs Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Wenn die Geschichten über die Dorashen stimmten, dann hätte Vance den gesamten Sumpf in wenigen Tagen einmal vollständig umgekrempelt. Aber er besänftigte lieber sein schlechtes Gewissen, als den Einwohnern von Eydar bei der Lösung dieses Rätsels zu helfen.

Der Waisenjunge zog sich an und schulterte seinen Rucksack. Auch wenn es für Vance kein Zurück mehr gab, wollte Craig ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Er entschied sich, dem Dorashen im Kerker einen Besuch abzustatten.

Obwohl er nicht besonders gut auf die Soldaten der Armee zu sprechen war, passte er eine ihrer Patrouillen ab und erkundigte sich nach dem Weg. „Entschuldigung“, sagte er und ärgerte sich, dass er die Wachmänner so respektvoll ansprach. „Wo geht es hier zum Gefängnis?“

Die Patrouille blieb auf der Stelle stehen. Einer der Soldaten sah sich verstohlen um und Craig erkannte zu seiner Verwunderung einen Anflug von Angst auf dem Gesicht des Mannes.

„Was willst du denn da?“, fragte der Wachmann lauernd.

„Na, was wohl?“, erwiderte Craig schon deutlich weniger ehrfurchtsvoll. Er verdrehte die Augen und seine Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich will mich einbuchten lassen.“

„Vorsicht mit solchen Wünschen“, warnte der Soldat. „Die gehen hier momentan sehr schnell in Erfüllung. Und jetzt hör auf mit den Scherzen. Ich habe dir eine Frage gestellt.“

Craig hatte augenblicklich das untrügliche Gefühl, dass es besser war, den Mann nicht weiter zu reizen. Auf seltsame Art und Weise erinnerte der Soldat den Waisenjungen an ein in die Enge getriebenes Tier. „Ich will einen der Gefangenen besuchen“, murmelte er verunsichert und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Das wird doch wohl hoffentlich noch erlaubt sein.“

Er bemerkte, wie der Soldat mit seinen Kameraden nervöse Blicke tauschte. „Ich denke, das ist in Ordnung“, brummte der Wachmann und deutete auf das große Gebäude mit den Bannern des Kaisers. „Du findest den Kerker im Haupthaus des Ordens. Betritt es durch den Haupteingang und halte dich einfach rechts, dann kannst du den Gefängnistrakt nicht verfehlen.“

„Danke für den Hinweis“, nuschelte Craig undeutlich.

„Schon gut“, erwiderte der Soldat und drehte sich zu seinen Kameraden um. „Sieh einfach zu, dass du keinen Ärger machst!“

Als die Patrouille ihren Kontrollgang fortsetzte, zögerte Craig nicht länger und lief auf den imposanten Gebäudekomplex zu. Hohe Mauern umgaben das Grundstück und das Tor wurde von zwei Soldaten bewacht, die sofort ihre Speere senkten, als der Waisenjunge näherkam.

„Wo soll es denn hingehen?“, fragte der eine spitz. Er wirkte deutlich wichtigtuerischer als die Wachleute der Patrouille.

„Ins Gefängnis“, antwortete Craig und ließ die Speerspitzen nicht aus den Augen.

Der Wächter schürzte verächtlich die Lippen. „Dann kannst du meinetwegen passieren“, brummte er und hob seine Waffe. Sein Kamerad tat es ihm gleich und machte Craig den Weg frei. „Aber lass dich bloß nicht dabei erwischen, wie du in einem anderen Teil des Gebäudes herumschleichst! Und wenn du die Waffe da ziehst, bist du tot!“ Er deutete mit seinem Speer auf Craigs Schwert.

Der Waisenjunge hob die Augenbrauen angesichts der Aggressivität, die ihm entgegenschlug. Der Soldat schob den Unterkiefer vor und trat zur Seite. „Der Kerker befindet sich auf der rechten Seite“, sagte er mürrisch und ohne Craig anzusehen.

„Ich weiß“, antwortete der Junge hastig und schlüpfte zwischen den beiden Wachmännern hindurch, ehe sie noch weitere Drohungen äußern konnten. Er passierte das Tor in der hohen Mauer und steuerte direkt auf die Eingangstür zu. Im Gegensatz zu dem mächtigen Tor in der Mauer wirkte sie klein und unscheinbar und das Holz, aus dem sie bestand, war feucht und von Algen und Moos bewachsen. Zwischen den mächtigen Bannern an den hohen Außenwänden wirkte sie deplatziert, doch Craig erkannte schnell, dass das ursprüngliche Gebäude deutlich kleiner und unscheinbarer gewesen war, ehe man es ausgebaut und um ein Stockwerk erweitert hatte.

Der Waisenjunge betrat das Haus und fand sich in einem schmalen, mit Holzdielen ausgelegten Gang wieder. Die Bodenleisten waren mit kunstvollen Schnitzereien verziert und an den Wänden hingen feingewebte Teppiche, die abwechselnd den Löwenkopf des Kaiserreichs und die in Flammen stehende Krone des Königshauses von Shalaine zeigten. Craig schlenderte den Gang staunend entlang, bis er sich gabelte. Den Anweisungen der Soldaten folgend wandte sich der Waisenjunge nach rechts, wo er auf eine breite, steinerne Treppe stieß, die in ein von Fackeln erleuchtetes Kellergewölbe führte. Davor versperrte eine massive Gittertür den Weg, die mit einem wuchtigen Vorhängeschloss und einer dickgliedrigen Kette gesichert war. Craig rüttelte wenig hoffnungsvoll daran und war nicht überrascht, dass sich das Gitter keinen Zentimeter rührte.

„Na, sind wir auf Stippvisite?“

Craig wollte schon wieder resigniert gehen, als von rechts plötzlich eine spöttische Stimme ertönte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges war ein kleines Fenster in die Wand eingelassen worden. In der Kammer dahinter erkannte Craig einen Mann in voller Rüstung und mit braunem, langem Haar, der gerade die gemütlich hochgelegten Füße vom Tisch nahm und aufstand. Sekunden später tauchte er in der Öffnung auf, stützte sich mit den Unterarmen auf den Fensterrahmen lächelte Craig verschmitzt an. Der Soldat wirkte freundlich, aber der Waisenjunge erinnerte sich noch gut daran, dass der Hauptmann, der Hiob auf Notting festgenommen hatte, zunächst auch nett und höflich gewirkt hatte. Dann rief er sich seine Unterhaltung mit Bragi zurück ins Gedächtnis. Die Soldaten machten nur ihre Arbeit und Craig beschloss, den Gesetzeshütern nicht mehr ganz so abweisend zu begegnen.

„Äh…also eigentlich wollte ich in den Kerker“, sagte er schließlich und deutete unsicher auf das verschlossene Gitter.

Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Na, da kommst du ohne meine Erlaubnis nicht besonders weit“, sagte er und verschwand aus dem Fenster. Dann öffnete sich direkt neben der Öffnung eine Tür und der Soldat trat in den Gang. Als er sich aufrichtete und seine Brust vorreckte, musste Craig neidlos anerkennen, dass er ein äußerst eindrucksvolles Bild abgab. „Ich bin Fähnrich Jel Sabya und der hiesige Kerkermeister. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Also, ich bin Craig“, stellte sich der Waisenjunge verunsichert vor. „Und ich will einen der Gefangenen besuchen. Man hat mir gesagt, dass ich mich bei Euch melden soll, Kerkermeister.“

„Warum so unterwürfig, Craig?“, fragte Jel schmunzelnd. „Du bittest mich um einen Besuch bei einem meiner Gäste, nicht um eine Audienz beim Kaiser.“

Craig verzog gequält das Gesicht. „So eine Audienz könnte ich auch gebrauchen“, murmelte er und dachte an Hiob, der auf Befehl des Kaisers festgenommen worden war.

„Damit kann ich leider nicht dienen“, sagte Jel sichtlich amüsiert, löste seinen Schlüsselbund vom Gürtel und ließ ihn am Verbindungsring lässig um seinen Zeigefinger rotieren. „Also gut, dann will ich dir mal meine Gasträume zeigen. Wird ohnehin Zeit, dass die Burschen ihr Frühstück bekommen.“

Er verschwand kurz in seiner Kammer. Als er zurückkam, hielt er ein großes Tablett mit ein paar Tonkrügen, Bechern und Brotlaiben in den Händen. „Halt das mal kurz“, forderte er Craig auf und hielt ihm das Speisenbrett entgegen. Der Waisenjunge nahm es ihm ab. Er zählte insgesamt drei Portionen.

Der Fähnrich sperrte das Schloss auf, löste die schwere Kette von den Gitterstäben und stieß die Tür auf. „Hereinspaziert!“, rief er vergnügt und zog Craig das Tablett aus den Händen.

Der Waisenjunge ging vorsichtig die in den Stein gehauene Kellertreppe hinab. Das Gewölbe wirkte trotz der vielen Fackeln dunkel und bedrückend. „Habt Ihr eigentlich keine Angst, dass Eure Gefangenen ausbrechen könnten?“, fragte er Jel. „Immerhin ist einer von ihnen ein Dorashen.“

„Ach, ist der Kerl etwa dein Freund?“, erwiderte der Kerkermeister überrascht. „Dann muss ich dich bitten, für dich zu behalten, dass wir hier einen Dorashen beherbergen. Ich habe die Anweisungen erhalten, mit niemandem über die Identität dieses Mannes zu sprechen.“

„Verstehe“, gab Craig zurück. „Ich halte die Klappe. Aber es ist doch so, dass er jederzeit ausbrechen könnte oder nicht?“

„So wie ich das sehe, verschwendet er keinen Gedanken an Flucht“, lachte Jel. „Aber er kann es ja gerne mal auf einen Versuch ankommen lassen. Mal sehen, wie weit er kommt. Wobei…vielleicht sollte er das doch lieber bleiben lassen. Es wäre wohl ziemlich ermüdend, ihn wieder einfangen zu müssen und ich kann nicht behaupten, dass ich besonders begierig darauf bin. Aber warum sollte ich Angst vor ihm haben? Nur weil er ein Dorashen ist? Unter dem Segen seiner Kräfte ist er auch nur ein einfacher Mensch, genau wie du und ich. Und vor meinesgleichen habe ich bestimmt keine Angst. Vertrau mir, wenn du jemals einem rasenden Berserker der wilden Barbarenstämme aus Isenheim oder einem mächtigen Krieger der Dunkelelfen gegenüberstandst, dann schreckt dich so leicht nichts mehr. Und, mal ganz unter uns, besonders beeindruckend sieht dein Kumpel nicht gerade aus.“

„Wirklich nicht“, gab Craig zu.

„Für mich ist er in erster Linie ein Gefangener“, fuhr Jel fort. „Und da mache ich keine Unterschiede, egal ob Dorashen oder nicht, Mensch oder Dunkelelf, Ork oder Zwerg. Vor den freien Dorashen habe ich auch keine Angst. Nur Respekt, weil ich weiß, wozu sie fähig sind und was sie in der Vergangenheit geleistet haben. Dein Kumpel hat noch nichts geleistet, außer einen Mann zu töten. Und jetzt suhlt er sich in seinem Selbstmitleid und verdirbt mir damit die gute Laune. Auf der anderen Seite war die Stimmung im Kerker noch nie besonders ausgelassen…woran das wohl liegt?“

Der Kerker selbst war deutlich heller, als die Steintreppe, die in die Gewölbe führte. Vance saß in einer von zwei Fackeln erleuchteten Zelle und Craig entdeckte sofort die Bettrolle, die auf dem Boden lag. Die Matte sah deutlich bequemer aus, als das Gras, auf dem er selbst die Nacht verbracht hatte. Offenbar schliefen Gefangene in Eydar komfortabler als Obdachlose.

Vance war nicht der einzige Gefangene, den Jel im Moment beherbergte. Seit Brigadegeneral Loronk unter dem Vorwand, die Bevölkerung besser schützen und den vermissten Bürgern schneller auf die Spur kommen zu wollen, hatte er die Abgaben erhöht, die jeder Bewohner der Stadt an die Armee zu entrichten hatte. Gleichzeitig ließ er jeden, der sich eines auch noch so geringen Verbrechens schuldig machte, ohne Prozess in den Kerker werfen. Zwei Bewohners Eydars hatte dieses Schicksal bereits ereilt.

In einer Zelle saß ein junger Waldelf mit blondem, geflochtenem Haar. Er hieß Farniel und war der Neffe von Aglir. Er hatte Widerstand geleistet, als man seine Steuern eintreiben wollte und war dafür verhaftet worden. Daneben war ein älterer Mann mit dunklen Ringen unter den Augen eingesperrt und gab ein Bild des Jammers ab. Sein Name war Vox und er war einer der vielen Siedler, die der Kaiserlichen Armee vor Jahren nach Eydar gefolgt waren, um sich dort niederzulassen. Er hatte schlichtweg nicht genug Geld, um seine Abgaben zahlen zu können, weswegen man ihn ebenfalls in Gewahrsam genommen hatte.

Kaum betrat Jel den Kerker, erhoben die beiden ihre Stimmen zu einem nervtötenden Geplärre. Während Vox jammerte und unter Tränen um Mitleid flehte, beschwerte sich Farniel lautstark und drohte damit, dass sein Onkel Aglir seine Beziehungen spielen lassen und die Verantwortlichen für die Festnahme seines Neffen zur Rechenschaft ziehen würde. Jel gab sich alle Mühe, die beiden Gefangenen zu ignorieren.

Auch wenn Craig das Geheule kaum ertrug, konnte er Farniel und Vox in gewisser Hinsicht verstehen. Er selbst war erst in Eydar angekommen und hatte sich noch kein wirkliches Bild von der Stadt machen können, aber sein erster Eindruck war nicht besonders gut gewesen. Der Brigadegeneral hielt die Fäden in der Hand und griff knallhart durch, wenn jemand nicht nach seinen Regeln spielte. Craig konnte sich gut vorstellen, dass man Farniel und Vox wegen Lappalien eingesperrt hatte, weshalb er nachvollziehen konnte, dass sie sich ungerecht behandelt fühlten.

Die beiden Gefangenen stellten ihr Gejammer ein, als ihnen Jel ihr Frühstück durch die Gitterstäbe reichte. Sie stürzten sich mit Heißhunger auf ihre Mahlzeit, während Vance den Brotlaib, den er bekommen hatte, nachdenklich in der Hand wog.

Craig setzte sich seufzend vor die Zelle. „Du siehst immer noch jämmerlich aus“, stellte er fest. Jel baute sich hinter ihm auf und beobachtete ihn argwöhnisch. „Weißt du inzwischen, was man mit dir anstellen will?“

„Der Befehlshaber hat irgendetwas davon gesagt, dass sich die Verantwortlichen in Kaboroth um mich kümmern werden“, antwortete Vance. „Vermutlich werde ich bald mit einem Schiff abgeholt.“

Craig nickte bedächtig. Wenn das der Fall war, würde er Vance nie wiedersehen. Egal ob er in einem dunklen Kerker verrottete oder direkt unters Henkersbeil kam. „Es gibt da noch etwas, was mich beschäftigt“, erklärte er gedehnt. „Es betrifft den Mann, den du umgebracht hast.“ Vance zuckte zusammen und Craig wusste, dass ihn die Erinnerungen erneut peinigten. „Wenn du ihm nicht zuvorgekommen wärst, hätte der Mann dann dich getötet?“

Der Dorashen raufte sich schmerzerfüllt die Haare. „Ich weiß es nicht“, gab er mit schwacher Stimme zu. „Er war sehr wütend. Er hat mich verletzt. Und er hat gedroht, mich zu töten. Aber ich weiß nicht, ob er wirklich bereit war, mich umzubringen. Aber es macht keinen Unterschied. Er ist tot und sein Blut klebt an meinen Händen. Ich will endlich für das büßen, was ich getan habe!“

„Selbst, wenn man dich dafür hinrichtet?“, fragte Craig und hob skeptisch die Augenbrauen.

„Das wäre dann nur gerecht“, murmelte Vance und sank in sich zusammen. „Ein Leben kann nur mit einem anderen Leben aufgewogen werden.“

„Das nehme ich dir nicht ab!“, rief Craig spöttisch. „Du redest dir nur ein, dass du bereit bist, für dein Verbrechen mit dem Tod zu büßen.“

Vance hob verbittert den Kopf. „Wie kannst du das behaupten?“, fragte er gereizt. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle.“

„Mag sein“, erwiderte Craig ungerührt. „Aber ich habe genau gesehen, wie nervös du warst, als wir auf dem Binnenmeer in den Sturm geraten sind. Da hattest du Angst, dass wir kentern und du ertrinken musst, oder willst du das etwa leugnen? Du fürchtest dich vor dem Tod. Du willst noch nicht sterben.“

Vance wich dem Blick des Waisenjungen aus. Mit den Fingern trommelte er unruhig auf seinen Knien herum. „Ich will nur nicht auf offenem Meer sterben“, verteidigte er sich halbherzig. „Dann kann ich nicht mehr für mein Verbrechen bestraft werden.“

„Das ist eine ganz faule Ausrede und das weißt du auch!“, höhnte Craig. „Du willst, dass dein Name reingewaschen wird. Schön. Aber der Tod wird deinen Namen mit Sicherheit nicht reinwaschen. Ob nun in den Fluten des Meeres oder unter der Axt des Henkers, du wirst als Mörder sterben. Wenn du deinen Namen reinwaschen willst, dann musst du aktiv etwas dafür tun. Du bist ein Dorashen und dazu bestimmt, Großes zu vollbringen. Und stattdessen sitzt du hier, gibst ein Bild des Jammers ab und ertränkst dich in Selbstmitleid. Du solltest dich schämen! Wenn du Großes vollbringst, wirst du den Leuten eines Tages nicht mehr als Mörder im Gedächtnis bleiben, sondern als Held.“

„Ein Held“, wiederholte Vance abfällig. „So ein Blödsinn. Ich bin kein Held. Ich bin ein Monster.“

Du hast einen Menschen getötet“, erwiderte Craig scharf. „Vielleicht hatte er es verdient, vielleicht auch nicht. Jetzt quält dich dein Schuldbewusstsein und du machst du dir selbst die schlimmsten Vorwürfe. Ich bin gestern drei richtigen Monstern begegnet, wilden Bestien, die mich zum Frühstück fressen konnten. Und die waren nicht dazu in der Lage, Reue zu verspüren.“

Vance schwieg. Craig konnte genau sehen, wie er nachdachte. „Du hast vorhin gesagt, dass man ein Leben nur mit einem anderen Leben aufwiegen kann“, fuhr der Waisenjunge fort und seine Augen funkelten schelmisch. „Und das stimmt auch. Aber niemand sagt, dass es dein Leben sein muss. Du kannst Leben retten, das habe ich dir schon einmal gesagt. Eine gute Tat macht einen Mord bestimmt nicht wett, aber vielleicht kann eine Vielzahl von guten Taten ein so schweres Verbrechen eines Tages aufwiegen. Du hattest hier vielleicht eine einmalige Chance, dich von deiner Schuld zu befreien, aber du hast sie einfach weggeworfen!“

Seine Worte erfüllten ihren Zweck. Nachdenklich nestelte Vance an dem Seil an seiner Hüfte herum. „Jetzt ist es zu spät“, stellte er verbittert fest und legte eine Hand an das Gitter. „Ich bin nicht länger der Herr meines eigenen Schicksals.“

„Tja, dann bleibt dir nur noch zu hoffen, dass das Schicksal noch eine zweite Chance für dich bereithält“, erwiderte Craig und stand auf. „Und wenn das so sein sollte, ergreifst du sie gefälligst beim Schopf! Ich hätte nämlich wirklich nichts dagegen, dir dein Hackebeil eines Tages wiedergeben zu können.“

Er wusste nicht, ob Vance jemals wieder die Gelegenheit bekam, sich seine Worte zu Herzen zu nehmen. Wenn ihn sein Weg in einen dunklen Kerker oder auf ein Schafott führte, waren Craigs Ratschläge vollkommen nutzlos. Aber immerhin hatte Vance eine Menge Zeit, um über seine wahren Fehler nachzudenken. Am liebsten hätte Craig ihm seine Worte eingeprügelt, aber jetzt, da es für den Dorashen kein Zurück mehr gab, schienen sie auf einmal seinen Panzer aus Selbstmitleid und Schuldgefühlen zu durchdringen.

Leider kam Vances Einsicht zu spät. Craig fragte sich, ob sein Weg anders verlaufen wäre, wenn er sich seinen Mitmenschen freiwillig als Dorashen offenbart hätte. Der Waisenjunge konnte nicht glauben, dass er damit nur auf Angst und Abneigung gestoßen wäre. Der Kerkermeister war das beste Beispiel. Er machte sich überhaupt nichts aus Vances Götterblut. Für ihn war er ein Gefangener wie jeder andere auch und noch dazu ein riesengroßer Jammerlappen.

„Das war eine beeindruckende Ansprache“, stellte Jel fest und klopfte Craig anerkennend auf die Schulter. „Das passt gar nicht zu einem Knirps wie dir.“

Der Waisenjunge blähte empört die Backen auf. Er konnte es nicht leiden, ständig wie ein Kind behandelt zu werden. Das war auf dem Festland nicht anders als in Notting. Nirgends nahm man ihn für voll.

Craig konnte seinen Zorn gerade noch in Zaum halten. So erntete Jel nur einen kurzen, wütenden Blick statt einer ausgewachsenen Hasstirade. „Ich musste mir solche altklugen Sprüche oft genug selbst anhören“, brummte er. Hiob hatte ihn mit weisen Ratschlägen und oberlehrerhaften Lektionen nie verschont und nun hatten sie offenbar auf ihn abgefärbt.

„Bist du dann fertig hier?“, fragte Jel und grinste. Augenscheinlich war ihm nicht entgangen, dass er Craig mit seinen Worten provoziert hatte.

Der Waisenjunge nickte finster und wandte sich von dem Gitter ab, hinter dem Vance gedankenverloren auf der Matte saß. In diesem Moment ertönten von der Treppe energische Schritte und das Klirren schwerer Kettenhemden. Die Geräusche hallten bedrohlich von den steinernen Wänden des Kerkers wieder und im nächsten Augenblick trat der größte Mann in den Schein der Fackeln, den Craig jemals gesehen hatte.

Es war ein riesiger Ork. Er überragte Jel, der auch nicht gerade von kleiner Statur war, um einen ganzen Kopf. Muskelbepackte Arme, so dick wie Baumstämme, verschränkten sich vor dem gewaltigen Brustkorb, der unter einer vergoldeten Plattenrüstung steckte. Auf dem Torso prangte der Löwenkopf des Kaiserhauses. Graugrüne Haut spannte sich über einen deformierten Schädel mit einem kantigen Kinn und einer von Falten zerfurchten Stirn. Schwarze Kriegszöpfe rahmten ein Gesicht, das so hart wie Stein wirkte, und aus dem linken Mundwinkel ragte ein langer Eckzahn.

Der Ork blickte sich spöttisch im Kerker um und die beiden Soldaten, die ihn begleiteten, verschwanden beinahe hinter ihm. Craig musste nicht erst den roten Umhang entdecken, der an goldenen Spangen befestigt über den breiten Schultern des Hünen hing, um zu wissen, dass er vor dem befehlshabenden Brigadegeneral stand. Das selbstsichere und herrische Auftreten erzählte mehr über den Rang dieses Mannes, als es Dutzende Orden tun konnten.

„Was macht der Zivilist hier?“

Selbst Loronks Stimme war beeindruckend. Tief und grollend rumpelte sie in seiner Brust und raubte Craig beinahe den Atem. Er fragte sich kurz, wie es ein Ork geschafft hatte, in die Generalsränge der Armee aufzusteigen, aber Loronks autoritäre Ausstrahlung beantwortete seine Frage sofort. Sogar Farniel und Vox unterbrachen in ihren Zellen erschrocken ihre Mahlzeit und hielten die Luft an.

Vance dagegen schien gar nicht mitbekommen zu haben, dass ein imposanter Neuankömmling den Kerker betreten hatte. Sein Blick ging ins Nichts und seine ausdruckslosen Augen wirkten sogar noch leerer als gewöhnlich.

Und auch Jel wirkte weniger beeindruckt, sondern vielmehr verwundert. Er salutierte vor dem General, wobei er argwöhnisch die Brauen zusammenschob. „Er ist hier, um einen der Gefangenen zu besuchen“, gab er Loronk Auskunft. „Darf ich fragen, was Ihr hier sucht, Brigadegeneral?“

Auf den wulstigen Lippen des Orks lag ein schiefes Grinsen, dessen verschlagene Wirkung durch den tückisch hervorstehenden Eckzahn noch zusätzlich verstärkt wurde. „Dürft Ihr nicht, Fähnrich“, entgegnete er schroff. „Aber Ihr dürft diesen Winzling aus meinem Dunstkreis entfernen. Ich habe eine Angelegenheit mit Euch zu klären.“

Craig konnte hören, wie Jel schluckte. „Du hast es gehört, Craig“, lachte er heiser, doch er konnte die Anspannung in seiner Stimme nicht verbergen. „Die Besuchszeit ist um.“

Der Waisenjunge nickte nur und sah dann zu, dass er wegkam. Denn er spürte instinktiv, dass dieser Ork, der den Kerker betreten hatte, ein gefährlicher Mann war.

Loronk ging im Kerker auf und ab und spähte in die Zellen. Farniel und Vox, die ihn angsterfüllt anstarrten, würdigte er nur mit abschätzigen Blicken, doch vor dem Gitter, hinter dem Vance saß, blieb der Ork grinsend stehen.

„Der sieht kräftig aus“, stellte er knurrend fest und wirkte sehr zufrieden. „Fähnrich, gebt mir die Schlüssel.“

„Was habt Ihr vor?“, erkundigte sich Jel vorsichtig, ohne jedoch Anstalten zu machen, dem Ork den geforderten Schlüsselbund auszuhändigen.

„Ich bin Euch keine Rechenschaft schuldig, Fähnrich“, erwiderte Loronk und seine Stimme klang gereizt und drohend.

Jel trat einen Schritt zurück. „Bei allem Respekt, Brigadegeneral. Ich muss wissen, was Euer Vorhaben ist. Schließlich bin ich für diesen Kerker und seine Insassen verantwortlich.“

„So?“, höhnte Loronk. „Wenn das so ist, entbinde ich Euch von dieser Verantwortung. Und jetzt gebt mir die Schlüssel!“

Loronks Stimme wurde ungeduldig und er streckte Jel auffordernd die Hand entgegen. Der Kerkermeister zögerte noch einen Augenblick. „Es wurde noch nicht entschieden, wie mit dem Gefangenen verfahren werden soll“, murmelte er halbherzig.

„Diese Entscheidung habe ich gerade getroffen“, knurrte Loronk und das Grinsen auf seinem Gesicht erstarb. „Ich habe hier das Sagen, habt Ihr das schon vergessen? Und wenn ich Euch befehle, mir die Schlüssel auszuhändigen, dann habt Ihr dieser Aufforderung umgehend Folge zu leisten! Ich sage es nicht noch einmal, Fähnrich!“

Jel musste schlucken, doch ihm blieb keine andere Wahl. Er löste den Schlüsselbund von seinem Gürtel und drückte ihn in Loronks ausgestreckte Hand. „Na also, geht doch“, brummte Loronk missgelaunt. „Und jetzt entfernt Euch!“ Jel machte ein paar Schritte zurück und sah unsicher zwischen Vance und dem Brigadegeneral hin und her. Dann salutierte er zaghaft und verließ den Kerker.

„So und nun zu uns“, knurrte Loronk und wandte sich wieder der Zelle zu. Vance hob den Kopf und sah den Brigadegeneral unverwandt an. Er beobachtete abwartend, wie der Ork nach dem richtigen Schlüssel suchte. Als er ihn gefunden hatte, steckte er ihn in das Schloss und sperrte die Gittertür auf. Mit vorgereckter Brust und hinter dem breiten Rücken verschränkten Armen trat der hünenhafte Ork in die Zelle und blickte auf den jungen Dorashen hinab, der stumm auf seiner Matte saß und angespannt darauf wartete, was als nächstes geschah.

Das Grinsen auf Loronks Gesicht kehrte zurück. „Hoch mit dir!“, befahl er. „Ich habe Arbeit für dich.“ Er gab einem der beiden Soldaten den Schlüsselbund und dieser sperrte die Zellen der anderen Gefangenen auf. Farniel und Vox wichen erschrocken von den Gittern zurück.

„Was soll das werden?“, fragte der Waldelf mit zitternder Stimme. „Wartet, bis mein Onkel davon erfährt!“

Vox dagegen brachte nur ein ersticktes Schluchzen zustande.

Loronk drehte sich um und reckte das kantige Kinn vor. Angewidert blickte er auf Farniel herab. „Ich zittere schon vor Angst“, grollte er. „Ich sorge nur dafür, dass ihr minderwertigen Unruhestifter euch endlich nützlich machen könnt. Ihr werdet alle noch früh genug herausfinden, was ich damit meine.“ Er hob den muskelbepackten Arm und deutete auf die Gefangenen. „Soldaten, fesselt diese Männer!“

Die Begleiter des Orks traten mit schweren Metallketten in die Zellen und griffen nach den Gefangenen.

„Nein!“, schrie Vox schrill. Der Alte wehrte sich gegen den Mann, der sich ihm näherte, doch der Soldat war viel stärker. In Sekundenschnell hatte er Vox zu Boden gerungen und drückte das Gesicht des Gefangenen in die Matte. Er drehte ihm die Arme in schmerzhafter Weise auf den Rücken und die Metallfesseln schlossen sich um Vox‘ Handgelenke.

Farniel leistete nur kurz Wiederstand. Als er sah, wie grob mit seinem Zellennachbarn umgesprungen wurde, hob er entwaffnend die Hände und ließ sich mit aschfahlem Gesicht fesseln.

Vance reagierte nicht auf Loronks Befehl, sondern blieb gedankenverloren auf der Matte sitzen. Der Ork hatte keine besonders strapazierfähigen Geduldsfaden, weswegen er den regungslosen Mann rüde am Oberarm packte und ihn auf die Beine zog. Als er ihm die Metallschellen anlegen wollte, ertönte eine laute Stimme.

„Was geht hier vor?“

Loronk drehte verärgert den Kopf zur Seite und sah Syndus, der mit hochgerafftem Gewand die Kerkertreppe hinuntereilte. Ihm folgten Jel, dessen Pferdeschwanz bei jedem Schritt auf und ab hüpfte, und Gancielle, dessen Gesicht zu einer Maske aus grimmiger Entschlossenheit verzogen war. Syndus‘ Kopf war rot vor Anstrengung und er war ganz außer Atem, als er direkt vor Loronk stehenblieb.

„Der alte Meister Syndus“, knurrte der Ork und warf Jel einen so finsteren Blick zu, dass der Kerkermeister erzitterte. „Gut, dass Ihr hier seid. Ich wollte mich ohnehin mit Euch unterhalten.“

„Lasst diese Leute in Frieden!“, forderte Syndus voller Empörung. Loronks Soldaten gehorchten auf der Stelle. Sie ließen von Farniel und Vox ab und traten schützend an die Seite ihres Generals, doch der Ork machte selbst keine Anstalten, Vance loszulassen.

„Ich denke gar nicht daran!“, grollte er. „Diese Männer haben ihre Abgaben nicht entrichtet und das muss bestraft werden!“

„Zu den Terramorphen mit Euren Gebühren, Loronk!“, wetterte Syndus. „Was auch immer Ihr damit bezweckt, sie sind eine Geißel für diese Stadt!“ Er deutete auf Vance und sah den Brigadegeneral anklagend an. „Und dieser Mann ist nicht Euer Gefangener! Er wird in Ganestan gesucht und dort soll ihm auch der Prozess gemacht werden. Ein Falke mit dem entsprechenden Antrag ist bereits unterwegs nach Kaboroth.“

„Interessant“, brummte Loronk und festigte seinen Griff um Vances Oberarm. „Was soll er denn Verbrochen haben?“

Syndus zögerte einen Augenblick, doch dann gab er dem General Auskunft. „Er wird beschuldigt, einen Mord begangen zu haben.“

„Er ist also ein Mörder“, murmelte Loronk nachdenklich. „Aber das tut nichts zur Sache. Ich habe noch Verwendung für ihn. Wir werden ihn nicht an die Verantwortlichen in Kaboroth ausliefern.“

„Das habt Ihr nicht zu entscheiden!“, entrüstete sich Syndus und seine Stimme überschlug sich.

„Oh doch“, entgegnete der Ork und ein höhnisches Grinsen schlich sich zurück auf seine wulstigen Lippen. „Wir sind hier auf dem Hoheitsgebiet der Dunkelelfen, habt Ihr das etwa schon vergessen? Ein Prozess in Kaboroth spielt für einen Gefangenen in Shalaine keine Rolle, bis er nach Ganestan überführt wird. Solange er hier ist, kann ich als Befehlshaber über ihn rechtsprechen! Und genau das gedenke ich auch zu tun. Das Alter scheint Euch nicht gut zu bekommen, Syndus. Ganz offensichtlich seid Ihr nicht mehr in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu treffen.“

Syndus wusste im ersten Augenblick gar nicht, was er antworten sollte, doch das erledigte Gancielle für ihn. „Was erlaubt Ihr Euch, Ihr aufgeblasener Trampel!“, fuhr er empört auf. „Brigadegeneral hin oder her, Ihr sprecht hier mit einem Meister der Goldenen Falken! Erweist ihm also ein bisschen mehr Respekt oder es wird Euch noch sehr leidtun!“

Loronk schob die Unterlippe vor und sah verächtlich auf Gancielle herab. Syndus schritt ein und hielt den wutschnaubenden Kommandanten zurück, ehe er erneut Luft holen konnte.

„Lasst es gut sein, Gancielle“, mahnte er sanft. „Ich bin sicher, Brigadegeneral Loronk hat eine plausible Erklärung für seine Vorwürfe.“

„Wie kommt Ihr dazu, Reisende, die sich auf den Weg durch die Düstermarsch begeben, von Eurer Späherin beschatten zu lassen?“, fragte der Ork grollend.

Syndus war wie vom Donner gerührt. „Woher wisst Ihr von Lexa?“, stammelte er.

„Vielleicht solltet Ihr Eurer kleinen Spionin besser einbläuen, dass sie in Zukunft ein bisschen besser darauf achten sollte, unerkannt zu bleiben.“ fuhr ihm Loronk über den Mund. „Aber dafür ist es jetzt wohl zu spät. Ich habe meine Soldaten längst über ihre Identität aufgeklärt. Es spielt auch gar keine Rolle, woher ich von Eurer Späherin weiß. Wichtig ist in diesem Fall nur meine Position. Ich bin Euch übergeordnet, Syndus. Und deshalb werdet Ihr diesen Blödsinn künftig unterlassen! Es wird keine Ausgangssperre geben und Ihr lasst alle Reisenden unbehelligt ihrer Wege ziehen!“

Syndus spürte, wie seine Knie weich wurden und fasste sich an den Kopf. Gancielle trat an seine Seite und stützte ihn. „Wir wissen nicht, was dort draußen vor sich geht“, murmelte der Alte geschwächt. „Womöglich schickt Ihr diese Leute in ihr Verderben.“

„Möglich“, erwiderte Loronk ungerührt. „Aber vielleicht löst einer von ihnen auch das Rätsel um die Vermissten und wir müssen unsere Soldaten nicht der Gefahr aussetzen, die in den Sümpfen lauert. Diese junge Abenteurerin und alle, die ihr folgen, könnten eine große Hilfe für uns sein!“

Syndus zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er Loronks Worte in etwas anderer Form schon einmal gehört hatte.

Der Brigadegeneral verzog sein Gesicht zu einem selbstgefälligen Grinsen. „Ihr betont doch selbst immer, wie sehr Euch die Bewohner und Soldaten von Eydar am Herz liegen. Und das Verschwinden der Leute bereitet Euch große Sorgen. Ich bin mit der Aufgabe betraut worden, hier nach dem Rechten zu sehen. Ich habe bereits einen meiner Männer verloren. Und ich gedenke nicht, das Leben weiterer Soldaten auf der Suche nach Gespenstern aufs Spiel zu setzen. Wir überlassen die Aufklärung dieses Rätsels künftig willigen Außenstehenden! Abenteurer wie diese junge Barbarin sind Geschenke der Götter und wir werden sie gefälligst annehmen, verstanden?“

Syndus knirschte verärgert mit den Zähnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Brigadegeneral zu gehorchen. „Verstanden“, bestätigte er trotzig. „Lexa wird die Beschattung der jungen Frau einstellen. Aber damit werdet Ihr auf Dauer nicht durchkommen.“

„Was denn?“, spottete Loronk. „Wollt Ihr mir etwa drohen? Ihr vergesst, wo Ihr hingehört, alter Mann. Ihr hatte hier die längste Zeit das Kommando.“

„Es gibt andere, die sich um Euch kümmern werden“, fuhr Syndus ungerührt fort. „Ich werde von Adria ein Schreiben aufsetzen lassen, in dem ich in Kaboroth um Eure Rückversetzung bitte.“

Für einen kurzen Augenblick wirkte Loronk verunsichert. Er antwortete nicht sofort, sondern öffnete ein paar Mal seinen Mund, ohne etwas zu sagen. Doch dann kehrte das hochmütige Grinsen auf sein Gesicht zurück. „Verstehe“, murmelte er ruhig. „Ihr erkennt, dass Ihr machtlos seid und bittet jemanden mit mehr Einfluss um Hilfe. Vermutlich haltet Ihr das für weise. In meinen Augen ist es eine Verzweiflungstat.“ Er schlug sich mit der Faust vor die gepanzerte Brust und seine Stimme wurde lauter und grollender. „Aber meine Versetzung nach Eydar hatte einen Grund! Ich soll dem ständigen Verschwinden der Leute auf den Grund gehen, dem Ihr nicht mehr gewachsen seid! Meine Aufgabe hier ist noch nicht erledigt und jeder hochrangige General in Kaboroth, der noch bei Verstand ist, wird sich davor hüten, mich zurückzubeordern. Außerdem darf ich erwarten, dass man von mir in meiner Position ebenfalls eine Stellungnahme zu Eurer Bitte verlangt. Vielleicht sollte ich in meiner Antwort erwähnen, dass ich den Verdacht hege, dass Euer Alter Eurem Urteilsvermögen nicht gut bekommt, und beantragen, dass Ihr an meiner statt nach Kaboroth versetzt werdet. Schließlich seid Ihr es, der mir bei der Aufklärung dieses Mysteriums ständig Steine in den Weg legt und sich gegen einfache und effiziente Lösungen sträubt!“

Der drohende Unterton in Loronks Stimme war nicht zu überhören. Syndus zuckte ein wenig zusammen, doch er hielt Blickkontakt mit dem Ork. „Ihr vergesst, dass Ihr noch keinerlei Fortschritte gemacht habt“, erwiderte er gelassen. „In Kaboroth wird man das nicht gerne hören.“

Das Grinsen auf Loronks Gesicht wurde noch breiter und selbstgefälliger. „Wer sagt denn, dass ich keine Fortschritte mache?“

Nun war es Syndus, der verunsichert war. Er schob die Brauen zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Wieder fehlten dem Alten die Worte und wieder war es Gancielle, der für ihn in die Bresche sprang. „Wie meint Ihr das?“, forschte er lauernd nach. Der offene Hass, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

„Oh, Kommandant Gancielle, der Stachel in meinem Fleisch“, höhnte Loronk. „Habt Ihr Euch nicht gefragt, warum ich die Abgaben an die Armee erhöhen ließ?“

Gancielle durchzuckte ein Gedanke und er ballte beide Hände zu Fäusten. Mit knirschenden Zähnen schob er Loronks Soldaten beiseite und zwängte sich an ihnen vorbei. „Das kann nicht Euer Ernst sein!“, knurrte er wütend.

Loronk verfiel in lautes Gelächter. „Warum denn nicht?“, rief er triumphierend. „Gefangene Verbrecher sind die besten Späher, die wir in die Düstermarsch schicken können. Und genau das werde ich mit diesen Unruhestiftern tun. Niemand vermisst sie und falls sie doch Erfolg haben sollten und die verschwundenen Leute finden, haben sie ihre Schuld beglichen. In dieser Situation können wir nur gewinnen.“

Farniel und Vox stöhnten auf vor Entsetzen, als ihnen bewusst wurde, was der Ork mit ihnen vorhatte.

„Ich toleriere gerade noch, dass Ihr einen Mörder in die Sümpfe schickt“, zischte Gancielle gehässig und deutete auf Farniel und Vox. „Aber das sind harmlose Bürger! Ihr schickt Unschuldige in den Tod!“

„Unschuldige?“, erwiderte Loronk kühl. „Wohl kaum. Sie konnten ihre Gebühren nicht bezahlen. Das Spitzohr hat sogar einen meiner Soldaten geschlagen.“

„Das war alles Kalkül“, japste Gancielle ungläubig. „Ihr wusstet genau, dass es Einwohner gibt, die die erhöhten Abgaben nicht bezahlen können. Ihr habt nur einen Grund gesucht, jemanden als Verbrecher einzusperren.“

„Clever, nicht wahr?“, lachte Loronk. „Das sollte doch ganz in Eurem Sinne sein, Kommandant. Verbrecher sind für die Gesellschaft entbehrlich, aber sie können ihren Wert unter Beweis stellen, indem sie die Vermissten finden. Das ist doch eine faire Chance!“

„Haltet Euer Maul!“, knirschte Gancielle und die Ader auf seiner Stirn pochte heftig. Der gesamte Körper des Kommandanten zitterte vor Wut.

„Kaboroth wird davon erfahren!“, rief Syndus, doch seine Stimme war so schwach und brüchig, dass ihr jegliche Autorität fehlte.

„Das könnt Ihr nicht tun!“, jammerte Vox. „Das wäre unser sicherer Tod!“ Tränen standen dem Mann in den Augen und er klammerte sich mit mehr Kraft an den Ork, als man ihm bei seinem Alter zugetraut hätte. Verzweifelt zerrte er am Umhang des Brigadegenerals, doch dieser stieß ihn mit einer groben Armbewegung zurück in die Zelle.

„Ihr werdet es schon überleben“, spottete er. „Und wenn ihr nicht lebend zurückkehrt, muss der Rest der Bevölkerung eben für eure ausbleibenden Gebühren aufkommen. Dadurch gibt es weitere arme Seelen, die nicht bezahlen können und der Kreislauf beginnt von Neuem. Früher oder später wird einer von ihnen Erfolg haben. Warum zieht Ihr denn so ein Gesicht, Gancielle? Mein Vorhaben ist genial! Ihr solltet mir dafür dank-!“

Weiter kam er nicht. Gancielle konnte sich nicht mehr beherrschen und schlug dem Ork mit voller Wucht die Faust ins Gesicht. Loronks Kopf wurde zur Seite geworfen, doch ansonsten wirkte der Brigadegeneral von den Folgen des Schlags unbeeindruckt. Im Gegenteil, er schien sich sogar zu freuen. Gancielle fluchte leise, als er begriff, was er getan hatte.

„Ah, na endlich“, knurrte Loronk mit hämischem Grinsen. Blut sickerte aus seiner Nase, doch das schien den Ork nicht zu stören. „Darauf habe ich gewartet. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Rhist vor Euch die Beherrschung verliert. Euer Rang hat Euch bislang davor bewahrt, für Euren ständigen Ungehorsam von mir in irgendeiner Weise belangt zu werden. Aber Gewalt gegenüber einem Vorgesetzten kann nicht toleriert werden. Das wird Euch teuer zu stehen kommen.“

„Ich kümmere mich darum!“, rief Syndus hastig und eilte herbei. „Gancielle gehört zu meinen Leuten. Ich werde ihn für dieses Vergehen bestrafen.“ Er vergaß seinen Stolz und neigte unterwürfig den Kopf vor Loronk.

Gancielle sah ihn entgeistert an. „Aber Meister…“

„Seid still!“, zischte ihm Syndus aus dem Mundwinkel zu.

Loronk überlegte einen Moment und starrte Gancielle prüfend an. „In Ordnung“, meinte er schließlich und wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht. „Aber ich werde mich persönlich davon überzeugen, dass seine Strafe angemessen ist, hört Ihr? Falls nicht wäre das nur eine weitere Bestätigung meiner Meinung über Euren Geisteszustand, Syndus.“

Die Drohung des Orks war unmissverständlich und der alte Ordensmeister nickte hastig, noch immer mit gesenktem Kopf. „Selbstverständlich, Brigadegeneral.“

Loronk machte eine abwinkende Handbewegung. „Und jetzt entfernt diesen Nichtsnutz!“, befahl er barsch. Syndus griff Gancielle augenblicklich beim Arm und zog ihn mit sich. Jel blieb kurz stehen und starrte den Ork unschlüssig an, doch dann entfernte er sich ebenfalls.
 

Kurz darauf verließ der Brigadegeneral Eydar an der Spitze eines Trupps von ein Dutzend Soldaten. In der Mitte der Patrouille befanden sich Vance, Farniel und Vox, denen mit gefesselten Händen und umringt von bewaffneten Wachleuten nichts anderes übrigblieb, als dem Ork zu folgen. Die Bewohner von Eydar beobachteten die seltsame Prozession verwundert.

Kurz vor dem Stadttor wurde der Trupp aufgehalten. Aglir hatte offenbar mitbekommen, was mit seinem Neffen geschehen sollte. Der Waldelf eilte hastig herbei und schwenkte dabei wild die Arme. Diesmal lächelte er nicht.

„Wartet!“, rief er laut. „Bitte wartet einen Augenblick!“ Die Patrouille blieb stehen und einige Soldaten griffen argwöhnisch nach ihren Schwertern.

Farniel seufzte erleichtert, als er seinen Onkel sah. „Jetzt wird es Euch leidtun, dass Ihr so mit mir umgesprungen seid!“, zischte er trotzig und funkelte Loronk böse an.

Doch der Ork zuckte nur teilnahmslos die Schultern. „Ich glaube, du überschätzt den Einfluss deines werten Onkels“, erwiderte er ungerührt und reckte Aglir die Handfläche entgegen. Der Waldelf blieb in respektvollem Abstand stehen und sah den Brigadegeneral verängstigt an.

„Ich bitte Euch, lasst meinen Neffen gehen!“, flehte er. „Ich werde seine Abgaben für ihn bezahlen!“

„Dafür ist es leider ein wenig zu spät“, gab Loronk zurück. „Er hat Widerstand geleistet und einen meiner Soldaten tätlich angegriffen. Durch eine einfache Nachzahlung ist dieses Vergehen nicht zu sühnen.“

„Dann lasst ihn mich freikaufen!“, bat Aglir und knetete verzweifelt die Hände. „Ich habe genug Geld. Das dürfte doch kein Problem sein. Bitte vergebt meinem Neffen! Er ist ein dummer Junge und handelt viel zu oft unüberlegt!“

Loronk schien zu überlegen, ob er auf Aglirs Angebot eingehen sollte. Er beobachtete gierig den prallgefüllten Geldbeutel, den der Waldelf von einem Metallring an seinem Gürtel löste. Doch dann schüttelte der Ork energisch den Kopf.

„Es gibt keine Kaution!“, entschied er grollend. „Behaltet Euer Geld, Aglir! Vielleicht tröstet Euch ja das Wissen, dass Euer Neffe endlich etwas Sinnvolles tut! Mit seiner Hilfe werden wir der Lösung der Vermisstenfälle mit Sicherheit einen Schritt näherkommen.“ Loronk verfiel in spöttisches Gelächter und ließ den niedergeschlagenen Waldelfen einfach stehen. Farniel wurde kreidebleich, als der Ork seinen Trupp wieder in Bewegung setzte und die Soldaten ihn rüde weiterstießen. Er blickte sich panisch nach seinem Onkel um, doch Aglir konnte nichts weiter tun, als verzweifelt die Hände zu ringen.

Auf Loronks Gesicht lag ein selbstgefälliger Ausdruck, als er mit seinem Trupp das Stadttor durchquerte. Die beiden wachhabenden Soldaten gehörten zu der Einheit, die mit dem Brigadegeneral nach Eydar gekommen war, und so ließen sie die Patrouille passieren.

„Seht zu, dass die Späherin des Alten die Stadt nicht verlässt“, wies er die Wachmänner an. Diese salutierten grimmig und schlossen das Tor hinter ihrem Befehlshaber und seinem Gefolge. Dann postierten sie sich mit gekreuzten Speeren vor dem verriegelten Ausgang, während Loronk seinen Trupp in die Düstermarsch führte.

Die hohen Bäume der Sumpfwälder und ihre dichten Wipfel erschufen in Kombination mit der schweren, von würzigen Gerüchen geschwängerten Luft, bei der jeder Atemzug schwerfiel, eine bedrückende Atmosphäre. Kaum schirmte das Blätterdach das Sonnenlicht ab, verbreitete sich unter den Soldaten eine nervöse Anspannung. Loronk ging an der Spitze des Trupps und bahnte sich und seinen Gefolgsleuten krachend einen Weg durch das modrige Unterholz. Wie gehetzte Tiere sahen sich die Soldaten bei jedem Geräusch um und zuckten erschrocken zusammen, wenn der Brigadegeneral einen Ast unter seinen schweren Stiefeln zermalmte. Sie hielten ihre Waffen stets griffbereit, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Angriff. Vox schluchzte und jammerte die ganze Zeit, bis ihm einer der Soldaten einen heftigen Stoß in die Rippen verpasste. Danach riss sich der Alte zusammen und blieb ruhig, auch wenn offensichtlich war, dass er kurz davorstand, die Nerven zu verlieren. Farniel sagte kein Wort. Der Schock darüber, dass auch das Eingreifen seines Onkels nichts an seinem aufgezwungenen Abstecher in die Düstermarsch ändern konnte, war ihm noch deutlich anzusehen. Auch Vance verhielt sich ruhig, aber er blickte sich immer wieder misstrauisch um und schien angestrengt nachzudenken.

Riesige Ratten folgten dem Trupp durch das Dickicht, doch die Aasfresser wagten trotz ihrer großen Zahl keinen Angriff und hielten sich versteckt. Alle paar Minuten durchdrang ein markerschütterndes, hallendes Heulen die feuchte Luft und mit jedem Schritt, den die Patrouille tiefer in den Wald vordrang, drohte eine Panik unter den Soldaten auszubrechen.

Loronk trieb sie unerbittlich voran. Seine Soldaten schienen größere Angst vor ihrem Anführer zu haben, als vor den unheimlichen Sumpfwäldern. Ihre Furcht vor Loronk war der einzige Grund, weswegen sie dem Ork folgten und nicht Hals über Kopf die Flucht ergriffen.

„Wohin bringt Ihr uns?“, fragte Vance. Die Soldaten zuckten bei seiner Stimme zusammen und hielten den Atem an.

„Ihr werdet für mich arbeiten“, knurrte Loronk verächtlich. „Mehr musst du nicht wissen.“

„Ich dachte, wir sollen für Euch nach den Vermissten suchen“, erwiderte Vance misstrauisch.

Der Ork blieb stehen und funkelte seine Gefangenen finster an. „Denkst du das, ja?“, gab er grollend zurück. „Du wirst deine Antworten schon bald bekommen. Und jetzt halt die Klappe, bevor du noch einen Warg auf uns aufmerksam machst!“

Ein Schaudern lief durch die Reihen der Soldaten. Die Umgebung war ruhig, wenn man von den fetten Ratten absah, die sich noch immer im Unterholz tummelten. Loronk setzte sich wieder in Bewegung und sein Trupp folgte ihm. Einer der Soldaten stieß Vance unsanft an. „Komm schon!“, drängte er mit zitternder Stimme. „Je schneller das erledigt ist, desto früher können wir zurück nach Eydar!“

Loronk führte seine Leute zielstrebig durch die Sümpfe. Routiniert wich er verborgenen Tümpeln aus und kletterte über Hindernisse wie umgestürzte Bäume und moosbedeckte Steinbrocken. Schließlich lichtete sich der Wald und gab den Blick auf einen großen See frei. Das Ufer war gesäumt von großen, glatten Felsen und einzelnen Bäumen und auf der Nordseite erhob sich ein kleiner, bewaldeter Berg aus dem sonst flachen Marschland. Sonnenstrahlen glitzerten auf der Wasseroberfläche und bei einem genaueren Blick entpuppte sich der See als Bucht. Ein verborgener, von hohen Bäumen flankierter Meeresarm ragte ins Landesinnere hinein und bildete dort eine kleine Lagune. Es war Ebbe und entsprechend niedrig war der Wasserstand. Das Ufer war flach und an dem breiten, schlammigen Streifen entlang der Gezeitenlinie war zu erkennen, dass die Bucht bei Flut deutlich größer war und bis an die Stämme der Bäume heranragte. Nun war das Wasser an keiner Stelle mehr als zwei Meter tief und man hätte die Bucht bequem zu Fuß durchqueren können, ohne schwimmen zu müssen, wären da nicht die Bluthechte gewesen.

In Schwärmen lauerten sie knapp unter der Wasseroberfläche auf ein unachtsames Opfer. Ihre langen, stromlinienförmigen Körper waren fast bewegungslos und nur ihre Brustflossen zuckten in unregelmäßigen Abständen. Die Raubfische waren in allen Größen vertreten, von Jungtieren, die bequem auf eine Hand passten, bis hin zu riesigen, adulten Tieren, die eine Länge von über zwei Metern erreichten. Alles Lebendige, was unvorsichtig genug war, sich in die Bucht zu wagen, würde in einem Augenblick zerfleischt werden.

Vereinzelt hatte die Strömung die Überreste der früheren Beute der Bluthechte ans Ufer gespült. Fein säuberlich abgenagte Gerippe lagen tief eingesunken im Schlamm und zwischen den Binsen ragte das blanke Skelett eines ausgewachsenen Wargs hervor, der den gefräßigen Raubfischen zum Opfer gefallen war. Die so friedlich wirkende Bucht war eine wahre Todesfalle.

Die gefährlichen Raubfische beobachteten die Soldaten, die in einiger Entfernung von der Küstenlinie stehenblieben, mit einer Mischung aus unstillbarem Hunger und großer Frustration, da die lockende Beute außer Reichweite blieb. Den Soldaten gefiel der Anblick der Bluthechte ebenso wenig. Nervös beäugten sie die langen, rasiermesserscharfen Zähne der Raubfische, die sogar den mächtigen Wargen, den eigentlich unangefochtenen Herrschern der Düstermarsch, den Garaus machen konnten.

Das Wasser zog sich mit der Zeit immer weiter zurück. Da das Ufer so flach war, wirkten die Gezeiten umso deutlicher. Auch den Bluthechten entging der schnelle Gezeitenwechsel nicht. Langsam bewegten sie sich rückwärts auf den schmalen Meeresarm zu. Doch nicht alle von ihnen waren so aufmerksam. Ein offenbar besonders hungriges, anderthalb Meter langes Tier, das zu nahe am Ufer gelauert hatte, wurde von der plötzlichen Ebbe überrascht und ehe der Fisch reagieren konnte, hatte sich das Wasser zurückgezogen und er zappelte hilflos auf dem trockenen. Vance sah zu, wie seine tödlichen Kiefer ins Leere schnappten und sich seine Kiemen weit öffneten. Der Raubfisch würde noch eine Weile leiden müssen, bevor er zugrunde ging.

Die Bluthechte, die den Gezeitenstrom rechtzeitig bemerkt hatten, zogen sich derweil mit dem sinkenden Wasserstand immer weiter aus der Bucht zurück. Bis zuletzt schienen sie die Hoffnung zu haben, dass sich einer der Soldaten ins Wasser traute, doch schließlich schien ihr schlichter Geist zu begreifen, dass nichts dergleichen geschehen würde. Vom Hunger überwältigt stürzten sich die größten Bluthechte auf die kleineren Fische und Jungtiere. Weit draußen in der immer seichter werdenden Bucht wurde das Wasser aufgewühlt und färbte sich rot. Das Schauspiel aus wild peitschenden Schwanzflossen, zuschnappenden Kiefern und schäumender Gischt dauerte nur ein paar Sekunden. Dann hatten die Bluthechte ihre kleineren Artgenossen verschlungen und zogen sich durch den Meeresarm auf das offene Binnenmeer zurück. Sie ließen sorgfältig abgenagte Gräten und einen blassroten Fleck auf der Wasseroberfläche zurück, der sich langsam ausbreitete.

Den Soldaten war das mörderische Schauspiel nicht entgangen. Ihre Gesichter waren aschfahl und schweißnass. Einzig Loronk schien vom grausamen Kannibalismus der Bluthechte unbeeindruckt zu sein. „Wir sind zu früh“, knurrte er verärgert. Er zog einem seiner Leute das Schwert aus dem Gürtel und stapfte wütend zu dem noch immer im Schlamm zappelnden Bluthecht hinüber. Trotzig und hungrig starrte der Raubfisch den Brigadegeneral mit seinen blutunterlaufenen Augen an und schnappte nach seinem Knöchel. Loronk zog fluchend den Fuß zurück und stieß dem Hecht das Schwert direkt in die weit geöffneten Kiemen. Ein letztes Zittern durchlief den länglichen Körper des Fisches, dann standen seine tödlichen Kiefer für immer still.

Loronk verzog angewidert das Gesicht und hob die Klinge mit dem aufgespießten Fisch. „Wir werden noch kurz warten müssen“, brummte er und warf seinen Soldaten das Schwert samt Bluthecht zu. „Ihr könnt euch ja nützlich machen und diesen Mistkerl braten.“

Die Soldaten sprangen erschrocken zurück, als der tote Bluthecht vor ihren Füßen landete. Obwohl sich der Fisch nicht mehr bewegte und ein trüber Schleier seine Augen überzog, waren ihnen die fürchterlichen Kiefer des Monsters noch immer nicht geheuer. Loronk spuckte verächtlich aus. „Elende Feiglinge. Womit habe ich es verdient, dass mein Trupp aus solchen Weicheiern besteht?“ Fluchend stapfte der Ork das Ufer entlang und sprang behänder, als man es ihm angesichts seiner wuchtigen Statur und der schweren Rüstung zugetraut hätte, auf einen glatten Felsen. Dort oben nahm er im Schneidersitz Platz und starrte grimmig zum Nordufer der Bucht hinüber.

Während die Soldaten ihre Angst vor dem toten Bluthecht allmählich verloren und anfingen, ein Feuer zu entzünden, zog sich das Wasser immer weiter zurück und legte dabei Seetang und ein paar Muscheln frei. Kleine Krebse gruben sich rasch im nassen Schlamm ein und warteten dort auf die Flut. Mittlerweile war die Bucht auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft.

Vox ließ sich erschöpft in den schlammigen Ufersand fallen. „Wir werden sterben“, flüsterte er immer wieder. „Wir werden sterben.“ Der alte Mann schlug verzweifelt die Hände ins Gesicht und zitterte dabei so sehr, dass seine Ketten klirrten. Farniel dagegen blieb an Ort und Stelle wie versteinert stehen und starrte ins Leere.

Vance setzte sich neben Vox auf den Boden. „Wir werden sterben. Wir werden sterben. Wir werden sterben“, wiederholte der Alte kaum hörbar.

„Leben retten“, murmelte Vance.

Vox hob den Kopf. „Was sagt Ihr da?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Nichts“, erwiderte Vance nachdenklich.

Und dann sagte er wirklich nichts mehr.

Für Syndus waren die neuesten Entwicklungen in Eydar wie ein Stich ins Herz und der Kummer schien den alten Ordensmeister endgültig zu brechen. Alles, was die Armee in Eydar aufgebaut hatte und wofür er mit seinem Namen und seinem Gesicht stand, war durch Loronks Intervention zerstört worden. Schutz und Sicherheit waren zu Gefangenschaft und Unterdrückung geworden und das Misstrauen, dass die Dunkelelfen seit jeher gegen den Kaiser und seine Truppen hegten, schien in Form von Loronk seine personifizierte Bestätigung erhalten zu haben. Wenn nicht nur Siedler wie Farniel und Vox der Willkür des Brigadegenerals zum Opfer fielen und inhaftiert wurden und der erste in Eydar gebürtige Einwohner für ein vergleichsweise nichtiges Vergehen belangt wurde, würde die ohnehin schon angespannte Situation in der Hafenstadt kaum noch zu beruhigen sein. Syndus wusste, dass diese Entwicklung in Eydar beunruhigende Auswirkungen auf die gesamte Beziehung zwischen Kaiser Hilmandir und dem Dunkelelfenkönig Sard haben konnte. Loronk schien nicht zu begreifen, welch weitreichende Konsequenzen seine eigenmächtigen Handlungen haben konnten, oder sie waren ihm schlichtweg egal.

Syndus wusste nicht länger, wie er gegen diese Ignoranz vorgehen sollte. Kurzzeitig hatte er die Hoffnung gehabt, Loronks Herrschaft durch entschlossenes Auftreten ins Wanken bringen zu können, aber der Ork hatte sich als unantastbar erwiesen. Das Schicksal von Eydar lag nun bei den Verantwortlichen in Kaboroth, doch selbst wenn sich diese einschalten würden, hatte Loronk noch immer die Möglichkeit, dagegen vorzugehen.

Nach der verbalen Auseinandersetzung im Kerker und Gancielles Kurzschlussreaktion hatte sich der alte Befehlshaber des Außenpostens mit seinem Kommandanten in seine Amtsstube zurückgezogen. Gancielle stand unschlüssig neben der Tür und wartete angespannt auf die Strafe, die der Ordensmeister angekündigt hatte. Er wusste, dass ihn Disziplinarmaßnahmen erwarteten. So widerwärtig Loronk auch war, kein Soldat durfte die Hand gegen einen ranghöheren Offizier erheben, ohne entsprechende Konsequenzen tragen zu müssen.

Adria war ebenfalls anwesend. Nachdem sich Syndus mit Gancielle in seine Kammer zurückgezogen hatte, war sie von ihrem Meister mit der Aufgabe betraut worden, nach Aulus zu suchen. Sie hatte den Novizen rasch gefunden und saß nun neben ihrem Meister an dessen Pult. Aulus stand in der Ecke und fühlte sich ganz offensichtlich unwohl.

Es war totenstill in Syndus‘ Kammer. Das verbitterte Schweigen zehrte noch mehr an Gancielles Nervenkostüm als Adrias strafende Blicke und er trat nervös von einem Bein auf das andere.

„Es tut mir leid, Kommandant“, flüsterte Syndus schließlich. Er saß verzweifelt an seinem Pult und raufte sich die ergrauten Haare. „Ihr habt einen Vorgesetzten tätlich angegriffen. Sosehr ich Euer Handeln nachvollziehen kann, ein solches Verhalten kann ich unmöglich gutheißen. Mir bleibt keine andere Wahl, als Euch Eures Amtes als Kommandant dieses Außenpostens zu entheben und Euch vorerst aus dem Dienst der Armee zu entlassen.“

Gancielle konnte nicht verhindern, dass er hörbar aufatmete. Er hatte gehofft, dass Syndus zu dieser Maßnahme greifen würde. Diese Strafe bedeutete, dass er in Eydar bleiben konnte, auch wenn er nicht mehr über die Privilegien eines Soldaten, geschweige denn eines Kommandanten verfügte.

„Ich muss Euch aus diesem Grund bitten, Eure Uniform abzulegen“, fuhr Syndus gequält fort.

Gancielle löste mechanisch die Riemen und Schnallen an seiner Kommandantenrüstung. Das Ablegen seiner Uniform fiel ihm schwerer, als er erwartet hatte. Seit seiner Beförderung war die Rüstung wie zu einer zweiten Haut für ihn geworden, die er nur noch abstreifte, wenn er sich schlafen legte oder sich wusch.

Der schwere Brustpanzer fiel scheppernd zu Boden. Es folgten die Schulterplatten, die Panzerhandschuhe, die Beinschienen und die Stiefel, bis Gancielle barfuß und nur noch in seiner einfachen Tunika vor Syndus stand. Zuletzt legte er seinen Waffengurt mit dem Dolch ab, den er für alle Fälle bei sich trug, und lehnte seinen Turmschild an die Wand. Einzig seine primäre Waffe durfte er behalten, denn das Langschwert aus Windsilber, einem leichten, aber robusten Material, war sein persönlicher Besitz.

„Ihr wisst, dass Loronk einen einfachen Verweis nicht akzeptieren würde“, sagte Syndus leise. „Und dann würde er Euch selbst bestrafen, indem er Euch entweder degradiert und somit unter seinen Befehl zwingt oder Euch einfach an einen anderen Ort versetzen lässt. So bleibt Ihr uns wenigstens erhalten, wenn auch nicht als Soldat.“ Der alte Befehlshaber lächelte schwach.

„Ich bedaure sehr, Euch enttäuscht zu haben, Meister“, murmelte Gancielle zerknirscht. „Aber ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten, als dieser Widerling so offen mit seinen verabscheuungswürdigen Methoden prahlte.“

„Schon gut“, erwiderte Syndus und hob beschwichtigend die Hände. „Noch ist nicht alles verloren. Ich werde Rhist Eure Rüstung übergeben. Als Waffenmeister unseres Außenpostens wird er dafür Sorge tragen, dass sie instandgehalten wird. Ich möchte nicht für immer auf Euch verzichten, Gancielle. Falls dieser Albtraum irgendwann ein Ende findet, werde ich Euch wieder in Rang und Ehren in unseren Reihen aufnehmen.“

Gancielle spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. „Vielen Dank, Meister“, sagte er tonlos und verbeugte sich so tief, dass Syndus den Schleier nicht sehen konnte, der sich vor seinen Augen bildete. „Ich danke Euch für Euer Vertrauen. Wenn Ihr erlaubt, werde ich jetzt gehen. Da ich nicht länger ein Mitglied der Armee bin, habe ich in diesem Gebäude nichts mehr verloren.“

„Geht, Gancielle“, erwiderte Syndus mit brüchiger Stimme. „Ich hoffe sehr, dass Ihr eines Tages zurückkehren würdet.“

Der ehemalige Kommandant schluckte schwer. Noch bevor er sich wiederaufrichtete, wandte er sich ab und öffnete die Tür. Einen Moment lang blieb er auf der Schwelle stehen, als würde es ihm schwerfallen, die Kammer zu verlassen. Doch schließlich trottete er mit hängenden Schultern davon.

Im Gang kam ihm Lexa entgegen. Die Späherin hatte es eilig, aber als sie sich an Gancielle vorbeizwängte, registrierte sie mit einem verwunderten Blick, dass er seine Uniform nicht trug. Dann stürzte sie atemlos in Syndus‘ Amtszimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

„Könnt Ihr mir erklären, was hier los ist?“, fragte sie empört.

Der alte Ordensmeister verzog gequält das Gesicht. „Gut, dass Ihr hier seid, Lexa“, seufzte er. „Es gibt einige Neuheiten, die Euch betreffen.“

„Das habe ich gemerkt!“, entrüstete sich die Späherin. „Was bei den Feuern des Phoron fällt diesen Torwachen ein, mich nicht passieren zu lassen? Tyra ist vorhin zu einem weiteren Streifzug in die Düstermarsch aufgebrochen und ich wollte ihr folgen. Aber die Wachen haben mir gesagt, dass mir der Durchgang auf Befehl von Brigadegeneral Loronk verwehrt bleibt. Und kurz darauf verlässt dieser aufgeblasene Popanz mit seinen Soldaten und drei Gefangenen die Stadt. Was hat das alles zu bedeuten?“

„So etwas hatte ich befürchtet“, murmelte Syndus und strich sich nachdenklich über den ergrauten Bart. „Loronk weiß, dass Ihr für unseren Orden arbeitet. Und offenbar ist er der Meinung, dass Tyras Beschattung der Aufklärung der Vermisstenfälle abträglich ist.“

Lexa klappte überrascht den Mund auf. „Er kennt meine Identität?“, rief sie entgeistert. „Woher? Hat er das etwa von Tyra erfahren?“

„Ich habe da eine andere Theorie“, brummte Syndus und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Aulus zuckte zusammen und kaute nervös an seinem Daumennagel. „Ich glaube nicht, dass er Kontakt zu dieser Abenteurerin aufgenommen hat. Aber er hat die Stadtmauer mit seinen Soldaten bemannen lassen und sie angewiesen, Euch nicht passieren zu lassen.“

„Und was hat diese Aktion mit den Gefangenen zu bedeuten?“, erkundigte sich Lexa. Sie blickte nicht weniger grimmig drein als ihr Meister.

„Das ist der Tiefpunkt von Loronks Amtszeit in Eydar“, stellte Syndus verbittert fest. „Er hat entschieden, die Gefangenen in der Düstermarsch auszusetzen. Er will, dass sie die Vermissten für ihn finden. Und auch Abenteurer wie Tyra wird er in Zukunft ermutigen, sich auf die Suche zu begeben.“

„Dieser widerliche Mistkerl“, zischte Lexa und ballte die Fäuste. „Er legt uns andauernd Steine in den Weg. Die Sicherheit der Bevölkerung ist ihm doch völlig egal. Er will die Vermisstenfälle gar nicht aufklären. Er will nur seine Machtposition ausnutzen, die er hier hat.“

In der Ecke hob Aulus den Kopf und seine Augen leuchteten kurz auf, als wäre ihm ein Gedanke gekommen. Doch falls er einen Einfall hatte, verschwieg er ihn. Als Syndus ihn mit einem argwöhnischen Blick streifte, wandte er rasch das Gesicht ab.

Lexa bemerkte den Rüstungshaufen, der einmal Gancielles Uniform gewesen war. „Und was ist das?“, fragte sie mit erstickter Stimme.

Syndus verbarg vor Kummer das Gesicht in den Händen. Als Adria sah, wie es um ihren Meister stand, sprang sie ihm rasch zur Seite. „Kommandant Gancielle wurde seines Amtes enthoben“, erklärte sie nüchtern. „Er hat seine Hand gegenüber Brigadegeneral Loronk erhoben. Meister Syndus bedauert diesen Umstand sehr, aber es blieb ihm keine andere Wahl, als den Kommandanten aus dem Dienst der Armee zu entlassen.“

Lexa lehnte sich stöhnend mit dem Rücken gegen die Wand und fasste sich an die Stirn. „Damit bricht ein wichtiger Stützpfeiler unserer Gemeinschaft weg“, stellte sie erschrocken fest. „Uns bleibt nur noch Rhist, aber gegen Loronks Einfluss wird er sich alleine kaum erwehren können. Gibt es noch Offiziere, die auf unserer Seite stehen?“

Syndus fing sich wieder und rieb sich angestrengt die Nasenwurzel. „Fähnrich Jel und die Feldwebel Praharin und Albus sind uns noch immer treu ergeben. Alle anderen Soldaten haben nicht den Rang, um dem Brigadegeneral den Gehorsam zu verweigern.“

„Dann ist Eydar also in der Hand dieses Orks“, stöhnte Lexa. „Wir sind zu wenige, um ihm Paroli bieten zu können. Wenn wir wenigstens mehr als fünf Ordensmitglieder wären…“

„Wir sind nur vier.“ Plötzlich klang Syndus‘ Stimme wieder kräftig und entschlossen. Er deutete anklagend auf den Novizen und dieser fuhr erschrocken zusammen. „Ihr seid mitverantwortlich für diese Misere, Aulus!“

„Ich? Aber wie kommt Ihr denn darauf, Meister?“

„Spielt nicht den Unschuldigen!“, fuhr Syndus auf. „Ich weiß genau, dass Ihr den Brigadegeneral über Lexas Identität in Kenntnis gesetzt habt!“

Lexa funkelte den Novizen zornig an. „Das seid Ihr gewesen?“, japste sie wütend.

Aulus hob abwehrend die Hände und duckte sich. „Ich hatte doch nur das Beste für Eydar im Sinn!“, verteidigte er sich. „Der Ansatz des Brigadegenerals erschien mir sinnvoll.“

„Das habe ich gemerkt“, brummte Syndus verstimmt. „Aber Ihr habt das nicht zu entscheiden.“

„Sinnvoll?“, wiederholte Lexa entrüstet und trat auf den Novizen zu. Dieser fing plötzlich an, am ganzen Leib zu zittern. „Und deshalb gebt Ihr Geheimnisse des Ordens preis? Euretwegen kann ich meinen Aufgaben nicht mehr nachgehen!“ Die Späherin packte Aulus am Kragen, doch Syndus hob beschwichtigend die Hände.

„Bitte mäßigt Euch, Lexa“, bat er um Ruhe. „Noch ist Aulus ein Mitglied unseres Ordens.“

Lexa verzog wütend das Gesicht, doch dann ließ sie Aulus los und stieß ihn fort. „Meinetwegen“, knurrte sie. „Aber wenn er sich noch einmal etwas zuschulden kommen lässt, kann er was erleben!“

„Das wird er nicht“, erwiderte Syndus und blickte Aulus so durchdringend an, dass dem Novizen der kalte Schweiß ausbrach. „Denn ich glaube, dass unser junger Freund viel zu ehrgeizig ist, um seine Karriere für den Brigadegeneral aufs Spiel zu setzen. Und er wird hoffentlich erkennen und zu schätzen wissen, dass man ihm eine allerletzte Chance gibt.“
 

In der Düstermarsch mussten sich Loronk und die Soldaten noch eine Weile gedulden. Der Bluthecht war schon bis auf die Gräten abgenagt, als sich am Nordufer der Bucht etwas tat. Die Ebbe hatte dort einen schmalen Streifen Land freigelegt, der direkt an den Hügel grenzte, der sich aus dem Wasser erhob. Über den Pfad näherte sich eine Gruppe zerlumpter Gestalten und umrundete das Ufer der Bucht.

„Na endlich“, knurrte Loronk ungeduldig.

Die Bande bestand aus etwa einem Dutzend Dunkelelfen. Sie trugen zerrissene Lederkleidung und schartige Klingen und ihre Gesichter waren eingefallen und schmutzig. Angeführt wurden sie von einer alten, rothaarigen Dunkelelfe, die von einem Magier und einer jugendlichen Version ihrer selbst flankiert wurde. An letzter Stelle ging ein schwarzhaariger Ork mit kurzem Irokesenhaarschnitt, der von ähnlicher Statur wie Loronk war, allerdings eine einfache Soldatenuniform und eine schwere Doppelaxt trug. Während die Dunkelelfen wie ein wilder Haufen liederlicher Schurken wirkte, gehörte der Ork ganz offensichtlich zur Kaiserlichen Armee.

Vox, der noch immer im Sand saß, krabbelte angsterfüllt rückwärts, als er auf die dunkelelfischen Banditen aufmerksam wurde, doch einer von Loronks Soldaten stieß ihm das Knie zwischen die Schulterblätter.

„Bleib, wo du bist!“, drohte er und griff nach seinem Schwert. „Sonst wird es dir noch sehr leidtun!“ Vox erstarrte vor Schreck und richtete seinen panischen Blick auf die abgerissenen Schurken, die sich vor Loronk und seinem Trupp aufbauten. Ihre Waffen waren in deutlich schlechterem Zustand als die der Soldaten des Brigadegenerals, aber nicht weniger tödlich.

„Was soll das, Loronk?“, rief die Anführerin der Dunkelelfen. Sie schien nicht besonders erfreut über die Anwesenheit des Brigadegenerals zu sein. „Warum kreuzt du hier plötzlich persönlich auf, noch dazu mit einer Horde Soldaten im Schlepptau? Du riskierst, dass alles auffliegt!“

Loronk rutschte mit selbstgefälligem Grinsen von seinem Felsen und landete sicher auf den Füßen. „Mach dir nicht ins Hemd, Mola“, erwiderte er höhnisch. „Ich habe in Eydar alles im Griff. Niemand, der uns gefährlich werden könnte, verlässt die Stadt ohne mein Wissen. Und ich wollte mal wieder dein hübsches Gesicht sehen, alte Schabracke.“

„Schluss mit dem Blödsinn“, brummte Mola gereizt. „Warum bist du hier?“

Loronk packte Vance grob bei der Schulter und stieß ihn nach vorn. „Ich bringe euch ein paar neue Arbeiter“, antwortete er. „Sie sollen in den Minen schuften. Nehmt sie ruhig ordentlich ran. Sie sind allesamt Verbrecher, die im Kerker von Eydar eingesperrt wurden. Die vermisst niemand. Außerdem ist der hier ziemlich kräftig. Das dürfte den Sturmerzabbau beschleunigen.“

„Arbeiter?“, wiederholte Vox entsetzt. Seine Ketten klirrten, als ihn einer der Soldaten auf die Beine hob. „Was soll das heißen?“

„Ich habe doch gesagt, dass ihr für mich arbeiten werdet“, entgegnete Loronk und sein Grinsen verschwand.

„Aber ich dachte, wir sollten für Euch nach den Vermissten suchen!“, jammerte Vox und rang die gefesselten Hände.

„Du wirst schon bald erfahren, was mit ihnen geschehen ist“, knurrte Loronk grimmig. „Oder willst du lieber auf eigene Faust losziehen und die Düstermarsch nach ihnen durchkämmen?“

Vox schien den Tränen nahe. Zitternd blickte er in den finsteren Sumpfwald hinein. Seine Beine versagten und er wäre in die Knie gegangen, hätte ihn nicht ein Soldat gestützt.

„Ach, wie niedlich“, brummte Mola. „Sie wissen noch gar nichts von ihrem Glück?“ Die alte Dunkelelfe ging vor den Gefangenen auf und ab und tippte mit einem Finger auf den Knauf ihres Säbels. „Schön und gut, neue Arbeiter können wir wirklich gebrauchen. Aber warum marschierst du mit einem Trupp Soldaten einmal quer durch die Düstermarsch, nur um sie uns zu bringen? Das ist verdammt riskant! Jemand könnte uns auf die Schliche kommen. Warum hast du sie nicht einfach alleine losgeschickt? Wir hätten sie schon eingesammelt.“

„Jetzt halt mal die Luft an“, grollte Loronk und sein Gesicht verfinsterte sich. „Ich habe dir gerade gesagt, dass ich alles unter Kontrolle habe. Und ich wollte mich persönlich versichern, dass es meinem Fähnrich an nichts mangelt.“ Er warf dem anderen Ork einen prüfenden Blick zu.

„Da hättest du auch alleine kommen können“, zischte Mola gehässig. Ihre Dunkelelfen griffen nach ihren Schwertern und Messern, doch als sie hinter sich den Ork in der Soldatenuniform drohend knurren hörten, ließen sie augenblicklich die Hände sinken.

„Hältst du mich vor blöd?“, erwiderte Loronk und seine Augen funkelten vor Wut. „Ihr Lumpen wartet doch nur auf eine Gelegenheit, mir einen Dolch zwischen die Rippen zu stoßen. Wann immer ich es mit Halsabschneidern wie dir zu tun habe, achte ich besonders gut auf Rückendeckung. Da geht es dir doch nicht anders, oder?“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Bande aus Dunkelelfen. Mola trat ertappt einen Schritt zurück und fluchte leise.

Loronk wandte sich an den anderen Ork. „Alles in Ordnung, Yarshuk?“

Der Soldat salutierte dienstbeflissen. „Alles in bester Ordnung, Brigadegeneral. Es gab in letzter Zeit keine nennenswerten Zwischenfälle und die Arbeiter kommen gut voran.“

„Nicht gut genug“, brummte Loronk verbittert und verpasste Vance einen weiteren Stoß in den Rücken. Dieser stolperte einen Schritt nach vorn, blieb dann aber wieder aufrecht stehen. „Ich muss für meinen Spitzel tiefer in die Tasche greifen, als mir lieb ist. Deshalb muss der Sturmerzabbau forciert und der Gewinn gesteigert werden. Ihr werdet diese Männer mit euch nehmen und sie zu Höchstleistungen antreiben, habt Ihr mich verstanden, Fähnrich?“

Yarshuk salutierte erneut. „Wie Ihr befehlt, Brigadegeneral!“, rief er gehorsam und trat nach vorn, um Vance grob beim Arm zu packen. Der junge Mann beäugte den stämmigen Orksoldaten argwöhnisch, ließ sich aber widerstandslos von ihm abführen. Aus der Meute der zerlumpten Dunkelelfen traten zwei Schurken vor und griffen Vox und Farniel bei den Ketten. Während der Waldelf keinerlei Regung zeigte und noch immer ins Leere starrte, wimmerte Vox vor Angst, bis ihm einer der Gauner einen scharfen Dolch an die Kehle hielt.

„Haltet weiterhin nach Reisenden Ausschau“, befahl Loronk den Dunkelelfen. Diese knurrten unwillig, doch Mola brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Was ist mit dieser Späherin des Ordens?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Loronks triumphierendes Grinsen kehrte zurück. „Um die brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen“, versicherte er. „Der Orden hat in Eydar nichts mehr zu melden. Lexa bleibt schön innerhalb der Stadtmauern und darf irgendwelche verstaubten Akten wälzen. Du würdest sie ohnehin niemals in die Finger kriegen, dafür geht sie viel zu geschickt und unauffällig vor. Bevor ihr sie entdeckt, hat sie euch schon längst bemerkt und ist auf direktem Weg nach Eydar verschwunden, um Syndus zu informieren. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, wer sie ist. Die Göre ist gut, das muss ich ihr lassen. Aber wenn sie die Stadt nicht verlassen darf, und dafür habe ich gesorgt, ist auch sie harmlos.“

Mola schien beruhigt, aber sie warf Loronk trotzdem weiterhin hasserfüllte Blicke zu. Der Ork blieb davon ungerührt. „Ich werde euch weitere Gefangene schicken, sobald der Kerker in Eydar neue Gäste bekommt“, verkündete er.

„Aber dann marschierst du hier gefälligst nicht mit einem ganzen Trupp Soldaten auf“, zischte Mola trotzig.

„Hör endlich auf zu heulen!“, lachte Loronk höhnisch. „Niemand folgt mir. Die Leute in Eydar sind völlig ahnungslos. Die denken, dass ich nach den Vermissten suche, allen voran dieser senile, alte Knacker. Also entspann dich! Es gibt niemanden, der uns auf die Schliche kommen könnte.“

Mola knirschte verärgert mit den Zähnen. „Na gut. Ich hoffe in deinem eigenen Interesse, dass du dich nicht überschätzt.“

Loronk lachte erneut. „Falls das eine Drohung sein sollte, war sie nicht besonders überzeugend“, spottete er. „Und jetzt Abmarsch, schafft die Kerle weg und drückt jedem von ihnen eine Spitzhacke in die Hände. Veits Schiff dürfte noch heute Nacht aus Ganestan zurückkehren. Ich will, dass wir ihn mit einer ordentlichen Ladung Sturmerz wieder dorthin schicken können.“ Mola öffnete den Mund und hatte schon eine Palette unflätiger Beleidigungen auf der Zunge, die sie Loronk an den Kopf werfen wollte, doch sie überlegte es sich anders und drehte sich schnaubend um. Auf einen Wink von ihr setzten sich die zerlumpten Dunkelelfen in Bewegung und schleppten Vance, Vox und Farniel mit sich. Der niedrigste Wasserstand in der Bucht war bereits wieder überschritten und langsam stieg der Pegel wieder. Die Banditen beeilten sich, den schmalen Uferpfad zu überqueren, bevor sich die ersten Bluthechte aus dem offenen Meer zurück in die Bucht wagten.

Yarshuk ging als Letzter. Er blieb noch kurz bei Loronk stehen. „Behaltet die Bande weiterhin im Auge“, flüsterte der Brigadegeneral ihm verschwörerisch zu. „Und informiert mich umgehend, sobald es einen Zwischenfall gibt.“

„Verstanden“, antwortete Yarshuk und salutierte, ehe er sich umdrehte und Molas Schurkenbande folgte.

Loronk wandte sich seinen Soldaten zu. „Und wir kehren nach Eydar zurück!“, verkündete er. „Falls Ihr gefragt werdet, sagt Ihr, dass wir die Gefangenen ein Stück in die Düstermarsch gebracht und sie dann ihrem Schicksal überlassen haben. Offiziell suchen sie für uns nach den Vermissten. Habt Ihr das verstanden?“

Die Soldaten salutierten ängstlich. „Ja, Brigadegeneral!“, erwiderten sie wie aus einem Mund. Loronk grinste zufrieden. Dann ging er zu der Feuerstelle, an der seine Männer den Bluthecht gebraten hatten. Er trat die Flammen aus und schaufelte mit seinem Stiefel zähflüssigen Schlamm über die Asche und die Glut, bis keine Rückstände eines Lagerfeuers mehr zu erkennen waren. In ein paar Stunden würde die Flut diesen Uferstreifen erreichen und auch die letzten Hinweise vernichten.

Er hob das Gerippe des Bluthechts auf und betrachtete es. An den Gräten hingen noch ein paar Fleischreste. Loronk schmunzelte böse und warf den skelettierten Fisch im hohen Bogen in die Bucht. Die ersten Bluthechte, die dort wieder auf der Lauer lagen, stürzten sich sofort auf die Überreste ihres Artgenossen und nagten ihn bis auf die Knochen blank, während Loronk und seine Soldaten den Rückweg nach Eydar antraten.
 

Die Schmuggler führten Vance, Farniel und Vox um den Hügel herum. Auf der dem Meer zugewandten Seite fiel die Erhebung in schroffen Klippen steil ab und gut versteckt zwischen hohen Felsen, an denen Seepocken klebten, lag der Eingang zu einer großen Grotte. Die Schurken steuerten direkt auf die Höhle zu, von deren Decke spitze Tropfsteine hingen. Der Boden war feucht und von einem glitschigen Schmierfilm aus Algen und Schlamm überzogen. Überall gab es tückische, mit Wasser gefüllte Löcher, in denen hungrige Bluthechte lauerten. Tang und Muscheln auf dem Felsboden waren Zeugnisse dafür, dass die Höhle bei Flut teilweise unter Wasser stand. Fluoreszierende Pilze wuchsen an der Decke und hüllten die Grotte in ein bläuliches Licht. Aus der Tropfsteinhöhle führten mehrere Gänge heraus, von denen die meisten in überfluteten Sackgassen endeten, in denen es vor Bluthechten nur so wimmelte. Das Ziel der Schmuggler war ein großer Tunnel im hinteren Teil der Grotte, der bergauf führte und deutlich über der Gezeitenlinie lag. Man konnte genau erkennen, wie hoch das Wasser bei Flut stieg. Der Fels war bis zu einem gewissen Punkt feucht und glitschig, ehe eine scharfe Grenze folgte und das Gestein trockener wurde.

Die Schmuggler setzten ihren Weg durch den sanft ansteigenden und sich windenden Tunnel fort, bis sie einen zweiten, größeren Raum erreichten. Diesmal handelte es sich nicht um eine Tropfsteinhöhle. Die Wände waren glatt und kalt und linkerhand war ein großes Gitter in das Gestein eingelassen worden. Dahinter lagen ein paar spärliche Haufen schimmligen Strohs. Es war nur allzu deutlich, dass es sich bei diesem Käfig um den Verschlag der Arbeiter handelte.

Doch die Dunkelelfen machten nicht halt. Stattdessen stießen sie ihre Gefangenen unsanft weiter. Aus der Höhle führten zwei weitere Gänge, die von Fackeln erhellt wurden. Die Schmuggler führten Vance, Farniel und Vox in den linken Tunnel, aus dem das Schlagen von Spitzhacken auf hartem Stein klang. Der rechte Gang schien sich tiefer in das Innere des Hügels zu schlängeln und an seinem Ende befand sich offenbar eine starke Lichtquelle, die flackernde Schatten an die Höhlenwände warf.

Die drei Gefangenen wurden zu den anderen Arbeitern gebracht. Es war gut zu erkennen, welcher Teil der Grotte auf natürlichem Wege entstanden war und welcher von Spitzhacken in den Fels geschlagen worden war. Die Minenarbeiter schufteten in einer großen Höhle, die natürlichen Ursprungs war, aber durch den Erzabbau sukzessive erweitert worden war. Aufseher gingen auf und ab und begutachteten den Fortschritt der Schürfer. Ihre Peitschen trugen sie über der Schulter und waren jederzeit bereit, sie einzusetzen, wenn ihnen die Erzförderung nicht schnell genug ging. Die zahlreichen Striemen auf den ausgemergelten Körpern der Arbeiter waren ein deutliches Indiz dafür, dass die Aufseher regelmäßig von ihren Waffen Gebrauch machten.

Die Schürfer befanden sich in ganz unterschiedlichen Gesundheitszuständen. Weiter vorne stand eine Gruppe abgemagerter Dunkelelfen, auf deren gekrümmten Rücken bereits deutlich die Knochen ihrer Wirbelsäulen hervortraten. Es ging ihnen augenscheinlich äußerst schlecht, doch sie hielten aus Angst vor Konsequenzen ihre Spitzhacken so gut ihre zitternden Hände es erlaubten.

Dagegen wirkte eine andere Gruppe von Arbeitern, die sich im hinteren Bereich der Höhle abrackerte, noch deutlich frischer und leistungsfähiger. Drei athletische Pardelfrauen schufteten nebeneinander. Ihr Fell war stumpf und glanzlos geworden, aber ansonsten wirkten die Katzenmenschen gesund und unversehrt. Neben ihnen hackte ein muskelbepackter Hüne so wild auf die Felswand ein, dass Splitter in alle Himmelsrichtungen flogen. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung. Die blonde Frau neben ihm wirkte dagegen deutlich schwächer. Sie schlug mit der Spitzhacke nicht annähernd so kraftvoll oder zerstörerisch zu, wie ihr großgewachsener Gefährte. Ihre vergleichbare Schwäche rührte aber offenbar nicht nur von ihrer zierlichen Figur her. Die Frau wirkte müde, fast schon schläfrig und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.

Mola trat vor und gab ihren Spießgesellen einen Wink. Die Schmuggler reichten den Gefangenen ihre Spitzhacken und versetzten ihnen heftige Stöße in den Rücken.

„An die Arbeit!“, befahl Mola barsch.

Vance und Farniel gehorchten stumm, während Vox wieder zu wimmern begann. Einer der Dunkelelfen schlug dem alten Mann in die Magengrube. Vox krümmte sich vor Schmerz und sackte in die Knie.

„Hör mit dem Gejammer auf!“, brüllte ihn der Dunkelelf an und zog ihn wieder auf die Beine. „Beim kleinsten Mucks bekommst du die Peitsche zu spüren!“ Das Blut wich Vox aus dem Gesicht und er nickte atemlos. Dann folgte er Vance und Farniel zitternd zu der Höhlenwand, an der sich die anderen Schürfer abmühten. Unweit des kräftigen Mannes und seiner blonden Gefährtin fanden die drei Gefangenen eine große Sturmerzader, die in der Düsternis der Mine bläulich schimmerte. Unter Molas strengem Blick fingen sie an, mit ihren Spitzhacken auf den Fels einzuschlagen.

„Willkommen in der Mine der Verdammten“, knurrte der Hüne zu Begrüßung.

Vox wandte dem kräftigen Mann das aschfahle Gesicht zu, doch Vance und Farniel ignorierten ihn. Der Waldelf hackte wie in Trance auf die Erzader ein. Gedanklich schien er noch immer in Eydar zu sein. Der Schock darüber, dass das Geld seines Onkels ihn nicht hatte retten können, schien äußerst tief zu sitzen.

Vance schlug kräftig mit der Spitzhacke zu und brach sofort einen großen Brocken Erz aus der Wand. Einer der Aufseher kam herbei, um einen der Klumpen einzusammeln. Das Bruchstück war so schwer, dass der Dunkelelf Schwierigkeiten hatte, es anzuheben. Unter seiner Last schwankend entfernte er sich, während Vance mit seinem nächsten Hieb weitere Trümmer aus dem Fels schlug. Nun war er es, den Vox mit großen Augen anstarrte, doch als er das Knallen einer Peitsche am anderen Ende der Höhle hörte, zuckte der alte Mann zusammen und hob seinerseits den Pickel

Der hünenhafte Schürfer ließ überrascht die Spitzhacke sinken. „Junge, du hast vielleicht Kraft“, stellte er anerkennend fest. „Aber vielleicht solltest du sie dir ein wenig besser einteilen.“

„So schnell werde ich nicht müde“, erwiderte Vance und arbeitete sich weiter die Erzader entlang. In kürzester Zeit hatte er bereits ein beträchtliches Loch in das Gestein geschlagen. „Ist das hier eine Mine der Kaiserlichen Armee?“

Der großgewachsene Mann starrte den Dorashen unverwandt an. Beim Anblick des unermüdlich zuschlagenden Jungspunds entging ihm beinahe dessen Frage. „Eine Mine der Kaiserlichen Armee?“, wiederholte er verdattert. „Wie kommst du denn darauf? Unsere Gastgeber sind ganz üble Halsabschneider!“

„Halt die Klappe und schürf weiter!“ Einer der Aufseher, der einzige Mensch unter ihnen und ein stoppelbärtiger, schlanker Kerl, hatte bemerkt, dass Vances Nachbar seine Spitzhacke hatte sinken lassen. Er schwang ohne Vorwarnung seine Peitsche und ließ sie über den breiten Rücken des Mannes fahren. Der Arbeiter stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen einen gedämpften Schmerzenslaut aus, dann fuhr er wütend herum und blitzte den Aufseher wütend an. Dieser wich einen Schritt zurück, blieb dann aber stehen und hob drohend seine Peitsche. Der Schürfer spuckte verächtlich aus und schlug seine Spitzhacke wieder in die Felswand.

„Dann seid Ihr keine gefangenen Verbrecher?“, fragte Vance leise.

„So ein Blödsinn“, grunzte der Hüne. „Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Diese Mistkerle haben uns einfach überfallen und hierher verschleppt, damit wir für sie schuften.“

„Seltsam“, meinte Vance. Der Aufprall seiner Spitzhacke auf hartem Gestein ließ die ganze Felswand erzittern. „Ich war ein Gefangener im Gefängnis von Eydar und ein General der Armee hat mich an diesen Ort gebracht.“

„Erzähl hier nicht so einen Mist!“, knurrte der großgewachsene Arbeiter. „Seit wann toleriert die Armee solche Schurken?“

„Ich sage die Wahrheit“, beteuerte Vance. „Aber ich habe mich auch darüber gewundert, dass die Soldaten mit solchen zerlumpten Strauchdieben zusammenarbeiten.“

„Hast du es immer noch nicht kapiert?“, sagte Farniel tonlos und kratzte mit der Spitze seiner Hacke an der Felswand herum. „Der Brigadegeneral benutzt uns für seine persönlichen Zwecke.“

Vance senkte nachdenklich den Kopf. Dann schlug er erneut zu. Wieder löste sich ein großes Stück Sturmerz aus der Wand, gleichzeitig verbog sich aber auch die Spitze des Pickels. Vance betrachtete das nutzlose Werkzeug in seinen Händen und drehte sich kleinlaut um. „Ich glaube, ich habe meine Spitzhacke kaputt gemacht“, meldete er.

Der stoppelbärtige Aufseher kam zurück. „Was sagst du da?“, fragte er drohend. Vance warf ihm die Hacke vor die Füße und das Gesicht des Aufsehers lief rot an. „Du elender Tollpatsch!“, rief er wütend. „Du bist grade mal zehn Minuten hier und hast schon dein Werkzeug ruiniert? Na warte, ich werde dich lehren, so mit unseren Spitzhacken umzugehen.“

Er entrollte seine Peitsche, doch bevor er damit ausholen konnte, bemerkte er die riesigen Brocken Sturmerz, die der neue Arbeiter aus der Wand geschlagen hatte. Überrascht deutete er auf die Splitter. „Hast du das alles geschürft?“, fragte er ungläubig.

„Wer sonst?“, gab Vance lapidar zurück. „Kann ich jetzt eine neue Spitzhacke haben oder muss ich mit den Händen weiterarbeiten?“

„Äh...selbstverständlich bekommst du eine neue Hacke“, druckste der Aufseher herum und winkte ein paar Dunkelelfen zu sich. „Ihr da! Sammelt das Erz ein und bringt diesem Mann ein neues Werkzeug!“

Vance bekam einen neuen Pickel und die Sturmerzbrocken wurden von den emsigen Dunkelelfen rasch aufgesammelt und fortgeschafft. Der Aufseher räusperte sich. „Und jetzt arbeite weiter!“, befahl er. „Aber pass diesmal ein bisschen besser auf deine Spitzhacke auf.“

In einem anderen Bereich des Höhlensystems thronte der Anführer der Schmuggler auf einem behelfsmäßig hergerichteten Stuhl aus Vorratskisten und Getreidesäcken. Fjedor war einer von vielen Barbaren aus Isenheim, die ihre Heimat verlassen hatten, um plündernd und brandschatzend durch das Landesinnere von Adamas zu ziehen. Das Einschreiten der Kaiserlichen Armee hatte die Vorzeichen auf der Halbinsel aber dramatisch geändert. Das Inland von Adamas war längst ausgebeutet und die meisten Bewohner waren an die Küste geflüchtet, wo sie unter dem Schutz der Armee lebten. Die wenigen Siedlungen, die im Landesinneren noch nicht verlassen waren, stellten längst keine lohnenden Ziele für Überfälle mehr da. Die Einwohner waren verarmt und hungrig und entsprechend mager fielen die Beutezüge der Räuber und Plünderer aus.

Eine umso größere Rolle spielte der Schmuggel verschiedenster Waren. Anfangs hatten Fjedor und seine Banditen Reisende überfallen, die sie bis aufs letzte Hemd ausgeraubt hatten. Alles von Wert, egal ob Waffen oder Werkzeuge, Rüstungen oder Kleidung, Alkohol oder Gewürze, hatten die Schurken dann nach Ganestan verschifft und dort unter der Hand verkauft. Besonders reich war Fjedor dadurch nicht geworden, doch seit man ihn auf die verborgene Grotte aufmerksam gemacht hatte, lief der Schmuggel deutlich besser. Sturmerz war ein beliebtes Metall, denn es war robust und trotzdem einfach zu bearbeiten. In Ganestan gab es überhaupt keine Vorkommen des seltenen Erzes, man fand es ausschließlich in Shalaine. Entsprechend wertvoll war das Metall für Schmiede und Waffenhändler in Ganestan und dieser Umstand hatte Fjedor in kürzester Zeit großen Reichtum beschert. Für eine kleine Kiste voll Sturmerz bekam er bereits mehr Geld, als er jemals bei einem seiner Raubzüge durch das Landesinnere von Adamas erbeutet hatte. Mittlerweile bezeichnete er sich selbst als Schmugglerkönig und dieser Beiname war nicht nur ein Fantasieprodukt seiner Arroganz. Während die anderen Räuberbanden in der Gegend ein Leben wie Bettler führten, mangelte es Fjedors Leuten an nichts. Der illegale Handel mit dem Sturmerz warf so viel Gewinn ab, dass für seine Handlanger mehr als genug Geld übrigblieb, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Jeder der Schmuggler hätte sich jederzeit absetzen können, um sich an einem anderen Ort eine neue Existenz aufzubauen, doch die Gier hielt sie alle unter Fjedors Fuchtel. Selbst die kleinen Gauner in seiner Bande hatten inzwischen bemerkt, dass der Schmuggel von Sturmerz eine wahre Goldgrube war und keiner von ihnen war bereit, für ein friedliches Leben am anderen Ende der Welt auf derart einfach verdientes Geld zu verzichten.

Für den Warentransport war Veit zuständig. Fjedor war einst mit ihm von Isenheim nach Adamas gesegelt und seither standen die beiden Männer in engem Kontakt. Veit war im Besitz eines kleinen, wendigen Zweimasters, mit dem er die Schmuggelware nach Ganestan und Verpflegung zum Schlupfwinkel der Banditen transportierte. Er war ein erfahrener Seemann und auch wenn er sich selbst nicht die Finger schmutzig machte, waren er und seine Mannschaft unentbehrlich für Fjedors Erfolg als Schmuggler. Veit kannte das Binnenmeer wie seine Westentasche und obwohl die Schiffe der Kaiserlichen Armee die Küstengebiete kontrollierten, gelang es ihm immer, durch ihre Blockaden hindurch zu schlüpfen. Er wusste um die kleinsten Strömungen und Untiefen und entkam dank seiner Ortskenntnis auch den verzwicktesten Situationen. Fjedor wusste, was er Veit zu verdanken hatte, zumal der Kapitän keinen besonders hohen Lohn für seine risikoreiche Arbeit verlangte.

Die Dunkelelfen, die dem Schmugglerkönig folgten, waren ein wild zusammen gewürfelter Haufen. Die meisten von ihnen hatten sich jahrelang auf eigene Faust durchgeschlagen und dabei nur wenig Erfolg gehabt. Fjedor war für sie ein Anführer, der ihre Stärken bündeln und koordinieren konnte. Auch Mola hatte vor den Führungsqualitäten des Schmugglerkönigs kapitulieren müssen. Ursprünglich waren ihre Leute die gefürchtetsten Räuber von Adamas gewesen, doch auch sie hatte die Umsiedelung der vielen Bewohner hart getroffen. Fjedor hatte sich ihre Bande einfach einverleibt, indem er sie mit Gold gelockt hatte. Mola genoss unter ihren früheren Anhängern zwar immer noch eine gewisse Autorität und hatte sich und Fjedor lange Zeit als gleichgestellt betrachtet, doch inzwischen war auch der alten Dunkelelfe klar geworden, dass der Schmugglerkönig die Zügel allein in der Hand hielt. Sie hatte sich mit ihrer neuen Position abgefunden und gehörte immerhin noch zu den Unterführern der Schmugglerbande. Inzwischen unterstanden Fjedor fast siebzig Banditen, die in den weit verschlungenen Gängen des Höhlensystems herumlungerten, die Düstermarsch nach neuen Opfern durchstreiften oder die Arbeiter beaufsichtigten. Hinzu kam das Dutzend Seeleute aus der Mannschaft von Veit. Jeder der vierzehn Sklaven baute am Tag durchschnittlich eine halbe Kiste Sturmerz ab und die Förderung wurde sukzessive erhöht. Die Soldaten in Eydar und Khaanor waren völlig ahnungslos und alles war reibungslos vonstattengegangen, bis es Loronk gelungen war, die Schmuggler aufzustöbern. Mola und ihr Lumpenpack waren dem Brigadegeneral unvorsichtigerweise direkt in die Arme gelaufen und der Ork hatte sie gezwungen, den Schlupfwinkel und die Machenschaften der Schmuggler zu offenbaren. Glücklicherweise hatte sich Loronk als korrupter Opportunist entpuppt und so hatte Fjedor aus der Not eine Tugend gemacht. Der Brigadegeneral sorgte dafür, dass den Schmugglern die Soldaten aus Eydar nicht in die Quere kamen und im Gegenzug überließ Fjedor ihm die Hälfte des Gewinns aus dem Handel mit dem Sturmerz. Für den Schmugglerkönig blieb immer noch mehr als genug Geld übrig und Loronk lieferte ihn nicht ans Messer.

Fjedor drehte gerade einen bläulich schimmernden Erzklumpen zwischen seinen Fingern, als Yarshuk erschien. Als Loronks Fähnrich war er in der Mine stationiert worden, um darauf zu achten, dass man den Brigadegeneral nicht hinterging. Nironil, Fjedors Leibwächter, trat dem Ork entschlossen entgegen und Yarshuk blieb in einiger Entfernung grimmig stehen. Nironil war ein blonder Waldelf und machte in seiner einfachen Leinenkleidung nicht besonders viel her, doch er war ein mächtiger Magier, der verheerende Feuerzauber wirken konnte. Außerdem war Nironil wie fast jeder Abkömmling seines Volkes ein begnadeter Bogenschütze.

„Als würde man nach purem Gold schürfen“, murmelte der Fjedor abwesend und betrachtete das wertvolle Mineral. Unter seinen blassblauen Augen lagen dunkle Ringe und eine krumme Narbe, die sich von seinem Jochbein bis zu seinem Unterkiefer zog, entstellte seine linke Gesichtshälfte.

Yarshuk räusperte sich und Fjedor sah auf. „Brigadegeneral Loronk entsendet seine Grüße“, verkündete der Fähnrich knurrend. „Er hat Euch drei neue Sklaven beschafft.“

„Der General nimmt seine Aufgabe ja richtig ernst!“, erwiderte Fjedor und grinste boshaft. Er gab Nironil einen Wink und der Waldelf trat wieder zurück an seine Seite. „Aber in erster Linie soll er dafür sorgen, dass uns die Soldaten nicht in die Quere kommen.“

„Loronk lässt Euch ausrichten, dass er die Kontrolle in Eydar an sich gerissen hat“, fuhr Yarshuk fort.

„Ausgezeichnet!“, rief Fjedor. „Dann bleiben nur noch die Stümper in Khaanor und Tareglir hat berichtet, dass sie ihre Patrouillen durch die Düstermarsch eingestellt haben. Richte deinem General aus, dass ich inzwischen sehr zufrieden mit unserer Zusammenarbeit bin.“ Er drehte seinen Kopf und wandte sein Gesicht der dunkelsten Ecke der Höhle zu. „Hast du das gehört? Neue Sklaven! Dadurch wird der Erzabbau weiter forciert. Ich hoffe, wir finden bald, wonach du suchst. So gut, wie das Geschäft läuft, hast du allmählich eine Gegenleistung verdient.“

Im hinteren Teil der Grotte war aus Kisten ein weiterer Thron errichtet worden, der von zwei großgewachsenen Wächtern flankiert wurde. Einer von ihnen war ein stämmiger Mensch aus Isenheim, der eine stählerne, zweischneidige Streitaxt an seinem Gürtel trug. Der andere Wächter war ein ganz in schwarz gekleideter Dunkelelf mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck. Seine Waffe war ein schmaler Dolch, der in einer schlichten Lederscheide steckte.

Auf dem Thron zwischen den beiden respekteinflößenden Wachen saß ein schlanker Mann in einer weiten, zerschlissenen Robe, dessen Gesicht in Schatten gehüllt war. Dürre Arme ragten unter dem groben Stoff hervor und eine fleckige Hand mit langen, feingliedrigen Fingern umklammerte den Knauf eines blitzenden Langschwerts. Struppiges Haar fiel in dicken Strähnen über schmale Schultern und aus dem Dunkel des Höhlenbereichs ertönte ein krächzendes Kichern.

„Das hoffe ich ebenfalls sehr, mein lieber Fjedor. Dann ist deine Schuld bei mir endlich beglichen.

Dem Schmugglerkönig und dem orkischen Fähnrich stellten sich beim Klang der Stimme die Nackenhaare auf. Der Mann auf dem behelfsmäßigen Thron beugte sich nach vorn in den Schein einer Fackel. Das eingefallene, stoppelbärtige Gesicht war auf der linken Seite von hässlichen Narben übersät, die wie Brandwunden aussahen. Die Backe war von den Verletzungen durchlöchert und vergrößerte den Mund mit den blassen Lippen auf groteske Art und Weise. Blutunterlaufene, hungrige Augen lagen unter buschigen Brauen und die markanten Wangenknochen traten deutlich unter der bleichen Haut des Mannes hervor. Der Braunton seiner langen Haare war stumpf und glanzlos.

„Ich kann es kaum erwarten, Brynne.“ Fjedor konnte nur mit Mühe verhindern, dass seine Stimme nicht versagte. Er spürte, wie ihm ein dicker Schweißtropfen über die Wange lief. Brynne Blutbrand stammte wie Fjedor aus Isenheim, doch im Gegensatz zu dem selbsternannten Schmugglerkönig strahlte er eine Aura aus, die bloße Führungsqualitäten überstieg. Er verbreitete Angst durch bloße Anwesenheit und Fjedor fragte sich, wie seine beiden Leibwächter Viland und Brothain in seiner Gegenwart so ruhig bleiben konnten. Selbst mit Nironil an seiner Seite fühlte sich Fjedor nicht besonders wohl in seiner Haut.

Insgeheim verfluchte sich der Schmugglerkönig dafür, dass er sich bereit erklärt hatte, mit Brynne gemeinsame Sache zu machen. Er war es gewesen, der Fjedor auf die reichen Sturmerzadern unter dem kleinen Berg an der Küste aufmerksam gemacht hatte. Brynne war an dem wertvollen Metall selbst nicht interessiert, sondern suchte in den Minen nach etwas anderem, das er als Blitzstein bezeichnete. Fjedor hatte davon noch nie gehört, aber die Tatsache, dass Brynne weder für sich, noch für seine Handlanger eine Beteiligung an dem Erlös durch den Erzhandel verlangte, war Grund genug für den Schmugglerkönig gewesen, sich auf ein Abkommen mit dem mysteriösen Kerl einzulassen. Brynne überließ Fjedor das Feld, ließ ihn Befehle erteilen und Entscheidungen treffen und hielt sich selbst immer im Hintergrund.

Der Schmugglerkönig wusste fast nichts über seinen Verbündeten. Ihm war lediglich bekannt, dass Brynne unter einer seltenen, unheilbaren Krankheit litt, die dafür sorgte, dass seine Haut bei Kontakt mit Sonnenlicht verbrannte. Die Auswirkungen der Erkrankung waren deutlich zu sehen. Es war pures Tageslicht gewesen, das Brynnes Gesicht entstellt hatte. Er mied die Sonne und hielt sich in Höhlen und dichten Wäldern auf, wo ihn seine Krankheit nicht behinderte.

Fjedor waren nicht einmal Brynnes Absichten bekannt, aber er hoffte, dass sein Verbündeter einfach verschwand, wenn er hatte, was er wollte. Brynnes Gegenwart machte ihn allmählich nervös. Yarshuk war deutlich anzusehen, dass es ihm keinen Deut besser erging. Der Ork murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und entschuldigte sich. Dann drehte er sich hastig um und verschwand eilig in den gewundenen Gängen. Nur Nironil blieb ruhig und lieferte sich ein grimmiges und stummes Blickgefecht mit Brynnes Leibwächtern.

Schließlich lehnte sich Brynne wieder zurück und Fjedor atmete erleichtert auf, als sein entstelltes Gesicht in den Schatten verschwand.

„Viland, sei doch bitte so gut und löse unsere gemeinsamen Freunde ab, die am Eingang der Grotte Wache halten.“ In Brynnes Stimme schwang gefährliche Freundlichkeit mit und seine Worte waren keine Bitte, sondern ein Befehl.

Der stämmige Mann aus Isenheim tätschelte seine Axt und neigte unterwürfig den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Meister“, erwiderte er gehorsam und trottete davon. Fjedor blickte Viland nervös hinterher. Auch mit nur einem Mann als Garde wirkte Brynne nicht weniger bedrohlich. Brothain, der dunkelelfische Leibwächter, blieb regungslos stehen und zuckte noch nicht einmal mit der Wimper.

„Mir wäre es lieber gewesen, du hättest die Soldaten getötet“, bemerkte Brynne kühl. „Dieser Loronk ist zu neugierig. Ich traue ihm nicht.“

„Keine Sorge“, versicherte Fjedor hastig und warf den Klumpen Sturmerz in eine randvoll gefüllte Kiste mit abgetragenem Metall. „Er steckt viel zu tief in dieser Sache drin. Wenn er uns verrät, liefert er sich selbst ans Messer.“

„Dann hoffe ich für ihn, dass er ein vernünftiger Ork ist.“ Fjedor sah Brynnes Gesicht nicht, doch er spürte instinktiv, wie sein Verbündeter das eingefallene Gesicht zu einem animalischen Grinsen verzog.
 

Loronk hatte sich geirrt. Seine Machenschaften waren nicht unentdeckt geblieben und dabei war ihm seine eigene Vorgehensweise zum Verhängnis geworden. Tyra hatte alles gesehen und jedes Wort gehört.

Noch am Vormittag hatte sie sich auf einen weiteren Streifzug in die Düstermarsch begeben. Nach Craig hatte sie nicht gesucht und nachdem er ihr nicht über den Weg gelaufen war, hatte sie sich entschieden, alleine loszuziehen. Besonders nützlich war der Blondschopf schon bei ihrem ersten Abstecher in den Sumpf nicht gewesen. Er hatte sie nur mit seinen ständigen Fragen gelöchert.

Tyra hatte ursprünglich den Plan gehabt, noch ein wenig nach den Vermissten zu suchen und dann, falls sie dabei erneut keinen Erfolg hatte, nach Norden weiterziehen. Sie hatte von den Wolkenbergen und dem Tempel auf dem höchsten Gipfel des Gebirgszugs gehört und sich ein neues Ziel gesetzt.

Diesmal war sie deutlich aufmerksamer, als bei ihrem ersten Ausflug in die Düstermarsch. Sie wollte frühzeitig bemerken, dass sie jemand beschattete, und dabei war es äußerst hilfreich, keine Plaudertasche wie Craig am Hals zu haben. Doch so angestrengt sie auch lauschte, sie bemerkte keine Anzeichen für einen möglichen Verfolger.

Dafür lief sie kurze Zeit später um ein Haar Loronk in die Arme. Der Ork hatte einen Trupp Soldaten und drei Männer im Schlepptau, die aufgrund ihrer gefesselten Hände stark nach Gefangenen aussahen. Tyra wurde sofort misstrauisch und heftete sich an die Fersen des Brigadegenerals und seiner Patrouille. Als die Soldaten die Bucht erreichten und Halt machten, ging die Abenteurerin hinter einem großen Felsen in Deckung und spähte durch ein Dickicht aus Farnen und Sumpfpflanzen. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie alles ganz genau sehen und hören. Sie sah, wie sich die Bluthechte langsam aus der Bucht zurückzogen und schließlich über ihre eigenen Artgenossen herfielen, wie Loronk langsam ungeduldig wurde und den am Ufer zurückgebliebenen Raubfisch aufspießte, wie die Soldaten ein Feuer entzündeten und der Wasserpegel in der Bucht immer weiter sank. Und Tyra sah, wie das Wasser den schmalen Pfad am Nordufer freilegte und eine Horde zwielichtiger Gestalten hinter dem Hügel hervorkam. Sie hörte, wie sich die Anführerin der Dunkelelfen mit Loronk über Sturmerz, ihre Arbeiter in der Mine und die Kontrolle über Eydar unterhielten. Und mit einem Mal war der jungen Abenteurerin alles klar.

Sie wusste jetzt, dass die Bande aus Dunkelelfen hinter dem Verschwinden der Leute steckte. Sie überfielen Reisende und verschleppten sie, um sie in ihrer Mine schuften zu lassen. Loronk hatte ein Schiff erwähnt und für Tyra stand fest, dass er sich mit dem Schmuggel von Sturmerz ein zusätzliches Gehalt verdiente. Sie verstand jetzt auch, warum bislang niemand eine Spur entdeckt und den Schlupfwinkel der Banditen aufgestöbert hatte. Der schmale Pfad, der offensichtlich in ihren Unterschlupf führte, lag nur bei Ebbe für kurze Zeit über der Wasseroberfläche. Ansonsten war das, was jenseits des Hügels lag, aufgrund der Bluthechtschwärme in der Bucht unmöglich zu erreichen. Außerdem war es den Banditen bislang immer gelungen, einen Bogen um Lexa und die Patrouillen der Armee zu machen, wenn diese sich auf Spurensuche in die Düstermarsch begaben. Loronk hatte etwas von einem Spitzel gesagt, den er bezahlen musste. Offenbar gab es einen geregelten Informationsaustausch zwischen den Banditen in der versteckten Mine und Loronk in Eydar. Tyra wusste zwar noch nicht, wie diese Nachrichten überbracht wurden, aber das erklärte, weswegen die Schurken immer darüber Bescheid wussten, wenn ein Reisender des Weges kam oder eine Patrouille im Anmarsch war.

Alle Rätsel waren auf einen Schlag gelöst. Selbst das Verschwinden von Loronks Fähnrich hatte sich aufgeklärt. Er war den Gaunern nicht in die Hände gefallen, sondern sorgte in ihrem Schlupfwinkel dafür, dass alles nach Loronks Geschmack ablief. Mit diesem Wissen wäre es Tyra ein Leichtes gewesen, nach Eydar zurückzukehren, dort Bericht zu erstatten und die ganze Schmugglerbande auffliegen zu lassen. Aber sie dachte nicht einmal im Traum daran, den Soldaten etwas zu erzählen. Abenteuerlust flackerte in ihren Augen, als sie sich entschied, sich alleine um die Schurken zu kümmern.

Die Wege von Loronk und den dunkelelfischen Schmugglern trennten sich wieder. Die Banditen nahmen den Gefangenen mit, den Loronk ihnen ausgeliefert hatte. Tyra wartete noch einen Moment, bis sie sich sicher war, dass sowohl die Soldaten, als auch die Verbrecher verschwunden waren, ehe sie aus ihrem Versteck kam. Langsam und vorsichtig näherte sie sich der Bucht. Das Wasser war deutlich angestiegen und hatte den schmalen Uferpfad wieder bedeckt.

Auch die Bluthechte waren zurückgekehrt. Im Schwarm lauerten sie dicht unter der Wasseroberfläche und stierten hungrig zu Tyra hinauf. Die Bucht zu betreten war selbstmörderisch. Für den Augenblick war ihr der Weg versperrt.

Tyra kickte einen Stein ins Wasser. Die Bluthechte stoben wütend auseinander. „Mistviecher“, brummte Tyra verärgert und spähte über die Bucht, dorthin, wo die Banditen verschwunden waren. Es musste noch einen anderen Weg auf die andere Seite des Hügels geben. Und wenn man ihn nicht umrunden konnte, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass man ihn überqueren konnte. Tyra warf einen flüchtigen Blick ins Unterholz, wo sich die Riesenratten tummelten. Dann begann sie mit dem Aufstieg.

Der Hügel war stark bewaldet und bot viel Deckung. Außerdem stieg das Gelände nur sanft an, sodass Tyra rasch vorankam. Schnell befand sie sich hoch über dem Meeresspiegel und durch die Bäume hindurch bat sich ihr eine atemberaubender Aussicht auf die ruhige See, auf deren Oberfläche das Wasser der Nachtmittagssonne glitzerte. Doch Tyra hatte keinen Blick dafür übrig. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg durch das Dickicht und behielt die Umgebung im Auge.

Plötzlich fiel das Gelände vor ihr steil ab. Die Abenteurerin unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei und hielt sich reflexartig am Stamm eines Baumes fest, als ihr rechter Stiefel um ein Haar ins Leere trat. Unter ihr befanden sich steile Klippen und der Weg nach unten war tief. Tyra schätzte, dass sie sich fünfzehn oder sogar zwanzig Meter über dem Meeresspiegel befand. Es war, als wäre der Hügel in der Mitte von einem riesigen Messer in zwei Teile gespalten und eine Hälfte im Meer versenkt worden.

Vorsichtig spähte Tyra in die Tiefe. Sie konnte deutlich eine große Öffnung in der Felswand erkennen, die sie als Grotte identifizierte. Die Abenteurerin wusste sofort, dass sie den Unterschlupf der Gauner entdeckt hatte. Nun musste sie nur noch herausfinden, wie sie diese Höhle am besten betreten konnte. Vermutlich gab es noch einen zweiten Eingang irgendwo auf der anderen Seite des Hügels. Tyra konnte sich nicht vorstellen, dass die Schmuggler riskierten, bei Flut in der Grotte festzusitzen. Außerdem bestand die Gefahr, dass das gesamte Höhlensystem bei einem Unwetter überschwemmt wurde. Ohne einen Hinterausgang konnte die Grotte schnell zur Todesfalle werden.

Doch falls es einen zweiten Eingang tatsächlich gab, hatten die Schmuggler ihn vermutlich gut getarnt. Es konnte Stunden dauern, ihn zu finden, und Tyra war nicht besonders geduldig. Deshalb entschied sie sich, an dieser Stelle nach unten zu klettern.

Das Wasser ragte inzwischen bis an die Klippen heran und in die Grotte hinein, aber die Abenteurerin entdeckte einen schmalen Steinsims, der noch über dem Meeresspiegel lag. Die Felswand war aber zu steil, als dass Tyra ohne Hilfe hätte hinunterklettern können. Deshalb holte sie ein langes Seil aus ihrem Rucksack, schlang es um den Stamm eines Baumes, der am Rande der Klippe stand, und ließ sich an dem Tau langsam und vorsichtig die Felswand hinunter.

Der Strick reichte nicht bis ganz nach unten, aber auf halber Strecke wurden die Klippen schroffer und boten Tyra die Möglichkeit, mit Händen und Füßen weiter zu klettern. Gerade als sie auf einem spitz aufragenden Felsen Halt suchte, nahm sie unter sich eine Bewegung wahr. Sie fluchte leise, als sie erkannte, dass der Eingang der Grotte von zwei Dunkelelfen bewacht wurde. Die beiden Schmuggler standen auf beiden Seiten des schmalen Wassergrabens, der in die Höhle hineinragte. Sie trugen keine Rüstungen, waren aber bewaffnet. Tyra sah deutlich die schartigen Dolche, die in ihren Gürteln steckten.

Die Abenteurerin zögerte kurz. Sie konnte die Grotte nicht einsehen und wusste nicht, wie viele der Schmuggler in ihrem Inneren noch lauerten. Trotzdem war sie noch immer fest entschlossen, die Höhle auszukundschaften und sich einen Überblick über die Situation dort zu verschaffen. Wenn sie der Meinung war, die Banditen einen nach dem anderen ausschalten zu können, wollte sie sich mit ihnen anlegen. Falls sich jedoch herausstellen sollte, dass es zu viele waren, um alleine mit ihnen fertig zu werden, konnte sie immer noch nach Eydar zurückkehren und dem Orden von Loronks Machenschaften berichten. In jedem Fall würde sie als die Frau gefeiert werden, die das Rätsel um das Verschwinden der Leute gelöst hatte.

Die beiden Wachposten am Höhleneingang schienen jedenfalls kein großes Problem zu sein. Sie wirkten gelangweilt und schienen nicht damit zu rechnen, dass auch von oben Gefahr drohen könnte. Trotzdem wollte es Tyra nicht auf eine direkte Konfrontation mit beiden ankommen lassen. Sie achtete genau darauf, dass ihre Stiefel keine Steinchen lösten, als sie nach Halt suchte, ließ das Seil los und kletterte vorsichtig weiter. Die hohen Felsen verbargen nicht nur den Eingang der Grotte, sondern schützten sie auch vor den Blicken der beiden Dunkelelfen. Die Abenteurerin zog ein Messer, dessen Klinge sie sich zwischen die Zähne klemmte. Dann zog sie einen weiteren Dolch und ging auf einem Felsvorsprung gut drei Meter über dem Erdboden in die Hocke. Prüfend wog sie die Waffe in ihrer Hand, dann nahm sie Maß und schleuderte das Messer kraftvoll auf den Wachposten, der weiter von ihr entfernt war.

Es war ein perfekter Wurf. Die Klinge drehte sich mit tödlichem Surren um ihren Schwerpunkt und fuhr dem Dunkelelfen direkt zwischen die Schulterblätter. Der Mann gab einen erstickten Laut von sich und kippte dann nach vorne um. Der andere Wachposten wirbelte herum und erstarrte vor Schreck, als er sah, wie sein Kamerad in sich zusammensackte. Tyra ließ ihm keine Zeit, nach dem Angreifer Ausschau zu halten. Sie zog das zweite Messer zwischen ihren Zähnen hervor und warf es mit todbringender Präzision. Die Klinge traf den Mann in den Rücken und auch er fiel auf der Stelle regungslos um.

Tyra verharrte noch kurz auf ihrem Felsvorsprung. Aus dem Inneren der Grotte kamen außer dem stetigen Tropfen von Wasser keine weiteren Geräusche. Als sie sich schließlich sicher war, dass die beiden Dunkelelfen die einzigen Wachposten gewesen waren, kletterte sie geschickt die Felsen hinunter und trat in die Höhle. Sie bückte sich über die Leiche des ersten Mannes und zog ihr Messer aus seinem Rücken. „Nichts für ungut“, murmelte sie leise und stieß den Toten mit dem Stiefel ins Wasser. „Ihr seid einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.“

Die Bluthechte lauerten bereits und stürzten sich sofort auf den Leichnam. Tyra sprang über den Graben hinweg und stieß auch den zweiten Dunkelelfen ins Wasser, nachdem sie sich auch ihr anderes Messer zurückgeholt hatte. Vorsichtshalber hievte sie ihren Schild von der Schulter, schlüpfte mit dem linken Unterarm in die Lederschlaufen und zog mit der rechten Hand ihr Schwert. Dann sah sie sich in der Höhle um.

Bläulich schimmerndes Licht fluoreszierender Pilze und Algen umgab sie. An der Decke waberte die Reflexion des von den Bluthechten aufgewühlten Wassers. Der Untergrund war feucht und glitschig und Tyra setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Ihr fiel sofort auf, dass die Grotte ihre Tücken barg. Im Boden klafften tiefe, mit Wasser gefüllte Löcher und die Abenteurerin sah die spitzen Zähne der Bluthechte, die dort lauerten. In dieser Höhle hatte ein Fehltritt sogar noch gravierendere Folgen als draußen in der Düstermarsch.

Tyra überlegte, ob sie eher in einem Tümpel aus Schlamm ertrinken oder doch lieber von Bluthechten zerfleischt werden wollte, und kam gerade zu dem Schluss, dass beides kein besonders angenehmer Tod war, als sie ein Geräusch aufhorchen und Kampfstellung einnehmen ließ. Schwere Stiefel traten in Wasserpfützen und bevor Tyra in Deckung gehen konnte, trat ein großgewachsener Mann aus einem breiten Gang im hinteren Teil der Grotte. Die junge Abenteurerin erkannte den Fremden sofort als einen ursprünglichen Bewohner Isenheims. Er war mit einer Streitaxt bewaffnet und trug einen einfachen Brustpanzer aus Leder, der an den Schultern und Oberarmen mit robusten Kettengliedern verstärkt war.

Der Mann entdeckte Tyra und blieb überrascht stehen. „Wie bist du hier reingekommen?“, fragte er verblüfft.

„Na, durch den Eingang“, antwortete Tyra frech und schwang prüfend ihr Schwert.

„Klugscheißerin“, knurrte der Mann und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Wer bist du? Und wo sind die Wachen?“

„Die gehen eine Runde schwimmen“, entgegnete Tyra und deutete mit der Schwertspitze hinter sich, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.

„Das wirst du noch bereuen“, grollte ihr Gegenüber drohend und zog seine Axt aus dem Gürtel. „Ich habe dich gefragt, wer du bist!“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, gab Tyra lässig zurück. „Aber wenn du das unbedingt wissen möchtest, solltest du dich vielleicht erst einmal selbst vorstellen.“

Der großgewachsene Mann glotzte sie zornig an. Tyra konnte ihm ansehen, dass er darüber nachdachte, ob er antworten oder lieber direkt zuschlagen sollte. Vorsichtshalber tastete sie mit ihrer linken Hand, an der ihr Schild hing, nach dem Griff eines Wurfmessers.

Die Schultern des Mannes strafften sich. „Man nennt mich Viland“, brummte er reserviert. „Und wer immer du bist, es war ein großer Fehler, dass du hierhergekommen bist.“

„Das bleibt abzuwarten. Ich bin Tyra aus den Eismarschen. Du stammst ebenfalls aus Isenheim, nicht wahr?“

Viland wich einen Schritt zurück und verengte die Augen zu Schlitzen. „Wenn du glaubst, dass ich aufgrund unserer gemeinsamen Heimat Gnade walten lasse, bist du auf dem Holzweg!“, dröhnte er. „Aber ich gebe dir die Chance, dich zu ergeben! Das Ergebnis ist dasselbe, aber du ersparst dir die Prügel deines Lebens, du Rotzgöre!“

Tyra grinste angriffslustig. „Das beleidigt mich. Du solltest doch wissen, dass sich unsereins nicht so einfach ergibt. Und wir schuften auch nicht für so ein Lumpenpack in einer Mine am Arsch der Welt!“

Nachdem Craig den Kerker verlassen hatte, hatte er Knack einen kurzen Besuch abgestattet, weil er wusste, dass sich der Knucker um ihn sorgte, wenn er lange fortblieb. Diesmal war er deutlich aufmerksamer und entging einer bösen Überraschung durch eine Klippenharpyie. Anschließend war er nach Eydar zurückgekehrt, um sich im Hafen nach Arbeit umzusehen. Er hatte beim Beladen eines Frachtschiffes geholfen und sich so einen kleinen Lohn verdient, mit dem er sich zwei Krüge Bier und ein warmes Bett für die Nacht leisten konnte. Im Gasthaus hatte er sich nach Tyra umgesehen, aber sie war nicht da. Dafür hatte Craig erfahren, dass Vance und die anderen Gefangenen von Loronk in der Düstermarsch ausgesetzt worden waren, um nach den Vermissten zu suchen.

Nun überlegte der Waisenjunge, ob Vance wohl ebenfalls in den Sümpfen verschwand oder ob es ihm gelang, diese zweite Chance tatsächlich zu nutzen. Immerhin war er ein Dorashen und Craig traute ihm zu, die Vermissten zu finden. Aber wenn er nicht zurückkehrte, wollte der Waisenjunge persönlich nach ihm suchen. Und er hatte schon eine Idee, wie er Vances Spur folgen konnte.

Craig nuckelte nachdenklich an seinem Bier. Er war so aufgewühlt, dass er nur sehr langsam trank.

Ganz anders erging es Gancielle am Nebentisch. Der ehemalige Kommandant hatte einen gewaltigen Durst. Er war noch immer aufgebracht und wütend in Anbetracht der Dreistigkeit, die Loronk an den Tag legte, doch gleichzeitig war er auch vollkommen niedergeschlagen, weil er sich dazu herabgelassen hatte, den Brigadegeneral zu schlagen. Die einzige Genugtuung, die er noch verspürte, war die Tatsache, dass der Ork nichts davon wusste, dass einer seiner drei Gefangenen ein Dorashen war. Vielleicht schaffte es Vance, Vox und Farniel sicher durch die Sümpfe zu bringen.

In seiner Verzweiflung hatte sich Gancielle in das obere Stockwerk von Aglirs Gasthaus zurückgezogen. Fähnrich Albus leistete ihm Gesellschaft. Er war der einzige Kriegsmagier unter den in Eydar stationierten Soldaten und gehörte seit Gancielles Beförderung zum Kommandanten zu dessen engsten Vertrauten. Nun saß er niedergeschlagen da und sah besorgt zu, wie sein früherer Vorgesetzter einen Bierkrug nach dem anderen leerte.

„Ihr solltet Euch ein wenig zügeln, Kommandant“, mahnte er vorsichtig.

„Lass das, Albus“, brummte Gancielle verstimmt. „Ich war die längste Zeit Kommandant.“

„Ich bin sicher, am Ende wird wieder alles gut ausgehen. Sobald Loronk fort ist, wird Eure Entlassung auf der Stelle rückgängig gemacht.“ Albus‘ Versuch, Gancielle aufzumuntern, war eine reine Verzweiflungstat und der Fähnrich erntete von seinem Vorgesetzten dafür ein verächtliches Schnauben. „Das weiß ich selbst“, knurrte Gancielle verdrießlich. „Aber soweit muss es erst einmal kommen. Loronk hat sich hier festgesaugt, wie ein junger Bluthecht an seinem Wirt.“

Albus wich dem Blick seines ehemaligen Kommandanten aus und schwieg betreten. Seit er Gancielle kannte, war er für ihn eine unangefochtene Führungspersönlichkeit gewesen und nun, da er derartig geknickt vor ihm saß und nicht länger ein hochrangiges Mitglied der Armee war, wusste Albus nicht mehr, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Nie hatte er sich gewünscht, einen anderen Vorgesetzten zu haben.

Gancielle starrte ins Leere und Albus fürchtete, dass er inzwischen vollkommen betrunken war und jeden Augenblick die Besinnung verlor. Die leeren Bierkrüge, die sich vor ihm stapelten, berechtigten diesen Verdacht durchaus, doch Gancielle blieb in seinem Stuhl sitzen, ohne zu wanken. „Ich habe einen Entschluss gefasst, Albus“, raunte er. Der Kriegsmagier konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Gegenüber wie im Wahn sprach. „Das…das freut mich wirklich“, stotterte er unsicher. „Was habt Ihr denn vor?“

„Ich habe es nicht geschafft, das Rätsel um die Verschwundenen zu lösen“, flüsterte Gancielle und starrte noch immer an einen unsichtbaren Punkt an der Wand. Er schien Albus‘ gar nicht gehört zu haben. „Ich habe es allein deshalb nicht verdient, noch länger den Rang eines Kommandanten bekleiden zu dürfen. Aber ich bleibe in Eydar und werde alles dafür tun, um zu verhindern, dass die Liste der Vermissten noch länger wird. Ich werde dafür sorgen, dass Loronk nicht noch mehr Unschuldige für seine Zwecke missbraucht und in den Tod schickt.“

Albus wurde allmählich nervös. „Und…und wie wollt Ihr das anstellen?“, fragte er vorsichtig.

Gancielle kam nicht mehr dazu, die Frage zu beantworten. Rhist betrat das Gasthaus und das bärtige Gesicht des Kommandanten war puterrot. Als er seinen niedergeschlagenen Kollegen entdeckte, stapfte er wütend auf ihn zu und packte ihn mit beiden Händen beim Kragen. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihn auf die Beine, wobei der Tisch umkippte und mehrere leere Bierkrüge polternd zu Boden fielen. Die anderen Gäste blickten erschrocken auf, doch Rhist ignorierte sie einfach.

„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, brüllte er Gancielle an. „Du riesengroßer Vollidiot, was hast du dir bei dieser Aktion gedacht?“

Albus war alarmiert aufgesprungen und versuchte, beschwichtigend einzuschreiten. „Kommandant!“, rief er hektisch. „So beruhigt Euch doch!“

„Ihr haltet Euch da raus, Fähnrich!“, grollte Rhist und warf Albus einen vernichtenden Blick zu. Der Kriegsmagier wich erschrocken einen Schritt zurück. Auch Aglir hatte den Lärm bemerkt und eilte herbei, doch als er Rhists wutverzerrtes Gesicht sah, hielt er sich vorsichtshalber zurück.

Gancielle grinste gequält. „Warum regst du dich so auf?“, fragte er Rhist spöttisch. „Du solltest dich doch eigentlich freuen. Ich war für dich doch schon immer ein Ärgernis, aber das hat sich jetzt erledigt. Jetzt bist du der einzige Kommandant in Eydar, ganz ohne Nebenbuhler.“

„Aber doch nicht so!“, entrüstete sich Rhist. „Und vor allem nicht jetzt! Syndus braucht in diesen Zeiten zwei verlässliche Kommandanten.“

Gancielle verstummte und blickte betreten zur Seite. Rhist verzog verächtlich das Gesicht. „Du stinkst nach Bier“, knurrte er, ließ Gancielle los und stieß ihn von sich. „Unfassbar. Und die Leute halten mich für einen Heißsporn. Hat es sich wenigstens gut angefühlt, diesem verdammten Dreckskerl eine zu verpassen?“

Gancielle richtete sich den Kragen seiner Tunika. Rhists kräftiger Griff hatte den Stoff ausgeleiert. „Sehr sogar“, antwortete er tonlos. „Aber ich glaube nicht, dass es diese kleine Genugtuung wert war.“

„Natürlich war es das nicht“, erwiderte Rhist bissig und schüttelte verärgert den Kopf. „Verdammt. Ich kann nicht fassen, dass ich das sage, aber du warst von Anfang an der Kommandant, den die Soldaten verehrt haben. Du warst derjenige, der die Truppen zusammengehalten hat. Auf dich konnte man sich immer verlassen. Und jetzt sieh dich an! Du bist ein Häufchen Elend. Das bist nicht du! Weißt du wie sehr es mich kränkt, im Schatten eines so erbärmlichen Wichts zu stehen?“

Gancielle wurde schwindelig. Seit er nach Eydar gekommen war, hatte zwischen ihm und Rhist eine erbitterte Rivalität geherrscht. Sie hatten sich gegenseitig stets respektiert, aber dem anderen nie etwas gegönnt. Von seinem ewigen Kontrahenten hatte er solche Worte am wenigsten erwartet. Er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, fing an zu taumeln und musste von Albus gestützt werden, der ihm rasch zur Seite sprang.

„Meinst du das ernst?“, fragte Gancielle mit krächzender Stimme.

„Ich bin nicht dafür bekannt, Lügen zu verbreiten“, brummte Rhist und wandte demonstrativ den Kopf ab. „Lass dir bloß nicht einfallen, irgendwem davon zu erzählen.“

Gancielle lächelte schwach. „Bestimmt nicht“, erwiderte er. „Es wäre mir peinlich, wenn bekannt würde, dass mich mein größter Rivale derartig in den Himmel lobt. Du wirst doch bestimmt schweigen, nicht wahr, Albus?“ Der Kriegsmagier nickte hastig.

Rhists Gesichtsausdruck war steinhart. „Reiß dich gefälligst zusammen und mach das Beste aus dieser Situation!“, herrschte er Gancielle an.

Der ehemalige Kommandant löste sich von Albus und richtete sich entschlossen auf. Sein Schwindelanfall war vergessen. „Das werde ich“, verkündete er. „Ich gehe in die Düstermarsch und suche auf eigene Faust nach den Vermissten!“

„Loronk wird dich nicht durch das Stadttor lassen“, warf Rhist zweifelnd ein.

„Das lass mal meine Sorge sein“, entgegnete Gancielle. Er packte den Kommandanten bei der Schulter und zog ihn nahe zu sich heran. „Richte Lexa aus, dass ich im Morgengrauen am Hafen auf sie warte“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Sie soll mich aus der Stadt schleusen.“

Rhist nickte grimmig. „Meinetwegen“, brummte er und richtete seinen Blick auf Albus. „Fähnrich, wir gehen. Ihr seid noch immer im Dienst. Und das nehmen wir mit.“ Er griff nach einem halbvollen Bierkrug, der auf dem Tisch stand, und machte auf dem Absatz kehrt. Albus folgte ihm zögernd, während sich Gancielle zurück auf seinen Stuhl fallen ließ.

Craig war nach Rhists Auftauchen auf das Gespräch am Nebentisch aufmerksam geworden und hatte interessiert gelauscht. Und er hatte genau gehört, dass sich Gancielle am nächsten Tag mit Lexa treffen wollte. Der Waisenjunge rieb sich voller Vorfreude die Hände und plötzlich schmeckt ihm auch das Bier wieder. Für ihn stand fest, dass er ebenfalls im Morgengrauen am Hafen sein würde. Denn er war davon überzeugt, Gancielle bei seiner Suche helfen zu können.
 

In der Mine hackte Vance stur auf die Erzader ein. Mittlerweile hatte er sich schon ein ordentliches Stück in den Fels vorgearbeitet und war längst in dem klaffenden Loch verschwunden, das seine Spitzhacke in die Wand geschlagen hatte. Die Dunkelelfen kamen mit dem Einsammeln der Sturmerzbrocken kaum noch nach und die Aufseher blickten sich untereinander immer wieder verunsichert an. Die rohe Kraft und die unermüdliche Arbeitswut des neuen Sklaven waren ihnen nicht ganz geheuer und sie waren froh, dass der schwarzhaarige Bursche ihnen keinen Anlass gab, ihre Peitschen nach ihm zu schwingen.

Auch die anderen Arbeiter hatten längst bemerkt, dass der Neue alleine schneller vorankam, als alle anderen Sklaven gemeinsam. Die Aufmerksamkeit der Aufseher wurde zusehends auf das brachiale Hacken des jungen Mannes gelenkt und so fiel es nicht auf, dass die anderen Sklaven ihr Tempo drosselten, um sich ein wenig erholen zu können.

Nur Ratz, der Oberaufseher, ließ sich nicht ablenken. Sein liebstes Opfer war Wuleen, der junge, stoppelbärtige Mann mit dem blonden, strohigen Haar, das in alle Himmelsrichtungen abstand. Weder die Schmuggler, noch seine Mitgefangenen wussten, wer er war oder woher er kam. Wuleen sprach nicht viel. Er war einer der ersten Reisenden gewesen, die den Schmugglern in die Hände gefallen waren. In seinen Muskeln steckte deutlich mehr Kraft, als es sein drahtiger Körperbau erahnen ließ, doch Wuleen zeichnete sich im Besonderen durch seinen ungebrochenen Willen aus. Während andere Sklaven, die noch nicht ansatzweise solange in der Mine schufteten, jeden Augenblick vor Erschöpfung zusammenzubrechen drohten, arbeitete Wuleen noch immer mit derselben Verbissenheit, wie am ersten Tag und er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, den Aufsehern Widerstand zu leisten. Wenn sich einer der Schmuggler zu nahe an ihn heranwagte, stürzte er sich sofort auf ihn und nahm dafür auch die Strafe in Form von Peitschenhieben in Kauf. Zahllose Striemen zogen sich über seinen Rücken und zeugten von seinen ständigen Versuchen, die Banditen anzugreifen. Obwohl sich die Wunden entzündet hatten, schien Wuleen noch immer im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein und ließ seine Spitzhacke wieder und wieder niederfahren, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben.

Vances übermenschliches Arbeitstempo ließ aber auch ihn innehalten. Mit verbissenem Gesichtsausdruck starrte er zu dem Loch hinüber, das der Neuankömmling in kürzester Zeit in die Felswand geschlagen hatte. Ratz wartete nur auf eine solche Gelegenheit, um Wuleen bestrafen zu können. Der widerspenstige Sklave hatte sich unter den Aufsehern durch seine ständigen Angriffe keine Freunde gemacht.

Ohne eine Warnung schwang der Oberaufseher seine Peitsche und ließ sie knallend auf den geschundenen Rücken des jungen Mannes niederfahren. Wuleen krümmte sich vor Schmerz, gab aber noch immer keinen Laut von sich. Stattdessen fuhr er herum, wie ein in die Enge getriebenes Tier, und in seinen Augen loderte der Wahnsinn. Sein aggressiver Blick verunsicherte Ratz, doch mit seiner Peitsche fühlte er sich stärker. „Glotz nicht so blöd“, rief er und holte erneut zum Schlag aus. Wuleen machte keine Anstalten, auszuweichen. Er ließ sich regungslos an der Schulter treffen und packte die Peitsche dann mit beiden Händen. Mit einem kräftigen Ruck zog er daran und bewirkte, dass Ratz nach vorn stolperte und der Länge nach hinschlug. Wuleen stürzte sich augenblicklich auf den am Boden liegenden Aufseher und schlug wie ein Besessener mit seinen Ketten auf ihn ein. Ratz rollte sich zu einer Kugel zusammen und versuchte, die wilden Angriffe des Sklaven irgendwie abzuwehren. „Helft mir!“, kreischte er mit schriller Stimme. „Schafft mir diesen Wahnsinnigen vom Hals!“

Die anderen Aufseher reagierten schnell, doch es waren vier von ihnen vonnöten, um Wuleen niederringen zu können. Er wehrte sich nach Leibeskräften und biss einem der Schmuggler in die Hand, doch am Ende musste er sich der Überzahl seiner Gegner geschlagen geben. Mit vereinten Kräften rangen ihn die Schurken nieder und zwangen ihn gewaltsam in die Knie. Ratz robbte auf dem Hintern ein Stück rückwärts und sprang dann erbost auf. Er blutete aus der Nase und sein Gesicht war an ein paar Stellen rötlich verfärbt und geschwollen, doch ansonsten hatte er den Angriff unversehrt überstanden.

„Das reicht endgültig!“, schrie er zornig und zückte sein Kurzschwert. Mit der Spitze seiner Klinge deutete er auf Wuleen. Dieser wand sich im Griff der Schmuggler, doch er hatte keine Chance und konnte Ratz nur gehässig anzischen. „Bislang war ich sehr nachsichtig mit euch!“, rief der Oberaufseher den anderen Sklaven zu. „Aber jetzt ist das Maß voll! Ich werde an diesem Mistkerl ein Exempel statuieren! Seht genau hin, damit ihr wisst, was euch erwartet, wenn ihr Widerstand leistet!“

Ratz holte mit seinem Schwert aus, doch er kam nicht mehr dazu, zuzustoßen. Vance trat zwischen ihn und sein Opfer und der Oberaufseher war über dieses forsche Auftreten so überrascht, dass er seine Waffe senkte. „Was soll das?“, fragte er entgeistert. „Geh sofort zurück an die Arbeit!“

„Ihr solltet diesen Mann in Frieden lassen“, erwiderte Vance tonlos. „Er arbeitet gut.“

Eigentlich hatte Ratz das dringende Bedürfnis, Vance für seine Einmischung gleich mit aus dem Weg zu räumen, doch plötzlich befiel ihn ein beklemmendes Gefühl. Etwas im Blick des neuen Sklaven verunsicherte ihn und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann räusperte er sich. „Meinetwegen. Ich will ausnahmsweise Gnade walten lassen“, verkündete er und steckte sein Schwert zurück in den Gürtel. Er schenkte Wuleen einen verächtlichen Blick. Die vier Aufseher ließen den aufmüpfigen Sklaven auf einen Wink von Ratz los und entfernten sich schleunigst aus seiner Reichweite. Doch der Unruhestifter war plötzlich seltsam friedlich geworden. Ungläubig starrte er seinen Retter an und rührte sich nicht.

„Du hast noch mal Glück gehabt“, knurrte Ratz verärgert. „Aber wehe, du erlaubst dir nochmal so eine Aktion. Dann bist du dran.“ Er streifte Vance mit einem flüchtigen Blick. „Und wenn du dich dann erneut einmischst, geht es dir auch an den Kragen, verstanden? Und jetzt geht zurück an die Arbeit!“
 

Nach dem kleinen Zwischenfall ließ man die Sklaven erbarmungslos weiterschuften. Die Schmuggler gönnten ihnen keine Ruhepausen und nur ab und zu einen Schluck Wasser, wenn einer der Schürfer vor Erschöpfung umzukippen drohte.

Vance schlug unermüdlich auf das seltsame Metall ein. Große Gesteinsbrocken lösten sich aus der Wand und plötzlich wurde der Stollen in einen schwachen, blauen Schimmer gehüllt. Vance ließ die Spitzhacke sinken. Das seltsame Licht erinnerte ihn an die feinen Adern, die sich leuchtend durch das Sturmerz zogen, doch es war deutlich intensiver und strahlte durch den Fels hindurch. Vance setzte die Spitzhacke an, holte aus und schlug noch einmal kräftig zu. Ein greller Blitz schoss aus der Felswand und riss ihn von den Beinen. Instinktiv kniff er die Augen zusammen. Sengende Hitze schoss über seine Handflächen durch seinen Körper schoss und seine Haare stellten sich begleitet von einem intensiven Kribbeln auf. Als dann von einem Moment auf den anderen Ruhe einkehrte, öffnete Vance seine Augen wieder und blinzelte in die Dunkelheit.

Von seinen Handflächen stiegen dünne Rauchfäden auf. Er hatte sich leichte Verbrennungen zugezogen, die aber nicht der Rede wert waren und schnell wieder verheilen würden. Der Schaft seines Pickels war der Länge nach gesplittert und die Spitze war nach oben verbogen. Vor ihm lag ein unförmiger, bläulich leuchtender Gesteinsklumpen auf dem Höhlenboden. Knisternde Funken sprühten aus dem Brocken und wurden zusammen mit dem seltsamen Leuchten immer schwächer. Als der Stein schließlich erlosch, sah er aus wie ein einfacher, schwarzer Felssplitter.

Den Aufsehern war der grelle Lichtblitz nicht entgangen und sofort liefen sie zu Vance hinüber, um nach dem Rechten zu sehen. Sie blieben in einiger Entfernung tuschelnd stehen und überlegten, was sie mit dem mysteriösen Stein tun sollten. Vance rappelte sich auf und schüttelte seine Benommenheit ab. Dann streckte er seine Hand nach dem seltsamen Bruchstück aus.

„Finger weg!“

Ratz bahnte sich energisch seinen Weg durch die Schaulustigen. Er drohte Vance mit seiner Peitsche, blieb dabei aber auf Sicherheitsabstand. „Verdammt, das ist jetzt schon die zweite Spitzhacke, die du geliefert hast“, knurrte er wütend. „Mach, dass du wegkommst!“

Vance starrte den Oberaufseher für einen Moment trotzig an, ehe er zur Seite trat. Ratz stieß den seltsamen Stein mit dem Fuß an. Er blieb dunkel und schwarz, das Leuchten und die Funken schienen vollkommen erloschen zu sein. Der Aufseher bückte sich und hob den unförmigen Klumpen auf.

„Was ist das?“, fragte Vance.

„Ich hab da so eine Ahnung“, entgegnete Ratz. „Aber die geht dich nichts an! Für heute habt ihr alle genug geschuftet.“ Er drehte sich zu den anderen Aufsehern um und wedelte mit seiner Peitsche. „Schafft die Arbeiter zurück in den Sklavenverschlag! Wir schicken sie morgen früh zurück in die Mine!“

Als die Schürfer Ratz‘ Befehl hörten, stöhnten die meisten von ihnen erleichtert auf und ließen erschöpft ihre Spitzhacken fallen. Ihre dunkelelfischen Aufpasser packten sie sofort bei den Armen und schleppten sie zurück in die Gefangenenhöhle. Auch Vance wurde rüde durch die Tunnel geschoben. Man sperrte ihn und die anderen Arbeiter in den Verschlag mit dem schimmligen Stroh und verschloss die Gittertür.

Die meisten der Gefangenen waren von den Strapazen des Tages so erschöpft, dass sie auf der Stelle einschliefen. Wuleen wirkte zwar nicht müde, doch er zog sich in den hintersten Teil des Sklavenverschlags zurück, ließ sich dort auf dem blanken Fels nieder und drehte sich demonstrativ von den anderen Arbeitern weg.

Auch zwei der Pardel legten sich schlafen. Die dritte Katzenfrau setzte sich neben sie, als würde sie über ihre Kameraden wachen.

Der großgewachsene Mann, mit dem sich Vance kurz nach seiner Ankunft unterhalten hatte, rückte unauffällig ein Stück näher in seine Richtung. Unter der Beobachtung des Aufsehers Ratz hatten die beiden ihr Gespräch nicht fortführen können, denn der grausame Sklaventreiber hatte ihre Worte augenblicklich mit drohendem Peitschenknallen im Keim erstickt. Vance warf dem bärtigen Mann einen kurzen Blick zu und sah, dass seine blonde Gefährtin todmüde aussah. Trotzdem legte sie sich nicht schlafen, sondern blieb wach und beobachtete, wie sich ihr Partner Vance näherte.

„He, du!“, zischte er. „Wie heißt du?“

„Ich bin Vance.“

„Ich bin Ratford“, stellte sich der kräftige Mann vor und deutete auf seine blonde Gefährtin. „Und das ist Lazana.“

Vance nickte der erschöpften Frau ausdruckslos zu. „Sehr erfreut.“

Ratford rückte noch ein Stück näher und sah sich verstohlen um. Vor dem Gitter hielten ein paar Dunkelelfen Wache, doch sie waren in Gespräche vertieft und beachteten die Gefangenen gar nicht. „Seit man dich heute hierhergebracht hat, überschlagen sich die Ereignisse“, raunte er.

„Ist das so?“, brummte Vance und starrte auf seine Hände. Die Verbrennungen heilten bereits wieder. „Ich dachte, es sei völlig normal, dass Blitze aus Felswänden schießen.“

„Was ist da eigentlich genau passiert?“, fragte Ratford lauernd.

Vance zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Da war so ein seltsames Schimmern im Gestein und als ich erneut zugeschlagen habe, gab es auf einmal diesen Blitz. Und zurückgeblieben ist ein Felssplitter, aus dem Funken sprühten. Der Oberaufseher war ziemlich interessiert daran, wollte mir aber nicht sagen, worum es sich bei diesem merkwürdigen Stein handelt.“

„Es scheint, als hättest du einen Blitzstein gefunden“, murmelte Lazana erschöpft.

„Einen Blitzstein?“, wiederholte Ratford skeptisch. „Was soll das denn sein?“

„Ich weiß nicht viel darüber“, erklärte Lazana. "Aber man sagt, dass diese Steine die urtümliche Kraft eines Blitzes speichern können und dazu in der Lage sind, die Energie von Sturmmagie zu absorbieren."

Ratford kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Klingt ja höchst interessant“, seufzte er. „Aber was wollen diese Mistkerle damit?“

„Ich kann nur mutmaßen“, erwiderte Lazana und zuckte die Schultern. „Blitzsteine sind selten und entsprechend wertvoll.“

„Ist ja auch egal“, brummte Ratford und wandte sich Vance zu. „Du hast uns mit deiner Entdeckung jedenfalls eine frühere Pause ermöglicht. Diese Mistkerle hätten uns garantiert noch ein paar Stunden schuften lassen, bis der Erste vor Erschöpfung umgekippt wäre.“

„Gern geschehen“, murmelte Vance.

„Ein schwacher Trost“, brummte Ratford niedergeschlagen. „Offenbar machen die Soldaten aus Eydar mit den Schmugglern hier gemeinsame Sache. Ich hatte die Hoffnung, dass wir von der Oberfläche Hilfe bekommen könnten, aber unter diesen Umständen können wir das vergessen! Wir kommen hier nie raus!“

„Spürst du das nicht?“, flüsterte Lazana und sah Vance an. Ihre Lider hingen müde herab. „Ihn umgibt die gleiche Aura wie Cord.“

Ratford riss überrascht die Augen auf. „Du bist ein Dorashen?“, rief er entgeistert. Er schlug sich hastig die Hand vor den Mund, doch die Wachen hatten ihn nicht gehört. „Dann kannst du uns alle hier rausholen!“

Vance rang verzweifelt die Hände. „Ich…ich kann nicht“, stammelte er

„Natürlich kannst du!“, zischte Ratford und klang gereizt. „Du hast die Kraft, uns alle zu befreien.“

„Aber ich kann diese Kraft nicht kontrollieren“, stöhnte Vance. „Und ich will nicht schon wieder Schuld an jemandes Tod sein.“

„Ach, und deshalb überlässt du diese Leute ihrem Schicksal?“, rief Ratford und stand wütend auf. Er ballte die Fäuste und blickte verächtlich auf den Dorashen hinab. „Sieh sie dir doch mal an! Sie sind fast halbtot! Nicht jeder kann so viel einstecken wie du. Wenn du sie nicht rettest, bist du Schuld an ihrem Tod. Dein feiger Egoismus widert mich an!“

Ratford gab sich keine Mühe mehr, seine Stimme zu senken. Er wollte Vance treten, aber mit seinen gefesselten Füßen gelang ihm das nicht besonders gut. Stattdessen rief er die Wachen auf seinen Plan. Sofort standen vier Dunkelelfen vor dem Gitter und funkelten ihn böse an.

„Halt dein Maul!“, zischte einer von ihnen verärgert. „Beim nächsten Mucks schneide ich dir die Zunge ab!“

Lazana griff nach Ratfords Hand und zog ihren Gefährten sachte zurück auf den Boden. „Lass gut sein“, flüsterte sie, als sich die Wachen wieder umgedreht hatten. „Es sind ohnehin zu viele. Selbst für einen Dorashen. Wir würden nicht weit kommen.“

Ratford strafte Vance noch einmal mit einem wütenden Blick, ehe er sich wortlos auf dem kalten Höhlenboden ausstreckte und den anderen Gefangenen den Rücken zudrehte. Ein paar Sklaven, die sein Wutausbruch geweckt hatte, ließen sich ebenfalls wieder auf ihren Lagern aus altem Stroh nieder.

Bald waren außer der Pardelfrau in der hinteren Ecke nur noch Vance und Lazana wach. Die blonde Frau beäugte den Dorashen mitfühlend, obwohl sie offensichtlich völlig erschöpft war. „Du hast eine Menge durchgemacht, was?“

Vance antwortete nicht. Er knetete zerknirscht seine Hände und starrte ins Leere.

„Lazana…“, murmelte er schließlich. „Erkennt man eine zweite Chance, wenn man sie bekommt?“

Die junge Frau lächelte schwach. „Das ist nicht immer so eindeutig“, erwiderte sie. „Das Schicksal wählt manchmal seltsame Methoden, um uns unseren Weg zu weisen.“

Vance nickte nachdenklich.

„Schlaf jetzt“, riet ihm Lazana gähnend und ließ sich neben Ratford nieder. „Auch wenn du ein Dorashen bist, solltest du mit deinen Kräften an diesem Ort haushalten.“

Ratz eilte mit dem seltsamen Bruchstück, das Vance aus dem soliden Fels geschlagen hatte, auf schnellstem Weg in den hinteren Bereich des Höhlensystems, in dem sich Fjedor für gewöhnlich aufhielt. Als Oberaufseher war darüber informiert worden, dass Brynne, der mysteriöse Verbündete des Schmugglerkönigs, in den Tiefen des Berges nach etwas suchte und Ratz‘ Instinkt verriet ihm, dass er nun in den Händen hielt, was Brynne begehrte. „Fjedor!“, rief er schon von Weitem, als der Gang breiter wurde und die Wohnhöhle seines Anführers vor seinen Augen auftauchte. „Das musst du dir unbedingt ansehen!“

Fjedor saß auf seinem behelfsmäßigen Thron und sein Leibwächter Nironil befand sich wie immer an seiner Seite. Der Waldelf war früher einmal ein Kopfgeldjäger gewesen, der sich auf das Aufspüren abtrünniger Magier spezialisiert hatte. Bei einem seiner Aufträge war er schwer verwundet worden und hatte sich halb verhungert und verdurstet in der Düstermarsch wiedergefunden. Fjedor hatte ihm das Leben gerettet und seitdem war Nironil dem Schmugglerkönig treu ergeben. Ratz wusste, dass keiner der anderen Banditen, nicht einmal Fjedor selbst, dem Waldelfen in einem Zweikampf gewachsen war, und der Oberaufseher hatte einen Heidenrespekt vor dem Leibwächter seines Anführers.

Ratz selbst gehörte schon lange zu Fjedors Bande, doch er hatte dort nie eine große Rolle gespielt. Umso stolzer war er gewesen, als der Schmugglerkönig ihn zum Oberaufseher ernannt hatte. Ratz genoss seinen neuen Rang und ließ die Sklaven oft genug auf grausame Weise spüren, dass er in der Mine das Sagen hatte. Vor Fjedor und Nironil buckelte er aber wie ein unterwürfiger Bittsteller.

Der Waldelf beäugte ihn misstrauisch, trat Ratz aber nicht entgegen, als dieser atemlos in die Thronhöhle stolperte. Er wusste genau, dass der Oberaufseher ein oberflächlicher Wichtigtuer, aber im Grunde seines Herzens ein Feigling war. Von ihm ging keine Gefahr für Fjedor aus.

Der Schmugglerkönig lehnte sich nach vorn und stützte seine Wange auf die Hand. „Was muss ich mir unbedingt ansehen?“ fragte er genervt und beäugte Ratz‘ Gesicht, das noch immer die deutlichen Spuren von Wuleens Angriff trug. „Etwa deine hässliche Visage? Was hast du wieder angestellt?“

Ratz blieb stehen und kratzte sich verlegen an der geschwollenen Wange. „Das war ein kleiner, unerfreulicher Zwischenfall“, versicherte er hastig. „Nicht der Rede wert.“

„So“, brummte Fjedor. „Und weshalb störst du mich dann?“

„Einer der Arbeiter hat etwas Seltsames gefunden“, berichtete Ratz und Fjedor das merkwürdige Bruchstück entgegen. „Vielleicht ist es das, wonach Brynne sucht.“

Fjedor nahm den Stein entgegen und betrachtete ihn nachdenklich. Der scharfkantige Splitter sah auf den ersten Blick aus, wie ein unreines Stück Sturmerz, doch die bläulichen Adern, die den schwarzen Stein durchzogen, waren viel feiner und verzweigter. Sie erinnerten Fjedor an einen Blitz am dunklen Nachthimmel.

„Das fühlt sich gut an!“

Ratz erstarrte beim hungrigen Klang der Stimme, die aus einer dunklen Ecke der Höhle erklang. Der Oberaufseher hatte Brynnes Anwesenheit gar nicht bemerkt. Zitternd drehte er sich um und starrte in den unbeleuchteten Teil der Thronhöhle.

Brynne hatte nur einen seiner Leibwächter an seiner Seite, aber allein Brothains Anwesenheit reichte aus, um den eindeutigen Eindruck zu vermitteln, dass sein Herr unantastbar war. Der schwarzgekleidete Dunkelelf starrte Ratz mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an und auf der Stirn des Oberaufsehers bildeten sich augenblicklich Schweißtropfen. Brynne selbst war in der Dunkelheit verborgen, doch Ratz konnte spüren, wie er seinen Blick gierig auf das Bruchstück in Fjedors Händen richtete.

Auch der Schmugglerkönig fühlte sich in seiner Haut sichtlich unwohl, doch es gelang ihm, Ruhe zu bewahren. „Ist das ein Blitzstein?“, fragte er und Ratz war erstaunt, dass die Stimme seines Anführers nicht zitterte. Der Oberaufseher konnte erkennen, wie Brynne in der Dunkelheit seinen Arm hob und mit einem mageren Finger auf den Splitter deutete.

„Bring ihn mir!“, befahl er Brothain mit einer Stimmlage, die keinen Widerspruch zuließ. Der Dunkelelf setzte sich mechanisch in Bewegung und schritt auf Fjedor zu.

Nironil sah darin eine potentielle Bedrohung für seinen Herrn. Er trat augenblicklich nach vorn und in seiner Hand flammte magisches Feuer auf. Als Brothain das sah, verlangsamte er seine Schritte und griff nach seinem Dolch. Ratz verlor fast die Nerven, als sich die beiden Leibwächter Auge in Auge gegenüberstanden.

Fjedor gab Nironil einen missmutigen Wink. „Schon gut“, brummte er gereizt. „Lass ihn durch.“

Der Flammenzauber erlosch und Brothain trat vor Fjedor, ohne den Waldelfen aus den Augen zu lassen. Der Schmugglerkönig drückte dem Dunkelelfen den Splitter in die Hand. „Bitteschön“, rief er und schien froh zu sein, das seltsame Bruchstück loszuwerden. „Bring es deinem Meister.“

Brothains Faust umschloss den kleinen Gesteinsbrocken und er kehrte in die dunkle Ecke zurück, in der Brynne ungeduldig auf ihn wartete. Hastig griff er nach dem Splitter, den sein Leibwächter ihm überreichte. Andächtig drehte und wendete er den Stein zwischen seinen Händen und betrachtete ihn, als sei er aus purem Gold. „Endlich! Ich habe gespürt, dass er hier ist!“

Fjedor rutschte unruhig auf seinem Thron hin und her. Brynnes gierige Stimme machte ihn nervös. „Also ist das tatsächlich das, wonach du gesucht hast“, stellte er fest. In seiner Stimme schwang Unsicherheit mit und er gab sich Mühe, seine nächsten Worte möglichst forsch auszusprechen. „Dürfte ich jetzt endlich erfahren, was es mit diesen Blitzsteinen auf sich hat? Ich finde, dass du mir diese Erklärung schuldig bist, immerhin haben die Sklaven unter der Aufsicht meiner Leute den halben Berg umgegraben, damit du diesen Splitter in Händen halten kannst.“

Ratz sog erschrocken die Luft ein und wartete ängstlich auf Brynnes Reaktion. Für eine Weile herrschte eine angespannte Stille und der Oberaufseher konnte sein eigenes Herz in seiner Brust hämmern hören. Dann verlagerte Brynne sein Gewicht und die Vorratskisten, auf denen er thronte, gaben ein knarrendes Geräusch von sich. „Selbstverständlich. Du sollst deine Antworten bekommen.“ Seine Stimme klang überraschend sanft und friedlich. „Weißt du, wie Sturmerz entsteht?“

Fjedor konnte nur erahnen, welchen Ausdruck Brynnes Gesicht angenommen hatte, doch er spürte, wie sein Verbündeter ihn aus der Dunkelheit heraus abschätzend anstarrte. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete der Schmugglerkönig.

„Man sagt, dass es entsteht, wenn ein mächtiger Blitz in einen Berg einschlägt, dessen Inneres von schnödem Eisenerz durchzogen ist“, erklärte Brynne. „Reine Elementarenergie zieht sich durch den Berg. Das einfache Eisen wird durch diese Urkräfte verändert und es verwandelt sich in wertvolles Sturmerz. An der Stelle, an der der Blitz ins Erdreich fährt, versteinert seine Energie und bildet das Zentrum einer Sturmerzader, einen Ausgangspunkt, von dem aus sie sich durch den Fels zieht. Dieses Zentrum versprüht die Elementarmagie des Blitzes und pumpt sie wie ein schlagendes Herz durch die weit verzweigten Erzadern. Diese Magiequelle ist flüchtig und verliert über die Jahrtausende im Inneren des Berges langsam seine Kraft, aber sie birgt noch immer die Macht, die Energie eines Blitzes zu absorbieren. So ein Zentrum ist ein Blitzstein.“

„Dann hast du jetzt, was du wolltest“, entgegnete Fjedor und bemühte sich, seine Stimme möglichst souverän und ungerührt klingen zu lassen. „Das bedeutet wohl, dass sich unsere Wege trennen werden.“

„Nicht ganz, mein Freund. Ich brauche dich und deine Leute noch. Fragst du dich nicht, was ich mit diesem Blitzstein vorhabe?“

„Nein, das ist mir vollkommen egal!“, rief Fjedor schrill. „Was willst du denn noch von mir? Du hast nur gesagt, dass du in diesem Berg nach einem Blitzstein suchst. Mehr will ich gar nicht wissen!“

„Ich habe dir diese Sturmerzader gezeigt“, knurrte Brynne drohend. „Ich habe nichts außer diesen Blitzstein als Gegenleistung verlangt, während du mit dem Schmuggel Reichtümer anhäufst. Und jetzt willst du mir einen weiteren Gefallen verweigern?“

Ratz zitterte vor Angst. „Bitte!“, flehte er Fjedor an. „Reiz ihn nicht unnötig! Das endet nicht gut.“

Fjedor hatte selbst damit zu kämpfen, nicht die Nerven zu verlieren, doch er konnte sich beherrschen. „Also schön“, brummte er verbittert. „Ich kann mir ja wenigstens anhören, was du noch von mir verlangst. Also erzähl schon, was hast du mit diesem Blitzstein vor?“

Brynne beugte sich weiter nach vorn und der Schein der Fackeln fiel auf sein vernarbtes Gesicht. Auf seinen blassen Lippen lag ein irres Grinsen. „Ich werde den Wolkentempel angreifen“, verkündete er gierig.

Fjedor schob argwöhnisch die Augenbrauen zusammen. „Den Wolkentempel?“, fragte er verwundert. „Was willst du denn von diesen Einsiedlern?“

„Ich habe mit ihrem Ordensführer noch eine alte Rechnung offen“, gab Brynne zurück. „Ich gehörte selbst einmal zu diesen Mönchen und habe mich in der Kunst der Blitzmagie unterweisen lassen, bis mich Hochmagier Ascor verbannt hat. Lass dich von ihrem ärmlichen Aussehen nicht täuschen, die Priester horten dort oben Massen an Reichtümern.“

Fjedor wurde hellhörig. „Verstehe!“, rief er und seine Augen leuchteten gierig. „Du willst dir ihre Schätze unter den Nagel reißen. Da kann man schonmal auf den Schmuggel mit Sturmerz verzichten. Aber mit deinem eigenen kleinen Haufen von Totschlägern kommst du da wohl nicht weit.“

Brynne lehnte sich wieder zurück und sein Gesicht verschwand in der Dunkelheit. „Die Schätze interessieren mich nicht“, erwiderte er gelangweilt. „Wenn du mir hilfst, darfst du den Tempel nach Herzenslust plündern. Ich habe es einzig und allein auf Ascor abgesehen.“

Fjedor grinste verschlagen. „Das hört sich in meinen Ohren doch schon viel besser an!“, lachte er voller Vorfreude. „Unter diesen Umständen kannst du selbstverständlich auf mich zählen! Aber warum genau brauchst du dafür so einen Blitzstein?“

Der Schmugglerkönig konnte erahnen, dass Brynne die Hände faltete. „Ich habe dir doch eben gesagt, dass die Mönche dort oben in der Kunst der Blitzmagie unterwiesen werden“, erklärte er ruhig. „Ihre Kraft ist nicht der Rede wert, damit sollte dein Lumpenpack bestens zurechtkommen. Aber Ascor ist ein meisterhafter Sturmmagier. Er beherrscht nicht einfach nur die grundlegenden Zauber, sondern ist dazu in der Lage, vernichtende Blitze direkt aus dem Himmel zu holen. Gegen so eine Macht sind wir alle wehrlos. Deshalb der Blitzstein. Wenn Ascor auf die Idee kommen sollte, mich zu rösten, wird dieser kleine Splitter die Energie seines Angriffs einfach absorbieren. Solange ich ihn bei mir trage, kann mir Ascor nichts anhaben. Und sobald seine Attacken verpufft sind, wird er sterben.“

Fjedor nickte anerkennend. „Ich bin beeindruckt. Das hast du dir wirklich fein überlegt. Aber da stellt sich mir die Frage, wie du herausgefunden hast, dass dieser Berg von Sturmerz durchzogen ist und du an diesem Ort einen Blitzstein finden kannst.“

„Wie gesagt, ich war ein Schüler Ascors“, erwiderte Brynne gelassen. „Und vermutlich der beste, den er je unterrichten durfte. Ich kann die Elementarmagie der Blitze nicht nur nutzen, ich kann sie auch aufspüren. Du weißt ja, dass ich an dieser unsäglichen Krankheit leide, die mich dazu zwingt, mein Leben fernab des Sonnenlichts zu fristen. Und als ich mich in dieser Grotte versteckte, habe ich sofort erkannt, dass irgendwo in ihrem Inneren ein Blitzstein schlummert und nur darauf wartet, dass ich ihn mir hole.“

„Warum hat Ascor dich denn verbannt, wenn du so ein guter Schüler warst?“, fragte Fjedor neugierig.

„Das braucht dich wirklich nicht zu interessieren“, gab Brynne gereizt zurück. „Das ist eine persönliche Angelegenheit zwischen mir und ihm.“

„Schon gut, ich hab ja nur gefragt“, brummte Fjedor und hob entwaffnend die Hände. „Aber du hast mich überzeugt. Allmählich zeigt sich, dass es wirklich eine gute Idee war, mich mit dir zu verbünden. Ich helfe dir, den Wolkentempel anzugreifen!“

„Wunderbar. Ich wusste, du würdest vernünftig werden. Sobald Veit mit dem Schiff zurück ist, brechen wir auf.“

„Du willst mit dem Schiff nach Norden reisen?“, wunderte sich Fjedor und kratzte sich an seiner narbigen Wange.

„Natürlich. Wir kommen deutlich schneller an unser Ziel, wenn wir den Maldocan hinauffahren. Außerdem kann ich mich mit meiner Krankheit nicht dem Sonnenlicht aussetzen. Es würde unnötig viel Zeit kosten, wenn wir nur bei Dunkelheit marschieren könnten. Wann soll Veit zurückkehren?“

„Wenn es keine Verzögerungen gab, wird er noch heute Nacht ankommen“, antwortete Fjedor.

„Ganz ausgezeichnet!“, raunte Brynne und drehte den Blitzstein zwischen seinen langen Fingern. „Wir werden ihn an der Küste abmarschbereit erwarten!“

Der Schmugglerkönig erhob sich. „Na, das klingt wirklich vielversprechend!“, freute er sich und grinste breit. „Aber der Handel mit dem Sturmerz läuft zu gut, als dass ich darauf vollständig verzichten möchte. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich einen Teil meiner Leute hier zurücklasse, um den Erzabbau zu überwachen.“

„Meinetwegen“, zischte Brynne und es war ihm anzuhören, dass Fjedors Pläne ihm nicht gefielen. „Aber ich brauche mindestens drei Dutzend deiner Leute, um den Wolkentempel stürmen zu können. Die Schüler des Hochmagiers sind absolute Stümper, aber das dicke Mauerwerk ihres Tempels bietet ihnen Schutz. Und sorg dafür, dass dieser Ork nicht mitbekommt, wohin wir gehen. Ich traue ihm immer noch nicht.“

„Kein Problem“, versicherte Fjedor. „Ich lasse einfach Mola und ihre Bande hier zurück. Der alten Schrapnelle gönne ich einen so fetten Beutezug ohnehin nicht.“ Er drehte sich zu Ratz um, dessen Gesicht aschfahl war. „Und dir übertrage ich für die Zeit unserer Abwesenheit das Kommando. Lass dich von der alten Schreckschraube und Yarshuk nicht unterbuttern, alles klar?“

Ratz‘ Wangen bekamen sofort wieder etwas Farbe. Fjedors Befehl freute ihn sehr. In der Mine das Sagen zu haben, gefiel ihm viel mehr, als unter Brynnes Kommando einen Tempel voller magiebegabter Priester anzugreifen. Stattdessen wurde seine jahrelange Treue endlich gewürdigt. „Von Mola lasse ich mir überhaupt nichts sagen!“, rief er entschlossen. „Du wirst sehen, ich werde die Sklaven mit doppelter Geschwindigkeit arbeiten lassen! Bis du zurück bist, quillt die Höhle über vor abgetragenem Sturmerz!“

„Diesen Ehrgeiz sehe ich gerne!“, lachte Fjedor und winkte Nironil zu sich. „Kommt! Wir sagen meinen Leuten Bescheid, dass es noch heute ein paar Änderungen geben wird. Und wie Brynne gesagt hat: Kein Sterbenswörtchen zu Yarshuk!“

Der Schmugglerkönig rieb sich voller Vorfreude die Hände und verließ die Thronhöhle. Ratz und Nironil folgten ihm auf den Fersen, wobei der Oberaufseher vor Stolz über seine neue Aufgabe fast platzte. Nironil dagegen war so ruhig und reserviert wie immer.

Brynne drehte zufrieden den Blitzstein zwischen seinen Fingern und wartete, bis das Dreiergespann verschwunden war. „Ausgezeichnet“, raunte er Brothain zu. „Das lange Warten hat sich gelohnt.“

Der Dunkelelf neigte unterwürfig den Kopf. „Endlich steht Ihr kurz vor dem Ziel, Meister. Sobald der Finger der Wolken Euch gehört, wird sich ganz Gäa vor Euch verneigen müssen.“

Eine Motte, die sich in die dunklen Gänge verirrt hatte, flatterte durch die Höhle. Brynne folgte ihr mit hungrigen Blicken. Dann reckte er die Hand vor und aus der Kuppe seines ausgestreckten Zeigefingers sprühten Funken. Sie entluden sich in einem kurzen, grellen Blitz, der durch den Thronraum zuckte, dann segelte die Motte mit verkohlten Flügeln zu Boden wie ein fallendes Blatt im Herbst. Brynne kicherte frohlockend und verzog das entstellte Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. „Und dann werden die Götter selbst meine Rache zu spüren bekommen!“
 

Viland schwang seine Axt mit beiden Händen und ging wie ein wilder Stier auf Tyra los. Die Abenteurerin erwartete ihn und zückte im Schutz ihres Lederschilds ein Messer, das sie mit einer geschickten Bewegung auf ihren Kontrahenten schleuderte. Der plötzliche Gegenangriff überraschte Viland, doch er konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Doch er musste seinen Ansturm stoppen und Tyra setzte sofort nach. Mit blankem Schwert sprang sie auf ihren Gegner zu und hieb kräftig auf ihn ein. Zwischen den beiden Barbaren entstand ein heftiger Schlagabtausch. Stahl prallte klirrend auf Stahl, als sich Viland mit seiner Axt gegen Tyras Klinge zur Wehr setzte. Mit dem Schild in der Linken lenkte die Abenteurerin die verheerenden Hiebe ihres Kontrahenten ab und stieß ihrerseits immer wieder mit dem Schwert zu. Viland war stärker, ausdauernder und erfahrener als seine Gegnerin, aber Tyra hielt mit Schnelligkeit und Wendigkeit entschieden dagegen. Immer wenn sie Vilands Axt geschickt an ihrem Schildbuckel abgleiten ließ, war die Deckung des Kämpfers für einen Moment offen. Und das nutzte Tyra schonungslos aus.

Sie fing einen weiteren Axthieb ab und schlug gleichzeitig mit dem Schwert in ihrer Hand zu. Bevor Viland wusste, wie ihm geschah, klaffte an seinem Oberschenkel eine tiefe Schnittwunde. Der Barbar knurrte schmerzerfüllt und taumelte ein paar Schritte zurück. Tyra allerdings ließ ihm keine Zeit, sich zu erholen, und warf ein weiteres Messer nach ihm. Diesmal traf sie. Vilands Rüstung schützte ihn vor einer schlimmeren Verletzung, doch das Messer durchdrang das Leder und die oberen Hautschichten und blieb schließlich in Vilands Schulter stecken. Scheinbar ungerührt griff der Barbar nach der Klinge, zog sie mit einem dumpfen Grunzen aus seinem Körper und schleuderte sie postwendend zurück.

Damit hatte Tyra nicht gerechnet. Sie wollte dem wirbelnden Messer ausweichen, doch als sie zur Seite sprang, rutschte sie auf dem glitschigen Höhlenboden aus. Sie fing sich, bevor sie der Länge nach hinschlug, doch der Kampf mit dem Gleichgewicht hatte wertvolle Sekunden gekostet, in denen sie abgelenkt war. Viland nutzte die Gunst der Stunde und machte ungeachtet seines verletzten Oberschenkels einen gewaltigen Satz in Tyras Richtung. Seine Axt schwang er dabei mit beiden Händen hoch über seinem Kopf. Die junge Abenteurerin hob instinktiv den Schild und parierte den vernichtenden Hieb mit seinem Schwert. Die Gewalt des Zusammenpralls erschütterte ihren ganzen Körper und ein betäubender Schmerz schoss durch ihren Waffenarm. Die Axt spaltete das Leder, mit dem der Schild bespannt war, aber das Gerüst aus massivem Eichenholz konnte sie nicht durchdringen.

Viland ließ trotz seiner Verletzungen nicht locker und schlug weiterhin unerbittlich zu. Er drängte Tyra langsam zurück und nur die Lederschlaufe an ihrem Unterarm verhinderte, dass ihr der Schild unter Vilands gewaltigen Hieben nicht entglitt. Die Abenteurerin spürte, wie ihre Finger langsam taub wurden.

Viland war wie rasend. Seine Axt fuhr zischend durch die Luft und Tyra sah hinter ihrem Schild nur noch das schartige Schnittblatt und dazwischen immer wieder die wilden Augen ihres Gegners. Ihr war klar, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde, wenn Viland weiter derart brachial auf sie eindrosch. Mit einem erstickten Aufschrei machte sie einen Hechtsprung zur Seite. Vilands Reaktionsgeschwindigkeit war schneller, als sie gedacht hatte. Sie spürte den Luftzug von seiner Axt an ihrer Wange, ehe die schwere Waffe in einen der Wolfsschädel einschlug, die Tyra als Verzierungen auf ihren Schulterplatten trug, und ihn der Länge nach spaltete. Die Abenteurerin selbst blieb unverletzt, aber sie konnte sich bildhaft vorstellen, das mit ihrem Schädel Ähnliches geschah, wenn er Bekanntschaft mit Vilands Axt machte. Geschickt rollte sie sich ab, kam wieder auf die Beine und schleuderte in derselben Bewegung ein Messer nach ihrem Gegner. Viland, von der Ausweichbewegung seines Kontrahenten überrascht, drehte die Schulter ein, um seinen Körper zu schützen. Das Messer fuhr knapp unterhalb der Kettenglieder seiner Rüstung in seinen Oberarm.

Tyra ging hinter einem Tropfstein in Deckung und nahm sich einen Moment, um tief durchzuatmen. Auch wenn sie Viland hatte verletzen können, schien es ihr keine gute Idee zu sein, ihren Gegner noch einmal in den Nahkampf zu verwickeln. Zum Glück war ihr Arsenal aus Wurfmessern so schnell nicht aufgebraucht.

Mit einer Hand wischte sich Tyra ein paar Knochenbrösel von der Schulter. Mehr war von dem Wolfsschädel nicht übriggeblieben. Die Abenteurerin konnte Vilands schweren Atem hören. Noch hatte er keine schweren Verletzungen davongetragen, aber auf Dauer würden ihm vor allem die Wunden an Oberschenkel und Bizeps zu schaffen machen. Vorsichtig spähte sie hinter dem Tropfstein hervor.

Viland zog das Messer aus seinem Arm und warf die blutige Klinge achtlos zur Seite. Er starrte die Wunde an, als sei sie nur ein lästiger Mückenstich. „Wo steckst du?“, grollte seine verärgerte Stimme durch die Grotte. „Du entkommst mir nicht!“

Als Reaktion auf seine Drohung kam wie aus dem Nichts ein weiteres Messer wirbelnd angeflogen. Viland konnte der Klinge ausweichen, doch als er sich wütend auf Tyra stürzen wollte, war diese bereits wieder in Deckung gegangen und er hatte sie aus den Augen verloren.

Der Barbar wurde nun vorsichtiger. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um und wich vorsichtig aus der Mitte der Grotte zurück, bis er die feuchte Höhlenwand in seinem Rücken spürte. Auf diese Weise verhinderte er, dass Tyra ihn aus dem Hinterhalt angriff.

Im Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung und wirbelte herum. Er sah Tyra hinter einem Tropfstein verschwinden und ein blitzendes Messer, das genau auf ihn zuflog. Reflexartig hielt sich Viland die Streitaxt vor den Kopf und die Klinge prallte mit einem harmlosen Klirren am Schnittblatt seiner Waffe ab.

„Jetzt hab ich dich!“, grollte der Barbar und stürmte mit großen Schritten auf den Tropfstein zu, den Tyra als Deckung genutzt hatte. Weit holte er mit seiner Axt aus und sprang hinter den Felsen, doch die junge Abenteurerin hatte den Angriff erwartet. Ihre Messer waren viel schneller als die Waffe ihres Gegners und eine scharfe Klinge fuhr durch Vilands Lederbrustpanzer. Getroffen stolperte der Axtkämpfer zurück und presste seine Hand auf die Stelle, an der sich das Messer in seinen Bauch gebohrt hatte.

Endlich zeigte ein Treffer Wirkung. Viland schwankte und röchelte. „Es reicht“, keuchte er. „Ich wollte…ich wollte dich eigentlich lebend fangen. Aber jetzt…jetzt hab ich genug von dir. Diese Höhle wird dein Grab.“

Tyra wog prüfend ein neues Messer in ihrer Hand und grinste triumphierend. „Du verwechselst da was“, entgegnete sie. „Du bist derjenige, der hier nicht mehr lebend rauskommt.“ Sie holte aus, um ihrem Kontrahenten mit einem gezielten Wurf den Garaus zu machen, doch Viland schlug das Messer zu ihrer Überraschung einfach aus der Luft und ging schnaufend zum Gegenangriff über. Tyra erschrak, zog ein weiteres Messer und warf es überhastet. In ihrer Hektik schätzte sie die Entfernung falsch ein. Sie traf Viland zwar, allerdings fehlte eine halbe Umdrehung, sodass die Waffe mit dem Griff voran an seinem Brustpanzer abprallte. Der wutschnaubende Barbar holte weit mit seiner Axt aus und Tyra blieb nichts anderes übrig, als sich mit ein paar schnellen Sprüngen in Sicherheit zu bringen. Viland blieb frustriert stehen und rang keuchend nach Atem.

Tyra erkannte, dass ihr Gegner fast am Ende war. Sein Gesicht war kreidebleich und auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen. Der Blutverlust machte ihm schwer zu schaffen. In gebührendem Sicherheitsabstand ging Tyra vor ihrem Kontrahenten auf und ab und drehte ein Messer zwischen ihren Fingern. Es sollte die letzte Klinge sein, die von Vilands Blut benetzt wurde. Entsprechend sorgfältig zielte die junge Abenteurerin. Viland, der zu geschwächt war, um auszuweichen, hob schwankend seine Axt vor seinen Körper, in der verzweifelten Hoffnung, die Klinge abzuwehren. Seine blutunterlaufenen Augen schienen Schwierigkeiten zu haben, sich auf einen einzelnen Punkt zu fixieren. Tyra hatte alle Zeit der Welt, nach einer Lücke in der Deckung ihres Gegners zu suchen. Sie holte mit ihrem Wurfarm aus und die Knöchel ihrer Finger wurden weiß.

Da schoss plötzlich ein fürchterlicher Schmerz durch ihre rechte Wade. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus, ließ das Messer fallen und starrte auf ihr Bein. Ein Bluthecht, der in einem Loch gelauert hatte, an das sich Tyra unvorsichtigerweise zu nahe herangewagt hatte, war aus dem Wasser geschnellt und hatte seine rasiermesserscharfen Zähne in ihren ungeschützten Unterschenkel geschlagen. Das heftige Stechen Dutzender rasiermesserscharfer Zähne raubte der Messerwerferin fast die Sinne und in einem Wutanfall schlug sie dem Raubfisch mit ihrem Schwert den Kopf ab. Der längliche Körper rutschte zurück in das mit Wasser gefüllte Loch und wurde von den anderen Bluthechten in Sekundenschnelle in Fetzen gerissen. Die Kiefer des Fisches umschlossen auch noch im Tod Tyras Wade und die Abenteurerin strampelte heftig mit dem Bein, bis sich der abgetrennte Kopf von ihrem Unterschenkel löste und zu Boden fiel.

Viland nutzte Tyras Unaufmerksamkeit sofort aus. Während die Barbarin mit dem Bluthecht rang, stürmte der Axtkämpfer ungeachtet seiner Verletzungen taumelnd los. Tyra bemerkte ihn gerade noch rechtzeitig und duckte sich, bevor sie von Vilands Axt enthauptet wurde. Sie wollte schnell wieder auf Abstand gehen, doch der Biss des Bluthechts hatte ihr rechtes Bein ruiniert und als sie ihr Gewicht darauf verlagerte, durchfuhr wieder ein stechender Schmerz ihre Wade, als hätte der Raubfisch erneut zugebissen. Tyra heulte laut auf und stolperte zur Seite. Mit dem Schild konnte sie Vilands nächsten Axthieb parieren. Sie holte mit dem Schwert aus und stieß es ihrem Gegner in den Körper, dicht neben dem Messer, das schon in seinem Bauch steckte. Vilands Gesicht lief vor Schmerz rot an, doch er ließ nicht locker, obwohl er der Ohnmacht nahe war.

Mit all seiner Kraft schlug er Tyra ins Gesicht. Der Schwertgriff entglitt ihrer Hand und die junge Abenteurerin verlor fast das Bewusstsein. Ihr Blickfeld verschwamm und auf ihren Ohren lag ein schrilles, betäubendes Piepsen. Desorientiert stolperte sie durch die Höhle und zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie auf ihr verletztes Bein trat. Durch einen Schleier sah sie Viland auf sich zuwanken. Der Barbar zog das Schwert aus seinem Bauch und ließ es klirrend zu Boden fallen.

Tyra konnte den ersten Hieb ihres Gegners mit Mühe parieren, doch dabei grub sich Vilands Axt tief in den Schildrand. Mit einem kräftigen Ruck riss der Krieger der Abenteurerin ihre Schutzwaffe vom Arm, wobei er Tyra fast zu Boden schleuderte. Intuitiv zückte die junge Frau ein Messer und wollte es Viland direkt ins Herz stoßen, doch diesmal war ihr Gegner schneller. Tyra hatte nicht einmal mehr die Zeit einen Todesschrei auszustoßen.

Die Axt fuhr tief in die Halsbeuge der Barbarin und trennte ihr fast den Arm ab. Die Wucht des Treffers zwang sie in die Knie, Blut ergoss sich in Strömen über ihren Brustpanzer und tränkte dessen fellbesetzten Saum. Tyras Atem ging stoßweise und rasselnd und ihr Oberkörper wippte langsam vor und zurück. Mühsam hob sie den Kopf und starrte Viland ungläubig an. Verschwommen erkannte sie, wie der Krieger schwankend über ihm stand, noch immer den Schaft der Axt in der Hand, die er ihr tief in die Schulter getrieben hatte. Mit ihren allerletzten Atemzügen hob sie noch einmal zitternd ihr Messer, um doch noch zu beenden, was sie begonnen hatte, doch ihre Kraft reichte nicht mehr aus. Ein letztes, krampfartiges Beben schüttelte ihren schlanken Körper, dann sackte sie leblos in sich zusammen.

Die Abendsonne hing grell und orange über dem Horizont und die länger werdenden Schatten leiteten allmählich den Anbruch der Nacht in Kaboroth ein, als das Läuten der Hafenglocke die Ankunft eines Schiffes verkündete. Aus den Tavernen der Kaiserstadt stolperten ein paar Betrunkene, die der Lärm neugierig gemacht und angelockt hatte und auch die Dockarbeiter, die entlang des Piers ihren Pflichten nachgingen, hielten in ihrer Beschäftigung inne und blickten interessiert auf. Der Hafen füllte sich in wenigen Augenblicken mit zahlreichen Schaulustigen, als sich die Küstenklinge einem der zahlreichen Anlegestege näherte.

Kapitän Sason und seine Crew hatten mit ihrem Schiff gute Fahrt gemacht und der Hauptmann war froh, dass es ihm so problemlos gelungen war, seinen Auftrag auszuführen. Es kam nicht jeden Tag vor, dass der Kaiser persönlich ihn für eine Mission auswählte. Beim Anblick seines Heimhafens entglitt Sason ein leises, zufriedenes Seufzen. Wie immer lockte das Geläut der Glocke die neugierigen Bürger an und wenn sich ein Schiff der Kaiserlichen Armee näherte, konnte sich dessen Crew im Jubelsturm der Bevölkerung sonnen. Die Einwohner von Kaboroth feierten die Soldaten wie Helden, selbst wenn sie nicht aus einer Seeschlacht zurückkehrten. Kein Ort in ganz Gäa war so sicher wie die Kaiserstadt und jeder Bürger wusste, dass der Luxus des Friedens durch die Armee gesichert wurde.

Auch in diesem Fall erwartete die Küstenklinge ein begeistertes Empfangskomitee. Das schiefe Grölen einiger Betrunkener ging in den lauten Jubelrufen der Zivilisten unter, die sich an der Hafenmauer versammelt hatten. Sason verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. Obwohl die Fahrt von Eydar nach Kaboroth ohne nennenswerte Hindernisse vonstattengegangen war, hatte er kaum geschlafen. Als Kapitän kam ihm große Verantwortung zu und er hatte selten die Möglichkeit, sich ein wenig auszuruhen. Nun war er müde und wollte sich vom Lobpreis der Bevölkerung nicht davon abhalten lassen, sich so schnell wie möglich in seinem Bett zu verkriechen.

Sparva ging es ähnlich. Lustlos stand sie am Steuerrad und manövrierte die Küstenklinge unter den Anweisungen ihres Kapitäns vorsichtig in den durch Ölfackeln erleuchteten Hafen. Sie würde die erste sein, die sich in ihrer Hängematte verkroch, sobald das Schiff sicher vertäut war. Dagegen platzte Cedric fast vor Stolz. Er winkte den Schaulustigen mit glühenden Wangen zu, die Zeugen ihrer Rückkehr wurden. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und sich feiern zu lassen.

Während Sason weiterhin das Anlegemanöver der Küstenklinge koordinierte, fiel ihm ein Trupp Soldaten auf, der im Gleichschritt in Richtung Hafen marschierte. Im flackernden Licht der Laternen erkannte der Hauptmann, dass die Patrouille von Brigadegeneral Legis angeführt wurde. Die umstehenden Bürger raunten ehrfürchtig und machten respektvoll Platz, als die Soldaten sich entlang des Piers in Reih und Glied aufstellten.

Sason stieß Cedric mit dem Ellbogen an. „Sieh mal, wir werden offenbar von höchster Stelle empfangen“, schmunzelte er. „Dann wollen wir die Herrschaften nicht lange warten lassen. Bring den Langfinger an Deck!“

Cedric salutierte dienstbeflissen. „Wie Ihr wünscht, Hauptmann!“ Hastig eilte der Feldwebel davon und kehrte mit dem Gefangenen wieder zurück, als die Küstenklinge gerade mit einem Ruck stehenblieb. Mehrere Besatzungsmitglieder kletterten über eine Strickleiter von Bord des Schiffes und banden es mit dicken Tauen an den Hafenpollern am Pier fest. Als die Seile stramm gezurrt waren, salutierten sie in Richtung ihres Kapitäns und auf einen Wink Sasons wurde die Plankenrampe ausgefahren. Mit einem kurzen Seitenblick auf Hiob vergewisserte sich der Hauptmann, dass sein Gefangener die Reise unversehrt überstanden hatte. Der Dunkelelf erfreute sich bester Gesundheit und wirkte angesichts seiner bevorstehenden Verurteilung nicht einmal verzweifelt. Viel eher lag auf seinem Gesicht ein entspannter, fast schon heiterer Ausdruck. Sason runzelte die Stirn. Hiobs merkwürdiges Verhalten war völlig untypisch für einen Gefangenen und versetzte den Kapitän immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Es war ihm nur recht, dass ihm der seltsame Dunkelelf abgenommen wurde, denn ganz wohl fühlte er sich in seiner Gegenwart nicht.

Sason ging flankiert von seinen beiden Feldwebeln an Land, wobei Cedric Hiob mit einer Hand am Unterarm festhielt, und stellte sich vor Legis in Positur. „Zu Euren Diensten“, rief er und führte die Hand zur Stirn. Cedric und Sparva folgten seinem Beispiel mit gegensätzlichem Elan.

Legis nickte der Besatzung der Küstenklinge zu. Der Blick des Brigadegenerals traf für einen Augenblick den des gefangenen Dunkelelfen, ehe er Sason fest in die Augen sah. „Gute Arbeit, Hauptmann“, lobte er zufrieden. „Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Überfahrt.“

„Ich kann mich nicht beklagen“, erwiderte Sason. „Es lief alles vollkommen reibungslos ab.“

Legis trat einen Schritt vor und packte Hiob bei der Schulter. Cedric ließ den Dunkelelfen los und trat ehrfürchtig einen Schritt zurück. „Es freut mich, das zu hören“, verkündete der Brigadegeneral. „Ich denke, Ihr und Eure Mannschaft habt Euch eine zusätzliche Prämie verdient. Der Kaiser wird von Eurem Erfolg erfahren. Nehmt Euch die nächsten beiden Tage frei, ruht Euch aus und erholt Euch von Eurer Mission. Ich werde veranlassen, dass Euer Sold erhöht wird und wer weiß…vielleicht wartet schon bald eine Beförderung auf Euch und Eure Mannschaft.“

„Wie schön“, erwiderte Sason, aber er konnte nicht verbergen, dass ihm die Aussicht auf einen höheren Rang nicht unbedingt gefiel. „Vielen Dank, Brigadegeneral.“ Die freien Tage kamen ihm zwar ganz gelegen, aber eine Beförderung brachte größere Verantwortung mit sich und der Hauptmann war mit den Privilegien seines jetzigen Ranges vollkommen zufrieden. Er wusste, dass es Sparva ähnlich ging. Cedric dagegen strahlte über das ganze Gesicht.

„Ich habe zu danken“, erwiderte Legis und schien es auf einmal eilig zu haben. „Ihr habt uns mit Eurem Einsatz einen wichtigen Dienst erwiesen. Ab hier übernehme ich.“

„Tut Euch keinen Zwang an, Brigadegeneral“, sagte Sason und führte die Hand zur Stirn.

Legis gab mit einem stummen Kopfnicken das Zeichen zum Abmarsch und sein Trupp setzte sich in Bewegung. Sason sah zu, wie sich die Soldaten in Richtung Kaiserpalast entfernten. Sein Kopf platzte noch immer vor Fragen, aber er bezweifelte, jemals aussagekräftige Antworten zu erhalten. Für den Moment war es wohl am besten, wenn er sich einfach auf die versprochene Belohnung für seinen erfolgreichen Auftrag freute. „Ihr habt es gehört“, brummte er Cedric und Sparva müde zu. „Sieht so aus, als hätten wir wieder ein wenig Zeit, die Füße hochzulegen.“
 

Die Soldaten führten Hiob bis vor die mächtigen Tore des Kaiserpalastes, in dessen unterirdischen Gewölben das Hochsicherheitsgefängnis von Kaboroth lag. Legis ließ seinen Trupp mit einer einfachen Handbewegung Halt machen. „Ihr dürft Euch entfernen!“, verkündete er energisch und festigte seinen Griff um Hiobs Handgelenk. „Ich kümmere mich um den Rest.“

Die Soldaten nickten zögerlich und kamen seiner Anforderung nach. Legis wartete mit steinerner Miene, bis sie verschwunden waren, ehe er den Wachen befahl, das Tor zu öffnen. Die mit vergoldeten Schnitzereien verzierten Flügeltüren schwangen knarrend auf und der Brigadegeneral betrat den Palast zusammen mit seinem Gefangenen. In den Gemäuern mit dem marmornen Fußboden war es kühl und jeder Schritt hallte wie das Fußgetrappel eines ganzen Bataillons. Hinter Legis und Hiob fiel das mächtige Tor mit einem lauten Donnern wieder ins Schloss.

Der Brigadegeneral sah sich in den weiten Gängen der kaiserlichen Residenz um und versicherte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann tippte er sich mit dem Zeigefinger auf das linke Auge. „Ist das bei dem Überfall vor neun Jahren passiert?“, fragte er mit gedämpfter Stimme.

„So ist es“, antwortete Hiob. „Aber welchen Wert hat schon ein Auge? An diesem Tag haben zahlreiche Leute viel wichtigere Dinge verloren.“ Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Dunkelelfen und er starrte trübsinnig auf den Marmorboden des Kaiserpalasts. Dann ließ er die Schultern kreisen und hob den Kopf. „Wollt Ihr mich nicht endlich von diesen elenden Stricken erlösen? Die stören mich schon die ganze Zeit.“

Legis schürzte die Lippen. „Eigentlich gefallt Ihr mir mit gefesselten Händen ganz gut“, höhnte er. „Außerdem hättet Ihr Euch doch jederzeit selbst befreien können. Oder hat Euch die Zeit auf dieser Insel so schlecht bekommen? Früher habt Ihr derlei Seile mit Leichtigkeit zerrissen.“

„Das stimmt“, erwiderte Hiob. „Aber das ist weder der richtige Ort, noch die richtige Zeit für derartige Kraftdemonstrationen. Wenn ich also bitten dürfte…“

„Schon gut.“ Legis zückte einen Dolch und durchtrennte damit die Fesseln des Dunkelelfen. Hiob steckte die zerschnittenen Stricke in seine Hosentasche und rieb sich die Handgelenke, auf denen das Seil wundgescheuerte Druckstellen hinterlassen hatte. „Viel besser“, seufzte er zufrieden. „Im Übrigen hätte ich es vorgezogen, wenn man einen etwas angenehmeren Weg gewählt hätte, um mich nach Kaboroth zu bringen. Abgesehen davon, dass es nicht gerade schön ist, wenn man wie ein Gefangener behandelt wird, halte ich es für nicht besonders unauffällig, gleich ein Kriegsschiff zu entsenden.“

„Das war die schnellste Möglichkeit, um Euch in den Palast zu bringen“, verteidigte sich Legis.

„Und die mit den meisten Mitwissern“, brummte Hiob. „Wir können froh sein, wenn Hauptmann Sason nicht misstrauisch wird.“

„Keine Sorge, ich habe ihn genau aus diesem Grund für diese Mission ausgewählt“, verkündete Legis stolz. „Sason ist ein fähiger Soldat, vor allem, weil er nie zu viele Fragen stellt.“

„Da bin ich ja beruhigt“, erwiderte Hiob trocken. „Aber falls ich eines Tages wieder nach Kaboroth gerufen werde, überlasst Ihr mir, wie ich die Stadt betrete, habt Ihr verstanden? Ich weiß ganz genau, welche Wege ich gehen muss, um unerkannt von einem Ort zum andern zu kommen. Immerhin bin ich ein Meisterdieb, oder habt Ihr das schon vergessen?“

Legis verdrehte genervt die Augen. „Ich hab ja schon verstanden“, stöhnte er und zog einen Zettel unter seinem Umhang hervor, den er Hiob unter die Nase hielt. „Könnt Ihr mir unterdessen erklären, was das hier soll?“

Hiob starrte mit seinem gesunden Auge stirnrunzelnd auf das gefaltete Stück Papier. „Was ist das?“, fragte er tonlos.

„Eine Nachricht von Ordensmeister Syndus aus Eydar“, erklärte Legis und entfaltete den Zettel. „Ein Botenfalke überbrachte sie gestern Nacht. Syndus hat uns über die Festnahme eines gesuchten Verbrechers informiert. Dieses Schriftstück enthält seine wichtigsten Daten. Der Ordensmeister bittet außerdem um die Überführung des Gefangenen nach Kaboroth.“

„Und wer ist dieser Verbrecher?“, erkundigte sich Hiob. „Doch nicht etwa dieser Dorashen?“

„Sein Name ist Vance“, gab Legis zurück, während er seine scheuen Augen über die Zeilen wandern ließ. „Hieß so nicht auch der Mann, den ihr auf Notting entdeckt habt und wegen dem ihr Eure Rückkehr nach Kaboroth angefordert habt?“

„Eydar..“, murmelte Hiob leise. „Sie haben ihn also erwischt. Ich gebe zu, mit dieser Wendung habe ich nicht gerechnet. Fünf Jahre lang war er wie vom Erdboden verschluckt. Aber diese Entwicklung hat auch etwas Positives. Immerhin wissen wir jetzt ganz genau, wo er sich aufhält. Meine Rückkehr nach Kaboroth war also überflüssig.“

„Nicht ganz“, rief Legis und ließ den Zettel mit einer geschickten Handbewegung wieder unter seinem Umhang verschwinden. „Der Kaiser will Euch trotzdem sprechen.“
 

Kaiser Hilmandir war schon lange der Herrscher des Reiches Ganestan. Seit über hundert Jahreszeiten saß er bereits auf seinem Thron in der Goldenen Halle des Palastes von Kaboroth und regierte mit harter, aber gerechter Hand. Der Kaiser war bei seinem Volk hoch angesehen, doch der mächtige Herrscher wurde langsam alt, sein Bart und seine langen, einst golden glänzenden Haare waren längst weiß geworden. Seine Haut war ebenso gealtert, wie der Rest seines Körpers und nur der mitfühlende und gleichzeitig strenge Blick in seinen blauen Augen war noch so strahlend wie am ersten Tage seiner Herrschaftszeit. Er hatte sein Volk während des Weltenkrieges durch eine Katastrophe geführt, die alles zu zerstören gedroht hatte, und er hatte diese Krise überwunden. Unter seiner Führung hatte sich das Kaiserreich dem neuen Herrscherhaus der stolzen Dunkelelfen angenähert und endlich schien Ganestan seinen Frieden erreicht zu haben. Doch Hilmandir sah weit über die Grenzen seines eigenen Landes hinaus. Für ihn war Gäa in seiner Gesamtheit ein Kontinent, der über alle Maßen schützenswert war. Deshalb beobachtete er mit Verdruss, wie die Barbarenstämme von Isenheim plündernd und brandschatzend durch die Nordlande zogen, wie sich die Orks von Darkenfell trotz des Friedensabkommens mit Ganestan nicht davon abbringen ließen, Sklavenhandel zu betreiben, und wie sich die Dünenmenschen von Vanashyr mit den Pardeln eifersüchtig um das Wüstenland stritten. Doch das, was dem Kaiser wirklich Sorgen bereitete, lag weit im Osten, jenseits des Schattenwehrgebirges im feuerspeienden Land der ursprünglichen Dunkelelfen.

An jenem Abend saß der Kaiser am Fenster seines Gemachs und blickte nachdenklich auf das dunkle Binnenmeer hinaus, über dessen spiegelglatter Oberfläche sich bereits der Schleier der Nacht gelegt hatte. Jenseits des friedlichen Gewässers, am anderen Ende von Shalaine, schwärte die unheilbare Wunde des Hasses auf alle jungen Völker. Dort hatte der Weltenkrieg seine Ursprünge gehabt, als die alten Dunkelelfen das Tor in eine Welt voller Dämonen aufgestoßen hatten, deren Herrschaft über Gäa einer fernen, düsteren Vergangenheit angehörte. Eine Wiederholung dieser Katastrophe musste unter allen Umständen vermieden werden, doch was sich auf der anderen Seite des Schattenwehrgebirges abspielte, entzog sich der Kenntnis des Kaisers.

Hilmandir wurde aus seinen trüben Gedanken gerissen, als einer seiner Diener an die Tür klopfte und das Gemach zögerlich betrat. „Eure Majestät, Brigadegeneral Legis lässt Euch ausrichten, dass er eine wichtige Mitteilung für Euch hat“, verkündete er unterwürfig. „Soll ich ihn fortschicken?“

„Lasst gut sein“, erwiderte der Kaiser gutmütig. „Ich habe bereits auf eine Nachricht des Brigadegenerals gewartet. Zieht Euch bitte zurück, ich werde ihn persönlich empfangen.“

„Wie Ihr befehlt, Eure Majestät“, sagte der Diener und verließ das Gemach des Kaisers buckelnd und rückwärtsgehend. Hilmandir erhob sich von seinem Platz am Fenster und ging gebeugt zur Tür zu seinem Thronsaal. Es bereitete ihm große Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Die Sorge um das Treiben der Dunkelelfen im Osten schien seinen Altersprozess zu beschleunigen und er spürte jedes seiner vielen Jahre deutlich in seinen Knochen.

Legis und Hiob erwarteten den Kaiser bereits. Als sie sahen, wie er die Goldene Halle betrat und sich langsam dem Thron näherte, wo er sich schließlich mit einem leisen Stöhnen niederließ, sanken die beiden ehrerbietig auf die Knie.

„Ich sehe, Ihr habt meinen Auftrag ausgeführt, Brigadegeneral“, sprach Hilmandir bedächtig und sah dabei Hiob an. „Gut gemacht. Ihr dürft Euch nun entfernen. Alles Weitere werde ich mit unserem Gast persönlich besprechen.“

„Wie Ihr wünscht, mein Kaiser.“ Legis erhob sich und machte mit wehendem Umhang kehrt. Hilmandir und Hiob schwiegen, bis der Brigadegeneral den Thronsaal verlassen hatte.

Als er fort war, beugte sich der Kaiser nach vorn. „Letztlich zahlen sich die Jahre des Wartens also aus“, sagte er abwesend und musterte den Dunkelelfen mit seinen blauen Augen. „Ihr habt den Mann gefunden, den wir schon so lange suchen.“

Hiob wich dem Blick des Kaisers aus. „Ihr wisst mit Sicherheit schon, dass er festgenommen wurde, nicht wahr?“, flüsterte er leise.

Hilmandir atmete hörbar aus und faltete die Hände. „Ja, ich wurde umgehend darüber informiert“, bestätigte er nachdenklich. „Ist auch jeder Zweifel ausgeschlossen, dass es der Mann ist, den wir suchen?“

Hiob fuhr sich mit dem Zeigefinger über das Gesicht und zeichnete ein unsichtbares Kreuz auf seine Wange. „Ich bin mir absolut sicher. Er hat das richtige Alter und ich habe seine Narbe mit eigenen Augen gesehen.“

Der Kaiser nickte bedächtig. „Dann haben wir ihn also“, murmelte er kaum hörbar. „Wie sollen wir Eurer Meinung nach mit ihm verfahren? Er ist des Mordes angeklagt. Es wäre mir am liebsten, wenn er schnellstmöglich nach Kaboroth überführt wird, wo wir ihn im Auge behalten können. Er ist eine zu große Bedrohung, um ihn frei herumlaufen zu lassen. Auch Noson teilt diese Einschätzung.“

Hiob presste die Lippen aufeinander. Noson war seit dem Weltenkrieg der oberste Berater des Kaisers. Er war ein Dunkelelf und mitverantwortlich für die Friedensverhandlungen zwischen Ganestan und Shalaine. Sein Wort hatte längst großes Gewicht im Kaiserlichen Palast, aber in diesem Fall war Hiob davon überzeugt, dass Noson sich irrte.

„Ich möchte Euch und Eurem ehrwürdigen Berater nur ungern widersprechen, mein Kaiser“, sagte der einäugige Dunkelelf betont zurückhaltend. „Aber wir sollten in dieser Angelegenheit nichts überstürzen. Niemand weiß um sein wahres Potential und dafür werden wir auch weiterhin sorgen. Und er ist nicht nur eine Bedrohung, sondern gleichzeitig auch der mächtigste Schild gegen Gäas alte Herren. Aber noch ist er nicht so weit. Ich habe ihn beobachtet. Ich konnte spüren, dass ihn Schuldgefühle und Reue quälen. Er muss erkennen, dass er für diese Welt und seine Bewohner Großes vollbringen kann. Er muss erkennen, dass er eine Verantwortung für ganz Gäa auf seinen Schultern trägt. Und wir müssen ihm eine Chance geben. Er ist nur einer von vielen, die eine Katastrophe heraufbeschwören können, aber vermutlich der Einzige, der eine weitere Weltenverschmelzung aufhalten kann.“

Hilmandirs buschige brauen schoben sich misstrauisch zusammen und er bettete sein Kinn auf die gefalteten Hände. „Was schlagt Ihr also vor, Hiob?“, fragte er skeptisch.

Der Dunkelelf holte tief Luft. „Begnadigt ihn!“

Der Blick des Kaisers verfinsterte sich. „Das kann nicht Euer Ernst sein“, erwiderte er grimmig. „Ich kann nicht grundlos einen Mörder freisprechen. Und schon gar nicht einen Dorashen. Wie sollen wir den Angehörigen des Opfers seine Begnadigung erklären? Wenn das bekannt würde, wären Unruhen unvermeidbar. Ich bin froh, dass sich die Situation innerhalb der Grenzen von Ganestan wieder stabilisiert hat. Diesen Frieden möchte ich nicht aufs Spiel setzen. Und selbst wenn die Proteste weniger drastisch ausfallen würden, als ich befürchte, besteht immer noch die Gefahr, dass dieser Mann einem Anhänger des Nachtwandlers oder des Roten Kults in die Hände fällt, solange er sich frei bewegen kann. Das wäre gleichbedeutend mit dem Ende. Das Risiko ist viel zu groß. Es ist sicherer, wenn er im Kerker bleibt. Für ihn und für uns. Für ganz Gäa.“

„Dieser Mann braucht eine Bewährungsprobe“, beharrte Hiob. „Wenn er in einer Zelle versauert, wird er nie seinen eigenen Wert erkennen. Und dann sind wir den Alten schutzlos ausgeliefert, wenn sich wieder ein Tor in die Terramorphen öffnen würde.“

Hilmandir starrte den Dunkelelfen durchdringend an. „Diese Entscheidung könnte über das Schicksal der ganzen Welt entscheiden.“

Nun erwiderte Hiob den Blick des Kaisers. „Ich weiß“, entgegnete er entschlossen. „Aber ich bin davon überzeugt, dass es der richtige Weg ist.“

Hilmandir schloss für einen Moment nachdenklich die Augen. „Dieser Mann braucht also eine Bewährungsprobe“, murmelte er leise. „Also gut, er soll sie bekommen. Vielleicht ist Euch schon zu Ohren gekommen, dass unser Außenposten in Eydar mit einigen Problemen zu kämpfen hat. Dort verschwinden immer wieder Personen in den angrenzenden Sumpfwäldern. Der Dorashen soll mit der Aufgabe betraut werden, dieses Mysterium aufzuklären. Sollte er in Erfahrung bringen, wer oder was hinter den Vermisstenfällen steckt, bin ich dazu bereit, ihn von seiner Schuld freizusprechen. Unter diesen Umständen könnten wir eine Begnadigung angemessen verteidigen. Wenn es ihm aber nicht gelingt, diesen Gemeinschaftsbeitrag zu leisten, werde ich ihn umgehend wieder inhaftieren lassen. Und dann wird er nach Kaboroth überführt. Morgen werde ich unverzüglich ein Schreiben mit diesen Anweisungen nach Eydar entsenden. Ist das so zu Eurer Zufriedenheit, Hiob?“

Der einäugige Dunkelelf nickte hastig und verbeugte sich tief vor dem Kaiser. „Ich kann Euch für Euer Vertrauen nicht genug danken!“, rief er erleichtert.

„Schon gut“, erwiderte Hilmandir und sein Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. „Ihr habt mich noch nie enttäuscht. Dankt mir einfach, indem Ihr mich diese Entscheidung nicht bereuen lasst.“

Hiob neigte den Kopf noch ein wenig weiter. „Bitte, richtet Euch auf“, sagte der Kaiser ruhig. „Sonst endet Ihr eines Tages noch so gebrechlich wie ich.“ Der Dunkelelf stand auf, hielt den Kopf allerdings immer noch gesenkt. Da erschien auf Hilmandirs faltigem Gesicht ein warmherziges Lächeln.

„Es tut gut, Euch nach all den Jahren wiederzusehen, alter Freund“, schmunzelte er.

Hiob stand auf, hielt den Kopf allerdings noch immer gesenkt. „Die Freude ist ganz meinerseits“, gab er zurück.

„Wie es scheint, haben wir beide etwas verloren, seit wir uns zuletzt unterhalten haben“, stellte der Kaiser fest. „Ihr musstet Euch von Eurem Auge trennen und ich mich von meiner Kraft und Energie.“

„Dafür habt Ihr Eure jungen Soldaten, die Euch treu ergeben sind“, erwiderte Hiob, ohne sich wieder aufzurichten. „Eure Weisheit aber ist noch immer unangetastet.“

„Ihr schmeichelt mir, mein Freund“, lächelte der Kaiser und lehnte sich in seinem Thron zurück. „Ob sie nun richtig oder falsch ist, ohne Euch hätte ich diese Entscheidung niemals getroffen. Was werdet Ihr nun tun? Kehrt Ihr nach Notting zurück?“

Der Dunkelelf schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, dort gibt es nichts mehr, was mich zu einer Rückkehr bewegen würde“, antwortete er und sein Gesicht bekam einen seltsam abwesenden Eindruck. „Es ist allmählich an der Zeit, dass ich wieder meinen Posten als Großmeister der Goldenen Falken beziehe.“

Aulus hätte allen Grund gehabt, vor Wut zu kochen. Ein Posten im Orden der Goldenen Falken brachte eine fürstliche Bezahlung mit sich, selbst für einen einfachen Novizen wie ihn. Nun, da Syndus seine Zusammenarbeit mit Loronk erkannt hatte, stand seine Mitgliedschaft auf dem Spiel. Aber der Ork zahlte sogar noch besser, als es der Orden tat. Jetzt aber war er für den Brigadegeneral nutzlos. Syndus würde sich hüten, weitere vertrauliche Angelegenheiten mit ihm zu besprechen, also konnte er Loronk keine neuen Informationen beschaffen. Der Geldfluss war versiegt und nun hielt Aulus nichts mehr in Eydar. Das nach Fisch stinkende Armenviertel am Rande des Hafens widerte ihn an und der Novize konnte nicht von sich behaupten, während seines Aufenthalts in der Stadt besonders viele Freunde gewonnen zu haben.

Syndus war ein gutgläubiger Idiot. Loronk hatte ihn faktisch entmachtet und noch immer winselte er um das Wohlergehen der Stadt und ihrer Bewohner. Mit seinen Prinzipien gehörte er einer Generation an, die ihre großen Jahre längst hinter sich hatte. Aulus bedauerte diesen Umstand ein wenig, denn Syndus war ein deutlich angenehmerer Vorgesetzter, als es Loronk jemals sein konnte. Der Ork war gefährlich, aber er bezahlte seine zuverlässigen Untergebenen großzügig. Der alte Ordensmeister verstand nicht, dass nur Macht, Einfluss und Geld zählten und glaubte noch immer, mit bloßer Diplomatie den Frieden erhalten zu können. Nun holte ihn die Realität auf schmerzhafte Art und Weise ein. Loronk war ganz anders. Er stand in Eydar für Macht, wie noch niemand vor ihm. Er demonstrierte sie mit jeder einzelnen Bewegung. Aulus wusste genau, dass es der Ork einzig und allein auf Reichtum und Einfluss abgesehen hatte. Das Schicksal von Gäa war ihm völlig gleich. Er unterwarf sich den Befehlen seiner Vorgesetzten nur, weil er durch die Erfüllung seiner Aufgaben in der Hierarchie der Armee schneller aufstieg und somit rasch mächtiger wurde. In gewisser Weise ähnelte er in diesem Punkt Aulus. Der Novize hatte sich in Loronk sofort wiedererkannt, als er den Ork erstmals getroffen hatte. Sie teilten ein gemeinsames Streben nach Ruhm und Reichtum und verfolgten dieses Ziel ohne Rücksichtnahme. Aulus wusste aber auch, dass Loronk ihm meilenweit voraus war und außerdem über die körperlichen Eigenschaften und das nötige Kampftalent verfügte, um seinen eigenen Anspruch nachdrücklich durchsetzen zu können.

Aber dafür hatte Aulus etwas erkannt und seit er die Amtskammer von Syndus verlassen hatte, keimte in ihm ein Gedanke, der gleichermaßen verlockend und beunruhigend war. Loronk schien viel zu versessen darauf, die Vermissten zu finden. Er ging dafür sogar so weit, ein Mitglied der Goldenen Falken zu bestechen. Die Ausdauer, mit der er dieses Rätsel anging, passte ebenso wenig zu seinem rücksichtslosen Wesen wie zu der Tatsache, dass er bereit war, unbescholtene Bürger auf der Suche nach den Vermissten zu opfern. Selbst wenn ihm ein Erfolg in dieser Sache eine Beförderung einbringen würde, kam es Aulus seltsam vor, dass sich der Brigadegeneral so zäh an seine Aufgabe klammerte und inzwischen die vollständige Kontrolle über Eydar an sich gerissen hatte. Der Ork strebte nach Macht und Reichtum und dieses Ziel konnte er nicht erreichen, wenn er sich wochenlang in dieser Hafenstadt aufhielt und seine gesamte Energie für die Suche nach den Vermissten verschwendete. All das ließ für Aulus nur einen Schluss zu. Loronk hatte in den Sümpfen etwas entdeckt, was ihn reich machen würde. Vermutlich hatte er die Vermissten längst gefunden und hielt inzwischen nur den Schein aufrecht, noch immer nach ihnen zu suchen. Aulus konnte sich zwar nicht vorstellen, was Loronk trieb, doch er wusste, dass der Ork seine Machenschaften geheim halten wollte.

Der Novize grinste triumphierend. Mit ziemlicher Sicherheit konnte er aus dieser Erkenntnis Kapital schlagen, wenn er es clever anstellte. Er war im Gegensatz zu Loronk kein Kämpfer und er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine richtige Waffe in der Hand gehalten. Körperlich war ihm der Brigadegeneral über. Dafür war Aulus davon überzeugt, deutlich gewitzter als der grobschlächtige Ork zu sein und er gedachte seine geistige Überlegenheit noch einmal auszunutzen, bevor er Eydar und seinem neuen Oberbefehlshaber für immer den Rücken kehrte.

Voller Vorfreude erhob er sich und suchte eilig das Haupthaus des Ordens auf, indem sich Loronk seine Gemächer hatte einrichten lassen. Es war längst Abend und vermutlich hatte sich der Brigadegeneral schon wieder in seine Kammer zurückgezogen. Die Wachen am Eingang traten rasch beiseite, als er an ihnen vorbeistürmte. Sie machten nicht einmal Anstalten, ihn aufzuhalten.

Die Gemächer des Brigadegenerals lagen im Ostflügel auf der unteren Ebene des Haupthauses. Vor der Tür hielt einer von Loronks Soldaten Wache, der offenbar ganz besonders verantwortungsbewusst war. Als sich Aulus näherte, trat er ihm in den Weg und stützte sich auf seinen Speer.

„Was willst du?“, brummte der Soldat. „Jemand deines Ranges hat sich vorher anzumelden, wenn er einen Brigadegeneral sprechen wollen.“

Aulus blieb verärgert stehen und reckte gekränkt sein Kinn vor. „Ich habe Loronk wichtige Informationen mitzuteilen!“, bemerkte er spitz und rümpfte. „Also stiel nicht länger meine wertvolle Zeit und lass mich passieren!“

Der Soldat legte den Kopf schief und machte widerwillig den Weg frei. „Wenn du unbedingt meinst, dass du dich weiterhin aufspielen musst, werde ich dich bestimmt nicht aufhalten“, seufzte er. „Du wirst schon sehen, was du davon hast, hier so herumzustolzieren.“

„Ein einfacher Soldat versteht von diesen Belangen nichts“, gab Aulus eitel zurück. „Du bist entbehrlich. Ich habe dem Brigadegeneral schon wichtige Dienste erwiesen.“

Dem Wachmann ließ sich nicht auf Aulus‘ Prahlereien und Provokationen ein. Mit einem energischen Kopfnicken wies er auf die Tür. „Na, wenn du das sagst, muss es wohl stimmen“, brummte er genervt. „Und jetzt hör schon auf, dich hier so aufzublasen, sonst passt du nicht mehr durch die Tür.“

Aulus warf den Kopf betont hochnäsig in den Nacken und sein Pferdeschwanz pendelte wild von einer Seite auf die andere. Er klopfte einmal kräftig an die Tür und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.

Loronk blickte erschrocken auf, als Aulus unangemeldet hereinplatzte, doch die Überraschung auf dem Gesicht des Orks wich innerhalb eines Sekundenbruchteils gefährlichem Ärger. „Was soll das?“, knurrte er gereizt. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund, mich zu stören.“

Aulus nahm sich die Zeit, die Tür hinter sich zu schließen. Er ließ sich nicht verunsichern, auch wenn Loronk eine beeindruckende Erscheinung war und noch bedrohlicher wirkte, wenn er verärgert war. Aulus hatte vollstes Vertrauen in seinen scharfen Verstand und sah sich ungerührt im Gemach des Brigadegenerals um. Er ließ die Frage des Orks vorerst unbeantwortet im Raum stehen und schlenderte durch die Kammer, während er die Inneneinrichtung näher betrachtete.

Loronk saß an einem mächtigen Schreibtisch aus dem schwarzen Holz einer uralten Mooreiche, auf dem mehrere Kerzenständer aus reinem Silber standen. Hinter dem Ork flackerte ein Kaminfeuer und darüber hing an einem Waffenständer die gewaltige Kriegskeule des Brigadegenerals. Aulus glaubte nicht, dass er selbst in der Lage dazu gewesen wäre, Loronks schwere Waffe auch nur anzuheben. Er wusste, dass Orks von Natur aus sehr kräftig waren. Der Brigadegeneral kam mit dem unhandlichen Prügel bestens zurecht. Für gewöhnlich waren die Soldaten der Armee mit Schwertern oder Speeren ausgerüstet, doch ab den Offiziersrängen war es ihnen gestattet, ihre Dienstwaffen frei zu wählen. Eine Kriegskeule kam Loronks brachialer Kraft deutlich mehr entgegen, als ein gut ausbalanciertes Schwert.

Aulus musste zugeben, dass der Brigadegeneral bei der Inneneinrichtung seines Gemaches einen guten Geschmack bewiesen hatte. Selbst der Teppich war von feinstem Webwerk und Loronk geizte nicht damit, seinen Reichtum und seine Macht auch mit der Ausstattung seiner Kammer zu demonstrieren. Aulus entschied, seine eigenen Gemächer ähnlich prunkvoll einrichten zu lassen, sobald er aus Eydar verschwunden war. Nur die Keule an der Wand würde er gegen eine andere Waffe austauschen lassen, die mehr für Eleganz als pure Zerstörungskraft stand. Ein schlanker Säbel mit juwelenbesetztem Griff oder ein Dolch mit vergoldeter Klinge würden sich über seinem eigenen Kamin deutlich besser machen.

Aulus ging in einem weiten Bogen auf den massiven Schreibtisch zu und nahm beiläufig einen der silbernen Kerzenhalter in die Hand. Andächtig strich er über das kalte Metall. Er spürte, dass Loronk ihn genau beobachtete und jede seiner Bewegungen wahrnahm. „Ich habe für Euch meine Ordensmitgliedschaft aufs Spiel gesetzt“, antwortete er schließlich fast beiläufig, während er noch immer den Kerzenständer betrachtete. „Ich hoffe doch sehr, dass Ihr meinen Einsatz nicht umsonst gewesen sein lasst. Immerhin war es Euer Auftritt im Kerker, der Meister Syndus misstrauisch werden ließ.“

„Ach, darum geht es also“, knurrte Loronk abschätzig. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Ich habe dich bezahlt, damit du mir unauffällig Informationen über die Besprechungen des Ordens zukommen lässt. Stattdessen bist du so aufgeblasen durch die Straßen marschiert, dass selbst der letzte Penner bemerkt hat, dass du für mich arbeitest. Wenn du gekommen bist, um eine Entschädigung von mir einzufordern, dann kannst du direkt wieder gehen. Im Grunde schuldest du mir etwas. Immerhin habe ich durch dein wichtigtuerisches Benehmen einen wichtigen Informanten verloren. Jetzt sind die Türen des Ordens für mich verschlossen. Syndus wird dich von nun an wohl kaum noch ins Vertrauen ziehen. Unser Arbeitsverhältnis ist beendet.“

Aulus wandte sich ab, damit Loronk nicht sah, wie ihm das Blut in den Kopf stieg und die Ader an seiner Stirn hervortrat. Er rief sich in Erinnerung, dass er mit seiner Erkenntnis in diesem Dialog die Oberhand hatte, auch wenn es sich als deutlich schwieriger erwies, den Ork einfach mit seinen Vermutungen zu konfrontieren, als Aulus gehofft hatte. Loronk war ein gefährlicher Mann und der Novize vergewisserte sich, dass er im Zweifelsfall den Weg zur Tür schneller zurücklegen konnte, als der Brigadegeneral. Er atmete tief durch und stellte den Kerzenständer zurück auf den Tisch. „Höchst bedauerlich“, murmelte er und wandte sich zur Tür, als ob er gehen wollte. „Ich dachte, Ihr würdet kurz vor meiner Abreise aus Eydar noch einmal Eure Großzügigkeit unter Beweis stellen.“

„Du verlässt die Stadt?“, wunderte sich Loronk.

„So ist es“, erwiderte Aulus und seine Selbstsicherheit kehrte mit jedem seiner Worte langsam zurück. Er drehte sich wieder um und sah Loronk direkt in die Augen. „Es gibt nichts mehr, was mich hier noch hält. Und ich möchte möglichst weit weg von diesem Ort sein, wenn bekannt wird, dass Ihr schon lange nicht mehr nach den Vermissten sucht.“

Aulus genoss es zu hören, wie Loronk scharf die Luft einsog. „Was…was meinst du damit?“, fragte der Ork stockend. Aulus konnte sein Grinsen nun nicht mehr verbergen. „Kommt schon. Ihr könnt vielleicht den alten Syndus und seine hirnlosen Anhänger für dumm verkaufen, aber Ihr beleidigt mich wirklich zutiefst, wenn Ihr mich für ebenso minderbemittelt haltet. Ich weiß genau, dass Ihr nur auf Macht und Reichtum aus seid, Loronk. Ihr tut, als würdet Ihr nach den Vermissten suchen, aber Ihr würdet niemals so einen Aufwand betreiben, wenn Ihr nicht Kapital daraus schlagen könntet. Ihr ermutigt Abenteurer die Stadt zu verlassen und schickt Gefangene in die Sümpfe, aber gleichzeitig behindert Ihr die Arbeit des Ordens. Ich habe keine wirkliche Ahnung, was Ihr tatsächlich für ein Spiel treibt, aber ich weiß ganz genau, dass niemand besonders begeistert wäre, wenn Eure Machenschaften ans Licht kämen.“

Der Ork ballte seine Fäuste, bis seine Knöchel weiß wurden. Aulus hatte sich längst in Richtung Tür begeben. Sie war noch verschlossen, doch der triumphierend grinsende Novize hielt bereits die Klinke umklammert.

„Mir scheint, ich habe dich tatsächlich unterschätzt“, zischte Loronk mit gedämpfter Stimme. „Was hast du jetzt vor? Willst du mich erpressen?“

„So etwas Ehrloses würde ich niemals tun“, entgegnete Aulus mit gespielter Entrüstung. „Ich hatte lediglich darauf gehofft, dass Ihr einen armen Kerl, der bei seinem Vorgesetzten in Ungnade gefallen ist, mit ein paar Münzen unterstützen würdet. Ein paar Dutzend Münzen. Goldenen Münzen.“

Loronks Augen waren nicht mehr als zwei Schlitze. „Ich weiß nicht, ob ich deinen Auftritt hier kühn oder völlig größenwahnsinnig halten soll“, sagte er lauernd.

Aulus grinste entwaffnend. „Oh, weder noch, Brigadegeneral“, erwiderte er schmunzelnd. „Wisst Ihr, ich sehne mich genauso nach Reichtum und Einfluss wie Ihr. Keiner versteht Euch so gut wie ich. Aber im Gegensatz zu Euch habe ich nicht die Mittel, um meine Ziele so rigoros verfolgen zu können. Ihr seid doch mit Sicherheit bereit, einem Gleichgesinnten ein wenig Starthilfe zu gewähren. Und bleibt doch bitte sitzen. Ich bin nur ein kleiner Bittsteller, meinetwegen müsst Ihr Euch nicht erheben.“

Es war Loronk anzusehen, dass er Aulus am liebsten erwürgt hätte. Der Novize beobachtete jede Regung des Orks und war bereit, Hals über Kopf durch die Tür zu flüchten, sollte sich ihm der Brigadegeneral nähern, aber letztlich blieb Loronk keine Wahl. Mit einem resignierten Seufzen griff er in eine Schublade seines Schreibtisches. „Na schön“, grunzte er, holte einen prallgefüllten Geldbeutel hervor und warf ihn Aulus zu. „Das sollte hoffentlich reichen.“

Der Novize fing den Beutel etwas unbeholfen, überprüfte gierig den Inhalt und zeigte sich äußerst zufrieden. „Wahrlich großzügig, Brigadegeneral!“, rief er. „Das werde ich Euch nie vergessen.“

„Besser wäre es, wenn du genau das tust“, warnte Loronk. „Sieh zu, dass du bis morgen von hier verschwunden bist. Am besten verkriechst du dich in der letzten Ecke von Gäa. Denn wenn du mir noch einmal unter die Augen trittst, werde ich dich töten.“

Aulus‘ triumphierendes Grinsen bekam einen Riss. Loronks Worte jagten ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Er wusste genau, dass der Ork gerade keine bloße Drohung, sondern ein Versprechen geäußert hatte. Der Spitzel verlor die Nerven. Mit zitternden Knien drehte er sich um, stürzte durch die Tür aus der Kammer heraus und lief gehetzt den Gang entlang, während ihm Loronks hungriger Blick folgte, wie der eines Raubtiers seiner Beute.

Aulus verlor keine Zeit mehr. Gehetzt eilte er durch die Gänge des Gebäudes und steuerte auf die Unterkünfte der Ordensmitglieder zu. Er stürzte atemlos in seine Kammer und stopfte rasch die nötigsten Sachen in einen großen Tornister. In erster Linie wählte er Ringe und Ketten, die zwar teuer aussahen, aber größtenteils wertloses Blendwerk waren. Kaum hatte er seine Tasche gepackt, verließ er seine Kammer wieder und prallte auf dem Gang fast mit Adria zusammen.

Syndus‘ Assistentin trat geschickt einen Schritt zur Seite, um eine Kollision zu vermeiden, und musterte den Novizen abschätzig. Dabei fiel ihr der Tornister auf, den der Novize trug. „Wohin wollt Ihr denn so eilig?“, fragte sie misstrauisch.

Aulus strich sich rasch den Schweiß von der Stirn und nahm vor Adria eine selbstbewusste Haltung ein. „Ich nehme ein Zimmer im Gasthaus Nebelbank“, antwortete er großspurig. „Ich glaube, es ist besser, wenn man Loronks Gegenwart meidet.“ Seine Augen glitzerten vielsagend und Adria schob argwöhnisch die Brauen zusammen. „Zu dieser Einsicht kommt Ihr ein wenig spät“, knurrte sie verächtlich.

„Ihr habt ja nicht die geringste Ahnung, Kleine“, grinste Aulus höhnisch. Dann schulterte er seinen Tornister, zwängte sich rüde an Adria vorbei und stolzierte mit in die Luft gereckter Nase davon.

Sein Ziel waren die Ställe nahe dem Stadttor. Die Soldaten waren fast immer zu Fuß unterwegs, doch für die Mitglieder des Goldenen Falken standen immer ein paar Pferde bereit. Die Knechte zogen sich hastig und ehrerbietig buckelnd zurück, als der Ordensnovize die Stallungen betrat. Aulus gefiel es, wie sie vor ihm krochen. Er genoss ihre Unterwürfigkeit in vollen Zügen, denn er wusste genau, dass dies vorerst die letzte Gelegenheit war, seine übergeordnete Position auszunutzen. Bald war er in Eydar nicht viel mehr, als ein bloßer Name und eine Erinnerung an einen verschlagenen Ordensnovizen, der seinen armen Vorgesetzten Schande bereitet hatte. Aulus schüttelte verächtlich den Kopf. Syndus und seine Getreuen hatten den Blick für die wesentlichen Dinge im Leben verloren. Unter dem Kommando des Alten wäre er niemals glücklich geworden. Der Orden war mit seinen ehrenvollen Prinzipien der falsche Ort für ihn gewesen. Immerhin hatte er seine Zeit nicht vollständig in den Reihen dieser Trottel vergeudet, aber abgesehen von der recht üppigen Bezahlung hatte er sich bei den Goldenen Falken nie wirklich wohl gefühlt.

Aulus griff nach den Zügeln eines Fuchses und musste erneut grinsen. Was Syndus wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sein Schützling im Begriff war, ein Pferd zu stehlen? Vermutlich würde er sich Vorwürfe machen und sich selbst die Schuld dafür geben, dass einer seiner Novizen zu so einem dreisten Diebstahl fähig war. Aulus hatte die Werte des Ordens nie verinnerlicht und er hatte auch zu keinem Zeitpunkt den Drang verspürt, dies zu tun. Der Eid, den er geleistet hatte, war nichts weiter als ein paar aneinandergereihte Wörter ohne Bedeutung, die er einfach wiederholt hatte, als man ihn dazu aufgefordert hatte. Für ihn war es von Anfang an nur darum gegangen, durch möglichst wenig Arbeit viel Geld zu verdienen. Auch wenn seine Anstellung von kürzerer Dauer gewesen war, als er sich anfangs erhofft hatte, hatte sie sich doch allemal gelohnt.

Leider war Darva, die dunkelelfische Stallmeisterin, nicht ganz so verängstigt und schüchtern wie die Knechte. Als sie sah, wie sich Aulus am Zaumzeug des Fuchses zu schaffen machte, kam sie mit finsterer Miene auf ihn zu.

„Was soll das denn werden?“, fragte sie verärgert.

Aulus‘ Herz blieb beinahe stehen, als ihn die Stallmeisterin von der Seite ansprach. Er wirbelte herum und blickte erschrocken in ihr blasses Gesicht. Dünne Strähnen braunen Haars, indem einige Strohhalme und Heufasern steckten, hingen ihr in die Stirn. Ihr ganzer Körper roch nach Stall und nachdem sich Aulus von seinem ersten Schreck erholt hatte, rümpfte er angewidert die Nase.

„Ich leihe mir ein Pferd aus, wonach sieht es denn sonst aus?“, entgegnete er spitz und strich sich durch den Pferdeschwanz.

„So spät noch?“, brummte Darva misstrauisch. „Wohin soll es denn gehen?“

Aulus knirschte ungeduldig mit den Zähnen. Er hatte es sehr eilig, die Stadt zu verlassen. Jede noch so kleine Verzögerung machte ihn unsagbar nervös. „Ja, so spät“, erwiderte er hastig und zupfte an den Zügeln des Pferdes herum. „Aber das ist eine Angelegenheit des Ordens und hat Euch daher nicht zu interessieren.“

„Da bin ich anderer Meinung“, murmelte Darva ungerührt. „Ich bin die Stallmeisterin und Syndus legt großen Wert darauf, dass ich gut auf die Pferde Acht gebe. Er wird Euch doch mit Sicherheit gesagt haben, dass Ihr Euch bei mir melden sollt, wenn Ihr einen Gaul braucht.“

„Ja…natürlich hat er das“, gab Aulus zerknirscht zurück. „Entschuldigt, ich bin etwas in Eile.“

„Wäre mir gar nicht aufgefallen“, brummte Darva. „Also, wohin soll es gehen und wie lange seid Ihr fort?“

„Khaanor“, log Aulus hastig. „Und ich denke, dass ich in spätestens fünf Tagen zurück sein sollte.“

„Gut, meinetwegen“, antwortete Darva und trat zur Seite. „Aber wendet Euch nächstes Mal direkt an mich, bevor Ihr Euch an den Pferden zu schaffen macht.“

„Selbstverständlich“, sagte Aulus und versuchte es mit einem freundlichen Grinsen, aber Darvas Gesichtszüge blieben steinhart. Der Novize konnte nur mit Mühe das Zittern seiner Hände verbergen. Noch wussten weder die Stallmeisterin noch ihre Knechte, dass der stämmige Fuchs nicht in seinen Stall zurückkehren würde. Und Aulus wollte längst über alle Berge sein, wenn sie es herausfinden würden.

Der Novize führte das Pferd unter Darvas skeptischen Blicken aus dem Stall und schwang sich in den Sattel. Unruhig rutschte er auf dem Rücken des Gauls vor und zurück. Er konnte ganz passabel reiten, aber er hatte sich noch nie wirklich wohl dabei gefühlt. Etwas unsicher trieb er sein Ross voran. Das Pferd gehorchte anstandslos und trug ihn mit gemächlichen Schritten aus dem Schatten der Ställe und hinaus auf die gepflasterte Straße von Eydar. Die Sonne hing mittlerweile nur noch knapp über dem Horizont und spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche des Binnenmeers. Ihre Strahlen verfärbten sich in ein sattes Orange und warfen lange Schatten. Aulus wurde ein wenig mulmig bei dem Gedanken, die Stadt bei Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, doch er wusste, dass er keinen Augenblick länger in Eydar bleiben konnte. Auch wenn Loronk angekündigt hatte, dass er erst am nächsten Tag verschwunden sein sollte, wollte der Novize es nicht darauf ankommen lassen und noch eine Nacht in der Nähe des Orks verbringen. Er führte das Pferd zur Stadtmauer und hoffte inständig, dass die Torwachen ihn nicht auch noch aufhalten würden. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass Loronk in aller Eile den Befehl gegeben hatte, ihn beim Verlassen der Stadt auszuschalten.

Einer der Soldaten trat vor, aber als der Wachmann ihn erkannte, nickte er ihm nur wohlwollend zu und machte den Weg frei. Aulus frohlockte innerlich. Er nickte den wachhabenden Soldaten grinsend zu und ritt durch das Tor. Kaum hatte er die Stadtgrenze überschritten, schien es augenblicklich dunkler zu werden. Plötzlich kamen Aulus Zweifel, doch er hatte keine Wahl. Im Hafen lag kein Schiff vor Anker, das ihn auf dem Seeweg fortbringen konnte, deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als Eydar auf der Landroute zu verlassen.

Er zügelte sein Pferd und blickte zur Stadt zurück. Die beiden Torwachen winkten ihm aufmunternd zu und Aulus erwiderte die Geste nervös. Er hatte sich noch nicht überlegt, in welche Richtung er gehen wollte, doch als er im Schatten der Ställe Darva erkannte, die misstrauisch zu ihm herüberblickte, sank das Herz in seiner Brust. Durch seine Notlüge hatte er sich die Entscheidung selbst abgenommen. Die Stallmeisterin würde stutzig werden, wenn er der Küstenstraße folgend nach Osten ritt, statt den Weg durch die Düstermarsch zu wählen. Aulus verfluchte sich selbst und lenkte sein Pferd auf die bedrohlich wirkenden Wälder zu. Wenn er schnell genug ritt, konnte er das Gebiet durchqueren, ohne in Gefahr zu geraten.

Kaum hatte er die ersten Bäume erreicht, da trieb er sein Pferd auch schon zum Galopp an. Die Dunkelheit der Düstermarsch legte sich wie ein schwarzes Tuch über ihn. Neben dem wilden Hufgetrappel seines Reittieres hörte er überall das Knacken von Ästen und das Scharren von Krallen auf schlammigem Boden. Um ihn herum schien sich die Finsternis zu bewegen und Aulus entglitt ein entsetzter Schrei, als er verschwommen rotglühende Augenpaare entdeckte, die ihn aus dem Unterholz gierig anglotzten.

Kalte, nackte Angst packte ihn und er beugte sich mit zusammengebissenen Zähnen tief über den Hals des Pferdes. Sein Herz hämmerte heftig in der Brust und er spürte, wie seine Atmung immer schneller wurde. Voller Panik kniff er die Augen zusammen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, dass Loronk ihm deutlich mehr Angst einjagte, als dieser Wald. Er ließ das Pferd sich seinen Weg suchen und achtete nicht mehr auf seine Umgebung, als hoffte er, den bedrohlichen Anblick der nächtlichen Düstermarsch vergessen zu können, wenn er die Sümpfe nicht sah.

Eine Gestalt sprang wie ein schwarzer Schatten aus den Farnbüscheln am Wegesrand und erschreckte das Pferd. Das Ross bäumte sich wiehernd auf, Aulus verlor die Zügel und stürzte mit einem spitzen Schrei vom Rücken seines Gauls. Das Pferd galoppierte in wilder Panik davon, während sein Reiter unsanft auf dem Boden landete, die Böschung hinabrollte und schließlich in einem knietiefen Tümpel landete. Japsend schlug Aulus um sich und bekam einen glatten Felsen zu fassen, an dem er sich aus dem Schlamm zog. Er war so verängstigt, dass er keinerlei Notiz davon nahm, dass seine teuren Kleider verschmutzt und zerrissen waren. Aulus hielt den Atem an und lauschte in den Wald hinein. Das Dickicht um ihn herum raschelte und er war kurz davor die Nerven zu verlieren, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er wirbelte herum und sah einen Dunkelelfen auf sich zukommen.

„Gilroy!“, rief er und war so erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen, dass er sich nicht wunderte, was der Fischer in den Sümpfen zu suchen hatte. „Bei den Göttern, bin ich froh, Euch zu sehen!“

„Ich bin auch froh, Euch zu sehen“, entgegnete der Dunkelelf tonlos und zückte einen kurzen Dolch.

Aulus wich erschrocken zurück, als er die Waffe sah, und hob abwehrend die Hände. „Moment!“, flehte er, als er begriff. „Nicht so schnell! Ich…ich kann Euch viel Geld geben!“

Gilroys Gesicht verzerrte sich zu einem irren Grinsen und der Dunkelelf kicherte wild. „Euer schmutziges Geld interessiert mich nicht. Es gehört hierher in den Sumpf“, meinte er und kam weiter auf den Novizen zu.

Aulus machte noch einen Schritt nach hinten und spürte einen Felsen in seinem Rücken. Panisch fuchtelte er mit den Armen. „Wenn Ihr mich tötet, dann werdet Ihr das teuer bezahlen…ich bin ein Novize de-Aarrgh!“

In einem Strahl silbernen Mondlichts, der durch die dichten Baumwipfel fiel, blitzte Gilroys Dolch für einen Sekundenbruchteil auf. Die scharfe Klinge durchtrennte Aulus‘ Kehle mit einem sauberen Schnitt und der frühere Novize fasste sich an den Hals. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch er sackte mit weit aufgerissenen Augen in die Knie. Er gab ein ersticktes Röcheln von sich und blickte fassungslos zu Gilroy empor. Zitternd hob er seine Hand, spuckte in einem Hustenanfall einen Schwall Blut aus und kippte schließlich vornüber. Der Dunkelelf stand über ihm und sah zu, wie sich der schlammige Boden unter ihm rot färbte.

Die Ratten im Unterholz quietschten vor Begeisterung. Gilroy hatte nicht vor, den hungrigen Nagern ihr Festmahl vorzuenthalten. Er ließ den ermordeten Mann liegen, wandte sich um und verschwand in den dunklen Sumpfwäldern.

Viland war nach dem Kampf mit Tyra nicht weit gekommen. Schon nach wenigen Schritten war er aufgrund des Blutverlusts zusammengebrochen. Nun saß er an einen Tropfstein gelehnt in der Nähe der Toten und kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit. Mit einer Hand presste er die Stichwunde an seinem Bauch, die ihm durch Tyras Schwert zugefügt worden war, aber das Blut quoll trotzdem unaufhaltsam zwischen seinen Fingern hindurch. Viland wusste genau, dass er nicht mehr lange durchhalten würde, wenn ihn nicht bald jemand fand.

Der schwerverletzte Barbar wusste nicht, wie lange er schon in der Grotte saß. Zwischenzeitlich hatte er das Bewusstsein und dadurch auch jegliches Zeitgefühl verloren. Nur die Strahlen der tiefstehenden Sonne, die zwischen den Felsen aufblitzten und die Grotte mit goldenem, grellem Licht überfluteten, verrieten ihm, dass es bereits Abend sein musste, als endlich gedämpfte Schritte die Ankunft der Schmuggler ankündigte.

Viland verfluchte sein Schicksal, als er Molas Stimme erkannte. Ausgerechnet diese wichtigtuerische Schrapnelle würde ihn in diesem Zustand finden. Offenbar war sie dafür zuständig, die Wachen für die Nacht einzuteilen.

Das faltige Gesicht der Dunkelelfe erschien in der Tunnelöffnung. Sie war gerade in ein wütendes Gespräch mit ihrer Tochter Vela vertieft. „Erst müssen wir uns von diesem aufgeblasenen Ork unsere Arbeiter bringen lassen und dann erzählt Fjedor auch noch irgendetwas von irgendwelchen ominösen Änderungen“, hörte Viland sie sagen. Weitere Dunkelelfen betraten die Grotte aus dem Inneren des Berges.

Balar, der zauberkundige Dunkelelf, entdeckte den verletzten Axtkämpfer als Erster. „Was ist denn hier passiert?“, rief er erschrocken.

Viland stieß ein gequältes Lachen aus. Offenbar gab er ein besonders miserables Bild ab.

Auch Mola wurde jetzt auf ihn aufmerksam. Mit argwöhnischem Gesichtsausdruck näherte sie sich dem Verletzten. „Wer ist das?“, erkundigte sie sich trocken und stieß Tyras Leichnam mit dem Fuß an.

„Frag sie doch selbst“, zischte Viland und verlagerte stöhnend sein Gewicht. „Irgendeine Abenteurerin mit Todessehnsucht. Und sie hat euch Stümper offenbar beobachtet, als ihr die Höhle verlassen oder betreten habt. Aber ich habe diesen Fehler wieder ausgebügelt. Nichts zu danken!“ Obwohl es Viland große Schwierigkeiten bereitete, zu sprechen, troff seine Stimme vor Sarkasmus.

Mola schürzte verächtlich die Lippen. „Hört euch diesen großen Krieger an!“, höhnte sie. „Er hat sich todesmutig in den Kampf gegen ein schmächtiges Mädchen geworfen.“

„Spar dir die Sprüche, sonst hack ich dir deinen hässlichen Kopf ab!“, grollte Viland drohend und fasste den Schaft seiner Axt fester. „Hol lieber die Heilerin!“

„So spricht man aber nicht mit jemandem, von dem man gerettet werden will“, gab Mola ungerührt zurück und ging vor dem verletzten Krieger in die Knie. „Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich dich einfach hier liegen und verrecken lasse. Was Brynne wohl sagen wird, wenn er erfährt, dass einer seiner Leibwächter von einer halbstarken Göre um die Ecke gebracht wurde? Das wird er bestimmt nicht gutheißen.“

Vilands blutunterlaufene Augen sprühten zornige Funken. „Noch weniger wird er es gutheißen, dass diese halbstarke Göre den Zugang zu unserer Höhle entdeckt hat“, erwiderte er beißend. „Und wenn dabei auch noch einer seiner Leibwächter das Leben lässt, wird er garantiert sehr wütend sein und nach der Dunkelelfe suchen, durch deren Dummheit sein Versteck entdeckt wurde.“

„Schon gut, schon gut“, murrte Mola unwillig und täuschte dann Entrüstung vor. „Hältst du mich etwa für ein Monster? Ich würde dich doch niemals verbluten lassen.“

„Natürlich würdest du das nicht“, keuchte Viland schwach und tätschelte das Klingenblatt seiner Axt. „Und jetzt bring endlich die Heilerin hierher! Ich schwöre dir eins, wenn ich merke, dass ich nicht überlebe, dreh ich dir den Hals um!“

Mola erhob sich und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, gab ihrer Tochter aber einen Wink. „Vela, geh und hol die Heilerin!“, befahl sie. „Wir wollen doch wirklich nicht, dass unser tapferer Krieger ein so unwürdiges Ende findet.“

Die junge Dunkelelfe nickte gehorsam und eilte davon.

Viland hatte immer schwerer mit der Bewusstlosigkeit zu kämpfen. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen und er stieß leise, gedämpfte Grunzlaute aus. Immer wieder kippte sein Kopf schwach zur Seite.

Mola ging in einiger Entfernung in die Hocke und tippte beiläufig mit dem Griff ihres Säbels. „Armer Viland“, säuselte sie mit gespieltem Mitleid. „Ich fürchte, wenn Vela die Heilerin nicht sofort findet, wirst du doch noch verbluten. Tja, da kann man dann wohl nichts machen.“

„Halt die Klappe!“, stieß Viland schwach hervor. Er stöhnte gequält auf und presste seine Hand fester auf die Wunde in seinem Bauch. Das Blut sickerte durch seine Finger, tropfte auf den Boden und vermischte sich dort mit der dünnen Wasserschicht. „Du wirst dich dafür verantworten müssen, wenn ich sterbe.“
 

Vela eilte auf schnellstem Weg in den Höhlenabschnitt, in dem sich die Schurken der Schmugglerbande einquartiert hatten. Sie hatte einen Heidenrespekt vor Mola und nicht nur, weil sie ihre Mutter war. Seit sie denken konnte, war sie mit Molas Horde von Plünderern durch das Land gezogen und in dieser Zeit hatte sich ihre Verwandtschaft längst in ein Verhältnis zwischen Anführerin und Untergebener gewandelt. Inzwischen war Mola für Vela mehr Befehlshaberin als Mutter. Die alte Dunkelelfe gab die Befehle und ihre Anhängerschaft hatte ihr aufs Wort zu gehorchen. Wer nicht gehorchte, wurde gnadenlos bestraft. Vela bildete da keine Ausnahme und manchmal fragte sie sich, ob ihre Mutter überhaupt noch wusste, dass sie blutsverwandt waren. Immer wieder versuchte Vela, Molas Gunst zu gewinnen, indem sie die ihr erteilten Aufgaben schnellstmöglich erfüllte. Doch ihre Mutter begegnete ihr mit der gleichen Arroganz, mit der sie auch die anderen Bandenmitglieder behandelte. Balam war ihr klarer Favorit, vermutlich weil er im Gegensatz zu den anderen Plünderern magiebegabt war. Vela selbst musste zugeben, dass sich seine Feuerzauber immer wieder als äußerst nützlich erwiesen, doch sie konnte nur schwer verbergen, wie eifersüchtig sie auf den Dunkelelfen war, der ihren Platz als engster Vertrauter ihrer Mutter eingenommen hatte. Vela blieb nichts anderes übrig, als Mola alles recht zu machen, was in ihrer Macht stand, doch so sehr sie auch buckelte, neben Balam schien sie von ihrer Mutter kaum noch wahrgenommen zu werden. Deshalb lief sie so schnell sie ihre Beine tragen konnten. Sie wusste, dass sie nur einen Laufbotendienst verrichtete, aber alles war ihr recht, um ihr eigenes Ansehen bei Mola zu steigern.

Die Heilerin der Schmugglerbande war eine junge Dunkelelfe namens Indra. Sie war eine der unglückseligen Reisenden gewesen, die den Banditen beim Durchqueren der Düstermarsch in die Hände gefallen waren. Indras Heilkünste waren ihr Glück, denn die Schmuggler hatten ihre Fähigkeiten schnell entdeckt. Fjedor hatte daraufhin entschieden, dass er auf sie als Arbeiterin in den Minen verzichten konnte. Seitdem wurde sie gezwungen, sich um die Verletzungen und Erkrankungen der Schmuggler zu kümmern. Es war keine besonders dankbare Aufgabe, doch es war immer noch bei Weitem angenehmer, als in den Minen nach Sturmerz zu schürfen und sich von den Aufsehern auspeitschen zu lassen.

Im Gegensatz zu den Schürfern genoss Indra das Privileg, dass man auf ihr Wohlergehen wertlegte. Sie bekam warme Mahlzeiten und frisches Trinkwasser und die Matratze, auf der sie schlafen durfte, war ungleich bequemer als das schimmlige Stroh im Sklavenverschlag. Trotzdem wusste die Heilerin ganz genau, dass sie wie die Arbeiter nach wie vor eine Gefangene war.

Ihre Dienste wurden verhältnismäßig selten benötigt. Meistens kümmerte sie sich um Banditen, die sich leichte Fälle von Sumpffieber eingefangen hatten. Ernsthafte Verletzungen waren seltener, aber Indra hatte auch schon die ein oder andere Platzwunde genäht oder einen verstauchten Knöchel versorgt. Zu den Gefangenen hatte man sie bislang noch nicht gelassen, obwohl sie immer wieder sah, dass die entzündeten Striemen von den zahllosen Peitschenhieben dringend einer medizinischen Untersuchung bedurften. Indra empfand großes Mitleid mit den unglückseligen Arbeitern. Sie wusste selbst, wie es war, in der Mine schuften zu müssen, doch sie hatte nur einen Tag durchhalten müssen, dann hatte man sie bereits aus dem Sklavenverschlag geholt und als Heilerin eingesetzt. Nicht selten schämte sich die junge Frau dafür, dass es ihr verhältnismäßig gut ging, während sich die anderen Gefangenen täglich fast zu Tode schufteten, auf schimmligem Stroh oder feuchtem Fels schlafen mussten und immer wieder den brutalen Peitschenhieben der Aufseher ausgesetzt waren. Doch Indra konnte an ihrer Situation auch nicht mehr ändern, als die gefesselten Sklaven. Auch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie eines Tages gerettet oder auf noch wundersamere Art und Weise von den Schmugglern freigelassen wurde.

Indra lebte in einem kleinen Seitengang etwas abseits der eigentlichen Quartierhöhle. Dort sortierte sie ihren kleinen Apothekerbeutel, in dem sie verschiedene Heilkräuter und Wundsalben aufbewahrte. Manchmal durfte sie die Banditen, die sich ein oder zwei Mal am Tag in die Düstermarsch wagten, darum bitten, einige Zutaten für sie zu besorgen. Die Wälder waren voll von seltenen Kräutern und anderen Gewächsen, aus denen man wirksame Heilmittel herstellen konnte. Besonders die Vielfalt verschiedener Pilze war beeindruckend. Sie wuchsen in den Düstermarsch in allen Größen, Formen und Farben und hatten ganz unterschiedliche Eigenschaften inne. Manche enthielten ein tödliches Gift, andere wirkten bewusstseinserweiternd und wieder andere waren effektive Heilmittel.

Indra erschrak gewaltig, als Vela plötzlich in ihren Raum platzte. „Beeil dich!“, schrie die rothaarige Schmugglerin barsch und machte ihrer angestauten Wut und Eifersucht auf Balam Luft. „Wir brauchen deine Hilfe!“

Indra erholte sich schnell von ihrem Schrecken und legte fragend den Kopf schief. „Was ist passiert?“, erkundigte sie sich sanft.

„Viland wurde abgestochen!“, antwortete Vela kratzbürstig. „Beweg dich, sonst verblutet er!“

„Einen Augenblick“, bat Indra um Geduld und besah sich ihre gut sortierte Sammlung aus Heilkräutern und Ingredienzien. „Stichwunden…Blutverlust…“, überlegte sie laut. Schließlich griff sich nach einer holzigen Pflanze mit breiten, grünen Blättern und stopfte sie zu den anderen Zutaten in ihren Apothekerbeutel. „Bitte bring mich zu dem Verletzten.“
 

Die Schmuggler hoben die Köpfe, als aus dem Tunnel, der in die Wohnhöhlen führte, Schritte ertönten. Kurz darauf erschien Vela mit Indra im Schlepptau. Das Gesicht der jungen Heilerin war vor Anstrengung gerötet und sie erschrak, als sie den schwerverletzten Viland entdeckte. Sie kniete sich augenblicklich zu ihm hinab und entdeckte dabei Tyras Leiche. Ihr wurde beim Anblick der fürchterlichen Wunde in der Schulter der jungen Frau schlecht. Sie sah das blutverschmierte Klingenblatt von Vilands Axt und spielte für einen Moment mit dem Gedanken, den Verletzten für seinen grausamen Mord einfach verbluten zu lassen. Doch sie wusste, dass man sie dafür bestrafen würde, wenn Viland starb und außerdem widersprach es ihren Prinzipien als Heilerin, einen Verletzten seinem Schicksal zu überlassen, egal welche Gräueltaten er begangen hatte.

„Helft mir, seinen Brustpanzer abzunehmen!“, rief sie den umstehenden Schmugglern zu. Mola nickte Balam teilnahmslos zu und der magiebegabte Dunkelelf näherte sich Indra, um ihr zu helfen. Die Heilerin entfernte vorsichtig das Messer, das noch in Vilands Körper steckte. Besonders aus den beiden Stichwunden in seinem Bauch floss eine Menge Blut. „Schnell!“, drängte sie Balam, der anfing, Viland aus seiner Rüstung zu schälen. Der Axtkämpfer wehrte sich schwach.

Indra kramte die breitblättrige Pflanze aus ihrem Apothekerbeutel hervor. „Drachenschweif“, erklärte sie Viland, dem die Sinne schwanden. „Er wird Eure Blutung stillen.“ Sie brach die holzigen Blätter in der Mitte ab und im Inneren wurde eine glänzende, zähflüssige Substanz sichtbar. Sie presste die Pflanze auf die bösen Wunden am Bauch und an der Flanke und fixierte sie fachmännisch mit einem Verband aus Leinen. Dann besah sie sich die Verletzungen am Oberarm und an der Schulter. Diese waren weniger schlimm und bluteten auch nicht besonders stark, aber Indra legte auch an diesen Stellen einen Wundverband an.

Viland hatte derweil das Bewusstsein verloren. Die Heilerin trat einen Schritt zurück und besah sich ihren Patienten. „Und?“, fragte Mola gelangweilt. „Kommt er durch?“

„Er wird nicht verbluten“, erklärte Indra. „Jedenfalls nicht äußerlich. Ich kann leider nicht sagen, wie schlimm seine Organe in Mitleidenschaft gezogen wurden. Außerdem werde ich die Wunden an seinem Bauch und an seinem Oberschenkel nähen müssen.“

„Na, das sind ja tolle Nachrichten“, brummte Mola tonlos. „Wir sollten ihn wegschaffen, damit du ihn wieder zusammenflicken kannst. Bringt ihn in die Wohnhöhle!“ Sofort eilten ein paar Dunkelelfen zu Viland hinüber, packten ihn unter den Armen und an den Beinen und trugen ihn fort.
 

Der verletzte Barbar wurde in die Quartiere der Schmuggler gebracht. Es handelte sich dabei um die mit Abstand größte Höhle in dem System aus Tunneln und Gängen. In der hohen Decke klaffte ein halb mit Unterholz und Erde zugeschüttetes Loch, durch das frische Luft und Tageslicht in die Höhlen strömte. Die meisten der Banditen hatten die meiste Zeit über nichts zu tun und lungerten herum. Sie waren keine Aufseher und gehörten auch nicht zu Molas Spähtrupp, sondern verdienten sich ihre Mitgliedschaft in der Bande und den damit verbundenen Lohn, indem sie für ein paar Stunden in den Minen schürften. Wenn sie ihr Tagwerk verrichtet hatten, das nicht einmal im Ansatz mit dem Pensum der Sklaven zu vergleichen war, kehrten sie in die Wohnhöhle zurück und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen, Nickerchen und ab und an auch mit einem ausufernden Saufgelage. Die letzte Schnapslieferung, die sie erhalten hatten, war aber längst aufgebraucht und in den Quartieren herrschte Langeweile.

Als Molas Späher mit Viland erschienen, sahen die Schmuggler neugierig auf. Es tat sich selten etwas in der Wohnhöhle und die Banditen drängten nach vorn, um einen Blick auf den verletzten Axtkämpfer zu erhaschen. Man legte ihn auf eine Matratze und sofort scharten sich die Schaulustigen um ihn herum. „Könnt Ihr dafür sorgen, dass sie verschwinden?“, bat Indra nervös und sah Mola ängstlich an. Die alte Dunkelelfe legte gelangweilt den Kopf schief und trat mit gezücktem Säbel zwischen die neugierigen Banditen. „Genug gegafft!“, rief sie herrisch. „Seht zu, dass ihr verschwindet und lasst die Heilerin ihre Arbeit machen!“ Die Banditen hegten nicht den Wunsch, sich mit Mola anzulegen und trollten sich. Indra atmete dankbar auf. „Sieh zu, dass er am Leben bleibt“, knurrte die alte Dunkelelfe und stapfte davon. „Ich möchte nicht erleben, wie Brynne reagiert, wenn einer seiner wichtigsten Männer den Löffel abgibt.“
 

Indra nutzte Vilands Bewusstlosigkeit, um seine schlimmsten Verletzungen fachmännisch zu versorgen. Die Dunkelelfe zog die Wundränder der beiden tiefen Stiche im Bauch des Barbaren zusammen und nähte sie mit flinken Fingern. Bei der klaffenden Schnittwunde an Vilands Bein tat sie das gleiche. Der Barbar grunzte und stöhnte leise, während die heiße Nadel durch sein Fleisch stach. Der Drachenschweif bewirkte wahre Wunder und stillte die Blutungen bereits in kürzester Zeit. Der Zustand des Axtkämpfers blieb stabil. Seine Körpertemperatur war etwas erhöht, doch das leichte Fieber war nichts, was Indra Sorgen bereitete.

Trotzdem blieb sie noch eine ganze Weile bei Viland. Sie beobachtete seine Atmung und wechselte in regelmäßigen Abständen die Verbände. Schließlich war sie sich sicher, dass seine Organe keine gefährlichen Verletzungen erlitten hatten. Die junge Heilerin seufzte und fragte sich, warum sie sich so erleichtert fühlte. Sie wusste genau, dass Viland ein rücksichtsloser Verbrecher war. Ihr wurde schlecht, als sie wieder an die fürchterliche Wunde dachte, die seine Gegnerin das Leben gekostet hatte. Der Axtkämpfer hatte gnadenlos einen Menschen getötet und nun hatte Indra sein Leben gerettet. Sie wollte kein Mitleid für einen Schurken wie Viland empfinden. Er war ein Mörder, der keinen Respekt vor dem Leben anderer Leute hatte. Jemand wie er hatte es nicht verdient, versorgt und gepflegt zu werden. Sie hasste ihre Patienten und sie hasste die Banditen. Sie hasste sie für all das, was sie ihren Gefangenen antaten, doch sie konnte nicht anders, als einem Verletzten mit all ihrem Wissen zu helfen.

Indra zog ihre Knie eng an ihren Körper und umschloss ihre Beine mit den Armen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie Viland wütend anstarrte. Sie wollte ihre Fähigkeiten zum Wohle anständiger Leute einsetzen. Ihre Heilkunst wurde gemeinhin als etwas Gutes angesehen, doch noch nie hatte es sich für sie so schlecht angefühlt, jemanden zu heilen. Es war immer Indras Wunsch gewesen, den Leuten zu helfen, deshalb hatte sie sich zur Heilerin ausbilden lassen. Und nun musste sie schmerzlich feststellen, dass auch die Heilkunst ihre Schattenseiten in sich barg, wenn man damit den falschen Leuten half. Sie hatte einem Mörder das Leben gerettet und war damit mitverantwortlich für weitere Morde, die Viland begehen würde. Indra legte die Stirn auf ihre Knie und fing an, leise zu weinen.
 

Unterdessen hatte sich die Nachricht, dass eine Fremde in die Grotte eingedrungen war, wie ein Lauffeuer unter den Schurken verbreitet. Mola hatte Fjedor höchstpersönlich davon in Kenntnis gesetzt und der Schmugglerkönig hatte daraufhin alle wichtigen Mitglieder seiner Bande in der Thronhöhle versammelt. Ohnehin hatte er vorgehabt, sie zu sich zu rufen, um ihnen von seinem Vorhaben zu berichten, die Grotte für ein paar Tage zu verlassen. Doch das war nun zweitrangig. Dass es jemandem gelungen war, seinen Schlupfwinkel aufzuspüren, zerrte an seinem Nervenkostüm. Sein geheimer Handel mit dem Sturmerz drohte aufzufliegen und Fjedor hatte nicht übel Lust, die Höhle sofort zu verlassen, und sich mit Brynne zum Wolkentempel zu begeben, bevor ein Bataillon Soldaten aufkreuzte.

Vor seinen Leuten gab sich der Schmugglerkönig aber so souverän wie möglich. Neben seinem Leibwächter Nironil waren Mola als Anführerin der Späher, Ratz als Oberaufseher und Yarshuk als Vertreter der Interessen von Brigadegeneral Loronk anwesend. In seiner dunklen Ecke beobachtete außerdem Brynne die Versammlung der Banditen. Er hatte die Nachricht vom lebensgefährlichen Angriff auf seinen Leibwächter Viland überraschend gleichgültig aufgenommen. Fjedor konnte es ihm nicht verdenken. So furchteinflößend Viland auch wirkte, mit Brothain hatte Brynne noch einen zweiten Leibwächter, der eine nicht minder abschreckende Wirkung auf jeden hatte, der sich seinem Herrn nähern wollte.

„Wir sollten schnellstmöglich herausfinden, wie es dieser Frau gelungen ist, unseren Schlupfwinkel aufzuspüren“, rief Fjedor energisch.

Mola fläzte sich auf dem Höhlenboden und kraulte ihr Schoßtier, eine Riesenratte, die genauso hässlich war, wie die alte Dunkelelfe selbst. „Na, wie schon? Frag das mal unsere Grünhaut dort drüben“, brummte sie gelangweilt und deutete mit dem Daumen auf Yarshuk. „Sein feiner Orkhäuptling war ja der Meinung, dass es vollkommen unauffällig ist, wenn man mit einem ganzen Trupp Soldaten aufmarschiert.“

„Hüte deine Zunge, du alte Vettel!“, erboste sich Yarshuk und zeigte mit dem Finger anklagend auf Mola. „Es gibt keine Beweise dafür, dass diese Frau auf den Brigadegeneral aufmerksam geworden ist! Genauso gut könnte sie auch dir und deinen stinkenden Handlangern auf die Schliche gekommen sein!“

„Dann ist es also reiner Zufall, dass uns erst dein feiner General einen Besuch abstattet und wir nur kurz darauf von einer dahergelaufenen Abenteurerin aufgespürt werden?“, gab Mola zynisch zurück. „Im Gegensatz zu euren Soldaten kennen meine Leute die Düstermarsch wie ihre Westentasche und bewegen sich nicht einmal ansatzweise so lärmend durch die Wälder. Sogar ein taubes Schaf könnte Loronks Trupp auf der Spur bleiben!“

„Maul halten, alle beide!“, rief Fjedor erbost. „Wenn ihr euch gegenseitig zerfleischt, bringt uns das keinen Schritt weiter. Die große Frage ist, ob die Gefahr besteht, dass unser Schlupfwinkel erneut entdeckt wird.“

„Wenn diese hirnlosen Soldaten wieder hier aufmarschieren, kennt bald ganz Adamas unser Versteck“, knurrte Mola leise.

„Falls hier ein Trupp Soldaten aufkreuzt, sind wir geliefert!“, rief Ratz schrill. „Dann sitzen wir hier in der Falle und werden einer nach dem anderen niedergemetzelt!“

„Nichts dergleichen wird geschehen!“, grollte Yarshuk wütend. „Brigadegeneral Loronk hat die Kontrolle über die Streitkräfte in Eydar. Sobald sich an dieser Situation etwas ändert, wird er uns augenblicklich informieren.“ Er sah Ratz verächtlich an. „Ihr habt vielleicht euer Leben oder eure Freiheit zu verlieren, aber für den General steht weit mehr auf dem Spiel.“

„Oh ja, sein Rang und sein guter Ruf“, ätzte Mola und verdrehte die Augen. „Das ist natürlich viel mehr wert, als das Leben von siebzig Leuten.“

„So etwas versteht eine Kanalratte wie du nicht“, knurrte Yarshuk gereizt.

„Entschuldige bitte, wenn ich nicht mein Kanalrattenleben riskieren möchte, während dein hochwohlgeborener General seinen guten Ruf aufs Spiel setzt!“, zischte Mola gehässig.

„Ich kann dir das auch nochmal in allen Einzelheiten erklären…oder in Einzelteilen“, erwiderte Yarshuk drohend und griff nach seiner Streitaxt.

Mola sprang auf. „Das will ich sehen!“, rief sie und zog ihren Säbel.

„Ich habe gesagt, ihr sollt die Schnauze halten!“, brüllte Fjedor wütend. „Steckt die Waffen weg und beruhigt euch endlich!“

Mola und Yarshuk knurrten unwillig, doch sie gehorchten. Fjedor massierte sich die Nasenwurzel und holte tief Luft. „So. Wo war ich stehen geblieben…“, überlegte er leise und sah dann auf. „Yarshuk, du garantierst also dafür, dass Loronk in Eydar alles unter Kontrolle hat?“

„So ist es“, bestätigte er Ork finster.

„Unter diesen Umständen ist auch völlig egal, ob unser ungebetener Besucher Mitwisser hatte oder nicht“, stellte Fjedor fest. „Die einzigen, die uns etwas anhaben können, sind die Soldaten, die Loronk nicht in unseren kleinen Handel eingeweiht hat. Und da er diese befehligt, sind wir sicher. Selbst wenn noch mehr Abenteurer folgen, ist das nicht weiter schlimm. Mit denen werden wir ohne Probleme fertig. Trotzdem werde ich dafür sorgen, dass die Wachen am Eingang der Grotte verdoppelt werden. Nur um sicherzugehen.“

"Das kannst du mir überlassen“, verkündete Mola. "Ich schicke vier meiner Leute in die Eingangshöhle. Die werden schon darauf achten, dass sich hier kein weiterer Schnüffler einschleicht."

„Ich könnte Loronk bitten, Patrouillen entlang der Bucht einzuteilen“, schlug Yarshuk vor. „Natürlich unter dem Vorwand der Suche nach den Vermissten. So könnten wir sichergehen, dass niemand diese Höhle entdeckt.“

„Kein schlechter Vorschlag“, brummte Fjedor und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Wenn auch nicht gerade subtil. Aber das bringt wieder Ruhe in unsere Reihen. Oder wie siehst du das, Ratz?“ Er sah seinen Oberaufseher fast schon besorgt an. Er hatte beinahe die Nerven verloren und das war das Letzte, was Fjedor im Augenblick brauchen konnte.

„Unter diesen Umständen ist unsere Situation wohl doch weniger bedenklich“, gab Ratz zögernd zu.

„Na also“, lächelte Fjedor zufrieden. „Es besteht kein Grund zur Sorge.“ Ratz erwiderte sein Lächeln unsicher.

Fjedor nahm auf seinem Thron Platz. „Nun, da ihr alle hier versammelt seid, habe ich noch etwas zu verkünden“, hob er an und musste nach Luft schnappen, als er Brynnes drohenden Blick in seinem Nacken spürte. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken und er drehte sich vorsichtig um. Sein Verbündeter starrte ihn aus der Dunkelheit der hinteren Höhlenecke wütend an, aber Fjedor brachte ein entwaffnendes Lächeln zustande und wandte sich wieder seinen Leuten zu. „Unser Freund Brynne Blutbrand wird uns verlassen, sobald Kapitän Veit mit seinem Schiff zurückkehrt“, erklärte er laut. „Ich werde ihn mit einigen meiner Leute begleiten, um ihm einen gebührenden Abschied und eine sichere Reise durch die Düstermarsch zu ermöglichen."

"Ach, das meintest du also damit, als du von ein paar Änderungen gesprochen hast“, bemerkte Mola und rümpfte die Nase.

Fjedors Augen funkelten gierig. "Ganz genau!", rief er. "Für die Dauer meiner Abwesenheit übertrage ich Ratz das Kommando.“

Der Oberaufseher grinste einfältig und Fjedor warf ihm einen warnenden Blick zu. Mola sprang entrüstet auf. „Was denn?“, japste sie ungläubig. „Du überträgst diesem Nichtsnutz das Kommando? Bist du wahnsinnig?“

„Hüte deine Zunge!“, rief Ratz wichtigtuerisch und schwang drohend seine Peitsche. „Ich bin immerhin der Oberaufseher der Minen!“

Mola warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Fjedor hob schlichtend die Hände. „Beruhigt euch!“, bat er ungeduldig. „Ich bin ja nur ein paar Tage weg. Solange werdet ihr es hoffentlich aushalten, ohne euch gegenseitig die Schädel einzuschlagen.“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, brummte Mola beleidigt.

„Schluss jetzt!“, rief Fjedor gereizt. „Ich habe mich entschieden und ihr habt das gefällig zu respektieren.“

„Na schön“, gab Mola kleinlaut nach. „Aber wenn er meint, mir Befehle erteilen zu müssen, schneide ich seine Peitsche in kleine Stückchen.“

„Du hast es gehört, Ratz“, grinste Fjedor. „Keine Befehle für Mola. Und für unseren orkischen Freund auch nicht, klar? Den Rest kannst du nach Belieben rumkommandieren.“

„Verstanden, Fjedor!“, erwiderte Ratz und wirkte dabei ein wenig niedergeschlagen.

„Sehr schön!“, sagte Fjedor und klatschte zufrieden in die Hände. „Dann könnt ihr euch jetzt alle wieder verziehen! Und Mola, du nimmst gefälligst deine Ratte mit!“

Ratz, Yarshuk und Mola kamen seiner Aufforderung nach und verließen schlendernd die Thronhöhle. Kaum waren sie weg, konnte Fjedor hören, wie Brynne mit seinen Fingernägeln über die Holzkisten kratzte, auf denen er saß.

„Was sollte das?“, knurrte er drohend. „Wir haben uns doch entschieden, diesen Ork nicht einzuweihen.“

Fjedor drehte sich zu Brynne um. „Was soll schon passieren?“, fragte er und war darum bemüht, seine Stimme möglichst gleichgültig klingen zu lassen. „Von deinen wahren Plänen weiß er ja immer noch nichts. Und er wäre bestimmt misstrauisch geworden, wenn ich ohne Erklärung für ein paar Tage fort gewesen wäre."

„Schon gut“, gab Brynne verärgert zurück. „Ich bin immer noch der Meinung, dass es ein Fehler war, sich mit dem Ork einzulassen.“

„Oh, das sollte schon bald nicht mehr deine Sorge sein“, erwiderte Fjedor und machte eine abwinkende Handbewegung. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun?“

„Ich will mit der Heilerin sprechen“, verlangte Brynne.

Fjedor hob überrascht die Brauen, doch dann gab er Nironil einen Wink. „Hol Indra!“, befahl er seinem Leibwächter. Der Waldelf zögerte und warf Brothain einen nervösen Blick zu. „Geh schon“, flüsterte Fjedor ihm zu. „Du kannst mich kurz allein lassen. Ich bin nicht in Gefahr. Brynne braucht mich noch.“ Nironil schien noch immer Bedenken zu haben, doch er nickte und eilte davon.

Kaum war er verschwunden, da bereute Fjedor auch schon, dass er seinen Leibwächter fortgeschickt hatte. Alleine in Brynnes Anwesenheit fühlte er sich unwohl. Er spürte, wie der frühere Schüler des Wolkentempels ihn musterte und plötzlich war sein Hals ganz trocken. Fjedor räusperte sich mehrmals, während sich die Minuten endlos in die Länge zogen.

Als Nironil endlich zurückkehrte, japste Fjedor vor Erleichterung auf. Der Waldelf hatte Indra im Schlepptau. Schüchtern und sichtlich nervös betrat die junge Heilerin die Thronhöhle und neigte unterwürfig den Kopf vor Fjedor. „Ihr wünscht?“, fragte sie ängstlich.

Der Schmugglerkönig hob abwehrend die Hand. „Ich habe dich nicht rufen lassen“, erklärte er und deutete in die dunkle Ecke der Höhle. Bei Brothains Anblick zuckte Indra verschreckt zusammen. Vorsichtig näherte sie sich dem Dunkelelfen mit den steinharten Gesichtszügen.

„Was…was kann ich für Euch tun?“, erkundigte sie sich stotternd.

„Du kümmerst dich also um Viland?“

Indra stieß einen spitzen Schrei aus, als plötzlich Brynnes Stimme aus der Dunkelheit erklang. Sie starrte panisch in die Finsternis und riss erschrocken die Augen auf, als sie dort die Umrisse eines Menschen erkannte.

„Entschuldige“, sagte Brynne und seine Stimme klang ruhig und friedlich. „Ich wollte dir keine Angst einjagen. Du bist die Heilerin?“

Indra nickte hastig.

„Du musst wissen, dein Patient ist einer meiner Leibwächter“, fuhr Brynne fort. „Ich wollte mich nach seinem Zustand erkundigen.“

Indra fand nur mit Mühe ihre Sprache wieder. „Er…er schläft“, stotterte sie. „Und…und er ist…er ist noch sehr schwach. Aber er wird überleben.“

„Braves Mädchen“, sagte Brynne. „Das wollte ich hören.“ Obwohl er noch immer ruhig und bedächtig sprach, jagte der Klang seiner Stimme eiskalte Schauer über Indras Rücken. „Ist er in den nächsten Tagen wieder bereit, sich auf einen anstrengenden Fußmarsch zu begeben oder zu kämpfen?“, fragte er.

„Auf keinen Fall!“, rief Indra erschrocken. „Er ist schwer verletzt! Ich muss ihn bestimmt noch ein paar Tage im Auge behalten.“

„Bedauerlich“, äußerte Brynne. „Er ist für mich sehr wichtig, weißt du? Unter diesen Umständen wirst du uns wohl begleiten müssen.“

Indra wirbelte herum und starrte Fjedor an. Es war seltsam, dass sie sich auf der Suche nach Hilfe ausgerechnet an den Schmugglerkönig wandte, doch dieser zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.

„Heute Nacht wirst du uns auf das Schiff begleiten“, entschied Brynne und nun klang seine Stimme wieder hungrig und boshaft. „Und du wirst Viland gesundpflegen, bis er wieder seine Axt halten kann!“

Kapitän Veit war ein stämmiger, hartgesottener Seemann, der mit seinem Schiff, der Sirene, schon seit langer Zeit im Binnenmeer zwischen der Halbinsel Adamas und der Ostküste von Ganestan kreuzte. Im Gegensatz zu seinem kurzgeschorenen, braunen Haupthaar trug er einen wild wuchernden, verfilzten Bart, den er am Kinn zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Vor vielen Jahren hatte er seine Heimat Isenheim verlassen, um sich der Kaiserlichen Armee anzuschließen. Dort schien ihm zunächst eine steile Karriere bevorzustehen und er wurde aufgrund seiner überragenden Kenntnisse auf dem Gebiet der Nautik im Nu zum Kapitän eines Kriegsschiffes ernannt, obwohl er nie einen höheren Rang innehatte, als den eines Stabsfeldwebels. Während seiner Zeit bei der Armee hatte ihm ein schlimmes Schicksal mitgespielt, denn in einem schweren Sturm kenterte sein Schiff und er verlor beinahe seine komplette Mannschaft. Die Obrigkeit gab ihm die Schuld für die Katastrophe und nahm ihm seinen Rang. Veit fühlte sich verraten und im Stich gelassen. Verbittert hatte er der Armee den Rücken zugekehrt und sich nach Isenheim zurückgezogen. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hatte er sich entschlossen, seine seefahrerischen Qualitäten anders auszuspielen. Er ließ sich sein eigenes Schiff bauen und verdingte sich fortan als Schmuggler.

Veit ging diesem Geschäft schon so lange nach, dass die Überquerung des Binnenmeers für ihn inzwischen zur Routine geworden war. Er hatte aufgehört, Fragen zu stellen, und so transportierte er alle Arten von Hehlerware von einem Ort zum anderen. Meistens handelte es sich bei seiner Ladung um Waffen und Alkohol oder andere Rauschmittel. Immer wieder heuerten auch Reisende bei ihm an, die ihre Heimat aus den verschiedensten Gründen unauffällig verlassen wollten. Manche waren gesuchte Verbrecher, andere wiederum trieb es aus reiner Abenteuerlust oder der Hoffnung auf ein besseres Leben in fremde Gefilde.

Doch nicht immer waren die Gäste auf Veits Schiff freiwillig an Bord. Ab und zu verfrachtete er auch Sklaven aus aller Herren Länder, an denen vor allem die Orks aus Darkenfell großes Interesse hatten. Früher waren auch die Dunkelelfen ganz heiß auf günstige Arbeitskräfte gewesen, doch seit sich König Sard und der Kaiser im Zuge der Friedensverhandlungen immer weiter angenähert hatten, war die Nachfrage deutlich gesunken. Umso erschreckender war, dass sich ausgerechnet einige der vermeintlich so redlichen Fürsten Ganestans Sklaven hielten, ohne dass der Kaiser davon Wind bekam. Veit hatte genug Wissen, um ihre Machenschaften aufzudecken und ganze Adelsgeschlechter in den Ruin zu treiben, aber der Kapitän hatte seinem Streben nach Gerechtigkeit in einer verdorbenen Welt abgeschworen. Es war nicht länger seine Aufgabe, für Ordnung und Frieden zu sorgen, sondern seine Fracht verlässlich über das Binnenmeer zu transportieren, ohne dass die Armee davon Wind bekam.

Früher war Veit sein eigener Herr gewesen und hatte in den Häfen, in denen er ankerte, immer die Augen und Ohren nach potentiellen Auftraggebern offengehalten. Inzwischen hatte er einen siebten Sinn, wenn es darum ging, Leute zu finden, die Geschäften von eher zweifelhafter Legitimität nachgingen.

Doch dann hatte er Fjedor kennengelernt. Der heutige Schmugglerkönig war damals noch ein zerlumpter Landstreicher gewesen, dessen Gaunereien nicht über einzelne Taschendiebstähle hinausgingen. Er hatte sich gerade genug Geld zusammengeklaut, um Veit für die Überfahrt nach Adamas zu bezahlen und der Kapitän hatte sich ernsthaft gefragt, was so ein kleinkrimineller Halsabschneider im rauen Land der Dunkelelfen verloren hatte, doch bereits als er das nächste Mal an der Küste von Adamas vor Anker gegangen war, hatte ihn Fjedor erneut aufgesucht. In kürzester Zeit war es ihm gelungen, durch Gerissenheit und Eloquenz eine kleine Bande von Totschlägern um sich zu scharen. Veit sollte für ihn die Beute seiner ersten Raubzüge an den Mann bringen. Beim ersten Mal waren es nur ein paar schartige Schwerter und verwitterte Werkzeuge gewesen, die die Plünderer ihren Opfern abgenommen hatten, doch schon bei seinem nächsten Treffen mit Fjedor hatte sich die Masse der Hehlerware verdoppelt. Seither befand sich Veit in einer Art Festanstellung und als es Fjedor vor Kurzem geschafft hatte, sich eine Sturmerzmine unter den Nagel zu reißen, war das Geschäft regelrecht explodiert. Für keine Waffe und kein Konsumgut dieser Welt wurde so viel Geld geboten, wie für das exotische Metall, und es fanden sich massenweise Abnehmer. Fjedor verdiente sich eine goldene Nase und Veit bekam ein ordentliches Stück vom Kuchen ab, wodurch er noch weniger Interesse hatte, Fragen zu stellen. Persönlich konnte er Fjedor nicht ausstehen, aber Veit wusste genau, dass er vermutlich nie wieder einen Geschäftspartner finden würde, bei dem er auch nur annähernd so viel Geld verdienen konnte.

Seiner Mannschaft gegenüber verschwieg Veit stets, worum es sich bei der Fracht handelte. In seinem Tätigkeitsbereich blieb ihm nichts anderes übrig, als zwielichtige Schurken anzuheuern, und er traute dem Lumpenpack, dass er an Bord hatte, keinen Meter über den Weg. Wenn sie herausfanden, wie viel Geld beim Handel mit Sturmerz tatsächlich heraussprang, hatte Veit im Nu ein Messer zwischen den Rippen und war sein Schiff los. Deshalb tauschte er seine Mannschaft nach jeder erfolgreichen Überfahrt nach Ganestan wieder aus. Eine ständig wechselnde Besatzung verhinderte zwar jegliche Form von Vertrauen zwischen Kapitän und Crew, aber es war Veit deutlich lieber, mit Fremden zu segeln, als mit Mitwissern.

Nur sein erster Maat war ihm seit dem Beginn seiner Karriere als Schmuggler nicht von der Seite gewichen. Ilva war eine junge Frau, die sich durch ihre bedingungslose Treue auszeichnete. Sie und ihr Kapitän verdankten einander eine Menge. Ilva stammte aus einer kleinen Siedlung im von eisigem Wind und bitterer Kälte heimgesuchten Norden von Isenheim. Ihr Dorf war einem plündernden Stamm wilder Barbaren zum Opfer gefallen, als sie noch blutjung gewesen war, und Veit hatte sie gefunden, als sie einsam und verlassen die verschneite Küste entlanggewandert war. Der Anblick des ausgehungerten und unterkühlten Mädchens mit dem feuerroten Haar, das den lebensfeindlichen Bedingungen der Eiswüste trotzte, hatte sein verbittertes Herz in einer ihm bis heute unbegreiflichen Art und Weise erwärmt. Veit hatte sie kurzerhand an Bord seines Schiffes geholt und hatte sie wieder aufgepäppelt. Ilva war die einzige Person, die den Kapitän seine Verdrossenheit ein Stück weit vergessen lassen konnte. Inzwischen war sie für Veit aber weit mehr, als die Rettung aus seinem Missmut. Sie war seine loyale Gefährtin, der er über alle Maßen vertraute. Sie hatte ihn noch nie enttäuscht und es gab keinen Grund, weswegen er sie als austauschbares Besatzungsmitglied ansehen sollte, wie der Rest seiner ständig wechselnden Mannschaft. Ilva war für Veit wie die Tochter, die er niemals gehabt hatte und im Gegenzug bot der Kapitän ihr den Schutz und die Geborgenheit des Vaters, den sie an die wilden Barbaren verloren hatte.

Der Kapitän war mit seiner Crew nicht besonders zufrieden. In den geheimen Häfen Ganestans, in denen er anlegte, um das Sturmerz zu verhökern, hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass es äußerst lukrativ war, an Bord der Sirene anzuheuern. Die liederlichsten Schurken balgten sich darum, einen Platz für die nächste Überfahrt zu ergattern, in der Hoffnung, mit einer fürstlichen Heuer entlohnt zu werden. Man wusste, dass Veit gut bezahlen konnte und entsprechend verlangten die meisten Anwärter einen horrenden Preis für ihre Unterstützung. Das erschwerte die Suche nach günstigen Besatzungsmitgliedern und meist blieb Veit nichts anderes übrig, als das schäbigste Lumpenpack mit an Bord zu nehmen. Der Kapitän konnte die Gier in den Augen seiner Crew sehen und er wusste, dass die meisten von ihnen für ein bisschen Kleingeld die eigene Mutter erdolchen würden. Sein Vorteil war, dass niemand sein Ziel kannte. Veit hatte wohlweißlich davon abgesehen, jemand anderen als Ilva in seine Geschäfte mit Fjedor einzuweihen. Er verhandelte mit dem Schmugglerkönig, während der Rest der Besatzung an Bord zurückblieb und das Schiff bewachte. Außerdem kannte er die Hehler in Ganestan und wusste ganz genau, wo er das Sturmerz möglichst gewinnbringend und unauffällig loswerden konnte. Bislang hatte es noch niemand gewagt, ihn zu hintergehen, aber Veit fühlte sich trotzdem deutlich wohler, wenn er wusste, dass Ilva die Mannschaft für ihn im Auge behielt.

Mit der Ausbeute seiner letzten Stippvisite in Ganestan war Veit indessen sehr zufrieden. Mit jedem seiner Besuche in Adamas schleppten Fjedors Schmuggler immer mehr Kisten mit dem Sturmerz an und die Abnehmer in Ganestan standen Schlange, um sich gegenseitig zu überbieten und selbst den kleinsten Brocken des begehrten Metalls zu ergattern. Veit konnte sich in aller Ruhe den Interessenten aussuchen, der bereit war, am meisten Geld zu bezahlen. Im Unterdeck der Sirene schlummerten mehr Goldmünzen, als jeder an Bord in seinem Leben ausgeben konnte. Mit einem Teil des Erlöses hatte Veit bereits die Vorräte gekauft, die Fjedor bei jedem seiner Besuche einforderte. Der Kapitän war nicht nur dafür zuständig, Erz und Gold zu transportieren, sondern auch Fjedors Banditen mit Proviant zu versorgen, während sie sich in ihrer Mine vor den Soldaten der Kaiserlichen Armee versteckten. Ab und zu wurde Veit auch angewiesen, ordentliche Waffen für Fjedors Gesindel oder neue Spitzhacken für die Schürfer aufzutreiben, aber in den meisten Fällen beschränkten sich die Wünsche des Schmugglerkönigs auf Brot, Trockenfleisch und Alkohol.

Auch über seinen Gewinn verlor Veit außer mit Ilva und Fjedor kein Wort. Hätte seine Besatzung gewusst, welche Reichtümer sie transportierten, hätten die gierigen Schurken dem Kapitän und seiner Vertrauten längst die Kehle durchgeschnitten, um das Geld untereinander aufzuteilen oder sich im Streit um die Beute gegenseitig zu massakrieren. Mit der Aussicht auf eine ordentliche Bezahlung konnte Veit seine Crew bei der Stange halten und allzu neugierige Fragen verhindern, aber er wusste, dass seine Arbeit einem Spießrutenlauf glich. Die Gefahr lauerte sowohl auf offener See mit all ihren Tücken, wie Stürmen, Untiefen und Kaiserlichen Kriegsschiffen, als auch an Bord in Form einer gierigen Mannschaft. Die meisten Schmugglerkapitäne wurden nicht besonders alt.

Es war bereits dunkel, als sich die Sirene der Küste von Adamas näherte. Veit stand mit einer Öllampe in der Hand am Bug und ließ seinen Blick über das dunkle und ruhige Wasser schweifen. Er wusste, dass die Küstengebiete in dieser Region tückisch waren und mit zahllosen Untiefen gespickt waren. Hinzu kam, dass er nur nachts anlegen konnte, da andernfalls das Risiko zu groß war, von kreuzenden Schiffen der Armee entdeckt zu werden, doch Veit war längst geübt darin, seinen Weg durch die Riffe auf im Dunkeln zu finden. Ilva stand am Steuerruder im hinteren Teil des Schiffs und behielt gleichermaßen den Kurs, als auch die Mannschaft im Blick. Sie fungierte als zweites Augenpaar in Veits Rücken und achtete darauf, dass keines der Besatzungsmitglieder auf dumme Gedanken kam.

Auf dem Binnenmeer war es ruhig. Nur ein laues Lüftchen regte sich, trieb die Sirene langsam voran und kräuselte die Wasseroberfläche, auf der sich das Licht der Monde wie in einem Spiegel reflektierte. Der Nachthimmel war sternenklar, nur hier und dort hingen ein paar kleine Wolkenfetzen. Veit wusste die guten Bedingungen zu schätzen. Die Küste von Adamas war für ihren dichten Nebel berüchtigt, der schon für viele Seefahrer zur Todesfalle geworden war. Er suchte die dunkle Wasseroberfläche nach den verräterischen Silhouetten von Felsen und Riffen ab. Eine schwache Welle schwappte längsseitig gegen die Sirene und ließ ihren Rumpf leise knarren. Veit knifft die Augen zusammen, als sich die Küstenlinie wie der schwarze Schatten eines Seeungeheuers aus der Dunkelheit schob.

Der Kapitän hob den Arm und deutete im Licht seiner Öllampe nach links. Er musste sich mit Ilva nicht mit Worten verständigen. Die rothaarige Steuerfrau verstand und lenkte das Schiff langsam nach Backbord. Während die Brandungsströmung die Sirene auf die Gezeitenlinie zutrug, drehte sie sich immer weiter. Mit wilden Handzeichen lotste Veit den Kahn näher ans Festland, während Ilva seinen wortlosen Befehlen Folge leistete und das Steuerrad konzentriert umklammerte.

An der Küste erschienen die ersten Bäume der Düstermarsch. Ihre mächtigen Wipfel schienen das Mondlicht zu absorbieren und dem Blätterdach tat sich ein tiefschwarzer Schlund auf. Veit stapfte mit schweren Schritten nach Steuerbord, klammerte sich mit beiden Händen an die Reling und spähte angestrengt in die Finsternis. Weiter rechts erkannte er schemenhaft die Klippen, die Eydar umschlossen. Zwischen den Bäumen tauchte der versteckte Meeresarm auf, nachdem Veit Ausschau hielt. Es war Ebbe und das Wasser hatte sich weit zurückgezogen, sodass die dahinter liegende die Bucht, die für Veit und Fjedor als Treffpunkt diente, um den Erlös gegen eine neue Ladung Sturmerz auszutauschen, kaum zu erkennen war. Wie ein riesiger, von Bäumen gesäumter Spiegel lag sie friedlich da und ihre silbern schimmernde Oberfläche blitzte immer wieder kurz durch das dichte Unterholz entlang der Küste.

Weiter im Norden türmte sich ein hoher Hügel auf, der meerseitig in steilen Klippen abfiel. Dort gab es keine Möglichkeiten, mit dem Schiff vor Anker zu gehen, weswegen die Sirene direkt am Strand anlegen musste.

„Segel reffen!“, befahl Veit barsch. Die Mannschaft gehorchte knurrend. Leise ächzend krängte die Sirene nach Steuerbord, fuhr parallel zur Küste noch ein paar Meter durch seichtes Wasser und schrammte dann knirschend über den sandigen Meeresboden, bis sie mit einem sanften Ruck stehenblieb. Veit nickte zufrieden. Das Anlegemanöver war gelungen. Die kommende Flut würde die Sirene wieder auf das Binnenmeer hinaustragen.

„Gut möglich, dass wir hier noch ein bisschen warten müssen!“, verkündete der Kapitän seiner Mannschaft. „Macht euch solange nützlich und entladet das Schiff!“

Der Erlös des Sturmerzschmuggels war in drei massiven Holzkisten verstaut, die mit schweren Vorhängeschlössern versehen waren. Keines der Besatzungsmitglieder hatte die Möglichkeit, einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Einzig das gedämpfte Klirren der Goldmünzen war zu hören, als die Schmuggler die wertvolle Fracht an Deck schafften und über die ausgefahrene Laderampe an den Strand trugen.

Veit überwachte das Werkeln seiner Crew mit Argusaugen und war so auf das Geschehen fixiert, dass er den stillen Beobachter in der Bucht gar nicht bemerkte. Es war Ilva, die ihn auf die dunkle Gestalt aufmerksam machte, die in einem kleinen Ruderboot saß.

„Käpt‘n“, hauchte die rothaarige Frau und deutete zur Bucht hinüber. „Wir sind nicht allein.“

Veit schob argwöhnisch die Brauen zusammen. Um das kleine Ruderboot herum wurde das Wasser von zahlreichen, wild um sich schlagenden Flossen aufgewühlt und der Kapitän erkannte, dass sich dort ein Schwarm tobender Bluthechte herumtrieb. „Ist das einer von Fjedors Leuten?“, fragte er knurrend. Ilva zuckte unwissend die Schultern, aber Veit hatte ohnehin keine Antwort erwartet. Er legte eine Hand an sein Schwert und ging über die Rampe an Land. Ilva folgte ihm mit angespanntem Gesicht. Gemeinsam näherten sie sich vorsichtig dem Ruderboot, bis Veit erkannte, dass es ein Dunkelelf war, der darinsaß. Mit stoischer Gelassenheit erwartete er das anrückende Paar.

Veit blieb in einiger Entfernung stehen. „Hallo, Freund“, grüßte er bedachtsam. „Was tust du denn hier draußen mitten in der Nacht?“

„Ich warte auf Euch“, antwortete der Dunkelelf. Seine Augen waren unter den schwarzen Strähnen seines in die Stirn hängenden Haares verborgen.

Veit zuckte beim gleichmütigen Klang seiner Stimme unwillkürlich zusammen. Er erkannte, dass das braune Leinenhemd des Dunkelelfen mit Blut bespritzt war. Das erklärte, warum die Raubfische im Wasser so verrückt spielten. Sie witterten Beute und warteten nur darauf, dass der Dunkelelf sein Boot verließ. Doch er tat ihnen dieses Gefallen nicht, sondern blieb ruhig sitzen, während die Bluthechte tobten und das Wasser aufpeitschten.

„Du wartest auf mich?“, fragte Veit lauernd. „Gehörst du zu Fjedor?“

Statt sofort zu antworten, erhob sich der Dunkelelf wortlos und zog sein Boot an dem Seil, das er um den Stamm eines mächtigen Baums gebunden hatte, ans Ufer heran. Die Bluthechte intensivierten ihre Raserei, doch der Dunkelelf entfernte sich aus ihrer Reichweite und ging an Land.

Jetzt erkannte Veit, dass er nicht verletzt war. Das Blut auf seinem Hemd stammte offenbar von jemand anderem. Der Kapitän wich reflexartig einen Schritt zurück und packte den Griff seines Schwerts fester. „Antworte!“, forderte er gereizt.

Der Dunkelelf betrachtete seine Hände. Sie waren rau und schlammverkrustet. „Zu Fjedor?“, wiederholte er geistesabwesend. „Nein. Jedenfalls nicht direkt.“

Veit knirschte verärgert mit den Zähnen. „Weißt du, ich mag es überhaupt nicht, wenn man mir nebulöse Antworten gibt“, knurrte er. „Und noch weniger mag ich es, wenn man mich bei meiner Arbeit beobachtet.“

„Nur Geduld, Käpt’n Veit. Ich bin nicht Euer Feind“, murmelte der Dunkelelf und Veit schnappte erschrocken nach Luft, als er seinen Namen hörte. „Eure Fragen werden beantwortet, sobald die Flut einsetzt.“

Veit war noch immer misstrauisch, aber er entspannte sich ein wenig und nahm die Hand von seinem Schwertgriff. „Der Kerl ist eingeweiht“, zischte er Ilva leise zu. „Sieh nach, wie die Crew vorankommt. Ich werde hierbleiben und unseren Freund ein wenig im Auge behalten.“

Die rothaarige Steuerfrau nickte pflichtbewusst. „Aye-Aye, Käpt’n!“, rief sie und eilte davon.

Veit musterte den Dunkelelfen argwöhnisch. „Sag schon!“, verlangte er ungeduldig. „Wer bist du?“

„Mein Name ist Gilroy“, antwortete der Fremde und deutete eine Verbeugung an. „Ich stehe zu Euren Diensten, Käpt’n.“

„Spar dir das kriecherische Gesülze“, brummte Veit. „Erzähl mir lieber, was du mit Fjedor zu schaffen hast.“

Gilroy richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. „Ihr seid nicht der Einzige, mit dem dieser Schmugglerkönig Geschäfte treibt“, erklärte er. „Und diese Halbinsel bietet mehr Schätze, als schnödes Sturmerz. Mein Meister hat hier etwas zu erledigen und Fjedor war so nett, ihn dabei zu unterstützen.“

„Dein Meister?“, fragte Veit lauernd. „Wer soll das sein?“ Gilroy grinste breit. „Wie gesagt, übt Euch in Geduld, Käpt’n“, erwiderte er rätselhaft. „Ihr werdet ihn noch früh genug kennenlernen.“
 

In der Zwischenzeit hatten Veits Crewmitglieder die Vorräte für die Schmuggler und die mit Gold gefüllten Kisten an Land geschafft und lümmelten faul am Ufer herum. Ilva sah davon ab, sie wieder hochzuscheuchen, denn ihnen blieb ohnehin nichts anderes übrig, als zu warten, bis Fjedor mit einer neuen Ladung Sturmerz auftauchte. Inzwischen lag die Sirene vollständig auf dem Trockenen und es konnte nicht mehr lange dauern, bis der selbsternannte Schmugglerkönig anrückte.

Tatsächlich kündigten schon kurz darauf das Knacken von Ästen und das Schmatzen von Lederstiefeln im Schlamm die Ankunft der Banditen an. Veit wirbelte überrascht herum. Normalerweise kam Fjedor nur mit seinem Leibwächter Nironil und einem kleinen Gefolge von Trägern zur Austauschstelle, doch diesmal hörte es sich so an, als befände sich ein ganzes Bataillon auf dem Weg zur Küste.

Alarmiert zog er sein Schwert und lief eilig zu Ilva herüber. „Macht euch kampfbereit!“, rief er hektisch und deutete in den Wald. „Ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich Fjedor ist.“ Veits Mannschaft erhob sich mit unterschiedlichem Elan. Manche der Gauner konnten es kaum erwarten, ein paar Kehlen aufzuschlitzen, andere bekamen es mit der Angst zu tun und zitterten am ganzen Leib und wieder andere beschwerten sich missmutig darüber, dass sie so rüde aus ihrer Ruhepause gerissen wurden. Veit hielt sein Schwert bereit und nahm Kampfhaltung ein, als er zwischen den Bäumen die ersten Bewegungen wahrnahm. Dann trat die erste Gestalt ins Freie und Veit erkannte Fjedors blasses, vernarbtes Gesicht.

Der Kapitän atmete erleichtert auf und gab seinen Leuten mit einem Wink Entwarnung. Seine Crewmitglieder ließen sich murrend zurück in den Sand fallen. Fjedor war natürlich in Gesellschaft seines Leibwächters Nironil, aber darüber hinaus schien er tatsächlich einen Großteil seiner Bande mobilisiert zu haben. Etwa drei Dutzend abgerissene Schurken brachen hinter ihrem Anführer aus dem Unterholz. Es machte Veit stutzig, dass offenbar keiner der Banditen eine Kiste mit Sturmerz trug. Dafür hatten einige von ihnen Verpflegungsbeutel geschultert und alle waren bewaffnet.

„Veit!“, rief Fjedor und der Kapitän wusste sofort, dass seine vermeintliche Freude nur gespielt war. „Pünktlich wie eh und je.“

Veit deutete mit einem finsteren Kopfnicken auf Fjedors Gefolge. „Was soll dieser Aufmarsch?“, erkundigte er sich mürrisch.

Der Schmugglerkönig vertröstete ihn mit einer abwinkenden Handbewegung. „Dazu kommen wir gleich“, versprach er. „Laufen die Geschäfte zufriedenstellend?“

„Das kann man so sagen“, brummte Veit und zeigte auf die mit Geld gefüllten Kisten, die im Sand an der Küste lagen. „Die Hehler reißen sich um die Ware. Die Truhen sind randvoll. Es springt jedes Mal ein klein wenig mehr Zaster heraus.“

Fjedor rieb sich gierig die Hände. „Sehr schön, sehr schön“, frohlockte er. „Das höre ich doch wirklich gerne. Dann übergib die Truhen mit dem Erlös meinen Leuten.“

„Kommt nicht in Frage!“, erwiderte Veit bestimmt und seine Augen funkelten wütend. „Erst will ich eine neue Ladung Sturmerz! Warum tauchst du hier ohne einen einzigen Brocken auf? Ist die Ader etwa erschöpft?“

„Ach ja, das Erz“, sagte Fjedor gedehnt und kratzte sich mit einem Finger an der vernarbten Wange. „Das hat Zeit bis zu unserer Rückkehr. In der Mine ist es bis dahin sicherer, als auf deinem Schiff.“

„Was soll der Blödsinn?“, knurrte Veit. Er wurde allmählich wütend. „Was hast du vor? Von welcher Rückkehr sprichst du?“

Fjedor zog eine beleidigte Schnute. „Warum so aggressiv, mein Freund?“, wunderte er sich. „Ach, du erwartest bestimmt deinen Anteil des letzten Gewinns. Nur zu verständlich.“ Er nestelte an seinem Gürtel herum und löste drei prallgefüllte Lederbeutel, in denen Münzen klimperten. „Bitte sehr! Das ist dein Lohn. Jedes Goldstück von mir persönlich abgezählt. Das hast du dir redlich verdient. Und natürlich die Bezahlung für deine Crew. Wir wollen ja nicht, dass du diese Halsabschneider aus der eigenen Tasche bezahlen musst.“ Kichernd deutete er auf Veits Mannschaft, die wieder faul am Strand herumlungerten. Einige von ihnen malten mit ihren rostigen Schwertern gelangweilt Muster in den Sand.

Veit entspannte sich ein wenig. Er nahm die Lederbeutel entgegen und ließ einen davon unauffällig in seiner Tasche verschwinden. Die anderen beiden warf er Ilva zu. „Bring das in Sicherheit und sorg dafür, dass diese Kielratten ihren Lohn erst erhalten, wenn wir zurück in Kaboroth sind!“, ordnete er an, ehe er sich wieder missgestimmt an Fjedor wandte. „Den Erlös von der letzten Lieferung bekommst du trotzdem erst, wenn ich neue Fracht bekomme. Hättest du jetzt endlich die Güte, mich darüber aufzuklären, was es mit deinem seltsamen Auftritt hier auf sich hat?“

Fjedor wirkte für einen Augenblick enttäuscht, doch dann huschte ein listiges Grinsen über sein Gesicht, das nichts Gutes verhieß. Der Schmugglerkönig trat einen Schritt zurück. „Selbstverständlich“, erwiderte er verschlagen. „Immerhin spielst du in meinen Plänen eine wichtige Rolle, mein lieber Veit. Sieh her!“

Er drehte sich schwungvoll um und deutete mit weit ausgestreckter Hand zum Waldrand hinüber. Dort traten vier Gestalten ins Mondlicht. Ganz vorn ging ein schlanker, ganz in schwarz gekleideter Dunkelelf. Auf seinem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht mit den blassen Lippen lag ein steinerner Ausdruck. Sein schwarzes Haar hatte er an den spitzen Ohren zu zwei Kriegszöpfen geflochten und im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Neben ihm quälte sich ein muskelbepackter Mann aus dem Dickicht, der seiner blassen Hautfarbe und dem großgewachsenen Körperbau nach zu urteilen aus Isenheim stammte. Sein Arm war von dicken Bandagen verhüllt und er wurde von einer zierlichen, verängstigt wirkenden Dunkelelfe gestützt. Schlimme Verletzungen schienen ihm zuzusetzen, denn er hinkte schwer und stieß bei jedem Schritt ein gedämpftes, schmerzerfülltes Grunzen aus.

Als letztes betrat ein in dunkle Gewänder gehüllter Mann den schmalen Uferstreifen zwischen Wald und Strand. Langes, strohiges Haar wirbelte in der lauen Meeresbrise um einen kantigen Schädel mit eingefallenen Wangen. Veit schnappte nach Luft. Die linke Gesichtshälfte des Mannes war von furchtbaren Verletzungen verunstaltet, die wie Brandwunden aussahen. Ein lidloses Auge richtete sich direkt auf den Schmugglerkapitän und jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Gilroy kam ehrfürchtig näher und warf sich vor dem entstellten Kuttenträger auf die Knie. Fjedor grinste schief. „Darf ich dir Brynne Blutbrand vorstellen? Ihm haben wir beide zu verdanken, dass wir uns mit dem Handel mit Sturmerz eine goldene Nase verdienen.“

Veits Blick verfinsterte sich. „Dann sollte ich mich wohl bedanken“, stellte er verbittert fest und streckte die Hand aus. Brynne glitt wie ein schwarzes Schreckgespenst die Böschung hinab. Aus dem weiten Ärmel seines Gewands schwang ein dünner Arm. Er ergriff Veits Hand und der Kapitän war erstaunt, wie fest er zudrückte. Der unheimliche Kerl hatte mit dem verbrannten Gesicht hatte deutlich mehr Kraft, als er erwartet hatte.

Fjedor wandte sich zu Brynne um und machte eine weit ausladende Geste. „Und dir möchte ich gerne Kapitän Veit vorstellen“, säuselte er. „Er ist der beste Seemann diesseits des Binnenmeeres und wird uns sicher an den Ort unserer Bestimmung führen.“

„So, werde ich das?“, brummte Veit. Er war froh, dass Brynne den Händedruck löste, aber er spürte noch immer seinen durchdringenden Blick auf sich ruhen. Schnell zog der Kapitän seine schmerzende Hand zurück und massierte sie hinter seinem Rücken.

„Ja, das wirst du“, bemerkte Fjedor spitz. „Wir werden nach Norden segeln und du wirst für die Dauer der Fahrt unser Gastgeber und Kapitän sein, verstanden?“

„Beruhige dich, Fjedor“, erhob Brynne das Wort und Veit erzitterte beim Klang seiner Stimme. Sie war leise, aber sie erinnerte den Kapitän an fernes Donnergrollen. Und wie eine aufziehende Gewitterfront am Horizont, schien auch Brynnes Erscheinen kein gutes Zeichen zu sein. „Kapitän Veit wird uns ganz gewiss zuverlässig nach Norden bringen.“

Eigentlich wollte Veit protestieren, aber er brachte keine Widerworte heraus. Brynnes Blick durchbohrte ihn wie ein Blitz und er konnte nicht länger Augenkontakt halten. Rasch wandte er den Kopf ab und richtete sein Wort an Fjedor. „Hast du etwa schon genug von deinem Leben als Maulwurf?“, knurrte er abschätzig.

„Es ist tatsächlich ziemlich eintönig, unter der Erde zu leben“, gab Fjedor zu und legte Brynne kumpelhaft eine Hand auf die Schulter. Veit bemerkte, wie der schwarzgekleidete Dunkelelf sofort nach einem verborgenen Dolch griff. „Mein Freund hier hat mich davon überzeugt, dass mir zur Abwechslung ein kleiner Raubzug wieder ganz guttun würde.“

„Meinetwegen“, brummte Veit und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Aber du weißt hoffentlich noch, dass die Beförderung von Reisenden extra kostet.“

„Wie könnte ich das vergessen, alter Kumpel“, rief Fjedor und gab sich gekränkt. „Du wirst für deinen zusätzlichen Aufwand natürlich angemessen entschädigt.“

Veit lockerte seine angespannte Haltung ein wenig, aber er wandte demonstrativ den Kopf ab. „Ich bezweifle, dass dein Sauhaufen auf meinem Schiff ausreichend Platz finden wird“, äußerte er seine Bedenken. „Ich habe dich gewarnt. Wenn deine Bande anfängt, wegen der Bedingungen zu jammern, will ich damit nichts zu tun haben.

„Das soll nicht deine Sorge sein“, entgegnete Fjedor gönnerhaft. „Meine Leute werden sich einfach arrangieren müssen. Wir werden auch nicht lange unterwegs sein.“ Er warf Brynne einen verstohlenen Blick zu. „Hauptsache, mein Gast und sein Gefolge haben eine angenehme Reise.“

„Und wohin soll es gehen?“

„Du wirst uns nach Khaanor und dann den Maldocan hinaufbringen.“

Aus dem dunklen Sumpfwald ertönte das Knacken eines Asts. Veit drehte sofort alarmiert den Kopf und griff nach seinem Schwert. Auch Nironil und der Dunkelelf in den schwarzen Kleidern hatten das Geräusch bemerkt. Mit zu Schlitzen verengten Augen spähten sie ins Unterholz und lauschten in den Wald hinein, doch außer dem lauten Zirpen der Zikaden war nichts mehr zu hören.

Als es still blieb, ließ Veit den Griff seiner Waffe wieder los und sah Fjedor finster an. „Ihr wollt in die Wolkenberge?“, fragte er misstrauisch. „Warum nehmt ihr dann nicht den Landweg? Zu Fuß seid ihr mindestens genauso schnell. Wenn wir Pech haben und uns das Wetter nicht gewogen ist, dauert die Reise mit dem Schiff sogar länger.“

„Wir haben unsere Gründe“, gab Fjedor knapp zurück. „Und du hast deine Aufgabe. Ich bezahle dich, du steuerst das Schiff, verstanden?“

„Schon gut“, seufzte Veit resigniert. „Warum erwarte ich überhaupt noch klare Antworten? Aber das Gold komm wieder an Bord. Und da bleibt es auch, bis du mir neue Ware bringst, verstanden?“

„Warum denn so misstrauisch?“, fragte Fjedor und kicherte wieder. „Aber wenn du darauf bestehst, bleiben die Münzen vorerst bei dir. Den Schnaps und die übrigen Vorräte wirst du mir aber hoffentlich überlassen können, oder? Sonst drehen meine Leute in der Mine noch durch.“

„Ich denke, das dürfte in Ordnung sein“, brummte Veit widerwillig und drehte sich zu seiner Mannschaft um. „Ladet diese drei Kisten wieder auf!“, brüllte er seinen barschen Befehl und deutete auf die verschlossenen Truhen. „Den Rest lasst ihr hier!“

Der Kapitän erntete zaghafte Proteste aus den Reihen seiner Crew, aber schließlich gehorchten die Seeleute. Ein halbes Dutzend Untergebene Fjedors traten hinzu und griffen nach den Vorratskisten.

„Bringt sie zurück in die Mine“, befahl Fjedor ihnen flüsternd und die Schmuggler ließen sich nicht zweimal bitten. Vollbeladen marschierten sie los und bahnten sich krachend einen Weg durch das Unterholz der Wälder.

Veit erkannte neidisch, dass Fjedor seine Leute deutlich besser im Griff hatte als er. Er deutete mit einem Kopfnicken auf sein Schiff. „Schwingt euch an Bord, die Flut dürfte jeden Moment einsetzen.“

„Zu gütig, Kapitän“, grinste Fjedor höhnisch. Er gab Brynne und dessen Spießgesellen einen Wink und sie folgten ihm über die Laderampe an Bord des Schiffs. Gilroy erhob sich aus seiner kauernden Position, die er eingenommen hatte, als Brynne aus dem Wald getreten war. An der Seite seines Meisters huschte er an Bord. Auch der Rest von Fjedors Lumpenpack setzte sich in Bewegung und verfrachtete den mitgebrachten Proviant an Deck der Sirene.

Veit betrat sein Schiff als Letzter. „Macht das Schiff klar!“, rief er herrisch und trat an die Reling. „Wir segeln mit der Flut nach Norden.“

Die Nacht blieb sternenklar und wolkenlos, doch in den frühen Morgenstunden, lange vor Sonnenaufgang, ballte sich über Eydar eine dicke Nebelfront zusammen. Craig saß zitternd auf der Hafenmauer und schlang sich die Arme um den Körper. Es war furchtbar kalt und er konnte die winzigen Wasserpartikel auf seinem Gesicht spüren. Sie brannten wie Nadeln aus Eis und die feuchte Kälte kroch ihm unter die Tunika. Der Waisenjunge war hundemüde und fror erbärmlich. Nachdem er am Vorabend das Gespräch zwischen Gancielle, Rhist und Albus belauscht hatte, hatte er sich sofort in das Zimmer zurückgezogen, das er bei Aglir für eine Nacht gemietet hatte. Um so früh wie möglich aufzuwachen, war er augenblicklich in das warme Bett gekrochen, doch obwohl er sich nicht erinnern konnte, wann er zum letzten Mal auf einer vergleichbar bequemen Matratze gelegen hatte, hatte ihn der Schlaf zunächst nicht empfangen wollen. Die Aufregung hatte ihn wachgehalten und er hatte sich in seinem Bett hin und her gewälzt, während seine Gedanken einfach keine Ruhe hatten finden wollen. Es hatte quälend lange gedauert, bis er endlich eingeschlafen war, und als er am nächsten Morgen schließlich wieder aufgewacht war, hatte er in einem Anflug von Panik einen Blick aus dem Fenster geworfen, nur um erleichtert festzustellen, dass es noch dunkel war. Seitdem wartete er am Hafen darauf, dass Gancielle oder Lexa auftauchen würden.

Der Nebel war so dicht, dass Craig kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Die Schiffe, die an den Anlegestellen vor Anker lagen, waren nichts weiter als unscharfe Schatten. Das lodernde Feuer des Leuchtturms kämpfte gegen die Nebelwand an und Craig sah seinen Schein immer wieder wie einen geisterhaften Schein durch die trübe Dunkelheit schimmern. Auf seine Augen konnte er sich bei diesen Bedingungen nicht verlassen, also lauschte er angestrengt in den Nebel hinein, auch wenn das Klappern seiner Zähne und das Zittern seiner Muskeln alle anderen Geräusche zu übertönen drohte.

Gerade als Craig dem Drang, sich einfach wieder in sein warmes Bett zurückzuziehen und noch ein paar Stunden zu schlafen, nachgeben wollte, hörte er Schritte und war mit einem Schlag hellwach. Auch die nasskalte Luft, die ihn quälte, war augenblicklich vergessen.

Der Waisenjunge hielt den Atem an und stand langsam auf. Die Schritte klangen trotz der frühen Stunde schnell und energisch. Die Person, die dort ging, blieb schließlich stehen und es war sofort wieder totenstill.

Craig ging in die Hocke und schlich näher heran. Angestrengt blinzelte er in den Nebel hinein und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Dann prallte er erschrocken zurück, als sich in dem trüben Grau die undeutlichen Umrisse einer Person abzeichneten. Craig unterdrückte einen Schrei und verlor die Silhouette im Nebel kurzzeitig aus den Augen, doch als er sich wieder beruhigt hatte und genauer hinsah, tauchte die Gestalt wieder auf. Sie stand regungslos da, offenbar mit verschränkten Armen. Craig versuchte, die Größe der Person abzuschätzen, aber die Sicht war so schlecht, dass er nicht einmal erkennen konnte, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Trotzdem war die Gestalt ohne Zweifel Gancielle oder Lexa, denn Craig konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich jemand anders bei diesen Bedingungen und so früh am Morgen im Hafen herumtreiben würde.

Der Waisenjunge nahm all seinen Mut zusammen und richtete sich auf. Er schluckte und machte einen Schritt nach vorn, um sich der Gestalt im Nebel zu erkennen zu geben, als sich von hinten plötzlich eine Hand über seinen Mund legte.

Craigs Herz machte einen gewaltigen Satz, als ob es aus seiner Brust springen wollte, doch im nächsten Moment sank es ihm in die Hose, als er spürte, wie man ihm eine Klinge aus kaltem Metall an die Kehle setzte.

„Was hast du hier zu suchen?“

Craig schnaufte vor Erleichterung durch die Nase, als er Lexas Stimme dicht an seinem Ohr erkannte. Obwohl sie verärgert und todernst klang und die scharfe Klinge mit unvermindertem Druck an seinem Hals ruhte, war er heilfroh, dass es nur die Späherin des Ordens und kein blutrünstiger Straßenräuber war. Er konnte erahnen, wie die unförmige Gestalt ein Langschwert aus dem Gürtel zog und sich mit blanker Waffe näherte. Im nächsten Augenblick trat Gancielle mit grimmiger Miene aus dem Nebel.

„Wer ist das?“, fragte er drohend und richtete sein Schwert auf Craig.

„Der Junge, dem ich in die Düstermarsch gefolgt bin“, antwortete Lexa und zog ihr Kurzschwert zurück. „Ich werde jetzt meine Hand wegnehmen“, erklärte sie dem Waisenjungen drohend. „Aber wenn du schreist, schneide ich dir die Zunge ab. Hast du verstanden?“

Craig nickte artig und Lexa ließ die Hand sinken. Der Waisenjunge schnappte erleichtert nach Luft.

„Ist er allein?“, fragte Gancielle und blickte sich suchend um. Das Schwert hielt er noch immer fest in der Hand.

„Ich denke schon“, erwiderte Lexa und steckte ihre Klinge zurück in die Scheide. „Jedenfalls habe ich sonst niemanden entdeckt.“

Gancielle wirkte beruhigt, denn auch er schob sein Schwert wieder in den Gürtel. „Glaubst du, dass er uns Ärger machen könnte?“

„Das kommt ganz darauf an…“, murmelte Lexa und stieß Craig an, der wie versteinert dastand. „Sag schon! Warum treibst du dich hier am Hafen herum?“

Der Waisenjunge wagte kaum zu schlucken. Noch immer spürte er Lexas Klinge an seiner Kehle. Unwillkürlich strich er sich über den Hals, als müsste er sich davon überzeugen, dass dort kein Schwert mehr war.

„Ich…ich will helfen“, stotterte er unsicher. „Bei der Suche nach den Vermissten.“

Gancielle kniff die Augen zusammen und trat energisch auf Craig zu. „Woher weißt du, dass ich nach den Vermissten suchen will?“, zischte er und packte den Jungen am Kragen.

Craig spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Auch wenn Gancielle kein Kommandant mehr war, strahlte er noch immer die Autorität und Härte eines erfahrenen Befehlshabers aus. „Ich…ich habe gehört, wie Ihr gestern davon gesprochen habt“, stieß er atemlos hervor. „Im Gasthaus. Ich…ich saß am Nebentisch…“

„Du hast gelauscht?“, knurrte Gancielle und ließ Craig wieder los, wobei er ihm einen wütenden Stoß gegen die Schulter versetzte. „Vielleicht ist er ein Spitzel, Lexa. Vielleicht war es gar nicht Aulus, der dich bei Loronk verpfiffen hat, sondern dieser Knirps hier. Immerhin weiß er, dass du für den Orden arbeitest, oder liege ich da falsch?“

Lexa schüttelte nachdenklich den Kopf und sah Craig prüfend an. „Nein, ich bin mir sicher, dass es Aulus war, der den Brigadegeneral über meine Identität aufgeklärt hat“, erwiderte sie. „Er hat gestern die Stadt verlassen. Stallmeisterin Darva hat erzählt, dass er sich ein Pferd geliehen und behauptet hat, dass Meister Syndus ihn nach Khaanor geschickt hätte. Ich glaube, diese kleine Mistkröte hatte noch deutlich mehr Dreck am Stecken, als wir ahnen. Und jetzt hat er sich aus dem Staub gemacht, bevor all seine Verfehlungen ans Licht kommen. Syndus hat sofort einen Falken nach Khaanor geschickt, für den Fall, dass Aulus dort auftaucht. Aber vermutlich ist er schon über alle Berge.“

Craig konnte nicht verhindern, dass er sich freute, als er hörte, dass der aufgeblasene Novize bekommen hatte, was er verdiente. Aber das Grinsen, das ihm über die Lippen huschte, erstarb auf seinem Gesicht, als Lexa ihn beim Arm packte.

„Der Knirps hat damit jedenfalls nichts zu tun“, sagte sie bestimmt, aber Gancielle schien sie damit nicht überzeugen zu können. Noch immer musterte er Craig grimmig, als ob er ihn mit seinen Blicken aufspießen wollte.

Der Waisenjunge biss sich auf die Unterlippe und hob vorsichtig eine Hand. „Darf ich dazu auch mal was sagen?“, fragte er ängstlich.

„Nur zu“, gab Gancielle bissig zurück. „Erzähl mir mal, warum die Gespräche belauschst, die dich nichts angehen!“

„Das war keine Absicht, ehrlich“, beteuerte Craig. „Ich saß nur zufällig am Nebentisch und als ich gehört habe, dass Ihr in die Düstermarsch gehen wollt, da habe ich mich dazu entschlossen, Euch zu begleiten. Einer von den Gefangenen, die man in die Sümpfe gebracht hat, ist nämlich ein Freund von mir…oder zumindest so etwas ähnliches wie ein Freund. Jedenfalls sind wir zusammen nach Eydar gekommen.“

Gancielle und Lexa wechselten vielsagende Blicke.

„Naja, und dann habe ich gehört, dass Ihr Euch mit ihr im Hafen treffen wollt“, fuhr Craig fort und deutete unsicher auf die Späherin. „Und deshalb habe ich hier gewartet. Ich bin mir nämlich sicher, dass ich Euch helfen kann.“

„Was denn?“, spottete Gancielle. „Du glaubst, du kannst mir helfen?“

„Nein“, erwiderte Craig trotzig und verschränkte die Arme vor der schmächtigen Brust. „Ich glaube es nicht, ich weiß es!“

Gancielle legte skeptisch die Stirn in Falten. „Das überzeugt mich nicht“, brummte er und sah zu Lexa. „Was hältst du davon?“

Die Späherin legte nachdenklich die Hand ans Kinn. „Ich weiß ja nicht…“, überlegte sie laut. „Besonders hilfreich wirkt er nicht. Und mein erster Eindruck von ihm war auch nicht der allerbeste. Als Tyra und er von einem Warg angefallen wurden, hat er nämlich einen Hechtsprung in den nächsten Schlammtümpel gemacht.“

„Ich bin nicht gesprungen, ich wurde gestoßen!“, verteidigte sich Craig beleidigt.

„Aber wahrscheinlich ist es angesichts der Umstände doch besser, wenn wir ihn mitnehmen“, fuhr Lexa fort, als hätte sie die Worte des Jungen gar nicht gehört. „Falls er nämlich doch ein Spitzel ist, können wir ihn im Auge behalten. Wenn Loronk mitbekommt, dass ich dich dabei unterstützte, die Stadt zu verlassen, Gancielle, dann bekommt der Orden in Eydar ein gewaltiges Problem.“

„Also schön“, murmelte Gancielle und wandte sich wieder an Craig. „Wie genau willst du mir helfen?“

„Ich habe ein Boot“, verkündete der Waisenjunge stolz. „Damit kann ich Euch aus der Stadt herausbringen, ohne dass die Wachen etwas mitbekommen.“

„Wenn das alles ist, ist deine Hilfe nicht besonders nützlich“, erwiderte Gancielle verstimmt. „Ein Boot hätten wir auch noch alleine auftreiben können.“

„Abwarten!“, verkündete Craig großspurig. Ohne eine Hand auf dem Mund und eine Klinge an der Kehle fühlte er sich direkt viel besser und langsam kehrte sein Selbstbewusstsein zurück. „Ihr werdet schon noch früh genug sehen, dass Ihr auf meine Hilfe nicht verzichten könnt.“

„Du weißt hoffentlich, dass sich das nicht besonders vertrauenserweckend anhört“, sagte Gancielle. „Aber wenn du so große Töne spuckst, muss irgendetwas dran sein.“ Der frühere Kommandant blickte sich verstohlen im Hafen um, ehe er Craig bei der Schulter packte. „Eines sollte dir klar sein: Wenn wir keinen Erfolg haben, dann kommt kein Sterbenswörtchen über deine Lippen. Zu niemandem, verstanden? Du hast kennst mich nicht und hast mich nie gesehen!“

Der Waisenjunge nickte eifrig. „Ich halte die Klappe“, versprach er.

Gancielle stieß ihn sachte an und sein Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. „Gut. Dann bring uns zu deinem Boot!“

Craig tat wie ihm geheißen. Er eilte mit Gancielle und Lexa auf den Fersen durch den Hafen und steuerte auf das Armenviertel der Fischer abseits des Piers zu. Der Nebel schien am Strand noch dichter zu sein und Craig konnte die baufälligen Hütten kaum erkennen. So gestaltete sich die Suche nach seinem Boot deutlich schwieriger, als er gehofft hatte. In der Dunkelheit wirkten alle Kähne, die im Sand lagen, wie die unförmigen Silhouetten gestrandeter Wale.

Schließlich fand Craig sein Boot, mit dem er das Binnenmeer überquert hatte. Die Planken hatten sich durch die Feuchtigkeit der Nacht mit Wasser vollgesogen und das Holz war kalt und nass. Gancielle betrachtete die kleine Nussschale argwöhnisch. „Hast du etwa keine Paddel?“, fragte er ungläubig.

„Nein…“, gab Craig kleinlaut zu und spürte, wie seine Ohren rot wurden. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Dank Knacks Hilfe waren Paddel bislang immer überflüssig gewesen, aber jetzt war der Knucker nicht da und über dem Binnenmeer war es so windstill, dass auch das Segel an dem kleinen Mast nutzlos war. Sogar in dem dichten Nebel erkannte er, dass Gancielle die Augen verdrehte.

Das Problem wurde allerdings schnell gelöst. Lexa trat aus der Dunkelheit und trug zwei Paddel über der Schulter. „Die habe ich mir mal eben ausgeliehen“, verkündete sie ungerührt.

Gancielle wirkte nicht besonders begeistert. Er schob seine Augenbrauen zusammen und sah Lexa tadelnd an. „Du willst einen Fischer bestehlen?“, fragte er ungläubig. „Ist das dein Ernst? Diese armen Kerle besitzen doch kaum etwas und du nimmst ihnen das wenige, was sie haben?“

„Willst du lieber dein Schwert als Paddel benutzen?“, fragte Lexa ungeduldig. „Jetzt ist nicht die Zeit für große Rücksichtnahme. Wer weiß wie lange der Nebel sich noch hält. Wir sollten schon aus der Bucht raus sein, ehe die Sonne aufgeht. Sonst fliegt alles auf. Der Fischer bekommt seine Paddel ja wieder, wenn wir zurück sind. Würdest du dir deinen Gerechtigkeitssinn also bitte für einen Augenblick verkneifen und lieber mitanpacken?“

Craig grinste verschmitzt und wandte hastig das Gesicht ab, bevor Gancielle sein Lächeln bemerkte. Stattdessen ging er Lexa zur Hand, die sich gegen den Rumpf des kleinen Segelboots stemmte und es in Richtung Gezeitenlinie schob.

Als Gancielle schließlich auch die Ärmel hochkrempelte und den beiden half, schaukelte die Nussschale in kürzester Zeit auf den dunklen Wellen. Das ungleiche Dreiergespann watete in das knietiefe Wasser und kletterte an Bord. Der dichte Küstennebel schützten sie vor den Blicken der im Leuchtturm stationierten Soldaten. Während es sich Lexa und Craig gemütlich machten, nahm Gancielle die Paddel zur Hand und steuerte das Boot mit kräftigen Ruderzügen entlang der Landzunge hinaus aufs Meer. Der Seeweg in die Düstermarsch führte einmal um die Klippen herum, die sich im Südwesten hinter der Landzunge auftürmten, und nahm deutlich mehr Zeit in Anspruch, als ein Fußmarsch.

Still und leise glitt das Ruderboot durch das Wasser, während ein schwacher Lichtschein den Anbruch des Tages ankündigte. Die Sonnenstrahlen hatten viel zu wenig Kraft, um den Nebel zu durchdringen, aber immerhin hellte sich der Himmel allmählich von einem dunklen, trüben Schwarz zu einem milchigen Grau auf. Gancielle achtete darauf, stets in Sichtweite zur Küste zu bleiben, was angesichts des dichten Nebels nicht besonders einfach war. Ein schwacher Wind blies über das Meer, doch die Oberfläche kräuselte sich nur leicht und warf keine hohen Wellen. Das Boot umrundete die Landzunge und steuerte auf die schroffen Klippen zu, die zusätzlichen Sichtschutz boten. Bei stärkerem Wellengang war dieser Küstenabschnitt enorm gefährlich, denn an den schroffen Felswänden waren schon zahlreiche Boote und Schiffe zerschellt, deren Besatzung in einem Sturm die Orientierung verloren hatte.

Die Brandung war allerdings nicht die einzige Gefahr, die entlang der Klippen drohte. Craig erinnerte sich noch lebhaft an seine Begegnung mit der Harpyie und er hoffte inständig, dass die geflügelten Ungeheuer zu dieser frühen Stunde noch schliefen, doch bald ertönte in regelmäßigen Abständen ein angriffslustiges Krächzen, das durch den Dunst schallte. Hektisch warf Craig einen Blick hinauf zum dunklen Himmel. In dem kleinen Ruderboot saßen er, Gancielle und Lexa wie auf dem Präsentierteller. Glücklicherweise war der Morgennebel noch immer so dicht, dass er sie vor den scharfen Augen der Harpyien verbarg.

„Dein Freund, von dem du gesprochen hast…“, durchbrach Gancielle die Stimme mit gedämpfter Stimme und richtete seinen grimmigen Blick auf Craig, während er das Boot weiterhin mit kräftigen Ruderzügen vorantrieb. „Damit meintest du diesen Dorashen, oder?“

Craig nickte stumm. Noch immer bereitete ihm die Anwesenheit der Harpyien, die irgendwo über ihm im Nebel kreisten, Unbehagen.

Lexa riss erstaunt die Augen auf. „Einer von Loronks Gefangenen ist ein Dorashen?“, wunderte sie sich.

„Es wundert mich nicht, dass du davon nichts weißt“, murmelte Gancielle leise. „Meister Syndus hielt es für das Beste, diesen Umstand geheim zu halten. Nur Fähnrich Jel, Adria und ich wurden eingeweiht.“

„Eigentlich sollte ich gekränkt sein, weil man mich darüber nicht informiert hat“, sagte Lexa und verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust. „Aber der Meister hat richtig entschieden. Wenn auch Aulus nichts davon weiß, dann hat auch Loronk keine Ahnung, wer sein Gefangener ist.“

„Genau“, bestätigte Gancielle. Sein Gesicht verzerrte sich für einen Sekundenbruchteil zu einer gehässigen Maske. „Die Chancen stehen gut, dass er es schafft, Vox und Farniel sicher durch den Sumpf zu bringen. Und vielleicht findet er ja tatsächlich die Vermissten.“

„Das würde ich Loronk in hundert Jahren nicht gönnen“, erwiderte Lexa finster.

„Ich glaube nicht, dass er nach den Vermissten suchen wird“, mischte sich Craig ein. „Dafür fehlt ihm der Antrieb. Aber wir werden ihn schon bald finden, um ihm in den Hintern zu treten. Wartet, hört auf zu rudern!“

Gancielle zögerte, aber schließlich hob der die Paddel aus dem Wasser und zog sie zurück ins Boot. „Du solltest uns langsam mal aufklären“, brummte er. „Wieso bist du dir so sicher, dass wir ihn in den Sümpfen finden werden?“

Der Waisenjunge grinste breit. „Das werdet Ihr gleich sehen!“, verkündete er. „Passt auf!“ Er führte seine Zeigefinger zum Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, der von den Felsen widerhallte. Die Harpyien reagierten mit aufgebrachtem Krächzen und Craig erahnte im Augenwinkel einen flüchtigen Schatten, der durch die Nebelschwaden segelte.

„Bist du wahnsinnig?“, zischte Gancielle erbost. „Willst du diese Biester auf uns aufmerksam machen?“

„Nicht wirklich“, erwiderte Craig zuversichtlich. „Jedenfalls nicht die Harpyien. Aber dafür einen anderen Bewohner dieser Klippen.“

„Was redest du da?“, flüsterte Gancielle, doch dann hob er alarmiert den Kopf, als aus dem Nebelstreifen an der Küste ein gedämpftes Platschen ertönte. Ein schlanker, verzerrter Schatten steuerte unterhalb der Wasseroberfläche auf das Boot zu und der ehemalige Kommandant griff nervös nach seinem Schwert.

„Nur die Ruhe“, sagte Craig und beugte sich über die Reling. Direkt neben dem Boot stiegen ein paar Luftblasen auf und dann erschien Knacks Kopf. Mit seinen großen, treuen Hundeaugen starrte er den Waisenjungen glücklich an.

Gancielle und Lexa dagegen wirkten alles andere als begeistert. Beide zogen gleichzeitig ihre Schwerter und Gancielle sprang so hastig auf, dass das Boot unter seinen Füßen heftig schwankte. „Was bei Khors Bart ist das denn?“, entfuhr es ihm.

„Ein Knucker!“, japste Lexa atemlos.

Knack blinzelte Craigs Gefährten neugierig an und der Waisenjunge konnte sich ein Lachen kaum noch verkneifen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein Kommandant der Armee Angst vor einem zahmen Wasserdrachen hat“, grinste er, streckte die Hand aus und kraulte Knack unter dem Kinn. Der Knucker ließ ein wohliges Glucksen ertönen. „Das ist nichts anderes als die beste Spürnase in diesen Gewässern!“

Gancielle und Lexa beäugten den Knucker noch immer, als sei er eine menschenfressende Bestie, obwohl er ganz offensichtlich vollkommen friedfertig war. Zutraulich schmiegte er seinen Kopf an Craigs Hand und drückte auffordernd dagegen, bis der Waisenjunge seine Streicheleinheiten fortsetzte. „Eine Spürnase?“, wiederholte Gancielle zaghaft und beobachtete ungläubig die Vertrautheit des Waisenjungen und des Knuckers.

Craig drehte sich strahlend zu ihm um. „Genau so ist es“, rief er stolz. „Ein Knucker hat einen ausgezeichneten Geruchssinn. Sie können die Witterung einer Beute aufnehmen, die ihr Revier schon vor Tagen durchquert hat, und ihr kilometerweit folgen. Besonders gerne tun sie das im Wasser, aber ihre Nase ist auch an Land sehr zuverlässig. Nicht wahr, Knack?“

Der Knucker wippte begeistert mit dem Kopf und gluckste fröhlich. „Du hast dem Biest einen Namen gegeben?“, fragte Gancielle und musste sich setzen.

„Warum denn nicht?“, erwiderte Craig verwundert. „Er hatte keinen und außerdem ist er mein bester Kumpel. Ich muss ihn doch irgendwie rufen können.“

Inzwischen schienen Gancielle und Lexa begriffen zu haben, dass von Knack keine Gefahr ausging. Trotzdem ließen sie den Wasserdrachen nicht aus den Augen. „So, dieser Knucker ist also harmlos“, murmelte die Späherin des Ordens und schob ihr Kurzschwert zurück in die Scheide. „Und er hört auf dich, nicht wahr? Wenn er eine Geruchsspur der Vermissten hat, kann er uns also zu ihnen führen?“

Craig nickte und seine Augen strahlten, aber Gancielle verzog missmutig das Gesicht. „Dann brauchen wir etwas, das einem der Vermissten gehört hat“, brummte er. „Ansonsten kann dein spezieller Freund hier ja wohl kaum Witterung aufnehmen.“

„Nichts leichter als das.“ Craig öffnete seinen Rucksack, kramte darin herum und zog schließlich Vances Hackebeil hervor.

„Was ist das jetzt schon wieder?“, wollte Gancielle wissen.

„Dieses Hackmesser gehört Vance“, erklärte Craig. „Das ist der Dorashen, den Eure Leute festgenommen haben.“

„Dann riecht es auch nach ihm“, stellte Lexa fest und wirkte auf einmal ganz aufgeregt. „Gancielle, das könnte tatsächlich funktionieren.“

„Möglich“, brummte der frühere Kommandant. „Aber dadurch führt uns der Drache nur zu diesem Dorashen. Es gibt keine Gewissheit, dass wir so auch die anderen Vermissten finden werden.“

„Ich glaube trotzdem, dass es einen Versuch wert ist“, beteuerte Lexa. „Auch wenn wir dadurch vielleicht nur die drei Leute retten können, die Loronk in die Düstermarsch geschickt hat, hat sich unser kleiner Ausflug schon gelohnt.“

„Das wäre immerhin ein Anfang“, gab Gancielle zu und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Also gut, lass deinen Drachen an dem Hackebeil schnuppern. Wollen doch mal sehen, ob er wirklich so ein feines Näschen hat, wie du behauptest.“

„Natürlich hat er das“, erwiderte Craig gekränkt. „Aber erst müssen wir uns an Land bringen lassen. Gancielle, ab jetzt könnt Ihr Euch das rudern sparen.“ Der Waisenjunge prüfte noch einmal den Sitz des Taus, das noch immer am Bug seines Segelboots verknotet war, und warf das lose Ende ins Wasser. Sofort schnappte Knack nach der Leine und zog das Boot mit seinen kräftigen Kiefern hinter sich her. Verblüfft legte Gancielle die Ruder beiseite und machte es sich neben Lexa bequem. Die kleine Nussschale hüpfte auf und ab, als der Knucker mit seinen drei Passagieren im Schlepptau regelrecht durch die Küstengewässer pflügte.

„Ist doch viel besser, als sich mit ein paar morschen Paddeln fortzubewegen, findet Ihr nicht?“, lachte Craig. Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und zerzauste sein weißblondes Haar.

„Du hättest uns deinen kleinen Freund auch vorstellen können, bevor ich die Paddel geklaut habe“, bemerkte Lexa trocken.

„Diese Art zu reisen hat etwas für sich“, gab Gancielle zu und reckte seinen Arm über die Reling. Er griff mit der Hand ins Wasser, aber Knack war so schnell unterwegs, dass die Wellen schmerzhaft gegen seine Finger prallten. Rasch zog der ehemalige Kommandant seine Hand wieder zurück und richtete den Blick in Fahrtrichtung.

Dort flachten die Klippen rasch ab. Das Gelände wurde immer ebener und schließlich schienen Land und Meer eins zu werden. Die Grenze zwischen Salzwasser und dem sumpfigen Grund der Düstermarsch verschwamm in einem stetigen, kaum sichtbaren Vor und Zurück der sanften Brandung. Stinkende Tümpel wurden mit Meerwasser geflutet und mächtige Baumstämme gruben ihre dicken Wurzeln in schlammigen Erdboden, der unterhalb des Wasserspeigels lag.

„Nach rechts!“, rief Craig dem Knucker zu, der das Boot mit unverminderter Geschwindigkeit die Küste entlang zog. Sofort schwenkte Knack mit einer schlangenartigen Bewegung ab und steuerte auf die Gezeitenlinie zu. Im schwachen Licht der Dämmerung erkannte Craig, dass sich die klare Farbe des Wassers immer mehr in ein trübes Braun verwandelte, je näher sie der Küste kam. Als sie schließlich die ersten Binsen erreichten, die an den Rändern der Schlammlöcher und Tümpel meterhoch in die Luft wuchsen, kam Knack nur noch langsam voran. Das Wasser wurde immer dicker und schlammiger und der Knucker kämpfte verbissen gegen die zähe Brühe an. Seine Schwimmbewegungen gingen mehr und mehr in angestrengte Schritte über und schließlich hievte sich der Knucker auf einer Böschung aus stinkendem Schlamm aus dem braunen Brackwasser.

„Sieht aus, als wäre hier Schluss“, stellte Craig fest. Er warf einen Blick auf die Oberfläche des Tümpels, in den Knack sie geführt hatte. Blasen stiegen aus seinen Tiefen auf und wenn sie zerplatzten, verbreiteten sie einen unangenehmen Modergeruch. Dicke Äste ragten aus dem Schlammloch, dessen dickflüssige Oberfläche mit der Brandung träge hin und her schwappte.

Craig hielt sich die Nase zu und versuchte, mit einem weiten Sprung das Ufer zu erreichen. Dort war der Boden allerdings alles andere als fest und er sank sofort bis zu den Knöcheln im Schlamm ein. Fluchend kämpfte er sich frei und kraxelte die Böschung hinauf. Lexa gelang der Sprung über den Tümpel deutlich eleganter, während sich Gancielle nicht zu schade war, direkt durch den Matsch zu waten. Sein blankes Langschwert hielt er dabei vorsorglich über seinen Kopf, damit die glänzende Klinge nicht einmal von dem kleinsten Schlammspritzer besudelt wurde.

Knack sah aus wie ein Wildschwein, das sich im Dreck gewälzt hatte. Vom Hals abwärts war er bedeckt mit der stinkenden Mischung aus Meerwasser und Morast. Der Schlamm tropfte von seinen Schuppen und erinnerte Craig auf abstrakte Weise an eine riesige Schnecke, die über den Körper des Knuckers kroch. Der Waisenjunge ging hastig hinter einem vermoderten Baumstumpf in Deckung, als sich Knack kräftig schüttelte, um sich von der Schlammschicht zu befreien. Der Dreck spritzte in alle Himmelsrichtungen, aber so sehr sich der Knucker auch anstrengte, er wurde den Morast nicht vollständig los.

Craig trat vorsichtig an ihn heran und pflückte mit spitzen Fingern ein paar Zweige aus der zähflüssigen Pampe, die hartnäckig an den Schuppen des Knuckers kleben blieb. „Du wirst wohl ein Bad nehmen müssen“, stellte er fest und rümpfte die Nase. „Hast du was von dem Dreck in den Mund oder die Nüstern bekommen?“

Knack schüttelte seinen Kopf. Eine Ladung Schlamm rutschte von seiner Schulter und landete klatschend auf dem aufgeweichten Boden. Craig atmete erleichtert auf. „Gut. Es hätte mich nämlich nicht gewundert, wenn dieser Gestank alle anderen Gerüche übertüncht. Pass mal auf, es gibt noch was zu tun für dich.“

Vorsichtig streckte er Knack das Hackebeil entgegen und hielt es ihm unter die Nase. „Das gehört Vance“, erklärte er dem Knucker. „Du kannst dich doch noch an ihn erinnern, oder?“

Knack wippte bejahend mit dem Kopf und Craig lächelte. „Sehr gut. Ich fürchte nämlich, dass er verloren gegangen ist. Wir brauchen deine Hilfe, um ihn wiederzufinden.“

Der Knucker legte den Kopf schief und seine Nüstern weiteten sich, als er die Klinge und den Griff des Hackebeils beschnupperte. Dann reckte er den Hals und sah sich aufmerksam um. Schnüffelnd hielt er die Nase in den Wind und schließlich stellten sich die Fortsätze an seinem Hinterkopf ruckartig auf. Wie versteinert starrte er nach Norden.

„Er hat eine Spur!“, frohlockte Craig und ballte begeistert die Fäuste. „Jetzt müssen wir ihm nur noch folgen! Immer seiner Nase nach. Dann wird er uns direkt zu Vance führen.“

Gancielle wirkte noch nicht überzeugt. Er streifte an einem Baumstamm den Schlamm von seinen Stiefeln und beobachtete grimmig, wie die Fortsätze an Knacks Kopf aufgeregt zuckten. „Dass dieses Bie…ich meine, dass dieser Knucker hier überhaupt etwas riechen kann, grenzt an ein Wunder“, brummte er verstimmt. „Hier stinkt es wie auf einem riesigen Misthaufen. Das ist ja unerträglich.“ Angewidert warf er einen Blick auf den Tümpel, auf dessen blubbernder Oberfläche Craigs Segelboot trieb. Der Waisenjunge griff nach dem Seil, das mit Schlamm bedeckt war und erbärmlich stank, und knotete es fest um den Stamm eines Baumes.

„Ihr werdet schon sehen“, rief er zuversichtlich. „Auf Knacks Spürsinn ist Verlass!“ Er tätschelte dem Knucker den Kopf. „Zeig diesen Skeptikern, was in dir steckt! Führ uns zu Vance!“

Knack gluckste entschlossen, dann watschelte er auf seinen kurzen, aber stämmigen Beinen los. Sein schlanker Körper pendelte bei jedem Schritt von einer auf die andere Seite und sein langer, kräftiger Schwanz schleifte über den Boden. Er verschwand zwischen ein paar Farnbüscheln, hinterließ allerdings eine deutliche Spur. Craig folgte ihm mit beschwingten Schritten.

„Ich weiß ja nicht…“, murmelte Gancielle zweifelnd, aber auch er setzte sich in Bewegung. „Vielleicht hat das Biest ja nur irgendeinen Leckerbissen gewittert.“

„Knucker fressen am liebsten Fisch“, erklärte Lexa oberlehrerhaft. „Und meines Wissens findet man die nur sehr selten mitten in einem Sumpfwald. Gib dir endlich einen Ruck, Gancielle! Es ist einen Versuch wert. Offensichtlich hat das Tierchen eine Spur und damit ist es jetzt schon einen Schritt weitergekommen, als wir alle in den letzten Wochen.“

Gancielles Antwort war nur ein resigniertes Seufzen. Er stapfte an Lexas Seite durch das Dickicht und folgte der Bresche, die Knack durch das Unterholz bahnte.

Anfangs kam der Knucker nur langsam voran. Immer wieder blieb er stehen, presste die Schnauze schnüffelnd an den Boden und streckte sie dann wieder in den Wind. Er watschelte mal hierhin, mal dorthin, und führte Craig, Gancielle und Lexa im Zickzackkurs durch den Sumpf. Doch dann stieß er auf einen breiten Trampelpfad und schnupperte aufgeregt an abgebrochenen Ästen und plattgetretenen Farnwedeln.

Lexa blieb nachdenklich stehen und ging in die Hocke. „Diese Spur wäre sogar mir aufgefallen“, murmelte sie. „Das sieht ganz so aus, als hätte sich Loronk hier mit seinen Soldaten durch das Dickicht geschlagen. Jedenfalls kam hier vor geraumer Zeit eine ganze Menge Leute durch. Tja, Gancielle. Es sieht ganz so aus, als wäre unser geschuppter Freund auf der richtigen Spur.“ Die Späherin lächelte Knack freundlich an. „Das hast du gut gemacht.“ Der Knucker wusste, wenn man ihn lobte, und gluckste zufrieden. Lexa streckte die Hand aus, um dem Wasserdrachen den Kopf zu streicheln, und Knack gestattete es ihr. Craig registrierte wohlwollend, dass sich zumindest die Späherin langsam an den Knucker gewöhnte. Gancielle wirkte dagegen immer noch etwas reserviert.

Der ehemalige Kommandant legte die Stirn in Falten. „Komisch“, überlegte er laut. „Warum ist Loronk nicht auf der Straße geblieben? Selbst sein orkischer Dickschädel sollte genug geistiges Fassungsvermögen haben, um zu wissen, dass die Düstermarsch voller Tücken ist. Es ist sicherer, wenn man auf dem Weg bleibt. Was hat sich dieser widerliche Mistkerl dabei gedacht?“

„Keine Ahnung“, erwiderte Lexa achselzuckend. „Aber offenbar hat er seine Gefangenen mitten in der Wildnis ausgesetzt.“ Die Späherin stand auf und deutete den Trampelpfad entlang. „Kommt, lasst uns weitergehen. Ich verwette meine Stiefel, dass wir die armen Kerle finden, wenn wir nur dieser Fährte folgen und uns einfach auf Knacks Spürnase verlassen.“

Tatsächlich wand sich die Bresche so deutlich durch das Unterholz, das selbst Craig sie erkennen konnte. Auch ohne Knacks hervorragenden Geruchssinn wäre es ein Kinderspiel gewesen, dem Trampelpfad zu folgen. Der Knucker presste seine Nase dicht an den Boden, schnüffelte immer aufgeregter und beschleunigte seine watschelnden Schritte. Auch Lexa wurde immer unruhiger.

„Ich wünschte, all die Vermissten hätten nur annähernd so deutliche Spuren hinterlassen“, schimpfte sie leise. „Dann hätten wir sie längst gefunden!“

Selbst Gancielle ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken, aber als sie aus dem Dickicht brachen und in eine von Bäumen gesäumte Bucht stolperten, riss die Fährte urplötzlich ab. Knack schlurfte bis zum Ufer, schnupperte angestrengt in die Luft und drehte sich dann hilflos im Kreis.

„Sag nicht, du hast die Spur verloren!“, japste Craig fassungslos. „Das darf doch nicht wahr sein!“

Knack ließ niedergeschlagen die Fortsätze an seinem Hinterkopf hängen und schlang den langen Schwanz um seinen Körper.

„Kein Wunder“, mischte sich Lexa ein und trat ans Ufer. „Wahrscheinlich führte die Fährte ursprünglich direkt durch die Bucht. Jetzt haben wir Flut und das Wasser hat sämtliche Spuren verwischt.“ Mit grimmiger Miene richtete die Späherin ihren Blick auf den mächtigen Hügel, der sich am Nordufer erhob. „Aber das bedeutet auch, dass sich unsere drei Gefangenen irgendwo jenseits dieser Bucht befinden. Wenn wir sie durchqueren, werden wir auf der anderen Seite garantiert eine neue Spur finden.“

„Leichter gesagt, als getan“, brummte Gancielle und deutete mit seiner Schwertspitze auf die Wasseroberfläche. „Hier wimmelt es nur so von Bluthechten. Wenn wir jetzt hier durchwaten, kommen wir als Gerippe am anderen Ufer an. Wir müssen wohl oder übel warten, bis die Ebbe einsetzt.“

„Müssen wir nicht!“, rief Craig und zwinkerte Knack vielsagend zu. „Hattest du heute schon dein Frühstück?“

Im Schutz des Nebels und des Zwielichts der Morgendämmerung folgte die Sirene der Küstenlinie der Düstermarsch nach Norden. Dunst hing zwischen den dunklen Bäumen und stieg auf, als würde der ganze Wald kochen. Dahinter zeichneten sich die Ausläufer der Wolkenberge im Nebel ab. Noch waren sie kaum mehr als ein paar undeutliche, kaum zu erkennende Schatten, die sich nur um wenige Nuancen vom grauen Himmel abhoben.

Brynne und Fjedor hatten mit ihren Leibwächtern jeweils eine der Kajüten bezogen, während Veits Crew in voller Mannschaftsstärke an Deck vertreten war und sich auf die ruppigen Kommandos ihres Kapitäns an den Segeln und Rudern zu schaffen machte. Währenddessen ließ Veit seinen scharfen Blick über das Küstengebiet schweifen. Noch war es geprägt von den dichten Baumkronen der Düstermarsch, aber das Gelände wies bereits einige deutliche Erhebungen auf, die ein eindeutiges Zeichen dafür waren, dass es nicht mehr lange dauerte, bis die Sirene die Mündung des Flusses Maldocan und somit die Ausläufer der Wolkenberge erreichte. Veit blickte nach Norden, wo das Meer in einem Schlund aus grauem Nebel verschwand. Mit angespannter Miene ging er zu Ilva, die am Steuerrad stand.

Mit Fjedors Rabauken befanden sich über fünfzig Leute an Bord von Veits Schiff. Die Sirene war eigentlich nicht dafür gemacht, derart große Personengruppen zu transportieren, wenn es sich nicht gerade um Sklaven handelte, die unter Deck auf engstem Raum zusammengepfercht wurden. Die meisten Schmuggler hatten sich in den Laderaum zurückgezogen und dort lagen sie nun schnarchend zwischen den Vorratskisten. Es schien sie nicht zu stören, dass sie kaum genug Platz hatten, um sich im Schlaf umzudrehen. Andere lungerten an Deck herum, wetzten ihre schartigen Waffen oder lehnten einfach nur gelangweilt an der Reling. Keiner von ihnen brachte sich nützlich an Bord des Schiffes ein.

Veit knirschte verärgert mit den Zähnen. Er hielt von seiner eigenen Mannschaft wirklich nicht besonders viel, aber dafür, dass sie aus zwielichtigen Halsabschneidern und Söldnern bestand, leistete sie gute Arbeit für einen vergleichsweise geringen Lohn. Fjedors Leute dagegen waren das letzte Lumpenpack. Das Leben in der Sturmerzmine hatte sie offenbar faul werden lassen.

„Ein bisschen weiter nach Steuerbord“, murmelte Veit seiner rothaarigen Vertrauten zu. „Ich will bei diesem Nebel die Küstenlinie auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Sonst verpassen wir womöglich noch die Mündung.“

Ilva gehorchte und drehte das Ruder leicht nach rechts. Knarzend fuhr die Sirene einen kleinen Schlenker, ehe die Steuerfrau den Kurs wieder korrigierte. Veit trat an die Reling und blickte ins Wasser. Immer wieder tauchten tückische Felsen aus dem Nebel auf. Es war riskant, so nahe an der Küste zu segeln, aber anders konnte er sich bei diesen schlechten Sichtbedingungen nicht orientieren.

„Es gefällt mir überhaupt nicht, dass wir diesen Brynne und seine Spießgesellen an Bord haben“, flüsterte Ilva leise. „Ich habe ein ganz mieses Gefühl in seiner Gegenwart.“

Veit drehte sich um und sah seine Steuerfrau gequält an. „Mir gefällt es auch nicht“, gab er zu. „Aber wenn uns nichts dazwischenkommt, sind wir ihn bald wieder los. Ich denke, wir werden den Oberlauf des Maldocan noch heute Abend erreichen. Dort kommen wir mit der Sirene nicht mehr weiter, also wird Brynne seinen Weg wohl oder übel zu Fuß fortsetzen müssen. Es sei denn, er hat die Macht, die Richtung des Flusslaufs zu ändern.“ Die Stimme des Kapitäns klang abschätzig.

„Fjedor scheint große Stücke auf ihn zu halten“, sagte Ilva zögerlich.

„Wenn es stimmt, was er sagt, dann haben auch wir Brynne eine Menge zu verdanken“, brummte Veit säuerlich. „Scheinbar war er es, der auf das Sturmerzvorkommen gestoßen ist. Kein Wunder, dass Fjedor ihm an den Lippen hängt, wie ein abgerichteter Hund. Er verdankt ihm seinen ganzen Reichtum.“

Ilva umklammerte krampfhaft die Handgriffe des Steuerrads und biss sich auf die Unterlippe. „Käpt’n, darf ich meine ehrliche Meinung sagen?“, fragte sie vorsichtig.

Veit sie sah sie überrascht an. „Selbstverständlich“, erwiderte er. Er hörte, wie Ilva tief durchatmete.

„Ich glaube, wir sollten aufhören, mit Fjedor Geschäfte zu machen“, stieß die rothaarige Frau zögerlich hervor.

„Aber Ilva…“, murmelte Veit kopfschüttelnd. „Sieh doch nur, wohin uns seine Zusammenarbeit mit ihm geführt hat! Ich weiß, er ist ein verfluchter Mistkerl, aber einen besseren Partner werden wir niemals finden. Und selbst wenn wir ihm den Rücken zukehren, was sollen wir dann tun? Ich bin ein Schmuggler, Ilva, und ich werde immer einer bleiben. Etwas anderes hat das Schicksal nicht für mich bestimmt.“

Die Augen des Kapitäns leuchteten vor Gier und Ilva senkte traurig den Kopf. „All das Gold, das er uns gibt, nutzt uns nichts, wenn es uns ins Verderben führt“, flüsterte sie bedrückt. „Schmuggel ist eine Sache, Käpt’n, aber jetzt sind diese Leute auf einem Raubzug.“

„Das muss uns nicht interessieren“, entgegnete Veit. „Es ist lediglich unsere Aufgabe, Fjedors Lumpenpack in die Wolkenberge zu bringen. Alles andere geht uns nichts an. Also ist unser kleiner Abstecher im Grunde nichts anderes als das, was wir immer tun. Wir bringen unsere Fracht ungesehen von einem Ort zum anderen. Der einzige Unterschied ist, dass es diesmal lebendige Fracht ist.“

„Ich habe trotzdem die fürchterliche Vorahnung, dass es nicht gut endet, wenn wir uns weiterhin an Fjedor halten“, beharrte Ilva zerknirscht. Ihre Finger schlangen sich noch fester um die Handgriffe des Steuerrads. Veit konnte hören, wie das gemaserte Holz leise knirschte.

Der Kapitän seufzte und trat direkt neben seine Steuerfrau. „Ach, Flammenhaar…“, murmelte er gedankenverloren und griff sachte nach einer feuerroten Strähne Ilvas, die er vorsichtig zwischen seinen Fingern drehte. „Bevor du zu mir kamst, war ich nur ein verbitterter Mann, dem alles genommen wurde, was er jemals besaß. Ich war verloren wie ein Schiff im Nebel. Aber dann habe ich dich gefunden, ein Mädchen mit dem Herzen einer Kämpferin, voll von trotzigem Lebenswillen. Und dein Haar leuchtete so hell wie das Licht eines Leuchtfeuers in der Dunkelheit. Du hast mich aus dem Nebel geführt. Solange du bei mir bist und mir den Rücken freihältst, kann mir nichts passieren.“

Ilva starrte stumm auf das Steuerrad. Veit erzählte diese Kurzfassung ihrer ersten Begegnung immer, wenn sie sich Sorgen machte, und normalerweise konnten sie seine Worte aufmuntern. Doch diesmal wurde sie das düstere, warnende Gefühl in ihrem Inneren nicht los.

Veit strich ihr sanft über die Schulter und lächelte sie an. „Nicht mehr lange, Ilva“, sagte er und blickte sich verstohlen um. „Nur noch ein paar Fahrten. Sobald wir genug Geld verdient haben, um in Saus und Braus zu leben, werden wir uns absetzen, das verspreche ich dir. Vielleicht nach Grimhagen, wo uns niemand kennt. Würde dir das gefallen?“ Ilva nickte wortlos, doch sie konnte in den Augen ihres Kapitäns sehen, dass er nicht die Wahrheit sagte. Fjedors Einfluss hatte ihn verdorben und nun hatte ihn die Habgier fest im Griff. Ilva wusste, dass er dem selbsternannten Schmugglerkönig erst dann den Rücken kehren würde, wenn dessen Sturmerzader erschöpft und der Geldfluss versiegt war.
 

Die Sirene erreichte das Küstengebiet von Khaanor kurz vor Sonnenaufgang. Noch immer tat sich das schwache Tageslicht schwer, gegen den dichten Nebel anzukämpfen, aber der Dunst wurde allmählich heller. Die Hafensiedlung lag am nördlichen Rand der Düstermarsch. Bei klarem Himmel warfen die Ausläufer der Wolkenberge in der Morgendämmerung ihre langen, bedrohlichen Schatten auf die einfachen Backsteinhäuser und Lehmhütten. Jetzt lagen die Behausungen der Bewohner Khaanors in grauen Nebelschwaden und waren lediglich als unförmige Umrisse im trüben Grau zu erahnen. Die Anlegestellen befanden sich direkt an der Mündung des Maldocan, der breit und träge aus Richtung Osten ins Meer floss. Weiter flussaufwärts verschwand der mächtige Strom zwischen den ersten Hügeln. Direkt an seinem Ufer führte ein Treidelpfad in die Berge, der jedoch nur spärlich benutzt wurde, da der Maldocan mit einem entsprechenden Schiff auch ohne die Hilfe von Zugtieren entgegen seiner Fließrichtung befahren werden konnte. Die Strömung des Auges war so schwach, dass man sie nur erahnen konnte, und erst dort, wo das Wasser des Flusses auf das Binnenmeer trat, bildeten sich stärkere Strudel und Stromschnellen.

Um den Maldocan zu erreichen, musste die Sirene direkt durch den Hafen von Khaanor fahren und Veit hoffte, dass sein Schiff hier weniger bekannt war, als an den Gestaden von Ganestan. Der Kapitän bemerkte im schwachen Dämmerlicht des frühen Morgens erleichtert, dass in Khaanor keine Schiffe der Armee vor Anker lagen. Das machte es um einiges einfacher, den Fluss zu erreichen, ohne in Probleme zu geraten. Veit blieb dennoch aufmerksam und ließ seinen Blick über die verschlafene Siedlung im Morgennebel schweifen. Seine Mannschaft, insbesondere Ilva, spürte, dass ein nicht ganz ungefährliches Manöver bevorstand und die Anspannung stand jedem der Seeleute ins Gesicht geschrieben.

Ilva trat zögerlich hinter ihren Kapitän. „Wie lauten die Anweisungen?“, erkundigte sie sich.

„Wir steuern direkt auf die Mündung zu“, brummte Veit. „Dann werden wir sehen müssen, ob der Wind ausreicht, um uns den Fluss hinaufzutragen. Andernfalls geht es an die Riemen. Du übernimmst das Steuer.“

„Aye-Aye, Käpten!“, rief Ilva und eilte zügig davon. Veit sah grimmig zu, wie seine engste Vertraute zum Heck lief und entdeckte dabei Fjedor, der mit Nironil im Schlepptau gemütlich auf ihn zu schlenderte.

„Was tust du denn da?“, fragte der Schmugglerkönig mit hochmütigem Grinsen. „Es gibt doch keinen Grund zur Eile.“

„Halt die Klappe“, knurrte Veit. „Ich bin hier der Kapitän und treffe die Entscheidungen.“

„Interessant, was man sich so alles auf seinen Posten einbilden kann.“ Fjedors selbstgefälliger Tonfall verhieß nichts Gutes. „Wir gehen hier an Land.“

Veit riss entrüstet die Augen auf. „Bist du völlig wahnsinnig?“, japste er entsetzt. „Wir können froh sein, wenn wir die Mündung erreichen, ohne von der Armee aufgegriffen zu werden. Dich kennt niemand, weil du dich unter der Erde verkriechst, aber ich bin auf dem Binnenmeer bekannt wie ein bunter Hund.“

„Das ist dein Pech“, entgegnete Fjedor kühl. „Aber ich bin zugegebenermaßen sehr enttäuscht, dass sich der berühmte Käpten Veit als Feigling herausstellt.“

Veit schnappte erbost nach Luft, doch Fjedor ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Stell dich jetzt nicht so an und lass den Hafen ansteuern“, fuhr er fort. „Die paar Soldaten, die in Khaanor stationiert sind, können uns mit Sicherheit nicht aufhalten.“

„Was denn?“, knurrte Veit gereizt. „Du glaubst allen Ernstes, dass sich dein zerlumpter Haufen mit der Armee anlegen kann? Das würde ich ja wirklich gerne sehen.“

Fjedors Gesichtsausdruck verfinsterte sich und sein süffisantes Grinsen verschwand. „Spar dir die Sprüche und tu einfach, was ich dir sage!“, verlangte er barsch.

„Bei diesem Befehlston müssen wir über einen erhöhten Lohn sprechen“, stellte Veit fest. „Aber meinetwegen, dann legen wir eben an. Und nur damit das klar ist: Ich setze keinen Fuß an Land.“

„Schon gut, verkriech dich unter Deck!“, spottete Fjedor, ohne Veit damit aus der Fassung bringen zu können. Der Kapitän gab Ilva mit einem Wink den wortlosen Befehl, auf die Anlegestellen am Hafen von Khaanor zuzusteuern. Die Frau mit dem roten Haar zögerte einen Augenblick und sah Veit warnend an. Erst als dieser erneut und sehr energisch auf den Pier deutete, drehte sie das Steuerrad.
 

Khaanor war nicht annähernd so stark befestigt wie Eydar im Süden. Es gab keine Stadtmauern und der Hafen war vergleichsweise klein, aber die Kaiserliche Armee war auch hier präsent. Den Oberbefehl über die in Khaanor stationierten Truppen hatten Kommandantin Geyra, eine hartgesottene, rotblonde Frau aus dem hohen Norden. Es hatte sie, wie viele andere Menschen aus Isenheim, die dem Ruf der plündernden Wilden widerstanden hatten, nach Ganestan gezogen. Das Militär hatte immer einen Platz für die kampferprobten und zähen Nordmenschen, denen es immer wieder gelang, in der Hierarchie der Armee rasch aufzusteigen.

Geyra und Rhist hatten an der Akademie zum selben Jahrgang gehört und waren beinahe zeitgleich zu Kommandanten befördert worden. Während man Rhist zur Unterstützung von Syndus nach Eydar geschickt hatte, war Geyra die Befehlsgewalt über die Soldaten in Khaanor übertragen worden. Der Kommandantin stand nur ein kleines Bataillon zur Verfügung, das aber ausreichte, um die Hafensiedlung zu sichern. Unter ihrer Führung erlebte Khaanor eine ähnliche Entwicklung, wie sie bereits Eydar hinter sich gebracht hatte. Aus einem kleinen Stützpunkt der Armee in einem ärmlichen Fischerdorf aus Schlamm wurde langsam eine immer wohlhabendere Hafensiedlung.

Doch auch in Khaanor verlief die Aufklärung der Vermisstenfälle erfolglos. Anfangs hatten Geyra und Meister Syndus noch eng kooperiert, doch seit Loronk das Zepter in Eydar übernommen hatte, war die Zusammenarbeit der beiden Stützpunkte auf einen minimalen Informationsaustausch zusammengeschrumpft. Der Brigadegeneral schien keinerlei Interesse an Unterstützung aus Khaanor zu haben, aber aufgrund der geringen Truppenstärke konnte Geyra ohnehin nicht genug Soldaten entbehren, um eine intensive Suche nach den verschwundenen Personen gewährleisten zu können. Nachdem vor einigen Tagen der grimmige Axtkämpfer und die zarte Eismagierin Khaanor verlassen hatten und nicht mehr aus der Düstermarsch zurückgekehrt waren, hatte Geyra kurzerhand die Notbremse gezogen. Die Kommandantin hatte verkünden lassen, dass jeder, der die Sumpfwälder betreten wollte, zu seiner eigenen Sicherheit inhaftiert werden würde. Die bloße Androhung einer Strafe hatte bislang ausgereicht, um Reisende davon abzuhalten, die Stadt auf dem Landweg zu verlassen. Die Bewohner von Khaanor wagten sich ohnehin schon lange nicht mehr über die Grenzen der Stadt hinaus. Die einzige Ausnahme war der eigenbrötlerische Waldelf Tareglir, der bereits vor einigen Monaten in die Hafenstadt gekommen war. Angeblich war er ein Gelehrter aus Ganestan und erforschte die in der Düstermarsch lebenden Tiere. Der Waldelf war ein wirklich seltsamer Kauz, aber auch der einzige, der sich freiwillig in die Sumpfwälder begab und jedes Mal aufs Neue unversehrt zurückkehrte. Geyra hatte davon abgesehen, ihn verhaften zu lassen, denn augenscheinlich kannte er die Düstermarsch wie seine Westentasche. Außerdem neigte er dazu, äußerst ungehalten zu reagieren, wenn man seinen Forschungen im Weg stand.

Obwohl es noch früh war, entging den in Khaanor stationierten Soldaten die Ankunft des Schiffs nicht. Geyra befand sich auf ihrer morgendlichen Stippvisite im Hafen und teilte die Wachen ein, als die Sirene aus dem Küstennebel auftauchte. Die athletische Kommandantin richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und beobachtete mit strengem Blick, wie das Schiff in den Hafen einlief. Die Besatzung schien mit den unvorhersehbaren Strömungen zu kämpfen zu haben, die sich an der Mündung des Maldocan bildeten, doch schließlich gelang es ihnen, ihren Kahn in den Fluss zu manövrieren. Das Hafenbecken selbst war so ruhig wie ein See bei absoluter Windstille und mit bloßem Auge war nicht zu erkennen, dass weitere Wassermassen aus den Bergen träge nachdrängten.

Geyra strich sich ihren widerspenstigen Zopf energisch zurück in den Nacken und ging in Begleitung zweier Soldaten zu der Anlegestelle, auf die das Schiff zusteuerte. Neuankömmlinge, die länger im Hafen vor Anker gehen wollten, mussten sich registrieren und Geyra wollte sich erkundigen, mit welchen Absichten die Besatzung nach Khaanor kam.

Der Zweimaster knarzte leise, als er mit eingeholten Segeln direkt neben der Anlegestelle ruckartig stehenblieb. Sofort schwangen sich zwei unrasierte, schmutzige Männer über Bord, um das Schiff zu vertäuen. Geyra runzelte die Stirn. Diese Kerle sahen aus wie Piraten. Mit festen Schritten steuerte direkt auf die beiden zerlumpten Seefahrer zu, die sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatten.

„Ich grüße Euch!“, rief sie mit fester Stimme und die Männer zuckten erschrocken zusammen. „Ich bin Kommandant Geyra, die Befehlshaberin der hiesigen Truppen. Wer ist der Kapitän dieses Kahns?“

Veit verfluchte Fjedor innerlich für seine Sorglosigkeit, doch nach außen gab er sich ruhig. Es war nicht das erste Mal, dass er es mit Hafenwachen zu tun bekam und bislang war es ihm immer gelungen, die Situation mit Worten zu entschärfen und zu klären. Es bestand dennoch das Risiko, dass einer der Soldaten das Schiff oder sein Gesicht erkannte, doch hier spielte den Schmugglern das Zwielicht der Dämmerung und der noch immer dichte Nebel in die Karten. Veit hoffte einfach, dass keines seiner Crewmitglieder die Nerven verlor und sich Fjedors Banditen an Deck zurückhielten. Diesen Gaunern sah man an der Nasenspitze an, dass sie keine unbescholtenen Reisenden waren.

Er trat rasch an die Reling und stützte sich mit schweißnassen Händen auf die Brüstung. Mit verkniffenem Mund blickte er zu den drei Soldaten hinab, die an der Anlegestelle warteten. Die rothaarige Frau, die sich als Kommandantin vorgestellt hatte, erwiderte seinen Blick voller Ungeduld und tippte mit den Fingern auf den stählernen Kopf eines schlanken Kriegshammers, den sie am Gürtel trug. Die beiden Schmuggler, die das Schiff vertäut hatten, wichen angespannt zurück.

„Ich bin der Kapitän“, rief Veit mit gedämpfter Stimme. „Kann ich Euch helfen?“

„Das könnt Ihr in der Tat“, erwiderte Geyra. Veit versuchte auf ihrem Gesicht eine Regung zu erkennen, doch es war so ausdruckslos und hart wie eine Maske aus Stein. „Seefahrer, die im Hafen anlegen, müssen sich bei der Hafenwache melden, wenn sie länger vor Anker liegen wollen. Also sagt mir bitte, welche Geschäfte Euch nach Khaanor führen.“

„Wir sind nur auf der Durchreise“, erwiderte Veit angespannt. „Unser Ziel liegt weiter flussaufwärts in den Wolkenbergen.“

„So?“, gab Geyra zurück und nun erkannte Veit an ihren zusammengeschobenen Augenbrauen den Anflug von Misstrauen auf ihrem Gesicht. „Und weshalb legt Ihr hier im Hafen an?“

Veit biss sich auf die Unterlippe. Unwillkürlich warf er Fjedor einen hilfesuchenden Blick zu. Der Schmugglerkönig schnaufte missbilligend und ließ wieder sein schiefes, selbstgefälliges Grinsen sehen. Dann trat er steif an die Reling heran.

„Keine Sorge, wir sind sofort wieder weg“, versprach er großspurig und hob seine Hände in einer entwaffnenden Geste.

„Ich dachte, er ist der Kapitän“, brummte Geyra argwöhnisch und deutete auf Veit. „Also mischt Euch nicht ein!“

„Nun, es mag sein, dass mein werter Freund hier dieses Schiff und seine Mannschaft befehligt, aber wir haben auf meine Bitte hin in Eurem hübschen, kleinen Hafen angelegt“, entgegnete Fjedor. Aus seinem Grinsen wurde ein Lächeln, das man beinahe als charmant hätte bezeichnen können. Geyra konnte er damit augenscheinlich aber nicht um den Finger wickeln. „Wisst Ihr, wir sind lediglich hier, um einen guten, alten Freund von mir abzuholen. Wir bleiben also nicht lange hier.“

Veit runzelte argwöhnisch die Stirn und warf Fjedor einen hasserfüllten und gleichzeitig fragenden Blick zu. Geyra bemerkte das und verengte die Augen zu Schlitzen. Sie musterte Veit mit stummem Misstrauen und den Kapitän befiel ein unangenehmes Gefühl. Wenn sie sein Gesicht erkannte, war alles aus. Mit einem leisen Räuspern trat er von der Reling zurück und wandte sich nervös ab. Er spürte, wie Geyras forschender Blick noch eine Weile auf ihn gerichtet war, ehe sich die Kommandantin wieder an Fjedor wandte.

„Ihr wollt also lediglich einen Passagier an Bord holen, sehe ich das richtig?“, fragte sie lauernd und legte den Kopf schief.

„So ist es, Verehrteste. Ich habe dieses Schiff bereits erwartet.“

Die rothaarige Kommandantin drehte sich ruckartig um, als hinter ihr eine näselnde Stimme ertönte. Veit riskierte einen verstohlenen Blick über die Reling. Am Pier war ein blonder Waldelf erschienen, der auf ihn einen unangenehm eitlen Eindruck machte. Seine glänzenden Seidengewänder und die Ringe an seinen Fingern standen im Kontrast zu seinem struppigen Bart und insgesamt sah der Elf ziemlich albern aus. Veit schob missgestimmt die Augenbrauen zusammen. Offenbar handelte es sich bei diesem Kerl um die Person, die Fjedor unbedingt an Bord holen wollte. Der Kapitän wollte gar nicht genau wissen, wer dieser seltsame Bursche war. Er war einfach froh, dass der Waldelf so aufmerksam gewesen war, die Ankunft der Sirene zu erwarten. Das sparte den Schmugglern eine Menge Zeit, in der die Gefahr bestand, dass irgendjemand das Schiff oder Veit erkannte.

Die beiden Soldaten in Geyras Begleitung sahen den Waldelfen überrascht an. „Ihr seid es, Tareglir“, bemerkte die Kommandantin brummig. „Bedürfen Eure Forschungen etwa das Verlassen unserer Siedlung?“

„So ist es, Verehrteste“, verkündete der Elf und deutete eine Verbeugung an. Veit verzog beim säuselnden Klang seiner Stimme angewidert das Gesicht. „Ich hatte eine schöne und ergiebige Zeit in Khaanor, doch ich komme hier nicht weiter. Deshalb verabschiede ich mich nun.“

„Darf ich fragen, wohin Euch Eure Reise führen wird?“, fragte Geyra argwöhnisch.

„Selbstverständlich dürft Ihr das, Verehrteste“, erwiderte Tareglir großspurig. Er streckte einen Arm aus und deutete mit einer weitausladenden Handbewegung auf die Sirene. „Dieses Schiff wird mich den Maldocan hinauftragen und in die Wolkenberge führen. Dort werde ich meine Forschungen auf das Gebiet des Verhaltens der dort lebenden Harpyien ausweiten.“

Die beiden Soldaten sahen beeindruckt aus, wie zwei Kleinkinder, denen zum ersten Mal Magie gezeigt wurde. Geyra dagegen wirkte alles andere als überzeugt. „Seid Ihr sicher, dass Ihr mit diesen Gestalten reisen wollt?“, erkundigte sie sich skeptisch und warf den beiden Seemännern, die das Schiff vertäut hatten und sich nun unschlüssig auf dem Pier herumdrückten, einen missbilligenden Blick zu. „Besonders vertrauenserweckend sehen sie nicht aus.“

Tareglir schenkte der Kommandantin ein entwaffnendes Lächeln. „Nun, man kann sich seine Gesellschaft nicht immer aussuchen, nicht wahr, Verehrteste? Mir wäre auch wohler, wenn ich an Bord eines prächtigen Transportschiffs unter dem Kommando eines Kapitäns mit gutem Geschmack reisen könnte, aber ich muss mit dem Vorlieb nehmen, was meine Auftraggeber für mich ausgewählt haben. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass mich diese Leute sicher in die Wolkenberge bringen werden, auch wenn ich zugeben muss, dass ich schon jetzt eine Abneigung gegen die unschönen Düfte entwickle, die dieser Kahn verströmt.“ Der Waldelf verzog bei den letzten Worten das Gesicht und legte sich den Saum seines seidenen Ärmels über die Nase.

An Bord der Sirene spürte Veit, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er warf Fjedor einen vernichtenden Blick zu. „Ist das dein Ernst?“, zischte er mit gedämpftem Zorn. „Du riskierst, dass man mich erkennt und alles auffliegt, weil du diesen aufgeblasenen Lackaffen an Bord holen willst?“

„Das sind die Anweisungen von Brynne“, entgegnete Fjedor aus dem Mundwinkel. „Tareglir ist einer seiner Diener und war einer unserer wertvollsten Informanten. Brynne möchte ihn nur ungern hier zurücklassen.“

Veit versicherte sich kurz, dass Geyra nicht hinsah. Die Aufmerksamkeit der Kommandantin war im Augenblick vollkommen auf Tareglir gerichtet. Veit baute sich vor Fjedor auf und packte ihn beim Kragen. „Hast du jetzt endgültig den Verstand verloren?“, keifte er wütend. „Der Schmuggel läuft ausgezeichnet. Warum traust du dich auf einmal aus deiner Höhle raus? Auf diesen Raubzug könntest du ohne Probleme verzichten. Mit dem Sturmerz verdienen wir uns dumm und dämlich! Warum willst du all das für diesen Brynne aufs Spiel setzen? Wer ist dieser Kerl überhaupt?“ Der Kapitän hörte, wie Nironil einen Pfeil aus seinem Köcher zog und die Bogensehne spannte. Der loyale Waldelf schritt ein, so wie immer, wenn sich jemand Fjedor auf unangenehme Art und Weise näherte.

Der Schmugglerkönig erwiderte Veits Blick mit versteinerter Miene. „Lass mich los!“, befahl er grimmig.

Veit gehorchte zunächst nicht, doch im Augenwinkel achtete er auf die Hand, mit der Nironil die Sehne hielt. „Du warst schon immer ein Dreckskerl“, zischte er schließlich und stieß Fjedor von sich. Nironil ließ fast augenblicklich den Bogen sinken. „Aber es passt nicht zu dir, dass du dich von so einem dahergelaufenen Kerl wie diesem Brynne herumkommandieren lässt.“

Fjedor richtete sich den Pelzkragen, der von Veits Griff ausgeleiert worden war. Wichtigtuerisch reckte er die Nase in die Höhe. „Brynne kommandiert mich nicht herum“, korrigierte er. „Wir sind Geschäftspartner.“

„Wenn du dir das lange genug einredest, glaubst du es eines Tages vielleicht wirklich selbst“, knurrte Veit geringschätzig.

„Mir ist egal, was du denkst“, gab Fjedor patzig zurück. „Aber wir haben es beide einzig und allein Brynne zu verdanken, dass wir bald stinkreich sind. Und ich habe immerhin noch den Anstand, diesen Gefallen zurückzuzahlen. Brynne wird es mir tausendfach vergelten, wenn ich ihm jetzt helfe, und wenn du brav mitspielst, bekommst du auch deinen Teil vom Kuchen ab.“

„Natürlich, dieser Kerl sieht ja schon aus, wie der reinste Wohltäter!“, stieß Veit sarkastisch hervor und spuckte verächtlich aus. „Mach doch, was du willst! Aber ich sag dir eines: Egal, aus welchem Grund euch Brynne in die Wolkenberge führt, am Ende wird nur er von diesem kleinen Ausflug profitieren. Allmählich frage ich mich, warum ich mich überhaupt jemals auf eine Zusammenarbeit mit dir eingelassen habe.“

Fjedor grinste triumphierend. „Ganz einfach“, antwortete er höhnisch. „Weil du damals noch kein Idiot warst und sofort erkannt hast, wenn du aus einem Geschäft schnell und einfach Profit schlagen konntest. Aber du bist alt geworden und das hat dir ganz offensichtlich nicht gut bekommen. Und jetzt mach deine Arbeit und hol den Elfen an Bord!“ Der Schmugglerkönig machte auf dem Absatz kehrt, stolzierte mit Nironil an seiner Seite davon und ließ Veit, der vor Wut kochte, einfach stehen. Der Kapitän ballte die Fäuste und stieß einen gedämpften Fluch aus. Er trat zurück an die Reling und sah mit bitterbösem Blick zum Pier hinunter.

Dort unterhielten sich die Soldaten und der Tareglir wie alte Freunde, während Geyra teilnahmslos danebenstand. Veit konnte hören, wie der Waldelf gerade von seinen bahnbrechenden Erkenntnissen zum Rudelverhalten von Wargen erzählte. Erleichtert nahm der Kapitän zur Kenntnis, dass Geyras Misstrauen allmählich zu verfliegen schien. „Auch wenn Ihr Euch auf diesem Gebiet bestens auskennt, solltet Ihr trotzdem auf Euch aufpassen“, hörte er sie murmeln. „Die Gefahren der Düstermarsch sind eine Sache, aber sich in das Revier der Harpyien der Wolkenberge zu wagen, grenzt an Wahnsinn.“

„Eure Sorge rührt mich, Verehrteste“, erwiderte Tareglir mit schmeichlerischem Unterton. Während er sprach, gestikulierte er unablässig in schwungvollen Handbewegungen. „Mein umfangreiches Wissen über das Jagdverhalten dieser Ungeheuer dient als ausgezeichneter Schild. Die Düstermarsch konnte mich nicht schrecken und die Wolkenberge werden es auch nicht können.“ Er trat einen Schritt zurück, breitete theatralisch die Arme aus und zwinkerte Geyra zu. „Außerdem solltet Ihr doch froh sein, mich endlich loszuwerden. Ich weiß doch, dass Ihr ständig Angst hattet, dass ich in den Sümpfen verschwinde, wie all diese armen Seelen, deren ungeklärtes Schicksal Euch solche Sorgen bereitet, Verehrteste. Aber ich bin nicht verschollen und was in den Wolkenbergen geschieht, hat Euch nicht zu kümmern.“

Die ersten Sonnenstrahlen fanden ihren Weg über die Gipfel der Wolkenberge und durchbrachen den Nebel. Veit verlor die Geduld. „Wenn dieser Wichtigtuer noch ein Wort sagt, vergesse ich mich“, zischte er verärgert und mischte sich mit einem deutlichen Räuspern in das Gespräch der Soldaten und des Waldelfen ein. „Ich will nicht unhöflich sein. Aber der Wind steht im Augenblick günstig. Wenn wir nicht schnell aufbrechen, könnten wir eine glänzende Gelegenheit verpassen, auf dem Maldocan gute Fahrt zu machen. Wenn wir rudern müssen, wird uns das eine Menge Zeit kosten.“

Tareglir lächelte Geyra zu. „Ihr habt es gehört, Verehrteste“, sprach er und verbeugte sich. „Ich will den Kapitän nicht länger warten lassen. Gehabt Euch wohl! Vielleicht sehen wir uns wieder, wenn meine Feldstudie in den Bergen erfolgreich war.“

„Auf ein baldiges Widersehen, Tareglir!“, riefen die beiden Soldaten wie aus einem Mund.

Geyra nickte dem Waldelfen distanziert zu. „Viel Glück“, sagte sie. „Ich habe das Gefühl, Ihr könntet es noch brauchen.“

Tareglirs Antwort war nur ein helles Lachen. Er machte schwungvoll auf dem Absatz kehrt, wobei der Saum seines langen Seidengewands um seine schlanken Beine flatterte, und schritt gemächlich auf die Laderampe zu, wobei er Geyra und den beiden Soldaten zum Abschied immer wieder zuwinkte. Die Schmuggler am Pier warteten ungeduldig darauf, die Taue der Sirene endlich wieder lösen zu können, während Veit mit barschen Befehlen die Laderampe ausfahren ließ. Tareglir stolzierte so bedächtig an Bord, als wollte er jedem seiner Schritte besondere Bedeutung zumessen. An Deck drehte er sich zur Reling um und setzte seinen gestenreichen Abschied fort. Erst als die beiden Schmuggler an der Anlegestelle die Taue lösten, an Bord kletterten und die Rampe wieder einholten, stellte der Waldelf sein Gehabe ein und strich sich den glänzenden Stoff seiner Gewänder glatt.

„Setzt die Segel!“, rief Veit und sofort kam Bewegung in den Rest seiner Mannschaft, der angespannt an Deck herumgelungert hatte, seit sie angelegt hatten. Sie alle hatten es furchtbar eilig, die Befehle ihres Kapitäns auszuführen, um den Hafen und Geyras strenge Blicke möglichst schnell hinter sich zu lassen. Als sich das Segel im Wind blähte und die Sirene ächzend Fahrt aufnahm, atmete Veit erleichtert auf.

Tareglir schritt über das Oberdeck und sah sich lustlos um. „Das ist also das Schiff, das mein Meister für die Fahrt ausgewählt hat“, stellte er fest und rümpfte die Nase. „Ich hatte gehofft, er würde einen Kahn aussuchen, der etwas mehr Würde ausstrahlt.“

Veit, der gerade wild gestikulierend zu Ilva laufen wollte, um ihr zu sagen, dass sie die Sirene nahe dem Ufer halten sollte, hielt in seiner Bewegung inne und stierte den Waldelfen erbost an. „Sag mal, geht’s noch?“, rief er atemlos und baute sich drohend vor Tareglir auf. „Du Fatzke bist hier auf meinem Schiff, also benimm dich gefälligst!“

Tareglir blickte abschätzig zu dem geblähten Segel empor. „Ihr müsst also Kapitän Veit sein“, erwiderte er abwesend. „Ich habe schon einiges von Euch gehört. Mein Name ist Tareglir. Verzeiht mir, aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um uns genauer miteinander bekannt zu machen. Wo ist mein Meister? Ich begehre mit ihm zu sprechen.“

Veit stand kurz davor, einen Wutanfall zu erleiden. Das hochnäsige Auftreten des Waldelfen ging ihm auf die Nerven. Zusätzlich erzürnte ihn, dass Tareglir ihn offensichtlich nicht ernst nahm. Er wollte ihn beim Kragen packen und tüchtig durchschütteln, doch in diesem Augenblick trat Gilroy auf den Plan und schritt ein.

„Meister Brynne ist selbstverständlich in einer Kajüte unter Deck“, verkündete der Dunkelelf. „Immerhin bricht der Tag an.“

Tareglir ließ den schäumenden Veit links liegen und breitete in gespielter Freude die Arme aus. „Gilroy!“, rief er hochtrabend und umarmte den Dunkelelfen überschwänglich. „Wie lange ist das her?“

Gilroy machte keine Anstalten, auf Tareglirs Begrüßung zu reagieren, sondern zog den Waldelfen mit sich. Sein Gesicht blieb dabei wie versteinert. „Dein Aufenthalt in Khaanor scheint dir gutgetan zu haben“, stellte er tonlos fest.

Tareglir strich sich stolz seine Gewänder glatt. „Ja, nicht wahr?“, erwiderte er stolz. „Man muss nur wissen, wie man sich verkaufen muss. Ich habe mich in Khaanor als Gelehrter ausgegeben, der die hiesigen Raubtiere untersuchen möchte. Ich musste der tumben Bevölkerung nur meine geistige Überlegenheit demonstrieren und schon begegnete mir jeder mit dem angemessenen Respekt. Zugegeben, das Geld, mit dem mich Fjedor für meine Dienste entlohnt hat, war auch recht hilfreich, um mir einen Status als angesehener Bürger zu verschaffen.“

„Du hast Geld von den Schmugglern angenommen?“ Gilroy klang misstrauisch.

Tareglir grinste breit. „Selbstverständlich“, erklärte er. „Immerhin habe ich mich für sie immer wieder in diesen furchtbar schmutzigen Sumpf gewagt, um ihnen arglose Reisende in die Arme zu treiben. Ich habe mir bei fast jedem Ausflug in diese gottverdammte Gegend die Gewänder ruiniert und musste mir wöchentlich neue Kleidung kaufen.“

„Hier geht es nicht um dich und deinen Wohlstand, Tareglir“, sagte Gilroy vorwurfsvoll. „Ist dir die falsche Existenz, die du dir in Khaanor aufgebaut hast, etwa zu Kopf gestiegen? Wir tun all das für unseren Meister, oder hast du das etwa schon vergessen?“

„Natürlich nicht“, verteidigte sich der Waldelf. „Aber nichts spricht dagegen, dass ich Meister Brynne diene und mir gleichzeitig ein Leben in Luxus ermögliche. Meine Pflichten habe ich dadurch jedenfalls nicht vernachlässigt. Ich glaube nicht, dass der Meister einen Grund hat, sich über meine Arbeit zu beschweren. Du hättest es genauso machen sollen.“ Tareglir betrachtete Gilroy und dessen abgetragene Kleidung verächtlich. „Als was hast du dich getarnt? Etwa als Bettler?“

„Ich war Fischer“, entgegnete der Dunkelelf. „Ich habe selbst für meinen Lebensunterhalt gesorgt und gleichzeitig die Aktivitäten des Ordens im Auge behalten. Ich habe mich stets unauffällig verhalten. Und dabei wären glänzende Gewänder nur hinderlich gewesen.“

„Fischer“, wiederholte Tareglir spöttisch. „Du bist wirklich tief gesunken, Gilroy. Ich hätte nicht gedacht, dass sich Brynnes treuester Gefolgsmann dazu herablassen würde, vor einer heruntergekommenen Hütte Netze zu flicken und Fische auszunehmen. Ich fürchte, unser Meister wird sich ernsthafte Gedanken darüber machen müssen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, einen neuen Vertrauten auszuwählen. Du hast ganz offensichtlich deinen Stolz verloren.“

„Nein“, erwiderte Gilroy ungerührt. „Ich scheue mich lediglich nicht davor, mir zum Wohl unseres Meisters die Hände schmutzig zu machen. Und das schätzt Brynne an seinen Dienern bei Weitem mehr, als das Tragen von seidenen Gewändern und anderem Blendwerk.“

In Tareglirs Augen flackerte kurz geballte Wut auf, doch dann lachte er. Es klang heiser und gekünstelt. Er legte dem Dunkelelfen scheinbar freundschaftlich den Arm um die Schultern. „Lass uns nicht streiten, alter Gefährte. Bring mich lieber zu unserem Meister!“

Gilroy nickte finster und führte den Waldelfen über eine Luke ins Unterdeck. Veit sah den beiden grimmig hinterher. Er kochte noch immer vor Zorn. Seit Brynne an Bord gekommen war, lief nichts mehr nach seinen Wünschen. Fjedor untergrub seine Autorität als Kapitän und Tareglirs Arroganz machte ihn rasend. Er versuchte, seiner Wut Luft zu machen, indem er gegen ein Vorratsfass trat, das fest an der Reling vertäut war, aber das Ergebnis war nur ein stechender Schmerz in seinem großen Zeh. Sein Zorn hatte nicht nachgelassen. Veit atmete tief durch und rieb sich die Schläfen. Missmutig stapfte er zum Heck, wo Ilva am Steuerrad stand.

„Näher ans Ufer“, befahl er seiner Vertrauten. „Dort ist die Strömung nicht so stark und wir machen bessere Fahrt.“

Ilva gehorchte und korrigierte den Kurs leicht nach Steuerbord. Die Sirene geriet in einen schwachen Wasserwirbel und bäumte sich für einen Moment knarzend auf. Dann war die Oberfläche des Maldocan wieder ruhig und friedlich und das Schiff glitt unter dem geblähten Großsegel gemächlich dahin.

Veit stützte sich grimmig auf die Reling und ließ seine Augen über das Deck der Sirene wandern. Er hatte langsam das ungute Gefühl, nicht mehr der Kapitän seines eigenen Schiffes zu sein. Und plötzlich befiel ihn der beunruhigende Gedanke, dass Ilva mit ihrer Sorge recht behalten könnte.

„Das funktioniert ja tatsächlich!“

Im Licht der Morgensonne, die den Nebel allmählich vertrieb, beobachtete Gancielle staunend, wie Craig mit hochgekrempelten Hosen durch die Bucht watete. Der Waisenjunge tastete sich an dem steil abfallenden Hang des angrenzenden Hügels entlang und das Wasser reichte ihm bis zu den Knien. Seine nackten Waden mussten für die lauernden Bluthechte wie appetitliche Leckerbissen aussehen, aber sie kamen nicht an ihn heran. Denn zwischen ihnen und ihrer Beute zog Knack seine Kreise durch das Wasser der Bucht.

Die Bluthechte schienen instinktiv zu spüren, dass der Knucker einer ihrer größten Fressfeinde war. Obwohl sich ein riesiger Schwarm der Raubfische in der Bucht versammelt hatte, wagten sie es nicht, sich auf den schlangenartigen Drachen zu stürzen. Ihre Zähne konnten gegen die Schuppenpanzerung des Knuckers nur wenig ausrichten und so folgten sie Craig in respektvollem Abstand, in der verzweifelten Hoffnung, dass Knack für einen Augenblick unaufmerksam war.

Doch der Knucker wich seinem Freund nicht von der Seite. Er ließ den Schwarm der frustrierten Bluthechte nicht aus den Augen, während Craig durch das seichte Wasser stakste und sich dabei den Dreck von den Beinen wusch.

„Natürlich!“, rief er Gancielle strahlend zu. „Wenn man es mit Bluthechten zu tun hat, sollte man immer einen Knucker an seiner Seite haben. Die Mistviecher werden heute fasten müssen.“

Der Kommandant saß mit Lexa am Ufer und sah dem Schauspiel kopfschüttelnd zu. Knack konnte nicht auf sie alle drei gleichzeitig aufpassen, weswegen sie sich dazu entschieden hatten, die Bucht nacheinander zu durchqueren. Lexa behielt die Umgebung aufmerksam im Auge, aber Gancielle konnte seinen Blick nicht von Craig wenden, der so locker durch das Wasser watete, als würde ihm nicht ein ganzer Schwarm mordlüsterner Fische folgen. Eigentlich erwartete der Kommandant, dass die Bluthechte jeden Augenblick von Hunger überwältigt zum Angriff übergehen würden, aber es geschah nichts dergleichen. Knacks bloße Präsenz reichte offenbar aus, um die Raubfische auf Abstand zu halten.

Schließlich hievte sich Craig jenseits der Bucht an einem großen Felsen unversehrt aus dem Wasser. Grinsend drehte er sich zu Gancielle und Lexa um und zeigte ihnen den nach oben gerichteten Daumen. Knack wiederum tauchte unter und schwamm mit kraftvollen Schwanzschlägen blitzschnell zurück zu Craigs wartenden Begleitern. Die Bluthechte stoben wütend auseinander, als der Knucker direkt durch ihren Schwarm schoss und dabei mit seinen Kiefern nach ihnen schnappte. Er bekam keinen zu fassen und die Raubfische rotteten sich in einiger Entfernung wieder zusammen. Noch hatten sie nicht aufgegeben.

Als nächstes durchquerte Lexa die Bucht. Sie schien großes Vertrauen zu Knack gefasst zu haben, denn sie achtete gar nicht auf die Bluthechte, die sich langsam wieder näherten. Ein paar einzelne Raubfische wurden etwas mutiger, lösten sich aus dem Schutz des Schwarms und wagten sich nahe an die Späherin und ihren geschuppten Wachhund heran, doch Knack war auf der Hut. Ein zuckte mit dem Schwanz und diese kurze Drohgebärde war ausreichend. Die Bluthechte traten frustriert den Rückzug an.

So kam auch Lexa wohlbehalten auf der anderen Seite an. Craig, der auf sie gewartet hatte, streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aus dem Wasser zu helfen, doch die Späherin lehnte dankend ab und kletterte ohne Unterstützung an Land. Sie ließ sich auf einem Felsvorsprung nieder, zog ihre triefnassen Stiefel aus und schüttete das Wasser aus, das sich darin gesammelt hatte.

„Das war ja ein Kinderspiel“, stellte sie fest und lächelte Craig an. „Die Armee und der Orden sollten sich überlegen, ob es nicht lohnenswert wäre, ein paar Knucker zu dressieren. Dein kleiner Freund erweist sich jedenfalls als äußerst nützlich.“

Knack, der mitbekam, dass er wieder gelobt wurde, reckte den Kopf aus dem Wasser. Lexa kraulte ihn unter dem Kinn. „Jetzt musst du nur noch Gancielle zu uns bringen“, sagte sie schmunzelnd. Der Knucker gluckste zufrieden und tauchte wieder ab. Wie ein verschwommener, langgezogener Klecks roter Farbe glitt er dicht unter der Wasseroberfläche durch die Bucht.

Gancielle erwartete ihn bereits. Dem ehemaligen Kommandanten war anzusehen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Auch wenn Craig und Lexa die Bucht unbeschadet durchquert hatten, gefiel es ihm ganz und gar nicht, dass er ein mit Bluthechten verseuchtes Gewässer betreten musste.

„Und du achtest auch wirklich darauf, dass mich diese Biester nicht anknabbern?“, fragte er den Knucker mit gerunzelter Stirn. Knack legte den Kopf schief und sah ihn dümmlich an.

„Also gut“, seufzte Gancielle. „Bringen wir es hinter uns.“ Er krempelte seine Hosen bis zu den Knien hoch und setzte vorsichtig einen Fuß ins Wasser. Die Bluthechte schienen die sanften Wellen, die dabei entstanden, augenblicklich zu spüren und sammelten sich bedenklich nahe wieder zu einem lauernden Schwarm. Gancielle musste schlucken. Er konnte die nadelspitzen Zähne der Raubfische sehen, die durch die Lichtbrechung auf der Wasseroberfläche zu grotesken Schlachtwerkzeugen verzerrt wurden.

„Bitte beiß sie, bevor sie mich beißen“, murmelte er Knack zu. Der Knucker glitt direkt neben ihm ins Wasser und streifte seine Wade mit seinem langen, glattschuppigen Körper.

Gancielle tastete sich am Hang des Hügels entlang und arbeitete sich zögerlich voran. Das Wasser war inzwischen trüb geworden, da Craig und Lexa bei ihrer jeweiligen Durchquerung Schlick und Sand aufgewirbelt hatten. Gancielle konnte nicht erkennen, wohin er trat und als er bemerkte, dass sich die Frustration der Bluthechte allmählich in Raserei steigerte, wurde der frühere Kommandant nervös. Immer wieder warf er einen angespannten Blick auf die Stelle, an der sich die blutrünstigen Raubfische versammelten.

Er hatte etwas die Hälfte des Weges zurückgelegt, als es passierte. Weil Gancielle mehr auf die Bluthechte achtete, als auf seine Schritte, rutschte er aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte der Länge nach ins Wasser. Sofort gab es für die Bluthechte kein Halten mehr. Sie vergaßen die Gefahr, die von Knack ausging, und stürzten sich tobend vor Hunger auf ihre Beute. Augenblicklich verwandelte sich die friedliche Oberfläche der Bucht in brodelnde Gischt.

Der Knucker warf sich ihnen zähnefletschend entgegen. Er schnappte hierhin und dorthin, zersplitterte Gräten zwischen seinen kräftigen Kiefern und biss ellenlange Bluthechte in der Körpermitte durch. Sein Schwanz peitschte wütend durch das Wasser und die Raubfische, die er erwischte, wurden meterweit davongeschleudert. Wie flache Steine titschten ihre sich windenden Körper immer wieder auf der Wasseroberfläche auf, ehe sie benommen untergingen. Gancielle rappelte sich prustend auf und zog panisch sein Schwert. Knack drängte sich nahe an ihn, um die rasenden Bluthechte von ihm fernzuhalten, aber es waren so viele und sie waren so flink, dass er nicht alle abfangen konnte. Gancielle erkannte in dem trüben, aufgewühlten Wasser eine Kielwelle, die auf ihn zu kam. Gerade noch rechtzeitig zog er seinen Fuß weg, bevor sich die Kiefer eines ausgewachsenen Bluthechts um seinen Unterschenkel schlossen. Er stieß mit dem Schwert zu und spießte den Fisch auf, doch sofort tauchte der nächste Bluthecht aus dem brodelnden Wasser auf, um nach ihm zu schnappen.

„Lauf!“, rief Lexa alarmiert. Gancielle ließ sich das nicht zweimal sagen. Er nahm die Beine in die Hand und rannte, so schnell er konnte und es das knietiefe Wasser ermöglichte, auf die rettenden Felsen zu.

Sofort schossen die Bluthechte hinter ihm her. Innerhalb von wenigen Wimpernschlägen holten sie ihn ein. Gancielle führte einen wahren Veitstanz auf und riss die Füße bei jedem Schritt so hoch wie möglich aus dem Wasser, um den bissigen Fischen zu entgehen. Ein Bluthecht grub seine Zähne in Gancielles Stiefel. Das robuste Leder bewahrte den früheren Kommandanten vor einer schlimmen Fleischwunde, aber trotzdem bohrten sich die Zähne wie Nadeln in seinen Knöchel. Gancielle kniff vor Schmerz ein Auge zu, während Knack beherzt zuschnappte und den Raubfisch von seinem Bein pflückte. Er lief weiter und kämpfte gegen die Wassermassen an, die gegen seine Oberschenkel schwappten und ihn ausbremsten. Vor sich entdeckte er Lexa, die sich weit über ihren Felsvorsprung lehnte und ihm verbissen die Hand entgegenstreckte. Gischt spritzte ihm ins Gesicht und er drosch in aufkeimender Panik mit dem Schwert auf die brodelnde Wasseroberfläche ein. Die Bluthechte schienen überall gleichzeitig zu sein. Ein junges Exemplar sprang aus den Wellen und verbiss sich mit seinen Zähnen in Gancielles linkem Unterarm. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei und schlug den fleischfressenden Fisch mit einem wilden Schwertstreich entzwei. Dann setzte Gancielle zu einem verzweifelten Hechtsprung an und bekam Lexas ausgestreckte Hand zu fassen. Die Späherin griff sofort nach seinem Arm und Gancielle zischte schmerzerfüllt, als sie ihre Finger direkt auf die frische Bisswunde presste. Aber sie hatte ihn fest im Griff und als Craig ihr zu Hilfe kam, zogen sie den strampelnden Gancielle zu zweit auf den sicheren Felsen.

Der frühere Kommandant rollte sich röchelnd auf den Rücken und hinterließ mit seinem durchnässten Hemd Wasserflecken auf dem Boden. Er zitterte am ganzen Leib und benötigte einige Sekunden, um sich wieder zu beruhigen. Als er sich schließlich stöhnend aufsetzte, hämmerte sein Herz noch immer wie wild in seiner Brust.

„Das war haarscharf“, japste er. „Ohne diesen Knucker hätten mich diese Biester in Sekundenbruchteilen filetiert.“

Fassungslos blickte er auf die Wasseroberfläche. Dort hatte sich das Blatt in dem Moment gewendet, in dem er sich an Land gerettet hatte. Den Bluthechten war ihr Opfer entkommen und nun wurden aus den Jägern die Gejagten. Während Knack Gancielle zuvor noch erbittert verteidigt hatte, schien er jetzt großen Spaß daran zu haben, sich auf die Bluthechte zu stürzen. Ein paar Fische versuchten sich in einem gebündelten Gegenangriff auf den Knucker, doch an seinem Schuppenpanzer bissen sie sich die Zähne aus. Knack schien ihre Kiefer gar nicht zu spüren und trieb die Bluthechte nach Herzenslust durch die Bucht.

„Dann lass es dir mal schmecken, Kumpel!“, rief Craig und hüpfte begeistert auf und ab.

Gancielle zitterte noch immer und atmete tief durch. Lexa griff nach seinem Handgelenk und besah sich die Bisswunde genauer. Auf seinem Unterarm war eine ganze Reihe blutiger Einstiche zu sehen. „Tut es sehr weh?“, erkundigte sich.

Gancielle schloss seine Hand probeweise ein paar Mal zu einer Faust. „Es geht“, brummte er. „Aber wer weiß, mit welchen Krankheiten dieses Mistvieh verseucht war.“

Lexa holte aus ihrer Tasche eine Feldflasche mit Wasser hervor und wusch die Bisswunde sorgfältig aus. Dann nahm sie einen kleinen Flakon hervor und entkorkte ihn. „Das ist das Extrakt aus den Blättern der Sumpfwurz“, erklärte sie. „Es reinigt Wunden und tötet Krankheitserreger.“

Sie träufelte aus dem kleinen Fläschchen ein paar Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit auf die Bisswunde. Das Extrakt schäumte, als es mit dem verletzten Fleisch in Berührung kam und Gancielle verzerrte das Gesicht, als die kleinen Stiche höllisch zu brennen anfingen. Doch Lexa zeigte keine Gnade. Sie wiederholte die schmerzhafte Prozedur an Gancielles Bein, an der Stelle, an der die Zähne des Bluthechts das Leder seiner Stiefel durchdrungen hatte. Sie verkorkte den Flakon und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden.

„An einer Infektion wirst du jetzt schonmal nicht zugrunde gehen“, verkündete sie trocken.

Gancielle lachte heiser. „Ich bin mir manchmal nicht sicher, ob du um mich trauern würdest“, schmunzelte er.

„Das kommt ganz darauf an, wie du abtrittst“, erwiderte Lexa kühl. „Wenn dich deine eigene Dummheit das Leben kostet, würde ich dir vermutlich keine Träne hinterherweinen.“

„Wirklich rührend“, brummte Gancielle und rieb sich das Handgelenk. Das Brennen ließ langsam nach und er glaubte zu erkennen, dass die leichte Rötung der Wundränder bereits zurückging. Trotzdem tat die Bisswunde noch immer weh, wenn er seine Hand bewegte. Gleiches galt für seinen Fuß, auch wenn der Schmerz dort nicht mit dem in seinem Arm zu vergleichen war. Vorsichtig stand er auf und verlagerte sein Gewicht auf das verletzte Bein. Solange er es nicht zu sehr beanspruchen musste, würde ihn die Bisswunde kaum beeinträchtigen.

Knack zog indessen immer noch seine Kreise durch die Bucht. Es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, zwischen die Bluthechte zu fahren und den Schwarm auseinanderzutreiben. Die Raubfische traten endgültig den Rückzug an. Sie drängten fort von den schnappenden Kiefern des Knuckers und retteten sich in Scharen hinaus ins Binnenmeer. Trotzdem machte Knack reichlich Beute. Als er schließlich gesättigt zurück an Land schwamm, hing aus seinem halbgeöffneten Maul die Schwanzflosse eines Bluthechts. Träge schleppte sich der Knucker aus dem Wasser und fläzte sich mit ausgestrecktem Körper auf den nächsten Felsen. Ein herzhaftes Rülpsen entglitt seiner Kehle, dann bettete er seinen Kopf zufrieden auf die Vorderpranken und schloss die Augen.

Craig musste lachen. „Du hast dich wohl überfressen, was?“, grinste er und knuffte Knack freundschaftlich in den prallgefüllten Bauch. „Dieses Festmahl hast du dir auf alle Fälle verdient.“ Der Waisenjunge drehte sich zu Lexa und Gancielle um und lächelte seine beiden Begleiter entwaffnend an. „Ich glaube, mit Knack ist erstmal nichts mehr anzufangen“, verkündete er. „Bevor er sich wieder bewegt, muss er erst sein Frühstück verdauen.“

„Und wie lange dauert das?“, fragte Gancielle ungeduldig und warf einen verstohlenen Blick auf den dösenden Knucker.

Craig kratzte sich an der Wange und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Naja…“, sagte er gedehnt. „Er hat die halbe Bucht leergefressen. Eine Stunde müssen wir mit Sicherheit einplanen.“

„Zu lange“, brummte Gancielle. „Wir gehen ohne ihn weiter.“

„Wie bitte?“, entrüstete sich Craig. „Knack hat Euch gerade eben das Leben gerettet. Ohne ihn wärt Ihr jetzt Fischfutter! Und jetzt wollt Ihr ihn zurücklassen?“

„Versteh mich nicht falsch, Junge“, erwiderte Gancielle und trat nah an Craig heran. „Ich bin deinem kleinen Haustier wirklich dankbar. Aber ich habe in diesen Sümpfen eine Aufgabe zu erledigen und ich kann es mir nicht leisten, auf den Verdauungsschlaf eines Knuckers Rücksicht zu nehmen.“

„Jetzt mach mal halblang, Gancielle“, mischte sich Lexa ein und legte dem früheren Kommandanten eine Hand auf die Schulter. „Knack könnte uns auch weiterhin noch von großem Nutzen sein. Mit bloßer Ungeduld kommst du den Vermissten jedenfalls nicht näher auf die Spur.“ Gancielle blickte mit finsterer Miene trotzig zu Boden, erwiderte aber nichts. Lexa seufzte resigniert. „Du bist ein Dickkopf. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wir sehen uns hier ein wenig um und wenn wir eine eindeutige Fährte entdecken, lassen wir Knack hier zurück, ohne sein wohlverdientes Nickerchen zu unterbrechen. Wenn wir aber nichts finden, bleibt uns keine andere Wahl, als weiterhin auf seine Spürnase zu vertrauen.“

„Meinetwegen“, murrte Gancielle und kickte einen Stein ins Wasser. „Aber wenn wir ohne ihn nicht weiterkommen, werde ich ihn in einer Stunde wecken und keine Sekunde später, verstanden?“

Craig war ebenfalls einverstanden und so ließen sie Knack friedlich schlafen und sahen sich auf dieser Seite der Bucht ein wenig um. Sie befanden sich auf einer kleinen Landzunge, die durch den mächtigen Hügel am Ufer von den stinkenden Sümpfen der Düstermarsch abgegrenzt wurde. Graue, schroffe Felszacken, die über Jahrhunderte hinweg von Wind und Wellen geformt worden waren, ragten wie Bäume aus Stein in die Höhe. Das Gelände war äußerst unübersichtlich und unwegsam und nachdem Craig das erste Hindernis überwunden hatte und noch einmal zurückblickte, war Knack bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden. Der Waisenjunge legte den Kopf in den Nacken und blickte an der steilen Felswand des Hügels empor, der sich über ihm auftürmte. Gewaltige Risse zogen sich durch das Gestein und weiter oben, knapp unterhalb der bewaldeten Kuppe, ragte ein struppiges Geflecht aus krummen Wurzeln aus den Klippen. Die Bäume auf dem Hügel überspannten einen Großteil der Landzunge mit ihrem dichten Blätterdach und spendeten den drei Gefährten Schatten, die tief unter ihnen nach Hinweisen auf die Vermissten suchten.

Lexa stieß auf einen schlammigen, von zahlreichen Stiefeln ausgetretenen Pfad, der zwischen den Felsen hindurchführte. Aufgeregt winkte sie Gancielle und Craig zu sich. „Ich glaube, wir haben hier eine ganz heiße Spur entdeckt“, verkündete sie mit gedämpfter Stimme und deutete mit einem Kopfnicken nach vorn. Dort schwappten einige Wellen auf den Hügel zu, doch es war kein Brandungsgeräusch zu hören. Stattdessen verschwanden die sanften Wogen aus ihrem Blickfeld und das Wasser schien direkt in die aufragenden Klippen hineinzufließen. Lexa tastete sich vorsichtig um einen Felsen herum, dicht gefolgt von Gancielle und Craig, deren leise Atemzüge sie deutlich hören konnte. Und dann tat sich vor ihren Augen eine große Höhlenöffnung auf.

Sie lag direkt hinter den schroffen Felsspitzen und war kaum zu erkennen. Vom Meer aus musste sie vollkommen unsichtbar sein. Das Wasser trieb im gemächlichen Rhythmus der Brandung in die Grotte hinein und glitt mit dem Rückstrom wieder aus ihr heraus. Aus der Höhle kam ein wabernder, bläulicher Lichtschimmer, der von fluoreszierenden Algen an den Wänden herrührte.

Lexa legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete Gancielle und Craig, keine lauten Geräusche zu verursachen. Grimmig ging sie hinter einem spitz aufragenden Felsen in die Hocke und blickte hinauf zu den mächtigen Tropfsteinen, die wie schwebende, übergroße Speerspitzen von der Höhlendecke hingen. Dann spähte sie, so gut es ging, in die Grotte hinein. Von ihrem Standort aus war sie nur schlecht einzusehen. Aber sie erkannte, dass das Wasser, das den Höhlenboden bedeckte und in ständiger, sanfter Bewegung war, einige unangenehme Bewohner beherbergte.

„Bluthechte“, stellte sie verbittert fest. „Diese Mistviecher sind überall.“

„Nicht schon wieder“, knurrte Gancielle genervt.

Craig lugte vorsichtig über die Schulter der Späherin. Deutlich erkannte er die stromlinienförmigen Körper und die langen, rasiermesserscharfen Zähne der Raubfische, die direkt unter der Wasseroberfläche lauerten.

„Sieht so aus, als hätten sie vor gar nicht allzu langer Zeit ein Festessen veranstaltet“, bemerkte Gancielle finster.

Da entdeckte auch Craig die beiden Leichen. Der Brandungsrückstrom hatte sie an einen Felsen auf der anderen Seite des Ufers gespült. Dort hatten sie sich verhakt und schaukelten in der sanften Strömung kaum merklich hin und her. Craig hielt sie zuerst für einen Haufen Treibgut aus alten Lumpen, so zerfleddert waren sie. Doch dann erkannte er, dass es die Überreste zweier Dunkelelfen waren, und sein Magen drehte sich um. Die Bluthechte hatten sich an den beiden Unglücksraben satt gefressen und sie fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Craig war froh, dass er ihre Gesichter nicht sehen konnte, denn das, was die Raubfische übriggelassen hatten, gab einen fürchterlichen Anblick ab. Arme und Beine waren stellenweise bis auf die Knochen abgenagt und die Gerippe waren nur noch von ein paar blutigen Fetzen aus Stoff und Fleisch bedeckt.

Seit dem Piratenüberfall auf seine Heimatinsel wusste Craig ganz genau, wie der Tod aussah, doch er hatte ihn noch nie von einer derart grausamen Seite gesehen. Erst jetzt wurde ihm klar, in welche Gefahr er sich tatsächlich begeben hatte, als er an Knacks Seite durch die Bucht gewatet war. Unwillkürlich sah er sich nach dem Knucker um und wünschte, er hätte ebenfalls ein so robustes Schuppenkleid. Er kannte zahlreiche Geschichten von unschönen Begegnungen mit den mörderischen Raubfischen, aber er hatte sich in seinen schlimmsten Träumen nicht ausmalen können, zu welchen Gräueltaten ein Schwarm von Bluthechten tatsächlich fähig war.

Gancielle hatte unfassbares Glück gehabt, den blutrünstigen Fischen entkommen zu sein. Er hatte es gerade noch rechtzeitig ans Ufer geschafft. Hätte er nur wenige Sekunden länger gebraucht, wäre der Schwarm erbarmungslos über ihn hergefallen und hätte ihn ebenso zerfetzt, wie die beiden bemitleidenswerten Dunkelelfen.

„Ob sie ausversehen ins Wasser gefallen sind?“, hauchte Craig und starrte mit angstgeweiteten Augen auf die zerrissenen Körper, die in der leichten Brandungsströmung seltsam friedlich auf und ab wippten. „Oder wurden sie gestoßen?“ Beim bloßen Gedanken daran, dass jemand so grausam sein konnte, zwei Dunkelelfen in ein Gewässer voller hungriger Bluthechte zu stoßen, lief ihm ein Schauer über den Rücken.

„Tja, wer weiß das schon?“, erwiderte Lexa leise. „Hoffen wir für diese armen Seelen, dass sie schon tot waren, bevor sie ins Wasser gefallen sind.“

Craigs Gesicht wurde weiß wie ein Bettlaken. In diesem Moment konnte sich der Waisenjunge nichts Schlimmeres vorstellen, als bei lebendigem Leibe gefressen zu werden. Sein Magen fühlte sich an, als wollte er sich nach außen stülpen. Falls der Anblick der Toten Gancielle und Lexa ähnliche Übelkeit bereitete, ließen sich die beiden davon nichts anmerken.

„Gehören…gehören die beiden…zu den Vermissten?“, fragte Craig stockend. Bei jedem Wort fürchtete er, dass er sich übergeben musste.

Lexa zuckte mit den Schultern. „Ich befürchte, dass man die Leichen unmöglich identifizieren kann“, murmelte Lexa. „Besonders viel haben die Bluthechte nicht übriggelassen.“

Craig zwang sich, den Blick von den Überresten der Toten abzuwenden, und starrte stattdessen auf die klare Wasseroberfläche am Höhleneingang. Die Bluthechte stierten gierig zu ihm hinauf, als wollten sie ihm sagen, dass er das nächste Opfer auf ihrer Liste war. Der Waisenjunge musste sich setzen. Mit weichen Knien ließ er sich an einem Felsen zu Boden sinken.

„Soll ich Knack holen?“, fragte er tonlos.

„Was ist denn los mit dir?“, brummte Gancielle. „Du bist auf einmal so blass um die Nase. Verträgst du etwa die Küstenluft nicht?“

Obwohl die Stimme des früheren Kommandanten so ernst und grimmig wie eh und je klang, und Craig vor Übelkeit der Kopf schwirrte, entging dem Waisenjungen nicht, dass man sich über ihn lustig machte. Er blitzte Gancielle wütend an und sofort bekam sein Gesicht wieder ein wenig Farbe in Form einer zarten Zornesröte.

„Tut nicht so, als wäre es vollkommen normal, dass Leute bis auf die Knochen abgenagt werden!“, zischte er ärgerlich und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die beiden Leichen, wobei er es vermied, die Toten anzusehen. „Das ist es nämlich überhaupt nicht!“

„Ich glaube nicht, dass du Knack wecken musst“, mischte sich Lexa ein und unterband dadurch ein aufkeimendes Wortgefecht. „Es sieht so aus, als könnte man die Grotte trockenen Fußes betreten. Dort drüben führt ein schmaler Steinsims direkt an der Höhlenwand entlang. Er sieht allerdings ziemlich glitschig aus, also passt auf eure Schritte auf!“

„Ihr wollt, dass wir die Höhle betreten?“, flüsterte Craig ungläubig.

„Ganz genau“, verkündete Lexa gedämpft und griff in den plattgetretenen Schlamm zu ihren Füßen. „Diese Spur ist so eindeutig, dass ihr selbst ein blinder Veilchenfisch folgen könnte. Und sie führt direkt in die Grotte. Wer auch immer hier entlang getrampelt ist, hat den Uferschlamm unter seinen Stiefelsohlen bis zum Höhleneingang geschleppt. Irgendjemand hat sich dort drin verkrochen.“

„Glaubt Ihr etwa, Vance und die anderen Vermissten verstecken sich hier?“, hauchte Craig. Sein Herz schlug ihm vor Aufregung bis zum Hals.

„Möglich“, erwiderte Lexa leise. „Immerhin hat uns Knacks Nase hierhergeführt. Aber hier sind zu viele Stiefelabdrücke. Die stammen unmöglich nur von den Vermissten. Außerdem bezweifle ich, dass verstecken der richtige Begriff ist.“

„Wie meint Ihr das?“, fragte Craig und hielt gespannt den Atem an.

„Finden wir es heraus!“, verkündete Lexa entschlossen und stand auf. „Und Gancielle…tu mir einfach den Gefallen und versuch, diesmal nicht ins Wasser zu fallen, verstanden?“

In der Sturmerzmine wurden die Gefangenen am frühen Morgen rüde geweckt. Mola schlug mit der flachen Klinge ihres Säbels heftig gegen die Gitterstäbe und gackerte boshaft, als die erschöpften Sklaven durch das laute Dröhnen unsanft aus dem Schlaf gerissen wurden.

„Hoch mit euch, ihr faulen Hunde!“, rief sie höhnisch und sperrte die Zellentür auf. Die meisten Gefangenen stöhnten gequält, als die Schmuggler den Verschlag betraten und sie an ihren Ketten grob auf die Beine zerrten.

„Der hier hat’s hinter sich“, meldete einer der Banditen und stieß einen am Boden liegenden Dunkelelfen auf, der sich nicht rührte. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag ein merkwürdig friedlicher Ausdruck.

Mola warf einen ungerührten Blick auf den Toten und zuckte die Schultern. „Dann lasst ihn liegen“, brummte sie. „Ich werde mich darum kümmern, dass er entsorgt wird.“

Vox begann am ganzen Leib zu zittern. Seine Ketten klirrten und er rang verzweifelt die Hände. Mit blutunterlaufenen Augen starrte er den Leichnam an, der nur wenige Meter neben ihm auf dem Boden lag.

„Bitte, habt Erbarmen!“, jammerte er panisch. „Ich bin vollkommen erschöpft. Mir tut alles weh! Ich will nicht sterben!“

Mola versetzte Vox einen brutalen Tritt, der ihn der Länge nach zu Boden streckte. „Erspar mir dein Gewinsel!“, knurrte sie verärgert und deutete auf den Toten. „Der Kerl hat hier schon seit Wochen geschuftet und du bist noch nicht einmal seit einem Tag hier.“

Vox krümmte sich vor Schmerzen und verbarg das Gesicht in den Händen, doch das konnte ihn nicht vor den Schmugglern schützen. Zwei Dunkelelfen griffen ihm unter die Arme und hoben ihn wieder auf die Beine. Die anderen Gefangenen verstummten bekümmert. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich ihre Hoffnungslosigkeit und sie folgten den Anweisungen ihrer Kerkermeister widerstandslos, obwohl die meisten von ihnen kaum noch aufrecht gehen konnten. Nicht einmal Wuleen, der normalerweise jede Gelegenheit ausnutzte, um den Banditen gegenüber gewalttätig zu werden, war plötzlich ganz zahm. Hass loderte in seinen Augen auf und er ballte seine Hände zu Fäusten, aber er ging nicht auf seine Peiniger los.

Ratford sah mit verbitterter Schweigsamkeit zu, wie die Schmuggler einen Gefangenen nach dem anderen aus der Zelle holten. Als er selbst an der Reihe war, musste er einmal mehr sein Verlangen unterdrücken, die Dunkelelfen mit seinen Ketten zu erdrosseln. Grimmig senkte er den Kopf und blickte sich verstohlen nach Lazana um. Die Fesseln aus Schleierstahl an ihren Handgelenken setzten seiner Gefährtin übel zu. Er selbst hatte sich durch die wenigen Stunden Schlaf ein bisschen erholen können, aber Lazana wirkte noch immer vollkommen erschöpft. Sie gab sich tapfer und standhaft, aber Ratford wusste genau, wie schlecht es um sie stand. Die Ketten raubten ihr nicht nur die magische Energie, sondern auch ihre Körperkraft. Lange würde sie nicht mehr durchhalten und wenn man sie nicht bald von ihren Fesseln erlösen würde, endete sie genauso wie der bemitleidenswerte Dunkelelf, der im Schlaf verstorben war. Von den Schmugglern war ein solcher Akt der Gnade allerdings nicht zu erwarten.

Sein Blick streifte Vance. Der Dorashen war der einzige, der die Kraft hatte, die Gefangenen zu befreien, aber er weigerte sich stur, gegen die Banditen aufzubegehren. Ratford wusste genau, dass eine Rebellion in einem blutigen Gemetzel enden würde, aber er selbst ging lieber kämpfend zugrunde, als irgendwann vor Erschöpfung tot umzufallen. Aber Vance schien andere Absichten zu haben.

Die Schmuggler führten ihre Gefangenen zurück in die große Sturmerzhöhle und wiesen jeden einzelnen Sklaven einer Schürfstelle zu. Ratford hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass der Anblick der Mine möglicherweise für unbestimmte Zeit das einzige war, das er zu sehen bekam. Mit finsterem Gesichtsausdruck trottete er auf eine Stelle an der Höhlenwand zu, aus der ein Brocken Sturmerz herausragte. Die Schmuggler gaben ihm und seinen Mitgefangenen ihre Spitzhacken zurück. Einer der Aufseher ließ seine Peitsche knallen und gab damit das Signal zum Beginn der Akkordarbeit. Sofort war die Höhle erfüllt vom rhythmischen Klopfen der Spitzhacken, das aber schon nach kurzer Zeit immer wieder von erschöpftem Stöhnen unterbrochen wurde.

Der Klang der zuschlagenden Pickel und das Geräusch auf den Boden fallender Gesteinssplitter kam Ratford bereits erschreckend vertraut vor. Die Arbeit in der Mine war nicht nur unglaublich anstrengend, sondern auch fürchterlich monoton. Der Ablauf war immer der gleiche. Die Gefangenen schlugen auf die Höhlenwände ein, bis sich ein Brocken Sturmerz aus dem Gestein löste. Dann sprang sofort einer der aufmerksamen Schmuggler herbei, sammelte das wertvolle Metall ein und verstaute es in einer der Kisten, die sich in der Höhle stapelten. Hin und wieder machte einer der Aufseher einem Gefangenen, der vor Erschöpfung oder Schmerzen nicht mehr konnte, mit knallender Peitsche Beine. Meist reichte das Geräusch allein aus, um die Sklaven ihre schwindenden Kräfte vergessen zu lassen. Angst war ein starker Antrieb. Aber Hass ebenfalls.

Ratford hatte inzwischen begriffen, dass es ratsam war, seine angestaute Wut einfach an den Höhlenwänden auszulassen. Dadurch konnte er seinem Zorn Luft machen und hielt sich gleichzeitig die Aufseher vom Hals, die nur darauf warteten, von ihren Peitschen Gebrauch machen zu können. Mit verbissenem Gesicht schlug er auf die Sturmerzader ein. Splitter stoben in alle Himmelsrichtungen davon.

Bereits viermal waren die Banditen zu ihm gekommen, um das von ihm abgetragene Sturmerz einzusammeln, als Ratford bemerkte, dass etwas anders war. Misstrauisch blickte er sich in der Höhle um. Ihm fiel auf, dass deutlich weniger Schmuggler anwesend waren, als in den vergangenen Tagen. Unauffällig rückte er näher an Lazana heran.

„Ist dir schon aufgefallen, dass die Zahl unserer Aufpasser geschrumpft ist?“, zischte er ihr zu.

Die blonde Eismagierin nickte kraftlos. Ratford zerkaute sich vor Sorge die Unterlippe, als er sah, wie sehr ihre Hände zitterten, wenn sie die Spitzhacke über ihren Kopf hob. „Ja“, sagte sie müde. „Einige von ihnen sind fort. Heute Nacht habe ich im Halbschlaf gehört, wie sich die Wachen darüber unterhalten haben, dass ein Großteil der Bande die Mine verlassen hat.“

Ratfords Augen glommen hoffnungsvoll. „Das ist ja interessant“, murmelte er. Schnell zählte er, wie viele Schmuggler er sah. Es waren nur etwas mehr als ein Dutzend. Vermutlich verbargen sich tiefer in den Stollen noch weitere Banditen und der Eingang wurde bestimmt auch bewacht. Die genaue Zahl der Schmuggler, die sich noch in der Höhle befanden, blieb ihm verborgen, aber in der Mine selbst waren es nur halb so viele Aufseher, wie für gewöhnlich.

Ratford war auf einmal ganz aufgeregt und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass er sich verdächtig machte, wenn er kein Erz hackte. Rasch hob er die Spitzhacke und trieb sie mit einem kräftigen Hieb in die Felswand. Dabei bewegte er sich langsam zur anderen Seite. Dort arbeitete Vance und hatte schon wieder ein beträchtliches Loch ins Gestein geschlagen.

„Hast du das gehört?“, flüsterte er ihm zu. „Ein Teil der Schmuggler hat die Höhle verlassen.“

„Und jetzt willst du mich wieder davon überzeugen, dass das eine perfekte Gelegenheit ist, um euch alle zu befreien“, schloss Vance monoton, ohne ihn anzusehen.

Ratford knirschte verärgert mit den Zähnen. „Verdammt nochmal!“, zischte er. „Heute Nacht ist jemand gestorben, weil er sich zu Tode gearbeitet hat. Der Rest dieser armen Seelen wird ihm bald folgen, wenn nicht endlich jemand etwas unternimmt. Und du bist in Solas Namen der einzige, der die Kraft hat, uns zu helfen. Du musst dich ja nicht mit diesen Kerlen anlegen, wenn du das nicht willst. Aber wenn du uns wenigstens die Ketten abnehmen würdest, könnten wir uns unseren Weg nach draußen selbst freikämpfen!“

„Wenn das tut, gibt es ein Blutbad“, gab Vance zurück. „Auch wenn ich euch die Ketten abnehmen würde, sind sie immer noch deutlich in der Überzahl. Und sie haben Waffen. Ihr würdet keine zehn Meter weit kommen.“

In der Nähe ertönten ein Peitschenhieb und ein schmerzerfüllter Schrei. Offenbar hatten die Aufseher einen Sklaven dabei erwischt, wie er sich eine kurze Ruhepause gegönnt hatte. Die anderen Gefangenen richteten ihre Blicke mit ausdruckslosen Gesichtern auf die Felswand, aus Angst, sie könnten die Peitsche als nächstes zu spüren bekommen, wenn sie zu auffällig gafften.

Ratford schwieg eine Weile, bis der Aufseher zurück an seinen Platz gegangen war und sich der bestrafte Sklave mit leisem Wimmern wieder an die Arbeit machte. Dann beugte er sich näher zu Vance herüber. „Wenn wir gar nichts tun, kommen wir auch nicht aus der Höhle heraus“, brummte er finster. „Du hältst diese Tortur vielleicht durch, bis es hier keinen einzigen Krümel Sturmerz mehr gibt. Aber alle anderen nicht. Wir werden hier sterben wie die Fliegen, wenn kein Wunder geschieht. Ich dachte, du willst nicht verantwortlich für den Tod Unschuldiger sein, oder habe ich mich da gestern verhört?“

Vance wagte es, seine Spitzhacke sinken zu lassen. Er erstarrte zu Stein und biss sich auf die Unterlippe. Ratford erkannte, dass sich die Zweifel im Kopf des jungen Dorashen ausbreiteten. „Wir sind die Unschuldigen“, fuhr er fort und pochte sich mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Und das dort sind die Mistkerle. Eigentlich sollte dir die Wahl nicht allzu schwerfallen.“

„He, du!“ Ratford wandte sich sofort ab, als Ratz‘ Stimme ertönte. Der Aufseher kam mit hochrotem Kopf angerannt, blieb in einiger Entfernung stehen und zeigte anklagend auf Vance. „Geh sofort wieder zurück an die Arbeit!“

Jeder andere Gefangene hätte sofort die Peitsche zu spüren bekommen. Aber vor Vance hatten sie alle Respekt.

Vance tat Ratz den Gefallen und hob wieder seine Spitzhacke. Der Oberaufseher schien zufrieden und stolzierte mit wichtigtuerischer Miene hinter den Sklaven auf und ab. Ratford beobachtete den Oberaufseher aus den Augenwinkeln und wartete, bis er sich entfernt hatte. Dann räusperte er sich leise. „Also, was ist?“, flüsterte er Vance zu. „Hilfst du uns nun oder überlässt du uns alle unserem Schicksal?“

Vances Spitzhacke traf die Erzader und erschütterte die ganze Wand. Kleine Steine lösten sich und rieselten auf seine Schuhsohlen. „Nicht hier und nicht jetzt“, murmelte er. „Zu viele Wachen. Aber heute Nacht werde ich euch nach Kräften unterstützen, von diesem Ort zu entkommen.“

Ratford atmete hörbar auf. „Endlich kommst du zu Vernunft“, seufzte er erleichtert. „Es wurde aber auch Zeit.“ Vorsichtig bewegte er sich um den Erzklumpen herum, den er gerade bearbeitete, und lehnte sich zu Lazana herüber.

„Vance will uns helfen“, flüsterte er ihr verschwörerisch zu. „Heute Nacht holt er uns hier raus!“

Die blonde Magierin wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der blassen Stirn und lächelte müde. „Das sind gute Nachrichten“, sagte sie leise. „Und es ist clever von ihm, erst heute Nacht aktiv werden zu wollen. Mit den wenigen Banditen, die vor dem Sklavenverschlag Wache halten, sollten wir fertig werden. Aber ich werde euch nicht unterstützen können, solange ich diese Fesseln trage.“ Hilflos hob sie die Hände und blickte traurig auf die metallenen Ketten, die ihre magischen Kräfte unterdrückten.

„Dafür finden wir schon eine Lösung“, erwiderte Ratford zuversichtlich. „Berichte Ahravi von den guten Neuigkeiten, aber sag sonst zu niemandem ein Wort. Ich will nicht, dass sich einer der anderen Sklaven verplappert. Dann wäre alles aus.“
 

Etwas abseits stand Mola und beobachtete mit verschränkten Armen das Treiben in der Sturmerzhöhle. Einige ihrer Spießgesellen waren bei ihr, darunter auch Balam und ihre Tochter Vela. Gemeinsam umringten sie einen von Fjedors Männern, der in der vergangenen Nacht beim Beladen der Sirene geholfen hatte. Jetzt kauerte er verängstigt auf dem Boden und starrte zitternd auf Molas Säbel, der gefährlich nahe an seinem rechten Ohr schwebte, während Vela und Balam in die abzweigenden Gänge spähten.

„Sieh an, sieh an, Fjedor geht mit Brynne also auf einen Raubzug und erzählt uns davon kein Sterbenswörtchen“, schnurrte Mola mit betont aufgesetzter Freundlichkeit, während sie ihren Säbel durch das Haar des Dunkelelfen wandern ließ. Ihre Ratte strich ihr wie eine Katze um die Beine und fiepste aufgeregt. „Na sowas, was soll ich denn davon halten?“

Der Dunkelelf nickte und seine Augenlider flatterten panisch. „Ich schwöre es, das ist die Wahrheit“, japste er mit heiserer Stimme.

„Wohin sind sie unterwegs?“, fragte Mola mit noch immer freundlichem Gesichtsausdruck.

Der Dunkelelf zuckte zusammen. „Genau weiß ich das nicht“, antwortete er hastig und seine Stimme drohte sich zu überschlagen. „Aber…aber sie haben irgendetwas von den Wolkenbergen erzählt.“

Jetzt verschwand das gekünstelte Lächeln auf Molas faltigem Gesicht. „Fjedor, diese schleimige Sumpfkröte!“, schnaubte sie verächtlich. „Er gönnt uns wohl die Beute nicht.“

„Ich glaube, er hat es nur deswegen geheim gehalten, weil er nicht wollte, dass Yarshuk davon erfährt“, sagte der Dunkelelf hoffnungsvoll.

„Ach, so ein Quatsch!“, fuhr ihm Mola über den Mund. Der Dunkelelf duckte sich ängstlich, als hätte sie ihn geschlagen. „Fjedor ist gieriger als ein Schwarm ausgehungerter Bluthechte. Er will so wenig wie möglich von seiner Beute abgeben, das ist alles! Aber er wird sich noch umsehen, das schwöre ich!“

Das Aufatmen des Dunkelelfen war deutlich zu hören, als Mola ihren Säbel von seinem Ohr nahm.

„Hast du etwas bestimmtes vor?“, fragte Vela. Seit Fjedor fort war, hatte Mola ihr einen der Schlüssel für die Fesseln der Sklaven überlassen und sie zu einer Aufseherin ernannt. Jetzt platzte sie fast vor Stolz darüber, dass ihre Mutter ihr endlich die Anerkennung schenkte, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte. Sie streifte Balam mit einem höhnischen Blick. Er hatte keinen Schlüssel bekommen. Offenbar wollte Mola ihm eine derartige Verantwortung nicht übertragen, so sehr er auch an ihrem Rockzipfel hing.

Mola spähte verstohlen in die Mine. „Allerdings“, antwortete sie grimmig. „Ich glaube, dass Fjedor hier die längste Zeit das Sagen hatte. Wir sollten die Gunst der Stunde nutzen und das Zepter an uns reißen. Fjedor ist mit mehr als der Hälfte der Bande fort und wenn sie wirklich in die Wolkenberge ziehen, dauert es ein paar Tage, bis sie wieder zurück sind. Und dann lassen wir sie einfach nicht mehr in die Mine.“ Mola kicherte hämisch und rieb sich zufrieden die Hände. „Dann machen wir den ganzen Zaster mit dem Schmuggel! Und es gibt keinen Wichtigtuer mehr, der sich einen Großteil des Erlöses unter den eigenen Nagel reißt.“

„Du willst dich gegen Fjedor wenden?“, fragte Balam überrascht. Der Dunkelelf, den Mola verhört hatte, japste erschrocken, doch Vela mischte sich ein und brachte ihn mit einem vernichtenden Blick zu schweigen.

„Warum denn nicht?“, fragte sie. „Er hat uns schließlich lange genug herumkommandiert. Ohne uns wäre er niemals so weit gekommen. Es wird Zeit, dass sich etwas ändert!“

„Fjedor hat über die Hälfte seiner Leute bei sich“, gab Balam zu bedenken. „Wir können nicht sicher sein, dass sie sich gegen ihn stellen. Und wenn nicht, gibt es ein Gemetzel, deren Ausgang wir unmöglich vorhersehen können. Wenn wir scheitern, ist unser Ende besiegelt.“

„Oh, mach dir deshalb keine Gedanken“, rief Mola listig. „Ich werde einfach unseren orkischen Freund um Hilfe bitten. Sein hochverehrter Brigadegeneral soll uns ein paar seiner Soldaten zur Unterstützung schicken. Es dürfte schließlich auch in seinem Interesse sein, diesen großspurigen Mistkerl Fjedor auszubooten.“

„Und uns gleich mit dazu“, murmelte Balam zweifelnd.

„Du solltest wirklich aufhören, Molas Pläne in Frage zu stellen“, rief Vela tadelnd und sah den dunkelelfischen Magier erzürnt an. „Sie wird dafür sorgen, dass wir wieder an der Spitze der Gesetzlosen von Adamas stehen, so wie es war, bevor dieser Wurm Fjedor hier aufgetaucht ist.“

Balam hob entwaffnend die Arme. „Schon gut“, brummte er. „Ich wollte damit ja nur sagen, dass man diesem Ork nicht trauen darf.“

„Das tue ich auch nicht“, sagte Mola kühl. „Sobald es die ersten Anzeichen gibt, dass er uns ans Messer liefern will, machen wir uns mit der Beute aus dem Staub. Dann kann Loronk zusehen, wie er alleine mit den ganzen Schürfern klarkommt. Im Augenblick braucht er uns jedenfalls noch.“

Vela kicherte boshaft. „Das ist genial“, freute sie sich. „Ich kann es gar nicht erwarten, Fjedors Gesicht zu sehen, wenn ihm klar wird, dass er hier überhaupt nichts mehr zu sagen hat.“

„Ein winziges Problem gibt es da allerdings noch“, warnte Mola beiläufig. „Ratz darf nichts davon mitbekommen. Diese kleine Pestbeule frisst Fjedor aus der Hand wie ein abgerichteter Warg. Es wäre wahrscheinlich das Beste, wenn wir ihn unauffällig aus dem Weg räumen würden. Am besten kümmern wir uns heute Nacht darum.“

Die umstehenden Gauner, allen voran Vela, taten mit grimmigem Nicken ihre Zustimmung kund. Auf Molas Gesicht erschien ein unheilverkündendes Lächeln, als sie sich zu dem verängstigten Dunkelelfen herunterbeugte. „Du bist zwar einer von Fjedors Leuten, aber du wirst doch bestimmt nicht so dumm sein, Ratz von unseren Plänen zu erzählen, oder?“

Der Dunkelelf fing an, am ganzen Leib zu zittern. Mit angstgeweiteten Augen starrte er Mola an, die mit einem Finger über die Klinge ihres Säbels fuhr. „Nein, nein, ganz bestimmt nicht“, versicherte er flehend. „Ich werde schweigen wie ein Grab.“

„Oh, das wirst du“, lächelte Mola und nickte Balam zu. „Da bin ich mir ganz sicher.“

In den weit aufgerissenen Augen des Dunkelelfen spiegelte sich blankes Entsetzen, als Balam hinter ihn trat und ihm eine Hand auf den Mund presste. Mola senkte den Säbel und stieß ihn direkt in die schmale Brust des Unglücksraben. Mit einem erstickten Wimmern erschlaffte sein Körper und als Balam ihn losließ, fiel er leblos zu Boden. Die Ratte piepste erfreut.

„Das wäre erledigt“, sagte Mola gehässig und wischte die blutbesudelte Klinge an der Kleidung des Getöteten blank. Mit einer geschickten Bewegung schob sie den Säbel zurück in den Gürtel, rieb sich zufrieden die Hände und grinste breit. „Jetzt müssen wir nur noch dafür sorgen, dass die Zugänge zur Mine bewacht werden. Ich will frühzeitig über Fjedors Rückkehr Bescheid wissen, damit wir ihm einen gebührenden Empfang bieten können. Vela, du löst mit vier Gehilfen die Wachen am Eingang zur Grotte ab. Da könnt ihr dann auch gleich diesen Trottel hier entsorgen.“ Verächtlich versetzte sie dem Toten zu ihren Füßen einen Tritt. „Aber vorher macht ihr noch einen Abstecher zum Sklavenverschlag. Dort findest du noch eine Leiche. Einer der Arbeiter hat den Löffel abgegeben. Kümmere dich darum! Wirf die beiden den Bluthechten zum Fraß vor, bevor sie noch anfangen zu stinken.“

Vela war anzusehen, dass sie sich eine andere Aufgabe erhofft hatte, doch sie beschwerte sich nicht, sondern nickte beflissen, ehe sie willkürlich auf vier Banditen deutete und sie als Wachen auswählte. Zwei von ihnen traten mit angewiderten Gesichtern vor und hoben denn Leichnam des Dunkelelfen auf. Dann folgten sie Vela, die zusammengekniffenen Lippen in Richtung Sklavenverschlag davonstolzierte.

Mola ging in die Knie und strich ihrer Ratte durch das filzige Fell. „Und wir statten Yarshuk einen Besuch ab“, flüsterte sie dem räudigen Nager zu und nahm ihn auf den Arm. Die Ratte piepste protestierend, beruhigte sich aber augenblicklich, als Mola die Streicheleinheit fortsetzte. „Balam, du kommst mit mir. Und ihr fünf auch. Der Rest kann es sich vorrübergehend gemütlich machen. Aber wehe ihr kippt euch einen hinter die Binde. Betrunkene Dunkelelfen quatschen zu viel und so jemanden kann ich gerade wirklich nicht brauchen.“
 

Seit Loronk die Banditen aufgestöbert hatte, lebte sein treuer Fähnrich Yarshuk unter den Gesetzlosen und sorgte dafür, dass der Schmuggel nach den Wünschen des Brigadegenerals lief. Er überprüfte regelmäßig die Menge des abgetragenen Sturmerzes und den Erlös, den Veit lieferte. Der Ork war den Banditen ein Dorn im Auge, aber sie konnten nichts gegen ihn unternehmen. Wenn sie ihn aus dem Weg räumten, würde Loronk ihre Zusammenarbeit augenblicklich beenden und sie ans Messer liefern.

Yarshuks Lager befand sich in einem kleinen Nebenraum abseits der großen Wohnhöhle, in der sich Fjedors Lumpenpack tummelte. Ein paar gestapelte Kisten dienten ihm als Tisch. Darauf standen ein Tintenfass samt Feder und ein silberner Kerzenständer, der die kleine Höhle in flackerndes Licht hüllte. Daneben lag ein sorgfältig gestapelter Haufen Papier, der mit einem großen Stein beschwert wurde. In regelmäßigen Abständen informierte er Loronk schriftlich über die Situation in der Mine. Seine Botschaften waren bislang immer von Gilroy überbracht worden, der sich mit seinem kleinen Fischerboot ungesehen zwischen dem Hafen und der Grotte bewegen konnte. Jetzt hatte sich der Dunkelelf mit seinem Meister nach Norden begeben, aber Mola war sich sicher, dass der Ork eine neue Möglichkeit finden würde, Loronk auf dem Laufenden zu halten.

Als Mola mit ihrer Schar von zerlumpten Halsabschneidern unangemeldet in seine Kammer platzte, griff Yarshuk sofort nach seiner Axt. In seiner Lederrüstung mit dem Wappen des Kaiserreichs gab er ein beeindruckendes Bild ab. Seine Arme waren so dick, wie die Stämme von Kirschbäumen und er überragte die Dunkelelfen, die ebenfalls von großem Wuchs waren, um einen ganzen Kopf. Misstrauisch beäugte er die Banditen und sein kantiger Unterkiefer mit den hervorstehenden Eckzähnen mahlte angriffslustig.

„Was wollt ihr hier?“, fragte er grollend.

Molas Ratte fauchte ihn gehässig an. Mola selbst hob entwaffnend einen Arm und verzog die Falten ihres Gesichts zu einem gewinnenden Lächeln. „Komm schon“, sagte sie gelassen. „Begrüßt man so eine Geschäftspartnerin?“

Mola hielt von Loronk und Yarshuk genauso wenig, wie der Rest der Schmuggler. Genau genommen verabscheute sie die beiden Orks sogar und sie wusste, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, doch nach den neuesten Entwicklungen hatte sie erkannt, dass sie Yarshuk zu ihrem Vorteil nutzen konnte.

Yarshuk schnaubte verächtlich. „Spar dir dieses schmierige Geschwätz“, knurrte er, aber seine angespannte Haltung lockerte sich und er ließ die Axt sinken. Trotzdem zeigte eine Ader auf seiner Stirn, die pulsierend hervortrat, deutlich an, dass sein Geduldsfaden in Bälde zu zerreißen drohte. „Sag, was du von mir willst, oder verschwinde mit deinem Pack!“

„Schon gut, schon gut“, erwiderte Mola souverän und genoss es sichtlich, Yarshuk hinzuhalten. „Ich dachte nur, ich bringe dich auf den neuesten Stand. Du lebst hier so zurückgezogen, dass du überhaupt nicht mehr mitbekommst, was in der Mine vor sich geht.“

„Wovon sprichst du?“

„Vielleicht ist es dir entgangen, aber die Wohnhöhle hat sich seit gestern Nacht ziemlich geleert“, sagte Mola. „Ich habe den Eindruck, dass Fjedor die Mine verlassen hat.“

Auf Yarshuks Gesicht erschien ein höhnisches Grinsen. „Oh, offenbar schlägt dir das Alter allmählich doch auf das Gedächtnis“, spottete er. „Hast du schon vergessen, dass uns Fjedor darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass er Brynne Geleitschutz durch die Düstermarsch geben will? Du solltest froh sein, dass wir diesen Verrückten endlich los sind, und hier nicht so eine Welle machen! Scheinbar wirst du langsam senil.“

Molas Finger fuhren schneller und ruppiger durch das Fell ihrer Schoßratte. „Ha!“, lachte sie. „Besser, ein Gehirn, das nicht immer ganz rund arbeitet, als gar keines! Geleitschutz für Brynne, dass ich nicht lache! Hast du dich noch gar nicht darüber gewundert, dass Fjedor gleich einen Großteil seiner Leute abgestellt hat und sich sogar höchstpersönlich dazu bequemt hat, Brynne zu begleiten. Ein ziemlich großer Aufwand, findest du nicht? Noch dazu so auffällig.“

Yarshuk glotzte sie eine Weile mit einer Mischung aus Verwirrung und unverhohlenem Hass an, dann klappte er langsam den Mund auf. „Was willst du damit sagen?“

„Ach, eigentlich gar nichts“, sagte Mola spöttisch. „Nur, dass diese ganze Nacht- und Nebelaktion nur ein Vorwand war, um die Mine zu verlassen. In Wahrheit hat sich Fjedor auf einen Raubzug begeben, von dem du und dein verehrter Brigadegeneral nichts mitbekommen sollt.“

„Vorwand?“, brummte Yarshuk und starrte Mola misstrauisch an. „Raubzug? Wie kommst du auf diese absurde Idee?“

Mola ließ ihren Blick teilnahmslos durch Yarshuks kleine Kammer schweifen. „Das ist keine Idee“, erwiderte sie. „Ich weiß es. Einer der Träger hat gehört, wie sich Fjedor mit Veit darüber unterhalten hat.“

Sie konnte sehen, wie Yarshuks zweiflerische Miene Risse bekam und allmählich wutverzerrten Gesichtszügen wich. Er grunzte verärgert und nahm auf einer Kiste Platz. Das feuchte Holz knarzte unter seinem Gewicht leise. Yarshuk knetete nachdenklich seine kräftigen Hände. „Schön. Und wohin verschlägt es unseren Räuberhauptmann?“

„Sie sind nach Norden gesegelt“, antwortete Mola.

„Will dieser Idiot etwas Khaanor überfallen?“, schnaufte Yarshuk empört. „Da kann er sich genauso gut gleich beerdigen lassen.“

„So dämlich ist nicht einmal Fjedor“, entgegnete Mola und kraulte ihrer Riesenratte den Kopf. Der hässliche Nager piepste vergnügt. „Sein Ziel liegt irgendwo in den Wolkenbergen.“

„Die Wolkenberge?“, murrte Yarshuk skeptisch und betrachtete Molas Schoßtier voller Abscheu. „Was will er denn da? Die wenigen Siedlungen dort sind verlassen. Dort gibt es nichts außer kahle Berghänge und haufenweise Harpyien. Und der einzige Ort, der noch bewohnt ist, ist der Tempel dieser merkwürdigen Priester.“

„Dann gibt es dort vermutlich was zu holen“, mutmaßte Mola. „Das ist ja auch völlig egal. Fakt ist jedenfalls, dass Fjedor die Mine verlassen hat, um fette Beute zu machen. Für ein paar läppische Goldmünzen würde er seinen Hintern niemals in Bewegung setzen.“

„Was erlaubt sich diese erbärmliche Seepocke?“, grollte Yarshuk wütend. Mola musste ein triumphierendes Grinsen verbergen. Sie hatte damit gerechnet, dass der Ork die Nachricht von Fjedors Vorhaben ganz und gar nicht gefallen würde. Und jetzt hatte sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte.

„Er kriegt den Hals wohl nicht voll, was?“, entrüstete sich Yarshuk und schlug mit beiden Fäusten so heftig auf seinen Tisch, dass Molas Ratte erschrocken quiekte und ihre Gehilfen zusammenzuckten. „Warum lässt er sich jetzt zu einem Raubzug überreden? Damit wird er jeden Soldaten in Adamas auf sich aufmerksam machen! Er gefährdet unseren Schmuggel, und ausgerechnet jetzt, wo das Geschäft so gut läuft! Loronk wird explodieren vor Zorn!“

Mola ließ Yarshuk eine Weile toben. Balam und die anderen Dunkelelfen traten nervös von einem Bein auf das andere und hielten sich sicherheitshalber hinter ihrer Anführerin.

„Ich sehe diese Angelegenheit ähnlich“, sagte Mola schließlich schmeichlerisch. „Fjedor hat den Bogen überspannt. Es ist an der Zeit, dass wir die Kontrolle an uns reißen!“

„Dein Ton gefällt mir nicht, Blassgesicht“, knurrte Yarshuk lauernd und musterte Mola eingehend. „Aber offensichtlich sind wir einer Meinung, was Fjedor betrifft. Wie stellst du dir diesen Umsturzversuch vor?“

„Oh, das dürfte ein Kinderspiel werden“, erwiderte die Alte und grinste schadenfroh. „Fjedor ist und bleibt ein Feigling, der sich nur im Kreis seiner Untergebenen wohlfühlt. Und ein Großteil der Leute, die er mitgenommen hat, sind ihm auch treu ergeben. Aber hier in der Mine sieht es jetzt anders aus. Die meisten, die Fjedor hier zurückgelassen hat, gehörten einst zu meiner Bande, damals, als ich noch eine gefürchtete Straßenräuberin war, bevor dieser Emporkömmling von einem Schmuggler sie sich einverleibt und mir die Befehlsgewalt entrissen hat. Auch wenn Fjedor sie für seine Untergebenen hält, halten sie noch immer loyal zu mir. Erst recht, wenn sie erfahren, dass ihr Anteil an der Beute erhöht wird, wenn sie uns unterstützen. Der einzige hier, der treu zu unserem hochverehrten Schmugglerkönig hält, ist Ratz. Aber er ist nur ein Ärgernis, kein ernstzunehmendes Problem. Meine Leute werden sich zu gegebener Zeit um diesen Wicht kümmern. Du siehst also, dass es ein Leichtes sein wird, Fjedors Abwesenheit auszunutzen und hier das Kommando zu übernehmen.“

„Was ist mit diesem Träger, von dem du das alles erfahren hast?“, fragte Yarshuk vorsichtig. „Er ist ein Mitwisser. Das könnte zum Problem werden. Wenn er Ratz warnt-“

„Wohl kaum“, unterbrach ihn Mola kühl und tippte vielsagend auf den Knauf ihres Säbels. „Ich habe mich schon um ihn gekümmert. Ich bin schließlich keine Anfängerin.“

Yarshuk starrte sie durchdringend an, aber Mola sah genau, dass seine Augen anerkennend aufleuchteten. „Schön“, murmelte er. „Du gehst kein Risiko ein. Du bist nicht so unvorsichtig wie Fjedor. Das gefällt mir. Und dem Brigadegeneral dürfte das ebenfalls gefallen. Allmählich glaube ich, dass es nicht die schlechteste Idee ist, ein Bündnis mit dir zu schließen.“ Er streckte seinen Rücken durch und ließ seinen Blick lauernd über Molas Gefolge schweifen. „Aber bist du dir der Loyalität deiner Leute wirklich sicher?“

„Absolut“, antwortete Mola und stieß Balam auffordernd an. „Oder irre ich mich da etwa?“

„Natürlich nicht“, antwortete Balam hastig. „Ich habe nie vergessen, wer mein wahrer Anführer ist. Und die anderen auch nicht.“ Leises, zustimmendes Gemurmel ertönte.

„Na bitte, wir haben die Mine schon so gut wie im Griff“, rief Mola triumphierend und öffnete ihre spröden Lippen zu einem kurzen, abgehackten Lachen, das jedoch sofort erstarb, als sie ihre Stirn in sorgenvolle Falten legte. „Kritisch wird er erst, wenn dieser größenwahnsinnige Gierschlund aus den Wolkenbergen zurückkehrt. Es wird zweifellos zu einem Kampf kommen und leider dürften die Kräfteverhältnisse zwischen seinen und unseren Leuten so ausgeglichen sein, dass wir seinen Ausgang nicht vorhersehen können. Und da kommst du ins Spiel.“

„Das wiederum klingt nicht besonders überzeugend“, brummte Yarshuk grimmig. „Sprich, wie kann ich dir dabei helfen?“

„Bitte deinen Brigadegeneral um Hilfe!“, rief Mola. „Er soll uns ein paar Soldaten zur Unterstützung schicken. Ihm wird schon irgendein Vorwand einfallen. Es muss ja auch kein ganzes Bataillon sein. Ein paar zusätzliche Schwerter auf unserer Seite würden schon reichen. Damit rechnet Fjedor niemals und das Überraschungsmoment wird den Ausschlag zu unseren Gunsten geben!“

Yarshuk betastete nachdenklich einen der beiden Stoßzähne, die aus seinem Unterkiefer wuchsen. „Was ist mit Kapitän Veit und seinen Leuten?“, fragte er skeptisch. „Könnten sie sich womöglich auf Fjedors Seite schlagen?“

„Unwahrscheinlich!“, lachte Mola. „Eher fängt der Morgennebel von Adamas zu brennen an. Veit hat kein Interesse an Macht und es ist ihm egal, wer ihm die Schmuggelwahre liefert.“

„Das ist gut“, erwiderte Yarshuk. „Der Brigadegeneral hält große Stücke auf den Kapitän. Er würde nur sehr ungern auf ihn verzichten. Fjedor dagegen wollte er schon von Anfang an loswerden.“

Molas Augen leuchteten tückisch auf. „Dann kann ich auf deine Unterstützung zählen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Yarshuk stand von der leeren Vorratskiste auf und erhob sich zu seiner vollen Körpergröße. Die Dunkelelfen aus Molas Gefolge wichen ehrfürchtig zurück. Die zahme Riesenratte piepste erschrocken und flüchtete sich auf Molas Schulter. Yarshuk beugte sich nach vorn und stützte sich mit seinen kräftigen Armen auf seinen behelfsmäßigen Schreibtisch.

„So ist es!“, verkündete er grollend. „Ich werde zusehen, dass ich den Brigadegeneral so schnell wie möglich über unsere Pläne in Kenntnis setze. Du sorgst in der Zwischenzeit dafür, dass all deine Leute auch wirklich hinter dir stehen. Am wenigsten können wir jetzt ein Fähnchen im Wind gebrauchen, das sich auf die andere Seite schlägt, wenn die Erfolgsaussichten dort größer erscheinen.“

„Keine Sorge“, rief Mola und lachte hämisch. „Sobald sich Ratz die Sumpfdotterblumen von unten ansieht, wird mir hier niemand den Gehorsam verweigern.“

„Ausgezeichnet“, knurrte Yarshuk. „Vielleicht habe ich dich die ganze Zeit falsch eingeschätzt, Mola. Ich habe dich für Fjedors hirnlose Marionette gehalten, aber offenbar weißt du doch, wann es an der Zeit ist, das Heft des Handelns in die eigene Hand zu nehmen.“

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben“, erwiderte Mola mit spöttischem Grinsen. „Ich habe nie viel von dir und deinem Brigadegeneral gehalten, aber letztlich erweist ihr euch doch noch als nützlich.“

Yarshuk streckte seine fleischige Hand aus und Mola ergriff sie beherzt. Die beiden Verschwörer blickten sich funkelnd in die Augen und es stand ihnen in die aufgesetzt lächelnden Gesichter geschrieben, dass sie bereits planten, wie sie den jeweils anderen am besten ausbooten konnten, sobald Fjedor aus dem Weg geräumt war.
 

Vela hatte sich von ihrer Beförderung zur Aufseherin mehr erhofft, als Wachdienst zu übernehmen und Leichen zu entsorgen, aber sie fügte sich dem Befehl ihrer Mutter, wenn auch etwas zögerlich. Sie tröstete sich damit, dass immerhin die Aufgabe, den Eingang der Grotte zu bewachen, in der jetzigen Situation mit einer großen Verantwortung verbunden. Wenn Fjedor die Mine unbemerkt erreichte, waren Molas Pläne dahin.

Mit hängenden Schultern schlurfte sie zur Kerkerhöhle und die vier Dunkelelfen, die sie als ihre Begleiter ausgewählt hatte, folgten ihr in respektvollem Abstand. Vela betrat die Zelle und blickte mit gerümpfter Nase auf den am Boden liegenden Leichnam hinab. „Nehmt diesen Trottel mit!“, befahl sie den zwei Dunkelelfen, die noch beide Hände freihatten, und verließ den muffigen Sklavenverschlag eiligst. Zögerlich traten ihre Untergebenen vor, um ihren Befehl auszuführen, und ergriffen den Toten bei Armen und Beinen. Mit fragenden Gesichtern und mit erkennbarem Unwohlsein standen sie da und starrten Vela an.

„Worauf wartet ihr?“, raunzte sie missgestimmt. „Zur Grotte, die Bluthechte haben Hunger.“ Sie ließ ihre Begleiter mit den Toten vorausgehen und folgte ihnen durch den glattwandigen Tunnel.

Die Wachen, die Mola in der vergangenen Nacht in der Grotte postiert hatte, kamen ihrer Aufgabe nur mangelhaft nach. Alle vier Dunkelelfen waren eingeschlafen und lehnten schnarchend an den nasskalten Wänden der Höhle. Vela, die ohnehin schon schlechte Laune hatte, lief puterrot an, als sie bemerkte, dass die Kerle ihre Arbeit vernachlässigten. Wütend stapfte sie auf das friedlich schlummernde Quartett zu und packte den erstbesten Dunkelelfen beim Kragen.

„Euch geht es wohl zu gut!“, grollte sie erzürnt und schüttelte den Banditen kräftig durch. Der Dunkelelf öffnete schläfrig die Augen. Als er in Velas wutrotes Gesicht blickte, sprang er erschrocken auf.

„Ähm…es tut mir leid!“, stammelte er hastig. „Ich muss wohl eingeschlafen sein.“

„Nicht nur du“, knurrte Vela gehässig. Die anderen drei Wachen rührten sich nun auch, brummten müde und schlugen nacheinander die Augen auf. Schlaftrunken blickten sie sich um, doch als sie Vela erkannten, waren sie schlagartig hellwach.

„Ihr unfähigen Idioten!“, tobte die junge Dunkelelfe. „Bewegt eure faulen Hintern! Das ist doch nicht zu fassen!“

Einer der vier Schmuggler legte flehend die Handflächen aneinander. „Bitte, sag Mola nichts davon!“, bettelte er ängstlich. „Wenn sie davon erfährt, wird sie bestimmt mächtig sauer.“

„Dazu hätte sie auch allen Grund“, erwiderte Vela kühl. „Macht das ihr wegkommt, ihr elenden Nichtsnutze! Ich werde dafür sorgen, dass ihr Strafarbeit in der Mine leisten müsst!“

Die Wachen baten stöhnend um Gnade, doch Vela blieb steinhart. Schließlich zogen sich die vier Schlafmützen mit hängenden Köpfen zurück und beklagten sich leise über ihr ungerechtes Schicksal.

Vela rümpfte verächtlich die Nase und sah ihnen hinterher. „Ich hoffe doch sehr, dass ihr ein wenig verantwortungsvoller seid“, rief sie ihren Gehilfen zu. „Wenn wir ausschließlich derart unfähige Trottel in unseren Reihen hätten, wäre Molas Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“

Ihre drei Begleiter standen kleinlaut da und wirkten äußerst unglücklich. Vela verdrehte entnervt die Augen. „Was steht ihr jetzt so blöd da und glotzt?“, fragte sie gereizt. „Schafft diese Idioten endlich weg, bevor sie in euren Händen verfaulen. Werft sie in das Loch dort drüben!“

Sie deutete auf ein tiefes, mit Meerwasser gefülltes Becken. Vela konnte zwar keine Bluthechte erkennen, aber sie musste, dass die gefräßigen Biester irgendwo in den tückischen Löchern lauerten, mit denen der Boden der Grotte übersät war.

Zuerst trugen die Dunkelelfen den toten Sklaven nahe an das Wasserbecken heran und wuchteten ihn gemeinsam hinein. Die beiden, die den ermordeten Träger schleppten, wollten es ihnen gleichtun, doch als der Leichnam des verstorbenen Sklaven die Oberfläche durchbrach, kam sofort Bewegung in die Wassermassen. Die Bluthechte schossen gierig aus ihren Verstecken und fielen über den leblosen Körper her. Ihre langen Körper drängten sich eng zusammen und wälzten sich im Kampf um die besten Stücke wild übereinander. Schwanzflossen peitschten das Wasser und wühlten es auf, bis es einem brodelnden Gebräu im Kessel einer Hexe glich. Gischt spritzte aus dem Loch, die Dunkelelfen traten mit angstgeweiteten Augen ein paar Schritte zurück und die beiden, die den ermordeten Banditen trugen, ließen ihn vor Schreck einfach fallen.

In ihrer Raserei schossen die Bluthechte ein gutes Stück über ihr Ziel hinaus. Während sie sich gegenseitig bekämpften und gleichzeitig nach den Gliedmaßen des Toten schnappten, stellten sie sich so ungeschickt an, dass sie den Leichnam wieder aus dem Wasserloch herausstießen. Tobend vor Wut peitschten die Raubfische mit ihren kräftigen Flossen das Wasser auf, unfähig, ihre Beute zu erreichen, bis sie der Blutdurst schließlich übermannte und sie endgültig übereinander herfielen.

Velas Gesicht nahm die Farbe von Roter Grütze an. „Unfähig“, krächzte sie. „Allesamt. Nicht einmal auf die Biester kann man sich verlassen!“ Mit zitternder Unterlippe drehte sie sich um und deutete anklagend auf ihre Begleiter. „Ihr da! Schiebt ihn wieder rein! Und werft den anderen direkt hinterher!“

Die Dunkelelfen wichen mit aschfahlen Gesichtern vor ihr zurück, als hätte sie soeben ihr Todesurteil unterzeichnet. „Aber…das ist gefährlich“, japste einer. „Diese Viecher sind unberechenbar. Ich habe schon gesehen, wie sie an Land robben, um ihre Beute zu erwischen. Sieh doch nur, wie aufgebracht sie sind! Der Hunger macht sie völlig rasend“

„Ach ja?“, zischte Vela gehässig. „Vielleicht sollten wir einen von euch zuerst reinwerfen, damit sich die Biester wieder beruhigen und die beiden, die dann noch übrig sind, sich wieder näher rantrauen. Ich sag das nur noch einmal: Schiebt – ihn – wieder – rein!“

Doch offenbar verbreitete Vela nicht annähernd so viel Respekt, wie ein Schwarm wildgewordener Bluthechte, denn die vier Dunkelelfen machten keine Anstalten, ihren Befehl auszuführen, sondern hoben lediglich flehend die Hände und wichen mit Gesichtern, aus denen inzwischen auch der letzte Tropfen Blut gewichen zu sein schien, noch weiter zurück.

Vela war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren und den nächstbesten Dunkelelfen am Kragen zu packen, um ihn höchstpersönlich an die Bluthechte zu verfüttern, als sie im Augenwinkel eine ausgestreckte Gestalt bemerkte, deren Beine hinter einem Tropfstein hervorragten. Mitten in der Bewegung hielt Vela inne und schob misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Langsam näherte sie sich und erkannte schließlich, dass es die Leiche der von Viland getöteten Abenteurerin war, die dort neben einem weiteren mit Wasser gefülltem Loch mit dem Gesicht nach unten auf dem feuchten Höhlenboden lag.

Vela war für ein paar Augenblicke irritiert, doch als sie sah, dass die Bluthechte frustriert auf Beute lauerten und einige feinsäuberlich abgenagte Gräten das Wasserloch säumten, begriff sie, dass hier genau das gleiche geschehen war, wie bei dem Schauspiel, das sie soeben mitangesehen hatte. Auch die Bluthechte in diesem Wasserloch hatten sich in ihrer Raserei so ungeschickt angestellt, dass sie den Leichnam wieder aus dem Wasser gestoßen hatten. Und wahrscheinlich waren die Wachen ebenfalls zu feige gewesen, sich den tobenden Fischen zu nähern. Oder sie waren schlichtweg vorher eingeschlafen und hatten gar nicht mitbekommen, dass die Bluthechte sich selbst um ihre Beute gebracht hatten.

„Alles muss man selbst machen“, schimpfte Vela und knirschte verärgert mit den Zähnen. Sie stapfte auf die Tote zu und streckte vorsichtig ein Bein aus, um sie wieder zurück ins Wasser zu stoßen, doch kurz bevor ihre Zehen den Leichnam berührten, hielt sie überrascht inne und hob den Kopf. Der Wind wehte gedämpfte Stimmen von außerhalb der Höhle in die Grotte hinein.

Ein warnendes Kribbeln lief ihr über den Rücken und sie griff nach dem langen Dolch mit den Widerhaken an der Klinge, den sie am Gürtel trug. Auch ihre Begleiter hatten die Stimmen gehört und zogen angespannt ihre Waffen. Die Bluthechte und die beiden Leichen waren vergessen und sie starrten wie gebannt zum Eingang der Grotte.

„Sind das Fjedor und seine Leute?“, hauchte einer der Dunkelelfen angsterfüllt. „Ist er schon wieder zurück?“

„Halt die Klappe!“, zischte Vela drohend. „Es ist egal, wer sich dort draußen rumtreibt. Sie gehören jedenfalls nicht zu uns.“ Sie legte den Finger an die Lippen. „Der nächste, der einen Laut von sich gibt, stirbt.“ Mit lautlosen, geschickten Bewegungen zog sie sich in den Schatten eines großen Tropfsteins zurück und winkte ihre Begleiter energisch zu sich heran. Die Dunkelelfen folgten ihr vorsichtig und waren darauf bedacht, keine verräterischen Geräusche zu erzeugen. Auch sie gingen hinter dem Stalagmit in Deckung und spähten angespannt zum Eingang der Grotte.

Vor der Höhle reflektierte das Wasser die Umrisse von mindestens zwei Personen, aber Vela konnte nicht genau erkennen, ob es sich dabei um Fjedors Spießgesellen, verirrte Abenteurer oder gar Soldaten der Armee handelte. Die Stimmen waren so leise, dass sie nicht hörte, worüber die Leute sprachen, die sich dort vor der Grotte herumdrückten.

In ihrem Versteck gingen die Dunkelelfen in die Hocke und warteten mit gezückten Waffen und angehaltenem Atem ab.

Craig spürte, wie sein Herz vor Aufregung schneller schlug. Das war das Abenteuer, nach dem er sich immer gesehnt hatte, auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, dass es ganze Schwärme mörderischer Bluthechte beinhalten würde. Noch vor drei Tagen war er noch auf seiner Heimatinsel gewesen und jetzt wanderte er an der Seite einer Späherin des Kaiserlichen Geheimordens und eines ehemaligen Kommandanten der Armee durch einen gefährlichen Sumpf, watete durch eine Bucht voller Raubfische und betrat auf der Suche nach vermissten Reisenden eine verborgene Grotte. In all seinen Jahren auf Notting hatte er nie etwas aufregenderes erlebt und plötzlich kam es ihm vor, als hätte er seine Heimat schon vor langer Zeit verlassen.

Lexa ging zügig voran. Craig bewunderte ihre Trittsicherheit, denn sie sah nicht einmal auf ihre Füße, während der Waisenjunge mit seinen Sandalen auf dem glitschigen Untergrund nur langsam vorankam. Immer wieder tastete er nach Vorsprüngen in der Wand, an denen er sich festhalten konnte, und vermied es, ins Wasser zu sehen. Er wusste genau, dass die Bluthechte ihn beobachteten, und er wollte sich nicht noch nervöser machen, indem er ihre tödlichen Zähne anstarrte.

Die Grotte war größer, als sie von außen gewirkt hatte. Die Höhlendecke wölbte sich in einem großen Bogen über die aufragenden Tropfsteine. Nicht der gesamte Boden war mit Meerwasser bedeckt. Es reichte nur etwa bis zur Hälfte in die Grotte hinein. Algen und Pilze wuchsen an den Wänden und strahlten einen gespenstischen, bläulichen Schimmer aus.

Craig stand der Mund offen vor Staunen und er musste sich sehr zusammenreißen, um sich von all den neuen Eindrücken nicht ablenken zu lassen. Mit ihren mannshohen Tropfsteinen, die von der Decke hinab hingen und aus dem Boden wuchsen, wirkte die Grotte wie das Gebiss eines gigantischen Ungeheuers. Die Luft war feucht und salzig und roch nach altem Treibholz, das seit Jahren am Strand lang und vor sich hin moderte. Craig konnte sich gut vorstellen, dass sich Knack in dieser Grotte pudelwohl fühlen würde.

Der Waisenjunge atmete erleichtert auf, als der schmale Sims, auf dem er entlang balancierte, allmählich breiter wurde und er endlich den Teil der Höhle erreichte, der nicht von Wasser bedeckt war. Nun, da er sich wieder frei bewegen konnte und die Bluthechte nicht länger in Reichweite waren, fühlte er sich gleich wieder etwas weniger unwohl. Er sah sich aufgeregt in der Grotte um und schlenderte staunend zwischen den Tropfsteinen hindurch, ohne auf seine Füße zu achten.

„Vorsicht!“, rief Lexa alarmiert. Craig zuckte erschrocken zusammen und bemerkte im allerletzten Moment das im Boden klaffende Loch, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. Ihm gefror das Blut in den Adern, als er darin die länglichen Silhouetten mehrerer ausgewachsener Bluthechte erkannte. Er blieb so abrupt stehen, dass er das Gleichgewicht verlor und wild mit den Armen ruderte, doch bevor er stürzte, war Lexa bei ihm und ergriff ihn beim Handgelenk.

„Das war knapp!“, japste Craig und bemerkte, dass er so heftig zitterte, dass Lexa Schwierigkeiten hatte, ihn festzuhalten. Sie ließ ihn wieder los und der Waisenjunge ließ sich erleichtert auf den Hosenboden fallen. „Gibt es denn keinen Ort auf dieser verfluchten Halbinsel, an dem es keine Bluthechte gibt? Wie kommen diese Mistviecher hierher?“

Lexa legte nachdenklich ihre Hand ans Kinn. „Vermutlich wurden sie von der Flut in die Höhle gespült“, überlegte sie laut. „Sie sind in diesen Löchern gelandet und als sich das Wasser mit der Ebbe wieder zurückgezogen hat, waren sie darin gefangen. Oder es ist eine gezielte Jagdstrategie. Sie lassen sich bei Flut absichtlich in diese Löcher tragen, um bei Ebbe auf unvorsichtige Opfer wie dich zu lauern. Und wenn sie keine Beute machen, warten sie einfach auf die nächste Flut und verschwinden wieder hinaus aufs Meer. Das wäre diesen Biestern jedenfalls zuzutrauen.“

Gancielle trat näher an das Wasserbecken heran und spuckte hinein. „Wer da reinfällt, kommt nicht mehr raus“, stellte er verbittert fest.

Lexa nickte trübsinnig, doch plötzlich erstarrte sie und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.

„Hinter dir!“, schrie sie gellend.

Gancielle reagiert auf ihren Warnruf sofort. Er wirbelte herum und sah gerade noch, wie ein zerlumpter Dunkelelf hinter einem hohen Tropfstein hervorsprang. In der Hand hielt er einen eisernen Streitkolben, den er mit grimmiger Miene über dem Kopf schwang.

Doch Gancielle war schneller. Reflexartig zog er sein Schwert und stieß es dem Angreifer direkt in die magere Brust. Die scharfe Klinge fuhr tief in seinen Torso und der Dunkelelf gab ein überraschtes Ächzen von sich.

Doch er war nicht allein. Noch während Gancielle mit ihm zu tun hatte, kamen vier weitere Dunkelelfen aus ihren Verstecken. Unter ihnen war eine junge Frau mit wildem, feuerrotem Haar, die mit einem widerhakenbesetzten Dolch in der Hand zornig auf und ab hüpfte und laute Befehle brüllte, während ihre drei Spießgesellen auf Lexa und Craig losgingen.

„Schnappt sie euch!“, schrie sie. „Macht sie fertig!“

Craig saß noch immer auf dem Hosenboden und griff panisch nach seinem Schwert, als er sah, dass einer der Dunkelelfen direkt auf ihn zukam und wie wild mit seinem rostigen Schwert herumfuchtelte. Seine Finger zitterten so sehr, dass es ihm erst beim zweiten Versuch gelang, es aus seinem Gürtel zu ziehen, doch er brauchte es gar nicht.

Lexa trat ihm mit solcher Leichtigkeit in den Weg, dass Craig glaubte, ihr Körper bestünde aus Luft. Noch bevor der Dunkelelf wusste, wie ihm geschah, rammte sie ihm ihr Kurzschwert in die Brust.

Es ging alles viel zu schnell. Noch bevor Craig die Gelegenheit hatte, wieder aufzustehen, hatten Gancielle und Lexa mit zwei weiteren Banditen kurzen Prozess gemacht und so war nur noch die rothaarige Dunkelelfe übrig, deren hysterisches Geschrei inzwischen verstummt war. Ungläubig ließ sie ihren Dolch sinken und starrte auf die ausgestreckten Körper ihrer Spießgesellen, die leblos auf dem Boden lagen.

„Ich glaube, wir sollten uns mal ein wenig unterhalten“, bemerkte Gancielle drohend, während er sein Schwert an der zerrissenen Kleidung eines Toten abwischte.

Die Dunkelelfe verlor beim grollenden Klang seiner Stimme die Nerven. Sie drehte sich um und lief panisch davon.

„Oh nein, nicht so eilig!“, rief Lexa, holte aus und schleuderte ihr Kurzschwert.

Die Dunkelelfe lief, so schnell sie konnte, doch die blitzende Klinge war viel schneller. Das Schwert wirbelte durch die Luft, überschlug sich mehrmals und fuhr ihr direkt zwischen die Schulterblätter. Die Dunkelelfe streckte krampfartig ihr Rückgrat durch, stieß ein ersticktes Ächzen aus und brach an Ort und Stelle zusammen.

Craig erschauderte. Fünf Dunkelelfen, die in einem Moment noch lebendig gewesen waren, lagen nun tot in ihrem Blut. Bislang hatte er nur einmal gesehen, wie jemand getötet wurde. Als die Piraten seinen Vater umgebracht hatten, war er verzweifelt und wütend geworden. Er hatte jedem Seeräuber einen grausamen Tod gewünscht. Seither hatte er geglaubt, dass es nur verwerflich war, wenn man aus niederen Beweggründen mordete. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass es heldenhaft war, wenn man im Namen der Gerechtigkeit tötete. Aber er hatte sich geirrt. Obwohl die Dunkelelfen ihn und seine Begleiter zweifellos hatten umbringen wollen, verspürte er einen seltsamen Anflug von Mitgefühl und Reue. Und ihm kam eine Erkenntnis, die sein Idealbild von Heldentum in seinen Grundfesten erschütterte. Ein gewaltsamer Tod war immer grausam, egal ob er notwendig war oder nicht. Und langsam begann er zu begreifen, wie sich Vance fühlen musste.

Gancielle zeigte keine Regung, aber Lexa schien sich ein weniger blutiges Ende für diesen Kampf gewünscht zu haben. „So ein Mist!“, zischte sie und ging grimmig zu der Leiche der rothaarigen Dunkelelfe. Mit einem Ruck zog sie ihr Kurzschwert aus ihrem Körper. „Sie hätte uns sagen können, was in dieser Grotte vor sich geht.“

„Warum habt Ihr sie dann getötet?“, fragte Craig zaghaft. Sein Gesicht fühlte sich taub und kalt an und er wusste, dass er kreidebleich war.

„Diese Dunkelelfen sind bestimmt nicht allein“, erklärte Lexa und deutete auf ein großes Loch in der rückwärtigen Höhlenwand. Wie der Schlund eines Wals klaffte es im Gestein und schien tiefer ins Innere des Hügels hineinzuführen. „Und ich hatte wenig Lust, jetzt schon Bekanntschaft mit ihren versammelten Spießgesellen zu machen. Wir können unmöglich vorhersagen, wie viele dieser Mistkerle sich hier verstecken.“

Craig senkte betreten den Kopf. Das klang logisch. Er war auch nicht besonders scharf darauf, es mit einer ganzen Horde mordlustiger Banditen zu tun zu bekommen.

Gancielle stieß einen der toten Dunkelelfen mit dem Stiefel an. „Und wer waren diese Halsabschneider?“, fragte er. Der Leichnam gab natürlich keine Antwort.

„Na, die Vermissten sind es jedenfalls nicht“, seufzte Lexa und beugte sich über den reglosen Körper der rothaarigen Dunkelelfe. „So zerlumpt wie sie aussehen, wirken sie für mich wie gewöhnliche Strauchdiebe.“ Sie entdeckte am Gürtel der Toten einen Schlüsselbund, nahm ihn ab und hielt ihn hoch. „Seht mal! Langsam habe ich das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckt. Es würde mich nicht wundern, wenn diese Banditen hinter dem Verschwinden der Leute stecken.“

„Ein Schlüsselbund?“, wunderte sich Gancielle. „Wozu brauchen diese Kerle einen Schlüsselbund, wenn sie Reisende ausrauben, umbringen und ihre Leichen verschwinden lassen?“

„Ich habe da so eine Ahnung…“, murmelte Lexa.

„Sollen wir zurück nach Eydar gehen und Meister Syndus Bericht erstatten?“, fragte Gancielle unschlüssig.

„Nein“, entschied Lexa. „Die Banditen könnten in der Zwischenzeit bemerken, dass ihre Wachen tot sind. Und dann machen sie sich aus dem Staub und wir stehen bei unserer Suche wieder ganz am Anfang. Ich schlage vor, wir untersuchen diese Grotte genauer und überprüfen, was wir ohne Hilfe ausrichten können. Falls alle Stricke reißen, haben wir ja noch einen Knucker, der nach seinem Frühstück vor Energie beinahe platzen muss.“ Sie zwinkerte Craig zu.

Gancielle stapfte in der Grotte missmutig auf und ab. Vor einem Wasserloch, neben dem zwei Leichen lagen, blieb er stehen. „Diese Mistkerle sind das allerletzte“, knurrte er verärgert. „Sieht so aus, als würden sie diejenigen, die ihnen zum Opfer fallen, den Bluthechten zum Fraß vorwerfen. Dann haben sie die beiden armen Schweine, die wir vor der Grotte entdeckt haben, wahrscheinlich auch auf dem Gewissen.“

Lexa sah sich in der Höhle um und erstarrte plötzlich. „Ihr Götter.“, hauchte sie.

Craig folgte ihrem Blick. Dort, zwischen einigen Tropfsteinen, lag eine in Felle und Leder gehüllte Gestalt. Der Waisenjunge wusste sofort, dass es sich dabei um den leblosen Körper von Tyra handelte, noch bevor Lexa zu ihr herübereilte und den Leichnam auf den Rücken drehte.

„Wer ist das?“, fragte Gancielle und näherte sich zögernd.

„Die Abenteurerin, die ich vorgestern beschattet habe“, antwortete Lexa betrübt. „So wie es aussieht, ist sie der Lösung des Rätsels um die Vermissten sehr nahegekommen. Ach, hätte sie doch nur auf unsere Warnungen gehört und wäre in Eydar geblieben!“

Craig wurde schwindelig. Er stolperte wie in Trance auf die leblose Frau zu. Das konnte unmöglich Tyra sein! Sie hatte sich ohne Schwierigkeiten einem wilden Warg entgegengestellt und ihn bezwungen. Es konnte nicht sein, dass sie von ein paar zerlumpten Banditen getötet wurde. Aber als er atemlos vor ihr auf die Knie fiel, blickte er direkt in ihr zartes, im Tod zu einer Maske der Überraschung erstarrtes Gesicht. Es wirkte fast, als konnte sie ebenso wenig glauben, dass sie tot war, wie Craig.

Ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen und ihre hellbraunen Augen blickten trüb an die Höhlendecke. Ihr Gesicht war so blass, als befände sich in ihrem Körper kein einziger Tropfen Blut mehr. Stattdessen war ihre fellbesetzte Rüstung damit getränkt. Der zierende Wolfsschädel auf ihrer Schulter war der Länge nach gespalten und in ihrer Halsbeuge klaffte ein fürchterlicher Schnitt, der Knochen und Muskelgewebe sauber durchtrennte und sich fast bis zu ihrer Brust zog.

Craig spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete. Er knirschte vor Kummer und Hass mit den Zähnen und die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor, als er die Fäuste ballte. Er konnte nicht glauben, dass er eben noch Mitleid mit den toten Banditen gehabt hatte.

Gancielle sah Craig mitfühlend an. „Oft kann Hass stark machen“, sagte er bedächtig. „Aber noch viel häufiger macht er blind. Lass nicht zu, dass er deine Sinne vernebelt. Sonst liegst du vielleicht bald genauso leblos da.“

Craig schien ihn gar nicht zu hören. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte er ins Leere. „Dafür werden sie büßen!“, zischte er gehässig.

„Das werden sie zweifellos“, erwiderte Lexa entschlossen. Sanft drückte sie der Toten die Augen zu. „Dafür werden wir sorgen. Und wenn ihr Tod gesühnt ist, wird sie eine Bestattung erhalten, wie sie für eine tapfere Tochter Isenheims angemessen ist. Aber vorher müssen wir das zu Ende bringen, was sie begonnen hat.“

Es fiel Craig schwer, Tyra in der Grotte zurückzulassen. Gancielle half ihm, sie auf einen Felsvorsprung zu betten, außerhalb der Reichweite der Flut und der gefräßigen Bluthechte. Dann betraten sie zusammen mit Lexa den großen Gang in der rückwärtigen Höhlenwand. Die Luft war feucht und muffig und roch nach Meersalz und Algen.

Gancielle blieb plötzlich stehen und legte einen Finger an die Lippen. „Hört ihr das?“, fragte er leise.

Craig hielt den Atem an und lauschte. Von weit her ertönte ein gedämpftes, regelmäßiges Klopfen. „Was ist das?“, fragte sie flüsternd.

„Es klingt metallisch“, stellte Gancielle fest. „Keine Ahnung, was diese Geräusche auslöst, aber wir sind nicht die einzigen Personen in dieser Höhle.“

Je weiter sie sich durch den düsteren Tunnel tasteten, desto lauter wurde das rhythmische Klopfen. Es hallte von den glatten Felswänden wider und schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.

Am Ende des Gangs tauchte ein schwacher Lichtschimmer auf und Gancielle ging schneller. Sein blankes Schwert hielt er griffbereit in der Hand. Hinter jeder Biegung konnte ein Angreifer lauern, doch zunächst war seine Alarmbereitschaft unbegründet. Ohne Zwischenfälle erreichten sie eine kleinere Höhle, die von einigen in die Wände eingelassenen Fackeln erhellt wurde. Hier hingen keine Tropfsteine von der Decke, stattdessen klaffte hoch über ihren Köpfen ein großes Loch im Erdreich, durch das schwaches Tageslicht in die Höhle fiel. Außerdem strömte frische Luft herein und Craig füllte seine Lungen mit einem kräftigen Atemzug. Der salzige Modergeruch wurde übertüncht vom schweren, würzigen Duft der Düstermarsch.

Zwei Tunnel führten aus dem Raum heraus, wobei das gleichmäßige Klopfen eindeutig aus dem linken Gang kam. Noch weiter links bemerkte Craig ein großes Gitter, das in die Felswand eingelassen worden war. Eine offene Tür hing quietschend in den Angeln und als der frühere Kommandant vorsichtig darauf zu trat, schlug ihm muffiger Schimmelgeruch entgegen. Gancielle verzog angeekelt das Gesicht und hielt sich die Nase zu. Er betrat die unbeleuchtete Zelle und entdeckte in der Dunkelheit einige plattgedrückte Strohhaufen. Mit dem Schwert stocherte er darin herum. Die alten Getreidehalme hatten die Feuchtigkeit der Wände aufgesogen und jetzt moderten sie fröhlich vor sich hin. Es war eindeutig, dass die Strohhaufen als Schlaflager dienten.

Gancielle trat wieder aus der Zelle heraus und betrachtete prüfend die Tür. „Es würde mich nicht wundern, wenn einer der Schlüssel, die du gefunden hast, in dieses Schloss passt“, flüsterte er Lexa zu.

Die Späherin nickte zustimmend und trat neben ihn. Sie steckte einen Schlüssel nach dem anderen ins Schlüsselloch, um Gancielles Vermutung zu überprüfen. Beim vierten Versuch ließ sich der Schlüssel schließlich drehen und der Riegel sprang vor.

„Diese Kerle sperren hier ganz offensichtlich jemanden ein“, murmelte Gancielle. „Vielleicht sind es Sklavenhändler. Aber warum ist die Zelle leer?“

„Das habe ich schon geahnt“, mutmaßte Lexa. „Diese Banditen haben die Vermissten nicht getötet, sondern verschleppt. Des Rätsels Lösung dürfte dieses Klopfen sein. Für mich klingt es, als würde hier Bergbau betrieben werden. Vermutlich sind diese Kerle hier auf ein Vorkommen seltener Minerale oder Metalle gestoßen. Jetzt lassen sie ihre Gefangenen für sich schuften und sperren sie nachts hier ein. Das würde eine Menge erklären. Diese Grotte ist so gut versteckt, dass ich mir noch monatelang die Hacken hätte ablaufen können, ohne sie zu entdecken.“

„Dann wissen wir jetzt, dass wir es mit Schmugglern zu tun haben“, knurrte Gancielle grimmig und deutete auf den Gang, aus dem das Klopfen drang. „Ich will wissen, wie viele dieser Mistkerle sich hier verkrochen haben!“

Er betrat den linken Tunnel mit Lexa und Craig auf den Fersen. Er war hell erleuchtet, doch Gancielle blieb nach jedem Schritt kurz stehen und lauschte. Wenn sie den Banditen jetzt in die Hände fielen, waren sie verloren. Doch er hörte keine verdächtigen Geräusche. Stattdessen wurde das Klopfen immer lauter. Und als er sich schließlich, eng an die Felswand gepresst, um eine Biegung schob, tat sich vor seinen Augen eine große Höhle auf.

Als erstes fielen ihm die dunkelblau glänzenden Adern im Gestein auf. Wie versteinerte Blitze zogen sie sich durch Wände und Decke. „Sturmerz“, hauchte er ehrfürchtig. „Danach schürfen sie hier also.“

„Danach lassen sie schürfen“, korrigierte Lexa.

An den Felswänden machten sich mehrere erbarmungswürdige Gestalten mit schweren Spitzhacken zu schaffen. Ihre Körper waren ausgemergelt und abgemagert. Einige trugen schmutzige Leinenhemden, anderen hing der Stoff in blutigen Fetzen von den Schultern und wieder andere präsentierten lange, entzündete Striemen, die sich über ihre nackten Rücken zogen. Insgesamt zählte Craig sechzehn Arbeiter und darunter waren ein paar Gesichter, die er kannte. Er entdeckte zuerst Farniel, der unweit des Tunnelausgangs ackerte, dann Vance und schließlich auch die gekrümmte Gestalt von Vox. Aufgeregt packte er Lexa bei der Schulter.

„Du hattest recht!“, zischte er mit gedämpfter Stimme. „Das sind die Vermissten! Wir haben es geschafft, Lexa! Wir haben sie gefunden!“

„Freu dich nicht zu früh“, warnte die Späherin mit finsterem Gesichtsausdruck. „Die Banditen sind in der Überzahl.“

Die arbeitenden Sklaven wurden von einem Dutzend Schmugglern beaufsichtigt. Sie trugen lange, zusammengerollte Peitschen über ihren Schultern und spitze Dolche in ihren Gürteln. Craig konnte sehen, wie Vox in die Knie ging und mit mitleidserregendem Schluchzen um Gnade flehte. Doch der Aufseher, der ihm an nächsten stand, kannte kein Erbarmen. Er schwang seine Peitsche und ließ sie auf den schmalen Rücken des Alten niederfahren. Vox‘ spitzer Schmerzensschrei gellte durch die Höhle und die anderen Sklaven zuckten zusammen, als hätten sie selbst die Peitsche zu spüren bekommen.

„Beim nächsten Mal bekommst du zwei Hiebe ab!“, warnte der Aufseher. Vox hatte offensichtlich fürchterliche Schmerzen, denn er zitterte am ganzen Leib, doch seine Angst trieb ihn dazu, wieder aufzustehen, die Spitzhacke zu erheben und mit leisem Wimmern weiterzuarbeiten.

Craig knirschte vor Wut mit den Zähnen, als er sah, wie brutal die Schmuggler mit ihren Gefangenen umsprangen. Am liebsten wäre er mit gezücktem Schwert in die Höhle gestürmt und hätte einen nach dem anderen totgeschlagen, um sie für Tyras Tod büßen zu lassen. Mit einem kurzen Blick auf Gancielles Gesicht erkannte er, dass dieser ähnlich fühlte.

Doch Lexa hatte Recht. Es waren zu viele, um in einem offenen Kampf mit ihnen fertig zu werden. Und vermutlich versteckten sich in den Tunneln unter dem Hügel noch mehr Schurken.

Craig spähte quer durch die Mine zu Vance, der stur auf einen Brocken Sturmerz einschlug. Der bullige Kerl neben ihm sah so aus, als wäre er in einem Kampf ein nützlicher Verbündeter. Etwas weiter entdeckte Craig drei Pardelfrauen, die ebenfalls in guter körperlicher Verfassung zu sein schienen. Es waren mehr Gefangene, als es Aufseher waren. Aber selbst wenn sich die Sklaven gegen ihre Peiniger auflehnten, wurden sie durch ihre Fesseln enorm behindert. Außerdem waren bis auf ihre alten Spitzhacken unbewaffnet und die meisten Gefangenen wirkten so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Craig wunderte es nicht, dass Vance nichts unternahm, doch seine Tatenlosigkeit machte ihn noch wütender.

„So ein Mist“, fluchte Gancielle leise und ballte enttäuscht die Faust. „Zu dritt kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen zurück nach Eydar und Verstärkung anfordern. Hoffen wir, dass diese Dreckskerle nicht bemerken, dass ihr Versteck entdeckt wurde.“

„Etwas anderes bleibt uns wohl leider nicht übrig“, stimmte Lexa zu. „Kommt, wir treten den Rückzug an!“

Sie drehte sich um, doch mitten in der Bewegung erstarrte sie. Aus dem Gang drangen Schritte und gedämpfte Stimmen. Panisch sah sich Lexa nach einem Versteck um, doch die Höhlenwände waren glatt und wiesen keine Nischen auf, in denen man sich verbergen konnte.

Ein kalter Schauer lief Craig über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass ihnen der Weg nach draußen abgeschnitten wurde. In der Mine gab es auch keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Hilfesuchend starrte er Gancielle an, auf dessen Stirn kalte Schweißtropfen glitzerten. „Macht euch zum Kampf bereit“, flüsterte und zog sein Schwert.

Nur ein paar Wimpernschläge später bogen sieben Dunkelelfen um die Ecke. Unter ihnen war eine schlanke Frau, die wie ein faltiges Ebenbild der rothaarigen Schurkin aussah, der sie in der Eingangshöhle begegnet waren. Neben ihr trippelte eine Riesenratte über den Höhlenboden und piepste aufgeregt. Die Banditen blieben überrascht stehen, als sie die Eindringlinge entdeckten, doch ihre Verblüffung hielt nur kurz an. Dann zogen sie mit finsteren Gesichtern ihre Waffen und Craig sah sich sieben schartigen Säbeln gegenüber.

„Sieh an!“, rief die Alte bösartig. „Schon wieder ein paar Schnüffler! Gehört ihr etwa zu der kleinen Göre, die sich gestern hierher verirrt hat?“

Craig knirschte wütend mit den Zähnen und war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. Gancielle legte ihm eine Hand auf die Schulter und warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Ist ja auch völlig egal“, fuhr die alte Dunkelelfe schulterzuckend fort. „Da ihr so blöd wart, euch freiwillig in diese Höhle zu wagen, könnt ihr ja gleich hierbleiben.“ Sie stieß Gancielle den Säbel vor die Brust. Gancielle schlug die Klinge mit seinem eigenen Schwert reflexartig zur Seite. Die alte Dunkelelfe funkelte ihn böse an. „Oh, wir sträuben uns, ja?“, knurrte sie drohend und tastete mit einer Hand nach einem Blasrohr an ihrem Gürtel. „Wir können das jetzt sanft oder mit Gewalt lösen. Das ist eure Entscheidung. Werft die Waffen weg!“

Craig, Gancielle und Lexa dachten nicht daran. Sie wichen langsam vor den Dunkelelfen zurück und betraten so rückwärtsgehend die Mine. Die Banditen folgten ihnen mit erhobenen Waffen und die Ratte fauchte wütend.

„Ihr wollt es also mit Gewalt.“ Die alte Dunkelelfe stöhnte entnervt und legte die Finger an die Lippen. Ein gellender Pfiff durchschnitt die staubige Luft der Mine und sofort erstarb das rhythmische Klopfen der Spitzhacken. „He, ihr da!“, rief die Alte. „Wir haben neue Gäste. Aber sie sind noch ein wenig schüchtern. Helft mir mal, sie in unsere kleine Gemeinschaft einzugliedern!“

Craig riskierte einen verstohlenen Blick über seine Schulter. Die Aufseher waren auf sie aufmerksam geworden. Ein spitznasiger Mann, der einzige Bandit, der kein Dunkelelf war, drehte sich überrascht um und grinste hämisch, als er die drei Eindringlinge bemerkte. Auf ein Zeichen von ihm rollte die Hälfte der Aufseher ihre Peitschen aus. Grimmig kamen sie auf Craig, Gancielle und Lexa zu, um sie in die Zange zu nehmen. Auch der Mann, der den wortlosen Befehl gegeben hatte, näherte sich. Er erinnerte Gancielle an eine Ratte und dieser Eindruck verstärkte sich, als er piepsend kicherte. „Na sowas“, grinste er zufrieden. „Neuerdings kommen die Schürfer schon freiwillig zu uns. Das spart uns eine Menge Arbeit, nicht wahr, Mola?“

Die alte Dunkelelfe schürzte verächtlich die spröden Lippen. „Kommst du mit so vielen Sklaven überhaupt noch klar, Ratz?“, fragte sie gelangweilt. „Die Mine quillt inzwischen fast über.“

„Mach dir deshalb mal keine Gedanken“, erwiderte der spitznasige Mann und deutete mit seiner Peitsche nacheinander auf Gancielle, Lexa und Craig. „Für diese drei Hübschen werde ich schon noch ein Plätzchen finden.“

Lexa drehte sich um und blitzte Ratz wütend an. Sie stand nun Rücken an Rücken mit Gancielle. Die Sklaven hatten ihre Arbeit eingestellt und starrten ungläubig zu ihm herüber. Die meisten schienen einfach erleichtert zu sein, dass ihnen eine kurze Ruhepause gegönnt wurde. Dagegen verfinsterten sich die hoffnungslosen Gesichter des bulligen Mannes und der drei Pardelfrauen. Vance wiederum wirkte entsetzt. Craig konnte sehen, wie er unruhig von einem Bein auf das andere trat.

„Das ist doch Kommandant Gancielle!“, rief Vox schrill. „Seht nur! Er ist gekommen, um uns zu retten!“ Wie ein Gläubiger, der eine Begegnung mit einem leibhaftigen Gott hatte, hob er ehrfürchtig die Arme und starrte Gancielle an, als wäre er ein Geist. „Wir sind gerettet“, frohlockte er mit brüchiger Stimme und ging mit klirrenden Ketten von einem Gefangenen zum nächsten. Er rüttelte an ihren Schultern und wiederholte seine Worte wie im Fieberwahn. „Wir sind gerettet. Wir sind gerettet. Wir sind gerettet.“

Es war schließlich Farniel, der ihn zum Schweigen brachte. Als Vox ihn an der Schulter packte, stieß der Waldelf ihn grob zur Seite. „Halt die Klappe, du alter Narr!“, fuhr er ihn wütend an. „Siehst du das nicht? Deine Retter sitzen genauso in der Tinte wie wir!“

„Nein…“, wimmerte Vox und krümmte sie verzweifelt auf dem Boden zusammen. „Das ist nicht wahr. Du wirst sehen, er wird uns retten. Kommandant Gancielle wird uns alle retten.“

„Ein Kommandant?“ Molas Stimme klang alarmiert. „Stimmt das, was dieser Jammerlappen da sagt?“

„Ja!“, rief Lexa hastig. „Wir sind ein Spähtrupp der Streitkräfte von Eydar und wurden damit beauftragt, nach den Vermissten zu suchen. Wir haben bereits einen Boten zurück in die Stadt geschickt, nachdem wir diese Höhle entdeckt hatten. Brigadegeneral Loronk ist bestimmt schon mit einem ganzen Bataillon Soldaten auf dem Weg hierher!“

„Brigadegeneral Loronk? Wohl kaum.“ Lexas Notlüge schien Mola nicht einmal ansatzweise verunsichern zu können. Mit einem Kopfnicken gab sie ihren Spießgesellen einen Wink. „Schnappt sie euch. Aber seht zu, dass ihr sie in einem Stück zu fassen kriegt.“

Sofort schlossen die Dunkelelfen den Kreis um ihre Opfer enger. Da verlor Craig endgültig die Beherrschung. „Ihr Drecksschweine!“, brüllte er mit hochrotem Kopf und fuchtelte wild mit seinem Schwert herum. „Ihr habt Tyra umgebracht!“

Einer der Banditen, der in Craigs Reichweite geraten war, fuhr brummend zurück, als die Klinge unkontrolliert durch die Luft sauste. Mola verzog die spröden Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Ach, sprichst du etwa von dieser übermütigen Göre aus Isenheim?“, höhnte sie. „Wie tragisch. Ihr wart wohl Freunde, nicht wahr? Wirklich ein Jammer. Ihr hättet bis in alle Ewigkeit zusammen für uns arbeiten können. Aber sie musste ja unbedingt die Heldin spielen.“

„Wer war es?“, schrie Craig wütend und Lexa musste ihn an der Schulter festhalten, um zu verhindern, dass er sich direkt in die scharfen Klingen der Dunkelelfen stürzte. „Wer von euch Mistkerlen hat sie umgebracht? Ich schlitze diesen Bastard der Länge nach auf!“

„Ein wildentschlossener Krieger, der bereit ist, den Tod seiner Freundin zu rächen“, spottete Mola. „Das ist ja wirklich rührend. Aber jetzt lass das Schwert los, bevor du dir noch wehtust.“

„Ich meine es ernst!“, tobte Craig und an seinen Schläfen traten die Adern hervor. Lexa stieß ihn rüde an. „Beruhig dich!“, zischte sie ihm zu. „Ein Wutanfall hilft uns jetzt auch nicht weiter.“

Mola ging mit hämischem Grinsen auf und ab und zog mit einer schnellen Bewegung ihr Blasrohr aus dem Gürtel, während ihre Untergebenen den Kreis immer enger schlossen. „Du kommst leider zu spät, tapferer Rächer“, lachte sie. „Du wirst den Mörder deiner kleinen Freundin hier nicht finden. Er hat diese Höhle gestern verlassen, nachdem er der Kleinen die Luft rausgelassen hat. Aber vielleicht tröstet es dich ja, dass sie es ihm nicht leicht gemacht hat. Der arme Viland wäre um ein Haar verblutet.“

Craig gab ein ersticktes Schluchzen von sich. Der Spott der Alten traf ihn tief und in seinen Augenwinkeln sammelten sich Tränen. Und das Schlimmste war, dass er all seiner angestauten Wut keinen Ausdruck verleihen konnte.

„So, und jetzt ist Schluss mit dem Geplauder“, brummte Mola und schwenkte drohend ihr Blasrohr. „Ihr habt die Wahl. Entweder lasst ihr eure Waffen fallen und macht euch direkt an die Arbeit oder wir legen euch vorher schlafen.“

Sie legte das Blasrohr an ihre aufgesprungenen Lippen setzte, doch statt tief Luft zu holen und ihre Backen aufzublähen, schien ihr plötzlich etwas einzufallen und sie ließ das Blasrohr wieder sinken.

„Wobei es da noch eine Sache gibt, die mich interessieren würde“, knurrte sie leise. „Wie seid ihr an den Wachen vorbeigekommen?“

Gancielle verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. „Frag das doch mal diese rothaarige Furie“, erwiderte er trotzig.

„Vela?“, rief Mola überrascht. „Was ist mit ihr?“

„Die liegt mit dem Gesicht nach unten in ihrem eigenen Blut“, erwiderte Gancielle ungerührt.

Die alte Dunkelelfe erstarrte und glotzte den ehemaligen Kommandanten ungläubig an. „Ihr habt sie getötet?“, hauchte sie atemlos. „Ihr habt meine Tochter getötet?“ Molas Hals schwoll an und ihre Augen quollen aus den Höhlen hervor. Zornesröte stieg ihr in jede ihrer vielen Gesichtsfalten und selbst Craig erkannte sofort, dass Gancielle einen wunden Punkt getroffen hatte. „Das werdet ihr büßen!“, schrie sie erbost und ihre schrille Stimme überschlug sich. „Schlagt sie tot!“

Die Meute zögerte, den Befehl auszuführen. Einer ihrer Gehilfen, ein in eine zerschlissene Robe gehüllter Dunkelelf, trat vor. „Aber…das Sturmerz…“, warf er unsicher ein. „Wir sollten sie doch als Schürfer einsetzen…“

„Vergiss das Erz!“, fuhr Mola ihm wutentbrannt über den Mund. „Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen!“ Sie schlug wie wild mit ihrem Säbel um sich und machte ihren Untergebenen Beine. „Haut sie in Stücke!“, kreischte sie hysterisch und sah ihrer Tochter in diesem Moment ähnlicher denn je. „Ich will ihre Eingeweide an die Bluthechte verfüttern!“

Craig war es nur recht, dass sich die zerlumpten Banditen in Bewegung setzten und unter dem erzürnten Heulen ihrer Anführerin auf ihre Opfer eindrangen. Der Zorn und der Hass drängten seine Angst vollkommen in den Hintergrund. „Kommt nur her!“, brüllte er in blinder Wut und übertönte damit sogar Molas ohrenbetäubendes Kreischen.

„Bleib dicht bei uns und mach keinen Blödsinn!“, rief Gancielle warnend und zog Craig an der Schulter zurück. „Rücken an Rücken!“ Craig wirbelte herum und bemerkte, dass auch die Aufseher mit den Peitschen anrückten. Dahinter erkannte er das grimmige Gesicht des bulligen Hünen, der wütend die gefesselten Fäuste ballte. Auch Gancielle entdeckte den Gefangenen und plötzlich funkelten seine Augen auf..

„Lexa!“, rief er erstickt und wehrte den ersten Angreifer ab, der mit einem schartigen Schwert nach ihm schlug. „Das schaffen wir nicht! Die Ketten!“

Lexa begriff sofort, was Gancielle ihr sagen wollte. Sie griff nach dem Schlüsselbund, den sie der Wache abgenommen hatte, und holte weit aus. Noch ehe einer der Banditen begriff, was geschah, schleuderte sie das klimpernde Bündel quer durch die Mine bis zu den gefesselten Sklaven.

Eigentlich hatte sich Ratford damit abgefunden, dass die Gefangenen von außen keine Hilfe zu erwarten hatten, und nachdem Vance endlich zugestimmt hatte, ihn bei seinen Ausbruchsplänen zu unterstützen, sah der Krieger auch keine Notwendigkeit mehr darin, von jemandem von der Oberfläche gerettet zu werden. Doch dann waren plötzlich diese drei Fremden in die Mine gestolpert und gerade, als es so aussah, als würden sie jeden Augenblick von Molas Dunkelelfen überwältigt werden, landete der Schlüsselbund klimpernd direkt vor Ratfords Füßen. Und im Bruchteil einer Sekunde warf er all seine Pläne über den Haufen und ergriff die Gelegenheit beim Schopf.

Bevor einer der Aufseher reagieren konnte, stürzte sich Ratford auf den rostigen Schlüsselbund. Seine wulstigen Finger pfriemelten an dem schmiedeeisernen Ring herum und in seiner Hektik entglitt er ihm gleich zweimal. Doch schließlich fand er den passenden Schlüssel zu den metallenen Schellen, die ihn fesselten, und eine Handumdrehung später fielen seine Ketten klirrend zu Boden.

Ratford nahm sich keine Zeit, das Gefühl der Freiheit zu genießen. Stattdessen warf er Ahravi den Schlüsselbund zu, packte die Spitzhacke wie eine Axt und stürmte ohne zu zögern auf die Schmuggler zu, die inzwischen einen Ring um seine Befreier geschlossen hatten.

Ratz war der erste, der ihn bemerkte. Er drehte sich hektisch um und fuchtelte wild mit seiner Peitsche. „Der Gefangene ist frei!“, schrie er schrill. „Die Sklaven haben die Schlüssel! Haltet sie auf!“

„Macht sie alle fertig!“, kreischte Mola in blinder Wut.

Ratford fuhr wie ein Berserker zwischen die Aufseher. Er trieb sie mit wilden Schwüngen seiner Spitzhacke auseinander und in der Sturmerzhöhle brach das reinste Chaos aus. Als nächstes fielen Ahravis Ketten und die Pardelfrau reichte den Schlüssel an ihre beiden Gefährtinnen weiter. Gancielle kämpfte sich und seine Begleiter aus der Meute der zerlumpten Dunkelelfen frei, ohne einen der Schurken ernsthaft verletzen zu können. Ratz und einige weitere Aufseher rannten mit ausgerollten Peitschen durch die Mine, um die anderen Kidhara und Banashi davon abzuhalten, ihre Fesseln zu lösen. Die Sklaven, die zu schwach waren, um zu kämpfen, allen voran Vox, kauerten sich zitternd zusammen und schrien vor Angst. Und all der Lärm wurde von Molas lautem Kreischen und Fluchen übertönt.

Ratz Gesicht färbte sich in einer Mischung aus Wut und Panik dunkelrot. „Überwältigt sie!“, schrie er den anderen Aufsehern zu und deutete auf Ahravi und ihre Gefährtinnen. „Tötet sie, wenn es nicht anders geht!“ Energisch stürmte er auf die Pardelfrauen zu, doch dann blieb er plötzlich stehen und klappte erschrocken den Mund auf.

Wuleen hatte den Schlüsselbund in die Finger bekommen.

Zwischen den Körpern der Dunkelelfen, die sich ihm in den Weg stellten, konnte Ratford sehen, wie Ratz weiß wie ein Laken wurde, als die Schellen an Wuleens Handgelenken aufsprangen. Wuleen löste in aller Seelenruhe auch die Fesseln von seinen Füßen und hob dann ruckartig den Kopf. In seinen Augen funkelte der Wahnsinn und er bleckte die Zähne, wie ein angriffslustiger Wolf, der die Lefzen hochzog. Seine Finger krümmten sich und dann stürzte er sich ansatzlos auf Ratz.

Ratz versuchte nicht einmal, sich mit Wuleen anzulegen. Stattdessen drehte er sich um und lief davon, doch er war zu langsam. Schon nach wenigen Schritten hatte Wuleen ihn eingeholt, griff ihm mit einer Hand in den Nacken und stieß ihn brutal zu Boden. Wie im Wahn fiel er über ihn her und schlug immer wieder auf ihn ein, bis seine Fingerknöchel bluteten. Ratz stöhnte und wimmerte und versuchte, seinen Kopf mit seinen Armen zu schützen, doch schließlich bekam Wuleen seine Peitsche zu fassen. Er wickelte sie um Ratz‘ Hals und zog die Schlinge mit aller Kraft zu. Jetzt erst versuchte Ratz sich zu wehren. Er trommelte verzweifelt auf Wuleens Brustkorb ein, doch seine Schläge wurden immer schwächer. Seine Arme sackten kraftlos hinab und schließlich erstarb auch das letzte Zucken seines Körpers.

Ratford bekam nur am Rande mit, wie Wuleen mit Ratz abrechnete. Er versuchte, sich zu den Eindringlingen durchzuschlagen, die sich, bedrängt von Molas Bande, zur Höhlenwand gekämpft hatten, wo sie sich nun energisch gegen die Dunkelelfen verteidigten. Mit einem weit ausladenden Hieb seiner Spitzhacke räumte Ratford einen Banditen aus dem Weg, der sich ihm leichtsinnigerweise entgegenstellte, doch dann trat Balam auf den Plan. Ratford bemerkte gerade noch rechtzeitig, wie der Dunkelelf ihn mit einem lodernden Feuerball ins Visier nahm. Ratford duckte sich unter dem Geschoss hinweg und sah zähneknirschend zu, wie es in der rückwärtigen Wand einschlug und mit einer gewaltigen Explosion die ganze Höhle erschütterte. Kleine Steinchen und Staub rieselten von der Decke und Ratford fürchtete, dass die ganze Mine einstürzen würde, wenn Balam so weitermachte. Hilfesuchend sah er sich um und entdeckte Lazana, die verzweifelt versuchte, ihre Fesseln aufzuschließen. Farniel stand unschlüssig daneben.

„Jetzt hilf ihr doch!“, brüllte Ratford den Waldelfen an. Dieser zuckte erschrocken zusammen, gehorchte aber. Sanft nahm er Lazana den Schlüssel aus den zitternden Händen und schob ihn in das Schloss ihrer Ketten.

„Na endlich“, brummte Ratford und spürte im nächsten Moment, dass es wieder heiß wurde. Gerade noch rechtzeitig machte er einen Ausfallschritt zur Seite, ehe ein weiterer Feuerball Balams genau an der Stelle einschlug, an der er gerade eben noch gestanden hatte. Die Wucht der Explosion riss ihn von den Beinen und er verlor die Orientierung. Taumelnd rappelte er sich auf, stolperte und fiel wieder hin. Verschwommen konnte er erkennen, dass sich Balam für einen neuen Angriff in Stellung brachte. Die Luft zwischen seinen Handflächen entzündete sich und die Flammen ballten sich zu einer mächtigen Feuerkugel zusammen.

Plötzlich schoss ein armdicker Speer aus purem Eis durch die Höhle. Er flog so dicht an Ratfords Gesicht vorbei, dass er die Kälte, die von ihm ausging, für einen Augenblick auf seiner Wange spüren konnte.

Balam sah das Geschoss zu spät. Er versuchte noch, dem Eisspeer seinen Feuerball entgegenzuschleudern, um ihn in der Luft zu zerschlagen, doch er war zu langsam. Die Lanze traf ihn auf Brusthöhe, durchbohrte ihn und schleuderte ihn mehrere Meter zurück. Sein Körper überschlug sich mehrmals, bis der Eisspeer schließlich klirrend zerbrach, und der dunkelelfische Feuermagier blieb mit ausgestreckten Armen liegen.

Ratford atmete auf und blickte erleichtert zu Lazana. Sie stand mit auf die Knie gestützten Armen da und auf ihrer Stirn glitzerten Schweißtropfen. Nachdem die Fesseln aus Schleierstahl ihre magischen Kräfte so lange unterdrückt hatten, kostete sie selbst ein verhältnismäßig einfacher Zauber viel Energie.

Mola heulte vor Zorn, als sie Balam fallen sah. Mit einem gellenden Pfiff rief sie ihre Ratte zu sich und hetzte den räudigen Nager mit einem zitternden Fingerzeig direkt auf Ratford. Die kleinen, roten Augen der Riesenratte leuchteten boshaft, als sie ihren fetten Körper in Bewegung setzte und flink wie ein Wiesel zwischen den Beinen der kämpfenden Dunkelelfen hindurchflitzte. Mit einem angriffslustigen Piepsen sprang sie Ratford direkt aus der heulenden Meute der Banditen heraus an. Die langen, gelben Zähne des Nagers schlossen sich mit einem metallischen Knipsen nur haarscharf vor seinem Unterarm, dann krallte sich das stinkende Ungeziefer im zerschlissenen Stoff von Ratfords Tunika wieder. Die gekrümmten Klauen der Ratte bohrten sich wie kleine Widerhaken in seinen Brustkorb, als sie an seinem Körper hochkletterte und nach seinen Augen schnappte. Ihr Mundgeruch raubte Ratford den Atem und lähmte ihn für ein paar Sekundenbruchteile. Doch dann griff er der Ratte direkt in das verfilzte Nackenfell und riss sie sich vom Gesicht, bevor sie ihm ein Auge ausbeißen konnte. Die Krallen des Nagers schrammten über seine Wangen und hinterließen blutige Kratzer, doch Ratford achtete gar nicht darauf, sondern schleuderte die Ratte wuchtig zu Boden. Das stinkende Tier quiekte benommen und strampelte mit den kurzen Beinen, während Ratford die Spitzhacke schwang und sie tief in den verlausten Körper schlug. Die Ratte bäumte sich auf, als der Pickel sich quer durch ihre Rippen bohrte, und öffnete das Maul mit den fiesen Zähnen zu einem atemlosen Piepsen, dann kippte ihr Kopf zur Seite und sie rührte sich nicht mehr. Ratford zog die blutige Spitzhacke aus dem Kadaver und versetzte ihm einen verächtlichen Tritt, der die Ratte bis zum anderen Ende der Sturmerzhöhle beförderte.

Molas wutverzerrte Stimme überschlug sich nun vollends. „Diese Mistkerle!“, schrie sie und schlug blindlings mit ihrem Säbel um sich. Einige ihrer Untergebenen mussten sich ducken, um nicht von ihr geköpft zu werden. „Macht sie fertig! Zieht ihnen die Haut ab! Reißt ihnen die Gedärme raus!“

Die Dunkelelfen waren bemüht, ihre Befehle in die Tat umzusetzen, doch ihre Gegner wehrten sich verbissen. Farniel und die anderen Sklaven waren dazu übergegangen, die Banditen mit Steinbrocken zu bewerfen und trieben sie so immer wieder auseinander. Ratford und Wuleen standen nun Seite an Seite und ließen jeden Banditen bitterlich büßen, der sich zu nahe an sie heranwagte.

Mola kreischte sich die Seele aus dem Leib, doch sie hielt überrascht inne, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Die drei Pardelfrauen hatten sich von hinten an sie herangeschlichen. Mola zuckte reflexartig zurück, als Ahravis scharfe Krallen durch die muffige Luft schnitten. Sie trennten ihr eine rote Haarsträhne aus dem wilden Schopf und Mola revanchierte sie sich sofort mit einem wütenden Säbelhieb, dem Ahravi allerdings mit einem geschickten Sprung entging. Dann fingen die Katzendamen an, Mola zu umzingeln.

Die Raserei fiel urplötzlich von Mola ab, als ihr bewusst wurde, dass sie es mit drei Gegnern gleichzeitig zu tun hatte. „Hierher!“, schrie sie gellend, während sie sich Ahravi und ihre Gefährtinnen mit wilden Säbelhieben vom Leib hielt. Ihre Augen zuckten wild hin und her, doch es war fast unmöglich, auf alle drei Pardelfrauen zu achten, die Mola mit koordinierten und geschmeidigen Bewegungen umkreisten.

Die wenigen Dunkelelfen, die nicht alle Hände voll damit zu tun hatten, Wuleen und Ratford in Schach zu halten, kamen ihrer Anführerin sofort zu Hilfe. Von der Seite griffen sie die Pardel an und traktierten sie mit wilden Schwertstreichen. Kidhara und Banashi empfingen die Banditen mit ihren rasiermesserscharfen Krallen, während sich Ahravi Mola alleine stellte.

Mola hob angriffslustig den Säbel und schien zu überlegen, wie sie Ahravi am besten angreifen sollte. „Mach keinen Blödsinn, Mieze“, knurrte sie drohend. „Wenn du brav zurück ins Körbchen gehst, lasse ich euch vielleicht am Leben.“

Ahravis Antwort war ein wütendes Fauchen. Sie schlug mit ihren Krallen zu, doch Mola trat geschickt einen Schritt zur Seite, brachte ihren Säbel in Position und ließ ihn mit ausladenden Bewegungen von einer Seite zur anderen schwingen. Bei jedem Hieb machte sie einen Schritt nach vorn und drängte Ahravi auf diese Weise langsam zurück. Die Pardelfrau behielt die Klinge mit ihren scharfen Augen ständig im Blick. Da packte Mola mit ihrer freien Hand urplötzlich den Dolch an ihrem Gürtel und machte blitzschnell einen Satz nach vorn.

Ahravi wurde von diesem Manöver überrascht. Hektisch versuchte sie zur Seite auszuweichen und geriet dabei ins Straucheln. Sie fiel auf den Rücken, drehte reflexartig die Schulter ein und der Dolch streifte ihren Arm. Knurrend packte sie Mola, die direkt über ihr stand, beim Handgelenk und grub ihr die Klauen ins Fleisch. Mola zischte erschrocken und ließ den Dolch fallen, schwang mit der anderen Hand aber bereits ihren Säbel.

Ahravi bekam den Dolch in letzter Sekunde zu fassen und hielt ihn schützend vor ihren Körper. Der geschwungene Säbel traf die schmale Klinge mit voller Wucht und schlug eine tiefe Kerbe hinein. Mola hielt überrascht und verärgert inne. Ahravi nutzte diese Gelegenheit sofort und trat ihr mit beiden Beinen ins Zwerchfell. Mola schnappte mit ersticktem Keuchen nach Luft und Ahravi sprang blitzschnell auf die Füße und rammte den Dolch direkt in Molas Brust.

Die Falten auf Molas Gesicht erzitterten und sie taumelte überrascht zurück. Unkontrolliert schlug sie mit dem Säbel um sich, doch Ahravi war außerhalb ihrer Reichweite. Dann stieß sie mit der Ferse gegen eine Kante im Höhlenboden, stolperte und fiel der Länge nach hin, während ihre faltigen Gesichtszüge erschlafften.

Der Aufprall ihres Leichnams war gleichbedeutend mit dem Ende des Kampfes. Zusammen mit Mola starb auch der letzte Widerstand der übrigen Banditen. Als sie ihre Anführerin fallen sahen, warfen sie ihre Waffen zu Boden und ergaben sich mit erhobenen Händen.
 

Gancielle ließ erschöpft sein Schwert sinken und wandte sich sorgenvoll Lexa zu. Mola hatte sie mit einem Schwertstreich an der Taille erwischt und in ihrer Rüstung klaffte ein langer Riss, der sich mit ihrem Blut gefüllt hatte. Nun kauerte sie an die Felswand gelehnt auf dem Höhlenboden und betastete die Wunde mit schmerzerfülltem Blick.

„Ich habe mich wohl etwas übernommen“, zischte sie und grinste gequält. „Danke für deine Hilfe. Ohne dich hätte mich diese alte Furie aufgespießt wie einen Fisch.“

„Das konnte ich nicht zulassen“, erwiderte Gancielle. „Es würde Meister Syndus bestimmt nicht gefallen, wenn seine beste Späherin einer meiner unautorisierten Einzelaktionen folgen und dabei ums Leben kommen würde.“

„Herzerwärmend“, lachte Lexa heiser. „Und ich dachte, du hättest es für mich getan.“

Gancielle wurde rot. „Das sollte nur ein Witz sein“, murmelte er verlegen. „Hat dich die Alte schlimm erwischt?“

„Es geht“, antwortete Lexa und hob kurz die Hand, um die Verletzung zu begutachten. An ihren Fingern klebte ihr eigenes Blut. „Die Wunde ist nicht besonders tief. Aber ich werde sie untersuchen lassen müssen.“ Plötzlich verfinsterte sich ihre Miene. Gancielle folgte ihrem Blick und hob überrascht die Augenbrauen.

Dort, in der Öffnung des Ganges, stand Yarshuk, mit käseweißem Gesicht. Gancielle erkannte ihn sofort. Als Loronk nach Eydar gekommen war, hatte ihm Yarshuk noch als treuer Fähnrich gedient. Dann war er angeblich in den Sümpfen verschollen. Dass er jetzt in der Mine auftauchte und nicht in Ketten lag, ließ nur einen Schluss zu.

Gancielle sah, wie die Lippen des Orks tonlos seinen Namen formten. Seine ängstlich aufgerissenen Augen, die überhaupt nicht zu seinem mächtigen Körperbau passen wollten, waren nicht auf das blutige Gemetzel in der Mitte der Höhle, sondern fest auf Gancielle gerichtet.

„Das glaube ich jetzt nicht…“, hauchte Gancielle und machte mechanisch einen Schritt nach vorn. Yarshuk zuckte zusammen, drehte sich um und lief davon, als wäre ihm ein ganzes Rudel Warge auf den Fersen.

„Verdammt!“, zischte Gancielle und nahm sofort die Verfolgung auf. „Lexa, sieh zu, dass diese Wüteriche nicht jeden dieser Halsabschneider umlegen! Ich knöpfte mir Yarshuk vor!“

Der Ork verschwand hinter einer Biegung des Ganges. Gancielle rannte ihm nach, wobei sich seine Gedanken überschlugen. Yarshuk machte mit den Banditen gemeinsame Sache, dafür war allein seine panische Flucht Beweis genug. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Loronk nicht wusste, dass sein treuester Diene noch am Leben war. Der Brigadegeneral steckte mit den Schmugglern unter einer Decke und vermutlich war er sogar der eigentliche Drahtzieher. Gancielle wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass der Ork triumphierend in seinen Gemächern saß und vorgab, nach den Vermissten zu suchen, während er sie in Wahrheit in der Mine schuften ließ, um mit Sturmerz handeln zu können. Von Anfang an war Gancielle klargewesen, dass der Brigadegeneral ein machtgieriger Widerling war, aber dass er derartig verbrecherischen Machenschaften nachging, hatte er nicht einmal im Ansatz erahnt. Blanke Wut stieg in ihm auf, als er daran dachte, dass Loronk ihn als widerspenstigen Kommandanten auf so hinterhältige Art und Weise aus dem Weg geräumt hatte.

Seine Schlussfolgerungen waren logisch und ergaben Sinn, aber das reichte Gancielle nicht. Er wollte es aus Yarshuks Mund hören. Er wollte, dass ausgerechnet Loronks treuer Fähnrich die Machenschaften seines Vorgesetzten aufdeckte.

Feuchte, muffige Luft empfing Gancielle, als er mit verbissenem Gesicht in die Höhle stürzte, in der sich der Sklavenverschlag befand. Ein im Fackelschein tanzender Schatten an der Wand verriet ihm, dass Yarshuk nicht durch die große Grotte flüchten wollte, sondern in den zweiten abzweigenden Gang gerannt war. Gancielle heftete sich unerbittlich auf seine Fersen. Er konnte das leise Klirren des Kettenhemds hören, das der Ork unter seinem Lederbrustpanzer trug. Yarshuk war ein stämmiger Kerl, aber das Gewicht seiner Rüstung ließ seine Kräfte schwinden. Seine Schritte wurden kaum merklich langsamer und schon bald tauchte sein breiter Rücken vor Gancielles Augen auf.

Yarshuk hatte noch immer einen beträchtlichen Vorsprung. Er rannte keuchend und stöhnend vor Anstrengung durch eine riesige Höhle, in der zahlreiche Decken und Matten verteilt lagen. Hoch über ihm klaffte ein breiter Spalt im Gestein, durch den gedämpftes Tageslicht und würzig riechende Frischluft strömten. Der süßliche Duft von altem, feuchtem Holz konnte den beißenden Schnapsgestank, der wie ein betäubender Nebel in der Höhle hing, nicht einmal ansatzweise übertünchen.

Yarshuks stockender, pfeifender Atem hallte gespenstisch von den Höhlenwänden wider. Gancielle konnte erkennen, dass er kurz davor war, vor Erschöpfung zusammenzubrechen. Er vermisste seine Rüstung, aber in diesem Augenblick war er froh, ihr zusätzliches Gewicht nicht mit sich herumschleppen zu müssen. Yarshuk erreichte das rückwärtige Ende der großen Höhle trotzdem vor ihm. Er rettete sich in einen breiten Gang, der wieder von Fackeln erhellt wurde, und Gancielle verlor ihn wieder aus den Augen, als er um eine Tunnelwindung bog.

Doch er blieb ihm auf den Fersen. Der Gang weitete sich plötzlich und endete in einer kleinen Höhle mit hoher Decke.

Gancielle blieb stehen. Vor sich sah er ein alles andere als stabil wirkendes Holzgerüst. Alte Taue hielte morsche Bretter und Stützbalken zusammen, die sich zu einer Art Treppenhaus auftürmten. Über marode Stufen gelangte man von einer Plattform zum nächsten und das gesamte Gestell ragte bis unter die Höhlendecke. Dort schien ein schmaler Schacht noch weiter nach oben zu führen, denn an der Wand war eine schmale Leiter angebracht, die hinter einigen Tropfsteinen verschwand.

Gancielle entdeckte Yarshuk auf der zweiten Plattform. Der Ork stützte sich mit einer Hand auf die wackelige Balustrade und warf einen gehetzten Blick über seine Schulter. Als er Gancielle sah, grunzte er und kämpfte sich weiter die Treppe nach oben.

Gancielle verlor keine Zeit mehr. Gleich drei Stufen auf einmal nehmend folgte er Yarshuk, der immer wieder panisch zurückblickte. Gancielle glaubte fast, das rasende Herz des Orks zu hören, doch obwohl Yarshuk offensichtlich am Ende seiner Kräfte war, erreichte er die oberste Plattform noch vor Gancielle. Sofort stieg er auf die Leiter und schob sich unter angestrengtem Ächzen und Stöhnen nach oben. Gancielle war dicht hinter ihm. Er griff nach den dünnen Sprossen, ignorierte die Splitter, die sich in seine Handflächen bohrten, und kletterte geschickt wie ein Affe an der Leiter empor. Über Yarshuks bulligem Körper entdeckte er einen schmalen Spalt, durch den er das grüne Blätterdach der Düstermarsch sehen konnte.

Kurz bevor der Ork das obere Ende der Leider erreichte, hatte Gancielle ihn eingeholt. Er streckte seinen Arm aus und packte Yarshuk an der Wade. Der Fähnrich japste erschrocken auf, doch dann wehrte er sich. Mit all seiner verbleibenden Kraft trat er nach unten und erwischte Gancielle am Ellenbogen. Gancielle verlor fast den Halt und ließ den Ork reflexartig los, dem die Angst plötzlich neue Energie zu verleihen schien. In Windeseile erklomm er die letzten Sprossen und zwängte sich durch den Spalt ins Freie. Verschlungene Wurzeln streiften seinen Rücken und auf Gancielle, der sich krampfhaft an der Leiter festhielt, rieselte Erde. Er wagte einen kurzen Blick nach unten, der ihm verdeutlichte, dass ein Sturz aus dieser Höhe nicht gut ausgehen würde. Als er den Kopf in den Nacken legte und wieder nach oben sah, tauchte für einen Moment Yarshuks gerötetes Gesicht vor ihm auf, doch es verschwand schnell wieder. Stattdessen schob sich unter dem lauten Ächzen des Orks ein großer Felsbrocken in sein Blickfeld.

Gancielle riss erschrocken die Augen auf, als der schwere Klotz von Yarshuk durch die Öffnung gewuchtet wurde und dabei Erde und Grasbüschel mit sich riss. Mit einem erstickten Aufschrei ließ Gancielle die Leiter mit einer Hand los und schwang sich zur Seite. Seine Füße pendelten zur Seite und schlugen gegen die Höhlenwand. Der Felsen verfehlte ihn so knapp, dass er den Luftzug an seiner Wange spürte. Tief unter ihm durchschlug der Steinbrocken mit ohrenbetäubendem Krachen sämtliche Plattformen des Holzgestells und blieb in einem Haufen aus Splittern und Bruchstücken liegen. Das gesamte Gerüst wackelte bedenklich, blieb trotz des gewaltigen Lochs in seiner Mitte aber stehen.

Gancielles Herz schlug ihm bis zum Hals und er zitterte am ganzen Leib. Mit einer Hand hing er an der Leiter und starrte ungläubig auf das Loch, dass der Felsbrocken durch den Holzturm geschlagen hatte. Um ein Haar vergaß er den Ork, den er verfolgte, doch dann ergriff er die Sprossen wieder mit beiden Händen, schwang sich auf die Leiter und zwängte sich wenige Atemzüge später durch die Öffnung.

Der dichte Wald der Düstermarsch umfing ihn mit all seinem Modergeruch und Insektensurren. Das gedämpfte Rauschen der Brandung zeugte von der nahen Küste. Gancielle bemerkte, dass er sich auf dem großen Hügel am Rande der Bucht befand. Von hier war das Loch, das in die geheime Mine der Schmuggler führte, kaum zu erkennen. Es war nichts weiter, als ein im Schatten verborgener Spalt unter den gekrümmten Wurzeln einer alten Moorbirke. Zwischen ihren Blättern blitzte die Sonne hervor. Der Morgennebel hatte sich verzogen und Yarshuk war entkommen.

Gancielle warf in einem Anflug von verbitterter Enttäuschung sein Schwert schwungvoll zu Boden. Er war kein Fährtensucher und ohne die nötige Fachkenntnis war es unmöglich, den flüchtigen Ork in den tiefen Wäldern der Düstermarsch zu finden. Gancielle hätte Yarshuk nur allzu gerne erwischt, aber jetzt musste er sich wohl oder übel damit abfinden, dass Loronks Fähnrich über alle Berge war.

Mit einem resignierten Seufzen drehte sich Gancielle um. Der schmale Zugang unter den Wurzeln war so gut versteckt, dass es kein Wunder war, dass Lexa ihn nie entdeckt hatte. Gancielle kroch rückwärts in den Spalt hinein, tastete mit seinen Füßen nach unten, bis er die Sprossen der Leiter spürte, und kletterte langsam abwärts. Als er die oberste Plattform des Holzturms erreichte, zögerte er. Das ganze Gerüst hatte von Anfang an nicht sehr stabil ausgesehen, aber nachdem es von dem großen Felsbrocken getroffen worden war, schien es nun jeden Augenblick auseinanderzufallen. Gancielle prüfte vorsichtig, ob die oberste Plattform sein Gewicht aushielt. Er betrat sie mit beiden Füßen, ohne jedoch die Leiter loszulassen. Das alte Holz ächzte und knarrte hielt allerdings stand. Gancielle wagte es, seine Hände von den Leitersprossen zu nehmen. Ganz langsam bewegte er sich auf die marode Treppe zu. Das instabile Gestell wackelte bei jedem seiner Schritte und Gancielle hielt immer wieder die Luft an, aus Angst, das ganze Gerüst könnte schon beim kleinsten Atemzug in sich zusammenstürzen.

Quälend langsam stieg er die Stufen hinunter, begleitet vom ständigen Knarzen des morschen Holzes. Als er schließlich die unterste Plattform erreichte, erbebte das gesamte Gestell. Eine dicke Planke löste sich über ihm und stürzte in die Tiefe. Mehrere Splitter folgten und dann hörte Gancielle das unheilkündende Knacken eines Balkens. Bevor das wackelige Gestell über ihm zusammenbrechen konnte, stürzte er sich mit einem beherzten Sprung über die Balustrade und landete zwei Meter tiefer auf dem Boden. Er fiel der Länge nach hin und sah, wie ein dicker Stützpfeiler einfach abknickte. Taue rissen, Holz splitterte und die oberste Plattform brach aus ihrer Verankerung. Das schwere Gerüst stürzte in die Tiefe, wobei es weitere Balken und Bretter zerschmetterte, und schließlich wankte der ganze Turm, neigte sich weit zur Seite und stürzte schließlich in einer gewaltigen Staubwolke in sich zusammen. Gancielle brachte sich hinter der Windung des Tunnels in Sicherheit, um durch die Luft fliegenden Trümmern und Holzsplittern zu entgehen. Als sich der Lärm und die Staubwolke gelegt hatten, spähte er vorsichtig um die Ecke. Von dem großen Gerüst war nur noch ein Haufen Schutt übrig. Die Leiter hoch über ihm hing zwar noch an der Wand, war nun aber unerreichbar. Der Hinterausgang wäre eine gute Möglichkeit gewesen, die Gefangenen aus der Höhle zu bringen, aber nun war ihnen dieser Weg versperrt.

Gancielle rümpfte verärgert die Nase. „Hoffen wir, dass der Knucker die Bluthechte inzwischen verdaut hat und wieder Heißhunger hat“

Als Gancielle niedergeschlagen in die Mine zurückkehrte, hatten sich Craig und Lexa bereits mit den Sklaven bekannt gemacht. Die übrigen Schmuggler wurden mit den Ketten gefesselt, aus denen sich die Gefangenen befreit hatten. Nur noch sieben Dunkelelfen waren am Leben, alle anderen waren der Vergeltung ihrer ehemaligen Sklaven zum Opfer gefallen. Ratford bewachte sie mit grimmigem Blick, noch immer mit der Spitzhacke in den Händen. Keiner der Banditen wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben.

Lazana, Kidhara und Banashi kümmerten sich um die erschöpften Sklaven. Sie weinten vor Freude und Erleichterung, als die Ketten von ihren Armen und Beinen abfielen. Ungläubig rieben sie sich die wundgescheuerten Stellen an den Handgelenken und Fußknöcheln. Einige von ihnen waren so lange in den Fängen der Banditen gewesen, dass sie vergessen hatten, wie es sich anfühlte, nicht gefesselt zu sein.

Craig saß etwas abseits bei Lexa, die ihre Wunde versorgte, und starrte auf seine zitternden Hände. Sein Wutanfall war in dem Moment vorbei gewesen, als ihm wirklich bewusst geworden war, dass es um Leben und Tod ging. Es grenzte an ein Wunder, dass er heil aus dem Scharmützel herausgekommen war. Gancielle hatte ihn und Lexa verteidigt, so gut es ging. Craig war natürlich froh, noch am Leben zu sein, aber noch erleichterter war er darüber, dass er selbst niemanden getötet hatte, obwohl er in seinem Zorn fest entschlossen gewesen war, jeden einzelnen Dunkelelfen umzubringen.

Lexa stieß ihn an und Craig hob den Kopf. Gancielle schlurfte geknickt zu ihnen herüber. „Yarshuk ist mir entwischt“, brummte er verbittert.

„Höchst bedauerlich“, erwiderte Lexa. „Dann müssen wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Es ist gut möglich, dass er Loronk informiert. Vorausgesetzt, dass er tatsächlich mit diesen Schurken unter einer Decke steckt.“

„Das tut er“, mischte sich Farniel ein. „Loronk hat uns nicht einfach in den Sümpfen ausgesetzt, sondern uns direkt diesen Halsabschneidern ausgeliefert.“

Gancielle ballte erbost die Fäuste. „Dieser Mistkerl“, knurrte er zornig. „Damit ist er endgültig zu weit gegangen. Jetzt machen wir ihn fertig!“

„Nicht so eilig, Gancielle“, mahnte Lexa. Sie hatte die Schnittwunde an ihrer Taille inzwischen verbunden, aber bei manchen Bewegungen verzog sie noch immer schmerzverzerrt das Gesicht. „Loronk hat in Eydar immer noch das Sagen. Es könnte gefährlich sein, ihn in aller Öffentlichkeit mit seinen Schandtaten zu konfrontieren. Wir müssen vorsichtig vorgehen.“

„Dann müssen wir Meister Syndus informieren, ohne dass Loronk etwas davon mitbekommt“, brummte Gancielle und warf den gefangenen Schmugglern einen bitterbösen Blick zu. „Dieser widerliche Ork wird sich noch umsehen! Seine Verbündeten haben wir schließlich schon aus dem Verkehr gezogen.“

„Das stimmt nicht ganz.“ Ratford trat mit grimmigem Gesichtsausdruck an Gancielle und Lexa heran. „Ursprünglich haben sich hier doppelt so viele Gauner herumgetrieben. Aber gestern Nacht hat die Hälfte dieses Lumpenpacks die Höhle verlassen.“

„Es gibt noch mehr von ihnen?“, rief Gancielle entsetzt. „Wo sind sie hin?“

Ratford zuckte die Schultern. „Keine Ahnung“, brummte er. „Aber vielleicht weiß es einer dieser dreckigen Blasshäuter.“ Er warf den gefesselten Dunkelelfen einen verächtlichen Blick zu.

Gancielle stapfte entschlossen auf die Banditen zu und packte den ersten von ihnen beim Kragen. „Raus mit der Sprache!“, brüllte er ihn an. „Wo ist der Rest von euch Bastarden?“

„Sie sind nach Norden gesegelt!“, schrie der Dunkelelf mit angstschriller Stimme. „Fjedor hat sie in die Wolkenberge geführt!“

„Fjedor…“, grollte Gancielle. Der Name des selbsternannten Schmugglerkönigs war ihm geläufig. Es gab fast niemanden auf der Halbinsel, der ihn nicht suchte. Bislang hatte ihn noch niemand zu fassen bekommen und eigentlich wunderte es Gancielle gar nicht, dass er seine Finger bei dieser Sache im Spiel hatte.

„Was will diese windige Ratte in den Wolkenbergen?“, fragte er den Dunkelelfen mit drohendem Unterton.

Dem Banditen liefen die Tränen über die Wangen und der Rotz aus der Nase. „Mola glaubt, dass sie den Tempel dieser merkwürdigen Sturmpriester überfallen wollen“, antwortete er zitternd. „Das war alles Brynnes Idee!“

„Brynne?“, knurrte Gancielle misstrauisch. „Wer soll das sein?“

„Ich habe keine Ahnung, wer er ist“, jammerte der Dunkelelf. „Ich weiß nur, dass er aus Isenheim stammt und an einer seltenen Krankheit leidet, durch die ihn das Licht der Sonne verbrennt. Und ich weiß, dass ich Angst vor ihm habe.“

„Und was hat dieser ominöse Brynne mit Schmugglerpack wie euch zu schaffen?“, grollte Gancielle und zog den Kragen des Banditen enger um dessen Hals.

„Er hat diese Höhle entdeckt“, wimmerte der Dunkelelf verzweifelt. „Und das Sturmerz. Er hat Fjedor davon erzählt und so hat die Sache mit dem Schmuggel begonnen. Wir haben Reisende überfallen, entführt und in der Mine für uns schuften lassen. Das Sturmerz haben wir an Hehler verkauft. Daran hat sich auch nichts geändert, als Loronk uns aufgestöbert hat. Für einen großen Anteil des Erlöses aus dem Schmuggel hat er uns unterstützt. Er und Fjedor haben sich dumm und dämlich verdient. Aber Brynne wollte nichts von all dem Geld. Er war nur die ganze Zeit hier und hat den Erzabbau beobachtet, als ob er nach etwas Bestimmtem suchen würde. Und dann hat dieser Kerl gestern diesen merkwürdigen Stein gefunden.“ Der Bandit zeigte mit zitterndem Finger auf Vance, der noch immer gefesselt war und stumm auf dem Boden saß. „Kurz darauf sind Brynne und Fjedor nach Norden aufgebrochen.“

„Ein merkwürdiger Stein?“, brummte Gancielle skeptisch.

„Verzeihung, dürfte ich mich einmischen?“, fragte Lazana. Die junge Frau wirkte noch immer erschöpft, doch ihr Gesicht hatte wieder einen gesunden Farbton angenommen. Dafür hatte sich ihre Stirn in sorgenvolle Falten gelegt. „Nach allem, was ich darüber weiß, nehme ich an, dass es sich bei dem besagten Bruchstück um einen Blitzstein handelt. Sollte das der Wahrheit entsprechen und Brynne tatsächlich auf dem Weg zum Wolkentempel sein, dann ist das eine Katastrophe!“

Gancielle ließ den Banditen los, der sich leise schluchzend an den Hals fasste. Er starrte Lazana fragend an und schob die Brauen zusammen. „Wisst Ihr etwa, wer dieser Brynne ist?“, erkundigte er sich.

„Das nicht“, antwortete Lazana und schüttelte den Kopf. Ihr blondes, seidig glänzendes Haar wehte um ihre schmalen Schultern. „Aber ich weiß das ein oder andere über den Wolkentempel. Es ist an den magischen Akademien von Ganestan kein Geheimnis, dass Hochmagier Ascor, der Vorsteher des Tempels, im Besitz eines mächtigen Artefakts ist, das man den Finger der Wolken nennt. Es handelt sich dabei um einen Ring, der mit einem Blitzstein, dem reinsten seiner Art, besetzt ist.“

„Und warum ist das eine Katastrophe?“, unterbrach Gancielle die Magierin. „Brynne und Ascor besitzen also beide einen dieser Blitzsteine. Was hat es mit ihnen auf sich?“

„Sie absorbieren die Energie von Blitzen, egal ob natürlicher oder magischer Herkunft“, erklärte Lazana. „Das funktioniert allerdings nur begrenzt. Meist verlieren Blitzsteine nach dem dritten oder vierten Gebrauch ihre Absorptionsfähigkeiten und zerfallen zu Staub. Aber der Finger der Wolken ist anders. Wie gesagt, es ist der reinste Blitzstein, den es gibt. Er kann unendlich viel Energie in sich aufnehmen, speichern und jederzeit wieder freisetzen. Und er gestattet seinem Träger, die urtümliche Macht der Wolken heraufzubeschwören. Nicht die einfache Sturmmagie, die man an jeder Akademie lernen kann, sondern gewaltige Blitze, die direkt aus dem Himmel kommen. Nicht einmal Schleierstahl kann die uralte Magie des Fingers der Wolken unterdrücken. Mit diesen Kräften wird man zu einem sterblichen Gott. Man ist nahezu unantastbar. Es sei denn…“

„Es sei denn, man trifft auf einen Kontrahenten, der ebenfalls einen Blitzstein besitzt und diese Urkräfte absorbieren kann.“ Gancielle verstand endlich, wovor Lazana warnen wollte, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Brynne will Ascor überwältigen und den Finger der Wolken in seinen Besitz bringen!“

Lazana nickte besorgt. „Genau das befürchte ich“, bestätigte sie. „Ich weiß nicht, was er damit vorhat, aber wenn ein derart mächtiges Artefakt in die Hände eines Mannes fällt, der nicht vor Menschenraub und Sklaverei zurückschreckt, sind seine Absichten wohl nicht besonders edel.“

„Was könnten die schlimmsten Folgen sein?“, fragte Gancielle zaghaft.

„Nun…“, überlegte Lazana verbittert. „Stellt Euch vor, einem einzelnen Mann folgt auf Schritt und Tritt ein Gewitter, das auf ihn hört, wie ein braves Schoßtier. Ich kenne Brynnes Ziele nicht, aber möglicherweise hat er es auf den Kaiserthron abgesehen. In diesem Fall wäre ganz Gäa in Gefahr.“

Gancielle wurde schwindelig und er fasste sich an den Kopf. Zu keinem Zeitpunkt hatte er gedacht, dass hinter den Vermisstenfällen von Eydar ein solches Unheil verborgen lag. „Brynne darf diesen Ring unter gar keinen Umständen in die Finger kriegen!“, japste er.

„Genau“, sagte Lazana gefasst. „Denn wenn er die Macht der Wolken an sich reißt, kann ihn nur noch jemand mit einem Blitzstein und viel Glück aufhalten.“

Craigs Herz hämmerte, als Lazana ihre Theorie darlegte. Sein erstes Abenteuer schien ungeahnte Ausmaße anzunehmen. Wenn er dabei helfen konnte, diesen Brynne aufzuhalten, wurde er schlagartig zum Helden. Dann würden Preman und Hiob aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Allerdings musste Craig zugeben, dass es nicht ungefährlich klang, sich mit einem Kerl anzulegen, der Blitze aus dem Himmel holen konnte. Er musste gestoppt werden, bevor er diesen mysteriösen Ring in seinen Besitz brachte. Wenn das nicht gelang…

Craig stapfte mit geballten Fäusten auf Vance zu, der teilnahmslos auf dem Höhlenboden hockte. Er war wütend, dass er sich nicht in den Kampf eingemischt hatte. Craig, Gancielle und Lexa hatten zwischenzeitlich wirklich in der Klemme gesteckt und trotzdem hatte Vance nichts unternommen, um sie zu retten.

Jetzt schlug er schuldbewusst die Augen nieder, als sich Craig vor ihm aufbaute. „Hast du das gehört?“, rief er laut. „Da draußen ist ein gefährlicher Irrer unterwegs. Das ist deine Chance, dein Gewissen reinzuwaschen.“

„Warum wollt ihr alle, dass ich euch unterstütze?“, fragte Vance. „Ich bin ein Verbrecher und gehöre in den Kerker.“

Craig schnaubte vor Zorn. „Drückst du dich schon wieder vor deiner Verantwortung?“, empörte er sich. „Ich dachte, ich hätte dir dein Selbstmitleid ausgetrieben. Wenn diese Angelegenheit erledigt ist, kannst du dich meinetwegen wieder einbuchten lassen. Aber wenn du uns nicht hilfst, dann gibt es vielleicht bald gar keinen Kerker mehr, in dem du dich verkriechen kannst!“

„Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders begeistert von der Vorstellung bin, mir die Unterstützung eines Verbrechers zu sichern“, brummte Gancielle und musterte Vance mit abschätzigen Blicken. „Aber gleichzeitig wäre ich ein Narr, wenn ich auf die Kampfkraft eines Dorashen verzichten würde. Auch wenn es mir zutiefst widerstrebt, ich bitte dich, uns zu helfen.“

Vance zuckte kaum merklich zusammen, antwortete aber nicht. Da packte ihn Craig am Kragen. „Das ist deine zweite Chance, das Vertrauen der Gesellschaft zurückzuerlangen!“, beschwor er ihn wütend. „Die erste hast du schon in den Wind geschossen und eine dritte wird es nicht geben, hast du kapiert?“

Ratford trat neben Craig und blickte so sanft, wie es mit seinem kantigen, unrasierten Gesicht möglich war, auf Vance hinab. „Komm schon, gib dir einen Ruck“, sagte er ruhig. „Immerhin konnte ich dich endlich dazu überreden, uns aus dieser Mine zu befreien, auch wenn deine Hilfe letztlich nicht nötig war. Aber trotzdem warst du bereit, diese armen Seelen zu retten. Und jetzt rettest du eben noch ein paar Leute mehr.“

Vance hob zaghaft den Kopf. Die Augen aller Anwesenden waren auf ihn gerichtet. Die ehemaligen Sklaven starrten ihn ehrfürchtig an und die gefesselten Banditen zitterten vor Angst so sehr, dass ihre Ketten rasselten.

„Ein Dorashen!“, hauchte Vox mit großen Augen.

„Weißt du was?“, schnaubte Craig verächtlich und ließ Vance los. „Ich habe angefangen, zu verstehen, warum dich dein Schuldbewusstsein so quält. Aber eines sage ich dir: Wenn du jetzt nichts unternimmst und dieser Brynne sein Ziel erreicht, wirst dein schlechtes Gewissen bis ins Unendliche wachsen und dich eines Tages erdrücken. Du wirst dich bis an dein Lebensende fragen, ob du diese Katastrophe hättest abwenden können.“

Vance rang die Hände. Zweifel schüttelten seinen Körper, doch plötzlich blitzte in seinen dunklen Augen ein entschlossenes Leuchten auf. Er erhob sich so ruckartig, dass Craig reflexartig zurückwich, und richtete seinen Blick auf Gancielle. „Gut“, verkündete er mit fester Stimme. „Ich werde Euch helfen.“

Und mit einer kurzen Kraftanstrengung sprengte er die Ketten, die seine Hände fesselten. Zerbrochene Metallglieder fielen klirrend zu Boden und Craig wich angesichts dieser Demonstration von Stärke unwillkürlich noch einen weiteren Schritt zurück.

Ratford grinste zufrieden. „Na, also!“, rief er erleichtert und ließ sich von Kidhara den Schlüsselbund geben, mit dem er die Metallschellen an Vanes Handgelenken und Beinen aufsperrte.

Im nächsten Augenblick trat Wuleen nach vorn und sank vor Vance auf die Knie. „Du hast Wuleen vor dem Dolch des Oberaufsehers beschützt“, sagte er mit einem seltsamen Akzent. Seine Stimme klang rau und heiser, fast wie ein Zischen. „Wuleen verdankt dir sein Leben und er wird dich begleiten, bis seine Schuld beglichen ist.“

Vance hob überrascht die Augenbrauen. Ihm war anzusehen, dass ihn Wuleens Treueschwur verlegen machte. „Lass das…“, murmelte er unsicher.

Craig stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „So ein bisschen Dankbarkeit fühlt sich doch gut an, oder?“, feixte er. „Und davon kannst du noch viel mehr haben, wenn du dich endlich am Riemen reißt!“

Vance sah sich verdattert um. Die meisten Anwesenden lächelten erleichtert und die Hoffnung war in ihre Gesichter zurückgekehrt. Ratford drehte sich zu Lazana um und nahm sie in den Arm. „Dann ist diese Angelegenheit ja in guten Händen“, schmunzelte er und blickte zu den drei Pardelfrauen herüber. „Und wir beide können unseren Auftrag zu Ende bringen.“

„Weißt du, Ratford, ich glaube, wir sollten hierbleiben und helfen“, sagte Lazana zögerlich.

Ratford riss entgeistert die Augen auf. „Wie bitte?“, rief er. „Cord fragt sich sicher schon, wo wir bleiben! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir nach Vanashyr zurückkehren.“

„Cord hat schon immer denjenigen geholfen, die seiner Unterstützung bedurften“, erwiderte Lazana. „Und von uns erwartet er dasselbe. Er würde wollen, dass wir uns für die Sicherheit der Bevölkerung von Adamas einsetzen.“

„Aber…unsere Aufgabe…“, stammelte Ratford unsicher. Hilfesuchend sah er zu Ahravi.

Die Pardelbotschafterin legte den Kopf schief. „Ich denke, wir kommen ab jetzt bestens allein zurecht“, verkündete sie. „Wir werden König Bardhan berichten, dass Ihr auf der Suche nach uns keine Mühen gescheut und Euer Leben aufs Spiel gesetzt habt. Er wird Euren Einsatz zu würdigen wissen, auch wenn Ihr uns nicht bis vor die Tore von Fravea begleitet.“

„Na, wenn das so ist…“, murmelte Ratford, auch wenn er alles andere als überzeugt klang. „Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt, Lazana.“ Er wandte sich Vance zu und lächelte gequält. „Wir stehen dir bei. Schließlich muss ja irgendjemand sichergehen, dass du kurz vor dem Ziel nicht doch noch kneifst.“

„Und ich komme auch mit!“, verkündete Craig überschwänglich und reckte sein Schwert so hoch in die Luft, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor und um ein Haar nach hinten umkippte.

Gancielle stieß ein missmutiges Schnauben aus. „Ich würde dir ja wirklich gerne davon abraten, aber ich glaube nicht, dass man dich so einfach loswird“, brummte er.

Craig drehte sich zu ihm um und drohte ihm mit der Faust. „Was soll denn das heißen?“, rief er empört. „Habt Ihr etwa schon vergessen, dass Ihr diese Höhle ohne mich niemals gefunden hättet?“

„Du meinst wohl, dass ich sie ohne deinen Knucker niemals gefunden hätte“, erwiderte Gancielle ungerührt. „Aber wir bekommen es jetzt mit mehr zu tun, als einem Schwarm ausgehungerter Bluthechte.“

„Schon klar!“, gab Craig patzig zurück.

Gancielle verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich um, ohne den beleidigten Waisenjungen weiter zu beachten. „Lexa, ich werde diese Freiwilligen nach Norden begleiten“, sagte er entschlossen. „Wir werden versuchen, Brynne und sein Lumpenpack einzuholen. In der Zwischenzeit muss Meister Syndus von Loronks Verrat und dem Angriff auf den Wolkentempel erfahren! Außerdem müssen die Gefangenen in Sicherheit gebracht werden. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Mit dieser Verletzung werde ich mich erstmal zurückhalten müssen“, erwiderte die Späherin und verzog das Gesicht. „Aber einen einfachen Botengang werde ich noch schaffen.“

Gancielle nickte finster. „Ausgezeichnet. Nimm einfach das Boot von dem Knirps, um nach Eydar zurückzukehren.“ Craig beschwerte sich lautstark, doch er wurde einfach ignoriert.

Lexa legte nachdenklich eine Hand ans Kinn und ließ ihren Blick über die Gefangenen schweifen. „Es sind zu viele“, murmelte sie leise. „Es passen nie und nimmer alle in diese Nussschale. Ich werde mehrmals fahren müssen.“

„Überlasst das uns“, verkündete Ahravi entschlossen und trat mit ihren beiden Leibwachen an der Seite nach vorn. „Eine von uns wird Euch begleiten und das Boot zurücklenken, sobald Ihr in Eydar angekommen seid. Die anderen werden im Sumpf bei den Sklaven bleiben, für die kein Platz mehr war, und auf sie aufpassen. Das soll unser bescheidener Beitrag für Eure Aufgabe sein. Ihr könnt Euch derweil voll und ganz darauf konzentrieren, Euren Befehlshaber zu informieren.“

Lexa neigte demütig den Kopf. „Eure Unterstützung wäre mehr als hilfreich“, erwiderte sie dankbar.

„Dann wäre alles besprochen“, rief Gancielle. „Meister Syndus soll dafür sorgen, dass Loronk aus dem Verkehr gezogen wird. Und anschließend soll er Truppen in die Wolkenberge schicken. Außerdem muss Khaanor benachrichtig werden. Wir brauchen dringend Unterstützung. Es grenzt schon an ein Wunder, dass wir mit den Banditen in der Höhle fertiggeworden sind, und es dürfte uns nicht gelingen, Brynnes Meute aufzuhalten. Also besteht unsere Aufgabe darin, den Wolkentempel vor ihm zu erreichen und den Hochmagier vor der Gefahr zu warnen.“

Es dauerte noch eine Weile, bis die befreiten Sklaven bereit waren, die Höhle zu verlassen. Ratford und Lazana durchsuchten das Vorratslager der Schmuggler und trieben dabei haufenweise Proviant in Form von Trockenfleisch und Brot auf, den sie unter den Gefangenen verteilten. Die ausgemergelten Gestalten stürzten sich mit Heißhunger auf die Nahrungsmittel. Craig konnte nur erahnen, wie lange sie nichts Richtiges mehr zu essen bekommen hatten.

Einige der einstigen Sklaven fanden außerdem ihre Waffen wieder und nachdem sie gerüstet vor Craig standen, erkannte er sie kaum wieder. Ratford wirkte in seiner schweren Brustplatte und dem Kettenhemd noch bulliger und furchteinflößender und seine zweischneidige Streitaxt unterstrich diesen Eindruck zusätzlich. Craig musste zugeben, dass er sich mit einem solchen Verbündeten gleich ein wenig wohler fühlte. Die Pardelfrauen tauschten ihre abgewetzten Tuniken gegen geschmeidige Lederrüstungen, die sie auf einem Haufen alter Waffen gefunden hatten, den die Schmuggler wohl ebenfalls an Hehler in Ganestan verkaufen wollten. Ihre eleganten, schmalen Krummsäbel, die typischen Waffen der Katzenkrieger von Vanashyr, hatten ihnen einige der Banditen abgenommen, die nun tot auf dem Höhlenboden lagen, und Ahravi und ihre Gefährtinnen holten sie sich nun von ihnen zurück. Lazana stützte sich auf ihren Stab, den die Banditen achtlos in eine Ecke geworfen hatten. An seinem oberen Ende war ein großer Edelstein eingelassen, der im Fackellicht der Mine in einem hellen Blau schimmerte. Ihre Robe war zerfetzt und schmutzig, aber mit ihrem Stab wirkte die Magierin augenblicklich um ein Vielfaches erhabener. Wuleen wiederum trug sein Schwert am Gürtel. Craig hatte noch nie eine vergleichbare Waffe gesehen. Sie hatte nur eine scharfe Seite und einen stumpfen Schwertrücken, ähnlich wie bei einem Messer. Die Klinge selbst war schmal und schnurgerade, nur an der Spitze krümmte sie sich leicht. Wuleen hatte sich wie ein kleines Kind gefreut, als er seine Waffe an sich genommen hatte.

Craig überreichte Vance dessen Hackebeil. „Bitte sehr“, grinste er und legte neckisch den Kopf schief. „Du hast ja gesagt, dass vielleicht irgendwann der Tag kommt, an dem ich es dir zurückgeben kann. Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet, dass das schon so bald der Fall sein würde.“

Vance nahm das Beil etwas zögerlich entgegen und schob es vorsichtig in das Seil an seiner Hüfte. Craig kreuzte die Arme hinter dem Kopf und Vance mit hochgezogener Augenbraue an. „Das Ding war sehr hilfreich, um deine Fährte aufzunehmen“, murmelte er.

„Hast du etwa gewusst, dass ich in der Klemme stecke?“, fragte Vance überrascht.

„Nein“, erwiderte Craig achselzuckend. „Aber du warst die einzige Person in diesen Sümpfen, deren Spur wir folgen konnten. Also haben wir genau das getan.“

„Seid ihr dann fertig?“, mischte sich Gancielle ein. Die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Kommt schon, ich möchte diese verfluchte Höhle so schnell wie möglich verlassen.“

Mit diesen Worten sprach er den meisten Sklaven aus der Seele. Die Mahlzeit hatte sie wieder ein wenig gestärkt, aber die Mine erinnerte sie noch immer an die Qualen, die sie erlitten hatten. Mit erleichtertem Seufzen standen sie auf und setzten sich in Bewegung. Craig folgte dem Zug der befreiten Gefangenen eilig.

Bewacht von Lexa und den Pardelfrauen stolperten die gefesselten Schmuggler voran. Keiner der Dunkelelfen beklagte sich. Sie waren heilfroh, noch am Leben zu sein. Damit hatten sie deutlich mehr Glück gehabt, als die meisten ihrer Kameraden und Anführer, die erschlagen in der Mine zurückgeblieben waren. Dafür erwartete sie nun das gleiche Schicksal, das ihre Gefangenen erlitten hatten. Sie würden vermutlich den Rest ihres Lebens in einer muffigen Zelle verbringen, mit dem Unterschied, dass es ihnen wahrscheinlich erspart blieb, in einer Mine schuften zu müssen. Craig fand diese Strafe nur gerecht. Sein Zorn war verraucht und er wünschte den Dunkelelfen nicht länger den Tod. Aber er verspürte auch keinerlei Mitleid in Anbetracht der lebenslangen Gefangenschaft, die auf die Banditen wartete.

Als er allerdings in die Eingangshöhle schlurfte und Tyras Leichnam sah, zog sich sein Magen in gedämpftem Zorn krampfhaft zusammen. Er wollte noch immer nicht wahrhaben, dass die Abenteurerin tot war. Zwar hatte er sie kaum gekannt, aber sie war für ihn sofort zum Vorbild geworden. Vielleicht lag seine Zuneigung zu ihr daran, dass sie kaum älter gewesen war als er, aber bereits all das erlebt hatte, wonach er sich sehnte. Und jetzt war sie tot.

Das Leben als Abenteurer mochte aufregend sein, aber es konnte auch fürchterlich kurz sein. Die Wirklichkeit wich auf grausame Weise von Craigs Vorstellung ab. Die Düstermarsch war nur einer von vielen Orten in Gäa, die ihre eigenen Regeln hatten. Der Waisenjunge begriff mehr und mehr, weshalb Hiob den Frieden, den er selbst immer als langweiliges Ärgernis empfunden hatte, als Geschenk bezeichnete.

Als Vance die Tote bemerkte, glaubte Craig einen kurzen Anflug von Betroffenheit auf seinem sonst so ausdruckslosen Gesicht zu erkennen. „Das ist doch das Mädchen aus dem Gasthaus“, stellte er tonlos fest.

Craig nickte bedrückt. „Sie war fest entschlossen, die Vermissten zu finden“, murmelte er. „Und sie war so kurz davor.“ Geräuschvoll zog er die Nase hoch, trat an den kalten Leichnam heran und ergriff ihn bei den Beinen. „Kannst du mir helfen, sie aus der Höhle zu tragen?“

Vance nickte wortlos und bückte sich hinunter, um Tyra unter den Achseln zu greifen. Gemeinsam hoben sie die Tote vom Boden.

Selbst durch die fellbesetzten Stiefel konnte Craig die Aura der Kälte spüren, die den Leichnam umgab. Mit den geschlossenen Augen und dem blutleeren Gesicht wirkte Tyra merkwürdig friedlich. Wäre nicht die fürchterliche Wunde in ihrer Schulter gewesen, hätte man annehmen können, sie sei im Schlaf verstorben.

Inzwischen hatte sich das Wasser wieder aus der Grotte zurückgezogen. Die einsetzende Ebbe würde es ihnen deutlich einfacher machen, zurück in die Düstermarsch zu gelangen. Auch der Weg aus der Grotte erwies sich bei Niedrigwasser als weit weniger beschwerlich. Die Ebbe legte einen schmalen Pfad frei, der zwischen den gezackten Felsen hindurchführte, und ersparte ihnen somit eine ähnliche Kletterei, wie beim Betreten der Höhle.

So erreichten sie ohne Schwierigkeiten den Felsvorsprung, auf dem Knack lag. Der Knucker schlummerte friedlich vor sich hin und schnarchte leise, doch als die gefesselten Schmuggler entdeckten, die unter Lexas strengem Blick an der Spitze gingen, ihn entdeckten und erschrocken aufschrien, wachte Knack auf und hob blinzelnd den Kopf. Er rülpste herzhaft und betrachtete die Ansammlung fremder Dunkelelfen neugierig. Als er Lexa erkannte, sprang er erfreut auf und hechelte glücklich.

„Der tut nichts“, brummte die Späherin und stieß einen der Schmuggler mit dem Knauf ihres Kurzschwerts an. Im Vorbeigehen streichelte sie Knack über den Kopf. Der Knucker gluckste zufrieden.

Die Dunkelelfen beäugten den schlangenartigen Drachen ängstlich. Die Anwesenheit des Ungeheuers missfiel ihnen sichtlich. Auch den befreiten Sklaven ging es ähnlich. Gancielle und Lexa hatten alle Hände voll zu tun, die aufkeimende Unruhe in Zaum zu halten.

„Bei allen Göttern, ein Knucker!“, donnerte Ratford und hob seine Streitaxt. „Vorsicht, die Biester haben Giftzähne!“

„Um Solas Willen, beruhigt Euch!“, rief Gancielle eilig und packte den Hünen am Arm. „Der kleine Fischfresser ist völlig harmlos. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir Euch gefunden haben.“

Ratford ließ verdattert die Axt sinken. „Harmlos?“, wiederholte er und glotzte Gancielle ungläubig an. „Die Biester fressen Vieh und schlagen auch arglose Wanderer nicht aus, wenn ihnen einer vor die Schnauze läuft!“

„Nun, dieser hier scheint sich mit Bluthechten zufrieden zu geben“, erwiderte Gancielle und deutete auf die feinsäuberlich abgenagten Gräten, die um Knack herum lagen. „Er gehört zu dem Jungen.“

Alle Anwesenden drehten sich zu Craig um, der mit Vance ganz am Ende des Zuges ging. Der Waisenjunge bemerkte ihre Blicke gar nicht. Er konnte seine Augen nicht von Tyras leichenblassem Gesicht abwenden. Die Ungerechtigkeit ihres Todes setzte ihm schwer zu.

Knack bemerkte seinen Freund und reckte den Kopf in die Höhe, doch er begriff sofort, dass Craig trauerte. Der Knucker winselte mitleidig und ließ die Fortsätze an seinem Schädel hängen. Wortlos stapfte der Waisenjunge an Knack vorbei. Da alle anderen stehengeblieben waren, schob er sich zusammen mit Vance und der Toten langsam an die Spitze der Gruppe.

Die Bucht war inzwischen auf die Größe eines Teichs zusammengeschrumpft. Der schmale Pfad an ihrem Ufer war noch mit einer dünnen Schicht Wasser bedeckt, aber die meisten Bluthechte hatten sich bereits ins Binnenmeer zurückgezogen. Die Zahl derer, die noch auf Beute lauerten, war zu gering, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Trotzdem ließ sich Knack ins Wasser gleiten, als Craig und Vance die Bucht betraten.

Die Bluthechte unternahmen erst gar nicht den Versuch, einen Angriff zu riskieren. Kaum erkannten sie die rostroten Konturen des Knuckers, wichen sie bis zum anderen Ufer der Bucht zurück, sodass die Durchquerung ohne Schwierigkeiten vonstattenging. Sowohl Craig und Vance, als auch die Schmuggler und ihre ehemaligen Sklaven erreichten den Strand unversehrt. Das Wasser blieb so ruhig, dass einige der erschöpften Gefangenen gar nicht bemerkten, dass die Bucht tödliche Bewohner beherbergte.

Vor allem Gancielle schien sehr froh darüber, nicht wieder Bekanntschaft mit den scharfen Zähnen der Bluthechte zu machen. Sein Gesicht war während der Durchquerung angespannt und besorgniserregend blass, doch als er statt Wasser wieder schlammigen Sand unter den Sohlen seiner Stiefel hatte, kehrte seine Entschlossenheit und Ungeduld zurück. Er verlor nicht viele Worte, sondern verabschiedete sich in aller Eile von Lexa. Die beiden tauschten wechselseitig Glückwünsche aus und Gancielle konnte seine Sorge nicht verbergen. Lexa verbarg es gut, aber ihre Verletzungen machten ihr zu schaffen. Immerhin waren Ahravi, Kidhara und Banashi an ihrer Seite. Die Katzendamen waren grimmige Kriegerinnen und in ihrer Anwesenheit würde es keiner der gefangenen Schmuggler wagen, irgendwelche Dummheiten zu machen.

Craig sah mit leerem Gesichtsausdruck zu, wie sich Lexa und die Pardelfrauen mit den Sklaven und den gefesselten Banditen im Schlepptau entfernten und schon bald zwischen hohen Farnwedeln und Büschen verschwanden. Gancielle, dessen Ungeduld förmlich spürbar war, musste sich noch etwas gedulden, denn es war Craig ein Anliegen, Tyra zur letzten Ruhe zu betten. Es lag in ihren Händen, ob Brynne Erfolg hatte oder die Katastrophe noch abzuwenden war.

Doch zunächst musste sich Gancielle noch gedulden. Es war Craig ein Anliegen, Tyra zur letzten Ruhe zu betten. Sie begruben sie auf dem Hügel, in dessen Inneren sie den Tod gefunden hatte. Dort war das Erdreich weich und fruchtbar und nicht so schlammig wie zwischen den Tümpeln der Düstermarsch. Craig und Vance legten den Körper der jungen Frau in eine Mulde zwischen den Wurzeln einer großen Schwarzerle. Ihr dichtes Blätterdache rauschte in einer lauen Meeresbrise, als wollte sie einen leisen Trauergesang in der Sprache der Bäume anstimmen. Craig faltete Tyra die Arme über dem Bauch, trat einen Schritt zurück und sah die Tote noch ein letztes Mal mit verkniffenem Mund an. Dann nickte er Ratford und Wuleen zu.

Mit zwei Spitzhacken aus den Minen, lösten die beiden Männer, in Ermangelung eines Spatens, Erde aus einer Erhebung neben der Schwarzerle und bedeckten den Körper der jungen Frau damit. Als die Tote darunter verschwunden war, legte Craig ein paar Steine auf das Grab und drapierte zuletzt Tyras in Mitleidenschaft gezogenen Schild zwischen den Wurzeln des Baumes. Ihr Schwert hatte er nicht gefunden. Entweder war es in einem der tiefen, mit Wasser gefüllten Löcher in der Grotte versunken, oder ihr Mörder hatte es an sich genommen. Nun diente ihr Schild als Grabstein.

Für einige Atemzüge blieb Craig in der Hocke sitzen. „Den Schild hat sie selbst hergestellt“, sagte er bedrückt. „Genau wie ihre Rüstung.“

Knack winselte leise und drückte seinen Kopf an Craigs Körper. Zum ersten Mal, seit er die Höhle verlassen hatte, reagierte Craig auf den Knucker und strich ihm traurig über die Nüstern.

„Sie muss eine tapfere Frau gewesen sein“, stellte Ratford fest.

„Das war sie“, erwiderte Craig leise. „Und dabei war sie kaum älter als ich. Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie tot ist.“

Ratford legte dem Waisenjungen mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Leider genügen Tapferkeit und Entschlossenheit nicht immer aus, um dem Tod zu entgehen“, sagte er nachdenklich.

„Das weiß ich“, erwiderte Craig trotzig und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er wollte nicht, dass jemand die Tränen in seinen Augenwinkeln sah. „Aber trotzdem will ich auch so tapfer sein, wie sie es war. Als wir zusammen durch die Düstermarsch gewandert sind, war ich ihr nur ein Klotz am Bein.“

„Vielleicht beobachtet sie dich schon jetzt aus Khors Reich und ist stolz, dass du zu Ende gebracht hast, was sie begonnen hat“, meinte Lazana lächelnd und trat näher an Craig heran.

„Vielleicht“, wiederholte Craig tonlos. Dann schniefte er laut und stand auf. „Kommt schon, wir haben noch etwas zu erledigen. Tyras Tod war völlig umsonst, wenn wir diesen Brynne nicht aufhalten.“ Entschlossen sah er in die Runde und ließ den Blick über seine neuen Gefährten.

Ratford und Lazana waren ohne Zweifel Wegbegleiter von unschätzbarem Wert, er aufgrund seiner schieren Kraft und sie dank ihrer magischen Begabung. Wuleen hatte ebenfalls bewiesen, dass er ein fähiger Krieger war, aber er wirkte so unkontrolliert wie ein tollwütiger Hund. Craig fühlte sich in seiner Gegenwart nicht gerade besonders Wohl. Gancielle wiederum war ein geborener Anführer, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. Es war bestimmt nicht verkehrt, jemanden dabeizuhaben, der die ungleiche Gruppe zusammenhalten und leiten würde. Und dann war da noch Vance, der gehemmte und schüchterne Dorashen, in den alle so große Hoffnungen setzten. Craig fragte sich, ob er sich im Zuge dieses Abenteuers in einer Situation wiederfinden würde, in der seine Kraft den entscheidenden Unterschied ausmachte.

Gancielle räusperte sich geräuschvoll. „Na, dann wollen wir mal“, brummte er, wandte sich um und winkte seine Begleiter ungeduldig hinter sich her. „Achtet auf eure Schritte. Es dürfte euch schon aufgefallen sein, dass diese Sümpfe äußerst tückisch sind.“

„Haben wir überhaupt eine Chance, diese Leute rechtzeitig einzuholen?“, fragte Craig und lief Gancielle zaghaft nach. „Der Schmuggler hat doch gesagt, dass sie die Höhle bereits letzte Nacht verlassen haben, noch dazu mit dem Schiff.“

„Es stimmt schon, sie haben in etwa einen halben Tag Vorsprung“, antwortete Gancielle ohne sich umzudrehen. „Und sie sind schneller, aber nur auf dem Meer. Sobald sie den Maldocan hinaufsegeln, wird ihre Geschwindigkeit stark fallen. Wenn wir Glück haben, kommen sie dann sogar noch langsamer voran als wir.“

Craig sah sich um und hatte so seine Zweifel. Außer Gancielle schien keiner seiner Begleiter besonders erpicht darauf zu sein, die Düstermarsch im Eiltempo zu durchqueren. Lazana schleppte sich auf ihren Stab gestützt erschöpft dahin und Ratford wich ihr nicht von der Seite. Craig konnte sehen, dass Vance am Wegesrand stehen blieb und nach einer dünnen, holzigen Pflanze griff, die neben einem blubbernden Schlammloch wuchs. Er brach zwei Stängel ab, schnupperte daran und steckte sie sich schließlich in den Mund. Während er darauf herumkaute, setzte sich Vance wieder in Bewegung. Wuleen, der seinen Treueschwur offenbar sehr ernst nahm, folgte ihm auf Schritt und Tritt.

„Aber warum gehen sie dann nicht einfach zu Fuß weiter, wenn die Strömung sie zu stark ausbremst?“, warf Craig beharrlich ein.

„Weil dieser Brynne eine Krankheit hat, die ihm bei Kontakt mit dem Sonnenlicht die Haut von den Knochen schmilzt“, erwiderte Gancielle und trat ein paar Farnwedel platt. „Er kann nur bei Nacht reisen. Bei Tag ist er darauf angewiesen, sich irgendwo verkriechen zu können. Deshalb wird er auf dem Schiff bleiben, solange es gegen die Strömung ankommt.“

Lazana erschauderte, obwohl ihr die Hitze unter den erdrückenden Baumwipfeln der Düstermarsch zu schaffen machte. „Die Sonnenfäule“, murmelte sie leise und fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. „Ich habe schon von dieser Krankheit gehört. Sie wird auch Solas Strafe genannt. Man sagt, dass sie angeblich nur diejenigen trifft, deren Herzen wahrhaft dem Bösen verfallen sind.“

„Dann hat es mit diesem Brynne ja offensichtlich den Richtigen erwischt“, bemerkte Gancielle ungerührt. Energisch schob er eine dicke Liane zur Seite, die aus dem Geäst eines Baumes hinabhing, und trat um ein Haar in ein stinkendes Schlammloch. Fluchend zog er den Fuß zurück und rettete sich wieder auf den Pfad, der immerhin ansatzweise trocken war. „Für uns ist seine Krankheit ein unschätzbarer Vorteil. Die Nächte sind noch kurz. Sobald er das Schiff verlässt, ist das Zeitfenster, in dem er sich frei bewegen kann, sehr begrenzt. Das heißt, wir holen langsam auf. Aber trotzdem dürfen wir uns keine Trödeleien erlauben. Ich will die Düstermarsch noch vor Einbruch der Nacht verlassen!“

Yarshuk hastete durch die Sümpfe und bahnte sich aufs Geratewohl einen Weg durch die Büsche und Farne. Inzwischen wusste er, dass Gancielle ihn nicht mehr verfolgte, doch obwohl er am Ende seiner Kräfte war, konnte er sich keine Verschnaufpause erlauben. Mit rasselndem Atem brach er durch das Dickicht und schleppte sich stöhnend eine Böschung hinauf.

Gancielles und Lexas Auftauchen in der Mine hatte das Blatt gewendet. Plötzlich stand alles auf dem Spiel, was Loronk in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte. Nicht nur sein Reichtum, den er durch den Schmuggel angehäuft hatte, war in Gefahr. Der Brigadegeneral drohte auch seine Macht und seinen Einfluss zu verlieren, sollten seine Machenschaften ans Licht kommen. Er musste unverzüglich informiert werden, schließlich war Yarshuks eigenes Schicksal eng mit dem Loronks verbunden.

Erschöpft blickte sich der Ork um. Die Düstermarsch war eine unübersichtliche Gegend, in der man sich nur allzu leicht verirren konnte. Seit Loronk ihn als Aufpasser in der Mine der Banditen stationiert hatte, war Yarshuk kaum noch an die Oberfläche gekommen. So hatte er den Weg von Eydar bis zur Grotte erst einmal beschritten und das lag schon viele Wochen zurück. Angestrengt versuchte er sich an auffälligen Landmarkierungen zu orientieren, aber im sumpfigen Grün der Düstermarsch sah alles gleich aus. Überall wucherten Schlingpflanzen und Binsengewächse, ein Teppich aus Moos, Flechten und Pilzen überwucherte die Stämme der Bäume und hinter jedem Busch verbarg sich ein blubberndes Schlammloch, das Verwesungsgestank verströmte. Yarshuk stöhnte. In seiner Eile war er einfach querfeldein gerannt und nun hatte er keine Ahnung, wo er war oder in welche Richtung er gehen sollte. Wenn er jetzt orientierungslos durch die Wälder stolperte und möglicherweise im Kreis ging, verlor er wertvolle Zeit. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs das Risiko, dass Meister Syndus von Gancielle und Lexa gewarnt wurde.

Dicke, würzige Luft drückte auf Yarshuks Lungen und schnürte seinen Brustkorb zu. In der Düstermarsch wurde jede Anstrengung doppelt bezahlt. Gewundene Ranken schlangen sich um seine Beine und seine Stiefel drohten bei jedem Schritt in zähem Schlamm zu versinken. Zunächst verfluchte der Ork den Sumpf nur, doch mit jedem Atemzug, der unter den erdrückenden Baumkronen der Wälder zu einer Tortur wurde, verwandelte sich sein Hass langsam in Angst. Die Bewohner von Eydar und Khaanor hatten die Düstermarsch immer gemieden. Schon lange bevor Loronk und die Schmuggler hier ihr Unwesen getrieben hatten, waren in den Sümpfen immer wieder Leute zu Tode gekommen, und Yarshuk wurde schmerzlich bewusst, dass die Furcht der Bevölkerung vor diesem Landstrich ihre Berechtigung hatte.

Das modrig grüne Dickicht, das den Ork umgab, erwachte zum Leben. Jedes kleine Geräusch, jedes Rascheln im Blätterwerk, jedes Knacken eines Zweigs schien plötzlich von einer unsichtbaren Bedrohung auszugehen. Yarshuk blickte in aufkeimender Panik gehetzt um sich. Im Unterholz bewegten sich lange, behaarte Körper und das Zirpen und Surren der Insekten wurde von einem schauerlichen Heulen ertönt, das aus weiter Ferne durch die feuchte Luft schnitt.

Kopflos brach Yarshuk durch die Büsche. Auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen, die ihren Ursprung gleichermaßen in seiner Anstrengung und seiner Angst hatten. Die Bäume schienen näher zu rücken und selbst das Rauschen des Blätterdachs wirkte auf einmal düster und bedrohlich. Yarshuk hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und ehe er sich versah, ging er in den Laufschritt über und zermalmte Zweige und Äste unter seinen schweren Stiefeln.

Der Ork fürchtete schon, sich hoffnungslos verlaufen zu haben und niemals wieder aus dem Sumpf herauszufinden, als die alte Verbindungsstraße zwischen Eydar und Khaanor vor ihm auftauchte. Wie eine leblose Schlange von hellbrauner Farbe wand sie sich durch das Dickicht. Sie war kaum mehr, als ein breiter, ausgetretener Trampelpfad, aber für Yarshuk kam sie der Rettung seines Lebens gleich. Erleichtert stöhnte er auf und betrat den Weg. Fast augenblicklich fühlte sich der Ork wieder besser und blieb kurz stehen, um die Augen zu schließen, zu Atem zu kommen und sein wie wild pochendes Herz zu beruhigen. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihn seine planlose Flucht durch die Sümpfe gekostet hatte, aber nun, da er die Straße gefunden hatte, würde er Eydar bald erreicht haben.

Auf dem festgetretenen Schlamm, der den Pfad bedeckte, lief es sich deutlich leichter als auf dem schmierigen Morast und dem von Schlingpflanzen überwucherten Boden in der Wildnis der Düstermarsch. Der Wald wirkte wieder weniger bedrohlich, aber die Luft unter den Bäumen war noch immer so dick und würzig, dass Yarshuk bei jedem Atemzug würgen musste. Dennoch hatte er den Weg gefunden und würde sich nicht in den Sümpfen verlaufen. Yarshuks Zuversicht kehrte zurück und auf seine blassen Lippen schlich sich ein erschöpftes Lächeln. Seine Schritte waren energisch und brachten ihn rasch voran. Und es dauerte gar nicht lange, bis sich die Front aus Blättern hoch über seinem Kopf lichtete und durch die Baumwipfel breite Lichtstrahlen fielen, in denen Myriaden von Staubkörnchen schwebten.

Yarshuks Körper wurde von neuer Kraft erfüllt und er beschleunigte seine Schritte. Die erdrückende Düsternis der Sümpfe wurde allmählich vertrieben und schließlich erkannte der Ork zwischen den mächtigen Stämmen der Bäume die Stadtmauer von Eydar. Sein Herz machte vor Erleichterung einen Sprung. Auf einmal fühlten sich seine Gliedmaßen wieder leicht und stark an. Yarshuk lief schneller und schneller auf die immer breiter werdende Bresche zwischen den Bäumen zu. Und als er aus dem Wald trat, schnappte er mit einem gierigen Atemzug nach frischer Luft.

Die Soldaten am Tor bemerkten ihn sofort. Erleichtert nahm Yarshuk zur Kenntnis, dass die Wachen zu Loronks Bataillon gehörten. Allem Anschein nach hatte er es rechtzeitig nach Eydar geschafft und der Brigadegeneral hielt die Fäden noch fest in der Hand. Doch als sich Yarshuk dem Stadttor näherte, wurden die Soldaten unruhig. Natürlich waren sie eingeweiht und wussten, dass der Ork bei den Banditen in der Mine bleiben sollte. Sein Auftauchen konnte nur bedeuten, dass etwas Unvorhergesehenes geschehen war.

„Fähnrich!“, rief einer der beiden Wachmänner und hob sorgenvoll die Augenbrauen. „Was tut Ihr hier?“

„Ich muss sofort zu Brigadegeneral Loronk!“, knurrte Yarshuk und stützte sich gegen einen Stützpfeiler des Stadttors, um nach Atem zu ringen. „Und zwar ungesehen! Der Orden darf nicht erfahren, dass ich zurück bin.“

Ungefragt nahm er einem der Soldaten den Helm ab und setzte ihn sich selbst auf den Kopf. Diese Verkleidung war zwar nicht besonders effektiv, aber Yarshuk hoffte trotzdem, dass man ihn nicht erkannte, bis er vor Loronk stand. Immerhin verdeckten die Wangenstücke des Helms seine vorstehenden Eckzähne. Wenn man nicht auf den ersten Blick erkannte, dass er ein Ork war, hatte er bereits viel gewonnen. „Bringt mich sofort zu ihm!“, befahl er den beiden Wachmännern ungeduldig.

Die Soldaten nickten hastig und ließen das Tor öffnen. Yarshuk betrat die Stadt und sah sich verstohlen um. Loronk hatte vermutlich dafür gesorgt, dass die Mitglieder des Ordens nicht mehr besonders präsent waren, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass Lexa die einzige verdeckte Agentin der Goldenden Falken war.

„Flankiert mich!“, raunte er den beiden Wachmännern zu. Die Soldaten taten, wie ihnen geheißen, und nahmen den Ork in ihre Mitte. Yarshuk senkte den Kopf und verbarg die grünliche Haut seiner Arme so gut es ging zwischen den Körpern der Männer. Und tatsächlich gelangten sie unbehelligt bis zum Haupthaus des Ordens, in dem der Brigadegeneral seine Gemächer hatte. Yarshuk wusste, dass die Durchquerung des Gebäudetrakts besonders knifflig war, denn hier konnte er jederzeit einem Mitglied der Goldenen Falken begegnen. Und die langen Flure boten keinerlei Gelegenheiten, sich auf die Schnelle zu verstecken.

Angespannt ließ er sich von den Soldaten durch das Hauptquartier geleiten. Der Ork hielt die Luft an, als sie den Gang kreuzten, der zu Syndus‘ Amtskammer führte, doch keiner der Falken ließ sich blicken. Yarshuk atmete auf und stand wenige Schritte später vor der Tür zu Loronks Gemächern. Die beiden Soldaten, die Wache hielten, wirkten nicht minder überrascht, als diejenigen, die den Ork begleitet hatten.

Yarshuk zögerte kurz. „Seht zu, dass alle Zugänge zur Stadt gesichert sind!“, wies er die beiden Torwachen an. „Niemand betritt dieses Gebäude, bis Loronk etwas anderes sagt, habt Ihr verstanden?“

Die Soldaten salutierten zaghaft. Yarshuk nahm den Helm ab und setzte ihn seinem Besitzer zurück auf den Kopf. „Dann dürft Ihr jetzt wegtreten“, knurrte er und wandte sich an die Männer, die vor Loronks Tür Wache hielten. „Und Ihr lasst mich durch!“

„Der Brigadegeneral empfängt keine Besucher“, erwiderte einer der Soldaten pflichtbewusst, aber sichtlich verunsichert.

„Mich schon“, grollte Yarshuk und drängte sich an den beiden Wachmännern vorbei.
 

Loronk saß an seinem mächtigen Schreibtisch und zählte die Goldmünzen in einer Lederbörse. Es hatte sich als ausgesprochen glückliche Fügung erwiesen, als Mola und ihre Spießgesellen ihm und seinem Trupp in die Arme gelaufen waren. Sein Einstieg in den Schmuggel war unter der Drohung von ernsthaften Konsequenzen ohne Probleme vonstattengegangen. Natürlich hatte er Mola einschärfen müssen, sich künftig vorsichtiger zu verhalten, und bislang hatte sich die Dunkelelfe keinen Fehler erlaubt. Den Gewinn, den er durch den Schmuggel erwirtschaftete, übertraf seine kühnsten Erwartungen, und niemand in Eydar ahnte etwas davon. Aulus‘ Flucht stellte lediglich ein kleines Problem dar. Loronk hatte den schmutzigen Dunkelelfen sofort damit beauftragt, Aulus aus dem Weg zu räumen. Selbst wenn er versagte und Aulus es wagen sollte, jemandem von Loronks Verstrickungen in den Schmuggel zu erzählen, hatte er keine stichhaltigen Beweise, um Loronk ernsthaft zu gefährden. Er wusste noch nicht einmal, wo sich die Mine befand.

Loronk schwelgte in Träumereien, als plötzlich und ohne Vorwarnung die Tür aufflog. Der Brigadegeneral wollte sich schon wütend aufrichten und den ungebetenen Gast nach allen Regeln der Kunst zurechtstutzen, doch als er in das abgekämpfte Gesicht seines Fähnrichs blickte, blieben ihm seine zornigen Worte im Hals stecken. Für einen kurzen Moment spiegelte sich in seinen dunklen Augen Fassungslosigkeit und Verblüffung, doch dann hatte er seine Gesichtszüge wieder zurück in seiner Gewalt und seine Mine verfinsterte sich.

„Fähnrich“, knurrte er drohend. „Was hat das zu bedeuten?“

Yarshuk schloss die Tür hinter sich und senkte schuldbewusst den Kopf. „Ich bedaure zutiefst, Euch enttäuschen zu müssen, Brigadegeneral“, sagte er niedergeschlagen. „Aber es gibt schwerwiegende Probleme. Die Mine wurde entdeckt und gestürmt! Die Sklaven haben sich befreit und die Schmuggler sind entweder tot oder gefangen.“

„Unmöglich!“, donnerte Loronk und schlug mit beiden Fäusten auf seinen Tisch. „Ich habe die Soldaten hier fest im Griff. Haben etwa doch die Truppen aus Khaanor eingegriffen?“

Yarshuk schüttelte heftig den Kopf. „Nein, es waren Gancielle und Lexa“, antwortete er. „Nur die Götter wissen, wie sie die Mine entdecken konnten, aber sie haben die Schmuggler mithilfe der Sklaven überwältigt.“

„Gancielle…“, grollte Loronk und presste die Lippen aufeinander, bis sie weiß wurden. „Ich dachte, ich hätte diesen nervtötenden Unruhestifter endgültig aus dem Verkehr gezogen. Es war wohl ein Fehler, seine Bestrafung Syndus zu überlassen. Ich hätte ihn direkt festnehmen lassen sollen. Aber wie kann das sein? Wie können Gancielle, Lexa und ein paar ausgehungerter Sklaven siebzig bewaffnete Banditen bezwingen?“

„Es waren nicht mehr so viele Schmuggler anwesend“, gab Yarshuk kleinlaut zurück. „Fjedor hat die Mine gestern Nacht mit etwa der Hälfte seiner Leute verlassen.“

Es fiel Loronk schwer, seinen Zorn in Zaum zu halten. Seine Nasenflügel weiteten sich bei jedem Atemzug und seine rotgeäderten Augen starrten Yarshuk an, als sei er allein schuld an der Misere. „Warum habt Ihr mich nicht sofort informiert, Fähnrich?“, fragte er leise, aber drohend.

„Mir waren die Hände gebunden!“, verteidigte sich Yarshuk. „Gilroy ist verschwunden, vermutlich ist er Fjedor gefolgt. Ich konnte Euch keine Nachricht überbringen lassen.“

„Fjedor…“, knurrte Loronk und griff nach einer brennenden Kerze, die er in seiner Faust zerquetschte. Den brennenden Docht erstickte er zwischen seinen fleischigen Fingern. „Was fällt dieser Ausgeburt einer Sumpfspinne ein, einen solchen Alleingang zu unternehmen?“

„Es war Brynnes Idee“, rief Yarshuk hastig. „Er hat Fjedor um Hilfe gebeten. Offensichtlich plant er einen Überfall auf den Wolkentempel.“

Loronk stierte mit blutunterlaufenen Augen vor sich hin. „Der Wolkentempel…“, wiederholte er leise. Dann stand er ruckartig auf. „Noch ist nicht alles verloren. Aber wir müssen sofort etwas unternehmen! Wenn Syndus davon Wind bekommt, sind wir geliefert.“

„Ich habe die Wachen bereits angewiesen, die Zugänge zur Stadt zu bewachen und niemanden in das Haupthaus zu lassen“, verkündete Yarshuk.

„Das ist gut“, knurrte Loronk. „Aber wenn Gancielle und Lexa damit rechnen und nicht nach Eydar zurückkehren, sondern in Khaanor Alarm schlagen, haben wir ein Problem.“

„Was sollen wir tun?“, fragte Yarshuk hilflos.

„Wir knöpfen uns Syndus vor“, erwiderte Loronk entschlossen. „Und wenn wir hier in Eydar alles unter Kontrolle haben, suchen wir alles zusammen, was der Schmuggel abgeworfen hat, und machen uns aus dem Staub.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür erneut. Yarshuk hob sofort seine Streitaxt. Loronks Gesicht wurde leichenblass, als ein ganzer Trupp Soldaten in seiner Kammer einmarschierte. Angeführt wurden sie von Syndus, Adria und Bragi. Die Mitglieder der Falken waren in voller Stärke erschienen. Nur Lexa fehlte, aber Loronk wusste sofort, dass die Späherin es geschafft hatte, Syndus Bericht zu erstatten.

Der Brigadegeneral kämpfte darum, nicht die Fassung zu verlieren. „Meister Syndus“, rief er und rang sich ein gequältes Lächeln ab, das die Schweißperlen auf seiner Stirn aber nicht übertünchen konnte. „Was verschafft mir die Ehre dieses unerwarteten Besuchs.“

„Spart Euch das Gehabe, Loronk!“, erwiderte Syndus. Sein selbstgefälliges Schmunzeln ließ Loronk mit den Zähnen knirschen. Er war so kurz davor gewesen, den Alten zu brechen. Er hatte ihm das Lächeln aus dem Gesicht gewischt und seine Haare grau werden lassen. Doch nun hatte sich das Blatt gewendet.

„Wie ich sehe, habt Ihr Euren verlorengeglaubten Fähnrich wiedergefunden“, fuhr Syndus triumphierend fort und streifte Yarshuk mit einem abschätzigen Blick. „Nun, es wird Euch sicherlich freuen, dass Ihr von diesem Tag an nie wieder voneinander getrennt sein werdet. Auf Euch und Euren treuen Diener wartet eine dunkle Zelle. Hiermit enthebe ich Euch Eures Ranges und verhafte Euch!“

Die Adern an Loronks Schläfen traten hervor. Er hatte verloren. Aber der Ork war noch nie gut darin gewesen, zu erkennen, wann es keinen Ausweg mehr gab.

„Ach, und mit welcher Begründung?“, fragte er, doch seine gespielte Selbstsicherheit konnte niemanden täuschen.

„Wenn Ihr wollt, können wir diese Frage gerne an Farniel und Vox weiterreichen“, erwiderte Syndus ungerührt. „Ich denke, Ihre Worte werden Euer Gedächtnis rasch auffrischen.“

„Verhaltet Euch einfach ruhig, dann nimmt das hier kein böses Ende“, fügte Bragi hinzu. Die Soldaten hinter ihm bewegten sich und ihre Rüstungen klirrten.

„Und Ihr lasst sofort Eure Waffe fallen, Fähnrich!“, befahl Adria scharf und deutete anklagend auf Yarshuk. Der Ork blickte zitternd zu Loronk, dessen Gesicht zu einer blutleeren Maske aus Stein erstarrt war. Für einige quälend lange Augenblicke zuckte er nicht einmal mit der Wimper, doch dann nickte er seinem Fähnrich grimmig zu.

Yarshuk verstand den Wink seines Generals sofort. Ungeachtet der bewaffneten Soldaten schwang er seine Axt hoch über dem Kopf und stürzte sich mit einem lauten Kriegsschrei auf Adria.

Die Assistentin von Meister Syndus war viel schneller. Noch bevor die Soldaten begriffen, was geschah, und nach vorne drängen konnten, um eine Verteidigungsformation zu bilden, zog Adria ihr Kurzschwert aus dem Gürtel und stieß es mit einer flüssigen Bewegung in Yarshuks muskulöse Brust. Der Fähnrich erstarrte in seiner Bewegung und als die junge Frau die Klinge mit einem Ruck aus seinem Körper zog und das Blut sich über seinen Oberkörper ergoss, taumelte Yarshuk mit einem Ausdruck der Verblüffung auf dem Gesicht ein paar Schritte zurück und brach zusammen.

Den zweiten Ork konnte Adria allerdings nicht aufhalten. Loronk setzte mit einem gewaltigen Sprung über seinen Schreibtisch, packte die Agentin beim Handgelenk und löste ihr gewaltsam das blutige Schwert aus den Fingern. Ohne seinen sterbenden Fähnrich eines Blickes zu würdigen, umschlang er Adrias Schultern mit seinem muskulösen Arm und hielt ihr ihre eigene Klinge an die Kehle. Mordlustig funkelte der Brigadegeneral die Anwesenden an, die das Geschehen entsetzt verfolgt hatten, während Yarshuk gurgelnd einen Schwall Blut ausspuckte und sich dann nicht mehr rührte.

„So“, knurrte Loronk drohend. „Und jetzt tut ihr alle genau das, was ich sage, sonst lüfte ich der Kleinen hier die Speiseröhre.“

Die Soldaten richteten ihre Schwerter auf den Ork, doch Syndus gebot ihnen mit erhobener Hand Einhalt.

Obwohl das blutige Schwert gegen ihre Kehle drückte, wirkte Adria ganz und gar nicht eingeschüchtert. Sie wand sich im Griff des Orks, allerdings ohne sich befreien zu können. „Nehmt Eure dreckigen Finger weg!“, schrie sie, doch Loronk lachte nur heiser und drückte ihr die Klinge noch fester gegen den Hals.

Mit Genugtuung stellte der Ork fest, dass Syndus‘ Gesicht aschfahl geworden war. Der Alte war viel zu leicht aus dem Konzept zu bringen.

„Um Solas Willen, Adria, bitte bleibt ruhig“, mahnte er seine Schülerin voller Besorgnis und wandte sich an Loronk. Seine hasserfüllten Blicke störten den Ork nicht im Geringsten. „Was verlangt Ihr?“

„Lasst meine Wachen zu mir durch“, forderte Loronk mit rauer Stimme. „Und dann macht ihr Platz und lasst mich gehen, verstanden?“

Syndus nickte bedrückt. Die Soldaten traten zur Seite und sofort stellten sich die beiden Männer, die vor der Tür Wache gehalten hatten, schützend neben ihren General. Sie richteten ihre gezückten Schwerter auf Syndus‘ Soldaten, die zwar deutlich in der Überzahl waren, aber sich den Befehlen des Orks aufgrund der Geisel in dessen Händen nicht widersetzen konnten. Langsam und rückwärtsgehend schob sich Loronk aus seiner Kammer, das Schwert noch immer an Adrias Kehle gepresst. Die junge Frau schien die einzige zu sein, die sich nicht um ihr Leben sorgte. Ihr Gesicht war hochrot vor Zorn und immer wieder zappelte sie im Griff des Orks.

Syndus und Bragi rückten mit ihren Soldaten langsam nach, während sich Loronk mit seinen beiden Wachen immer weiter entfernte. In dieser Konstellation bewegten sie sich durch das Hauptquartier des Ordens, verließen den Gebäudetrakt und traten auf die Straßen von Eydar. Sofort wurden die ersten Passanten auf die Geiselnahme aufmerksam und fanden sich zu schaulustigen Gruppen am Wegesrand zusammen. Doch nicht nur Zivilisten bemerkten die angespannte Situation, auch einige Soldaten aus Loronks Bataillon entging nicht, dass ihr Befehlshaber in der Klemme steckte. Nach und nach, wenn auch zögerlich, scharten sie sich um den Ork und stellten sich schützend vor ihn. Bald waren Loronks Untergebene ebenso zahlreich vertreten, wie die Soldaten auf der Seite des Ordens.

Syndus schlug in Anbetracht ihres blinden Gehorsams die Hände vor das eingefallene Gesicht. „Bei allen Göttern, wollt Ihr Euch nun endgültig unglücklich machen?“, rief er entsetzt. „Euer Brigadegeneral ist ein gewissenloses Scheusal! Seid Ihr nicht schon tief genug in seine Machenschaften verstrickt? Lasst die Waffen sinken, dann werde ich Gnade vor Recht ergehen lassen!“

„Halt die Schnauze!“, fuhr Loronk den Alten an. Lauernd wägte er ab, ob er seinen Soldaten den Befehl zum Angriff geben sollte, doch er entschied sich dagegen. Die Folgen einer solchen Auseinandersetzung waren nicht vorherzusehen und der Ork entschied sich, sich weiterhin darauf zu verlassen, dass er eine Geisel hatte. Schräg hinter sich hörte er ein leises Wiehern und als er den Kopf drehte, bemerkte er, dass er sich fast auf Höhe der Stallungen befand.

Syndus hob beschwichtigend die Hände, aber die Angst um seine Assistentin ließ seine Finger zittern. „Bitte“, sagte er so ruhig es ihm seine bebende Stimme ermöglichte. „Euer Fähnrich ist bereits gestorben. Ergebt Euch und wir können diese Angelegenheit friedlich bereinigen. Ich habe nicht die Absicht, in meiner Stadt ein Blutbad anzuzetteln.“

„Und ich habe nichts mehr zu verlieren!“, brüllte Loronk heiser. Er schlang seinen Arm noch enger um Adrias Oberkörper und die junge Frau schnappte erschrocken nach Luft.

Syndus ließ die blutbesudelte Klinge an ihrer Kehle nicht aus den Augen. Der Ork stand mit dem Rücken zur Wand und war gefährlicher denn je. Der alte Ordensmeister wusste, dass der geringste Anlass ausreichend war, um Loronks angespanntes Nervenkostüm zu zerreißen. Bei einer falschen Bewegung war Adria augenblicklich tot.

„Was wollt Ihr?“, fragte Syndus mit belegter Stimme.

„Öffnet das Tor!“, forderte Loronk und blickte wie ein gehetztes Tier um sich. „Und bringt mir ein Pferd!“

„Pfeift Eure Leute zurück“, erwiderte Syndus.

„Ihr sollt mir ein Pferd bringen!“, brüllte Loronk und drückte das Schwert so fest an Adrias Kehle, dass es die dünne Haut aufschnitt und ein schmales Rinnsal Blut an ihrem Hals hinabsickerte.

Hastig leistete Syndus seinen Forderungen Folge. „Schnell, ein Pferd!“, rief er voller Sorge und winkte Darva zu sich heran. Die Stallmeisterin band ohne sichtbare Eile einen kräftigen Rappen los und führte ihn auf die Straße. Loronk nahm das Schwert in die andere Hand, sobald er das Schnauben des Pferdes neben sich hörte, und griff nach den Zügeln.

„Und jetzt das Tor“, grollte er drohend.

Wie auf Kommando drehte sich die Kurbel unter lautem Ächzen und Stöhnen. Das dicke Tau wickelte sich langsam auf und die Torflügel öffneten sich knarrend.

„Ihr habt alles, was Ihr wolltet“, sagte Syndus und legte flehend die Handflächen aneinander. „Bitte lasst Adria gehen!“

In Loronks Augen funkelte verzweifelter Wahnsinn. Sein Blick glitt zuckend über die Reihen seiner Soldaten, die Syndus‘ Gefolge noch immer mit blanken Schwertern gegenüberstanden.

„In Ordnung…“, grollte er leise. „Ich lasse sie gehen.“

Er nahm den Arm weg, mit dem er Adria festgehalten hatte, und gab sie frei. Doch noch bevor Syndus erleichtert aufatmen konnte, holte der Ork blitzschnell aus und rammte der jungen Frau das Kurzschwert zwischen die Schulterblätter.

Der alte Ordensmeister schrie auf vor Entsetzen, als sich die Augen seiner Assistentin vor Schmerz und Unglauben weiteten. Der grausame Stoß in den Rücken ließ sie vorwärts stolpern. Sie drohte zu stürzen, doch Syndus lief ihr eilig entgegen und fing sie auf, noch bevor sie zusammenbrach.

Loronk achtete gar nicht darauf, was sein hinterhältiger Angriff bewirkte. Er schwang sich auf den Rappen, gab ihm die Sporen und preschte auf seinem Rücken durch das Tor. Er hinterließ eine Staubwolke und einen Trupp aufgebrachter Soldaten, für die es nun kein Halten mehr gab. Mit lautem Wutgeheul stürzten sie sich auf Loronks Untergebene, doch deren Kampfgeist war gebrochen. Als sie begriffen, dass ihr Befehlshaber sie ihrem Schicksal überließ, warfen sie ihre Waffen weg und rannten davon. Auf ihrer Flucht behinderten sie sich gegenseitig, traten und schlugen um sich und stießen ihre Kameraden achtlos zur Seite. Es ging jedem nur noch um die eigene Haut. Einige entkamen durch das Tor und flüchteten in die Düstermarsch, aber die meisten wurden noch innerhalb der Stadtgrenze gestellt und niedergerungen.

Doch Adria konnte das nicht mehr retten. In den Armen ihres Meisters rang sie röchelnd nach Luft und wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Ihre Fingernägel bohrten sich in den grobmaschigen Stoff von Syndus‘ Robe. „Holt einen Heiler!“, schrie der Alte verzweifelt, obwohl er wusste, dass es zu spät war. Das Schwert ragte aus Adrias Rücken und das Blut floss unaufhaltsam aus der Wunde.

Die junge Frau öffnete mehrmals tonlos den Mund, doch schließlich stieß sie ein paar Worte hervor. „Meine…meine Beförderung…“

Syndus verschwamm das Bild vor den Augen. „Ihr sollt sie bekommen“, erwiderte er mit brüchiger Stimme. „Nie hat sich jemand eine Beförderung mehr verdient.“

Adria schien zufrieden. Das Zittern ihres Körpers erstarb und sie ließ den Ärmel ihres Meisters los. Ihre Lippen formten ein schwaches Lächeln, dann füllte sich ihr Mundwinkel mit Blut und ihr Kopf kippte zur Seite. Und Meister Syndus konnte seinen Kummer nicht länger zurückholen. Hemmungslos ließ er den Tränen freien Lauf und heulte auf wie ein verwundeter Wolf.

Hoch über ihm brauten sich dichte Wolken zusammen und verdunkelten die Sonne, als würde selbst der Himmel um Adria trauern.

Die Sirene kam langsamer voran, als Veit gehofft hatte. Den ganzen Vormittag über trieb sie bei günstigem Seewind zunächst noch zügig dem Flusslauf entgegen, doch je weiter sie sich von der Mündung des Maldocan entfernte, desto mehr wurde sie von der Strömung ausgebremst. Als Khaanor schließlich außer Sichtweite war und sich an Backbord die ersten Berge auftürmten, machte das Schiff kaum noch Fahrt. Veit ließ die Riemen ausfahren und beorderte seine Mannschaft an die Ruderbänke. Auch Fjedor stellte einige seiner Leute ab, um die Seeleute zu unterstützen. Die Banditen gehorchten murrend.

Veit gab den Rhythmus der Ruderzüge vor und obwohl es eine Weile dauerte, bis Fjedors Lumpenpack den richtigen Takt gefunden hatte, kam die Sirene wieder etwas schneller voran. Dem Kapitän war es wichtig, vor Einbruch der Nacht einen sicheren Ankerplatz zu finden, denn bei Dunkelheit war das manövrieren auf dem Fluss nicht ungefährlich. Die Strömung des Maldocan war zwar noch immer nicht besonders stark, aber die Flanken der Wolkenberge, durch die er im Laufe der Äonen eine tiefe Schneise geschnitten hatte, ragten zur Linken des Schiffes tückisch auf. Es gab keine Leuchttürme oder Signalfeuer, die das Ufer markierten, und so bestand bei Finsternis das Risiko, auf Grund zu laufen oder gegen die schroffe Felswand zu prallen.

Die Berge warfen bereits lange Schatten auf die Sirene, deren Besatzung angestrengt gegen die Strömung ankämpfte. Veit spähte den Flusslauf entlang und suchte fieberhaft nach einer Stelle am Ufer, die nicht von aufragenden Klippen gesäumt war. Er wusste, dass sich weiter stromaufwärts, nicht unweit des Oberlaufs des Maldocan, ein großes, karges Tal befand. Dort konnte man ohne Schwierigkeiten anlegen. Doch vor sich sah er nur Berge und den Fluss, der sich schnurgerade und wie ein breites, golden glitzerndes Band nach Osten erstreckte. Im nächsten Moment verschwand die Sonne hinter dem Horizont. Die Schatten schwappten wie eine dunkle Welle über das Schiff.

Brynne schien zu spüren, dass es Nacht wurde. Im Westen zeugte der rötliche Himmel noch davon, dass der Tag gerade erst zu Ende ging, da Brynne auch schon mit seinen Leuten an Deck. Tareglir tauchte mit so verächtlich gerümpfter Nase auf, dass Veit dachte, der Waldelf würde sich jeden Augenblick über die schmutzigen Zustände auf dem Schiff beschweren. Dagegen wirkten die beiden Dunkelelfen ruhig und in sich gekehrt. Nur Viland fehlte. Seine schweren Verletzungen bedurften noch immer der Pflege Indras.

Veit erschauderte, als er Brynne entdeckte. Allein sein Äußeres wirkte auf groteske Weise furchterregend. Er war großgewachsen, aber sehr schlank, fast schon dürr, und sein Haar war so spröde und strohig, als seien seine Wurzeln schon vor Jahren abgestorben. Aber was Veit unruhig machte, waren das zerschmolzene Narbengewebe an seiner linken Gesichtshälfte und der hungrige Blick in seinem lidlosen, starrenden Auge. Noch nie hatte er einen Gast an Bord seines Schiffes gehabt, in dessen Anwesenheit er sich unwohler gefühlt hatte.

Veits Nackenhaare stellten sich auf, als Brynne direkt auf ihn zusteuerte. Seine Lippen waren zu einem Lächeln verzogen und das löchrige Gewebe an seiner Wange erweckte den Anschein, das Grinsen würde bis zu seinem linken Ohr ragen.

„Ich hoffe, wir machen gute Fahrt“, sagte er mit einer Stimme, die Veit den Schweiß auf die Stirn trieb.

Der Kapitän musste schlucken. „Nicht gut genug“, krächzte er. Seine Kehle war auf einmal wie ausgedörrt. „Ich hatte vor, noch bei Tageslicht vor Anker zu gehen.“

„Tageslicht“, schnaubte Brynne verächtlich und warf einen kurzen, hasserfüllten Blick nach Westen. Veit hatte inzwischen erfahren, dass die Sonne für den bedauernswerten Zustand seines Gesichts verantwortlich war. Er konnte verstehen, warum Brynne das Tageslicht verabscheute, nach allem, was es ihm angetan hatte. Aber für ihn als Seemann war es wichtig, noch dazu auf einem Fluss zwischen steilen Felsklippen.

Veit stemmte die Hände in die Hüften. „Ich hoffe, wir erreichen das Tal der Asche noch bevor es dunkel wird“, verkündete er. „Weiter kann ich Euch nicht bringen. Aber falls die Nacht hereinbricht, bevor wir den Oberlauf erreichen, müssen wir hier vor Anker gehen. Bei Dunkelheit zu segeln wäre viel zu gefährlich.“

„Nun, sobald Ihr die Segel einholt, gehen wir von Bord“, erwiderte Brynne gelangweilt. „Wenn uns Euer Schiff nicht mehr weiterbringt und die ganze Nacht vor Anker liegt, hat es keinen Nutzen mehr für uns. In diesem Fall würden wir unsere Reise zu Fuß fortsetzen und den Treidelpfad entlangwandern.“ Er beugte sich nahe an Veit heran und der Kapitän gab sich alle Mühe, nicht in das Auge auf der verbrannten Gesichtshälfte zu sehen. „Aber ich hoffe doch sehr, dass Ihr Euer Bestes gebt, das Tal der Asche zu erreichen. Das wäre wirklich ausgesprochen hilfreich.“

Veit hatte das ungute Gefühl, dass Brynne gerade eine Drohung ausgesprochen hatte. Unwillkürlich wich er zurück und wandte sich ab. „Meine Mannschaft legt sich ordentlich ins Zeug“, brummte er. „Aber versprechen kann ich nichts.“

Dann ging er hastig davon, ehe er in Brynnes Anwesenheit noch die Nerven verlor. Er gesellte sich zu Ilva, die das Schiff auf Kurs nahe dem Ufer auf Steuerbordseite hielt.

„Wir segeln noch so lange, wie wir etwas erkennen können“, flüsterte Veit seiner Vertrauten zu.

„Seid Ihr Euch sicher?“, fragte Ilva zaghaft. „Es sieht Euch nicht ähnlich, mehr Risiko einzugehen, als unbedingt nötig ist.“

„Ja doch“, erwiderte Veit gereizt. „Was soll schon groß passieren? Der Maldocan ist so friedlich wie ein kleines Kätzchen.“ Der Kapitän wusste genau, dass er sich selbst belog. Es konnte eine ganze Menge passieren. Aber er wagte es nicht, Brynne Widerstand zu leisten. Ein untrügliches Gefühl sagte ihm, dass es gefährlicher war, sich diesem Mann entgegenzustellen, als bei Nacht auf einem Fluss durch die Ausläufer der Berge zu segeln. Er sehnte den Moment herbei, an dem Brynne und seine Spießgesellen endlich von Bord gingen und Fjedor und dessen Lumpenpack gleich mitnahmen.

Veit lehnte sich gegen die Brüstung auf der Brücke und blickte zu den Ruderbänken hinunter. Die Kräfte seiner Mannschaft schwanden allmählich und die Strömung nahm immer mehr zu. Unterstützung durch den Seewind hatten sie kaum noch, das Großsegel flatterte nur schwach in einer lauen Brise. Einige von Fjedors Leuten hatten die Ruder sogar losgelassen und rieben sich ihre geschundenen Hände. Veit fluchte leise, als er ihr Gejammer hörte. Für die Arbeit auf einem Schiff waren diese Waschlappen vollkommen ungeeignet. Der Kapitän fragte sich, wie Fjedor es mit derart wehleidigen Untergebenen jemals soweit geschafft hatte.

„Käpt’n“, rief Ilva unruhig. „Es ist zu gefährlich. Wir müssen vor Anker gehen.“

Veit sah auf. Der goldene Schimmer des Maldocan erstarb und der Fluss wurde zu einer grauen, unförmigen Masse, die sich dem Schiff träge entgegenwälzte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die gesamte Gegend in Finsternis versank. Veit wollte schon einlenken, als er weiter flussaufwärts erkannte, dass das Ufer zu seiner Linken langsam abflachte. Zwischen den Berghängen tauchte eine Senke auf.

„Das Tal der Asche!“, rief er erleichtert. „Das schaffen wir, bevor es endgültig dunkel wird!“

Die Zuversicht ihres Kapitäns schenkte auch Ilva neuen Mut. Sie nickte entschlossen und korrigierte den Kurs der Sirene. Veit bohrte seine Fingernägel in das Holz der Brüstung und behielt das flache Ufer im Auge, das quälend langsam näherkam, während die Nacht ihren dunklen Schleier unaufhaltsam über die Berge legte. Die Sirene segelte den Treidelpfad entlang, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Tal war, dann warf Ilva das Steuerrad herum und das Schiff schwenkte knarrend nach Backbord. Kaum stand die Sirene längsseitig zur Strömung im Wasser, wurde sie wieder flussabwärts getrieben, aber unter Veits lauten Kommandos gelang es der Besatzung, den Maldocan zu überqueren. Am anderen Ufer ging man vor Anker und nur wenige Augenblicke später wurde der letzte Lichtschimmer der Sonne hinter dem Horizont von der Dunkelheit verschluckt.

Die Mannschaft der Sirene zündete einige Öllampen an und machten sich am Tauwerk zu schaffen, während die Laderampe ausgefahren wurden und einige von Fjedors Banditen an Land gingen. Nachdem sie den ganzen Tag auf dem Schiff verbracht hatten, freuten sie sich sichtlich, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Veit atmete auf. Endlich war er Fjedor und seine Spießgesellen los und konnte wieder seinem Schmugglerhandwerk nachgehen. Er warf Ilva ein glückliches Lächeln zu und seine Steuerfrau erwiderte es erleichtert.

„Siehst du, was habe ich dir gesagt?“, schmunzelte Veit und sie in den Arm. „Mit dir an meiner Seite überstehe ich auch die heikelsten Situationen.“

Ilva schmiegte sich in vertrauter Freundschaft an ihren Kapitän. „Tut mir trotzdem den Gefallen und versucht in Zukunft, kein Unheil heraufzubeschwören“, murmelte sie leise.

Fjedor kam mit breitem Grinsen die Treppe zur Brücke hinauf. Nironil folgte ihm und Veit fragte sich, ob der Waldelf seinem Herrn überhaupt beim Pissen von der Seite wich. Fjedor war anzusehen, dass er hochzufrieden war. Begeistert klopfte er Veit auf die Schulter. „Gut gemacht, alter Haudegen!“, lobte er mit einer Überschwänglichkeit, die der Kapitän gar nicht von ihm kannte. „Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.“

„Dem kann ich mich nur anschließen.“ Veit fuhr hoch, als Brynnes Stimme, triefend vor Hohn und Spott, von der Reling ertönte. Mit wölfischem Grinsen stand er neben Brothain und stierte gierig zur Brücke hinauf. „Auch ich möchte mich bei Euch bedanken, Kapitän. Ihr habt wirklich hervorragend Arbeit geleistet.“

„Danke“, brummte Veit tonlos. „Ich wünsche Euch eine gute Weiterreise.“

Aber Brynne machte keine Anstalten, das Schiff zu verlassen. „Kehrt Ihr nun nach Kaboroth zurück?“, fragte er scheinbar beiläufig.

Veit wurde stutzig. „Nicht sofort“, erwiderte er zögerlich. „Wir bleiben über Nacht vor Anker. Meine Leute sind seit Stunden auf den Beinen und brauchen eine Mütze Schlaf. Außerdem können wir bei dieser Dunkelheit ohnehin nicht zurücksegeln.“

„So viele gute Männer bleiben einfach hier und legen sich nutzlos in ihre Kojen“, murmelte Brynne. Sein lauernder Tonfall gefiel Veit ganz und gar nicht. „Ich habe eine bessere Idee: Ihr und Eure Leute kommen mit uns! Wir können jede helfende Hand gebrauchen.“

Fjedor hob begeistert die Augenbrauen. „Kein schlechter Einfall!“, rief er und grinste Veit auffordernd an. „Komm schon! Das wird sich für uns beide in barer Münze auszahlen. Und es ist mal etwas anderes, als vor den Schiffen der Armee zu flüchten.“

„Ich bin kein Räuber“, lehnte Veit brummig ab. „Und ich werde nie einer sein. Außerdem werde ich einen Teufel tun und die Sirene unbewacht zurücklassen.“

„Offensichtlich habt Ihr mich missverstanden, Kapitän“, entgegnete Brynne. „Das war kein Vorschlag. Das war ein Befehl.“

„Jetzt…jetzt mach aber mal halblang!“, entfuhr es Fjedor und versuchte, beruhigend einzuschreiten, doch es war bereits zu spät. Veits angespannter Geduldsfaden zerriss und angesichts der Dreistigkeit, mit der Brynne ihm begegnete, verlor er jegliche respektvolle Zurückhaltung.

„Ich höre wohl schlecht!“, donnerte er und schlug mit beiden Fäusten auf die Brüstung. „Ich bin ein großes Risiko eingegangen, um Euch hierher zu bringen. Ich habe sogar in Khaanor anlegen lassen, damit Ihr Euren schnöseligen Diener an Bord bringen konntet! Und das ist Euer Dank? Das hier ist mein Schiff! Ich bin der Kapitän! Ihr habt hier nichts zu entscheiden! Meine Leute tun, was ich Ihnen sage! Verlasst mein Schiff augenblicklich, bevor ich mich vergesse!“

Brynne wirkte alles andere als beeindruckt. „Oh, der Seewolf kann doch noch Zähne zeigen“, kicherte er hämisch. „Ich habe mich schon gefragt, wo Euer vielgerühmter Schneid geblieben ist. Aber Ihr habt ein völlig falsches Verständnis von Autorität. Diese Leute folgen nicht Euch, sie folgen dem, der am besten bezahlt.“

Fjedor wurde plötzlich leichenblass. „Wie meinst du das?“, fragte er unsicher.

„Matrosen!“, rief Brynne, ohne den Schmugglerkönig zu beachten. „Hört her! Seid Ihr es nicht leid, Euch für einen Hungerlohn den Rücken krumm zu schuften?“

Sofort hielten die Seeleute inne und starrten Brynne mit einer Mischung aus offensichtlicher Gier und zögerlichem Interesse an.

Veit platzte vor Wut. Er stürmte mit Ilva auf den Fersen die Treppe hinunter und stapfte mit hochrotem Kopf auf Brynne zu. Er wollte ihn am Kragen packen und am liebsten kielholen lassen, aber Brothain stellte sich ihm in den Weg und zog drohend seinen Dolch aus dem Gürtel. Veit blieb sofort stehen und ballte erbost die Fäuste.

„Seht her!“, fuhr Brynne ungerührt fort. „Das ist der Reichtum, der Euch erwartet, wenn Ihr Euch an mich haltet!“

Er deutete auf die Luke zum Unterdeck, die sich in diesem Augenblick öffnete. Heraus traten Gilroy und Tareglir. In ihren Händen trugen sie eine Truhe, die scheinbar sehr schwer war, denn vor allem das bärtige Gesicht des Waldelfen war vor Anstrengung verzerrt.

„Das…das ist doch eine Kiste mit dem Erlös!“, stammelte Fjedor. „Was tust du denn da?“

„Beruhige dich!“, lachte Brynne und trat näher an die Truhe heran. „Ich leiste nur ein wenig Überzeugungsarbeit.“

Mit einem Ruck zog er sein Schwert aus dem Gürtel und schlug auf das schwere Vorhängeschloss ein. Er musste die Klinge mehrmals niederfahren lassen, doch schließlich zerbrach der Bügel und die Truhe sprang einen Spalt weit auf. Die Seeleute kamen neugierig näher. Brynne keuchte leise, dann versetzte er der Kiste einen kräftigen Tritt. Sie kippte um, der Deckel öffnete sich und unter lautem Klimpern und Klirren fielen unzählige Geldmünzen heraus, die im Schein der Öllampen glitzerten. Ungläubig starrten die Seeleute auf die Goldstücke, die über die Planken der Sirene rollten.

„All das bunkert euer Kapitän im Bauch dieses Schiffes und hält es vor euch verborgen!“, rief Brynne laut. „Das ist ungerecht! Doch wenn ihr euch mir anschließt, wird euer Leben in Armut für immer vorbei sein! Greift zu!“

Nun gab es für die Matrosen kein Halten mehr. Gierig stürzten sie sich auf die an Bord verstreuten Reichtümer, sammelten so viele Münzen ein, wie sie kriegen konnten, und stopften sich die Taschen voll.

„Das ist Meuterei!“, brüllte Veit erzürnt und zog sein Schwert. Ilva tat es ihm gleich und trat an die Seite ihres Kapitäns. „So etwas dulde ich auf meinem Schiff nicht!“ Wütend wollte er sich auf Brynne stürzen, doch er kam keine zwei Meter weit. Brothain machte einen Satz nach vorn, packte ihn bei der Schulter und stieß ihm den Dolch mitten ins Herz.

Veit gab einen erstickten Todeslaut von sich, dann sackte er in die Knie und sein Oberkörper kippte vornüber. Unter ihm breitete sich ein dunkler Fleck aus und sein Blut sickerte in die Ritzen zwischen den Planken.

Ilva riss vor Entsetzen die Augen auf, als sie den Mann sterben sah, der sie aus der Eiswüste gerettet hatte. Mit einem von Kummer und Schmerz verzerrten Schrei ging sie auf seinen Mörder los und schwang ihr Schwert in blinder Wut. Brothain wehrte sich mit erstaunlichem Geschick, obwohl er nur mit seinem Dolch bewaffnet war. Doch Ilva war wie rasend und schlug mit heftigen Schwertstreichen auf den schlanken Dunkelelfen ein. Sie legte in jeden ihrer Hiebe all ihren Zorn und drängte Brothain bis an die Reling zurück.

Als Brynne bemerkte, dass sein Leibwächter in Schwierigkeiten geriet, griff er ein. „Tötet diese Furie!“, wies er die Seeleute an und sie gehorchten. Geblendet von all den Reichtümern, die ihnen versprochen wurden, folgten sie seinem Befehl ohne zu zögern.

In ihrer Raserei bemerkte Ilva gerade noch rechtzeitig, dass Brothain Hilfe bekam. Mit einem Ausfallschritt wich sie zur Seite aus und sah sich der Überzahl der Meuterer gegenüber. Obwohl ihr Urteilsvermögen von Kummer und Hass getrübt wurde, erkannte sie, dass sie gegen die Mannschaft der Sirene nicht den Hauch einer Chance hatte. Panisch warf sie einen Blick auf den leblosen Körper ihres Kapitäns und suchte ihr Heil in der Flucht. Eine Klinge schnitt ihren Arm auf und ein Knüppel streifte sie mit solcher Wucht an der Schläfe, dass sie ins Straucheln geriet und ihr beinahe schwarz vor Augen wurde. Trotzdem gelang es ihr, sich zur Reling zu retten, während ihr die Sinne schwanden. Kopfüber stürzte sie sich über Bord und fiel mit einem langgezogenen Schrei der Verzweiflung in die Tiefe. Die Dunkelheit verschluckte sie und die Meuterer, die sich ratlos an der Reling drängten, hörten, wie sie mit einem lauten Platschen im Wasser landete.

„Schon gut, ihr müsst nicht nach ihr Ausschau halten“, brummte Brynne, auch wenn ihm anzusehen war, dass er Ilva gerne getötet hätte. „Vielleicht ersäuft sie der Fluss für uns.“ Ein schiefes Lächeln huschte über seine blutleeren Lippen, als er die Meuterer genauer betrachtete. „Ich weiß, dass Ihr müde seid. Aber wenn Ihr mir jetzt folgt und im Schutz der Nacht marschiert, wird diese kleine Kiste nur der Anfang eures wohlverdienten Lohns gewesen sein. Das verspreche ich euch.“

Die Seemänner zögerten nicht lange. Sie rissen ihre Fäuste in die Höhe und taten mit lauten Jubelrufen ihre Begeisterung kund.

„Das wollte ich hören“, grinste Brynne. „Dann packt eure Sachen und schwingt euch von Bord!“

Fjedor hatte die Meuterei und den Mord an Veit zitternd beobachtet. Mit aschfahlem Gesicht schleppte er sich die Treppe von der Brücke hinunter und stolperte auf Brynne zu.

„Was sollte das?“, fragte er entsetzt. „So war das nicht abgemacht!“

Brynne Grinsen verschwand und er starrte Fjedor kühl an. „Was für eine Abmachung?“, knurrte er drohend. „Ich kann mich nur daran erinnern, dass du plötzlich ganz begierig darauf warst, mir beim Sturm auf den Wolkentempel zu helfen, nachdem du gehört hast, wie viel lohnende Beute es dort zu holen gibt.“

„Aber…aber…“, stotterte Fjedor. Brothain trat ungerührt an die Seite seines Herrn und säuberte seinen Dolch von Veits Blut. „Das war mein Geld!“

„Ach, nun hör schon auf zu jammern!“, schnaubte Brynne verächtlich. „Du verdienst dich mit dem Schmuggel doch dumm und dämlich, da kommt es auf die eine Kiste doch nicht an. Außerdem warten im Laderaum noch zwei weitere Truhen, die randvoll mit Goldmünzen sind. Und die habe ich nicht angerührt, versprochen.“

„Und wer soll jetzt auf das Geld aufpassen?“, fragte Fjedor mit schriller Stimme.

„Niemand“, antwortete Brynne achselzuckend. „Aber du glaubst ja wohl nicht, dass in unserer Abwesenheit jemand hier vorbeikommt und das Schiff kapert? In diese Gegend verirrt sich niemand. Du kannst das Geld also getrost hierlassen, wo es bis zu unserer Rückkehr auf dich wartet.“

Fjedor spürte, dass Nironil dicht hinter ihm stand, und er gewann langsam die Fassung zurück. „Veit hätte trotzdem nicht sterben müssen“, murmelte er leise und blickte trübsinnig auf den Toten zu seinen Füßen. „Er war der beste Schmuggler, den man für Geld anheuern konnte.“

„Er wollte mich umbringen“, erwiderte Brynne gefühllos und versetzte dem Leichnam einen Tritt. „Das konnte ich ihm doch nicht durchgehen lassen. Mach dir mal keine Sorgen. Geübte Seefahrer findest du in jeder Hafenspelunke.“

Fjedor kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Ich warne dich…“, zischte er. „Wenn sich dieser Raubzug nicht lohnt, dann…“

„Dann was?“, fuhr Brynne ihm über den Mund und starrte ihn so durchdringend an, dass Fjedor erschrocken nach Luft schnappte. „Willst du mir etwa drohen?“

„Nein, nicht doch!“, rief Fjedor eilig und hob abwehrend die Hände. „Ich wollte lediglich anmerken, dass diese Unternehmung bislang mit ungeahnten Einbußen verbunden ist. Und ich hoffe sehr, dass mir unser gemeinsamer Raubzug ausreichend Geld einbringt, um meine Verluste auszugleichen.“

„Du wirst schon sehen“, knurrte Brynne. „Sei froh, dass du mich als Verbündeten hast. Mich interessiert Geld nur, wenn ich es als Motivationshilfe gebrauchen kann. Ansonsten kann ich damit nichts anfangen. Und jetzt beweg dich endlich und lass deine Bande abmarschieren. Die Nacht ist kurz.“

„Schon gut, schon gut!“ Fjedor duckte sich kleinlaut weg und eilte hastig davon.

Brynne blickte ihm grimmig nach. „Dieser Raubzug wird sich lohnen“, grollte er leise. „Jedenfalls für mich.“
 

Syndus saß noch immer auf der Stelle am Boden, an der seine Assistentin in seinen Armen gestorben war. Die Gemeinschaft der Goldenen Falken von Eydar lag in Trümmern. Aulus war spurlos verschwunden, Lexa musste aufgrund ihrer Verletzungen das Krankenbett im Lazarett hüten und nun war auch noch Adria tot. Syndus kam es vor, als habe Loronk nicht nur der jungen Frau, sondern dem gesamten Orden das Schwert in den Rücken gestoßen. Von den Goldenen Falken war nur noch Bragi übrig.

Der glatzköpfige Agent hatte das Heft in die Hand genommen, während Syndus vor Kummer wie gelähmt war. Die verräterischen Soldaten Loronks, denen die Flucht nicht gelungen waren, saßen nun eng zusammengepfercht im Kerker von Eydar und leisteten den Schmugglern Gesellschaft, die Lexa ausgeliefert hatte. Adrias Körper war in die Totenhalle gebracht worden, wo er für ein anständiges Begräbnis hergerichtet wurde.

Bragi trat zögerlich an den in die Jahre gekommenen Befehlshaber heran und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Meister“, murmelte er vorsichtig. „Es ist an der Zeit, dass wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen.“

Syndus nickte trübsinnig. „Ach, mein treuer Freund“, sagte er. Seine Stimme klang belegt und brüchig. „Dass wir diese düsteren Tage erleben müssen. Die Jungen sterben viel zu früh und die Alten bleiben zurück, hoffnungslos und gebrochen.“

„So alt seid Ihr noch nicht, Meister“, erwiderte Bragi seufzend. „Ihr könnt in Eydar noch viel bewegen.“

„Ich kann nichts mehr bewirken“, flüsterte Syndus leise. „Ich bin gescheitert. Ich habe versagt, Loronks wahre Absichten zu durchschauen, Aulus vor seinem schändlichen Einfluss zu bewahren und Adria vor seiner Mordlust zu schützen.“

„Niemand konnte ahnen, dass dieser Widerling so weit gehen würde“, entgegnete Bragi tröstend. „Eydar wurde von üblen Schicksalsschlägen gebeutelt, das ist wahr. Wer, wenn nicht Ihr, kann wieder alles zurechtrücken?“

Erstmals blickte Syndus auf. Seine wässrigen Augen glitzerten traurig, als er seinen treuen Gefährten hilfesuchend ansah. „Ihr traut mir das tatsächlich noch zu?“, fragte er heiser.

Bragi nickte zuversichtlich. „Selbstverständlich. Eydar war nur eine erbärmliche Ansammlung maroder Fischerhütten, erbaut auf einem Haufen Schlamm. Ihr habt daraus einen wichtigen Außenposten geformt, mehr noch, ein Wahrzeichen des Friedens zwischen Ganestan und Shalaine. Und auch wenn diese Bastion in ihren Grundfesten erschüttert wurde, werdet Ihr sie erneut aufrichten können.“ Er half Syndus auf die Beine und stützte den zitternden Ordensmeister. „Aber das gelingt Euch nur, wenn es eine Zukunft für Adamas gibt. Wenn es stimmt, was Lexa berichtet hat, und dieser Finger der Wolken in die falschen Hände gerät, dann waren all diese Gräueltaten nur die Vorboten für das wahre Unwetter. Dann stehen uns wahrlich düstere Zeiten bevor. Wir müssen handeln, ehe es zu spät ist.“

Syndus wippte langsam mit dem Kopf. „Ja“, hauchte er. „Der Finger der Wolken. Wir müssen diese Schurken aufhalten.“

„So ist es“, bestätigte Bragi. „Ich habe bereits einen Botenfalken nach Khaanor entsandt, um Kommandantin Geyra zu informieren. Diese Verbrecher haben einen großen Vorsprung, aber vielleicht können ihre Truppen noch rechtzeitig aufholen.“

„Und wenn nicht?“, fragte Syndus zaghaft.

„Dann haben wir immer noch Gancielle“, rief Bragi. „Er ist den Banditen dicht auf den Fersen. Und er hat den Dorashen an seiner Seite.“

Syndus löste sich von seinem langjährigen Weggefährten und richtete sich aus eigener Kraft auf. „Auf diesen Mann sollten wir uns nicht allzu sehr verlassen“, brummte er grimmig. „Sein Kampfgeist ist erloschen. Hoffen wir, dass Gancielle ihn wieder entfachen kann.“

„Nun, wenn Ihr an ihm zweifelt, sollten wir unseren Verbündeten möglicherweise zu Hilfe eilen“, erwiderte Bragi.

„Wie steht es um die Truppen?“, erkundigte sich Syndus. Neue Entschlossenheit durchströmte seinen von Kummer gebeutelten Körper.

Bragi lächelte. „Ihr habt Eydar endlich zurück unter Eurer Kontrolle. Unsere Gemeinschaft mag herbe Verluste erlitten haben, aber die Soldaten, wie auch Rhist und ich, stehen Euch nach wie vor treu zur Seite. Loronk hat hier nichts mehr zu sagen. Fühlt sich das nicht gut an?“

„Ich hatte mir andere Umstände gewünscht“, murmelte Syndus leise. „Aber ich weiß, was Ihr sagen wollt. Es ist eine glückliche Fügung, dass die Geschicke Eydars wieder in meinen Händen liegen. Ich danke Euch für Eure unerschütterliche Loyalität. In diesen düsteren Zeiten sind treue Gefährten unersetzlich.“

Bragi trat ehrfurchtsvoll zurück und neigte unterwürfig den Kopf. „Wir erwarten Eure Befehle, Meister.“

Syndus richtete den Blick finster auf das Stadttor und die Baumwipfel der Düstermarsch, die hinter der Mauer emporragten. Irgendwo jenseits des dichten Sumpfwaldes lag der Ort der Entscheidung. „Wir rücken aus“, verkündete der Ordensmeister entschlossen. „Jeder verfügbare Soldat soll sich rüsten. Ihr bleibt bitte hier in Eydar und kümmert Euch in meiner Abwesenheit um die Angelegenheiten der Goldenen Falken. Ich lasse nur eine Mindestzahl an Soldaten zurück, die gerade ausreichend ist, um die Stadt zu sichern. Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden.“

„Wo denkt Ihr hin!“, rief Bragi und verbeugte sich tief. „Es ist mir eine Ehre, Euch vertreten zu dürfen. Ich werde sogleich alles in die Wege leiten, um die Soldaten auf den Abmarsch vorzubereiten.“

„Sehr gut“, erwiderte Syndus grimmig. „Ich verlasse mich auf Euch. Die Zeit der Diplomatie ist vorbei. Loronk wird dafür zahlen, was er Eydar und dem Orden angetan hat!“

Gancielle erreichte sein Ziel. An der Spitze seiner Begleiter brach er zwischen den letzten Schlingpflanzen und Büschen des Düstermarsch hervor, als die Sonne im Westen gerade den Horizont berührte und das Land mit einer Welle aus rotgoldenem Licht überflutete. Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene. Dichtes Gras bog sich auf sanft geschwungenen Hügeln im Wind und dahinter türmten sich die Wolkenberge auf. Das mächtige Gebirgsmassiv schien direkt in den Himmel zu wachsen. Die kahlen, gezackten Gipfel reiten sich wie die Zähne eines Sägeblatts aneinander und schienen mit ihren Spitzen die Wolken zu durchstoßen.

Craig trat unmittelbar nach Gancielle zwischen den Bäumen hervor und war ziemlich stolz darauf, mit ihm Schritt gehalten zu haben, auch wenn er nun mit pfeifender Lunge und schweißnassem Rücken dafür bezahlte. Auch die anderen wirkten abgekämpft, doch obwohl die Düstermarsch ein tückischer und gefährlicher Ort war, waren sie alle unversehrt. Es hatte keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben. Dennoch stand ihnen die Erschöpfung in die Gesichter geschrieben und sie waren froh, die Sumpfwälder endlich hinter sich zu lassen. Nur Vance wirkte so ausgeruht, als hätte er einen einfachen Spaziergang hinter sich gebracht. Ein wenig Dreck klebte an seiner Stirn und seine Hose war an einigen Stellen zerrissen, aber Craig erkannte nicht einmal den kleinsten Schweißtropfen auf seinem Gesicht. Er brachte die körperliche Verfassung eines wahren Dorashen mit, aber sein Geist hemmte seine Kraft.

Craig seufzte leise. Wenn Vance sofort etwas gegen die Schmuggler unternommen hätte, wäre alles möglicherweise niemals so weit gekommen. Auf der anderen Seite konnte ihm Craig seine Zurückhaltung nicht verdenken. Vance hatte nicht ahnen können, welche Gefahr unter der Fassade des Schmuggels tatsächlich schlummerte, und zu dem Zeitpunkt, als die Banditen noch in voller Stärke in der Mine versammelt gewesen waren, hätte ein Sklavenaufstand nur geringe Chancen auf Erfolg gehabt und wäre mit vielen Toten auf Seiten der Gefangenen einhergegangen. So hatten nur die meisten Schmuggler ihr Leben verloren. Die Sklaven waren ohne Verluste aus der Höhle entkommen, bis auf einen bemitleidenswerten Dunkelelfen, den die Erschöpfung in der vergangenen Nacht dahingerafft hatte.

Ratford und Lazana hatten sich zu Craigs Freude inzwischen an Knack gewöhnt und ihre anfängliche Skepsis abgelegt. Nun hatten sie an dem Knucker einen echten Narren gefressen und es tat ihrer Zuneigung auch keinen Abbruch, dass Knack fürchterlich stank, da er sich bei der erstbesten Gelegenheit in ein Schlammloch gestürzt hatte.

„Ich muss zugeben, dass mir Craigs Begleiter sympathischer ist, als deiner, Vance!“, lachte Ratford und kraulte den Knucker am Kopf. „Ich meine, die beiden sind ähnlich gesprächig, aber ich bezweifle, dass Wuleen sich ebenfalls hauptsächlich von Bluthechten ernährt.“

Vance verzog gequält das Gesicht. Wuleen wich ihm zu keinem Zeitpunkt von der Seite. Schon ein paar Mal hatte er versucht, den schweigsamen Krieger davon zu überzeugen, dass er seine Schuld nicht wiedergutzumachen brauchte, aber Wuleen blieb unerbittlich und folgte ihm so stumm wie sein Schatten. Und irgendwann hatte Vance aufgegeben, auf seinen Begleiter einzureden.

Lazana, der während der Durchquerung der Düstermarsch mehrmals schwindelig geworden war, sah an der frischen Luft direkt viel gesünder aus. Ihr blondes Haar klebte in schweißnassen Strähnen an ihrer Stirn, aber ihre Wangen hatten wieder etwas Farbe bekommen. Auf ihren Stock gestützt schloss sie zu Gancielle auf.

„Wann rasten wir?“, fragte sie erschöpft.

„Wir gehen weiter, bis es dunkel ist“, entschied Gancielle. „Vielleicht schaffen wir es noch bis zu den Ausläufern der Berge.“

Obwohl Lazanas Körper wirkte, als würde er nach einer Ruhepause schreien, gab sie keinen Klagelaut von sich, und auch Craig, der nicht minder erschöpft war, sah davon ab, sich zu beschweren.

In der milden Abendluft fiel das Atmen sofort deutlich leichter. Die ungleiche Gemeinschaft kam schnell voran und durchquerte das Hügelland in kürzester Zeit. Craig hatte das Gefühl, dass eine Last von seinen Schultern genommen worden war, als er die Düstermarsch verlassen hatte. Nun genoss er das Gefühl der kühlen Grashalme, die um seine nackten Waden strichen. Als am Himmel schließlich der erste Stern erschien, erreichten sie eine kleine Anhöhe. Vor ihnen kreuzte der Maldocan ihren Weg.

Craig blieb ehrfürchtig stehen, als er den breiten Strom erblickte, dessen Wassermassen sich träge nach Westen wälzten. Dagegen wirkte der kleine Fluss auf Notting wie ein winziges Rinnsal. Und auch der Anblick der Berge, deren Gipfel sich noch schwach vor dem dunklen Abendhimmel abzeichneten, raubten ihm den Atem. Adamas bot für ihn so viel Unbekanntes und mit jedem neuen Ort, den er entdeckte, kam ihm seine Heimatinsel immer kleiner und unbedeutender vor.

„Hier rasten wir“, verkündete Gancielle. „Schlagt euer Lager auf. Ich suche in der Zwischenzeit nach Feuerholz.“

Lazana ließ sich erschöpft ins Gras sinken. Sie und Ratford hatten sich ihre Habseligkeiten von den Banditen zurückgeholt und waren wie Craig im Besitz von warmen Decken. Die anderen hatten sich einfach in der Wohnhöhle der Schmuggler bedient und einige Matten an sich genommen. Diese wurden in Windeseile in einer Kreisform auf dem Boden ausgerollt.

Als Gancielle mit einem Stapel trockener Äste und Zweige zurückkehrte, schliefen Knack und Lazana bereits und Craig hatte schwer mit der Müdigkeit zu kämpfen. Gancielle entzündete im Handumdrehen ein prasselndes Lagerfeuer und teilte die Wachen für die Nacht ein. Wuleen sollte für die erste Schicht zuständig sein und nach ein paar Stunden Vance aufwecken. Die letzte Wache wollte Gancielle selbst übernehmen.

Craig bekam noch mit, dass sich Ratford mit einem erleichterten Murmeln auf seiner Matte ausstreckte. Dann war auch er eingeschlafen.
 

Er erwachte, weil sein Rücken fürchterlich kalt war. Stöhnend öffnete er die Augen und sah, dass das Feuer noch brannte. Sein Gesicht war den wärmenden Flammen zugewandt, doch sein Rücken war der feuchten Kälte der Nacht ausgesetzt. Fröstelnd schlang Craig die Decke enger um seinen Körper.

Ein leises, gleichmäßiges Schaben durchdrang die Stille. Craig setzte sich bibbernd auf und entdeckte Wuleen, der mit dem Rücken zum Feuer saß und sein Schwert zu schleifen schien. Neben ihm lag Vance. Craig bemerkte, dass er ihn zum ersten Mal schlafen sah. Der Dorashen wälzte sich unruhig hin und her und murmelte leise vor sich hin.

„Er träumt vom Töten“, sagte Wuleen, ohne sich umzudrehen. Der Schleifstein glitt über die Schwertklinge.

Craig blinzelte verwirrt. „Woher weißt du das?“, flüsterte er. Bislang hatte er sich noch nicht mit Wuleen unterhalten. Der merkwürdige Kerl war ihm unheimlich.

„Wuleen träumt auch davon. Es wird mit der Zeit einfacher. Irgendwann weißt du, dass sie dich töten, wenn du ihnen nicht zuvorkommst. Aber das erste Mal vergisst man nie.“

Craig musste schlucken und betrachtete Vance mitleidig. Sein schlechtes Gewissen verfolgte ihn sogar in den Schlaf und marterte ihn in seinen Träumen. Plötzlich verspürte Craig große Erleichterung darüber, dass es ihm in seinem Zorn nicht gelungen war, einen der Schmuggler zu töten, so sehr er es auch gewollt hatte.

„Und von wem träumst du?“, hauchte Craig in die Nacht hinein. Das metallische Schleifen des Wetzsteins verklang. Wuleen sah ihn noch immer nicht an.

„Von einem Fischer. Wuleen hatte Hunger und wollte einen Fisch stehlen. Der Fischer hat Wuleen bemerkt und festgehalten. Er war sehr wütend und wollte Wuleen totschlagen. Aber Wuleen war schneller.“

Craig erschauderte. Diese Geschichte erinnerte ihn sehr an das, was Vance ihm erzählt hatte. Der einzige Unterschied war, dass Vance kein Dieb war, sondern den Zorn seines späteren Opfers schlicht durch sein Blut auf sich gezogen hatte.

„Wie alt warst du damals?“, fragte der Waisenjunge leise. Er bekam keine Antwort. Stattdessen meldete sich Craigs Magen zu Wort und grummelte hörbar. Verlegen presste er seine Hände auf den Bauch.

Wuleen griff in eine Tasche, die er neben sich auf den Boden gelegt hatte, und warf ihm ein Stück Trockenfleisch zu. „Iss das und stell nicht so viele Fragen“, brummte er.

Craig beäugte den unförmigen, braunen Fetzen in seiner Hand misstrauisch und biss zögerlich hinein. Das Fleisch war zäh und schmeckte salzig, aber es sättigte ihn fast augenblicklich.

Ein brennendes Scheit brach und fiel funkensprühend in die Glut. Wuleen stand ruckartig auf und legte Feuerholz nach. Die flackernden Flammen beschienen sein stoppelbärtiges Gesicht und Craig bemerkte erstmals die beiden dünnen, blassen Narben. Die eine zog sich quer über den Nasenrücken, die andere befand sich senkrecht auf seiner linken Wange, wurde durch sein Auge unterbrochen und setzte über der Braue wieder an, bis sie im Ansatz seines buschigen Haars verschwand. Es sah aus, als sei sein Gesicht mit einem scharfen Messer fein säuberlich aufgeschnitten worden. Craig wagte nicht zu fragen, wie er diese Verletzungen davongetragen hatte.

Wuleen bemerkte, dass der Waisenjunge ihn anstarrte. „Geh schlafen“, riet er ihm. „Wir werden morgen einen weiten Weg zurücklegen müssen.“

Craig ließ sich das nicht zweimal sagen. Er legte sich hin, drehte sich um, damit sein kalter Rücken von den Flammen aufgewärmt wurde, und schloss die Augen. Aber er konnte lange Zeit nicht einschlafen und so bekam er noch mit, wie Wuleen zu Vance ging, um ihn zu wecken und sich von ihm ablösen zu lassen.
 

Gar nicht weit entfernt, jenseits des Maldocan, durchquerten die Banditen das Tal der Asche. Hätten sie sich umgedreht, hätten sie den Schein des Lagerfeuers ihrer Verfolger erkennen können, doch noch ahnte keiner von ihnen, dass man ihnen auf der Fährte war.

Das Tal der Asche war ein trostloser Ort. Gesäumt von hohen Bergen war es der bequemste Zugang in die Wolkenberge. Grobkörniger Staub bedeckte den Boden und knirschte unter den Stiefeln der Banditen. Die einzigen Lebensformen, die im Tal der Asche zu überdauern schienen, waren holzige, mit Dornen besetzte ranken, die sich aus dem trockenen, rissigen Erdreich bohrten. Doch der Schein trog. In den Hängen nisteten Kolonien von Felsharpyien, die ihre nahen Verwandten von der Küste in Größe und Blutdurst um Längen übertrafen. Die Banditen wussten, dass der kleinste Laut die geflügelten Ungeheuer auf sie aufmerksam machen konnte. Deshalb sprach keiner von ihnen ein Wort. Die Öllampen waren gelöscht worden und so bewegte sich die gesamte Horde im Schutz der Dunkelheit durch die Senke.

Fjedor ging zusammen mit Nironil am Rand der Gruppe. Er fühlte sich übergangen und betrogen und bezweifelte allmählich, dass Brynne seine Versprechen jemals wahr machen würde. Er spürte, dass sein Verbündeter kurz davor war, auch die Schmuggler auf seine Seite zu ziehen, so wie er es mit Veits Seeleuten getan hatte. Fjedor dachte bereits fieberhaft nach, wie er sich am besten von Brynne absetzen konnte, ohne auf das große Geld verzichten zu müssen.

Ohne Nironil an seiner Seite hätte Fjedor jegliche Hoffnung verloren, doch im Beisein des schweigsamen Waldelfen fühlte er sich sicher. Er wusste, dass Nironils Loyalität weit über schnöde Bezahlung hinausging. Der einzige andere Schmuggler, der ihm so treu zur Seite stand, war Ratz, und den hatte er ärgerlicherweise in der Mine zurückgelassen. Wenn er wenigstens Mola mitgenommen hätte! Die alte Schreckschraube war zwar eine furchtbare Zeitgenossin, aber sie hatte genug Mumm und Selbstwertgefühl, um sich von Brynne nicht einfach unterbuttern zu lassen. Sie war vielleicht nicht unbedingt auf Fjedors Seite, denn sie hatte aus ihrer Abneigung ihm gegenüber noch nie einen Hehl gemacht, aber sie hielt auch ganz bestimmt nicht zu Brynne.

Seine übrigen Untergebenen waren Fähnchen im Wind, die sich ebenso schnell von ihm abwenden würden, wie es die Matrosen bei Veit getan hatten. Aber im Gegensatz zu dem dickköpfigen Kapitän war Fjedor nicht so dumm, sich Brynne offen in den Weg zu stellen und sich umbringen zu lassen. Lieber gab er vorerst klein bei und wartete auf eine günstige Gelegenheit, das Ruder wieder herumzureißen.

So hatte er es schon immer gehandhabt. Er war mit nichts außer seiner silbernen Zunge nach Adamas gekommen. Er hatte sich bei Banden verschiedenster Verbrecher eingeschmeichelt und im richtigen Augenblick die Führung übernommen. Und so war er zum berüchtigtsten Banditen der Halbinsel geworden, obwohl er in Sachen Kampfkunst ausgesprochen untalentiert war. Mit Nironil an seiner Seite war alles noch einfacher geworden. Der Waldelf verbreitete durch seine bloße Anwesenheit Ehrfurcht und Fjedor war davon überzeugt, dass selbst Brynne Respekt vor ihm hatte.

Fjedor blickte sich verstohlen um. In der Dunkelheit erkannte er die gebeugte Gestalt von Viland, der das Schlusslicht bildete. Das war nicht besonders verwunderlich, denn in der vergleichsweise kurzen Zeit auf dem Schiff hatte er sich trotz Indras intensiver Pflege kaum von seinen schwerwiegenden Verletzungen können. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch gehen konnte. Fjedor war bei allem Selbstbewusstsein sicher, dass er die Folgen der verheerenden Messerstiche nicht überlebt hätte.

Indra war an seiner Seite und versuchte immer wieder, den angeschlagenen Axtkämpfer zu stützten, doch Viland lehnte ihre Unterstützung jedes Mal barsch ab und schleppte sich ohne Hilfe weiter. Tapfer hielt er mit den übrigen Banditen mit.

Brynne selbst ging ganz an der Spitze des Zuges, als hätte er bereits das Kommando über die Banditen übernommen. Fjedor senkte grimmig den Kopf. Viland würde mit Sicherheit bald schlapp machen, aber dadurch besserte sich seine Lage nicht, solange Brynne noch seine anderen Diener hatte. Gilroy und Tareglir waren keine großen Hindernisse. Der Dunkelelf war zwar ein kaltblütiger Mörder, aber in einem Kampf war er nicht zu gebrauchen. Und Tareglir war ein helles Köpfchen, doch in erster Linie ein nutzloser Wichtigtuer. Brothain dagegen war ein echtes Ärgernis, denn er war von ähnlichem Schlag wie Nironil. Es war nicht besonders ratsam, sich mit ihm anzulegen.

Fjedor stellte sich gerade vor, wie er Brynne am nächsten Morgen ins Sonnenlicht stieß und dabei zusah, wie ihm die Haut von den Knochen schmolz, als Tareglir direkt auf eine der trockenen Ranken trat, die den Boden stellenweise überwucherten. Ein dicker, massiver Dorn bohrte sich durch seine Stiefelsohle und direkt in seinen Zehenballen. Der Waldelf jaulte vor Schmerz laut auf und hüpfte auf seinem unversehrten Bein fluchend auf und ab.

„Halt die Klappe, du Idiot!“, zischte Fjedor warnend, doch es war zu spät. Von den Berghängen erschallte ein aggressives Kreischen. Im nächsten Moment war die Luft erfüllt vom rauschenden Flügelschlag zahlloser Schwingen. Wie eine dunkle Wolke schob sich ein ganzer Schwarm gefiederter Ungeheuer vor die Sterne.

„Die Harpyien!“, schrie Fjedor entsetzt. Unter den Banditen brach blanke Panik aus. Sie drängten nach vorn, stießen ihre Kameraden zu Boden und stolperten wild durcheinander. Auch Fjedors erster Instinkt war eine kopflose Flucht, doch letztlich siegte seine Vernunft. „Bleibt zusammen, ihr Trottel!“, rief er und achtete darauf, in Nironils Nähe zu bleiben. „Wenn ihr euch verteilt, seid ihr leichte Beute!“ Doch die Banditen hörten nicht auf ihn. Entweder hatten sie endgültig ihren Respekt vor Fjedor verloren, oder es war einfach die Angst, die sie taub machte.

Erneut durchschnitt ein markerschütterndes Kreischen die Luft und dann stießen die ersten Harpyien auf die fliehenden Schmuggler hinab. Das silberne Licht der Monde beschien ein grauenvolles Schauspiel. Klauen wie Fleischerhaken gruben sich tief in die Körper schreiender Dunkelelfen, die verzweifelt um sich schlugen. Federn und Haarbüschel flogen durch die Luft und das Schmerzgeheul der Verletzten vermischte sich mit dem Kreischen der Harpyien zu einem ohrenbetäubenden Lärm.

Viland hob grölend seine Axt, aber sein Kriegsschrei erstarb ihm auf den Lippen und er presste sich mit schmerzerfülltem Grunzen die Hand auf den Bauch. In Gilroys und Tareglirs Augen spiegelte sich nackte Angst, doch sie zogen ihre Waffen, ein Messer und ein Schwert, und wichen Brynne nicht von der Seite. Auch Brothain zückte seinen Dolch und machte mit der ersten Harpyie, die in seine Reichweite kam, kurzen Prozess. Aber es waren so viele, dass der Dunkelelf es sofort mit zwei weiteren zu tun bekam.

Die riesigen Raubvögel waren mannshoch und in ihre gezahnten, abgerundeten Schnäbel passte problemlos ein Menschenkopf. Allein durch die Wucht ihres Sturzfluges rissen sie die Banditen von den Beinen und schlugen tiefe Wunden mit ihren fürchterlichen Krallen. Fjedor konnte sehen, wie eine Harpyie sich auf dem Rücken eines Dunkelelfen niederließ, ihre Klauen tief in seine Schultern grub und ihre Kiefer um den Hinterkopf ihres Opfers legte. Mit einem kräftigen Ruck brach sie dem unglückseligen Burschen das Genick. Während er leblos in sich zusammensackte, schwang sich die Harpyie wieder in die Luft und hielt mordlustig nach neuer Beute Ausschau.

Fjedor zog zitternd seine Axt aus dem Gürtel. Vor den blutrünstigen Bestien gab es kein Entkommen. Ängstlich rückte er noch näher an Nironil heran. Der Waldelf behielt die Nerven. Er legte in aller Seelenruhe einen Pfeil an die Sehne, spannte den Bogen und schoss, nachdem er nur für einen Wimpernschlag gezielt hatte. Er traf eine Harpyie direkt in die magere Brust und das Ungeheuer fiel schreiend vom Himmel. Dann wirbelte Nironil herum und ließ in seiner Hand einen Flammenzauber auflodern. Er schleuderte den Feuerball auf eine weitere Harpyie und versengte ihr die Federn. Die Bestie konnte so heftig mit ihren brennenden Flügeln schlagen, wie sie wollte, sie konnte sich nicht mehr in der Luft halten und stürzte ab.

Den anderen Banditen entging nicht, dass der Waldelf die Harpyien nach und nach dezimierte. Sie fassten neuen Mut und wehrten sich gegen die Raubvögel. Endlich folgten sie auch Fjedors Rat und bildeten kleine Gruppen. Rücken an Rücken standen sie da und schlugen mit ihren Waffen nach jeder Harpyie, die sich flügelschlagend in ihre Nähe wagte.

Aber auch die Bestien bemerkten schnell, dass von Nironil eine besondere Gefahr ausging. Sie rotteten sich mit wütenden Schreien zusammen und gingen gemeinsam auf ihn los. Der Waldelf sah sich plötzlich einer Vielzahl von Angriffen aus allen Richtungen ausgesetzt. In schneller Abfolge feuerte er den herabstoßenden Harpyien Dutzende Pfeile entgegen und traf mit jedem Schuss ins Schwarze, doch er konnte nicht alle aufhalten. Eine gekrümmte Klaue streifte sein Gesicht und schor ihm eine blonde Strähne vom Kopf. Ein Kiefer mit nadelspitzen Zähnen schnappte nach seinem Hals und er konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen. Eine rasiermesserscharfe Kralle traf seinen Unterarm und schlitzte ihn der Länge nach auf. Nironil presste sich die klaffende Schnittwunde und stieß ein leises Grunzen aus.

Fjedor wurde sofort hellhörig. Erst einmal hatte er gehört, wie der Waldelf einen Schmerzenslaut von sich gegeben hatte. Damals war er halbtot gewesen. Ängstlich drehte er sich zu seinem Leibwächter um.

Von Nironils ruhiger Ausstrahlung war nichts mehr übriggeblieben. Nun kämpfte er mit verbissener Entschlossenheit. Er wirbelte herum und beschwor eine gewaltige Flammenwoge, die gleich drei Harpyien auf einmal traf. Dann zog er blitzschnell einen Pfeil aus seinem Köcher und stieß ihn einem weiteren Vogel direkt durch den Flügel. Das Ungeheuer verlor das Gleichgewicht, trudelte unbeholfen durch die Luft und landete schließlich in einem unförmigen Knäuel aus Federn und Klauen auf dem Boden.

„Lasst ihn in Ruhe!“, schrie Fjedor und trieb der benommen mit den Flügeln flatternden Harpyie die Axt in den Schädel. Direkt neben stürzte sich eine weitere Harpyie auf einen Dunkelelfen, der von seiner Gruppe getrennt worden war. Das Ungeheuer schlitzte dem Unglücksraben mit solcher Gewalt die Kehle auf, dass sie ihm fast den Kopf vom Hals riss. Fjedor wich mit einem erstickten Schluchzen zurück, als er sah, wie dunkles Blut die ausgetrocknete Erde benetzte. „Die schlachten uns ab!“

Ein gellender Angstschrei übertönte das Getöse. Eine Harpyie hatte Tareglirs seidene Robe beim Kragen gepackt und hob den strampelnden Waldelfen mit kräftigen Flügelschlägen in die Luft. Tareglir wehrte sich verzweifelt und schlug mit seinem Schwert blindlings nach den Klauen und Flügeln der Harpyie, doch das Ungeheuer stieg mit ihm immer höher und höher. Er baumelte in ihren Fängen bereits weit über dem Boden, als er die Harpyie mit einem schwungvollen Hieb am Bein erwischte. Der Vogel krächzte erzürnt und ließ den Waldelfen los, und bevor Tareglir begriff, was er getan hatte, war es bereits zu spät. Mit einem spitzen Schrei stürzte er in die Tiefe und schlug mit einem widerlichen Geräusch auf dem Boden auf.

Da hatte Brynne genug. Fjedor sah noch, wie er energisch nach vorne trat und die weiten Ärmel seines Gewands zurückschlug, dann war die Luft erfüllt von einem unheilvollen Knistern. Brynne hob die Hände und aus jedem seiner Finger schoss ein gleißender Blitz. Fjedor stand er Mund offen. Er erwartete einen Donnerschlag, doch was folgte, waren lediglich die Todesschreie von zehn getroffenen Harpyien. Ihre Federn sträubten sich, dann durchlief ihre Körper ein krampfartiges Zucken und als sie mit offenen Schnäbeln und von sich gestreckten Flügeln im Staub lagen, bebten ihre Schwingen noch immer. Weitere Blitze folgten und fanden ihre Ziele mit todbringender Genauigkeit. Das angriffslustige Kreischen der Harpyien verwandelte sich in panisches Krächzen und innerhalb kürzester Zeit wurde ein Großteil der gefürchteten Harpyienkolonie im Tal der Asche ausgelöscht. Die wenigen Vögel, die den Blitzen entgingen, schwenkten ab und suchten ihr Heil in der Flucht.

Brynne rümpfte die Nase und ließ seine Hände wieder in den Ärmeln seiner Kutte verschwinden. „Gilroy“, befahl er so ungerührt, als hätte er gerade lediglich einen Schwarm lästiger Schmeißfliegen vertrieben. „Verschaff dir einen Überblick über unsere Verluste.“

„Sehr wohl, mein Meister“, erwiderte Gilroy und hastete geschäftig davon.

Nachdem der letzte Harpyienschrei verklungen war, wurde es totenstill im Tal der Asche. Die Banditen lagen entweder vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden oder standen ungläubig da und starrten Brynne ehrfurchtsvoll an. Nur Indra war nicht wie zu Stein erstarrt. Von ihrem Mitgefühl getrieben ging sie von einem Verletzten zum nächsten und besah sich ihre Wunden. Die meisten Verletzungen waren harmlose Kratzer, die Indra nicht weiter in Augenschein nahm, aber es gab auch einige Fleischwunden und sogar den ein oder anderen gebrochenen Knochen zu beklagen. Als sie bei Nironil stehenblieb und dessen blutüberströmten Arm bemerkte, runzelte sie sorgenvoll die Stirn. „Dieser Schnitt muss sofort behandelt werden, sonst verblutet ihr noch“, bemerkte sie.

Nironil starrte die junge Dunkelelfe erstaunt an, doch als sie nach seinem Arm griff, um die Verletzung genauer zu untersuchen, ließ er es geschehen. Indra zog vorsichtig die ausgefransten Wundränder zusammen, kramte aus ihrem Apothekerbeutel einige große, bitter duftende Blätter und presste sie auf den langen, gekrümmten Schnitt. Dann legte sie dem Waldelfen einen Verband aus Leinen an.

Nironil betrachtete die Bandagen verwundert. „Warum helft Ihr mir freiwillig?“, fragte er flüsternd. „Ihr seid doch eine Sklavin.“

„Und Ihr seid ein ganz fürchterlicher Waldelf“, schimpfte Indra gedämpft. „Aber ich bin in erster Linie Heilerin und man hat mir beigebracht, dass jedes Leben wertvoll ist, egal wie abstoßend und widerwärtig es auch sein mag. Ich wünschte, dass Ihr mörderisches Lumpenpack das auch endlich begreifen würdet. In meinem Beisein stirbt niemand, wenn ich es verhindern kann. Und jetzt entschuldigt mich. Es gibt noch weitere Verletzte, die meine Hilfe benötigen.“

Sie sammelte ihr Bündel ein und eilte davon. Nironil blickte ihr nachdenklich hinterher und sah zu, wie sie sich über einen jammernden Dunkelelfen beugte, der offenbar einen Finger eingebüßt hatte. „Wertvoll…“, murmelte er leise.

In der Zwischenzeit kehrte Gilroy zu Brynne zurück und buckelte unterwürfig. „Herr, es gibt eine Menge Verletzte“, berichtete er. „Nur eine Handvoll Eurer Gefolgsleute hat nichts abbekommen. Die Verletzten werden es überstehen, aber sie sind nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte.“

„Können sie gehen?“, fragte Brynne ungeduldig und seine kalten Augen funkelten böse im Mondlicht.

„Ja, die Verletzungen beschränken sich auf die Oberkörper, Köpfe und Arme“, antwortete Gilroy folgsam. „Sie alle werden den Weg aus eigener Kraft fortsetzen können.“

„Dann interessieren mich ihre Verletzungen nicht“, brummte Brynne. „Wie viele Tote?“

„Drei, Herr. Einer von ihnen ist Tareglir.“

„Geschieht ihm ganz recht“, knurrte Brynne und spuckte verächtlich aus. „Ich hätte ihn selbst umgebracht, wenn die Harpyien das nicht erledigt hätten. Dieser Trottel hat den ganzen Schwarm erst auf uns aufmerksam gemacht. Das hat wieder nur unnötige Zeit gekostet.“ Er knirschte verärgert mit den Zähnen. „Lass die Truppe antreten. Wir gehen weiter. Jeder, der nicht mithalten kann, wird zurückgelassen.“

„Wie Ihr wünscht, Herr“, erwiderte Gilroy und verbeugte sich schmeichlerisch tief. Dann drehte er sich zu den Banditen um und schwenkte drohend sein Messer. „Na los, hoch mit euch! Jetzt ist nicht die richtige Zeit, um eure Wunden zu lecken! Rasten könnt ihr wieder bei Sonnenaufgang! Und dann habt ihr einen ganzen Tag, um euch auszuruhen.“

Die ganze Meute setzte sich widerwillig, aber ohne zu murren, in Bewegung. Brynnes Machtdemonstration hatte ihnen gehörigen Respekt eingeflößt. Niemand wagte es, sich zu beschweren. Nur Fjedor blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen.

„Das ist also die Magie des Wolkentempels“, hauchte er ehrfürchtig. Brynne musste seine Führung über die Banditen gar nicht offen fordern. Mit einer einzigen Zurschaustellung seiner geballten Kräfte hatte er sie durch pure Angst auf seine Seite gezogen. Die ganze Zeit hatte Fjedor geglaubt, dass Brynne seine Macht seinen beiden furchteinflößenden Leibwächtern zu verdanken hatte, aber nun war ihm klar, dass Viland und Brothain nur kleine Lichter im Schatten ihres Meisters waren.

Am frühen Morgen wurde Craig von Gancielle geweckt. Es war unangenehm kalt und der Nebel, der über der Ebene hing, war so dicht, dass alles außerhalb eines Umkreises von zehn Metern in waberndem Grau verschwand. Craig richtete sich stöhnend auf und sah blinzelnd dorthin, wo sich normalerweise blauer Himmel befand. Jetzt befand sich über ihm nur dunkler Dunst. Er spürte jeden Knochen im Leib und hätte sich in Anbetracht des bevorstehenden Tagesmarsches am liebsten sofort wieder in seine wärmende Decke gewickelt, aber alle anderen waren schon auf den Beinen und Craig wollte nicht derjenige sein, der seine Begleiter ausbremste. Also rieb er sich den Sand aus den Augen, trank einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und stand schlaftrunken auf.

Gancielle trat die Glut des heruntergebrannten Lagerfeuers aus, bis selbst das schwächste Glimmen erloschen war. „Wir überqueren jetzt den Maldocan und müssen anschließend durch das Tal der Asche“, verkündete er und die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Passt bloß auf! Die Düstermarsch mag tückisch sein, aber dieser Ort ist ein ständiger Gefahrenherd.“

Craig musste schlucken, als er an Gilroys Warnungen bezüglich der Harpyien dachte. Damals hatte der Dunkelelf ihm gesagt, dass die Bestien, die in den Hängen der Wolkenberge nisteten, noch größer und gemeiner waren, als die Ungeheuer, mit denen Craig auf den Klippen von Eydar Bekanntschaft gemacht hatte. Ohne seine schlagkräftigen Gefährten hätte er trotz aller Abenteuerlust vermutlich den Mut verloren.

Angeführt von Gancielle setzte sich die Gruppe in Bewegung. Craig hatte das Gefühl, noch immer nicht richtig wach zu sein. Müde schlurfte er hinter Lazana und Ratford her. Auch Knack wirkte nicht besonders begeistert. Er kam zu Fuß einigermaßen gut zurecht, aber bei langen Märschen zeigte sich deutlich, dass er nicht für das Leben an Land geschaffen war.

Das Gras der Hügel, die sie überquerten, war nass vom Tau und Craigs ausgefranste und zerrissene Hosenbeine sogen sich schon nach wenigen Schritten mit Wasser voll. Er fror erbärmlich und sah sich suchend nach der Sonne um. Im Osten hing sie als trübe Scheibe hinter dem Nebel knapp über dem Horizont. Noch fanden ihre wärmenden Strahlen ihren Weg nicht bis zur Erde und Craig hoffte, dass sich das bald ändern würde.

Alles versank im Dunst. Die Wolkenberge waren ebenso verschwunden wie der Maldocan, dessen sanftes Rauschen allerdings deutlich zu hören war. Während der breite Strom am Vorabend noch deutlich sichtbar gewesen war, tauchte er nun erst aus dem Morgennebel auf, als sie keine zehn Meter mehr von seinem Ufer entfernt waren.

Knack gluckste vor Freude und stürzte sich ohne zu zögern ins kühle Nass. „Schwimm nicht zu weit weg!“, rief Craig ihm zu. „Sonst treibst du noch ab!“

Lazana blieb stehen und stocherte mit ihrem Stab in der Uferböschung des Maldocan herum. Feuchte Erde löste sich und plumpste ins Wasser. Das andere Ufer des breiten Flusses war nicht zu sehen. „Wie sollen wir auf die andere Seite kommen?“, fragte die Eismagierin ratlos.

„Kannst du den Fluss nicht einfach zufrieren lassen?“, fragte Craig mit großen Augen.

Lazana lachte leise. „Ich glaube, da überschätzt du meine Fähigkeiten ein klein wenig“, schmunzelte sie. „Einen Bach würde ich vermutlich noch in Eis verwandeln können, aber das hier ist ein äonenalter, mächtiger Fluss. Keine Macht der Welt wird ihn so einfach aufhalten können.“

„Es gibt hier eine Brücke“, brummte Gancielle und blinzelte in den Dunst. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie müsste sich ein Stück weiter flussaufwärts befinden.“

Bei dem dichten Nebel war es nicht möglich, sich zu orientieren, weswegen sich Craig und seine Begleiter ganz auf Gancielles Instinkte verlassen mussten. Und der frühere Kommandant enttäuschte sie nicht. Nachdem sie eine Weile dem Treidelpfad am diesseitigen Ufer des Maldocan gefolgt waren, tauchte vor ihren Augen tatsächlich eine große Brücke auf.

Sie bestand aus Stein und war so breit, dass sie drei Karren bequem nebeneinander überqueren konnten. Craig betrachtete das mächtige Bauwerk fasziniert und fragte sich, wie lange es gedauert hatte, die Brücke zu errichten. Sie spannte sich über den Fluss und verschwand auf halbem Weg im Nebel. Es wirkte, als würde sie direkt ins Nichts führen.

Rechterhand rauschten Stromschnellen. Der Maldocan verengte sich deutlich und zeigte sich von seiner wilden, urzeitlichen Seite. Craig fiel es schwer zu glauben, dass dieser sprudelnde Fluss und der breite Strom, den er zuvor gesehen hatte, ein und dasselbe Gewässer waren.

Gancielle betrat die Brücke als erster und der Rest der Gruppe folgte ihm. Nur Knack blieb im Wasser und überquerte den Fluss schwimmend. Ab und an ertönte sein zufriedenes Glucksen, doch ansonsten hörte Craig nur das Rauschen des Maldocan. Craig fühlte sich unwohl und als das Ufer hinter ihm im Nebel verschwand und die Brücke weder einen Anfang, noch ein Ende zu haben schien, wurde er nervös. Es kam ihm so vor, als würde das mächtige Bauwerk im Nichts schweben, umringt von undurchdringlichem, waberndem Dunst.

Da gewann die Sonne endlich ihren Kampf gegen den Nebel. Ihre Strahlen durchdrangen den trüben Schleier, rissen Löcher aus wärmendem Licht hinein und vertrieben den Dunst nach und nach. Die letzten Nebelfetzen lösten sich in Wohlgefallen auf und dann beschien die Sonne den Maldocan in seiner ganzen Pracht. Seine Oberfläche glitzerte, als wäre sie mit tausenden Diamanten besetzt.

Craig atmete auf, als er endlich das andere Ufer sehen konnte, doch seine Erleichterung war nicht von langer Dauer. Denn hinter der Brücke lag ein tristes Ödland, eingebettet zwischen kahlen Berghängen und bedeckt von einer fingerdicken Schicht aus grauem Staub. Dornige Schlingpflanzen rankten sich über den trockenen Boden und hier und da entdeckte Craig große Teergruben, in denen eine schwarze, zähflüssige Masse blubberte und kochte. Den Waisenjungen erinnerte dieser Anblick stark an die stinkenden Schlammlöcher der Düstermarsch.

„Ist das etwa das Tal der Asche?“, fragte er vorsichtig.

„So ist es“, antwortete Gancielle grimmig. „Und es grenzt an Wahnsinn, es bei Tageslicht zu durchqueren, aber uns bleibt keine Wahl. Verhaltet euch einfach ruhig, dann bemerken uns die Harpyien vielleicht nicht.“

Daran konnte Craig nicht so recht glauben. In der Senke saß man für die Harpyien an den Berghängen wie auf einem Präsentierteller. Es gab keinerlei Deckung. Selbst einem einäugigen, kurzsichtigen Vogel wäre es nicht entgangen, wenn jemand das Tal passierte.

„Das gibt Ärger“, murmelte Craig leise und wünschte sich plötzlich den Nebel zurück, den er zuvor noch als unheimlich empfunden hatte. Missmutig befühlte er die verschorfte Wunde an seinem Handrücken. Die Verletzung war gut verheilt, aber er konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie er im Kampf mit der Klippenharpyie einen ordentlichen Hautfetzen eingebüßt hatte. Und wenn Gilroy nicht übertrieben hatte und die Bewohner der Wolkenberge tatsächlich deutlich größer waren, als ihre Vettern von der Küste, dann würde es bei seiner nächsten Begegnung mit einer Harpyie nicht bei einem einfachen Kratzer bleiben, da war sich Craig sicher.

Seine Gefährten zeigten keine Angst. Aufmerksam suchten sie die Berghänge nach verräterischen Schatten ab, aber bislang war alles ruhig und friedlich.

„Seht mal“, hauchte Lazana und deutete den Maldocan hinunter. „Ein Schiff!“

Craig hob überrascht den Kopf. Tatsächlich lag ein gutes Stück flussabwärts ein mittelgroßer Bilander vor Anker. „Ist das das Schiff der Schmuggler?“, fragte er aufgeregt.

„Möglich“, knurrte Gancielle. „Vielleicht haben wir Glück und diese Mistkerle kamen doch langsamer voran, als wir gedacht haben. Wenn sie erst in der Dämmerung vor Anker gegangen sind, ist Brynne gezwungen, an Bord zu bleiben. Das sehen wir uns an!“

Craigs Herz schlug schneller, als er sich mit seinen Kameraden vorsichtig dem Schiff näherte. Sorgenvoll blickte er sich nach Knack um, den er eine ganze Weile nicht mehr gehört hatte. Kurz befiel ihn die Angst, dass der Knucker sich zu nahe an das Schiff gewagt hatte und von den Banditen entdeckt worden war, doch schon bald verflüchtigten sich seine Sorgen und es stellte sich heraus, dass der Kahn unbemannt war. Die Segel waren eingeholt und die Laderampe ausgefahren. Am Rumpf prangte in verwitterten Eisenlettern der Name Sirene.

„Seltsam“, murmelte Gancielle. „Haben sie ihr Schiff etwa unbewacht zurückgelassen?“

„Vielleicht haben sie sich unter Deck verkrochen“, mutmaßte Ratford.

„Überprüfen wir das“, zischte Gancielle und hob sein Schwert. „Folgt mir. Und seid um Solas Willen leise.“ Am Bug des Schiffs streckte Knack den Kopf aus den sanften Wellen und blinzelte neugierig. Craig legte warnend einen Finger an die Lippen und der Knucker verstand sofort. Ohne einen Laut glitt er ins Wasser zurück, bis nur noch seine Nasenlöcher zu sehen waren.

Craig selbst holte tief Luft und folgte den anderen an Bord. Bis auf Vance hatten all seine Gefährten ihre Waffen gezogen und schlichen sich geduckt und mit spürbarer Anspannung über die Laderampe. Doch auch an Deck entdeckten sie keine Wachen, dafür aber einen Mann, der regungslos auf den Planken lag. Craig konnte einen überraschten Aufschrei nur mit Mühe zu einem entsetzten Keuchen abdämpfen, als er den Toten sah. Er konnte deutlich die Wunde an seiner Brust erkennen. Dunkles, getrocknetes Blut bedeckte seinen Oberkörper.

„Kennt Ihr diesen Mann?“, fragte Gancielle mit gedämpfter Stimme.

Lazana schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn noch nie gesehen. Aber dem Aussehen nach gehörte er zu den Banditen. Vielleicht war er einer der Seeleute, die das Sturmerz nach Ganestan schmuggeln. Die haben sich in der Mine jedenfalls nie blicken lassen.“

Gancielle beugte sich über den Toten und nahm ihn genauer in Augenschein. „Ein einzelner Stich ins Herz“, stellte er finster fest. „Armer Kerl. Diese Bastarde machen noch nicht einmal vor ihren eigenen Leuten Halt.“ Er erhob sich und deutete mit einem Kopfnicken zu einer offenen Luke. „Ratford, Ihr kommt mit mir. Wir durchsuchen das Unterdeck. Ihr anderen wartet hier.“

Ratford schulterte seine Axt und folgte Gancielle. Die beiden stiegen vorsichtig die steile Treppe hinunter und verschwanden. Craig blieb mit einem Gefühl des Unwohlseins zurück. Seinen Gefährten ging es offenbar ähnlich. Lazana hielt ihren Stab fest umklammert und Wuleens Ohren zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch wie die eines wilden Tieres, das auf der Lauer lag. Nur Vance wirkte teilnahmslos und abwesend. Craig entging nicht, dass er es vermied, den toten Seemann anzusehen. Stattdessen trat Vance an die Reling auf Steuerbordseite und starrte gedankenverloren nach Süden.

Craig lauschte angestrengt nach Kampfgeräuschen vom Unterdeck, doch alles, was er hörte, war das leise Knarren des Großmasts. Dann, nach einer Weile, die Craig fast endlos vorkam, ertönten Schritte auf der Treppe und einen Augenblick später erschien Ratfords Kopf in der Luke. Lazana atmete auf, als sie feststellte, dass er unverletzt war.

„Niemand da“, verkündete Ratford. „Der Kahn ist verlassen. Gancielle durchstöbert gerade das Vorratslager. Aber wir haben unten zwei Kisten gefunden, die randvoll mit Goldmünzen gefüllt sind. Ich verwette meine Axt darauf, dass es sich dabei um den Erlös aus dem Schmuggel handelt. Umso merkwürdiger ist es, dass die Schurken keine Wachen zurückgelassen haben. Für das Gold, das dort unten lagert, würde jeder dahergelaufene Hafenschläger ohne zu zögern seine eigene Mutter umbringen.“

„Dann hat sich also sogar die Mannschaft dieses Schiffs auf den Weg nach Norden gemacht“, murmelte Lazana nachdenklich. „Und niemand von uns weiß, wie viele Seeleute hier an Bord waren. Aber wir müssen davon ausgehen, dass Brynnes Gefolge zu einer schlagkräftigen Truppe angewachsen ist.“

„So ist es“, bestätigte Ratford und raufte sich die Haare. „Und ich habe mich schon gefragt, wie wir mit den Banditen fertig werden sollen. Jetzt haben diese Galgenvögel auch noch Verstärkung bekommen.“

Alle Anwesenden verfielen in schwermütiges und nachdenkliches Schweigen, das von Gancielles Schritten durchbrochen wurde, der nun ebenfalls zurück an Deck erschien. In der einen Hand hielt er noch immer sein blankes Schwert, in der anderen einen grobmaschigen Stoffsack, und Craigs Erleichterung, die er bei Ratfords Rückkehr verspürt hatte, wurde nun von einem bedrückenden Gefühl abgelöst, als er Gancielles Gesicht sah, in dem sich Frustration und Ärger spiegelten.

„Viel haben diese Kerle nicht zurückgelassen“, knurrte er und warf Craig den Beutel vor die Füße. Zwei Brotlaibe und ein angeschnittenes Käserad kullerten heraus. „Sobald wir unsere Vorräte aufgestockt haben, brechen wir wieder auf.“

Da noch nicht einmal ein ganzer Tag vergangen war, seit sie die Mine verlassen hatten, war noch nicht viel von ihrem Proviant verbraucht worden. Craig bediente sich an ein paar Streifen Trockenfleisch, einer Handvoll Dörrobst und an den beiden Brotlaiben und hatte anschließend damit zu kämpfen, die Riemen seines prallgefüllten Rucksacks zu schließen. Als der Vorratsbeutel schließlich geleert war, warf ihn Gancielle achtlos zur Seite und trieb seine Gefährten zur Eile an. Craig gehorchte unwillig und trat auf die Laderampe, als er bemerkte, dass Vance noch immer an der gegenüberliegenden Reling stand und sich nicht rührte.

„Dorashen!“, bellte Gancielle ungeduldig. „Was ist los? Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“

„Da drüben liegt jemand“, murmelte Vance.

Gancielle schob missmutig die Brauen zusammen und eine tiefe Falte teilte seine Stirn. „Was redet Ihr da?“, schnaubte er und trat ebenfalls an die Reling, um ans andere Ufer zu spähen. „Wo liegt jemand?“

„Dort“, antwortete Vance und streckte den Arm aus. Er deutete auf eine plattgedrückte Stelle zwischen den Binsen und verengte die Augen zu Schlitzen. „Es ist ein Mensch.“

Craig lief neugierig zur Reling und starrte über den Fluss. „Donnerwetter!“, staunte er. „Scharfe Augen hast du auch noch! Ich sehe da drüben nur Schlamm und Schachtelhalm.“

„Kannst du erkennen, ob er noch lebt?“, fragte Lazana.

Vance nickte langsam. „Es sieht so aus, als würde er noch atmen.“

Craig pfiff auf den Zähnen und sofort hob Knack den Kopf aus dem Wasser. Craig beugte sich zu ihm herunter. „Dort drüben liegt jemand“, sagte er und deutete ans andere Ufer. „Kannst du ihn zu uns bringen? Aber am besten so, dass er nicht absäuft.“

Der Knucker legte den Kopf schief, als hätte er Craig nicht verstanden, doch als dieser seine Bitte seufzend wiederholen wollte, tauchte Knack endlich ab.

Gancielle trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Reling. „Was soll denn das jetzt?“, rief er unglücklich. „Wir haben für solche Späße keine Zeit.“

„Dort drüben liegt ein Mensch, der möglicherweise in Lebensgefahr schwebt“, wies Lazana ihn streng zurecht. „Ist es nicht Eure Aufgabe, die Zivilbevölkerung zu beschützen, Kommandant?“

Gancielle trat missmutig von einem Fuß auf den anderen. „Ihr habt ja Recht“, gab er kleinlaut zu. Ungeduldig beobachtete er, wie Knack den Fluss in kürzester Zeit durchquerte. Er schob sich neben der offensichtlich bewusstlosen Person aus dem Wasser, packte sie mit seinen Kiefern möglichst zärtlich am Oberarm und schleppte sie in den Fluss. Er reckte den Hals weit aus den sanften Wellen, um den Kopf der Gestalt über Wasser zu halten. Mit seiner Last kam er nur langsam voran, doch bald erkannte Craig einen roten Haarschopf und als Knack endlich das Ufer erreichte und die bewusstlose Person an Land zerrte, bemerkte er, dass es eine junge Frau war.

Hastig verließen die Gefährten das Schiff und liefen hinüber zu der Stelle, an der Knack die Frau aus dem Wasser gezogen hatte. Lazana beugte sich mit sorgenvollem Blick über die Bewusstlose. Ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen, in ihrem Oberarm klaffte eine Schnittwunde und an ihrer rechten Gesichtshälfte klebte getrocknetes Blut und Schlamm. Aber Vance hatte recht. Sie atmete noch.

„So, Person gerettet“, brummte Gancielle. „Dann können wir jetzt endlich weiter.“

„Sie ist verletzt“, bemerkte Lazana, ohne Gancielle zu beachten. „Wir müssen ihre Wunden säubern.“

Widerwillig warf Gancielle der Magierin den Beutel mit dem Verbandszeug und den Arzneien zu, den Lexa ihm überlassen hatte. „Aber bitte beeilt Euch“, flehte er gequält.

Mit ein wenig Flusswasser wusch sie den Schnitt am Arm der jungen Frau aus, der sich entzündet hatte, und träufelte ein wenig Sumpfwurzextrakt auf die Wunde. Sorgfältig verband sie den verletzten Arm und wandte sich der Platzwunde an ihrer Schläfe zu, doch als sie der Bewusstlosen mit einem feuchten Stück Stoff das angetrocknete Blut und den Dreck aus dem Gesicht waschen wollte, schlug die junge Frau plötzlich die Augen auf. Mit einem erstickten Aufschrei robbte sie zurück und zog panisch ihr Schwert aus dem Gürtel.

„Wer seid ihr?“, rief sie ängstlich. „Was wollt ihr von mir?“

„Wir haben dich gefunden“, erklärte Lazana sanft und lächelte entwaffnend. „Du warst bewusstlos und bist verletzt. Wir wollen lediglich deine Wunden versorgen.“

Die Frau zuckte zusammen und ließ ihr Schwert sinken. „Käpt’n Veit“, hauchte sie und sah ruckartig zu dem verlassenen Schiff herüber. Craig konnte sehen, dass ihre Unterlippe bebte.

„Das habe ich mir gedacht“, brummte Gancielle und stemmte die Hände in die Hüften. „Du gehörst also zu der Besatzung dieses Schiffs. Sag mir die Wahrheit! Kennst du einen gewissen Fjedor?“

Die Frau senkte betreten den Kopf. „Ja“, gab sie leise zu. „Ich kenne ihn. Käpt’n Veit und ich haben mit ihm zusammengearbeitet. Mein Name ist Ilva. Ich bin die Steuerfrau der Sirene. Oder besser gesagt, ich war es.“ Ihr ganzer Körper erzitterte.

Lazana sah sie mitfühlend an. „Was ist geschehen?“, fragte sie vorsichtig.

„Dieser Mistkerl Brynne hat eine Meuterei angezettelt“, berichtete Ilva flüsternd. „Und dann…und dann hat sein Leibwächter…dann hat sein Leibwächter Käpt’n Veit…“ Ihre Stimme brach ab und sie verbarg das Gesicht in den Händen.

„Dann war der arme Kerl, den wir an Deck gefunden haben, also der Kapitän dieses Schiffs“, stellte Gancielle verbittert fest und trat näher an Ilva heran. „Du da! Wie groß ist die Truppe, die Brynne folgt?“

Ilva zuckte zusammen. Verängstigt und mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Gancielle ins Gesicht. Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor.

Lazana warf Gancielle einen vernichtenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder Ilva zu und ihr Gesichtsausdruck milderte sich. „Keine Angst. Wir tun dir nichts. Aber wenn du etwas über Brynne und sein Gefolge weißt, wäre das von unschätzbarem Wert für uns.“

Ilva starrte noch immer Gancielle an, bis dieser ihrem Blick schließlich auswich und sich abwandte. „Fünfzig…“, flüsterte sie schließlich kaum hörbar. „Mit den Meuterern dürften es ungefähr fünfzig Leute sein.“

Ratford und Lazana wechselten besorgte Blicke. „Fragt sie, wann sie an Land gegangen sind“, knurrte Gancielle.

„Wann hat das Schiff diesen Ort erreicht?“, erkundigte sich Lazana vorsichtig. „Wann genau sind Brynne und seine Spießgesellen nach Norden aufgebrochen?“

„Wir sind hier gestern kurz vor Einbruch der Nacht vor Anker gegangen“, antwortete Ilva und ihre Stimme klang nun etwas kräftiger. „Wahrscheinlich sind sie direkt aufgebrochen, aber ich kann das nicht mit Gewissheit behaupten…ich…ich bin doch über Bord gegangen…“

Lazana sah Ilva mitfühlend an. „Haben sie Pferde und Karren dabei?“, fragte sie.

Ilva schüttelte den Kopf, zuckte zusammen und fasste sich an die Schläfe. „Nein“, murmelte sie. „Sie sind zu Fuß unterwegs.“

„Lass mich diese Verletzung sehen“, sagte Lazana sachte und streckte die Hand aus. „Sie muss gesäubert werden.“ Ilva ließ es zu, dass ihr Lazana die Platzwunde auswusch und ihr anschließend einen Kopfverband anlegte.

„Sie haben nur eine Nacht Vorsprung und kommen vermutlich nicht so schnell voran wie wir“, stellte Gancielle fest. Zum ersten Mal, seit sie die Mine verlassen hatten, wirkte er ansatzweise zufrieden. „Wir holen auf!“

„Und was machen wir jetzt mit ihr?“, fragte Ratford und deutete auf Ilva.

„Na, was schon?“, brummte Gancielle ungerührt. „Wir sperren sie in die Brig des Schiffs bis wir wieder zurück sind.“

„Das ist nicht Euer Ernst!“, fuhr Lazana auf. „Keiner kann sagen, ob und wann wir zurückkehren! Hat sie nicht schon genug durchgemacht? Seht Ihr denn nicht, dass sie immer noch Hilfe braucht? Sie ist verletzt!“

„Und sie ist eine Schmugglerin“, erwiderte Gancielle hart. „Sie trägt eine Mitschuld an dem Unheil, das uns droht. Sollen wir sie etwa einfach laufen lassen?“

„Erst, nachdem wir sie ausreichend versorgt haben“, rief Lazana und schürzte die Lippen. „Ich werde bei ihr bleiben, bis es ihr besser geht. In diesem Zustand kommt sie nicht weit.“

Gancielle war anzusehen, dass er alle Mühe hatte, seine aufkeimende Wut in Zaum zu halten. Sein Kopf lief rot an und auf seiner Stirn trat eine dicke Ader hervor. „Hört zu“, zischte er mit gedämpftem Zorn. „Die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Euch ist doch hoffentlich klar, was passiert, wenn Brynne den Wolkentempel vor uns erreicht, oder? Wollt Ihr das Schicksal von ganz Adamas wegen einer Fremden aufs Spiel setzen, die noch dazu eine Verbrecherin ist?“

Ratford wollte einschreiten, um zu verhindern, dass zwischen Lazana und Gancielle ein Streit entbrannte, doch er blieb überrascht stehen, als sich Ilva schwankend auf die Beine kämpfte. „Bitte verzeiht“, murmelte sie. „Aber habe ich das richtig verstanden? Ihr verfolgt Brynne?“

Lazana drehte sich verwundert um. „Das stimmt. Wir sind schon seit einem Tag hinter ihm her.“

Ilva neigte unterwürfig den Kopf. „Ich bitte Euch, nehmt mich mit!“, rief sie flehend.

Gancielle rümpfte die Nase. „Und warum genau sollten wir das tun? Schließlich bist du mitverantwortlich für diesen Schlamassel.“

Ilva ballte zitternd die Hände zu Fäusten und hielt Gancielles geringschätzigem Blick stand. „Weil ich alles tun würde, um diese elenden Verräter für ihre Meuterei büßen zu lassen!“, verkündete sie mit bebender Stimme. „Bitte, lasst mich Euch folgen! Der feige Mord an Käpt’n Veit darf nicht ungesühnt bleiben!“

„Aber deine Verletzungen…“, warf Lazana ein.

„Die sind nicht wichtig!“, entgegnete Ilva mit fester Stimme. „Und sie sind nichts im Vergleich zu dem, was ich Brynne antun werde, wenn ich ihn in die Finger bekomme!“

Lazana beäugte Ilva mit zweifelnden Blicken und schien scharf nachzudenken. Dann drehte sie sich um und sah Gancielle hoffnungsvoll an. „Das wäre eine Möglichkeit…“, murmelte sie. „Auf diese Weise kann ich ihre Wunden im Auge behalten.“

„Ihr macht Witze!“, rief Gancielle. „Wir sollen einen dieser Gauner als Verbündeten betrachten?“

Lazana verdrehte die Augen. „Ich bitte Euch! Ihr werft sie immer noch mit Brynnes Handlangern in einen Topf? Hat sie uns mit ihren Auskünften nicht schon weitergeholfen? Sie ist bereit, ihre Verfehlungen wiedergutzumachen, indem sie uns unterstützt. Ihr habt es in der Mine selbst gesagt, Gancielle. Wir können jede Unterstützung gebrauchen, die wir kriegen können. Könnt Ihr unter diesen Umständen nicht einmal Euer verdammtes Pflichtgefühl vergessen? Immerhin seid Ihr kein Kommandant mehr!“

„Ihr hättet mal sehen sollen, wie er sich angestellt hat, als Lexa die Paddel für unser Boot geklaut hat!“, rief Craig und grinste.

Gancielle warf ihm einen wütenden Blick zu, der aber nicht übertünchen konnte, dass Lazanas Worte gesessen hatten. Mürrisch verschränkte er die Arme vor der Brust. „Meinetwegen, dann soll sie eben mitkommen“, brummte er und sein Blick streifte Vance. „Immerhin ist sie ja nicht der erste Galgenvogel, auf dessen Unterstützung wir uns verlassen.“

Loronk hatte auf einen Schlag alles verloren. Sein Rang, sein Einfluss und sein Reichtum waren keinen Pfifferling mehr wert und zuletzt hatte auch sein treuer Fähnrich den Tod gefunden. Irgendwie musste er aus Adamas entkommen und als selbsternannter Schmugglerkönig war Fjedor die einzige Person, die dieses Vorhaben in die Tat umsetzen konnte.

Nachdem seine Machenschaften ans Licht gekommen waren und Meister Syndus ihn mit seinem Gefolge zur Rechenschaft hatte ziehen wollen, war Loronks einziger Gedanke eine möglichst schnelle Flucht gewesen. Aber nachdem er zwischen den Bäumen der Düstermarsch verschwunden war und Eydar hinter sich gelassen hatte, war er langsam wieder zur Ruhe gekommen. Fieberhaft hatte er überlegt, wie er vorgehen sollte. Fest stand, dass er sich in keiner Siedlung blicken lassen konnte, in der die Kaiserliche Armee die Fäden zog.

Sein erstes Ziel war die Mine gewesen. Er zweifelte nicht daran, dass Yarshuk die Wahrheit gesprochen hatte und die Banditen tot und sämtliche Sklaven frei waren, aber Loronk hatte gehofft, sich noch so viel Gold wie möglich unter den Nagel reißen zu können, ehe die Armee all die Reichtümer beschlagnahmte, die seine Schmuggler angehäuft hatten.

Vor der Mine angekommen, hatte er allerdings feststellen müssen, dass die Treppe am Hinterausgang eingestürzt war. In der Bucht vor dem Eingang der Grotte hatte die Flut eingesetzt und die Bluthechte waren schon vom Binnenmeer zurückgekehrt, um auf Beute zu lauern. Loronk hatte es aus Angst vor möglichen Verfolgern nicht gewagt, abzuwarten, bis das Wasser wieder sank. Also war das Gold für ihn unerreichbar geblieben.

Daraufhin hatte er sich entschlossen, Fjedor aufzusuchen. Von Yarshuk hatte er erfahren, dass der Schmugglerkönig nicht vor Ort gewesen war, als Gancielle die Mine gestürmt hatte, also war er vermutlich noch am Leben. Also war Loronk nach Norden geritten, in Richtung Wolkenberge, in denen Fjedors Ziel lag, doch die Nacht hatte ihn mitten in der Düstermarsch überrascht. Dem Ork war nichts anderes übriggeblieben, als sich ein einigermaßen trockenes Plätzchen zu suchen und auf den nächsten Morgen zu warten.

Die Sonne stand nun schon bereits seit mehreren Stunden am Himmel, als Loronk die Brücke am Oberlauf des Maldocan überquerte und sein Pferd im Trab ins Tal der Asche lenkte. Das Ross war nicht besonders kräftig und hatte mit dem schweren Gewicht von Loronks Rüstung zu kämpfen, weshalb der Brigadegeneral deutlich langsamer vorankam, als er gehofft hatte. Im gleichmäßigen Takt aufschlagender Hufe wirbelte das Pferd Staub auf und zog eine graue Wolke hinter sich her. Loronks Blick war verbissen nach Norden gerichtet. Das Schiff, das etwas weiter flussabwärts verlassen und unbemannt vor Anker lag, bemerkte er gar nicht. Wäre es ihm aufgefallen, hätte er den Kahn sofort erkannt.

Doch die Gedanken des Brigadegenerals waren viel zu aufgewühlt. Langsam wurde ihm bewusst, dass Yarshuks Tod für ihn ein herber Verlust war. Sein Fähnrich hatte treu zu ihm gestanden. Fjedor und seine Banditen dagegen konnten es gar nicht erwarten, sich wieder aus Loronks Griff entziehen zu können. Unter ihnen würde er wenig Freunde finden.

Und dann war da noch Brynne, auf dessen Bitte hin Fjedor zu diesem hanebüchenen Raubzug aufgebrochen war. Loronk wurde immer zorniger, je länger er an den rätselhaften Kerl dachte. Brynne hatte nie Ansprüche gestellt und sich immer im Hintergrund gehalten, weswegen der Brigadegeneral seine Anwesenheit toleriert hatte. Aber nun war er schuld daran, dass die Mine von ein paar wagemutigen Schergen Syndus‘ und rebellierenden Sklaven überrannt worden war. Er trug die Verantwortung dafür, dass Loronk alles verloren hatte und der Ork wollte für ihn hoffen, dass er diesen törichten Fehler in irgendeiner Weise wiedergutmachen konnte. Fjedor jedenfalls würde die Nachricht von der Entdeckung der Mine ganz und gar nicht gefallen. Mit dem Sturmerz verlor er seine Geldquelle und kein Raubzug, so groß angelegt er auch sein mochte, konnte ihn für diesen Verlust entschädigen.

Loronk stellte sich vor, wie er seine Hände um Brynnes mageren Hals legte und die Blödheit aus ihm herauspresste. An seinen Schläfen traten dicke Adern hervor und der Ork knirschte zornig mit den Zähnen, während er seine Fersen so heftig in die Flanken seines Pferdes bohrte, dass der Gaul erschrocken wieherte. Mit schierer Gewalt drückte er die Zügel nieder und zwang das scheuende Ross wieder unter seine Kontrolle.

Im Tal der Asche war es still. Loronk war noch nie so weit nach Norden vorgedrungen, aber er hatte gehört, dass die Berghänge, die das Tiefland säumten, den Harpyien als Nistplätze dienten. Er kannte das allgegenwärtige Kreischen der Raubvögel von der Küste von Eydar, doch hier erklang nicht einmal das leiseste Krächzen. Nur das Huftrappeln seines Pferdes war zu hören und hallte von den Flanken der Berge wider. Das Tal der Asche war topfeben und als Loronk den Kopf hob, sah er weit entfernt ein paar dunkle Umrisse. Er kniff die Augen zusammen und erkannte, dass es sich dabei um eine Gruppe mehrerer Gestalten handelte, die sich nach Norden fortbewegte. Sie waren zu Fuß unterwegs, sodass der Ork auf dem Rücken seines Pferdes rasch näherkam. Zunächst hoffte Loronk, dass es Fjedors Bande war, zu der er endlich aufschließen konnte, doch bald bemerkte er, dass die Zahl der Personen, die er vor sich sah, viel zu gering war. Er zählte sechs oder sieben Leute. Hinzu kam ein unförmiger Schatten, der so eng an den Boden gepresst war, dass Loronk ihn zunächst für einen Stein oder eine der Dornenranken hielt, doch schließlich war klar, dass sich der längliche Schemen im Gleichschritt zu den anderen Gestalten fortbewegte.

Loronk wechselte vom Galopp in den Trab und behielt die Silhouetten misstrauisch im Auge. Für gewöhnlich waren die einzigen Leute, die sich in den Wolkenbergen und ihren Ausläufern herumtrieben, Halsabschneider und Strauchdiebe. Nur selten verirrte sich jemand anders an diesen abgeschiedenen Ort und er konnte es sich nicht leisten, von ein paar Banditen aufgehalten zu werden, die glaubten, in ihm ein leichtes Opfer zu finden. Aber vielleicht gehörten die Gestalten, die dort vor ihm das Tal der Asche durchquerten, doch zu Fjedors Bande. Möglicherweise hatte er eine kleine Nachhut zurückgelassen, die sicherstellen sollte, dass er nicht verfolgt wurde, auch wenn das einen Akt der Weitsicht darstellte, den Loronk Fjedor eigentlich nicht mehr zutraute, nachdem er die Sturmerzmine so nachsichtig zurückgelassen hatte.
 

Gancielle entdeckte die Kadaver als erster. Es waren mehrere Stunden vergangen, seit sie den Maldocan hinter sich gelassen hatten, die Sonne neigte sich schon bedenklich nahe den Spitzen der Wolkenberge zu und die Schatten der umliegenden Gipfel wurden immer länger. Ilva erholte sich zusehends von ihrer Kopfverletzung, aber noch immer kamen sie für Gancielles Geschmack nur viel zu langsam voran. In regelmäßigen Abständen blieb er stehen, wenn er bemerkte, dass sein Vorsprung auf seine Begleiter zu groß wurde, warf erst ungeduldige Blicke nach Süden und dann wieder nach Norden. Und dabei bemerkte er sie schließlich.

Von Weitem sahen sie aus wie dunkle Flecken auf dem hellgrauen Staub. Doch je näher die Gruppe kam, desto deutlicher wurden gebrochene Flügel, weit aufgerissene Schnäbel mit tückischen Zähnen und gekrümmte, blutbefleckte Klauen, die starr und unbewegt gen Himmel gerichtet waren.

„Solas Gnade…“, entfuhr es Gancielle entsetzt. „Was ist hier geschehen?“

Das Tal der Asche war zu einem Massengrab geworden. Zu Dutzenden lagen die zerschlagenen und zerrupften Körper mächtiger Bergharpyien im Staub. Einige der geflügelten Bestien waren von Pfeilen getroffen worden, andere streckten versengte Flügel von sich und wieder andere schienen von enormer Hitze aus einer unbestimmten Quelle geradewegs durchbohrt worden zu sein. Federn waren geschmolzen und ausgefranste Brandwunden überwucherten ihre mageren Körper. Schwärme von Schmeißfliegen versammelten sich über den Kadavern und erfüllten die Luft mit leisem Summen.

Der Anblick der Leichen verschlug Craig den Atem. Die Bergharpyien waren sogar noch größer, als er sie sich vorgestellt hatte. Selbst im Tod wirkten ihre spitzen Zähne und scharfen Klauen noch wie furchterregende Mordwaffen. Schweigend gingen er und seine Gefährten durch die Reihen der Kadaver hindurch. Knack winselte ängstlich, Vance wirkte ansatzweise entsetzt über die reiche Ernte, die der Tod gehalten hatte, und Gancielle, Ratford und Lazana hatten ihre Gesichter in sorgenvolle Falten gelegt. Nur Wuleen und Ilva schien der Anblick der leblosen Harpyien überhaupt nicht zu kümmern. Die rothaarige Steuerfrau war offensichtlich in trübsinnigen Gedanken versunken.

Zwischen den Körpern der Harpyien entdeckte Gancielle die Leichen zweier Dunkelelfen. Dem einen war das Genick gebrochen worden, während der andere mit zerfetzter Kehle auf dem Rücken lag.

„Sieh mal einer an“, rief Ratford. Er stand neben einem Waldelfen in seidig glänzenden Gewändern, dessen Hals in unnatürlichem Winkel verdreht war. Mit einem Fußtritt rollte Ratford den Toten auf den Rücken und blickte verächtlich in ein bärtiges, vor Angst verzerrtes Gesicht, das blind in den Himmel starrte. „Den kennen wir doch.“

„Gehören diese Leute zu den Schmugglern?“, fragte Gancielle.

„Dieser Kerl hier war definitiv einer von ihnen“, knirschte Ratford wütend. „Er war es, der uns in die Fänge der Banditen gelockt hat. Sein Glück, dass er sich den Hals gebrochen hat. Wenn ich ihn erwischt hätte, wäre er nicht annähernd so schnell gestorben.“

Craig drehte sich der Magen um, als ihm klar wurde, dass die Schmuggler für das Massaker verantwortlich waren. Plötzlich wirkte es wie eine vollkommen wahnwitzige Idee, sie zu verfolgen. Craig wollte sich nicht ausmalen, was die Verbrecher mit ihm und seinen Begleitern anrichten würden, wenn sie sogar eine ganze Kolonie von Harpyien dermaßen zurichten konnten, ohne dabei nennenswerte Verluste in Kauf nehmen zu müssen. Gemessen an der Anzahl an getöteten Raubvögeln konnte Brynne das Ableben von drei Untergebenen vermutlich verkraften.

„Die Harpyien dort drüben wurden zweifellos durch Feuerzauber getötet“, stellte Lazana fest und beugte sich sorgenvoll über einen Kadaver, der zu ihren Füßen lag. „Aber das hier sind die Folgen mächtiger Sturmmagie. Offenbar befindet sich unter den Banditen ein gefährlicher Zauberer.“

„Brynne?“, fragte Gancielle.

„Vermutlich“, sagte Lazana. „Wenn er sich mit Sturmmagie beschäftigt hat, ist es kein Wunder, dass er vom Finger der Wolken gehört hat. Vermutlich träumt jeder Zauberer, der diese Disziplin der arkanen Künste beherrscht, heimlich davon, die Urgewalt der Blitze kontrollieren zu können.“

„Also ist er nicht nur ein Wahnsinniger, sondern auch ein magisch begabter Wahnsinniger“, brummte Gancielle. „Das sind ja wunderbare Aussichten.“ Er blitzte Ilva an. Ganz offensichtlich vertraute er ihr immer noch nicht. „Weißt du etwas darüber?“

Die junge Frau schüttelte ihre feuerroten Haare. „Nein“, antwortete sie verbittert. „Brynne hat sich erst blicken lassen, um die Meuterei anzuzetteln. Und dabei hat er keinerlei Magie verwendet.“

Lazana legte nachdenklich die Hand an ihr Kinn. „Möglicherweise war er ein Schüler von Hochmagier Ascor“, überlegte sie laut. „Offensichtlich ist er schon jetzt ein Zauberer von unglaublicher Macht. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was geschieht, wenn er den Finger der Wolken an sich nimmt.“

„Umso wichtiger ist es, dass wir den Wolkentempel vor ihm erreichen und den Hochmagier warnen“, rief Gancielle eindringlich und sah grimmig in die Runde. Dabei fiel sein Blick zufällig nach Süden und dort entdeckte er eine Staubwolke, die rasch näherkam. Mit einem Kopfnicken machte er seine Gefährten darauf aufmerksam.

„Ein Reiter“, stellte Craig fest, sich aus der Staubwolke ein galoppierender Schatten schälte und fernes Hufgetrappel an sein Ohr drang. In der gespenstischen Stille des Tals der Asche klang es wie nahendes Donnergrollen.

„Vielleicht ein Bote aus Eydar“, vermutete Gancielle. „Dann hat Lexa Erfolg gehabt.“

Angespannt beobachteten die Gefährten den sich nähernden Reiter. Craig erkannte eine blinzende Rüstung, aber nicht im Stahlgrau der Brustpanzer, die von den Offizieren der Armee getragen wurden. Dieser Harnisch blitzte im Sonnenlicht golden und um die Schultern des Reiters flatterte ein roter Umhang.

„Ich glaube, Ihr irrt Euch, Gancielle“, brummte Ratford. „Ein normaler Bote trägt keinen schweren Plattenpanzer.“

Gancielle antwortete nicht. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er dem Reiter entgegen, um weitere Details zu erkennen. Das Hufgetrappel wurde lauter, doch gleichzeitig verlangsamten sich die Schritte des Pferdes. Der Reiter hatte sie bemerkt und war offenbar misstrauisch geworden. Und als er so nah herangekommen war, dass Craig sein Gesicht erkannte, zerrte er rüde an den Zügeln und brachte sein Ross zum Stehen.

Es war schwer zu sagen, auf wessen Seite die Überraschung größer war, als sich Gancielle und Loronk so plötzlich und unerwartet gegenüberstanden. Mit offenen Mündern starrten sie sich an, aber nur für einen Wimpernschlag. Dann zog Gancielle schwungvoll sein Schwert und deutete damit wütend auf Loronk. „Haltet ihn auf!“, schrie er. „Er darf auf gar keinen Fall entkommen!“

Loronk grub seinem Pferd augenblicklich die Hacken in die Flanken und trieb es direkt auf Gancielle und dessen Gefährten zu. Craig brachte sich und Knack vorsichtshalber in Sicherheit, bevor er über den Haufen geritten wurde, aber Gancielle machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. Stattdessen stürmte er dem anreitenden Ork mit hassverschleiertem Blick entgegen und holte weit mit dem Schwert aus.

Kurz bevor er niedergeritten wurde, stürzte sich Ratford auf Gancielle und stieß ihn aus der Reichweite der galoppierenden Hufe. Die beiden Männer stürzten und Ratford landete mit klirrendem Kettenhemd direkt auf Gancielle.

„Was soll das?“, keuchte er und stützte sich auf die Knie. „Wollt Ihr Euch umbringen?“

Gancielle strampelte unter ihm wie kratzbürstige eine Katze, die sich aus der erdrückenden Umarmung ihres Herrchens befreien wollte. „Runter von mir!“, schrie er mit hochrotem Kopf und seine Stimme überschlug sich fast. „Er darf uns nicht entwischen!“

Ein langgezogenes Wiehern und Schnauben ließ ihn abrupt verstummen. Vance hatte dem Pferd mit beiden Händen in die Zügel gegriffen und es damit so ruckartig angehalten, dass es sich samt seinem Reiter beinahe überschlagen hätte. Loronk starrte Vance mit erschrockener Verblüffung an und drückte seinem Ross die Fersen in die Seite, doch so sehr es auch zerrte und den Kopf hin und her warf, es konnte sich nicht losreißen. Es trat mit den Hufen auf der Stelle und in diesem Moment wirkte Lazana ihren Eiszauber. Ein bläulich glänzender, armdicker Speer zischte durch die Luft und hätte geradewegs Loronks Nacken durchbohrt, wenn der Ork den Angriff nicht rechtzeitig bemerkt hätte. So konnte er sich gerade noch rechtzeitig ducken und die Eislanze schoss nur um Haaresbreite an seinem Nacken vorbei.

Von der anderen Seite fegte Wuleen wie ein Derwisch heran und auch Gancielle und Ratford hatten sich wieder aufgerappelt und die Verfolgung aufgenommen. Vance hielt die Zügel des Pferdes noch immer fest in den Händen und Lazana bereitete bereits einen weiteren Zauber vor. Kurz bevor Wuleen ihn erreichte, holte Loronk in einem Anflug von Panik aus und schlug Vance mit voller Kraft ins Gesicht. Ein Knirschen war zu hören, als die Faust auf Vances Nase traf, Vance taumelte einen Schritt zurück und dabei glitten ihm die Zügel aus der Hand. Loronk ergriff sie sofort und gab seinem Pferd die Sporen.

Doch er kam wieder nicht weit. Lazana wirkte einen weiteren Zauber und im nächsten Moment zerbarst ein Eisspeer splitternd direkt vor den Hufen des Pferdes. Es bäumte sich wiehernd auf und es gelang Loronk nur mit sichtlicher Mühe, sich im Sattel zu halten. Gerade, als er sein Reittier wieder unter Kontrolle hatte, wurde er von Wuleen eingeholt und sofort angegriffen. Wieder rutschte Loronk fast vom Rücken seines Pferdes, als er dem Hieb auswich, doch diesmal saß er schnell wieder im Sattel und ging direkt zum Gegenangriff über. Er zog seine Kriegskeule aus dem Gürtel und schwang sie mit einem zornigen Kriegsschrei hoch über dem Kopf. Der Knüppel streifte Wuleen an der Wange und die Dornen hinterließen tiefe, blute Schrammen in seinem Gesicht, doch er taumelte noch nicht einmal. Stattdessen machte der Schmerz und das Blut Wuleen nur noch rasender und er reagierte mit einem weiteren Schwertstreich, der den ersten an Kraft und Gewalt bei Weitem übertraf. Loronk gelang es, den Hieb mit seiner Keule abzufangen, doch da sauste bereits der nächste Eisspeer heran. Das Reißen von Stoff war zu hören, als sich das Projektil durch Loronks wehenden Umhang fraß und ihn fast aus dem Sattel riss.

Jetzt konnte er den Ausdruck von purer Panik auf seinem Gesicht nicht mehr verbergen. Fast schon verzweifelt versuchte er, Wuleen loszuwerden. Er zog den Fuß aus dem Steigbügel und trat seinem Angreifer vor die magere Brust. Dieser Treffer zeigte Wirkung, denn Wuleen stolperte ein paar Schritte zurück, gab aber noch immer nicht klein bei und ging sofort wieder auf Loronk los. Doch der Ork nutzte die Gelegenheit, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte mit donnerndem Hufgetrappel davon.

Lazana schleuderte ihm weitere Eisspeere hinterher. Zweimal noch riss sie mit ihren Projektilen große Löcher in seinen Umhang und einmal streifte sie ihn sogar an der Schulter, aber es gelang ihr nicht, Loronk aus dem Sattel zu stoßen oder sein Pferd zu stoppen. Schon nach wenigen Sekunden war von dem Ork und seinem Ross nur noch eine große Staubwolke übrig, die sich in rasender Geschwindigkeit nach Norden entfernte.

Gancielle schleuderte verbittert sein Schwert zu Boden. „So ein Mist! Er wird Brynne warnen!“

„Damit dürfte sich unser Vorhaben erschweren“, murmelte Lazana und ging von einem ihrer Gefährten zum nächsten, um sich nach möglichen Verletzungen zu erkundigen. „Wenn Brynne erfährt, dass ihn jemand verfolgt, wird er bestimmt immer ein Auge nach Süden richten.“

Gancielle knurrte leise, als Lazana seinen Arm untersuchte, und warf Ratford einen wütenden Blick zu. Als er von ihm in den Staub gestoßen worden war, hatten sie sich beide ein paar Schürfwunden zugezogen, die aber in Anbetracht der Tatsache, dass Loronk entkommen war, verschmerzbar waren. Wuleen hatte ein paar harmlose Kratzer im Gesicht, die sein ohnehin schon verwegenes Äußeres noch zusätzlich unterstrichen, ihn aber nicht weiter beeinträchtigten, und Vances Nase hatte nach Loronks Faustschlag kurzzeitig angefangen zu bluten. Er hatte sein ohnehin schon schmutziges Leinenhemd vollgesaut, aber zu Lazanas Verblüffung war die Blutung bereits wieder versiegt.

„So was…“, sagte sie kopfschüttelnd. „Ich hätte schwören können, dass er dir die Nase gebrochen hat. Die Zähigkeit von euch Dorashen erstaunt mich immer wieder aufs Neue.“

Vance schniefte geräuschvoll und fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase, wobei er das noch feuchte Blut in seinem Gesicht verteilte.

Craig, Knack und Ilva hatten nichts abbekommen und Lazana selbst ging es ebenfalls gut, bis auf die Tatsache, dass der Gebrauch ihrer Eismagie sie sichtlich erschöpft hatte.

„Und was machen wir jetzt?“, erkundigte sich Craig vorsichtig.

Gancielle bückte sich und hob sein Schwert auf. Fast zärtlich strich er mit den Fingern über die Klinge und wischte den Staub ab. „Der Plan ändert sich nicht“, verkündete er. „Wir bleiben an ihnen dran und versuchen, sie zum passenden Zeitpunkt unbemerkt zu überholen, um den Hochmagier zu warnen.“

„Aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte Craig. „Nachts sind sie unterwegs und tagsüber sehen sie uns doch sofort, wenn wir uns an ihnen vorbeischleichen.“

„Wir müssen es einfach versuchen“, beharrte Gancielle und schob sein Schwert zurück in den Gürtel. „Notfalls müssen wir einfach hoffen, dass Meister Syndus mit Verstärkung anrückt, ehe es zu spät ist. Und jetzt Abmarsch! Die Zeit ist nicht auf unserer Seite und hier stinkt es wie im Schlachthof.“
 

Loronk ritt, als säße ihm ein Dämon im Nacken. Er betete innerlich noch immer, dass ihn die Speere der Eismagierin nicht treffen mögen, obwohl er längst außer Reichweite war. Immer wieder warf er gehetzte Blicke über seine Schulter und erst, als seine Verfolger zu kleinen, undeutlichen Schatten zusammengeschrumpft waren, gestattete er seinem Pferd, das er bis dahin unerbittlich angetrieben hatte, eine Pause. Schnaubend und mit Schaum vor dem Mund blieb es stehen und senkte erschöpft den Kopf.

Loronk atmete tief durch und schloss die Augen. Noch immer konnte der Ork Gancielles zornigen Blick spüren, der ihn bis ans Ende der Welt zu verfolgen schien, und ihn beschlich das untrügliche Gefühl, dass eine Konfrontation über kurz oder lang unvermeidbar war. Er verscheuchte diesen Gedanken jedoch und rief sich die toten Harpyien zurück in Erinnerung, die an der Stelle, an der er auf Gancielle und seine Gefährten gestoßen war, zu Dutzenden den Boden bedeckt hatten. Er hatte nicht viel Zeit gehabt, die Kadaver genauer unter die Lupe zu nehmen, aber Gancielles zusammengewürfelter Abenteurerhaufen war definitiv nicht für dieses Massaker verantwortlich. Zwischen den Harpyien hatte er den ein oder anderen Leichnam eines Banditen entdeckt. Das Gemetzel ging also auf das Konto von Fjedors Schmugglern. Dem Zustand der Toten nach zu urteilen hatten sie nur einen halben Tag Vorsprung und Loronk war zuversichtlich, dass er sie vor Einbruch der Nacht würde einholen können. Hoffentlich hatten sie bis dahin nicht schon die Wolkenberge erreicht, denn es würde deutlich schwieriger sein, die Banditen zwischen den zerklüfteten Felswänden aufzuspüren.

Noch einmal blickte er fast panisch nach Süden, als befürchtete er, dass von dort gleich ein weiterer Eisspeer heranrauschen könnte, dass Gancielle im nächsten Moment vor ihm stehen würde. Aber er sah nur ihre weit entfernten Umrisse auf der weiten Staublandschaft des Tals der Asche und dahinter einen Hauch von Grün, den er als Blätterdach der Düstermarsch erkannte.

Loronk schüttelte sich und entschied, dass die Ruhepause für sein Pferd lang genug gewesen war. Er hielt es für besser, nicht zu lange zu verweilen. Also gab er seinem Ross die Sporen und trieb es eilig an, ehe die Magierin tatsächlich wieder so nah gekommen war, dass sie ihn mit ihren Eisspeeren hätte spicken können. Ein paar Mal griff er sich reflexartig an die harmlose Wunde an seiner Schulter. Sie blutete kaum, doch war sie von einer unnatürlichen Aura der Kälte umgeben, die ihr länger anhaftete, als normales Eis es jemals zustande gebracht hätte. Gancielles Truppe bestand aus fähigen Leuten, so viel war klar. Auch wenn ihn die Begegnung mit ihnen um ein Haar das Leben gekostet hatte, barg sie ihre Vorteile. Fjedor und Brynne waren mit Sicherheit daran interessiert, dass ihnen Gancielle mit einer kleinen Gruppe von Verbündeten auf der Fährte war. Loronk bezweifelte zwar, dass sie etwas gegen die Überzahl von Fjedors übrigen Banditen ausrichten konnten, aber eine Warnung war gewiss nicht unangebracht. Mit diesen Informationen würde man ihn hoffentlich etwas herzlicher empfangen, anstatt ihm augenblicklich einen Dolch ins Herz zu stoßen. Vielleicht fand er doch noch Unterschlupf in Fjedors Bande, bis sich eine Gelegenheit bot, Adamas zu verlassen. Aber dafür musste er die Gauner erst einholen.

Sein Pferd schnaubte unter der Last seiner Rüstung. Dicker, weißer Speichel tropfte ihm aus dem halbgeöffneten Maul und es warf immer wieder wild den Kopf hin und her. Viel mehr als Trab durfte er dem Pferd nicht zumuten, sonst machte es auf halbem Weg schlapp, doch mit der Gewissheit, dass er in jedem Fall schneller vorankommen würde, als Fjedors Lumpenpack und Gancielles Gefährten, entspannte sich Loronk ein wenig, aber ein kleiner Rest einer unguten Vorahnung blieb trotzdem zurück. Gancielles finsterer, rachsüchtiger Blick hatte sich unauslöschlich in das Gedächtnis des Orks gebrannt und er ertappte sich dabei, dass er sich immer wieder gehetzt nach seinen Verfolgern umsah, obwohl diese mittlerweile so weit zurückgefallen waren, dass er sie nicht mehr sehen konnte.

Die Sonne stand noch über den Gipfeln der Wolkenberge, aber sie kündigte den nahen Abend bereits mit einem rötlichen Lichtschimmer an, als Loronk endlich auf das Lager der Banditen stieß. Es war nicht zu übersehen. Die Schurken lungerten am Fuß der Berge herum und nur die wenigsten von ihnen hielten Wache. Ein Großteil lag faul im Staub herum, andere vertrieben sich ihre Zeit mit Würfelspielen und wieder andere stritten sich lautstark um eine Flasche Schnaps.

Loronk verzog verächtlich das Gesicht, als er auf dem Pferderücken auf die Banditen zusteuerte. Verglichen mit seinen Soldaten waren sie ein wilder, unorganisierter Haufen disziplinloser Halsabschneider. Trotzdem bemerkten sie den sich nähernden Reiter frühzeitig. Die Wachen machten ihre Kameraden auf den Neunankömmling aufmerksam und Loronk konnte ihre barschen Befehle deutlich hören. Er sah, wie sich die zerlumpten Gestalten missmutig aufrappelten und ihn mit verschränkten Armen und grimmigen Gesichtern erwarteten. Einige wenige liefen davon und verschwanden in einer Nische in den Hängen der Berge, die sich bei genauerem Hinsehen als zerklüftete Felsspalte entpuppte. Der Brigadegeneral ließ seine Kriegskeule stecken und hob die Hand schon von Weitem zum Gruß. Nur die wenigsten Banditen hatten ihn schon einmal zu Gesicht bekommen, eigentlich kannten ihn nur Fjedor und seine Vertrauten, Brynne und dessen Diener, sowie Mola und ihr Gesindel, das nun erschlagen in der Mine lag.

„Keinen Schritt weiter!“, hörte er den Warnruf eines Banditen. Loronk zügelte sein Pferd und ließ seinen hungrigen Blick über die Schurken schweifen. Sie waren zerlumpt und schmutzig, aber sie konnten mit ihren rostigen, schartigen Waffen umgehen. Der Ork hielt es für besser, keine offene Auseinandersetzung zu provozieren.

„Ich bin nicht euer Feind“, knurrte er leise, schwang sich elegant aus dem Sattel und hob entwaffnend die Hände. „Ich muss dringend mit Fjedor sprechen.“

Unruhiges Gemurmel ertönte. Ein paar der Banditen ließen verwundert ihre Waffen sinken. „Er kennt Fjedor“, hörte Loronk einen Dunkelelfen flüstern.

Der Tumult weckte die übrigen Banditen, die tief und fest geschlafen hatten. Mit staubigen Gesichtern setzten sie sich auf und rieben sich verwundert die Augen. Loronk konnte über ihre Unbeschwertheit nur den Kopf schütteln. Im Tal der Asche sah man nahende Feinde schon von Weitem, aber sobald es in das unübersichtliche Gebiet der Wolkenberge ging, durften sich die Banditen keine Nachlässigkeiten mehr erlauben. Sonst reichte selbst eine kleine Truppe wie Gancielle und seine Verbündeten, um das Lumpenpack in einem Überraschungsangriff ordentlich aufzumischen.

„Sieh an, sieh an. Wir haben hohen Besuch.“

Aus dem Spalt in der Felswand trat Fjedor. Mit seinen dunklen Augenringen und dem wirr abstehenden Haar wirkte er, als sei er gerade erst aufgestanden. Ein herzhaftes Gähnen unterstrich diesen Eindruck. „Der Brigadegeneral“, grinste er spöttisch. „Was verschafft uns diese Ehre?“

Loronk hätte ihn gerne beim Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt, aber die Banditen sahen es nicht gerne, wenn man die Hand gegen ihren Anführer hob. Außerdem war auch Fjedors Leibwächter Nironil anwesend. Loronk wusste, dass die übrigen Schurken vor Ehrfurcht vor dem Waldelfen erstarrten, und auch wenn er nun etwas ramponiert aussah, spürte der Brigadegeneral keine große Lust, Nironils Kampffertigkeiten auf Mark und Nieren zu testen.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, knurrte Loronk mit gedämpftem Zorn. „Warum hast du die Mine verlassen?“

Fjedor grinste selbstgefällig. „Nun, ich habe mich an meine Wurzeln erinnert und habe den Entschluss gefasst, wieder einmal einen kleinen Beutezug zu unternehmen, um meine Kasse etwas aufzubessern“, erwiderte er gelassen.

„Du meinst wohl, du wolltest dir etwas Gold unter den Nagel reißen, von dem du nichts an mich abgeben musst“, grollte Loronk.

Fjedor hob ertappt die Hände. „Deinem unermesslichen Scharfsinn entgeht auch gar nichts“, spottete er. „Aber das geht dich nichts an. Unsere Zusammenarbeit beschränkt sich lediglich auf den Schmuggel.“

„Du bist ein Idiot!“, donnerte Loronk so laut, dass einige der Banditen vor Schreck zusammenzuckten. „Der Schmuggel ist vorbei! Die Mine wurde überrannt, weil du Hupfdohle lieber auf Beutezug gehst, anstatt das Sturmerz zu sichern und auf die Sklaven aufzupassen!“

Fjedor entglitten die Gesichtszüge. Er riss ungläubig die Augen auf und öffnete den Mund. „Was…was sagst du da?“, stotterte er. „Überrannt? Wie kann das sein?“

„Da fragst du noch?“, brüllte Loronk und ballte zornig die Fäuste. Er konnte sich kaum noch beherrschen. „Du bist mit über der Hälfte deiner Bande abgezogen! Mola und ihre Leute sind entweder tot oder im Kerker. Das Sturmerz ist weg und ich habe alles verloren!“

„Das ist alles sehr bedauerlich. Aber Ihr habt Euch diese tragische Wendung selbst zuzuschreiben.“

Loronk hob wutschnaubend den Kopf. Im Schatten der Felsspalte stand Brynne, flankiert von den beiden Dunkelelfen Brothain und Gilroy, und blickte zu ihm herüber. Sein triumphierendes Grinsen schien etwas im Inneren des Orks zu zerbrechen. Loronk schob Fjedor, für den die ganze Welt in sich zusammenfiel, einfach beiseite und stapfte mit knirschenden Zähnen auf Brynne zu. „Was erlaubst du dir?“, grollte er drohend und seine blutunterlaufenen Augen blitzten vor Zorn.

Natürlich trat ihm Brothain sofort entgegen, um seinen Meister zu beschützen, aber Loronk packte den Dunkelelfen einfach bei der Schulter und stieß ihn im Vorbeigehen zu Boden. Dann packte er Brynne beim Kragen und starrte direkt in sein entstelltes Gesicht. Die Nasen der beiden Männer berührten sich fast.

„Das ist deine Schuld“, zischte Loronk gehässig. „Wenn du Fjedor keinen Floh ins Ohr gesetzt hättest, wäre all das nie passiert!“

Brynne schien vollkommen ungerührt. Langsam hob er die rechte Hand. Loronk konnte hören, wie die Banditen scharf die Luft einsogen, doch was auch immer Brynne vorgehabt hatte, er überlegte es sich wieder anders und ließ den Arm sinken. Stattdessen trat Gilroy entschlossen vor.

„Mein Meister hat Recht“, rief er. „Ihr allein tragt die Verantwortung für die Entdeckung der Mine.“

Loronk ließ Brynne augenblicklich los und dieser richtete sich wortlos den Kragen seiner Robe, während der Brigadegeneral sich umdrehte und Gilroy zornig anglotzte. „Du armseliger, kleiner Wicht…“, knurrte er, doch der Dunkelelf blieb ruhig.

„Eure Gier war zu groß“, fuhr er fort. „Ihr konntet nicht anders, als Gefangene in die Sümpfe zu schicken. Auf diese Weise habt Ihr der Armee eine frische Spur gelegt und die Pläne meines Meisters gefährdet. Außerdem war es ein Fehler, Aulus einzuweihen. Ein Fehler, den ich glücklicherweise ausbügeln konnte.“ Gilroy strich sich abwesend über die Fingerkuppen.

„Dann hast du Aulus also tatsächlich erwischt?“, fragte Loronk ungläubig und spuckte verächtlich aus. „Und wenn schon. Das ändert nichts mehr. Alles ist aufgeflogen.“

„Was machen wir denn jetzt?“, jammerte Fjedor kläglich. Er sah all seinen Reichtum davonschwimmen. In dieser Hinsicht glich seine Situation der Loronks. Aber im Gegensatz zu dem Brigadegeneral hatte er noch eine schlagkräftige Truppe unter seinem Kommando.

„Nur die Ruhe“, sprach Brynne. „Das Sturmerz wird ohnehin wertlos sein. Schon bald werde ich ein neues Zeitalter einläuten.“

„Du bist doch völlig verrückt“, brummte Loronk kopfschüttelnd.

„Vorsicht, Brigadegeneral“, warnte Brynne. „Ihr seid hart auf dem Boden gelandet, wie ein Käfer, der von einer Tischplatte gefegt wurde. Und ein solcher Käfer lässt sich nur allzu leicht zertreten. Aber wenn Ihr Euch an mich haltet, könntet Ihr schon sehr bald wieder an der Spitze stehen und all Eure Macht zurückhaben.“

Loronk wich zurück. In Brynnes Augen leuchtete der Wahnwitz. Der Ork fühlte sich plötzlich äußerst unwohl. Selbst Gancielles Gesellschaft hätte er in diesem Moment vorgezogen. „Was hast du vor?“, stieß er atemlos hervor.

„Ich werde den Finger der Wolken in meinen Besitz bringen!“, verkündete Brynne und ballte die sehnige Hand zu einer Faust. Er starrte aus dem Schatten der Felsen hinaus in das Tal der Ebene, dessen graue Staubschicht vom Licht der untergehenden Sonne beschienen wurde. „Und ich werde Sola aus dieser Welt verbannen, solange ich lebe!“

„Der Finger der Wolken?“, fragte Loronk tonlos. „Was soll das sein? Und wie hängt er mit der Göttin des Lichts zusammen?“

Brynnes Antwort war nur ein bösartiges Grinsen.

„Ich dachte, du wolltest dich an Ascor rächen!“, rief Fjedor schrill.

„Das werde ich auch“, erwiderte Brynne. „Und an Sola gleich mit dazu. Mein Angebot gilt natürlich auch dir, Fjedor. Auch du wirst deinen wohlverdienten Platz einnehmen, wenn der Finger der Wolken erst mein ist.“

„Was bedeutet das alles?“, fragte Fjedor jammervoll und rang hilflos die Hände.

„Nur Geduld“, lachte Brynne heiser. „All Eure Fragen werden zur rechten Zeit beantwortet.“

Loronk gelang es, sich ein wenig zu beruhigen. Brynne klang vollkommen verrückt, aber er schien wahnsinnig genug zu sein, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Und dann war es vermutlich besser, auf seiner Seite zu stehen. Der Brigadegeneral hatte ohnehin keine große Wahl. Es war besser, unter Brynnes Kommando Unterschlupf zu finden, als allein vor der Rache des Ordens fliehen zu müssen.

„Wir sollten uns beeilen“, brummte er. „Eine kleine Vorhut der Armee ist auf dem Weg hierher. Sie sollte diesen Ort kurz nach Einbruch der Nacht erreicht haben.“

„Wir haben Verfolger?“, japste Fjedor und wurde bleich.

„Natürlich“, knurrte Loronk. „Denkst du, es ist unbemerkt geblieben, dass du nach Norden aufgebrochen bist? Ich habe das schließlich auch in Erfahrung gebracht.“

„Interessant“, murmelte Brynne und trat aus der Felsspalte heraus, blieb aber im Schatten. „Aber diese Leute werden mich nicht mehr aufhalten.“ Vorsichtig blinzelte er zu den Bergen empor, hinter denen die Sonne mittlerweile verschwunden war. „Ich glaube, wir können es wagen, aufzubrechen.“

Gilroy und Brothain machten den Banditen augenblicklich Beine. Die Schurken packten ihre Sachen zusammen, verstauten ihre Habseligkeiten in Säcken aus grobem Stoff und standen langsam auf. Sie hatten den ganzen Tag Zeit gehabt, um sich von den Strapazen des Marsches zu erholen. Direkt neben der Felsspalte, in der sich Brynne verkrochen hatte, um sich vor den für ihn so tödlichen Strahlen der Sonne zu verbergen, hatten sie ihr Lager aufgeschlagen, aber nur die Meuterer von Bord der Sirene, die seit fast zwei Tagen auf den Beinen gewesen waren, hatten sich tatsächlich schlafen gelegt. Den Großteil der übrigen Banditen hatte die glühende Mittagssonne stundenlang wachgehalten. Angesichts des bevorstehenden Nachtmarsches durch die Berge kam in ihren Reihen nur wenig Begeisterung auf. Einige von ihnen murrten, aber keiner wagte es, Brynnes Befehle offen infrage zu stellen. Mit dem Massaker an den Harpyien hatte er unmissverständlich klargestellt, wer das Sagen hatte. Fjedor hatte sich seine Leute immer mit schmeichlerischen Worten und großspurigen Versprechungen gefügig gemacht und hatte ansonsten immer nur so viel von ihnen gefordert, dass sie keinen Grund sahen, sich gegen ihn zu stellen. Brynne dagegen benutzte Angst, um die Schurken bei der Stange zu halten. Und diese Methode war effektiver als all das Gold, das Fjedor immer gezahlt hatte.

Die Banditen wussten, dass der anstrengendste Teil ihrer Reise noch vor ihnen lag. Die Wolkenspitze war bereits zu sehen, gesäumt von weiteren Gipfeln ragte sie im Norden in den Himmel und verschwand im Dunst. Die meisten der Schurken kannten sich in den Wolkenbergen aus, viele von ihnen stammten aus den ausgeplünderten und verlassenen Siedlungen im trostlosen Hochland östlich des Gebirges. Die Pfade waren steil und steinig und an einigen Stellen so schmal, dass kaum zwei Leute nebeneinander gehen konnten. Auf der einen Seite ragten Felswände fast senkrecht empor, auf der anderen gähnten scheinbar bodenlose Schluchten. Wie auch die Düstermarsch waren die Wolkenberge ein Ort, an dem jeder Schritt wohlüberlegt sein musste, sollte es nicht der letzte sein. Und es grenzte an Wahnsinn, die Pässe bei Dunkelheit zu überqueren. Trotzdem bewegte sich die gesamte Meute unter Brynnes Kommando auf die Gipfel zu.

Die Hänge, die das Tal der Asche einrahmten, schienen in der Dämmerung näher zu rücken. Die Senke wurde immer schmaler und der Pfad, der den Zugang in die Wolkenberge bildete, glich einem Nadelöhr. Im Gänsemarsch betraten die Banditen den Weg, der sich an den Hängen emporschlängelte. Sofort stieg das Gelände merklich an. Kleine Steine lösten sich unter den Schritten der Schurken und kullerten leise polternd in die Tiefe.

Loronk und Fjedor verbrachten den ersten Teil des Aufstiegs mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Beide warfen sich heftige Beleidigungen und Vorwürfe an den Kopf, wobei es Fjedor nur wagte, dem Ork so dreist Paroli zu bieten, weil Nironil an seiner Seite war und ihr Streitgespräch stumm mitverfolgte.

„Du kriegst den Hals nicht voll!“, grollte Loronk. „Ein Raubzug! Das ich nicht lache! Du hast dich immer damit gebrüstet, dass du so etwas nicht mehr nötig hast!“

„Ach ja?“, verteidigte sich Fjedor spitz. „Wer von uns beiden ist denn der Gierschlund? Dir konnten die Sklaven doch gar nicht genug Sturmerz aus den Wänden kratzen! Und immerhin scheue ich mich nicht davor, mir die Hände schmutzig zu machen, während du deinen fetten Hintern die ganze Zeit in einen bequemen Sessel gepflanzt hast und nur darauf warten musstest, dass sich deine Kasse von alleine füllt.“

„Vielleicht wäre jetzt ein guter Augenblick, mir wieder einmal die Hände schmutzig zu machen, wenn du unbedingt darauf bestehst“, drohte der Ork und ballte die Faust. „Dich halbe Portion brech ich durch wie einen Zahnstocher!“

„Der große Brigadegeneral!“, höhnte Fjedor. „Jetzt spuckst du wieder große Töne! Aber vor unseren Verfolgern bist du weggerannt wie ein kleines Mädchen. Du siehst ja auch ein bisschen aus wie eins, mit deinen Zöpfchen. Mach bloß nicht mich dafür verantwortlich, dass man dir deine Puppe weggenommen hat.“

„Unsere Verfolger haben mit deiner halben Bande gründlich den Boden gewischt, hast du das schon vergessen, du Wicht?“, dröhnte Loronk und schlug sich scheppernd auf die Brustplatte. „Aber so weit wäre es niemals gekommen, wenn du unter Brynnes Befehlen nicht buckeln würdest wie ein Schlammwurm! Ich habe immer gewusst, dass du keinen Stolz hast, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du nur eine Stufe über den schmierigen Algen stehst, die den Boden in deiner Grotte bedecken!“

„Pah, und wenn schon! Du Großmaul hast dir vor ihm doch auch in die Hosen geschissen! Mach hier bloß nicht so einen Aufriss, sonst lass ich Nironil aus deinen Zähnen eine Halskette basteln.“

„Das sieht dir ähnlich! Du versteckst dich wieder hinter diesem Spitzohr! Wenn du mir allein unter die Augen trittst, zieh ich dir die Hammelbeine lang, du Hungerhaken!“

Obwohl zahlreiche Drohungen ausgesprochen wurden, spielte sich die Auseinandersetzung der beiden rein auf verbaler Ebene ab. Fjedor hätte es im Traum nicht gewagt, gegenüber Loronk gewalttätig zu werden, wohingegen der Ork genau wusste, dass Nironil kurzen Prozess mit jedem machte, der Fjedor an den Kragen ging. Außerdem war ihnen bei all ihrer Wut bewusst, dass sie Leidensgenossen waren und das gleiche Schicksal zu ertragen hatten. Sie beide waren die Anführer einer schlagkräftigen Truppe gewesen und hatten Macht und Geld besessen, doch dann hatten sie die Quelle ihres Reichtums zeitgleich verloren. Außerdem war Loronk sein Kommando über die Soldaten entrissen worden und Fjedor musste hilflos mitansehen, wie Brynne ihm den Befehl über seine Banditen immer mehr entzog. Inzwischen gehorchte ihm nur noch Nironil, alle anderen schienen ihn schon gar nicht mehr zu beachten. Anfangs hatten sie sich noch fragend nach ihm umgesehen, wenn Brynne einen Befehl gegeben hatte, doch nun folgten sie dem Sturmmagier, ohne sich um ihren eigentlichen Anführer zu kümmern. Die Drahtzieher hinter dem Schmuggel und den Entführungen waren zu unwichtigen Nebenfiguren in Brynnes großen Plänen geworden.

Während Fjedor noch immer die Hoffnung zu haben schien, sich mit seiner Bande aus dem Staub machen zu können, sobald der Wolkentempel gestürmt war, wusste Loronk, dass er sich an Brynne halten musste, wenn er jemals wieder ein Bein auf den Boden bekommen wollte. Er hatte fast vergessen, wie es war, vor jemandem buckeln zu müssen, dabei hatte es Jahre gedauert, bis er den Rang eines Brigadegenerals erreicht hatte. Und nun war all seine Arbeit zunichtegemacht worden, weil er sich von Fjedors Reichtum hatte blenden lassen.

Gilroy ging an der Spitze der Gruppe und stellte sicher, dass kein Tageslicht durch die gezackten Gipfel der Berge fiel und sein Meister tatsächlich vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt war. Erst, als es endgültig dunkel wurde, zog sich der Dunkelelf zurück, und Brothain übernahm die Führung. Brynne ließ einige Öllampen anzünden, um den Pfad zu erleuchten, der ab und zu wieder breiter wurde, aber unentwegt bergauf führte. Loronk fluchte leise, als überall in der Dunkelheit Lichter aufflammten. Der Schein der Lampen war weithin sichtbar und bildete für Gancielle eine helle Spur, die er unmöglich verlieren konnte. Aber Brynne schien keine Angst vor den Verfolgern zu haben und durch das Licht stellte er sicher, dass der Pfad gut ausgeleuchtet war. So sank das Risiko, dass einer der Banditen den Hang übersah, der direkt am Wegesrand steil abfiel.

Wie ein Lindwurm mit Schuppen aus Feuer wälzte sich die Schurkenmeute den Berg hinauf. Loronk erfuhr aus einem Gespräch zweier Dunkelelfen, dass die Wolkenspitze direkt hinter dem Gipfel lag, den sie gerade erklommen. Die Banditen rechneten damit, dass sie die Passhöhe im Morgengrauen erreichten und dann noch einen weiteren Nachtmarsch benötigten, um bis vor die Tore des Tempels vorzustoßen.

Der Hang wurde von silbernem Mondlicht und dem Schein der Öllampen bestrahlt, doch der Rest der Wolkenberge lag in bedrückender Finsternis. Loronk konnte die anderen Gipfel nur erahnen. Wie gebeugte Riesen duckten sie sich vor dem klaren Sternenhimmel. Noch dunkler als die anderen Berge war allerdings das Loch aus tiefster Schwärze, das in dem Abhang unter ihm klaffte. Loronk drehte sich in einem kurzen Schwindelanfall der Magen um, obwohl er den Boden nicht sehen und nur erahnen konnte, wie lange es im Falle eines Sturzes dauern würde, bis man unten aufschlug.

Plötzlich blieben einige Banditen stehen. Leises Gemurmel hob an und schließlich ertönte ein schriller Schrei, der von den Berghängen wiederhallte.

„Meister! Meister! Kommt schnell! Viland kann nicht mehr weiter!“

Loronk erkannte Gilroys Stimme. Sie klang aufgeregt und besorgt, sogar fast panisch. Das Getuschel der Banditen wurde kurz lauter, doch als sich Brynne und Brothain energisch einen Weg durch ihre Reihen bahnten, verstummten sie augenblicklich. Loronk zögerte kurz, doch dann heftete er sich an ihre Fersen. Fjedor und Nironil folgten Brynne und seinem Leibwächter ebenfalls.

Ein ganzes Stück bergab hatte sich eine Gruppe von Banditen flüsternd um einen Felsvorsprung geschart. Gilroy war bei ihnen und als er Brynne entdeckte, lief er ihm eilig entgegen.

„Seine Verletzungen machen ihm zu schaffen, Herr!“, rief er hastig.

„Zur Seite“, brummte Brynne und schob seinen Diener aus dem Weg. Auch die schaulustigen Banditen machten Platz und gaben den Blick auf Viland frei, der mit dem Rücken an die Felswand auf dem Boden saß. Sein Gesicht war so weiß, dass es in der Dunkelheit zu leuchten schien, sein Atem ging schwer und röchelnd und sein Kinn fiel ihm immer wieder auf die Brust. Er versuchte den Blutfluss aus den beiden Stichwunden an seinem Bauch, die wieder aufgebrochen waren, zu stoppen, indem er die Hände darauf presste, doch es war hoffnungslos.

Indra kniete neben ihm, wühlte in ihrem Apothekerbeutel und versuchte Viland zu überreden, sich von ihr den Verband wechseln zu lassen.

„Was ist hier los?“, fragte Brynne erzürnt.

Die dunkelelfische Heilerin fuhr erschrocken herum. „Ich habe es Euch gesagt“, japste sie erstickt. „Ich habe Euch gesagt, dass dieser Fußmarsch zu viel für ihn ist! Der…der Blutverlust ist zu viel für ihn. Er kann von Glück reden, wenn er überlebt.“

Brynnes beachtete Indra gar nicht. Er richtete seinen kalten Blick auf seinen verletzten Leibwächter. „Steh auf!“, befahl er.

Viland krümmte sich vor Schmerzen und versuchte, sich zu erheben, doch es gelang ihm nicht. „Es…es tu mir leid“, röchelte er schwach. „Ich…ich kann nicht. Vergebt mir, Herr. Ich…ich bin untröstlich, dass ich…Euch so kurz vor dem Ziel enttäuschen muss.“

„Bedauerlich“, sagte Brynne zerknirscht und wirbelte ruckartig zu Indra herum. Seine Augen funkelten mordlüstern. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du ihn gesundpflegen sollst, bis er wieder seine Axt halten kann? Und jetzt sieh ihn dir an! Es ist eine Schande, dass dieser Mann einmal mein treuer Leibwächter war!“

Indras Gesicht wurde aschfahl und sie wich ängstlich zurück. „Aber…aber Ihr habt Unmögliches von mir verlangt!“, stammelte sie und drückte sich mit dem Rücken eng an die Felswand.

„Ich mag es nicht, wenn man meine Anweisungen nicht erfüllt“, fuhr Brynne fort. „Und du hast versagt. Unter diesen Umständen habe ich keine Verwendung mehr für dich. Brothain! Schaff sie mir vom Hals!“

Der Dunkelelf zog seinen Dolch und ging energisch auf Indra zu. Die Heilerin wimmerte erschrocken und sank zitternd in die Knie. „Bitte!“, flehte sie. „Ich habe mein Möglichstes getan!“

„Das war nicht genug“, erwiderte Brynne kühl. Die Banditen, die Zeugen der Szene wurden, hielten den Atem an.

Da zog Nironil blitzschnell einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an die Sehne und spannte seinen Bogen. „Rühr sie an und du stirbst!“, drohte er Brothain.

Der Dunkelelf zögerte und blieb schließlich stehen. Mit steinernem Gesicht starrte er auf die Pfeilspitze.

„Was soll das denn jetzt?“, schrie Fjedor entsetzt. „Bei Phorons Hammer, nimm den Bogen runter!“

Nironil gehorchte nicht. Stoisch zielte er auf Brothain und sah Fjedor nicht einmal an. „Das geht nicht“ sagte er entschlossen. „Viele hier, mich eingeschlossen, hätten den Tod verdient. Aber nicht diese Frau!“

Fjedor rang verzweifelt die Hände. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um plötzlich ein Gewissen zu entwickeln!“, rief er schrill. „Du hattest nie eines und das war nie zu deinem Nachteil.“

„Das stimmt“ erwiderte Nironil. „Ich bin ein ganz fürchterlicher Waldelf.“ Indra riss erschrocken die Augen auf und starrte den Bogenschützen ungläubig an. In ihren Wimpern glitzerten Tränen. „Aber ich werde nicht dulden, dass jemand, der das Leben so sehr schätzt, einen gewaltsamen Tod stirbt!“

„Das ist ja rührend“, brummte Brynne und gab Brothain einen Wink. „Schneid ihr endlich die Kehle durch!“

Der Dunkelelf machte einen Schritt nach vorn und Nironil ließ augenblicklich die Sehne los. Der Pfeil zischte durch die Luft und bohrte sich in Brothains Schulter. Der Dunkelelf taumelte zur Seite und sein Schmerzensschrei war noch nicht verklungen, da hatte Nironil den Bogen erneut gespannt und zielte diesmal auf Brynne. „Lasst sie gehen“, forderte er. „Sonst trifft der nächste Pfeil Euch. Und nicht nur in die Schulter.“

„Du solltest dir einen Leibwächter suchen, der weniger gefühlsduselig ist, Fjedor“, knurrte Brynne. Dann hob er urplötzlich die Hand und ein greller Blitz schoss aus seinem Zeigefinger. Er traf Nironil in die Brust und der ganze Körper der Waldelfen verkrampfte sich. Er ließ die Sehne los, doch der Pfeil verfehlte sein Ziel deutlich. Während er noch von schweren Stromschlägen erschüttert wurde, trat Brynne rasch vor ihn und legte seine Hand, die vor Spannung knisterte, direkt an seine Kehle.

„Du kannst den Sturm nicht treffen!“

Die magische Kraft in seinen Fingern entlud sich in einem gewaltigen Blitzschlag. Blaue Flammen hüllten Nironil ein und der Waldelf riss den Mund auf, ohne einen Laut von sich zu geben. Dafür erschallte ein schriller Schreckensschrei von Indra.

Nironil kämpfte gegen die Schmerzen und die Muskelkrämpfe an und hob bebend die Hand. Ein Feuerball, viel kleiner als die Zauber, die er sonst zustande brachte, aber nicht minder heiß, loderte auf. Dann presste er seine brennende Hand mit letzter Kraft direkt auf Brynnes entstellte Gesichtshälfte. Der Sturmmagier heulte voller Pein und ließ den sterbenden Waldelfen los.

„So ein dämlicher Mistkerl!“, zischte Brynne und presste sich die Hand auf die frischen Brandwunden. Brothain zog sich mit einem Ruck den Pfeil aus der Schulter und machte mit erhobenem Dolch einen Schritt auf Indra zu.

„Schon gut“, röchelte Brynne. „Jetzt haben wir ja wieder Verwendung für sie.“ Er ließ die Hand sinken und offenbarte zu einer zähen Masse zerschmolzene Hautfetzen, unter der rohes Fleisch zum Vorschein kam. Indra und auch einige der anwesenden Banditen japsten erschrocken.

Fjedor sah voller Entsetzen zu Nironils Körper herüber. Die Flammen waren erloschen und die Muskelkrämpfe, die den am Boden liegenden Waldelfen erschütterten, ließen ihn seltsam lebendig wirken, aber seine Augen starrten blind und blicklos gen Nachthimmel.

„Was…was sollte das?“, stammelte er mit totenbleichem Gesicht.

Brynne spuckte einen Fetzen Haut aus. „Wer sich mir entgegenstellt, stirbt“, stellte er unmissverständlich klar. „Das war schon bei Veit so und bei diesem Trottel dort ist es nicht anders.“

„Aber jetzt habe ich meinen Leibwächter verloren!“, beklagte sich Fjedor.

„Ich auch“, schnaubte Brynne und drehte sich zu Viland um. Der Axtkämpfer hatte die Auseinandersetzung zwischen seinem Meister und Nironil bei schwindendem Bewusstsein mitverfolgt. Brynne ging vor ihm in die Knie. „Wir werden dich hier zurücklassen müssen. In diesem erbärmlichen Zustand bist du völlig nutzlos für mich.“

Fjedor und den übrigen Banditen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als Brynne seinen treuen Leibwächter so gleichgültig fallen ließ. Selbst Loronk, der immer ein hartes Regiment geführt hatte, seit er in die Offiziersränge der Armee aufgestiegen war, legte die Stirn in grimmige Falten. Doch Viland war offensichtlich nicht enttäuscht von der Entscheidung seines Herrn.

„Natürlich“, erwiderte er keuchend. „Ich…ich schäme mich dafür, ein…ein so jämmerliches Bild…abzugeben. So…so wollte ich Euch nie…niemals unter die Augen treten. Vielleicht kann ich…kann ich Euch noch einen letzten…Dienst erweisen…und unsere…unsere Verfolger wenigstens für…für ein paar Minuten…aufhalten.“

„Unwahrscheinlich“, brummte Brynne.

„Möge…möge die Dunkelheit immer…mit Euch sein, mein Meister“, stieß Viland hervor.

„Das wird sie schon bald sein“, sagte Brynne und wandte sich den Banditen zu. „Was steht Ihr hier noch rum und glotzt? Bewegt euch oder muss ich euch Beine machen?“ Die Schurken zuckten erschrocken zusammen, drehten sich um und drängten hastig den Bergpfad hinauf. „Und du…“, grollte Brynne und starrte Indra mit seinem gesunden Auge an. „Du hast eine neue Aufgabe. Jetzt kümmerst du dich um mich und meinen verbliebenen Leibwächter!“

Indra wimmerte leise, doch sie war Brynnes Mutwillen schutzlos ausgeliefert. Brothain zerrte sie grob auf die Beine und zog sie mit sich. Die ganze Banditenbande setzte sich langsam wieder in Bewegung und strebte der Passhöhe entgegen.

Zurück blieben Nironils Leichnam, der endlich stilllag, und Viland, der seine Axt fest umklammerte und sich mit leisem Röcheln enger an die Felswand presste.

„Kannst du mir kurz helfen, Ratford?“

Lazana zerrte an dem zerrissenen Saum ihrer Robe, der sich in einer Dornenranke verfangen hatte. Ihr Gefährte war sofort bei ihr und befreite sie mit einem kräftigen Ruck von der Schlingpflanze, wobei die Robe erneut einen Fetzen Stoff einbüßte. Die tückischen Rankengewächse bedeckten auch die Hänge und den Pfad, der in die Berge führte.

Seit Loronk an ihnen vorbeigeritten war, hatte Gancielles Entschlossenheit einen neuen Schub bekommen. Er schien keine Erschöpfung mehr zu kennen. Die Begegnung mit dem Brigadegeneral konnte nur bedeuten, dass Yarshuk ihn rechtzeitig gewarnt hatte. Aber da Loronk das Tal der Asche alleine durchritten hatte, war er offensichtlich auf der Flucht. Also hatte Syndus die Situation in Eydar wieder unter Kontrolle. Lexa hatte es geschafft.

Gancielles Entschlossenheit verlieh ihm Flügel und er trieb seine Begleiter nun schon seit Stunden unermüdlich an. Diese waren allerdings nicht vor Müdigkeit gefeit. Außer Vance ging jeder von ihnen auf dem Zahnfleisch. Selbst Wuleen keuchte bei jedem Schritt, seit der Weg steil bergauf führte.

Kurz nach Sonnenuntergang hatten sie die Wolkenberge erreicht und quälten sich nun stöhnend den ansteigenden Pfad hinauf. Bei Tageslicht hatte Craig der Anblick des mächtigen Gebirges sehr beeindruckt. Die hohen, zackigen Gipfel ragten drohend empor, als wollten sie den Himmel aufspießen. Und in ihrer Mitte thronte die Wolkenspitze, ein gewaltiger Berg, um dessen kahle Flanken Nebelfetzen waberten. Craig hatte sich so klein und unbedeutend gefühlt, aber die Nacht hatte das Gebirge bald in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. Die Berge waren zu unförmigen Umrissen vor dem Sternenhimmel geworden und Craig fühlte sich plötzlich von unzähligen, pechschwarzen Löchern umgeben, die nur darauf zu warten schienen, ihn zu verschlingen und nie wieder freizugeben. Im Sonnenlicht hatten die Wolkenberge einfach majestätisch und imposant gewirkt. In der Dunkelheit waren sie bedrohlich und beängstigend.

Immerhin verströmte die Nacht eine angenehme Kälte. Craig spuckte noch immer Staub aus dem Tal der Asche, den er bei jedem Atemzug inhaliert hatte. Nun war die Luft feucht und mild, dafür hatte er den Eindruck, direkt in eine Wand hineinzulaufen, so steil führte der schmale Pfad bergan. Sie hatten weder Fackeln noch Öllampen, um sich ihren Weg zu erleuchten und angesichts des bodenlosen Abhangs am Wegesrand, arbeitete sich Craig ganz vorsichtig und Schritt für Schritt voran.

Knack kroch angestrengt neben ihm her. Dem Knucker fehlte die Kraft, seine Körperspannung aufrechtzuerhalten, und so schleifte sein Bauch über den Boden. Vance, Wuleen und Ilva schwiegen größtenteils und sagten immer nur dann etwas, wenn man sie direkt ansprach. Doch nun hatten sie in ihrer Schweigsamkeit Gesellschaft bekommen, denn ihre Begleiter sparten sich ihren übrigen Atem. Gancielle ging ganz vorne, setzte sich immer wieder deutlich von seinen Gefährten ab und musste dann voller Ungeduld warten, bis sie zu ihm aufschlossen.

Craig wartete sehnsüchtig darauf, dass ihr Anführer endlich ein Lager für die Nacht aufschlagen ließ, aber obwohl es längst stockdunkel war, machte Gancielle keine Anstalten, stehenzubleiben oder seine Geschwindigkeit zu drosseln. Der Waisenjunge stöhnte gequält und wollte sich gerade zu ihrem Anführer nach vorn kämpfen, als Gancielle mit einem Ruck stoppte und sich über eine am Boden liegende Gestalt beugte.

„Was ist das?“, fragte Craig röchelnd und in die Knie. Er war dankbar um jede Pause.

„Sieht nach einem weiteren Banditen aus, den es erwischt hat“, murmelte Gancielle und untersuchte den Toten zu seinen Füßen genauer. Es war ein blonder Waldelf. „Er hat die gleichen Brandverletzungen, wie ein Großteil der Harpyien, die wir im Tal der Asche entdeckt haben. Sieht ganz so aus, als hätte Brynne ihn auf dem Gewissen.“

„Dieser Bastard macht vor gar nichts Halt!“, entrüstete sich Ilva. Sie blieb neben dem Toten stehen und starrte ihn finster an. „Das ist Nironil, Fjedors persönlicher Leibwächter, und vermutlich der geschickteste Kämpfer, der je für diese Banditen gearbeitet hat. Und wahrscheinlich war er Brynne genau deshalb ein Dorn im Auge. Wie Käpt’n Veit.“

„Sie zerfleischen sich also gegenseitig. Das soll uns recht sein.“ Gancielle beugte sich zu dem Toten hinunter. „Die Leiche ist noch warm. Sie können also noch nicht besonders weit gekommen sein.“

Ein gutes Stück den Berg hinauf, erkannte er einen entfernten Lichtschimmer, der immer wieder hinter Felsvorsprüngen verschwand, aber unverwechselbar aus zahlreichen Öllampen stammte. Hastig sprang er auf. „Da sind sie!“, rief er aufgeregt. „Los, bewegt euch! Wir haben sie fast eingeholt!“

„Und was sollen wir dann tun, wenn wir sie erreicht haben?“, fragte Lazana müde. „Wir sind völlig erschöpft und brauchen eine Pause. Gegen die Überzahl der Banditen können wir ohnehin nicht viel ausrichten, in diesem Zustand schon gar nicht.“

Gancielle knirschte leise mit den Zähnen. Hilflos blickte er den Berg hinauf, an dessen Flanke sich der Zug aus Lampenträgern langsam emporschlängelte.

„Loronk hat sie mit Sicherheit gewarnt“, brummte er. „Sie werden sich beeilen, um den Wolkentempel vor uns zu erreichen.“

„Oder sie locken uns in dieser Dunkelheit in einen Hinterhalt“, mischte sich Ratford ein. „Das hat doch keinen Zweck. Wir sollten die Nacht hier überdauern. Sobald der Tag anbricht, kommen diese Kerle nicht mehr weiter. Morgen werden wir sie garantiert einholen. Dann können wir uns an ihnen vorbeischleichen.“

Gancielle seufzte resigniert. „In Ordnung“, sagte er. „Wir gehen noch ein Stück weiter, bis wir einen geeigneten Lagerplatz gefunden haben.“

Craig seufzte erleichtert. Er wollte gerade aufstehen, als hinter einem Felsvorsprung ein gedämpftes Stöhnen ertönte. Auch seinen Begleitern erging das Geräusch nicht. Gancielle, Wuleen und Ilva zogen zeitgleich ihre Schwerter, Ratford hielt seine Axt bereit und in Lazanas Handfläche bildete sich unter leisem Knistern und Klirren ein scharfkantiger Eiskristall. Langsam und vorsichtig näherten sie sich dem Vorsprung. „Das könnte eine Falle sein“, warnte Gancielle mit gedämpfter Stimme. Eng an die Felswand gepresst schob er sich um die Ecke und gab nur einen Augenblick später Entwarnung. „Ein Verletzter“, meldete er. „Der wird uns in seinem Zustand nicht gefährlich.“

Craig erhob sich und näherte sich neugierig. Er spähte über Gancielles Schulter und entdeckte im Dunkeln einen bulligen Mann, der zusammengesunken auf dem Boden saß. In seinen zitternden Händen hielt er eine Axt und aus tiefen Wunden in seinem Bauch sickerte Blut.

Auch Ilva trat heran und ihr Blick verfinsterte sich. „Viland!“, zischte sie gehässig. „Brynne lässt sogar seinen treuesten Leibwächter zurück.“

Der Axtkämpfer hob den Kopf und sah mit blutunterlaufenen Augen auf. „Die Steuerfrau“, ächzte er. „Du lebst noch. Brothain ist ein Versager.“ Ein Krampf schüttelte ihn und er krümmte sich unter starken Schmerzen zusammen. „Ich werde…meinem Herrn…einen letzten Dienst erweisen…und…euch…alle…aufhalten…“

Er wollte aufstehen, doch sein Versuch scheiterte kläglich. Gancielle trat rasch auf das Axtblatt und löste die Waffe aus Vilands Händen. Der Hüne wehrte sich nur schwach. Auch als sich Lazana neben ihn kniete und seine Wunden untersuchte, leistete er kaum Widerstand.

„Also noch einer dieser Schurken“, stellte Ratford fest. „Ihre Horde dünnt sich mehr und mehr aus. Wie sieht es aus, Lazana? Ist er noch zu retten?“

Die blonde Magierin schüttelte bedrückt den Kopf. „Seine Wunden sind tief und er hat viel Blut verloren“, sagte sie leise. „Offenbar trägt er diese Verletzungen schon über einen Tag mit sich herum. Da waren scharfe Messer und Dolche am Werk. Es ist Wahnsinn, dass er sich in seinem Zustand auf einen solch anstrengenden Fußmarsch begeben hat. Seine Wunden bedürfen dringend der Pflege eines ausgebildeten Heilers, sonst stirbt er.“

„Die Dunkelheit wird euch alle fressen!“, grölte Viland, doch seine Stimme brach in einem röchelnden Hustenanfall ab. Blut tropfte ihm von den Lippen und blieb in seinem Bart hängen.

„Wir haben weder einen Heiler bei uns, noch die Zeit, um uns mit so einem Galgenvogel herumzuärgern“, rief Gancielle trocken. „Lasst ihn liegen. Wir können nichts für ihn tun.“

„Er hat unsere Hilfe auch gar nicht verdient!“, keifte Ilva und spuckte verächtlich aus. „Am liebsten würde ich ihn persönlich in die Terramorphen befördern!“

Viland lachte heiser. „Erst sticht mich eine kleine Göre ab, die noch nicht einmal grün hinter den Ohren ist, und dann gibt mir Veits Handlangerin den Gnadenstoß. Was für eine Demütigung.“

Craig wurde hellhörig. „Eine Göre?“, rief er aufgeregt und drängte sich an Gancielle vorbei. „Was für eine Göre? Warst du etwa derjenige, der Tyra umgebracht hat?“

Viland verzog das Gesicht zu einem grotesken, schmerzerfüllten Grinsen. „Tyra…“, röchelte er. „Ja, ich glaube, so hieß sie. Aber ich kann mich auch irren. Ich kann mich nicht besonders gut an die Namen derer erinnern, die ich einen Kopf kürzer gemacht habe. Schließlich fragt der Stiefel die Kakerlake, die er zerquetscht, auch nicht nach ihrem Namen.“

Craig explodierte. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte er sich auf Viland und packte ihn beim Kragen. „Du widerlicher Mistkerl!“, brüllte er ihn an. „Dafür bring ich dich um!“

„Du willst Vergeltung üben?“, keuchte Viland. „Das ist nicht nötig. Die Kleine hat ganze Arbeit geleistet.“ Erneut verfiel er in heiseres Gelächter und spuckte dabei Blut und Speichel aus. „Du kommst zu spät, kleiner Racheengel.“

Craig rauschte vor Zorn das Blut in den Ohren. Er schüttelte den verletzten Axtkämpfer mit aller Kraft durch und starrte ihm mit blankem Hass in das totenbleiche Gesicht. Vilands Worte schien er gar nicht zu hören. „Du Bastard!“, schrie er. „Ich bring dich um! Ich mach dich fertig! Ich reiß dir den Kopf ab! Ich…ich…“

„Lass gut sein“, murmelte Gancielle und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Craig zuckte zusammen. Vilands Kopf war kraftlos nach vorne gekippt. Dunkle Fäden aus Blut und Spucke hingen von seinem Kinn und der Axtkämpfer rührte sich nicht mehr. Als Craig begriff, dass der Mann gestorben war, stieß er einen erstickten Schrei aus, ließ ihn los und wich erschrocken zurück. Viland sackte in sich zusammen und sein Körper lag in einem zusammengekrümmten, verdrehten Haufen am Boden.

Entsetzt starrte Craig auf seine Hände, an denen das Blut des Toten klebte. Unverwandt starrte er Gancielle an. „Habe…habe ich…?“, stammelte er mit aschfahlem Gesicht.

Gancielle schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er ruhig. „Er lag schon im Sterben, als wir ihn gefunden haben. Tyra hat ihren Tod schon vorab gerächt.“

Craig spürte große Erleichterung. Er blickte zu Vilands Leichnam herüber. Tyra musste diesem Hünen, der so viel größer und stärker gewesen war als sie, einen großartigen Kampf geliefert haben, und hatte ihn letztlich, wenn auch mit einiger Verzögerung, mit sich in den Tod gerissen. Vilands Ende machte die junge Abenteurerin nicht mehr lebendig, aber Craig hatte das Gefühl, dass sie nun in Frieden ruhen konnte.

Er stellte fest, dass er Tränen in den Augenwinkeln hatte. Rasch wischte er sie fort, ehe sie noch jemand bemerkte, und stand dann entschlossen auf. „Dann wäre das hier erledigt“, rief er. „Lasst uns unser Lager aufschlagen, damit wir unsere Aufgabe morgen ausgeruht zu Ende bringen können.“

„Diese Zuversicht lobe ich mir“, schmunzelte Gancielle. Er warf einen kurzen Blick auf die Leichen von Nironil und Viland. „Aber wir sollten noch ein kleines Stück weitergehen, bevor wir rasten. Es schläft sich nicht besonders ruhig und erholsam zwischen den Toten.“
 

Ein kleines Stück den Berg hinauf fanden die Gefährten eine Stelle, an der genug Platz vorhanden war, um ein bequemes Lager aufzuschlagen. Gancielle teilte erneut Wuleen, Vance und sich selbst als Wachen ein, während er dem Rest der Gruppe die Möglichkeit gab, sich zu erholen. Auf ein Feuer mussten sie allerdings verzichten, da sie kein Brennholz auftreiben konnten. Die einzige Vegetation in den Wolkenbergen waren die Dornenranken. Nach ein paar wenigen Versuchen stellte sich heraus, dass sie viel zu schnell verbrannten. Den Gefährten stand also eine kalte Nacht bevor und sie kuschelten sich in ihre wärmenden Decken.

Als Craig am nächsten Morgen geweckt wurde, fühlte er sich völlig steifgefroren. Ungelenk und zitternd setzte er sich auf und blinzelte in das graue Nebelmeer, das wie ein brandungsloser Ozean zwischen den Bergen wogte.

Vor allem Knack hatte mit der Kälte der Nacht zu kämpfen. Der Knucker war wie gelähmt. Zum Glück ließ die Sonne nicht lange auf sich warten. Ihre wärmenden Strahlen durchdrangen den Nebel und Knack taute langsam auf. Auch die anderen zitterten und bibberten am ganzen Leib, sogar Vance, der sich sonst überhaupt keine Schwächen anmerken ließ. Lediglich Lazana schien von der Kälte überhaupt nicht beeinträchtigt zu sein und Craig fragte sich, ob das Blut von Eismagiern wohl gefroren war.

Ihm selbst tat die Anstrengung des Fußmarsches gut. Mit jedem Schritt schüttelte er die Kälte, die noch in seinen Gliedern steckte, mehr und mehr ab. Er spürte, wie er allmählich auf Betriebstemperatur kam und obwohl der Weg weiterhin steil bergauf führte, konnte Craig die morgendliche Wanderung im Sonnenlicht stellenweise sogar genießen.

Gancielle ging wieder an der Spitze und fand immer wieder Hinterlassenschaften der Banditen. Allerdings konnte er aus den Stiefelspuren und weggeworfenen Fleischresten und Kerngehäusen nicht lesen, wie groß ihr Vorsprung war.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie schließlich die Passhöhe erreichten. Unter ihnen schlängelte sich der Gebirgspfad bergab, nur um weit unter ihnen die Talsohle zu durchqueren und die Wolkenspitze hinaufzuführen. Der höchste Gipfel der Wolkenberge lag ihnen direkt gegenüber und Craig konnte bereits das Gebäude sehen, das wie ein Vogelnest an seiner Flanke klebte. Massiv und hoch wie ein Turm schmiegte es sich an die Felswand. Einzelheiten konnte Craig zwar nicht erkennen, aber er war sich sicher, dass es der Wolkentempel war.

Gemeinsam wollten sie den Abstieg in Angriff nehmen, als Gancielle ruckartig stehen blieb und Craig an der Schulter festhielt. „Runter!“, zischte er alarmiert. Sofort duckten sich die Gefährten hinter einen Felsen und spähten vorsichtig bergab.

Ein gutes Stück unter ihnen befand sich ein schattiger Überhang und dort waren deutlich die Gestalten einiger zerlumpter Dunkelelfen zu sehen. „Wir haben sie eingeholt“, flüsterte Craig und wagte kaum zu atmen. „Und was jetzt?“

„Wir ziehen uns zurück und behalten sie im Auge“, sagte Gancielle grimmig. In der Hocke kroch er zurück zur Passhöhe. Craig folgte ihm auf den Fersen. Er warf einen kurzen Blick den Weg hinunter, den sie hinaufgestiegen waren, und erstarrte vor Schreck. Eine größere Gruppe von Bewaffneten näherte sich dem Gipfel und steuerte direkt auf sie zu.

Gancielle bemerkte die Neuankömmlinge ebenfalls. Für einen quälend langen Augenblick fürchtete er, dass die Banditen sie tatsächlich in eine Falle gelockt hatten, aber dann erkannte er den goldenen Löwenkopf. Es waren Truppen des Kaisers, siebzehn oder achtzehn Soldaten in voller Rüstung, die den Berg erklommen.

An ihrer Spitze ging eine Frau in prächtiger Plattenrüstung. Streng zurückgebundenes, rotes Haar wehte ihr in einem Pferdeschwanz über die Schulter. Als die Soldaten Gancielle und seine Gefährten entdeckten, zogen sie ihre Waffen und verlangsamten ihr Tempo. Der frühere Kommandant konnte ihnen ihre Vorsicht nicht verübeln. Er und seine Begleiter sahen von Weitem tatsächlich aus wie Banditen und Strauchdiebe und noch dazu hatten sie einen Knucker bei sich.

Gancielle hob entwaffnend die Hände und kam den Soldaten langsam entgegen. Geyra, ihre Anführerin, kannte er selbstverständlich. Als er noch Kommandant gewesen war, hatte er in engem Kontakt mit der Befehlshaberin der Truppen von Khaanor gestanden.

„Bin ich froh, Euch zu sehen, Kommandantin“, seufzte er erleichtert. Seine Begleiter folgten ihm zögerlich.

Auf einen Wink Geyras blieben die Soldaten stehen. „Was tut Ihr denn hier, Gancielle?“, fragte sie misstrauisch. „Wo ist Eure Uniform? Und wer sind diese Leute?“ Sie starrte an Gancielle vorbei und betrachtete seine Gefährten. Ihr Blick blieb an Ilva hängen. „Euch kenne ich doch!“, rief sie. „Ihr wart an Bord dieses Schiffes, dass vor zwei Tagen frühmorgens in Khaanor vor Anker gegangen ist. Wir dachten, Ihr wolltet nur Eure Passagiere in die Wolkenberge bringen. Aber gestern sind wir auf den Kahn gestoßen. Er war verlassen und an Bord fanden wir nur die Leiche des Kapitäns!“

Ilva zuckte zusammen. Gancielle kam ihr eilig zu Hilfe.

„Das ist eine längere Geschichte“, rief er hastig und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr auf Geheiß von Meister Syndus hier seid?“

„Er hat uns von einem geplanten Überfall auf den Wolkentempel in Kenntnis gesetzt“, berichtete Geyra. „Offenbar befürchtet er, dass dieser Raubzug weitreichende Folgen haben könnte, denn er hat uns gebeten, so schnell wie möglich die Verfolgung der Banditen aufzunehmen, um sie aufzuhalten.“

„Und ihr sendet keine zwanzig Soldaten aus?“, erwiderte Gancielle und deutete sichtlich enttäuscht auf Geyras Begleitung. „Mir scheint, Ihr habt die Dringlichkeit dieser Unternehmung nicht ganz verstanden.“

Geyra legte die Stirn in Falten und verschränkte empört die Arme vor der Brust. „Ich kann es mir nicht leisten, den Hafen schutzlos zurückzulassen“, rechtfertigte sie sich patzig. „Mir wäre es lieber gewesen, einen Stellvertreter zu schicken, aber Meister Syndus hat darauf bestanden, dass ich diese Mission persönlich anführe.“ Missbilligend musterte sie Gancielle. „Seid Ihr etwa auch hinter diesen Schurken her?“

„So ist es“, bestätigte Gancielle. „Und wir haben sie bereits gefunden.“ Er winkte Geyra zu sich heran. „Duckt Euch!“, warnte er sie, als sie die Passhöhe erreichte, und deutete den Pfad hinunter. „Seht Ihr den Wachposten dort hinter dem Felsen? Und den anderen, ein kleines Stück tiefer?“

„Sie machen Rast“, stellte Geyra grimmig fest. „Also schlagen wir am besten gleich zu.“

Gancielle schnitt eine gequälte Grimasse. „Das ist nicht so einfach“, murmelte er zerknirscht. „Es ist eine große Bande. Hinter dem Felsvorsprung warten fünfzig Schurken auf uns. Auch wenn Eure Leute kampferfahren und bewaffnet sind, es wäre zu riskant uns jetzt auf einen Kampf einzulassen.“

„Was schlagt Ihr stattdessen vor?“, fragte Geyra und runzelte die Stirn. „Sollen wir auf Syndus warten?“

„Der Meister ist auf dem Weg hierher?“, rief Gancielle erleichtert.

„Er hat uns wissen lassen, dass er uns Verstärkung schickt“, sagte Geyra. „Aber in der Düstermarsch dürften sie nicht besonders schnell vorankommen. Es könnte gut und gerne noch einen Tag dauern, bis sie die Berge erreichen.“

„So viel Zeit haben wir nicht mehr“, zischte Gancielle verbissen und richtete seinen Blick auf die gegenüberliegende Flanke der Wolkenspitze. „Ihr kennt Euch hier besser aus als ich. Gibt es einen anderen Weg, der zum Tempel führt?“

Geyra sah Gancielle nachdenklich an und wies schließlich nach Osten. „Dort drüben zweigt ein Pfad ab, der über einen benachbarten Pass führt“, erklärte sie. „Auf diesem Wege kann man den Wolkentempel ebenfalls erreichen, aber es dauert länger. Ich denke, vier zusätzliche Stunden müsste man einplanen.“

„Das reicht“, sagte Gancielle entschlossen. „Dann nehmen wir diesen Pfad!“

„Wollt Ihr ihnen den Weg abschneiden?“, fragte Geyra skeptisch. „Das wird Euch nicht gelingen. Diese Kerle sind doch viel schneller unterwegs.“

„Sind sie nicht“, erwiderte Gancielle. „Sie werden noch eine ganze Weile rasten, denn sie können nur bei Dunkelheit reisen. Wir haben also genug Zeit, um sie zu umgehen und vor ihnen die Tore des Tempels zu erreichen.“

„Nur bei Dunkelheit?“, brummte Geyra. „Hättet Ihr vielleicht die Güte, mich aufzuklären, was hier los ist? Syndus hat sich in seiner Nachricht auch schon so nebulös ausgedrückt. Seine Botschaft klang fast, als würde diese Räuberbande eine Gefahr für ganz Gäa darstellen.“

„Womit er vielleicht nicht ganz Unrecht hat“, murmelte Gancielle. „Ich werde Euch alles erzählen, was ich weiß. Aber vorerst dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Wir müssen den Tempel unbedingt vor diesem Lumpenpack erreichen!“

Die Route, die Geyra ihnen wies, war alles andere als ungefährlich. Immer schmaler wurde der Pfad, der rechterhand von der Passhöhe abzweigte und sich dem Gipfel eines benachbarten Berges näherte. An einigen Stellen wurde es so eng, dass sie nur noch seitwärts vorankamen. Craig wurde schwindelig, als seine Zehenspitzen ins Leere ragten, doch solange er die aufragende Felswand in seinem Rücken spürte, an der er sich im Zweifelsfall festhalten konnte, fühlte er sich noch einigermaßen sicher. Doch als sie den Scheitelpunkt überquerten, zog sich der Trampelpfad direkt über den Bergrücken. Im Gänsemarsch mussten sie den schmalen Grat überqueren und zu beiden Seiten des Weges klafften tiefe Schluchten.

Die Berge waren grau und trostlos, wie der Staub, der das Tal der Asche bedeckte. Weder Wiesen noch Wälder waren zu sehen und irgendwann fiel Craig auf, dass es in den Wolkenbergen nicht einmal Wasser zu geben schien. Kein Bach plätscherte zwischen den öden Felsen hervor, kein Fluss ergoss sich über die steilen Berghänge, kein See glitzerte in den Tälern tief unter ihnen im Sonnenlicht. Das ganze Gebiet erinnerte Craig mehr an eine Wüste, als an ein Gebirge. Außer den dornigen Schlingpflanzen, die sich hier und dort über das trockene Erdreich rankten, schien es hier kein Leben zu geben. Aber Lazana belehrte den Waisenjungen eines Besseren.

„Unter solch trostlosen Bedingungen überleben nur die zähesten Kreaturen“, sagte sie, als sich Craig darüber wunderte, dass ihnen keine wilden Tiere begegneten. „Und meist sind das auch die gemeinsten und gefährlichsten Bestien. Du solltest dich glücklich schätzen, dass wir bislang nicht behelligt wurden.“

Craig musste schlucken und dachte an die Harpyien, die Brynne für sie aus dem Weg geräumt hatte.

Für Knack waren die trockenen Bedingungen eine einzige Qual. Die Sonne vertrieb zwar die Kälte aus seinen Gliedern, aber er sehnte sich sichtlich nach einem Fluss oder einem See, in dem er nach Herzenslust auf Fischfang gehen konnte. Immer wieder winselte er kläglich und Craig bekam ein schlechtes Gewissen. Er hatte den Knucker völlig selbstverständlich mitgenommen, ohne daran zu denken, dass er ihn in ein Gebiet führte, in dem er sich ganz und gar nicht wohlfühlte. Aber jetzt war es viel zu spät, um kehrt zu machen.

Als sie den Berggrat endlich überquert hatten und nur noch auf einer Seite des Pfades ein tiefer Abhang gähnte, öffnete Craig seine Feldflasche und gab Knack etwas zu trinken. Der Knucker nahm das Geschenk freudig an. Er gluckste zufrieden und trank in gierigen Zügen, während ihm Craig beruhigend über den Kopf strich. „Du schlägst dich wacker“, lobte er seinen treuen Gefährten. „Lange musst du nicht mehr durchhalten. Bald haben wir es geschafft.“

Tatsächlich war der Wolkentempel merklich nähergekommen. Craig bemerkte, dass sie sich bereits auf dem Hang der Berges befanden, auf dem das Bauwerk errichtet worden war. Er konnte den Pfad sehen, den die Banditen gehen würden, sobald es dunkel war. Zwischen dem direkten Weg und der Route über den Bergrücken, die Geyra gewählt hatte, lag ein schmales Tal, dessen Boden unter dicken Nebelschwaden verborgen lag. Der wabernde Dunst tief unter ihnen wirkte wie ein köchelnder, milchiger Sud in einem übergroßen Kessel.

In der Gesellschaft der Soldaten aus Khaanor spürte Craig neue Zuversicht, obwohl sich ihre Situation kaum geändert hatte. Brynnes Banditen waren ihnen noch immer zwei zu eins überlegen, aber an der Seite Kaiserlicher Truppen zu marschieren, um eine drohende Gefahr einzudämmen, erfüllte Craig mit Stolz. Er hatte jetzt schon mehr erreicht, als Hiob und Preman ihm jemals zugetraut hatten.

Gancielles Verbissenheit, mit der er Craig und seine Gefährten durch das Tal der Asche gescheucht hatte, war zu großen Teilen verflogen, seit die Soldaten zu ihnen gestoßen waren. Er hatte Geyra inzwischen aufgeklärt und diese wirkte nun so grimmig, dass sie Craig durch ihre bloßen Blicke Angst einjagen konnte, aber er erkannte unter ihrer finsteren Miene Sorge und Anspannung. Es stand eine ganze Menge auf dem Spiel und die Folgen im Falle des Scheiterns waren unberechenbar. Vielleicht war nur der Wolkentempel verloren. Vielleicht ganz Adamas. Vielleicht sogar der gesamte Kontinent.

Im Schatten der Wolkenberge ordnete Geyra schließlich eine Pause an. „Ruht Euch aus“, befahl sie. „Wir werden den Tempel vermutlich erst kurz vor Mitternacht erreichen. Und vielleicht brauchen wir dort oben unsere Kräfte noch.“

„Ziemlich sicher“, fügte Gancielle grimmig hinzu und schielte den Berg hinauf. „Es wird auf jeden Fall zu einem Kampf kommen.“

Craig spürte, wie seine Finger zitterten. „Wart Ihr vor Eurer ersten Schlacht auch so aufgeregt, Kommandant?“, fragte er neugierig.

Gancielle schob missmutig die Brauen zusammen. „Ich bin noch nie in eine richtige Schlacht gezogen“, brummte er. „Und darüber bin ich sehr froh. Der Krieg ist nichts, was man herbeisehnen sollte.“ Craig schluckte schwer. Gancielles Worte erinnerten ihn sehr an das, was Hiob und Preman ihm gesagt hatten.

„Außerdem wird das dort oben keine Schlacht“, Gancielle hinzu. „Das wird ein Gemetzel. Entweder auf unserer Seite, oder auf deren, wenn Ascor anfängt, seine Blitze zu schleudern. Also halt dich zurück und spiel auf gar keinen Fall den Helden, hast du verstanden?“

„Schon gut…“, murmelte Craig leise und schlich davon. Neben Knack ließ er sich auf einem Felsen nieder und kraulte den Knucker unter dem Kinn. Die Soldaten mieden den Wasserdrachen, aber immerhin hatte Gancielle sie davon überzeugen können, dass von Knack keine Gefahr ausging.

Craigs Blick glitt immer wieder wie von alleine hinauf zu dem Bauwerk, das in schwindelerregender Höhe über ihnen thronte. Inzwischen erkannte er die ersten Details: Ein mächtiger Torbogen, dicke Säulen und ein mehrstöckiger Turm mit Fenstern und Balkonen. Noch konnte er nur erahnen, wie imposant der Tempel aussehen musste, wenn er direkt vor seinen Toren stand. Über dem majestätischen Gebäude ragte der Gipfel des Berges in den Himmel und verschwand in einer grauen, blitzesprühenden Wolke. Craig stutzte. Überall war der Himmel strahlend blau, nur hier und da hing ein dünner, kaum sichtbarer Nebelschleier in der Luft. Doch direkt über der Wolkenspitze schien ein Unwetter zu toben. Es war klein und weit weniger beängstigend, als der Sturm, in den er und Vance während der Überquerung des Binnenmeers geraten waren, aber trotzdem ging von der grauen, geballten Gewitterwolke eine gewisse Bedrohlichkeit aus. Der Berg schien sie festzuhalten, wie ein gezähmtes Tier.

Geyra gab schon nach kurzer Zeit das Zeichen zum Aufbruch und die ganze Truppe setzte sich wieder in Bewegung. Craig gesellte sich in seiner grenzenlosen Neugier zu Lazana, die an der Seite von Ratford den steilen Bergpfad erklomm und ihren Stab als Wanderstock benutzte.

„Darf ich dich was fragen?“, erkundigte er sich vorsichtig.

„Natürlich“, erwiderte Lazana und lächelte ihn so warmherzig an, dass Craig gar nicht glauben konnte, dass sie dazu in der Lage war, bitterkalte Eiszauber zu wirken. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und rieb sich verlegen die Ohren.

„Was weißt du über den Wolkentempel?“, fragte er schüchtern.

Lazana warf den Kopf in den Nacken und blickte zur Bergspitze hinauf. Ihr langes Haar fiel ihr in seidigen Strähnen über die Schultern. „Nur das, was man sich vermutlich an allen Akademien der arkanen Künste in Gäa erzählt“, antwortete sie. „Er wurde bereits vor vielen Jahrhunderten errichtet und dient ehrgeizigen Adepten der Sturmmagie als Meditations- und Ausbildungsort. Aber der Tempel an sich ist nur ein Bauwerk wie viele andere. Sicher, es ist beeindruckend, dass ein solcher Koloss an einem abgelegenen Ort wie diesem errichtet wurde, aber letztlich ist er nur eine Ansammlung aufeinandergestapelter Steine. Viel interessanter ist der Berg, auf dem der Tempel erbaut wurde.“

„Die Wolkenspitze?“, fragte Craig zögerlich und blickte unwillkürlich zu dem düsteren Unwetter empor, das um den Gipfel wütete. Die Blitze zuckten in Sekundenabständen über den Himmel, doch sie schienen nirgendwo einzuschlagen und ihnen folgte auch kein Donnergrollen.

„Genau“, sagte Lazana ehrfürchtig. „Schon lange, bevor der Tempel errichtet wurde, pilgerten magieaffine Menschen und Elfen aus aller Herren Länder an diesen Ort. Man sagt, hier fühlten sie sich der Urkraft der Blitze, der die arkane Kunst der Sturmmagie entspringt, so nahe, dass sie ihre Macht in ihren Adern pulsieren spüren konnten. Die Wolkenspitze soll an ihrem Gipfel Gewitter einfangen. Unwetter sind normalerweise flüchtig und selten von langer Dauer, doch hier tobt immer ein Sturm, wenn man den Erzählungen Glauben schenken kann. Darum ist dieser Ort ideal, um die urtümliche Macht der Blitze zu begreifen. Und in jeder Schule der Magie ist das Begreifen der erste und essenzielle Schritt zum Erfolg.“

Craig hörte ihr mit leuchtenden Augen zu. Magie war für ihn ein völlig fremdes Feld. Überhaupt war Lazana die erste Person gewesen, die er hatte zaubern sehen. Es musste berauschend sein, sich die Kräfte der Elemente untertan machen zu können, und er fragte sich, ob in ihm auch magisches Potenzial schlummerte.

„Die Pilger von damals haben schließlich den Tempel erbaut“, fuhr Lazana fort. „So mussten sie keine tagelangen Wanderungen mehr in Kauf nehmen, um die Wolkenspitze zu erreichen, sondern schufen einen Rückzugsort direkt auf ihrem Gipfel. Und so wurde ihr Kult gegründet. Irgendwann gelangte einer ihrer Hochmagier in den Besitz des Fingers der Wolken. Wie genau das passiert ist, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Aber die Oberhäupter entschieden, dass dieser machtvolle Ring von jedem Hochmagier an seinen Nachfolger weitergegeben werden sollte.“

„Und in diesem Ring steckt also diese urtümliche Macht der Blitze?“, erkundigte sich Craig staunend.

„Das erzählt man sich jedenfalls“, sagte Lazana leise. „Aber ich bin der Meinung, dass ein derart machtvolles Artefakt nicht existieren sollte.“

„Brynne ist da mit Sicherheit anderer Meinung“, murmelte Craig bedrückt.

Die Soldaten stapften schweigend den Berg hinauf. Sie alle waren in Gedanken schon bei der kommenden Nacht, in der es zwangsläufig zu einer Entscheidung kommen würde. Gancielle hatte ihnen davon erzählt, dass Vance ein Dorashen war. Immer wieder sahen sich die Soldaten nach dem jungen Mann in der abgerissenen Kleidung um, aber obwohl er aussah wie ein Bettler, glänzte in ihren Augen all ihre Hoffnung, die sie Vance auf die kräftigen Schultern luden. Als wäre es ein echtes Gewicht, dass auf seine Schultern drückte, er den Rücken. Er allein sollte die drohende Tragödie abwenden und alles zum Besseren wenden, obwohl er sich so stur dagegen sträubte, ein Held zu sein. Craig sah ihm an, dass er unter der gewaltigen Erwartungshaltung der Soldaten zusammenzubrechen drohte. Und einmal mehr wünschte er sich, er hätte die gewaltigen Kräfte eines Dorashen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er der damit verbundenen Bürde gewachsen war.

Als schließlich die Sonne unterging, versanken die umliegenden Berge augenblicklich in Dunkelheit. Nur die zuckenden Blitze hoch über ihren Köpfen tauchten die Wolkenspitze in schauerlich flackerndes, bläuliches Licht.

„Jetzt sind sie unterwegs“, flüsterte Craig und blickte nach Süden. Dort, auf dem gegenüberliegenden Berghang, glaubte er einige Öllampen auflodern zu sehen.

In der Finsternis zog sich der Rest des Aufstiegs schier endlos in die Länge. Der Wolkentempel war kaum noch auszumachen, nur manchmal wurde seine mächtige Fassade von einem Blitz erleuchtet. Gleichzeitig wurde es wieder bitterkalt und mit jedem Schritt machte sich die Anstrengung des Tages deutlicher bemerkbar.

Craigs Glieder schrien nach einer weiteren Ruhepause und sein Körper verlangte nach Schlaf, aber Gancielle und Geyra trieben ihr Gefolge unerbittlich voran.

„Die beiden hätten auch gute Sklaventreiber abgeben“, röchelte er. In der Finsternis konnte er erahnen, dass Lazana schwach lächelte, doch auch die Magierin war zu erschöpft, um zu antworten.

Craig hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren und glaubte schon, er müsste bis ans Ende seines Lebens in bedrückender Dunkelheit einen steilen Berg erklimmen, als das Gelände schlagartig abflachte. Die Hochebene, die sie betraten, kam so plötzlich, dass Craig stolperte und um ein Haar das Gleichgewicht verlor. Stöhnend blieb er stehen und stützte sich auf seine Knie. Knack warf sich neben ihm platt auf den Bauch und hechelte erschöpft.

Als Craig den Kopf hob und ein Blitz über den Himmel zuckte, sah er direkt vor sich die Fassade des Wolkentempels. Die Hochebene war in Wirklichkeit der breite Vorplatz des Bauwerks. Es war sogar noch größer, als der Waisenjunge geglaubt hatte, und er musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitze sehen zu können. Hoch über ihm schimmerte sie im bläulichen Licht der Blitze. Mächtige Säulen mit gezackten Reliefs schmückten den gewaltigen Torbogen und auf den Türflügeln prangten schmiedeeiserne Blitze. Doch bei aller Imposanz erfüllte der Tempel nicht die Funktion einer Befestigungsanlage. Es gab weder Wehrgänge, noch Schießscharten, nur Fenster und Balkone, und so unüberwindbar das Hauptportal auch schien, so lächerlich wirkte der kleine Seiteneingang, der sich eng an die Bergflanke schmiegte. Er bestand aus einer einfach verriegelten Holztür, die selbst Craig hätte eintreten können.

Der Tempel war in seiner Gesamtheit äußerst beeindruckend, aber angesichts der fehlenden Verteidigungsanlagen riss Craig entsetzt die Augen auf. Aus weiter Ferne hatte das Bauwerk wie eine uneinnehmbare Festung gewirkt. Und nun, da er direkt vor seinen Toren stand, musste er feststellen, dass sogar eine Schafherde den Tempel hätte stürmen können.

„Das ist alles?“, japste er erschrocken. „Die überrennen die Mauern doch einfach!“

„Ich habe dir doch gesagt, dass der Tempel ein Ort der Meditation ist“, sagte Lazana leise. „Die Banditen dieses Landstrichs haben immer einen Bogen um die Magier gemacht. Sie haben sich nie einem Angriff ausgesetzt gesehen. Sie vertrauen voll und ganz auf ihre Zauber. Und bislang hatten sie damit auch keine Schwierigkeiten.“

„Bislang hat auch noch niemand mit einem Blitzstein an ihre Türen geklopft“, murmelte Craig niedergeschlagen. „Das gibt eine Katastrophe.“

„Und genau deshalb müssen wir Hochmagier Ascor warnen“, brummte Gancielle. „Er muss von Brynnes Plänen erfahren. Und wenn er uns Eintritt gewährt, können wir die ersten Angriffe der Banditen vielleicht abwehren und solange die Stellung halten, bis Meister Syndus mit der versprochenen Verstärkung eintrifft.“

„Seid vorsichtig“, warnte Lazana. „Hochmagier Ascor genießt nicht gerade den Ruf eines gastfreundlichen Dunkelelfen. Er gilt als eigenbrötlerisch und äußerst misstrauisch gegenüber Fremden. Vor allem, wenn sie zur Armee gehören.“

„Wir wollen ja nur sein Bestes“, erwiderte Gancielle. Zusammen mit Geyra trat er vor. Craig hielt den Atem an, als er mit der Faust kräftig gegen das mächtige Haupttor wummerte. Hinter den Fenstern und auf den Balkonen des Tempels rührte sich nichts. Gancielle trat ungeduldig einen Schritt zurück und spähte an der Fassade hinauf. Dann legte er seine Hände wie einen Trichter an den Mund.

„Verehrter Hochmagier!“, rief er laut. „Wir bitten um eine Audienz!“

Zunächst schien es, als würde sich erneut nichts tun, und Gancielle holte schon wieder Luft, als auf dem Balkon direkt über dem Haupttor drei Dunkelelfen erschienen. Zwei von ihnen hielten brennende Fackeln in den Händen und flankierten einen dritten, der eine grobmaschige, schlichte Robe trug und seine Arme vor der Brust verschränkte.

Craig hatte sich den Hochmagier ganz anders und vor allem viel hoheitsvoller vorgestellt. Er hatte damit gerechnet, dass Ascor einen langen, schlohweißen Bart trug, der ihm fast bis auf die Füße fiel. Doch der Dunkelelf, der dort oben stand, wirkte viel schlichter, als Craig erwartet hatte. Lediglich ein paar Stoppeln zierten sein Gesicht. Der Kopf war kahlrasiert und seine spitzen Ohren lagen eng am Schädel. Trotzdem strahlte der Hochmagier eine gewisse Würde aus. Craigs Blick blieb an dem Ring hängen, den er am Zeigefinger der rechten Hand trug. Er glänzte silbern im Licht der Fackeln und war mit einem dunklen Stein von violetter Farbe besetzt.

„Was wollt Ihr, Fremdlinge?“

Die Stimme des Hochmagiers raubte Craig den Atem. Sie grollte wie ein aufziehendes Gewitter und jede Silbe schien zu knistern, wie die Blitze am Gipfel der Wolkenspitze.

Auch Gancielle wirkte beeindruckt. Er legte eine Hand an die Brust und neigte den Kopf. „Seid gegrüßt, Ascor, Hochmagier des Wolkentempels“, rief er förmlich und wies auf seine Begleiterin. „Das ist Kommandantin Geyra und ich bin…Gan…Kommandant Gancielle.“

Eine strenge, senkrechte Falte teilte Ascors Stirn in der Mitte. „Mich interessieren Eure weltlichen Titel nicht, Lakaien des Kaisers“, grollte er. „Sagt, was Ihr wollt, bevor ich die Geduld verliere.“

Gancielle war anzusehen, dass er sich sehr zusammennehmen musste. Er schluckte mehrmals und schien einige patzige Antworten herunterzuwürgen. „Wir möchten Euch ergebenst um Einlass in Euren Tempel bitten“, erwiderte er und senkte sein Haupt noch ein Stück weiter.

„Ich gewähre Fremden schon lange keinen Zutritt mehr“, donnerte Ascor. „Warum sollte ich für die Marionetten des Kaisers eine Ausnahme machen?“

„Weil wir mit einer Warnung zu Euch kommen“, rief Gancielle. „Euch droht große Gefahr!“

„Gefahr?“, spottete Ascor. „Welche Gefahr sollte jemandem drohen, dem die Wolken gehorchen?“

„Ein Mann namens Brynne Blutbrand ist mit einem Gefolge von liederlichen Schurken auf dem Weg hierher“, antwortete Gancielle. Seine Stimme klang, als würde er mit zusammengebissenen Zähnen sprechen. „Wir vermuten, er hat die Absicht, den Finger der Wolken in seinen Besitz zu bringen.“

Für einen kurzen Augenblick schien es, als würde diese Nachricht den Hochmagier aus dem Konzept bringen. Die Falte auf seiner Stirn verschwand und seine Brust weitete sich unter einem tiefen Atemzug. Doch dann verfiel Ascor in schallendes Gelächter.

„Brynne Blutbrand!“, höhnte er. „Natürlich will mein ehrgeiziger, alter Schüler den Finger der Wolken an sich nehmen. Offenbar ist seine Torheit in all den Jahren noch größer geworden.“

„Dann war er tatsächlich Euer Schüler?“, rief Gancielle aufgeregt und hob den Kopf.

Ascor schürzte verächtlich die Lippen und blickte überheblich zu ihm hinab. „Natürlich war er das“, antwortete er gedehnt. „Er war der letzte Fremdling, den ich bei mir aufgenommen habe, und gleichzeitig der Grund, weswegen ich keine weiteren mehr in meinen Hallen dulde. Schon damals ist mir sein Interesse am Finger der Wolken aufgefallen. Armer Irrer. Er will mit dem Ring den Himmel verdunkeln, wo er geht und steht. Alles, um mit seiner Krankheit ein normales Leben führen zu können. Aber die Macht des Fingers ist nicht für ihn bestimmt! Als sein Interesse sich in Gier verwandelte, habe ich ihn mit Schimpf und Schande davongejagt. Wenn er nun versucht, den Ring mit Gewalt an sich zu bringen, werde ich ihm eine Lektion erteilen, von der er sich nicht mehr erholt. Und wenn Ihr mit Euren schmutzigen Füßen dann immer noch diesen geheiligten Berg entweiht, wird Euch dasselbe Schicksal ereilen!“

Schwungvoll drehte sich Ascor um und verschwand mit seinen Begleitern im Inneren des Tempels.

„Wartet!“, schrie Gancielle. „Brynne besitzt einen Blitzstein!“ Aber der Hochmagier hörte ihn nicht mehr. Rumpelnd fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

„Dieser verfluchte Idiot!“, zischte Gancielle wütend und hämmerte mit beiden Händen gegen das Tor. „Lasst uns rein! Lasst uns rein, verdammt nochmal!“

Geyra ergriff den tobenden Blondschopf beim Handgelenk und sah ihn kopfschüttelnd an. „Lasst gut sein“, murmelte sie grimmig. „Dieser überhebliche Bock wird uns nicht zuhören.“

Gancielle sackte in die Knie. „Aber Brynne wird ihn überrumpeln!“, klagte er verzweifelt.

„Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass er es nicht bis in den Tempel schafft“, erwiderte Geyra und trat an den Rand des Tempelvorplatzes. Mit finsterem Blick spähte sie den Berg hinunter. In der Dunkelheit bewegte sich eine Kette von Dutzenden Öllampen den Hang hinauf.

„Macht Euch bereit“, rief Geyra und zog ihren Kriegshammer. „Sie kommen.“

Die Nacht war kalt und Brynne hatte scheußliche Laune. Er ging in der Mitte der Banditenhorde, flankiert von Gilroy und Brothain, und stierte mit einem Auge die Wolkenspitze hinauf. Das andere wurde von einem dicken, kühlenden Verband bedeckt, der seine gesamte linke Gesichtshälfte verhüllte. Die frischen Verbrennungen schmerzten fürchterlich und der Wundumschlag linderte seine Qualen nur ansatzweise. Brothains Schulter steckte in einem Verband und der Dunkelelf griff sich immer wieder schmerzerfüllt an die Verletzung, die Nironils Pfeil hinterlassen hatte.

Die vergangene Nacht war ganz und gar nicht nach Brynnes Vorstellungen verlaufen. Er hatte einen seiner Leibwächter verloren und der andere war angeschlagen. Lediglich Gilroy war unverletzt. Der Dunkelelf war ein treuer Diener, aber kein großartiger Kämpfer. Inzwischen ärgerte sich Brynne darüber, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, Nironil zu töten. Der Waldelf wäre beim Sturm auf den Wolkentempel ein nützlicher Verbündeter gewesen. Immerhin hatte sein Tod den anderen Banditen unmissverständlich gezeigt, dass Brynne keinerlei Ungehorsam duldete. Die Angst hielt sie bei der Stange. Keiner dachte daran, gegen ihn aufzubegehren. Der einzige, der sich beschwerte, war Fjedor. Der Schmugglerkönig beklagte sich unentwegt über den Verlust seines Leibwächters, aber mittlerweile hörte ihm keiner seiner ehemaligen Untergebenen mehr zu. Das Blatt hatte sich endgültig gewendet. Brynne hatte die Horde fest im Griff. Nicht einmal von Loronk kamen Widerworte.

In Fünferreihen marschierten die Banditen den ausgetretenen Pfad hinauf, der zum Gipfel der Wolkenspitze führte. Ihre Öllampen leuchteten wie Glühwürmchen in der Dunkelheit und schwankten bei jedem Schritt hin und her. Die Schurken waren einigermaßen ausgeruht und zu allen Schandtaten bereit. Brynne wunderte sich, dass ihre Verfolger noch nicht aufgeholt hatten, aber im Grunde war ihm dieser Umstand nur recht. Er hatte keine Geduld mehr und konnte auf weitere Zwischenfälle gut und gerne verzichten.

Über der Wolkenspitze brodelte das Unwetter. Der Anblick der zuckenden Blitze besserte Brynnes Stimmung ein wenig. „Bald“, murmelte er geistesabwesend. Er konnte die Spannung in der Luft bereits spüren. Wie ein leichter Vorgeschmack auf die berauschenden Urkräfte, nach denen er sich sehnte, breitete sie sich über seinen Körper aus und ließ seine Haut kribbeln. „Morgen wird die Sonne nicht aufgehen. Sola, das ist meine Rache für deinen Verrat.“

Die Meute strebte dem Vorplatz des Tempels entgegen. Immer wieder tauchte das mächtige Bauwerk im flackernden Licht der Blitze auf. Wie ein flüchtiger Berggeist schälte es sich aus der Dunkelheit, nur um wenige Wimpernschläge später wieder von der Nacht verschlungen zu werden.

Die Vorhut der Banditen erreichte die Freifläche vor den Toren des Tempels, als ein leises, unheilverkündendes Zischen die Nachtluft erfüllte. Brynne bemerkte es viel zu spät.

Eine Pfeilsalve schoss aus der Dunkelheit heran und mähte die erste Reihe der Schurken nieder. Fünf Dunkelelfen stürzten getroffen zu Boden, der Rest blieb erschrocken stehen, ohne zu begreifen, was vor sich ging.

Loronk war der erste, der die Situation erkannte und handelte. „Runter mit euch!“, brüllte der Ork alarmiert. „Und löscht die Lampen! Das ist ein Hinterhalt!“

Sofort warfen sich die Banditen flach auf den Bauch. Sie schleuderten ihre Öllampen den Hang hinunter und der Berg versank augenblicklich in Dunkelheit und Stille. Ängstlich spähten die Schurken den Pfad hinauf, doch die Nacht verbarg die Angreifer vor ihren Augen.

„Das ist Gancielle“, zischte Loronk gehässig. „Irgendwie hat er es geschafft, uns unbemerkt zu überholen!“

„Sehen sie uns?“, flüsterte Fjedor ängstlich.

Loronk hob vorsichtig den Kopf. Er konnte den Tempelvorplatz erahnen, aber ihre Feinde waren nicht zu sehen. „Ich glaube nicht“, knurrte er. „Ohne das Licht der Lampen ist es viel zu dunkel.“

Brynne lag direkt neben dem Ork und glotzte wütend in die Finsternis. „Dann sind die Bedingungen ausgeglichen“, grollte er und stieß einen Dunkelelfen an, der sich flach auf den Boden presste und vor Angst zitterte. „Steht sofort wieder auf! Wir stürmen den Tempel!“

„Aber die machen uns einfach nieder!“, japste er Dunkelelf erschrocken.

„Das werden sie nicht“, knirschte Brynne zornig. „Ich gebe euch Feuerschutz und werde sie mit meinen Blitzen rösten. Diese schleimigen Maden halten mich jetzt nicht mehr auf!“ Und mit diesen Worten erhob er sich selbst.

„Nicht, Herr!“, rief Gilroy besorgt, als fürchtete er, dass sofort wieder ein Pfeil durch die Luft zischen und seinen Meister treffen könnte. Doch auf dem Tempelvorplatz tat sich nichts.

„Seht ihr?“ Brynne breitete triumphierend die Arme aus. „Sie sind genauso blind wie wir!“
 

Eng an den Berghang gepresst sah Craig zu, wie die Öllampen des Banditengesindels nach und nach erloschen. Die erstickten Schreie der Dunkelelfen, die von den Pfeilen getroffen worden waren, klangen ihm noch in den Ohren. Geyra und Gancielle standen mit einer kleinen Gruppe von Bogenschützen in der Mitte des Tempelvorplatzes. Dahinter hielten sich weitere Soldaten mit gezückten Schwertern bereit. Unter ihnen befanden sich auch Ratford, Wuleen und Ilva. Lazana war ebenfalls bei ihnen. Noch bereitete sie keinen Zauber vor, denn das magische Leuchten ihrer Eiskristalle würde den Banditen sofort ihren Standort verraten.

Craig dagegen lauerte zusammen mit Knack und Vance hinter einem Felsvorsprung und wartete mit stockendem Atem ab. „Haben sie sich zurückgezogen?“, flüsterte er. „Ich kann sie nicht mehr sehen.“

„Ich glaube nicht“, murmelte Vance. Der Dorashen hielt sein Hackebeil in der zitternden Hand. „Sie sind noch da.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte ertönten plötzlich laute Kriegsschreie. Einige der wartenden Bogenschützen verloren die Nerven und feuerten ihre Pfeile in die Dunkelheit. Sie wurden von einzelnen Schmerzensschreien belohnt, doch ein Großteil ihrer Schüsse ging ins Leere. Dann schälten sich die abgerissenen Gestalten der Banditen aus der Finsternis. Wie Kakerlaken aus einem Loch in der Wand strömten sie aus dem schwarzen Schlund und stürzten sich auf die Soldaten.

„Bogenschützen, zieht euch zurück!“, brüllte Geyra, doch es war bereits zu spät. Mit schartigen Schwertern fielen das Lumpenpack über die Fernkämpfer her. Die übrigen Soldaten kamen ihnen sofort zu Hilfe und auf dem Tempelvorplatz entbrannte ein erbittertes Gefecht.

Der Kaiserliche Trupp hatte die besseren Waffen und die solideren Rüstungen, doch die Banditen nutzten ihre zahlenmäßige Überlegenheit schonungslos aus. Auch Lazanas Eingreifen, die von der Seite spitze Eisspeere schleuderte, konnte daran nichts ändern. Doch noch hielten sich die Soldaten wacker. Mit aller Macht stemmten sie sich den Angreifern entgegen und konnten sie von den Toren des Tempels fernhalten. Sie blieben in Formation und wehrten sich entschlossen gegen den erbitterten Ansturm der Banditen. Trotzdem erkannte Craig in der Dunkelheit bereits zwei am Boden liegende Soldaten, die sich nicht mehr rührten. Und mit jedem Gefallenen wurde die Übermacht der Schurken nur noch erdrückender.

Gancielle und Geyra hielten den Trupp zusammen. Sie kämpften an den Flanken und ließen Schwert und Streithammer entschlossen kreisen. Die Banditen bemerkten schnell, dass sie mit den beiden Kommandanten kein leichtes Spiel hatten, weswegen sie ihre Angriffe auf das Zentrum der Formation konzentrierten. Die Soldaten mussten zurückweichen, um weitere Verluste zu verhindern, und es drängten immer mehr Banditen nach. Bald war der ganze Vorplatz von zerlumpten Dunkelelfen regelrecht überschwemmt.

Da erschien ein großgewachsener, schlanker Mann, dessen halbes Gesicht von einem dicken Verband verdeckt wurde. Er hob die Arme und aus seinen Fingerspitzen sprühten Funken.

„Das ist Brynne!“, schrie Ilva alarmiert.

Gancielle verschaffte sich mit einem ausladenden Schwertstreich Platz. „Haltet ihn auf!“, brüllte er und die Ader an seinem Hals schwoll an. Er versuchte sich, zu Brynne durchzukämpfen, doch es war zu spät. Gancielle sah noch, wie sich die magischen Funken entluden, dann zuckte ein gezackter Blitz durch die Reihen der Kämpfenden und hüllte den Vorplatz in grelles Licht. Ein Soldat schrie in Todesqualen, als sein Körper von blauen Flammen verschlungen wurde. Die Luft knisterte und dann folgte, wie ein Donnerschlag, eine gewaltige Explosion.

Die Erschütterung riss Craig von den Beinen und er schlug, halb taub durch den gewaltigen Lärm, der Länge nach hin. Seine Ohren klingelten und er rollte sich benommen auf den Bauch. Neben ihm krümmte sich Knack wimmernd zusammen. Die Fortsätze an seinem Hinterkopf zuckten wild. Wie betäubt sah sich Craig um und erkannte verschwommen, was der Blitzschlag angerichtet hatte.

Auf dem Vorplatz herrschte Chaos. Brynne hatte keine Rücksicht auf seine eigenen Leute genommen. Sein Angriff hatte sowohl die Soldaten, als auch die Banditen zu Boden geworfen. Die meisten Kämpfer waren verletzt, aber noch nicht geschlagen. Sie lagen verstreut auf dem Vorplatz und rappelten sich stöhnend auf.

Der Blitzschlag hatte die Formation der Soldaten einfach gesprengt und auseinandergerissen. Kaum waren sie wieder auf den Beinen, wurden sie in zahlreiche Einzelkämpfe verstrickt und sahen sich zwei oder mehr Banditen gegenüber.

Auch Craig stand auf. Der Kampfeslärm drang gedämpft und wie durch Watte an sein Ohr und er schwankte unkontrolliert von einer Seite auf die andere. Im Mondlicht erkannte er etwas abseits Gancielle, der sich einen Banditen vom Leib hielt. Blut sickerte aus dem Ohr des früheren Kommandanten und verklebte seine Wange. Gancielle riss immer wieder den Mund auf, aber Craig konnte zunächst nicht hören, was er rief. Erst, als er unsicher nähertaumelte, verstand er ihn.

„Rückzug! Zieht euch zurück!“

In der jetzigen Situation war dieser Befehl das einzig Sinnvolle. In Formation hatten sich die Soldaten der Banditen erwehren können, aber derart verstreut waren sie der Überzahl schonungslos ausgeliefert. Craig sah sich panisch um. Der einzige Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, war der Tempel.

In Vance, der den Kampf bislang wie gelähmt mitverfolgt hatte, kam endlich Bewegung. Mit ein paar Sätzen war er bei Wuleen, der es mit zwei Banditen aufgenommen hatte und von einem großen Dunkelelfen mit einer verwundeten Schulter und einem spitzen Dolch böse am Bein verletzt worden war, packte ihn bei der Schulter und zog ihn kommentarlos mit sich. Lazana schloss sich ihm atemlos an. Sie stützte Ratford, der am Hals und am Bein blutete. Der Kopf des Axtkämpfers war hochrot vor Anstrengung und Schmerz. Auch Ilva flüchtete sich in Richtung Nebeneingang. Sie wirkte zwar erschöpft, aber bis auf die Schnittwunde an ihrer Schulter unverletzt. Gancielle, Geyra und fünf weitere Soldaten bildeten die Nachhut, deckten ihren Rückzug und verteidigten die Fliehenden gegen die nachsetzenden Banditen. Alle übrigen waren hoffnungslos abgeschnitten und kämpften verzweifelt gegen die Überzahl.

Als Vance die Seitentür erreichte, verschwendete er keine Zeit mit höflichem Anklopfen. Stattdessen nahm er einmal kurz Anlauf und brach die Tür mit einem einzelnen Tritt aus den Angeln.

„Rein mit euch!“, rief er hastig, stieß Wuleen durch die entstandene Öffnung und winkte auch seine übrigen Begleiter durch die Tür. Craig ließ sich das nicht zweimal sagen und rettete sich mit Knack ins Innere des Tempels. Seine Gefährten folgten ihm, ebenso wie Geyra mit dem bedrückend kleinen Haufen überlebender Soldaten.

Nur Lazana wartete noch bei Vance an der Tür. Die Eismagierin schob den Dorashen sanft, aber bestimmt durch den Eingang und betrat den Tempel dann selbst. Die Banditen hatten die Soldaten, die vom Rest des Trupps abgeschnitten worden waren, im Nu niedergemacht und stürmten bereits auf den Tempel zu.

Lazana breitete die Hände aus und formte Eiskristalle, die sich miteinander zu einer immer größer werdenden Wand verbanden, bis sie die gesamte Türöffnung ausfüllten. Die Magierin trat erschöpft zurück und betrachtete ihr Werk. „Vielleicht hält sie das eine Weile auf“, sagte sie leise.

„Ich möchte lieber nicht hierbleiben und es herausfinden“, brummte Gancielle und sah sich im Inneren des Tempels um. „Wir müssen Ascor finden, bevor es die Banditen tun!“
 

Brynne strich mit den Fingern über den Stoff seiner Robe und ließ seinen Blick über den Tempelvorplatz schweifen. Etwa ein Dutzend Soldaten lagen erschlagen am Boden und ungefähr genauso viele Banditen. „Elende Schmeißfliegen“, knurrte Brynne verärgert und stieg über einen toten Dunkelelfen.

Gilroy kam hastig herbeigelaufen. „Herr!“, rief er atemlos. „Die Überlebenden haben sich in den Tempel gerettet.“

„Dann folgt ihnen“, brummte Brynne ungeduldig.

„Aber Herr, der Nebeneingang wurde mit einer Mauer aus Eis versiegelt“, meldete Gilroy.

„Das hält euch doch wohl hoffentlich nicht auf“, grollte Brynne und ging schwungvoll auf die besagte Pforte zu. Ein Großteil der Banditen hatte sich davor versammelt. Die Dunkelelfen rieben sich ratlos die Hinterköpfe. Die Tür war aus dem Rahmen gebrochen worden, dafür schimmerte jetzt eine Wand aus purem Eis in der Öffnung.

„Das war diese Magierin“, stellte Brynne knurrend fest.

Zwei Banditen mühten sich an der Mauer ab und traten heftig dagegen, doch alles, was sie dadurch bewirkten, waren pochende Schmerzen in ihren Zehen.

„Macht Platz, ihr Waschlappen!“, dröhnte Loronk und schob die Banditen ruppig zur Seite. Dann holte er weit mit seiner Kriegskeule aus. Mit dem ersten Schlag trieb er zahllose Risse in die Mauer, mit dem zweiten zerbrach er sie in tausend Stücke. Grimmig sah er zu, wie ein Regen aus Eissplittern niederging.

Brynne rieb zufrieden die Hände aneinander. „Endlich jemand, der zu etwas nütze ist“, krächzte er heiser und richtete sein gesundes Auge auf Fjedor. Der Schmugglerkönig hatte sich aus dem Kampf fein herausgehalten und stand nun teilnahmslos neben ihm. „Lass die Horde plündern, wie es ihr gefällt. Das wolltest du doch, oder? Aber die Hälfte deiner Leute bleibt bei mir.“

Fjedors Augen glommen gierig. „Wie du wünschst“, erwiderte er schmeichlerisch.

„Tötet jeden, der euch begegnet“, fuhr Brynne fort. „Diese Würmer haben meine Geduld schon zu lange strapaziert. Und Ihr, Brigadegeneral, kommt ebenfalls mit mir.“

„Und wo soll es hingehen?“, knurrte der Ork unwillig.

„Wir suchen Ascor, was sonst?“, brummte Brynne und trieb die Banditen ungeduldig durch den Nebeneingang. „Ich habe schon eine Ahnung, wo ich ihn finde. Los jetzt, ehe wir hier noch die ganze Nacht vergeuden!“

Die Banditen strömten in den Tempel und die Horde teilte sich rasch auf. Fjedor führte seine Plünderer auf der Suche nach Schätzen in die Nebengänge, während Brynne mit seinem Gefolge die Haupttreppe hinaufstieg. Knapp zwanzig Dunkelelfen begleiteten ihn, hinzu kamen Brothain und Gilroy, die ihm nicht von der Seite wichen, und Loronk, der mit grimmiger Miene das Schlusslicht bildete.

Der Tempel war wie ausgestorben. Kein Schüler des Hochmagiers begegnete ihnen. Brynne kannte die alten Gemäuer wie seine Westentasche. Immer wieder bog er in kleine Nebengänge ein, führte seine Begleiter über schmale Treppen stetig bergauf und würdigte die mit Ornamenten verzierten Wände des Tempels keines Blickes.

Irgendwo tief aus den Eingeweiden des Gebäudes ertönte entfernter Kampfeslärm. Entweder hatten Fjedors Plünderer einige Adepten aufgestöbert oder sie waren auf die überlebenden Verbündeten der Armee gestoßen. Brynne war es gleich. Sein Ziel befand sich auf der Spitze des Tempels und er schritt zielstrebig die Gänge entlang, bis er mit seinen Begleitern eine gewaltige Treppe erreichte. Sie führte auf das Dach des Tempels und Brynne konnte hoch über sich bereits das Gewitter am Gipfel der Wolkenspitze sehen.

Er zitterte vor freudiger Erregung, als er die breiten Stufen emporstieg. Grinsend trat er ins Freie und blieb stehen. Vor ihm saß Hochmagier Ascor im Schneidersitz, umringt von seinen Schülern. Ein Dutzend waren es, allesamt Dunkelelfen, und lächerlich wenig für die geräumigen Gemäuer des Wolkentempels. In ihren Händen knisterten blaue Funken. Brynne hob den Arm und sein Gefolge postierte sich neben ihm.

„Also hatten die Lakaien des Kaisers recht.“ Ascors Augen waren geschlossen, aber trotzdem glaubte Brynne seinen durchdringenden Blick zu spüren. „Mein alter Schüler kommt, um sich mit Gewalt zu holen, was ihm durch List verwehrt blieb.“

„Ihr habt Euch lange genug an der Macht der Wolken berauscht, Hochmagier!“, lachte Brynne und sein Auge funkelte tückisch. „Ich habe bessere Verwendung für sie.“

„Ihr wart ein Narr und werdet immer ein Narr bleiben“, erwiderte Ascor kühl und stand langsam auf. „Und nun werdet Ihr als Narr sterben.“

Brynne griff in die weite Tasche seiner Robe.

Ascor öffnete seine Augen. „Meine Schüler, wir sind ein friedlicher Orden“, rief er. „Wir halten nichts von der Kriegstreiberei der jungen Völker. Aber wer unseren heiligen Berg auf so schändliche Weise entweiht, muss vernichtet werden.“ Er reckte die Hand, an der sein Ring funkelte, hoch in die Luft. „Seht! Seht die Macht der Wolken!“

Das Gewitter über ihm fing an zu brodeln und zu kochen. Immer dunkler und größer wurde der schwarze Schleier. Die Blitze zuckten immer intensiver und der Ring sprühte blaue Funken. Und dann schob sich, zunächst wie in Zeitlupe, ein gewaltiger, glühender Keil aus den Wolken. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ertönte und es wurde taghell, als der gigantische Blitz niederging. Die Banditen schrien vor Angst und selbst Ascors Schüler hielten den Atem an, doch Brynne, dem der vernichtende Angriff galt, blieb ruhig.

Ruckartig zog er seine Hand aus der Tasche und reckte sie dem gezackten Blitz entgegen. Eine Säule aus grellem, bläulichem Licht fing ihn ein und der Stein in seiner Faust begann zu glühen. Dann wurde der blendende Schein immer schwächer. Wie eine Illusion löste er sich langsam auf und schien direkt in den Blitzstein hineingezogen zu werden. Dieser leuchtete wiederum immer heller und als er den ganzen Blitz absorbiert hatte, sprühte er ein paar Funken, erlosch schlagartig und zerfiel zu Staub. Und Brynne war vollkommen unversehrt.

„Ein Blitzstein?“, rief Ascor erschrocken und wich zurück. „Aber…“

Brynne gab ihm keine Gelegenheit, sich von seiner Überraschung zu erholen. Mit einem Satz sprang er vorwärts, zog sein Schwert aus dem Gürtel und stieß es dem Hochmagier durch den Leib. Ascor starb mit einem Ausdruck grenzenloser Verblüffung auf dem Gesicht und noch während er mit gekrümmtem Körper zu Boden fiel, wirbelte Brynne herum und schleuderte einen seiner verheerenden Blitzzauber auf die Schüler des Hochmagiers, die wie gelähmt danebenstanden. Gleichzeitig kam Bewegung in die Banditen und sie stürzten sich grölend auf die Adepten, die nicht von Brynnes Magie getroffen worden waren. Sie versuchten noch, sich zu wehren, aber sie hatten keine Chance. Die Schurken, allen voran Brothain, machten sie in Sekundenschnelle nieder. Nur Loronk hielt sich zurück und sah grimmig zu, wie sich Brynne zitternd vor Erregung über Ascors Leiche beugte und ihm den Ring vom Finger zog.

„Endlich…“, hauchte er. „Nach all den Jahren ist die Rache mein!“ Er steckte sich den machtvollen Ring an und ballte triumphierend die Faust. Kribbelnde Wellen liefen ihm über den Rücken und er spürte, wie ihn die Macht der Wolken erfüllte. „Solas Tage sind gezählt!“

„Und unsere vielleicht auch“, brummte Loronk und trat an den Rand der obersten Plattform des Tempels. Weit unter sich sah er eine Schlange aus zahlreichen Fackeln den Bergpfad hinaufkriechen. „Gancielle bekommt Verstärkung aus Eydar.“

„Noch mehr Idioten, die mich aufhalten wollen?“, krächzte Brynne. Er erhob sich und deutete auf die Treppe, die ins Innere des Gemäuers führte. „Ihr geht nach unten und seht zu, dass diese Trottel nicht in den Tempel vordringen. Nur Gilroy bleibt bei mir.“

„Und was tut Ihr, Herr?“, fragte Brothain zögerlich.

Brynne ballte triumphierend die Fäuste. „Ich werde ihnen einen gebührenden Empfang bereiten“, lachte er heiser. „Ich kann es gar nicht erwarten, die Macht der Wolken zu erproben!“

An der Spitze seiner Untergebenen ritt Syndus die letzten Meter des Bergpfades hinauf, der zum Vorplatz des Wolkentempels führte. In voller Rüstung folgte ihm Rhist und weitere Reiter und dahinter bahnten sich die Fußsoldaten in Formation ihren Weg den Berg hinauf. Nachdem Loronks Machenschaften ans Licht gekommen waren, hatte der alte Ordensmeister noch am selben Abend den Befehl zum Aufbruch gegeben. Jeder verfügbare Soldat war mobilisiert worden, um sich auf den beschwerlichen Weg durch die Düstermarsch und das Tal der Asche zu begeben. Nur ein kleiner Teil der in Eydar stationierten Streitkräfte war zurückgeblieben, sorgte unter Bragis Befehl für die Sicherheit in der Stadt und bewachte die gefangenen Schmuggler und Loronks Untergebene, die man inhaftiert hatte. Der Rest war Syndus nach Norden gefolgt, selbst Fähnrich Jel hatte seinen Posten im Kerker an einen anderen Soldaten abgegeben, um Eydar verlassen zu können.

Adrias gewaltsamer Tod hatte unter den Truppen große Bestürzung ausgelöst und sie gleichzeitig mit grimmiger Entschlossenheit erfüllt. Jeder einzelne Soldat wollte den verräterischen Brigadegeneral für seine Verbrechen büßen lassen und am allermeisten verzehrte sich Syndus nach Vergeltung, doch gleichzeitig wusste der Alte, dass Loronk längst nicht mehr das größte Problem war, das den Bewohnern von Adamas drohte. Brynne war der wahre Feind und er musste unter allen Umständen aufgehalten werden, ehe er sein Ziel erreichte.

Syndus gab sich alle Mühe, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen. Er hielt sich wacker im Sattel und so erreichte er als erster den Tempelhof. Erschrocken zügelte er sein Pferd und stieg ab, als er sah, dass der Vorplatz mit Toten gepflastert war. Auf dem Boden lagen die reglosen Körper zerlumpter Dunkelelfen, aber auch die Leichen mehrerer Soldaten. Es war unheilvoll ruhig, bis auf das leise Brodeln der grellen Blitze, die hoch über dem Tempel über den Nachthimmel zuckten.

„Sucht nach Überlebenden“, ordnete Syndus mit rauer Stimme an und drückte einem Soldaten die Zügel seines Pferdes in die Hand. Seine Untergebenen kamen seinem Befehl umgehend nach, strömten auf den Vorplatz und liefen von einer leblosen Gestalt zur nächsten. Syndus selbst beteiligte sich ebenfalls an der Suche. Er beleuchtete das Gesicht jedes Toten mit seiner Lampe, atmete jedes Mal erleichtert auf, wenn er erkannte, dass es nicht Gancielle oder Geyra waren, die vor ihm auf dem Boden lagen, und krümmte sich gleichzeitig beim Anblick jedes gefallenen Soldaten vor Kummer.

„Meister!“, ertönte plötzlich Jels Stimme. „Hier lebt noch jemand!“

Sofort raffte Syndus den Saum seiner Robe hoch und lief eilig über den Vorplatz. Feldwebel Praharin und Fähnrich Albus folgten ihm. Jel stand in einiger Entfernung ratlos neben einer schluchzenden Dunkelelfe, die über dem entstellten Leichnam eines Soldaten in die Knie gegangen war.

Syndus beugte sich sorgenvoll zu der jungen Frau hinunter. „Geht es Euch gut?“, erkundigte er sich.

Die Dunkelelfe schluchzte noch lauter auf. „So ein furchtbares Gemetzel“, rief sie mit erstickter Stimme und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich konnte nichts für sie tun.“

Syndus verzog mitleidig das Gesicht. „Helft ihr auf“, befahl er. Aulus nickte gehorsam und eilte zu Jel herüber. Gemeinsam zogen die beiden Fähnriche die zitternde Dunkelelfe sanft auf die Beine.

Rhist kam über den Vorplatz gehastet. „Meister, wir konnten auf dem Platz keine Überlebenden finden“, meldete er atemlos. „Aber aus dem Tempel ist Kampfeslärm zu hören.“

„Dann halten Gancielle und Geyra noch die Stellung“, rief Syndus und wandte sich um. „Wir müssen ihnen helfen.“

„Seht nur!“, schrie Praharin erschrocken. „Der Himmel! Ihr Götter, steht uns bei!“

Syndus blickte nach oben und erstarrte. Eine tiefschwarze Wolkendecke, viel dunkler, als der Nachthimmel, braute sich drohend zusammen. Sie schwoll in unnatürlicher Geschwindigkeit zu gewaltiger Größe an und schien sich im Nu über das ganze Gebirge bis hin zum Horizont auszudehnen. Ihre Unterseite wurde vom grellen, blauen Licht zuckender Blitze erhellt.

„Das ist nicht gut“, murmelte Syndus finster. „Rhist, sammelt die Truppen! Uns bleibt keine Zeit mehr. Wir stürmen den Tempel!“

„Wie Ihr wünscht, Meister!“, rief der Kommandant dienstbeflissen. Er machte kehrt, um den Befehl auszuführen, doch er kam keine zwei Schritte weit. Ein gewaltiger Donnerschlag erschütterte den Berg und ließ die Erde erbeben. Syndus sah noch, wie Praharin von einer gleißenden Lichtsäule eingehüllt wurde, da riss ihn die Druckwelle von den Beinen. Gemeinsam mit Jel, Albus und der Dunkelelfe schlug er der Länge nach hin und als er sich stöhnend wieder aufrappelte, lag Praharin direkt neben ihm. Die Haut des Feldwebels war versengt, aus seinen Ohren sickerte Blut und Funken sprühten über seinen zuckenden Körper. Dunkler Rauch fädelte von seinen Gliedmaßen auf, sein Mund stand weit offen und sein Gesicht war im Tod zu einer Maske der Angst verzerrt.

Syndus japste vor Kummer, doch ihm blieb keine Zeit, den Feldwebel zu betrauern. Der nächste Blitz zuckte aus den Wolken hervor, dann ein weiterer und in kürzester Zeit ging ein regelrechter Hagel aus tödlichen Lichtkeilen nieder. Die Pferde gerieten in Panik, gingen wiehernd durch und stürmten in panischem Galopp den Bergpfad hinunter. Die meisten der getroffenen Soldaten starben sofort und ihre Todesschreie gingen im Grollen des Donners unter. Diejenigen, die überlebten, wurden von heftigen Muskelkrämpfen geschüttelt zu Boden geworfen und wanden sich vor Schmerzen, während blaue Flammen an ihren Gliedmaßen leckten und ihr Fleisch versengten. Syndus begriff sofort, dass die Blitze keiner natürlichen Quelle entsprangen. Er und seine Truppen saßen auf dem Vorplatz wie auf einem Präsentierteller und waren dem magischen Gewitter schutzlos ausgesetzt.

„Zum Tempel!“, brüllte er gegen den nächsten Donnerschlag an. „Geht in Deckung! Bringt Euch in Sicherheit!“
 

Gancielle stand der Schweiß auf der Stirn. Die Banditen hatten ihn und seine verbleibenden Gefährten in den Gängen des Wolkentempels aufgestöbert und in die Enge getrieben. Sie hatten sich auf den Balkon direkt über dem Haupttor geflüchtet und versuchten nun verzweifelt, die Tür zu halten. Lazana stabilisierte sie mit ihren Eiszaubern, doch die magischen Kräfte der jungen Frau waren nahezu aufgebraucht und die Banditen schlugen mit Beilen immer größer werdende Löcher in die Tür.

„Lange halten wir hier nicht mehr durch“, knurrte Gancielle. Ratford und Ilva standen neben ihm und hielten ihre Waffen bereit, entschlossen, sich in den Kampf zu stürzen, sobald die Tür nachgab. Wuleen presste eine Hand auf die schlimme Wunde an seinem Bein, weigerte sich aber, sich behandeln zu lassen, obwohl ihn der Blutverlust schon hatte bleich werden lassen.

Craig hatte sich zusammen mit Knack, der ununterbrochen knurrte, in die hinterste Ecke des Balkons zurückgezogen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er sah mit kreidebleichem Gesicht zu, wie sich Geyras überlebende Soldaten verzweifelt gegen die Tür stemmten, die immer wieder von heftigen Schlägen erschüttert wurde. Die ersten Banditen stießen bereits mit ihren Schwertern blindlings durch die entstandenen Löcher, allerdings ohne nennenswerte Treffer zu erzielen. Trotzdem ermüdeten die Soldaten zusehends und als das obere der beiden schmiedeeisernen Türbänder schließlich abbrach und klirrend zu Boden fiel, setzte Craigs Herzschlag für ein paar Atemzüge aus.

Da bemerkte er die zahlreichen Fackeln, die auf dem Tempelvorplatz erschienen. „Die Verstärkung!“, rief er mit leuchtenden Augen, doch noch bevor er freudig aufspringen konnte, erstarb ihm der Jubel auf den Lippen und seine aufkeimende Hoffnung zerplatzte fast augenblicklich in einem tödlichen Blitzgewitter, das vom Gipfel der Wolkenspitze auf die nahenden Soldaten niederging.

„Das ist Brynne!“, japste Gancielle entsetzt. „Er hat es geschafft.“ Mit vor Schrecken geweiteten Augen starrte er hinunter auf den Vorplatz. Immer, wenn der grelle Lichtschein eines Blitztes erlosch und den Tempelhof der Dunkelheit überließ, blieb ein zappelnder und in blaue Flammen und Funken gehüllter Soldat zurück. Diejenigen, die mehr Glück hatten, als ihre Kameraden, flohen kopflos über den Vorplatz und suchten verzweifelt Schutz. Die Blitze überstiegen die Macht, die Brynne zuvor demonstriert hatte, um ein Vielfaches. Nun waren ungebändigte Urkräfte am Werk. Ein Blitz schlug mit solcher Wucht in die Fassade des Tempels ein, dass er den gesamten Komplex in seinen Grundfesten erschütterte und einen großen Brocken aus dem Mauerwerk brach.

Craig spürte, wie ihm das Herz in der Brust immer weiter sank. In den Gesichtern seiner Begleiter sah er nichts als Hoffnungslosigkeit. Auf der anderen Seite der Tür ertönte Loronks grollende Stimme. „Zum Nebentor!“, brüllte der Ork. „Die Truppen aus Eydar sind hier! Lasst sie nicht in den Tempel! Brynne wird sie alle grillen!“

Zwei weitere Schläge erschütterten die Tür, doch selbst die merkwürdige Stille, die folgte, brachte keine Erleichterung. Die Soldaten, die sich gegen die Tür gestemmt hatten, sanken nun erschöpft daran zu Boden und starrten mit totenbleichen Gesichtern hinunter zum Tempelvorplatz.

Gancielle sackte mit schreckgeweiteten Augen in die Knie. „Der Himmel gehorcht ihm“, keuchte er. „Wir sind erledigt.“

„Das sind wir nicht!“

Craig wandte überrascht den Kopf. Vances Stimme klang plötzlich so entschlossen, dass er sie fast nicht wiedererkannt hätte, und sein Gesicht war so grimmig, wie er es noch nie gesehen hatte.

„Brynnes Machenschaften haben schon zu viele Leben gekostet“, rief Vance. „Das hat hier und jetzt ein Ende! Ich gehe zur Spitze des Tempels und halte diesen Verrückten auf.“

Craig ballte begeistert die Fäuste. „Das wurde aber auch Zeit!“

Vance reagierte nicht darauf. Er streckte Gancielle die Hand entgegen und Gancielle ergriff sie nach kurzem Zögern und ließ sich verblüfft auf die Beine helfen.

Lazana sank erschöpft in die Knie. „Bist du dir sicher?“, fragte sie besorgt. „Diese Kraft übersteigt selbst die eines Dorashen.“

„Ich bin mir sicher“, erwiderte Vance mit fester Stimme. „Ich werde ihn stoppen oder bei dem Versuch umkommen. Ich werde meine Schuld begleichen, auf die eine oder die andere Art.“

Gancielles Gesicht war noch immer von Kummer und Entsetzen gezeichnet, doch in seinen Augen erkannte Craig einen neuen Hoffnungsschimmer. „Tja…“, seufzte er. „Ich habe gehofft, wir würden uns nicht zu sehr auf dich verlassen müssen. Aber vermutlich bist du hier der einzige, den Brynne nicht mit einer einfachen Handbewegung töten kann. Wir werden dir den Weg freikämpfen.“

„Das ist nicht nötig“, entgegnete Vance. „Helft lieber den Soldaten dort unten. Wenn die Banditen ihnen den Weg in den Tempel versperren, sind sie verloren. Und haltet Euch bloß von der Spitze des Berges fern!“

Gancielle nickte grimmig. „Gut“, sagte er leise und drehte sich zu Geyra um. „Alle, die noch kämpfen können, folgen uns nach unten.“

„Bitte verzeiht“, murmelte Lazana schwach. „Meine magische Kraft ist verbraucht. Ich fürchte, ich werde euch keine große Hilfe mehr sein. Es wird besser sein, wenn ich hierbleibe und mich erhole.“

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“, fragte Ratford sorgenvoll. Er presste eine Hand an die Wunde an seinem Hals und fluchte leise, als er sah, dass sie noch immer blutete. „Wenn wir dich hier zurücklassen, bist du ein gefundenes Fressen für diese Galgenvögel.“

„Sie wird nicht alleine sein“, sagte Vance und wandte sich an Wuleen. „Mit deinem Bein kommst du nicht weit. Du bleibst auch hier und passt auf Lazana auf, falls sich einer dieser Schurken doch wieder hierher verirrt.“

Wuleen knurrte unwillig, aber schließlich hatte er ein Einsehen und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Boden, das Schwert fest in der Hand.

Ratford schien beruhigt. „Der Kerl ist vermutlich verrückt genug, um es mit gefesselten Händen mit einer ganzen Armee aufzunehmen“, brummte er und beugte sich zu Lazana hinab. Mit seinen groben, schwieligen Fingern strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr an der schweißnassen Stirn glänzte. „Halte durch. Ich komm dich abholen, wenn das hier erledigt ist.“

Lazana schenkte ihm ein mattes Lächeln, doch sie war zu schwach, um ihm zu antworten. Ratford richtete sich wieder auf und schulterte seine Axt. „Also gut“, rief er grimmig. „Dann wollen wir unsere Verbündeten mal da raushauen.“

Geyra vergewisserte sich kurz, dass alle Anwesenden, in denen noch Kampfkraft steckte, bereit waren, dann nickte sie Gancielle stumm zu und stieß die lädierte Tür auf, hinter der es verdächtig ruhig geworden war. Zwei Soldaten traten mit gesenkten Speeren nach vorn, um auf einen möglichen Hinterhalt vorbereitet zu sein, doch der Gang war verlassen. Von unten drang Kampfeslärm hinauf. Das erbitterte Gefecht um den Seiteneingang war in vollem Gange.

Gancielle deutete mit einem Kopfnicken auf eine breite Treppe, die nach oben führte. „Das sollte der Weg sein, der zur Spitze führt“, rief er Vance zu. „Sieht verlassen aus. Wir zählen auf dich, Dorashen. Und versprich mir, dass du nicht nach dort oben gehst, um zu sterben, sondern um zu siegen!“

„Versprochen“, erwiderte Vance tonlos. „Viel Glück.“ Er zögerte noch kurz, ballte beide Fäuste und nahm dann mit entschlossenen Schritten die Treppe in Angriff.

„Der Rest kommt mit mir!“, rief Geyra und wies mit ihrem Kriegshammer auf den Gang, der über ausgetretene Stufen zum umkämpften Seitentor führte. „Wir greifen diese Halunken mit aller Macht an, um unseren Kameraden den Weg in den Tempel zu bahnen!“ Sie ging voran, mit Gancielle an ihrer Seite, der sein Schwert zog, und ihren fünf verbliebenen Soldaten im Rücken. Ratford und Ilva bildeten die Nachhut. Keiner von ihnen schien zu bemerken, dass jemand fehlte.

Craig blieb zusammen mit Knack am Fuß der Treppe stehen, die zur Spitze des Tempels führte. Der Knucker sah ihn vorwurfsvoll an und winselte kläglich. „Ich weiß“, murmelte Craig. „Das ist vermutlich keine gute Idee. Aber ich muss einfach dabei sein, wenn Vance mit diesem Irren den Boden aufwischt. Mein Leben lang hat man mir Geschichten von den großen Heldentaten der Vergangenheit erzählt. Jetzt bin ich mittendrin in so einer Geschichte. Und ich habe nicht vor, den Höhepunkt zu verpassen.“
 

Unter Loronks Befehlen hatten sich die Banditen am Nebeneingang versammelt. Vor dem Tor trieb Brynnes Blitzgewitter die Soldaten auseinander. In nackter Panik rannten sie auf den Tempel zu und trommelten verzweifelt gegen das verschlossene Haupttor. An der Seitentür erwarteten sie die Banditen mit gezückten Waffen und versperrten ihnen den Weg. Es genügten im Grunde drei oder vier Schurken, um den Nebeneingang zu sichern, denn auf ihrer kopflosen Flucht kamen die Soldaten nur in kleinen, versprengten Grüppchen an.

Loronk hielt eine Hälfte der Banditen etwas zurück, denn er wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis Gancielles geschrumpfter Haufen ihnen in den Rücken fallen würde, um den Soldaten vor den Tempelmauern beizustehen. Und tatsächlich verging nicht viel Zeit, bis oben an der Treppe die verrammelte Tür zum Balkon aufflog und Gancielle und Geyra an der Spitze ihrer Verbündeten einen Ausfall unternahmen. Loronk bemerkte zu seiner Zufriedenheit, dass weder die Eismagierin, noch der irre Schwertkämpfer bei ihnen waren. Unter den Soldaten befanden sich keine Bogenschützen mehr. Auch der Kerl, den er in die Mine verschleppt hatte, der Knirps und der merkwürdige Drache fehlten. So waren es nicht mehr als neun erschöpfte Kämpfer, die mit dem Mut der Verzweiflung zum Angriff übergingen.

Loronk hob triumphierend die Kriegskeule und stellte sich den anstürmenden Soldaten in den Weg. „Die Schafe kommen freiwillig zum Schlachter!“, brüllte er und holte mit wölfischem Grinsen zum Schlag aus.

Als erstes kam Geyra in seine Reichweite. Die Kommandantin wehrte sich mit ihrem Kriegshammer, doch sie war der brachialen Kraft des Brigadegenerals nicht gewachsen. Ein fataler Hieb traf ihre linke Schulterplatte, schlug eine tiefe Delle hinein und riss Geyra fast von den Beinen. Loronk wollte nachsetzen, um ihr den Rest zu geben, doch da prallten die Reihen der Soldaten und Banditen aufeinander und im folgenden Tumult wurde der Ork wieder von seinem Opfer getrennt.

Fjedor hielt sich dezent zurück und besah sich das Gemetzel aus sicherer Entfernung. In einem unbeobachteten Moment glitt er in einen dunklen Nebengang. „Schlagt euch ruhig gegenseitig die Schädel ein“, flüsterte er spöttisch. „Ich habe kein Interesse daran, meinen Kopf für Brynne zu riskieren. Lieber reiße ich mir alles unter den Nagel, was ich kriegen kann.“
 

Rhist erreichte das Tor und sah sofort, dass er von mehreren Banditen erwartet wurde, die ihm den Einlass verwehren wollten. Einige Soldaten lagen tot zu ihren Füßen, entweder erschlagen von Brynnes Blitzen oder aufgespießt von den rostigen Klingen der Banditen. Rhist wusste, dass es ihm ähnlich ergehen würde, solange er sich unter freiem Himmel befand. Mit einem markerschütternden Kriegsschrei hielt er sich den mächtigen Turmschild vor den Körper und stürmte wie ein angriffslustiger Stier auf den offenen Nebeneingang zu. Die Banditen wichen erschrocken einen Schritt zurück, blieben dann aber stehen und reckten dem Kommandanten ihre Schwerter entgegen. Rhist stürmte direkt in ihre Reihen hinein. Metall klirrte, schartige Klingen schrammten kreischend über den Turmschild und die Banditen gaben erstickte Laute von sich, als sie durch Rhists Angriff gegen ihre Hintermänner gedrückt wurden. Der Kommandant presste ihnen die Luft aus den Lungen und schleuderte sie von den Beinen. In seinem Windschatten retteten sich mehrere Soldaten ins Innere des Tempels, nur um sich im nächsten Augenblick von Banditen umzingelt zu sehen.

Brothain begriff sofort, dass der forsche Auftritt des Kommandanten das Schlachtenglück wenden konnte. Schnell bahnte sich der Dunkelelf einen Weg durch die dicht gedrängt stehenden Reihen der Banditen. Sein Dolch blitzte auf und traf Rhist, der sich gegen drei Feinde gleichzeitig verteidigen musste, in den Bauch. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen stolperte er zurück und ging in die Knie. Brothain sprang mit ausdruckslosem Gesicht nach vorn, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen, doch Jel stellte sich ihm entschlossen in den Weg. Der Dolch des Dunkelelfen war viel schneller als das Schwert des Kerkermeisters und bald blutete Jel aus zwei Wunden, doch er hielt sich wacker auf den Beinen und ließ Brothain nicht vorbei.

Da entdeckte Ilva den Mörder ihres Kapitäns. Mit einem schnellen Schwertstreich entledigte sie sich eines Banditen, der sie bedrängt hatte und den sie mit Genugtuung als einen der Meuterer erkannte, bückte sich und hob den Speer eines Soldaten auf, der Loronks Keule zum Opfer gefallen war. Sie nahm Maß, holte weit aus und schleuderte die Waffe mit aller Kraft von sich. Der Speer beschrieb in der Luft einen Bogen, rauschte über die Köpfe der Banditen hinweg und senkte sich gerade rechtzeitig, um Brothain direkt zwischen den Schulterblättern zu treffen. Der Dunkelelf japste überrascht und erstarrte in seiner Bewegung. Seine Beine gaben nach und er kippte nach vorn, wo er direkt gegen Rhists Schild prallte und leblos zu den Füßen des Kommandanten liegen blieb.

In diesem Augenblick ertönte das ohrenbetäubende Rumpeln einer Explosion und in einem Nebengang loderte heller Feuerschein auf. „Das ist Albus!“, rief Jel begeistert. „Es ist ihm gelungen, das Tor zu sprengen!“

Im nächsten Moment stürmte der Kriegsmagier mit flammenden Fäusten an der Spitze mehrerer Soldaten aus dem Seitengang herbei und fiel den Banditen in die Flanke. Die Schurken saßen in der Falle und sie verließ augenblicklich der Kampfesmut. Einige flüchteten sich tiefer in den Tempel, während andere in ihrer Verzweiflung ihre Waffen zu Boden warfen und sich widerstandslos ergaben.

Loronk erkannte sofort, dass sich das Blatt zu seinen Ungunsten gewendet hatte. Seine einzige Chance war, sich zur Spitze des Tempels durchzuschlagen und sich an Brynnes Seite zu retten. Gegen den Sturmmagier konnte auch die geballte Kampfkraft der in Eydar stationierten Truppen nichts ausrichten. Also ging Loronk den Weg des geringsten Widerstands. Zwischen ihm und der Treppe zur Tempelspitze standen nur Gancielle und Geyra.

Mit aller Wucht schlug Loronk nach der Kommandantin von Khaanor, die den Arm mit der lädierten Schulter in Schonhaltung vor ihren Körper hielt. Er überrumpelte sie und traf sie unterhalb der Brust. Die Dornen der Kriegskeule sprengten ihren Plattenpanzer und Geyra schnappte nach Luft, taumelte schmerzverzerrt zurück und sank schließlich röchelnd auf die Knie.

Loronk wirbelte herum, um sich auf Gancielle zu stürzen. Dieser fing seinen Hieb mit dem Schwert ab, doch der Ork drosch mit solcher Gewalt auf ihn ein, dass Gancielle schon beim ersten Schlag in die Knie ging. Bei Loronks zweitem Hieb hielt er schützend seinen Arm vor den Kopf. Der Brigadegeneral traf ihn mit vernichtender Kraft und unter dem ekelerregenden Knacken von Knochen knickte sein Unterarm in unnatürlichem Winkel von seinem Ellenbogen ab. Gancielle brüllte vor Schmerz, doch sein Schrei blieb ihm im Hals stecken, als Loronk ihn mit einem kräftigen Tritt zu Boden. Halb wahnsinnig vor Pein wollte sich Gancielle auf allen Vieren aus der Reichweite des Orks retten, doch Loronk setzte seinen Fuß auf seinen gebrochenen Arm und verlagerte sein Körpergewicht darauf.

Glühende Schmerzen schossen durch Gancielles Körper. Ihm wurde übel und das Bild vor seinen Augen drohte zu verschwimmen. Er sah noch, wie Ratford seine verzweifelte Lage erfasste und ihm zu Hilfe kommen wollte, doch Loronk stieß dem anstürmenden Axtkämpfer die Faust vor die Brust. Ratford verlor das Gleichgewicht und stürzte, sich mehrmals überschlagend, die Treppe hinab.

Da nutzte Geyra den kurzen Moment der Ablenkung, rappelte sich röchelnd auf und schwang unkontrolliert ihren Kriegshammer. Die Wucht ihres Angriffs riss sie fast selbst von den Beinen, aber sie traf Loronk am Unterkiefer. Der Ork gab ein überraschtes Grunzen von sich, taumelte zur Seite und prallte gegen die Wand. Noch ehe er sich von seiner Benommenheit erholen konnte, kam Gancielle ächzend auf die Beine und stieß Loronk sein Schwert in die Seite. Der Brigadegeneral gab einen erstickten Laut von sich und die Kriegskeule glitt ihm aus den fleischigen Fingern. Er streckte die Arme aus, als wollte er Gancielle mit seinen letzten Atemzügen die Hände um den Hals legen und ihn ersticken, doch schließlich erschlaffte sein Körper und er glitt an der Wand zu Boden.

Gancielle sackte sofort wieder in die Knie, ließ das Schwert los, das noch immer in Loronks Flanke steckte, und stützte sich mit seinem gesunden Arm ab. „Das…tat gut“, krächzte er, während er mit schmerzumschleiertem Blick dem Ork ins Gesicht sah, der ihn noch im Tod unverwandt anstarrte. „Viel besser, als ein Schlag ins Gesicht.“

Fejdor war es gelungen, die Schatzkammer aufzustöbern. Zu seiner Frustration musste er feststellen, dass Brynne maßlos übertrieben hatte. Die Priester des Wolkentempels horteten lediglich ein paar goldene Kerzenständer, einige Kassetten mit Tafelsilber und eine kleine Truhe voller Münzen. Es war viel weniger, als sich Fjedor erhofft hatte, aber solange er mit niemandem teilen musste, würde dennoch eine stattliche Summe zusammenkommen. Rasch warf er einen Blick über die Schulter. Aus den Gängen des Tempels drang Kampfeslärm, aber es war niemand zu sehen. Er streifte sich seine Vorratstasche von der Schulter und fing an, sie mit allem von Wert zu füllen, was er finden konnte.

Brynne konnte ihm gestohlen bleiben. Seinetwegen hatte er alles verloren, worauf seine Macht und sein Reichtum aufbauten. Er schuldete diesem Wahnsinnigen rein gar nichts.

Als er genug Schätze zusammengerafft hatte, stand Fjedor auf, schulterte seine prallgefüllte Tasche und verließ die Schatzkammer hastig. Zielsicher streifte er durch die Gänge. Er hatte sich den Weg zur Schatzkammer gut eingeprägt, doch als er den Nebeneingang fast erreicht hatte, lief er den Soldaten aus Eydar um ein Haar direkt in die Arme. Offenbar hatten sie den Kampf zu ihren Gunsten entschieden. Den überlebenden Banditen war nichts anderes übriggeblieben, als die Waffen zu strecken, und nun blockierten die Kaiserlichen Truppen den Ausgang. Fjedor stieß einen gedämpften Fluch aus und zog sich rasch zurück, doch er war bereits entdeckt worden. Er hörte das Rasseln von Kettenhemden und keuchenden Atem, als die Soldaten die Verfolgung aufnahmen. Aufs Geratewohl stürmte Fjedor los und floh durch die breiten, von Fackeln erleuchteten Gänge des Tempels. Er musste diese Gemäuer so schnell wie möglich verlassen, ehe man ihm den Weg abschnitt. Vielleicht hatte er am Haupttor mehr Glück.

Die Münzen in seiner Tasche klimperten verräterisch und der Trageriemen grub sich unter seiner goldenen Last schmerzhaft in Fjedors Schulter. Seine Lungen brannten und er befürchtete schon, dass man ihn einholen würde, wenn er sich nicht von seiner Beute trennen würde, als endlich das Hauptportal in Sicht kam. Die großen Torflügel waren aufgebrochen worden und hingen nun verkohlt und qualmend in den Angeln. Fjedor wunderte sich nicht lange über diesen Anblick, sondern beschleunigte seine Schritte. Die Freiheit rief.

Da bemerkte er die beiden Gestalten, die neben dem Tor kauerten. Es waren Indra, die Heilerin, die zusammengesunken und schluchzend auf dem Boden saß, und ein älterer Mann in einer fadenscheinigen Robe, der sich tröstend zu der Dunkelelfe hinuntergebeugt hatte, aber sich sofort erhob, als er auf Fjedor aufmerksam wurde. Der Schmugglerkönig blieb wie angewurzelt stehen, als er den Alten erkannte. Es war Syndus, der Vorgänger von Loronk als Befehlshaber der Truppen von Eydar.

„Was für eine Überraschung“, murmelte der Alte. „Wenn das nicht Fjedor ist.“

Die Schritte der Soldaten hallten immer lauter und drohender durch die Gewölbe. Fjedor verlor erst die Geduld und dann die Nerven. Er zog zitternd seine Axt aus dem Gürtel. „Aus dem Weg!“, schrie er den alten Ordensmeister an und stürmte mit erhobener Waffe auf ihn zu.

Doch Syndus machte keine Anstalten, zur Seite zu treten. Stattdessen zog er ein Kurzschwert und mit einer Bewegung, die viel schneller und geschmeidiger war, als dass man sie dem Alten zugetraut hätte, ging er zum Gegenangriff über. Fjedor hatte gar keine Gelegenheit, mit seiner Axt zuzuschlagen, da bohrte sich die Klinge bereits in seine Schulter. Noch während ihm die Waffe aus den Fingern glitt, ließ er sich mit einem schrillen Schrei fallen, presste sich die Stichwunde und rollte heulend vor Schmerz auf dem Boden herum.

In diesem Moment trafen die Soldaten ein. „Eure Machenschaften sind beendet“, rief Syndus kühl und schob sein Schwert zurück in den Gürtel. Auf seinen Befehl hin beugten sich zwei der Soldaten zu Fjedor hinunter und banden ihm die Hände auf den Rücken. „Nun werdet Ihr selbst erleben, wie es ist, auf unbestimmte Zeit eingesperrt zu sein.“
 

Craig bereute seinen Entschluss. Vance stürmte ohne das kleinste Anzeichen von Erschöpfung die Treppe hinauf und nahm dabei drei Stufen auf einmal. Jede Faser seines Körpers schien auf einmal von neugefundener Entschlossenheit zu strotzen. Craig dagegen japste bei jedem Schritt und dem atemlosen Glucksen, dass er hinter sich hörte, entnahm er, dass es Knack ebenfalls große Mühe hatte, dem entfesselten Dorashen auf den Fersen zu bleiben.

Vance schien zunächst gar nicht zu bemerken, dass ihm der Waisenjunge und der Knucker folgten, doch schließlich, als Craig am oberen Ende der quälend langen Treppe endlich die Dachluke entdeckte, die ins Freie führte, warf er einen kurzen Blick über seine Schulter und drosselte dabei seine Geschwindigkeit.

„Was habt ihr hier verloren?", fragte er. „Ihr solltet doch mit Gancielle die Soldaten am Tor unterstützen.“

„Ich gehöre nicht zur Armee und Gancielle ist kein Kommandant mehr“, keuchte Craig mit dem letzten Rest Atem, der ihm noch geblieben war. „Der hat mir überhaupt nichts zu sagen.“

„Wenn du schon nicht auf ihn hörst, dann wenigstens auf mich“, sagte Vance vorwurfsvoll, aber er ließ Craig und Knack aufschließen. „Ich habe gesagt, ihr sollt euch von der Spitze fernhalten. Du hast doch gesehen, was auf dem Tempelvorplatz los war. Da oben wird es nicht weniger gefährlich.“

„Schon klar“, röchelte Craig. „Aber ich habe dafür gesorgt, dass du endlich aus dem Arsch kommst. Glaub bloß nicht, dass ich dich die Lorbeeren alleine einheimsen lasse! Außerdem muss es doch einen Augenzeugen geben, der später von deinen Heldentaten berichten kann.“

Vance brummte unwillig, aber da die Zeit drängte, sah er davon ab, sich auf eine Diskussion mit Craig einzulassen. „Halte dich wenigstens zurück, wenn wir Brynne gegenüberstehen“, murmelte er leise. „Sonst rösten dich seine Blitze bei lebendigem Leib.“

Craig schluckte leise und wurde etwas langsamer, aber er machte nicht kehrt. Seine persönliche Abenteuergeschichte näherte sich ihrem Höhepunkt und solange Knack an seiner Seite war, ließ er sich so schnell nicht unterkriegen. In respektvollem Abstand folgte er Vance auf das Dach des Tempels. Als er ins Freie trat, blieb er überrascht stehen. Sie befanden sich auf einer kleinen Hochebene, direkt unterhalb des Gipfels des Berges und der brodelnden Gewitterwolke an seiner Spitze. Craig spürte, wie sich jedes Härchen an seinem Körper kribbelnd aufstellte.

Dann entdeckte er die Leichen des Hochmagiers und seiner Schüler und der Schreck durchzuckte ihn wie einer von Brynnes Blitzen. In den vergangenen Tagen war der Tod für Craig zu einem häufigen Anblick geworden, aber er war sich sicher, dass er sich niemals daran würde gewöhnen können, all das Blut und die entsetzt aufgerissenen Augen zu sehen. Wie weggeworfene Lumpen lagen Ascor und seine Novizen auf dem Boden, durchbohrt von schartigen Schwertern und rostigen Dolchen. Die Banditen hatten ganze Arbeit geleistet und die Priester der Wolkenspitze einfach niedergemetzelt.

"Wie furchtbar..“, japste Craig und konnte seinen Blick nur mit Mühe von den Toten wenden. Dabei fiel ihm auf, dass der Ring am Finger des Hochmagiers fehlte. Eine ungute Vorahnung befiel ihn, jagte ihm einen Schauer über den Rücken und bewog ihn dazu, sich langsam umzudrehen.

Das Dach des Tempels ragte wie eine Felsnase über das mächtige Bauwerk hinaus. Und dort, umgeben von zuckenden Blitzen und eingehüllt in ihr schauriges, blaues Leuchten, stand Brynne.

Er war allein. Mit hoch in die Luft gereckten Armen beschwor er ein fürchterliches Unwetter vom wolkenverhangenen Nachthimmel herab und der Ring an seinem Finger sprühte Funken. Bei jedem Blitzschlag rumpelte lautes Donnergrollen in Craigs Ohren, aber es konnte nicht die schmerzerfüllten Todesschreie der Soldaten übertönen, die tief unter ihm starben. Immer wieder zerschnitten sie gellend das unheilvolle Getöse, das den ganzen Berg zu erschüttern schien.

Bebend griff Craig nach seinem Schwert. Seine Finger zitterten so heftig, als wollten sie ihm den Dienst versagen, doch schließlich gelang es ihm, seine Klinge aus dem Gürtel zu ziehen und sie anklagend auf Brynne zu richten.

„Stoppt diesen Irrsinn!“, forderte er und war selbst überrascht darüber, dass man seiner Stimme das Zittern seiner Finger nicht anmerkte.

Knack duckte sich und knurrte drohend. Vance warf Craig einen ärgerlichen Blick zu. „Du solltest dich doch zurückhalten!“, zischte er gedämpft.

Doch Brynne hatte Craig bereits gehört. Er ließ langsam die Arme sinken und wandte sich um. Sein gesundes Auge starrte Craig, Knack und Vance gierig an und sofort ebbte das Blitzgewitter ab und erstarb schließlich ganz. Nur die dunklen Wolken blieben wie eine Warnung am Himmel zurück.

„Brothain und Loronk haben versagt“, sagte Brynne. Craig japste erstickt, als ihm der Klang seiner Stimme wie ein Donnergrollen entgegenschlug. „Ich bin nur von Taugenichtsen umgeben. Sei’s drum. Ich habe damit gerechnet, dass es Widerstand geben würde. Die Kaiserliche Armee, der Orden der Goldenen Falken, vielleicht sogar die Truppen von König Sard. Dass sich mir aber als erstes ein verkrüppelter Drache, ein Knirps und ein Landstreicher in den Weg stellen würden, kommt auch für mich überraschend.“

Da spürte Craig plötzlich, dass jemand hinter ihn trat. Sein Handgelenk wurde gepackt und schmerzhaft auf seinen Rücken gedreht, bis er seine Waffe losließ. Dann schlang sich ein schlanker, sehniger Arm um seinen Hals und im nächsten Moment fühlte er ein kaltes Messer an seiner Kehle.

„Sieh an, sieh an“, hauchte eine Stimme in sein Ohr, die er sofort erkannte. „Der Junge, der nicht nach Eydar gekommen ist, um sich beliebt zu machen. Dieses Ziel hast du erreicht. Du stehst auf der falschen Seite.“

Craig schnappte erschrocken nach Luft. „Gilroy!“

„Ganz recht“, entgegnete der Dunkelelf und presste die Klinge seines Messers fester an Craigs Hals. „Pfeif deinen Schuppenköter zurück!“

Knack funkelte Gilroy mit gefletschten Zähnen hasserfüllt an, aber Craig blieb nichts anderes übrig, als dem Dunkelelfen zu gehorchen. „Bleib ruhig“, flüsterte er dem Knucker zu, auch wenn seine Stimme plötzlich schwach und kläglich und alles andere als beeindruckend war. Trotzdem begriff Knack, dass das Leben seines Menschenfreunds auf dem Spiel stand, und so wich er mit eingezogenem Kopf zurück, wie ein geprügelter Hund.

Gilroy war zufrieden. Als sich Knack so weit von ihm entfernt hatte, dass sich der Dunkelelf vor den Krallen und Zähnen des Knuckers in Sicherheit wähnte, wandte er sich an Vance. „Zieh dein Hackmesser, aber nur mit Daumen und Zeigefinger!“, brüllte er. „Und dann lässt du es fallen, hast du verstanden?“ Erneut spürte Craig, wie der Druck auf die empfindliche Haut an seiner Kehle zunahm. Er erwartete, dass ihm das Messer jederzeit in den Hals schneiden konnte, und wagte kaum zu atmen.

Vance zögerte noch einen Moment und kaute nervös auf den Grashalmen herum, doch letztlich hatte auch er keine Wahl. Er griff mit zwei Fingern nach seinem Hackebeil, zog es umständlich aus dem Gürtel und ließ es fallen. Der dumpfe Aufprall, mit dem die verwitterte Waffe auf dem Boden landete, klang für Craig wie ein riesiges, unüberwindbares Tor, das für alle Ewigkeit zugeschlagen wurde. In diesem Augenblick schien seine Hütte am Fluss weiter entfernt zu sein, als jemals zuvor, und Craig fragte sich, ob irgendetwas heldenhaft daran war, auf dem Gipfel eines Berges fernab jeglicher Zivilisation von einem Dunkelelfen gemeuchelt zu werden. Auf alle Fälle hatte er sich den Ausgang seines ersten Abenteuers anders vorgestellt.

„Wieso?“, krächzte er so leise, dass seine Stimme fast vom gedämpften Grollen der Gewitterwolken übertönt wurde. „Wieso machst du gemeinsame Sache mit diesem Verrückten?“

Gilroy schnaubte verächtlich. „Das kann ein Wicht wie du nicht verstehen“, entgegnete er. „Brynne wird ein ewig währendes Gewitter heraufbeschwören und dieses Land für alle Zeit verdunkeln. Und unter diesen Bedingungen werden sich die rechtmäßigen Herren Gäas wieder erheben. Hier und heute wird eine neue Ära eingeläutet! Die Menschen und eure falschen Götter werden wieder in ihre Schranken gewiesen. Wenn erst die Wolken meines Herrn die Sohne erblinden lassen, werden die Dunkelelfen wieder ihren rechtmäßigen Platz als herrschendes Volk einnehmen!“

„Und ich habe gedacht, Brynne wäre der Wahnsinnige“, erwiderte Craig und zuckte zusammen, als Gilroy das Messer noch fester an seine Kehle drückte. Diesmal schnitt es in die Haut und Craig spürte, wie ein Tropfen Blut seinen Hals hinabsickerte.

„Du hast doch keine Ahnung!“, brüllte Gilroy voller Zorn. „Die Dunkelelfen haben schon über dieses Land geherrscht, als es noch nichts gab, außer Finsternis und Chaos, lange bevor ihr Würmer an die Oberfläche gekrochen seid! Die jungen Völker haben uns alles genommen. Ich sollte über euch stehen und mein Leben nicht damit fristen, Netze zu flicken und für einen Hungerlohn auf Fischfang zu gehen. Das ist entwürdigend!“

Gilroy geriet derart in Rage, dass er Vance vollkommen vergaß. Mehr als einen Moment der Unachtsamkeit brauchte der Dorashen nicht. Gilroy befand sich noch inmitten seiner wütenden Rede, als Vance blitzschnell ausholte und zuschlug. Seine Faust fuhr so dicht an Craigs Wange vorbei, dass er den Luftzug spürte, und traf mit voller Wucht und einem widerlichen Knirschen direkt auf Gilroys Nase. Blut schoss hervor, der Dunkelelf ließ Craig stöhnend los und kämpfte gleichzeitig mit der Ohnmacht und dem Gleichgewicht. Wie ein betrunkener Seemann taumelte er über die Hochebene, bis er an deren Rand schwankend stehen blieb. Für einen kurzen Moment wirkte es, als würde er das Bewusstsein doch nicht verlieren, doch schließlich verdrehte er die Augen und kippte einfach nach hinten um. Sich mehrmals überschlagend rollte er den Hang hinunter und blieb in einem trockenen Gestrüpp aus Dornenranken liegen.

Craigs erste Reaktion auf diese unerwartete Wendung war ein tiefer, erleichterter Atemzug. Dann tastete er mit den Fingern nach der Wunde an seinem Hals. Er konnte kaum glauben, dass es nur ein harmloser, kleiner Schnitt war. Noch immer glaubte er die Berührung des kalten, scharfen Metalls an seiner Kehle zu spüren.

„Das war verdammt knapp!“, stellte er fest und bückte sich, um sein Schwert aufzuheben. „Und du hast tatsächlich zugeschlagen! Ich wusste doch, dass ein Krieger in dir steckt!“

Vance betrachtete nachdenklich seine Faust. „Lebt er noch?“, fragte er leise.

Doch er erhielt keine Antwort, denn Craig fiel siedend heiß ein, dass die Hauptgefahr auf dem Gipfel des Berges nicht von einem dunkelelfischen Messerstecher ausging. Die Klinge an seiner Kehle und die anschließende Erleichterung nach Vances Volltreffer hatten ihn Brynne kurzzeitig vergessen lassen. Craig zuckte zusammen und war fest davon überzeugt, jeden Augenblick von einem vernichtenden Blick getroffen zu werden, doch Brynne machte keine Anstalten, ein neuerliches Unwetter heraufzubeschwören. Stattdessen tat er etwas, was Craig verwundert die Stirn runzeln ließ. Der Sturmmagier verfiel in schallendes, hysterisches Hohngelächter.

„Dieser Idiot!“, spottete er. „Die Dunkelelfen kümmern mich so wenig, wie alle anderen Völker Gäas. Gilroy scheint vergessen zu haben, dass es allein um mich und meine Rache ging. Ich hoffe, du hast fest zugeschlagen, Landstreicher.“

„Er war Euch treu ergeben“, erwiderte Vance sichtlich empört. „Ist das der Dank für seine Dienste?“

„Der Kerl ist gar nicht wütend, dass du seinen Handlanger umgehauen hast“, stellte Craig überflüssigerweise fest.

„Gilroy war ganz nützlich, als ich zu schwach war, um mich alleine um meine Feinde zu kümmern“, sagte Brynne kaltherzig. „Aber jetzt brauche ich ihn nicht mehr. Weder ihn, noch irgendeinen anderen Diener. Letztendlich haben sie sich doch alle nur als unfähige Narren erwiesen.“ Mit einem Funkeln des Wahnsinns in seinem gesunden Auge starrte er auf den Ring an seinem Finger. „Aber trotzdem habe ich jetzt, was ich wollte.“

Craig musste zweimal schlucken, ehe er wieder den Atem für Worte fand. „Der Finger der Wolken sollte weder Euch, noch irgendeinem anderen Sterblichen gehören!“, rief er trotzig. „Diese Macht ist allein den Göttern vorbehalten!“

„Die Götter…“, erwiderte Brynne mit röchelnder Stimme, als würde er keine Luft mehr bekommen. Noch immer betrachtete er den Ring, dem er seine neugewonnen Kräfte verdankte. „Den Göttern sollte nichts vorbehalten sein. Ein grausamer Tod ist das einzige, was sie verdienen. Das Schicksal der Sterblichen kümmert sie nicht.“ Er fasste sich mit zitternden Fingern an die Verbände und riss sie sich mit einem Ruck vom Gesicht. „Sie waren es, die mir das angetan haben!“

Craig wurde übel, als er die schweren Verbrennungen des Mannes sah, die seine gesamte linke Gesichtshälfte entstellten. Einige der Verletzungen waren bereits alt und vernarbt, wogegen andere noch frisch wirkten. Unwillkürlich betastete Craig seine eigenen Brandnarben. „Wir wissen von Eurer Krankheit“, rief er atemlos. „Aber das rechtfertigt nicht das Töten zahlreicher Unschuldiger!“

„Gar nichts wisst ihr“, knurrte Brynne und starrte Craig mit seinem gesunden Auge blutrünstig an. „Mein Stamm hat Sola wie keinen anderen Gott verehrt. Ich habe ihr mein ganzes Leben gewidmet. Und womit hat sie es mir gedankt? Nachdem ich mit dieser Krankheit geschlagen wurde, hat sie nichts unternommen, um mich zu heilen. Stattdessen haben mir ihre Sonnenstrahlen das Fleisch von den Knochen geschmolzen. Das Zeichen ihrer Güte wurde für mich zum Symbol der Qualen. Sie hat mich verraten. Das ist unentschuldbar. Aber jetzt wird abgerechnet. Mit dem Finger der Wolken werde ich die Sonne vom Himmel von Gäa verbannen. Sola hat keine Macht mehr über dieses Land. Das soll meine Rache sein!“

Mit diesen Worten reckte er erneut die Arme empor. Am Himmel tobten die Wolken und ballten sich erneut zu einer brodelnden, blitzesprühenden Gewitterfront zusammen.

„Die Macht der Götter wird schwinden und ihr werdet sterben!“, lachte Brynne. „Betet! Betet zu ihnen und erfahrt am eigenen Leib, dass sie nichts tun werden, um euch zu retten!“

„Das müsst Ihr mir nicht sagen!“, brüllte Vance über das Tosen des Unwetters hinweg. „Ich weiß sehr wohl, dass sich die Götter nicht um das Schicksal der Sterblichen scheren!“

Craig erkannte auf Brynnes Gesicht einen Anflug von Verwunderung. Für ein paar Atemzüge kam das Inferno aus Blitzen am Nachthimmel zum Erliegen, doch dann hob es mit fürchterlichem Fauchen und Brüllen erneut zu einem grollenden Gewitter an. „So, du hast auch schon deine Erfahrungen mit der Ignoranz der Götter gemacht?“, krächzte Brynne. „Dann solltest du doch froh sein, dass ich diese Welt von einem dieser Tyrannen befreie! Warum stellst du dich mir entgegen?“

„Weil es sonst niemanden gibt, der die Sterblichen beschützen kann“, entgegnete Vance kühl. „Auf die Götter ist kein Verlass. Also nehme ich das in die Hand. Denn das ist meine Pflicht als Dorashen!“ Und mit diesen Worten duckte er sich, griff nach seinem Hackebeil und stürmte voran.

„Ein Dorashen?“, japste Brynne und diesmal spiegelte sein Gesicht blankes Entsetzen. Er wirkte vor Schreck wie gelähmt, als sich Vance auf ihn stürzte, doch im letzten Augenblick erinnerte er sich an seine neugewonnene Macht und riss die rechte Hand in die Luft.

Kurz bevor Vance den Sturmmagier zu fassen bekam, zuckte ein Blitz vom Himmel und traf den Dorashen mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag. Seine abgewetzte Kleidung fing sofort Feuer und die beiden Grashalme in seinem Mundwinkel zerfielen zu Asche.

Brynne sprang vorsichtshalber einen Schritt zurück, als Vance unmittelbar vor ihm in die Knie ging. Er konnte seine Erleichterung nicht verbergen und ballte die zitternden Hände triumphierend zu Fäusten. „Ha!“, lachte er. „Wie erbärmlich! Ein Dorashen, der nicht für die Götter kämpft, denen er seine Macht verdankt! So jemand ist doch kein Gegner für mich.“

Mit aschfahlem Gesicht lief Craig zu Vance hinüber und bemerkte erleichtert, dass er noch lebte und sogar bei Bewusstsein war, doch der Blitzeinschlag hatte ihm schwer zugesetzt und sein Atem ging stoßweise. Craig schlug auf die Flammen ein, die auf seinen Schultern und auf seinem Rücken loderten, und erstickte das Feuer unter seinen Händen, ungeachtet der Brandblasen, die er sich dabei zuzog.

„Mach jetzt bloß nicht schlapp!“, beschwor er den Dorashen. „Du hast versprochen, dass du nicht stirbst!“ Vance starrte ihn erschöpft an und sein Oberkörper wippte unkontrolliert vor und zurück.

Da stürzte sich Knack zähnefletschend auf Brynne. Für einen Moment wirkte der Sturmmagier überrascht, doch dann gewann er die Fassung zurück. Reflexartig streckte er den linken Arm aus und schleuderte dem Knucker einen Blitzzauber entgegen. Knack erzitterte am ganzen Körper, dann brach er winselnd zusammen.

Craig schrie vor Entsetzen und Zorn und richtete sein Schwert auf Brynne. Dieser zog seine eigene Klinge und trat dem Jungen entgegen.

„Es wäre reine Verschwendung, einen Wurm wie dich mit der Macht der Wolken zu töten“, höhnte er und stieß mit seinem Schwert zu. Craig musste eine unangenehme Verrenkung vollführen, um den Angriff zu parieren, und als die Klingen klirrend aufeinandertrafen, stellte er fest, dass in Brynne deutlich mehr Kraft steckte, als seine abgemagerten Arme vermuten ließen. Sein Gegner verstand sich auf den Schwertkampf und drängte Craig mit wenigen Hieben rasch in die Defensive.

Der Waisenjunge wehrte sich erbittert, aber er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Immer, wenn er einen Schwertstreich seines Gegners parierte, durchfuhr ein betäubendes Kribbeln seine Finger. Schon nach kurzer Zeit konnte er seine Waffe kaum noch in den Händen halten, wogegen Brynne nicht einmal ins Schwitzen geriet.

Der Sturmmagier war ihm immer einen Schritt voraus und schien mit ihm zu spielen. Craig konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sein Kontrahent seine Deckung jederzeit durchbrechen und ihn tödlich verwunden konnte. An einen Gegenangriff konnte er nicht einmal denken, seine ganze Konzentration galt den verzweifelten Versuchen, sich vor Brynnes Schwert zu schützen.

Doch es war hoffnungslos. Sein Gegner war ihm einfach überlegen und schließlich, als Brynne von seinen Spielchen genug hatte, wurde Craigs Schwert von einem solch brutalen Hieb getroffen, dass er es nicht länger in den schmerzenden Händen halten konnte. Die Wucht des Zusammenpralls der beiden Stahlklingen riss ihm den Griff aus den Fingern. Das Schwert schlitterte über den Boden und blieb in einiger Entfernung liegen.

Resigniert, erschöpft und desillusioniert stolperte Craig ein paar Schritte zurück und ließ sich schließlich auf den Hintern fallen. Er sah hilfesuchend zu Vance, doch der Dorashen schien sich kaum noch bewegen zu können. Mit wippendem Oberkörper saß er da, als würde er jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren, die Haut rußgeschwärzt und mit den verbrannten Resten seiner zerlumpten Kleidung am Leib. Craigs zweiter Blick galt Knack und trotz seiner schier aussichtslosen Situation verspürte er große Erleichterung, als er feststellte, dass der Knucker zwar schwer verletzt war, aber noch atmete.

Trotzdem machte sich Craig keine großen Hoffnungen, dass einer von ihnen die Wolkenspitze wieder verlassen würde, und der klägliche Rest Zuversicht, der ihm noch geblieben war, versank endgültig im Bodenlosen, als sich Brynne ihm triumphierend näherte. Plötzlich fühlte er sich neun Jahre zurückversetzt. Da war er wieder, umgeben von einem Inferno aus brennenden Hütten und Häusern, gefangen im Körper eines kleinen Jungen, der gerade seine Eltern hatte sterben sehen. Brynne kam auf ihn zu, drohend und mordlüstern, wie es Varim an jenem Tag getan hatte, nur dass der Sturmmagier keine blutbefleckte Axt, sondern ein Schwert in der Hand hielt.

Die Angst war die gleiche wie damals. Sie ergriff Craig mit eiskalten Fäusten, lähmte ihn und presste jegliche Kraft aus seinem Körper. Und diesmal waren weder Hiob, noch ein fremder Abenteurer mit einer Vorliebe für Äpfel in der Nähe, um ihn zu retten. Brynne packte ihn grob beim Kragen und zerrte ihn auf die Beine, doch Craigs Knie gaben einfach nach, sodass er schlaff wie ein schmutziger Putzlappen im Griff des Sturmmagiers hing.

„Was mache ich jetzt mit dir?“, fragte Brynne und schien zu überlegen, auf welche Weise er Craig umbringen sollte. Schließlich fiel sein Blick auf die Felsnase, die über die Fassade des Wolkentempels hinausragte.

„Ich glaube, ich schicke dich zurück zu deinen Freunden dort unten“, eröffnete er seinem Opfer mit blutrünstigem Grinsen. „Du hast doch bestimmt Sehnsucht nach ihnen. Und es wäre doch langweilig, wenn heute Nacht nur Blitze vom Himmel fielen.“

Craigs Antwort war nur ein klägliches Stöhnen. Da streckte Vance plötzlich den Arm aus und packte Brynne beim Handgelenk. Der Sturmmagier wich überrascht zurück und ließ Craig los und dieser stolperte, noch immer vollkommen kraftlos, stolperte und landete hart auf dem Boden. In seiner Panik entfernte er sich robbend, so schnell er konnte, doch Brynne beachtete ihn gar nicht mehr. Stattdessen starrte er Vance drohend an, der seinen Blick trotzig erwiderte, obwohl er kaum die Augen offenhalten konnte.

„Du kannst dich noch bewegen“, grollte er mit gedämpftem Zorn. „Bemerkenswert. Selbst für einen Dorashen. Ich werde wohl noch etwas nachhelfen müssen.“ Er hob die rechte Hand gen Himmel und der Ring an seinem Finger sprühte Funken. Die Gewitterwolken am Himmel reagierten sofort darauf und ballten sich noch dunkler und drohender zusammen, um ihre Energie freizusetzen.

Mit einem wütenden Aufschrei ließ Brynne einen gewaltigen Blitz niederfahren. Vance wurde von grellem Licht eingehüllt und riss den Mund weit auf, doch sein Schmerzensschrei ging wie alle anderen Geräusche in ohrenbetäubendem Donner und dem Brüllen der Flammen unter, die seine ohnehin schon versengte Kleidung in Brand setzten. Aber er ließ nicht los. Stattdessen packte Vance aller Schmerzen zum Trotz auch mit der anderen Hand zu. In Brynnes gesundem Auge loderte nackte Angst auf, als ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Mit einem überraschten Stöhnen landete er auf dem Bauch und im nächsten Moment saß Vance, halb ohnmächtig vor Pein und Anstrengung, rittlings auf seinem Rücken. Brynne wand sich unter ihm, doch Vance hielt mit aller Kraft dagegen, drückte seine Hand, an der er den Ring trug, auf den Boden und holte dann mit seinem Hackebeil aus.

„Was tust du da?“, schrie Brynne und seine Stimme klang überhaupt nicht mehr grollend und gefährlich, sondern zittrig und panisch. Er versuchte, einen weiteren Blitz aus dem Himmel zu holen, doch es war zu spät. Vances Beil fuhr nieder und traf den Stein, mit dem der Finger der Wolken geschmückt war. Er zerbrach unter der Gewalt der aufprallenden Klinge und aus seinem Inneren drang ein gleißendes Licht, das sich wie eine Welle aus blendenden Sonnenstrahlen ausbreitete. Die Nacht verlor ihre Schwärze und wurde für einen Augenblick von grellem Weiß geflutet, als die versiegelten Naturgewalten aus dem Ring herausbrachen.

Craig spürte die Druckwelle, die mit der Kraft eines Sturms an seiner Kleidung zerrte, ihm die Tränen in die Augen trieb und ihn von den Beinen zu reißen drohte. Er duckte sich schützend vor Knack und sah zitternd vor Angst zu, wie die freigelassenen Urkräfte ihre gesamte Macht entfalteten. Schlagartig wurde es wieder dunkel um ihn, nur dort, wo Vance und Brynne lagen, wuchs eine riesige, gezackte Säule aus blauem Licht in die Höhe. Der Boden brach auf, der ganze Berg bebte, ganze Gesteinsbrocken lösten sich von seinem Gipfel und polterten in einem gewaltigen Erdrutsch rumpelnd ins Tal. Wie ein gigantischer Speer durchbrach der Blitz die Wolkendecke und schien den gesamten Himmel zu spalten. Ein markerschütternder durchschnitt die knisternde Luft und der Donnerschlag, der folgte, was so laut, dass Craig vor Schmerz die Hände auf die Ohren presste.

Dann war es auf einmal gespenstisch still. Der grelle Lichtblitz erlosch und dort, wo er in den Himmel gestiegen war, klaffte ein riesiges Loch in den Wolken. Senkrecht darunter war auf dem Hochplateau ein gewaltiger Krater entstanden, aus dem dicke, dunkle Rauchsäulen aufstiegen und mit ihnen der Gestank von verbranntem Fleisch. Craig löste sich aus seiner Lähmung, als er bemerkte, dass am Himmel keine Blitze mehr zuckten. Das Gewitter schien so plötzlich vorbei zu sein, wie es begonnen hatte. Am ganzen Leib zitternd und auf allen Vieren kroch er vorsichtig näher an den Krater heran, bis er den Rand erreichte und hinunter spähte.

Als sich der Rauch gelegt hatte, konnte er am Boden zwei Gestalten erkennen. Dort lag Brynne, vollkommen regungslos, mit dem Gesicht nach unten und weit ausgestreckten Armen. Und direkt daneben hockte Vance, das Gesicht und die Arme schwarz von Ruß und Verbrennungsrückständen, die Kleidung zerfetzt und versengt. Er sah völlig zerschunden aus und glich mehr einem verkohlten Spanferkel als einem Menschen.

Aber er war am Leben.

„Die Wolken verziehen sich!“ Albus schob vorsichtig seinen Kopf durch die Nebentür und riskierte einen Blick zum Himmel. „Ich kann die Sterne sehen! Das Gewitter ist vorbei!“ Die Wangen des Kriegsmagiers glühten vor Freude.

Gancielle, der seinen gebrochenen Arm in schonender Position hielt, ließ sich erschöpft auf die Treppenstufen fallen. „Dann hat es unser Freund mit den übernatürlichen Kräften tatsächlich geschafft“, seufzte er. „Ich habe es fast nicht mehr für möglich gehalten.“ Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen der Soldaten.

Von den ehemals gut fünfzig Banditen war nur noch ein Dutzend am Leben. Diejenigen, die tiefer in den Tempel geflüchtet waren, hatte man inzwischen allesamt eingefangen. Einige hatten versucht, sich ins Freie zu retten, waren aber von Brynnes Blitzen erschlagen worden, die keinen Unterschied zwischen Verbündeten und Feinden gemacht hatten. Nun saßen die Schurken zitternd und jammernd auf dem Boden und wurden von den Soldaten bewacht.

Meister Syndus führte Fjedor zu seinen Spießgesellen. Der Schmugglerkönig wirkte beinahe erleichtert. Viele seiner Leute waren im Kampf gefallen und er selbst war froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Eine Kerkerzelle war besser als das Schicksal, das Brothain und Loronk ereilt hatte. Brynnes Leibwächter lag mit dem Gesicht nach unten im Eingangsbereich und der Speer, der sein Leben beendet hatte, ragte wie eine Standarte ohne Banner aus seinem Rücken. Loronk lehnte in aufrechter Position an der Wand. Sein kantiges Kinn war ihm auf die Brust gesunken und wäre nicht die tiefe Wunde in seiner Flanke gewesen, aus der sein Blut sickerte, hätte man denken können, er wäre eingenickt.

„Wenn die Luft rein ist, sollten wir nachsehen, ob einige unserer Kameraden dieses grausame Blitzgewitter überlebt haben“, rief Syndus und wies auf den Vorplatz. „Außerdem möchte ich, dass jeder, der noch unverletzt und bei Kräften ist, nach den Pferden Ausschau hält. Vielleicht können wir sie wieder einfangen und sie mit unseren Toten beladen. Sie haben ihr Leben für die Sicherheit Gäas gegeben. Für ihre Tapferkeit verdienen sie weit mehr, als ein einfaches Grab auf diesem fürchterlichen Berg.“

Sofort meldeten sich Albus und einige weitere Freiwillige. Während sie sich unter der Führung des Kriegsmagiers auf die Suche nach Überlebenden und den Pferden machten, kümmerte sich Indra um die Verletzten. Unter den Anwesenden gab es kaum jemanden, der keine Blessuren davongetragen hatte und die Zahl der Patienten war entsprechend lang. Die dunkelelfische Heilerin begann mit drei Soldaten, die Brynnes Angriff schwerverletzt überlebt hatten und die ihre Pflege am dringendsten benötigten. Dahinter bildete sich eine lange Schlange voller Soldaten, die Schnittwunden und Knochenbrüche davongetragen hatten.

Geyra schälte sich stöhnend aus ihrer Rüstung. Ihre zerborstene Brustplatte, die von Loronks Keule einfach gesprengt worden war, fiel scheppernd zu Boden, und die Kommandantin rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die geschundenen Rippen. Rhist saß etwas abseits und versuchte die Blutung seiner schlimmen Bauchwunde zu stillen, indem er einen Fetzen Stoff darauf presste. Jels kurzer Schlagabtausch mit Brothain war glimpflich ausgegangen und die beiden Stichwunden im Schulterbereich, die ihm der Dunkelelf beigebracht hatte, waren verhältnismäßig harmlos. Dennoch standen auch ihm Erleichterung und Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, als er darauf wartete, dass man sich um seine Verletzungen kümmerte.

Auch Lazana und Wuleen hatten inzwischen mitbekommen, dass sich das Gewitter gelegt hatte. Nun näherten sie sich langsam der Versammlung der Überlebenden. Die blonde Zauberin war noch immer geschwächt vom übermäßigen Gebrauch ihrer magischen Kräfte und sie stützte sich auf ihren Stab. Wuleen dagegen hinkte und zog eine Spur aus Bluttropfen hinter sich her. Sein stoppelbärtiges Gesicht war zu einer wütenden und gleichzeitig gequälten Maske verzerrt. „Wo ist Vance?“, fragte er knurrig. „Wenn Wuleen seinen Lebensschwur nicht einhalten kann, wird er sich das nie verzeihen!“

„Er ist noch nicht zurück“, murmelte Gancielle und betastete vorsichtig seinen Unterarm. „Hoffentlich hat er es überlebt, Brynne aufgehalten zu haben.“

„Craig fehlt auch“, stellte Lazana leise fest.

„Ich habe vorhin gesehen, wie er sich abgesetzt hat“, rief Ratford und schulterte seine Axt. Vorsichtig befühlte er die Wunde an seinem Hals, die noch immer stark blutete. „Es sah so aus, als ob er Vance folgen wollte. Knack war bei ihm.“

„Und du hast ihn nicht aufgehalten?“, entrüstete sich Lazana. „Der Junge bringt sich noch um!“

„Tut mir ja wirklich sehr leid“, brummte Ratford beleidigt. „Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, mich nicht abstechen zu lassen.“

„Eure Sorge rührt mich ja wirklich sehr. Aber mir geht es blenden. Ich wäre lediglich sehr dankbar, wenn mir jemand diesen Kerl abnehmen würde.“

Lazana hob überrascht den Kopf. Craig kam mit angestrengtem Grinsen die Treppe hinab. Er hatte einen von Vances Armen um seine Schulter gelegt und schleifte den reglosen Dorashen hinter sich her. Knack folgte ihm humpelnd. Der Knucker krümmte seinen Körper gequält und hatte die Fortsätze an seinem Hinterkopf eng angelegt.

Erneut ging ein Raunen durch die Reihen der Soldaten, diesmal allerdings vor Ehrfurcht. Wuleen wollte sofort zu Craig eilen, um ihm Vance abzunehmen, aber Ratford war schneller. Der bullige Krieger sprang auf und lief ihm entgegen. Als die Last von seinen Schultern genommen wurde, seufzte der Craig glücklich.

Vance sah mehr tot als lebendig aus. Schorfiges Blut verklebte seine Ohren und seine Wangen, seine Kleidung hing ihm in versengten Fetzen vom Körper und seine Handflächen und Schultern wiesen fürchterliche Verbrennungen und Brandblasen auf. Schwarzer Ruß bedeckte seine Haut und seine Lippen waren spröde und aufgeplatzt.

„Ist er…ist er tot?“, fragte Lazana zögerlich. Wuleen ballte zähneknirschend die Fäuste.

Craig schüttelte den Kopf. „Nein, er atmet noch“, verkündete er. „Aber es hat ihn ganz schön übel erwischt und er ist bewusstlos.“

Syndus bahnte sich mit geraffter Robe einen Weg durch die Reihen seiner Soldaten. Atemlos blieb er vor Craig stehen und sah ihn mit großen Augen an.

„Was ist mit Brynne?“, erkundigte er sich.

„Der ist erledigt“, antwortete Craig und reckte stolz die Brust vor. „Dieser Mistkerl hat dort oben ein ganz schönes Spektakel veranstaltet, da konnte einem wirklich angst und bange werden. Aber letztlich ist ihm seine eigene Macht zum Verhängnis geworden.“

„Und dieser Ring?“, fragte Syndus. „Was ist mit dem Finger der Wolken?“

„Den hat Vance pulverisiert“, erwiderte Craig und deutete schmunzelnd auf den Dorashen, den Ratford gerade vorsichtig gegen die Wand lehnte.

„Dann ist der Finger der Wolken also verloren“, stellte Syndus leise fest.

„Tut mir leid, dass es keine Möglichkeit gab, ihn zu retten“, murmelte Craig kleinlaut. „Aber ich glaube, dass es ohnehin besser so ist. Nach allem, was ich gesehen habe, bin ich mir sicher, dass kein Sterblicher jemals über so eine Macht verfügen sollte.“

„Die Weisheit deiner Worte ist der Weisheit deiner Jahre weit voraus“, sagte Syndus und nickte bedächtig. „Ich sehe das genau wie du. Leider sind viele hohe Gelehrte und Magier anderer Meinung. Und es gibt noch zahlreiche weitere Artefakte, die nie in die falschen Hände fallen dürfen. Vielleicht ist das, was hier geschehen ist, ein Weckruf für die Akademien und Zauberschulen Gäas. Unsere Welt ist für eine solche Macht noch lange nicht bereit.“ Er sah Craig tief in die Augen. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ascor den Angriff Brynnes nicht überlebt hat?“

Craig nickte bedrückt und Syndus stieß ein langgezogenes Seufzen aus. „Nun, dann ist dieser Ort von nun an herrenlos“, rief er. „Und für uns gibt es hier nichts mehr zu tun. Wir überlassen diesen Berg am besten wieder den Wolken und kehren nach Eydar zurück, sobald wir die Verletzten versorgt haben.“

„Mit Verlaub, Meister, eine Angelegenheit gibt es noch zu klären“, mischte sich Gancielle ein. Mit düsterem Gesichtsausdruck deutete er auf Ilva, die seit dem Ende des Kampfes teilnahmslos an der Wand lehnte und den Kopf gesenkt hielt. „Wie sollen wir mit dieser Frau verfahren?“

„Was ist mit ihr?“, fragte Syndus überrascht.

„Sie gehörte zur Besatzung des Schiffs, das für den Sturmerzschmuggel verantwortlich war“, erwiderte Gancielle grimmig.

„Aber sie hat Kommandant Rhist und mir das Leben gerettet!“, rief Jel entrüstet und kam energisch die Stufen hinauf. „Ohne sie hätte uns dieser Dunkelelf aufgeschlitzt wie ein paar Bluthechte in der Auslage!“

„Trotzdem trägt sie eine Mitschuld an allem, was hier geschehen ist“, beharrte Gancielle und wich dem anklagenden Blick des Fähnrichs aus.

„Jetzt fangt Ihr schon wieder damit an“, stöhnte Lazana. „Sie hat uns nach Kräften unterstützt und nun wollt Ihr sie bestrafen?“

„Schmuggel ist und bleibt ein Verbrechen“, sagte Geyra leise und sah Syndus erwartungsvoll an.

„Macht doch, was Ihr wollt“, rief Ilva resigniert. „Ich habe den Tod meines Käptens gerächt. Mehr wollte ich nicht. Nehmt mich fest, sperrt mich weg. Es ist mir völlig egal, was jetzt mit mir passiert.“

„Stimmt es, was Gancielle sagt?“, fragte Syndus streng. „Wart Ihr ein Teil der Crew dieses Schiffs?“

Ilva nickte entnervt. „Ja doch!“, stöhnte sie ungeduldig. „Kommt schon, ich will es endlich hinter mich bringen.“

„Und handelt es sich bei diesem Schiff zufällig um den Kahn mit dem klangvollen Namen Sirene, der im Tal der Asche vor Anker liegt?“, stellte Syndus ungerührt eine weitere Frage.

Ilva nickte erneut, diesmal wortlos und mit finsterem Gesichtsausdruck.

„Das bedeutet, Ihr habt Erfahrung in der Seefahrt“, fuhr Syndus fort. „Könnt Ihr dieses Schiff steuern?“

Misstrauisch schob Ilva die Augenbrauen zusammen. „Das will ich meinen“, brummte sie zögerlich.

„Nun, unter diesen Umständen muss ich von einer Verhaftung absehen, Gancielle“, schmunzelte Syndus. „Wir haben einen ganzen Haufen von Verbrechern und doppelt so viele Verletzte, die irgendwie zurück nach Eydar kommen müssen. Und der Weg durch die Berge ist schon anstrengend genug, da möchte ich ihnen nicht noch zusätzlich einen Fußmarsch durch die Düstermarsch zumuten. Mit dem Schiff reist es sich so viel bequemer.“

Gancielle verstand, worauf der alte Ordensmeister hinauswollte. Die grimmige Maske fiel von seinem Gesicht ab und auf seinen Lippen erschien ein warmherziges Lächeln.

Ilva stand der Mund offen. „Moment!“, rief sie. „Was soll das heißen?“

„Ganz einfach“, antwortete Syndus. „Wenn Ihr uns mit Eurem Schiff sicher nach Eydar bringt, seid Ihr eine freie Frau. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich für Euch sogar die Möglichkeit, mit unserer Unterstützung noch einmal von vorne zu beginnen und ein Leben als aufrichtige Seefahrerin zu führen?“
 

Auf der Spitze des Tempels quälte sich Gilroy stöhnend aus dem Dickicht und kraxelte den steilen Hang hinauf. Dort, wo ihn Knacks Schwanz mit der Wucht eines Peitschenhiebs getroffen hatte, zog sich ein blutiger Striemen über sein Gesicht. Dornen zerkratzten ihm die Haut und zerrissen seine Kleidung. Mühsam zog er sich nach oben, brach vor Erschöpfung zusammen, als er das Hochplateau erreicht hatte, und atmete stoßweise in den Staub.

Müde hob er den Kopf und richtete seinen Blick auf den großen Krater, der vor ihm im Boden klaffte. Angestrengt schleppte er sich darauf zu und spähte hinunter. Auf seinem Grund erkannte er Brynnes Leichnam. Bäuchlings lag er dort, rußgeschwärzt und mit verkrampften Gliedmaßen und Fingern. Der Ring war nicht zu sehen.

„Brynne hat versagt“, murmelte Gilroy und legte den Kopf in den Nacken. „Er war nicht der Richtige.“ Über ihm hatten sich die Wolken verzogen. Ein sternenklarer Nachthimmel breitete sein dunkles, glitzerndes Tuch über den Bergen aus. Nur am Gipfel der Wolkenspitze brodelte noch immer ein Gewitter, doch es war nicht mehr ansatzweise so beeindruckend wie zuvor. Statt gleißenden Blitzen zuckten nur noch ein paar einzelne, kleine Funken über den Himmel.

Gilroy stand ächzend auf und richtete seinen Blick nach Osten, wo jenseits der Wolkenberge das Festland von Shalaine lag. „Das Chaos wird zurückkehren“, flüsterte er wie im Wahn. „Und Gäa wird brennen.“

Drei Tage später lief die Sirene im Hafen von Eydar ein. Die Bewohner der Stadt, die nichts davon mitbekommen hatten, dass sich in den Wolkenbergen eine für das Schicksal der Halbinsel richtungsweisende Schlacht abgespielt hatte, hielten in ihrer Arbeit inne und sahen überrascht zu, wie die angeschlagenen Soldaten erschöpft und glücklich von Bord gingen. Vance war noch immer nicht bei Bewusstsein und wurde mit den anderen Verletzten umgehend ins Lazarett gebracht. Indra und die Heiler der Stadt hatten alle Hände voll zu tun, die zahlreichen Wunden zu versorgen. Meister Syndus hatte der jungen Dunkelelfe während der Fahrt angeboten, dem Orden der Goldenen Falken beizutreten, doch bevor sie die Einladung annahm, wollte sie zuerst ihre Aufgabe als Heilerin zu Ende bringen.

Noch am selben Tag fand eine große Trauerfeier zu Ehren der Toten statt. Adria wurde gemeinsam mit Praharin und den übrigen Gefallen im Beisein aller Soldaten und Ordensmitglieder, die ohne Hilfe stehen konnte, beigesetzt. Auch Ilva war anwesend. Sie hatte erwirken können, dass auch ihrem Kapitän die letzte Ehre erwiesen wurde.

Die Verstorbenen wurden in weiße Leichentücher gehüllt und feierlich aufgebahrt, ehe sie zur Totenhalle getragen wurden. Ganz Eydar war auf den Beinen, um der stummen Prozession beizuwohnen. Der Zug endete in der Krypta, wo man die Toten in steinerne Sarkophage legte.

Syndus nahm von jedem der Gefallenen persönlich Abschied, indem ihnen Blumenkränze in die Särge legte. „Möget Ihr sicher in Khors Reich eintreten“, flüsterte er und trat einen Schritt zurück. Bragi war bei ihm und trotz ihrer Verletzungen hatten es sich auch Lexa, Rhist und Gancielle nicht nehmen lassen, ihre Krankenbetten zu verlassen und der Trauerfeier beizuwohnen.

„Unser Sieg wurde teuer erkauft“, murmelte er trübsinnig. „Noch nie mussten wir so viele der unseren zur letzten Ruhe betten. Eydar wird ihren Einsatz niemals vergessen und das ganze Kaiserreich soll davon erfahren, dass sie ihr Leben für den Frieden gegeben haben.“

Gancielle, dessen gebrochener Arm in einer Schulterschlinge steckte, sah finster zu, wie sich der Sargdeckel über Adrias Körper schloss. „Hätte ich gewusst, was Loronk ihr angetan hat, ich hätte ihm noch im Augenblick seines Todes ins Gesicht gespuckt!“, zischte er gehässig.

„Ihr habt sie gerächt“, erwiderte Syndus. „Mehr konnte keiner von uns für sie tun.“

Gancielle blickte stumm zu Boden, während auch die übrigen Sarkophage versiegelt wurden. Nach und nach leerte sich die Krypta. Zunächst gingen die schaulustigen Zivilisten, ehe Bragi und die ersten Soldaten aufbrachen und sich auch Lexa und Rhist aufmachten, um in ihre Krankenzimmer zurückzukehren. Schließlich waren nur noch Syndus und Gancielle in der Totenhalle.

Der alte Ordensmeister griff in die Falten seines Gewands und zog einen Zettel hervor. Gancielle nahm ihn zögernd entgegen und drehte ihn zwischen den Fingern. „Was ist das?“, fragte er.

Syndus versenkte die Hände in den Ärmeln seiner Robe und blickte zur Decke der Krypta. „Ein Absolutionserlass für den Dorashen“, erklärte er gedehnt. „Ein Botenfalke brachte ihn nach Eydar, kurz nachdem ich die Stadt verlassen hatte. Er ist an eine Bedingung gekoppelt. Auf Befehl seiner Kaiserlichen Majestät soll unser Freund von seiner Schuld freigesprochen werden, sofern er das Rätsel um die Vermissten löst. Auch wenn es nicht sein Verdienst war, dass wir die verschwundenen Bürger in Sicherheit bringen konnten, hat er sich seine Freiheit redlich verdient. Schließlich hat er für uns etwas viel Größeres erreicht.“

Gancielle starrte noch immer unverwandt auf den Zettel in seinen Händen. „Das freut mich für Vance“, murmelte er. „Aber warum erzählt Ihr mir das? Diese Informationen sind nicht für die Augen und Ohren von Zivilisten bestimmt.“

Syndus schmunzelte. „Ihr seid aber kein Zivilist, Gancielle“, rief er. „Ich habe Euch gesagt, dass Eure Entlassung zeitlich begrenzt sein würde.“

„Meint Ihr das ernst, Meister?“ Gancielle riss überrascht die Augen auf und senkte dann demütig den Kopf. „Es wäre mir eine Ehre, Euch wieder dienen zu dürfen. Ich werde meinen Eid so schnell wie möglich ablegen.“

„Das ist nicht nötig“, lächelte Syndus. „Ihr müsst Euren Eid nicht erneuern. Ihr habt Eure Treue tausendfach bewiesen, selbst, als Ihr nicht mehr den Löwenkopf auf der Brust trugt. Tun wir einfach so, als hätte es Eure Entlassung niemals gegeben. Ich brauche dringend einen zweiten Kommandanten an meiner Seite. Immerhin ist Rhist schwer verletzt.“

Nun musste auch Gancielle schmunzelnd. „Nun, es tut mir leid, Euch gleich enttäuschen zu müssen, Meister“, sagte er und deutete auf seinen gebrochenen Arm. „Aber in diesem Zustand bin ich nicht viel mehr wert, als dieser Hornochse mit den Kriegszöpfen.“
 

Es dauerte einen weiteren Tag, bis Vance erwachte. Craig hatte das Lazarett zu keinem Zeitpunkt verlassen. Anfangs war er Knack nicht von der Seite gewichen, doch es hatte sich schnell herausgestellt, dass die Verletzungen des Knuckers nicht der Rede wert waren. Seitdem saß er an Vances Bett und sah fasziniert zu, wie seine schlimmen Verbrennungen heilten. Noch auf See hatte Indra seinen Zustand als nicht lebensgefährlich deklariert, aber er hatte sich so sehr verausgabt, dass sich sein Körper die wohlverdiente Erholung in Form von tagelangem Schlaf zurückholte.

„Das sind die Regenerationsfähigkeiten der Dorashen“, hatte Lazana gesagt, als Craig sich darüber gewundert hatte, dass auf Vances Haut nicht einmal winzige Brandnarben zurückblieben. „Sie sind nur eine von vielen Kräften, mit denen die Götter sie gesegnet haben.“

Die Eismagierin und Ratford hatten das Scharmützel auf der Wolkenspitze glimpflich überstanden. Obwohl sie bereit waren, nach Vanashyr zurückzukehren, hatten sie sich dazu entschieden, noch in Eydar zu bleiben, bis Vance wieder zu Bewusstsein kam. Wuleen, der aufgrund seiner Beinverletzung ebenfalls die Pflege der Heiler bedurfte, lag im Nebenbett und starrte grimmig zur Decke. Es missfiel ihm offenbar, dass man sich um ihn kümmerte.

„Er wacht auf!“, hauchte Craig. Sofort traten Lazana und Ratford näher heran. Wuleen richtete sich ruckartig auf und sah zu Vance herüber, der flatternd die Lider aufschlug. Für einen Moment wirkte er verwirrt, doch dann fand sein Blick Craigs Augen.

„Ist Brynne tot?“, fragte er leise.

Craig grinste breit. „Ja! Du hast es geschafft! Es dauert bestimmt nicht lange, bis man sich in ganz Gäa von deiner Heldentat erzählt.“

„Heldentaten?“, brummte Vance und drehte sich weg. „Ich wollte Wiedergutmachung für mein Verbrechen üben. Stattdessen habe ich einen weiteren Menschen getötet und mir noch mehr Schuld aufgeladen.“

„Jetzt suhlt er sich wieder in seinem Selbstmitleid!“ Craig verdrehte entnervt die Augen. „Erzähl hier nicht so einen Quatsch! Du hattest keine andere Wahl. Wir haben beide ganz genau gesehen, was dort oben auf dem Berg los war. Wenn du ihn nicht gestoppt hättest, hätte Brynne die ganze Halbinsel plattgemacht!“

Vance rührte sich nicht. Da stampfte Craig verärgert mit dem Fuß auf. „Gut, wenn du nicht auf mich hören willst, hörst du vielleicht auf jemanden, der etwas mehr zu sagen hat!“, rief er wütend und pfefferte einen Zettel auf Vances Bett. „Zum Beispiel den Kaiser!“

Vance hob verwundert den Kopf. „Was soll das sein?“, fragte er brummig.

Craig verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. „Ein Begnadigungsschreiben“, antwortete er verstimmt. „Es wurde vom Kaiser selbst verfasst. Solange du es bei dir trägst, kann dir niemand deine Vergehen anlasten.“

Vance griff zitternd nach dem unscheinbaren Zettel und entfaltete ihn. Seine Augen flogen über die verschnörkelten Buchstaben. Er las die Zeilen dreimal, dann blickte er auf und starrte mit entgeistertem Gesichtsausdruck in die Runde. „Woher hast du dieses Schreiben?“, fragte er ungläubig.

„Von diesem alten Kerl, der hier das Sagen hat“, antwortete Craig. „Wie hieß er noch gleich? Syndus? Er wollte dir den Zettel gestern persönlich überreichen, aber du hast gepennt wie ein Kleinkind. Also hat er ihn mir gegeben und mir gesagt, dass ich ihn dir aushändigen soll, sobald du aufwachst.“

„Ein Stück Papier und ein wenig Tinte machen mich doch nicht zu einem freien Mann…“, hauchte Vance.

„Anscheinend schon“, erwiderte Craig und trat direkt vor Vances Bett. „Solange der Kaiser sein Kürzel darunter und sein Siegel darüber gesetzt hat. Das ist sein Dank für deinen Einsatz. Langsam sollte dir klar sein, dass in deinen Adern doch Heldenblut fließt.“ Der Waisenjunge stieß dem Dorashen den Finger vor die Brust. „Von nun an bist du kein Gesetzloser mehr. Jetzt musst du nur noch deinen Geist befreien.“

Noch immer zitternd ließ Vance den Zettel sinken, der seine Rechtschaffenheit bezeugte. „Und dann?“, murmelte er leise. „Was soll ich dann tun?“

Craig zuckte die Schultern. „Du wirst schon eine Möglichkeit finden, wie du deine Kräfte am besten zum Wohl dieser Welt einsetzen kannst“, vermutete er. „In Gäa scheint es eine Menge großer Probleme zu geben. Und vielleicht ist dir inzwischen schon aufgefallen, dass du Großes erreichen kannst, anstatt dich mit deiner Vergangenheit selbst zu geißeln.“

„Und ich habe schon eine Idee, wohin dich dein Weg als erstes führen könnte“, verkündete Lazana. „Begleite uns doch nach Vanashyr!“

„Vanashyr?“, wiederholte Vance zögerlich.

„Warum denn nicht?“, rief Craig begeistert. „Ein fremdes Land, das klingt doch schon nach Abenteuern ohne Ende!“

„Kommst du etwa auch mit?“, fragte Ratford skeptisch und rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Natürlich!“, antwortete Craig überschwänglich und reckte einen Arm in die Luft. „Ich gehe dorthin, wo Vance hingeht. Man bekommt nicht täglich die Chance, an der Seite eines Dorashen zu reisen. Diese Möglichkeit muss ich nutzen!“

„Wuleen wird Euch ebenfalls begleiten.“ Der Schwertkämpfer schwang sich aus dem Bett und verzog gequält das Gesicht, als er sein Körpergewicht auf sein verletztes Bein verlagerte.

„Ich sehe schon, es hat keinen Sinn, euch davon abzuhalten“, brummte Vance. „Euer Entschluss steht schon längst fest.“ Er setzte sich auf, massierte sich den steifen Nacken und sah Craig an. „Abenteuer ohne Ende, hm?“

Craig traute seinen Augen kaum, als auf Vances Lippen ein breites Lächeln erschien.

„Dann geht es also nach Vanashyr.“

Epilog

Die Sirene machte gute Fahrt. Die See war ruhig und der starke Rückenwind blähte die Segel. Ilva hielt das Steuerrad und ließ das Schiff sicher über die glatten Wogen des Binnenmeeres gleiten. Syndus hatte ihr großzügigerweise eine der Truhen überlassen, in denen Veit den Erlös des Sturmerzschmuggels verstaut hatte. Mit dem Geld hatte sie im Hafen von Eydar rasch eine Mannschaft erfahrener und pflichtbewusster Seeleute angeheuert. Der Ordensmeister hatte die Crew außerdem mit reichlich Vorräten ausstatten lassen. Lazana und Ratford hatten mit Ilva schon am Tag der Rückkehr aus den Wolkenbergen über eine Überquerung des Binnenmeeres gesprochen und die frischgebackene Kapitänin hatte sofort eingewilligt, sie nach Süden zu bringen.

Craig und Knack saßen am Heck und blickten zurück nach Eydar. Die Hafenstadt wurde immer kleiner und wurde schließlich vom schnell aufwallenden Nebel von Adamas verschluckt. Etwas abseits stand Vance und drehte sein Hackebeil in den Händen. Wuleen war bei ihm und schärfte fachmännisch sein Schwert.

Ratford sah, dass Craig nachdenklich wirkte, und schlenderte zu ihm herüber. Er trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Sieht ja fast so aus, als hättest du Eydar liebgewonnen“, stellte er grinsend fest.

„Das ist es nicht“, murmelte Craig leise. „Aber ich verlasse zum ersten Mal in meinem Leben das Hoheitsgebiet von Shalaine.“ Er sah den stämmigen Krieger an. „Ich kenne mich nicht besonders gut aus, aber Vanashyr liegt im Süden, nicht wahr?“

Ratford stützte sich mit den Händen auf die Reling und nickte. „So ist es, Junge“, bestätigte er. „Es ist nach den Inseln von Grimhagen das südlichste Land Gäas. Es liegt südwestlich von hier.“

Der Waisenjunge kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Im Süden…“, flüsterte er. Dort lag irgendwo Notting inmitten der sanften Wogen des Binnenmeeres. Vielleicht schipperten sie so nahe daran vorbei, dass Craig einen Blick auf seine Heimatinsel werfen konnte. Etwas widerwillig musste er sich eingestehen, dass er Notting vermisste. Gerne hätte er Ilva gebeten, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, aber er ließ es bleiben und so saß er nur an der Reling und ließ seinen Blick über das schier grenzenlose Binnenmeer schweifen. Er fragte sich, ob die Nachricht von Brynnes Scheitern schon bis auf die abgeschiedene Insel vorgedrungen war. Vielleicht wusste Preman längst, dass Craig dabei gewesen war, als ein wahnsinniger Sturmmagier davon abgehalten wurde, ganz Gäa mit einer Gewitterwolke zu verdecken. In diesem Fall wäre er auf Notting bestimmt das Gesprächsthema schlechthin.

Stolz erfüllte den Waisenjungen, doch bei dem Gedanken an seine Heimatinsel musste er zwangsläufig an Hiob denken. Ihm wurde noch immer das Herz schwer, wenn er sich selbst daran erinnerte, dass er den Dunkelelfen womöglich niemals wiedersehen würde. Jetzt hatte er neue Gefährten gefunden und steuerte an ihrer Seite neuen Abenteuern entgegen.

Craig verwarf seine Gedanken und wandte sich Ratford zu. „Erzähl mir etwas über dieses Land“, bat er den Krieger.

„Über Vanashyr?“, fragte Ratford und legte grübelnd die Finger an den Mund. „Nun, es ist das Herrschaftsgebiet der Pardel. Recht unwirtlich, besonders im Norden des Landes. Dort prägen gigantische Wüsten das Landschaftsbild, soweit das Auge reicht. Die Weiße Wüste ist der trockenste Ort in ganz Gäa. Dort hat es an einigen Stellen seit Jahren nicht mehr geregnet. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass die Gletscher der Frostwallberge nur unweit davon liegen, doch das Mihond-Tal, das wir auch durchqueren werden, ist wie eine unsichtbare Barriere gegen die Kälte der Berge und die Hitze der Wüste. Weiter im Süden wird das Land etwas fruchtbarer. Dort wachsen dicke Bäume zu dichten Dschungeln aus dem Boden. Glaub mir, dagegen ist die Düstermarsch ein lächerliches Wäldchen. Und inmitten dieses grünen Paradieses liegt Fravea, die Heimstatt des Pardelkönigs Bardhan.“

Craig schüttelte ein Schauer der Begeisterung, als er all diese fremden Namen hörte. Allein ihr Klang weckte in ihm die Abenteuerlust. Knack dagegen wirkte nicht besonders begeistert. Craig konnte es ihm nicht verdenken. Schon die Wolkenberge waren für den Wasserdrachen ein wenig einladender Ort gewesen, aber eine Wüste war das genaue Gegenteil seines natürlichen Lebensraums.

Der Waisenjunge beugte sich zu Knack herunter und kraulte ihn hinter den flossenartigen Fortsätzen an seinem Kopf. „Keine Angst, Kumpel“, versuchte er ihn aufzumuntern. „Das kriegen wir schon hin. Du könntest der erste Knucker sein, der die Weiße Wüste durchquert! Klingt doch toll, oder?“

Knack schien das nicht besonders zu überzeugen. Er gab ein quäkendes Geräusch von sich und schmiegte seinen Kopf eng an Craigs magere Brust.

„Und was genau haben du und Lazana im Land der Pardel zu schaffen?“, fragte der Waisenjunge und sah Ratford an.

Der bullige Krieger kratzte sich nachdenklich an der Wange. „Die Pardel sind nicht die einzigen Bewohner von Vanashyr“, erklärte er. „In der Wüste leben die Dünenmenschen, ein ehemals nomadischer Volksstamm, der sich mit den Pardeln lange in einem erbitterten Kampf um die knappen Wasservorräte befunden hat. Aber seit die Dünenmenschen ihren ersten König gewählt haben, hat sich die Situation entspannt und beide Seiten befinden sich mittlerweile in Friedensverhandlungen. Lazana und ich sind alte Freunde und treue Weggefährten dieses Königs.“

„Und warum habt ihr vorgeschlagen, dass wir mit euch kommen können?“, wollte Craig wissen.

In diesem Moment kam Lazana herbei. Ihr Stab prallte bei jedem Schritt dumpf auf die Schiffsplanken. „Nun, das hat mit Vance zu tun“, sagte sie sanft. „Er ist nicht der erste Dorashen, dem Ratford und ich begegnet sind.“

Vance hob neugierig den Kopf und näherte sich zaghaft.

„Genau“, bestätigte Ratford. „Cord, der König der Dünenmenschen, und Rian, sein langjähriger Gefolgsmann, sind ebenfalls Dorashen. Und wir waren der Meinung, dass es Vance guttun würde, wenn er einmal seinesgleichen kennenlernt.“

„Gleich zwei von der Sorte?“, rief Craig und riss überrascht die Augen auf.

„Und einer von ihnen wurde von ihnen wurde von der Bevölkerung sogar zum König ernannt?“, fragte Vance zögerlich.

Lazana schenkte dem Dorashen ein warmherziges Lächeln und strich sich eine Strähne hinter ihr Ohr. „So ist es. Die beiden standen den Dünenmenschen in finsteren Zeiten bei. Für die Nomaden sind sie längst zu Helden geworden.“

„Helden…“, wiederholte Vance nachdenklich und blickte nach Süden. Und Craig glaubte, in seinen tiefschwarzen Augen einen Anflug von Vorfreude und Hoffnung aufblitzen zu sehen.
 

Syndus stand am Steg von Eydar und sah der Sirene nach, die sich immer mehr entfernte und schließlich weit draußen im Binnenmeer vom Nebel verschluckt wurde. Gancielle war bei ihm. Er trug wieder seine Uniform, die ihn als Kommandanten der Armee auswies.

„Da fahren sie also“, flüsterte Syndus. „Die Helden von Adamas.“

Gancielle räusperte sich. „Meister“, sagte er leise. „Bragi lässt Euch daran erinnern, dass mit dem Freispruch des Dorashen eine Auskunft über seinen Aufenthaltsort gefordert wird.“

„Ist das so?“, fragte Syndus. „Dann sollten wir die Verantwortlichen in Kaboroth wohl besser davon in Kenntnis setzen, dass er nach Vanashyr aufgebrochen ist.“

„Ich verstehe das nicht“, murmelte Gancielle. „Erst wird Vance von höchster Stelle begnadigt und dann will man in Kaboroth seinen Aufenthaltsort wissen. Was will der Kaiser von ihm?“

„Darüber kann ich nur mutmaßen“, erwiderte Syndus. „Aber ich kann das Interesse des Kaisers an diesem Mann durchaus nachvollziehen. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass das, was Vance hier in Eydar geleistet hat, erst der Anfang von etwas Großem war. Denkt an meine Worte, Kommandant! Wir werden noch einiges von diesem Dorashen hören.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  NaruOnIce
2019-03-19T13:45:54+00:00 19.03.2019 14:45
disclaimer: falls hier wer gerade als leser reinschaut und die ff noch nicht beendet hat! dieser kommentar beinhalte teinige spoiler. also am besten einfach ignorieren :‘D

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ooooooh so schön!!! ich bin jetzt endlich durch mit lesen! finde wirklich gut, wie alles am ende zu einem abschluss gekommen ist. und wie du schon gesagt hast, gibt‘s da noch eine menge gemeinsamkeiten mit der vorgängerversion, was ganz angenehm ist :>
generell finde ich schön, dass craig noch „unschuldig“ ist und niemanden in dieser version umgebracht hat, wenn ich das richtig in erinnerung habe. dadurch hat er irgendwie noch ganz viel kindliche abenteuerlust in sich behalten (hätte er eh). bin auch wirklich mega auf die entwicklung der helden ab diesem punkt gespannt!

ich hoffe auch auf eine szene mit rhist und gancielle in zukunft! gerade wegen ihrer betonten rivalität hatte ich mehr momente zwischen ihnen erwartet. mein rivalen-herz hofft ToT

so schön auch, dass du jel doch nochmal etwas screentime am ende gegeben hast! irgendwann kenne ich hoffentlich mal jemanden, der meine liebe für den charakter nachvollziehen kann v_v

was ist eigentlich mit brynnes leiche passiert? haben die die einfach oben liegen gelassen? so gut haha BIN NUR NEUGIERIG oh aber so schön! bin mega auf gilroys großen moment in zukunft gespannt! *__*

und auch so so gut, dass der ring zerstört worden ist! so kann man mit dem kapitel irgendwie gut abschließen. finde nice, dass der fokus in dem ersten teil auf eine gottheit gelenkt worden ist, weil man ja noch immer nicht weiß welchem gott vance zugehörig ist (oder ich hab‘s verpasst haha). so hat man gleich ein gefühl für die ausmaße der kommenden reise bekommen. bin eh mega neugierig darauf, was jiub ÄH HIOB und der kaiser noch in zukunft bereitstellen werden! einfach für immer cryen, wenn craig und hiob sich mal wiedersehen ;_;

und generell bin ich wirklich gespannt, wohin sich die geschichte noch entwickeln und was für epische ausmaße sie annehmen wird. pokerface charakterentwicklung *-*
steckt jetzt schon so viel potential für was großes drin! generell finde ich mega bewundernswert, wie du das wirklich durchgezogen hast mit dem überarbeiten! hast da wirklich noch eine menge arbeit reingesteckt und ich hoffe, dass du damit auch zufrieden bist!

freu mich definitiv auf den nächsten teil!
Von:  NaruOnIce
2019-02-14T10:35:23+00:00 14.02.2019 11:35
Ich liebe die Gruppendynamik zwischen den 4 Süßen :'D
Von:  NaruOnIce
2019-02-11T07:49:33+00:00 11.02.2019 08:49
Das Kapitel ist auch sooooo so gut einfach!! Macht super Spaß die Geschichte aus Aulus' Augen zu betrachten! Zu schade, dass sein Auftritt so kurz war ABER OOOH GILROY WIRD AKTIV
Von:  NaruOnIce
2019-01-18T07:41:29+00:00 18.01.2019 08:41
Besteeeees ich liebe die Interaktionen zwischen Craig und Vance hier!!!! So so süß auch wie knack wieder den Hund raushingen ließ UND DER STURM SO GUT GESCHRIEBEN


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