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Family relations

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Plot: Teran jagt Shina Kudô, daraufhin stellt sich Vermouth ihm in den Weg... Komplett anzeigen

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Vertrauter Feind

Es war ihr total zuwider. Aber gerade jetzt, wo ihnen eine gemeinsame Geburtstagsfeier bevorstand, dachte sie wieder an Geschehnisse, wie sie vor nicht allzu langer Zeit stattgefunden hatten. Sie hatte mehr unfreiwillig einige Dinge mitbekommen, nachdem sie geflüchtet war.  Vor ihm, um genau zu sein. Dass ausgerechnet das blonde Miststück dem Kerl in die Quere gekommen war, war wohl so etwas wie vorher bestimmtes Schicksal, weil sie so zum ersten Mal richtig Einblick bekommen hatte, wie die Wirklichkeit aussah, nicht diese tausend Intrigen und das Scheinsein in der Organisation.

„Was glaubst du eigentlich, was du da treibst, Teran? Kannst du Befehle von unserem Boss nicht nachvollziehen und weißt nicht, was das soll, oder woran liegt dein Ungehorsam?“ Sie sprang immer so mit den Typen um, daher war ihr Ton nichts Neues. Kein Wunder, sie bekleidete eine hohe Position, die sie stets ausnutzte, dabei wurde der Hellbraunhaarigen ganz anders… Sie wollte eigentlich gar nicht genauer darüber nachdenken, aber all jene Menschen, denen sie dort begegnet war, hatten sich zusammen gegen sie verbrüdert, schien es. Jedenfalls hatte sie das gedacht…

 

„Nicht im Geringsten, Vermouth. Ich handle nur so, wie man es mir vorgelebt hat. Enorm, was? Du solltest fein deinen vorlauten Mund halten, wer legt Regeln den am weitesten aus? Das bist doch du, also komm mir nicht in die Quere. Hast du nicht genug andere Probleme, um die du dich kümmern musst? Dir Gedanken machen, wie du überlebst, zum Beispiel? Wie du Leuten, wie Carpano und dessen Clan, die nette Frau vorheucheln kannst, wo du doch so sehr darauf pochst, dich ausgerechnet in diese Familie zu schleichen. Meinst du, ich wüsste nicht, was du da treibst? Du tust nichts ohne Grund und schon gar nicht mit Typen – auch nicht mit solchen, wie Sêiichî. Und nun erzähl mir nicht, dass du den ernsthaft wichtig findest. Den opferst du doch, wie alle anderen auch. Dann, wenn er dir nichts mehr nützt.“

Man merkte auf Anhieb, dass sie viel Ärger schluckten und sich im Grunde gar nicht leiden konnten, Vermouth aber gerne Teran herumkommandierte, was dieser sich aber von keiner Frau gern bieten ließ – auch nicht von einer, die sich Respekt verschafft hatte. Ihr sah man es gerade an, dass sie ihn am liebsten mit Blei verziert hätte, dafür, was er ihr an den Kopf schmiss.

„Man könnte meinen, du wärst neidisch. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Ich muss mich nicht in irgendwelche Familien einschleichen, ich habe bereits Zugang zu ihnen, aber danke für deine Fürsorge, weiß ich wirklich zu schätzen.“ Sie war ironisch und meinte kein Wort ernst, dafür verabscheute sie Kerle zu sehr, die sich an Frauen vergingen, oder es zumindest planten.

„Du bist bloß ein netter Zeitvertreib für ihn, er wird doch auf seine Familie hören – weil er Yuichi nämlich beeindrucken will und keinen Charakter besitzt. Genauso wenig, wie du. Ihr passt also wunderbar zusammen, jedenfalls für den netten Fick nebenbei.“

Nun knurrte die Killerin und konnte nur mit Mühe verhindern, dass sie ihn für seine frechen Worte mit ihrer Waffe bedrohte.

„Ihr zwei habt keine Zukunft, weil man die verhindern wird. Oder bist du tatsächlich so eine Träumerin, zu glauben, dass einer von denen dir je verzeihen wird, dass du damals was mit der Sache zu tun hattest?“ Ein diabolisches Grinsen war in Terans Gesicht, da er ziemlich über Vermouth spottete. Er glaubte ja zu wissen, dass da mehr dahintersteckte und es sie tatsächlich juckte, dass man sie nicht mögen könnte – sprich, Sêiichî sich wohl schämen musste, ausgerechnet sie zu lieben. „Wird sehr eklig für Sêiichî enden, vielleicht weiß er es schon ganz genau und muss dich darum immerzu betrügen. Und du lässt es auch noch fein mit dir machen… Du musst ja echt furchtbar darunter leiden, dass man dich so behandelt. Falls es dir mal reicht und du willst, dass einer dem Kerl ordentlich eins vor den Latz knallt, kannst du gern auf mich zurückgreifen. Ich helfe dir gerne bei der Wiederherstellung deiner Ehre.“

„Nein danke, ich verzichte“, entgegnete Vermouth – auch wenn Teile davon stimmten, aber ihre Ehre war doch schon lang den Bach runter, da machte das auch nichts mehr. Sie würde nie so tief sinken, einen Dreckskerl wie Teran auf einen Mann anzusetzen, nur weil sie gewisse Dinge nicht verkraftete. So weit war sie noch lange nicht, dass sie sich mit diesen Mitteln für solche Lappalien rächte. Bei Cognac war einiges im Argen, wovon sie auch leider durch Familienbeziehungen wusste, deswegen verfuhr sie auch relativ gnädig mit ihm und würde ihm niemanden schicken, der ihn für sein Verhalten bestrafte – schon gar nicht einen, wie Teran, der doch nur darauf aus war, ihm Schmerz zuzufügen. Sie war nicht von gestern, sie wusste schon lange, dass er etwas gegen Sêiichî hatte, weil er eigentlich was ganz anderes wollte. Ziele, die er mithilfe der Organisation verwirklichen wollte. Einige hatten mit Freundschaften von Sêiichî zu tun und er versuchte diese Ziele zu sabotieren, das ging dem guten Teran gewaltig gegen den Strich, weshalb er Cognac noch mehr hasste.

„Ich kann dir gewaltig schaden, dir aber auch meine Hilfe anbieten, Vermouth. Du musst es nur wollen.“

„Soll das eine Drohung werden, Teran?“ fragte sie äußerst bissig und gereizt, außerdem mit einer ziemlich verärgerten Stimme.

„Du kannst eh all die nicht leiden, weil du dich von denen falsch behandelt fühlst. Also hör doch auf, anderen was vorzumachen und wende dich den Menschen zu, die auf deiner Seite stehen, als denen zu helfen, die es nicht verdienen. Meinst du, ich wüsste nicht, dass du nur gekommen bist, um zu verhindern, dass ich mein Ziel erreiche? Wahrscheinlich hat dir Sêiichî auch noch eingeredet, dass ein paar gute Taten über deinen wahren Charakter hinwegtäuschen können. Yuichi kennt den und Sêiichî wird ihn eines Tages auch erkennen, wenn er fertig mit dir ist, so wie das meistens nach einer Weile der Fall ist, dann wenn eine Frau ihn langweilt. Auf die Weise, wie du es gerade tust, wirst du sogar Syrah irgendwann gegen dich aufbringen. Wüsste sie davon, würde sie dich umbringen.“

„Wir können ja mal ausprobieren, ob sie das würde. Das Risiko gehe ich dann einfach mal ein. Schon Pech, was? Da komme ausgerechnet ich, um dich von deinem Vorhaben abzuhalten. Leider kannst du auch nicht zu Syrah rennen, mit deinem Wissen. Weil du darauf bauen musst, dass ich den Mund halte. Sie soll ja denken, dass du sie liebst, nicht wahr? Ich müsste leider zur Gegenwehr ansetzen und ihr alles sagen, was ich über dich weiß, du Scheißkerl! Dumm, was?“ Sie beide schenkten sich nichts, stichelten einander und nutzten ihre Trümpfe, doch im Grunde waren sie beide auf den anderen angewiesen – auf die Verschwiegenheit der Gegenseite.

„Was wäre wohl schlimmer für Syrah? Dass ihre so heißgeliebte eigene Mutter den Menschen versucht abzuschirmen, den sie am meisten hasst?“

„Oder die Tatsache, dass ihr Mistkerl von Freund sogar sie wagt zu täuschen? Dass sogar er sie belügt und im Grunde fallen lassen würde, sobald er an die Person herankommt, die sie am meisten auf dieser Welt hasst. Die zufälligerweise jeder mehr mag, als sie selbst. Tze.“ Die Blondine lächelte kühl, aber auch ein wenig, als wolle sie sagen, dass der Mann, den Syrah liebte, ihr natürlich mehr wehtun könnte. Es also schlimmer war. Sie selbst konnte Gründe finden, die sogar für Syrah plausibel waren, immerhin hatte sie ihr sogar das Versprechen abgerungen, Yukiko in Ruhe zu lassen, weil sie eben ihre Freundin war. Daran hielt sich ihre Tochter – alles hatte sie im Griff, genau. Diese Beziehungen, die sie innerhalb der Organisation pflegte – draußen wären sie non existent. Aber sie waren auch alle sehr verzweifelt – lebten in Angst und Schrecken und konnten sich normale Freundschaften ja kaum leisten. Da klammerten sie sich an die merkwürdigsten Geschöpfe der Nacht. Zum Beispiel sie, an ein Mädchen, was ihren Vater früh verloren hatte und ihre Cousine hasste, wie nichts anderes. Die nicht mal verstand, warum alle Welt sie lieber mochte. Dass sie kurz davor gewesen war, ihr Herz so sehr zu verlieren, dass sie kein Stück liebenswert war und sich benahm, wie das billigste Miststück. Da war ja sie selbst ein Witz dagegen – und das hatte etwas zu heißen. Es hatte Vermouth sehr viel Mühe gekostet, diesem Kind beizubringen, dass sie sich schon Mühe geben musste, um besser zu sein. Dass sie ihr helfen würde… Man, sie war echt verzweifelt. Und der Kerl da, der nahm diese Frau nur, weil sie zur gleichen Familie gehörte, wie die andere, die jeder besser und toller fand. Alles Verzweiflungstaten. In einem normalen Leben außerhalb der Organisation hätten sie all diese Dinge niemals getan. Sie – eine große Schauspielerin – würde sich niemals dazu erniedrigen, einen Mann zu lieben, der sie andauernd betrog – sie wäre viel wählerischer in solchen Beziehungen. Aber auch in der dunkelsten Ecke fand man in einsamen Stunden ein rettendes Seil, was einem das Schlimmste wieder besser machte. Man lernte, genügsam zu sein.

 

Es war ein beschissener Tag und er würde noch beschissener werden. Denn, als sie den Kerl endlich in die Flucht geschlagen hatte, tauchte sie auf. Auch wenn Beide keinen guten Draht zueinander hatten, hatte sie schon als Kind gelernt, sich für Hilfe zu bedanken. Als sich Vermouth herumdrehte, kam sie aus ihrem Versteck und verpasste der jungen Schönen einen Schreckmoment, was die Detektivin schon wunderte.

„Seit wann so schreckhaft?“ konnte sie sich wegen des Zurückweichens und des geschockten Gesichtsausdrucks der ihr bekannten, professionellen Killerin nicht verkneifen, ebenso wie das Grinsen, was viele Menschen, die sie besonders gut kannten, als wahres Schauspiel bezeichnet hätten. In dem Moment wirkte sie nicht, als wolle sie Danke sagen, sondern der Anderen nun richtig Ärger machen.

„Bei deinesgleichen reagierst du nicht so erschrocken. Bei einer kleinen Detektivin schon. Findest du das nicht auch ein bisschen lachhaft, Vermouth?“ Woran lag es wirklich? An ihrem Beruf, der sie Beide wie Feinde erscheinen ließ, oder daran, dass sie die Älteste ihrer besten Freundin war und sie ihr daher bestens bekannt war? Vermouth hasste nichts mehr, als wenn man sie durchschaute. Vielleicht war sie deswegen so entsetzt, weil ihr Auftauchen sie der Angst erliegen ließ, man hätte das Gespräch von eben von Anfang bis Ende belauft. „Killer, wie Gin, können dich nicht erschrecken… Ich dich schon, gib mir mal nicht zu viel Ehre.“

Das konnte ja heiter werden.

„Bist du verrückt?! Du spinnst wohl?! Natürlich, was sonst? Du musst spinnen, immerhin bist du ihr Kind! Ihr seid dafür bekannt, nicht ganz dicht zu sein, Yukiko allen voran!“ ärgerte sich die Blonde und entlockte Shina ein leichtes Lächeln. War fast putzig, wie sie sich über ihre eigene Dummheit so aufregte und lauter wurde. Anscheinend wollte sie sie einfach nur weghaben, so wie andere Personen – eine gewisse Syrah, der sie mächtig auf den Kranz ging. Weil sie zu viel wusste und ihr damit gefährlich werden könnte.

„Ohja, du hast Recht. Mutter ist wirklich manchmal nicht ganz dicht – du bist ja das beste Beispiel“, erwiderte Shina in einem äußerst frechen Ton und man könnte meinen, dass sie die Blonde gezielt stichelte und sie ärgern wollte, um zu testen, wann ihr der Geduldsfaden riss. Anhand ihres Blickes glaubte die 22-jährige auch, dass es ihr gelang. Sie kannte diese Person, sie würde auf Kritik immer so reagieren – sie war schließlich perfekt, eine vollendete Schauspielerin und niemand konnte ihr das Wasser reichen – so war es doch, oder? Und wehe einer wagte einmal auch nur ansatzweise dieses Ziel zu erreichen, um ihr zu nahe zu kommen. Das endete meistens unschön – nun war es ausgerechnet sie. „Nur Verrückte können dich mögen.“ Wen genau sagte sie nicht gleich, aber es war wirkliche Kritik, obwohl sie wusste, dass in diesem Laden kaum einer normal war und man sich zwangsläufig damit arrangierte, sich Freunde zu suchen, die man sonst eher gemieden hätte.

„Meine Mutter ist noch die Normalste in diesem Freundeskreis, meine Liebe. Da sind ganz andere Leichen im Keller, was?“

Syrah und Teran – das schlimmste Duo überhaupt – sie war aber auch nicht ganz gesund, sich überhaupt noch hier zu befinden, nur weil sie so neugierig war. Kaum eine halbe Stunde war es her, dass Teran sie bis hierher gejagt hatte, ehe diese Frau aufgetaucht war, um ihn hinzuhalten, indem sie dieses aufschlussreiche Gespräch mit ihm führte.

„An deiner Stelle würde ich mir genau überlegen, mit wem ich gut Freund bin, das könnte unter Umständen sonst hässlich für dich werden, weil dich die Leute dann für noch bekloppter halten, als du eh bist. Syrah kann ich gerade so verschmerzen, die hat lediglich psychische Probleme, die weitgehend an mir liegen – ansonsten kann sie nett sein, wenn sie gerade die Lust dazu verspürt. Aber ihr Freund – herrje… Glaubst du, dass der lange fackelt, wenn du ihm dumm kommst? Keiner pfuscht ihm dazwischen. KEINER! Ich bin davon überzeugt, er würde sogar auf Syrah losgehen, wenn die nicht genau das macht, was er will.“

Ihre Einschätzungen waren tadellos, nicht umsonst sagte man, dass sie sich ins Herz der Menschen schlich und sich alles an Informationen holte, was sie bekommen konnte – dafür hasste Syrah sie wahrscheinlich noch viel mehr. Sie wusste alles, sie konnte alles – sie war perfekt – perfekter als sie selbst.

Zwischen den verhassten Blick mischten sich noch ganz andere Emotionen. Sie kannte Sharon, deswegen wusste sie genau, wie man sie am besten stichelte. Sie gab auch ihr Bestes dabei, nicht gerade nett rüberzukommen, um zu schauen, welche Show sie ihr diesmal bot – vielleicht dachte sie am Ende noch, dass sie nicht mal wusste, wer sie wirklich war.

„Ach, halt doch deinen Mund, du dummes Kind!“ So etwas sagte sie unwahrscheinlich gern zu jüngeren Leuten, dann tat sie immer so, als wenn sie alle dumm seien und nichts wüssten.

„Das ist jawohl mein Problem, mit wem ich mich anfreunde! Du bist ganz schön frech, wo du ja weißt, mit welchen Leuten ich mich einlasse, solltest du da nicht besser vor mir fliehen?“ Beide beherrschten dieses Stück der Täuschung perfekt, jeder, der es sah, würde ihnen glauben - manchmal ging es soweit, dass sie es beinahe selbst glaubten. „Was sagt dir, dass ich nicht trotzdem auf dich schieße? Du bist meine Feindin und mein Job lässt keine Schwächen zu, schon gar nicht Mitleid!“ Nun zeigte die Waffe auf ihre Brust und die Schauspielerin legte sich richtig ins Zeug, wirklich wahnsinnig zu wirken, als sie so auf sie zielte. „Ein geisteskranker Psychopath war hinter mir her, als ich jung war, daher kann ich solche Spinner nicht einfach gewähren lassen. Das ist auch der einzige Grund, warum ich mich eingemischt habe, dummes Ding. Komm ja nicht auf die Idee, dass ich dich mögen könnte – so ein Miststück, wie du, kann man nicht mögen.“

Ihre Show war nicht schlecht, aber da ging mehr, zum Beispiel hätte sie demonstrativ auf sie schießen können – ein Streifschuss musste doch mindestens drin sein, oder nicht? Alles, was sie tat, war reden. Aber ihre Ausrede war nahezu perfekt. Sie kannte den Kerl, der vor Jahren Sharon nachgestellt hatte – sie hatte es ja fein Yukiko auf die Nase gebunden, damit es alle wussten – sie arme, arme Frau, die von diesem Kerl belästigt wurde…

Sie wollte sie verscheuchten, das lag klar auf der Hand, und sie sollte sich um so ein Drecksstück nicht sorgen, am besten sie tat gar nichts, außer sich weit weg von ihr zu bewegen, sich nicht darum scheren, was aus ihr wurde, oder schon geworden war.

„Dein Job ist Schauspielerin, das Andere ist höchstens deine Nebenbeschäftigung“, sagte Shina kühl, denn so war es, da war sie sicher. Was sie wirklich interessierte, war ihre richtig Arbeit, das andere machte sie ab und zu mal, dann wenn man sie brauchte – ab und zu erledigte sie in den Reihen dann auch Persönliches, um sich an Menschen zu vergreifen, an die es sonst kein Herankommen gab. Sie ging sehr trickreich vor. Aber sie hatte auch Hilfe, zwar von nicht so netten Gestalten, aber wenigstens konnte man sagen, dass das sicherer war, als in der Außenwelt. „Was Teran angeht, ich bleibe bei meiner Meinung. Komm ihm nicht in die Quere, den juckt nicht, ob er dich umlegen muss, um sein Ziel zu erreichen, da kann Syrah ihn tausend Mal versuchen zu stoppen, er würde ja doch nicht auf sie hören. Ich sage dir das auch nur, weil ich dir was schuldig bin. Das ist hiermit dann auch gegessen. Du hast doch noch nie sinnlos, irgendwen erschossen, oder doch? Das wäre mal eine neue Sensationsgeschichte – die anderen Geschichten sind höchstens ein Lacher, das weißt du ganz genau. Und nun steck das Ding weg, die Show glaubt dir eh keiner. Nicht, dass das zur Gewohnheit wird. Teran hat nämlich Recht, Syrah wäre wenig begeistert, davon zu erfahren, was du da treibst. Sie denkt doch, dass du voll zu ihr hältst, vielleicht solltest du das auch. Sie vertraut in dich, noch mehr Enttäuschungen und sie dreht komplett durch.“

„Willst du sie bemitleiden?“ Es war schockierend – dieses Kind konnte das doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen.

„Nein, das war lediglich eine Schlussfolgerung. Du willst sie davon abhalten, noch mehr durchzudrehen, dann enttäusch sie gefälligst nicht, denn dann wird genau das passieren. Wo doch jeder ihr Feind ist, der wagt, mit mir befreundet zu sein.“

Es klang ja fast wie ein Befehl, das ärgerte die Blonde, aber sie war genauso wenig dumm, wie die Detektivin. Deswegen nahm sie die Waffe runter. „Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, muss ich vielleicht auf dich schießen, also halt dich besser von mir fern.“

Mit den Worten drehte sie ihr den Rücken zu, allein das war dumm, ihr zu vertrauen. Es gab einige, die würden sie jetzt von hinten anfallen – so lief das in den Reihen der Organisation, niemandem wurde etwas geschenkt.

„Vertrau nicht den falschen Leuten. Meine Mutter würde das nicht lustig finden, wenn dir etwas passiert. Noch weiß sie vielleicht nicht, was du da treibst, weil ich es ihr nicht auf die Nase binde. Aber wenn ich muss, werde ich genau das tun. Dann, wenn sie droht in Gefahr zu geraten, kann ich nicht mehr schweigen.“

Ja, sie schwieg und sie musste ihr das noch danken. Syrah verstand das wahrscheinlich nicht, sie hätte die Hellbraunhaarige an ihrer Stelle schon lang zum Schweigen gebracht – mit einem tödlichen Schuss.

„Keine Sorge, ich traue Teran nicht, keinen Zentimeter, aber er ist gut zu gebrauchen. Damit andere sich nicht allzu sehr die Hände schmutzig machen müssen.“ Wen Vermouth meinte, darüber konnte man nun wirklich Hypothesen aufstellen, aber Shina glaubte, dass es um die Person ging, die Teran vorhin erwähnt hatte.

„Hoffen wir, dass er mehr bei Verstand ist, als der gute Teran. Wer auch immer dieser Kerl ist. Du kannst auch hoffen, dass er dich nicht genauso ausnutzt, wie du das mit anderen Menschen tust. Also komm nicht auf die Idee, ihn zu sehr ins Herz zu schließen…“ Damit trennten sich ihre Wege. So einen Rat hatte sie schon einmal gehört, aber ausgerechnet die beiden Personen waren sich wenig ähnlich – in Sachen Nettigkeit vor allem. Shina zog die Show ab, Syrah tat das nicht – sie war wirklich so ein abgebrühtes, kaltes Miststück, das sie immer vorgab zu sein.

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„Was im Ernst, das ist dieser Kerl? Dein Freund ist der Kerl, dem Vermouth ihr Vertrauen schenkt? Das ist doch ein Witz, oder?“ Es klang wirklich, wie ein schlechter Scherz. „Der Kerl ist bei der Polizei. Weiß er denn, worauf er sich da einlässt?“

Zum Glück waren sie verlobt, sonst wäre sie ihm am Ende noch weggerannt. Aber Shina war ein gutmütiger Mensch, der einen anderen gutmütigen Menschen genauso verstehen würde. Warum er so handelte, wie er es nun einmal tat.

„Ja, das kann einen wirklich schockieren“, antwortete Ryochi zunächst, aber er würde auch seinen Freund in Schutz nehmen. „Aber es gibt Dinge auf dieser Welt, die sind auf den ersten Blick schockierend, aber auf der Zweiten ist es ganz anders. Dass sie ausgerechnet ihm vertraut, ist das Beste, was ihr einfallen kann, wirklich. Diese Frau ist nicht dumm, die weiß, wem sie trauen kann. Auch wenn das im Fall Sêiichî im ersten Moment etwas zwiespältig wirkt, weil er ein totaler Macho, ein eingebildeter Fatzke und total unberechenbar sein kann. Er betrügt seine Freundinnen nach Strich und Faden, aber eigentlich ist er ein guter Kerl.“

„Gute Kerle tun so etwas nicht.“ Es war eine kleinliche Meinung, aber diese teilten wohl viele Frauen.

„Na und? Dann ist er eben nur dem Anschein nach ein guter Kerl. Was ist Chris Vineyard schließlich? Würdest du so weit gehen, sie als gute Frau zu bezeichnen? Doch wohl kaum.“ Sie alle waren passend und wenn nicht, dann wurde es passend gemacht. Darüber hatte er sich wirklich schon so manchen Gedanken gemacht, warum Sêiichî sie so offensichtlich betrog – sie sollte es mitbekommen, so viel war klar. „Am Ende betrügt er sie nur so, damit sie nicht in die Falle der Liebe tritt und ihn zu sehr mag. Er kennt sie, er weiß, dass sie bereit ist viel zu riskieren, gerade für Menschen, die ihr am Herzen liegen. Mein Freund denkt immer, dass ich ihn nicht verstehe und nicht nachvollziehen kann, was er da treibt.“ Es war lächerlich, immerhin war er ja sein bester Freund – derjenige, der von sich behaupten konnte, dass er ihn am besten kannte.

„Das klingt ziemlich traurig, findest du nicht?“

„Die Geschichte ist ja auch traurig – von Anfang bis Ende.“

Shina versuchte nachzuvollziehen, was Ryochi damit meinte, weil er es auch noch mit einem ziemlich traurigen Unterton sagte, es war also nicht nur so eine Redensart. „Willst du mir nicht Genaueres darüber sagen, wenn es dich so belastet?“ fragte sie einfühlsam, doch dadurch entlockte sie ihm nur ein Lächeln, weil er mit keinem Wort gesagt hatte, dass es ihn belastete, es aber durchaus zutraf. Leider war da nicht nur eine Sache, die ihn beschäftigte, Sêiichî war nur ein Teil des großen Ganzen, das er in sich verborgen hielt.

„Es gab da so einen Irren, der es auf die Kinder von Polizisten abgesehen hatte. Soweit mir bekannt ist, hat er so manches Kind von Polizisten niedergeschossen – aus reinem Vergnügen. Uns hat er auch aufgelauert. Unser Bruder Yuichi war schon immer ein richtiger Beschützer, er ist so etwas wie Sêiichîs Vorbild, er eifert ihm regelrecht nach. Der war damals verschwunden, deswegen hat Sêiichî seine Rolle angenommen, mich zu beschützen.“

Diese Geschichte, die angeblich so traurig war, die konnte nicht gut ausgehen, warum wusste sie das jetzt schon?

Die Hellbraunhaarige rückte näher an ihn heran, dabei griff sie seine Hand, um ihn zu bestärken.

„Der Killer hat mehrfach auf Sêiichî geschossen, der sich vor mich begeben hatte und keinen an mich ranlassen wollte. Es ist ein Weltwunder, dass er für diese Sache nicht gestorben ist. Das ist schon wahnsinnig lange her, aber ich erinner mich noch ganz genau. Wie die Schüsse widerhallten… Wie Sêiichî zu Boden ging… Wie ich diesem Kerl hilflos ausgeliefert war. Die Verzweiflung dieses Moments, in dem ich schon lang mit dem Leben abgeschlossen hatte. Als nächster würde ich dran sein…“ Die Detektivin merkte, dass er tief in die Erinnerung eintauchte, anhand seiner Augen, die so voller Panik und Angst waren, geradezu als wolle er das Ganze noch einmal durchleben…

»Ich bin… noch nicht besiegt…« hallte es in Ryochis Kopf, als Sêiichî sich vom Boden noch einmal erhoben hatte, das Stück Eisen auf sie Beide gerichtet, eine Tod bringende Gefahr, denn er würde ein weiteres Mal schießen, diesmal tödlich, das wusste Ryochi damals ganz genau. Sie waren arme, kleine Jungs, die besser um ihr Leben rennen sollten, als den Helden zu spielen, so wie Sêiichî es getan hatte.

„Sêiichî schaffte es, sich noch einmal zu erheben, was schon ein Wunder war. Er hatte schon immer einen starken Willen, wenn es darum ging, andere zu beschützen, wo er sich selbst am wenigsten schaffte zu beschützen, immer nur andere. Es war wirklich eine heldenhafte Aktion. Doch dann hatte der Kerl den Abzug betätigt…“ Die Augen des jungen Mannes spiegelten ein Trauma wider, was er nie losgeworden war, deswegen drückte sie die Hand von ihm noch ein bisschen stärker, während er weiter erzählte. „Sekunden verstrichen, ein lauter Schrei – noch ein Schuss… Stille…“ Ryochis Stimme war leise geworden. „Ich kniff die Augen zu… die Hoffnung hatte ich schon längst verloren… Dann hörte ich die wütende Stimme des Mannes, der den Schuss verursacht hatte. Sie wendete sich an eine weitere Person, weshalb ich die Augen öffnete und sich mir ein komplett anderes Bild darbot.“ Er schluckte. „Im letzten Moment hatte sich eine unbekannte Person in die Sache eingemischt und den Kerl am Schuss gehindert, indem sie seinen Arm nach hinten gerissen hatte, und so der Schuss ins Leere ging. Er fauchte sie ziemlich auf Englisch an und ich schloss aus ihrer Haarfarbe, dass sie vielleicht Engländerin oder Amerikanerin war. Er fragte, »what do you think, you are doing here, you bitch! « Er war ziemlich vulgär in seiner Sprache… Kurz darauf folgte ein kurzer Streit zwischen den Beiden, indem sie ihn daran erinnerte, dass es nicht seine Aufgabe sei, im Alleingang zu handeln. So etwas in die Richtung. »It’s not your mission to shoot down any kids, you old bastard!« Irgendetwas dieser Art spie sie wütend aus und machte ihn damit nur noch zorniger, aber offensichtlich hatte sie keine Angst, was mich schon verwundert hat. »Nobody care about your problems with the police! I can’t stand you even a little bit, when you do such things…« Ich glaube, dem Kerl lag viel daran, dass sie ihn wenigstens ein kleines bisschen leiden kann…“

Ryo war wie weggetreten, er bekam kaum noch etwas mit, als sei er in seiner eigenen Welt, wo er das Erlebte noch einmal verarbeitete. „Damals wusste ich nicht, wie es ihr möglich war den Kerl zu besänftigen, so dass er nicht auch ihr etwas antat, um dann sein Werk zu vollenden. Sie hat sich auch nur noch einmal zu uns herumgedreht und einen besorgten Blick auf Sêiichî geworfen… Sie zerrte den Kerl von uns weg und ich konnte mich endlich um meinen verletzten Freund kümmern, der erneut zusammenbrach… Sein Kopf hat sich in ihre Richtung gedreht und er hat sie nicht aus direkter Nähe gesehen, weil die Beiden geflüchtet sind, dann wurde er ohnmächtig und ist erst im Krankenhaus wieder aufgewacht, nachdem die Ärzte eine halbe Nacht um sein Leben kämpften. Ich schwöre dir, Shina… Es ist vollkommen egal, wie sie es gemacht, wie sie ihn umgestimmt hat. Aber sie hat uns das Leben gerettet. Naja, eher ihm. Ist auch egal. Unsere Eltern ließen mich nicht zu Sêiichî, weil er so schwer verletzt war und sie wohl glaubten, ich habe ein Trauma. Ich hörte sie nur immer wieder sagen… »Er sagt es immer wieder… Er ist von einem Engel gerettet worden… Was das wohl zu bedeuten hat?« Schon verrückt, oder? So ganz unwahr ist es nicht. Sie war zumindest so blond wie ein Engel“, sagte Ryo, der sich nun langsam wieder fasste und sich an den Kopf griff, er musste sich beruhigen. Zu viel Aufregung war nie gut…

„Das ist Vermouth gewesen, stimmt’s?“ Es war ihr ein Leichtes, das zu erkennen.

„Na, zumindest glaubt Sêiichî das. Ich kann dir nicht sagen, ob es stimmt.“

Shina hatte ihre eigene Devise – sie schloss die Augen, denn es gab nur eine einzige Person auf dieser Welt, die Chardonnay in so einer Situation umstimmen könnte. Zumindest, indem sie ihm sagte, sie könne ihn so nicht leiden. Daher war sie sicher, dass sie es gewesen sein musste.

„Sagen wir so – der Polizistenhasser war mit Sicherheit ein Kerl namens Chardonnay. Der legt eine krankhafte Besessenheit gegenüber Vermouth an den Tag. Er würde alles tun, um auch nur ein kleines bisschen von ihr gemocht zu werden. Sie hat Einfluss auf ihn – wer also sonst soll es gewesen sein? Alle anderen Frauen sind ihm egal.“

Die Bezeichnung Engel war nicht ganz passend, um diese Frau zu beschreiben – das hieß jedoch nicht, dass Shina nicht verstehen konnte, dass der Junge, welcher Sêiichî damals gewesen war, es genau so empfunden hatte. Kinder waren unschuldiger und daher auch gnädiger mit ihren Mitmenschen…

Vermutlich würde Vermouth sagen no big deal. Weil es wirklich keine große Sache gewesen war – jedenfalls für sie – den Kerl davon abzubringen. Wer wusste schon, wozu sie am Ende noch gezwungen gewesen war, um ihn milde zu stimmen. Wenn sie ihn schon damit gelockt hatte, dass sie ihn vielleicht mögen könnte, wenn er sich änderte, dann war sie wohl kaum drum herum gekommen, etwas netter zu ihm zu sein. Alles machte Sinn – jetzt endlich einmal. Ihre Mutter hatte sowieso nie verstanden, wie Sharon einfallen konnte, diesen Kerl zu nah an sich heran zu lassen. Dabei wurde ihr nun wirklich ganz anders.

‚Der Kerl ist der gleiche, widerliche Typus Mann wie Teran. Wenn tatsächlich etwas zwischen ihnen gelaufen ist, dann kostete das Sharon Unmengen an Überwindung… Warum denke ich jetzt eigentlich darüber nach? Die Sache ist ekelhaft… Ich will darüber gar nicht nachdenken… Sie war doch immer so auf ihre Ehre bedacht. Wie geht das denn?’

Sie selbst könnte nie so weit gehen, sich Teran freiwillig auf irgendeine Weise zu nähern, da musste man schon wirklich hart im Nehmen sein, um so etwas durchzuziehen. Sie hoffte, dass Sêiichî sich nicht allzu große Gedanken darum gemacht hatte, oder machen konnte, in seinem Zustand.

Es war falsch, anzunehmen, dass es tatsächlich Vermouth gewesen war, sie tippte eher darauf, dass es Sharon gewesen sein musste, denn Vermouth war zwar Sharon Vineyard, aber Chardonnay konnte sie leider nicht ertragen – diese Art Frau war es, die er mit am meisten hasste. War schon eine Ironie des Schicksals, dass sie sich in so etwas verändert hatte, was er nicht leiden konnte. Das ersparte ihr höchstwahrscheinlich aber auch, dass er allzu oft bei ihr antanzte, um etwas zu wollen.

„Was ist denn auf einmal los mit dir, Shina?“ Anscheinend musste sie fürchterlich angewidert ausgesehen haben, so dass Ryo sie darauf ansprach, deswegen veränderte sie ihren Gesichtausdruck wie auf Knopfdruck zu einem Lächeln.

„Nichts, gar nichts! Man sollte keine große Sache daraus machen! War bestimmt ganz harmlos.“ Es war ganz schön verlogen gegenüber ihren wahren Gedanken.

„Das war ein total gefährlicher Killer… Der hätte alles und jeden niedergeschossen… Meine Eltern würden dir kräftig ins Gewissen reden, wenn sie das gehört hätten. Denen war egal, ob es ihr leicht gefallen ist, den Kerl abzuhalten. Sie hoffen eher, dass das kein Nachspiel hatte und sind dankbar, dass uns Beiden damals geholfen wurde. Mich würde nicht wundern, wenn sie nicht versucht hätten, diese Person ausfindig zu machen.“ Seine Eltern waren für Hilfe immer dankbar – grotesk, obwohl Sêiichî nicht ihr leibliches Kind war, hatte er schon damals genau diesen Charakterzug besessen, Menschen immer danken zu wollen, egal wie gering die Hilfe auch gewesen war, er würde mit Sicherheit nie vergessen, wenn eine Person ihm geholfen hatte…
 

~~~~~
 

Es war bereits ein paar Jahre her, dass es so kräftig geschneit hatte, dass die Straße unter einer weißen Decke versteckt war. Es war alles weiß und einfach nur wunderschön, so konnte Weihnachten an die Tür klopfen. Schnellen Schrittes rannte die 19-jährige nach Hause, schneller als sonst noch, als sie das schwarze Auto vor der Tür parken sah. Es war durchaus schon eine Weile her, dass es so in der Einfahrt gestanden hatte. Diese chaotische Person, die man alleine daran erkannte, dass sie unverwechselbar kreuz und quer das Auto parkte, halb auf der Straße, typisch. Es sah genauso aus wie Sêi-chans Zimmer früher, wo er immer sein Polizeizeug kreuz und quer verteilt hatte, so dass man schon beim Eintreten ins Zimmer vorsichtig sein musste, um nicht sofort auf die Schnauze zu fallen, sobald man einen Schritt machte. Sie fragte sich ja, wie er überhaupt klarkam – so alleine in seiner Wohnung in Osaka – da sah es bestimmt sehr wüst aus, so ohne Frau an seiner Seite. Die wechselte er nämlich je nach Laune.

Sie stürmte zur Tür herein – tja, schlechter Einfluss des mittleren Bruders, würde man wohl lachend sagen, zumal es sich um ihn handelte. Aber es war ihr Haus, sie konnte hier so stürmisch sein, wie sie wollte.

Offensichtlich war ihre Mutter gerade mit Sêiichî in der Küche, wo sie die Tür zu dieser aufriss und mit einem Aufschrei der Freude an den am Tisch sitzenden Mann herantrat, um ihn von hinten anzufallen. Ihre Arme schlangen sich wild um seinen Hals und sie fiel beinahe auf ihn drauf. „Nii-chan!“ Unverkennbar, dass es sich um ihren Bruder handelte und sie ihn auch so nannte. „Endlich besuchst du uns mal!“ Sie drückte ihren Kopf an ihren Bruder und erschreckte ihn zwar ein kleines bisschen, weil sie so wild war, aber sie konnte ihre Liebe zu ihm gerade wenig unterdrücken.

Ein wenig überrumpelt war er durch die Annäherung und wurde etwas nach vorn befördert, aber es schien ihm nichts auszumachen, dass seine kleine Schwester ihn so überfiel. Er mochte stürmische Frauen sowieso, gerade wenn sie sonst eher ruhig und besonnen waren – gerade solche wie Sharon Vineyard wollte er gern so richtig verrückt machen, dass sie nicht anders konnten, als ihn zu überfallen. Wieso ihm ausgerechnet diese eine einfiel, war sein persönliches Geheimnis. Aber viele hätten sie wohl als ruhig, besonnen, zurückhaltend und äußerst reserviert bezeichnet. So eine wollte er nur zu gern in den Wahnsinn treiben. Ja doch, er war verrückt, verrückt danach Frauen das letzte Stück Verstand zu rauben.

„Hitomi, du erwürgst ihn ja“, amüsierte sich ihre Mutter, wollte ihre Tochter aber keineswegs zur Ordnung rufen. „Tja, Sêi-chan, das kommt davon, wenn man sich nie meldet und man von seiner Familie andauernd vermisst wird“, legte sie nach und schenkte dem jungen Mann von 23 Jahren einen leicht gehässigen Blick. Ebenjenen Blick kannte er zur Genüge – die Frau in seinem Leben hatte ihm diesen schon viel zu oft gezeigt, weshalb er nun doch lächelte. „Ja, ich weiß, ich hab’s verdient.“ Er wehrte sich auch nie, wenn er etwas verdient hatte – so wie gerade gegen diese herzliche Umarmung, die ihm auch noch gefiel. Seine Mutter konnte auch ganz schön gemein und unbarmherzig sein – vielleicht stand er ja deswegen auf so verrückte Frauen, wer wusste das schon? Sie war ansonsten aber ein herzensguter Mensch, der das gar nicht so gemein meinte.

Durch die Ansage ihrer Mutter entließ die Kurzhaarige ihren älteren Bruder aus der kräftigen Umarmung. „Hab dich vermisst“, sagte sie, dabei wurde sie sentimental und sah ihn zwar mit einem glücklichen Lächeln an, aber schniefte auch einmal.

„Das habe ich auch“, erwiderte er und erhob sich von seinem Stuhl, so dass sie ein klein wenig zu ihm raufschaute. Sêiichî war jetzt kein kleiner Junge mehr, so wie damals, sondern ein großer, stattlicher Mann, der auch noch unverschämt gut aussah. Sie lächelte ihn an und drückte sich dann an ihn, wo sie glaubte Schutz und Geborgenheit zu finden, wie sonst nur bei ihrem anderen Bruder, Ryochi. Aber auch er war seltener hier als früher, weil er eine feste Freundin hatte, mit der er bereits zusammenlebte. Dieses Haus, was früher mit so vielen Kindern gefüllt war, fühlte sich im Gegenzug nun regelrecht leer an. Dabei litt sie wahrscheinlich genauso wie Ryochi darunter, als der Älteste von zuhause spurlos verschwunden war und zwei Jahre später auch er hier, der sie nur so selten mit seinem Besuch beehrte, dass man meinen könnte, er sei nicht mehr vorhanden. Aber keiner von ihnen vergaß die alten Zeiten und klammerte vehement an ihnen fest. Wenn sie sich dann sahen, passierte so etwas, wie jetzt. Sie lagen sich in den Armen und erinnerten sich wieder an früher, an die unbeschwerten Zeiten. Der junge Mann war nicht ihr richtiger Bruder – seine Eltern waren verschwunden, genauso wie ihr ältester Bruder damals. Sie waren einfach nicht mehr da und hatten ihren kleinen Sohn zurückgelassen, so dass ihre Eltern ihn wie ihr eigenes Kind zu sich aufgenommen hatten und ihn auch wirklich als ihren Sohn bezeichneten – sie also ihn auch als ihren Bruder akzeptiert hatte. Als einer der drei Jungs, die sie immer beschützt hatten und wohl auch noch immer beschützten.

„Du siehst richtig gut aus, Sêi-chan“, meinte sie ihm ein Kompliment machen zu müssen, weil er ja auch sein Bestes tat, um auch wirklich immer perfekt auszusehen.

„Das muss er auch“, sagte Akiko Akaja mit einem leicht fies angehauchten Unterton, aber ansonsten mit einem liebevollen Lächeln, was den Hintergrund ihrer Worte perfekt vertuschte.

Man sah Sêiichî sofort die Unruhe an und wenig später, als er sie „Mama!“ nannte, wusste man auch, dass ihre Andeutung ihm peinlich war.

„Muss er? Wieso das denn? Bei der Polizei wird seine Frisur sowieso andauernd ruiniert, wenn er irgendwelche Verbrecher jagt, da kommt er zudem auch noch ins Schwitzen und fängt an zu stinken!“ scherzte Hitomi frech und Sêiichî erwiderte ihren Spaß mit Halbmondaugen.

„Wirklich charmant! Du wirst auch immer frecher.“ Man sah aber sofort, wie wenig böse er ihr sein konnte, da er sie immer noch anlächelte und sie ihm leicht die Zunge raustreckte. Sie wusste, wie gern er sich im Spiegel anschaute, wie eitel und sogar eingebildet er manchmal war, deswegen musste jeder ihn immer aufziehen, sogar ihre Mutter.

„Oh und wie er das muss, Hito-chan!“ sagte ihre Mutter und zog damit erneut die Aufmerksamkeit auf sich. „Es gibt da nämlich so eine Frau…“

„Untersteh dich, Mutter!“ forderte der Schwarzhaarige und war ganz erschrocken, als sie dazu ansetzte, was Akiko aber nur noch mehr dazu hinriss, weiterzureden, gerade weil er so in Panik verfiel.

„Weißt du, diese Frau ist sehr anspruchsvoll und ist selbst auch immer wunderschön anzuschauen, also so richtig perfekt, verstehst du? Da muss sich Sêi-chan richtig rausputzen, um ihr zu gefallen, nicht wahr, Sêi-chan?“ Worauf das hinauslief, wusste der 23-jährige – dass man ihn erneut aufzog, diesmal mit der Tatsache, wie sehr er dieser Frau verfallen war.

„Wow, im ernst? Sêiichî muss sich allen ernstes wegen einer Frau so richtig ins Zeug legen? Das ist ja spannend!“ meinte Hitomi, die eher gewohnt war, dass die Mädchen ihrem gut aussehenden Bruder die Tür einrannten, weil sie so hinter ihm her waren, ihm deswegen die Frauen also zu Füßen lagen und er sich nie sonderlich anstrengen musste.

„Das muss dir arg zusetzen“, grinste Hitomi, „wenn eine Frau dir mal widerstehen kann, Sêi-chan.“

„Dein Bruder ist seit sechs Jahren schon wie der Teufel hinter ihr her, um sie für sich zu gewinnen. Das ist schon eine enorme Zeit, findest du nicht?“

„Stimmt doch gar nicht! Was erzählst du da? Ich renne doch keiner Frau sechs Jahre sinnlos nach!“

„Ach ja, stimmt. Ab und zu wirft sie dir ein paar Verlockungen hin, damit du nicht die Flinte ins Korn wirfst, stimmt’s?“ erkundigte sie sich mit einem raffinierten Ton in ihrer Stimme bei dem Mann, der augenblicklich schmollte und fügte dann noch grinsend hinzu: „Funktioniert bei dir anscheinend bestens, sie weiß offensichtlich genau, was sie tun muss.“ Es war einfach herrlich, vor allem der beleidigte Gesichtsausdruck. Wollte er sich etwa beschweren? Ihm gefiel dieses Catch me if you can Verhalten von der benannten Frau doch. Er wollte doch offensichtlich nicht die Frauen, die ihm sofort zu Füßen lagen, was sie aber auch nicht wunderte, weil er einfach äußerst beliebt bei den Frauen war – jedenfalls auf den ersten Blick, wenn sie ihn sahen, wollten sie ihn unbedingt, nur um dann festzustellen, dass die Verpackung viel schöner war als der Inhalt und alsbald schon die Flucht ergriffen. Diese eine machte aber wohl den Anschein, sich davon nicht beeindrucken oder gar abschrecken zu lassen, sonst wäre sie bei einem schwierigen Kerl, wie diesem schon längst aus seinem Leben verschwunden.

„Klingt nach einer interessanten Frau. Die will ich unbedingt mal kennenlernen, wenn sie wagt so mit dir umzuspringen“, grinste Hitomi hinter vorgehaltener Hand, wobei der Schalk im Nacken in ihren Augen sichtbar wurde. Gerade, weil Sêiichî so schmollte, musste sie ihn ein bisschen mit der Schulter anstupsen. „Das bist du nicht gewohnt, stimmt’s? Du armer Kerl.“ Es war ironisch und anschließend begannen beide Frauen im Gleichklang zu lachen. Es war ein harmloser Spaß auf seine Kosten, aber sie wollten ihn damit nicht so sehr ärgern, bis er sich zurückzog.

„Eine gute Frau fällt einem nicht in den Schoß, Sêi-chan“, sagte seine Mutter, womit sie ihn ermutigen wollte, am Ball zu bleiben. „Das siehst du doch auch ein, oder?“

Es war schon seltsam, seine Mutter so reden zu hören, als wüsste sie ganz genau, von wem die Rede war, weshalb er nun sehr schweigsam wurde und leicht nachdenklich wirkte, anstatt weiter zu schmollen. Er wusste selbst, dass ihre Taten eine große Wirkung bei ihm hatten. Obwohl er so geärgert wurde, war sein Gesicht samtig weich und wirkte nicht wütend, oder derartiges, wie das der meisten Machos, die einen Egoknacks erfahren hatten, weil eine Frau mal nicht so wollte, wie sie es gerne hätten. Sêiichî war schwierig, er suchte nach einer ganz bestimmten Frau, versuchte das aber durch seine Techtelmechtel mit anderen zu verbergen, weil er noch nicht ganz so zu ihr stehen konnte, wie er es sich erträumt hatte. Normalerweise war ihr Sohn nicht so um eine Antwort verlegen und schwieg so viel, wie gerade, deswegen beobachtete sie ihn – bestimmt machte er sich jetzt furchtbar viele Gedanken, wie schlimm diese Krankheit war. Ob man sie heilen konnte – und und und.

Hitomi fand wohl auch, dass er all das verdient hatte, was man mit ihm anstellte, dabei wusste sie nur bedingt, was er die letzten Jahre erlebt hatte. Es war eine spezielle Situation, mit ganz speziellen Menschen, denen er vieles verdankte.

„Ach, Frauen, die einem in den Schoß fallen, fallen auch ganz gern anderen Kerlen in den Schoß“, verriet Sêiichî jetzt mit einem leichten Lächeln. „So eine Frau kann ich nicht brauchen.“ Ganz schön irre ihr Bruder, wo er doch selbst manchmal den Anschein machte, leicht zu haben zu sein, aber der erste Blick täuschte – er verlor sein Herz nämlich nicht an die ganzen Frauengeschichten, die man ihm nachsagte – sie fragte sich wirklich, ob er jemals so verliebt gewesen war, dass er geweint hatte. Ja doch, vielleicht damals, in seine erste Freundin, die mir nichts dir nichts abgehauen war, ohne ein Aufwiedersehen. Davon war er gewiss etwas geschädigt. Sie war ein richtig hübsches Ding gewesen, so etwas, womit man als Kerl dann bei den Kumpels prahlte. Aber genau solche Mädchen waren es, die anderen Jungs dann das Herz brachen, weil sie sie mit dem erstbesten ebenso gut aussehenden Typen, wie man selbst, betrogen. Etwas sehr ähnliches war geschehen, das wusste sie. Obwohl Sêiichî gute Miene zum bösen Spiel gemacht hatte, indem er gesagt hatte, es sei ihm voll egal, was sie machte, wusste sie, dass das nur Show gewesen war.

Ihr Bruder war furchtbar drauf gewesen, nach dieser Enttäuschung. Sie erinnerte sich, dass er überall den Helden gespielt hatte und dabei mehr als einmal zu Schaden gekommen war. Wie an dem einen verhängnisvollen Tag, an dem man sie angerufen hatte. Sie war ans Telefon gegangen, wo man nicht mit ihr sprechen wollte, sondern mit den Eltern. Es war dieser schreckliche Tag gewesen, an den sie sich heute nur noch ungern erinnerte. Sêiichî war in einem seiner komischen Anfälle schwer verletzt worden und man wusste zunächst nicht, ob er die Nacht überleben würde…

Sie hoffte, dass er nie mehr so verletzt werden würde, um derartig schlimme Dinge zu machen, dass er sich wissentlich in Gefahr begab, weil er ja nichts wert war. Oder zumindest nicht so wichtig, wie Yuichi, Ryochi oder sie. Er hatte sich minderwertig gefühlt, dabei hatten sie ihn alle furchtbar gern, so etwas wollte sie nie mehr erleben.

Man hatte damals doch an Sêiichîs Verstand gezweifelt, weil er während seiner Genesungsphase immer wieder unter Halluznationen litt, die jedoch keine gewesen waren. Nein, diese Person, sie hatte wirklich existiert, wie sie von ihrem Bruder später erfahren hatte. Auch er hatte sie gesehen – aber anders als Sêiichî war er dagegen gefeit, mehr in ihr zu sehen, als irgendeine Person, die gerade da gewesen war, um einzulenken. So ganz verstanden hatte sie es nicht, aber damals hatte sie gedacht, dass sie damit Sêiichîs Herz gerettet hatte, der noch total in seiner Trauer um die Freundin gesteckt hatte. Danach hatte er diese Person so schnell vergessen, wie der Wind im Oktober, der die Blätter von den Bäumen fegte.

„Sag mal, Sêi-chan“, meinte Hitomi jetzt und riss Sêiichî aus seinen Gedanken. „Ist sie blond?“

„Was?!“ entfuhr ihm, zusammen mit einem Lachen. „Wie kommst du denn darauf, dass sie blond ist?“

Akiko lächelte und ließ sich nichts anmerken, was ihre Tochter meinen könnte. „Weil du auf Blondinen stehst, vielleicht?“

„Ja schon, ein bisschen – also zumindest nicht auf Japanerinnen.“

Von denen war er geheilt, die passten nicht zu ihm, er war ja selbst nicht einmal vollständig Japaner, er war zu einem Viertel Amerikaner.

„Also, ist sie nun blond, oder nicht?“ Hitomi würde es wohl nicht fragen, wenn sie nicht davon ausging. Sie sahen ihn gebannt an, geradezu wie eine Attraktion, wahrscheinlich war das der Grund, weshalb er so verstummte und sogar ein bisschen mehr Farbe im Gesicht bekam. Die 19-jährige kicherte bei seinem Anblick, weil sie schon als 14-jährige nicht davor verschont war, zu erfahren, wie ihr Bruder tickte. Schüchternheit war nicht gerade sein Markenzeichen, damals jedenfalls nicht. Mit knapp 18 Jahren hatte Sêiichî erst so richtig angefangen, die Mädchen zu verschlingen, so dass auch der ein oder andere Machospruch gefallen war.

„Man, bist du neugierig, Hito-chan“, erwiderte Sêiichî mit Halbmondblick und wollte sich ja eigentlich nicht so ausquetschen lassen. „Du wirst wohl nie Ruhe geben, oder? Es ist eine wunderschöne Blondine mit ordentlich Stil, was denn sonst? Meinst du, dass ich halbe Sachen mache, oder was?“ entgegnete der Schwarzhaarige mit einem kecken Grinsen, weil er wohl gerade in alte Muster fiel und angeben wollte. Er wollte gerade so richtig dick auftragen, holte noch einmal extra Luft und dann fing er erst richtig an. „Meine Freundin ist die schönste Frau weit und breit, alle Männer sind total verrückt nach ihr, aber sie hat leider schon mich.“

„Wir haben auch gar nichts Anderes von dir erwartet, Sêi-chan, wirklich nicht“, amüsierte sich Akiko über ihren Sohn, auch wenn es bei weitem nicht ausreichte, um diese Frau zu beschreiben, die es schließlich schon solange mit ihm aushielt. „Da musst du aber aufpassen, wenn alle Männer verrückt nach ihr sind, bist du nicht der Einzige. Du musst aus der Menge schon herausstechen, wenn du sie für dich alleine willst. Sie wird sich den besten Mann von allen aussuchen, dann streng dich mal an, Sêi-chan. Wir wünschen dir viel Glück, du wirst es brauchen.“ Seine Mutter wollte ihn mal ein wenig schocken.

Sêiichî war auch selbst schuld, wenn er sie so hoch lobte und mit ihr angab, da brauchte er sich nicht wundern, wenn man ihm so etwas sagte.

Verdattert schaute er drein, weil seine Mutter ihm klarmachte, dass sie die Wahl hatte, gerade weil sie so attraktiv war, so wunderschön, wie er sie beschrieb, dass die Männer den Verstand verloren. In Wirklichkeit war er der Einzige, der ihr dermaßen hinterher rannte, die anderen flüchteten vor ihr, weil ihre Schönheit schon eine Gefahr barg. Aber auch sie rannte vor Männern weg, aus den verschiedensten Gründen – meistens jedoch eher, weil sie befürchtete, man würde sie noch ihretwegen umbringen. Das Schicksal spielte ihm da schon ein bisschen in die Hände – er wusste selbst, dass er mehr Glück als Verstand hatte. Ihnen war klar, dass ihre besonderen Umstände eigentlich der Grund waren, wieso sie sich gefunden hatten. Ohne all diese Dinge hätte er wohl alt ausgesehen, bei so vielen Verehrern. Wenn sie nicht befürchten müsste, dass man ihre Männer der Reihe nach umbrachte, wäre sie wohl eher nicht bei so einem Spinner geblieben. Doch all das, was sie zusammen durchgestanden hatten, konnte er so auch nicht auspacken.

„Anscheinend unterschätzt ihr mich, ich weiß schon, wie man so etwas macht, keine Sorge.“ Sêiichî hatte sehr viel mehr Selbstvertrauen, als wirklich der Fall war, da war seine Freundin viel schlimmer. Sie hielt sich in der Tat für atemberaubend und wunderschön, aber was das anging, stand er ihr keineswegs in etwas nach. Auch er hielt sich für unwiderstehlich. Kein Wunder, dass sie sich immer mehr als freute, wenn er mal bei einer Frau nicht so gut ankam und ihn gerne mit ihrer Gleichgültigkeit quälte, die er sowieso nicht nachvollziehen konnte.

„Du kannst ein fürchterlicher Angeber sein, Sêi-chan, ich kenne keinen, der immer so angeben muss, wie du. Ich hoffe doch mal, dass die Frau nur halbwegs so toll ist, wie du uns hier versprichst.“ Auf der anderen Seite musste es wohl so sein, sonst wäre Sêiichî gar nicht so hinter ihr her, oder? Schon gar nicht so lange Zeit. Es musste sich einfach um eine tolle Frau handeln, wenn sie ihn dermaßen fesseln konnte, um für ihn so eine große Rolle zu spielen. „Ich bin echt gespannt, was uns da am Ende wirklich erwartet.“

Ein kleiner Schweißtropfen lief dem jungen Mann über die Wange, als Hitomi das so sagte.

„Du würdest es nicht glauben, wenn er dir sagt, wer das ist“, meinte Akiko mit einem Augenzwinkern und Sêiichî fragte sich wirklich, ob sie etwas ahnte, aber woher denn?

„Bestimmt übertreibt er bloß und alles ist nur heiße Luft, wie immer“, meinte Hitomi und begann zu lachen, sie musste ihren Bruder einfach verscheißern, immerhin war er ein riesengroßer Spinner, auch wenn er noch so cool tat, sie konnte sich gut vorstellen, dass eine solche Frau ihm wohl einen Satz heiße Ohren verpassen würde, wenn er sich wie gewohnt verhielt. „Wieso sollst auch ausgerechnet du an eine so tolle Frau rankommen? Du springst doch von einer zur nächsten. Nie hast du wirklich eine Freundin, wenn dann hast du mindestens zwei oder mehr. Eine total coole und tolle Frau würde dir höchstens die kalte Schulter zeigen. Die geben sich doch nicht mit Spinnern ab. Also.“

„Es sei denn, sie spinnen genauso. Das willst du wohl sagen, was?“ Die Halbmondaugen, die er dabei hatte, sagten alles. Dieses freche Stück glaubte wohl tatsächlich nicht, dass seine Freundin auch nur halb so toll war, wie er ihnen Glauben machen wollte.

„Also normal kann sie nicht sein, das kannst du ja kaum leugnen, oder?“ fragte die Rotblonde ihren Sohn mit einem Lächeln.

„Sie ist keine normale Frau, da gebe ich dir recht. Sie ist eine besondere Frau. Normale Frauen finde ich ja auch stinklangweilig.“

„So so, eine besondere Frau, das glaube ich dir auf’s Wort. Sie muss starke Nerven haben, wenn sie es mit dir aushält, mein Lieber. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit, nicht wahr? Du hast schon als kleiner Junge dein Herz verschlossen und tust dir schwer, es für jemanden zu öffnen. Da braucht man schon einen starken Willen, um so etwas zu erdulden und auszuhalten.“

Nun sah der Schwarzhaarige auf und wirkte verwundert. Jedenfalls klang das schon netter – aber auf der anderen Seite auch ein wenig grausam, als wäre er ein total furchtbarer Mann. Trotzdem musste er sagen, dass seine Mutter die Frau an seiner Seite schon ziemlich gut einschätzte. Es kam ein leicht trauriges Lächeln in seinem Gesicht auf. „Was redest du da denn? Du hältst mich ja für wirklich schlimm. Wenn es eine Frau verdient, kann ich auch mal richtig nett sein.“

Was seine Mutter da wirklich dachte, war ihm nicht ganz klar, aber sie hielt wohl wirklich viel von ihr. „Ich frage mich eher, ob du es verdienst, dass man richtig nett zu dir ist, als Frau.“ Damit schockierte sie ihn erstrecht und ließ ihn schmollen.

„Also, wenn du so redest, Mama, soll das heißen, dass die Beiden tatsächlich zusammen sind? Also Freund und Freundin etwa? So richtig? Das ist doch zuviel für Sêiichî, oder etwa nicht?“ Der Blick der rotblonden Tochter lag auf ihrem Bruder, dem man eben nicht zutraute, eine feste Freundin zu haben. Er war mehr so der Typ für Affären.

„Was fragst du mich, das musst du ihn fragen, wie er zu ihr steht.“

Der schwarze Peter wurde weggeschoben und Hitomi sah Sêiichî fragend an. „Hast du echt eine Beziehung? Das würde mich fast erschrecken.“ Sie hatte ihm das ziemlich schonungslos an den Kopf geknallt. „Du sagtest mal, so etwas ist nichts für dich. Du willst keine Freundin. Wirst du deinem Muster untreu und machst für diese Eine also eine Ausnahme?“ das Erstaunte im Gesicht seiner Schwester konnte ihn schon kränken, aber leider stimmte es. Er hatte vor einigen Jahren gesagt, dass er Beziehungen furchtbar fand und nie eine eingehen würde, weil man sich der Person dann verpflichtete, das fand er absolut ekelhaft. Sie bescherte ihm einen Schweißausbruch, weil er jetzt wohl oder übel damit herausrücken musste, wie er zu dieser einen Frau stand.

„Sagen wir so, Hito-chan. Wenn diese eine Frau mir ihre Liebe gesteht, dann würde ich allen anderen Frauengeschichten sofort den Rücken kehren, aber dem ist nicht so. Sie ist nicht unendlich in mich verliebt, oder so etwas. Die kriege ich ja nicht einmal eifersüchtig. Dafür ist sie eine viel zu große Nummer.“ Typisch Sêiichî, für ihn musste eine Frau gleich unerreichbar sein, damit er sich für sie begeistern konnte.

„So, eine große Nummer? So dass du nicht einmal ihren Namen sagen kannst? Also Nii-chan, was machst du nur immer für Sachen?“ Hitomis Gedankengänge fuhren wahre Achterbahn, sie versuchte wirklich, sich vorzustellen, was ihr Bruder mit so etwas meinte. Was für eine elegante, krasse Lady war das denn bitte, dass es kein Herankommen an sie gab? So klang es beinahe.

„Lass ihn reden! Du weißt doch, dass er immer übertreibt, sonst wäre es nicht Sêiichî.“

„Du bist doch nicht in so eine Frau verliebt, die viel älter als du ist und noch dazu bereits verheiratet? Mach dich doch nicht immer so unglücklich, Sêi-chan.“ Das sah total nach ihrem Bruder aus, sich genau so eine Frau herauszupicken, die er einfach nicht haben konnte.

„Erzähl deiner Schwester doch nicht immer so einen Blödsinn. Wir sind nicht blöd. Auch wenn du noch so wild tust und mit allen flirtest, die Eine liebst du trotzdem und würdest am Ende alles für sie tun, ist es nicht so? Und sie weiß es ganz genau, da gehe ich jede Wette ein.“

Überrascht sah er seine Mutter an und lächelte dann. „Wer übertreibt denn jetzt bitte? Aber es stimmt, sie ist mir wichtiger, als all die anderen. Für sie würde ich jede andere links liegen lassen.“

„Na, dann hoffen wir mal, dass du ihr das auch mal so gesagt hast.“

So wirklich erinnern konnte sich der junge Mann nicht, ob er in der Tat schon einmal so etwas gesagt hatte, aber sie wusste, dass er immer auf sie fliegen würde – wo auch immer er sich gerade wieder herumtrieb – zu ihr kehrte er immer wieder zurück. Da war in seinem Fall schon ein ganz großes Liebesgeständnis, das man nicht einmal aussprechen musste.

„So etwas sage ich doch keiner Frau. Bist du verrückt? Eine schlaue Frau weiß das auch so.“

Akiko schmunzelte ihn an, weil er in dem Punkt wohl echt noch nicht erwachsen war. „Meinst du, ja? Dann gebe ich dir jetzt mal eine Lektion für’s Leben. Auch, wenn du deine Gefühle hinter dem Berg hältst und sie das weiß, jede Frau will am Ende doch, dass der Mann den Mund aufkriegt. Du bist doch sonst so vorlaut, aber ausgerechnet in solch einer Sache bist du derartig grausam? Weißt du denn überhaupt, was es für eine Frau bedeutet, wenn sie immerzu befürchten muss, dass der Mann ihr doch wieder zu einer anderen wegrennt? Ich hoffe doch mal, dass du ihr so etwas nicht zumutest, wenn du sie so toll findest, musst du es ihr zeigen und aufhören davor wegzulaufen. Ich weiß, dass du Angst davor hast, aber Frauen mögen keine Feiglinge. Merk dir das mal.“

Sêiichî war kein Feigling, dann wäre er nicht bei der Polizei, aber ein Drückeberger war er, gerade in Gefühlsdingen versuchte er zu vermeiden, was er vermeiden konnte.

„Sie ist nicht so gierig, wie die anderen Frauen, die immer alles auf einmal wollen. Zum Beispiel geht sie mir nicht mit so etwas auf die Nerven, immer wieder zu erwarten, von mir zu hören, dass ich sie liebe. Ihr reicht, wenn sie spüren kann, dass ich jeder Zeit alles für sie tun würde. Sie verlangt nicht all diese Dinge von mir, so wie die Anderen. Kein »wann fragt er mich denn endlich mal?« und auch kein »Er hat nach einer anderen Frau geschaut, der Mistkerl!«. Jeder von uns genießt einen gewissen Freiraum und weiß trotzdem vom Anderen, dass er wieder dahin zurückkehrt, wohin er gehört. Ich weiß, wohin ich gehöre, das würde ich nie vergessen.“

Was war denn das für ein Spruch? Er wusste, wohin er gehörte? Aber sein Blick hatte etwas beharrliches, als er das seiner Mutter sagte.

„Wahrscheinlich betrügen die sich gegenseitig – klingt jedenfalls danach“, meinte Hitomi bekümmert. „Da kann er es auch gleich lassen, mit ihr eine Beziehung zu führen.“

Irrtum – er konnte es eben nicht lassen – konnte nicht von ihr lassen, sich von ihr fernhalten und einfach zu einer anderen Frau gehen, denn niemand konnte sie ersetzen. Es gab keinen Ort, an dem er sich wohler fühlte, als bei ihr, an ihrer Seite. Das, was er da Jahre lang getrieben hatte, das funktionierte nicht einmal ansatzweise so gut, wie er geglaubt hatte. Hier und da mal zu einer anderen Frau flüchten, um den Kopf freizukriegen. Das ging nicht. Sogar in den Armen einer anderen würde er doch damit enden, an diese eine zu denken. Warum versuchte er es überhaupt, wo es ja doch zwecklos war?

Sêiichî redete viel, und vor allem Blödsinn. Man durfte – um Himmels Willen – nicht alles glauben, was der Junge sagte. Dass er sie als so besonders bezeichnete, war jedoch aufschlussreich genug, vor allem wusste man dadurch, dass er wahnsinnig in sie verliebt war zum Beispiel. „Du liebst sie, oder? Und du willst doch offensichtlich auch von ihr geliebt werden. Auch wenn du es noch so sehr versteckst, ich weiß, dass es so ist. Weil das eben so ist, wenn man jemanden liebt, dann will man nicht auf der Strecke bleiben, dann will man, dass der Andere die Gefühle erwidert, ansonsten hat man Liebeskummer. Aber, wenn du von ihr redest, wirkst du nicht so, als hättest du solchen.“ Diese Frau wusste, was zu tun war, damit er glücklich war, obwohl sie ihn bestimmt ab und zu, auch klar machen musste, wenn es reichte, weil er eben gerne über die Strenge schlug. Offensichtlich übertrieb sie dabei jedoch nicht so sehr, dass er vor ihr türmte, wie das bei anderen Frauen der Fall sein würde. Sie fand das richtige Maß und das war einfach faszinierend. Trotzdem, auch die stärkste Frau wollte nicht immer von dem Mann, den sie liebte, betrogen werden, egal warum der Andere das tat. Sie hoffte, dass ihr Sohn rechtzeitig die Kurve bekam, bevor er sie am Ende doch verlor – diejenige, die sie wohl als seine große Liebe bezeichnen würde, denn das war offensichtlich. Er würde es ein Leben lang bereuen, das wusste sie, wenn sie aus seinem Leben verschwand. Sêiichî war aber nicht dämlich, verrückt vielleicht ganz schön, aber wenn sie ihm drohte, zu entwischen, würde er handeln, da war sie sich vollkommen sicher.

Es war lange her, dass jemand so ehrlich zu ihm gewesen war und wagte, ihn direkt darauf anzusprechen, ob er sie liebte. Und er würde unverhofft genauso ehrlich antworten, wie seine Mutter es angesprochen hatte. Immerhin war das seine Familie, vor ihnen musste er sich nicht verstecken, obwohl er bei seinem ältesten Bruder wohl mit am meisten die Show abzog. Das hier war seine Mutter, sie liebte ihn, ließ nichts auf ihn kommen und würde immer zu ihm stehen und sich um ihn sorgen. Er wollte sie nicht anlügen…

Dabei spürte er Hitomis Blick auf sich, wie sie ihn begutachtete, vor allem sein Gesicht stand unter strenger Beobachtung, so dass ihnen nichts entging.

„Ich wollte nie mehr eine Beziehung eingehen“, sagte er, „weil man sich aus Affären schneller zurückziehen kann. Trotzdem habe ich sie zu meiner Freundin erklärt. Bisher hatte ich für alle meine Freundinnen Gefühle. Mal mehr, mal weniger davon. Ich wusste schon damals, wo das endet und trotzdem bin ich dieses Risiko eingegangen“, seufzte der junge Mann, der sich jetzt durch die Haare fuhr und ein kleines bisschen schon verzweifelt wirkte.

„Tja, mich hat’s erwischt. So richtig heftig, volle Breitseite mit einem Kracher ist sie in mein Leben getreten. Verfolgt mich in meinen Träumen, wenn wir uns nicht sehen. Lässt mich verzweifeln, wenn sie nicht da ist. Ich renne immer zu ihr, weil ich gar nicht mehr ohne sie sein will. Sogar ein Idiot, wie ich, versteht, was das bedeutet…“

Garantiert waren sie die Einzigen, die das je so von Sêiichî gehört hatten. Hitomi sah ihren Bruder an, der es erzählte wie die größte Sensation auf der ganzen Welt, dabei war es manchmal eben so. Manchmal stürmte die Liebe einem förmlich die Bude und man wusste nicht einmal, wieso. Aber sie hatte auch schon die Erfahrung machen müssen, dass sie genauso schnell, wie sie kam, wieder ging. Bei Sêiichî war das wohl kaum der Fall, weil sie hier von JAHREN sprachen. Es war einfach krass. Von ihm hätte sie am wenigsten erwartet, dass er mit so etwas zurückkam. Bei ihrem ältesten Bruder war das etwas andres. Er war charmant und war so der typische Mann, den man sich als Frau anlachte. Der einen beschützte und wenn er einen erhörte, war es für immer. Jedenfalls, wenn man ihn nicht enttäuschte. Sêiichî rannte lieber weg – der war, was das angeht, so glitschig wie ein Fisch. Ausgerechnet den hatte eine Frau voll im Griff – da sollte man der Frau wohl gratulieren.

Dass er nie Liebeskummer hatte, war nicht richtig, den hatte er öfter, als seine Mutter glaubte, aber das würde er nun nicht zugeben, wie viele Schläge, sie ihm schon verpasst hatte, die ihn richtig verzweifelt sein ließen. Die ihm Angst davor machten, sie könnte ihm davon laufen. Aber er brauchte ab und zu diese krassen Sachen, die ihn ängstigen, damit er wieder zur Vernunft kam, so sehr er dann litt. Das war sowieso nie von allzu langer Dauer, da verzieh sie ihm. Er war auch jedes Mal aufs Neue dankbar, wenn sie ihm vergab und wieder rein ließ. Aber ihre manchmal heftigen Streits endeten doch sehr oft mit einem heftigen Knaller. Das berühmte Feuerwerk danach, das fand er am schönsten, das machte all die Streits nur halb so schlimm.

„Kann es eigentlich sein, dass einer der Plappermäuler dir gesagt hat, um wen es sich handelt? So ganz nebenbei als kleine Banalität vielleicht, Mutter?“ Das wäre schon eine Frechheit von denen, die Bombe so nebenbei platzen zu lassen, aber er traute sowohl Ryochi, als auch Yuichi zu, die Existenz seiner Freundin klein zu machen, als sei es nun nicht verwunderlich. Dabei wünschte sich Sêiichî eher, sie wie einen Knaller zu präsentieren, weil sie das nicht anders verdiente, fand er. Für ihn war es wahrscheinlich der größte Knaller, so eingebildet er manchmal war, er glaubte ja selber nicht, dass sie ihn wirklich zurücklieben würde, was eher einer Selbstfolter glich, als sonst was. Mittlerweile war er da nicht mehr so sicher, inwiefern er tatsächlich noch Elan aufbringen musste, um dieses augenwillige Frauenzimmer davon zu überzeugen, dass er der beste Kerl war. Alles zu seiner Zeit, er rechnete ja schon beinahe nicht mehr, dass sie ihn zurücklieben würde, so kühl, wie sie manchmal war – aber er fand das nicht schlimm. Diesen ewigen Kampf genoss er fast schon, obwohl sie ihm kaum einen Triumph gönnte und ihn so oft anecken ließ, dass er wirklich verzweifelt war. Es waren wirklich nur kleine Häppchen, die sie ihm schenkte, über die er sich dann immer über alle Maßen freute. Jede Kleinigkeit in Richtung Zuneigung ließ ihn ja auch gleich abheben, da musste sie diese natürlich so gering halten, wie möglich, damit er nicht total überschnappte.

„Ach, wo denkst du hin? Es gibt nur diverse Augenzeugen, die uns berichten.“ Damit kriegte man Sêiichî am meisten, deswegen sagte Akiko es. „Du stehst unter strengster Überwachung, wusstest du das nicht?“ Sie sah das blanke Entsetzen in seinem Gesicht aufkeimen. Es war nur halb ein Scherz, denn es gab wirklich Leute, die seiner Familie alles mögliche erzählten und sie immerzu die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. „Wir wissen ganz genau, mit welchen Frauen du so verkehrst, eine von ihnen ist deine Freundin. Wir machen uns da schon Gedanken, wer von all denen es ist.“

Ach du scheiße, das klang, als wäre er sonst wie übel drauf. „Haben die Namen?“ Er wusste selbst nicht einmal, mit wem er so alles ausgegangen war. Bis ins Hotelzimmer waren sie ihm wohl eher nicht gefolgt, aber allein die Vorstellung, dass sie davon wussten, mit wem er so alles gedatet hatte… Da waren schon komische Frauen dabei gewesen.

„Meistens sind sie älter, um die 30, sagt man“, erwiderte Akiko und tat so, als würde sie tatsächlich darüber nachdenken, wer das so alles war. „Keiko Aisawa, Tamiko Kagawa, Yakko Kajiwara – das sind alles die gleiche Art Frauen. Meistens mit viel Geld.“ Es wurde kriminell, fand Sêiichî und am liebsten wollte der junge Mann, dass sie nun besser schwieg. „Polizistinnen, Models, Schauspielerinnen – du hast schon alles bedient.“

Fast war der Schwarzhaarige entsetzt, dass ihr Name nicht vorkam – hatte er sie doch ganz gut zwischen all denen versteckt?

„Bestimmt hat er sich ein Model mit Traummaßen angelacht“, meinte Hitomi jetzt, aber mehr, um ihren Bruder etwas zu ärgern. „Wenn er schon sagt, sie sei so perfekt und wunderschön, dann wird es wohl so sein.“

„Schade, wo er so groß rumposaunt, hätte eigentlich eher damit gerechnet, dass sie aus der Rolle fällt.“ Es war absolut gemein und er wollte schon traurig schauen, da grinste Akiko und strich ihm einmal über den Kopf. „Vielleicht ist sie auch eine Sängerin, so ein süßes Pop-Sternchen, das würde auch zu dir passen, nicht?“

Jetzt reichte es aber, nun war er gekränkt und beleidigt, deswegen drehte er den Kopf zur Seite.

„Pff… Süße Popsternchen, wollt ihr mich beleidigen?“

„Ach, wieso? War da nicht so ein zuckersüßes, blondes Mädchen? Wie hieß sie noch? Katori Shirakawa…“

Daran wollte er sich nicht erinnern, auch wenn sie blond war, Sêiichî hatte mit ihr einen ziemlich großen Fehler gemacht – aber er wusste nicht, dass sie die Freundin seines Bruders gewesen war.

„Die ist aber Japanerin“, meinte Sêiichî leicht beleidigt und Akiko wirkte daraufhin ein bisschen wie ein kleines Mädchen, als sie lächelte. „Stimmt ja, du bist umgestiegen auf Ausländerinnen. Ich kann mich leider nicht mehr erinnern… Da war eine amerikanische Schauspielerin, mir der man dich gesehen haben soll, vor einigen Jahren in Osaka. Ihr Name war irgendetwas, ach ich weiß nicht mehr. Ist auch egal.“

„Eine amerikanische Schauspielerin?“ fragte Hitomi blinzelnd und überlegte. „Hei-chan war mal Fan von so einer. Ich glaube, dass die Sêi-chan auch gefallen könnte. Bei einem Besuch bei Seijis Eltern sprachen sie von ihr, dass sie vorübergehend irgendeiner Beschäftigung in Osaka nachgegangen ist. Die war die Tochter von einer total bekannten, berühmten Schauspielerin, in deren Schatten sie ihre Karriere aufgebaut hat.“

Sêiichî holte einmal tief Luft, denn die beiden schienen ihr Gespräch ohne ihn fortzuführen und er hatte geradezu das Gefühl, sie hatten vergessen, dass er auch da war.

‚Ganz schön dreist, sich einfach nicht an sie zu erinnern… Man kann die doch kaum vergessen, oder etwa nicht? Bin ich echt der Einzige, der das so sieht?’

„Stimmt! Da war etwas… Sharon Vineyards Tochter Chris.“

Sêiichî rutschte auf seinem Stuhl herum, als der Name endlich ausgesprochen wurde und wirkte ein kleines bisschen nervös, weil er der Meinung war, man sah ihm an, dass sie es war, deswegen stand er nun auch auf und ging zur Kaffeemaschine, um sich Kaffee einzuschenken. Beide beobachteten ihn dabei, wie er das Thema geflissentlich ignorierte, als würde er den Namen nicht einmal kennen.

„Ich brauch Kaffee, sonst schlafe ich ein, bei diesem langweiligen Thema.“

Akikos Augen verwandelten sich in Punkte, weil ihr Sohn so etwas sagte. Was war er doch für ein Schwindler. „Langweilig? Wir reden hier von einer bekannten Schauspielerin. Die ist bei Männern deines Alters äußerst beliebt. Was wäre sie gekränkt, wenn sie dich so hören würde.“

„Ach was, bekannt. Sie kann ihrer Mutter bei weitem nicht das Wasser reichen.“ Nun schenkte er sich Kaffee ein und bemühte sich wirklich, dass seine Stimme nicht plötzlich wackelte. Als er sich herumdrehte, hatte er sich eine neutrale Miene aufgebaut und sie sahen ihn fast geschockt an. „Was ist?“

„Du hast aber schon noch ein Bild von dieser Frau vor Augen, oder? Mir war, dass du solche Frauen gut findest?“

Hitomi grinste und lachte leise. „Aber Mama, bestimmt hat er die Dame mal getroffen und ist bei ihr angeeckt, weil sie eine Nummer zu groß war, deswegen kann er sich auch leider nicht mehr an sie erinnern, weil er tödlich beleidigt ist, du kennst ihn doch. Stimmt’s, Sêi-chan? Ich weiß aus einer Fangemeinde, dass sie bei einem Fall in Osaka verhaftet wurde wegen eines dummen Missverständnisses. Bestimmt bist du ihr begegnet und hast es dann bei ihr probiert. Die ist immerhin ziemlich heiß, da konntest du doch bestimmt nicht widerstehen.“

Nun reichte es wirklich – man sah dem Schwarzhaarigen an, dass er das wenig witzig fand und nicht nur schmollte, sondern so richtig beleidigt war, weshalb er seine kleine Schwester mit Halbmondaugen ansah, am liebsten hätte er wohl noch die Arme verschränkt, aber in den Händen hielt er den Kaffee.

„Ohne Worte – ich hab’ dich auch lieb.“

„Damit könntest du bei meinen Studienkollegen wirklich angeben, Sêi-chan. Also, wenn Chris Vineyard deine Freundin wäre, meine ich. Die finden diese Frau äußerst interessant, weil die noch jeden Reporter die Sprache verschlägt. Die Presse geht sogar so weit, dass es keinen Mann in ihrem Leben gibt und sie eigentlich lesbisch ist.“

„Bitte was?!“ Sêiichî wäre beinahe der Kaffee aus der Hand gefallen, weil es ihn so schockte.

„Wenn die einen Kerl hat, versteckt die den verdammt gut.“

„So so“, sagte Sêiichî und grinste nun gefährlich. „Wenn ich es also schaffe, Chris Vineyard zu Weihnachten mitzubringen, würdest du dann zugeben, dass ich nicht schlecht bin, mhm?“ Es war wie ein Duell, was sich sonst nur Männer lieferten, weil sie natürlich die beste Frau haben wollten, um bei den Anderen anzugeben.

„Ach, meinst du echt, dass du bei ihr landen kannst? Da musst du sie erst einmal finden. Kaum einer weiß, wo die sich immer rumtreibt. Sie ist das wandelnde Geheimnis von Hollywood. Da hast du aber zu tun. Wie willst du das machen? Du musst arbeiten!“ lachte Hitomi und schenkte ihrem Bruder alles andere als Selbstvertrauen.

„Ach, vielleicht ist sie eine gute Bekannte von ihm und er kann sie spielend leicht finden, Hito-chan? Ist ja nicht so, dass Sêi-chan keine Beziehungen hätte, stimmt’s?“ Akiko konnte gut reden, immerhin war Sêiichîs richtige Familie kein Geheimnis.

„Ach, als wenn er es andauernd mit berühmten Personen zu tun hätte“, winkte Hitomi ab.

„Diese Beziehungen habe ich nicht gemeint, sondern andere, familiäre Beziehungen zum Beispiel.“

Nun war es Sêiichî, der seiner Mutter eine gewisse Raffinesse zugestand. „Du vertraust also wirklich darauf, dass ich in der Lage wäre, sie einfacher zu finden, als man glaubt?“

Seine Mutter nickte und grinste dabei schelmisch. „Jamie Moore ist immerhin dein engster Verbündeter. Aber ob der dir helfen würde, an die Tochter seiner verstorbenen Cousine heranzukommen, ist mehr als fraglich. Der hätte gewiss Angst, dass du das am Ende noch ernst meinst und die Frau zu gut findest und fahrlässig, wie du bist, dich an sie heranmachst, nur weil du da so eine Wette mit deiner kleinen Schwester am Laufen hast. Nein, so etwas würde er nicht gut finden.“

Sêiichî zog eine Flunsch, die sich gewaschen hatte, weil sie etwas ansprachen, das vielleicht im Scherz gesagt wurde, aber leider traurige Realität sein konnte. Sie sahen den leicht traurigen Blick und entschlossen, ihn nicht weiter aufzuziehen. „Das ist nur Spaß gewesen, Sêi-chan“, sagte Akiko nun weniger belustigt, sondern sehr ernst. „Aber du weißt ja, dass Jamie sehr kleinlich ist, was das angeht.“

Akiko ging zu ihrem Sohn und legte die Hände auf beide seiner Schultern. „Du bist ein gut aussehender, liebevoller und hart arbeitender Mann, mein Junge. Vergiss das nicht. Egal, was das für eine große Nummer ist, die du da am Laufen hast. Lass dir von Jay doch nicht irgendwelchen Blödsinn erzählen – so etwas wie, du seiest nicht gut genug, nur weil du in der Vergangenheit nicht gerade geglänzt hast. Das kannst du ja ändern. Lass dich nicht zu etwas degradieren, was du gar nicht bist. Egal, wer diese Frau ist, du bist ja auch kein Nobody. Dein Großvater ist ein bekannter Schauspieler, viel bekannter als Miss Vineyard. Außerdem ist dein Vater der Polizeipräsident von Tokyo. Viele Frauen wären froh, wenn sie dich abbekommen hätten. Also. Wenn du diese Dame liebst, dann sag’s ihr und mach es klipp und klar, damit keine Missverständnisse dazu führen, dass du sie am Ende wieder verlierst. Und dann bringst du sie zu Weihnachten mit und stellst uns deine Traumfrau vor, die dein Herz erobert hat.“

„Du trägst aber echt dick auf, Mama“, meinte Hitomi beeindruckt und bekam richtige Stielaugen. „Ryo-chan würde sich ja fast für dich schämen, dass du das so herausschreist.“ Sie alle waren keine eingebildeten Menschen, nur weil sie eine gewisse Macht genossen, aber sie ließ nicht zu, dass ihr toller Sohn am Ende dachte, er sei gar niemand, das stimmte so nicht…

„Sie will sagen, du bist voll die gute Partie“, mischte sich Hitomi ein, die sah, wie emotional betroffen Sêiichî nun dreinschaute, weil offensichtlich noch keiner es so ausgesprochen hatte und seine Mutter ihn anscheinend bekräftigen wollte – warum auch immer, er schien es zu brauchen. In den Augen des Schwarzhaarigen standen die Tränen, weil er so gerührt war und dann nur dankbar lächelte.

Obwohl Sêiichî immer den totalen Playboy markierte, wusste jeder in diesem Haus, wie sensibel er auch sein konnte, daher konnten sie auch goldrichtig mit ihm umgehen und schafften es, dass er sogar schniefte, was sonst kaum einer so von ihm bekam – mit Sicherheit jedenfalls nur sehr wenige Menschen kannten ihn so, wie sie es taten. Er hatte leider eine sehr traurige Vergangenheit, was keiner hier vergessen würde. Der Tag, an dem Ryochi seinen besten Freund an der Hand angeschleppt hatte, um sie zu fragen, ob er bleiben kann – wenigstens über Nacht, weil seine Eltern nicht da waren. Aus diesem vorübergehend wurden Monate… Mittlerweile waren es Jahre.

Das Letzte, was man von seiner richtigen Familie gehört hatte, war, dass man sie für tot erklärte und dass Kenichi Iwamoto seinem Sohn das Haus und all ihr Vermögen vermacht hatte. Sie wusste, dass Sêiichî von all dem Geld, was sie vielleicht ergaunert hatten, nichts wissen wollte. Dass er das Sparbuch heulend in die Ecke geschmissen hatte und keinen einzigen Yen davon wollte. Außerdem dieses Haus in Kyoto, das hatte er entschieden zu verschachern, damit er auch ja nie auf die Idee kam in irgendeiner geistigen Umnachtung dort einzuziehen…
 

~~~

 

„Wo ist Seiichi eigentlich? Der ist ja schon eine ganze Weile nicht mehr hier reingeschneit. Bist du ihn jetzt endlich losgeworden?“

„Ach, wo denkst du hin? Einen Sêiichî Iwamoto wird man so schnell nicht los. Der muss sich nur ein wenig vom letzten Mal mit mir noch erholen“, sagte die Blondine mit einem gerissenen Lächeln, was ein kleines bisschen schon Grausamkeit ausstrahlte, obwohl es nur halb so böse gemeint war, wie es klang.

Obwohl sie lockerflockig von dieser Person redeten, dachten sie sich nichts dabei. Als es dann aber an der Tür klingelte, sahen sich die Schwarzhaarige und ihre hellblonde Mutter mit einem leicht schiefen Grinsen an. „Sobald man vom Teufel spricht, steht er vor der Tür“, sagte die Blonde in einem leicht schadenfreudigen Ton, der besagte, dass sie nicht vorhatte, zu öffnen. Es klingelte mehrmals hintereinander und sie stand grinsend da, ließ ihn zappeln, wie ein Fisch am Haken. Dass er Sturm klingelte, lag nicht etwa daran, dass sie nicht öffneten, sondern mehr an der Tatsache, dass er unverkennbar nun einmal so war. Selbst, wenn sie binnen Sekunden zur Tür gerannt wäre, hätte er das getan. Richtig irre wurde er erst, als er gegen die Tür hämmerte. Nun drehte er durch, so dass die Blondine sich die Hand vor den Mund hielt, um nicht lautstark loszulachen, weil er wieder so übertreiben musste.

„Du bist echt gnadenlos, oder? Er ist ja richtig verzweifelt. Aber verdient hat er es trotzdem, dass du das mit ihm machst.“

Es vergingen noch circa 30 Sekunden, da zeigte sie endlich Erbarmen, rannte aber nicht gar zur Tür, sondern ließ sich Zeit. Allein, dass sie aufmachte, war doch nett von ihr, oder? Viel zu nett, wie die Schwarzhaarige fand, aber sie folgte ihr, um abzuchecken, was er diesmal wieder mitbrachte. Manchmal stand er mit Riesen Ärger vor der Tür, aber da ihre Mutter eine Seelenruhe hingelegt hatte, glaubte sie wohl eher nicht, dass es so war. Sie hatte einen siebten Sinn für Ärger…

„Was machst du so einen Krach?“ wurde er gleich mit Halbmondaugen daran erinnert, dass es sich nicht gehörte, derartig Sturm zu klingeln. Kein Benehmen der Kerl, aber sie kannte ihn nicht anders. Obwohl sie sich so lange kannten, wusste sie, dass man bei ihm immer mit Überraschungen rechnen musste – vor allem mit üblen Überraschungen. Aber gerade war sie eher verblüfft, weil er sie so anstarrte und nichts sagte.

„Habe ich etwas im Gesicht, Sêiichî?“

„Nein, gar nicht“, lächelte der Angesprochene und machte einen Schritt auf sie zu und drückte ihr einen Kuss auf, doch das war nicht alles. Syrah sah ihn komisch an, weil er so grinste und dann Chris einfach auf den Arm nahm. „Was wird das denn wieder?“ fragte sie argwöhnisch und auch die Schwarzhaarige wusste nicht, was davon zu halten war.

Mehr Begeisterung war wohl nicht drin, sonst würde sie ihn ja nicht so komisch fragen.

„Eine Entführung“, sagte er und sie sah ihn geschockt an. „Wie jetzt?“

„Bye, Syrah!“ Der Schwarzhaarige befasste sich nicht weiter mit der Angesprochenen, die die Arme verschränkte und von einer Sekunde auf die andere kochte, weil er einfach ihre Mutter nahm, um mit ihr abzuhauen. Man wusste bei dem Kerl nie, ob er sie am Ende nicht einfach ganz verschleppte. Viel schlimmer fand sie noch, dass sie nicht mal strampelte und protestierte, sondern sich von diesem Kerl nun einfach mitnehmen ließ.

Von Fenster aus sah sie noch, wie er sie – durch den dichten Schnee stapfend – verschleppte, was ihr gar nicht passte.

Sie hörte die Konversation nur sehr leise, so dass sie das Fenster öffnete, um sie zu belauschen.

„So, und wohin entführst du mich jetzt bitte? Was, wenn ich etwas Wichtiges vorhabe? Mal davon abgesehen, dass es arschkalt ist, habe ich noch nicht einmal was gegessen!“ beschwerte sie sich, klang dabei aber eher amüsiert – wahrscheinlich gefiel es ihrer Mutter noch, wenn er so etwas Verrücktes machte.

„Ich habe etwas vor, was keinen Aufschub duldet. Dass du dich nicht rausgeputzt hast, passt mir sogar in den Kram.“

„Was hat das denn wieder zu heißen? Wo willst du hin? Du weißt, dass ich sonst nie einfach vor die Tür gehe, ohne mich wenigstens ein bisschen zu stylen.“

„Du bist vorzeigbar genug!“ sagte er eiskalt und trug sie zur Autotür, wo er sie runterließ, sie aber noch mit dem Arm um sie geschlungen festhielt.

„Vorzeigbar? Wem willst du mich denn jetzt vorzeigen?“ Sie war in ihren Hausklamotten, das konnte der Kerl doch nicht ernst meinen! Er würde ja auch nicht im Schlapper-T-Shirt rauswollen. Er war doch noch viel schlimmer als sie.

„Siehst du dann schon“, meinte er geheimnisvoll und ließ sie brav im Dunklen tappen – aber sie war selber schuld, schließlich gab sie ihm auch immer nur ungenügende Antworten. Sein komisches Grinsen jedenfalls ließ ihr schon den Schreck in alle Glieder fahren. „Ich will aber wissen, was du jetzt vorhast“, sagte sie ihm verärgert und nahm ihn am Kragen – war dem eigentlich nicht kalt? Er trug nicht einmal eine Jacke. Bestimmt hatte er die wieder irgendwo vergessen, der Schussel.

„Sei nicht immer so neugierig, du erfährst es ja. Beizeiten. Wir machen jetzt erst einmal eine lange Spritztür.“

„Wie bitte?“ Schmollend verschränkte sie die Arme. „Ich fasse es nicht!“ Dass sie beleidigt war, hielt sie einen Moment länger noch aufrecht, merkte aber, dass er so gar nicht darauf einging, was sie nicht gewohnt war. Warum hatte der eigentlich so gute Laune? Er war komischerweise recht fröhlich aus.

„Ist dir irgendetwas Gutes widerfahren? Hast du einen ehemaligen, guten Freund wieder gefunden, oder was ist los?“ Sie versuchte weiterhin aus ihm herauszubekommen, was er da bitte vorhatte. Aber er grinste weiter und antwortete nicht, da er nun sich auch anschnallte, was sie ihm gleichtat.

‚Warum mache ich bei seinen Spinnereien eigentlich mit?!’ Es war spannend und aufregend – wahrscheinlich deswegen. Es würde schon nichts Schlimmes sein. Trotzdem wollte sie gern wissen, was sie erwartete. Unerwartetes, unangenehme Überraschungen – so etwas mochte sie gar nicht. Sie war gerne auf alles vorbereitet und hatte die Kontrolle.

Während sie fuhren, schaute Chris aus dem Fenster, beobachtete, welche Straßen sie nahmen und wohin seine Spritztour wohl gehen könnte. Sie war wirklich neugierig und dieser Kerl kannte kein Erbarmen. Sofort fiel ihr auf, dass sie die Innenstadt verließen – ein bisschen erschreckend war das schon. Es war eine Gegend mit vielen schönen Häusern, so dass sie sich bewusst umsah. Sie sah zu ihm, der immer noch gute Laune an den Tag legte. „Sag mal…“ Mehr sagte sie nicht, er antwortete auch nicht wirklich und sie zog eine Augenbraue hoch. „Deine Familie wohnt doch hier in der Gegend, oder?“ Sie war bestens über alles informiert – wie gesagt, ihre Leute kannte sie ziemlich gut und hatte stets die Kontrolle – na ja fast.

„Hier wohnen ziemlich viele Leute – lass dich überraschen. Sei nicht so ungeduldig“, meinte er und sie bogen in einige Straßen ein, bis sie schließlich vor einem großen Anwesen hielten. Leider wusste sie ganz genau, welches das war und fühlte sich doch ein wenig unbehaglich. Warum fiel ihm so etwas eigentlich ausgerechnet dann ein, wenn sie so gar nicht vorbereitet war? Sêiichî riss schon die Tür auf und sie sah sich noch einmal im Seitenspiegel an, während er ihr die Tür öffnete und ihr die Hand hinstreckte. „Jetzt komm! Du siehst perfekt aus, so wie immer.“

Ein bisschen schmollig sah sie zu ihm hinauf, so dass Sêiichî sie ein wenig feixend ansah, weil sie wohl eher nicht fand, dass sie gerade perfekt aussah. Weil er es ja nicht anders wollte, stieg sie jetzt aus und knallte die Autotür etwas stürmisch zu und nahm seine Hand.

„Immer fallen dir solche Schwachheiten ein! Wolltest du nicht angeben, wie eine Tüte Mücken, wenn du das schon tust? Das hättest du viel besser gekonnt, wenn du mir vorher die Zeit dazu gelassen hättest“, schmollte sie und drehte den Kopf leicht weg.

Es war lang her, dass ein Mann sie so an der Hand genommen hatte, um sie zweifelsohne seiner Familie vorzustellen. Sie fühlte sich, als sei sie wieder ein kleines Mädchen, was zum ersten Mal einen Freund hatte, der endlich Farbe bekennen wollte. Der Gedanke ließ ihr jetzt doch ein leichtes Lächeln auf den Lippen aufkommen. Ihre Hand lag fest in seiner, als er die Türklingel betätigte und jemand aus dem Fenster schaute und herunter rief. Sêiichî schaute hoch und wank ihr, mehr brauchte es fast nicht, als Aufforderung. Auch aus dem Stockwerk weiter oben war gut zu erkennen, dass er eine Frau an der Hand hatte, deswegen flitzte die 19-jährige und bekam dabei fast nicht die Kurve.

Ihre Eltern saßen im Wohnzimmer und genossen den Feierabend, als ihre Jüngste dieses stürmte. „Schnell, Mutter! Ein Notfall!“

Erschrocken sah sie ihre Tochter an, welche Wind um nichts machte, ihr aufgeregtes Gesicht passte nicht ganz zu den Worten, so dass sie nicht gleich in Panik verfiel.

„Papa! Schnell, schnell! Sêiichî!“

Nun sah der stattliche Mann sein Mädchen auch etwas verwirrt an. „Was ist mit ihm?!“

„Steht vor der Tür, das müsst ihr sehen! Schnell, schnell!“

Welche Sensation dieser Chaot auch diesmal bot, es musste etwas Seltenes sein, sonst wäre seine Tochter nicht so aufgeregt.

Beide standen auf und ließen sich von ihrer Tochter mit zur Tür schleppen, wo sie diese dann aufriss und Sêiichî ein bisschen verdattert dreinblickte, weil alle drei gleichzeitig in der Tür standen, so dass sie doch ein bisschen erschrocken wirkte. Man hatte den Eindruck, sie erwartete das Empfangskomitee. Hitomi boxte ihre Mutter in die Seite und deutete mit dem Zeigefinger auf Sêiichîs Hand, die ihre hielt, weil sie das anscheinend enorm fand.

„Welch eine Überraschung, Sêiichî“, begrüßte ihn sein Vater. „Es ist kalt! Kommt rein!“

Sie ließen beide nicht in der Tür stehen, dabei trat sein Vater beiseite und Sêiichî zog sie an der Hand heran, die er auch, als sie endlich drinnen waren, nicht losließ. Hitomi war noch total außer Atem, besaß einen Herzschlag von 180 und legte sich die Hand auf die Brust.

Ihr musternder Blick lag auf der blonden Frau, die ein bisschen wirkte, als hätte sie nicht ganz damit gerechnet, heute hier zu sein, denn ihr Lächeln sah nicht ganz so aus, als wäre sie darauf gefasst, seinen Eltern zu begegnen. Die Rotblonde betrachtete sich die um genau zehn Jahre Ältere genau, welche das durchaus bemerkte. Ein bisschen die Fassung zurückgewinnen musste sie in diesem Moment und verbeugte sich, wie man das in Japan so machte, dabei wirkte sie schon ein bisschen verloren, wie man sie gar nicht kannte.

„Von einem Anruf vorher hältst du nichts, was Brüderchen?“ fragte Hitomi keck und Sêiichî zeigte ein ertapptes, aber schüchternes Lächeln.

„War so ein spontaner Einfall – hab sie nicht mal ihre Jacke holen lassen.“

Ihr Freund hatte nicht nur einmal gesagt, dass seine Schwester herzallerliebst war – sie sah sich die Kleine gerade genau an, so wie diese sie selbst ebenso. Das Mädchen kicherte hinter vorgehaltener Hand, weil sie Sêiichî wohl auch gar nicht anders kannte, als chaotisch.

„Es tut mir ein bisschen leid, dass wir uns nicht vorher angekündigt haben“, sagte nun Chris entschuldigend, „aber er hat mich regelrecht verschleppt.“ Seine Familie kannte ihn am besten und würde sich wohl mit Sicherheit das Ganze bildlich vorstellen können.

Akiko hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht, weil ihr verrückter Sohn seine Freundin in Verlegenheit gebracht hatte, obwohl es bestimmt nicht das erste Mal war.

„Du weißt ja, er ist immer für eine Überraschung gut“, sagte die 45-jährige zu ihrem Mann und ihrer Tochter, woraufhin alle drei kurzzeitig anfingen zu lachen.

„Aber du weißt ja, mein Sohn, du und deine Freunde, ihr seid immer willkommen.“

Diese Familie – sie sah sie heute nicht zum ersten Mal – aber alle waren so furchtbar nett. Ob sie nun nur nett taten oder nicht, das spielte keine Rolle. Fakt war, sie taten ihrem Sohn den Gefallen und verbreiteten gute Stimmung. Bestimmt hatten sie ihm noch einmal klargemacht, dass er sich nicht scheuen brauchte. Er wirkte auch kein bisschen nervös, anders als sie geglaubt hatte.

„Ich kann es nicht fassen. Nun bringt er allen Ernstes doch Chris Vineyard mit. Das würde mir ja keiner glauben, schon gar nicht, dass der Spinner sie auch noch einfach verschleppt hat. Das ist ja fast ein Verbrechen. Typisch Sêi-chan, er muss immer alle schocken.“ Sie zwinkerte der 29-jährigen zu, aber eher, um damit keinen Zweifel in ihr aufkommen zu lassen, dass sie nicht direkt darüber geschockt war, dass er sie mitbrachte. Eher über die Tatsache, dass sie ohne Jacke vor ihnen stand und ihr doch bestimmt kalt gewesen war.

Sie fand Sêiichîs Hand in ihrer immer noch total putzig und grinste ihren Bruder mit einem gewissen Lächeln an.

„Wollt ihr Wurzeln schlagen?“ fragte sie. „Im Wohnzimmer ist es viel wärmer als im Flur.“

Das Einzige, was beide mussten, war in Hausschuhe schlüpfen, die im Hauseingang parat standen, ansonsten hatten sie nicht einmal Garderobe zum Aufhängen – Sêiichî kannte man ja nicht anders. Der würde auch im tiefsten Winter ohne Jacke losstürmen, wenn es ihm gerade einfiel. Als er nun nach halber Ewigkeit dann doch die Hand von der blonden Frau losließ, aber nur um seinen Arm um sie zu legen und sie leicht vorwärts zu schieben, begaben sie sich endlich ins Wohnzimmer. „Ich hol die Gläser“, sagte Akiko, während Hitomi wohl das Paar unter strengste Bewachung stellen wollte, so sehr ihr Blick auf beiden ruhte. Für sie war das wahrscheinlich die Sensation schlechthin, nicht nur, weil sie es war, sondern weil ihr Bruder ja nun nicht alle Tage eine Frau mitbrachte, er machte alles heimlich.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so anstarre. Aber mein Bruderherz ist nicht gerade bekannt dafür, dass er seine Frauengeschichten mit nach Haus bringt. Sie dürfen sich also echt was einbilden, dass er das macht!“ verriet sie mit einem frechen Grinsen, woraufhin Takeshi doch etwas geschockt von der Ehrlichkeit seiner Tochter war, aber doch lachen musste. „Also, Hitomi! Bring deinen Bruder doch nicht so in Verlegenheit.“ Daraufhin wandte er sich an seinen Sohn und dessen hübsche Freundin. „Ich freue mich sehr, dass wir uns endlich kennenlernen. Dass ihr es endlich mal gemeinsam hierher geschafft habt, um uns an der Freude teilhaben zu lassen, dass ihr zwei euch gefunden habt.“ Damit schaffte sein Vater es, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Sei nicht so steif, Sêiichî… Wir sind doch eine Familie.“

„Ich danke dir.“ Sein Sohn war noch zu überwältigt und Chris wohl noch zu geschockt, dass sie jetzt hier war. Wer wusste schon, wie wenig er sie aufgeklärt hatte – es würde seinem Sohn ähnlich sehen, ihr heute zu offenbaren, dass sie seine Freundin war, so aus heiterem Himmel… Man traute diesem Kerl besser alles zu – er war verrückt.

„Du darfst Chris zu mir sagen“, meinte die Blonde zu der absolut süßen Hitomi, die sie schon jetzt mochte, obwohl sie so etwas sonst nicht übers Knie brach, jemanden zu mögen. Sie war superhöflich, obwohl sie unter Garantie – gerade weil sie so jung war – wohl eher einen Schrei von sich geben wollte – jetzt konnte Sêiichî sich daran aufbaumeln, dass wenigstens seine kleine Schwester noch überrumpelt war, bestimmt genauso sehr, wie sie selbst. Man ließ ihr keine Wahl, fuhr mit ihr hierher und sie konnte nicht viel dagegen machen. Sich zu sträuben wäre ziemlich fies gewesen, obwohl sie durchaus so hätte reagieren können, war sie eigentlich viel zu glücklich, dass er diesen Schritt wagte – was wirklich für einen Sêiichî ein Erlebnis war.

„Nice~! I am glad to meet you, Chris“, sagte sie stolz auf ihr Englisch und entlockte damit der Angesprochenen auch ein heiteres Lächeln. Für Hitomi war sie schließlich die Schauspielerin, die sie in irgendwelchen Filmen gesehen hatte – kurz überkam sie der Gedanke, wie schockiert sie wäre, wüsste sie alles von ihr. Nicht auszudenken. Gerade wegen solcher Dinge wollte sie dieses Geheimnis gern mit ins Grab nehmen – obwohl gewiss genug Leute sich nicht wundern würden, für andere würde geradezu die Welt zerbrechen. So etwas Grausames wollte sie nicht mit erleben. Dabei dachte sie speziell an Angel. Da verwarf sie den Gedanken schnell wieder – das passte jetzt nicht hierher.

Sie folgte ihrem Freund fast schon ein bisschen zu brav, wie es sich gehörte, bis ins Wohnzimmer, wo der mächtigste Mann Tokyos – so würde sie ihn jedenfalls bezeichnen – mit ihnen wenig später Platz nahm. Seine Frau, mit heiterem Lächeln, brachte die Gläser und hatte wohl offensichtlich tatsächlich vor, eine Flasche Wein aufzumachen.

„Mama, ich muss doch noch fahren“, meinte Sêiichî, seine Mutter schüttelte dann aber den Kopf.

„Ach, sei kein Frosch, das Haus ist groß genug, ihr könnt also gern die Nacht über hier bleiben. Ich glaube, deine kleine Schwester würde das sowieso begrüßen.“

„Also wirklich…“, meinte Sêiichî bei dem Spruch, woraufhin seine Freundin leise lachen musste, weil die ihn wohl bestens kannten und dann es auch noch so frech ansprechen mussten. Wem wollte er hier etwas vormachen? Die kannten ihn – vielleicht sogar besser, als sie ihn kannte. Wer wusste schon, was er ihnen im Vorfeld erzählt hatte, um sicher zu stellen, dass sie ein nicht ganz so schockiertes Gesicht machen würden, wenn sie beide dann in der Tür standen. Zwar wusste sie, dass sein Vater nicht blöd war und durchaus mehr wusste, als Sêiichî ahnte, aber dieser hatte zumindest einmal erwähnt, dass es da jemanden gab und so weiter. Sie kannte diesen Baka schließlich, der dachte wahrscheinlich, alle waren schockiert und am Ende wussten sie noch von ihrer kriminellen Tätigkeit und er müsste sich am Ende etwas total Furchtbares anhören. Aber das waren Ängste, wie man sie nun einmal hatte, obwohl seine Familie ihm so etwas nie angetan hätte, egal was sie auch wirklich von ihr hielten. Sie würden nie etwas tun, was ihren Sohn verletzte – gerade weil sie ihn so liebten – darüber wusste sie bestens bescheid.

„Wenn wir gewusst hätten, dass ihr Zwei vorbei kommt, hätten wir Ryochi darüber informiert – er wäre sicher gern dabei gewesen“, sagte Takeshi, womit er Sêiichî wohl ein bisschen überraschte.

„Wieso das denn?“

„Weil ihr beide wie richtige Brüder seid und er sich fragt, wann du so eine Show ablieferst“, sagte Akiko und öffnete die Weinflasche, als gute Frau kümmerte man sich immer gut um seine Gäste, den Job verrichtete sie auch tadellos.

„Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal, was mein Bruder da so treibt“, verriet Hitomi, „er redet ja nie, alles muss er verheimlichen.“ Sie grinste ein bisschen, immerhin kannte sie die Sprüche, die Chris in den Medien so ablieferte. „Ich frage mich, ob da ein bisschen was abgefärbt ist.“ Das Mädchen war schon ein bisschen vorlaut, aber auf eine erfrischende Weise, so dass die Schauspielerin es ihr gewiss nicht krummnahm, dass sie so etwas sagte.

„Na, ich glaube kaum, dass das an mir liegt. Ich glaube eher, Sêiichî wusste lange Zeit gar nicht, ob er so etwas überhaupt will. Weil er eben chaotisch und verrückt ist und für manche Sache ein halbes Leben braucht. Da muss man echt aufpassen, dass man am Ende nicht steinalt ist, wenn er sich dann endlich dazu entscheidet, zu tun, was andere schon viel Früher getan hätten.“ Sein Kopf drehte sich zu seiner Freundin, die so etwas sagen musste, was er noch nicht einmal so ganz verstand. Ob es nun ein Scherz war, dass sie damit rechnete, ewig zu warten, oder nicht, da war er sich nicht so sicher – sie hatte echt die Ruhe weg.

„Sêiichî hat manchmal das falsche Maß der Dinge, wenn er Sachen macht. Die einen macht er zu schnell und für andere braucht er ewig.“ Es war die Aussage einer Mutter, die ihren Sohn gut kannte – wahrscheinlich hatte sie auch noch gemeint, dass er damals es immer sehr eilig hatte, mit den Mädchen irgendetwas anzufangen, aber die anderen selbstverständlichen Dinge auf der Strecke blieben.

„Zunächst einmal sollten wir darauf trinken, dass unser Sohn den weiten Weg bis zu diesem Haus endlich zurücklegen konnte“, sagte Takeshi und erhob das Glas, dabei sah ihn Sêiichî leicht beleidigt an, weil seine Worte vor Ironie nur so strotzten, immerhin war das Haus gar nicht so weit weg von seinem offensichtlich häufigen Aufenthaltsort. Der immerhin in Tokyo lag.

„Mich wundert sowieso, dass er es so gut verheimlichen konnte – das ist schon enorm“, funkte Hitomi dazwischen. „Ich meine, wie daten sie denn bitte, ohne dass sie mal einer erwischt?“

„Auf Sêiichî-Weise würde ich wohl passend finden“, erwiderte Chris zu Hitomis Frage, ließ aber offen, wie sie das wohl meinte. „Um welchen Wein handelt es sich?“ wollte sie wissen, weil es sich bei der jungen Frau um jemanden handelte, der ziemlich oft guten Wein und Champagner zu sich nahm. 

„Cabernet Sauvignon“, antwortete Akiko, woraufhin sie irgendwie alle ihren Blick auf ihr ruhen ließen, was die Blondine jedoch nicht merkte, da sie in ihr Glas starrte und nur an dem Glas nippte, als würde sie geradezu zum ersten Mal trinken, was einfach nicht so war. Man sagte, dass Menschen spürten, wenn man sie so anstarrte, deswegen hob sie ein bisschen den Kopf. Wahrscheinlich fragten sie sich, wieso sie so etwas wissen wollte.

„Mir schmeckt nicht alles, gerade bei Weinsorten bin ich sehr wählerisch, außerdem bekomme ich von Rotwein schneller einen Schwipps, ich sollte also vorsichtig damit sein“, lächelte sie, was Sêiichî wohl fast aus den Latschen kippen ließ, weil ihn das so schockierte.

„Im Ernst?“ Diese Frau hatte ihn schon des Öfteren unter den Tisch gesoffen und behauptete jetzt, sie vertrug Rotweine nicht so gut.

„Cabernet ist ein sehr starker Rotwein. Sauvignon Blanc bekommt mir besser. But I totally can’t stand to drink Chardonnay or Merlot. After I feel like I get a cold.” Es lag nicht an sich daran, dass sie Menschen kannte, die nach diesen Weinen benannt worden waren, sie vertrug sie nicht – ein Fakt.

„Niemand hier mag Merlot und Chardonnay“, sagte Akiko, ließ dabei aber nicht durchklingen, ob sie etwas über beide wusste.

Sêiichî fragte sich, ob es ihr gerade gut ging, so gedankenverloren, wie sie in ihren Wein starrte, das Glas leicht kippte, um den nächsten Schluck zu nehmen. Sein Arm legte sich um sie und er drückte sie ein kleines bisschen näher zu sich, da sie auf der Couch Platz genommen hatten. Auch Akiko setzte sich gemeinsam mit ihrer Tochter neben die Beiden. Takeshi saß direkt neben Sêiichî, während Akiko neben Chris Platz genommen hatte. Hitomi flitzte schnell an ihres Vaters Seite und versuchte aber trotzdem alles von der Seite aus zu beobachten. Dass Sêiichî sie so ranzog, fand sie absolut himmlisch, so dass man an ihrem schwärmerischen Gesicht sofort erkennen konnte, wie toll sie fand, ihren Bruder so zu sehen.

Nur für einen kurzen Moment, in dem Hitomi blitzschnell ihr Handy aus der Hosentasche zog, schrieb sie eine Nachricht.

~Du glaubst nicht, was hier gerade passiert, Nii-chan. Ich kann’s nicht für mich behalten! Das muss ich dir erzählen… Sêi-chan ist gerade bei uns reingeschneit, wie eine Sturmböe und hat seine Freundin präsentiert. Der ist so verknallt, dass er jetzt mit ihr kuschelnd auf der Couch sitzt… Das müsstest du sehen… <3~

Sie drückte auf Senden und wartete nur kurz die Sendebestätigung ab und steckte dann das Handy wieder weg, weil man das eben nicht machte.

Hitomi fiel sofort auf, dass Sêiichî sein Glas noch nicht angerührt hatte. So kannte sie ihn gar nicht, er sagte sonst nicht Nein zu einem Schluck.

„Du hast doch Mama gehört, ihr könnt hier bleiben, du kannst also ruhig ein paar Gläser mit Papa trinken, Sêi-chan“, grinste Hitomi, obwohl diese Familie nicht gerade dafür bekannt war, viel über den Durst zu trinken, wusste sie doch, dass Sêiichî gern mit Papa trank, aber wohl vor seiner Freundin glänzen wollte, sonst hätte er sich doch gleich über sein Glas Wein hergemacht. Sie sah anhand von Sêiichîs Gesicht, was sich zweifelsfrei zu Chris drehte, dass er das nicht allein entscheiden wollte, was schon komisch war, weil er sonst immer so tat, als würde er alles alleine bestimmen und hätte die volle Kontrolle. Auch Chris schien nicht so ganz zu verstehen, was sein Blick zu bedeuten hatte und sah ihn ratlos an – einen kurzen Moment. „Was?“ forderte sie ihn auf, sich mit Worten an sie zu wenden. „Sag doch, wenn du trinken willst.“ Ein geradezu milder Ausdruck war auf dem Gesicht der Blonden erschienen, die ihren Kerl tatsächlich nicht so kannte. „Aber herschleppen konntest du mich noch ganz gut, ohne mich zu fragen. Nimm eben das Glas und trink, so viel wie du willst.“ Sie nahm ihres und die ganze Familie musste sich echt beherrschen, sich nicht vor Lachen zu krümmen.

Verwirrt blickte Sêiichî seine Freundin an, die das doch nie gut fand, wenn er zu viel trank – das war nicht immer so gewesen, aber weil sie Angst hatte, er könnte dem Alkohol ein weiteres Mal zum Opfer fallen, hatte sie ein wachsames Auge darauf, wie viel er in ihrer Gegenwart trank.

„Soll das heißen, du willst hier bleiben?“ fragte er sie mit großen Augen und alle folgten aufmerksam dem Schauspiel, was sie ihnen bot. Dieses war aufschlussreicher, als hätten sie alle möglichen Fragen gestellt. Jedenfalls bekamen sie so Einblick in die Beziehung der Beiden. Anscheinend war es für Sêiichî nicht offensichtlich, dass seine Freundin wohl tatsächlich gerne hier war, immerhin hatte er sie ja gezwungen, deswegen fragte er das nun wohl auch so verdattert.

„Sollte ich etwa etwas dagegen haben? Ich find’s hier ganz nett.“ Akiko hatte sowieso ihren Sohn gut im Blick und er benahm sich wirklich merkwürdig. Sie fragte sich wirklich, was ihn geritten hatte, sich so seltsam zu benehmen.

„Ich glaube, er hat echt Angst, dass du uns nicht mögen könntest“, erklärte Akiko und Sêiichî fühlte sich schon ein bisschen verraten.

„Ist ja nicht so, dass das selbstverständlich wäre“, sagte er schmollig und versuchte dabei nicht ihren Augen zu begegnen, warum auch immer. Vielleicht, weil sie dann sah, wie sehr es ihn verletzen würde, wenn sie seine Familie nicht mögen würde. Dazu bestand nicht der geringste Anlass, sie hatten ihr nicht mal den kleinsten Grund gegeben, dass sie sie nicht mögen könnte.

Chris musste sich echt bemühen, nun nicht ein bisschen mit ihm zu stänkern, weil er sich wieder Schwachheiten einbildete. „Deine Familie ist schrecklich nett, warum also sollte ich sie nicht mögen? Du denkst zu viel über merkwürdige Dinge nach. Mein Verstand ist voll im Takt. Ich weiß, wann Menschen nett tun und wann sie wirklich nett sind. In meinem Beruf kann ich so etwas sehr gut unterscheiden.“ Es war ein ziemlich ernstes Gespräch. „Und jetzt hör auf dir über so etwas Gedanken zu machen. Wenn du die Einladung annehmen willst, werde ich natürlich auch bleiben, ich geh doch nicht alleine nach Hause. Was denkst du von mir?“ Ein kleines bisschen beleidigt wirkte sie ja schon, obwohl sie es nicht wollte, weil Sêiichî eben von seiner blöden, richtigen Mutter, total geschädigt war. 

„Das Kompliment geben wir gern zurück“, sagte Takeshi, weil sein Sohn es anscheinend wirklich brauchte, dass man es ihm extra bestätigte, obwohl Sêiichî doch ganz selbstsicher in der Tür gestanden hatte, war gerade nicht mehr viel davon zu sehen. Beide Eltern wussten, dass das an seiner richtigen Mutter lag – zu allem Überfluss wussten sie sogar noch ziemlich genau, was sie von dieser Frau hielt – mindestens genauso viel, wie von ihnen, immerhin hatten sie ihr den Sohn gestohlen – so würde diese Frau es wohl bezeichnen.

„Wir freuen uns sehr, dass er so eine charakterstarke Frau an seiner Seite hat, die zu ihm steht, egal was kommt.“ Damit schockte er seine Tochter wahrscheinlich schon ein bisschen, weil er es todernst von sich gab. Ihr Vater war ein Spaßvogel, er war schon lange nicht mehr so ernst gewesen, aber das lag wohl auch daran, dass Sêiichîs richtige Mutter ihnen allen schon ziemlich übel mitgespielt hatte. Sie wollte auf Teufel komm raus, Sêiichî ihnen wieder wegnehmen. Sie war eine schreckliche Frau und man hatte eine Zeitlang hier schon befürchtet, dass er sich ausgerechnet eine solche Frau aussuchte, die seine Gefühle nicht achtete – gerade weil er doch so sensibel war.

Chris sah auch ein bisschen überwältigt aus und brachte nicht mal ein Danke über die Lippen, weil sie das so überraschte. Es dauerte einen ziemlich langen Moment und Hitomi lächelte nun auch. „Weißt du, dass du voll cool bist? Ich kenne sonst keine andere Frau, bei der mein Bruder so dermaßen angedockt hat. Es kann einem fast so vorkommen, als wärst du, wie der Hafen, wo er als das Schiff immer wieder einläuft.“

„Wo hast du denn das gelesen, Hitomi? Das klingt ja sehr symbolisch“, amüsierte sich Akiko und sie retteten mit diesem kleinen Lacher wahrscheinlich, dass hier komische Stimmung aufkam.

Sêiichî versank zwar im Boden, weil Hitomi es so passend beschreiben konnte und wurde jetzt so richtig rot im Gesicht, aber man konnte nicht sagen, dass er sich wirklich schämte, hier so durchschaut zu werden.

„War ja auch nicht gerade leicht, sie zu bekommen“, kam leicht schmollend von ihm, richtig kleinlaut, als wenn er sich dafür rechtfertigen musste.

„Versuch nun ja nicht, mir in die Schuhe zu schieben, dass du für alles eine halbe Ewigkeit brauchst.“

„Mir fällt ein richtiger Stein vom Herzen, das könnt ihr mir glauben“, sagte Sêiichî in die Runde, schenkte jedem einen Blick und zog die Nase hoch. „Dann kann ich ja doch was trinken.“ Bevor er hier noch flüssig wurde, trank er lieber. Gerade entglitt ihm ein bisschen die Fassung, das merkte man, aber so etwas in die Richtung hatte sie gedacht, wenn er dann endlich erkannte, was für eine tolle Familie er da schließlich hatte – sie wusste das schon lang. Nun schmunzelte Chris und konnte nicht an sich halten, gerade weil er einen emotionalen Moment hatte, da musste sie dem Ganzen noch die Krone aufsetzen, indem sie ihn nun auf die Wange küsste und sich ein bisschen mehr an ihn hängte, ein bisschen mehr jedenfalls, als es sonst der Fall war. So umschlang sie seinen Arm mit ihrem und hielt ihn fest, das war wirklich speziell, machte sie sonst auch nicht.

Sêiichî ließ es sich zwar nicht direkt gerade anmerken, wie viel das bei ihm auslöste, es war höchstens für einige Sekunden ein Grinsen auf seinen Lippen gewesen und er lenkte erfolgreich ab, indem er sich das volle Glas griff, nicht umsonst lagen alle Blicke auf ihm. Seine Ohren glühten, das war wohl das einzige Indiz dafür, was diese Frau mit ihm anstellte, indem sie seinen Arm so hielt, er wehrte sich auch kein bisschen, obwohl er klammernde Frauen überhaupt nicht mochte – hatte er jedenfalls schon des Öfteren behauptet. Trotzdem ließ er sich erfolgreich von dieser Frau fesseln, wie auch immer sie das angestellt hatte, was sie auch tat, es wirkte verdammt gut bei ihm und er ließ sie, anders als die Frauen, die er anecken ließ, indem er ihnen entwischte, gewähren. Darauf konnte sie wirklich stolz sein, denn Sêiichî war wirklich wie ein glitschiger Fisch, der einen schnell aus den Händen gleiten konnte. Aber Chris wusste ganz genau, wann sie sich so etwas erlauben konnte und wann es genug war. Gerade gefiel es ihm und deswegen war sie auch so nett, ihm zu geben, was er gerade gut fand. Dabei sah sie auch nicht gerade unglücklich aus, weil er es schließlich zuließ.

 

Es war spannend, seine Kinder zu erleben, weil sie alle so unterschiedlich waren, keiner glich dem Anderen – dementsprechend hatten sie ganz verschiedene Frauen in ihr Leben gelassen. Shina war ein freches Ding, was goldrichtig zu seinem ab und zu auch ganz schön frechen Sohn Ryochi passte, sie lachten viel, das mussten sie auch, bei so vielen schrecklichen Vergangenheiten. Hidemi, die eher ruhig war, hatte lange gebraucht, zu begreifen, dass sie hier in diesem behüteten Rahmen nichts zu befürchten hatte, nicht ins Kreuzverhör geriet und auch ansonsten herzlich aufgenommen wurde. Als sie das dann gecheckt hatte, war das sensible Ding vor Glück in Tränen ausgebrochen, er würde sagen, da hatte Yuichi die perfekte Frau zum Beschützen angeschleppt. Und Sêiichî… Seine hatte so viel Selbstbewusstsein, dass es fast nicht mehr gesund sein konnte. Er hatte sich viel mehr gefürchtet, schien es, als sie, hierher zu kommen. Am Ende war sein Sohn noch geschockt davon, wie locker sie alle hier miteinander umgingen. Sêiichî versuchte vieles gerade nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, aber er – sein Vater – sah es. Er war einfach nur glücklich – wenn er da nicht aufpasste, machte er noch Hidemi Konkurrenz. Seine Frau Akiko hatte sich bislang sehr zurückgehalten, vielleicht, weil ihre manchmal offene Art und Weise andere im ersten Moment eventuell erschrecken konnte, aber er wusste, dass sie sich kaum zurückhalten konnte, der guten Chris – die zum Glück wirklich viel Selbstbewusstsein hatte, um sich nicht zu erschrecken – auf den Zahn zu fühlen. Sie konnte es kaum abwarten, zu erfahren, wie durchtrieben die Blondine eigentlich wirklich war, um einen Mann wie Sêiichî dermaßen unter Kontrolle zu kriegen, dass das manche vielleicht echt geschockt hätte. Am liebsten wollte sie sie ausquetschen, um alles zu erfahren. Aber so wie Takeshi die Dame einschätzte, würde sie nur ungenügend blicken lassen, zu welchen Methoden sie tatsächlich griff, aber er vermutete, dass sie mit allen Wassern gewaschen war – vor allem mit dreckigen. Bestimmt griff sie auch schon mal zu schmutzigen Tricks, da war er sicher.

Gerade, weil seine Frau das so brennend interessierte, endete das mit nichts Gutem. Zum Beispiel dem Nachschenken des Alkohols. Glaubte sie vielleicht, dass sie die Frau so besser ausgequetscht bekam, wenn der Alkohol ihre Zunge lockerte? Es war nicht so, dass er seiner Frau nicht zutraute, genau das zu versuchen…

Bei der Sitzordnung kam es seiner Frau bestimmt auch besonders gelegen, dass sie neben der Blonden saß, was sie natürlich rein zufällig so entschieden hatte…

~bling~ hörten sie, was sie geflissentlich ignorierten. Aber Takeshi sah unbemerkt zu seiner Tochter, die noch vor ihm zu verheimlichen versuchte, dass sie eine Mail erhalten hatte. Dabei drehte sie den Körper so, dass sie das Handy herausfischen konnte, um draufzulinsen. Aber auch er musste sich nur noch ein bisschen größer machen, damit er den Inhalt sichten konnte…

~Na, dann wünsch ich dir viel Spaß, meine Süße!! Muss noch arbeiten, daher kann ich mir das nicht live anschauen -.- Erzähl mir morgen, wie es abgelaufen ist, ja? <3~

Och, sein armer Sohn, der war jetzt bestimmt auch neugierig und konnte nicht dabei sein. Er konnte sich den Gesichtsausdruck seines Jüngsten bestens vorstellen – weil er es doch gerne sah, wenn man Sêiichî ärgerte und er tatsächlich gern dabei wäre, um das mitzuerleben.

~Soll ich Fotos und ein Video machen?~

Oioioi, jetzt wurde es frech und dreist, aber das waren seine Kinder, die höchstwahrscheinlich nur genauso dreist waren, wie ihre Eltern ihnen das vorgelebt hatten. Er könnte sich vorstellen, dass das schon ein bisschen gefährlich war, was Hitomi da anbot. Na, da hoffte er mal, dass Chris gnädig mit ihr sein würde, wenn sie ihr mit einem Handy zu nahe kam, um sie zu fotografieren, aber Videos ging schon ein bisschen weit. Zum Glück wusste er, dass seine Tochter die wenigstens nur mit der Familie teilen würde, er kannte da ganz andere ihres Alters, die so etwas dann in die Welt schießen mussten, um es fröhlich hier und da zu teilen.

~Viel Glück dabei… Versuch es nicht zu sehr zu übertreiben. Ist ja schließlich eine bekannte Schauspielerin, das könnte unter Umständen in die Hose gehen… ^^°~

Ihr Bruder machte keinen Hehl daraus, dass er natürlich mal wieder besser bescheid wusste. Sie hatte ja nicht verraten, wer es war, also musste er es schon vorher gewusst haben – sie war nicht mal sicher, ob seine Mutter nicht zumindest geahnt hatte, wer es war. Sie hatte diese Familienbeziehungen nie verstanden. Jamie kannte sie zwar, aber sie hatte nun keinen Familienstammbaum daliegen, damit sie wusste, dass seine Cousine Sharon Vineyard war. Aber verrückt war das schon. Vielleicht hatte der ja damit zu tun…?

~Ihr seid voll doof. Immer verschweigt ihr mir so etwas T_T~

~Männergeheimnisse, Hito-chan :p~

Klasse gemacht – nun schmollte seine Tochter, was Takeshi sofort sehen konnte, deswegen ignorierte seine Tochter Ryochi jetzt und schrieb ihm nicht noch einmal zurück. Am Ende würde sie nun Fotos und Videos machen und sie ihm aus Protest nicht zukommen lassen.

Es dauerte auch gar nicht lange – auch wenn alles auf dem Tisch stand – dass Akiko sich eine Keksschachtel griff und sie Chris hinhielt, dabei lächelte sie die Blonde heiter an und meinte noch „Greif zu!“, weil sie einfach nett sein wollte. Seine Kinder hatten aufgehört, sich bei so etwas zurückzuhalten, weil sie das eh nicht wollte, die saßen dann immer hier und starteten ein wer ist schneller im Kekse futtern-Duell. Sie nahm sich einen davon und knabberte nur an diesem, weil sie wohl eher nicht so eine Süßschnute war, wie zum Beispiel Hitomi, die erst einmal so viele Kekse nahm, wie sie auf ihre Hand passten – Sêiichî sah die Dinger an wie kleine Staatsfeinde, in den Augen stand dann immer einer zuviel und ich werd’ dick. Da war es fast vorprogrammiert, als Akiko meinte „nur keine Scheu“, dass sie von ihrem Sohn einen entsetzten Blick erntete.

„Du kannst ihr da auch gleich Zucker pur zuführen, wenn du sie mästen willst. Sieht sie vielleicht aus, als hätte sie zu wenig auf den Rippen, Mutter?“

Takeshi verschluckte sich an seinem Wein und hustete. Dass sich sein Sohn gerne auf gefährlichen Pfaden bewegte, wusste er ja, aber es war nicht ganz so glücklich, was er da gerade sagte. Unter Garantie meinte Sêiichî damit nicht, dass er etwas an der Figur seiner Freundin auszusetzen hatte, wie es vielleicht klang. Eher wollte er noch ihre perfekte Figur bewahren, indem er sie daran erinnerte, nicht über die Strenge zu schlagen.

„Sêi-chan, du kannst so charmant sein!“ sagte sein Vater. „Bei deiner Vergangenheit solltest du endlich mal wissen, dass man so etwas nicht macht.“ Er grinste ihn an und sah dann Chris’ Gesicht, die mehr als nur empört darüber war, was er da wieder für einen Unsinn von sich gab.

„Du meinst also, ich kann mir das nicht erlauben, oder wie habe ich das zu verstehen?“ Wollten die ihnen jetzt auch noch einen ihrer Streits demonstrieren? Takeshi würde wetten, dass Sêiichî bestimmt ganz schön viele Fettnäpfchen nahm, wenn nicht gleich den großen Fettnapf, um sie zu ärgern.

„Hast du eine Ahnung, wie viel Zucker da drin ist?“

Dieser Mann war schlimmer, als so manche Frau, zumindest bei dem Thema, dabei sah er noch total schockiert aus.

„Weiß ich – juckt mich das?“ Tat es das wirklich? Chris griff sich aus reinem Vergnügen, und weil er sie so bestürzt ansah, gleich ein paar mehr von den Dingern, die besonders nach Zuckerkonsum aussahen, nur um ihn noch mehr zu schockieren. Sie steckte sich einen demonstrativ in den Mund, frei nach dem Motto: Jetzt erst recht!

„Mal davon abgesehen, mein Lieber – falls du es vergessen hast! Ich war gerade nach Hause gekommen und du hast mir nicht einmal genug Zeit gelassen, dass ich etwas hätte essen können! Also komm mir nicht mit Zuckerkonsum! DU nimmst das Zeug schon am frühen Morgen im Kaffee in Massen zu dir, also sei ruhig.“

Man merkte, dass sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ, aber Sêiichî wohl genauso wenig, weshalb Akiko jetzt einen flotten Spruch reißen musste. „Brauchen wir einen Ringrichter, oder kommt ihr klar?“ Es war der erste Eindruck, den sie von der Beziehung der Beiden hatte, zumal sie glaubte zu wissen, dass sie das gleiche Sternzeichen hatten, also beide nicht ohne waren.

Sêiichî sah seine Mutter echauffiert an, die so etwas sagen musste. Er wollte aber nicht den Eindruck erwecken, dass es zwischen ihnen ständig so war, sie also total unharmonisch waren, deswegen legte er wieder seinen Arm um sie und man konnte schon von einem Wunder reden, dass sie das nach seinen Frechheiten auch noch mit sich machen ließ. „Wir sind ein Herz und eine Seele, wir streiten nie, wirklich, Mutter!“ Sêiichî drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sie rollte mit den Augen.

„Ja klar, du bist der Papst und ich bin eine Nonne.“

„Das wäre aber ein ganz schön schlimmer Papst“, sagte Hitomi zu der Blonden, die sich Sêiichî als solchen natürlich überhaupt nicht vorstellen konnte. Natürlich war sie vorlaut, aber anscheinend konnte man das bei seiner Freundin, ohne dass sie gleich rot anlief, oder so etwas. Das hätte zu ihrem Sêiichî auch kein bisschen gepasst. Bei dem musste man schon einiges aushalten können – gerade Anzüglichkeiten.

„Papst und Nonne? Ihr würdet postwendend im Gefängnis landen, weil ihr die Regeln so sehr brecht. Ein Papst oder Priester – das ist der letzte Beruf, der zu dir passen würde, Sêiichî. Du würdest das doch bestimmt nach zwei Wochen schon wieder schmeißen, weil du so sehr leiden würdest“, kam von Akiko mit einem leicht stichelnden Lächeln.

„Deswegen sage ich es ja“, grinste Chris. „Der Kerl ist ein totaler Schwerenöter. Was habe ich mir da nur angetan? Ich muss vollkommen den Verstand verloren haben, so etwas noch gut zu finden.“ Nett klang es nicht, aber er sollte hier mal nichts von heiler Welt erzählen – von wegen sie stritten nie. „Erzähl deinen Eltern doch keinen Blödsinn. Mit dir kann man gar nicht anders, als sich mit dir streiten, weil du so vorlaut bist, dass du manchmal nicht nachdenkst, was du da schon wieder für Frechheiten von dir gibst.“

Sêiichî sah sie mit einem Mal total wehleidig an, weil sie sein Spiel nicht mitspielte.

„Wir sind trotzdem ein Herz und eine Seele“, sagte er, dabei war der weinerliche Ton sehr gut zu vernehmen, gleich würde er bestimmt wieder etwas sagen, was sie weichkochte, sie kannte ihn ja. „Außerdem liebe ich dich.“

Die Blondine hatte mit krassen Dingen gerechnet, mit denen er sie jetzt doch wieder weich bekam, wobei krass natürlich relativ war. Jedenfalls sah sie ihn einen Moment sprachlos an, als wenn er das nicht wirklich oft sagte, was schon schlimm genug war, bei dem, was er ihr immer antat.

Hier – vor seinen Eltern – nur um sie milde zu stimmen, das war doch nicht sein Ernst.

„Glaub mir, nur deswegen vergebe ich dir, sonst hätte ich schon lang die Flucht ergriffen. Man braucht Nerven, wie Drahtseile, um dich auszuhalten… Und jetzt hör auf, deinen Eltern etwas vom Pferd zu erzählen, die wissen sowieso, wie du tickst.“ Ein leicht fieses Lächeln war auf ihren Lippen, als sie sein Kinn griff, was schon etwas sehr Besitzergreifendes hatte, wenn man sie kannte. „Sei nur schön vorsichtig, zu welchen Mitteln du hier greifst, sonst werde ich mich noch mal ganz gewaltig an dir rächen, indem ich dir mal in einem Moment des Zorns meine Liebe gestehe, nur um dich von deiner ursprünglichen Bahn abzubringen und dich meterweit wegzuschleudern, an einen Ort, von dem du so schnell nicht wieder wegkommst.“ Was auch immer sie damit meinte, es klang beängstigend.

„Mit Liebesgeständnissen hatte er es nie so“, meinte Hitomi mit einem Lächeln. „Man muss in den Krümeln suchen, um herauszufinden, was er wirklich von einem hält. Eine normale Frau würde bei einem Kerl, wie ihm, verzweifeln.“

Eine normale Frau – die würde am Ende glauben, dass er sie hasste, wenn man es ganz krass ausdrücken wollte. Sogar sie war schon an harte Grenzen gestoßen, in ihrer langen Zeit ihres Zusammenseins. So ganz ohne schreckliche Zeiten in der Organisation, wäre sie bestimmt nie auf den Trichter gekommen, dass er sie liebte, sondern nur das Eine wollte. Aber man ließ sie eben nicht für eine Frau fast umbringen, wenn man nur Interesse an ihrem Körper hatte. Auch, wenn Sêiichî aus einer Art Selbstschutzmechanismus heraus, es oft so hatte aussehen lassen, wusste sie wenigstens bescheid. Mittlerweile war er auf einem guten Weg, trotzdem legte er manchmal Eigenarten an den Tag, mit denen man erstmal umgehen können musste. Sie konnte von sich behaupten, dass sie ihn gut genug kannte, um über seine Macken hinwegsehen zu können. Auf der anderen Seite gab es Momente, wo er sie überraschte, weil er dann sehr wohl wusste, wie man einer Frau zeigte, dass man sie liebte. Sie hatte das auch viel lieber so, als ewige Liebesschwüre, die am Ende sowieso eher wie Schaum waren. Von Schaum blieb am letztendlich nämlich nichts übrig.

„Ich hoffe, mein lieber Sêi-chan, dass du verstanden hast, was deine Freundin damit sagen wollte“, sagte Akiko, denn in ihren Worten war mehr verborgen, als er vielleicht vermuten würde. Weil sie wusste, wie sehr er sie liebte, verfuhr sie gnädig mit ihm – nur deshalb, ansonsten wäre sie schon lange weg. Auch seine Mutter fragte sich, was wohl zwischen den Beiden vorgefallen sein musste, dass sie es so ausdrückte. Sie würde vermuten, dass er ganz seinem Verhalten entsprechend, bei ihr dasselbe versucht hatte, wie bei allen anderen Frauen.

,Wahrscheinlich hat er kein Wort verstanden. Das ist ihm zuzutrauen. Bestimmt hat er jetzt schon Angst, wie ich mich rächen könnte.’

Gerade, weil seine Mutter ihn noch so fragte, dachte er darüber nach, was Chris genau gesagt hatte, dabei sah er sie musternd an, während sie wohl schon wieder vergessen hatte, was gerade gewesen war. Es war auch kein Streit, das sah anders aus – es war höchstens ein kleines bisschen Kappeln und nicht mehr. Das war an der Tagesordnung, sie zählte schon die Tage, die vorüber gingen, ohne dass auch nur einmal so ein Spruch von ihm kam, über den sie sich dann künstlich aufregen konnte.

Erst nach einem Moment sah sie seinen fragenden Blick, der sie darauf schließen ließ, dass er tatsächlich nicht ganz nachvollziehen konnte, was sie von ihm wollte. Aber sie würde auch jetzt nicht damit anfangen, ihn aufzuklären, das tat sie nie, sondern ließ ihn im Dunklen tappen. Er musste sich schon ein bisschen mehr anstrengen.

Nun sah er zu seiner Mutter. „Diese Frau spricht immer in Rätseln, das klingt dann immer furchtbar spannend, ist aber nur etwas ganz Banales.“

Es war schon frech, so etwas zu sagen, deshalb sah Chris ihn auch ein bisschen beleidigt an, sah dann aber, dass er sie nur ärgern wollte, weil er nämlich grinste. Dabei war er aber so charmant wie immer – dann wenn er wirklich charmant war, nicht dann, wenn er seine komischen Abwandlungen hatte…

„Weil du in mich verliebt bist, deswegen bist du gnädig mit mir.“ Sêiichî hatte ihre Hand genommen und sprach in einem wissenden Ton. Direkt hatte sie es nicht so sagen wollen, aber das hieß nicht, dass es nicht stimmte.

‚So kann man es auch ausdrücken, du blöder Kerl. Nett zu erfahren, dass du das ja doch weißt.’

„Manchmal braucht man keinen Grund und es ist einfach so“, sagte Akiko, wobei sie den Blick der jungen Frau auf sich zog, die sie nun ansah. „Ihr beide werdet schon ganz genau wissen, was ihr am Anderen habt. Welche Umstände oder Situationen auch dazu geführt haben, sie reichen offensichtlich aus, damit ihr beide erkannt habt, dass ihr zueinander gehört, nicht? Weil mich das ziemlich freut, wo ich mir immer so große Sorgen um Sêiichî gemacht habe, lass uns noch einen draufmachen!“

Hitomi hatte Punktaugen, weil ihre Mutter den Vogel so abschießen wollte – wahrscheinlich hatte sie schon einen im Tee. So selten wie ihre Eltern mehr tranken, vertrugen sie weitaus weniger, als diejenigen, die es immerzu machten.

Es war lieblich und sie war froh, dass Akiko eine so tolle Frau war, die Sêiichî, wie ihr richtiges Kind liebte und auch wirklich nur so – anders als Yohko, die ihrem Sohn ja noch nicht einmal gönnte, eine Frau zu lieben. Weder sie, oder mehr schon gar nicht sie, aber auch alle anderen wären nicht gut genug gewesen, da war sich die Schauspielerin sicher.

Beide Frauen griffen sich die Gläser und stießen gemeinsam an, so dass Takeshi sich den Beiden anschloss, dabei fühlte sich Sêiichî fast ein bisschen übergangen, weil seine Mutter dann erst so richtig loslegte…

„Und nun erzähl mal, wie war das…“

Sie begannen zu reden und Sêiichî glaubte, dass sie tatsächlich einen guten Draht zueinander hatten und sich verstanden – er seufzte.

Takeshi machte eine Kopfbewegung Richtung Terasse und gab damit Sêiichî ein Zeichen, mit ihm kurz rauszugehen, so dass die Frauen unter sich waren, für einen Moment. Auch, wenn er dann nicht mitbekam, was sie redeten, das war doch eh nicht so wichtig. Sêiichî wollte zwar nichts verpassen, wusste aber, dass er mit ihm allein reden wollte, warum auch immer. Außerdem sollte man die Frauen mal Frauen sein lassen, im Gegenzug machten sie auch ihr eigenes Ding - ihr Männerding.

Sein Vater nahm ihn mit raus und als die Heiterkeit, die in dem Raum herrschte, dann kurz verebbte und sie unhörbar waren, kam diese Frage, die nur ein sich sorgender Vater stellen konnte…

„Du bist doch glücklich, Sêiichî, oder?“

Überrascht sah er seinen Vater an und lächelte. „Merkt man das nicht, weil wir den Anschein machen, ein nicht so harmonisches Paar zu sein? Glaubst du deswegen, ich wär’s nicht?“

„Ich meine nicht, ob du glücklich mit ihr bist. Das sieht ein Blinder, selbst wenn ihr streitet, bist du es. Nein, nein. Glücklich, dass du sie hergebracht hast, das meine ich.“ Takeshi wusste, welches Ziel sein Sohn verfolgte. Er brachte seine Freundin her, weil er sich erhofft hatte, dass sie diese mögen würden – anders als seine biologische Mutter es tat. „Ich frage dich das, weil es mir wichtig ist, wie du hoffentlich weißt.“

„Natürlich bin ich das, vor allem dann, wenn ich sehe, wie sehr sich Mutter um sie bemüht…“ Man hätte meinen können, Takeshi hätte etwas Furchtbares gesagt, denn der Mund des Jungen verzog sich nach unten und er wurde gerade wirklich wieder ein Junge. So, wie damals, als sie gesagt hatten, er könne bei ihnen bleiben, solange er wollte. Ebenso nett hatten sie seine Freundin eingeladen, hierzubleiben, was ihn mehr als freute. Er hatte Ängste ausgestanden, was sie von dieser Geschichte halten könnten – deswegen wurde er jetzt erst so richtig sentimental, dabei trat er von einem Bein aufs andere, weil er doch nur ungern schwach wurde und Tränen vergoss. Trotzdem war es jetzt nun einmal so. Das hatte er die ganze Zeit versucht zu unterdrücken, schniefte jetzt aber. „Ja doch, bin glücklich“, kam knapp von ihm. „Darüber, dass Mama und sie sich verstehen“, schluchzte er, „Und… und… Dass ich weiß, dass hier keiner auf sie losgeht…“ Gerade, weil Takeshi ganz genau wusste, wer diese Frau war, und dass Sêiichîs richtige Mutter unter Garantie auf sie losgegangen war, legte er ihm die Hand auf die Schulter.

„Ist deine Mutter auf sie losgegangen?“

„…Sie würde… sie umbringen“, sagte Sêiichî wissend, „deswegen weiß sie nichts davon.“

Anscheinend wusste Sêiichî, wo seine Mutter sich aufhielt, so dass sie es rauskriegen könnte. „Das wagt sie doch gar nicht. Zumindest, wenn sie begreift, wie weit du gehen würdest, um sie zu beschützen. Da muss sie sich vor ihrem eigenen Sohn fürchten, so ist es doch, oder?“

Ihnen allen war beigebracht worden, dass sie diejenigen beschützen mussten, die ihnen wichtig waren – Takeshi wusste, dass man das Sêiichî nicht mehr beibringen musste, das hatte er schon früh begriffen. Er traute seinem Sohn zu, dass er so weit gehen würde, seine Mutter von etwas abzuhalten und wenn das hieß, dass er sie töten müsste, er würde es tun, davon war er überzeugt. Aber nur, wenn er es musste… Er hoffte wirklich, dass es nie zu so etwas kommen würde, dann brauchte er wirklich eine starke Frau, die ihn wieder aufrichtete, weil das natürlich nicht spurlos an ihm vorübergehen würde, er war doch so emotional, das sah er gerade aufs Neue.

„Sie scheint es wirklich gut mit dir zu meinen. Du solltest das auch tun.“

„Wie meinst du das?“ wollte Sêiichî wissen, weil er es nicht so ganz verstand.

„Betrüg sie nicht, das hat sie nicht verdient. Aber das weißt du.“ Man merkte daran, wie Sêiichî den Kopf senkte, wie ein Kind, was etwas ausgefressen hatte, dass er genau das wohl schon einmal getan hatte – oder mehrmals – so dass Takeshi jetzt seufzte. „Wenn du es gemacht hast, dann mach es nicht wieder.“

„Keine Sorge, habe ich nicht vor. Ich kann ja froh sein, dass sie geblieben ist.“

„Ihr beide seid geblieben, das trifft es wohl, nicht? Du bist doch noch nie irgendwo geblieben, Sêiichî“, kam mit einem amüsierten Lachen. „Aber, es freut mich, dass du es einsiehst, dass man so etwas einer Frau nicht zumuten sollte.“

„Sie hat genug Schlimmes durchgemacht, da will ich nicht dafür sorgen, dass es noch schlimmer wird“, sagte der junge Mann, wobei man ihm sein schlechtes Gewissen durchaus ansah. „Außerdem habe ich mir gesagt, dass ich damit aufhöre, wenn ich ganz sicher sagen kann, dass sie mich liebt. Weil ich dann befürchten müsste, dass ich ihr damit wehtue.“

„Du bist schon ein verrückter Kerl. Erst dann fällt dir so etwas ein. Da kannst du ja noch ein bisschen glücklicher sein, dass sie wohl offensichtlich wusste, was in dir vorgeht, ehe du es selber so richtig gemerkt hast. Weil du so etwas ja nicht sagen kannst.“

Sein Sohn wurde ein bisschen rot, weil er natürlich nicht wusste, wann sie es herausbekommen hatte, aber er unterschätzte sie wohl auch so ziemlich.

„Lass die Vergangenheit ruhen und mach es in der Gegenwart besser.“

„Ich glaube, dass sie gerade eigentlich ganz glücklich ist. Ohne Genaueres erzählen zu wollen, haben ihr diverse Menschen, die ihr kein Glück gönnen, schon übel mitgespielt, da will ich es besser machen. Als wir damals zusammen gekommen sind, wollte ich nur eines… Dass sie glücklich ist. Trotzdem habe ich immer wieder diese Sachen getan, die sie mit einem Lächeln weggesteckt hat. Ich war dumm. Nur, weil sie ihren Kummer hinter einem Lächeln verstecken kann, dachte ich, dass ihr das nichts ausmacht. Sie musste mir erst androhen, dass sie mich verlässt, wenn ich so weitermache, da bin ich aufgewacht. Eigentlich ist mir da erst bewusst geworden, was ich da anrichte. Sie kann keinen Mann lieben, der sie nicht genügend achtet, ich sei selbst schuld. Wenn ich ihre Liebe will, muss ich sie mir verdienen. So etwas in der Art ist es gewesen. Damit hat sie mich ganz schön erschreckt.“

 

Akiko hatte mit Chris ein ähnliches Gespräch, weil ihr Mann Sêiichî verschleppt hatte und sie so offener reden konnten. „So so, du willst ihn an einen Ort bringen, wo es kein Entrinnen gibt. Du musst ihn gut kennen, um zu wissen, wie du ihn einsperren kannst. So gemein bist du doch gar nicht, dann hättest du ihm schon das Herz gebrochen, wie er bestimmt deines das ein oder andere Mal. Sêiichî meint es nicht so, aber wahrscheinlich weißt du das. Hast du echt vor, ihn mit einer Schwangerschaft so richtig von seiner ursprünglichen Bahn wegzuschleudern? Nicht, dass das nicht der Fall wäre, aber willst du echt so weit gehen?“

Hitomi hatte sich nun ebenfalls neben Chris gesetzt. „Ich glaube nicht einmal, dass sie zu solchen Mitteln greifen muss. Ich habe meinen Bruder noch nie so mit einer Frau gesehen.“ Sie strahlte und fasste sich an die Wangen. „Er ist so glücklich verliebt, das ist richtiges Neuland. Er hat immer einen Bogen um so etwas gemacht und Beziehungen waren ihm zuwider. Aber bei dir macht er eine große Ausnahme. Ich glaub, er wird dich auch so heiraten.“ Es gehörte sich eigentlich nicht, sich in das Gespräch von Erwachsenen einzumischen, aber sie war ja nun nicht mehr so klein, dass sie nichts von dem verstand, was die beiden redeten.

Chris lächelte und war Hitomi nicht böse, die sich wohl auch wirklich für sie beide freute. Sie war ein gutes Mädchen, eine richtig süße Imoto-chan.

„Dafür wird er noch eine ganze Weile brauchen, schätze ich“, verriet Chris mit ihrem verzauberten Lächeln, was davon kam, dass sie in Sachen Sêiichî wirklich geduldig war, obwohl das nicht gerade eine ihrer Stärken war, für etwas Geduld aufzubringen. Manche Dinge lohnten sich aber, dass man sie geduldig abwartete.

„Sêiichî hat nichts davon verstanden, er wäre wirklich geschockt, dass jemand, der mich nicht so gut kennt, einfach so errät, was ich mit ihm machen könnte. Du musst es auch ganz schön faustdick hinter den Ohren haben, dass du auf die Idee kommst. Natürlich werde ich ihn nicht dermaßen aufs Glatteis führen – jedenfalls nicht absichtlich. Aber sollte der Fall eintreten, werde ich ihn schockieren.“

„Bestimmt wäre es nicht der erste Schock, stimmt’s?“ überging Akiko die Worte, dass sie es faustdick hinter den Ohren haben musste. Sie war Staatsanwältin, da hatte man es am besten faustdick hinter den Ohren.

„Nein – die Sache mit der Nonne hat ihn bestimmt an einen der Schocks erinnert, die er schon mal erlitten hat, als ich ihn dafür bestraft habe, dass er bei einer anderen Frau war. Weil er total auf Frauen steht, die knappere Kleidung tragen, bin ich mit Rollkragenpullover auf ihn los. Das hatte er nicht witzig gefunden, dass er so wenig zu sehen bekam und hat sich fast totgeschmollt, das war ein köstliches Schauspiel.“ Dass Chris gnadenlos sein konnte, sah man an ihrem fiesen Grinsen, denn alle wussten, dass Sêiichî furchtbar gelitten haben musste, worüber sie sich schließlich amüsierte.

„Huehuehue“, lachte Hitomi bei der Vorstellung, wie ihr Bruder wohl ausgesehen hatte, als sie ihn so schockierte.

„Wenn du schwanger bist, Chris-chan, will ich das aber als Erstes wissen“, verlangte Hitomi, so dass ihre Mutter leise lachte. Hitomi war offensichtlich beleidigt, dass sie von dieser Beziehung als Letztes erfuhr. „Mein Bruder hat schon angedeutet, dass er es vorher wusste… Tze… Weil Sêiichî ihm alles sagt, oder so. Er wusste genau, dass du Schauspielerin bist, also weiß er auch deinen Namen. Voll gemein.“

Die Kleine war total beleidigt, was eigentlich viel zu süß war, als dass man es ihr krumm nehmen konnte. „Einverstanden. Sollte der Fall eintreten, sage ich es dir als Erste. Danach Sêiichî.“

„Das ist echt gemein“, lachte Akiko – es dem Mann erst nach der kleinen Schwester zu sagen.

„Nein, das ist fair, Mama. Weil er mir alles verschwiegen hat, der blöde Typ.“

„Ohje, wenn Sêiichî unser Gespräch hören würde, wäre er aber beleidigt. Er beschwert sich immer, wenn er etwas nicht weiß. Da spreche ich fast noch ein bisschen lieber in Rätseln, nur damit er nichts versteht und sich Gedanken machen muss. Da wird er immer total irre.“

„So ein Pech aber auch“, erwiderte Hitomi, die jetzt auch ihr Glas nahm, um einen Schluck zu trinken. „Verhütet ihr eigentlich?“

„Also Hitomi!“ Ihre Tochter konnte wirklich wahnsinnig frech sein.

„Ich schon, er nicht“, antwortete Chris mit einem Lächeln, dabei konnte Hitomi froh sein, dass sie Amerikanerin war und sich deswegen nicht so scheute, wie die meisten Japanerinnen bei solchen Themen. Die stammelten irgendwas zusammen und wurden tiefrot.

„Ach, wie schade, dann kannst du ja gar nicht schwanger werden. Hätte er total verdient…“

„Was für Fiesheiten dir so im Kopf rumspuken, Hitomi, ist echt ungeheuerlich. Rede ihr doch keinen Unfug ein.“

„Den muss man mir nicht einreden, der kommt bei einem Mann, wie Sêiichî, ganz von selbst. Ich glaube nicht, dass Sêiichî wirklich in der Lage ist vernünftig nachzudenken. Wäre ich böse, hätte er nichts zu lachen. Es wäre mir ein leichtes, ihn zu fangen, habe ich aber keine Lust zu. Männer, die so hinterhältig gefangen werden, brechen irgendwann aus. Ich kenne die besten Beispiele dafür.“ Beispiele, die sie jetzt nicht anbringen wollte…

„Nur deswegen bist du so nett, ihn nicht reinzulegen? Du bist zu nett.“

Hitomi fand also, dass sie zu nett war – Sêiichî würde sagen, sie war ein fieses Stück und überhaupt nicht zu nett – so stritten sich die Geister.

„Nicht deswegen, sondern weil ich in den Genuss kommen will, die Einzige zu sein, bei der er von allein auf die Idee kommt. Natürlich habe ich jede Menge Tricks auf Lager, aber ich will das Unmögliche möglich machen. Einem Mann, wie ihm das Herz zu stehlen, ist eine verlockende Versuchung. Vor allem, so sehr, dass er dann den richtigen Weg einschlägt. Ich will, dass er mich auserwählt als diejenige, die er zur Frau nehmen will. Das soll er von selber wollen.“ Ein bisschen rot war sie nun schon. Das war einer ihrer Wünsche und sie wollte das nicht mit Gewalt herbeiführen, wie die anderen Frauen. Egal, wie lange es dauerte, sie würde warten, wenn er nicht wieder mit den alten Missetaten anfing, jedenfalls.

„Du bist doch schon die Einzige“, lachte Hitomi, die einfach eine Träumerin war und wahrscheinlich doch nicht glaubte, dass ihr Bruder wirklich den Fehler machte, so eine Frau dann auch noch zu betrügen. „Seine einzig wahre, große Liebe“, schwärmte sie und hatte dabei etwas total Niedliches. Das war lange her, dass sie genauso gewesen war. Aber war sie das wirklich? War sie denn wirklich eine solche Träumerin gewesen, dass sie wirklich vom Heiraten geträumt hatte? Wenn ja, dann hatte sie das lang vergessen weil es Jahrzehnte zurücklag, dass sie ein Teenager gewesen war, wie Hitomi jetzt. Dass sie es nicht eilig hatte, lag an Sêiichis komischem Verhalten, aber auch ein bisschen daran, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war. Es war nicht so, dass man glücklicher war, nur weil man einen Ring trug, das war ein Trugschluss, dem viele Frauen erlagen und danach böse auf die Nase fielen – dann wenn sie merkten, dass Männer nun einmal nicht so waren. Dass sich nichts änderte. Oder gerade dann sie versuchten aus ihrem Gefängnis auszubrechen. Ein Mann, wie Sêiichî mit Ring am Finger, das war noch etwas, was sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass er das gut finden könnte… damit würden sie sich am Ende doch nur unglücklich machen. Selbst, wenn sie schwanger werden würde… Auch dann würde sie ihn zu nichts zwingen, weil es nichts brachte.

Sie wusste sowieso, dass so etwas Menschen auf Lebenszeit verband. Da brauchte es nicht auch noch einen Ring. Für ihn wäre das wohl Gefängnis genug – aber vielleicht unterschätzte sie diesen Kerl da auch, so wie er sie.

 

Kummer hinter einem Lächeln zu verstecken, war eine weit verbreitete Krankheit. Ryochi konnte davon auch ein Lied singen, Shina konnte das nämlich auch ziemlich gut – gerade Gefühle wie Panik versteckte sie meist hinter einem Lächeln – oder Akemi, die auch immerzu die Starke gespielt hatte…

„Hör zu, Junge. Du bist wahrscheinlich einer der Wenigen, die sie an ihrem Kummer überhaupt teilhaben lässt, auch wenn sie vielleicht viel einfach runterschluckt, weil sie dich nicht damit erschrecken will.“

So etwas von seinem Vater zu hören, konnte ihn wirklich erschrecken, weil er damit Dinge ansprach, die er im Grunde nicht wissen konnte. Deswegen schluckte er, sah in die grünen Augen seines Vaters und stellte nicht sofort seine Fragen. „Ich habe bei Mama das Gefühl, dass sie bereits mehr weiß…“

„Sie kennt dich und deine Eigenarten, vermutlich deswegen.“

„Aha? Aber nicht nur sie, du auch. Zwar habe ich dir gesagt, dass sie viel mitgemacht hat, aber… Mir kommt so vor, als hörst du das nicht zum ersten Mal.“ Es war ein vorsichtiges Herantasten, dabei musste Sêiichî sich nicht so schwammig ausdrücken.

„Man kennt so manche Geschichte und hört nicht zum ersten Mal etwas, wenn man in meinem Beruf arbeitet. Außerdem gibt es da so eine Person, die ihre Sorgen auch unbedingt jemandem mitteilen musste. Das war ein sehr besorgter, blonder Mann, den wir beide sehr gut kennen.“ Nun konnte man davon sprechen, dass Sêiichî angst und bange wurde, weil die Sprache nur von einer Person sein konnte, deswegen rollte wohl auch ein Schweißtropfen über Sêiichîs Wange. Wenn Jamie seine Sorgen mitteilte und das mit Chris zu tun hatte, konnten die Dinge, die seinen Eltern zugetragen worden waren, nichts Gutes bedeuten. „Da muss ich ja fast noch viel froher sein, dass ihr so gnädig seid, er hat doch bestimmt alles erzählt, was er finden konnte.“ Sêiichî drehte sich zur Seite und starrte in den weißen Schnee, dabei leuchteten seine Augen voller Kummer. Aber, wie weit war Jamie wirklich gegangen? Am Ende wussten seine Eltern alles – wirklich alles über sie beide. Dabei fand er nicht am schlimmsten, dass sein Vater wissen könnte, dass er Cognac war – nein, er fand viel schlimmer, was sie dann wohl von Chris wussten. Er wollte doch so gern, wirklich so gern eine heile Welt inszenieren und so tun, als sei alles supertoll und herrlich – keine Probleme, nichts von all dem, womit sie tagtäglich kämpften… Konnte Jamie denn nicht wenigstens in der Sache schweigen?

„Er ist dein Onkel und macht sich Sorgen. Aber er ist auch ihr Großcousin. Da konnte er natürlich nicht schweigen und sagte mir, dass er von euch weiß. Ich wusste also, dass du mit ihr liiert bist. Es war sehr schwer, den Überblick zu behalten, bei so viel Sorgen. Jamie sagte, dass du sowohl dich, als auch sie, gerne in Schwierigkeiten bringst. Ich weiß davon schon ziemlich lange, dass du in Schwierigkeiten steckst.“

Es verlief nicht ganz so, wie Sêiichî gedacht hatte – es war viel zu undurchsichtig ausgedrückt, als dass man vermuten konnte, was genau sein Vater jetzt wusste.

„Was genau weißt du?“ wollte Sêiichî jetzt Klarheit, weil er einfach nicht aushielt, so im Dunklen zu tappen, dabei richtete er seinen Blick nur sehr ängstlich auf den seines Vaters.

„Dass ihr euch in einer misslichen Lage befindet… Sie steckt in so einer Sache drin, in die du dich einmischst, um ihr zu helfen. Deutlicher ist er nicht geworden, aber er findet äußerst bedenklich, was da um euch herum passiert.“

„Seit wann weißt du davon? Von dieser Verbrecherorganisation?“ Takeshi hörte seinen Sohn lauter atmen, tief ein und aus, mit jedem Atemzug ein bisschen schneller, als würde er gleich hyperventilieren. „Und was denkst du jetzt von mir? Bist du sehr enttäuscht?“

Eine solche Frage konnte wieder nur Sêiichî stellen. „Jamie hat mir gesagt, dass du aus Liebe einem anderen Menschen hilfst. Das ist vollkommen nachvollziehbar für mich. Wieso sollte ich da also enttäuscht sein?!“ Es ging nicht direkt um seine Freundin, sondern darum, dass sein Sohn gerade glaubte, Derartiges konnte ihn schockieren oder gar enttäuschen. Er war stolz auf ihn, weil er ein gutes Herz hatte, das sich eben auch in seiner Hilfsbereitschaft äußerte. „Jamie ist wirklich besorgt, gerade weil du gern den Helden spielst, Sêiichî – ganz besonders bei Frauen – aber auch für deine Familie und deine Freunde – ihn inbegriffen. Das ist wirklich Besorgnis erregend. Ich weiß, dass du für die Menschen, die du liebst, alles tust und nicht genügend auf dich achtgibst.“ Während Takeshi das sagte, kamen seinem Sohn die Tränen, weil er einfach nicht vertrug, wenn jemand sich so sehr um ihn sorgte.

„Ich komm klar!“ wollte Sêiichî seinem Vater sagen, aber sich ein Lächeln abzuringen, was ihn beschwichtigte, das schaffte er in seiner momentanen Verfassung nicht auch noch, immerhin stand er hier und heulte, nur weil Jamie nicht den Mund halten konnte.

Zum Glück geschah derartiges hier, im behüteten Rahmen, nicht vor den falschen Menschen.

„Kommst du wirklich klar, oder sagst du das nur, weil ich mir keine Sorgen machen soll, Sêiichî?“ Die Stimme seines Vaters hatte eine gewisse Strenge angenommen, obwohl er das keineswegs böse meinte, er wollte hier nicht angeschwindelt werden. „Mir sind da ganz andere Sachen zu Ohren gekommen, wie toll du klarkommst.“

„Sagt ausgerechnet Jamie, er kommt noch weniger zurecht. Hat er dir wenigstens auch gleich gesagt, es sei meine Schuld, dass er sich jetzt auch bei denen eingestiegen ist? Hat er dir auch ganz brav alles über sie erzählt?“  Man merkte, dass Sêiichî das ärgerte, wenn jemand ihm in diese Sache reinpfuschte, weil es nun einmal hieß, dass er nicht die ganze Kontrolle hatte. Er wusste, dass Sêiichî einiges schönigen würde – wahrscheinlich nicht die eigene Geschichte – aber wohl ihre. Sie sollten sie mögen, das war sein Plan, da verschwieg er ihnen alles Schlechte, was man von ihr erfahren könnte, so war es doch?

„So hat er sich nicht ausgedrückt, nur dass er Verbündete gefunden hat, die ihm dabei helfen, dass du nicht noch ums Leben kommst. Um wen es sich da genau handelt, wollte er mir nicht sagen. Aber ich kann mir einiges vorstellen.“ Takeshi hatte eine wirklich besorgte Miene aufgesetzt und wollte nun auch nicht damit enden, seinen Sohn zu schimpfen, weil er helfen wollte und Gutes vollbringen wollte. Womöglich war sein schlechtes Gewissen schuld, das nicht zuließ, dass er sich Beistand erhoffte.

„Nun ja, Jamies Meinung über Chris lässt stark zu wünschen übrig – bei dem, was ich weiß, ist das kein Wunder. Seine Sinne sind getrübt von der Trauer um das, was er damals verloren hat, obwohl er Chris eher dankbar sein sollte…“ Er wusste genug, um darüber zu urteilen, weil sie Jamie eigentlich nur beschützen wollte – noch mehr seine Kleinen. Diese Person hatte immerhin vorgehabt, sie zu entführen, da hatte diese Frau interveniert. Diesmal mit weniger erfreulichem Ausgang – davon wusste er leider auch. Daher musste man nicht fragen, ob er wusste, wie weit sie bereit war zu gehen. Das würde seinen Sohn total schockieren, weil das hieß, sie wussten, dass sie jemanden getötet hatte. Aber er kannte nicht nur eine Person, die das schon einmal getan hatte, die sie aber trotzdem dafür nicht verurteilten. So einfach war das in dieser Sache nicht.

„Oh man“, seufzte Sêiichî und wirkte dabei, als wolle er nun richtig verzweifelt werden. Er drehte sich zu seinem Vater und wirkte dabei zu allem Überfluss auch noch wütend. „Immer muss er auf dieser einen Sache herumreiten! Ich hoffe doch, er hat wenigstens auch gesagt, dass dieses Miststück seine Kinder wollte und ihn abgeknallt hätte! Sie wollte ihn umbringen… meine Güte… Wann rafft er das eigentlich? Ist ja nicht so, dass Chris Leute aus Spaß einfach erschießt. Es war eine akute Gefahrensituation, deswegen hat sie entschlossen, dieses Miststück zu erschießen, bevor sie Jamie etwas antun konnte. Sie hat ihn doch nur beschützen wollen. Ich kann langsam nicht mehr hören, wie er ihr das immer noch ankreiden will. Weil sie nicht so perfekt ist und nicht zögert, wenn es darauf ankommt!“

Dass Jamie Chris nicht ausstehen konnte – ob von Hass zu sprechen war, war bei Menschen wie ihm nicht klar – wusste er ja, aber dass er jedem diesen Scheiß erzählen musste. Mit Yuichi redete er ja auch darüber, gerade weil er anscheinend Chris nicht sonderlich mochte. Jetzt ging er auch noch zu seinem Vater, um ihm hier noch dazwischen zu funken.

„Bleib sachlich, Sêiichî!“

So etwas wollte der junge Mann aber nicht hören. Er konnte auch nicht, weil seine Emotionalität dazu führte, dass nicht nur erneut Tränen in seinen Augen standen, sondern auch seine Liebe zu dieser Frau ihn beeinträchtigte, so dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte, dachte man. Jamie machte es sich leicht – er schob Sêiichîs Beistand gegenüber seiner Freundin darauf, dass er ja bewusstseinsgetrübt war, weil er sie liebte. Dass er dabei die Augen davor verschloss, wie sie wirklich war.

„Sie macht so etwas, weil sie wie ich ist! Sie versucht die Dinge so zu regeln, dass sie sich keinen Vorwurf machen muss. Gerade, wenn Kinder involviert sind, hat sie ein viel zu gutes Herz, als dass sie zuschauen kann! Dann kann schon einmal passieren, dass sie aus der Haut fährt… Könnte mir genauso passieren… Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich in Sachen einmischt, die gefährlich sind, das dumme Ding. DIE FRAU damals… Die diesen KERL davon abgehalten hat, MICH umzubringen… Das ist sie gewesen, Vater.“ Seine Atmung ging immer hektischer und er sprach immer schneller, dennoch verstand sein Vater jedes Wort. Am liebsten wollte er ihn abhalten, weiter zusprechen, doch Sêiichî ließ es gar nicht zu. „Sie hat uns alle vor dem Tod bewahrt. Man sollte sie als Heldin feiern und nicht hassen. Wieso bin ich der Einzige auf dieser Welt, der das so sieht? Hältst du mich auch für dumm, weil ich in einer Mörderin meinen Schutzengel sehe?“ Sêiichî schnappte heftig nach Luft, so sehr regte er sich gerade über diese Sache auf. Zunächst legte er die Hand auf den Kopf seines Sohnes, der schon lang erwachsen war, aber dennoch sein Kind, um ihm einmal durch die Haare zu wuscheln, dann legte er tröstend die Hand auf dessen Schulter, der gerade so aufgelöst war, dass er Trost dringend notwendig hatte.

„Du stehst mit dieser Meinung nicht allein da und ich halte dich auch nicht für dumm. Diejenigen, die das tun, wissen überhaupt nicht, wovon sie reden.“ Takeshi Akaja hatte genügend Lebenserfahrung, um behaupten zu können, dass er wusste, wie übel das Schicksal einem mitspielen konnte – da konnte man ein noch so guter Mensch sein und war doch nicht davor bewahrt, einen anderen Menschen seines Lebens zu berauben. Es war in jedem Fall schlimm, wenn man zu solchen Mitteln greifen musste, aber das konnten wohl auch nur diejenige einschätzen, was es bedeutete, so etwas zu tun, die es selbst schon einmal mussten. Und dabei sprach er nicht von den Menschen, die Spaß an Derartigem hatten, sondern nicht anders konnten, weil sie ihre Leute beschützten.

Sêiichî war überrascht, auf eine positive Weise und irgendwie rührte ihn das nur noch mehr zu Tränen, obwohl er keine Heulsuse war, wirklich nicht. Er war nur froh, dass sein Vater verstehen konnte, was in ihm all die Jahre vorging. Was Jamie nun einmal nicht verstehen wollte.

„Beruhig dich, Sêiichî. Du kannst sicher sein, dass keiner hier voreingenommen ist, oder sie verurteilt wegen einer Sache, die uns zugetragen wurde. Wir wissen es zu schätzen, was sie damals getan hat. Aber du irrst, wenn du glaubst, dass wir das nicht wussten. Nicht alles, was du tust, mein lieber Junge, bleibt so verborgen, wie du glaubst. Wir wissen sehr wohl, dass du sie versucht hast, zu finden…“ Sein Vater hatte wohl vor, ihn heute nur zu schockieren, weshalb Takeshi ihn anlächelte. „Es war offensichtlich, dass du sie wohl auch gefunden hast.“

Nun seufzte der junge Mann und schien sich wieder ein bisschen zu beruhigen. „Wegen so etwas musst du nicht so verzweifelt werden. Haben wir vielleicht ausgesehen, als wären wir voreingenommen? Du solltest uns besser kennen. Das sind wir doch noch nie gewesen.“

„Ich hatte einfach Angst davor, weil…“ Der 23-jährige wirkte traurig wegen Jamie. „Weil Jamie schon so kleinlich ist und mich Yuichi für verrückt hält… Sie hatte diesen blöden Auftrag… Du weißt schon, sie haben sie auf Ryochi angesetzt, damit sie ihn holt…“ Dabei war ihm ganz schlecht. „Yuichi will nichts davon hören, dass sie das machen musste, dass es ein Befehl gewesen ist, dem sie nachzugehen hat. Dann würde er am Ende noch Mitleid mit ihr haben, weil sie das wirklich alles andere als schön fand. Yuichi sieht sie ja auch nicht, wenn sie verzweifelt… Ich hingegen schon. Diese Frau würde am Ende sich selber opfern, wenn sie damit etwas gegen all dieses Schreckliche tun würde. Aber einen Befehl verweigern, endet eher mit einem sinnlosen Tod. Oder in einer kräftigen Strafe… Sie hat schon so viele Sachen getan, wo ich richtig Angst hatte, dass sie dafür die Quittung kriegt. Sie ist manchmal ganz schön größenwahnsinnig, wenn sie meint, irgendeine Sache abwenden zu müssen. Dafür kommt sie Leuten zu nahe, wo mir ganz elend wird…“ Sêiichî sprach Chardonnay nun nicht an, am Ende würde er dann noch grün im Gesicht werden, so sehr widerte ihn das an.

Eine Frau auf ein armes, unschuldiges Kind ansetzen, damit sie sein Vertrauen gewann, um ihn in die Hölle zu holen… Das war kein schöner Job, der jede Frau wohl anwidern würde, wenn sie bei Verstand war. Er konnte nur mutmaßen, wie sie sich bei so etwas fühlte. Es wäre besser gewesen, sich darüber keine großartigen Gedanken zu machen, aber leider war es auch der Job seines Vaters, über diese Dinge zu urteilen, daher musste er manchmal doch darüber nachdenken. Es war schlimm genug, dass so eine Organisation seit Jahren existierte. Er konnte jeden verstehen, der dem trotzen wollte und alles unternehmen wollte, um es zu beenden. Aber diese Frau, die würde sich am Ende tatsächlich noch mehr selbst schaden, als ihnen allen lieb war, da konnte man ja wirklich froh sein, wenn sein Sohn ein bisschen auf sie achtgab. Da war sich der Polizeipräsident sicher, denn Sêiichî wollte sie beschützen und das würde er auch tun. Daran hatte er keinen Zweifel gelassen, als er gesagt hatte, er half ihr. Er sah sie, wenn sie verzweifelte – das sagte jawohl alles.

„Ach, Yuichi muss auch noch ein par Dinge lernen, scheint mir“, seufzte Takeshi, „du solltest es ihm aber nicht allzu krumm nehmen. Er ist kleinlich, wenn man sich an seiner Familie vergreift, egal in welcher Weise. In seinem Kopf ist am Ende nur, was seinem Bruder angetan worden wäre.“ Weil sein Ältester an diesem Ort festsaß und selbst unter Garantie darunter litt, was er wohl aber keinem zeigte. Für ihn war schlimm, dass Ryochi Derartiges geblüht hätte. Da konnte er alle Verantwortlichen natürlich nicht ausstehen.

„Selbst wenn Yuichi nichts davon hören will, solltest du dir das nicht allzu sehr zu Herzen nehmen. Ich glaube nicht, dass er sie hasst, so wie du denkst, höchstens mag er sie nicht so sehr. Damit musst du lernen zu leben. Eines weiß ich jedoch, er würde nie auf deine Freundin losgehen, dafür bist du ihm viel zu wichtig. Also mach dir darum weniger Sorgen.“ Sein Sohn wurde oft missverstanden, weil das bei ihm sehr schwierig war, ihm fehlte es manchmal an Einfühlungsvermögen, weshalb er sehr kalt wirkte, was er aber nicht war. Er hatte genauso sein Herz am rechten Fleck, wie Ryochi oder Sêiichî. Das ließ er nur selten durchdringen.

„Ich komm damit klar, aber ein paar wenige Menschen wünsche ich mir doch, die mich verstehen, daher bin ich sehr froh, dass gerade du verstehen kannst, was da in mir brodelt“, meinte Sêiichî, dabei sah er trotz allem todtraurig aus, jedenfalls, wegen der Dinge, an die er dachte. „Ich weiß, dass man seine Liebsten beschützt, egal was passiert. Ich würde auch dann zu ihr halten, wenn es da keinen gäbe… Selbst, wenn die ganze Welt mit dem Finger auf mich zeigt und mich fragt, ob ich den Verstand verloren habe, als Kriminalist, sie auch nur ansatzweise zu mögen. Ich glaube, wenn es diese Organisation nicht gäbe, wären einige Dinge anders. Sie hat doch kaum noch Möglichkeiten ihre nette Seite zu zeigen…“ Nun sah er durch die Scheibe zu Hitomi, seiner Mutter und Chris, die wie man auch auf die Entfernung sofort entdecken konnte, sich sehr gut verstanden und eine unbeschwerte Zeit hatten. „Was bin ich froh, dass wir gerade unter netten Menschen sind, wo sie nicht diese elende Fassade aufsetzen muss… Jetzt kann sie einfach mal Zeit mit guten Menschen verbringen.“

Es war nicht so, dass Takeshi seinem Sohn damit alles offenbart hatte, was er wusste. Er könnte ihn noch mehr schockieren, aber das ließ er besser bleiben, weil dabei Dinge gesagt werden würden, die sein Sohn vielleicht gar nicht wusste. Gerade war es ihm genug mit diesem leidigen Thema – er fand es von Sêiichî sehr ritterlich, sie in seine tolle Familie miteinzubringen, an den Ort, wo er selbst beschützt und behütet wurde, wo er glaubte, dass auch sie beschützt und behütet wurde – so war es doch, oder? Dabei fielen ihm gerade die Menschen mit ihren bösen Gedanken ein – speziell eine Person wie Sêiichîs richtige Mutter. Bei ihr wäre all das nicht machbar. Sêiichî hatte zweifelsfrei gesagt, dass er bereit war seine Mutter zu töten, wenn sie seiner Freundin irgendetwas versuchte anzutun – damit musste man auch leider rechnen. Da war ganz klar, dass er jetzt doch glücklich war, weil es ihm und ihr hier besser erging.

Die kleine Schwester der drei Männer, die Chris doch sehr vertraut waren – aus mehreren Gründen – war wirklich die Ausgeburt eines Mädchens, das ältere Brüder immer beschützen würden – sie hatte immer sehr schade gefunden, keine Geschwister zu haben, gerade einen Bruder hätte sie gut gefunden. Als sie damals von der Existenz ihrer jüngeren Halbschwester erfahren hatte, war sie doch sehr happy gewesen. Trotz der traurigen Umstände, wie sie es erfahren hatte. Ihre Familie barg eben düstere Geheimnisse, von denen sie als kleines Mädchen noch wenig geahnt hatte…

Menschen, die sich mit Geheimnissen umgaben, waren interessant, aber meistens wollten die nicht bloß interessant sein, sondern hatten irgendwelche Leichen im Keller.

Nicht nur ihre Familie hatte Geheimnisse, sie wusste auch, dass es andere Familien gab, die - ähnlich wie die ihre - Leichen im Keller hatten. Sogar diese perfekte Familie hatte diese. Doch es war anders, als bei ihren Eltern. Bei ihnen hatte nicht das Schicksal auf grausame Weise mitgespielt.

Es war ein Wunder, dass sie alle noch so glücklich waren, wenn man bedachte, was in der Vergangenheit nicht alles in deren Leben schiefgegangen war. Hitomi war ein aufgeschlossenes, liebes, aber auch verdammt freches Mädchen, obwohl man sich an ihren Brüdern vergriffen und ihr sogar einen weggenommen hatte. Man sah nach außen hin nicht die Spuren, die es bei einem Mädchen ihres Alters damals sicher hinterlassen hatte. Sie war so viel besser als dieses andere Mädchen, was sie kannte. Warum konnte das andere Mädchen nicht einfach genauso werden? Wieso musste man sie dermaßen verderben? Wäre Hitomi am Ende genauso geworden, hätte man ihr so etwas Schreckliches angetan?

Es war immer schlimm, wenn Kinder in die Organisation hineingezogen wurden. Man nahm ihnen ein Stück weit Kindheit weg, machte sie zu Arbeitswerkzeugen, die früh erwachsen werden mussten. Wahrscheinlich weigerte sich Sêiichî deswegen komplett erwachsen zu werden. Yuichi war anders, obwohl er früh damit zu tun gehabt hatte, war er immer der Bruder gewesen, der seine Geschwister auf Teufel komm raus beschützen musste. Aber auch er hatte Schaden an der Sache genommen, egal wie sehr er sich abschirmte – sie konnte das allzu gut verstehen. Sie hatte sich ihm nicht nur einmal genähert, was er immer wieder mit seiner Kälte unterbunden hatte. Ein kleines bisschen erinnerte sie das an sich selbst, da konnte sie ihm nicht mal böse sein. Yuichi war ein bewundernswerter Mann, schon mit knapp 20 hatte er Bewunderung verdient – bestimmt ging sie Sêiichî damit auch mächtig auf die Nerven, dabei bewunderte er ihn doch genauso, schließlich eiferte er ihm nach.

Chris fürchtete, dass Ryochi sehr viel mehr darunter gelitten hatte, was mit seinem älteren Bruder passiert war. Sie vermutete, hinter ihm versteckte sich ein ebenso sensibler Mensch, wie Sêiichî, sie waren immerhin beste Freunde und noch dazu wie Brüder. Nicht nur innerhalb der Familie, sie hatten eine enge Beziehung und Sêiichî fürchtete sich seit Jahren, man könnte ihn nicht mehr mögen. Das hätte ihrem Freund das Herz gebrochen – gerade wenn Ryochi sich von ihm abwenden würde, aber dafür war er viel zu gut. Sie dachte kurz an Shina, die von merkwürdigen Menschen gehasst wurde, aber genauso gut war, wie der Mann an ihrer Seite. In einer anderen Welt, vielleicht, wären sie Freunde.

Akiko beobachtete, wie Chris abdriftete und wohl über irgendetwas nachdachte. Es wirkte, als hätte sie für einen Moment die Welt um sich herum ausgeblendet, deswegen war sie wohl auch so geschockt, als ihre Tochter jetzt die Arme um ihren Hals schlang und lachend irgendetwas Verrücktes von sich gab.

„Ich finde voll cool, wenn ihr beide süße Babys bekommt und heiratet, dann sind wir mit den Vineyards verwandt, voll cool. Erst mit den Kudōs, dann mit den Vineyards! Meine Brüder machen echt keine halben Sachen, hehehe!“

Akiko merkte durchaus, dass diese Umarmung von ihrer Tochter doch ein bisschen weit ging, aber sie sagte nichts, sondern lächelte. „Tja, wir verbreiten uns überall auf der Welt“, scherzte Akiko daraufhin, wobei Chris sie von der Seite ansah und sie musterte.

„Wir wollen doch nicht übertreiben, Hitomi! Der arme Sêiichî wäre ja vollkommen überfordert… Er hat ganze sechs Jahre gebraucht, um seine Freundin den Eltern vorzustellen, wahrscheinlich hat er damals auch noch geglaubt, dass man ihn endgültig für verrückt erklärt, wenn er eine Frau mitbringt, die ein bisschen älter ist, als er“, amüsierte sich Chris.

Zwar beherrschte diese sich perfekt zu verstellen, aber in ihren Worten war ein leicht ironischer Unterton verborgen.

„Der Bengel war schon immer frech und dreist, damals ist er doch gerade mal 18 gewesen. Wusstest du das, Chris? Ich meine, bestimmt hat er mit seinem Alter auch noch geschwindelt. Bestimmt hat er aus 18 Jahre 20 Jahre gemacht, ich traue ihm das jedenfalls zu.“

Hitomi hielt inne und wirkte verwundert, lachte dann aber. „Yakko ist viel älter gewesen als Chris… Da hat er ja auch nicht gefackelt. Das kann man der Armen nicht mal zum Vorwurf machen. Wer weiß, was für eine Show er abgezogen hat, darin war er ja schon immer gut. Er war der Spinner, der mit 16 sogar geschafft hat, in irgendwelche Discos zu kommen, um dort Ausschau nach jungen Frauen zu halten… Die haben ihn auch immer ganz brav reingelassen, weil er älter aussah.“

„Das ist wohl sein amerikanisches Blut, was ihn älter wirken lässt, als er tatsächlich ist, Hitomi.“

Was für ein Gespräch, aber es war aufschlussreich – auch für die Blondine, die sich immer gefragt hatte, ob man sich am Ende schämen musste als Frau, wenn man diesem Kerl zum Opfer fiel, dem sie doch eigentlich haushoch überlegen war. In Sachen Erfahrung und Reife jedenfalls. Das war aber vielleicht am Ende besser gewesen – man konnte das weit auslegen. Eine junge Freundin hätte doch gar nicht mit einem irren Spinner umgehen können, der ganz anders funktionierte, als der äußere Schein vermuten ließ. Da musste man schon ein bisschen mehr Erfahrung und Ahnung von Jungs haben, sonst fiel man ins eiskalte Nass.

„Trotzdem!“ Nun wurde Chris von Hitomi einen Moment länger angesehen. „Erzähl uns doch ein bisschen was! Ich find das superspannend! Nur, weil sein Onkel mit den Vineyards verwandt ist, heißt das ja nicht, dass das der Grund gewesen ist, dass ihr zwei zusammengekommen seid, nicht? Wie ist das denn zustande gekommen? Ich bin so neugierig, bitte, bitte, sag es mir.“

Ihre Fragen waren unschuldig und hatten nichts damit zu tun, dass man ihr mit dem Wissen schaden wollte – sie wollte nur an Sêiichîs Leben teilhaben, was er nicht zuließ, weil er zu viele Geheimnisse im Dunklen verbarg, dabei verzichtete er auf viele Dinge – dabei eben auch diese Geschichte. Sharon hatte schon so manche Geschichte erfunden, aber meistens waren Teile wahr, das hatte sie bisher immer hinbekommen, aber sie wollte nur sehr ungern hier Lügen auspacken. Sie wünschte, dass sie alles wüssten und sie müsste nichts erfinden… Noch nie in ihrem Leben hatte ihr lügen dermaßen widerstrebt, wie gerade.

„Sêiichî hat mich eiskalt erwischt, Hitomi. Ich konnte nicht viel machen…“ Diesem Kerl hätte sie das wohl nie so gesagt. „Ich hab mich gewehrt, wirklich, ziemlich lange, bis er fast verzweifelt ist. Als ich vor sechs Jahren beruflich in Japan war, um mich mit einem japanischen Regisseur auseinanderzusetzen – einem gewissen Kei Usami – bin ich Sêi-chan zufällig in die Arme gelaufen. Damals wusste ich nicht mehr, dass er mit meiner Mom verwandt ist und bin ganz ahnungslos in seine Falle getappt. So, wie das eben seine Art ist, hat er natürlich versucht an mir herumzubaggern. Ich war gestresst und hatte furchtbare Laune…“

Die rotblonde Studentin bekam richtiges Kopfkino, denn sie wusste, wie das aussah, wenn Sêiichî seinen Charme an Frauen erprobte, gerade an solchen, wo er doch glaubte, es nicht ganz so einfach zu haben. Sie stellte sich bildlich vor, wie er bei Chris angeeckt war… Wie hatte er noch gesagt? Sie war ihm nicht gerade in den Schoß gefallen.

„Hehehe – ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie er sich abgemüht hat, um so eine Frau, wie dich zu bekommen. Bestimmt war er danach ziemlich frustriert.“

Wie dieses Mädchen sie einschätzte… Sie war nicht blind und kannte ihren Bruder ziemlich gut, aber sie schien seine Freundin auch ziemlich gut einzuschätzen.

„Ich habe sein übergroßes Ego mit Karacho gegen die Wand laufen lassen und er hat nicht verstanden, warum.“

Akiko musste nun lachen, weil sie sich ihren Sohn richtig gut vorstellen konnte, wie beleidigt und gekränkt er vielleicht aus dieser Konfrontation gegangen war. 

„Und wie hat er dich am Ende dann doch erobern können?“ stieg sie in das Gespräch ein und wollte das wohl unbedingt wissen.

„Sêiichî hat mich in meiner Einsamkeit erwischt, als ich – da ich mich vier Jahre zuvor heftig mit meiner Mutter gestritten hatte – meinen Geburtstag einsam und alleine in Tokyo verbrachte. Ich wollte mich sinnlos betrinken…“ Es war eine Seltenheit, dass sie Schwächen, wie diese, zugab. „Ich dachte über meine üble Vergangenheit nach und war sehr traurig… Meine Mom hat früh ihren Ehemann verloren, dadurch ist sie total verbittert und konnte nicht mal über kleine Scherze lachen. Einen hat sie mir krummgenommen und mich davon gejagt…“ Normalerweise sprach sie nicht schlecht von ihrer Mutter, aber es war eben die Geschichte, die sie überall verbreitet hatte. Dass sie sich nicht gut verstanden – aus diesen und jenen Gründen. „Ich war 19 und hatte keine Ahnung vom Leben… Aus Kummer und Enttäuschung habe ich mich der Schauspielerei verschrieben, da traf ich Unmengen an Menschen. Gute und schlechte – vorwiegend geriet ich an die Schlechten. Was sonst? Aber in Einsamkeit nimmt man alles, was man kriegen kann.“

„Das klingt nicht gerade schön…“, meinte Hitomi, die einen leicht deprimierten Blick im Gesicht hatte.

„War es ja auch nicht, aber dann nahm das Schicksal auf japanischem Boden seinen Lauf.“ Nun lag ein Lächeln im Gesicht der Schauspielerin, weil sie hier schließlich nicht nur ihre schlimme Vergangenheit ausbreiten wollte. „Zwar habe ich ihn zappeln lassen, aber ich habe trotzdem hinter seine Fassade geschaut, die er weitestgehend aufrechterhielt – nur ganz selten ließ er blicken, wie er wirklich fühlte. Weil ich Schauspielerin bin, war er nur halb so erfolgreich, wie er glaubte.“ Sie lächelte, schloss die Augen und wirkte ein bisschen geheimnisvoll. „Ich hatte nie vor, solange zu bleiben, oder so oft hierher zu kommen. Nur ab und zu – auch weil Teile meiner Familie hier lebten. Und eben diese geschäftliche Beziehung mit Mister Usami. An meinem Geburtstag also, den ich plante mit mir selbst zu verbringen, kam Sêiichî. Wir waren gute Freunde geworden und ich hatte ihm sogar einen Schlüssel gegeben – schon verrückt, was? Er konnte also einfach in die Wohnung reinspazieren, wann er wollte. Er ist auch ziemlich oft gekommen, meistens, um sein Herz auszuschütten.“

Akiko schien darüber doch zu staunen, genauso wie Hitomi. „Das hat er so aber sonst nie gemacht“, erkannte das Mädchen und war richtig verblüfft.

„Ich hatte auch nie jemanden so tief in meine Welt gelassen, Hitomi… Also kam er… Ich mit meiner üblen Laune und er mit roten Rosen… An dem Tag war ich geschwächt und hatte keine Kraft, mich gegen ihn zu wehren, da habe ich mich dann doch in seine Arme sinken lassen… Er war auch absolut liebenswert und nett und erlöste mich aus meinen Qualen. Was hätte ich da anderes tun sollen, als mich in seine Arme begeben? Er ist die ganze Nacht geblieben.“

„Warum wusste ich, dass er sich nicht mit halben Sachen zufriedengeben kann? Ganz oder gar nicht.“ Hitomi hatte bestimmt das größte Kopfkino aller Zeiten, als sie das mit einem schelmischen Unterton sagte. „Aber so doof er manchmal ist, gerade in Gefühlsdingen weiß er doch ab und zu mal genau das Richtige zu sagen, damit man schwach wird. Darüber haben sich schon Unmengen an Mädchen aufgeregt, weil er sie damit doch gekriegt hat. Also habt ihr miteinander geschlafen? Damals zum ersten Mal?“

Oh, dieses Kind, sie wollte es wirklich genau wissen. Man sah Chris an, dass sie keine dieser Frauen war, die auf solche frechen Fragen antwortete, aber ihr geheimnisvolles Lächeln sprach Bände. „Maybe.“

Wem wollte sie eigentlich einen Bären aufbinden? Hitomi wusste ganz genau, dass es so gewesen war, aber eine anständige Frau beantwortete so etwas doch nicht.

„Du hast dich also richtig in meinen Bruder verknallt, stimmt’s? Weil er dich aus deiner Einsamkeit erlöst hat!“ Ein strahlendes Lächeln war in Hitomis Gesicht, weil sie nicht glaubte, dass ihr Bruder die Situation nur schamlos ausgenutzt hatte, immerhin waren sie ja immer noch ein Paar.

„So etwas in der Richtung“, antwortete die Blondine lächelnd. „Und nun sitze ich hier… Bei seiner Familie. Daran habe ich ja fast nicht mehr geglaubt, dass er das mal tun würde.“

„Tja, er ist eben immer für Überraschungen gut, nicht? Es hatte also rein gar nichts mit Jay zu tun, dass ihr zwei euch Hals über Kopf ineinander verliebt habt… Mein Sohn braucht keine Hilfe, das habe ich sowieso immer gewusst. Dass er schon den richtigen Weg einschlagen würde“, meinte Akiko und überraschte damit Chris wahrscheinlich, mit ihrem unerschütterlichen Glauben an den Jungen, den sie in ihr Herz geschlossen hatte, wie eine richtige Mutter.

Aber Chris lächelte bei so viel Vertrauen. „Er ist ein schlauer Junge und nicht so blöd, wie viele immer behaupten. Nur braucht er manchmal ein bisschen länger. Er hat ein großes Herz. Das bietet aber auch sehr viel Angriffsfläche, um darin herumzustochern.“

Ein Satz, der keinem besonders gut gefiel, aber auch verriet, dass sie (Chris?) wusste, wie viele Menschen Sêiichî bereits verletzt hatten – er redete bei seiner Freundin also ein bisschen mehr über seine Gefühle, darum war die Staatsanwältin wirklich froh.

„Das ist wahr – vor allem seine richtige Familie hat alles Mögliche getan, um ihm das Herz rauszureißen. Aber er wurde diverse Male behütet und beschützt. Auch von Menschen, an die man nicht gedacht hätte, dass sie es tun würden.“ Ihr Satz war äußerst geheimnisvoll und gerne hätte Chris gewusst, wen, zum Beispiel, Akiko meinte.

„Zum Beispiel?“

Die 45-jährige schien auch ihre Tochter vor ein Rätsel zu stellen, denn sie sah ihre Mutter fragend und neugierig an. „Von wem sprichst du? Welche Person hat Sêi-chans Herz denn noch vor Schaden bewahrt?“

„Dass du darauf nicht selber kommst, Liebling.“ Beide wurden noch ein bisschen auf die Folter gespannt, indem sie es herauszögerte und dann mit einem absolut hinreißenden Lächeln sagte. „Ich konnte mich nie bei dieser Person bedanken… Obwohl ich das so gerne getan hätte.“

„Meinst du diese blonde Frau, die Sêiichî als einen Engel bezeichnet hat?“ fragte Hitomi nun. „Der Grund, warum er jetzt Blondinen mag?“ Das Mädchen lachte hinter vorgehaltener Hand.

„Kind, du hast keine Ahnung, welche Frau das gewesen ist“, seufzte sie und schenkte Chris einen Blick, der diese teils etwas nervös machte.

‚Um Himmels Willen… Sie weiß davon?’ Man sah den etwas schockierten Blick und wie sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, dann kam dieser Name, der sie noch schockierter dreinschauen ließ…

 

Man sollte diesen Tag im Kalender rot anstreichen – Tag der Schockierungen – so etwas dachte sich Sêiichî, als er aus dem Staunen nicht mehr herauskam.

„Oh man – ich muss blind gewesen sein. Am Ende sagst du mir noch, dass ihr Yuichis Patenonkel dort rein verpflanzt habt, damit er für euch spioniert…“

Auf Sêiichîs Worte ging er nicht direkt ein, weil er dazu nichts sagen wollte, schockiert hatte ihn das sowieso.

„Das sage ich dir nur, um dir zu verdeutlichen, dass ich keineswegs kleinlich bin – gerade wegen der Sache mit Ryochi.“

Diese Schauspielerin hatte nichts Schlimmeres getan, als andere taten. Hasste der die etwa? Nein, also sollte Sêiichî wirklich damit aufhören, so etwas zu denken. „Einige Menschen nehmen ziemliche Opfer in Kauf, um in diesem Laden zu bestehen, Sêiichî. Da bist du nicht der einzige. Deine Freundin macht nichts Anderes. Sie quält ihre Opfer nicht, andere hingegen haben richtige Freude daran, wenn es dabei nur die Richtigen trifft“, sagte er und meinte damit jemanden, der ihnen mehr als vertraut war. Er brachte wohl die größten Opfer, aber auch Sharon Vineyard war nicht ohne. Sie ließ sich von einem FBI-Agenten anschießen, nur um ihr Spiel aufrecht zu erhalten. Dabei kam sie nicht nur einmal zu Schaden. Um nicht aufzufliegen, bezahlte jeder einen hohen Preis – die einen mehr, die anderen weniger.

„Da fällt dir nichts mehr ein, was? Plavac ist unser Verbündeter, nicht unser Feind. Das darf die Organisation niemals herausfinden, sie würden auch ihn eiskalt umbringen, auch wenn er als Killer mehr als tauglich ist. Sehr viel tauglicher, als du. Also gib gefälligst gut auf dich acht, damit man niemals herausfindet, zu wem du gehörst, verstanden?!“

„Vater, Plavac ist ein blutrünstiges Monster…“ Der Junge verstand nicht, was man ihm sagen wollte. „Außerdem hat er auf Ryochi und auf Chris geschossen…“

„Na und? Beide leben noch, oder nicht? Ihr Leben ist auch nie in Gefahr gewesen! Dieses blutrünstige Monster könnte beide spielend leicht ermorden – dagegen könnte keiner etwas machen. Gerade, weil er so gefährlich ist, wäre es ihm ein Leichtes.“ Takeshi schüttelte den Kopf. „Shuichi Akai könnte deine Freundin auch einfach umbringen und er tut es nicht. Er erschreckt sie und sie hat auch ganz brav Angst vor ihm. Kannst sie ja mal fragen, was sie von Plavac hält… Wahrscheinlich würde dich das noch schockieren. Bestimmt kommt dann so etwas wie man muss Opfer bringen in dieser Welt und mit den Schultern zucken. Am Ende würde sie noch sagen, dass sie es nicht anders verdient hat.“

Sein Vater schockierte ihn wirklich – Plavac, ausgerechnet der, von dem wohl niemand glauben würde, dass er auf Seiten der Gerechtigkeit stand, war ihr Verbündeter? Das konnte er ihm doch nicht einfach sagen. Und Yuichi? Der war kleinlich in Sachen Vermouth? Hatte der sie noch alle? Aber Plavac durfte auf Ryochi schießen… Sêiichî war deswegen schon ganz schön angepisst.

„Ich werde  Yuichi zu dem Thema mal auf den Zahn fühlen – es interessiert mich echt, was er dazu sagt…“

„Lass dich nicht zu sehr schockieren, Sêi-chan… Kann schon sein, dass Yuichi sich dazu gar nicht äußert und so tut, als würde er Plavac kaum kennen, nur um dich nicht zu sehr zu entsetzen.“

„Also ehrlich, ohne Worte, ich bin entsetzt. Ist also Plavac tatsächlich für euch eine Informationsquelle? Um Himmels Willen, was hat er euch nur erzählt?“

„Du bist ganz schön leicht zu schockieren, mein Junge“, meinte Takeshi, was ihn eigentlich sorgte, weil deswegen bestimmt ganz viele Schwachheiten in seinem Kopf waren.

„Plavac greift zu harten Geschützen, im wahrsten Sinne des Wortes, um Menschen zu beschützen. Dabei ist er manchmal brutal, aber du kannst kaum leugnen, dass die Verletzungen, die Ryochi hatte, kaum schwerwiegend gewesen sind. Bestimmt bereut Plavac schon, dass er ihn nicht schlimmer verletzt hat, um ihn zu stoppen, denn das war sein Ziel. Er soll die Finger von diesem Laden lassen, immerhin bringt das Yuichi in große Schwierigkeiten. Dein so toller, großer Bruder hatte davon nämlich mehr, als du glaubst.“

Ein weiterer Schock für Sêiichî, der Yuichi für den größten Helden aller Zeiten hielt, der nie verletzt wurde… Diesen Zahn musste man dem guten Sêiichî endlich mal ziehen… Yuichi war bei weitem nicht skrupellos genug, um nie etwas abzubekommen. Er hatte gelernt, dass manche Dinge sein mussten, aber das war nicht immer so gewesen – da ging er jede Wette ein.

Der 23-jährige schaute betreten runter – wahrscheinlich, weil ihn das jetzt echt hart traf.

„Nun schau nicht so.“

„Und da habe ich gedacht, dass keiner verstehen könnte, dass ich Menschen ihres Lebens beraubt habe.“ Schlimmer, er hatte gedacht, dass sie ihn deswegen am Ende weniger mochten und enttäuscht von ihm waren. „Ich glaubte, dass ich eine große Enttäuschung für alle sein würde, wenn es je herauskommt.“

„Davon solltest du weit Abstand nehmen. Diese Organisation ist schlimmer als die Anderen. Menschenleben werden einfach so ausgelöscht, dabei zeigt keiner Erbarmen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als selber wenig Erbarmen zu zeigen, ist es nicht so? Anders kommt man mit denen nicht zurecht. Meinst du wirklich, dass mir das nicht schon seit langer Zeit klar ist? Verzweiflung verlangt verzweifelte Taten. So etwas sagst du dir bestimmt auch immer dann, wenn du jemanden erschießen musst, was auch immer der Grund dafür auch sein mag. Wir haben viele Feinde – du würdest nicht glauben, wer nicht alles in diese Organisation verstrickt ist, den du da noch nicht mitbekommen hast. Diese Mysterien sind voller grausamer Wahrheiten. Irgendwie scheint aus jeder Familie irgendeiner in diesem Nest zu hocken. Die Meisten haben sich wohl gegen uns verschworen.“ Allein diese Tatsache konnte einen schockieren. Da durfte man nicht wählerisch sein mit seinen Verbündeten. Von Plavac wusste Takeshi, dass auch Sêiichî sich mit Leuten einließ, die er im Leben außerhalb eher meiden würde – da war so ein Kerl, der Vergewaltiger erschoss – aber ansonsten der Organisation gegenüber mehr als loyal war. Mit dem sollte Cognac sich angefreundet haben, obwohl er den Laden selber gern hochgehen lassen wollte.

Sein Vater war ein guter Mensch, das hätte er jeder Zeit behauptet und nun hatte er ein Bündnis mit Plavac – das verarbeitete er jetzt erst einmal. Auf der anderen Seite war das auch ungemein erleichternd – so schlimm, wie Plavac, war er bei weitem nicht, das könnte er ja gar nicht. Syrah hatte versucht ihn ein bisschen gegen Plavac zu hetzen – sie hatte ihm davon erzählt, was passiert war und er war auch sofort in Tokyo gewesen, um sich Chris genauer anzusehen. Ihre Tochter hatte nichts geschönigt, vielleicht eher noch übertrieben – angeblich war sie fast gestorben… Dass Teran Chris geholfen hatte, ließ ihn dann doch aufatmen und nur deswegen durfte dieser Scheißkerl auch weiterleben. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich eingestehen müssen, dass die Beziehung von Syrah und Vermouth durchaus seine Vorteile hatte, so wenig ihm das gefiel. Syrah würde ihr beistehen, gerade in solchen Situation.

In der Not frisst der Teufel fliegen – das traf wohl mittlerweile wirklich auf jeden zu. Dennoch konnte Cognac Plavac nicht sonderlich gut leiden, immerhin war der ja mit Baileys zusammen – ihrem Feind. Manchmal war er wirklich so kleinlich. Mit ihm waren sie ja auch ganz schön kleinlich, was sie anging, da nahm er keine Rücksicht.

„Jetzt weißt du bescheid und kannst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Ich weiß ganz genau, dass du ein guter Kerl bist, egal, was du gerade wieder für merkwürdige Sachen treibst, Sêiichî. Ich vertraue darauf, dass alles, was du tust, sehr gute Gründe hat. Da höre ich nicht auf Leute, die behaupten, dein Bewusstsein sei getrübt. Du bist vollkommen bei Verstand.“

Erneut zog Sêiichî die Nase hoch, denn die Worte seines Vaters rührten ihn.

„Lass uns deine arme Freundin nicht schockieren – falls sie es nicht sowieso weiß – manche Sachen muss man nicht aussprechen, damit andere damit rechnen. Bringen wir sie nicht in die Lage, in irgendeiner Weise von der Sache reden zu müssen, wo sie sich so viel Mühe gibt, alles Mögliche zu vertuschen und zu verschweigen.“

Was genau sie nun vertuschte oder verschwieg, dabei waren wohl so manche Hämmer dabei – deswegen legte Sêiichî auch den Kopf schief und hätte gern gefragt, aber irgendwie wusste er, dass sein Vater es nicht noch deutlicher machen würde. Er wusste seit Jahren, was seine Kinder trieben, weil man ihm davon berichtete – das hatte er ihm nie angesehen. Das rettete ihnen allen womöglich auch das Leben…

 

„Sharon Vineyard? Ihre Mutter?!“ fragte Hitomi schockiert. „Das kann doch nicht sein, du nimmst uns auf den Arm.“

„Ganz und gar nicht“, seufzte Akiko. „Dein Vater und ich konnten damals einfach nicht anders, wir mussten doch herausfinden, wer unserem Sohn das Leben gerettet hat. Eigentlich wollten wir uns persönlich bei ihr bedanken. Sêi-chans richtige Mutter hatte wohl kein Interesse daran, den Mann zu stoppen, obwohl sie mit diesem Kerl wohl zu der Zeit in einer Partnerschaft lebte.“

Chris konnte einfach nicht den Schock aus ihrem Gesicht verbannen, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes aufgefallen war. „Meine Mutter – auch immer für eine Überraschung gut“, sagte sie dennoch nach einem kleinen Schreckmoment, wobei sie die Augen schloss und lächelte. „Da wäre Sêi-chan sicher sehr enttäuscht, wo er doch glaubt, zu wissen, wer ihm geholfen hat. Na, wenigstens ist die Sache so in der Familie geblieben.“

Hitomi wusste nicht, was diese Frau auf einmal hatte – sie hatte mit dieser Sache niemanden vor den Kopf stoßen wollen.

„Mama, was meint sie damit?“

Akiko besah sich diese Frau, die ihren Augen nicht begegnete – wahrscheinlich wollte sie gar nicht, dass je einer erfuhr, dass sie das gewesen war… Trotzdem wollte sie auch nicht Sêiichîs Träume zerstören, zu behaupten, dass er seinen Engel gefunden hatte.

„Ich habe meinem Sohn nicht gesagt, dass ich das weiß“, verriet die rotblonde Frau, woraufhin Chris die Augen öffnete. „Aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass er dumm ist. Mein Sohn war damals wahnsinnig genug, sich auf die Suche zu begeben, um herauszufinden, wem er sein Leben verdankt. Aber wir müssen deiner Mutter auch dankbar sein. Sêiichî hatte damals eine schwere Zeit und er spielte den Helden, um sich eine Daseinsberechtigung zu verschaffen. Er glaubte, auf dieser Welt erwartet ihn nicht das Geringste. Man sagt immer, Kinder bleiben von Depressionen verschont, aber trotzdem hatte er welche. Zwar hat er sich von seinen richtigen Eltern abgewandt und wir versuchten sie so gut es ging, zu ersetzen, aber er weiß mehr, als es den Anschein macht. Zum Beispiel davon, dass seine Mutter einen brutalen Mann geliebt hat, der ihr wichtiger war, als sein Vater. Sie kam damals an und wollte ihren Sohn zurück, was wir nicht zulassen konnten. Dafür hat seine Mutter uns ziemlich gehasst. Sie hätte alles getan, um uns Sêiichî wieder wegzunehmen. Und sei es mit Gewalt… Es ist nur eine Vermutung, Chris, aber wir glauben, dass Yohko Iwamoto ihren Kerl auf unseren Sohn gehetzt hat, um ihn dafür zu bestrafen, dass er damals entschieden hat, bei uns zu bleiben. Er hat sie abgewiesen, verstehst du? Das konnte sie ihm nicht verzeihen, da wollte sie, dass der Kerl, den sie liebte, Sêiichî bestraft… Deine Mutter muss Wind davon bekommen haben, weil sie mit dieser Frau engen Kontakt pflegte… Da hat sie es verhindert.“

Dieses Geheimnis – all die Jahre über hatte sie es für sich behalten und tatsächlich geglaubt, keiner stieg je dahinter. Dass seine eigene Mutter Keichiro auf die Akajas gehetzt hatte, stimmte. Die durfte sie ja alle umbringen, weil sie ihr den Sohn weggenommen hatten. Aber, dass sie zugelassen hätte, dass ihr Sohn dabei ums Leben kam, konnte sie bis heute nicht begreifen. Die eisige Kälte, die sie stets umgab, verhinderte auch nicht, dass sich in ihr Gesicht die Traurigkeit legte.

„Das ist in der Tat ganz schön grausam, selbst bei den schlimmen Sachen, die diese Frau angeblich Menschen angetan hat. Ihr eigenes Kind ermorden zu lassen, dazu gehört verdammt viel Herzlosigkeit.“ So sehr sie schauspielerte, an Yohko würde sie wohl nie herankommen – so bösartig konnte nicht einmal sie sich selbst darstellen. „Mir fehlen die Worte, wirklich. Tolle Welt. Immer trifft es die Falschen – ich weiß, dass diese Frau immer noch am Leben ist.“ Sharon war tot, genau – und Yohko war immer noch da – Ungerechtigkeit, die sie so gern bekämpfen wollte, aber sie hatte Skrupel – warum? Weil sie Sêiichîs Mutter war.

„Man kann es nicht mehr ändern. Sharon ist tot und Yohko am Leben. Das ist der Grund, wegen dem ich meinem Sohn nicht sage, was wir herausgefunden haben. Damals, mit 15, da war er unglaublich hinter seinem Engel her – er wollte diesen finden – um jeden Preis. Wahrscheinlich war er in seine Retterin auch noch verliebt. Wer weiß, was er gemacht hätte, wenn er sie tatsächlich gefunden hätte? Ich traue meinem Sohn alles zu. Das wäre nie gut gegangen. Seine richtige Mutter wäre vollkommen durchgedreht. Selbst, wenn Sharon überlebt hätte, wenn die ihrem Sohn zu nahe kommen würde, würde sie ihr die Gurgel umdrehen, so wie sie es bei uns versucht hat…“

Diese Geschichte war anders, hörte sich merkwürdig an und bescherte ihr auch noch eine leichte Röte im Gesicht. Aber im Grunde war das nicht sie – das war das andere Stück, was noch in ihr lebte, was vertuschen wollte, wer ihm damals geholfen hatte. Himmel – nein! Er konnte sich doch nicht in dieses Frauenzimmer ernsthaft verliebt haben…

Es war eins der Wunder, die sie vollbracht hatte – dass Yohko und Keichiro noch am Leben waren. Es sollte bloß nie wieder einer behaupten, sie sei so furchtbar böse und würde keinen verschonen.

„Ja, ziemlich traurig ist das. Sêiichî kann sich denken, dass sie dahintersteckt.“ Die Traurigkeit im Gesicht der Blondine vertiefte sich und seufzte tief betroffen. „Er weiß ganz genau, wen seine Mutter da liebt. Er ist hinter ihm her, wie der Teufel, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen–“, verriet Chris ihnen, was sie von dieser Geschichte tatsächlich wusste, stoppte dann jedoch, ohne alles auszusprechen, sagte nichts weiter, sondern hörte Akiko zu, die erneut zu Worten ansetzte.

 „Dabei schont er wahrscheinlich nicht mal die eigene Mutter. Bei seinem älteren Bruder ist er gnädiger, obwohl er es auch nicht verdient hat. Yohko Iwamoto wird er nie vergeben, er wird sie erbarmungslos ins Gefängnis bringen, wenn er sie findet.“ Akiko sagte es, weil sie herausfinden wollte, was Sêiichî am Ende zu ihr gesagt hatte.

„Sie ist ein grausamer und herzloser Mensch, der auch noch verbittert ist“, meinte Hitomi und offenbarte damit, dass auch sie leider Gottes Sêiichîs richtige Mutter kennengelernt hatte. „Aber, dass sie meinen Bruder ermorden lassen würde, das ist sogar für mich ein Schock.“

„Man muss ihr alles zutrauen, wenn sie sich an jemandem rächen will. Vielleicht hatte sie sogar mit dem Tod meiner Mutter zu tun – alles möglich.“

„Da wird sie nichts zu lachen haben, sollte dem so sein.“ Ob nun wegen Sêiichî, der seine eigene Mutter bestrafen wollte oder von Seiten der Akajas, das konnte man nicht zweifelsohne sagen, da Akiko es nicht erklärte. „Es wäre fast zu barmherzig, wenn man sie tötet. Ich denke, nur deswegen ist sie noch auf dieser Welt – und weil sie die richtigen Menschen kennt.“

Es war so viel Gräuel und Hass in der Blondine, den sie gerade versuchte nicht an die Oberfläche zu lassen. Wenn sie die Akajas so sehr hasste, weil sie Sêiichî zu sich genommen hatten, am Ende hatte sie auch noch damit zu tun, dass überhaupt jemand auf diese Familie aufmerksam geworden war – dabei war ihr doch gewiss der Hass von Takagi eine große Hilfe, der vergriff sich doch gern an Polizeifamilien. Sie war so wütend und sie durfte es nicht zeigen – sie sollten das nicht sehen – vor allem Hitomi nicht.

„Reden wir nicht mehr von dieser Person, sonst rutschen mir Dinge heraus, die ich nicht sagen will“, sagte Chris – es war sogar teils die Wahrheit. Immerhin redeten sie davon, dass man versucht hatte ihren Freund seines Lebens zu berauben.

„Dass sie nicht verdient hat, am Leben zu sein? So etwas vielleicht? Das mit deiner Mutter tut uns echt leid. Aber du musst versuchen in die Zukunft zu blicken. Denk an Sêiichî. Er wird sich nicht so leicht umbringen lassen. Es ist ja nicht so, dass er hilflos wäre, immerhin ist er bei der Polizei.“

Der Versuch sie aufzumuntern, glückte vollkommen, so dass sie lächelte.

„Genau, lasst uns nicht so etwas Scheußliches hier bereden. Wir wollten ja schließlich Spaß haben“, sagte Hitomi. Es war wirklich eine Wucht, wie schnell sie dieses Thema begraben wollten, um wieder glücklich zu sein. Wäre ihr das damals so einfach möglich gewesen, wäre sie wohl nie so durchgedreht, wie der Fall gewesen war. Zwischen all den Intrigen und Grausamkeiten – den Ungerechtigkeiten dieser Welt, die aus ihr eine schreckliche Frau gemacht hatten. Sie schaffte gerade einmal, ein ziemlich trauriges Lächeln zu zeigen. Auch jetzt noch war das in ihr. Das, was Sêiichî seit Jahren so verzweifelt bekämpfte.

„Genau, wir lassen uns doch nicht die gute Laune verderben!“ pflichtete Akiko ihrer Tochter bei.

Hitomi machte ein trauriges Gesicht, als sie bemerkte, dass die Kekse schon leer waren. „Schon leer…“ Sie war das nicht allein gewesen, daher traf sie keine Schuld, fand die Rotblonde, lächelte dann aber. „Ich hol uns noch was, sonst verhungert Chris-chan noch, weil mein Bruder ein Esel ist!“

Sie alle liebten diesen Kerl unendlich, auch wenn sie ihn Esel nannte.

„Keks-Ernährung“, lachte Akiko über ihre Tochter, die in die Küche rannte, obwohl sie im Wohnzimmer noch im Schrank alles Mögliche hatten, aber sie dachte wohl, dass sie dort etwas fand, was nicht bloß den Zuckerspiegel in die Höhe schießen lassen würde. Sie war ja fast gespannt, was sie bringen würde…

Zurück blieben Chris und die Mutter, die Sêiichî, wie die anderen drei Kinder behandelte und keinen Unterschied machte. Akiko schaute ihrer Tochter nach, die schon wieder fröhlich war. Chris fiel das wohl nicht so leicht, deswegen rückte sie näher an sie heran, dabei legte sich ein Arm um sie, was sie schon schockte. Was kam denn jetzt? Sie sah die 45-jährige mit einem erstaunten Blick an.

„Mit der Geschichte habe ich dich wohl ziemlich erschrocken, nicht wahr? Bestimmt hast du jetzt Angst, dass Sêiichî mehr in deiner Mutter gesehen hat und jetzt total traurig und zerrissen ist, weil sie nicht mehr da ist.“ Sie hatte ja immerhin erwähnt, dass er in seine Retterin vielleicht verliebt gewesen war. „Er war doch erst 15… Also sag nicht, es ist in der Familie geblieben. Sêiichî hat schon die richtige Frau gefunden. Jedenfalls glaubt er felsenfest daran, dass er das hat.“

Das Ganze klang mysteriös, weil es offen gelassen war.

„Dann muss ich wohl danke sagen, dass du ihn im Glauben lässt.“

„Man sagt Engel sind barmherzig, nicht? Auch, wenn sie manchmal fallen – es bleiben doch Engel, nicht wahr? Du willst doch gar nicht, dass er es so genau weiß. Sêiichî sieht seinen ganz persönlichen Engel in dir – er hat sie nur von weit entfernt gesehen. Engel auf dieser Welt gibt es viele, sagt man. Einen davon wollte er finden und er hat ihn gefunden. Du bist deiner Mom vielleicht ähnlicher, als du vermutest.“

Woher wollte sie das wissen, ob sie ihr ähnlich war? Oder Sêiichî? Der Kerl hatte ihre Mutter schließlich nicht wirklich kennengelernt. Zuerst war sie da, ihre Mutter erst viel später. Obwohl er sie getroffen hatte, glaubte er immer noch, dass sie das gewesen war? Was lief nur falsch bei dem Kerl.

„Manchmal kann ich ihn nicht verstehen, an mir ist nichts engelsgleiches, außer vielleicht mein Haar. Viele würden sagen, ich bin ein totales Miststück und gemein zu Menschen. So etwas wie Engel, um mich zu betiteln, kann nur Sêiichî einfallen. Er ist total verrückt.“

Akikos Arm drückte sich etwas stärker an ihre Schulter.

„Vielleicht ist es verrückt, aber was wenn nicht? Es ist doch total egal. Nicht mal deine Mutter ist ein Engel gewesen – höchstens ein Schutzengel, der damals auf ihn aufgepasst hat. Sêiichî verdankt ihr sein Leben und ein Stück weit sein Herz, was damals so gebrochen war. Er hatte totalen Liebeskummer, weil seine Freundin ihn leider nicht so gern hatte, wie er sie. Dann ist diese Sache passiert, in der er fast sein Leben gelassen hat. Da wurde er von einem Engel gerettet. Damit hat dieser verhindert, dass er sich weiter seinem Liebeskummer widmen konnte, weil sie ihm klar gemacht hat, dass das Leben weitergeht. Er hat all seinen Elan darin investiert, sie zu finden. Obwohl er nicht wusste, wen er da sucht…“

„Ich soll es also nicht so eng sehen?“

„Genau. Es ist egal, was damals mit 15 mit meinem Sohn war, denn jetzt liebt er dich. Selbst er würde sich nicht an eine Tote klammern, sondern an das, was ihm gelassen wurde.“

Es klang ganz merkwürdig in den Ohren der Blondine. Als, wenn er sich das nahm, was sie zurückgelassen hatte. Es stimmte schon, er hatte sich die richtige genommen und glaubte wohl tatsächlich, dass sie ihn damals gerettet hatte. Es entsprach Tatsachen, denn sie war es gewesen, aber was wusste seine Mutter? Ihr Blick ruhte auf dieser und sie fragte sich, ob sie nicht wusste, wer da neben ihr saß und die Sache aufgerollt hatte, um sich doch noch bedanken zu können – für etwas, was sie lange zurücklag.

„Man sagt, dass Tote von oben auf uns herabschauen, obwohl ich natürlich nicht an solchen Unsinn glaube. Ich glaube nicht an Gott – aber an den Himmel und die Hölle glaube ich schon. Dass da irgendetwas ist, wenn wir diese Welt verlassen. Nicht wirklich das Paradies, aber dass man es ihr dankt, das wird sie schon wissen. Bestimmt tut sie das.“ Verrückt – was redete sie da eigentlich für einen Unsinn?

„Wer weiß, wer weiß? Man darf Menschen ihren Glauben niemals nehmen. Deswegen sollten wir das, was wir wissen, für uns behalten, damit wir Sêiichî seine Träume nicht stehlen. Soll er dich doch für seinen Engel halten. Ist doch irgendwie süß, oder findest du etwa nicht?“

Es war eine ganz schöne Herausforderung, diesen Ansprüchen zu genügen. Das konnte sie doch gar nicht. „Wenn ich etwas kann, dann schweigen. Egal, wie oft er mich auf die Sache ansprechen würde, ich würde dazu nichts sagen.“

„Na also. Dann ist ja alles bestens.“

Ein Stück weit spielte diese Frau ganz schön Verstecken. Was genau sie versteckte, konnte keiner wissen, aber das lag wohl daran, dass sie vorgab jemand zu sein, der nie existiert hatte. Aber, dass sie eine Rolle spielte – andauernd und immer – das stimmte nicht ganz. Das hier war kein Schauspiel, wie man es ihr immer nachsagte. Hatte sie also wirklich genug Vertrauen in die Menschen, um auch einmal davon abzulassen? Das machte sie froh und glücklich, denn Sêiichî hatte nicht verdient, dass man ihm immer etwas vormachte.

Akiko schaute sich nach ihrer Tochter um, die recht lange verschwunden war. Aber auch ihr Mann und Sêiichî ließen sich Zeit. Es war wahnsinnig kalt dieses Jahr, sie würden sich noch den Tod holen. „Die Küche ist nicht weit.“ Akiko zeigte in die richtige Richtung. „Tu mir den Gefalllen und schau mal, was meine Tochter treibt, ich kümmere mich mal um diese verrückten Kerle, die doch bestimmt frieren.“ Beide standen auf und gingen in entgegengesetzte Richtungen. Akiko öffnete die riesige Tür zur Terasse und lächelte. „Ihr werdet euch noch erkälten. Kommt doch bitte endlich wieder ins Warme.“

Ihr Blick fiel auf Sêiichî, der ein bisschen mitgenommen aussah. „Was ist hier überhaupt los?“

„Hab ein paar Wahrheiten erfahren, die ich verdaue.“

„Dein Sohn glaubt, wir leben hinter dem Mond.“

„Nicht nur der glaubt das“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Ich habe seine Freundin ziemlich schockiert, die verdaut auch noch.“

„Mama, was hast du mit ihr angestellt?“ fragte Sêiichî, wirkte dabei jetzt aber keineswegs beunruhigt.

„Keine Sorge, nichts Schlimmes. Ich habe sie nicht so sehr erschreckt, eher überrascht. Ihr geht’s gut so weit. Sie ist gerade zu Hitomi in die Küche, bevor sie vom Fleisch fällt. Wir haben außerdem die Flasche leer gemacht, da sollte sie langsam was essen, bevor ihr schlecht wird.“

„Die verträgt eine ganze Menge“, verriet Sêiichî und lächelte dann. „Aber wir kommen rein, es ist echt kalt, ich friere mir eins ab. Vater ist wie immer hart im Nehmen.“

Der 48-jährige lachte auf. „Hast du eine Ahnung, mir ist genauso kalt wie dir.“ Mit den Worten gingen sie hinein und rieben sich sofort die Hände.

 

Als Chris zu Hitomi in die Küche kam, staunte sie nicht schlecht, weil diese wohl gedacht hatte, dass sie mehr brauchte, als ein paar Süßigkeiten und sich an den Herd gestellt hatte, um auf die Schnelle etwas, was im ersten Moment nach Pfannenkuchen aussah, zuzubereiten, aber es waren keine, wie Chris wenig später bemerkte.

„Ist das Okonomiyaki?“ fragte sie und Hitomi lächelte.

„Klar – das ist überhaupt nicht schwer und geht total schnell. Eigentlich haben wir schon gegessen, aber ich mach’s gerne… Das ist nichts so Spezielles, das wirst du sicher mögen.“

„Klar mag ich das, ich mag japanische Speisen. Schon Sêiichî hat gedacht, dass er mir etwas total Amerikanisches servieren muss, dabei bin ich gar nicht so wählerisch. Es ist total lieb von dir, dass du das machst.“

„Ich üb schon mal für die Zukunft“, lachte das Mädchen, immerhin würde sie eines Tages auch heiraten und wollte dann auf alles vorbereitet sein.

„Gibt es da denn schon einen potenziellen Kandidaten?“ fragte Chris neugierig und Hitomi wurde leicht rot im Gesicht, schockierte die Blonde dann aber mit ihren Worten ein wenig.

„Natürlich, was denkst du denn?“ Beide Hände lagen in ihrem Gesicht und sie wirkte fröhlich. „Es sind sogar zwei Jungs, die mich interessieren.“

Ein bisschen verdattert blickte die Blondine drein und wollte zu gern wissen, auf welche Jungs sie stand.

„So, so, du bist ja ein richtiges Früchtchen.“

„Um genau zu sein, kann man sogar sagen, dass es drei Jungs sind.“

Es wurde immer schockierender, so dass die Blondine ja schon fand, dass sie total harmlos war.

„Und, glaubst du, du hast Chancen?“ hinterfragte sie und Hitomi lächelte ein wenig schüchtern. „Der eine ist mein bester Freund, der andere studiert Kriminologie. Aber ich bin ungeduldig, daher gehe ich noch mit einem anderen aus. Das ist aber nichts Festes.“

Diese Jugend – sie war nie so verrückt gewesen – das hatte sie aber brav nachgeholt – vor einigen Jahren.

„Du meine Güte. Und was, wenn einer so richtig in dich verliebt ist, was machst du dann?“

„Na, dann nehme ich ihn, was denn sonst?“

Noch immer wollte die Blondine gerne wissen, um wen es sich handelte. Einer studierte also Kriminologie.

„Kenji ist schon süß“, damit schockierte sie die Blonde wahrscheinlich, weil sie eine ganz düstere Ahnung davon bekam, dass das der Kriminologie-Student war. Wenn sie ehrlich war, das fand sie nicht lustig. Nicht, weil sie grausam war und dieser Person keine Freundin gönnen wollte, sondern weil es bestimmt Jungs gab, von denen weniger Gefahr ausging. „Kenji also.“

„Um genau zu sein ist sein Name Kenjiro Masuyama, sein Vater besitzt eine große Firma – so weit ich weiß, ist das aber gar nicht sein richtiger Vater. So etwas würde doch bestimmt zu mir passen. Was ihn angeht, ich finde, er ist Sêiichî ähnlich, nur viel zurückhaltender…“

Chris musste sich wirklich bemühen, um sich an ihrem Gesicht nicht anmerken zu lassen, dass sie das so überhaupt nicht fand…

Sollte sie sich dazu äußern, oder lieber ihren Mund halten? Am besten hielt sie sich da raus, oder? Es wusste kaum einer, dass Sharon eine Halbschwester hatte, deren Sohn Kenjiro Masuyama war. Daher entschied sie nun nichts zu sagen – das war wahrscheinlich besser. Aber sie würde definitiv mal mit Kenjiro darüber reden, wie er zu Hitomi stand, außerdem dass er vorsichtig sein sollte, damit seine Freunde nicht in diese Sache hineingerieten. Er war noch ein Kind und manchmal leichtsinnig.

„Mein bester Freund ist Seiji Tôyama… Ich mag ihn wirklich… Aber ob aus uns ein Paar wird, ist sehr fraglich. Ich glaube nicht, dass er auf mich steht.“ Hitomi wirkte nicht, als würde sie das allzu sehr traurig machen und Chris konnte nicht einmal sagen, ob sie gut gefunden hätte, wenn die beiden sich ineinander verliebten.

‚Plavacs Sohn…’, fiel ihr dazu nur ein, was sie eigentlich sehr mitnahm. Sie kannte den Jungen kaum, aber ihr wurde nur mal wieder bewusst, wer nicht alles in dieser Sache mit drinhing. Dass man ja wirklich nirgendwo sicher war. Das ließ sie kurz nachdenklich und deprimiert wirken.

„Du wirst dem Ruf deines Herzens schon folgen, da bin ich sicher“, versuchte sie positiv an die Sache heranzugehen, weil sie das Mädchen mochte und ihre heile Welt nicht zerstören wollte, denn es ärgerte sie unglaublich, dass die Organisation überall war, wo man auch hinschaute. Die musste weg… Etwas, was sie seit Jahren dachte.

„Das sind aber viele“, merkte Chris an, „so viel Hunger habe ich doch gar nicht.“

„Die sollst du ja auch nicht alleine futtern“, grinste sie, „Sêiichî bekommt auch welche, er braucht doch alle Kraft für seinen Beruf.“ Das fröhliche Mädchen trug die Speisen ins Esszimmer, wohin ihr die Schauspielerin folgte. Sie wies sie an, Teller aus einem Schrank neben dem großen Tisch zu holen und den Tisch zu decken. Hitomi wusste rein gar nichts von den Gefahren, die von der Organisation ausgingen – das war gut so, sie sollte nicht auch noch damit zu tun kriegen – es war schlimm genug, dass all ihre Brüder in die Sache verwickelt waren.

„Jetzt, wo wir allein sind, Chris-chan“, meinte das Mädchen, „da musst du mir eine Sache mal genauer erklären.“ Sie war frech und dreist, wie man in dieser Familie schon mal damit rechnen musste, daher rechnete Chris mit so manchem.

„Was willst du von mir wissen?“ fragte sie, dabei sah sie sich die Kurzhaarige an, die nun einen ernsten Gesichtsausdruck hatte.

„Wenn Sêiichî den Schlüssel zu deiner Wohnung hatte und jederzeit zu dir konnte… Wie hast du geschafft, dass er nicht einfach nachts zu dir ins Bett kam, um frech und dreist zu sein? Mir kann keiner erzählen, dass er das nicht zumindest mal versucht hat. Wie konntest du da bitte verhindern, dass zwischen euch etwas passiert ist? Sêi-chan geht doch nicht zum Herzausschütten zu einer Frau und nur deswegen… Niemals… Damals war er ein richtiger Playboy. Ich find das spannend, wie man gegen ihn ankommt. Er hat immer meine Freundinnen der Reihe nach mit seinem Charme in die Knie gezwungen – war schon ein ganz schöner Macho.“

Anscheinend hatte Hitomi wirklich alle möglichen Fantasien, weshalb Chris nun laut zu lachen anfing bei dieser Frage.

„Man muss einem Typen nur schnell genug klarmachen, dass er sich keine Schwachheiten erlauben darf, weil er es ansonsten bitter bereut. Dann werden die Meisten brav.“

Das Gesicht der Rotblonden verzog sich leicht zu einer nachdenklichen Miene. „Sêiichî und brav? Mein Bruder sieht aber total gut aus und da hast du ihm trotzdem widerstanden? Wenn er eine Frau wirklich will, greift er zu jedem Mittel – Angst hat er auch keine.“

„Na hör mal, er war ein 17-jähriger Baka. Das mit dem Herz ausschütten hat er nur als Ausrede benutzt, weil er gemerkt hat, dass seine üblichen Tricks nicht funktionieren, da hat er es über die Freundschaftsschiene probiert. Es stimmt aber, dass er bei mir sein Herz ausgeschüttet hat. Er vertraute mir wohl. Das haben auch einige Personen nicht so gut gefunden, dass er das tut.“ Nun sah das Mädchen traurig drein. „So wie Jay? Er hat meinen Eltern erzählt, dass er dich ganz furchtbar findet und ich verstehe nicht einmal, warum. Du bist doch voll cool und anscheinend vernarrt in Sêiichî. Keine Frau würde es mit ihm aushalten, wenn sie ihn nicht wirklich liebt.“

Chris holte einmal Luft und fand das ja sehr nett von Hitomi, aber sie wollte nicht, dass jemand von Jamie etwas Falsches dachte.

„Jamie kennt mich besser, Hitomi. Er hat mich von meiner nicht so netten Seite erlebt. Da kann er nicht so gnädig mit mir verfahren. Es war für ihn ein Schock, zu erfahren, dass ich seinem unschuldigen Neffen zu nahe gekommen bin, wo ich doch so gern mit den Männern spiele. Da musste er sich einmischen.“

„Ist das alles? Das ist doch total übertrieben. Außerdem, man könnte behaupten, dass ich mit den Jungs auch spiele, wenn ich zum Zeitvertreib mit ihnen ausgehe… Das heißt doch nicht, dass einem nicht doch mal ein besonderer Typ begegnet und man es dann ernst mit ihm meint.“ Sie fand Jamie ganz schön kleinlich.

„Ach, das ist nicht alles. Da war so eine Sache mit seiner Frau… Sie war eine gute Freundin von mir, wir hatten viel miteinander zu tun. Du kennst sie vielleicht. Christina Moore… Sie ist damals tragisch ums Leben gekommen und er gibt mir die Schuld daran. Einmal glaubte er sogar, dass ich es tatsächlich herbeigeführt haben könnte, nur um mich dann an ihren Mann heranzumachen, verstehst du? Jamie traut mir so etwas sehr wohl zu. Er spinnt manchmal ein wenig. Vielleicht war es wirklich keine gute Idee, ihm Trost spenden zu wollen – das fand er voll daneben. Aber es hat mir so leid getan, da dachte ich…“ Nun senkte sich der Kopf der Blonden. Jamie hatte so Manches in den falschen Hals bekommen. Es war fast schon Glück, dass er sie nicht ausstehen konnte, so konnte sie nicht den Fehler machen, tatsächlich etwas mit ihm anzufangen, vor lauter Schuldgefühlen. Das wäre nie gut gegangen. Obwohl sie ihn mochte, sie liebte ihn nicht – so etwas hatte Jamie nicht verdient.

„Meine Eltern hören sowieso nicht auf Jay“, meinte Hitomi, was man schon bedauern konnte, weil ein paar Dinge vielleicht sogar stimmten.

„Manchmal sind die Dinge ganz anders, als sie scheinen, Hitomi. Jamie kann auch anders. Er kann ein liebevoller, treuer und fürsorglicher Mann sein. Gerade seine zwei Kinder bedeuten ihm viel. Man muss ihn einfach mögen.“

In der Sache verfuhr sie ziemlich gnädig mit Jamie, weil sie für einige Sachen selber gesorgt hatte, so dass er gar nicht anders konnte, als mitzuspielen. Sie konnte nicht riskieren, dass ein Mann, der so gutherzig war, wie Jamie, am Ende auch noch für sie starb. Das würde sie nie überleben, da musste sie etwas tun, damit er nicht damit endete, etwas für sie zu riskieren. Als Christina gestorben war, hatten die Umstände und Situationen dazu geführt – sie hatte nie vor, seine Frau in Gefahr zu bringen – am Ende war sie spielsüchtig und hatte sich ihrer Sucht total ergeben, dagegen konnte sogar Chris wenig tun. Diese Tatsache hatte sie Jamie verschwiegen – da nahm sie lieber in Kauf, dass er ihr die Schuld an allem gab – immerhin war es ja das Casino ihres Großvaters gewesen, in das sie zum Spielen gegangen war.

 



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