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Kaiser Hidijo's Katze [Leseprobe]

eine japanische Dämonensage
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kameraden, wisst ihr eigentlich, daß wir uns immer noch in neuen Fahrwassern bewegen? Wir sind auch mit diesem Kapitel hier immer noch nicht an der Stelle angelangt, wo die ursprüngliche Anthologie-Fassung mal eingesetzt hat, wie sie im Alte-Meister-Neue-Meister-Buch abgedruckt worden wäre. - btw.: Ich habe in der FF-Beschreibung inzwischen noch ein paar Charaktere ergänzt, wer sich dafür interessiert. ^_^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, ihr Lieben, jetzt tauchen wir so langsam in die Anthologie-Version dieser Story ein. ^_^ Komplett anzeigen

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Prolog

Das Kaiserliche Japan des Altertums.
 

Seit dem Jahre 866 herrschten in Japan die Fujiwara. Jedoch in der Mitte des 11. Jahrhunderts befindet sich die Herrschaft der Fujiwara-Familie, die seit fast zwei Jahrhunderten den Tenno gestellt hatte, nun auf einem absterbenden Ast. Die Kaiserfamilie Fujiwara war eine schicksalgebeutelte Blutlinie, der es immer wieder an männlichen Nachkommen mangelte. So kam es, daß 1068 erstmals ein Prinz als Kaiser eingesetzt wurde, der keinerlei verwandtschaftliche Beziehung mehr zur Fujiwara-Familie hatte. Dieser Prinz, Shirakawa Hidijo, wurde zum Go-Sanjo-Tenno, aufgrund seiner Abstammung auch Shirakawa-Tenno genannt.

Sofort bildete sich eine Anti-Fujiwara-Partei, die den Shirakawa-Tenno sehr unterstützte. Diese intrigante Gruppierung um den jungen Kaiser strebte eine Neuordnung der großen Ländereien an, welche die wirtschaftliche Grundlage der Fujiwara-Familie und ihres Luxus waren.
 

Shirakawa-Tenno trat nach 13 Jahren Regentschaft zurück und errichtete das 'Insei-System', die 'Regierung des abgedankten Kaisers'. Es war das erste Mal in der Geschichte Japans, daß ein Kaiser von seinem Amt freiwillig zurücktrat, ohne daß gesundheitliche Gründe oder der Tod ihn dazu gezwungen hätten. Er wurde vom Shirakawa-Tenno zum Shirakawa-In, zum abgedankten Kaiser. Er setzte seinen erst 4-jährigen Thronfolger als Tenno ein und zog als dessen Vormund aus dem Hintergrund die Fäden weiter. Shirakawa-In konnte die Macht der Fujiwara-Familie immer weiter zurückdrängen, seine Politik blieb aber die gleiche wie die der Fujiwara. Es war eine Zeit der Ausbeutung, Erpressung und rücksichtslosen Steuereintreibung selbst in Zeiten von Missernten und Hungersnöten. Der abgedankte Kaiser und sein Hofadel lebten nur für den Luxus. Sie bauten sich schöne Villen und kostspielige Tempel. Die Shirakawa konfiszierten Ländereien und mehrten ihren Luxus. Mit Politik hatten sie nicht viel am Hut, sie lebten nur für Spiel und pompöse Feste.

Shirakawa Hidijo, der Shirakawa-In, war außerdem fanatischer Buddhist, machte viele Pilgerfahrten, baute Tempel und Buddha-Statuen, erlegte die dafür anfallenden, gigantischen Baukosten gnadenlos dem Volk auf, und verbot das Töten von Lebewesen, so daß Jäger, Fischer und Schlachtvieh-Bauern ihre Existenzgrundlage verloren.

So kam es immer häufiger zu Aufständen der Grundbesitzer-Klasse und der unterdrückten Bauern. Selbst die friedliebenden Tempel bewaffneten sich und unterhielten Krieger-Mönche, um sich gegen die Steuereintreiber wehren zu können.
 

Dies war die Zeit, als die rivalisierenden Clans der Minamoto und der Taira diese Widerstände dazu nutzten, um solche aufständischen Bauern und Gutsherren zu Samurai-Gruppen zu formieren und ihre Macht auszubauen und dadurch in vielen Provinzen großes Ansehen erwarben. Es war die Geburtsstunde der Samurai-Klasse.
 

Die aus ihrer Machtposition verdrängte Fujiwara-Familie hatte die Samurai des konservativen Minamoto-Clans auf ihrer Seite. Die neu erstarkte Kaiserfamilie um Shirakawa Hidijo jedoch hatte die Samurai der Taira hinter sich.
 

Und hier beginnt unsere Geschichte ...

Gemma

Meister Suruga gab ein „Ho!“ von sich und zog die Zügel an, woraufhin sein Pferd und der gesamte Karren, zum Stehen kamen. Unschlüssig blieb er noch einen Moment auf dem Kutschbock sitzen und beäugte aus sicherer Entfernung, was ihm da den Weg versperrte. Er konnte es nicht ganz einordnen. Es sah menschlich aus. Jedenfalls trug es einen schneeweißen Kimono, aus dessen Öffnungen auch Gliedmaßen herausschauten. Aber irgendwas war seltsam daran. Und das war nicht dem Umstand geschuldet, daß es da der Länge nach im Staub des unbefestigten Pfades lag und sich nicht rührte.

Nach einigem Hadern sprang Meister Suruga doch hinunter auf den sandigen Weg und ging nachsehen. Ja, das war ein Mensch, der da reglos herumlag. Wohl ein Mann, an der Kürze des Haarschnittes bemessen. So sicher war er sich da noch nicht, denn die Person lag auf dem Bauch und hatte das Gesicht auch noch abgewandt. Frauen trugen ja für gewöhnlich lange Haare. Und Frauen trugen keine Samurai-Schwerter. Der Kollege hier hatte ein solches neben sich liegen. Dann war er wohl nicht überfallen und ausgeraubt worden, sonst wäre das Schwert jetzt sicher weg. Nur warum hatte er so seltsame Haare? Sie erinnerten an die Farbe von Sand oder Sonnenlicht. Er hatte noch nie einen Menschen gesehen, der keine schwarzen Haare gehabt hätte.

Meister Suruga überwand seine Skepsis endlich, bückte sich herunter und drehte den reglosen Körper auf den Rücken herum. Tatsächlich ein Mann, ganz gleich ob er nun Haut wie Kreide und Haare wie Sonnenlicht hatte. Und er atmete noch. Verletzt zu sein schien er bei der ersten, groben Visite auch nicht. Kein Blut, keine offensichtlich gebrochenen Knochen. Er klatschte dem Fremden ein paar Mal sachte die flache Hand ins Gesicht, um zu sehen, ob der wieder zu Bewusstsein kommen wollte, wurde aber enttäuscht. Also zerrte er ihn umständlich hoch, warf ihn sich über die Schulter, vergaß auch das Samurai-Schwert nicht, lud ihn auf seinen Pferdekarren, und fuhr dann weiter. Er würde den Bewusstlosen erstmal mitnehmen und zu Hause weiter sehen.
 

Hinter einem Gebüsch hockten zwei finstere Gestalten und sahen sich alles aus der Ferne an, bis der Karren – und damit auch der Kerl im weißen Kimono – aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren. „Mist, wir waren zu spät.“, stellte einer von ihnen fest. „Was machen wir jetzt?“

„Hinterhergehen und schauen, wo der ihn hinbringt.“, entschied der andere.

„Halt ich für keine gute Idee.“

„Hast du eine bessere?“

Einen Moment Schweigen. „Nein.“, gab der Erste dann zu.
 

Meister Suruga zog erschrocken die Hände weg, als sein ohnmächtiger Gast plötzlich mit einem Keuchen hochfuhr, dann stöhnend die Arme um seinen Kopf schlang und bedeutend langsamer wieder zurück in sein Kopfkissen sank. Meister Suruga hatte ihn inzwischen in seinem Haus auf einen Futon gebettet und hantierte gerade mit einem nassen Tuch aus einer Wasserschüssel an ihm herum. Fieber hatte der Kerl zwar augenscheinlich nicht, aber zumindest ein wenig vom Straßenstaub säubern konnte man sein Gesicht ja trotzdem. „Immer mit der Ruhe, bleib liegen.“, bat Meister Suruga ruhig und wusch den Lappen im Wasser aus. „Wie geht es dir?“

„Mein Kopf dröhnt.“, stöhnte der Fremde mit geschlossenen Augen. Seine Stimme klang irgendwie seltsam. Recht hoch für einen Mann, und schnarrend wie eine gespannte Bogensehne.

„Ich bin Suruga Yoshii. Ich hab dich oben in den Bergen auf der alten Handelsstraße gefunden und mit hierher nach Ise gebracht. Du lagst bewusstlos mitten auf dem Weg. Aber du scheinst keine Verletzungen zu haben. Was ist passiert?“

„Ich wurde niedergeschlagen. Mit einem Hieb auf den Kopf.“, gab der Fremde bereitwillig Auskunft, die Augen immer noch fest zusammengekniffen.

Meister Suruga wartete auf mehr, aber vergeblich. Der Mann sprach nicht von sich aus weiter. „Du hast eine sehr ungewöhnliche Haut- und Haarfarbe. Darf ich fragen, was du bist? Du bist doch kein Mensch, oder?“, hakte er also vorsichtig nach. Er wollte dem Mann ja nicht zu nahe treten. Aber er hatte inzwischen genug Zeit gehabt, sich den Kameraden in Ruhe anzusehen und seine Schlussfolgerungen zu ziehen.

„Ich bin ein Dämon.“, beantwortete er auch diese Frage sofort und offen. Aber auch diesmal nicht ausführlicher als nötig. Es wäre ja noch ganz nett gewesen, zu erfahren, ob Akuma oder Yokai. Akuma waren downright evil, Yokai, wenn man richtig mit ihnen umging, eher harmlos.

Meister Suruga entschied, daß der Kerl wohl schwerlich ein Akuma, ein Teufel, sein konnte. Er sah weder so aus, noch benahm er sich so, selbst wenn er verletzt war. Akuma waren richtig, RICHTIG miese Viecher, und machten auch keinen Hehl daraus. Und normalerweise hielten sie sich nicht in der Nähe von Menschensiedlungen auf.

Der Gast blinzelte endlich die Augen auf, als hätte er seine Kopfschmerzen jetzt langsam im Griff, ließ den Blick erst durch den Raum schweifen, nahm mit auffallender Erleichtung zur Kenntnis, daß sein Schwert griffbereit neben ihm lag, und heftete ihn dann auf Meister Suruga, als würde er auf weitere Fragen oder Infos warten. Er hatte die typischen, dunkelbraunen Augen, die alle Japaner hatten, aber sie waren rot umrandet, als wären sie entzündet.

„Ein Dämon. Na schön, auch gut. Du bist in meinem Haus gleichwohl willkommen.“, fühlte sich der Meister also genötigt, als Erster wieder etwas zu sagen. „Und wie darf ich dich nennen?“

„Gemma.“

„Okay, Gemma, dann ruh dich aus. Komm in meinem Haus wieder zu Kräften.“ Meister Suruga setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, daß Dämonen es ebenfalls als freundliche Geste verstanden, schnappte seine Wasserschüssel und verließ das Zimmer. Er war erstaunt über sich selber, daß er diese Situation so gelassen und seelenruhig aufnahm. Immerhin bekam man es nicht alle Tage mit einem Dämon zu tun.
 

Meister Suruga schaute im Laufe der nächsten Stunden immer mal wieder nach seinem halb-verwundeten Gast. Aber der schien die meiste Zeit zu schlafen oder sich zumindest so still zu verhalten, daß er seinen Kopf möglichst nicht bewegen musste. Schien so, als hatte er heftiger eingesteckt als gedacht. Der würde bestimmt noch ein paar Tage handlungsunfähig darnieder liegen. Meister Suruga wusste aber auch nicht so recht, wie er dem Dämon helfen sollte. Menschliche Medizin würde vermutlich kaum helfen, ihm im Zweifelsfall vielleicht sogar schaden. Also blieb ihm nur, dem Kranken Zeit zu lassen, damit er sich von selber erholen konnte.

„Gemma?“, versuchte Meister Suruga auf sich aufmerksam zu machen, als er am Abend wieder einmal in dem selten belegten Gästezimmer stand.

Der gelbhaarige Dämon schlug die Augen auf, als wäre er putzmunter. Geweckt hatte Meister Suruga ihn offensichtlich nicht.

„Wie geht es dir?“

„Mir ist noch etwas schwindelig.“

„Kannst du schon wieder aufstehen?“

„Willst du mich rauswerfen?“, hakte Gemma unwillig nach.

Meister Suruga verdrehte die Augen. „Ach, sei doch nicht so argwöhnisch. Nein, ich wollte dich fragen, ob du mit mir zu Abend essen möchtest. Du wirst doch sicher Hunger haben, oder nicht?“

Gemma zog ein 'einverstanden'-Gesicht und versuchte vorsichtig, sich aufzusetzen. Man merkte ihm allerdings deutlich an, daß er noch nicht wieder ganz Herr über seinen Körper war. Also ging Meister Suruga schließlich hin, half ihm per Hand hoch und stützte ihn auf dem Weg hinüber in seine eigenen Räumlichkeiten.
 

Gemma pflanzte sich im Schneidersitz auf das Sitzkissen am niederen Tisch und griff sich die bereitliegenden Ess-Stäbchen. Er überschaute kurz die ebenfalls schon aufgetafelten Schalen, entschied sich für Reis und Fleisch, und mampfte los, noch ehe Meister Suruga selbst Platz genommen hatte. Er dankte weder für die stützende Hand auf dem Weg hierher, noch für das Essen. Meister Suruga nahm es mit einem amüsierten Lächeln zur Kenntnis, sagte aber nichts dazu. Dämonen hatten sicherlich andere Ansichten zum Thema Anstand und Benehmen als er.

„Du bist ein Yokai, oder?“, wollte der Meister freundlich-interessiert wissen und nahm sich nebenbei selber etwas zu essen.

„Hm.“, machte Gemma nur, ohne es weiter zu kommentieren. Derer gab es zwar viele, aber er erachtete es nicht als nötig, zu verraten, was genau er nun war.

Meister Suruga nickte erleichtert. Wirklich kein Akuma, gut. Ein Problem weniger. „Hör zu, Gemma. Ich bin für einen Menschen schon ziemlich alt. Ich habe viel gesehen, gehört und gelernt. Aber du bist der erste Dämon, dem ich gegenüberstehe. Beziehungsweise der erste, von dem ich überhaupt höre. Ich kenne niemanden, der schonmal einem Yokai leibhaftig begegnet wäre. Ich weiß also nicht viel über dich und deinesgleichen, mir fehlt völlig die Erfahrung.“

Gemma hörte auf zu kauen und schaute ihn prüfend an, als suche er schon den verborgenen Sinn hinter dieser Aussage.

„Also bitte ich dich um Nachsicht, falls ich versehentlich mal irgendwas sage oder tue, was dich beleidigt, okay? Sag mir einfach nur ganz in Frieden Bescheid, wenn dir etwas missfällt, damit ich das in Zukunft nicht mehr wiederhole.“

Der Dämon schaute ihn weiter mit undeutbarem Ausdruck aus seinen rot entzündeten Augen an und sagte nichts. Er schien sich irgendwie veralbert vorzukommen.

„Ist das ... in Ordnung für dich? Es ist mir wirklich daran gelegen, gut mit dir auszukommen, weißt du?“, fuhr Meister Suruga also fort. Er hatte eine geradezu buddhistische Gelassenheit, auch wenn er hier mit völlig Unbekanntem konfrontiert war. Aber eine Antwort wäre doch mal irgendwie schön.

„Ist in Ordnung.“, bemerkte Gemma etwas befremdet.

„So schaust du aber nicht ...“

„Ich bin es nicht gewohnt, daß jemand in diesem Ton mit mir spricht.“

In diesem Ton?, dachte der Meister erschrocken. War er zu unhöflich gewesen?

„Von meinem letzten Herrn bin ich behandelt worden, als wäre ich kaum soviel wert wie Vieh.“, erzählte Gemma und schob sich noch etwas zu essen in den Mund. „Es ist neu für mich, daß mir mal jemand mit Achtung begegnet.“

„Du standest also in den Diensten von jemandem? Darf ich fragen, wo du her kommst und was passiert ist?“

Nun stellte Gemma seine Schale und die Stäbchen beiseite. „Morgen vielleicht. Wenn es genehm ist, werde ich mich jetzt zurückziehen und mich wieder hinlegen. Mein Kopf bringt mich noch um.“ Damit stand er auf und ging, wenn auch etwas unsicher auf den Beinen. Er wartete weder auf die Erlaubnis dafür, noch dankte er jetzt nachträglich für das Essen. Die Schiebetür ließ er hinter sich offen.

Meister Suruga lächelte nur und aß in Ruhe weiter. Irgendwie fand er den Dämon ganz sympathisch, trotz seiner ungehobelten Art.
 

Der nächste Nachmittag. Die beiden düsteren Gesellen lungerten nun schon über einen Tag in dieser Gasse herum. Seit gestern. Seit der Kerl den Dämon auf seinen Karren geladen und mitgenommen hatte. Direkt in dieses Haus hinein. Der eine mit Pferdeschwanz-Frisur und lila Robe lehnte mit verschränkten Armen an der Hauswand gegenüber. Der andere mit der grünen Haut hockte unschlüssig daneben. Sie behielten das Anwesen so hartnäckig wie erfolglos im Auge und langsam begann es sie zu langweilen. Die hohe, weiße Grundstücksmauer ringsherum erlaubte keinerlei Einblicke in das Geschehen. Auf dem Grundstück gab es außerdem einen großen Hund, der sofort Alarm schlagen würde, wenn man versuchte, über die Mauer zu klettern. Auch das Auskundschaften der Umgebung hatte nichts gebracht. In dieses Haus kam man nicht ohne Weiteres rein, egal wie. Bisher waren aber auch keine Dienstboten hinein oder hinaus gegangen, die man hätte abfangen können.

„Es sind jetzt schon über 24 Stunden. Ich glaub, er kommt nicht wieder.“

„Ich weiß nicht. Ich hab keine Ahnung, ob wir eingreifen oder warten sollen. Da drin kann gerade alles mögliche vor sich gehen. Vielleicht pflegt man ihn nur gesund, vielleicht hält man ihn aber auch gefangen.“

„Irgendwas müssen wir aber langsam tun.“

Der mit dem Pferdeschwanz nickte. „Gut, dann tun wir was.“ Er löste sich von der Hauswand und marschierte los. Direkt auf den Eingang zu.
 

Die Haushälterin schob die schweren Schiebetüren der Grundstücksmauer auf, als draußen jemand an der Glocke zog, um auf sich aufmerksam zu machen. Und sah sich den zwei absonderlichsten Gestalten gegenüber, die sie je gesehen hatte. Sie waren gesellschaftlich absolut nicht einzuordnen, da ihre Kleidung und ihre Frisuren allem widersprachen, was in Japan üblich war. Ähnlich wie dieser seltsame Fremde mit den hellen Haaren, den der Meister aktuell beherbergte. Aber der trug ja wenigstens noch einen Kimono. Was die hier allerdings trugen, war entweder herrschaftlich oder albern. Sie bließ die Wangen auf und ließ die Luft mit einem überforderten 'Buh' wieder fahren, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie den beiden Männern begegnen sollte.

„Wir wollen den Hausherrn sprechen.“, stellte der mit dem Pferdezopf klar, ohne eine Begrüßung voraus zu schicken.

„Und wer seid ihr? Seid ihr von einer fahrenden Theatertruppe, oder sowas?“, wollte die Haushälterin wissen. Anders konnte sie sich diesen Aufzug nicht erklären.

„Den Hausherrn, hab ich gesagt!“

„Ist ja schon gut, ja.“ Sie wandte sich um und ging voraus, durch den Vorgarten Richtung Hauseingang. „Und wen darf ich dem Herrn melden?“, gab sie schnippisch zurück.

Meister Suruga trat in die Tür, weil er die ärgerliche Stimme seiner Dienstmagd schon von drinnen mitbekommen hatte. „Hier bin ich. Wie kann ich denn helfen?“

„Wir wollen zu dem Fremden, der sich in diesem Haus aufhält.“

„Aha?“, machte der Meister nur, als ihm schlagartig einiges klar wurde. Gemma war ein Dämon, okay. Mit einem konnte man noch leben. Aber diese beiden Herren hier waren weitere von seinem Schlag. Jetzt hatte er schon drei von denen in seinem Haus! Das überforderte ihn nun doch ein wenig.

„Wir sind Freunde von ihm.“

„Das ... frag ich ihn mal lieber selber.“, entschied Meister Suruga. Sie hatten bei genauerem Hinsehen auch die gleichen rot entzündeten Augenränder. Ob alle Dämonen das gemeinsam hatten? Er bat die beiden, nachdem er sich nach ihren Namen erkundigt hatte, im Eingangsbereich Platz zu nehmen und sich zu gedulden. Wer weiß, was die wirklich vor hatten. Auch Dämonen führten untereinander Fehden. Vielleicht waren die beiden sogar Schuld an Gemmas derzeitigem Gesundheitszustand. Er würde denen seinen Gast bestimmt nicht ungefragt ausliefern.
 

„Gemma?“

Der Yokai mit dem schneeweißen Kimono regte sich müde auf seinem Lager. „Hä?“

„Vor meinem Haus stehen zwei wundersame Herrschaften, ein Großer mit Zopf und lila Robe, und ein kleiner Dicker, mit grüner Farbe im Gesicht. Intetsu und Hanya nennen sie sich. Oder Ponya, ich weiß nicht genau. Er konnte sich nicht entscheiden, wie er nun heißt. Sie wollen jedenfalls zu dir.“

„Lass mich zu ihnen!“, verlangte Gemma sofort und fuhr aus der Waagerechten hoch, sackte dann aber augenblicklich außer Gefecht gesetzt, schwindelig und mit explodierenden Kopfschmerzen in sein Kissen zurück.

„Bleib liegen. Ich hol sie her.“, versprach Meister Suruga nüchtern. So langsam sollte Gemma doch mal mitbekommen haben, daß er ruckartige Bewegungen besser vermeiden sollte. „Die beiden sind auch Dämonen, nehme ich an?“

„Ja.“

„Wie geht es deinem Kopf?“

„Es wird besser.“

Meister Suruga nickte verstehend. „Okay. Also wenn du dich in der Lage fühlst, Besuch zu empfangen, schick ich sie dir mal rein.“
 

Meister Suruga blieb zurückhaltend in der Zimmerecke stehen und überwachte wortlos das Zusammentreffen der drei seltsamen Typen. Wer weiß, was in seinem Haus losgehen würde, wenn hier drei Yokai aufeinander prallten. Aber zu seiner Erleichterung blieb alles ruhig und friedlich. Die drei schienen tatsächlich Kameraden zu sein. Der kleine Dicke warf sich sofort zu Gemma auf den Boden und griff nach seiner Hand, als wolle er sichergehen, daß der in Ordnung war. Der Große mit dem Zopf blieb andächtig stehen. Mit seinem weitausladenden, aufwändigen Umhang konnte er sich wahrscheinlich gar nicht in Bodennähe begeben, selbst wenn er gewollt hätte.

„Ihr seid spät. Schon draußen in den Hügeln wart ihr zu spät.“, hielt Gemma den beiden tadelnd vor. Wie so oft ohne Begrüßung. Dämonen schienen sowas wie Begrüßung oder Verabschiedung gar nicht zu kennen.

„Entschuldige. Es gab einige Schwierigkeiten.“, entgegnete Hanya. Oder Ponya. Je nachdem, wie man ihn nun nennen wollte.

Meister Suruga musterte die Truppe eingehend. Da sie ihn nicht beachteten, konnte er das ja ungestört tun. Die drei waren wirklich ... nun ... interessant. Sie alle konnten gut und gerne als Menschen durchgehen. Keinem sah man auf Anhieb an, daß sie Dämonen waren. Aber trotzdem hatte jeder von ihnen irgendwelche optischen Auffälligkeiten, die sie für einen Menschen ungewöhnlich erscheinen ließen. Gemma hatte diese Haare wie Sonnenlicht. Der, der sich als Intetsu ausgegeben hatte, war ungewöhnlich groß, ein halber Riese. Und der kleine Dicke, der keinen klaren Namen zu haben schien, hatte leicht grünliche Haut. Vielleicht nicht gleich so grün wie ein Frosch, aber für einen Menschen sah diese Hautfarbe ungesund aus. Vorhin hatte er gedacht, der hätte sich sein Gesicht mit Farbe bemalt. Mit dem Saft von Gräsern vielleicht. Aber das war echt, wurde ihm nun klar, als er auch die Hände des Kerls noch sah. Dennoch, wenn man ahnungslos war und es nicht besser wusste, wen man hier vor sich hatte, konnte man sie einfach für ganz normale, schräge Vögel halten. Für Komiker vielleicht, die sich die Haut und die Haare färbten und auf Stelzen gingen, um narrenhaft anzumuten. Meister Suruga hatte mal gehört, daß Dämonen ihr Aussehen verändern konnten, wenn sie wollten, um auf Menschen nicht mehr ganz so bestialisch zu wirken. Er fragte sich, wie diese drei wohl in ihrer wahren Gestalt aussahen.

„Wie sieht der weitere Plan aus?“, wollte Intetsu wissen.

Gemma seufzte leise. „Ich werde sicher noch ein paar Tage nicht einsatzfähig sein.“

Intetsu nickte und wandte sich Meister Suruga in der Raumecke zu. „Wir wünschen bei ihm bleiben oder ihn mitnehmen zu dürfen!“

„Was heißt 'mitnehmen zu dürfen'?“, gab der Meister gelassen zurück. „Ich halte ihn ja nicht gefangen. Er macht mir nur nicht den Eindruck, als ob er aus eigener Kraft gehen könnte, selbst wenn er wöllte.“

Schwertmeister Suruga

Draußen schien heute wundervolles Wetter zu sein. Der alte Meister beschloss, ein wenig die schöne Sommerluft in seine Gemächer herein zu lassen. Er zog jedoch ein sehr verwundertes Gesicht, als er die Türen aufschob und fast über Gemma stolperte, der davor lag. Der gelbhaarige Dämon lag bäuchlings auf dem Holzsteg, der rings um den Innenhof führte. Reglos, wie hingestürzt und nicht wieder aufgestanden. Einer seiner Arme hing lose über den Steg hinunter in den Schotter. Der alte Meister glotzte ihn eine Weile dumm an, erntete aber keinerlei Reaktion. „Ist bei dir alles in Ordnung?“, wollte er schließlich wissen.

„Absolut.“, gab der zurück. Und wendete sich in aller Ruhe auf den Rücken herum. Ohne die Augen zu öffnen. „Ich genieße die Sonnenwärme.“, fügte er erklärend an. Als sei es ganz normal, mitten im Weg herumzuliegen, auf dem blanken Boden. Noch dazu wenn sein Herr gerade hier langgehen wollte. Der konnte ja zur Not über ihn drübersteigen, wenn er unbedingt jetzt hier durch musste.

„Aha.“, machte der Alte etwas ratlos. Die Dämonen hatten ja teilweise haarsträubende Manieren, und er duldete die meisten davon mit der Gelassenheit eines Meisters. Aber wenn es in so gänzlich unverständliche Angewohnheiten ausartete, konnte er doch nicht völlig drüber hinwegsehen.

Es folgte eine neuerliche Zeit des gegenseitigen Anschweigens.

„Gemma, ich gehe in die Stadt.“, hob der alte Schwertmeister schließlich von neuem an und beschloss die Situation zu ignorieren. „Kommst du mit?“

Der Dämon mit den hellen Haaren öffnete nun doch mürrisch die Augen. „Ich bin nicht dein Pack-Esel.“

„Nein.“, erwiderte er schmunzelnd. „Das war auch nicht mein Ansinnen. Aber wenn ihr meine Leibwächter sein wollt, wäre es doch zu empfehlen, daß zumindest einer von euch bei mir bleibt, meinst du nicht?“

Gemma überlegte kurz. „Gut, dann lass uns gehen.“, entschied er. Er angelte nach seinem Samurai-Schwert, das neben ihm auf dem Boden lag, und das er auch hier im Haus niemals außer Reichweite ließ, und stand schwungvoll auf. Da er nun schon ein paar Tage hier war, ging es ihm und seinem Kopf inzwischen sehr viel besser. Langsam war er wieder fit.

Der alte Meister schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf und machte sich mit ihm auf den Weg. Anfangs hatte er es für den Fehler seines Lebens gehalten. Diese unbedachte Äußerung, daß er Gemma ja hier nicht gefangen halten würde, Gemma aber wohl kaum aus eigener Kraft gehen könne, selbst wenn er wollte. Seine dämonischen Kameraden hatten es mit einem 'Gut, dann bleiben wir!' selbstverständlichster Art quittiert. Und das hatten sie dann auch getan. Seitdem hockten sie nun alle drei hier in seinem Haus herum. Man musste sich wirklich gut überlegen, was man in der Gegenwart von Dämonen äußerte. Aber inzwischen hatte sich Meister Suruga daran gewöhnt. Sie hatten ihm bisher keinen ernsthaften Grund geliefert, es zu bereuen, daß er sie jemals in sein Heim gelassen hatte. Im Gegenteil hatte er ihnen inzwischen angeboten, zu bleiben und in seine Dienste zu treten. Er hatte durchaus Verwendung für ein paar kampferprobte Schwertträger.

Die drei Dämonen benahmen sich nichtmal ansatzweise wie seine Untergebenen. Sie waren vorlaut, hatten ihren eigenen Kopf und bedienten sich ungefragt an allen möglichen Dingen, die sie hier im Haus fanden. Der Alte ließ sie auch gewähren und sagte nichts. Zumeist gab er den Dämonen nichtmal richtige Befehle, sondern trug ihnen partnerschaftlich seine Anliegen an wie eine Bitte. Sie machten zwar ungeniert Gebrauch von dieser Freiheit, schienen es ihm aber zu danken. Der Schwertmeister hatte oft den Eindruck, daß sich Gemma im Gegenzug williger und wohlwollender seinen Wünschen fügte, als er es unter normalen Umständen getan hätte. Der Alte hatte viel gehört und gesehen. Ihm war geläufig, wie Dämonen waren. Sie waren blutrünstige Schlächter, wenn sie durften. Sie nutzten jede sich bietende Erlaubnis, um zu morden. Und dabei fragten sie nicht, wen sie da gerade töteten, oder warum. Deshalb war auch die einzige Arbeit, zu der sie sich befleißigten, die als Söldner. Er ließ den dreien nicht alles durchgehen, weil er Angst vor denen gehabt hätte – Angst hatte er bestimmt nicht – aber er war sich durchaus bewusst, daß Dämonen sich auch schnell mal gegen ihren Herrn wandten, wenn der sie zu abfällig behandelte. Es war auch nicht sein Ziel, die Dämonen ihren Diener-Status spüren zu lassen. Als Schwertmeister war Respekt sein oberstes Anliegen. Und Respekt zollte er diesen Dämonen in wirklich hohem Maße. Weil sie ihm in so vielen Dingen so weit überlegen waren. Er empfand es als Ehre, mit ihnen zusammenarbeiten zu können. Und da sah er über ihre schrägen Manieren auch gern hinweg, solange sie für niemanden eine Gefahr darstellten. ... Das einzige, was er ihnen nie erlaubt hatte, war, in seiner Waffenschule mit den Schwertschülern zu trainieren. Gemma und seine Kollegen hätten niemals die Disziplin aufgebracht, sich bei korrekt ausgeführten Angriffen geschlagen zu geben oder eigene Angriffe rechtzeitig zu stoppen. Die Dämonen hätten seine Schüler auch mit Holzschwertern einfach nur gnadenlos totgeschlagen. Der Meister wagte es nichtmal selbst, mit den Dämonen zu trainieren, wenngleich Gemma dieses Angebot durchaus schon gemacht hatte.

Von den anderen beiden Dämonen in seinem Haus bekam der alte Schwertmeister gar nicht viel mit, fiel ihm da auf. Gemma war die meiste Zeit sehr präsent, seit er wieder aufstehen konnte, und war immer mehr oder weniger in greifbarer Nähe. Er redete viel, auch im Namen der anderen, und mitunter ehrlicher als es dem Meister lieb war. Die anderen beiden trieben sich dagegen nur selten im Haus herum. Meister Suruga hatte schon sehr früh mitbekommen, daß Gemma wohl der Kopf dieser Dämonentruppe war und das Sagen hatte.
 

Gemma schaute sich mit gerunzelter Stirn das Sortiment des fahrenden Händlers an, bei dem Meister Suruga gerade einkaufte. Der Händler schien öfter durch dieses Städtchen zu kommen und ein guter Freund des Meisters zu sein, wenn man den vertrauten Umgangston beachtete, in dem die beiden miteinander sprachen. Neben Reis und Gemüse hatte er noch einigen anderen Ramsch des täglichen Bedarfs im Angebot. Der Händler verkaufte Meister Suruga gerade ein bestelltes 'du weißt schon was', das unkenntlich verpackt war. Gemma vermutete, es war Fleisch, oder Fisch. Kaiser Shirakawa Hidijo hatte schon seit einer ganzen Weile verboten, Tiere zu töten, daher war der Handel mit Fleisch de facto zusammengebrochen und erfolgte bestenfalls noch illegal. Da Gemma aber selber viel zu gerne Fleisch aß, wollte er da mal nicht meckern. Er war ja froh, endlich mal wieder welches zu bekommen. Was ihm viel mehr zu denken gab, war die Katze in der Gitterbox. Gemma deutete vielsagend aus dem Handgelenk darauf. „Bist du wahnsinnig, eine Katze in einen Käfig einzusperren?“, mischte er sich unterbrechend in das Gespräch ein. „Wenn das einer sieht, wird man dich hinrichten.“

Der Händler sah ihn mit großen Augen an, nicht wissend, ob er den vorlauten Zwischenruf rügen sollte, denn augenscheinlich war der Kerl nur dienstbares Gefolge des Meisters, oder ob er vor dem seltsamen Erscheinungsbild irgendwie Angst haben musste. Immerhin trug der auch ein Schwert. Nur Samurai trugen Schwerter. War er nun ein exotischer Diener, aus einem fremden Land vielleicht, oder doch ein Freund und ebenbürtiger Partner des alten Schwertmeisters?

„Shirakawa-In betet Katzen an. Schon als er noch Tenno war, hat er verfügt, daß diese Tiere wie Götter zu behandeln, zu hegen und zu pflegen sind.“, fuhr Gemma ungerührt fort. In der absoluten Überzeugung, daß er hier sehr wohl was zu melden hatte.

„Ich behandel das Tier ja nicht schlecht.“, gab der Händler zurück.

„Du sperrst es ohne Wasser und Futter in eine Box, in der es sich kaum umdrehen kann, und behauptest, es ginge ihm da drin nicht schlecht?“

„Meister Suruga, darf ich fragen ...“, wandte sich der Händler hilflos an den alten Schwertmeister, weil er absolut nicht mehr wusste, welche Wortwahl jetzt noch schicklich war, ohne sich mit dem gelbhaarigen Fremden über Gebühr anzulegen.

„Lass gut sein, Gemma.“, meinte Meister Suruga beschwichtigend, ohne auf die unvollendete Frage des Händler nach dem Status seines Begleiters einzugehen. „Das ist nicht ganz einfach, weißt du? Hier herrschen die Minamoto. Die Samurai in dieser Gegend stehen der altehrwürdigen Kaiserfamilie Fujiwara nahe und halten nicht viel auf das neu an die Macht gelangte Geschlecht der Shirakawa. Daher nehmen wir es mit den Gesetzen des Shirakawa-In nicht so genau.“ Dann schenkte er dem Händler ein verabschiedendes Nicken und schickte sich an, weiter zu gehen.

„Was habt ihr gegen den Shirakawa-In?“, hakte Gemma nach und schaute zwischen dem Händler und dem Schwertmeister hin und her. Er wollte sich gern noch etwas mit dem Händler weiterstreiten, aber sein Herr war schon halb weg.

„Die Shirakawa haben uns nichts als Unglück gebracht!“, maulte der Händler, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Sie verbieten Fleisch! Sie untersagen den Jägern, Fischern und Viehbauern, ihrem Handwerk nachzugehen und würgen ihnen damit die Luft zum Atmen ab! Hast du eine Ahnung, wie große Teile der Bevölkerung Jäger, Fischer und Viehbauern sind?“

„Oh, du ...!“

„Ich verfluche die Shirakawa!“

Knurrend schnappte der Dämon nach seinem Schwertgriff. Aber bevor er die Waffe auch nur halb gezogen hatte, gebot ihm bereits ein 'Gemma, komm jetzt!' Einhalt. Ruhig, aber bestimmend. Eine kurze Bedenkzeit. Dann rammte Gemma das Schwert wütend in die Saya zurück und ließ sein Gegenüber einfach stehen. „Traust du mir nicht zu, den Kerl zu schlagen? Der war doch ein schwacher Kämpfer!“, wollte er beleidigt wissen, als er wieder zu dem alten Meister aufschloss.

„Eben deshalb ja. Ich will jetzt einfach kein Aufsehen.“ Der Alte lächelte amüsiert. Gemma war eindeutig sauer, weil man ihm verboten hatte, zu morden. Die Art der Dämonen war ihm geläufig, sie hatten Spaß daran, ein fröhliches Massaker anzurichten. Und dieser Streit hätte ihm sicher hinreichenden Grund dazu geboten. Meister Suruga gedachte dieser Blutlust keinen freien Lauf zu lassen. Aber Gemma würde sich schon wieder einkriegen. „Du bist also auf der Seite des Tenno? Stehst du demnach dem Taira-Clan nahe?“, fragte er nach.

„Hättest du ein Problem damit, wenn es so wäre?“

„Nein. Ich versuche nur, Streit rechtzeitig zu umgehen.“, meinte er mild. „Wenn ich es weiß, kann ich das Thema ja in deiner Gegenwart vermeiden.“

Gemma richtete sich mit einem 'hm' das Schwert im Gürtel. „Ich steh auf keiner Seite, wenn du es wissen willst. Ich bin nur immer sehr zugetan, wenn einer Streit sucht.“

„Ist mir aufgefallen.“, lächelte der Meister.

„Und MIR ist aufgefallen, daß ich in dieser Stadt noch keine einzige Katze gesehen habe. Eigentlich müsste die Population doch gedeihen, wenn die wirklich so verhätschelt werden, wie Shirakawa-In es gern sehen würde.“

„Hier gibt es keine Katzen. Wir halten sie aus unserer Stadt fern.“

„Wieso das?“

„Weil Shirakawa-In sagt, daß wir sie wie Götter behandeln müssen. Wir Samurai, die wir noch der alten Fujiwara-Linie treu sind, betrachten es als Protest gegen den neuen Kaiser und als legitime Chance, sich gehässig seinen Befehlen zu widersetzen. Die Bauern haben einfach nur Angst, den göttlichen Miezekatzen irgendwie zu nahe zu treten oder sie zu stören, daher halten sie sich lieber gar nicht erst welche.“

„Und wie schützen die Seidenraupen-Züchter ihre Raupen vor einer Mäuseplage?“, hakte Gemma ungläubig nach.

„Oh, da haben wir Methoden. Wir malen Bilder von Katzen an unsere Wände und Türen und stellen Holz- und Bronze-Statuen von Katzen auf. Die halten die Mäuse fern.“

„Und das hilft?“, lachte Gemma. Das meinte der Alte nicht ernst, oder?

„Naja, im Moment weniger. Katzen sind halt sehr launische Wesen, die uns nur helfen, wenn ihnen gerade danach zu Mute ist.“

Gemma schüttelte den Kopf. Die Menschen hatten eine wirklich verquerte Vorstellung von den mythologischen Kreaturen ihres Landes. Er fragte lieber gar nicht erst nach, welchen Unsinn der Alte über Dämonen zu wissen glaubte. Andererseits hatte er die Menschen auch noch nie so richtig verstanden. Wie wollte er da voraussetzen, daß die Menschen andere Wesen besser verstanden? Gemma blieb ruckartig stehen. „Oh, ein Sake-Händler! Ich will Sake haben!“

„Gut, dann kauf dir welchen.“, schlug der alte Meister lächelnd vor.

„Ich hab kein Geld. Kauf du mir welchen!“, verlangte Gemma dreist.

Das Lächeln des Meisters wurde breiter. „Ich hab auch keins, tut mir leid.“

„Ohne Sake geh ich keinen Schritt weiter.“

„Na, dann bleib halt hier.“, lachte Meister Suruga und ging weiter.

Gemma setzte sich mitten auf die staubige, unbefestigte Straße, im Schneidersitz, und verschränkte die Arme.

„Ach Gemma ...“, seufzte der Alte, der ein paar Schritte weiter stehengeblieben war, als er merkte, daß der Dämon ernst machte. „Jetzt sei doch bitte nicht so störrisch.“, bat er sanftmütig und um Einsicht bittend. „Schau mal, ich hab wirklich nicht so viel Geld bei mir. Wenn ich jetzt Sake kaufe, haben wir heute abend nichts zu essen.“, erklärte er, während er in seine Ärmeltasche griff und eine Handvoll Münzen herausholte, um sie seinem Leibwächter zu zeigen. Der Handel mit Münzen, nach dem Vorbild der Chinesen, war gerade erst im Aufkommen, erfreut sich aber unter denen, die etwas vermögender waren, schon jetzt großer Beliebtheit.

„Ich will aber Sake haben.“, maulte Gemma unnachgiebig.

„Du kriegst zu Hause welchen, einverstanden? Ich habe daheim genug rumstehen.“

Der Dämon musterte ihn skeptisch, ob er das glauben sollte. Dann erhob er sich wieder vom Boden. „Das ist ein Angebot.“ Hurtig marschierte er weiter.

Als der alte Meister ihm mit einem freundlichen Kopfschütteln folgte, kam er nicht umhin zu bemerken, daß Gemmas Kimono nach wie vor blütenweiß war. Obwohl er eben im Dreck gesessen hatte, fand sich kein Staubkorn auf der Kleidung. Er fragte sich, aus welchem Stoff der wohl gewebt war. Gewöhnliche Seide sicherlich nicht.

O-Takenaga

Schwarz. Alles hier. Der nächtliche Himmel über ihnen. Die Landschaft ringsherum. Selbst die Kleider, die sie am Leibe trugen. Ein verrotteter Friedhof, Knochen überall auf den Wegen. Hier standen sie und beteten, um den Meister zu rufen. Er würde kommen, keine Frage. Aufgeregt aber wissend begannen sie das Ritual. Sie sprachen die geheimen Worte. Und er würde erwachen.

„Lass deine Macht sprießen, damit unter deiner Herrschaft Dunkelheit komme über das ganze Land. Wir sind hier, um dir eine Krone zu geben, und Macht. Deine Gefolgschaft wird dich erwarten. Du regierst das Land. Gib uns Befehl!“

Das Feuer in der gewaltigen Ascheschale brannte, flammte rot wie Blut. Das Mädchen, das sie dahinter an einen Pfahl angekettet hatten, schien im Schein des Feuers fast zu glühen. Sicher tat sie das auch. Die Hitze hatte ihre Haut bereits gerötet und trieb ihr dicke Schweißperlen aus den Poren.

„Wir preisen deine Herrlichkeit. Herr, bitte komm zurück.“

Rauch quoll aus der Erde. Das Mädchen schrie schmerzvoll auf, als sie davon eingehüllt wurde. Die Gebete wurden lauter.

„Die Zeit ist gekommen. Du sollst unser Führer sein. Dein Königreich soll sich weit ausdehnen. In deine Hände legen wir unser Leben. Gib uns Befehl und wir werden gehorchen. Wir erwarten dein Begehren. Lass jeden vor Furcht erzittern, das Verderben soll regieren. Möge Blut die Flüsse füllen. Lass die Ordnung zu Chaos werden. Zeige der Welt den Tod.“
 

Etwas abseits stand Gemma, mit der Schulter gegen einen Baum gelehnt, und schaute sich das Spektakel aus sicherer Entfernung an. Er wünschte, die Menschen hätten ihm mal so viel Respekt und Ehrfurcht entgegengebracht. Aber naja, dafür war er einfach ein zu kleines Licht. Da brauchte er nicht neidisch sein. Was die Männer hier trieben, machte ihm allerdings Sorgen. Nun gut, er hatte genug gesehen. Kopfschüttelnd wandte er sich um und löste sich in Rauch auf. Zeit, zu seinem Herrn zurückzukehren.
 

„Und zeige uns all deine Weisheit, versprühe sie über das ganze Land. Du bist unser Meister, der Grund weshalb wir leben. Mache die Flüsse rot, verdunkle die Nacht! Die gesamte Welt soll den Dämonenkönig fürchten. Führe eine grausame Schlacht, deine Armeen werden gehorchen.“
 

Zuerst war da gar nichts. Das einzige, was er spürte, war Leere. Er war nur ein loser Verstand, der an keinen Körper gebunden war. Entsprechend konnte er nicht hören und nicht sehen. Nicht reden und nicht riechen. Nur diese Leere wahrnehmen. Dann gesellte sich plötzlich ein unbestimmter Schmerz hinzu, der schnell heftiger wurde, als sich an dieses Nichts Substanz anzulagern begann. Wie ein Skelett, an dem sich Muskeln und Gewebe von außen her festsetzten wie eine immer dicker werdende Schmutzschicht. Seine Zunge stieß an Schneidezähne. Seine trüben Augen wurden von heller werdendem Licht gepeinigt, dessen er sich nicht erwehren konnte, bis endlich Lider sich darüber schlossen und es aussperrten. Ein Schrei schnitt krampfartig in seine Ohren. Seine noch halbfertigen Lungen ließen den ersten qualvoll genommenen Atemzug ungehindert durch zahllose Nebenausgänge wieder fahren. Im nächsten Augenblick riss ihn unvermittelt die Schwerkraft zu Boden, er brach haltlos zusammen. Dann Schwärze. Ein tiefer, dröhnender Trommeltakt, hart und gleichmäßig, ließ unter seinem kraftlosen Körper die Erde beben. Er spürte die Vibrationen noch einen Moment. Dann kam zu der Schwärze auch Ruhe. Die Trommeln hatten ausgesetzt.

„Herr. .... Herr!!!“

Er öffnete mühsam die Augen, als er sich geschüttelt fühlte. Mit all seinen Sinnen versuchte er zu erfassen, was hier gerade Sache war. Auf seiner nackten Haut spürte er eine Decke, in die man ihn gewickelt hatte, um seine Blöße zu verbergen. Seine Ohren sagten ihm, daß etliche Leute um ihn herum standen, und er konnte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich regelrecht spüren, noch ehe er den Blick hob um nachzusehen. Er fand sich auf dem Boden liegend wieder, also versuchte er sich mit einem Arm ächzend hochzuwuchten. Lange, tiefblaue Haare fielen ihm ins Gesicht. Das waren seine eigenen, okay. Die weiße Haut, die sich über seine Hände spannte, war makellos, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie schlank er war. Er hatte schon kräftigere, stärkere Körper gehabt, erinnerte er sich.

Sich aufzurichten fiel ihm schwer. Er war noch furchtbar schwach und zittrig und bei der kleinsten Anstrengung begannen alle seine Muskeln zu krampfen. Er räusperte sich kurz ausdrucksvoll, um zu testen, in welchem Zustand seine Stimme war. Dann erst wandte er seine Beachtung all den Menschen zu, die um ihn herum standen und ihn mit großen Augen angafften. Viele waren sichtlich sprachlos. Und nicht unbedingt im positiven Sinne, wie ihm auffiel.

„Herr!“, redete wieder jemand auf ihn ein.

Fragend drehte er seinen Kopf der Stimme zu.

„Seid ihr wohlauf?“

„Ich lebe.“, gab er nur trocken zurück – seine Stimme klang unangenehm hell und jung in seinen eigenen Ohren – richtete sein Augenmerk wieder auf den Boden und versuchte irgendwie ungeschickt aufzustehen, da alles unter ihm und um ihn her zu schwanken schien und die Erdanziehungskraft ihm noch extrem zu schaffen machte. Er bezweifelte, daß er länger als ein paar Sekunden lang würde stehen können.

„Herr. Mein Name ist Sono. Wir sind eure Diener! Wir haben euch in diese Welt zurückgeholt, damit ihr sie regiert. Bitte, gebt uns Befehl!“

Ach ja, richtig, O-Takenaga war sein Name, erinnerte er sich. O-Takenaga schaute ihn erneut fragend an. „Befehl? Welchen Befehl denn?“

Nun war es der bärtige Mann mit dem stählernen Helm, der blöd schaute. „Äh ... egal! Irgendeinen!“ Was war das denn? Sie hatten einen Akuma beschworen und der hatte keine Befehle für Sie? Nichtmal Wünsche?

„Leute, lasst mir doch erstmal einen Moment Zeit, mich wieder zurechtzufinden und herauszufinden, was hier eigentlich Phase ist. Wie lange war ich überhaupt weg?“, gab der junge Mann etwas überfordert zurück, kämpfte sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung auf die Füße und strauchelte sofort wieder.

Sono griff erschrocken zu, um ihn zu stützen und nebenbei noch die Decke aufzufangen, die von seinem ansonsten splitterfasernackten Körper zu rutschen drohte. „Ihr habt diese Welt zuletzt vor 200 Jahren verlassen, Herr.“, nuschelte er dabei. „Ich werde euch in mein Zelt bringen, wo ihr ... ähm ... zur Ruhe kommen könnt.“

„Das ist gut, danke.“
 

... Danke?
 

... Danke!!!!!???? ...
 

Was zur Hölle war das hier für ein Teufel? Fürst Sono war fassungslos. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich einen Arm des aus Rauch und Magie geborenen sogenannten Herrschers um den Hals legte und ihn bei jedem Schritt Richtung Kommandozelt schwer stützte.
 

Es war so ein ganz gewöhnlicher Abend, wie alle Abende im Hause des Schwertmeisters zu sein pflegten. Die untergehende Sonne tauchte den Innenhof in lyrisches Orange. Und es war so seltsam ruhig hier. Meister Suruga liebte die Ruhe und den Frieden. Wenn er nicht gerade Schwertschüler unterrichtete, war hier nichts los. Von ihrer letzten Bleibe waren sie mehr Trubel gewohnt. „Gemma, was tun wir hier?“, wollte Hanya und Ponya lustlos wissen, als der Kopf der Dämonenbande sich dazugesellte und sich schwerfällig setzte. Er verstand bis jetzt nicht, warum Gemma sich an die Fersen dieses alten Schwertmeisters geheftet hatte. „Der Kerl hat doch keine Arbeit für uns, oder?“

„Würde ich so nicht sagen.“, gab Gemma zurück. Auch wenn sein Tonfall selbst nicht übertrieben euphorisch klang, schien er doch zumindest zufriedener zu sein als seine beiden Mitstreiter. „Der Alte wird von ein paar Witzbolden behelligt, die seinen Nachtfrieden stören, seine Schüler behelligen und teilweise sogar Schäden an seinem Haus anrichten. Ein paar Mal wurde hier sogar schon eingebrochen und seine Trainingshalle verwüstet. Er würde es gern sehen, wenn wir rauskriegen, wer die sind, und die zum Schweigen bringen.“ Und außerdem mochte er den Meister und seine harmonieliebenden Ansichten ganz gern. Der Meister war immer darum bemüht, den Dämonen möglichst keinen Anlass zur Unzufriedenheit zu bieten und sie nicht gegen sich aufzubringen. Aber das fügte er nur in Gedanken an und sprach es nicht laut aus. Das war für seine Kameraden kein Kriterium.

„Klingt nach Leuten von einer rivalisierenden Waffenschule.“, vermutete Intetsu ruhig.

„Schätze ich auch.“

„Womit will der Kerl uns denn bezahlen? Hat er uns irgendwas zu bieten?“

„Das weiß ich noch nicht. Das ist im Moment auch nicht unser größtes Problem. Aber wir haben erstmal wieder ein Dach über dem Kopf.“, stellte Gemma klar und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Es war klar, daß er damit die Gästezimmer im Gebäude hinter sich meinte. „Weitersuchen können wir immer noch.“

Intetsu und Hanya und Ponya nickten einsichtig. Seit sie ihren alten Herrn verlassen hatten, waren sie wie Vagabunden durch die Lande gezogen. Sie waren in jedem Dorf nur ein paar Tage geblieben. Leider konnten sie als Dämonen nicht einfach irgendwo klopfen und selber nach Arbeit fragen. Sie mussten angesprochen und angeheuert werden. Es blieb ihnen nur, möglichst viel im Dorf herumzuspazieren, sich unter das Volk zu mischen und sich zu zeigen, damit vielleicht irgendein kundiger Mensch sie bemerkte und ansprach. Dämonen fielen mit ihrem Aussehen zwar durchaus auf, aber die meisten Menschen hatten keine Ahnung von Dämonen und erkannten sie deshalb nicht als solche. Und wenn doch, flohen sie von Grauen gepackt. Gemma hatte sich das einfacher vorgestellt, als er beschlossen hatte, seine bisherige Bleibe zu verlassen und dem Familienclan, dem sie so lange zu Diensten gewesen waren, den Rücken zu kehren. In den Dörfern würde er wohl auch wenig Erfolg haben. Fischer und Bauern hatten kaum Verwendung für die Dienste von Dämonen, überlegte Gemma. Bestenfalls im Monat der großen Steuereintreibung. Und bei den Samurai gebot es die Ehre, selber zu kämpfen. Er musste seine Herangehensweise überdenken, wenn er mit seinen beiden Weggefährten wieder irgendwo Fuß fassen wollte. Herrenlos bleiben und frei durch die Welt ziehen wollte er schließlich auch nicht. Es klang zwar nach einem bequemen Leben, frei zu sein, aber er wollte den Luxus der Zivilisation nicht missen. Wenn er nicht in den Diensten eines Herrn stand, der ihn versorgte, hatte er nur die Wahl, alles zu rauben was er zum Leben brauchte – und dann würde er sehr schnell von einem Mob wütender Menschen umgebracht werden, damit hatte er oben auf der alten Handelsstraße in den Bergen ja schon Erfahrung machen müssen – oder die von Menschen besiedelten Gebiete zu verlassen. Und er hatte ehrlich gesagt keine Lust, wie ein Bergtroll in Höhlen zu hausen und sein Essen auf steinzeitlichste Art selber erlegen zu müssen. Intetsu und Hanya und Ponya sahen das genauso.

„Gemma!?“, holte ihn Intetsu aus seinen gedankenverlorenen Überlegungen zurück.

„Hm?“ Der Yokai mit den hellen Haaren warf ihm einen fragenden Seitenblick aus dem Augenwinkel zu.

„Was ist los mit dir?“

„Was soll sein?“

„Du bist in letzter Zeit so anders. So komisch.“, pflichtete auch Hanya und Ponya ihm sofort bei. „Du bist mal lebhafter gewesen, bevor wir hier gestrandet sind. Hat der Alte irgendwas mit dir angestellt, daß du plötzlich so still bist? Oder färbt seine meditative Art bloß auf dich ab?“

Gemma schüttelte den Kopf und ließ den Blick wieder über die Wolken schweifen. „Ich mache mir Sorgen um das, was sein wird. Die Welt befindet sich im Wandel. Der Umstand, daß wir aus unserer alten Heimat fortgegangen sind, war nur der Anfang von etwas viel, viel weitreichenderem.“ Ja, was er vor ein paar Tagen auf dem verwitterten Friedhof mit angesehen hatte, machte ihm Sorgen. Mit seinem Herrn, Meister Suruga, hatte er schon darüber gesprochen und auch ihm machte es Sorgen. Gegenüber seinen beiden Mitstreitern hatte er es noch nicht erwähnt. Die würden noch früh genug in diesen Strudel mit hineingezogen werden.

Gegenüber, auf der anderen Seite des Innenhofes, ging eine Schiebetür auf und eine junge Frau kam heraus. Sie warf einen interessierten Blick herüber, schien aber nicht ganz schlüssig, wie sie auf die Besucher reagieren sollte. Wohl weil sie beim besten Willen nicht einordnen konnte, wer sie waren. In ihrer eigenwilligen Kleidung, die keine Rückschlüsse auf irgendeinen Gesellschaftsstand zuließ, hätten sie von Bediensteten bis hochrangigen Persönlichkeiten alles sein können. Schließlich grüßte sie die drei mit einer ehrfürchtigen Verbeugung, ging weiter und verschwand zur nächsten Tür hinein wieder im Haus.

Shirakawa-In

Ex-Kaiser Hidijo klimperte schief auf dem Koto herum. Dieses Instrument erschloss sich ihm einfach nicht. Aber als Kaiser konnte er ja schlecht Unterricht nehmen. Nicht nur, daß man ihm damit Unfähigkeit hätte anlasten können, sogar hätte anlasten müssen, nein, dem Gottkaiser über ganz Japan stand es einfach nicht an, zum Vergnügen Musikinstrumente zu spielen. Das war etwas für Geishas und Theaterleute. Desillusioniert schob er das sperrige Saiteninstrument von sich.

„Ihr spielt wahrhaft göttlich, mein Kaiser!“, schnurrte eine helle Mädchenstimme durch den Raum und ließ ihn schmunzeln.

„Veralbern kann ich mich auch selber.“, gab er humorvoll zurück. Er wusste selbst, daß er grottig spielte. Nur wenn er allein und privat war, konnte er sich zu solchen legeren Späßen hinreißen lassen. Es war anstrengend, als Regent immer und überall würdevoll Haltung bewahren und ein ernstes Gesicht machen zu müssen. Die Regierungsangelegenheiten ließen ihm kaum eine Minute Freizeit und kaum eine Person, mit der er vertraut genug war, um Witze mit ihr zu reißen. Er durfte sich eben nicht als Mensch zeigen. Er war kein Mensch. Er war ein Gott. Kaiser über ganz Japan. Auch wenn er offiziell ein 'abgedankter Kaiser' war, und kein 'Tenno' mehr, oblagen doch die Rechte und Pflichten der Regierung immer noch ihm, solange sein erst 4-jähriger Sohn diese noch nicht selber ausüben konnte. Darum hatte er auch kein Problem damit, von sich nach wie vor als 'Kaiser' zu sprechen. Er liebte das. Eine echte Strohmänner-Politik. Als Shirakawa-In durfte er alles, wurde aber für nichts verantwortlich gemacht, denn der Shirakawa-Tenno, der für alles den Kopf hinhielt, war ja sein 4-jähriger Sohn. Ein Geniestreich, dieses 'Insei' genannte System des 'abgedankten Kaisers', der zwar abgedankt hatte, als Vormund des neuen Kaiser aber aus dem Hintergrund die Fäden fleißig weiter zog. Er selbst hatte dieses System eingeführt. Die Idee dazu verdankte er seinem Katzengeist.

Eine schwarze Hauskatze trabte eilig herein und wuselte aufgeregt um ihn herum. Kaiser Hidijo beugte sich lächelnd herunter und streichelte dem Tierchen über den Kopf. „Da bist du ja wieder, meine Süße. Bist du draußen rumgegeistert? Ich beneide dich so. Ich bin hier drinnen eingesperrt. ... Zieh mir keine Fäden aus der Seide!“, mahnte er und hob die Katze hoch, als diese Anstalten machte, mit den Krallen an ihm hochzukraxeln. „Ich wünschte, ich könnte dich auf deinen Streifzügen begleiten.“, fügte er noch an.

„Dann tut´s doch!“, schlug die Katze sorglos vor, mit der gleichen schnurrenden Mädchenstimme wie eben, und verwandelte sich mit einem Puffen in das Kind mit den Katzenohren, das ihre humanoide Gestalt darstellte. Kaiser Hidijo wankte kurz keuchend unter dem Gewicht, das so unvorgewarnt an ihm zerrte. Als Hauskatze wog sie nur einen Bruchteil von dem, was ihr menschlicher Körper wog. „Was hindert euch?“, wollte sie ungerührt wissen.

„Die Tatsache, daß ich hier nicht einfach nach Belieben aus dem Schloss rausspazieren und mich unters Volk mischen kann, vielleicht?“

„Glaubt ihr, es würde jemand wagen, euch was zu tun?“

„Darum geht es nicht. Es gebührt sich einfach nicht.“

„Dann lasst euren hoheitlichen Kimono hier und zieht euch ein Diener-Gewand an! Was glaubt ihr, wer euch dann noch erkennt? Und sagt nicht wieder, daß ihr da draußen total aufgeschmissen und planlos wärt. Ich komme ja mit und helfe euch.“

„Ich bin die Diskussion leid.“, entschied Kaiser Hidijo stoisch und stellte das Kind wieder auf dem Boden ab. Langsam wurde sie doch zu schwer, um sie weiter auf den Armen zu tragen. „Berichte mir lieber, was du auf deinen Rundgängen so gesehen hast.“

„Euer Busenfreund wird ehrgeizig.“, grinste das Mädchen mit den schwarzen Katzenohren und strich sich das Kleid wieder glatt.

„Du sollst Fürst Sono nicht so nennen! ... Was tut er denn?“ Fürst Sono war sein Minister zur Linken, als oberster Staatsminister also für alle weltlichen Angelegenheiten Japans verantwortlich und damit die rechte Hand des Kaisers selbst. Der abgedankte Kaiser wusste ihn loyal auf seiner Seite und vertraute ihm daher in allen Dingen weitestgehend – im Gegensatz zu seinem Minister zur Rechten, der Fürst Sonos Stellvertreter war, in dieser Funktion aber nicht viel zu tun hatte. Da Fürst Sono ein sehr fähiger Staatsmann war, hatte der Minister zur Rechten viel zu viel Zeit für irgendwelche machtkämpferischen Intrigen. Dem traute Shirakawa-In weniger.

„Fürst Sono hat seine Nachbar-Provinz angegriffen und will sie erobern.“

„Tatsächlich!?“, machte Ex-Kaiser Hidijo verdutzt. Er überlegte kurz. Dann zuckte er mit den Schultern. „Soll mir Recht sein. Damit macht er es mir etwas leichter, Japan zu einen. Je weniger Provinzen es gibt, und je weniger Fürsten zu diesen Provinzen, desto weniger Arbeit habe ich damit.“

„Ihr werdet also nicht eingreifen, mein Gebieter?“

„Nein. Es ist furchtbar anstrengend, so viele Fürstentümer unter einer gemeinsamen Schirmherrschaft zu einen. Jeder Fürst hat irgendwelche anderen Befindlichkeiten, die er berücksichtigt wissen will. Bitte unterstütze Fürst Sono bei seinem Feldzug, wenn du kannst, hörst du?“

„Wieso legt ihr nicht einfach ein paar Fürstentümer zusammen, wenn es euch zuviele sind, mein Kaiser?“, wollte das Katzenmädchen näckisch wissen. Das war natürlich ein Scherz. Ihr war klar, daß die Menschen eine gewisse Vorstellung von Politik hatten und sich damit selber die abstrusesten Regeln aufzwangen, für die sie als Geisterwesen kein Verständnis zu haben brauchte.

„Was glaubst du, was die Fürsten tun werden, die ich dabei entmachte und ihrer Ländereien beraube!?“
 

O-Takenaga nahm die aufgestützte Stirn aus der Hand und warf nochmal einen Blick in den Spiegel. Man hatte ihm inzwischen unaufgefordert ein gemischtes Sortiment an Kleidung zur Verfügung gestellt. Er hatte sich für einen weiten, rabenschwarzen Kimono entschieden und sich dann eine gute Ladung schwarzen MakeUps ins Gesicht geschmiert. Damit fand er sein Erscheinungsbild nun recht passabel. Wenigstens für ein paar rot-schwarze, seitlich am Kopf nach hinten ragende Hörner hatte es noch gereicht, ansonsten war seine Erscheinung komplett menschlich. Sein neuer Körper war zwar schon ziemlich männlich und hatte eine definierte Muskulatur, alles in allem war es aber trotzdem die schmächtigste Statur, die er je gehabt hatte. Nun, bei dem Ritual, mit dem man ihn in die Menschenwelt gezerrt hatte, konnte eben nur das organische Material genutzt werden, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Man hatte ein zierliches, junges Mädchen genommen, weil man der Meinung war, nur eine hübsche Jungfrau sei gerade gut genug, um einem Akuma „geopfert“ zu werden. Diese Denkweise hatte zwei Knackpunkte. Erstens war er beileibe nicht das, was sich die Menschen für gewöhnlich unter einem Teufel vorstellten. Er war fehlbar und sterblich und hatte ganz sicher keine göttergleiche Allmacht. Er war nicht das dunkle Gegenstück zu den großen Gottheiten aus den Legenden. Einer Sonnengöttin Amaterasu war er nicht ebenbürtig. Sonach musste es für ihn nicht das Beste vom Besten sein. Und zweitens hatte augenscheinlich einfach mal keiner gewusst, wozu das 'Opfer' gut war. Der Körper des jungen Mädchens war buchstäblich in seine Grundelemente zersetzt und aus ihrem organischen Material ein neuer Körper geformt worden. Wenn das arme Ding natürlich so klein und filigran war, daß es kaum organisches Material hergab, wurde auch der neue Körper für den herbeigerufenen Teufel entsprechend klein und schlank.

O-Takenaga stützte die Stirn wieder in die Hand. Ihm war immer noch ein bisschen schwindelig und er fühlte sich so schwach und elend als sei er krank. Der Gedanke, daß sich das hoffentlich bald geben würde, tröstete ihn.

„Meister, seid ihr audienzfähig?“, drang in diesem Moment eine Stimme durch die Zeltplane und unterbrach O-Takenaga in seinem Selbstmitleid.

„Ja-ja, komm nur rein.“, seufzte er.

Fürst Sono betrat das Zelt und stellte ein Tablett mit großartig aussehenden und herrlich duftenden Speisen vor ihm auf den Tisch. Fleisch, Brot, Reis, Gemüse, alles dampfte in einer frischen, leckeren Soße vor sich hin. „Hier, damit ihr wieder zu Kräften kommt, Herr.“, fügte Fürst Sono an und bedachte dabei verstohlen O-Takenagas neues Outfit. Mit dem schwarzen Look sah er schon etwas besser aus, aber immer noch nicht so wie erwartet. Nicht wie ein grausamer, bösartiger Befehlshaber, der ganze Länder mit harter Hand regieren und mächtige Armeen befehligen konnte.

O-Takenaga schaute eine Weile stumm auf das Essen und schob es dann schwach von sich, um sich zurückzulehnen.

„Möchtet ihr etwas anderes? Ist es nicht nach eurem Geschmack, Herr?“

„Doch, ganz ausgezeichnet, tut mir leid.“, gab der Teufel leise zurück. „Ich vertrage nur einfach noch nichts zu essen. Mir ist immer noch ziemlich schlecht.“

„Sicher haben wir beim Beschwörungs-Ritual irgendwas falsch gemacht. Ich entschuldige mich tausend Mal. Bitte bestraft uns, wenn ihr es für richtig haltet.“

„Quatsch.“, schnappte O-Takenaga nur genervt. Langsam wurde es lästig, daß man ihm immer nur das Schlimmste unterstellte. Er war ja nun kein Monster, auch wenn die Geschichtsbücher und die Religion ihn gern so hinstellten. „Sag mir lieber mal, was nun los ist. Wer seid ihr und was wollt ihr von mir? Ich nehme wohl nicht an, daß ihr mich aus Spaß und Langeweile beschworen habt.“

„Wir sind Krieger vom Drachen-Clan, Herr. Und wir wünschen nichts weiter als euch zu dienen. Wir wollen für euch kämpfen bis wir siegen oder sterben.“

„Das glaube ich dir auf´s Wort.“, seufzte der zierliche Teufel und wandte den Blick ab, als suche er Ablenkung. Für so blauäugig konnten sie ihn doch unmöglich halten, ganz gleich welch lächerliches Bild er gerade bot.

„Nun ... wir liegen seit vielen Jahren, um nicht zu sagen seit Generationen, in immer neuen Fehden mit den umliegenden Clans. Diese Provinz ist zerrissen von kleinen und großen Territorien rivalisierender Gruppen. Ich bin rechtmäßiger Fürst und Herrscher über ganz Yamato, aber die anderen Clans bekämpfen mich. Und unser Tenno tut auch nichts dafür, das Land zu einen. Als Tenno, Kaiser über ganz Japan, denkt er in größeren Dimensionen. Was in einer einzelnen Provinz vor sich geht, interessiert ihn nicht, solange sie sich nicht mit den umliegenden Provinzen im Streit befindet. Er sagt, wie ich meine Machtposition als Fürst halte, sei mein eigenes Problem. Wir wollen, daß das endlich ein Ende hat. Wir wollen siegreich aus einer gewaltigen Schlacht hervorgehen, in der alle anderen Clans unterworfen werden, damit endlich Ruhe herrscht, und dann wollen wir uns den Nachbarprovinzen zuwenden.“

O-Takenaga musste leicht schmunzeln. Ein stupider Eroberungsfeldzug also. „Und ihr habt keine Angst, daß nach der großen Schlacht mit mir kein Land mehr da sein könnte, über das noch irgendjemand regieren könnte? Wenn ich mal deine eigene Rede zitieren dürfte – die hast doch du gehalten, oder? – 'Das Verderben soll regieren. Möge Blut die Flüsse füllen. Lass die Ordnung zu Chaos werden.' ... Was ist das denn für eine Welt? Willst du wirklich an so einem Ort leben? Soll das das Erbe sein, das du deinen Söhnen hinterlassen willst?“

„Wir leben für den Krieg, Meister. Kämpfen ist alles, was wir wollen und können. Seht ihr dieses Familienwappen hier auf meiner Jacke? Und die Narbe da auf meiner Brust? Das sind Symbole eines Lebens in Stolz und Ehre.“

„Stolz und Ehre ...“, grinste der Teufel zynisch in sich hinein.

„Wir wollen uns bewaffnen und die Schlachtfelder stürmen! Der Krieg ist die höchste Kunst! Er wird überdauern! Wir sind die machtvollste Armee, die es unter den Clans je gegeben hat. Auch wenn wir jung sterben sollten, wird man sich unsere ruhmreiche Geschichte noch in tausend Jahren erzählen!“

„Au backe. Und ich dachte immer, MIR würde ein gewaltiges Ego nachgesagt werden. Aber ihr Jungs toppt ja echt alles.“ Langsam hatte sich O-Takenagas Nase an den Duft des Essens gewöhnt und er griff nach den Stäbchen, um vorsichtig ein Stück Brot zu kosten. Es war leider nicht mehr ofenwarm, aber trotzdem verdammt lecker. „Was ist mit all den Männern, die ihr in der Schlacht erschlagen werdet. Haben sie nicht auch Söhne? Und sind sie nicht selbst Söhne von Vätern wie euch?“

Fürst Sono verengte die Augen. „Bitte verzeiht meine maßlose Unverfrorenheit, Meister, aber ich hatte mir euch, mit Verlaub, etwas anders vorgestellt.“

„Ich weiß. Ich bin dir zu schwach. Du wolltest einen barbarischen Dämon an deiner Seite, einen Schlächter, einen gewaltigen Krieger. Und keinen schmächtigen Jungen, der sich kaum auf den Beinen halten kann und dir was über Moral erzählt. Du hast die Rechnung ohne dieses arme, jungfräuliche Ding gemacht, das ihr mir geopfert habt, mein lieber Sono.“

„Was hat das Mädchen damit zu tun?“

„Ich bin aus ihr gemacht. Dachtest du, das würde keine Spuren hinterlassen? Ich wurde aus ihrem Fleisch geformt.“

„Aus ihrem Fleisch, ja, aber doch nicht aus ihrer Seele. Ihr Wesen sollte euch eigentlich nicht beeinflusst haben.“

O-Takenaga gab nur einen geringschätzigen Laut von sich. Wie er diese einfältigen, mit Halbwissen gestraften Menschen doch hasste. Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund. Als sich ihm davon fast der Magen umdrehte, schob er den Teller wieder von sich. Er vertrug das Essen doch noch nicht. „Kannst du mir einen Gefallen tun, Sono?“, seufzte der Blauhaarige.

„Jeden, mein Herr. Alles, was in meiner Macht steht.“

„Schick mir dieses kurzhaarige Mädchen mit dem Jadestein um den Hals.“

Der Fürst stutzte einen Moment. Der Teufel wollte ein Mädchen haben? Er überlegte, welches er meinen könnte. Welches der Mädchen trug für gewöhnlich Edelsteine um den Hals? Und welches von denen, die Edelsteine trugen, war kurzhaarig? In Japan gab es soweit keine kurzhaarigen Mädchen. Mädchen hatten lange Haare zu tragen. Wer war hier überhaupt ein Mädchen? Sonos Verstand weigerte sich eine ganze Weile zu akzeptieren, daß die Auswahl denkbar gering war. Im ganzen Heerlager gab es nur eine einzige Frau. Und das war seine Tochter. Kurzhaarig und mit dem Jadestein ihrer verstorbenen Mutter um den Hals, sehr richtig.
 

Es gab ein vernehmliches Knacken. Der Schildkrötenpanzer war in den Flammen zersprungen. Das Katzenmädchen fischte den Panzer mit einem Stock und spitzen Fingern aus der Feuerstelle heraus und betrachtete mit kundigen Augen den Sprung im Schildpatt. Lange sagte sie nichts.

„Und, was siehst du?“, wollte der Ex-Kaiser wissen.

Der Tenno, sein 4-jähriger Sohn, saß unbeteiligt daneben und schaute gelangweilt die Wände an. Das Kleinkind hatte natürlich noch kein Interesse an dererlei Hexenwerk und Orakeln. Musste er auch nicht. Der Bube hatte ja noch keine politischen Entscheidungen zu treffen. Das tat ja sein Vater, der abgedankte Kaiser, für ihn.

„Hm, die Omen sind zwiespältig und ungewiss, mein Gebieter.“, bemerkte die Bake Neko und klang dabei, als wisse sie sehr genau wovon sie sprach. „Es treten neue Mächte auf den Plan. Und auch alte, schon vergessen gelaubte. Aber die Pläne beider sind noch im Dunkeln verborgen.“

„Meinst du, es wird einen Umbruch geben?“, hakte Shirakawa-In hellhörig nach.

„Ich weiß es nicht, mein Gebieter.“

„Hat vielleicht mein Minister zur Linken, Fürst Sono, etwas damit zu tun? Wie wird der Feldzug ausgehen, den er da betreibt?“

„Vorläufig können wir den Dingen wohl nur erlauben, sich zu entwickeln.“, meinte sie mit bedauerndem Tonfall und einem Schulterzucken.

Shirakawa-In nickte verstehend. Dann lehnte er sich mit etwas betrübtem Gesicht zurück und grübelte. „Denkst du manchmal noch an sie?“

„An wen, mein Herr?“, wollte das Katzenmädchen näckisch wissen, obwohl sie sehr genau wusste, wen Ex-Kaiser Hidijo meinte.

„Die kaiserliche Leibwache. Es gibt mir immer noch zu denken, daß sie den Hof verlassen haben.“

„Ihr braucht sie nicht zu vermissen. Sie waren der alten Fujiwara-Blutlinie ergeben. Sicher ist es besser, wenn sie nicht im Dienste eines Shirakawa stehen.“

„Naja, ich will nicht sagen, daß ich mich ohne sie schutzlos fühlen würde. Ich mache mir nur Gedanken, was ihre Gründe waren. Warum sie fortgegangen sind. Ich habe es nie ganz verstanden.“, gestand Ex-Kaiser Hidijo.

„Das braucht ihr auch nicht, mein Kaiser.“, schnurrte das Katzengeister-Mädchen und schmiegte sich liebebedürftig an ihn an. Ganz ungeniert. Ein Mensch hätte das nicht gedurft, der wäre sofort geprügelt oder sogar hingerichtet worden. „Sie werden ihre Gründe gehabt haben. Wären sie euch treu ergeben gewesen, wären sie geblieben. Und fähig waren sie ohnehin nicht. Hört ihr nicht mehr die Stimme des letzten Fujiwara-Tenno durch den Palast hallen, wie er über die gewettert hat?“

„Trotzdem, tu mir einen Gefallen und finde sie.“, trug Shirakawa Hidijo ihr auf.

Sie quittierte es mit einem lustlosen Blick. „Und was soll ich mit ihnen machen, wenn ich sie gefunden habe?“

„Gar nichts. Ich will einfach nur wissen, wo sie hin sind. Wenn das Orakel sagt, hier würden alte und neue Kräfte ins Machtgefüge eingreifen, so drastisch, daß die Zukunft ungewiss ist, kann es nicht verkehrt sein, zu wissen, wo man sie findet. Und sie sind immerhin Dämonen, da sollte man sowieso nie aus dem Auge lassen, wo sie sind und was sie treiben.“

„Wie ihr befehlt, mein Gebieter.“, meinte das Katzenmädchen und machte sich mit offensichtlicher Begeisterungslosigkeit und ohne Eile von dannen.

Hashi

„Zwei Bauerndörfer, die sich mit den Verwaltungsbeamten in den Haaren liegen? Was sollen wir da ausrichten?“, hakte Hashi nach, gab dem anderen die Schriftrolle zurück und rückte sich das Schwert am Gürtel zurecht. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich. Natürlich wusste er, was er da ausrichten sollte. Als Samurai war er derjenige, der von seinem Fürsten ausgeschickt wurde, um für Ruhe zu sorgen.

„Unsinn, das ist kein Bauernaufstand. Unser schönes Ise wird angegriffen. Das ist ein Überfall von außen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Das will ich dir sagen: Bauern tragen für gewöhnlich nicht die Flagge einer anderen Provinz vor sich her.“

Hashi verengte skeptisch die Augen. „Welcher Provinz?“

„Yamato. Fürst Sonos Land.“

„Wir befinden uns im Krieg mit dem Minister zur Linken? Ist unser Fürst wahnsinnig geworden?“

„Tja, was glaubst du, warum er uns einreden will, daß es sich nur um einen banalen Bauernaufstand handelt?“, erwiderte der andere Samurai ruhig und wedelte vielsagend mit der Schriftrolle, bevor er sie geradezu gelassen wieder aufwickelte. Es war ein vom Fürsten weitergeleitetes Hilfeersuchen eines Dorfes nahe der Grenze. Darin ging es um Kämpfe, ja, aber es war keine Rede davon, daß der benachbarte Fürst Sono, die rechte Hand des Kaisers höchstselbst, mit mehreren hundert Männern eingefallen war, eine Siedlung besetzt hatte, und von dort aus systematisch weiter vordrang. Die ersten Dörfer hatten begonnen, panisch Samurai zu Hilfe holen zu wollen. Es war halbwegs aussichtslos. Die meisten Samurai wagten sich nicht gegen solch eine Übermacht in den Krieg und retteten sich in monströse Geldforderungen, die die Bauern unmöglich zahlen konnten.

„Und, ähm, diesem Dorf willst du helfen?“, wollte Hashi unsicher wissen.

„Ja.“

„Warum?“

„Du bist selbst Samurai, du solltest die Antwort kennen.“

Hashi senkte den Blick. Natürlich waren ihm die Bushido-Tugenden geläufig, auch wenn sie von den meisten anderen stolzen Samurai heute gern vergessen wurden. Er selbst hielt noch viel auf diese alten Tugenden, aber deswegen wollte er sich auch nicht gleich suizidal in so eine hoffnungslose Schlacht stürzen. Unschlüssig rieb er mit den Fingern über ein gewaltiges Katzenbild, das mit Tusche an eine Hauswand gemalt worden war. Im gesamten Dorf gab es keine einzige Katze. Wenn eine auftauchte, wurde sie weggejagt. Weil Kaiser Hidijo befohlen hatte, daß man Katzen zu hegen und zu pflegen hatte als seien sie kleine Götter. Der Herrscher musste ein ziemlicher Katzennarr sein. Aber da in diesem Dorf fast nur Familien und Unterstützer des Minamoto-Clans lebten, der sich dem jungen Tenno und seinem fädenziehenden Ex-Kaiser bis aufs Blut widersetzte, hielt man Katzen einfach von hier fern, um sie nicht nach den Wünschen des Kaisers umsorgen zu müssen. Derzeit herrschte eine grauenvolle Mäuseplage im Dorf und man hatte sich der List bedient, Katzen an die Türen und Wände zu malen oder Katzenstatuen aus Holz und Bronze aufzustellen, um die Mäuse zu vertreiben. Quasi als Kompromisslösung zur echten Katze.

„Diese Menschen brauchen unsere Hilfe. Und sie bitten uns untertänig um Beistand, Hashi.“, holte der andere Samurai ihn wieder aus seinen Überlegungen zurück in die Realität. „Die Bauern arbeiten hart für den Reis, der auf unseren Tischen steht, und die Kleider, die wir am Leibe tragen. Findest du nicht, wir sind es ihnen schuldig?“

„Aber hat denn diesen Krieg unser Fürst begonnen?“

„Das wissen wir nicht. Und es ist auch egal. Ich sagte ja nicht, daß wir für den Fürsten kämpfen. Nein, für diese armen, wehrlosen Bauern!“, betonte sein Kollege.

„Du hast leicht Reden.“, seufzte Hashi und kratzte sich überfordert im Genick. „Du hast ja auch keine Frau mit einem kleinen Sohn zu Hause sitzen. Sollen wir uns zu zweit einer ganzen Armee stellen?“

„Nein, wir müssen noch ein paar Samurai finden, die sich unserer Sache anschließen.“

„Da hast du dir was vorgenommen, so ganz ohne irgendeinen Lohn, den du ihnen in Aussicht stellen kannst.“

„ ... und die Bauern kämpfen ja mit uns.“

Hashi seufzte wieder. „Schön. Also gut, ich bin dabei. Die Ehre gebietet es.“

„Sehr gut. Du bist wahrlich ein würdiger Samurai.“, stellte der andere anerkennend fest und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir sollten noch mindestens 3 weitere finden. 4 wären besser.“

Hashi nickte. „Ich weiß schon, wen ich noch fragen werde. ... Woher bist du überhaupt so gut informiert? Ich wusste ja noch nichtmal, daß wir überhaupt angegriffen werden, geschweige denn von wem.“

„Dai vom Lachs-Clan hat es mir gesagt, als er mir die Schriftrolle brachte. Er kam gerade von der Grenze und wird auch wieder dorthin zurückgehen. Er begleitet uns.“

„Oh nein, ist nicht dein Ernst. Der ist ein Arschloch!“

„Woher willst du das wissen, Hashi? Du kennst ihn gar nicht.“

„Nein. Aber die Typen vom Lachs-Clan sind doch ALLE Arschlöcher!“

Der andere lachte und zuckte dann mit den Schultern. „Du sollst ihn ja nicht heiraten. Er ist ein guter, aufrichtiger Kämpfer.“, stellte er ruhig klar und wandte sich dann zum Gehen. Hashi war halt noch jung. Sein Samuraigemüt war über so kleingeistige Dinge wie einen arroganten Ruf eben noch nicht erhaben. Ja, es gab ranghöhere, einflussreichere Samurai von nobler Abstammung, und weniger angesehene Samurai von geringerem Rang. Aber danach sollte sich Hashi nun wirklich nicht richten. „Wir treffen uns morgen früh am Stadttor.“

Hashi sah ihm noch einen Moment nach und schaute dann wieder auf das gruselige Katzenmonster, das an die Hauswand gemalt worden war. Nun, der Mäuseplage hatten die Bilder und Statuen bisher nicht entgegengewirkt. Katzen waren schon ganz schön eigenwillige und machtlose Dämonen, fand Hashi. Nichtmal gegen ein paar Mäuse kamen sie an. Oder sie wollten gar nicht helfen, wer weiß. Keine Ahnung, was Ex-Kaiser Hidijo an Katzen fand. Hashi konnte gut verstehen, daß sich sein Clan so gegen die sinnlosen Anweisungen des Shirakawa-In sträubte. Sie brachten ja nichts, wie man sah.
 

„Ja, ich habe davon gehört. Ein gewisser Dai war schon hier und hat es mir erzählt.“

„Ich nehme an, er hat dich gefragt, ob du mitkommst.“, gab Hashi zurück und stellte die Teetasse ab, die sein Freund und Lehrer ihm vorgesetzt hatte. Und rückte am niederen Tisch auf der Reisstrohmatte in eine bequemere Position. Er war ein wenig sauer, daß dieser Kerl vom Lachs-Clan schneller gewesen war. Er hatte seinem langjährigen Weggefährten und Meister gern selber von den Ereignissen rund um den angeblichen Bauernaufstand und den Angriff aus Yamato erzählt.

„Schon. Aber ich komme nicht mit. Ich habe hier schwerwiegendere Pflichten.“

„Das verstehe ich.“

„Wirst du denn mitgehen?“

„Ja, ich habe es ihm zugesichert.“

„Ach, das dachte ich mir. Das ist eine gefährliche Reise. Allerdings konnte ich meine Tochter Aya nicht davon abbringen, mit euch zu gehen. Ich gebe dir Intetsu mit, er soll für deine Sicherheit garantieren, und die meiner Tochter.“

Die hölzerne Schiebetür ging in genau diesem Moment auf, als habe sie nur auf den Befehl gewartet. Dahinter kam eine bewaffnete Gestalt mit ungewöhnlich heller Haut und geröteten Augenrändern zum Vorschein. Er trug ein weites, zwar lila-lastiges, aber insgesamt doch sehr farbenreiches, aufwändiges Gewand mit großem Kragenaufbau und eine gewisse, leicht übertriebene Farbenpalette im Gesicht. Er war schlimmer geschminkt als manche Frau. Dennoch wirkte er seriös und ernstzunehmend.

„Hallo, ... du ... ähm ... siehst interessant aus.“, bemerkte Hashi verwundert, nicht wissend wie er es auf die Schnelle diplomatischer ausdrücken sollte. Was um Himmels Willen war das denn? Er trug ein Schwert, aber ein Samurai war er nicht. Nur was war der dann? Ein Ninja? In so sperriger, hinderlicher Kleidung wohl kaum. „Sicher bist du ein großer Kämpfer, wenn du dich so selbstbewusst kleidest.“

Sein Meister schmunzelte. „Er ist ein Dämon.“

„Oh.“ Hashi wurde es anders. Er kannte Dämonen nur vom Hörensagen. Und zumeist lagen sie im Krieg mit den Menschen. Es kam nur denkbar selten vor, daß Dämonen und Menschen zusammenarbeiteten. „Ich hatte noch nie mit Dämonen zu tun. Und er soll mein ... Gefolgsmann sein?“, wollte der Samurai verunsichert wissen, arg um ein passendes, möglichst nicht zu hartes Wort ringend. Es fiel ihm schwer, eine magieumwobene Sagengestalt als Diener zu betrachten.

„An sich gibt es nur eine Sache zu beachten: Vergiss niemals, wer Intetsu ist. Er mag dir wie ein gewöhnlicher Untertan vorkommen. Dämonen sind nicht unfehlbar. Sie sind launisch, machen Fehler und man kann sie besiegen. Sie können einem wie Menschen vorkommen. Wie jemand über den man Befehlsgewalt hat. Aber du darfst trotzdem nicht glauben, sie befehligen oder beherrschen zu können. Es ist sein freier Wille, sich mit dir einzulassen. Wenn du einen Dämon nicht angemessen behandelst, wird er sich gegen dich wenden und dich im Zweifelsfall sogar töten, egal welche Position du unter den Menschen innehast.“

„Was bedeutet angemessen?“

„Du musst keine Angst vor Intetsu haben.“, winkte Meister Suruga lachen ab. „Er wird dir ergeben sein und dir gute Dienste leisten. Aber er wird nicht dulden, daß du ihn wie Dreck behandelst. Der letzte Kaiser der Fujiwara-Familie war herablassend und hat seine Diener geschlagen, wenn er mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war. Er wurde von seiner eigenen Leibwache umgebracht: von seinen drei Dämonen.“

„Es hieß, er wäre plötzlich verstorben, an einem Anfallsleiden oder sowas.“

Der Meister lachte. „Natürlich hieß es das. Das ist die offizielle Version. Was glaubst du, was passiert, wenn es im gewöhnlichen Volk die Runde macht, ein Tenno sei von seinen eigenen Bediensteten erschlagen worden? ... Ich schätze, sein Nachfolger, Ex-Kaiser Hidijo, wird daraus gelernt haben und wird die drei wohl etwas besser behandeln, sofern er sie noch in seinem Gefolge hat.“

Hashi verzog das Gesicht. Kaiser Hidijo hatte Dämonen in seinem Gefolge? Ein Grund, sich selber nicht mit Dämonen abzugeben. Hashi hasste Kaiser Hidijo. Er konnte nichtmal so richtig sagen, warum. Er war Kaiser Hidijo nie begegnet. Es war wohl eine Prinzipfrage. Sein gesamter Clan stand mit dem Kaiser auf Kriegsfuß. Er war einfach von frühester Kindheit an so aufgewachsen und erzogen worden, dem Shirakawa-Kaiser zu misstrauen, der die geheiligte, alte Fujiwara-Blutlinie unterbrochen hatte. Dennoch wandte er sich nach kurzem Hadern mit einem ehrlichen Lächeln dem farbenfroh geschminkten Dämon zu, ohne sich Gedanken zu machen, warum sein Freund und Lehrer überhaupt einen solchen in seinem Haus beherbergte. „Gut, Intetsu, lass uns Partner sein! Ich freue mich auf unsere gemeinsame Reise.“

Der Dämon nickte nur schweigend, mit humorlosem Gesichtsausdruck als käme er sich veralbert vor. Abgesehen davon blieb er einfach in der Raumecke stehen wie ein Gebrauchsgegenstand, der geduldig auf seinen nächsten Einsatz wartete. Er setzte sich nichtmal.

Der betagte Mann lächelte ebenfalls bestätigend und schlürfte dann weiter an seinem inzwischen endlich abgekühlten Tee.

„Ich bedauere es fast, daß Aya uns begleiten will. Wir alle sind vom gleichen Clan. Unsere Familien eint ein starkes Band und ich liebe deine Tochter Aya als wäre sie meine eigene. Willst du sie wirklich in den Kampf schicken?“, hakte der Samurai nach, da nun keiner mehr reden wollte und ihm das Schweigen irgendwie unpassend erschien.

„Sie ist eine ausgebildete Kunoichi. Eine Ninja. Ich will darauf vertrauen, daß sie sich ihrer Lage bewusst ist und auf sich aufpassen kann.“

„Aber willst du ihr denn wirklich jemanden wie Intetsu mitgeben? Sicher hat sie keinerlei Ahnung von Dämonen.“

„Zugegeben, in der Obhut ihres Bruders wäre sie sicherlich besser aufgehoben. Aber ich kann und will Kenji jetzt nicht in so einen Krieg schicken. Ich brauche ihn hier. Aya wird mit Intetsu zurecht kommen, denke ich. ... Intetsu, hol meine Tochter bitte her.“

Der stattliche Kerl mit der pompösen Kimonogewandung sah verdutzt auf. „Ich soll sie ... herholen? Selbst?“

„Was stört dich daran?“, wollte der Alte mild wissen.

„Bisher hast du uns untersagt, auch nur in die Nähe deiner Tochter zu kommen.“

„Tja ... für dich wird sich das in der nächsten Zeit ein wenig ändern müssen. Geh schon.“

Intetsu nickte halb verwundert, halb verstehend, und verließ den Raum.
 

Es klopfte.

„Ja?“, kam es von drinnen. „Intetsu!“, machte Aya perplex, als die Tür zur Seite geschoben wurde und der Dämon dahinter zum Vorschein kam. Mit ihm hatte sie zu allerletzt gerechnet. Ihr Vater hatte jeglichen Kontakt zwischen ihr und den drei Kerlen unterbunden, die seit ein paar Wochen mit in diesem Haus lebten. Sie hatte einen Bogen um die Männer zu machen, wenn sie zufällig ihren Weg kreuzte, und durfte sie auch nicht ansprechen. Anfangs hatte Aya geglaubt, sie seien hochrangige Würdenträger und sie selbst sei daher nicht würdig diese Typen anzusprechen. Aber sie hatte oft interessiert vom Türspalt aus beobachtet, was die im Innenhof so trieben und war sehr schnell zu dem Schluss gekommen, daß sie nichtmal richtige Menschen sein konnten. Ihr Vater sagte, sie seien Dämonen. Aya hatte zwar keine Angst vor den ungehobelten Kerlen, die ihre Zeit im wesentlichen damit verbrachten, sich zu raufen, zu betrinken oder anzügliche Witze zu reißen, war aber auch nicht bei allen dreien sicher, ob die ihr nicht irgendwas antun würden. Jedenfalls war Aya der Anordnung ihres Vaters, sich von denen fernzuhalten, gern nachgekommen. Und doch stand Intetsu nun in ihrer Tür und wollte mit ihr sprechen.

„Dein Vater will dich sehen, Aya.“, meinte der Mann mit den zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren und wirkte selbst ein wenig verlegen. Auch ihm war es nicht ganz geheuer, daß er bisher einen Bogen um dieses Mädchen hatte machen sollen und nun so direkt mit ihr konfrontiert wurde.

Aya sah ihn noch einen Moment an, aber er sprach nicht weiter. „Ist ... ist gut, ich komme.“, entgegnete sie daher und erhob sich von ihrem Nachtlager, auf dem sie gerade verschiedene Sachen für ihre morgige Abreise zusammenpackte. Als sie auf den Gang hinaustrat, warf sie mit ihrer langen Schleppe eine Katzenstatue aus Holz um. Sie machte sich nicht die Mühe, das verhasste Ding wieder aufzustellen. Seufzend tat Intetsu das für sie, bevor er ihr folgte.

Vor der Tür zum Wohnbereich ihres Vaters schloss sich ihnen ein weiterer Dämon an. In diesem Haus lebten ja drei davon. Aya stockte, als sie Gemma vor der Tür stehen und warten sah. Den freundlicheren, bunten Intetsu, welcher sie gerade aus ihrem Zimmer abgeholt hatte, fand sie ja noch ganz angenehm und schick. Aber Gemma machte ihr derwegen ein wenig Angst. Aya fragte sich, ob Dämonen immer in ungerader Zahl agierten. Ihr Vater hatte ihr vom letzten Fujiwara-Kaiser erzählt, der von seinen drei dämonischen Leibwachen erschlagen worden war. Und von einer Kolonne fahrender Händler, die von Dämonen überfallen und verschleppt worden war. Dort waren es fünf gewesen. Gemma hier hatte kurze, sonnenfarbene Haare, ein schneeweißes Gewand bis zum Boden, Haut wie Kreide und eine frostige, gänzlich humorlos anmutende Mimik. Wie Intetsu trug auch Gemma permanent ein Schwert in seinem gebundenen Stoffgürtel. Sie hatte ihn noch nie ohne gesehen. Auch seine Augen wirkten entzündet und rot umrandet. Das war wohl ein Erkennungsmerkmal von Yokai. Soweit Aya das mitbekommen hatte, war Gemma sowas wie der Kopf der Truppe. Er schien unter den drei hier hausenden Kerlen das Sagen zu haben und war auch der, der ständig bei ihrem Vater herumlungerte und mit ihm über irgendwas Absprachen traf.

Gemma und Intetsu wechselten einen ernsten Blick, mit dem sie sich offenbar wortlos verständigen konnten. Sie wussten, was der jeweils andere dachte und vorhatte. Ohne einen Kommentar zog Gemma die Schiebetür auf – und ohne sich vorher anzukündigen, wie der jungen Frau nicht entging – und betrat den Wohnbereich ihres Vaters. Wenn diese Dämonen hier Untergebene waren, dann benahmen sie sich nicht so. Sie führten sich auf, als würde das Haus ihnen gehören. Notgedrungen trat Aya mit ein, als Intetsu hinter ihr deutlich machte, daß er ebenfalls endlich hinein wollte und sie zu diesem Zweck auch mit etwas mehr Nachdruck durch die Tür schieben würde.

„Hashi, hallo. Was verschlägt dich denn her?“, grüßte Aya den Gast und ließ sich mit am Tisch nieder. Enttäuscht stellte sie fest, daß für sie keine Teetasse mehr da war. Sie hätte auch gern mit den Männern Tee getrunken.

„Gemma, was kann ich für dich tun?“, richtete ihr Vater einen respektvollen Gruß in die entgegengesetzte Richtung, als ihm natürlich nicht entging, wen seine Tochter noch im Schlepptau hatte.

„Du schickst Intetsu fort?“, rückversicherte sich der Yokai mit den gelben Haaren. Durch seine steinerne Mimik kam er ein wenig sauer rüber. Vielleicht lag es auch an seinen verschränkten Armen. Begeistert schien er jedenfalls nicht.

„Ja, meine Tochter wird auf Reisen gehen. Ich wünsche, daß Intetsu sie begleitet. Ich fühle mich wohler, wenn jemand auf sie aufpasst.“

Aya schaute fragend zwischen ihrem Vater, Gemma und Intetsu hin und her. Sie sollte einen dieser Kerle mitnehmen, wenn sie ging? Davon wusste sie ja selber noch nichts. Musste das sein?

„Das entscheidest nicht du!“, legte Gemma fest. „Über meine Männer bestimme ich immer noch selbst.“

Ayas Vater seufzte resignierend. Es klang, als hätte er schon viel zu oft mit Gemma solche Debatten führen müssen, wer hier wem was vorzuschreiben hatte.

„Es ist mir völlig egal, wo deine Tochter mit Intetsu hingeht, oder wie lange diese Reise dauern soll. Ich werde mitgehen.“, legte der Gelbhaarige fest.

„Willst du wegen Intetsu mitgehen, oder wegen meiner Tochter?“

Gemma legte ein Grinsen auf – so selbstgefällig es auch sein mochte – und wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. „Du bist ein kluger Mann, was?“, höhnte er. Dann zuckte er mit den Schultern. „Ich sehe hier keinen Diskussionsbedarf.“

„Du kannst auch gern mit meiner Tochter reisen und Intetsu bleibt hier.“, schlug Ayas Vater kompromissbereit vor. Er sah nicht ein, 2 seiner 3 Dämonen wegzuschicken.

„Nichts da! Wir gehen zu zweit. Ich weiß, wo deine Tochter hin will. Ich weiß, was sie vorfinden wird. Ich bin dort gewesen. Intetsu alleine kann da nichts ausrichten. Und ich werde ihn nicht in den Tod schicken, wegen eines Weibes.“, stellte Gemma mit einem überheblichen Unterton klar.

Ayas Vater starrte ihn einen Moment sauer an und überlegte sichtlich, ob er auf diese Beleidigung gegenüber seiner Tochter eingehen sollte.

„Hanya und Ponya wird hier bleiben und dir zu Diensten sein.“, fügte der Dämon noch an, dann wandte er sich um und verließ das Zimmer. Machte sich auch nicht die Mühe, die Schiebetür wieder zuzuschieben.

Aya schaute sprachlos zwischen ihrem Vater und der nun leeren Fläche hin und her, wo Gemma gerade noch gestanden hatte. „Wer sind Hanya und Ponya?“

„Der dritte Dämon, den ich in meinem Haus beherberge.“, gab ihr Vater zurück.

„Wieso hat er zwei Namen?“, klinkte sich auch Hashi wieder mit in die Unterhaltung ein. Als Samurai hatte er geglaubt, mit so ziemlich jeder Situation irgendwie umgehen zu können. Aber das alles hier war ihm doch zu viel.

„Das weiß ich auch nicht so genau. Er scheint die Fähigkeit zu besitzen, sich in zwei voneinander unabhängige Körper aufzuspalten, die getrennt voneinander handeln können wie eigenständige Wesen. ... sagt man jedenfalls. Gesehen habe ich das noch nicht. Ist vielleicht auch besser so.“, schmunzelte der Alte. Er wirkte recht gelassen. Offenbar war er das Benehmen der Dämonen bereits gewohnt. Dann seufzte er leise. „Ich hatte mich nicht grundlos entschieden, euch Intetsu mitzugeben. Der ist recht handzahm. Mit Gemma musst du vorsichtiger sein, wenn er wirklich mitgeht, hörst du?“

„Kannst du ihn nicht hier behalten?“, wollte auch Aya etwas wehleidig wissen.

„Gemma lässt sich von mir nicht festhalten.“

Aya

Mit einem fröhlichen Lächeln räumte Aya in ihrem Zimmer die letzten Sachen zusammen. Alles, was sie auf die Reise mitnehmen wollte, hatte sie schon zu einem Bündel zusammengeschnürt. Den Rest wollte sie zumindest ordentlich wieder wegräumen. Sie mochte diese Unordnung nicht. Intetsu stand daneben und schaute ihr zu. Den Auftrag, sie an die Westgrenze zu begleiten und auf sie aufzupassen, hatte der Dämon scheinbar gleich so aufgefasst, daß er sie ab sofort keine Sekunde mehr aus den Augen lassen sollte. Auch hier im Haus nicht mehr. Aber wie er ihr beim Packen eine Hilfe sein sollte, wusste er wohl nicht so recht. Er wirkte ratlos. „Ich freue mich, daß Vater dich mitgeschickt hat.“, strahlte Aya ihn an.

Intetsu sah nur aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber, dann wandte er den Blick wieder auf das Bettzeug vor sich. „Er hätte Hanya und Ponya mitschicken sollen, er ist ein besserer Kämpfer als ich es bin. Hanya und Ponya ist sehr stark.“

„Aber der macht mir Angst.“

„Er ist ein ganz gewöhnlicher Dämon, wie ich auch.“

„Er ist ein Psycho.“

Intetsu lächelte leicht.

„Tut mir leid, ich wollte Hanya und Ponya nicht beleidigen.“, bemerkte sie und kam sich immer noch etwas dämlich vor, eine einzelne Person mit mehreren Namen zu betiteln. Das hatte schon was von anerkannter und stattgegebener Schizophrenie. „Sicher ist er ein guter Mann.“, lenkte Aya ein. „Aber dich mochte ich immer am meisten.“

„Wie kannst du das sagen? Dein Vater hat dich immer von uns ferngehalten. Wir haben bisher kaum ein Wort gewechselt.“, meinte der Dämon mit dem farbenfrohen Gewand und setzte sich im Schneidersitz auf den nunmehr freigeräumten Futon. Die ebenerdige Schlafmatratze war gar nicht so bequem wie sie aussah und er hatte einen Moment damit zu tun, sein langes, sperriges Schwert aus dem Weg zu bekommen.

„Nein. Aber du bist auch ohne Worte immer freundlich zu mir gewesen.“ Aya setzte sich neben ihn. „Du hast mir tragen geholfen, wenn du mich mit dem schweren Wasserkessel erwischt hast. Du hast mir die Türen geöffnet, wenn wir uns im Gang begegnet sind. Du hast mir auch ab und an mal ein Lächeln aus der Ferne geschenkt. Hanya und Ponya hat sich nur verächtlich über mich lustig gemacht. Ich weiß, daß er damit nur die Distanz zu mir wahren wollte, die mein Vater befohlen hat, aber trotzdem.“ Sie rutschte näher.

Während er noch damit beschäftigt war, zu überlegen, ob er das wirklich alles so übertrieben oft getan hatte, spürte er die Lippen an seinem Hals, die Hand die sich in den Ausschnitt seiner Wickeljacke schob und zart auf nackte Haut traf, den Stoff auseinanderschob und seinen Oberkörper etwas weiter freilegte. Dann wurde er rücklings ins Kissen gedrückt. Ohne Gewalt zwar, aber sehr eindeutig und zielstrebig. Er holte tief Luft, um seine Fassung zu wahren. „Bitte, junge Dame. Tu das nicht.“

Aya sah ihm näckisch ins Gesicht.

„Ich kann nicht für meine Selbstbeherrschung garantieren.“, fuhr er fort.

„Das ist auch nicht mein Ziel.“, lächelte Aya und senkte ihre Lippen wieder auf seine Haut, diesmal auf seine Brust.

„Dein Vater wird mich köpfen.“

„Lass meinen Vater meine Sorge sein.“

„Aya!“

Die junge Kunoichi seufzte und ließ von ihm ab. Sie machte sich neben ihm lang und nur ihr Unterarm lag noch quer über seinem Oberkörper. „Wenn du es nicht willst, dann scheue dich nicht, es zu sagen. Aber mein Vater steht uns nicht im Weg. Er will lediglich, daß ihr euch nicht an mir vergreift. Also nicht gegen meinen Willen, meine ich. Wenn wir uns einig sind, ist doch alles okay.“

„Für Gemma nicht.“

Aya schaute ihn verdutzt an. „Wie jetzt?“
 

„Gemma?“

Der Dämon vollendete seine Schwertübung in aller Konzentration, verharrte in der Endposition, dann erst wanderte sein Kopf langsam zu ihr herum. Es sah unnatürlich und irgendwie ungesund aus. Wie eine Eule. Er schien den Kopf viel weiter drehen zu können als normale Menschen. Aya erkannte ihn nur an den kurzen, sonnengelben Haaren und dem weißen Kimono. Sein Gesicht war unter einer hölzernen Fratze verborgen. Stumm sah er ihr entgegen und wartete was sie zu sagen hatte, wenn sie schon ungebeten in seiner Zimmertür stand.

„Gemma, darf ich die Nacht mit dir verbringen?“

Nachdenklich richtete er sich aus seiner Finalhaltung wieder auf und legte sich die Klinge seines Katana über die Schulter. Seine Maske verriet nicht, was in ihm vorging, was dem Ganzen einen etwas gruseligen Anstrich verlieh. Sekunden vergingen. „Was hat Intetsu dir erzählt?“, wollte er dann ruhig wissen.

„Das mein Vater meine Jungfräulichkeit an dich verkauft hat. Als Gegenleistung für euren Handel. Aber das ist okay.“, gab Aya zurück und kam näher, während er sein Schwert zurück in die Saya schob und es zur Seite stellte. „Ich werde eine Ninja werden und ohnehin nie heiraten. Ich muss also für niemanden unschuldig bleiben.“ Sie hatte den Dämon inzwischen erreicht und fuhr mit den Fingern über seinen Oberkörper. Die Seide seines Kimonos war außergewöhnlich hochwertig, stellte sie fest. „Darf ich dir diese Maske abnehmen?“

„Nein, noch nicht. Gib mir noch einen Moment.“ Genötigterweise legte der Chef der Dämonenbande einen Arm um ihre Taille. Das kam irgendwie schon ganz schön plötzlich, daß sie so aus heiterem Himmel bei ihm in der Tür stand. „Ich habe mich gerade in Trance trainiert. Ich muss erst mein menschliches Gesicht wieder herstellen, sonst mache ich dir nur unnötig Angst.“ Er seufzte unmerklich in sich hinein. „Ich sehe eine gespaltene Meinung in dir. Du willst mich wirklich. Aber nicht um meinetwillen. Mir scheint, du verfolgst eigentlich andere Ziele.“

Aya hatte seine typische, etwas zu helle Stimme, die summte wie eine Bogensehne, noch nicht oft gehört. Sie hatte sich ja bisher von den Dämonen fernhalten müssen. Aber wenn er diese Holzmaske trug, hinter der man sein Gesicht nicht sah, wirkte diese Stimme gleich nochmal doppelt so auffällig. Sie wandte kurz den Blick von seiner Maske ab. „Gut, ich werde dich nicht anlügen. Ich will eigentlich einen anderen. Aber du hast ein Recht auf meine Unschuld, und dieses Recht will ich dir nicht verweigern. Vorher kann ich mich keinem anderen zuwenden.“

„Noch habe ich das Recht nicht. Meine Arbeit hier habe ich noch nicht getan.“ Gemma ließ sie los und setzte sich leger auf seinen Futon.

„Betrachte es als Übung. Weibliche Ninja setzen oft ihre Reize ein, um Männer zu verführen, die sie ermorden oder um ein paar Informationen erleichtern wollen.“, meinte Aya mit einem schrägen Grinsen.

Gemma teilte diesen Humor nicht im Mindesten. „Es ist Intetsu, den du willst, oder? Ich habe heute die Blicke gesehen, die du ihm schenkst.“, entgegnete er ernst. „Ich hoffe, du bist dir im Klaren darüber, daß er auch ein Dämon ist, und nichts weiter. Er wird auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wenn wir hier fertig sind. Und er wird dich schwer verwunden, wenn er sich auch nur einen Augenblick nicht im Griff hat.“

Sie nickte und kletterte auf allen Vieren zu ihm.

Langsam zog Gemma sich die hölzerne Maske vom Gesicht, als ihre Finger wieder auf seine Brust trafen. Darunter kamen die üblichen, geröteten Augen zum Vorschein, die er stets hatte. „Es gab in der Vergangenheit immer wieder Erzählungen über die Liebe zwischen einem Menschen und einem Yokai. Sogar über die Zeugung Halbblütiger. Ist dir klar, daß keine einzige davon gut ausgegangen ist?“

Aya nickte wieder und machte ungerührt weiter, als hätte sie ihn nicht gehört.

Genüsslich lehnte er sich also zurück und ließ das Mädchen machen. Wenn sie ihn denn unbedingt wollte, würde er sie ganz bestimmt nicht aufhalten. Und er konnte das, was sie ihm zu bieten hatte, derwegen gut brauchen. Er schloss die Augen. Ließ es auf sich wirken, wie es sich anfühlte wenn sie den Stoff seines Kimonos teilte und seinen Körper freilegte. Ein dezentes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er spürte, wie sich der Knoten an seinem Obi löste. Ob Aya sich bewusst war, was er jetzt gleich alles mit ihr anstellen würde? Oh ja, das würde ihr definitiv keinen Spaß machen. Und es war, so ganz am Rande bemerkt, übrigens eine lustige Erfahrung, daß ein Mädchen tatsächlich mal freiwillig und von sich aus zu ihm kam. Er freute sich jetzt schon diebisch auf das Gesicht ihres Vaters. Er wünschte sich beinahe, daß der Meister gleich unvermutet hereinplatzte und das hier sah. „Ach, Aya!? Lass die Finger von meinem Kettenanhänger, verstehst du mich? Sonst bist du eine Gewesene.“, fügte Gemma noch an.

Aya schaute ihn kurz irritiert an. Das waren harte Worte und er meinte das todernst, das war ihr sofort bewusst. Sie musterte einen Moment besagten Anhänger an seinem Hals. Es war nicht mehr als ein durchbohrter Edelstein, durch den man eine Lederschnur gezogen hatte. Nichts wirklich Beeindruckendes. Schulterzuckend beugte sie sich vor und drückte ihre Lippen auf seine Haut. Wenn sie den Anhänger in Ruhe lassen sollte, dann würde sie das tun. Das Ding interessierte sie eh nicht.
 

„Was ... in aller Welt ...“, keuchte der Alte, nachdem er die schockierte Schnappatmung wieder unter Kontrolle hatte. Gemma trat aus dem Türrahmen heraus, in dem er gerade noch ganz selbstgefällig gelehnt hatte, das gezogene Katana in der Hand. Dabei gab er endgültig den Blick ins Zimmer frei. Drinnen lag Aya in ihrem eigenen Blut. Ihr Unterleib, ihre Beine, der Futon, ihre Kleidung, alles war rot verschmiert. Der schneeweiße Kimono des Dämons war dagegen trotzig blütenrein.

„Was hast du ihr angetan?“, wollte ihr Vater fassungslos wissen. Obwohl an Gemma nicht ein einziger Blutspritzer zu finden war, hatte er keinerlei Zweifel daran, wer das hier angerichtet hatte.

„Sie hat mir ihre Unschuld gelassen, wie du es mir zugesichert hast.“, gab Gemma ruhig zurück. Bedrohlich ruhig! Dieser Tonfall duldete weder Diskussion noch Tadel, weder von seinem Herrn, noch von sonst irgendwem.

„Da-...Was!?“, keuchte Meister Suruga, weil er auf die Schnelle nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Dieses Blutbad hier sah nach wesentlich mehr als nur einem harmlosen Entjungferungs-Akt aus. Und er schämte sich zutiefst, es nicht eher bemerkt und verhindert zu haben. „Du hast deinen Teil des Handels noch gar nicht erfüllt!“

„Nein. Aber du kannst doch nicht so naiv sein, zu glauben, ich würde sie zurückweisen wenn sie von selbst zu mir kommt.“ Gemma schulterte sein Schwert und spazierte herablassend davon. Überließ sein Zimmer und das Mädchen darin der Obhut der anderen Hausbewohner.

„Von selbst?“, jammerte der Alte weinerlich und schaute überfordert zwischen seiner Tochter und dem gelbhaarigen Kerl hin und her. Jetzt hatte er endgültig den Glauben an die Welt verloren. Seine Tochter ging freiwillig auf das hier ein? Auf DAS HIER?

„Mach dir keine Sorgen. Das sieht schlimmer aus als es ist.“, warf Intetsu von hinten ein, der gerade dazukam und ebenfalls einen Blick ins Zimmer warf. „Sie war noch eine Jungfrau. Beim ersten Mal gibt es immer so eine Sauerei.“

„Aber doch nicht so!“, stellte Meister Suruga klar. „Das kommt ja einem regelrechten Gemetzel gleich!“

„Nun ...“ Intetsu zuckte mit den Schultern, um die Zeit bis zum Finden passender Worte zu überbrücken. „Zugegeben, wir Dämonen verlieren uns da in ein paar anderen Praktiken als ihr Menschen. Die Art des Verkehrs, wie wir ihn betreiben, kommt euch wohlmöglich hart und barbarisch vor. Ihr kleinen, schwachen, zerbrechlichen Menschlein haltet eben nichts aus.“

„Das kannst du beurteilen?“, jappste Meister Suruga hysterisch. Er war schon lange nicht mehr so gründlich aus seiner meisterlichen Gelassenheit herausgerissen worden wie angesichts dieser Situation hier.

„Ich habe schon genug Menschen beim Sex begutachten können.“, nahm sich Intetsu kein Blatt vor den Mund und ließ den Schwertmeister hart schlucken. Gelassen trat er in Gemmas Zimmer ein und kümmerte sich um das Mädchen. In der Tat, so schlachthausmäßig wie es hier aussah, musste Gemma eine ziemlich exzessive Party mit ihr gefeiert haben. Er konnte ein Kopfschütteln nicht unterdrücken. Die Menschen waren so unfassbar dumm. Da hatte sie sich also tatsächlich an Gemma rangeschmissen, damit sie sich danach unbekümmert mit Intetsu vergnügen konnte. Wie triebgesteuert konnte man sein? Zumal sie vorher nichtmal gefragt hatte, ob Intetsu da überhaupt Wert drauf legte. Wenn er das Mädchen gar nicht hätte haben wollen, hätte sie sich völlig umsonst Gemma ausgeliefert. Überhaupt, welcher Mensch trieb es schon freiwillig mit Dämonen? Intetsu hatte die Menschen ja schon viele skurrile Dinge tun sehen. Aber das? Aya musste doch klar sein, daß das bei Dämonen irgendwie anders ablaufen würde als unter ihresgleichen! Egal. Er war es leid, sich den Kopf darüber zu zermartern. Er verstand die Menschen genauso wenig wie die Menschen ihn.

„Aber ... aber ... das Schwert!?“, jammerte der Alte wieder aus dem Hintergrund dazwischen. Er hatte sein Fassung immer noch nicht wieder.

„Oh, das Schwert ist nicht zum Einsatz gekommen, keine Sorge. Gemma wollte es bloß nicht im Zimmer liegen lassen, wenn er geht.“

„Ist halb so wild, keine Sorge.“, meinte Aya zwischen amüsiert und schmerzlich, als der bunt gekleidete Dämon ihr hochhalf. Die Bisswunde an ihrer Schulter war gemein. Gemma hatte ihr dort Blut ausgesaugt wie ein Egel und es danach über ihre ganzen Klamotten und den Futon gespuckt. Und natürlich tat ihr auch vom eigentlichen Akt alles weh. Die rohe, brutale Kraft, mit der Gemma sie festgehalten hatte, war verstörend und eine Erfahrung für sich. Und sie fühlte sich immer noch etwas bedeppert, denn sie war kurz ohnmächtig gewesen. Was sollte es, sie war eine Ninja, sie würde sowas ja wohl aushalten. Der Blutverlust war nicht bedrohlich und mit Schmerzen konnte sie umgehen. Dagegen war es ihr wesentlich peinlicher, daß ihr Vater das hier mitbekommen hatte. Aber war nun nicht mehr zu ändern. Sie konnte es nur mit Humor nehmen. „Gemma hat sich zurückgehalten.“, fügte sie an.

Intetsu musste sich das Grinsen verkneifen. „Ja, das hat er. Andernfalls wärst du jetzt anders zugerichtet.“, gab er zurück. Mit Verwunderung entdeckte er ein paar Katzenhaare auf ihrer Kleidung. Er wusste, daß es in diesem Haus keine Katzen gab. In der ganzen Stadt nicht. Aber er sagte nichts, tat es mit einem Schulterzucken ab und vergaß es wieder.
 

Hanya und Ponya kam müde über den Holzsteg geschlurkst, der rund um den Innenhof führte, und ließ sich dann geräuschvoll in den Schotter hinunter plumpsen. Es war spät in der Nacht, alle Lichter gelöscht, nur der Schein des Halbmondes erlaubte einem noch, ungefähr zu erahnen, wen man gerade vor sich hatte. Seine beiden Mitstreiter waren, wie vereinbart, schon da. Gemma in seinem blütenweißen Kimono war in der Dunkelheit noch am besten zu erkennen.

„Sei nicht so laut, du ungehobelter Klotz.“, zinkte Gemma ihn auch sofort an. „Die anderen Hausbewohner schlafen. Und mir wäre sehr daran gelegen, wenn das auch so bleibt. Die müssen das hier nicht sehen.“

„Warum schlafen WIR nicht? Was sollen wir denn um so eine Zeit hier?“, maulte der kleine Dicke uneinsichtig zurück.

„Wenn du nicht auch ein paar Lebensjahre haben willst, dann geh halt wieder auf dein Zimmer und penn weiter. Dann teilen Intetsu und ich sie unter uns auf. Mir egal.“

„Oh!“, machte Hanya und Ponya plötzlich hellwach. „Hast du etwa ...?“

„Natürlich habe ich. Glaubt ihr, ich hab mich bloß um des Spaßes Willen mit der Tochter unseres Herrn vergnügt?“, gab Gemma leise zurück. „Kommt her.“ Gemma schloss eine Hand um seinen Edelstein, den er als Kette umhängen hatte. Die andere streckte er lose nach Intetsu aus, der den gleichen um den Hals trug, ohne dessen Edelstein jedoch wirklich zu berühren. Eine Distanz von wenigen Zentimetern genügte ihm völlig für sein Vorhaben. Der Stein, den Intetsu umhängen hatte, glomm schwach auf, als Gemma Energie darauf zu übertragen begann. Er hatte in seinem eigenen Kettenanhänger eine gewaltige Menge 'Chi' gespeichert, das er mit seiner Truppe teilen wollte. Immerhin war er der Kopf dieser Dämonenbande und daher auch für das Auskommen seiner Mitstreiter mit verantwortlich. Schließlich hielten sie ja bei den mitunter sehr riskanten Aufträgen auch ihren Kopf für ihn mit hin. Die Edelsteine fungierten wie Gefäße, in denen man Kraft sammeln konnte. Zum Teil war es pure Lebensenergie, die ihnen ein Weiterexistieren ermöglichte, zum Teil waren ihre dämonischen Fähigkeiten davon abhängig. Hatten Dämonen die Chance, ihren Stein mit neuer Energie aufzuladen, machte sie das ein gutes Stück stärker, fitter und langlebiger. Möglichkeiten, an solche Energie zu kommen, gab es verschiedene.

„He, lass mir auch noch was übrig!“, maulte Hanya und Ponya dazwischen, als er mit ansah, wie Gemma mehr und immer mehr Chi an Intetsu abtrat.

„Keine Sorge, es ist genug für alle.“, gab Gemma ernst zurück, konzentriert weiter mit seinem Werk beschäftigt. „Es ist erstaunlich, was für Energien frei werden, wenn ein Mensch sein Chi freiwillig hergibt. Anderes Thema: Mir scheint, wir stehen wieder unter der Beobachtung des Kaiserhofes.“

„Wie kommst du darauf?“

„Aya hatte Katzenhaare an ihrer Kleidung. Gar nicht mal so wenige.“

Also doch!, dachte Intetsu. Er hatte sich also nicht getäuscht. Gemma hatte es auch gesehen.

„In dieser Stadt gibt es keine Katzen.“, bemerkte Hanya und Ponya ganz richtig.

„Nein. Im gesamten Landstrich gibt es keine. Aber Aya hatte definitiv mit Kaiser Hidijos Katze zu schaffen. Ist die Bake Neko einem von euch über den Weg gelaufen?“

Intetsu und Hanya und Ponya schüttelten die Köpfe.

„Mir auch nicht. Ich frage mich, was sie hier wollte. Ich glaube, sie hat nach uns gesucht. Und muss uns zwangsläufig auch gefunden haben.“, erzählte Gemma unwillig. Er hatte ganz sicher nicht vor, an den Kaiserhof zurück zu kehren. Aber er hätte zumindest gern den Grund ihres Auftauchens gewusst. Kaiser Hidijos Katze konnte schwerlich ein Interesse an einem kleinen, unbedeutenden Schwertmeister oder gar seiner noch unbedeutenderen Tochter haben. Aber hätte das Katzenmädchen irgendwas von ihnen gewollt, hätte es sich doch gezeigt und offen gesagt, was los war. Gemma wusste nicht recht, was er davon halten sollte, daß der Katzengeist hier herumstreunte, so weit vom Palast des Kaisers entfernt, ohne jedoch in Aktion zu treten.

„Wahrscheinlich hat sie nur wieder rumspioniert und Informationen gesammelt, wie immer. Wäre ja nichts Neues.“, vermutete Intetsu.

Gemma gab ein verneinendes Brummen von sich und wandte sich dabei von Intetsu ab und Hanya und Ponya zu, um auch dessen Edelstein-Anhänger ein wenig mit dem gehorteten Chi aufzuladen. „Hier gibt es absolut nichts, was für den Shirakawa-In von Interesse wäre. Abgesehen von der Tatsache, daß wir drei uns gerade hier aufhalten. Lasst uns in Zukunft ein bisschen vorsichtig sein, was wir tun und sagen. Und wenn diese Katze mit einem von euch spricht, will ich das wissen.“, meinte er. Gemma behielt auch weiterhin für sich, was er neulich auf dem alten, verwitterten Friedhof mit angesehen hatte. Das Wiedererscheinen von O-Takenaga war ein nicht zu unterschätzender Faktor im Gefüge der Menschenwelt. Gemma hoffte inständig, daß das Auftauchen von Kaiser Hidijos Katze in diesem verschlafenen Städtchen nicht damit in Zusammenhang gebracht werden musste.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Gott ... X_x ... Also die ursprüngliche Fassung war irgendwie harmloser. XD
Interessiert an der Fortsetzung? Ab hier geht´s in der Kaufversion des Buches weiter. ^_^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Miezel
2017-08-05T16:11:55+00:00 05.08.2017 18:11
Wow, so viele komplizierte Namen, das wird für mich schwierig...
Antwort von: Futuhiro
05.08.2017 19:32
Ich versuche es in den folgenden Kapiteln einzuschränken, beziehungsweise so zu bezeichnen, daß man weiß, was gemeint ist. ^^


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