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Wege des Schattens

von

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Ich kann dieses Gefühl kaum beschreiben. Es ist so einzigartig, dass die meisten es wohl noch niemals in ihrem Leben verspürt haben, geschweige denn jemals spüren werden. Es fühlt sich an, als hätte schon immer ein Teil von mir gefehlt. Doch wenn man es nicht anders kennt, akzeptiert man diese Leere als Normalität. Erst jetzt, wo mir das letzte Puzzlestück erschienen ist, fühle ich mich komplett. Eine innere Ruhe überkommt mich und plötzlich ist es egal, dass ich mich schon längst im Klassenzimmer hätte befinden sollen. Alles war egal. Es existierte nur noch diese tiefe Stille, die wie Nebel meine Gedanken von der Außenwelt abschirmten.

Ich hockte auf dem steinigen Boden und starrte auf das kleine Ding in meiner Hand. Eigentlich war es so unscheinbar, dass ich daran hätte vorbeilaufen müssen. Aber als ich wie immer diesen Weg entlang lief, fiel er mir auf. Ein kleiner Stein. Sein Äußeres war grau und kantig, wie man es von rauem Fels erwartete. Er unterschied sich auf den ersten Blick nicht von den unzähligen anderen Steinen, denen man im Laufe des Tages begegnete. Ich hätte ihn einfach wegkicken und nie wieder sehen können, tatsächlich hatte ich das zunächst sogar vor. Aber etwas hinderte mich daran, ja zwang mich sogar dazu, ihn aufzuheben. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass es kein gewöhnlicher Stein war. Er gehörte zu mir. Eindeutig. Beim zweiten Blick war der Stein auf einmal nicht mehr so normal, wie ich am Anfang dachte. Jemand anders hätte ihn jedoch womöglich gar nicht eingehend genug betrachtet, um das zu sehen, was ich sah. An einer Stelle war das kalte Grau abgespalten und eine grünblaue Farbe wie die eines Aquamarins stach hervor. Sie war höchstens einen halben Quadratzentimeter groß, besaß aber die Schönheit eines ganzen Edelsteins.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich meinen Blick von ihm abwenden konnte. Natürlich steckte ich den Stein ein; um nichts in aller Welt hätte ich ihn dort liegen lassen. Doch es wurde langsam Zeit, mich zurück zum Unterricht zu begeben. Ich berührte mit den Händen die beiden Steinwände, die sich zu beiden Seiten zwei Meter in die Höhe erstreckten. Dieser Ort war in einem Spalt auf einem unscheinbaren Hügel gelegen, der sich hinter der Schule nur leicht in die Höhe reckte. Außer mir war bisher kein Mensch auf die Idee gekommen, in dieses Loch hinab zu klettern. Von oben konnte man nichts außer Dunkelheit erkennen, doch im Spalt selbst reflektierte das Sonnenlicht zwischen den Felswänden und reichte aus, um die Schönheit dieses Ortes zu erkennen. Außerdem zog sich die Spalte länger durch den Hügel, als es von oben den Anschein machte. Mehrere Meter war der unterirdische Gang lang, anstatt nur eines einzigen. Was ich besonders mochte, waren die paar natürlichen Sitzecken aus Stein. Ich kam oft in meinen Pausen her, wenn ich mich von der Außenwelt etwas abschotten wollte. Das lag nicht daran, dass ich etwa unbeliebt war. Ich genoss einfach manchmal gern die Stille und war für mich allein. Nirgends ging das besser als hier.

Der Spalt war gerade so breit, dass ich mittig hochkraxeln konnte, indem ich mich mit meinen Füßen hochstemmte. Oben angekommen klopfte ich mir den Staub von der Hose. Es war nicht weit von hier bis zum Schuldgebäude, doch fünf Minuten würde ich schon brauchen. Auf dem Weg zurück kreisten meine Gedanken nur noch um den Stein. Es war nicht so, als ob ich über etwas Spezifisches nachdachte. Es war nur ein einziger Gedanke, wie ein Bild, der mein Bewusstsein übermannte.

Ich bekam nur am Rande mit, wie der Lehrer mit mir schimpfte. Es war seltsam. Wenn man dieses Etwas, das immer fehlte, plötzlich wiederfand, war alles andere egal. Nichts zählte mehr. Benommen setzte ich mich auf meinen Platz, doch die Worte, die mein Ohr erreichten, prallten daran ab und drangen niemals in meinen Kopf vor. In dem Moment dachte ich, dass für die Menschen wahrscheinlich nicht vorgesehen war, das verlorene Stück ihres Herzens zu finden. Doch ich hatte es wieder. Jetzt war mir alles klar. Ich war glücklich - und es fühlte sich an, als wäre ich dies niemals zuvor tatsächlich gewesen.
 

-:¦:-
 

Es ist merkwürdig, wie die Menschen funktionieren. Wenn sie etwas gewinnen, sagen sie, sie hätten Glück. Wenn sie einen schweren Unfall überleben, bedanken sie sich bei ihrem Schutzengel. Dabei ist es genau umgekehrt. Als Ebenbild Gottes sind die Menschen dafür gemacht, perfekte Wesen zu sein. Noch besser als unsereins. Doch dieses Schicksal hat man ihnen geraubt. Man nahm ihnen etwas, etwas sehr wichtiges. Man nahm ihnen die Seele und zurück blieb nur ein Schatten ihrer selbst. Ihr Denken ist eingeschränkt durch die schlechte Sicherheitskopie ihres Seins.

Sie haben kein Glück oder einen Schutzengel. Das Leben eines einzelnen wird von Gott nicht mehr beschützt als das der anderen. So sollte es schlichtweg sein. Der Mensch ist nicht dafür gemacht, dass ihm Unglück widerfährt. Doch durch den Diebstahl ihrer Kräfte sind sie für Fehler anfällig geworden. Das, was Menschen gemeinhin als „Glück“ bezeichnen, ist eine kurze Berührung mit sich selbst, in dem der Schatten die Seele zufällig berührt. Denn man hat ihnen zwar die Seele geraubt, sie aber keineswegs ausgelöscht. Sie wabert als unvollständiges Etwas im Raum, bis der Mensch stirbt und mit ihr seine Seele, so fern sie auch sein mag.

Wer weiß, woher die Menschen ihre eigenartigen Neigungen zu fernen Ländern haben, selbst wenn sie noch nie zuvor dort gewesen sind. Womöglich spürt der Schatten, wo sich die Seele gerade aufhält. Doch selbst wenn sie einander finden, ist das Treffen nur von kurzer Dauer. Getrennte Dinge können nie wieder vereint werden. Eine solche Wunde lässt sich nicht heilen. Heutzutage ist der Mensch dazu bestimmt, unglücklich zu sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Seelen gänzlich aufhören zu existieren.

„Levin, was ist los?“ Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen vernahm. Als ich den Kopf zur Seite drehte, schaute ich in das besorgte Gesicht meiner Kindheitsfreundin. Ihre Stirn war in Falten gelegt und ihre sonst so lebendigen, grünen Augen glänzten unsicher. „Du bist so nachdenklich in letzter Zeit. Ist irgendetwas passiert?“ Zögerlich schüttelte ich den Kopf, ohne etwas dazu zu sagen. Ich schwieg einfach vor mich hin. Wie hätte ich ihr erklären können, was in mir vorging, wenn ich es selbst nicht einmal begriff? Irgendwie tat es mir Leid. Alesia warf mir diesen durchdringenden Blick zu, mit dem sie mich sonst sofort durchschaute. Seit kurzem jedoch war ich für sie ein einziges Rätsel. Denn ich hatte etwas, was sie nicht besaß. Ich hätte nur vergeblich versuchen können, es ihr zu erklären.

Mein Schweigen ließ den Glanz in ihren Augen erlöschen. Enttäuscht schaute sie wieder nach vorn zur Tafel, wo unser Lehrer ein Zitat von Immanuel Kant an die Tafel schrieb: „Ich kann, weil ich will, was ich muss.“ Was wollte ich eigentlich? Und was musste ich? Wenn ich nicht wusste, was ich muss, würde ich dann überhaupt etwas tun können? Irgendwie fühlte ich mich auf einmal leer. Es schien so, als gäbe es gar keinen Grund für mich, irgendetwas zu tun, um mit meiner Umwelt zu interagieren. Warum sollte ich den Stift vor mir in die Hand nehmen? Warum sollte ich dieses Zitat in meinen Block schreiben? Welchen Nutzen hätte das für die Welt? Ich könnte mich einfach hinlegen und in einen ewigen Schlaf fallen – es würde nichts verändern.

Die Klingel läutete das Ende der ersten Stunde ein. Vor dem nächsten Unterricht hatten wir fünf Minuten Pause. Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte gerade aufstehen, als Alesia mich aufhielt. „Wohin gehst du?“ Ihr Blick versuchte mich zu durchbohren, doch wieder gelang es ihr nicht.

„Nur kurz raus“, antwortete ich und versuchte, so gelassen und aufrichtig wie möglich zu klingen. Doch Alesia wusste bereits, dass es eine Lüge war. Egal wie sehr ich meine Gedanken auch vor ihr verstecken mochte, eine Lüge enttarnte sie sofort. Ich erwartete, dass sie ebenfalls aufstehen und mir folgen würde. Dass sie sagen würde, sie käme mit. Es geschah nichts dergleichen. Ihre Augen blickten schlagartig traurig zu mir herüber. Dabei strich sie sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr, wie sie es so oft tat, wenn sie sich über etwas unsicher war. „Alles klar. Ich warte solange. Komm schnell wieder, in Ordnung?“ Ich nickte. Und wieder wusste sie, dass ich gelogen hatte.

Tatsächlich ging ich erst mal nach draußen und schlenderte dann auf dem Schulhof umher. Um mich herum rannten die Knirpse aus der fünften Klasse, die keine Gelegenheit ausließen, um draußen herumzutoben. Hatte ich früher auch so vor Energie gestrotzt? Irgendwie kam es mir so vor, als ob ich mich die letzten Tage beinahe apathisch benahm. Um genau zu sein, seit ich den Stein gefunden hatte. An ihn erinnert bewegte sich meine Hand wie von selbst zu meiner Hostentasche. Ich spürte die leichte Beule von außen, strich zwei, drei Mal darüber und holte ihn schließlich hervor. Er wog schwer in meiner Hand, obwohl er recht klein war. An der Seite glänzte er grünlich, er hatte nichts von seiner Anmut verloren.

Ich wusste wieder, warum ich mich verändert hatte. Ich fühlte mich besser. Ich war glücklich. Ja, es musste an diesem Stein liegen. Irgendwie gehörte er zu mir und um nichts um alles in der Welt würde ich ihn wieder hergeben. Niemals. Er gehörte zu mir. Zu mir und zu niemandem sonst. Ich war glücklich. Alesia hatte keine Ahnung. Sie schaute mich so bemitleidend an, dabei hatte sie keine Ahnung! Selbst wenn sie mich noch so sehr anflehen würde, ich würde den Stein niemals hergeben! Er war meins! Ganz allein meins!

Ich merkte, wie ich anfing zu keuchen. Ein kleiner Junge ging an mir vorbei und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Konnte es sein…? Er starrte auf meinen Stein. Wollte er ihn haben? Er wollte ihn mir wegnehmen! Er wollte ihn für sich haben! Aber ohne ihn kann ich nicht leben, warum ist er so egoistisch? Er soll weggehen, bloß weg. „Was guckst du so?!“, fauchte ich ihn an, „Hau ab! Geh weiter!“ Der Kleine zuckte fürchterlich zusammen und ich sah, wie Tränen in seine Augen aufstiegen. Dann drehte er sich um und rannte weg, rannte ins Gebäude, wo es für ihn sicherer war. Plötzlich versammelten sich immer mehr Kinder um mich herum. Sie starrten mich an, erbarmungslos, zerbohrten mich unter ihren Blicken. „Lasst mich in Ruhe!“, brüllte ich und schlug nach dem Kind neben mir. Es wich meiner Faust mit Leichtigkeit aus, ohne sich großartig zu bewegen. Die Augen waren groß und leer, wie ein Zombie starrte mich das Kind an. Und nicht nur das eine. Die anderen fixierten mich ebenfalls mit ihren kalten Blicken, ihre Gesichtszüge reglos. Wie Puppen kreisten sie mich ein, umzingelten mich, wollten mir mein Juwel stehlen. Gleichzeitig machten alle einen Schritt weiter nach vorn, blieben stehen, starrten mich an, dann wieder einen Schritt. Sie kamen immer näher, sie schienen mich zu erdrücken. „Weg! Geht weg! Verschwindet!“ Panisch schlug ich um mich und versuchte, sie zurück zu drängen. Als es mir nicht gelang, sackte ich zusammen und krümmte mich vor Schmerz. Das letzte, was ich wahrnahm, war wie eine vertraute Stimme nach mir rief und mich jemand am Arm packte…
 

-:¦:-
 

Ich habe schon oft Menschen beobachtet. Es wird einfach nie langweilig. Wie in Apathie gehen sie ihrem Alltag nach, ohne sich jemals zu fragen warum. Hin und wieder streift der Gedanke nach dem Sinn des Lebens den Kopf eines Menschen, doch er verfliegt jedes Mal genauso schnell, wie er gekommen war. Die schlichte Akzeptanz des Lebendig-Seins ist nicht nur für die Menschen typisch; Tiere verhalten sich nicht anders. Trotzdem unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen: Er lebt nicht nur nach Instinkt. Wenn er einen Weg einschlägt, so tut er dies bewusst und in vollem Bewusstsein der Konsequenz, die seine Entscheidung und sein Handeln für ihn mit sich ziehen könnte. Man könnte sich fragen, warum die Menschen dennoch so leben, wie sie es tun. So unglücklich. Ich frage mich dies jeden Tag. Im Laufe der Zeit habe ich eines gelernt: Die Wege der Schatten sind unergründlich. Sie handeln nicht nach Logik. Sie haben keinen Verstand und kennen kein Gesetz. Ich denke, ein Fehlen der Seele macht den Menschen zu dem, was er jetzt ist. Es gibt ihm das Bewusstsein für Unglück. Wenn es kein Unglück gibt, kann man auch kein Glück empfinden. Ich frage mich, ob es für die Menschen nicht etwas Gutes bedeutete, die Seele zu verlieren…

Als ich die Augen aufschlug, war es draußen bereits tiefste Nacht. Ich drehte meinen Kopf nach rechts zum Fenster, durch welches ich die schmale Mondsichel erkennen konnte. Drum herum prangten die Sternen in unerreichbarer Ferne; funkelten wie kostbare Schätze. Es gab viele Geschichten über die Sterne, über ihre Herkunft und ihre Bedeutung. Meine Mutter hatte mir früher mal erzählt, dass viele sie für die Seelen verstorbener Menschen hielten. Wieder andere glaubten, dass es unsere Schutzengel seien. Doch ich war von solchem Humbug nicht überzeugt. In Wirklichkeit waren Sterne Feuerkugeln, die schon vor ewiger Zeit verglüht sind. Die Welt ist weit weniger von fantastischen Dingen gespickt, als die Menschen es wahrhaben wollen.

Jedenfalls glaubte ich das, bis ich diesen Stein fand. Ich fragte mich, welches Geheimnis hinter ihm steckte. Und ob ich es jemals entschlüsseln könnte.

Mein Blick wanderte zum ersten Mal durch den Raum, in dem ich mich befand. Es war mehr als offensichtlich das Krankenzimmer meiner Schule. Das wusste ich so genau, weil ich mich dort schon oft mit vorgetäuschten Bauchschmerzen vom Unterricht habe befreien lassen. Ich selbst lag in dem einzigen Bett, zugedeckt mit einer dünnen, weißen Decke. Als ich sie etwas zurückschlug, stellte ich fest, dass ich noch immer meine Straßenkleidung trug. Instinktiv griff ich in meine Hosentasche, um festzustellen, dass sich dort lediglich ein Loch befand. Ich musste zugeben, eigentlich hatte ich dort mein Juwel erwartet. Auf dem Nachttisch entdeckte ich außer meinem MP3-Player nur ein Glas und eine Flasche Wasser. Ich schaute zu meiner Linken und erschrak ein wenig, als ich auf einem Stuhl jemanden sitzen sah. Wegen des dunklen Mondlichts war es schwierig, Genaueres zu erkennen, aber ich war mir sicher, dass es sich um Alesia handelte. Ihr Kopf war nach vorn gekippt und es schien so, als wäre sie unfreiwillig vor Erschöpfung eingeschlafen. Ich musste unweigerlich ein wenig lächeln. Wann war das letzte Mal, dass ich gelächelt habe?

Ich richtete mich auf und beobachtete meine schlafende Freundin für einen kurzen Augenblick. Sie sah hübsch aus, wie sie da schlief. Dann streckte ich meine Hand nach ihr aus, zögerte kurz bevor ich ihre Schulter berührte, und schüttelte sie anschließend sanft. „Hey, Alesia. Wach auf.“ Ihr Körper zuckte unter den Worten zusammen, als hätte ich sie mit einer Nadel gepikst. Sie gähnte und rieb sich dann ungläubig die Augen. „Levin…? Bist du wach?“

„Ja“, antwortete ich. Daraufhin wurden ihre Augen immer größer und plötzlich lag sie mir weinend um den Hals. „Man, Levin! Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Überrascht und unschlüssig darüber, was ich tun sollte, strich ich ihr mit der Hand über den Rücken. Nach ein oder zwei Minuten ließ sie ein wenig von mir ab und ich konnte ihr tränenüberströmtes Gesicht sehen. „Hey, wein doch nicht. Was ist los?“

„Du warst zwei Tage lang nicht bei Bewusstsein. Nichts konnte dich aufwecken. Keiner wusste, was auf einmal mit dir los war.“ Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Für mich hatte es sich so angefühlt, als hätte ich nur tief geschlafen.

„Wo ist der Stein?“, fragte ich sie. Die eine Frage, die mir schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag.

„Was für ein Stein?“

„Na, so ein auf den ersten Blick unscheinbarer Stein, der an der Seite grün glänzt wie ein Edelstein.“

„Ich hab nichts dergleichen bei dir gesehen, tut mir Leid.“ Alesia wischte sich die Tränen aus den Augen und schniefte einmal laut. Sie sah so unglaublich müde aus. „Es war so schrecklich. Als du gesagt hast, dass du nur kurz raus willst, wusste ich gleich, dass etwas nicht stimmt. Du warst immer noch nicht zurück, als der Unterricht angefangen hat, also bin ich nach draußen gegangen, um nach dir zu schauen. Und da standst du, mitten auf dem Schulhof, und hast hysterisch geschrien, dass dich keiner anfassen solle. Aber da war niemand außer dir. Ich bin zu dir gerannt, aber als ich dich erreichte, wurdest du bewusstlos.“

Ich schluckte. Ich erinnerte mich noch schwammig an diesen Augenblick. Da waren merkwürdige Kinder um mich herum versammelt und sie jagten mir eine Heidenangst ein. Doch anstatt davon zu erzählen schwieg ich, um Alesia nicht noch mehr zu beunruhigen. Ich bot ihr an, ebenfalls im Bett zu schlafen und rückte an den Rand, damit genug Platz für uns beide war. Sie nahm den Vorschlag dankbar an und es dauerte nicht lange, da war sie in einen tiefen, friedlichen Schlaf gefallen. Ich selbst konnte nicht so einfach einschlafen. Ich nahm mir meinen MP3-Player vom Nachttisch, stöpselte mir die Kopfhörer ins Ohr und drückte auf Zufallswiedergabe. Der Gesang des Liedes berührte mich in diesem Moment so sehr wie nie zuvor, dass es mir eine Gänsehaut einjagte. Wake me up. I can’t wake up. Save me from the nothing I’ve become.

Alesia hatte mich aufgeweckt. Ich war erwacht aus dem Albtraum, in dem ich tagelang gelegen hatte. Ich sehnte mich nach meinem Juwel, doch ich spürte, dass es für immer verschwunden war. So plötzlich, wie es erschienen war, an jenem Tag. In mir fühlte ich die Leere, die schon immer dagewesen war und die nur zeitweise gefüllt wurde. Sie fühlte sich richtig an. Noch nie zuvor habe ich mich so lebendig gefühlt. Diese Leere war ein Teil von mir und nun wusste ich, dass es gut so war. Ich hatte mir so oft eingeredet, wie glücklich ich war, dass ich es irgendwann sogar geglaubt habe. Doch Glück ist mehr als das. Glück ist nicht bloß ein Gefühlszustand, in den wir uns versetzen konnten, indem wir bestimmte Situationen für uns schafften. Glück ist ein Bestandteil unseres Lebens und unseres Geistes, aber kein fester, sondern ein wechselhafter. Wir sollten uns glücklich schätzen, wenn es uns einen Besuch abstattet, und voller Vorfreude darauf warten, dass es dies wieder tut. Letztendlich ist derjenige glücklich, der ein Blatt sieht und lächeln kann.
 

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Ich war es, der den Menschen damals aus einer Laune heraus die Seelen genommen hat. Doch ich hatte zu jener Zeit nicht damit gerechnet, dass meine Tat solche Auswirkungen haben würde. Als ich bemerkte, wie anders sich die Menschen auf einmal verhielten, sah ich keinen Anlass mehr darin, ihnen die Seelen zurück zu geben. Ich habe niemals damit bezweckt, den Menschen etwas Gutes zu tun. Ausgerechnet ich, der verachtete Sohn der Morgenröte. Allerdings bin ich nicht so boshaft, wie viele annehmen, dass ich anderen ihr neugewonnenes Glück nehme. Ich beließ es dabei und beobachtete stattdessen, wie die Dinge ihren Lauf nahmen.

Eines Tages kam mein geliebter Kyknos zu mir und fragte mich, ob ich meine Tat nicht bereute. Es war viele tausend Jahre später und so konnte ich mich kaum mehr daran erinnern, wie es zu früheren Zeiten mal gewesen ist. Ich willigte ein, einen Versuch zu unternehmen – und gab einem Jungen seine Seele zurück.

Schon bald stellte sich dies als ein Fehler heraus.

Er verhielt sich nicht wie seine Vorfahren aus längst vergessener Zeit. Der Junge konnte mit der Situation nicht umgehen und so sah ich ihm ein paar Tage lang dabei zu, wie er Stück für Stück verrückt wurde. Ich muss sagen, es war ein interessanter Zeitvertreib. Bald darauf flehte mich Kyknos jedoch an, mit dem Experiment aufzuhören. Es wäre eine Qual für den armen Menschen. Und ich tat, worum er mich bat. Ich nahm dem Jungen seine Seele und wartete ab, was passierte.

Als er nach zwei Tagen aus seinem tiefen Schlaf erwachte, war Kyknos glücklich. „Du hast doch ein gutes Herz, Phaeton“, bekundete er, „Ob die Menschen das wissen?“

„Das ist mir so ziemlich egal“, murmelte ich.

„Du hast ihnen so viel Glück beschert. Lichtbringer ist ein passender Name für dich, nicht wahr? Oder soll ich dich lieber Luzifer nennen?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo zusammen,
das war das letzte Kapitel von "Wege des Schattens". Philosophische Fragen begleiten uns immer wieder durch den Alltag, besonders "Glück" spielt dabei eine wesentliche Rolle. Ich hoffe, euch hat die etwas abstraktere Vorstellung gefallen und vielleicht auch nachdenklich gestimmt. Ich denke, jeder hat eine andere Ansicht, was das Glücklich-Sein anbetrifft. Wie hoffentlich im Laufe der Geschichte deutlich wurde, denke ich, dass man auch Unglück haben muss, um das Glück zu spüren. Von so vielen Leuten habe ich schon gehört, wie unglücklich sie seien. Ich behaupte auch nicht, dass sie das nicht sind. Aber mal ehrlich: Wer hat denn nicht mal eine Tiefphase? Eine Zeit, in der einfach alles schief zu gehen scheint? Diese mag zwar länger oder kürzer andauern, aber letztendlich folgt auf ein Tief immer ein Hoch. Und darauf sollten wir uns im Leben freuen. Meistens sind es sowieso die kleinen Augenblicke am Tag, die uns glücklich machen. Mich freut es schon, wenn ich einen kleinen Spatz zwitschernd über den Weg hüpfen sehe. Man muss nur die Augen aufmachen und sich für diese Glücksmomente öffnen :)
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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  AliceNoWonder
2017-08-17T04:59:01+00:00 17.08.2017 06:59
Heho erstmal vielen Dank für deinen Beitrag.

Ein richtig schönes Nachwort am Ende und ja eine Geschichte, die einen zum Überlegen anregt. Auch das es eine zweite Sichtweise mit einem höheren Wesen gibt finde ich sehr Interessant. Im ersten Kapitel hattest du am Anfang noch Gegenwart geschrieben und plötzlich wechselst du in die Vergangenheit, das hat mich etwas irritiert.
Insgesamt finde ich ist dir die Geschichte richtig gut gelungen. Schön geschrieben und sehr Interessant. Eine Geschichte zum Nachdenken ^^

LG Alice
Antwort von:  Riyuri
23.08.2017 22:44
Hallo und danke für den dritten Platz beim Wettbewerb :)
Ich wollte die Geschichte glaube ich in der Gegenwart schreiben, hab es dann aber vergessen haha. Normalerweise schreibe ich nämlich in der Vergangenheit. Danke für den Hinweis, ich werde das nachträglich noch korrigieren ;)
Es freut mich, dass ich tatsächlich zum Nachdenken anregen konnte und auch, dass dir die Geschichte gefallen hat ^^
Liebe Grüße
Riyuri


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