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Intellexi

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zum dritten Kapitel! Nachdem ihr Tammo nun etwas kennengelernt habt, fängt die Geschichte richtig an sich zu entfalten c: Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, jetzt gibt es mal wieder ein Update am eigentlichen Update-Tag XD Nach diesem Kapitel geht die Story so richtig los *v* Die erste Etappe der Story ist also geschafft ヾ(●⌒∇⌒●)ノ
Viel Spaß beim Lesen c: Komplett anzeigen

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Die Blätter waren dem Wind hilflos ausgesetzt. Wie Treibholz im Meer wurden sie von den Böen verweht und umhergeschleudert. Zyklonartig wirbelten sie durch die Straßen, wurden auf eine unfreiwillige Reise geschickt, fort von ihren Bäumen. Abgeworfen und verstoßen, ziellos und ungerichtet fegten sie an Häusern, Dächern, Straßenlaternen und Autos vorbei. Sie umtanzten die Menschen, die eilig die Straßen entlangeilten und Kapuzen oder Schirme über ihre Köpfe zogen. Der Regen machte die Blätter nass und schwer, doch der Wind war stark genug, um sie trotz ihres Gewichts durch die Lüfte zu wirbeln. In einem kleinen Hauseingang hatten sich ein paar Blätter angesammelt. Vor dem Wind geschützt rotteten sie sich dort zusammen. Ein Meer aus Braun, Rot, Gelb, Orange. Es hatte sich schon ein kleiner Haufen auf der Stufe zur Haustüre gebildet und zitternd kauerten die Blätter dort, ihrem Schicksal ausgesetzt genossen sie nun den kurzen Moment der Ruhe.

Tammo riss die Tür auf und stob hinaus. Achtlos zertrat er die Blätter und wirbelte sie auf. Das flammenfarbene Spiel des Laubes umgab ihn und verlieh dem kalten Herbsttag ein Hauch von Wärme in all dem Grau der Regenwolken. Die Blätter stöhnten auf, als der Wind sie wieder erfasste und ihr Seufzen verstärkte. Das Geräusch ertönte in der ganzen Straße. Gewaltsam wurden die Blätter wieder auf ihre Reise ins Unbekannte geschickt und wenige Sekunden später sah Tammo sie nicht mehr.

Schnellen Schrittes stapfte er an den Pfützen vorbei, durch die prasselnden Regentropfen die Straße entlang und scheuchte dabei einige weitere Blätterhaufen auf. Er mochte die Farben der Herbstblätter. Und er mochte ihren Tanz im Wind. Normalerweise ließ er kaum einen Blätterhaufen aus, um ihn durch ungeschickte Schritte aufzuwühlen. Doch diesmal hatte Tammo leider nicht so viel Zeit wie sonst, um die Blätter aufzuscheuchen. Er war spät dran und konnte den schön herbstigen Herbsttag nicht genießen. Seine Wangen waren rot und sein Atem ging schnell, hinterließ eine silberne Wolke in der Luft, der er für einen Moment verträumt hinterherschaute. Als ihm auffiel, dass er schon wieder trödelte, riss er sich etwas verärgert über sich selbst zusammen und eilte weiter. Am Ende der Straße wandte sich Tammo nach rechts, wich einigen ihm entgegenkommenden Passanten aus und ging wieder ein Weilchen geradeaus, bis er nach links in eine breite Straße einbog. Wieder verlangsamten sich seine Schritte kurz. Er liebte diese Straße. Es war eine Allee, welche zu beiden Seiten von großen, stattlichen Rosskastanien gesäumt wurde. Ihre Blätter waren gelblich und braun und der Fußgängerweg war von den Kastanienfrüchten bedeckt, die vom Straßendienst noch nicht weggeräumt worden waren.

Er versuchte das warme Sonnengelb der Kastanienblätter auszublenden und schritt eilig den Bürgersteig entlang. Der Junge liebte die Straße nicht nur wegen ihrer wunderschönen Bäume. In dieser Allee befand sich sein zweites zu Hause, in dem er beinahe so viel Zeit verbrachte wie in der Wohnung, die er mit seinen Eltern bewohnte. Als er ungefähr die Hälfte der Kastanienallee hinter sich hatte, stand er vor einem großen Gebäude aus rotbraunen, großen Backsteinen. Es war die städtische Bibliothek. Sie war groß, aber nicht riesig. Sie war nicht modern, aber auch nicht antik.

Tammo hatte, seit er lesen gelernt hatte, sehr viel Zeit in diesem Gebäude verbracht. Es war gemütlich und warm und vor allem gab es dort Massen an Büchern. Er las unglaublich gern und viel. Während seine Schulkameraden Videospiele auf einer Konsole zockten, saß er zu Hause und las ein Buch. Dies war auch leider einer der Gründe, weshalb es ihm schwerfiel, Freunde zu finden. Zum einen, fanden es viele seiner Klassenkameraden seltsam, wie viel er las, zum anderen, hatte er kaum Übung darin Gespräche mit Gleichaltrigen zu führen. Er sehnte sich nach Freunden, die seine Leidenschaft teilten oder sie wenigstens akzeptierten und war oft traurig darüber, dass er sehr viel Zeit allein verbrachte oder höchstens mal mit seinen Eltern etwas unternahm. Doch gleichzeitig hatte er Angst davor, nach genau so jemandem zu suchen und erlebte lieber Abenteuer mit seinen Freunden aus den Büchern. Es faszinierte ihn, wie ein bloßes Bündel Papier ihn in eine neue Welt entführen konnte oder ihm Orte auf diesem Planeten zeigten, die er noch nie betreten hatte und vielleicht auch nie betreten würde. Noch bevor er zur Schule gegangen war, hatte er seine Mutter gebeten, ihm das Lesen beizubringen. Sie hatte sich über die Neugierde und Wissbegierigkeit ihres kleinen Sohnes gefreut und las mit ihm zusammen, schenkte ihm Kinderbücher, die er verschlang, wie ein Hungernder ein Festmahl. Bald schon hatte Tammo alle Bücher gelesen, zu denen er zu Hause Zugang hatte, und auch seine Schulbücher wurden nicht verschont, sobald er zur Schule ging. Seine Eltern konnten nicht all die Bücher für ihren Sohn kaufen, die er lesen wollte, und so nahmen sie ihn eines Tages mit in die Bibliothek, die nur wenige Straßen entfernt von ihrem Zuhause stand.

Nun war Tammo zu einem sechzehnjährigen Jugendlichen herangewachsen und er kam seit ungefähr zehn Jahren beinahe jeden Tag hierher. Seit Anfang des Schuljahres arbeitete er nun als Aushilfe in der Bibliothek. Seine Kollegin Frau Leimgießer, eine sanftmütige Dame Mitte Dreißig, hatte ihn den ersten Monat seiner Aushilfstätigkeit eingewiesen, ihm das Katalogisierungs-System erklärt, über die Schulter geschaut und für Fragen bereitgestanden. Tammo kannte sie schon seit einigen Jahren und sie hatte ihm stets freundlich weitergeholfen, wenn er ein bestimmtes Buch nicht fand. Doch nun hatte sie ihre Arbeitsstelle als Bibliothekarin gekündigt, um ihr Hobby zu ihrem Traumberuf zu machen. Frau Leimgießer wurde nun zur Vollzeit-Schriftstellerin.

Tammo bewunderte sie sehr dafür. Er konnte sich für seine eigene Zukunft keinen Beruf vorstellen, der ihn glücklich machen würde, es sei denn seine Tätigkeit hätte etwas mit Büchern zu tun. Buchhändler, Bibliothekar, Antiquitätenhändler, Verleger, Redakteur. Das alles waren Berufe, mit denen er sich zufriedengeben würde. Doch sein innigster Wunsch war es, genau wie Frau Leimgießer, irgendwann Schriftsteller zu werden. Er hatte schon hin und wieder zu Stift und Papier gegriffen und versucht eine Geschichte zu entwickeln, eine seiner Ideen auf Papier zu bannen, doch es war meistens daran gescheitert, dass er nicht wusste, wie er anfangen sollte. Und wenn er es doch geschaffte hatte, die ersten paar Absätze niederzuschreiben, klangen die Sätze in seinen Ohren zu unbeholfen, nichtssagend und nicht mitreißend. Jedes Mal legte Tammo den Stift dann nieder und versuchte nicht allzu enttäuscht von sich selbst zu sein. Er würde es wieder versuchen. Er war schließlich erst sechzehn, noch war es nicht zu spät, ein großartiger Schriftsteller zu werden.

Tammo schüttelte sich kurz, um sich der gröbsten Regentropfen von seiner Jacke zu entledigen, dann trat er durch die große, zweiflüglige Tür in das Atrium der Bibliothek ein. Eine angenehme Wärme und der wohltuende Geruch von Büchern empfing ihn. Er atmete tief ein und lächelte.

Es war Montag. Das war der Tag, an dem die Bibliothek für die Besucher geschlossen war und das Personal diverse Katalogisierungstätigkeiten ausübte und verschiedenste Bücher einräumte und sortierte. An diesem Tag kam zudem auch Angestellte einer Reinigungsfirma, die die Grundreinigung der Bibliothek übernahmen.

Heute war Tammos erster Schulferientag, sodass er nun schon morgens mit seiner Arbeit beginnen konnte und erst abends wieder zu gehen brauchte. Er liebte es, so viel Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Die Arbeit machte ihm Spaß und er fand sie weder anstrengend noch lästig.

Sobald er in die Bibliothek eintrat, legte er seine Jacke im Raum hinter der Ausleihtheke ab. Sie war nass vom Regen draußen und Tammo nahm sich vor, nächstes Mal definitiv an einen Regenschirm zu denken. Denn genau wie leicht entzündliche Substanzen waren feuchte Gegenstände nicht gern an einem Ort gesehen, an dem sich viele Bücher befanden.

Der Raum hinter der Theke war eine Art Lagerbereich, in dem zurückgegebene Bücher, neu bestellte Bücher und aussortierte Bücher deponiert und dann von den Bibliothekaren sortiert wurden.

„Guten Morgen, Frau Reisig!“, grüßte Tammo eine der anderen Bibliothekarinnen, die gerade damit beschäftigt war, einen Stapel Bücher zu sortieren und auf einem Wagen zu platzieren. Neben ihr stand schon ein zweiter Wagen, der mit Folianten voll beladen war. Er sah so klein und zierlich aus, dass Tammo sich wunderte, wie er das Gewicht so vieler Bücher tragen konnte, ohne darunter zusammenzuklappen.

Frau Reisig sah von ihrer Arbeit auf und grüßte ebenfalls. „Hallo Tammo, mein Junge! Das ist schön, dass du heute wieder hier bist! Wärst du so lieb und würdest die Bücher hier“ sie zeigte auf den vollbepackten Wagen „einsortieren gehen?“

Tammo nickte eifrig und begann den Wagen vorsichtig zum Dienstaufzug zu schieben. Ein leises Quietschen ertönte, als die Rollen sich in Bewegung setzten. Die meisten Bücher auf dem Gefährt schienen in den zweiten Stock zu gehören.

Tammo faszinierte das Ordnungssystem der Bibliothek. Jedes Buch hatte seinen eigenen Platz, seine Nachbarn, sein eigenes kleines zu Hause. Immer wenn ein Buch ausgeliehen wurde, war es Tammos Aufgabe, es wieder zurück an seinen Platz zu stellen, sobald es in die Bibliothek zurückgebracht wurden. Der Aufzug setze sich ratternd in Bewegung. Oben angekommen, öffneten sich die Türen und Tammo zog den Wagen vorsichtig hinter sich aus dem engen Fahrstuhl heraus. Er blickte auf die Aufkleber, die an den Buchrücken befestigt waren. Darauf zu erkennen waren kleine Zahlen und Buchstaben, die die Position jedes einzelnen Buches verrieten. Gut, die ersten Bücher mussten in Abteilung der wissenschaftlichen Lektüre. Biologie, Chemie, Physik, Psychologie, Mathematik, es gab viele Rubriken. Er schob den Wagen nach rechts an der Treppe vorbei, die in den dritten und obersten Stock führte. Sie war mit einer roten Kordel abgesperrt, an der ein Schild hing. Zutritt für Unbefugte ist untersagt. Wie Tammo wusste, sammelte die Bibliothek einige seltene und auch alte Exemplare bestimmter Werke und hob sie zur Verwahrung auf. Nur wenige Mitarbeiter durften die Räumlichkeiten, in denen die alten Folianten beherbergt wurden, betreten. Es wurde Besuchern nur gestattet, die Sammlung einzusehen, wenn sie den Oberbibliothekar und Leiter der Bibliothek Herrn Dr. Angbard persönlich um Erlaubnis baten und einen guten Grund vorzuweisen hatten. Meistens handelte es sich um Literatur-, Sprach- oder Geschichtswissenschaftler. Allesamt verstaubte, alte Menschen, deren Haut schon selbst wie Papier auszusehen schien. Die Sammlung befand sich im obersten Stockwerk der Bibliothek, direkt unter dem Dach. Der Dachboden soll wohl besonders renoviert und klimatisiert worden sein, damit das alte Material, aus dem die Bücher bestanden, nicht zerfiel. Wie gern würde er in das Archiv der seltenen und kostbaren Bücher einen Blick werfen. All die Folianten mussten einen fabelhaften Geruch nach alten Büchern verbreiten und ihren ganz eigenen Charme versprühen. Das vergilbte Papier würde dumpf rascheln, die Ledereinbände würde sich schon etwas rau vom Alter anfühlen. Tammo schwelgte in Gedanken und begann allein bei der Vorstellung an die Kostbarkeiten selig zu lächeln. Ein Buch zeichnete sich schließlich nicht nur durch seinen Inhalt aus (wobei das natürlich immer noch die wichtigste Eigenschaft eines guten Buches war), sondern auch durch seinen Einband und das Papier, den Duft der Seiten und ihr Rascheln beim Umblättern. Alte Bücher waren wie alte Menschen. Sie hatten viel erlebt und enthielten ihre ganz eigene Weisheit. Sie waren Inspiration für viele jüngere Bücher und Geschichten.

Tammo schob den Wagen an der Treppe vorbei und dann durch die Regalreihen hindurch.

Wenn er länger hier arbeitete, vielleicht könnte er dann Herrn Angbard um die Erlaubnis bitten, das dritte Stockwerk zu betreten. Nur für einen kurzen Augenblick. Und er würde auch keine Bücher anfassen, wenn das nicht gestattet war. Er würde sich damit zufrieden geben die Titel der Buchrücken zu lesen und den Geruch in sich einzusaugen. Vielleicht würde er ja aber unbemerkt mit seinen Fingern über die Einbände streichen, dachte er verstohlen und allein bei der Vorstellung blickte er sich ertappt um.

Aber wer weiß, ob er sich je trauen würde, Herrn Angbard um einen so absurden Gefallen zu bitten. Er hatte ihn in der Zeit, in der er diese Bibliothek schon besucht und in ihr gearbeitet hatte, nicht ein einziges Mal gesehen. Ständig befand er sich in seinem Büro im ersten Stock und Tammo hatte nie beobachtet, dass er heraus- oder hereinging. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt anwesend war. Was er wohl den ganzen Tag dort arbeitete? Oder vielleicht wohnte er sogar in seinem Büro. Der Junge hatte keine Ahung, was für Aufgaben dem Oberbibliothekar wohl zufielen und er wollte auch nicht zu aufdringlich wirken und eine der anderen Bibliothekarinnen oder Bibliothekare danach fragen. Irgendwann würde er es noch herausfinden. Schließlich arbeitete er auch erst seit etwas über einem Monat hier. Doch einen gewissen Repsekt hatte Tammo schon vor seinem Chef. Gerade weil er ihm noch nie begegnet war, schien Herr Angbard von vielen Geheimnissen umgeben zu sein. Das einzige, was Tammo von ihm zu sehen bekommen hatte, war eine sehr verschnörkelte Unterschrift auf seinem Arbeitsvertrag.

Inzwischen hatte Tammo den Wagen über den dunklen Parkettboden an den zahlreichen Regalreihen vorbei geschoben und blieb nun an einem Regal stehen. Biologie A-Kue stand auf einem Schild, das am Regal befestigt war. Er nahm die ersten paar Bücher von dem Wagen und begann der Beschriftung auf den Buchrücken entsprechend nach ihren Plätzen zu suchen. Es waren vier dicke und große Bücher über Genetik, die er im Arm hielt.

Die richtigen Lücken im Regal zwischen all den anderen Büchern zu finden, fiel Tammo nicht schwer. Zum einen hatte er schon so viel Zeit in der Bibliothek verbracht, dass er das Beschriftungssystem vollkommen durchschaut hatte und die ganzen Abkürzungen ihm nicht mehr wie unverständliche Aneinanderreihungen von Schriftzeichen vorkamen, zum anderen hatte er sich in der kurzen Zeit, in der er hier arbeitete von vielen Büchern die genaue Position gemerkt.

Er räumte nach und nach die Bücher in die Regale ein. Es waren dicke Bücher, dünne Bücher, große Bücher, kleine Bücher, schwere Bücher, leichte Bücher. Sie waren wie Menschen, dachte Tammo oft. Und tatsächlich hatte er mehr mit Büchern als mit Menschen zu tun. Manchmal stimmte ihn das traurig, doch sehr oft war er auch froh darüber, die Bücher zu seinen besten Freunden zu zählen.

Langsam schob er den Wagen an den Regalreihen vorbei, blieb immer mal wieder stehen, um ein Paar Bücher in ihr zu Hause zurückzubringen und stellte sich dabei vor, wie ihre Familie und Nachbarn sie jubelnd und lachend begrüßten. Tammo musste bei diesem Gedanken selbst lächeln.

Die Zeit zog dahin, draußen war das Wetter genauso verregnet wie zu dem Zeitpunkt, als Tammo bei der Bibliothek angekommen war. Mal hörte das stetige Prasseln der Regentropfen für einige Zeit auf, dann begann es wieder gegen die Fensterscheiben zu klopfen und der Wind pfiff sein eigenes, langsames Lied. Zwar war Tammo flink bei seiner Arbeit, doch dauerte es auch seine Zeit einhundert bis zweihundert Bücher einzusortieren.

Draußen war es so trüb, dass kaum Licht in das Gebäude der Bibliothek schien und sie zusätzlich durch die Deckenlampen erleuchtet wurde, die ein warmes und angenehmes Licht verströmten.

Soweit Tammo das beurteilen konnte, war er allein im zweiten Stockwerk. Die anderen Bibliothekare waren wohl auf der ersten Ebene und im Erdgeschoss zugange und auch die Putzfachkräfte waren noch nicht bis in den zweiten Stock vorgedrungen. Er war ganz allein hier oben inmitten all der Bücher.

Nun hatte Tammo alle Bücher vom Wagen in die Regale eingeräumt, die in den zweiten Stock gehörten. Es lagen lediglich eine handvoll Bücher aus dem ersten Stock und sage und schreibe ein Buch aus dem Erdgeschoss auf dem Wagen. Es war Zeit, mit dem Aufzug in das untere Stockwerk zu fahren und seine Arbeit zügig zu beenden, um einer neuen Aufgabe nachzugehen. Tammo war stolz auf sich, dass er so gut mit der Arbeit in der Bibliothek zurechtkam und es freute ihn auch immer sehr, wenn er von Frau Leimgießer gelobt wurde. Behutsam manövrierte er den Wagen an den Regalen vorbei zum Aufzug, darauf bedacht, nirgendwo mit dem Gefährt anzuecken und dabei möglicherweise Bücher zu beschädigen. Er war nun fast beim Aufzug, als ihm die Treppe zu seiner Linken wieder ins Auge sprang, die in den dritten Stock führte. Das Quietschen der Wagenräder verstummte, als Tammo den Wagen anhielt und die Treppe hinauf sah.

Er war ganz allein hier oben, keiner der anderen Bibliothekare arbeitete auf dieser Ebene. Er fragte sich, ob er… Es würde niemandem auffallen, wenn er kurz hinter die Absperrung trat und nach oben ging, um zu schauen, was sich im dritten Stock für Schätze und Kostbarkeiten verbargen…

Nein, nein! Das ging nicht! Auf dem Schild stand „Unbefugten ist der Zutritt untersagt“ und er als bloße Aushilfe war definitiv unbefugt. Nicht einmal allen der fest angestellten Bibliothekare war es erlaubt einen Fuß in die Räumlichkeiten der Sammlung zu setzen. Wieso sollte er sich über diese Regel hinwegsetzen? Das war respektlos seinen Arbeitskollegen gegenüber. Ganz zu schweigen davon, dass er damit wahrscheinlich seine Stelle als Aushilfsbibliothekar verlieren würde und möglicherweise sogar Hausverbot bekam. Und das, das wäre in der Tat eine schreckliche Katastrophe für Tammo. Schließlich handelte es sich bei der Bibliothek um sein zweites zu Hause und eine weitere Bücherei gab es in dieser Kleinstadt nicht. Frau Reisig und Frau Leimgießer wären sicherlich sehr enttäuscht von ihm und er könnte die missbilligenden Blicke auf ihren Gesichtern kaum ertragen, zumal sie ihm gegenüber immer so wohlwollend gewesen waren. Doch seine Neugierde war groß. Sehr groß. So groß, dass er sich einbildete, die alten Folianten würden aus dem oberen Stockwerk zu ihm herunterrufen, ihn zu sich locken, ihn überreden. Ein leises Wispern klang in seinen Ohren, flüsterte ihm von fantastischen Geschichten, lockte ihn. War es wirklich nur Einbildung? Tammo bekam eine Gänsehaut. Ohja, er war neugierig und wissensdurstig, aber er war auch immer ein lieber und braver Junge gewesen und hatte sich weder seinen Eltern noch Lehrern oder anderen Respektpersonen widersetzt. Wozu auch? Wenn er freundlich fragte, wurden ihm meist die Dinge ermöglicht, die er wollte. Und wenn ihm doch etwas verboten wurde, dann hatte das einen guten und logischen Grund. Oben wäre die Tür zum Saal vermutlich eh verschlossen und er hätte darauf wetten können, dass Dr. Angbard den einzigen Schlüssel besaß. Doch das Wispern aus dem oberen Stock schien ihm lauter zu werden, es machte ihm fast Angst. Wenn die Tür oben abgeschlossen war, machte es eh keinen Sinn, nachzuschauen. Aber er könnte wenigstens hochgehen und lauschen, ob er sich in dem Wispern täuschte und vielleicht würde er durch die Tür den Geruch nach alten Büchern vernehmen.

Die Aufregeung pulsierte durch seinen Körper. Sollte er es wagen oder sollte er nicht? Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er begann zu schwitzen. Seit wann widersetze er sich den Regeln von Erwachsenen? War das so eine Art pubertäre Rebellionsphase? Zögernd hob er die Hand, um die Absperrung anzuheben und drunter zu schlüpfen. Sie bewegte sich langsam und wie von allein, als wäre sie nicht länger ein Diener seines Körpers sondern ein Vasall der Neugierde. Das Blut rauschte in seinen Ohren, er war angespannt vor freudiger Erregung, den geheimnisvollen Büchern im dritten Stock näher zu kommen und vor Furcht, dass negative Konsequenzen aus seinem Handeln entstehen konnten.

Plötzlich hörte er, wie sich die Türen des Aufzugs öffneten. Hastig und erschrocken zog er seine Hand zurück, noch bevor sie die Kordel berühren konnte, und legte sie auf den Haltegriff des Wagens.

Das war knapp!

Aus dem Aufzug rollte ein Wagen, der mit Büchern befüllt war und dahinter folgte ihm Frau Leimgießer. Es war heute ihr letzter Arbeitstag in der Bibliothek.

„Ach du meine Güte, Tammo! Hast du mir gerade einen Schrecken eingejagt! Ich dachte, hier oben sei niemand.“ Sie lachte herzlich. Tammo zwang sich langsam und regelmäßig zu atmen. Wäre Frau Leimgießer auch nur zehn Sekunden später aus dem Fahrstuhl gestiegen, hätte sie ihn dabei ertappt, wie er sich in den dritten Stock hinauf schlich. Wie hätte er das bloß erklären sollen, ohne wie ein verzogener Bengel zu wirken?

„Oh, das tut mir Leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken.“, erwiderte Tammo etwas atemlos. Er wusste, dass er sehr rot im Gesicht war, Frau Leimgießer würde etwas bemerken.

„Du bist ja ganz rot im Gesicht, geht es dir nicht gut?“ Nichts entging einer Autorin mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe. Genau dafür bewunderte er sie so sehr, doch in diesem Moment wünschte er, sie würde ihre Umgebung nicht so detailliert wahrnehmen.

„Ah! Eh…“, Tammo wurde noch heißer. Er würde jetzt lügen müssen. Weder konnter er das gut, noch machte er das gern. „Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mir heute im Regen doch eine Erkältung eingefangen.“ Frau Leimgießer schrieb seine unsichere Stimme seiner Unterkühlung zu. Sie seufzte.

„Du bist ein intelligenter und schnell lernender Junge, aber wann erinnerst du dich endlich daran, einen Regenschirm mitzunehmen?“

Tammo freute sich über das Lob, dass sie ihm machte und er beruhigte sich langsam. Sie hat nichts bemerkt. Es ist alles gut. Ich zieh einfach nie wieder so einen Unsinn ab und ich brauch keine Angst mehr zu haben.

„Du solltest lieber nach Hause gehen, wenn es dir nicht gut geht.“

„Nein, nein, es ist schon okay, so schlecht geht es mir auch wieder nicht. Ich werde doch immer so schnell rot. Ich sehe bestimmt schlimmer aus als es mir geht!“ Und das stimmte wahrscheinlich sogar.

Sie wünschten einander noch einen angenehmen Arbeitstag, danach stieg Tammo in den Fahrstuhl, während Frau Leimgießer ihren Wagen zu den Regalreihen schob. Tammo schämte sich für seinen Verhalten. Er ging seiner Arbeit nun besonders fleißig nach, um seinen Fehler wieder gut zu machen, auch wenn das niemand so wahrnehmen würde. Dennoch half es ihm, sein Gewissen zu beruhigen. Aber war Neugierde und Wissensdurst wirklich ein Fehler? Flüsterte eine leise Stimme in ihm, die er aber schnell verbannte. Als seine Schicht zu ende war, ging er noch nicht nach Hause. Er wollte sich im ersten Stock in die Jugendbuch- und Fantasyabteilung verkriechen, um ein Buch weiterzulesen, dass er am Samstag begonnen hatte. Die Bibliothek hatte dort ein Paar Sitzsäcke für die Jugendlichen verteilt und so machte er es sich auf einem von ihnen gemütlich, um die Zeit bis zum Feierabend seiner Kollegen zu überbrücken. Es war zwar erst früher Nachmittag, doch draußen war es wegen des Wetter schon sehr dunkel und der Regen hörte nicht auf herabzufallen. Er prasselte gegen die Scheiben und der Wind wehte die gelben Herbstblätter der Kastanien an die Fenster. Tammo ließ sich vom Lied des Herbstes einlullen und genoss sein Buch. Später würde er sich noch richtig von Frau Leimgießer verabschieden, denn sie war so etwas wie seine Mentorin gewesen. Er hoffte, ihr irgendwann einmal wieder zu begegnen und freute sich schon, ihre Bücher zu lesen.

Am nächsten Tag arbeitete Tammo wieder vormittags. Er sortierte Bücher, räumte sie ein, ordnete Bücher, die von Besuchern an falsche Plätze gestellt worden waren, und saß an der Theke, um entliehen Bücher zurückzunehmen oder sie ausleihen zu lassen. Und so wie am gestrigen Tag las er nach der Arbeit wieder das Buch weiter, welches er begonnen hatte. Diesmal setze er sich an ein Lesepult, dass von einer kleinen Lampe, die warmes, orange-gelbliches Licht verteilte, erhellt wurde.

Draußen stürmte es. Es war einer dieser heftigen Oktoberstürme, der Regenschirme aus Händen reißen konnte, Hüte umherschleuderte, Bäume zum Einknicken brachte und einem richtig Angst einjagen konnte. Es gewitterte und blitze sogar. Tammo mochte dieses Wetter jedoch sehr gern. In der warmen Bibliothek vor dem Unwetter geschützt konnte er sein Buch besonders gut genießen und sich daran erfreuen, dass er im trockenen und warmen Innern saß, während es draußen so ungemütlich war. Fehlte nur noch eine Tasse warmen Tees mit Honig oder ein leckerer Kakao, um die Hände zu wärmen und eine warme, flauschige Decke, um sich darin einzukuscheln. Tammo summte genüsslich, als er an diese Gemütlichkeiten dachte und nahm sich vor, zu Hause seine Mama darum zu bitten, einen Kakao für ihn zu machen. Mamas Kakaos waren die besten Kakaos. Er würde den Abend zu Hause in aller Gemütlichkeit verstreichen lassen.

Die Äste der Kastanien peitschten an die Fenster, so, als würden sie Tammo auffordern, sie einzulassen, damit auch sie sich aufwärmen konnten. Die armen Bäume taten ihm ein wenig Leid. Er würde nach Hause gehen sobald das Unwetter sich etwas gelegt hatte. Tammo hatte zwar nichts dagegen, durch den Regen zu laufen, zumal die Bibliothek auch nicht weit von seinem zu Hause entfernt war, aber so einen Sturm wollte er sich nicht antun. Außerdem konnte er nicht riskieren, dass die Bücher, die er sich ausleihen wollte, bei diesem Wetter nass wurden.

In der Bibliothek waren fast keine Besucher mehr anzutreffen. Hier, auf der ersten Ebende, auf der er sich befand, war er allein. Nur Herr Hirsch, einer der Bibliothekare, war damit beschäftigt einige Regale weiter ein paar Bücher einzusortieren. Tammo vermutete, dass der Rest der Bibliothek ebenso spärlich besucht war.

Draußen wurde es dunkler, doch der Sturm ließ nicht nach. Die Dämmerung hatte eingesetzt und es war immer schwieriger, die Sillouette der Bäume vor dem Himmel zu erkennen. Tammo hatte den ersten Band des Buches, dass er erst vor zwei Tagen begonnen hatte zu lesen, schon lange abgeschlossen und las nun fleißig den zweiten Band. Es war eine Fantasiegeschichte über eine Reise von Jugendlichen in einer fremden Welt mit vielen phänomenalen und außergewöhnlichen Landschaften und Städten. Sie flogen mit einem kleinen Flugzeug, um das Ende ihrer Welt zu erreichen und herauszufinden, wie es dort aussah. Tammo war so vertieft in die Geschichte, dass er kaum bemerkte, wie die Zeit verging. Draußen war es inzwischen stockfinster, doch der Junge bemerkte es nicht einmal, so spannend fand er das Buch. Der Sturm blies unablässig gegen das Gemäuer und die Äste der Kastanien peitschten ans Fenster. Es prasselte und heulte. Langsam wurden Tammos Augen müde. Schließlich saß er schon seit dem frühen Nachmittag hier und las. Doch er hatte schon für längere Zeiträume gelesen, deshalb machte es ihm nichts aus. Die ständigen Geräusche des Unwetters lullten ihn ein und er befand sich in einem tranceähnlichen Zustand, alles um sich herum vergessend, komplett von den Zeilen und Buchstaben vor ihm eingenommen. Zusammen mit seinen papiernen Freunden flog er in dem kleinen Flugzeug zum Rand der Welt, ins Nichts und darüber hinaus, und erblickte das Außerordentliche. Im Geiste formten sich ihm Bilder, Gerüche, Gefühle und Geräusche, die sich mit denen aus seiner Realität vermischten. In seinem Kopf begann es zu summen, zu wispern, ein leises Raunen umspielte seine Sinne, rüttelte zaghaft an seiner Trance, rief ihn. Tammo… flüsterte es in seinen Ohren.

Widerwillig löste sich die Trance auf, langsam aber sicher kehrte er zurück in seine Welt, ließ seine Freunde zurück. Da wurde ihm seine Umgebung wieder bewusst und mit einem Schreck erkannte er das Wispern wieder, dass er erst gestern vernommen hatte, als er vor der Treppe in den dritten Stock stand. Sein Herz begann zu rasen. Ja, das war es. Genau dieses Geräusch war es gewesen. Leises Flüstern und Raunen und er war sich nun sicher, dass er gerade seinen Namen gehört hatte. Sein Atem ging flach. Was war das nur? Kam es wirklich aus dem dritten Stock? Er befand sich auf der ersten Ebene, wie konnte es sein, dass er es hörte?

Langsam schlug er das Buch zu und lauschte einen weiteren Moment. Vorsichtig stand er auf und versuchte keinen Laut zu verursachen, aus Angst, er könnte das geheimnissvolle Geräusch dann nicht mehr höhren. Es ebbte kurz ab, dann wurde es wieder intensiver. Er ging durch die Regalreihen hindurch. Es war sehr dunkel. Bis auf die Leselampen an den Pulten spendete keine weitere Lichtquelle Helligkeit. Er musste wissen, was das für ein seltsames Geräusch war. Statt des Besucheraufzugs und nahm der Junge die Treppe in den zweiten Stock. Die Bibliothek war wie leergefegt. Weder einer der Bibliothekare noch ein Besucher kam ihm entgegen. Ihm wurde etwas mulmig und gruselig zumute. Jeder seiner Schritte auf den Steinstufen hallte von den Wänden wieder, obwohl er sich Mühe gab, leise aufzutreten. Er hatte den zweiten Stock erreicht. Das Wispern war stetiger geworden, es erklang in einer konstanten Lautstärke in seinem Kopf, ebbte nicht ab und wurde auch nicht lauter. Nun stand Tammo vor der roten Absperrkordel. Unbefugten ist der Zutritt untersagt. Aber war er denn noch unbefugt? Die Bücher aus dem dritten Stock schienen ihn zu rufen, ihn einzuladen. Hatten sie nicht seinen Namen geflüstert? Vorsichtig duckte er sich unter der Kordel hindurch, setzte den Fuß auf die erste Stufe und erklomm langsam die Treppe nach oben. Er hielt den Atem an und holte nur stoßweise Luft, seine Kleidung klebte am Körper, so aufgeregt und nervös war er. Draußen ertönte das laute Grollen des Unwetters, das für einen kurzen Moment das geheimnisvolle Flüstern übertönte, aber Tammo hörte es wieder, sobald das laute Geräusch des Donners ausgeklungen war. Nun konnte er schon die Tür sehen, die den dritten Stock verschloss. Er stieg die letzten Stufen empor und nun stand er ganz oben auf dem Treppenabsatz und betrachtete die große Holztür, die wie die Eingangstür der Bibliothek, unten im Atrium, ebenfalls doppelflüglig war. Die Luft um den Jungen herum schien zu knistern und Tammo bekam eine Gänsehaut davon. Ihm fiel auf, dass im Schlüsselloch unter der reichverzierten Türklinke ein ebenso reichverzierter Schlüssel steckte.

Nervös holte er tief Luft. Was immer es war, was sich hinter dieser mächtigen, mit Schnitzereien verzierten, Doppeltür verbarg, er würde es jetzt heraus finden. Langsam drehte er den Schlüssel im Schloss. Dann legte er die Hand auf den Knauf. Er öffnete die Tür.

Das Erste, was Tammo auffiel, war, dass der Raum unter dem Dach viel größer erschien, als er hätte sein dürfen. Lange Regalreihen nahmen den Platz ein und verloren sich in einer meterhohen Decke, an der in einiger Höhe ein Kronleuchter hing und den Saal mit einem warmen, aber dämmrigen Licht erfüllte. Tammos Kopf war wie leer gefegt. Er war allein durch das Flüstern der Bücher gefüllt. Sie alle schienen ihn anzusehen und ihn dazu aufzufordern, sie aus ihren Regalen zu nehmen und aufzuschlagen. Langsam ging er die Regalreihen entlang und fuhr mit den Fingern über die Buchrücken. Bildete er sich das ein oder waren sie warm, wie die Haut eines Menschen? Ein wohliger Schauer überkam Tammo. Diese Bücher schienen alle so lebendig zu sein. Er griff instinktiv nach einem dicken Band und zog ihn aus dem Regal. Es war eine Ausgabe des Abenteuer-Romans, den er bis eben noch gespannt gelesen hatte. Nur schien dieser Band viel älter zu sein, als der, den er noch vor kurzem vor sich liegen hatte. Er strich über den Einband und spürte die Prägung des Titels unter seinen Fingerspitzen. Dann schlug er das Buch vorsichtig auf. Der Geruch des alten Papiers kam ihm entgegen und genüsslich sog Tammo den Duft ein. Mit einem leisen Knistern schlug er das Buch auf und las die ersten Worte, an die er sich noch gut erinnern konnte. Schließlich hatte er sie erst vor zwei Tagen gelesen. Auf dem vergilbten Papier kamen ihm die Buchstaben weicher vor. Sie zogen Tammo in ihren Bann und versetzten ihn in eine andere Welt. Die Umgebung um ihn herum begann zu verschwimmen und sich neu zu formen. Die zahlreichen Regale und Folianten aus Papier wichen einem nächtlichem Wald, der sich zu einer Lichtung hin öffnete. Der Geruch von feuchter Erde stieg Tammo in die Nase. Verwirrt blickte er sich um. Ja, Bücher hatten ihn schon in andere Welten getragen, ihm Neues gezeigt, doch nie hatte er ein Buch so hautnah erleben können. Er spürte, wie der weiche Waldboden unter seinen Füßen nachgab und die Dornen niedriger Büsche an dem Stoff seiner Hose zerrten, als er langsam auf die Lichtung zuging, auf der ein Lagerfeuer brannte. Zwei Gestalten saßen dort. Tammo konnte sie im Gegenlicht des Feuer nicht erkennen. Doch er hörte ihre Stimmen. Es waren Jungen. Etwa in seinem Alter, vielleicht ein wenig älter. Sie brieten anscheinend ein Tier über dem Feuer. Langsam kam Tammo näher. Er ahnte, wer die beiden Gestalten sein mussten, doch konnte er es nicht glauben. Die Verwirrung, über das, was um ihn herum geschah, machte ihn vorsichtig und misstrauisch. Tammo trat auf einen Ast. Alle Vorsicht konnte seine Sicht in der Dunkelheit nicht verbessern, so hatte er das Stück Holz nicht gesehen. Ein lautes Knacken hallte über die Lichtung. Sofort stellten die Gestalten am Feuer ihr Gespräch ein und nahmen eine Habachtstellung ein.

„Wer ist da?“, sagte der Kleinere von ihnen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie ein großer Inbusschlüssel. Tammo war sich sicher, dass es sehr weh tun würde, wenn sein Schädel mit dem harten Metall des Werkzeugs Bekanntschaft machen würde. Verängstigt blieb er stehen und hielt die Luft an. Er war nur ein schwächlicher kleiner Junge, gegen die Kerle auf der Lichtung, die um einiges muskulöser als er aussahen, hatte er nicht den Hauch einer Chance.

„Zeig dich!“

„Vielleicht ist es nur ein Tier gewesen, Rikigaku“, meldete der andere der beiden sich zu Wort. „Quatsch. Kein Tier ist so tollpatschig und tritt auf einen Ast.“ Tammo errötete. Doch nun hatte er Gewissheit. Rikigaku. Er konnte es kaum glauben. Rikigaku war der Name des Hauptcharakters aus dem Roman, den er eben noch in dem geheimnisvollen Raum aufgeschlagen hatte. Was ging hier nur vor sich? Aber wenn das hier Rikigaku war, brauchte er keine Angst zu haben. Er kannte Rikigaku, er war wie ein Freund. Jedenfalls hatte er seine Geschichte gelesen. Vorsichtig machte er einen weiteren Schritt und trat dann auf die Lichtung in den Schein des Feuers. Nun sah er die beiden Gestalten und hatte Gewissheit. Tatsächlich, das musste Rikigaku sein. Genauso hatte er ihn sich vorgestellt. Mit einer Fliegerbrille auf dem Kopf und abstehenden Haaren. Seine Augenbrauen erinnerten eher an ein Geweih als an richtige Augenbrauen. Tammo erkannte auch seinen Begleiter. Es war Jittah, ein Freund Rikigakus, mit langen, hellen rosa-schimmernden Haaren und einer wilden Musterung im Gesicht, die an Kriegsbemalung erinnerte. Die Haltung der beiden entspannte sich, als sie erkannten, was für ein kümmerlicher Junge vor ihnen stand.

„Ah,“, sagte Rikigaku „du bist vermutlich aus der anderen Welt? Sehr vielversprechend siehst du nicht aus. Kannst du denn wenigstens ein Schwert schwingen?“

„Ein… was? Andere Welt? Ich… äh...“, stammelte Tammo. Er war vollkommen perplex. Wovon redete er da?

„Der rafft doch mal gar nichts, Rikigaku, guck doch mal, mit was für verwirrten Hundeaugen der uns anglotzt!“ Er lachte derbe. Dann ging er auf Tammo zu und wuschelte durch seine eh schon zerzausten Haare. „Haha, ein süßer Welpe bist du!“

Das Zweiergespann kugelte sich vor Lachen. Tammo wollte vor Scham im Boden versinken. Er war verwirrt, er hatte Angst, er fragte sich, ob in der obersten Etage der Bibliothek vielleicht irgendein Gas versprüht wurde, dass die Bücher vor Zerfall schütze, bei Menschen aber wahnwitzige Halluzinationen hervorrief? Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. Oh nein, jetzt fang ich auch noch an zu heulen. Das macht‘s jetzt bestimmt besser. Ständig machten sich Gleichaltrige über ihn lustig.

„Aaaaah, jetzt sei doch nicht so gemein zu ihm, Jittah!“, Rikigaku wischte sich eine Lachträne aus dem Gesicht. Tammo sagte nichts. Er starrte zu Boden, um zu verhindern, dass sie seine mit Tränen gefüllten Augen sahen.

„Also komm, Kleiner,“ Rikigaku packte ihn an der Schulter und schob ihn mit sanfter Gewalt zu einem Baumstamm am Lagerfeuer, auf den er sich nun setzte. Schnell wischte Tammo sich unauffällig mit dem Ärmel seines Pullis über die Augen. Rikigaku setze sich neben ihn, während Jittah auf einem zweiten kurzen Baumstamm schräg neben ihnen Platz nahm.

Jittah nahm das Tier vom Feuer, es schien ein Kaninchen zu sein, und begann es mit einem Messer in Teile zu schneiden. Er gab Tammo ein Bein.

„Hier, iss, du musst ziemlich geschockt sein. Ein gutes Stück Fleisch hilft dir, dich zu sammeln. Ein gutes Stück Fleisch hilft gegen alles.“ Er reichte Rikigaku ebenfalls ein Stück, dann biss er selbst herzhaft in das Tier. Der Saft troff ihm vom Kinn. Tammo blickte auf sein Stück. Er hatte überhaupt keinen Appetit und der Umstand, dass er eben noch das ganze Tier über dem Feuer gesehen hatte, machte es nicht besser. Doch schließlich überwand er sich und nahm einen kleinen Bissen. Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Tammo schmeckte das Fleisch kaum. Alles war so überwältigend. Das Rauschen der Bäume im Wind, das Prasseln des Feuers, der warme Schein, der auf den Gesichtern der Jungen tanzte. Eben noch stand er verbotenerweise in der Sammlung der Bibliothek und nun war er hier, mitten in einem Wald, mit zwei Jugendlichen, die er aus einem Buch kannte. Was war hier los?

„Wie heißt du?“, fragte Jittah ihn unvermittelt. Tammo zuckte kurz zusammen. Er schluckte hastig das faserige Fleisch hinunter. „T-Tammo“, nuschelte er. Jittah nickte, als Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Ich bin Jittah und der Typ da neben dir ist Rikigaku“ Rikigaku hob die Hand und grinste breit. „Yo!“

„Ich weiß“, sagte Tammo „Ich hab von euch gelesen“. Und endlich sprudelte die eine Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge lag, aus ihm heraus: „Was geht hier vor?“

Jittah und Rikigaku sahen sich an. Nun war es ihre Aufgabe, ihm alles zu erklären. Es würde nicht einfach werden. Nein, ganz und gar nicht.

„Hör zu“, begann Rikigaku „du hast also von uns gelesen, das heißt du weißt, dass wir Charaktere eines Romans sind, nicht wahr?“ Tammo nickte und setze zu einer neuen Frage an, doch Rikigaku sprach gleich weiter. „Nur weil wir der Fantasie unseres Autors entsprungen sind, heißt das nicht, dass wir nicht real sind, verstehst du?“ Tammo schaute ihn verständnislos an. „Aaaaaargh!“, Rikigaku raufte sich die Haare „wieso müssen wir ihn einweisen?! Es gibt genügend andere die das viel besser könnten! Hilf mir Jittah!“ Jittah hob abwehrend die Hände und kassierte dafür einen `Was für ein toller Freund du bist`-Blick von Rikigaku.

„Also nochmal, wir leben. Wir sind nicht nur Tinte auf totem Papier. Es gibt viele Bücher über unsere Geschichte und unser Leben, die sind ziemlich tot und nichts weiter als Bücher. Aber es gibt zu jeder Geschichte ein Seelenbuch. Das ist unsere Essenz, darin leben unsere Seelen. Verstehst du? Und du sprichst grad mit uns durch das Seelenbuch. Also deine Seele ist sozusagen in dem Buch und kann mit unseren Seelen kommunizieren und hier alles sehen und anfassen und so weiter…“ Rikigaku griff sich an den Kopf. „Oh Mann, ich war noch nie gut darin, Dinge zu erklären.“ Doch Tammo begriff, wovon er sprach. Hatten sich die Bücher in den Regalen nicht warm angefühlt, als ob Leben in ihnen steckte? Hatten sie ihm nicht zugeflüstert? Es war unglaublich und schwer zu erfassen. So viele Fragen brannten auf Tammos Zunge. Wie war das möglich? Wie kam es, dass er jahrelang diese Bibliothek besucht hatte, aber nie zuvor die Seelenbücher bemerkt hatte? Wurden sie deshalb so sorgfältig in der Bibliothek verwahrt, weil sie lebendig waren und geschützt werden mussten? Wie kam es, dass andere Menschen das Flüstern der Bücher anscheinend nicht gehört hatten? Tammo starrte ins Feuer und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er bemerkte, wie Jittah und Rikigaku sich hilflos über seinen Kopf hinweg ansahen und mit den Schultern zuckten. Dann stellte Tammo eine weitere Frage: „Wieso hab ich die… die Seelenbücher nicht früher wahrgenommen?“

„Hmmm“, machte Rikigaku „das weiß tatsächlich niemand so genau. Viele vermuten es hängt davon ab, wann sich die Vorstellungskraft eines Menschen vollkommen entwickelt hat. Manche denken dagegen, dass es eine Art Resonanz zwischen den Seelen des Menschen und der Bücher gibt, die sich entwickelt, wenn der Mensch mit seinen Erfahrungen reift. Aber genau weiß das keiner. Manchmal sind es kleine Kinder, die nicht einmal lesen können, die mit den Büchern in Kontakt treten können, manchmal sind die Menschen aber auch schon sehr alt, bis sie das erste Mal die Seelenbücher wahrnehmen. Die meisten Menschen bemerken uns aber nie“

Tammo nickte. Menschen waren halt unterschiedlich. Kein Wunder, dass es keine Regeln gab, nach denen sie die Seelenbücher wahrnehmen konnten. Und es wunderte ihn auch nicht, dass er, mit der Fantasie, die er hatte, die Seelen der Bücher wahrnehmen konnte. „Also werden die Seelenbücher gesammelt und gesondert aufbewahrt, um sie vor fahrlässigen Lesern zu schützen, die nicht wissen, was sie in Händen halten?“

Jittah und Rikigaku sahen sich noch einmal an. Langsam wurden Tammos Neugier und Wissensdurst geweckt und es fiel ihm leichter, Fragen zu stellen und mit den beiden Charakteren zu reden.

„Jaaa…“, Rikigaku zögerte. Jittah sprang für ihn ein.

„Nun ja, zum einen das. Aber Menschen sind eher die geringere Bedrohung für uns.“ Tammo sah ihn fragend an. „Seelenbücher sind geballte kreative Energie. Sie eignen sich als Nahrung für Bücherwürmer.“

„Bücherwürmer…“, Tammo sah Jittah fragend an, dann schweifte sein Blick zu Rikigaku. „Sie fressen unsere Seelen, um zu überleben. Das ist das Schlimmste was einem Seelenbuch passieren kann.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Wurde es einmal gefressen, verschwindet die gesamte Existenz dieser Geschichte. Niemand wird sich je wieder an diese Geschichte erinnern. Es ist das unwiderrufliche Ende. Schlimmer als der Tod. Wir gehen dann einfach in die Existenzlosigkeit über.“ Ein bedrücktes Schweigen folgte Rikigakus Erklärung. Jittah und er schauderten. „Niemand erinnert sich mehr an die Geschichte?“, hakte Tammo nach. „Niemand“.

Tammo fragte sich, ob er vielleicht eine Geschichte, die er irgendwann mal gelesen hatte, schon auf diese Weise vergessen hatte. Er dachte eine Weile angestrengt nach, dann fiel ihm ein, dass da keinen Sinn ergab. Er würde sich so oder so nicht erinnern.

Es war schrecklich. Eine ganze Welt, verschluckt vom Nichts, all die Charaktere, all die Freunde, die er gemacht hätte. In Tammo entwickelte sich eine Abscheu gegenüber den Bücherwürmern. Wie konnte man so etwas wundervolles, wie eine Geschichte vernichten und auslöschen?

„Aus diesem Grund“, setzte Jittah an, „gibt es Menschen in deiner Welt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Seelenbücher vor den Würmern zu beschützen und gegen diese Viecher zu kämpfen. Das sind die Buchritter. Und du wirst jetzt einer davon“ Ein breites Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Enttäusche uns nicht und rette schön brav unser Leben“

„Ja, genau, verunsichere ihn noch mehr“, fuhr Rikigaku seinen Kumpel an. „Wir können dich nicht dazu zwingen, uns zu helfen, aber es gibt nicht viele wie dich, die mit uns sprechen können und nur die Menschen aus eurer Welt können die Bücherwürmer besiegen. Wir bestehen zwar aus kreativer Energie, aber können sie nicht wie ihr nutzen. Wir bitten dich darum. Und ich denke, ich spreche im Namen aller Seelenbücher, denn wir sind dankbar für jeden, der uns zur Seite steht.“ Tammo kam kaum noch hinterher. Rikigaku war nicht der Typ, der andere um Hilfe bat, das wusste er aus seiner Geschichte. Es musste also wirklich sehr ernst sein. Aber wie sollte er, ein kleiner, mickriger Sechzehnjähriger, gegen wilde Bestien kämpfen, um ganze Welten zu retten? Das war so klischeehaft, dass es schon fast weh tat.

„Bitte“, wiederholte Rikigaku und auch Jittah sah ihn erwartungsvoll an. „Du wirst nicht allein sein. Viele Charaktere helfen den Buchrittern so gut sie können und wir werden an vorderster Front mit dir kämpfen“

„Ich…“ Tammo öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch. Er war sprachlos. Er musste definitiv erst einmal eine Nacht darüber schlafen und alles verarbeiten. Das war alles zu viel. Wie kam er hier überhaupt wieder heraus?

Es war alles zu fantastisch, um es zu glauben, doch Tammo tat es dennoch. Er nahm das alles so schnell an, weil er sich schon sein Leben lang so etwas gewünscht hatte. Er wollte, dass es wahr war. Es war aufregend, in diesen Welten konnte er Freunde finden und Abenteuer erleben, er musste nur den einen Schritt wagen. Doch gerade weil es ihm so real vorkam, hatte er auch Angst vor den Gefahren, die so ein Abenteuer barg. Er war immer nur Zuschauer gewesen, aber nie hatte er sich in der Rolle des Hauptcharakters gesehen.

„Ich möchte nach Hause“, sagte Tammo schwach und es war ihm egal, für was für ein Weichei Jittah und Rikigaku ihn halten würden. Mit einem Stechen in der Brust sah Tammo, wie die Enttäuschung sich auf den Gesichtern dieser sonst so taffen Jungs breit machte. Tammo sah weg.

„Dir steht es jederzeit frei zu gehen.“, antwortete Jittah monoton. „Du musst einfach nur an deine reale Welt und Alltäglichkeiten denken, dann solltest du zurück in deinen Körper gelangen.“

„Ich… muss darüber nachdenken. Ich kann nicht… Ich…“, Tammo brach ab. Rikigaku und Jittah sahen ihn mit unergründlichen Mienen an.

Tammo stand langsam auf und machte ein paar unsichere Schritte von den beiden weg. Dann begann er an sein zu Hause und sein kuscheliges Bett zu denken, denn genau da wollte er jetzt hin. Er sehnte sich nach dem warmen Kakao seiner Mutter und die weichen Kissen auf seiner Schlafstatt. Um ihn herum begann wieder alles zu verschwimmen, der Wald löste sich auf, die Regale des dritten Stockwerks der Bibliothek kamen zum Vorschein und dann stand er wieder dort, mit dem dicken Buch in den Händen. Er schlug es schnell zu und stellte es zurück an seinen Platz. Dann verließ er hastig den Saal. Das alles war so unheimlich real. Es machte ihm Angst. Er drehte den Schlüssel im Schloss, nachdem er die große Tür geschlossen hatte und sprang fast die Treppe herunter. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war erst halb acht, doch Tammo kam es vor, als ob eine Ewigkeit verstrichen wäre. In einer halben Stunde würde die Bibliothek schließen. Er holte seine Jacke aus dem Lagerraum, verabschiedete sich von Frau Reisig, die noch an der Ausleihe saß und machte sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Hause. Glücklicherweise stürmte es nicht mehr so heftig, doch als Tammo zu Hause ankam, war er dennoch vollkommen durchnässt.

Er konnte nur schwer einschlafen. Seine Gedanken schwirrten und schienen seinen Kopf auseinander reißen zu wollen, weil sie nicht genug Platz hatten. Morgen würde er aufwachen und dann bemerken, dass das alles ein abgefahrener Traum war. Eine coole Idee für einen Abenteuerroman vielleicht. In dieser Nacht träumte Tammo von Jittah und Rikigaku. Von ihren enttäuschten Gesichtern, von ihrer Verzweiflung, von ihrem Tod und von seiner eigenen Angst, sie zu vergessen und sich nie wieder an sie erinnern zu können. Das wollte er nicht zulassen.

Am nächsten Tag war Tammo sehr müde auf der Arbeit, denn er hatte unruhig geschlafen und wirr geträumt. Sobald er der Bibliothek morgens nahe gekommen war, wurde ihm sofort klar, dass das gestrige Erlebnis keine Wahnvorstellung gewesen war, er vernahm nämlich schon auf der Straße das Flüstern der Bücher aus dem dritten Stock. Es ließ ihn Schaudern und gleichzeitig beruhigte es ihn. Denn wie verrückt die ganze Situation auch war, so war sie doch auch wundervoll, fantastisch und einfach das Beste, das ihm passieren könnte. Er, Tammo, ein schüchterner Junge, der nie richtige Freunde aus Fleisch und Blut gehabt hatte, könnte nun seine Freunde aus Papier und Tinte kennenlernen und Abenteuer mit ihnen erleben! Er zitterte vor Aufregung und während seines gesamten Arbeitstages rief das Wispern der Seelenbücher aus dem dritten Stock ein Gefühl der Freude in ihm hervor.

Er würde Jittah und Rikigaku so gern wieder treffen. Und er wollte auch neue Charaktere kennenlernen. Er war so gespannt auf die fantastischen Welten und beim Gedanken an die vielen fabelhaften Bücher, die er schon gelesen hatte und die er besuchen könnte, hielt er es kaum noch aus, mit den ganz normalen Büchern zu arbeiten. Doch wie sollte er wieder in den dritten Stock gelangen? Tammo war sich sicher, dass es nur Zufall gewesen war, dass der Schlüssel im Schloss gesteckt hatte. Der dritte Stock war sicherlich immer gut verriegelt, was bei dem Schatz, der dort oben lagerte, kein Wunder war. Ob Herr Angbard, der Oberbibliothekar, auch mit den Büchern sprechen konnte? War er vielleicht sogar ein Buchritter? Tammo hätte gern mit ihm gesprochen, sicherlich könnte Herr Angbard ihm vieles erklären, doch noch immer hatte Tammo Angst vor seiner unbekannten Erscheinung. Er würde einfach heute Abend, kurz bevor die Bibliothek schloss und kaum noch Besucher hier waren, nach oben gehen und schauen, ob er hineinkam. Er musste Jittah und Rikigaku noch so vieles fragen, er wollte noch so viel wissen und sehen, bevor er sich entschloss, die Seelenbücher zu verteidigen. Doch Tammo hatte sich schon so gut wie entschieden. Er liebte Bücher mehr als alles andere. Sie waren sein gesamter Lebensinhalt und er konnte unter keinen Umständen zulassen, dass all die wundervollen Geschichten aus seinem Gedächtnis gelöscht wurden. Dennoch wurde er von einer Unruhe besetzt, wenn er an die grausigen Bücherwürmer dachte. Er war nie sportlich gewesen, hatte sich noch nie gegen Gefahren verteidigen müssen und seinen größten Adrenalinkick hatte er bei einer Achterbahnfahrt in einem Vergnügungspark erlebt. Er wusste gar nicht, was Todesangst überhaupt bedeutete und genau das machte ihm Angst und hemmte ihn, sich Hals über Kopf in ein Abenteuer zu stürzen. Andererseits… hatte er nicht immer klein beigegeben in seinem Leben? Immer vor den größeren und beliebteren Jungen auf seiner Schule gekuscht? Sich unterbuttern lassen? War es nicht langsam an der Zeit, aus sich herauszukommen? Was würde überhaupt mit ihm passieren, wenn er in der Bücherwelt starb? Würde er dann auch vergessen werden, so, wie die Geschichten vergessen wurden, wenn sie gefressen worden waren? Das alles wollte er in Erfahrung bringen, wollte alle Möglichkeiten abwägen, um die richtige Entscheidung zu treffen.

Mit diesem Gedanken schlich sich Tammo am Abend, als sich die Bücherei fast komplett geleert hatte, hoch in den dritten Stock. Tatsächlich steckte der Schlüssel noch genauso im Schloss, wie er ihn gestern überhastet stecken gelassen hatte. Es hatte also niemand bemerkt, dass er hier gewesen war, das war sehr gut. Denn wie fantastisch die Geschehnisse auch gewesen sein mochten, er brach immer noch die Regeln des Hauses, indem er hier oben war. Es klickte, als er den Schlüssel im Schloss drehte. Er schlüpfte schnell in den definitiv zu großen Saal und schloss schnell die Türe hinter sich. Als er zur Arbeit gekommen war, hatte er sich das Dach von der Straße aus genau angesehen und der Saal, der sich hier vor seinen Augen erstreckte, war definitiv größer, als er physikalisch hätte sein dürfen. Doch was für eine Rolle spielten physikalische Gesetze schon, wenn auch so etwas wie Seelenbücher existierten? Tammo erinnerte sich nicht mehr an die genaue Position des Buches und musste ein wenig die Regalreihen absuchen, bevor er es fand. Dabei las er die Titel auf den Buchrücken, die ihn den Atem stocken ließen. Terry Cotter, Tuscheherz, Huckleapple Tim… Es reihten sich Klassiker an Klassiker und Tammo konnte es kaum erwarten, in sie alle einen Blick zu werfen und seine geliebten, papiernen Freunde kennenzulernen. Schließlich fand er das Buch, nach dem er suchte. Denn erst einmal wollte er die Charaktere näher kennenlernen, die er schon getroffen hatte. Begierig schlug er das Buch auf und begann zu lesen. Nach wenigen Zeilen begann der Raum um ihn herum sich zu verändern, so, wie er es schon vom gestrigen Abend kannte. Diesmal befand er sich nicht in einem Wald, doch es war ebenso dämmrig, wie bei seinem ersten Besuch in dieser Welt. Der Reisende befand sich in einem kleinen, zugestellten Raum. Die Wände waren unter einer Vielzahl von kleinen Gegenständen, die fein säuberlich an ihnen aufgehängt waren, nicht zu erkennen. In den Regalen türmte sich allerlei Werkzeug, Kisten mit Schrauben, Messingrohren, Zahnrädern, Nägeln, Schlauchklemmen, Rohrschellen, Unterlegscheiben in allen erdenklichen Größen. An der Decke waren an den zahlreichen Rohren, die dort verliefen und aus denen es teilweise tropfte und zischte, Körbe mit weiterem Kleinkram und Werkzeug aufgehängt. Und zwischen all den metallenen Gegenständen waren Zettel, Memos und abgerissene Fetzen Papier angebracht, die über und über mit Rechnungen, Notizen und Skizzen vollgekritzelt waren. Tammo wusste kaum, wo er hinschauen sollte. Die einzige Lichtquelle in diesem kleinen Raum war eine mickrige Ölfunzel, die einen mit Büchern überhäuften Schreibtisch beleuchtete. An diesem Tisch saß Rikigaku. Er betrachtete einen sehr kleinen metallenen Gegenstand mit einem Gestell aus verschiedenen Linsengläsern, die wie eine Lupe die Augen des Jungen unnatürlich groß erscheinen ließen. Mit Werkzeug, das so klein war, dass es eher für Ameisen als für Menschen gemacht zu sein schien, hantierte Rikigaku an dem seltsamen Gegenstand. Er schien sehr konzentriert zu sein und hatte Tammo im Halbdunkel seiner Werkstatt wohl noch nicht bemerkt. Leise räusperte Tammo sich. Rikigaku reagierte nicht. „Ääh… Hallo, Rikigaku.“

Rikigaku zuckte so stark zusammen, dass das Lupengestell vom Tisch fiel, ein Stapel Bücher verrutschte und den kleinen, filigranen Gegenstand unter sich begrub.

„Im Namen der Götter, die es nicht gibt, wie kannst du es wagen mich so zu erschrecken!“, kreischte Rikigaku hysterisch. „Mein schöner Mikro-Antimateriekondensor! Weißt du wie lange ich gebraucht habe, das Ding zusammenzubasteln?! Ich brauch‘ den so dringend als Energiebereitsteller für mein Extrasphären-Flugzeug! Allein schon die Bauteile in dieser Größe aufzutreiben hat mich ein Vermögen an Zeit, Geduld und Geld gekostet!“ Ihm kamen die Tränen.

Tammo erstarrte. Das hatte er unter keinen Umständen gewollt. Er hätte sich einfach nochmal räuspern sollen oder etwas in der Art. Jetzt hatte er eines von Rikigakus wertvollen Geräten zerstört.

„Ich… äh, das tut mir so leid!“, mehr brachte er nicht heraus.

Rikigakus Stimmung schwang sofort um. Er wischte sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel, dann sagte er: „Nicht so schlimm. Ich hab nicht umsonst eine Partialzeitmaschine gebaut, mir geht ständig was kaputt. Das Ausrasten ist ‘ne alte Gewohnheit. Hahahahahah!“

„Hahaha…“, lachte Tammo etwas nervös mit. Er bemerkte die tiefen Schatten unter Rikigakus Augen. Er war wahrscheinlich schon seit vielen Stunden damit beschäftigt, kleine Schrauben und Zahnräder zusammen zu basteln, kein Wunder, dass er da etwas überreagierte.

„Was für ‘ne Tageszeit haben wir überhaupt?“, nuschelte der Mechaniker. Er ging zu einer freien Stelle an der Wand, die sich als Tür entpuppte und riss sie mit einem Ruck auf.

„Gaaaaahhhh!!!“ Rikigaku schlug die Tür so fest wieder zu, dass ein Paar Schraubendreher von der Wand purzelten und dabei eine Lawine aus herabfallendem Werkzeug auslöste. Von draußen war für einen kurzen Moment die heiße Mittagssonne herein gestrahlt, die in Rikigakus an die Dunkelheit gewohnten, müden Augen wie Säure gebrannt haben musste.

„Ich wollte dich und Jittah eigentlich noch einige Dinge fragen, aber du scheinst gerade nicht besonders wach zu sein, ich schätze, ich geh lieber…“, erklärte Tammo, doch Rikigaku winkte ab. „Ach was, nein, nein, mir geht’s gut und Jittah müsste unten und etwas wacher sein als ich. Keine Angst, wir befragen dir alle Antworten, die du hast! Ne, wart‘ ma‘. Das ging anders...“ Rikigaku nuschelte noch etwas unverständlich vor sich hin, dann öffnete er eine Luke im Boden neben seinem Tisch, nachdem er einen großen Stapel von mechanischen Zeichnungen beiseite gefegt hatte. „Da rein“, grummelte er und stieg die kleine Leiter hinab, deren Sprossen schon mehrmals geflickt worden waren. Tammo folgte ihm zögerlich.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo! Ich freue mich über jeden, der Lust hat, meine Story zu lesen :3 Konstruktive Kritik ist sehr gern gesehen, da ich mich stetig verbessern möchte :) Lasst mich wissen, was ihr über das erste Kapitel denkt! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heyho, ihr Lieben! Ich würde mich riesig über Feedback freuen *v* Schreibt mir ruhig in die Kommis, was ihr so denkt :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Na, da muss mal jemand lernen, mit Schuldgefühlen umzugehen XD Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen! Wie immer freue ich mich sehr über Kommentare und konstruktive Kritik :) Sonntag gibt es das vierte Kapitel. Wird Tammo der Quelle des Flüsterns auf den Grund gehen können? Findet es heraus! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetzt geht's so richtig los mit der Story :D Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So viel Drama! Das ist Tammo gar nicht gewohnt xD Er hatte noch nie so viel Spannung im Real Life :D Nächste Woche Sonntag geht es dann wieder weiter mit Tammos Abenteuer :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, das heutige Kapitel hat euch gefallen! :) Ich muss gestehen, es ist eines meiner Lieblingskapitel :D Ich hatte auch unglaublich viel Spaß beim Schreiben :3

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