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Life is precious

Das Leben ist wertvoll
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo liebe Leser! Schön, dass ihr auf meiner Seite vorbeischaut!

Der Prolog wird - anders als der Rest der Geschichte - aus der Sicht von Lydia, einer Krankenschwester, die später in der Story erneut auftauchen wird, erzählt.
Ich hoffe, der Prolog macht euch ein wenig neugierig.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Tote Augen

Ich arbeite nun schon seit einer Weile in diesem Krankenhaus – seit fünf Jahren und elf Monaten, um genau zu sein - und ich habe schon viele schwere Verletzungen gesehen. Knochenbrüche und Verbrennungen, die so scheußlich aussehen, dass man sich am liebsten übergeben würde, egal, wie faszinierend man den Winkel findet, in dem das Bein absteht oder wie unglaublich es ist, dass der kleine Junge, der im Garten aus Versehen seinen linken Zeigefinger mit der Heckenschere abgeschnitten hat, nicht weint. In meinem Beruf lernt man viel über die Menschen. Ihre Schmerzen, körperlicher und seelischer Natur. Ihre Launen, wenn sie lange im Wartezimmer festsitzen. Ihre Verzweiflung, wenn ihnen eine negative Diagnose gestellt wird. Ihre Wut, weil sie das Krankenbett nicht verlassen dürfen, um auf die Hochzeit der kleinen Schwester zu gehen. Ihre Trauer, wenn der Tod letztendlich doch seine Fühler nach einem lieben Freund ausgestreckt hat. Ein jeder reagiert unterschiedlich, ein jeder ist anders zu behandeln. Mit all diesen Situationen komme ich klar, in all diesen Situationen kann ich stark sein und den Betreffenden Zuversicht und Halt geben, oder eine feste Hand, wenn es von Nöten ist.
 

Aber ich habe Angst vor dem Jungen, der in diesem Zimmer liegt. Ich habe Angst vor seiner Apathie, ich habe Angst vor seinen leeren Augen, ich habe Angst vor der Stille, die in diesem Raum herrscht, und ich habe Angst vor dem Sog der Resignation, der auch an mir zu ziehen beginnt, sobald ich einen Fuß dort hineinsetze.

Bevor ich die Tür öffne, atme ich tief durch und setze eine neutrale Miene auf. Er ist wach. Sein Blick schweift zu mir, und obwohl seine Augen mich fixieren, bin ich mir nicht sicher, ob er mich wirklich sieht.

„Guten Morgen, Jesse. Ich mache mal das Fenster auf.“ Ich stelle das Frühstück auf dem Bettkasten ab, ziehe die Vorhänge zurück und lasse frische Luft herein. Der Junge gibt keinen Mucks von sich, sieht mich nicht mal mehr an. Er hat bereits das Interesse verloren. Ich nehme den Deckel vom Tablett und betrachte das Essen.

„Erinnerst du dich an mich? Mein Name ist Lydia. Gestern hast du nichts gegessen. Das sollten wir heute ändern. Du musst wieder zu Kräften kommen.“ Ich glaube nicht, dass er mir zuhört. Genauso gut hätte ich mit einem Toten sprechen können. So kommt er mir auch fast vor. Blass, wie er ist, reglos, und sein versteinertes Gesicht, das für einen Siebzehnjährigen viel zu alt wirkt. Ich kann mich noch daran erinnern, wie er ausgesehen hat, als er vor zwei Tagen in dieses Zimmer gebracht wurde. Ein hübscher junger Kerl, obwohl seine Augen schon damals stumpf gewirkt hatten. Heute sind sie von dunklen Ringen umgeben. Es sieht aus, als wäre seine ergraute Haut eingefallen und Augen und Wangenknochen stechen unnatürlich hervor.

„Hast du gut geschlafen?“ Ich erwarte keine Antwort. Er hat kein einziges Wort gesprochen, seit er hier ist. Ich mache mir Sorgen um ihn. Ihn so zu sehen, bricht mir das Herz. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen. Es wird ihm nicht helfen, wenn ich ihn bemitleide. Trotzdem kann ich mich nicht davon abhalten, meine Hand auf seine zu legen, die teilnahmslos auf der Bettdecke liegt. Seine Haut ist trocken und rissig. Es überrascht mich ein wenig, dass ich Wärme spüre. Er sieht so kalt aus. Ich sage ihm nicht, dass alles wieder gut wird, denn das wäre gelogen.

„Sag Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst. Ich bin immer da.“

In der ganzen Zeit, in der er hier ist, hat ihn niemand besucht. Nur die Eltern des Mädchens haben sich nach seinem Befinden erkundigt. Dass sie im Moment jedoch nicht dazu imstande sind, sich um ihn zu kümmern, kann ich durchaus verstehen.

Jesse zuckt nicht mal mit dem kleinen Finger, aber immerhin sieht er mich an. Er sieht mich mit toten Augen an.

Dünnes Eis

Als ich die Jungs an der Bushaltestelle stehen sah, wollte ich direkt wieder umkehren, doch Tammy und Jen bemerkten mein Zögern und nahmen mich in ihre Mitte, um mich mitzuziehen. Ich hasste sie in diesem Moment. Sie hatten mir versprochen, dass nur wir drei zum Eisstadion fahren würden. Doch so wie die Typen uns fixierten und Jen ihnen euphorisch zuwinkte, war klar, dass sie sich hier verabredeten hatten. Sie waren alle älter. Natürlich, meine Schwester Tammy und ihre beste Freundin Jen waren mir ja auch zwei Jahre voraus. Ich war siebzehn, die Mädels neunzehn und ich vermutete, dass die Jungs Anfang zwanzig waren. Meine Schwester traf sich nämlich grundsätzlich nicht mit gleichaltrigen, und schon gar nicht mit jüngeren Kerlen. Eigentlich hätte ich das voraussehen müssen, so wie Tammy sich zurechtgemacht hatte. Ich meine, Jen war immer top gestylt, aber meine Schwester machte sich nur dann Mühe, wenn dabei ein Date herausspringen könnte. Und ich stand natürlich mit meinem unvorteilhaften roten Mantel da, der eher einem Sack glich, dafür aber sehr warm hielt, weil man mindesten drei Pullover darunter tragen konnte.
 

„Warum tut ihr mir das an?“ zischte ich, während sie mich weiter zur Haltestelle bugsierten.

„Komm schon, Lea, wir haben nur ein bisschen Spaß. Ist doch nichts dabei“, raunte Jen mir augenzwinkernd zu. Normalerweise fand ich es ganz nett, wenn die beiden mich auf einen ihrer Mädels-Abende mitnahmen, um mich etwas aufzumuntern und wieder unter Leute zu bringen. Aber genau das war auch das Problem. Mit den beiden verbrachte ich wirklich gerne Zeit und wir hatten auch immer ziemlich viel zu lachen, aber Fremde konnten mir gestohlen bleiben. Ich war nicht mehr das extrovertierte Mädchen, das ich einmal gewesen war und konnte ganz gut mit meinem kleinen Bekanntenkreis leben.

„Die Jungs sind wirklich schwer in Ordnung, glaub mir.“ Während Jen die drei Jungs überschwänglich umarmte, betrachtete ich sie etwas genauer. Ty, wie er sich vorstellte, war ein blonder, langhaariger Hippie- ohne hier Vorurteile zu streuen, aber so kann man sich wenigstens ein Bild von ihm machen-, der den breitesten Mund hatte, den ich jemals gesehen habe. Wenn er lächelte, erfüllte das sein ganzes Gesicht. Deshalb war er mir gleich sympathisch. Brandon wirkte auf mich wie ein extrem cooler Streber mit strahlend blauen Augen. Er war sehr groß, ohne dabei schlaksig oder unbeholfen zu wirken, wie das bei Leuten über ein Meter neunzig öfter der Fall ist. Ich wusste, dass meine Schwester total auf große Typen stand. Deshalb beobachtete ich auch verstohlen, wie sie ihn zur Begrüßung kurz umarmte. Doch auf den ersten Blick konnte ich nicht erkennen, ob da etwas im Busch war. Ich hatte ja nicht mal eine Ahnung, wie lange sie sich schon kannten.

Der Dritte im Bunde war Alex. Hier war klar, dass er genau Jens Typ war. Muskulös, bärtig und kurze Haare, aber freundliche braune Augen.

Ich hob nur die Hand zur Begrüßung und lächelte in die Runde. Die Jungs sagten höflich Hallo und begannen sofort, über die anstehende Party am Wochenende bei Ty zu berichten, während wir auf den Bus warteten.

Es störte mich maßlos, dass es genau drei Jungs waren, einer mehr oder weniger wäre angenehmer gewesen. Jetzt wirkte das wie ein dreier-Date. Nur, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, welchen der Jungs Tammy und Jen für mich vorgesehen hatten. Ich hoffte inständig, dass die zwei sich nicht irgendwann mit ihren jeweiligen Auserwählten verdrücken würden und mich peinlich berührt mit Nummer drei zurückließen. Ich hasste das. Hatten sie ernsthaft vor, mich zu verkuppeln? Krampfhaft versuchte ich, mir meine schlechte Laune nicht anmerken zu lassen und lauschte einfach dem Gespräch der fünf, das sich jetzt ausschließlich um die Planung der Party drehte.

„Schreib doch einfach auf Facebook“, schlug Brandon grinsend vor. Ty verdrehte die Augen.

„Sicher! Ich wäre ganz froh, wenn das Haus nach der Party noch stehen würde und nicht von einer Horde Wildfremder auseinandergenommen wird.“ Jen nahm ihr Handy heraus und betrachtete das Display.

„Sollte der Bus nicht schon längst da sein?“ Tammy stupste sie an.

„Hey, wieso schreibst du nicht in unsere Gruppe? Dann sehen es nur unsere Freundinnen.“ Brandon legte seinen Arm um meine Schwester.

„Gute Idee, wir können noch ein paar Mädels gebrauchen. Ty kennt nämlich keine Frauen.“ Dieser hob die Schultern und grinste breit.

„Ich habe nichts dagegen, wenn ein paar Girls reinschneien. Ich will ja, dass meine Gäste rundum gut versorgt sind.“ Alex gab ihm einen kräftigen Schubs.

„Ach komm schon. Wenn’s nach dir ginge, wäre die Party schon perfekt, wenn dieser Ezra auftaucht.“ Ty kickte zurück.

„Halt einfach die Klappe!“ Dann nahm er ihn in einen freundschaftlichen Schwitzkasten. Okay, wenn ich das richtig heraushörte, würde das hier doch kein Dreierdate werden. Ich entspannte mich ein wenig. Dann kam endlich der Bus. Wir mussten zwar nur drei Stationen fahren, aber es war so kalt und rutschig auf dem gefrorenen Boden, dass ich froh war, nicht laufen zu müssen. Meine Füße taten weh, als sie durch die Heizung im Bus wieder auftauten.
 

„Und Lea, bist du auch dabei?“ Ich war etwas verwundert, dass das Wort an mich gerichtet wurde. Bisher hatte ich mich eigentlich nicht an der Unterhaltung beteiligt, nur zugehört und provisorisch mitgelacht.

„Ähm… Ich weiß noch nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Komm, wir sind ganz brave Kerle“, versicherte mir Brandon, während Alex schallend lachte. Ich zuckte die Schultern.

„Mal sehen, vielleicht. Ich überleg’s mir.“ Ty fixierte meine Schwester und beugte sich zu ihr herüber.

„Hey, Tammy, sieh zu, dass du deine Schwester zu meiner Party mitbringst. Ich lasse euch sonst nicht rein.“ Sie sah mich an und grinste.

„Du hast ihn gehört, du hast keine Wahl.“ Ich rollte mit den Augen, grinste aber. In meinem Zwischenhirn machte sich jedoch die Frage breit, ob sie die Jungs im Vorhinein angestiftet hatten, mich einzuladen. Damit wollte ich mich aber nicht genauer befassen. Vielleicht bekam ich es heute endlich mal wieder hin, einfach nur einen schönen Tag zu haben, ohne mir den Kopf zu zerbrechen.
 

Am Eisstadion stiegen wir aus. Wir steuerten auf den Eingang zu, als die Jungs uns plötzlich zurückhielten.

„Hey, wir müssen noch kurz warten. Greg müsste jeden Augenblick kommen.“ Jen verdrehte die Augen.

„Muss das sein?“ Ich fand es noch immer erstaunlich, wie leicht es ihr fiel, zu zeigen, wenn sie jemanden nicht leiden konnte. Als allerdings bereits Musik ertönte, bevor wir das Auto sahen, das kurz darauf um die Ecke bog, schloss ich mich ihrer Meinung spontan an. Lauter Rap hallte durch die getönten Scheiben einer schwarzen Protzkarosse. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, bevor er abrupt bremste. Wo er stehen blieb, war kein gekennzeichneter Parkplatz. Ich würde mir später das Kichern verkneifen müssen, falls er einen Strafzettel bekam. Der Typ hinterm Steuer war eine Mischung aus Stiernacken und Muskelprotz. Er war älter, mindestens Ende zwanzig. Als er ausstieg, hielt er ein Sixpack in der Hand. Mit einem Grölen begrüßte er seine Freunde, wobei ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie die Jungs zu diesem Cliquenmitglied gekommen waren. Sie jubelten kurz zurück, jedoch nicht ganz so laut wie er, und liefen zum Auto. Um nicht ausgeschlossen zu sein, gingen wir mit. Um das zu präzisieren: Tammy und Jen folgten ihnen und zogen mich mit. Die Männer umarmten sich stürmisch, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Ich war relativ erstaunt, wie Greg dann aber plötzlich umschwang und uns Mädchen höflich und freudestrahlend die Hand reichte.
 

„Hallo, Ladies. Ich habe leider keinen Champagner dabei. Ich hoffe, Bier ist auch okay.“ Jen sparte sich die Antwort und nahm stattdessen das erste Bier aus dem Sixpack.

„Besser als nichts“, sagte sie etwas pikiert. Ich war mir nicht sicher, ob sie nur Spaß machte. Greg drückte Brandon das Bier in die Hand und klopfte gegen die Scheibe.

„Komm raus, Lahmarsch.“ Und an die Jungs gewandt: „Ich hab euch 'ne Überraschung mitgebracht.“ Als die Tür auf der anderen Seite aufging, sah man zunächst nur eine graue Mütze und einen hochgestellten Mantelkragen. Als der Typ sich dann jedoch umdrehte, begrüßten Ty, Alex und Brandon ihn überschwänglich. Ich fragte mich langsam, ob sie schon vor unserem Treffen etwas getrunken hatten, oder ob sie einfach sehr begeisterungsfähig waren.

„Jesse!“ Die Freude war wohl eher einseitig, denn Jesse, wie sie ihn nannten, hob nur kurz die Hand, deutete ein Grinsen an und steckte sich sofort eine Zigarette an. Hatte ich erwähnt, dass ich rauchen total überflüssig fand?

„Ich dachte, ich muss meinem kleinen Bruder mal wieder die Welt zeigen, jetzt, wo er endlich aus dem Knast raus ist!“ Ich erschrak ein wenig. Knast? Was hatte er denn angestellt? Fantasien von Massenmorden und Banküberfällen nahmen in meinem Kopf Gestalt an. Ich warf Tammy und Jen einen prüfenden Blick zu. Kannten sie Jesse? Wussten sie, was da vorgefallen war? Doch sie schienen total locker, also versuchte ich, ihrem Beispiel zu folgen und den frisch Entlassenen so wenig wie möglich anzusehen. Greg öffnete den Kofferraum und holte zwei weitere Sixpacks heraus, die er Ty in die Hand drückte. Dann holte er Schlittschuhe hervor, von denen eine ganze Menge in einem großen Haufen durcheinanderlagen. Ich fand das ein bisschen seltsam, weil man die ja normalerweise im Eisstadion leihen konnte. Und wo hatte Greg die überhaupt her?
 

„Ich hoffe, da ist für jeden was dabei. Ihr Mädels habt ja bestimmt eh alle dieselbe Schuhgröße, oder?“ Er drückte uns allen eine achtunddreißig in die Hand. Für mich passte das perfekt, Tammy hatte neununddreißig, also würde das auch gehen, nur Jen meckerte herum, dass sie mit vierzig da nicht reinpassen würde.

„Dann spielen wir ein bisschen Cinderella und hacken dir die Fersen ab.“ Greg hob verschwörerisch die Augenbrauen und grinste breit.

„Es wird schon gehen“, entgegnete Jen schnell. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob er es ernst meinte, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er nur scherzte.

„Let’s go!“ Greg steuerte in die entgegengesetzte Richtung des Eislaufstadions.

„Wollten wir nicht Schlittschuhlaufen?“, fragte Tammy und hielt ihre Schuhe demonstrativ hoch.

„Schätzchen, genau neben dem Stadion ist ein See. Und da ist Schlittschuhlaufen kostenlos.“ So wie Gregs Auto aussah, hatte er bestimmt keine Geldprobleme, aber mir war es eigentlich ganz recht, dass nicht so viele Leute zusehen konnten, wie ich mich auf dem Eis zum Affen machte.

„Und keine Sorge, das Eis ist so dick, dass es hundertprozentig einbruchsicher ist“, beruhigte uns Alex, der seinen Arm um Jens Schulter legte und mit sich zog. Tammy und ich bildeten das Schlusslicht, wobei ich sie extra ein bisschen zurückhielt und Jesse einen kurzen Blick zuwarf, der seine an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Schlittschuhe über die Schulter geworfen hatte und gerade an seiner Zigarette zog.

„Hey, Tammy. Was war das mit dem Knast?“ Sie sah mich kurz verwirrt an, schüttelte dann jedoch grinsend den Kopf.

„Mit Knast meint Greg das Internat, auf dem Jesse war. Er hat gerade seinen Abschluss gemacht.“ Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen.

„Ach so.“ Tammy lachte lauthals, was die anderen zu uns zurückblicken ließ. Aber Jesse konnte ich trotzdem nicht in die Augen sehen.
 

Am Ufer des Sees setzten wir uns auf zwei Bänke und wechselten die Schuhe. Ich hatte immer noch Bedenken, dass das Eis nicht halten könnte. Jen und Tammy schienen ähnliche Sorgen zu haben, denn sie taten nicht mehr als zwei Schritte auf das Eis.

„Hey, Angsthäschen, seht mal her.“ Greg hüpfte auf der rutschigen Oberfläche herum, um uns zu demonstrieren, wie fest das Eis war. Die Jungs fackelten nicht lange herum und folgten seinem Beispiel, nur Jesse blieb auf der Bank sitzen, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und rauchte weiter. Als er meinen Blick auffing, sah er mich prüfend an, verengte die Augen zu Schlitzen und warf dann seine Zigarette weg und betrat ebenfalls das Eis.

Ich merkte, wie meine Ohren heiß wurden, die glücklicherweise unter meinen Haaren versteckt waren. Das war kein freundlicher Blick gewesen. Um nicht nur blöd herumzustehen, tat ich so, als müsste ich meine Schuhe nochmal binden. Ich war die Letzte, die aufs Eis ging, die anderen waren schon in voller Fahrt. Ich war mir ziemlich sicher, dass Alex und Greg Eishockey spielten – oder zumindest früher mal gespielt hatten. Sie bewegten sich sehr sicher auf dem Eis, nahmen schnell Fahrt auf und bremsten abrupt ab. Ty und Brandon machten eher Blödsinn und versuchten, sich gegenseitig umzuschubsen. Jen versuchte sich an ein paar Pirouetten, was aber eher peinlich aussah. Und Tammy versuchte, in Brandons Nähe zu gelangen.
 

Ich setzte erst mal einen Fuß vor den anderen, um zu sehen, ob ich überhaupt das Gleichgewicht halten konnte. Als Kind war ich gerne Schlittschuh gelaufen, aber das war schon lange her. Ich stolperte zunächst langsam am Ufer entlang, um den anderen nicht in die Quere zu kommen. Tammy und Jen hatten sich an Tys Schultern geheftet und er versuchte, sie zu ziehen. Meine Schwester bedeutete mir, ihnen Gesellschaft zu leisten.

„Ich komme gleich“, winkte ich ab und achtete darauf, immer genug Abstand zu allen zu haben, damit ich auch ja nicht gerammt wurde. Ich hatte keine Lust, auf den harten Boden zu fallen. Ich hatte mal gesehen, wie sich ein Kind die Zähne auf dem Eis abgeschlagen hatte. Das war nicht gerade lustig gewesen. Am liebsten hätte ich Schoner getragen. Doch mit der Zeit wurde ich etwas mutiger und fuhr ein bisschen schneller – im Vergleich zu den anderen immer noch im Schneckentempo. Gerade als ich zu ihnen hinüberblickte, sah ich, wie Jesse auf mich zugeschossen kam. Ich war aus Versehen in seine Bahn geraten. Nur leider hatte ich vergessen, das Bremsen zu üben. Ich versuchte, die Richtung zu ändern, aber Jesse hielt immer noch direkt auf mich zu. Machte er das absichtlich? Ich geriet ins Schlingern und wäre beinahe nach hinten gekippt, konnte mich aber gerade noch fangen, als er genau vor mir eine scharfe Bremsung einlegte und mich trotzdem – ich vermutete, mit Absicht – rammte. Ich spürte, wie mir meine Füße unter dem Körper wegrutschten, und die einzige Möglichkeit, nicht mit voller Wucht auf das Eis zu knallen, war, mich an Jesse festzuhalten. Ich klammerte mich also mit meiner Rechten an seinen Arm und mit meiner Linken an seinen Kragen, was aussehen musste wie eine misslungene Umarmung. Ich war ihm so nahe, dass ich seinen nach Rauch riechenden Atem in meine Nase bekam. Für einen Moment verlor ich mich in seinen hellen grünen Augen, doch als sich ein spöttisches Grinsen auf seine Lippen schlich, machte ich mich sofort von ihm los und schubste ihn weg.
 

„Bist du total bescheuert?“, schrie ich ihn an. Natürlich, es war nichts passiert und er hatte mich aufgefangen, aber er hatte das mit voller Absicht gemacht, und darüber konnte ich nicht lachen.

„Lea, alles in Ordnung?“ Tammy sah besorgt herüber. Da kam gleich wieder die große Schwester in ihr heraus. Ich strich mir über meine Jacke, als wollte ich Jesses Berührung wegwischen, und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

„Jesse“, hörte ich Gregs warnende Stimme. Jesse hob beschwichtigend die Hände.

„Bleibt mal locker. Alles gut.“ Mit einer flüssigen Bewegung fuhr er hinter mich. „Oder etwa nicht?“, flüsterte er, wobei seine Lippen mein Haar dicht an meinem Ohr streiften. Bevor ich mich zu ihm umdrehen konnte, um ihn erneut anzuschreien, hatte er schon Fahrt aufgenommen und war wieder zu den anderen gefahren. Tammy kam zu mir herüber und sah mich fragend an, doch ich schüttelte nur stumm den Kopf, obwohl ich vor Wut kochte. Was erlaubte sich der Typ eigentlich?
 

Der Rest des Abends verlief glücklicherweise ohne weitere Zwischenfälle. Die Jungs wollten danach noch etwas trinken gehen, doch Tammy und Jen merkten, dass sie mir für heute genug zugemutet hatten. Wir verabschiedeten uns von den anderen und Greg fuhr uns nach Hause. Auch wenn er das Bier mitgebracht hatte, hatte er nichts davon angerührt. Er entschuldigte sich für seinen Bruder, doch ich tat es als Nichtigkeit ab.

„Nicht der Rede wert“, sagte ich. „Ist ja nichts passiert.“ Ich wollte Greg, der eigentlich ein echt netter Kerl war, wenn man ihn erst mal etwas näher kannte, nicht vor den Kopf stoßen und ihm sagen, was für ein Idiot sein Bruder eigentlich war.

„Jesse spielt gerne. Du darfst das nicht zu ernst nehmen.“ Ich nickte, denn ich hatte bereits beschlossen, diesen Vorfall so schnell wie möglich zu vergessen. Doch obwohl ich mir große Mühe gab, verfolgten mich Jesses Augen und sein Atem bis in meine Träume.

Menschenkenntnis und Gesangstalente

Am nächsten Morgen war ich folglich ziemlich schlecht gelaunt, und als meine Mom wissen wollte, was los war, verkündete ich gereizt, es ginge mir blendend und ignorierte den Blick, den Tammy mir zuwarf. Erst im Schulbus hielt sie es nicht mehr aus – eine erstaunlich lange Zeit für meine Schwester – und fragte mich, ob wirklich alles okay sei.

„Ich habe einfach schlecht geschlafen, das ist alles“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

„Aber gestern war’s doch lustig, oder? Die Jungs sind in Ordnung.“ Sie klang etwas nervös. Wollte sie mich etwa verkuppeln? Ich erlaubte mir einen kleinen Scherz.

„Ja, ganz nett.“ Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als würde ich über etwas nachdenken. „Vor allem dieser Ty war total cool. Er sieht echt gut aus. Ich hätte nie gedacht, dass ich auf Surferboys stehe…“ Ich blickte aus dem Fenster, damit Tammy nicht sah, wie ich mir das Grinsen verkneifen musste.

„Du, Lea, du solltest vielleicht was wissen über Ty, bevor du dich da in was reinsteigerst.“ Doch ich hatte bereits das Interesse an meinem Spiel verloren.

„Mach dir nicht in die Hose. Ich hab schon mitgekriegt, dass Ty nicht auf Mädchen steht. Und du musst nicht extra nett zu mir sein - von mir aus gehen wir auf diese Party.“
 

Freitag und Samstag bearbeiteten Tammy und ihre beste Freundin mich abwechselnd, um auch ganz sicher zu gehen, dass ich zur Party erschien. Ty würde sie bestimmt trotzdem hineinlassen, auch wenn sie mich nicht mitbrachten. Ich ging davon aus, dass es den Jungs eigentlich herzlich egal war, ob ich aufkreuzte, aber die beiden ließen nicht locker. Ihr Drang, mich unter Leute zu bringen, wurde langsam krankhaft. Vielleicht sollten sich die beiden lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Als ich das laut äußerte, rollte Jen mit den Augen und ließ sich neben mir aufs Bett fallen.

„Hab dich nicht so, Lea. Die Jungs waren doch echt ganz okay, das musst du zugeben.“ Die Frage, ob Jesse auch da sein würde, verkniff ich mir hartnäckig, da ich nicht wollte, dass die Mädels dachten, der Crash auf dem Eis hätte mir doch etwas ausgemacht. Womöglich erzählten sie Jesse noch davon und zwangen ihn, sich bei mir zu entschuldigen. Ich sah schon sein süffisantes Grinsen, weil es ihn erfreute, dass ich meine Schwester vorschickte, um ihn zur Rede zu stellen. Nein danke, darauf konnte ich gut verzichten. Er sollte nur nicht glauben, ich hätte auch nur einen weiteren Gedanken an ihn verschwendet.

„Von mir aus“, gab ich schließlich auf und wurde dafür mit Umarmungen und Küssen überhäuft.
 

„Nein, so kannst du unmöglich gehen!“ Jen hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schüttelte entschieden den Kopf. Ich sah an mir herunter, fand aber nichts auszusetzen an meiner Jeans und dem grauen T-Shirt.

„Rauf mit dir, sofort!“ Sie scheuchte mich die Treppe hinauf, Tammy im Schlepptau. Als ich in mein Zimmer abbiegen wollte, nahm sie meine Hand und führte mich stattdessen eine Tür weiter, in Tammys.

„A-ah. Hier rein.“ Sie öffnete den Kleiderschrank, der etwa doppelt so groß war wie meiner.

„Wir könnten was mit deinen Haaren anstellen“, schlug meine Schwester vor. Das hatte sie vorhin schon mal erfolglos versucht, doch jetzt waren sie in der Überzahl und ich überstimmt.

„Such mal das kleine Schwarze, das du letztes Jahr am Sommerfest getragen hast“, forderte Jen Tammy auf. Sie hatte es eigentlich wegschmeißen wollen, weil sie nicht mehr reinpasste, hatte aber immer wieder betont, dass ich es ja irgendwann mal brauchen könnte. Hätte sie es doch bloß in die Altkleidersammlung gegeben. Während Tammy ihren Kleiderschrank auf den Kopf stellte, zückte Jen Wimperntusche und Kajal und vergriff sich an meinen Augen. Dann öffnete sie meinen Zopf, sodass mir die langen dunkelbraunen Strähnen über die Schultern fielen.

„Da ist es“, rief Tammy triumphierend und bewahrte mich somit vor einer völlig übertriebenen Frisur. Rasch erhob ich mich und schnappte mir den schwarzen Fetzen. Im Bad starrte ich ein paar Sekunden lang in den Spiegel und zerrte an dem V-Ausschnitt, der mir definitiv zu viel Haut zeigte. Außerdem füllte ich es an den entscheidenden Stellen nicht ganz aus. Aber da ich die Hoffnung, mich in diesen Klamotten heute noch wohlzufühlen, schnell aufgegeben hatte, präsentierte ich mich schließlich den Mädels, die erfreut in die Hände klatschten, und wurde von einem Autohupen erlöst. Das war Ned, Jens Bruder. Er hatte noch schnell Bier an der Tankstelle geholt, als Mitbringsel sozusagen.

„Los geht’s.“ Jen sprang die Treppen hinunter, Tammy meldete uns bei Dad ab und ich rannte noch schnell in mein Zimmer, um einen Haargummi über mein Handgelenk zu streifen und einen Schal zu holen, den ich in meine Tasche steckte. Sobald ich mich von Jen und Tammy abgeseilt hatte, könnte ich wieder ein wenig mehr wie ich selbst aussehen.

„Seid anständig“, rief Dad uns noch nach. Ich war froh, dass er nicht vom Sofa aufstand und mein Outfit somit unbemerkt blieb.
 

„Hey, Mädels, bereit für die Party?“, begrüßte uns Ned, als wir in sein Auto stiegen. „Lea, verschärftes Outfit.“ Er zwinkerte mir aufmunternd zu. Jen und Tammy waren eindeutig besser gestylt als ich, aber Ned fiel meine Veränderung auf, weil ich normalerweise nie so außer Haus ging. Ich versagte kläglich bei dem Versuch, mir ein Lächeln abzuringen.

Rund um Tys Haus standen schon etliche Autos, die Musik hallte bis auf die Straße. Die Party war also schon in vollem Gang. Die Jungs waren nett und unkompliziert, versuchten nicht verkrampft, mich in ein Gespräch zu verwickeln, schlossen mich aber auch nicht aus. Da tat ich mir mit Tammys Freundinnen schon schwerer. Sie sahen mich immer an, als wäre ich ein verletztes Reh und redeten mit mir, als wäre ich ein Kleinkind. Bei den Mädels bemühte ich mich nicht, höflich zu bleiben oder Interesse vorzuheucheln. Meistens, wenn es mir zu blöd wurde, ließ ich sie mitten im Satz ohne ein Wort der Entschuldigung stehen und suchte schnellstmöglich das Weite. Kein Wunder, dass sie mich für einen Freak hielten. Mir sollte es nur recht sein, dann hatte ich wenigstens meine Ruhe.
 

Nachdem ich mich von meiner Schwester loseisen konnte, verdrückte ich mich nach oben, um ein wenig Ruhe zu haben und sah mich ein wenig um. Ich klopfte anstandshalber an jede Tür, bevor ich sie öffnete, doch ich war wohl die Einzige, die es in den oberen Stock gezogen hatte. Das einzige Zimmer, hinter dem ich nicht sofort wieder die Tür schloss, musste Tys Reich sein. Es sah sehr teeniemäßig aus, vollgepflastert mit Bildern von Autos, Footballmannschaften, Bands und Filmpostern. Es hatte allerdings auch Stil, weil alles in schwarz-weiß gedruckt war. Ich sah kurz über die Schulter und lauschte, ob sich jemand nach hier oben verirrt hatte. Ich wollte nicht wie ein Stalker wirken. Doch es war nur die Musik und Gelächter von unten zu hören. Ich mochte die Musik, die Ty aufgelegt hatte, und durchstöberte deshalb sein CD-Regal. Es hatte jedoch nicht viel zu bieten. Wahrscheinlich hatte er seine ganze Sammlung auf dem Computer. Ich betrachtete die Fotos. Die Jungs waren darauf zu sehen, Ty und seine Familie, immer wieder eine Katze, meistens zusammen mit Ty abgelichtet. Brandon und drei andere Kerle, die ich nicht kannte, mit Instrumenten bewaffnet. Die Bands, die er verewigt hatte, kannte ich nicht. Bald verlor ich das Interesse und wurde von einem Knall erschreckt. Mein Herz machte einen kurzen Satz. Machte da jemand nur Blödsinn oder war in der Nähe ein Feuerwerk? Ich öffnete die Balkontür, eigentlich eher ein kleiner Verschlag, auf dem gerade so zwei Stühle Platz hatten, und sah nach oben. Gerade erhellte ein Feuerwerkskörper den Himmel. Da alberte nur irgendwer im Garten herum. Ich suchte das Gelände nach dem Übeltäter ab, doch es gab keine Zugabe.
 

Stattdessen erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit. An einem kleinen verfallenen Gartenhüttchen stritten zwei Personen. Anscheinend ein Pärchen. Das Mädchen gestikulierte wild mit den Armen und schrie ihren Freund an. Den schien das jedoch nicht sonderlich zu jucken. Er warf hin und wieder einen Blick Richtung Haus, so, als überlegte er, sie einfach stehenzulassen und zur Party zurückzukehren. Sie schubste ihn, um seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, da packte er ihre Arme und drängte sie gegen die Hütte. Ich befürchtete schon, der kleine Holzschuppen würde gleich einstürzen, doch noch viel mehr Angst hatte ich davor, dass er sie schlagen würde. Mit meiner Menschenkenntnis war es jedoch nicht so weit her, denn er tat das genaue Gegenteil und presste seine Lippen auf ihre. Das hatte ich nicht erwartet. Sie anscheinend auch nicht, denn sie machte sich empört von ihm los und verpasste ihm eine Ohrfeige.

Geschieht ihm ganz recht, dachte ich, ohne die eigentliche Vorgeschichte der beiden zu kennen. Er gab sich jedoch nicht geschlagen und küsste sie erneut. Dieses Mal wehrte sie sich nicht. Sie hatte es sich wohl schnell anders überlegt und vergaß ihren Ärger augenblicklich, denn schon schlang sie ihre Arme um ihn. Die Szene war nicht mehr ganz so jugendfrei, als er seine Hand unter ihr Top gleiten ließ, doch ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Ich fragte mich, ob sie nicht froren, bei den eisigen Temperaturen draußen. Doch wahrscheinlich waren sie zu betrunken und zu beschäftigt, um es zu merken. Im nächsten Moment erschraken wir alle drei, denn erneut blitzte eine Rakete, begleitet von einem lauten Krachen, in den Himmel. Jetzt konnte ich ihre Gesichter erkennen – und erstarrte. Es war Jesse. Und er sah direkt zu mir herauf.
 

Sofort verließ ich den Balkon und rannte aus Tys Zimmer. Hatte Jesse mich erkannt? Egal, ich hatte irgendwie das Gefühl, dass er sich gerade auf dem Weg zurück ins Haus befand, um herauszufinden, wer sie da beobachtet hatte. Ich wollte ihm auf keinen Fall über den Weg laufen, deshalb drängte ich mich durch die Leute und rannte auf die Straße, ohne stehenzubleiben oder mich umzudrehen. Erst ein paar Häuser weiter erlaubte ich es mir, zu Atem zu kommen. Plötzlich kam ich mir dumm vor. Wahrscheinlich stand Jesse noch immer mit diesem Mädchen draußen im Garten und tat lieber nicht jugendfreie Dinge, anstatt mir hinterherzulaufen. Zur Party zurückkehren wollte ich allerdings nicht mehr. Ich rief meine Schwester an, um ihr zu sagen, dass ich mich nicht wohlfühlte und ein Taxi nach Hause genommen hatte. Bevor sie groß nachhaken konnte, was los war, legte ich auf.
 

Brandon lud uns ein paar Wochen später zu einer Bandprobe ein, weil sie einen neuen Sänger suchten.

„Je größer die Jury, umso besser.“ Ich hatte zwar keine Ahnung von so etwas, aber den Gedanken, möglicherweise dabei zu sein, wenn die neuen Beatles sich formierten, fand ich ziemlich cool. Leider waren die Kandidaten nicht sehr beeindruckend. Anscheinend gab es in unserer Gegend akuten Bandmangel, denn mehr als zwanzig Anwärter – sowohl männliche als auch weibliche – lungerten vor der Garage herum. Tammy hatte an diesem Nachmittag leider einen wichtigen Test, deshalb ging ich mit Jen hin. Wir machten es uns auf alten Autoreifen gemütlich und begannen das Casting. Tatsächlich musste sich jeder kurz vorstellen. Name, Alter, Banderfahrung, Lieblingsinterpret und so weiter. Zwei oder drei waren ganz gut und Brandon ließ sich die Nummer der Jungs geben. Übrigens auch von einem Mädchen, aber nur, weil sie so hübsch war.
 

Wir hatten Sandwiches gemacht, die wir großzügig an die Band und ihre Anwärter verteilten. Die Songs, die sie spielten, kannte ich sogar teilweise. Sie coverten Coldplay, Imagine Dragons, Bastille, aber auch einige, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Ich trank bereits mein zweites Wasser, als ein bekanntes Motorengeräusch ertönte. An Jens Reaktion sah ich, dass ich Recht hatte. Das musste Greg sein. Dass seine Boxen nicht die getönten Scheiben seines Autos sprengten, war mir ein Rätsel. Jen rollte genervt mit den Augen. Ich konnte mir nicht erklären, wieso sie so eine Abneigung gegen ihn empfand. Leider hatte er auch seinen Bruder mitgebracht. Ich versank tiefer in meinem Autoreifen, nahm einen Schluck aus meiner Flasche und tat so, als wäre ich unglaublich damit beschäftigt, den Salat aus meinem Sandwich zu puhlen. Dabei mochte ich Salat eigentlich.

„Ich habe gehört, ihr braucht Verstärkung!“ Greg hob zwei Sixpacks in die Höhe und ich fragte mich, ob er wohl immer welche dabei hatte.

„Hast du etwa vor, dich zu bewerben?“, scherzte Ty, worauf Greg in brummiges Lachen verfiel.

„Nicht mal im Traum. Nein, ich dachte, vier Ohren mehr könnten nicht schaden.“ Brandon verzog das Gesicht.

„Leider haben wir heute mehr engagierte Jurymitglieder als Talente gesehen, aber ihr seid trotzdem herzlich willkommen. Und jetzt her mit dem Bier.“ Die Band legte eine kurze Pause ein und gönnte sich ein Kühles. Ich nahm anstandsweise auch eines entgegen, stellte es jedoch neben mir ab und nippte weiter an meinem Wasser. Ich entspannte mich ein wenig, da Jesse mich nicht beachtete. Bestimmt erkannte er mich nicht. Auf der Party war ich zu aufgetakelt gewesen, außerdem war es schon drei Wochen her. Und die Sache auf dem Eis hatte er wahrscheinlich schon längst vergessen. Ich leider nicht, denn ich wurde immer noch wütend. Doch da ich ihn gestalkt hatte, beschloss ich, dass ich nicht mehr das Recht besaß, sauer auf ihn zu sein und befand uns als quitt.
 

Die nächsten Kandidaten waren leider auch nicht vielversprechender, als die meisten anderen.

„Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus“, meinte Ezra frustriert. Ja, der Ezra, den Alex im Bus erwähnt hatte. Ich sah unauffällig zwischen ihm und Ty hin und her. Wusste der Drummer, dass Ty auf ihn stand? Ich versuchte zu erkennen, ob er an Männern interessiert sein könnte, doch es war mir unmöglich, festzustellen, ob Ty eine Chance hatte. Ich mochte ihn sehr gern, deshalb wünschte ich es ihm, aber Ty schien nicht der Typ zu sein, der in die ganze Welt hinausposaunte, dass er nur am eigenen Geschlecht interessiert war. Wenn das überhaupt stimmte. Vielleicht war er ja auch bi. Mir wurde plötzlich klar, wie wenig ich eigentlich über alle hier in der Garage wusste. Das stimmte mich melancholisch, doch glücklicherweise wurde die Pause in diesem Moment beendet, das Tor wurde wieder geöffnet und der nächste Kandidat hereingebeten. Ich hörte schon gar nicht mehr richtig zu, wenn sie sich vorstellten.

„Und warum willst du in unsere Band?“, stellte Brandon seine Standardfrage.

„Ist doch klar. Ich will Chicks aufreißen!“, erwiderte er mit breitem Grinsen.

„Nächster!“, rief Jen verächtlich.

„Lasst ihn erst mal singen.“

Er stellte sich breitbeinig hinters Mikro und zwinkerte Jen und mir zu. Jen lachte, nicht weil er ihr gefiel, sondern weil er sich so lächerlich aufführte. Zu viel Selbstsicherheit war dann eben doch nicht mehr sexy.

„Also zeig mal, was du kannst“, forderte Ezra und fragte ihn, welchen Song er singen wollte. Er machte seltsame Atemgeräusche zwischen den Lyrics und vollführte Bewegungen, die er sich bei irgendwelchen Boybands abgeschaut haben musste. Sie waren eher ab- als anturnend. Nach dem ersten Refrain streikte plötzlich das Mikro.
 

„Hey, was ist los?“, fragte der Typ, dessen Namen ich mir nicht gemerkt hatte.

„Raus hier“, erklang von hinten Jesses Stimme. Ich hatte schon fast vergessen, wie er sich anhörte. Wieso achtete ich überhaupt darauf? Er hielt den Stecker des Kabels in der Hand und schwang ihn lässig in der Luft.

„Du gehörst nicht zur Band, oder? Also hast du gar nichts zu sagen.“ Giftig starrte der Möchtegern-Sänger Jesse an, der sich davon jedoch nicht beeindrucken ließ.

„Du wurdest angehört und für nicht gut befunden“, mischte Jen sich ein. Jesse steckte sich den kleinen Finger ins Ohr, so als hätte er Wasser hineinbekommen.

„Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Der Augenkrebs wegen deinen peinlichen Ballettsprüngen, oder die Mittelohrentzündung, die ich mir wegen dir eingefangen habe.“ Jesse war ein Idiot, aber solange er das zu einer Person war, die ich nicht mochte, hatte ich nichts dagegen. Eingeschnappt verschränkte der Bewerber die Arme vor der Brust - noch so eine unmännliche Geste - und nickte Richtung Mikro.

„Dann mach’s doch besser“, sagte er herausfordernd. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Jesse sich auf solche Spielchen nicht einließ, und er schien lange zu überlegen, ob er sich die Blöße geben sollte, doch dann lächelte er sein schiefes Lächeln und steckte den Stecker wieder an seinen Platz.

„Na dann zeig mal, was du drauf hast“, neckte Greg seinen Bruder, der ihm darauf den Mittelfinger zeigte, an dem ein großer schwarzer Ring steckte. Jetzt, wo er direkt vor mir stand, hielt ich es für ungefährlich, ihn genauer zu mustern. Seine langen lockigen Haare, die ihm fast bis auf die Schultern fielen, steckten wieder unter einer Strickmütze und er trug einen grauen Pullover, der schon ziemlich abgetragen wirkte. Seine Jeans waren im Vergleich dazu ziemlich eng. Ich versuchte, nicht darauf zu starren und konzentrierte mich lieber auf die Armbänder, die er trug. Er schien absolut nicht auf sein Erscheinungsbild zu achten, mischte Stile, die nicht zusammenpassten, und trotzdem gefiel es mir irgendwie. Wahrscheinlich gerade deshalb. Seit das mit Natalie passiert war, hatte ich eine Abneigung gegen perfekt gestylte Leute entwickelt.
 

Natalie war meine beste Freundin. Zumindest glaubte ich das. Seit Monaten hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Das lag nicht an mir. Aber sie beantwortete meine Briefe einfach nicht. Vielleicht durfte sie auch keine Post bekommen, dort, wo sie war. Ich möchte es nicht Therapieanstalt oder Klinik nennen, aber ein anderes Wort fällt mir nicht ein.

Alles fing damit an, dass sie einen Typen kennenlernte, in den sie sich Hals über Kopf verliebte. Sein Name war Sven. Er war einige Jahre älter als Natalie, trotzdem schien er an ihr interessiert zu sein. Ich verstand nie, was sie an ihm so toll fand. Doch wahrscheinlich reichte es ihr, von ihm beachtet zu werden. Wir spielten eigentlich nicht in seiner Liga und allein die Tatsache, dass er Natalie in sein Leben ließ, machte all seine Fehler für sie unsichtbar. Mit der Zeit distanzierte meine beste Freundin sich immer mehr von mir und hing nur noch mit Sven ab. Es war kein Platz mehr für mich. Dabei hatten wir so gut wie jeden Tag miteinander verbracht - doch etwas hatte sich verändert. Ich kann sie noch genau vor mir sehen, wie sie vor dem Spiegel stand, ihr Makeup betrachtete, das sie neuerdings trug, und an ihrem Kleid zupfte. Sie achtete jetzt mehr auf ihr Äußeres. Während ich noch Probleme damit hatte, meine Weiblichkeit zur Schau zu stellen, pushte Natalie, wo es nur ging. Und sie trug massenhaft Schmuck.
 

„Kiss with a fist“, verlangte Jesse von der Band und riss mich mit seiner Stimme aus meinen Gedanken. Ich musste mich zwingen, nicht weiterhin auf seine Armbänder zu starren, die mich so sehr an den Schmuck erinnerten, den Natalie so gerne getragen hatte. Ich räusperte mich, um meine fünf Sinne zusammenzukriegen und die Tränen aus meinen Augen zu vertreiben. Diese Tagträumereien waren keine Seltenheit. Immer wieder schweifte ich ab und verlor mich in Erinnerungen. Manchmal war das so extrem, dass ich nicht mehr ansprechbar war. Ich wollte nicht, dass mir das hier passierte, deshalb verbannte ich Natalie für den Moment aus meinem Kopf. Die Jungs nickten. Sie kannten den Song. Es war eine rockige Nummer. Und als Jesse schrill ins Mikro schrie, lachten wir alle amüsiert, da wir dachten, dass er Mr. Idiotenkandidat nur veräppeln wollte, doch kurz darauf begann die erste Strophe und schnell verstummten alle. Gleich vom ersten Ton an war klar, dass Jesse das Beste war, was wir heute gehört hatten. Seine Stimme war klar und voll, wurde aber auch kratzig, wenn er es wollte. Das Rauchen trug wohl seinen Teil dazu bei. Im Refrain packte er das Mikro und bewegte sich auf seinen Herausforderer zu und drängte ihn aus der Garage. Weil er wohl gerne seinen Ring zur Schau stellte, zeigte er dem eingeschnappten, aber auch beeindruckten Kandidaten seinen Lieblingsfinger und verneigte sich spöttisch vor ihm.

„So reißt man Chicks auf“, beendete er seine Vorstellung und schnappte sich ein Bier. Boyband-Ballerina war innerhalb weniger Sekunden verschwunden, begleitet von unserem Gelächter. Erst nach zwei Schlucken – in denen ich seinen Kehlkopf bewunderte – fiel Jesse auf, dass ihn alle anstarrten.
 

„Eingestellt“, rief Ty begeistert, doch Jesse verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf, als wäre es völlig abwegig, was Ty da von sich gab.

„Du musst bei uns anfangen“, forderte auch Brandon begeistert.

„Du bist ein verdammtes Genie!“ Doch Jesse packte seine Jacke, warf sie sich über die Schulter und schüttelte erneut den Kopf.

„Vergesst es.“

In diesem Moment überlegte ich zum ersten Mal, ob ich ihm ein Gedicht á la Zehn Dinge, die ich an dir hasse widmen sollte.

Ein Mädchen namens Natalie

Am Sonntag ging ich wie üblich ins Tierheim. Einerseits, um meiner Tierliebe Ausdruck zu verleihen, andererseits, weil ich mit Vierbeinern viel besser konnte als mit Zweibeinern. Nur wenige Wochen nach Natalies Abwesenheit hatte ich mich dort erkundigt, ob sie freiwillige Helfer benötigten. Ich musste irgendetwas mit meiner Zeit anfangen. Zeit, die ich früher mit Natalie verbracht hatte.
 

Damals, als meine Freundin mich mehr oder weniger weggeworfen hatte und ich nicht mehr wusste, was ich mit mir anfangen sollte, hatte ich begonnen zu schreiben. Über alles und jeden. Der Moment, in dem ich letztendlich merkte, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte, war, als ich meine Geschichten an Natalie weitergab und sie sie einfach mit dem Kommentar weglegte, sie würde sie später lesen. Ich schluckte die Enttäuschung hinunter und hörte mir wie so oft ihre Geschichten über Sven an. Wie toll er war und dass sie sich nicht gut genug für ihn fühlte, nicht hübsch genug. Sie hatte abgenommen und achtete jetzt mehr auf ihre Ernährung.

„Wenn er dich liebt, ist es ihm egal, wie du aussiehst“, hatte ich altklug gesagt, ungeachtet meiner mangelnden Erfahrung. Obwohl sie mich in letzter Zeit nicht gerade gut behandelte, wollte ich ihr klarmachen, dass sie sich für niemanden ändern musste. Sie kicherte seltsam – das hatte sie sich an seiner Seite angewöhnt – und nickte nur, um mich zu beruhigen. Ich wusste genau, dass sie mir eigentlich gar nicht richtig zuhörte. Langsam bekam ich Angst vor dem Augenblick, wenn Sven aus ihrem Leben verschwinden würde. Denn auch wenn sie es für Seelenverwandschaft hielt, war mir durchaus bewusst, dass Sven vor allem Natalies Bereitschaft liebte, zu springen, wenn er es von ihr verlangte. Junge Mädels, die einen anhimmeln, hatten bestimmt ihren Charme.

Aber niemand sah, dass ich diejenige sein würde, die später die Scherben aufsammeln musste, wenn es soweit war.
 

„Was für eine Frage! Wir können immer eine helfende Hand gebrauchen“, hatte Martha, die Leiterin des Tierheims, ins Telefon gejubelt. Inzwischen war ich fester Bestandteil des Teams. Niemand dort war auch nur ansatzweise in meinem Alter, wahrscheinlich kam ich deshalb so gut mit allen zurecht. Anfangs hatte ich mich strikt dagegen gewehrt, eine Bezahlung entgegenzunehmen, doch Martha versicherte mir, dass sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte, wenn ich umsonst so viel Zeit in ihr Lebensprojekt investierte. Zwar musste das Tierheim Kleine Insel sparen, wo es nur konnte, andererseits waren Martha und ihre Mitarbeiter nicht nur den Tieren gegenüber herzensgut. Ich war das Mädchen für alles. Ich fütterte, putzte, schmuste und ging Gassi. Vor allem jedoch widmete ich meine Zeit den Tieren, die sonst nicht beachtet wurden. Die Interessenten wollten keine versehrten, alten oder schwierigen Tiere. Das waren meine Schätze, meine Lieblinge, die schwer Vermittelbaren.

So wie Pearl zum Beispiel, eine circa dreijährige kleine Mischlingshündin aus Spanien, der das linke Vorderbein fehlte; wahrscheinlich wurde sie vor langer Zeit von einem Auto angefahren. Als sie vor zwei Wochen bei uns eingetroffen war, war sie völlig kraftlos und verängstigt gewesen. Sie kannte keine Menschen, kein normales Hundefutter, keine verschlossenen Türen. Nur mit viel Geduld und Mühe war es mir gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich war nun ihre Bezugsperson. Anfangs war ich jeden Tag direkt nach der Schule bei ihr, damit sie sich an mich gewöhnen konnte. Ich saß dann stundenlang bei ihr im Zwinger, bis sie am dritten Tag schließlich an mir schnupperte und wenig später ihren Kopf auf meinen Schoß legte. Ich machte nicht den Fehler, sie sofort zu streicheln, denn das kannte sie nicht. Stattdessen ließ ich sie erst einmal an meiner Hand schnuppern. Mittlerweile kam sie schwanzwedelnd an die Tür gelaufen, wenn sie mich kommen sah.
 

„Morgen, Martha“, begrüßte ich die Besitzerin wie jeden Sonntag und stellte ihr einen Kaffee auf den Schreibtisch, auf dem sich der Papierkram türmte. Sie war zwar sehr engagiert, was ihre Schützlinge anging, doch mit Verwaltung hatte sie nicht besonders viel am Hut. Sie warf mir einen dankbaren Blick zu und wünschte mir einen wunderschönen Guten Morgen. Ich warf Jacke und Tasche in ihre angestammte Ecke.

„Wie geht’s ihr heute?“ Unser spanisches Mädchen war zurzeit unser Gesprächsthema Nummer eins.

„Macht sich ganz gut.“ Sie drehte ihren Stuhl zu mir um und erhob sich.

„Wir haben einen Neuzugang. Deutscher-Doggen-Rüde. Ein ganz schöner Tollpatsch. Willst du ihn sehen?“ Es versetzte mir einen kleinen Stich, denn Natalies Familie besaß ebenfalls ein solches Tier. Doch ich schluckte das flaue Gefühl hinunter und nickte stattdessen. Martha ging voraus und brachte mich zur Quarantänestation, wo alle Neulinge untergebracht wurden, bis der Tierarzt bestätigte, dass sie gesund waren.

„Das ist ein Gerät, sage ich dir. Und Eier so groß wie Tennisbälle.“ Sie formte eine Faust, um die Größe zu demonstrieren, was mich zum Lachen brachte. Bei solchen Themen nahm sie wirklich kein Blatt vor den Mund. Wir betraten Box Drei der Quarantänestation und sofort ertönte freudiges Bellen des schwarz-weißen Riese, der schwanzwedelnd auf uns zugetapst kam.

„Er hatte kein Halsband um und wir konnten keinen Chip finden. Eine Vermisstenanzeige ist bisher auch nicht reingekommen“, erklärte mir Martha, an ihrem Kaffee nippend. „Aber er ist gesund und gut genährt. Zutraulich ist er auch, wie du siehst.“ Ich ging vor dem Hund in die Hocke, und er begrüßte mich so überschwänglich, dass er mich beinahe umstieß. Ich sah ihn mir genau an. Martha hatte Recht, er war ein Prachtexemplar.

„Ich weiß, wem er gehört“, gestand ich. Erstaunt sah mich die Heimleiterin an. „Tom und Sandra Karrer. Er ist bestimmt nur ausgebüxt.“ Er wusste noch genau, wer ich war, das spürte ich deutlich. Er warf sich genauso vor mir auf den Boden wie früher. Wehmut kam in mir auf und ich tat ihm den Gefallen und kraulte seinen Bauch. Er ließ seine Zunge hechelnd aus dem Maul hängen. Sie war so lang, dass sie den Boden berührte.

„Ist gut, Bux. Du bist hier gut aufgehoben.“ Martha betrachtete mich einen Moment lang mit dem Blick, mit dem sie schwer händelbare Tiere abschätzte, dann wischte sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn und stützte die Hände in die Hüften.

„Na gut, dann suche ich gleich mal die Nummer der Familie heraus und rufe sie an. Sie vermissen ihr Riesenbaby wahrscheinlich schon. Bist du so gut und gibst ihm währenddessen was zu fressen?“ Martha wusste, dass ich mir nicht unbedingt leicht mit meinen Mitmenschen tat, deshalb bat sie mich erst gar nicht darum, die Karrers anzurufen, worüber ich sehr froh war.
 

Ich hatte zwar noch ab und zu Kontakt zu Natalies Eltern, aber jedes Mal, wenn ich sie traf, bekam ich irgendwie ein schlechtes Gewissen, ich wusste auch nicht, wieso. Sie fragten mich immer, ob es mir gut ging, wie es in der Schule lief, und ich log sie jedes Mal an, behauptete, alles laufe super. Ich wollte ihnen nicht noch eine Last auf die Schultern legen, denn wir hatten uns einmal sehr nahe gestanden. Da ich beinahe jeden Tag im Haus der Karrers gewesen war, hatte Tom mich irgendwann scherzhaft gefragt, wann denn endlich die Adoptionspapiere eintreffen würden.

Als Martha weg war, liebkoste ich Bux noch eine Weile, dann ging ich in den Vorratsraum und holte ihm etwas Trockenfutter. Ich wusste, dass er Nassfutter nicht so gut vertrug. Er hatte einen schwachen Magen.

„Hat alles aufgefressen“, teilte ich Martha mit, als ich den leeren, vollgesabberten Napf in die Küche brachte.

„Gut. Es kommt gleich jemand und holt ihn ab. Frau Karrer war ziemlich erleichtert, als sie gehört hat, dass es Bux gut geht.“ Ich fragte mich, ob Martha Sandra gesagt hatte, wer ihren Hund identifiziert hatte.

„Ich schaue mal, ob ich Pearl an die Leine gewöhnen kann.“ Damit machte ich auf umständliche Weise klar, dass ich nicht unbedingt dabei sein wollte, wenn Bux abgeholt wurde. Einer von Marthas großen Vorzügen war, dass sie keine unangenehmen Fragen stellte. Daher nickte sie nur.
 

Ich kam jedoch nicht umhin, Bux erneut einen kurzen Besuch abzustatten und ihn noch einmal zu knuddeln. Dann ging ich zu meiner kleinen spanischen Schönheit. Sie begrüßte mich schwanzwedelnd. Ans Halsband hatte ich sie inzwischen gewöhnt, aber an einer Leine war sie bisher noch nie gelaufen. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie mir nicht von der Seite weichen würde, wenn ich sie freilaufend zum Übungsplatz brächte, doch zur Sicherheit trug ich sie auf die eingezäunte Wiese, auf der Tunnel, Hindernisse und Wippen aufgebaut waren. Heute würde ich ihr einfach mal die Leine anlegen und sehen, wie die Hündin reagierte. Ich wollte sie nicht verschrecken. Noch immer fand sie es unglaublich aufregend auf der Wiese, mit all den Gerüchen. Deshalb ließ ich sie erst einmal toben, damit sie später nicht so abgelenkt war. Sie brauchte gar kein Spielzeug, denn sie fetzte einfach über den ganzen Platz und war dabei mit ihren drei Beinen erstaunlich schnell unterwegs. Pearl war sehr wendig und geschickt, ganz im Gegensatz zu Bux. Immer wieder kam sie zu mir gerannt, wedelte mit dem Schwanz, sah mich glücklich an und drehte dann wieder ihre Runden. Es tat mir jetzt schon im Herzen weh, wenn ich daran dachte, dass sie irgendwann vermittelt werden würde und ich sie womöglich nie wieder zu Gesicht bekam. Ich hatte das zwar schon öfter mitgekriegt, aber noch nie hatte ich in so kurzer Zeit eine so enge Bindung zu einem der Tiere aufgebaut. Ich wünschte mir natürlich, dass Pearl ein liebevolles Zuhause fand, mit Besitzern, die ihr mehr bieten konnten als das Tierheim. Doch ich hoffte, dass das noch nicht so bald der Fall war. Ich genoss die Sonne, die durch die Winterwolken blitzte, während Pearl sich austobte.
 

„Lea.“ Ich drehte mich verwundert um. Diese Stimme kam mir bekannt vor. Ein junger Mann, sonnengebräunt, stand gegen den Zaun gelehnt. Erst als ich Bux neben ihm stehen sah, wurde mir bewusst, wer da meinen Namen gerufen hatte. Ich stand schnell auf und wischte meine erdigen Hände an meiner Hose ab.

„Kasper.“ Als wollte er mich bestätigen, bellte Bux und schnüffelte am Zaun, weil er Pearl begrüßen wollte. Sie machte jedoch keine Anstalten, näher zu kommen. Sie war wie ich, kam ganz gut allein zurecht. Kasper hob die Hand und lehnte sich wieder gegen den Zaun. Er war jetzt kein Junge mehr, das konnte man deutlich sehen. Trotzdem war er der Sunnyboy von früher geblieben, wie sein Lächeln zeigte.

„Hi, Lea.“ Ich ging langsam auf ihn zu und überlegte mir währenddessen, was ich sagen sollte, doch mir fiel nichts Geistreiches ein.

„Lange nicht gesehen“, begann er das Gespräch. Ich nickte und hakte meine Finger in den Maschendrahtzaun.

„Seit wann bist du wieder hier?“, fragte ich, um nicht in Schweigen zu verfallen.

„Schon ein paar Monate. Ich war eine Weile schwer zu erreiche, in der Wildnis Kanadas, aber als ich das von Nati gehört habe, bin ich sofort aufgebrochen.“ Er zuckte mit den Schultern und sah mich prüfend an. Ich konnte seinen Blick nicht erwidern und kratzte etwas Dreck vom Zaunpfosten.

„Kanada, hm? Wie ist es da so?“, fragte ich, um vom eigentlichen Thema abzulenken.

„Groß, weit. Grün. Wunderschön. Und einsam, manchmal.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kasper jemals einsam war. Egal wo er war, fand er sofort Freunde. Er hatte diese offene freundliche Ausstrahlung, von der sich die Leute immer gleich angezogen fühlten. Keine Ahnung, wie er das anstellte.

„Hört sich toll an.“ Ich war tatsächlich etwas neidisch. Ich hatte noch nicht viel von der Welt gesehen.

„Und du? Arbeitest hier?“ Ich sah zu Pearl, die es sich in der Wiese bequem gemacht hatte, und nickte.

„Ja.“ Was sollte ich auch sonst sagen. Mir war es vor Kasper irgendwie peinlich, dass ich nicht versuchte, etwas aus meinem Leben zu machen.

„Finde ich klasse“, sagte er zu meiner Überraschung.

„Wirklich?“ Ich runzelte die Stirn. Ich fühlte mich wieder wie zwölf, als ich ein wenig in Natalies Bruder verknallt gewesen war.

„Klar. Du tust was Gutes. Verbesserst die Welt ein bisschen.“ Mir gefiel, wie er das sah. Auch wenn ich mich selbst nicht für eine Weltverbesserin hielt. „Warum kommst du nicht mal vorbei, dann zeig ich dir ein paar Fotos von der großen weiten Welt.“ Ich wollte wirklich gerne.

„Ich weiß nicht…“ Kasper legte seine Hand kurz auf meine, als hätte es die zweieinhalb Jahre, in denen wir uns nicht gesehen hatten, gar nicht gegeben. Es war lange her, dass mir überhaupt ein Junge so nah gekommen war, daher beschleunigte sich mein Herzschlag sofort. Ich hoffte inständig, dass ich nicht rot wurde.

„Komm schon. Ich würde mich echt freuen. Und Bux bestimmt auch.“ Dabei grinste er das Riesenbaby verschwörerisch an.

„Okay“, gab ich nach, weil ich ihn nicht enttäuschen wollte. Auch wenn es komisch sein würde, in dem Haus, ohne Natalie.

„Wie geht`s deiner Schwester?“ Ich musste einfach fragen. Kasper rümpfte die Nase.

„Ganz gut soweit. Willst du uns begleiten, wenn wir das nächste Mal zu ihr fahren?“ Ich wand mich.

„Lieber nicht. Ich glaube kaum, dass sie mich sehen will.“ Ich grub mit der Ferse ein Loch in die Erde.

„Soll ich mal mit ihr reden? Ich bin mir sicher, dass sie sich über deinen Besuch freuen würde.“ Ich schüttelte entschieden den Kopf. Ich hatte mir schon zu viele Körbe von Natalie geholt.

„Nein, danke… Aber richte ihr liebe Grüße von mir aus, ja?“ Kasper sah mich etwas enttäuscht an, drängte mich aber nicht weiter.

„Mach ich.“ Ich lächelte ihn kurz an, um ihm zu zeigen, dass alles okay war.

„Gut, ich muss jetzt wieder.“ Ich zeigte auf Pearl und war froh um eine Ausrede.

„Dann tu mal weiter Gutes. Ich ruf dich an.“ Wir winkten uns zum Abschied zu und ich war mir nicht sicher, ob ich glücklich über diese Begegnung sein sollte oder nicht. Das Treffen hatte mich so aufgewühlt, dass ich an die Tage vor Natalies Verschwinden zurückdenken musste. Die Szenen spielten sich immer und immer wieder in meinem Kopf ab. Ich konnte nichts dagegen tun.
 

Es kam genau so, wie ich es vorausgesagt hatte. Sven verschwand aus heiterem Himmel aus Natalies Leben. Sie rief ihn weiterhin an, glaubte eine Weile noch, alles würde gut werden, und überließ sich letztendlich dem Kummer, den ich schon so lange gefürchtet hatte. Ich wusste nicht, ob ich froh sein sollte, meine beste – und einzige – Freundin wiederzuhaben, weil das gleichzeitig bedeutete, dass sie unendlich traurig war. Aber meine Mutter versicherte mir, dass Teenagerherzen schnell verheilten und ich mich einfach ein wenig gedulden musste.

Doch es sollte nicht mehr besser werden. Natalie kam irgendwie über Sven hinweg, doch die Art seines Abschieds hatte trotz allem seine Spuren hinterlassen. Das letzte Mal, als sie miteinander telefonierten, hatte er ihr erklärt, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen. Es sei ein Fehler gewesen, sich mit einem so blöden, unreifen, hässlichen Teenie abzugeben. Anstatt das Arschloch abzuhaken, nahm Natalie sich seine Worte so zu Herzen, dass sie nicht einmal mehr in den Spiegel schauen wollte. Sie färbte ihre Haare blond, ging nicht mehr ungeschminkt aus dem Haus und schraubte ihr Selbstbewusstsein auf ein Minimum herunter. Sie probierte verschiedene Diäten, wobei ich ihr immer wieder versicherte, sie habe das nicht nötig. Doch niemand konnte zu ihr durchdringen – weder ihre Familie, noch ich.

Und dann, eines morgens, war sie auf dem Weg zur Schule einfach zusammengebrochen. Sie hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, war völlig kraftlos und apathisch. Ihren Eltern blieb keine andere Wahl. Um das Wohl ihrer Tochter nicht zu gefährden, mussten sie sie in eine Klinik stecken, die eine spezielle Therapie für Jugendliche mit Essstörungen bot. Und ich war allein.

Lampenfieber

„Zero hat nächste Woche einen Gig. Gehen wir hin?“ Es war ungewöhnlich, wie nebensächlich Tammy die Sache ansprach. Wir saßen auf dem Sofa, guckten Fernsehen und aßen Cornflakes. Normalerweise wurde ich in letzter Zeit nicht groß gefragt, wenn es darum ging, mit meiner Schwester irgendwo hinzugehen. Ich hielt in meiner Bewegung inne und sah sie gespielt erstaunt an.

„Du meinst, ich habe die Wahl?“ Sie schmiss ein Kissen nach mir und ich konnte gerade noch rechtzeitig mein Essen aus der Schussbahn bringen.

„Du bist bescheuert“, sagte sie mit eingeschnapptem Blick.

„Nein, ich bin erstaunt“, konterte ich.

„Ja, das von mir aus auch. Also?“ Sie stellte ihre Schüssel ab und sah mich erwartungsvoll an. Allein deshalb, weil sie mir dieses Mal die Wahl ließ, wollte ich eigentlich Ja sagen, und Zero machte wirklich gute Musik, doch dann fiel mir wieder das Casting ein.

„Wer ist denn jetzt der neue Leadsänger?“ Ich hasste es, dass ich meine Entscheidung von Jesse abhängig machte, doch ich konnte momentan keine schlechten Vibes gebrauchen. Tammy zuckte mit den Schultern.

„Hab mir den Namen nicht gemerkt. Irgendeiner aus dem Casting halt.“ Das kleinste Übel in dem Fall. Aber immerhin, wenn sie den Namen nicht kannte, konnte es nicht Jesse sein.

„Na gut“, stimmte ich zu.
 

Dieses Mal durfte ich in meinen eigenen Klamotten gehen.

„Du hast abgenommen“, bemerkte Tammy kritisch und leider hatte sie Recht. Ich achtete nicht auf das, was ich aß, oder wollte mich schlank hungern, aber ich hatte einfach keinen Appetit mehr, seit Natalie weg war. Besonders wegen ihr wollte ich nicht, dass das so weiterging. Aber ich konnte nichts gegen das fehlende Hungergefühl machen. Wenn ich zu viel aß, wurde mir schlecht. Vielleicht war das auch eine psychische Sache.

„Es ist alles in Ordnung, Tammy. Wirklich.“ Sie sah mich lange und sehr skeptisch an.

„Das hoffe ich doch.“ Meine Mutter, die eigentlich sehr auf gesunde Ernährung achtete, hatte sogar schon Fastfood ins Haus geholt, weil sie dachte, dass ich so mehr Kalorien zu mir nahm. Aber das fettige Zeug regte nicht gerade meinen Appetit an. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ein mehr oder weniger gerader Strich, zu wenig Becken und zu wenig Oberweite. Im Vergleich zu meiner Schwester hatte ich die Kurven unserer Mutter leider nicht geerbt.

„Wie wär’s mit einem Gürtel? Der betont die Taille“, schlug Tammy vor, doch ich nahm das Leder, das sie mir entgegenhielt, nicht an.

„Passt schon. Lass uns einfach gehen.“ Ich band meine langen dunkelbraunen Haare wie so oft zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Tammy kommentierte dies nur mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem Seufzen. Sie hatte wohl Angst, dass ich es mir anders überlegte, wenn sie zu viel nörgelte. Und da hatte sie verdammt recht.
 

Die Bar Melting war ein Treffpunkt für junge Erwachsene, oder zumindest jung gebliebene. Gemütliche runde Sofas mit Tischen in der Mitte luden zum Chillen ein. Sie veranstalteten oft Karaokeabende und gaben verschiedenen Musikern die Möglichkeit, ihren Bekanntheitsgrad zu erweitern.

Rob war das neue Mitglied. Ich konnte mich noch an seinen Auftritt bei unserem kleinen Casting erinnern. Er war ein wenig schüchtern gewesen, aber sobald er ein Mikro in der Hand hielt, wurde er zu einem anderen Menschen und legte alle Scheu ab. Ich wünschte, ich könnte auch einfach aus meiner Haut fahren. Aber Singen war leider nicht so meine Sache. Also, schon, aber nicht in der Öffentlichkeit. Meine Stimme teilte ich nur mit der Dusche.

Es waren gut dreißig alteingesessene Fans von Zero gekommen, um Zeugen ihres Neustarts zu werden. Natürlich fast alles Mädchen. Im Gegensatz zu mir hatten sie sich besser zurechtgemacht. Das kam mir ganz gelegen, dann wurde ich schon weniger beachtet. Ty und Brandon setzten sich an unseren Tisch und quatschten mit uns, während wir darauf warteten, dass es losging. Eine Viertelstunde vor dem Auftritt kam Ezra wutentbrannt aus der Toilette gestürmt und sah sich haareraufend um. Er entdeckte uns und kam wie eine Dampfwalze auf uns zugerauscht. Hatte jemand sein Equipment geklaut?
 

„Was ist los, Ezra?“ fragte Brandon sofort alarmiert.

„Was los ist?“ Man merkte Ezra an, wie sehr er sich beherrschen musste, um nicht das gesamte Lokal zusammenzuschreien. Er neigte sich über den Tisch und raunte uns zu.

„Rob hockt auf dem Klo fest und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Das ist los.“ Ty schlug die Hände vors Gesicht.

„Lampenfieber“, diagnostizierte Jen scharfsinnig.

„Wie stehen die Chancen, dass er damit bald aufhört?“, fragte Brandon und versuchte, Ruhe zu bewahren. Der glühende Blick, den Ezra ihm zuwarf, machte jedoch alle Hoffnung zunichte.

„Scheiße“, kommentierte meine Schwester, was zwar zutraf, aber leider nicht besonders hilfreich war.

„Und was machen wir jetzt?“ Ty schien Nuancen blasser als noch vor ein paar Sekunden. Das Geld zu verlieren war nicht das Problem, aber ein schlechtes Feedback konnte den bisherigen Ruf von Zero sofort zerstören.

„Was weiß ich denn!?“, giftete Ezra zurück. Er wippte ungeduldig mit dem Fuß, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich suchend im Raum um, als würde die Lösung gleich auf ihn zu spaziert kommen. Plötzlich zückte Brandon sein Handy und sah nervös auf seine Armbanduhr, während er _ darauf wartete, dass am anderen Ende jemand abnahm.

„Was machst du?“, wollte Ty wissen.

„Jesse anrufen.“ Als ob der helfen würde.

„Ich sehe mal nach Rob“, bot ich an, weil ich hoffte, dass noch ein Wunder geschah und er sich schlagartig erholte. Als ich jedoch die Toilette betrat – gemischt, glücklicherweise – stieg mir ein leicht säuerlicher Geruch in die Nase. Und schon hörte ich ein gequältes Würgen. Einen Moment überlegte ich, ob ich doch lieber wieder umkehren sollte. Stell dich nicht so an, dachte ich, du wischst im Tierheim noch viel schlimmere Sachen vom Boden.

„Rob?“ Keine Antwort. Verständlich. Ich wollte auch nicht unbedingt, dass mir jemand beim Erbrechen zuhörte oder zusah. Außerdem hatte er bestimmt ein verdammt schlechtes Gewissen, weil er seine neue Band im Stich ließ und wahrscheinlich noch mehr Bammel, womöglich sofort wieder rausgeschmissen zu werden. Armer Kerl.

„Rob, alles okay?“ Offensichtlich war es das nicht, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Als das Würgen aufgehört hatte, ging langsam eine der Türen auf. Rob saß zusammengesunken auf der Toilette und war leichenblass.

„Scheiß Lampenfieber“, sagte er nur.

„Zum Kotzen, was?“ Zu spät fiel mir auf, dass die Bemerkung ziemlich unpassend war und ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

„Möchtest du Wasser?“, fragte ich, weil ich ihm irgendwie helfen wollte.

„Bloß nicht.“ Er sah aus, als müsste er sich schon wieder übergeben, hielt es dieses Mal jedoch bei sich. „Aber Kaugummi wäre nicht schlecht.“ Eine Dusche und neue Klamotten wären wohl angebrachter, aber den Kommentar verkniff ich mir lieber.

„Jen hat eigentlich immer welchen dabei. Warte kurz, bin gleich wieder da.“ Ich fragte mich auf dem Weg zurück, warum ich es eigentlich war, die sich um den Neuzugang kümmerte. Ich hatte am wenigsten von allen mit Zero zu tun. Bestimmt war das meine verkappte soziale Ader. Als ich an der Bar vorbei zu unserem Tisch lief, waren die anderen nicht mehr an unserem Platz zu sehen. Wahrscheinlich hielten sie Krisensitzung hinter der Bühne. Ich drückte die schwere, klebrige, mit Anzeigen und Flyern übersäte Tür zum Backstagebereich auf und konnte augenblicklich laute Stimmen hören. Sofort fiel mir das Zentrum der Menschentraube auf: Jesse, der auf einem der großen Lautsprecher saß und etwas genervt wirkte.
 

„Ich bin nur zum Zusehen hier“, sagte er in einem Tonfall, als hätte er das nun schon mehrmals erwähnt.

„Wenn du nicht für Rob einspringst, gibt es aber nicht besonders viel zu sehen“, konterte Brandon. Ich drückte mich an den anderen vorbei zu Jen.

„Wie geht’s ihm?“, fragte Tammy, die mich als Erste bemerkte. Alle Augen waren sofort auf mich gerichtet. Super. Ich schüttelte nur entschuldigend den Kopf, woraufhin die anderen gleich wieder zu diskutieren begannen.

„Hast du Kaugummi?“, fragte ich Jen, die mich irritiert ansah.

„Kaugummi“, wiederholte ich. Dann schien es Klick bei ihr zu machen. Sie kramte in ihrer Tasche und drückte mir die ganze Packung in die Hand.

„Hier. Nimm lieber gleich alle mit.“ Sie zwinkerte und widmete sich dann wieder der Diskussion der anderen. Ich beschloss, dass sie das auch prima ohne mich regeln konnten und Rob mich im Moment mehr brauchte, deshalb machte ich mich wieder auf in Richtung Toilette.

„Komm schon, Jesse. Du rettest uns damit den Arsch.“

„Wir wären dir ganz schön was schuldig, Alter. Denk nur an all die Gefallen, die du dann guthast.“

„Und die Groupies.“

Ich schüttelte nur den Kopf im Weggehen und fragte mich, warum er ihnen nicht einfach den Gefallen tat. Er war ein fantastischer Sänger, das musste man einfach zugeben, und er hatte bestimmt keine Angst vor der Bühne. Er könnte doch einfach für zwei Stunden die Zähne zusammenbeißen und diesen Gig hinter sich bringen.

„Was sagt denn die Eisprinzessin dazu?“, hallte Jesses Stimme über die der anderen, die daraufhin verstummten. Ich blieb abrupt stehen und fragte mich, ob ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Außerdem fiel mir auf, wie er mich genannt hatte. Eisprinzessin. Er konnte sich also sehr wohl noch an mich erinnern. Womöglich wusste er dann auch, dass ich es gewesen war, die ihm vom Balkon aus zugesehen hatte, wie er mit der Blondine rumgemacht hatte. Mit glühenden Ohren drehte ich mich um und sah ihn mit einem möglichst gehässigen Blick an.

„Ich finde, du solltest nicht so ein Idiot sein und ihnen einfach den Gefallen tun.“ Seine Augen bohrten sich in meine und wieder einmal kam mir unaufgefordert der Moment in den Sinn, als seine Lippen mein Ohr gestreift hatten. Wieso, verdammt?

„Okay, von mir aus.“ Alle sahen ihn verwundert an, als er von der Box sprang und sich ein Mikro schnappte.

„Echt jetzt?“, fragte Ty überrascht.

„Ich mach’s, wenn sie mich darum bittet.“ Erschreckenderweise deutete Jesse dabei auf mich. Ich sah ihn entgeistert an. War das wirklich sein Ernst? War er nur hergekommen, um mir das Leben schwerzumachen?

„Was? Willst du, dass ich auf Knien vor dir herumrutsche und dich anflehe?“ Er zuckte grinsend mit den Achseln.

„Wenn du das gerne möchtest. Mir reicht’s, wenn du brav Bitte, Bitte sagst.“ Sein Blick verriet mir, dass er das nur tat, um mich zu ärgern. Er würde den anderen wahrscheinlich auch so helfen. Allerdings traute ich ihm zu, einfach zu verschwinden, wenn ich mich weigerte.

„Na schön.“ Was war schon dabei. Wenn ich den Jungs damit helfen konnte. Es ging hier schließlich um mehr als meinen Stolz. Jesse sah mich seelenruhig an, als hätten wir alle Zeit der Welt. Die anderen hielten lieber den Mund und warteten darauf, dass ich etwas unternahm. Beim Betteln konnten sie mir auch schlecht helfen.

„Du musst das nicht tun“, raunte meine Schwester mir zu, doch ich ignorierte sie. Sie hatte Unrecht. Ich musste das tun. Ich atmete tief durch, um nicht völlig auszurasten.

„Jesse.“ Es war das erste Mal, dass ich seinen Namen laut aussprach.

„Kannst du bitte diesen Gig mit den Jungs spielen, weil du ihnen damit echt den Arsch retten würdest… bitte.“ Zu mehr konnte ich mich nicht durchringen.

„Also gut.“ Er machte sich schon auf den Weg Richtung Bühne, doch dann drehte er sich nochmal um. „Wie wär’s noch mit 'nem Kuss.“ Tammy warf mit irgendwas nach ihm, traf aber nicht.

„Lass meine Schwester in Ruhe.“

„Das reicht jetzt aber.“ Ezra schob Jesse auf die Bühne, der schelmisch lachte. Im Gegensatz zu mir hatte er gerade den Spaß seines Lebens. Ich warf ihm noch einen gehässigen Blick zu, den er leider nicht sehen konnte, dann rauschte ich zurück zu Rob.
 

Er stand am Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Ich reichte ihm ein paar Papiertücher und er tupfte seine Haut trocken. Dann lehnte er sich gegen die Wand und starrte auf den Boden.

„Was sagen die anderen?“ Ich zuckte mit den Schultern. Ehrlich gesagt konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie Rob eine zweite Chance gaben, nach dem Desaster heute Abend. Da konnte er noch so gut singen. Lampenfieber – und dazu noch ein so extremes – machte sich leider nicht gut in einer Band.

„Nicht viel“, war deshalb alles, was ich erwiderte. Er schüttelte verzweifelt den Kopf und kniff die Augen zusammen.

„Das ist alles meine Schuld. Ich habe ihnen das Comeback versaut. Sie werden mich hassen.“ Ich tätschelte kurz seine Schulter, weil er mir so leidtat.

„Schon gut. Jesse springt für dich ein.“ Er sah mich fragend an.

„Wer ist Jesse?“ Ein Mega-Idioten-Arsch, ein eingebildetes und unverschämtes noch dazu, hätte ich am liebsten geantwortet.

„Jemand aus Ty’s Bekanntenkreis.“ Ich wusste nicht, ob die Jungs ihn als Kumpel ansahen, vielleicht war er auch nur der Bruder eines Freundes für sie. So wie ich die Schwester von Tammy war. Die Entdeckung, dass wir etwas gemein haben könnten, behagte mir gar nicht.

„Ach ja, hier.“ Ich reichte Rob die Kaugummis und er schob sich sofort unter einem gemurmelten Dankeschön einen in den Mund. Ich sah auf meine Uhr. Eigentlich hätten sie vor zehn Minuten anfangen sollen zu spielen. Hatte Jesse sich doch wieder verdrückt? Bei dem Gedanken, ihn umsonst angefleht zu haben, drehte sich mir der Magen um. Außerdem wollte ich wirklich nicht, dass Zero solch einen Rückschlag hinnehmen musste.

„Ich kann ihnen nie wieder unter die Augen treten. Selbst wenn sie mich nicht rausschmeißen. Ich schäme mich in Grund und Boden.“ Jetzt reichte es aber langsam wieder mit dem Gejammer. In Selbstmitleid musste er ja nun auch nicht versinken.

„Kopf hoch. Die werden dich schon nicht in Stücke reißen. Vielleicht solltest du einfach…“ Ich verstummte, als die Musik einsetzte und Erleichterung durchströmte mich. Jesse hatte uns nicht im Stich gelassen. Applaus ertönte. Wir lauschten schweigend dem Intro, dann hörten wir Jesses Stimme gedämpft durch die Toilettentür.

„Ist er das?“, fragte Rob mit großen Augen. Ich konnte nur nicken, wollte Jesses Gesang nicht mit meinen Worten unterbrechen. Rob überprüfte schnell im Spiegel, ob er vorzeigbar war, dann öffnete er mir die Tür.

„Lass uns das ansehen.“
 

Mir wäre es eigentlich ganz recht gewesen, wenn wir im Klo geblieben wären und den Gig von dort aus verfolgten. Ich musste Jesse nur hören, nicht sehen, wenn es nach mir ging. Dennoch machte mein Herz einen kleinen Satz und strafte mich Lügen, als ich ihn dort auf der Bühne stehen sah, vollkommen in seinem Element. Viele Leute hatten sich von ihren Plätzen erhoben und sich vor dem Podest zu einer Traube zusammengefunden. Die weiblichen Groupies natürlich allen voran. Jesse verstand es, eine professionelle Show hinzulegen und gleichzeitig mit ihnen zu flirten. Ich rollte mit den Augen. Natürlich hatte er es gemacht, um danach Mädels abzuschleppen.

Obwohl er kein Mikro braucht, um jede Einzelne von ihnen rumzukriegen, grummelte eine leise Stimme in meinem Kopf. Was interessierte mich das überhaupt?

Es interessiert mich nicht im Geringsten, beschloss ich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

„Als wäre er dazu geboren“, raunte Rob mir zu. Dabei war ich mir nicht sicher, ob er feuchte Augen bekam, weil er den Auftritt so toll fand, neidisch auf Jesse war, ihn einfach nur bewunderte oder immer noch Angst hatte, aus der Band geschmissen zu werden. Oh Mann, und wie sie ihn rausschmeißen würden!

Groupies und die große weite Welt

Rob und ich blieben an der Bar, während das Melting immer voller wurde. Zero war in Topform. Ich dachte, sie würden einfach nur Musik machen – gecovert zwar, aber verdammt gut -, doch sie legten eine regelrechte Show hin. Brandon riss Witze, brachte die Mädels reihenweise zum Kreischen, Ezra benutzte sein Schlagzeug als Sprungbrett und machte Salti, wobei ich jedes Mal zusammenzuckte und hoffte, er würde sich nichts brechen. Kurt, der Gitarrist, spielte ein Solo, dass es mir schwindelig wurde und ihr neuestes Mitglied brachte mit seiner Stimme meinen ganzen Körper zum vibrieren. Wenn ich ein Talentscout wäre, hätte ich meine Goldmine heute Abend gefunden. Rob vergaß während des Konzerts seine Übelkeit und konnte keine Minute stillhalten. Für jemanden, der eigentlich ein gutes Rhythmusgefühl hatte, machte er seltsame Bewegungen. Tanzen war wohl nicht so sein Ding, doch das schien ihn nicht zu stören.
 

Ich selbst haderte noch mit mir, ob ich einfach den Auftritt genießen, oder lieber griesgrämig auf meinem Barhocker sitzen und Jesse böse Blicke zuwerfen sollte. Er würde es sowieso nicht bemerken, weil er viel zu sehr in die Musik vertieft war. Ich fragte mich, ob er schon früher in einer Band gespielt hatte oder mal Gesangsunterricht hatte; so eine Stimme kam doch nicht von ungefähr. Und genießen tat er es auch, das war unübersehbar. Warum er sich vorher so gesträubt hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären. Mochte er es einfach, wenn er im Mittelpunkt stand und alle ihn anbettelten? Eigentlich hatte ich nicht den Eindruck. Außer bei mir- da machte er eine Ausnahme. Andauernd schweifte mein Blick zu ihm zurück und beobachtete seine Gesten, wie er die Augen über die Menge gleiten ließ, sie bei einem langsamen Lied schloss, und seine Lippen, aus denen diese fantastischen Töne hervorkamen. Als ich mich dabei ertappte, wie meine Gedanken zurück zum See schweiften, als er ganz dicht hinter mir gestanden und ich mich zuvor an ihn geklammert und seinen Atem gespürt hatte, stand ich abrupt auf. Das konnte so nicht weitergehen!
 

„Ich muss mal an die frische Luft“, erklärte ich Rob kurz angebunden, der mir verwirrt hinterher sah, und verließ das Melting so schnell ich konnte, ohne dabei zu wirken, als wäre ich auf der Flucht. Draußen war es kühl und die frische Luft bereitete mir Gänsehaut. Hätte ich bloß meine Jacke mitgenommen. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und bildete Wölkchen beim Atmen. Nach den ungewöhnlich warmen Sonnentagen hatte ich beinahe vergessen, dass erst Januar war. Ich ging auf und ab, immer zehn Schritte in die eine, und genauso viele in die andere Richtung, um nicht auszukühlen.

Was machte ich hier überhaupt? Alle waren da drin und genossen den Gig und ich fror mir den Hintern ab, nur weil ich meine Gedanken bezüglich einer bestimmten Person nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich beschloss, mein Verhalten zu analysieren, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen:

Jesse trieb mich zur Weißglut, ja, und er ging mir nicht mehr aus dem Sinn, weil für mich unverständlich war, wie gemein er zu jemandem sein konnte, den er eigentlich gar nicht kannte – also mir. Erst disste er mich, dann ignorierte er mich und schließlich stellte er mich absichtlich bloß. Das Einzige, was mich davon abhielt, ihn als gewöhnlichen Idioten abzustempeln und weit hinten in einer Schublade meines Hirns zu verstauen, war sein Aussehen. Normal stand ich nicht auf diese Art Typ. Aber er war einfach sehr interessant. Seine Augen waren eindringlich und ausdrucksstark. Und ich mochte seine Hände.
 

„Lea. Alles in Ordnung?“ Ich erschrak, als Tammys Stimme mich aus meinen Gedanken riss. Wenn sie wüsste, worüber ich mir gerade den Kopf zerbrach…

„Ja, mir geht´s gut.“ Ich räusperte mich. „Ich habe nur ein wenig frische Luft gebraucht. Da drin ist es ein bisschen stickig.“ Und das war nicht mal gelogen. Tammy rollte mit den Augen.

„Ja, ich weiß, was du meinst.“ Sie meinte es nicht ernst. Sie mochte Typen, die rauchten. Sie fand, dass es cool aussah, was ich absolut nicht nachvollziehen konnte. Außer bei Jesse vielleicht. Herrgott! Das musste echt aufhören!

„Kommst du wieder mit rein? Es ist echt kalt hier draußen. Ich will nicht, dass du dir eine Erkältung einfängst.“

Und Mom dir dafür die Schuld gibt, fügte ich lautlos hinzu. Aber ich nickte. Es war wirklich zu kalt.
 

Zero spielte eine bunte Mischung, sodass für jeden was dabei war. Rob und ich gesellten uns zu der Traube vor der Bühne, weil Tammy darauf bestand. Jetzt waren wir noch näher dran. Ich spürte die Körper um mich herum, die zur Musik wippten und tanzten. Mir entging nicht, wie die Mädels in der ersten Reihe mit den Bandmitgliedern flirteten. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, sie waren alle attraktiv. Die Musik ging mir hier noch mehr unter die Haut, weil wir direkt neben einer der riesigen Boxen standen. Jeder Beat vibrierte in meinem Innern. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so lebendig gefühlt und beschloss, den restlichen Abend einfach zu genießen, ohne mir weiter den Kopf zu zerbrechen. Am Ende des Gigs, das in meinen Augen viel zu früh eintrat, hielt Brandon noch eine kurze Rede und bedankte sich bei den Gästen für ihr Kommen. Als die Jungs hinter der Bühne verschwanden, natürlich nicht, ohne sich noch vor ihrem Publikum zu verbeugen und ihm zuzuzwinkern, schoben Jen und Tammy mich Richtung Backstagebereich. Rob folgte uns. Es standen bereits ein paar Mädels vor der schweren Tür, die darauf warteten, dass die Band herauskam. Der Besitzer der Bar hatte in weiser Voraussicht einen Security dort platziert. Ich kam mir vor wie ein VIP, als er uns erkannte und durchwinkte. Als wären wir was Besonderes.
 

Die Jungs waren voller Adrenalin und alberten herum, als wären sie gerade mal zwölf. Naja, zumindest drei von ihnen. Jesse drehte sich gerade eine Zigarette, im Schneidersitz auf derselben Box wie vorhin sitzend. Nein, er drehte die zweite. Eine hatte er sich schon hinters Ohr gesteckt. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und trug nun nur noch ein graues T-Shirt. Meine Augen wanderten seine Arme entlang. Tattoos. Viele Tattoos.

„Ihr wart klasse, Leute“, beglückwünschte Jen die Jungs zu ihrem gelungenen Auftritt. Es begann eine überschwängliche Umarmungsrunde, bei der ich nicht ausgelassen wurde. Jesse blieb glücklicherweise, wo er war, und zündete sich seelenruhig seine Zigarette an und beobachtete das wilde Durcheinander. Erst als Brandon Rob bemerkte, trat eine peinliche Pause ein.

„Gratuliere, das war erste Sahne“, sagte Rob etwas verhalten.

„Zu schade, dass du nicht dabei warst.“ Der Sarkasmus in Ezras Stimme war nicht zu überhören. Ich fand das ziemlich fies, schließlich konnte Rob nichts für sein Lampenfieber.

„Tut mir echt leid, aber deinen Platz hat jetzt ein anderer eingenommen“, sagte Ezra und deutete auf Jesse. Ich erwartete Widerworte, da ich angenommen hatte, er würde nur für diesen einen Gig einspringen, doch er zog nur an seinem Nikotinstängel und fixierte Ezra mit einem seltsamen Blick. Also hatte Zero tatsächlich ein neues Mitglied gefunden. Rob wirkte niedergeschlagen, doch er riss sich zusammen und nickte.

„Das hätte ich sowieso nicht toppen können“, komplimentierte er Jesse.

„Wieso feierst du nicht mit uns“, bot dieser an, während er Rauch aus seinem Mund hauchte. Rob schien überrascht über das Angebot, nickte aber dankbar.

„Wir haben sicher genug Kohle eingespielt, um uns alle unter den Tisch zu saufen“, freute sich Kurt. Na toll, würde dieser Abend etwa mit lauter Alkoholleichen enden? Ich stand nicht so auf Alkohol, aus dem einfachen Grund, dass ich ihn nicht vertrug. Nur zwei Gläser Sekt und ich hatte am nächsten Tag einen Kater, als hätte ich in einem Bierfass gebadet. Die Tür wurde aufgerissen und herein kamen Ty und Greg, die johlend von den Jungs begrüßt wurden.

„Was für ein Auftritt!“ Ich hatte Greg das ganze Konzert über nicht gesehen, aber wahrscheinlich war er nicht der Typ, der sich unter die Menge mischte. Ty holte sein Portemonnaie in einer feierlichen Geste aus seiner Hose und zog zwei Hunderter heraus.

„Das ist unsere Gage, Jungs. Lasst und feiern!“ Tammy zeigte Richtung Bar und deutete darauf hin, dass dort lauter Groupies warteten, um den Jungs ihre Handynummern zuzustecken.

„Ich hab verdammten Kohldampf“, warf Brandon ein und klopfte sich demonstrativ auf den flachen Bauch.

„Gute Idee. Lasst und was futtern gehen.“ Dass die Jungs nicht wild darauf waren, von den Mädels da draußen in Empfang genommen zu werden, konnte aus meiner Sicht nur drei Dinge bedeuten:

Sie waren vergeben, nicht an Mädchen interessiert, oder die verfressenste Bande, die ich je gesehen hatte. Aber mir war es nur recht. Wir waren elf Personen. Greg hatte seine Freundin mitgebracht. Aus irgendeinem Grund hatte ich nicht erwartet, dass Greg in festen Händen war. Und dann auch noch in denen einer absolut sympathischen, lockenhaarigen, sommersprossigen Frau. Sie war älter als wir, aber das war Jesses Bruder schließlich auch. Später erfuhr ich, dass die beiden sogar verlobt waren. Da wurde er mir gleich noch sympathischer. Ich hatte ganz eindeutig einen falschen ersten Eindruck von Greg gehabt. Ich schalt mich in Gedanken, nicht so voreilig über Leute zu urteilen.
 

Während Tammy, Jen, Rob und ich bei Ty im Auto zu McDonalds fuhren – ja, McDonalds, da konnte man zu elft wunderbar zweihundert Euro auf den Kopf hauen – fragte ich mich, ob ich womöglich auch eine falsche Meinung von Jesse hatte. Doch bei ihm war es eigentlich genau umgekehrt. Sein Äußeres fand ich ziemlich anziehend, und ich hasste es, dass ich mir das selbst eingestehen musste; sein Charakter hingegen war äußerst zweifelhaft. Er ärgerte mich mit Absicht, stellte mich bloß und ließ uns betteln, damit er uns einen Gefallen tat. Nicht gerade die besten Eigenschaften an einem Menschen. Es könnte aber auch schlimmer sein. Immerhin hatte er Rob eingeladen, uns zu begleiten. Im Gegensatz zu Ezra hatte er ihn nicht dafür verurteilt, dass sein Lampenfieber ihn an die Kloschüssel fesselte. Ich beschloss, ihm noch eine Chance zu geben. Von jetzt an würde ich versuchen, auf die positiven Dinge zu achten.
 

Es war gar nicht so leicht, einen Tisch zu finden, an dem wir alle Platz hatten. Doch die Jungs schoben einfach zwei zusammen. Trotzdem war es eher kuschelig-eng als gemütlich. Ich war eingequetscht zwischen Tammy und Lydia, Gregs Verlobter. Auf den Tabletts türmten sich haufenweise Burger, Pommes und Getränke. Ty hatte einfach von allem etwas bestellt und jeder Griff herzhaft zu. Ich dachte eigentlich, zwanzig Burger und zehn große Portionen Pommes sollten reichen, um ihre hungrigen Mäuler zu stopfen, doch Greg stand nach einer halben Stunde auf und fragte, ob jemand Nachschlag wollte. Sechs Hände schossen sofort in die Höhe. Ich befürchtete langsam, dass uns das Geld nicht reichen würde und begann nachzurechnen. Zur Not mussten wir eben was draufzahlen. Ich war im Nachhinein froh, dass die Jungs sich für eine Fastfoodkette entschieden hatten. Nirgendwo anders wäre es möglich gewesen, so viele Münder mit verhältnismäßig wenig Geld zu stopfen. Außerdem fingen sie irgendwann an, sich gegenseitig mit Pommes zu bewerfen. Wir wurden von den wenigen verbliebenen Gästen seltsam angeschaut, und zwei Tische neben uns sah ich fünf Mädels immer wieder zu uns herüber schielen. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass sie viel eher in die Gruppe passen würden, in deren Mitte ich mich befand. Wahrscheinlich fragten sie sich schon, wie jemand wie ich dazu kam, mit so coolen Typen abzuhängen. Irgendwann standen sie auf und kamen zu uns. Nur eine traute sich zu sprechen. Sie beugte sich zu Jesse herunter – natürlich musste es Jesse sein! -, wobei man einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté erhielt, und flüsterte ihm etwas zu. Ich wünschte, ich könnte verstehen, was sie sagte, aber ich wollte nicht zu auffällig in ihre Richtung starren. Jesse saugte etwas Mayonnaise von seinem Daumen und antwortete ihr erst danach. Sie lächelte charmant und legte einen kleinen Zettel vor ihm auf den Tisch, berührte kurz seine Schulter und ging hüfteschwingend zu ihren Freundinnen zurück. Sie versuchten, den Laden möglichst eindrucksvoll zu verlassen.

Jesse sah ihr nicht nach, was mich mit Genugtuung erfüllte. Doch als er nach dem Papier griff und in seiner Jackentasche verschwinden ließ, sah ich schnell weg. Ich versuchte, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er sie anrufen würde.
 

„Hey, Lea. Du hast kaum was gegessen. Hier, nimm noch was von den Pommes.“ Lydia legte mir eine volle Tüte vor die Nase. Ich schüttelte den Kopf. Mir war der Hunger vergangen – wenn ich denn überhaupt einen gehabt hatte.

„Du fällst sowieso fast vom Fleisch, Süße. Du musst mehr essen“, gab Greg laut seinen Senf dazu, während er seinen Arm um Lydias Schultern legte. Plötzlich sahen mich alle an. Warum musste Greg auch so eine laute Stimme haben. Ich fühlte mich verdammt unwohl, denn solche Situationen erinnerten mich immer daran, wie es bei Natalie angefangen hatte. Aber bei mir war alles in Ordnung. Ich fand mich nicht zu dick. Ich hatte einfach keinen Hunger! Wut stieg in mir auf, doch anstatt etwas zu erwidern, lehnte ich mich so weit in meinen Sitz wie möglich und starrte auf meine Cola.

„Wie viel habt ihr heute eigentlich eingespielt?“, rettete mich meine Schwester. Ich war ihr sehr dankbar für die Ablenkung, auch wenn ich genau merkte, dass Lydia mir noch einen fragenden Blick zuwarf, den ich ignorierte.

„Vierhundert. Zweihundert Kaution. Ich würde sagen, das ist nicht schlecht“, antwortete Ty.

„Wie viele Leute waren das dann?“, warf Kurt ein und runzelte die Stirn, während er rechnete.

„Also fünf Euro der Eintritt. Die Hälfte bekommen wir. Das sind dann… ähm…“ Ezra schien die Weisheit auch nicht mit Löffeln gegessen zu haben. Ich war zwar eine absolute Niete in Mathe, aber nur, wenn es um irgendwelche komplizierten Gleichungen ging. Im Kopfrechnen war ich schon immer gut gewesen. Nur leider wurde man in der elften Klasse nicht mehr nach solchen Sachen benotet.
 

„Einhundertundsechzig“, sagten Jesse und ich gleichzeitig und warfen uns einen kurzen Blick zu. Es war das erste Mal, dass ich nicht das Gefühl hatte, dass er gemein zu mir war, oder mich für einen absoluten Loser hielt.

„Wie gut, dass wir unsere eigenen Taschenrechner dabeihaben“, scherzte Ty und knuffte Jesse spielerisch in die Schulter.

„Tja, mein Bruder kommt frisch aus dem Gefängnis, wie ihr wisst. Da lernt man so einiges“, brachte Greg wieder seinen Scherz; doch dieses Mal wusste ich, was er meinte.

„Was willst du jetzt eigentlich mit all deinem Wissen anfangen?“, witzelte Kurt. Jesse zuckte die Achseln - wobei mein Blick auf seine Armmuskeln fiel, die man unter dem Pullover vorhin nicht hatte sehen können - und legte die Unterarme auf den Tisch. Ich betrachtete seine Tattoos.

„Ich weiß noch nicht. Ich will jetzt erst mal Zeit mit Kelly verbringen.“ Wer war Kelly?

„Du hast sie lange nicht gesehen, was?“, meldete Lydia sich zu Wort. Jesse nickte. Er wirkte beinahe… sehnsüchtig?

„Sie sind für drei Wochen nach Spanien gefahren“, erläuterte er. Hatte Jesse etwa eine Freundin? Und machte er tatsächlich mit einer anderen rum, während sie im Urlaub war? Und die Jungs ließen ihn einfach machen und sagten nichts dazu? Oder hatten sie keinen blassen Schimmer, was Jesse so auf Partys trieb? Ich war kurz davor, etwas zu sagen, doch ich riss mich zusammen. Es ging mich nichts an.

Aber hiermit hatte er seine zweite Chance vertan.
 

Am nächsten Tag rief ich Kasper an. Wieso, wusste ich selbst nicht genau. Er schien sehr froh, dass ich mich meldete und hatte anscheinend nicht mit meinem Anruf gerechnet.

„Steht dein Angebot noch? Du weißt schon, die virtuelle Reise in die große weite Welt?“ Er schlug vor, dass ich am Nachmittag gleich vorbeikommen könnte und ich war einverstanden. Außerdem hatte ich Angst, es mir anders zu überlegen, wenn ich noch ein paar Tage wartete. Meiner Familie erzählte ich, ich würde ins Tierheim gehen. Das war nicht mal gelogen. Nur eben nach einem Abstecher bei Kasper.

Vor der Haustür blieb ich unschlüssig stehen. Ich traute mich nicht, zu klingeln. Es käme mir seltsam vor, wenn Natalies Mutter oder Vater öffnen würde. Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Doch Bux, der Verräter, kündigte mich mit lautem Gebell an. Früher hatte ich nicht mal geklingelt, war einfach ins Haus spaziert, als würde ich dort wohnen.

Doch ich fühlte mich entgegen meiner Erwartung schnell wieder wohl im Haus der Karrers. Und dass Kaspers Eltern nicht da waren, trug wesentlich zu meiner Entspannung bei. Ich streichelte Bux, wofür er sich mit ausgiebigem Abschlecken meiner Hand bedankte.

„Immer noch Sprite?“, fragte Kasper, der sich ganz offensichtlich noch genau daran erinnerte, was ich gerne trank. Ich verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass ich nicht mehr auf Softdrinks stand. Stattdessen betrachtete ich ihn genauer, während wir in der Küche standen und er Getränke und Gläser herausholte. Ich hätte ihm helfen können, denn ich wusste genau, wo alles stand, aber das wäre mir komisch vorgekommen. Früher hatte ich irgendwie dazugehört, jetzt war ich nur noch ein Gast.
 

Kasper war immer noch braungebrannt, obwohl er schon mehrere Monate wieder hier war. Ich vermutete, er stattete dem Solarium regelmäßig Besuche ab, und musste mir ein Lachen verkneifen. Aber er sah gut aus, mit seinem blonden Haar. Es war genauso hell wie Natalies – nur dass sie es sich färben musste. Mein Herz zog sich zusammen, als meine Gedanken zu ihr abschweiften. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals ohne sie hier gewesen zu sein.

Im Wohnzimmer machten wir es uns auf der großen Couch bequem, Kasper schloss seinen Laptop an den riesigen Flatscreen an und er begann, mir Bilder von der großen weiten Welt zu zeigen. Australien, Afrika, Neuseeland, Spanien, Italien, Asien. Er war wirklich ganz schön rumgekommen.

„Das sind fantastische Aufnahmen, Kasper. Du hast echt Talent“, lobte ich ihn und meinte es ernst. Er strahlte mich breit lächelnd an. Er war seiner Schwester so ähnlich.

„Ja, ich habe auf meinen Reisen endlich entdeckt, was ich machen will“, gestand er stolz.

„Du willst Fotograf werden? Das ist eine super Idee“, bestärkte ich ihn in seinem Entschluss. Er stützte den Ellbogen auf die Rückenlehne des Sofas, legte seinen Kopf in seine Hand und sah mich forschend an. Ich spürte, dass ich unter seinem Blick leicht rot wurde.

„Und du? Weißt du schon, was du mit deiner Zukunft anfangen willst?“

Ich hatte einen Wunschtraum, doch der war so unwahrscheinlich, dass ich niemandem davon erzählte und es lieber für mich behielt. Ich schüttelte also nur den Kopf und blieb eine Antwort schuldig. Kaspers Handy klingelte und er warf einen kurzen Blick auf das Display.

„Wow, wir sind ganz schön verhockt. Es ist schon nach sechs.“

„Was?“ Ich sprang auf. „Schon so spät? Tut mir Leid, Kasper, ich muss los. Ich muss arbeiten.“ Er stand ebenfalls auf, um mich zur Tür zu begleiten.

„Tierheim?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Ja, tut mir echt Leid. Und danke“, sagte ich, während ich die Treppen herunter sprang und nochmal kurz winkte.

„Nichts zu danken. Ich ruf dich an.“

Eisprinzessin

Am Donnerstag war Kino angesagt. Tammy und Jen waren immer noch auf dem Lea-Beschäftigungs-Trip. Ich hätte ihnen beinahe erzählt, dass ich am Sonntag bei Kasper gewesen war, aber das hätte nur weitere Fragen aufgeworfen und außerdem hätten sie sofort mehr hineininterpretiert.

Jen und Tammy wollten in eine Romantische Komödie oder eine Schnulze gehen. Eigentlich war ich kein Fan von sinnlosem Hin und Her, Herzschmerz und dem voraussichtlichen Happy End. Aber wie so oft wurde ich nicht groß gefragt.

Unsere Pläne gingen beinahe den Bach runter, als unser Dad ein geschäftliches Meeting für diesen Tag aufs Auge gedrückt bekam. Das hieß: kein Auto. Und mit dem Bus bis zum Bahnhof zu fahren, um von dort aus nochmal eine halbstündige Fahrt zum Kino zurückzulegen, war uns eindeutig zu teuer. Jen war so frei und telefonierte mit den Jungs, ob sie ebenfalls Lust auf einen Film hätten. Brandon war der Einzige, der Zeit hatte und bot an, uns abzuholen. Mir selbst wäre es unangenehm, ihm solche Umstände zu bereiten, aber Tammy und ihre Freundin schienen es für selbstverständlich zu halten.
 

„In welchen Film gehen wir jetzt eigentlich?“, fragte ich rechtzeitig vor der Abfahrt. Ich wollte nicht in einem Horrorfilm landen. Jen zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung. Wir haben gesagt, wir entscheiden spontan. Die meisten Filme fangen zwischen acht und neun an, da sind wir auf jeden Fall rechtzeitig da.“ Das hoffte ich. Es gab nichts Schlimmeres, als im Kino in der ersten Reihe zu sitzen, sich den Hals nach oben zu verrenken und davon Kopfschmerzen zu bekommen. Um sieben, pünktlich auf die Minute, hupte draußen ein Auto. Tammy stakste mit ihren hohen Schuhen voraus, gefolgt von mir und Jen. Es war unübersehbar, dass meine Schwester Brandon ziemlich gerne hatte, doch als wir vor die Tür traten, fiel ihr breites Lächeln in sich zusammen. Da stand nicht Brandons Wagen, sondern – tja, wessen Wagen eigentlich? Es stieg niemand aus, die Scheiben waren dunkel getönt und ich konnte bei bestem Willen nicht sagen, wer von den Jungs ein solches Auto fuhr. Jen stieg vorne ein, ich hinter dem Fahrersitz und Tammy neben mir. Noch während ich mich setzte, registrierte mein Gehirn, wer da am Steuer saß, und beinahe wäre ich wieder aufgesprungen und rückwärts aus dem Auto gestiegen.

„Ladies“, sagte Jesse zur Begrüßung, ohne dabei wirklich charmant zu klingen. Das sollte man eigentlich, wenn man Ladies sagte, fand ich zumindest. Oder hatte er sich das von seinem großen Bruder abgeschaut?Außerdem hatte er doch seine eigene Lady, sollte er nicht lieber Zeit mit der verbringen? Sofort wünschte ich, ich hätte Nein zum Kino gesagt.

„Wo ist Brandon?“, fragte Tammy, nachdem sie Jesse Hallo gesagt hatte.

„Verspätet sich ein bisschen. Er hat mich gebeten, euch schon mal abzuholen, damit wir noch rechtzeitig Karten kaufen können.“
 

Wir? Na toll, ging er etwa mit ins Kino? Hatte er keine eigenen Freunde? Musste er unbedingt mit Brandon und den Jungs abhängen? Eine leise Stimme flüsterte in meinem Innern, dass Jesse schon zu der Clique gehört hatte, noch bevor ich sie überhaupt kennengelernt hatte. Doch ich ignorierte das und fand, dass ich völlig im Recht war, wenn ich jetzt sauer auf Jesse war. Wenn ich mir vorstellte, wie er im Kino vielleicht neben mir saß, wurde mir ganz anders. Ich konnte nur leider nicht eindeutig feststellen, ob gut-anders oder schlecht-anders. Ich seufzte, anstatt ihn zu begrüßen und fing seinen amüsierten Blick im Rückspiegel auf. Machte er sich etwa lustig über mich? Schnell sah ich aus dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Sobald Jesse den Wagen startete, heulte der Motor auf. Im Gegensatz zum Auto seines Bruders war dieses hier nicht halb so ordentlich. Überall lagen zerknüllte Papierchen - wahrscheinlich Strafzettel - ,leere Getränkedosen und… Klamotten?

„Nett, dass du uns abholst“, begann Jen Konversation. Überrascht registrierte ich, wie Jesse ihr ein Lächeln schenkte. Verdammt, sah er gut aus, wenn er lächelte. Ich musste den Blick abwenden, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass mein Herz wegen ihm schneller schlug. Ich kannte ihn kaum, eigentlich gar nicht. Ich wusste weder, wie alt er war, noch seinen Nachnamen oder sonst irgendwas. Und außerdem hatte ich ja eigentlich beschlossen, ihn nicht zu mögen. Ich überlegte einen Moment, ob es vielleicht möglich wäre, ihn weiterhin nicht zu mögen und trotzdem sein Äußeres anzuschmachten. Es war eigentlich hauptsächlich seine Ausstrahlung, die mich so faszinierte und ich fragte mich, ob Jesse nur auf mich diese Wirkung hatte. Ich musste an das Mädchen im McDonalds denken. Ganz offensichtlich nicht.

„Und? In welchen Film wollt ihr?“ Ich starrte auf Jesses Nacken zwischen Kopf- und Rückenlehne. Seine Haare kräuselten sich unter seiner Mütze hervor. Gerne würde ich sie mal anfassen.

Oh mein Gott, was passierte hier mit mir? Ich versuchte, einen Blick auf seine Tattoos zu erhaschen, um mir ins Gedächtnis zu rufen, dass er eigentlich gar nicht mein Typ war. Doch er trug einen langen Strickpullover. Nur an seinem Daumen konnte ich eine kleine schwarze Stelle erkennen, die jedoch größtenteils von einem silbernen Ring verdeckt wurde. Ich mochte seine Hände.

„Wir haben uns noch nicht entschieden“, beantwortete Tammy seine Frage. Zu meiner Verwunderung begann er ausschweifend über die momentan laufenden Filme zu erzählen – natürlich nur diejenigen, die für ihn interessant waren. Also nichts mit Schnulze oder romantischer Komödie. Immerhin hatte er einen guten Geschmack, was das betraf. Jen und Tammy diskutierten mit ihm, in welchen Film wir gehen sollten, und ich tat so, als würde ich die Gegend betrachten, während ich seiner Stimme lauschte. Sein Timbre war wundervoll. Er könnte Hörbuchsprecher werden. Ich stellte mir vor, wie ich im Bett lag und seine Stimme mich in den Schlaf lullte. Hör auf, schalt ich mich selbst, doch es nützte nichts.

„Und du, Eisprinzessin?“ Oh nein, nicht schon wieder.

„Nenn mich nicht so“, erwiderte ich eingeschnappt und kam mir wie ein Kind vor, als ich ihm einen bösen Blick im Rückspiegel zuwarf, den er dieses Mal eindeutig registrierte.

„In welchen Film möchtest du?“, fragte er und überging meinen Einwand dabei beflissentlich. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte nicht aufgepasst, als er erzählte, was alles lief. Also, zugehört hatte ich schon, aber ich konnte mich nur noch an den Klang seiner Stimme erinnern, nicht an die Worte. Ich musste verrückt geworden sein. Ich zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Mir egal.“ Noch immer klang ich wie eine bockige Achtjährige.

„Willst du lieber Schlittschuhlaufen gehen?“ Er ärgerte mich mit Absicht – schon wieder.

„Nein, danke. Ich bin nicht scharf auf einen weiteren Crash.“ Ich versuchte, mich zu beruhigen. Er brachte mich in nur wenigen Sekunden auf die Palme.

„Dafür hast du dich aber ziemlich eng an mich geklammert.“ Ich wollte ihn schlagen. Hier, sofort. Mir war egal, ob wir von der Straße abkamen. Ich wollte ihm einfach nur wehtun.

„Du hast mich gerammt“, erhob ich meine Stimme.

„Hört auf“, unterbrach uns Jen und sah zwischen uns hin und her.

„Was soll denn das? Wir sind hier nicht im Kindergarten.“ Ihr Kommentar entlockte Jesse ein Lachen, mir nur ein missmutiges Naserümpfen. Mir war Jesse lieber gewesen, als er griesgrämig und still war. Jen drehte das Radio lauter, damit niemand auf die Idee kam, wieder Streit anzufangen. Mein Blick verharrte noch einmal kurz auf Jesses Nacken, dann beschloss ich, dass er meine Aufmerksamkeit nicht verdiente und zwang mich, aus dem Fenster zu sehen. Jesse fuhr schnell und ich hegte die Hoffnung, dass irgendwo ein Blitzer stand und ihn erwischte. Mir doch egal, dass er unsere Mitfahrgelegenheit war. Ich hatte ihn nicht darum gebeten.
 

Im Kino war ziemlich viel los. Wir sahen uns im Foyer um und überflogen die Anzeigetafeln. Letztendlich fiel die Wahl auf einen Actionfilm. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er handelte. Die Schlange war lang.

„Popcorn?“, fragte Jesse nach fünf Minuten, in denen wir kaum weiter vorgerückt waren. Mir fiel auf, wie die Mädchen in unserer Nähe ihn ansahen und wünschte, sie würden damit aufhören.

„Ja, bitte.“ Jen ließ sich nie eine Chance auf Popcorn entgehen. Jesse zeigte auf Tammy und mich.

„Nein, danke“, lehnte meine Schwester höflich ab. Ich schüttelte nur stumm den Kopf und wich seinem Blick aus, der nun wieder gewohnt cool war. War er etwa einer der Typen, die in der Öffentlichkeit ihre Männlichkeit beweisen mussten? Doch dann würde er nicht anbieten, Popcorn zu holen. Er nickte und ging rüber zum Süßigkeiten- und Getränkestand.

„Was war das vorhin im Auto?“, flüsterte Tammy mir zu. Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

„Nichts. Er wollte mich nur ärgern.“ Sie runzelte die Stirn.

„Wenn er dir blöd kommt, sag Bescheid. Der soll bloß meine Schwester in Ruhe lassen.“ Sie schlang einen Arm um meine Schulter und schielte zu Jesse hinüber.

„Ist halb so wild“, hörte ich mich sagen. Was? Wieso verteidigte ich ihn auf einmal?

„Leute, ich muss mal ganz dringend“, mischte Jen sich ein und warf einen sehnsüchtigen Blick Richtung Klo.

„Oh, gute Idee. Sonst muss ich wieder während dem Film und ich will nichts verpassen“, sagte Tammy und hakte sich bei Jen unter.

„Lea?“ Sie nickte zur Toilette. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, ich muss nicht. Außerdem muss ja jemand unseren Platz in der Schlange verteidigen“, sagte ich und scheuchte die beiden weg.
 

So ganz allein war ich versucht, zu Jesse hinüberzuschielen, doch ich heftete meinen Blick stattdessen auf den Verkäufer unserer Schlange, der ziemlich ins Schwitzen kam bei den vielen Kunden. War wohl sein erster Tag. Ich musste grinsen, als er beinahe die Fassung verlor, als drei Mädels wohl mehrmals ihre Meinung änderten, in welchen Film sie wollten und ihn damit in den Wahnsinn trieben.

„Genießt du die Aussicht?“, hauchte eine Stimme nah an meinem Ohr und ich machte einen Satz nach vorn.

„Jesse“, zischte ich. Das musste echt aufhören. Er schenkte mir ein unschuldiges Lächeln und drückte mir eine Popcorntüte in die Hand.

„Ich wollte keins.“ Er hob eine Augenbraue.

„Bedank dich einfach und sei still.“ Ich war kurz davor, erneut aus der Haut zu fahren, doch ich entschloss mich für das Gegenteil. Wenn ich einfach nicht zuließ, dass er mich ärgerte, würde er es irgendwann sein lassen.

„Danke“, sagte ich also so charmant ich konnte und lächelte. Er sah mich nur an, hatte wohl definitiv nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Für einen Moment standen wir schweigend da und mir wurde unangenehm bewusst, wie nahe er neben mir stand. Ich müsste nur meinen Ellbogen ein bisschen bewegen, dann würde ich ihn berühren. Bei der Vorstellung wurden meine Ohren ganz warm. Wie konnte es nur sein, dass dieser Typ solche idiotischen Gedanken in mir weckte?
 

Für Außenstehende musste es so wirken, als wären wir zusammen hier. Ich meine, wir waren zusammen hier, aber eben nicht… zusammen. Ich schielte zu den Toiletten hinüber und hoffte, dass Tammy und Jen sich beeilten. Jesse nahm währenddessen seelenruhig einen großen Schluck von seinem Getränk. Er hatte den üblichen Deckel und das Röhrchen entfernt und nippte direkt aus dem Becher. In der anderen Hand hielt er Jens Popcorn. Für einen Augenblick war ich versucht, von unten gegen seinen Arm zu schlagen, sodass er mit Popcorn berieselt wurde, aber ich war zu feige, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Außerdem waren das Jens Popcorn. Und mit Essen spielte man nicht. Ich seufzte. Warum kam ich eigentlich immer wieder auf dieses Thema zurück?

„Ist alles okay?“ Jesse hatte die Stirn gerunzelt und sah mich prüfend an.

„Ja“, sagte ich nur kurz angebunden und schaute weg. Ich wollte nicht mit ihm reden. Solange ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich ihn leiden konnte oder nicht, hielt ich lieber Abstand.

„Du solltest mich nicht zu ernst nehmen“, sagte er aus heiterem Himmel.

„Was?“ Nun lag meine Stirn in Falten.

Jesse spielt gerne, hallten Gregs Worte in meinem Kopf wider. Spielte Jesse etwa mit mir? Er war die Katze und ich die Maus?

„Ich sagte: Du solltest mich nicht zu ernst nehmen.“ Wir machten einen kleinen Schritt nach vorn, als die Schlange in Bewegung kam.

„Ich habe dich schon gehört. Ich verstehe nur nicht, was das bedeuten soll“, antwortete ich. „Du irritierst mich“, gestand ich, behielt jedoch für mich, dass es besonders seine Nähe war, die mein Gehirn vernebelte.

„Ich irritiere dich? Du bist doch hier diejenige, die auf mysteriös macht.“ Was? Das glaubte er von mir? Dass ich ein Spielchen spielte?

„Ich bin nicht… mysteriös.“ Ich hatte keine Ahnung, wie er dieses Wort überhaupt mit mir in Verbindung bringen konnte. Er zuckte die Achseln, wobei ein paar Popcorn zu Boden fielen, doch er beachtete es gar nicht.

„Naja, du starrst mich andauernd an.“ Oh Mist, er hatte es bemerkt.

„Und du verhältst dich, als hätte ich dich irgendwie beleidigt oder so.“ War das sein Ernst?

„Entschuldige mal, du hast mich auf dem Eis gerammt. Absichtlich. Weißt du eigentlich, was da alles schiefgehen kann?“ Mir war klar, dass ich mich wie ein hysterisches Schulmädchen mit einem Stock im Arsch anhörte, aber ich musste das alles einfach mal loswerden.

„Ist doch nichts passiert“, verteidigte sich Jesse. Er nahm mich einfach nicht ernst.

„Zu deinem Glück.“ Ich wollte ihm weitere Gemeinheiten seinerseits aufzählen, doch seine grünen Augen, die mich fixierten, als würde er noch immer versuchen, aus mir schlau zu werden, lenkten mich ab.

„Außerdem starre ich dich nicht an.“ Er grinste und ich musste wegsehen.

„Doch, tust du.“
 

Wo waren Jen und Tammy, wenn man sie mal brauchte? Ich sah mich nach ihnen um, doch ohne Erfolg.

„Wo bleibt eigentlich Brandon?“ Der Themenwechsel klappte nicht, denn Jesse hob nur eine Augenbraue – Ich mochte das. Verdammt, schon wieder! – und wartete auf eine Erklärung.

„Ich starre wenn dann nur deine Tattoos an, okay?“ Es hatte ja doch keinen Sinn, es zu leugnen. Er gab ein glucksendes Geräusch von sich und verkniff sich ganz offensichtlich ein Grinsen.

„Wieso, willst du dir auch eines stechen lassen?“ Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

„Siehst du, genau das meine ich. Ständig machst du dich über mich lustig.“ Jetzt schien er wirklich verwirrt.

„Entschuldige, das ist meine Art von Humor. Wenn du das falsch verstanden hast, tut’s mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken.“ Dieses Mal lag keine Ironie in seinen Worten. Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Was soll’s.“ Wie konnte ich auch böse auf ihn sein, wenn er mich so ansah?

„Gut, dass wir das geklärt hätten. Gibt’s sonst noch was, das du an mir auszusetzen hast, wo wir gerade dabei sind?“

Das hatte ich tatsächlich.

„Wenn du schon so fragst: Ich kann Typen nicht leiden, die ihre Freundin betrügen.“ Ups. Da war es mir einfach rausgerutscht. Erst denken, dann den Mund aufmachen, Lea! Das war zu viel. Und es ging mich auch absolut nichts an, aber ich konnte meine Klappe einfach nicht halten. Und außerdem hatte er gefragt. Es offenbarte sich mir ein völlig neuer Zug an Jesse, denn er war auf einmal sprachlos.

„Was?“ Es fiel ihm schwer, seine Stimme nicht zu erheben. Ich hätte lieber nicht davon anfangen sollen. Wenn er mich fragte, woher ich das wusste, musste ich zugeben, dass ich auf der Party am Balkon gestanden und ihn mehr oder weniger gestalkt hatte. Als ich daran dachte, wie er dieses Mädchen geküsst hatte, wurde mir ganz anders, weil ich mir vorstellte, wie sich seine Lippen wohl auf meinen anfühlten. Aber ich würde niemals etwas mit einem Kerl anfangen, der vergeben war.
 

„Ist das eine verquere Art, herauszufinden, ob ich Single bin?“

Ach du Schande, jetzt glaubte er, ich würde auf ihn stehen… Aber war es nicht so? Nur auf sein Äußeres, rief ich mir in Erinnerung, doch das machte es auch nicht besser.

„Was? Nein! Ich dachte… vergiss es. Da habe ich wohl was in den falschen Hals gekriegt.“ Ich spürte, dass ich rot wurde und wollte am liebsten im Erdboden versinken. Stattdessen biss ich mir nur auf die Unterlippe, um weitere blöde Kommentare meinerseits zurückzuhalten. Zum Glück wurde ich in diesem Moment erlöst, weil Tammy und Jen wieder zu uns stießen.

„Da drin ist die Hölle los“, teilte uns Jen mit.

„Ihr seid aber auch noch nicht viel weiter“, meinte Tammy und warf einen Blick auf die Uhr. Dank Jesses Raserei war noch immer genug Zeit. Wir würden es noch rechtzeitig zum Anfang des Films schaffen.

„Hier!“ Jesse überreichte Jen ihr Popcorn, das sie freudig entgegennahm und sich sofort ans futtern machte.

„Danke dir. Was bekommst du?“ Sie kramte in ihrer Tasche, doch Jesse schüttelte den Kopf.

„Lass mal stecken. Geht auf's Haus.“ Die Beschenkte lächelte zuckersüß.

„Danke.“ Es wäre schön, wenn mich etwas so Simples auch so glücklich machen würde. Ich warf Jesse einen kurzen Blick zu. Dass er für das Popcorn bezahlte, fand ich ziemlich nett. Klar waren das nur ein paar Euro, doch die Geste zählte. Apropos Geste. Im nächsten Moment wurden mir meine Popcorn aus der Hand gerissen.

„Hey“, sagte ich empört und sah Jesse böse an – zum gefühlt hundertsten Mal heute.

„Was denn!? Du wolltest keine.“ Da hatte er auch wieder Recht. Gegessen hätte ich sowieso kaum etwas. Endlich gelangten wir an die Kasse.

„Fünf Mal Reveal“, orderte Jesse, und bevor wir unsere Geldbeutel zücken konnten, hatte er auch die Karten für uns bezahlt. Dieses Mal bedankte auch ich mich.

„Jetzt muss nur noch Brandon auftauchen.“ Tammy stellte sich auf Zehenspitzen, um die Menge besser überblicken zu können.

„Da ist er.“ Jesse streckte den Arm in Richtung Eingang. Die Miene meiner Schwester hellte sich sofort auf.

„Sorry, Leute. Ich musste noch kurz was erledigen und auf dem Weg hierher war verdammt viel Stau.“ Wir steuerten zum Kinosaal 2 und suchten unsere Plätze. Ich versuchte, mich nach vorne zu drängen, um den Platz am Rand in unserer Reihe zu erhaschen, aber es drängten alle Leute gleichzeitig ins Kino, als die Türen geöffnet wurden.

Glücklicherweise schaffte ich es noch rechtzeitig, mich zwischen Jen und Tammy zu quetschen, bevor sie sich hinsetzten. Sie verstanden die Botschaft und machten mir Platz. Puh. Eineinhalb Stunden direkt neben Jesse hätte ich nicht ausgehalten.
 

Der Film erwies sich als ziemlich voraussichtlich und es fehlte eindeutig an schauspielerischem Talent. Da wäre mir eine gute Schnulze doch lieber gewesen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Brandon seine Hand auf Tammys legte. Jackpot. Ich war nur froh, dass Jen noch dabei war, sonst hätte sich das hier zu sehr nach misslungenem Doppeldate angefühlt. Meine Augen wanderten auf die andere Seite, wo ich Jesses Hand gerade in der Popcorntüte verschwinden sah. Er hatte noch nicht besonders viel davon gegessen. Mit der anderen Hand scrollte er über den Touchscreen seines Handys. Ihm schien der Film genauso zu missfallen wie mir. Ich fragte mich, ob er die Nummer des Mädchens im McDonalds gespeichert hatte. Und ich fragte mich, ob er sie getroffen hatte. Und ob er nun eine Freundin hatte oder nicht. Und ob sich seine Lippen wirklich so anfühlten, wie ich es mir vorstellte.

Nach achtundneunzig Minuten voller sinnloser Schießereien und platten Sprüchen wurde ich endlich durch den Abspann erlöst. Die Menge drängte genauso ungeduldig heraus wie herein. Mir fiel auf, dass Tammy und Brandon Händchen hielten.

„Übrigens bin ich Single, falls es dich noch interessiert“, flüsterte Jesse mir ins Ohr und ich versuchte instinktiv, von ihm wegzukommen, doch es mengten sich so viele Leute in dem schmalen Ausgang, dass das leider nicht möglich war. Er stand direkt hinter mir und ich spürte, wie er mit seiner Schulter meine streifte, während wir langsam mit dem Strom heraustippelten. Wieso erzählte er mir das? Und wieso war ich deswegen so erleichtert?

Es interessiert mich nicht die Bohne, hätte ich ihm am liebsten an den Kopf geworfen, doch ich entschied mich dagegen und blieb stumm.

„Und was jetzt? Der Abend ist noch jung.“ Brandon sah in die Runde.

„Morgen ist Schule“, warf Jen ein und ich war froh, dass dieses Mal nicht ich die Spießerin war, die darauf hinwies. Er zuckte leicht enttäuscht mit den Schultern.

„Na schön, dann bringe ich euch nach Hause.“ Jesse fuhr uns also nicht zurück, sondern Brandon. Das sollte mir eigentlich egal sein. War es aber nicht.

Brandon hatte seinen Wagen am anderen Ende des Parkplatzes abgestellt. Wir blieben vor dem Eingang stehen und Brandon und Jesse besprachen noch kurz etwas wegen der nächsten Bandprobe. Jesse drückte mir sein restliches Popcorn in die Hand, um sich eine Zigarette anzuzünden.

„Samstag geht in Ordnung. Schick mir 'ne Nachricht.“

Tammy fragte, ob wir zur Probe vorbeischauen durften. Natürlich wollte sie Brandon so schnell wie möglich wiedersehen.

„Klar, wir brauchen doch unsere Groupies“, scherzte er.

„Also dann.“ Jesse hob die Hand und drehte sich um, ohne sich noch weiter von uns zu verabschieden. Irgendwie hatte ich heute Abend etwas anderes erwartet. Es musste ja nicht gleich eine Umarmung sein – doch, wieso eigentlich nicht? – aber er schien wieder genauso distanziert wie zu Anfang. Vielleicht bewertete ich das aber auch nur über. Ich musste ja nicht gleich in jede Geste etwas hineininterpretieren. Um ihm nicht länger hinterherzustarren, senkte ich den Blick. Und sah in die noch halbvolle Popcorntüte.

Pearl

„Komm schon, Pearl. Du musst stillhalten. Ich brauche dich im Profil, Süße.“ Die kleine spanische Hündin schnupperte an der Linse meiner Kamera und wedelte mit dem Schwanz, während sie meine Hand abschleckte. Ich legte den Fotoapparat zur Seite.

„Na gut, dann eben erst Kuschelrunde“, gab ich mich geschlagen und kraulte sie hinter den Ohren. Sofort legte sie sich auf meinen Schoß und lehnte ihren Kopf gegen meinen Bauch. Sie liebte Streicheleinheiten.

„Wie sollen wir dich je vermitteln, wenn ich keine Fotos von dir hinkriege, hm?“ Mir war es ja irgendwie recht, dass sich noch keine Interessenten gemeldet hatten, aber auf Dauer war das Tierheim keine Lösung.

„Na gut, genug geschmust. Mal sehen, ob du letztes Mal gut aufgepasst hast.“ Ich erhob mich von der Picknickdecke, die ich auf dem Übungsplatz ausgebreitet hatte, um Pearl an die Leine zu gewöhnen.

„Sitz.“ Sie gehorchte sofort. Sie war eine sehr lernfreudige und gehorsame Hündin. Ich spürte, dass sie mir gefallen wollte.

„Fein“, lobte ich sie und streifte ihr das Geschirr über. Sie hielt still, schien aber nicht besonders glücklich zu sein. Ich entschied, sie erst mal frei laufen zu lassen, um sie an das Gefühl des Geschirrs zu gewöhnen. Wir spielten eine Weile mit ihrem Lieblingsball, der quietschte, wenn sie darauf biss, und sie hatte schnell vergessen, dass sie den roten Stoff am Körper trug. Apportieren hatte sie in nur einem Tag gelernt. Ich hoffte, dass das mit der Leine auch relativ schnell klappte. Sie war es nicht gewohnt, von jemandem in eine bestimmte Richtung dirigiert zu werden. Als Straßenhund hatte sie in vollkommener Freiheit gelebt.

Ich entschied mich zunächst für eine Schleppleine, damit sie verstand, dass das seltsame Seil nicht ihr Feind war oder sie einengte. Ich befestigte den Karabiner an dem Geschirr und ließ sie weiter frei laufen. Sie war etwas irritiert von der Leine, die ihr ständig folgte, doch sie hatte keine Angst. Das war ein guter Anfang.

„Lea, willst du nicht mal Schluss machen? Es ist schon nach neun.“ Martha lehnte am Zaun und sah mich lächelnd an. Ich war schon fünf Stunden hier. Da hatte ich wohl die Zeit vergessen.

„Tut mir Leid. Du willst bestimmt abschließen. Ich bringe nur noch Pearl zurück in die Box, dann bin ich für heute fertig.“ Ich ging das Risiko ein, Pearl an der Schleppleine in ihren Zwinger zu führen, doch sie achtete gar nicht darauf, weil sie so fixiert auf mich war. Bei Fuß musste ich ihr wohl nicht mehr beibringen.

„Bis Sonntag, meine Süße.“ Ich befreite sie von ihrem Geschirr und knuddelte sie nochmal kurz, dann ging ich zu Martha und verabschiedete mich von ihr.
 

„Soll ich dich mitnehmen?“ Sie klimperte mit dem Autoschlüssel, doch ich schüttelte den Kopf. Es war für einen Winterabend noch erstaunlich hell und ich wollte einen kleinen Spaziergang machen. Morgen war Samstag, das bedeutete Bandprobe.

Ich musste mir darüber klar werden, ob ich mitgehen würde oder nicht. Ich mochte die Jungs und ich wollte wissen, ob Brandon auch vor den anderen die Hand meiner Schwester halten würde. Aber wieder einmal machte ich meine Entscheidung nur von einer Person abhängig. Ich wusste, wenn ich ihn wiedersah, lief ich Gefahr, ihn einmal mehr anzustarren. Ich hatte Angst davor, dass er wieder genauso distanziert sein könnte wie früher. Wir hatten gestern zwar auch nicht unbedingt viel miteinander geredet, aber irgendwie hatte ich das Gefühl gehabt, etwas hätte sich zwischen uns verändert. Sollte ich herausfinden, dass das nur eine Illusion war, müsste ich meinen Kopf wohl mit voller Wucht gegen die nächstbeste Wand schlagen.

Ich hatte lange genug Zeit gehabt, um mir einzugestehen, dass ich mich von Jesse angezogen fühlte. Gott weiß, warum. Vielleicht, weil er nicht wie alle anderen war. Vielleicht, weil er mich nicht kannte, weil er in mir etwas anders sah. Er hielt mich für mysteriös. So hatte mich noch niemand genannt. Und ich wusste nur zu gut, dass ich es nicht war. Ich selbst würde nicht mit mir abhängen, in dem Zustand, in dem ich war. Bestimmt war es momentan nicht sehr unterhaltsam, Zeit mit mir zu verbringen. Ich fühlte mich zerbrochen, unvollständig und unsicher. Meine Mundwinkel schienen schwerer geworden zu sein. Und es gab kaum noch etwas, das mich zum Lachen bringen konnte. Mir war bewusst, dass sich das nicht besonders von einer echten Depression unterschied. Die Antriebslosigkeit, die Leere, die Gleichgültigkeit. Warum sollte jemand freiwillig bei mir sein wollen?

Warum sollte Jesse das wollen?
 

„Ich kann morgen nicht mitkommen“, berichtete ich Tammy, während wir gelangweilt auf dem Sofa durch die Kanäle zappten.

„Was? Wieso nicht?“ Sie richtete sich auf und legte die Fernbedienung beiseite.

„Ich muss ins Tierheim. Pearl macht sich nicht gerade gut im Moment.“

Sie legte den Kopf schief.

„Du warst erst gerade bei ihr.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Und am Sonntag bist du auch wieder da. Meinst du nicht, sie hält's mal einen Tag ohne dich aus?“ Ich hätte mir eine bessere Ausrede einfallen lassen sollen.

„Ich habe irgendwie keine Lust, mitzugehen“, änderte ich meine Taktik und zog meine Decke weiter über mich. Tammy sah mich enttäuscht an.

„Geht das schon wieder los, Lea? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“ War ja klar, dass sie sich sofort wieder Sorgen machte. Sie sollte sich nicht den Kopf über mich zerbrechen. Das hatte sie in den letzten Monaten schon genug getan. Außerdem befürchtete ich, dass sie unseren Eltern davon erzählte.

„Es ist alles in Ordnung. Ich will nur einfach nicht mit.“ Ihre Mimik wechselte von besorgt zu argwöhnisch.

„Hat das was mit Jesse zu tun?“ Musste sie unbedingt seinen Namen erwähnen? Tammy glaubte wahrscheinlich immer noch, dass ich ihn nicht leiden konnte. „Hat er irgendwas gemacht, während wir weg waren?“ Was glaubte sie denn, was er machen würde?

„Was? Nein.“ Ich brauchte unbedingt einen Themenwechsel.

„Hat er was Blödes zu dir gesagt? Du weißt, ich mache ihm sofort Feuer unterm Hintern, wenn er dir blöd kommt.“ Ich musste grinsen, weil sie so einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hatte.

„Verprügelst du ihn auch, wenn ich dich darum bitte?“, fragte ich lachend.

„Da fragst du noch? Natürlich! Ich schnappe mir Jen und zusammen machen wir Hackfleisch aus ihm.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, schlug sie ihre Faust in die offene Handinnenfläche. „Hat er es denn verdient?“ Sie schien die Tracht Prügel ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Ich schüttelte nur den Kopf.

„Nein. Es war nichts.“ Tammy beugte sich zu mir herüber.

„Ich verstehe ja, dass du ihn nicht besonders leiden kannst, aber ich glaube, Jesse ist eigentlich gar kein schlechter Kerl.“ Ich seufzte.

„Ich will einfach mal 'nen Tag für mich, ist das zu viel verlangt?“ Tammy griff wieder nach der Fernbedienung und schaltete wahllos durch die Kanäle.

„Mach, was du willst.“ Sie schmollte. Wenn sie es jetzt schaffte, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, würde ich noch einknicken und morgen wieder mitgehen. Also stapfte ich ohne weitere Umschweife noch oben in mein Zimmer und las mein Buch, das ich seit Tagen vernachlässigt hatte, endlich zu Ende.
 

Eigentlich mochte ich Samstage. Aber nicht, wenn es regnete. Und nicht, wenn ich ganz allein zuhause war – wo Tammy war, wusste ich ja ganz genau, und Mom und Dad hatten sich mit irgendwelchen alten Bekannten zum Essen verabredet. Ich hatte also das ganze Haus für mich. Und mir fiel die Decke auf den Kopf. Wenn ich nicht bald Ablenkung fand, würde ich gleich verrückt werden. Ich überlegte eine Weile, ob ich tatsächlich ins Tierheim gehen sollte, doch bei dem heftigen Unwetter würde ich nicht viel mit Pearl arbeiten können. Ich spielte mit dem Gedanken, ob ich Kasper anrufen sollte und hielt mein Handy unentschlossen in der Hand, als es klingelte. Ich erschrak kurz und musste über mich selbst lachen. Tammys Name leuchtete auf dem Display auf. Eigentlich hatte ich jetzt keine Lust, erneut mit ihr zu diskutieren. Bestimmt wollte sie mich überreden, doch noch in die Garage zu kommen.

„Was gibt’s“, fragte ich genervt in den Hörer. Wenn ich nicht abnahm, würde sie sich bloß wieder Sorgen machen.

„Sag deiner Schwester, sie soll sich abregen!“ Mein Gehirn verarbeitete die Stimme, die nicht zu der Nummer meiner Schwester passte.

„Ty?“ Ich war verwirrt. „Was ist los?“

Mein Herz schlug schneller. Wenn Tammy gerade eine Szene machte – wegen mir – dann müsste ich sie auf der Stelle umbringen. Ich hoffte nur, dass sie Jesse da raushielt. Gott, wäre das peinlich!

„Sie zerlegt unser gesamtes Equipment.“ Mir stockte der Atem. Wie konnte sie nur so ausrasten? Und das, wo ich ihr doch gesagt hatte, es sei alles in Ordnung. Sie hatte mir offensichtlich nicht geglaubt.

„Du musst sofort herkommen und sie aufhalten.“ Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Der nächste Bus kam erst in zwanzig Minuten. Kein eigenes Auto zu haben, war manchmal ziemlich unpraktisch. Dann hörte ich irritiert das Lachen am anderen Ende der Leitung.

„Ich mache nur Spaß, Lea.“

Er hatte mich nur veräppelt? Einerseits wollte ich ihn anschreien, andererseits war ich ziemlich erleichtert. Ich hörte ein Rascheln in der Leitung. Hatte Ty schon wieder aufgelegt?

„Ich habe nichts gemacht, ich schwör’s!“, erklang die Stimme meiner Schwester. Am Rauschen im Hörer und an diversen Rangellauten konnte ich erahnen, dass sich die beiden wohl um Tammys Handy stritten.

„Ty, gib’s mir zurück.“ Ich stellte mir vor, wie die Anderen amüsiert zusahen und keinen Finger rührten, um einem der beiden zu helfen.

„Lea, komm doch her. Wir haben hier ein paar kleine Meinungsverschiedenheiten bezüglich unserer Songauswahl. Und deine Schwester hat leider einen grauenvollen Musikgeschmack. Wir brauchen deine Hilfe. Die weibliche Note, du verstehst?“ Ich musste lachen.

„Zu viel Testosteron?“, fragte ich grinsend.

„Hey! Mein Geschmack ist vorzüglich, du Blödmann“, funkte Tammy wieder dazwischen.

„Komm einfach vorbei, ja?“, bat Ty und aus irgendeinem Grund wollte ich ihn nicht enttäuschen.

„Na schön“, seufzte ich. „Ich mache mich auf den Weg.“

Sie hatten Glück, dass mir so langweilig war. Und außerdem hatte Ty Recht: Der Musikgeschmack meiner Schwester war grauenvoll.
 

Ich hörte schon von draußen die laute Musik in der Garage. Im Innern diskutierten Ty, Tammy, Ezra, Kurt und Jesse über das Lied, das gerade lief.

„Das ist langweiliger Mainstream. Das können wir nicht bringen“, meinte Ezra gerade, als ich das Tor wieder hinter mir schloss.

„Hey, da kommt unsere Rettung“, begrüßte mich Ty. Ich lächelte in die Runde und setzte mich gleich auf meinen Autoreifen.

„Was macht ihr?“, fragte ich, obwohl es ziemlich offensichtlich war.

„Wir diskutieren über unsere Playlist für den nächsten Gig“, sagte Kurt und drückte auf Replay, sodass das Lied nochmal von Anfang an spielte.

„Was hältst du davon?“ Mir war bewusst, dass mich alle ansahen, aber ich starrte nur auf den Boden und wartete bis nach dem ersten Refrain. Dann zuckte ich mit den Schultern.

„Das kenne ich nicht. Klingt aber nett.“ Tammy warf die Arme in die Höhe.

„Du kennst es nicht?“ Ich schüttelte unberührt den Kopf.

„Nett ist die kleine Schwester von Scheiße“, gab Ezra seinen Kommentar dazu. Charmant.

„Aber es könnten wenigstens alle mitsingen“, hielt Tammy dagegen. Mir war nicht ganz klar, wer hier auf wessen Seite stand, deshalb schwieg ich lieber zu diesem Thema und versuchte es mit einer Ablenkung.

„Was habt ihr denn bisher?“ Kurt klickte sich durch den iPod, den er an eine Box angeschlossen hatte. Viele Lieder kannte ich nicht, aber sie gefielen mir.

„Finde ich ganz gut bisher. Eine gute Mischung.“

„Wir brauchen aber noch mindestens sieben weitere Lieder.“ Ezra schien genervt. Wenn sie den ganzen Tag auf Songsuche gewesen waren, konnte ich das auch gut verstehen.

„Was ist dein Lieblingslied?“, fragte Jesse plötzlich. Ich überriss erst gar nicht, dass er mit mir redete; doch als mich schon wieder alle abwartend musterten, begann ich, ernsthaft darüber nachzudenken.

„Was Schnelles. Nichts Schnulziges“, warf Ezra ein, der begonnen hatte, auf seinen Fingernägeln rumzukauen. Jesse warf mit seinem Feuerzeug nach ihm.

„Ich habe sie nach ihrem Lieblingslied gefragt, also halt die Klappe.“ Wir grinsten uns kurz an. Und schon war es wieder da. Das Herzklopfen. Bis jetzt hatte ich es vermeiden können, in seine Richtung zu sehen, doch jetzt hatten mich seine grünen Augen schon wieder in ihren Bann gezogen.

„Run boy run?“ Es war ein ziemlich bekanntes Lied, was eigentlich weniger in mein Schema passte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Zero es auf der Bühne performte.

„Könnte klappen“, befand Ezra und setzte sich ans Schlagzeug. Konnten sie das etwa einfach so spielen? Ohne Noten, ohne Vorbereitung?
 

„Probieren wir’s aus“, stimmte Kurt zu und schnappte sich seine Gitarre. Brandon fehlte am Bass. Wo war der eigentlich? Jesse hatte das Mikro bereits in der Hand. Anscheinend hatte er keine große Lust, von seiner Kiste aufzustehen. Gefiel ihm meine Wahl nicht? Er legte den Schalter von off auf on, wodurch ein leises Knacken in den Lautsprechern entstand. Ezra und Kurt spielten beide eine Weile unzusammenhängend auf ihren Instrumenten herum.

„Okay?“, fragte Ezra und als die beiden Jungs nickten, gab er das Intro zum Besten. Es war eine völlig andere Version, total improvisiert und teilweise abweichend vom Original und hin und wieder passten Schlagzeug und Gitarre nicht zusammen, aber für den ersten Versuch aus dem Stegreif fand ich das phänomenal. Und Jesse… ja, ich musste zugeben, ich starrte ihn schon wieder an. Aber dieses Mal war es mir völlig egal. Ich verfolgte jedes Wippen seiner Beine, dass Trommeln der Hände auf seinem Oberschenkel zum Takt der Musik, das rhythmische Nicken mit dem Kopf und seine Lippen, die mein Lied sangen. Er hatte verdammt lange Wimpern, was aber nur auffiel, wenn man genau hinsah, weil sie relativ hell waren. Manche Mädchen würden sterben für solche Wimpern.

Im Refrain schweifte sein Blick zu mir herüber und ich entschied mich, nicht wegzusehen. Sollte er ruhig sehen, wie ich ihn fasziniert musterte. Ihm war es sowieso schon aufgefallen. Nachher könnte ich ja behaupten, ich hätte mich nur auf seinen Gesang konzentriert. Er wich zwar oft vom Original ab, aber jeder Ton saß perfekt. Er wusste genau, was er tat. Erneut fragte ich mich, ob er im Internat irgendwas mit Musik gemacht hatte. Längst hatte ich aufgehört, mich gegen seinen Charme zu wehren, und so bohrten sich seine grünen Augen nun einen nie endenden Moment in meine. Ich sah, wie sich seine Lippen leicht kräuselten, dann war der Zauber wieder vorbei. Das Lied endete und ich musste tief durchatmen, bevor ich in Tammys Applaus mit einfiel.

„Das kommt definitiv mit auf die Liste.“ Sie schnappte sich Zettel und Stift aus ihrem Schoß und schrieb mein Lied dazu. Ich musste zugeben, ich war ziemlich stolz auf meine Wahl.

„Noch weitere brillante Vorschläge?“, fragte Ezra vom Schlagzeug aus. Ich überlegte fieberhaft. Ich wollte meinen guten Eindruck nicht mit einer schlechten Idee zunichtemachen.

„Wie wär’s mit einer Ballade?“, schlug Jesse vor und sah mich erneut an. Ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn seine Augen mich so musterten. In meinem Kopf spulte ich alle möglichen Titel durch, die mir einfielen.

„Somewhere only we know… von Keane?“ Ich hatte keine Ahnung, ob sie das überhaupt kannten.

“The Scientist. Good enough. Ähm…” Jesse hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.

„Tammy, schreib das auf.“ Meine Schwester nickte. Kurt war anzusehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich redete.

„Weißt du was, mach doch eine Playlist und brenn die CD. Dann können wir uns das alles in Ruhe anhören“, schlug Ty vor.

„Soll ich auch eine machen?“, bot Tammy sich an und Ty lachte.

„Du kannst gerne eine machen, aber ob wir uns die anhören, ist wieder eine andere Sache“, neckte er sie.

„Warum machen wir nicht alle eine Playlist? Und beim nächsten Mal entscheiden wir dann, was wir ins Programm aufnehmen?“

Gute Idee, aber dann war ich vollkommen umsonst hergekommen. Jetzt war ich gerade mal eine halbe Stunde hier. Jesse schielte auf seine Uhr.
 

„Gut, dann können wir ja jetzt zur Party, oder?“

Was, Party? Davon hatte vorhin keiner was gesagt. Ich warf Tammy einen wütenden Blick zu, doch sie schien genauso ahnungslos zu sein wie ich.

„Ihr kommt doch mit, oder?“, fragte Ty an uns beide gewandt.

„Was für eine Party?“, wollte meine Schwester wissen.

„Greg schmeißt 'ne Einweihungsparty. Er und Lydia haben vor kurzem ein Haus gekauft“, erklärte Ezra und warf seine Lederjacke über. Tammy sah an sich herunter.

„Ich habe gar nichts zum Anziehen dabei.“

Jesse sprang von seiner Kiste.

„Es freuen sich bestimmt alle, wenn du gar nichts anhast“, neckte er sie und öffnete die Garage. Starrte ich gerade tatsächlich auf seinen Hintern? Ich räusperte mich und sah schnell weg. Zu meiner Verwunderung wollte ich mich nicht vor der Party drücken. Ich mochte die neue Clique meiner Schwester. Früher war sie ständig nur mit Mädels aus ihrer Schule abgehangen, und die waren ziemlich anstrengend gewesen. Jungs waren so viel unkomplizierter und umgänglicher. Außerdem wussten sie im Gegensatz zu Tammys alten Freunden nichts über mich und das gefiel mir am allerbesten.

„Tammy, Lea, könnt ihr bei Jesse mitfahren? Wir müssen noch ein paar Kumpels abholen.“

Ich versuchte zumindest, mich nicht darüber zu freuen, wieder in sein Auto einzusteigen. Bevor Tammy hinten einsteigen konnte, hatte ich es mir schon auf dem Rücksitz bequem gemacht. Das ermöglichte mir wieder den Blick auf Jesses Nacken. Dieses Mal trug er jedoch keine Mütze. Ich mochte sein Haar.
 

„Ist das eher eine Gartenparty?“, fragte Tammy hoffnungsvoll, weil sie es noch immer nicht leiden konnte, ungestylt auf eine Party zu gehen. Ich verkniff mir den Kommentar, dass es in Strömen regnete. Jesse lachte kurz.

„Nein, definitiv nicht.“ Oje, so wie er es sagte, war klar, dass massenhaft Alkohol fließen und laut Musik gespielt werden würde. Warum hatte ich nicht einfach behauptet, ich hätte noch was vor? Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass es ein ruhiger Abend werden würde. Manchmal war ich echt naiv. Ich vertrug doch keinen Alkohol. Und außerdem fiel mir gerade wieder ein, was das letzte Mal passiert war, als ich auf einer Party gewesen war. Ich hatte Jesse gestalkt, während er mit irgendsoeiner Blondine rumgemacht hatte. Mein Magen zog sich zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein. War ich etwa eifersüchtig? Ich hoffte, nicht.

Denn ansonsten würde das bedeuten, dass ich mich verknallt hatte.

Erdnüsse

Es war neunzehn Uhr, als wir bei Greg ankamen. Das Haus war nicht besonders groß, aber gemütlich. Wäre ich Lydia, hätte ich die Einweihungsparty gegeben, bevor ich alles so liebevoll und detailgetreu eingerichtet hätte.

„Wie kann Greg sich das überhaupt leisten?“, rutschte es mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte. Das hörte sich an, als würde ich ihn für einen Idioten halten. „Ich meine, er ist doch nicht so viel älter als wir, oder?“, versuchte ich zu ergänzen. Jesse zuckte mit den Schultern.

„Naja, mit einer eigenen Autowerkstatt kann man ganz schön Geld ranschaffen, wenn man es richtig macht.“ Ich fragte mich, ob Jesse auch ein Händchen für Mechanik hatte. Am Straßenrand sammelten sich schon Dutzende Autos. Ich hätte wissen müssen, dass Greg bei Partys keine halben Sachen machte.

„Wir haben gar kein Geschenk dabei“, fiel mir plötzlich ein. Die beiden sahen mich verwirrt an, während wir ausstiegen.

„Einweihungsgeschenke?“, fragte ich nach, weil die beiden so aussahen, als hätten sie noch nie etwas davon gehört. Jesse breitete die Arme aus.

„Ich hab' euch dabei.“ Er grinste und ich konnte nicht anders, als es zu erwidern. Die Tür war nicht abgeschlossen und Jesse machte sich nicht die Mühe, zu klingeln. Er betrat das Haus als Erster, hielt uns aber die Tür auf. Ich murmelte ein Danke, das in der lauten Musik jedoch unterging. Auf dem Flur tippte Jesse an eine geschlossene Tür.

„Badezimmer“, rief er über die Housemusik hinweg. Sagte er das nur, damit wir wussten, wo wir hingehen konnten, falls uns die Blase drückte, oder um zu vermeiden, dass wir später auf den neuen Parkettboden kotzten? Aus allen Richtungen strömten Menschen. Wir gelangten in ein geräumiges Wohn- und Esszimmer mit einer großen Theke. Sie war vollgestellt mit Pappbechern, die alle gefüllt waren. Jesse drückte uns beiden einen Becher in die Hand und ich schnupperte daran. Immerhin war es kein Bier, das konnte ich nämlich nicht ausstehen. Andererseits bedeutete das, dass der Inhalt der Becher wahrscheinlich hochprozentiger war. Ich nahm einen kleinen Schluck, während Tammy ihr Getränk angewidert wegstellte. Es schmeckte nicht zu stark nach Alkohol, war dafür aber sehr süß. Ich tippte auf Vodka-Bull. Jesse nahm ein paar ordentliche Züge, wobei ich seinen Kehlkopf beobachtete, wenn er schluckte. Scheiße. Ich musste echt damit aufhören. Um mich abzulenken, nahm ich noch einen Schluck und sah mich in dem überfüllten Raum um. Ich kannte niemanden. Natürlich nicht. Wie auch? Jesse dagegen wurde augenblicklich von einer Gruppe junger Männer erkannt, die ihn sofort in ein Gespräch verwickelten.

„Lass uns mal Greg und Lydia suchen“, sagte meine Schwester in mein Ohr, damit ich sie über den Lärm hinweg verstehen konnte. Ich nickte nur und wurde an der Hand genommen, damit wir uns in dem Getümmel nicht verloren. Ich warf noch einen kurzen Blick zurück zu Jesse, doch der war zu sehr in das Gespräch vertieft, um unseren Abgang zu bemerken.

Er hat uns nur hergefahren, schalt ich mich, es ist ja nicht so, als würde er jetzt die ganze Zeit mit uns abhängen.

Es war beinahe unmöglich, die Gastgeber in dem vollen Haus zu finden. Die Gäste waren eine bunte Mischung aus muskelbepackten Männern wie Greg, jungen Mädels und Jungs, die hoffentlich schon alt genug waren, um zu trinken, und absolut unscheinbaren, etwas älteren Leuten. Das passte irgendwie alles nicht zusammen, aber mir war es so beinahe lieber, da fiel man nicht auf. Und Tammy musste sich keine Sorgen machen, nicht gut genug angezogen zu sein. Überall standen leere und volle Pappbecher. Viele Leute tanzten, einige standen in Gruppen zusammen und redeten, aber nirgendwo konnte ich exzessive Ausbrüche erkennen. Das war eine sehr angenehme Party. Oder es war einfach noch zu früh.

Ich schlug Tammy vor, sie solle doch Jen anrufen, dann könnte sie zu uns stoßen. Die anderen hatten bestimmt nichts dagegen. Sie war manchmal zwar etwas anstrengend, aber Party machen konnte sie. Doch meine Schwester zog die Nase kraus.

„Ich weiß nicht. Lieber nicht“, sagte sie, während sie sich im Raum umsah. Sie hielt eindeutig nach Brandon Ausschau.

„Was? Wieso? Habt ihr euch gestritten oder so?“ Das konnte ich mir kaum vorstellen. Die beiden waren unzertrennlich. So wie Natalie und ich früher. Naja, oder so ähnlich…

„Nein. Ich glaube nur nicht, dass sie große Lust hat.“ Ich sah meine Schwester verwirrt an.

„Jen und keine Lust auf Party? Existiert das in diesem Universum überhaupt?“ Ich hatte es als Spaß gemeint, doch Tammy lachte nicht. Langsam machte ich mir Sorgen.

„Was ist denn los?“ Tammy seufzte, packte mich am Arm und zog mich in eine ruhige Ecke.

„Du darfst niemandem erzählen, was ich dir jetzt sage“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu. Was zur Hölle war denn los?

„Ich werde Jen nicht fragen, ob sie kommen will, weil das hier Gregs Party ist.“ Jen konnte Jesses Bruder nicht besonders gut leiden, das war mir schon aufgefallen. Ich hätte jedoch nicht erwartet, dass es sie sogar von einer Party abhalten würde.

„Haben die beiden Zoff oder so?“ Tammy sah sich nervös um und überlegte ganz offensichtlich, ob sie mir die Wahrheit sagen sollte.

„Na gut“, gab sie nach. „Aber deine Lippen sind versiegelt!“ Ich hob die Hand, als würde ich einen Schwur ablegen.

„Ich schweige wie ein Grab.“ Tammy nickte. Sie wusste, sie konnte mir vertrauen.

„Jen ist total verknallt in Greg“, raunte sie. Mir fiel die Kinnlade runter. Ich konnte gar nichts dagegen machen.

„Was?“, fragte ich ungläubig. „Und du verscheißerst mich nicht?“ Tammy schüttelte ernst den Kopf.

„Wow“, war alles, was ich dazu sagen konnte. Alles hätte ich erwartet, aber nicht das. Greg war doch so gar nicht Jens Typ. Ich wusste, mit was für Jungs sie normal abhing. Andererseits war Jesse eigentlich auch nicht mein Typ. Ich mochte normal eher die Sunnyboys. Jemanden wie Kasper.

„Hallo, Mädels!“ Ein Arm legte sich von hinten um meine Schulter. Ich erschrak so, dass ich beinahe meinen Becher fallen ließ - der leer war, wie ich überrascht feststellte. Wann hatte ich den denn ausgetrunken?

„Brandon!“ Tammys Augen fingen sofort an zu strahlen. Mann, es hatte sie echt voll erwischt. Er hatte seinen anderen Arm um meine Schwester gelegt und grinste uns abwechselnd an. Er hatte wohl schon ein paar Drinks mehr gehabt.

„Ich hab' euch schon gesucht. Aber bei all den Leuten.“ Er schwenkte seine Hand in einer weiten Geste durch den Raum, wobei er etwas aus seiner Bierflasche verschüttete. Ich sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite.
 

„Ich hole mir noch was zu trinken“, rief ich meiner Schwester über die noch lauter gewordene Musik zu und verschwand, bevor sie mich aufhalten konnte. Eigentlich hatte ich es nicht eilig mit dem Alkoholnachschub, aber ich wollte den beiden etwas Zeit für sich geben. Ich sah aus der Terrassentür und bemerkte Greg und Lydia inmitten einer Traube von Freunden. Ich beschloss, ihnen später Hallo zu sagen, wenn sie nicht so umringt waren. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen.

Und Jen war wirklich in Greg verknallt? Das konnte ich mir wirklich nicht vorstellen.

Ich ging auf die Toilette. Hauptsächlich, um etwas zu tun zu haben. Als ich wieder herauskam, sah ich, wie Jesse gerade die Treppe hinaufstieg, ein schwarzhaariges Mädchen im Schlepptau. Sie lachten und wirkten ziemlich ausgelassen. Er ergriff ihre Hand in einer beinahe groben Geste, nickte Richtung erster Stock und zog sie mit sich. Ihre glänzenden Haare schwangen hin und her, als sie lächelnd den Kopf schüttelte und ihm widerstandslos folgte.

Plötzlich spürte ich den Alkohol, der mir aufstieß. Mir wurde etwas schlecht und ich fühlte mich, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Schon wieder ein Mädchen. Ein anderes Mädchen. Ich kam mir wie ein Idiot vor. Natürlich hatte Jesse viele Mädchen. Er war schließlich Single, wie er mir letztens im Kino netterweise eröffnet hatte.

War das etwa eine Einladung gewesen? Oh mein Gott, nein. Ich wollte nicht eines dieser Mädchen sein. Oder doch? Ich schüttelte den Kopf. Was war nur los mit mir? Ich würde nie das Betthäschen für irgendjemanden sein. Ich könnte es nicht ertragen, nur eine von vielen zu sein. Aber wieso wollte ich dann, dass Jesse wieder herunterkam und statt der schwarzhaarigen Schönheit mich mit nach oben nahm?

Weil ich verknallt war, gestand ich mir ein.

Ich war verknallt in Jesse.
 

Jetzt war mir definitiv nach einem weiteren Drink. Ich wollte einerseits meine neue Erkenntnis bezüglich meiner Gefühle verdauen und andererseits die wachsende Eifersucht betäuben. Wenn ich mir vorstellte, was die beiden dort oben anstellten, wahrscheinlich auch noch in Gregs Schlafzimmer… Oh Mann, ich könnte niemals im Zimmer meiner Schwester rummachen. Mir war wohl bewusst, dass die beiden mehr als nur rummachten, aber meine Nerven hielten es besser aus, wenn ich es nicht als das bezeichnete, was es eigentlich war. Ich schnappte mir einen weiteren Becher Vodka-Bull und leerte ihn in schnellen Zügen. Ich wollte einfach nur die Bilder in meinem Kopf vertreiben. Und wie ich gehört hatte, war Alkohol das perfekte Mittel, um sich das Gehirn wegzupusten. Ich hielt nach Tammy Ausschau, doch die war wahrscheinlich mit Brandon irgendwo beschäftigt. Nicht, dass meine Schwester auch einfach so mit irgendwem in den ersten Stock ging.

Ty und die anderen mussten ja inzwischen auch irgendwo sein. Außerdem sollte ich vielleicht endlich mal die Gastgeber begrüßen. Ich fragte mich, ob Greg nach oben gehen und seinen Bruder unterbrechen würde – bei was auch immer – wenn ich ihm erzählte, dass dieser gerade irgendsoeine Schwarzhaarige in seinem Schlafzimmer klarmachte. Der boshafte Gedanke musste von den Promille kommen, die sich langsam in meinem Blut mehrten. Becher Nummer drei hatte sicherheitshalber schon mal den Weg in meine Hände gefunden. Mein Gleichgewichtssinn hatte ein wenig nachgelassen und irgendwie kam ich mir langsamer vor als sonst. Wahrscheinlich starben gerade hunderte meiner grauen Gehirnzellen ab. Und daran war nur Jesse Schuld.
 

Stopp! Nicht an ihn denken. Ich nahm noch einen tiefen Schluck und hustete.

Auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen und vielleicht nach etwas zu Essen, weil ich doch langsam Angst bekam, dass mir der Alkohol völlig zu Kopf stieg und ich irgendwas Dummes anstellte, öffnete ich die schmale Tür neben dem Kühlschrank, hinter der ich eine Speisekammer vermutete. Ich stolperte in den Raum und fand nicht nur bis zur Decke gefüllte Regale vor, sondern auch eine große Gestalt, die sich an den Bierkisten zu schaffen machte.

Dieb, wollte ich rufen, aber da mir der Alkohol schon wieder aufstieß, ließ ich meinen Mund lieber geschlossen. Ich wurde trotzdem bemerkt, denn der Eindringling drehte sich überrascht zu mir um, entspannte sich jedoch sofort, als er mich sah.

„Lea, du bist das.“ Er bot mir eine Flasche an, doch ich nahm sie nicht. Wenn ich auch nur einen weiteren Schluck nahm – ob nun alkoholisch oder nicht – befürchtete ich, meinen Mageninhalt schneller wieder loszuwerden, als mir lieb war. Und ich wollte nicht das kleine bisschen Ehrgefühl, das ich besaß, auch noch verlieren. Andererseits: Vor mir stand gerade die einzige Person in diesem vollen Haus, vor der ich mich nicht dafür schämen müsste. Der Gedanke brachte mich zum Lachen.

„Hi, Rob.“ Ich war stolz darauf, mich noch so klar artikulieren zu können. In meinem Kopf herrschte dafür ein gnadenloses Wirrwarr.

„Ich kann das Gesöff da draußen nicht mehr ertragen“, sagte er entschuldigend, während er die Bierflasche öffnete.

„Mir musst du nicht beichten, dass du klaust. Da musst du schon zu Greg gehen.“ Rob betrachtete mich amüsiert.

„Bist du betrunken?“ Es war recht dunkel hier drin, aber ich konnte trotzdem seine Augen leuchten sehen. Wenn er nicht gerade über eine Kloschüssel gebeugt war, sah er eigentlich echt gut aus. Bei dem Gedanken musste ich schon wieder lachen.

„Vielleicht ein Becher zu viel“, gestand ich und war kurz davor zu fragen, ob er mir die Haare halten würde, wenn ich mich übergeben musste.

„Du solltest vielleicht was essen“, schlug er vor. Konnte er Gedanken lesen?

„Was kannst du mir denn anbieten?“, fragte ich und überflog die vollen Regale. Glücklicherweise war ich betrunken, ansonsten wäre ich viel zu anständig, um einfach so etwas von Lydias Vorräten zu nehmen, ohne vorher zu fragen.

„Chips“, schlug Rob vor und streckte sich nach einem der oberen Fächer. Er war wirklich groß.

„War das ein Kompliment?“ Oh verdammt, hatte ich das etwa laut gesagt? Ich musste die ganze Chipstüte essen, wenn ich auch nur die geringste Chance haben wollte, diesen Abend würdevoll zu überstehen. Rob reichte mir die Chips, doch bei dem Anblick wurde mir nur schlecht und ich drückte sie ihm wieder in die Hände.

„Gibt es keine Erdnüsse oder so?“ Ich lugte zum obersten Regal und sah tatsächlich das Objekt meiner Begierde. Ich streckte mich danach, kam mit den Fingerspitzen aber nur bis zum Rand des Regals. Rob trat hinter mich.

„Warte, ich helfe dir.“ Er streifte leicht meinen Rücken und ich fragte mich, ob er es mit Absicht machte. Egal. Der Effekt war derselbe: ich bekam Gänsehaut. Sein Atem streifte mein Haar und noch bevor ich wusste, was ich eigentlich tat, drehte ich mich zu ihm um, stellte mich auf meine Zehenspitzen und presste meine Lippen auf seine.

Was war nur in mich gefahren? Mein eingeschränktes Gehirn analysierte: Ich bin betrunken, ich muss mich unbedingt von Jesse ablenken, sonst werde ich noch verrückt, und außerdem sieht Rob gut aus.

Waren das nicht genug Gründe?
 

Rob holte überrascht Luft, wich aber nicht zurück. Das tat meinem Ego ziemlich gut. Ich überlegte kurz, ob ich mich traute, mit Zunge zu küssen, ließ es aber lieber bleiben. Wahrscheinlich schmeckte ich sowieso nur nach Alkohol, und Rob hatte gesagt, er habe genug von dem Gesöff. Eine seiner Hände lag auf meiner Schulter und ich hatte meine Arme um seinen Hals geschlungen. Doch er war so groß, dass ich mir ziemlich den Hals verrenken musste. Ich lehnte mich an ihn, um besseren Halt zu finden. Da unterbrach er den Kuss.

„Vielleicht machen wir lieber weiter, wenn du wieder nüchtern bist“, schlug er vor und ich sah verlegen zu Boden. Weitermachen? Ich wollte nicht weitermachen. Ich hatte ihn nur geküsst, weil Jesse da oben mit dieser Schönheit rummachte.

„Tut mir Leid“, nuschelte ich. „Ich wollte nicht…“ Doch Rob ließ mich gar nicht erklären. Er tätschelte meinen Arm.

„Schon gut. Hier. Deine Erdnüsse.“ Er öffnete die Schachtel und reichte sie mir.

„Danke“, sagte ich verlegen. Ich hätte ihn nicht küssen sollen. Das war eine blöde Idee. Jetzt glaubte er womöglich, dass ich auf ihn stand. So abwegig war der Gedanke ja nicht. Aber meine Aufmerksamkeit galt leider einem ganz anderen.

„Stürzen wir uns wieder ins Getümmel?“, fragte er aufmunternd und so, als wäre nie etwas passiert.

„Okay.“ Ich nickte, hielt ihn aber noch kurz zurück, bevor er die Tür öffnete.

„Rob. Können wir das… du weißt schon… für uns behalten?“ Er lächelte breit. Er war wirklich süß.

„Ist doch gar nichts passiert“, sagte er und zuckte die Achseln. Erleichtert erwiderte ich sein Lächeln, schloss meine Hände fest um die Erdnussdose und folgte ihm nach draußen.
 

„In der Speisekammer? Wirklich, Leute?“ Ich ließ die Dose fallen und die Nüsse verteilten sich über den Boden. Jesse hockte grinsend auf der Küchentheke und sah amüsiert zwischen Rob und mir hin und her. Ich wollte ihn anschreien, dass er die Klappe halten sollte, weil doch er derjenige war, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Stattdessen spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und rannte los, die beiden einfach stehenlassend. Ich zwängte mich durch die Menge und hoffte, dass die ersten Tränen nicht kullerten, bevor ich allein war. Auf der Terrasse standen einige Leute, also verschwand ich ums Hauseck. Das Gras war nass vom Regen, doch ich störte mich nicht daran. Zu meiner Überraschung stand eine Schaukel auf der Wiese. Greg und Lydia hatten doch keine Kinder, oder? Vielleicht war sie noch vom vorigen Besitzer? Nachdem ich die Regentropfen mit der Hand weggewischt hatte, ließ ich mich auf einem der beiden Sitze nieder, den Rücken zum Haus, und starrte in die Hecke.

Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte ich, mich zu beruhigen. Wie konnte es nur sein, dass Jesse mein Leben so sehr auf den Kopf stellte? Ich versuchte mir zwar einzureden, der Alkohol mache mich so emotional, sicher war ich mir jedoch nicht. Wie sehr wünschte ich, Natalie wäre jetzt hier. Ich musste unbedingt mit jemandem reden. Ich musste mit ihr reden.
 

„Hey!“ Jemand berührte mich am Rücken und ich sprang erschrocken auf. Jesse hob abwehrend die Hände und sah mich besorgt an. Kein Wunder, ich musste grauenvoll aussehen.

„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Ich wischte mir mit meinem Ärmel über die Augen und blieb stumm. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten wäre ich einfach weggerannt. Warum musste er mir auch hinterherkommen. Er machte langsam einen Schritt auf mich zu, so als könnte ich jederzeit die Flucht ergreifen.

„Ist alles okay?“, fragte er vorsichtig. Wieso war er so einfühlsam? Und wieso fragte er mich, ob alles okay war? Ja, ich war betrunken und ja, vollkommen verheult. Aber was ging ihn das an?

Oh nein, hatte er es etwa bemerkt? Ich schluckte schwer. So offensichtlich war das doch auch wieder nicht, oder? Wenn er mich fragen würde, ob ich verknallt in ihn war, würde ich sofort alles leugnen. Oder noch besser: Im Erdboden versinken. Vielleicht hätte ich das nicht getan, wenn ich ihn nicht heute mit diesem Mädchen gesehen hätte. Vielleicht hätte ich ihm dann die Wahrheit gesagt. Aber jetzt nicht mehr.

„Hat Rob irgendwas gemacht?“ Was? Rob? Wie kam er denn jetzt auf Rob? Ich wollte doch nichts von Rob. Einerseits war ich erstaunt, wie begriffsstutzig Jesse war, andererseits war ich auch froh, dass er anscheinend nicht ahnte, was in mir vorging.

„Was soll mit Rob sein?“, fragte ich mit tränenerstickter Stimme, obwohl ich aufgehört hatte zu weinen.

„Hat er dir was getan? Hat er dich… angefasst?“ Da erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie die ganze Sache für Jesse ausgesehen haben musste. Rob und ich, wie wir aus der Speisekammer kamen, Jesse, der Witze übers Rummachen riss, meine plötzliche Flucht und jetzt ich hier im Garten, ein verheultes Häufchen Elend.

„Nein. So ist das nicht“, stellte ich sofort klar.

„Ja, das hat Rob auch gesagt“, meinte Jesse langsam. Er glaubte mir nicht.

„Wirklich, Jesse. Rob hat gar nichts gemacht. Er hat mir nur meine Nüsse gegeben.“ Dieser Satz machte wirklich überhaupt keinen Sinn.

„Oh nein. Die Erdnüsse“, fiel mir wieder ein. „Tut mir Leid. Ich räume das sofort weg.“ Ich wollte an ihm vorbei, zurück ins Haus. Erstens, weil ich wirklich mein Malheur beseitigen wollte, zweitens, weil ich nicht länger in Jesses Gegenwart sein wollte und wieder Bilder von ihm und der Schwarzhaarigen in meinem Kopf erschienen, und drittens, weil ich seinen mitleidigen Blick nicht mehr ertrug.
 

Jesse packte mich und drehte mich zu sich herum, sodass ich ihn ansehen musste. Seine Hände an meinen Unterarmen fühlten sich an, als würden sie mich verbrennen. Nicht, weil er so fest zupackte, sondern weil ich den Gedanken nicht ertrug, wo diese Hände vorher gewesen waren.

„Lass doch die bescheuerten Nüsse. Du musst dich erst mal beruhigen.“ Er glaubte wirklich, dass Rob mich begrapscht hatte. Das machte mich beinahe wütend. Konnte er mir nicht einfach glauben? Außerdem war er doch derjenige, der hier mit irgendwelchen Mädels anbandelte. Aber das ging mich eigentlich nichts an. Er konnte machen, was immer er wollte. Er gehörte nicht mir. Ich spürte, wie mir erneut Tränen in die Augen schossen und starrte auf sein Shirt. Ich fragte mich, ob er auch dort Tattoos hatte. Mein dummer Gedanke holte mich wieder zurück in die Realität.

„Ich schwöre dir, Rob hat mich nicht angerührt. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur betrunken. Und müde. Und mir ist schwindelig.“ All das war die Wahrheit. Nur spürte ich die alkoholbedingte Benommenheit immer weniger, den Schwindel dafür umso deutlicher. Ich musste mich an dem Seil der Schaukel festklammern, um mein Gleichgewicht halten zu können. Jetzt erinnerte ich mich wieder, warum ich normalerweise keinen Alkohol anrührte.

„Setz dich“, instruierte Jesse und dieses Mal wehrte ich mich nicht. Ich fühlte mich wie bei 10 Dinge, die ich an dir hasse. Doch ich hoffte, dass die Szene nicht genauso enden würde und ich Jesse vor die Füße kotzte. Er setzte sich auf die andere Schaukel und sah mich noch immer misstrauisch an.

„Soll ich Tammy holen?“ Ich schüttelte heftig den Kopf und bereute es sofort.

„Bloß nicht. Ich muss erst mal ein bisschen ausnüchtern.“ Zu meinem Glück widersprach Jesse nicht.

„Vielleicht solltest du was essen“, schlug er vor.

„Deshalb war ich ja in der Speisekammer“, erklärte ich. „Ich wollte mir nur was zu Essen holen und Rob war zufällig auch da. Er hat wirklich nichts gemacht, Jesse“, wiederholte ich zum gefühlt hundertsten Mal. Rob sollte nicht wegen meines Gefühlsausbruchs in einem falschen Licht dastehen. Ich musste an den Kuss denken und hoffte, dass es dunkel genug war, sodass Jesse nicht sah, wie ich rot anlief. Der Alkohol verlor definitiv an vernebelnder Wirkung. Ich zwang mich jedoch, ihm in die Augen zu sehen, weil ich nur so einschätzen konnte, ob er mir glaubte. Seine Zweifel schienen zu schwinden, aber nicht vollends.

„Und wieso bist du dann weggerannt?“, stellte er die berechtigte Frage. Fieberhaft suchte ich nach einer plausiblen Antwort.

„Ich… ähm… Ich musste mich übergeben“, log ich und war dabei ziemlich stolz auf mich. Das warf zwar nicht gerade das beste Licht auf mich, war aber immer noch besser als die Wahrheit. Erleichtert sah ich, wie Jesse grinste. Er glaubte mir. Gott sei Dank. Mir wäre keine andere Ausrede eingefallen.
 

Eine Weile herrschte Stille zwischen uns, doch es war mir nicht unangenehm. Ich hätte die ganze Nacht hier mit ihm sitzen können. Aber er hatte sich den Abend bestimmt anders vorgestellt. Wahrscheinlich fühlte er sich nur für mich verantwortlich, weil er mich hier gefunden hatte.

„Du musst nicht bleiben. Mir geht’s schon besser. Ich will mich nur noch ein wenig ausruhen.“ Zu meiner Freude schüttelte er den Kopf.

„In deinem Zustand lasse ich dich sicher nicht allein.“ Ich sollte mich nicht darüber freuen, dass er bei mir blieb. Er hatte heute schon ein Mädchen klargemacht. Ich bedeutete ihm nichts. Mein Verstand war sich dessen im Klaren, aber mein Herz wollte einfach nicht hören und klopfte trotzdem schneller. Jesse schaukelte leicht vor und zurück und ich hatte das Gefühl, dass er mich beobachtete. Wahrscheinlich wollte er sich nur rechtzeitig in Sicherheit bringen, falls sich mein Magen doch noch umdrehte. Ich starrte nur auf meine Füße.

„Hast du dir schon was für deine Playlist überlegt?“, fragte ich nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Jesse zog die Nase kraus. Das sah süß aus. Irgendwie machte es ihn jünger. Wie alt war er überhaupt?

„Ein paar Songs, ja. Der Rest…“ Jesse unterbrach sich und sah auf. Mir wurde augenblicklich wieder schlecht. Die Schwarzhaarige kam auf uns zugelaufen und sofort tauchten Visionen von den beiden in Gregs Schlafzimmer in meinem Kopf auf.
 

„Jesse.“ Sie lächelte mich kurz an, was ich nicht erwiderte. Hätte ich sie unter anderen Umständen kennengelernt, hätte ich sie wahrscheinlich sympathisch gefunden.

„Ja?“ Ich sah unauffällig - ich hoffte, es war unauffällig – zwischen den beiden hin und her, als sie miteinander sprachen. Hätte ich nicht mit eigenen Augen gesehen, wie sie gemeinsam in den ersten Stock verschwunden waren, hätte ich niemals vermutet, dass die zwei was am Laufen hatten.

„Das Mädchen, das mit Brandon hier ist … ähm, Tammy?“ Ich horchte sofort auf. Was war mit meiner Schwester? War sie betrunken und strippte gerade auf dem Küchentisch? Oder kotzte sie sich die Seele aus dem Leib? Oder war sie mit Brandon abgehauen und hatte mich hier allein zurückgelassen? Wow, der Alkohol kurbelte echt meine Fantasie an.

„Sie sucht ihre Schwester.“ Oh. Das war dann wohl ich. Jesse grinste und deutete auf mich.

„Lea“, stellte er mich vor. Ich hob halbherzig die Hand.

„Ja, das bin ich.“ Ich konnte es nicht leiden, dass mich dieses hübsche Mädchen, das was-weiß-ich mit Jesse gemacht hatte, in so einem miserablen Zustand sah.

„Oh!“, sagte sie, eindeutig überrascht. „Hi. Nett, dich kennenzulernen, Lea.“ Sie hielt mir die Hand entgegen und ich tat so, als bräuchte ich meine, um mich an der Schaukel festzuhalten. Ich wollte sie nicht anfassen. Nicht, wenn sie vorher Jesse angefasst hatte.

„Lea, das ist…“ Ich wollte mir die Ohren zuhalten und schreien, damit ich ihn nicht hören konnte. Ich wollte nicht wissen, wie sie hieß. Das machte sie so viel greifbarer, viel realer. Und wenn ich an diesen Abend zurückdenken würde, würde ich nicht an irgendein hübsches namenloses Mädchen denken, sondern an…

„Betty.“ Betty. Zumindest klang ihr Name nicht so gut, wie sie aussah.

„Meine Schwester.“

Was? Schwester? Seine Schwester. Oh, Schande! Was zur Hölle!? Ich musste sehr bedröppelt dreinblicken, weil Betty charmant lächelte und mit den Schultern zuckte.

„Wir sehen uns nicht besonders ähnlich.“ Ich konnte nur nicken. Meine anfängliche Verwunderung verwandelte sich in pure Freude. Sie war seine Schwester. Er hatte nichts mit ihr gehabt. Verdammt, das bedeutete, ich hatte mich vollkommen umsonst betrunken. Ich seufzte.

„Freut mich.“ Jetzt konnte ich ihr die Hand schütteln. Am liebsten wollte ich gar nicht mehr damit aufhören.

Seine Schwester. Wer hätte das gedacht. Greg und Jesse hatten sie nie erwähnt. Hatte Jesse womöglich noch weitere Geschwister, von denen ich nichts wusste? Wieder einmal fiel mir auf, wie wenig ich über ihn wusste. Das nervte mich.

„Sollen wir wieder reingehen?“, schlug Jesse vor und stand auf. Ich war mir nicht sicher, ob meine Füße mich tragen würden. Am liebsten hätte ich diese Schaukel nie wieder verlassen.

„Ja, ist vielleicht besser.“ Ich erhob mich langsam, doch der Schwindel war nicht so stark wie befürchtet.

„Deine Schwester ist schon ganz außer sich vor Sorge.“ Mist. Ich hatte sie zurückgelassen in dem Glauben, mir nur schnell einen Drink zu organisieren. Wie lange war das jetzt her? Eine Stunde, zwei? Ich hatte wirklich kein Zeitgefühl mehr. Ich rollte mit den Augen. Auf die Standpauke freute ich mich schon.
 

Ich folgte den beiden zurück ins Haus und Betty führte uns zu meiner Schwester, die sich beinahe den Hals verrenkte, während sie nach mir Ausschau hielt. Ich hoffte nur, dass sie mit ihrer Szene wartete, bis wir zuhause waren. Brandon, der neben ihr stand, entdeckte uns zuerst und flüsterte meiner Schwester etwas ins Ohr. Ihre Augen richteten sich sofort auf mich und sie durchquerte den Raum, noch bevor ich mir irgendwelche verteidigenden Worte zurechtlegen konnte. Sie packte mich am Arm.

„Wo warst du?“, fragte sie aufgebracht. Ich entzog mich ihr.

„Ich war nur draußen. Im Garten.“ Sie blinzelte.

„Hast du getrunken?“ Hatte ich etwa eine Fahne? Oder sah ich genauso fertig aus, wie ich mich fühlte? Ich wollte nur noch in mein Bett.

„Nur ein bisschen. Reg dich ab, ist doch nichts passiert.“ Tammy schnaubte verächtlich.

„Das letzte Mal, als ich dich auf einer Party allein gelassen habe, bist du einfach verschwunden. Schon vergessen?“ Ich sah zu Boden und fühlte mich wie ein Kleinkind, das man ausschimpfte.

„Können wir das vielleicht zuhause klären?“, fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

„Du kannst nicht einfach abhauen.“ Hatte sie mich überhaupt gehört? Ihre Stimme dröhnte unangenehm laut in meinen Ohren und ich bekam Kopfschmerzen. Das würde ein grauenvoller Kater werden.

„Es ist alles in Ordnung, Tammy. Jesse hat auf Lea aufgepasst“, mischte Betty sich ein, um die Situation zu entschärfen. Tammy bedachte Jesse mit einem seltsamen Blick.

„Ach, hat er das?“ Was sollte das denn nun wieder? Sie sah nicht aus, als würde sie das besonders beruhigen. Eher im Gegenteil.

„Hab' ich hier irgendwas verpasst?“, fragte Jesse verwirrt und nicht gerade freundlich. Kein Wunder, dass er angepisst war, wenn Tammy so seltsame Bemerkungen von sich gab. Dieses Mal war ich es, die Tammys Arm ergriff, fester, als es nötig gewesen wäre.

„Lass uns einfach gehen, okay?“, zischte ich und kam mir vor, als wäre in diesem Moment ich die Nüchterne und meine Schwester die Betrunkene. Ich wollte vermeiden, dass sie Jesse eine Szene machte. Besonders jetzt, da wir uns relativ gut verstanden. Naja, das war wohl etwas übertrieben. Aber immerhin war er nicht mehr gemein zu mir und ich nicht mehr so misstrauisch ihm gegenüber. Brandon entschärfte die Situation, indem er Tammys Hand nahm und vorschlug, uns nach Hause zu fahren. Er wirkte inzwischen wieder ziemlich nüchtern.

„Danke, Brandon. Los, Tammy, lass uns gehen.“ Zu meiner Erleichterung wehrte sie sich nicht, als ich sie Richtung Ausgang bugsierte.

„Macht’s gut“, rief Betty uns hinterher und ich drehte mich nochmal um, um ihr zu winken. Meine Augen wanderten jedoch sofort zu Jesse, der direkt neben seiner Schwester stand, die Hände in den Hosentaschen. Der freundliche Ausdruck auf seinem Gesicht von vorhin im Garten war verschwunden. Mir rutschte das Herz in die Hose und ich wand mich schnell ab. Toll gemacht, Tammy!
 

Auf der Heimfahrt waren weder sie noch ich in der Stimmung, über den Vorfall zu reden. Ich wollte vor allem nicht vor Brandon mit meiner Schwester streiten, darum wartete ich, bis er uns vor unserem Haus abgesetzt hatte und wegfuhr.

„Was sollte das eben?“ Jetzt, da wir alleine waren, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Tammy sah mich verwundert an. Sie hatte wohl gedacht, dass sich die Sache mit ihrer kleinen Standpauke erledigt hatte. Von wegen!

„Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich versuche nur, dich zu beschützen.“ Ich runzelte die Stirn. Hatte Tammy etwa auch einen im Tee?

„Beschützen? Wovor?“ Tammy fuhr sich durch die Haare.

„Ich weiß doch, dass du Jesse nicht leiden kannst.“

Ach, tatsächlich?

„Und er hat es wohl irgendwie auf dich abgesehen.“

Schön wär’s.

„Ich wollte ihm nur klarmachen, dass er dich in Ruhe lassen soll.“

In Ruhe lassen? Ich wollte so einiges von Jesse, nur nicht, dass er mich in Ruhe ließ. Mir war es sogar lieber, wenn er mich andauernd aufzog, anstatt mich zu ignorieren.

„Tammy, er hat sich eben gut um mich gekümmert. Und er war nicht gemein zu mir.“ Früher hätte ich ihn niemals verteidigt. Meine Schwester verzog das Gesicht.

„Ja, das habe ich befürchtet. Erinnerst du dich daran, was Greg gesagt hat? Dass Jesse gerne spielt? Ich habe das Gefühl, er hat ziemlich Spaß daran, mit dir zu spielen.“ Meine Ohren begannen zu rauschen.

„Ich will ihn ja nicht schlechtreden…“

Dann halt einfach die Klappe!

„Aber ich will nicht, dass er sich an dich ranmacht und du dir eventuell Hoffnungen machst. Er soll dich einfach nicht verletzen.“ Wollte sie damit sagen, es war undenkbar, dass ein Typ wie Jesse einfach nur nett zu mir war, ohne Hintergedanken? Er spielte zwar tatsächlich in einer anderen Liga, aber das aus dem Mund meiner Schwester zu hören, tat doch ziemlich weh.

„Zwischen mir und Jesse läuft gar nichts“, giftete ich sie an. Leider. Tammy seufzte.

„Ich weiß. Ich dachte nur… Ich wollte dich nur warnen. Es hat irgendwie den Eindruck gemacht, als… du weißt schon.“ Als wäre ich verknallt?

„Ich habe heute Rob geküsst.“ Oh, Scheiße. Wieso konnte ich nicht einmal meinen Mund halten? Tammy bekam große Augen.

„Er hat dich geküsst?“ Sie wurde ganz schnappatmig.

„Nein, ich habe ihn geküsst. Und nein, ich will nicht mit dir darüber reden“, sagte ich und eilte ins Haus, bevor sie anfangen konnte, Fragen zu stellen. Ich rannte die Treppen hinauf und schloss mich in meinem Zimmer ein, damit sie mich nicht nerven konnte. Sie würde mich zumindest in dieser Nacht in Ruhe lassen müssen.

Vollkommen bekleidet warf ich mich aufs Bett und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Es war ein langer Tag gewesen. Und ich wusste genau, dass der morgige nicht viel besser werden würde, bei den Mengen an Alkohol, die ich konsumiert hatte. Zumindest schlief ich schnell ein. Wenn ich mich recht erinnere, träumte ich von Robs Lippen und Jesses Tattoos.

Im Schneckenhaus

Hey, Lea. Ich wollte nur wissen, ob du gestern noch gut nach Hause gekommen bist. Wie geht’s deinem Kater?
 

Ich las die SMS nun schon zum dritten Mal und stellte mir immer wieder vor, sie wäre von Jesse. Doch so lange ich den Namen, der darunter stand, auch ignorierte, er verschwand einfach nicht. Rob.

Frustriert ließ ich mich zurück aufs Bett fallen. Glaubte er etwa, ich wollte was von ihm? Er wusste doch, dass ich völlig betrunken gewesen war, als ich ihn geküsst hatte. Das musste ich wohl klarstellen.
 

Hi Rob. Ja, danke. Brandon hat uns heimgefahren. Und der Kater ist eher ein ausgewachsener Tiger. ^^
 

Ich schickte die Nachricht noch nicht ab. Wie konnte ich ihm nur klarmachen, dass mir der Kuss nichts bedeutete, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen?
 

Tut mir übrigens Leid wegen dem Kuss. Ich habe dich nur benutzt, um nicht an Jesse denken zu müssen. Kommt nicht wieder vor.
 

Natürlich schrieb ich das nicht. Vielleicht wollte Rob auch nur höflich sein und sich nach meinem Befinden erkundigen. Möglicherweise war ihm die Situation genauso unangenehm wie mir und er wollte nur nichts sagen, um mich nicht zu verletzen. So kamen wir aber nicht weiter.

Und wenn es nicht so war? Ich spielte mit dem Gedanken, Rob eine Chance zu geben. Wer wusste, wo uns das hinführte. Vielleicht fand ich heraus, dass wir super zusammenpassten. Er war immerhin sehr nett und gutaussehend noch dazu. Mit ihm wäre es bestimmt viel einfacher als mit Jesse. Rob würde mir keine Gemeinheiten an den Kopf werfen oder mir völlig den Verstand rauben. Denn wenn ich mal ehrlich mit mir selbst war: Selbst wenn Jesse nicht ständig von irgendwelchen Mädchen angehimmelt wurde oder sich über sie hermachte, und ich jemals den Mut aufbringen sollte, ihm zu sagen, dass ich ihn anziehend fand - mehr als nur anziehend - wusste ich doch ganz genau, was die Antwort darauf sein würde. Keine erfreuliche.

Aber Rob deswegen auszunutzen, nur um mich abzulenken, war vollkommen falsch. Ich könnte niemals jemanden so benutzen. Der Kuss gestern zählte nicht. Da war ich betrunken gewesen. Ich beschloss, die SMS ohne weiteren Hinweis auf den Speisekammervorfall abzuschicken. Wenn er es nicht erwähnte, würde ich es auch nicht. Es war schließlich keine große Sache gewesen. In ein paar Tagen hatten wir das wahrscheinlich schon vergessen.

Jesse jedoch konnte ich nicht aus meinem Kopf verdrängen. Wann immer ich versuchte, an etwas anderes zu denken, vernetzte mein Gehirn ihn irgendwie mit dem Thema und holte ihn wieder ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zurück. Der einzige Weg, wie ich ihn vergessen konnte, war wohl, mich nicht mehr mit den Jungs von Zero zu treffen, jetzt, wo er der neue Leadsänger war. Nicht, dass ich mich bereits zu ihrer Clique zählte, aber ich hatte es doch genossen, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber wo immer sie nun waren, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Jesse auch dort sein würde.
 

Ein paar Tage später bekam ich mit, wie Tammy mit Jen telefonierte. Sie hatten anscheinend ein Date mit den Jungs. Sie fragte mich nicht, ob ich mitkommen wollte. Einerseits war ich erleichtert, auf der anderen Seite bedeutete das wohl, dass auch sie mich lieber von Jesse fernhielt. Gut, dann würde sie nicht mehr ständig fragen, ob ich sie auf irgendwelche Gigs, Bandproben, oder Partys begleitete.

Die Frage war nur: Was fing ich mit meiner ganzen Zeit an? Obwohl ich es ziemlich traurig fand, an einem Sonntagmittag nichts Besseres zu tun zu haben als zu lernen, holte ich meine Schulsachen heraus und breitete alles, was mit Mathe zu tun hatte, vor mir aus. Letztes Jahr hatten mich meine durchschnittlichen Noten des ersten Halbjahres gerettet, doch wenn ich nicht aufpasste, würde ich dieses Jahr durchfallen. Theoretisch war mir das egal. Schule hatte mich noch nie so wenig interessiert wie jetzt. Aber bei dem Gedanken, deswegen noch länger die Schulbank drücken zu müssen, setzte ich mich doch lieber auf meinen Hintern und versuchte, das Beste aus meinen vernachlässigten grauen Zellen zu machen. Außerdem lenkte mich das vielleicht ab von… Nicht dran denken!

Lernen mit Kater war keine besonders gute Idee. Schon nach einer halben Stunde dröhnte mir der Kopf und irgendein kleines Monster klopfte mir stetig gegen meine Schläfen. Irgendwann beschloss ich, aufzugeben. Erstens, weil es sowieso nichts brachte – ich war nicht einen Schritt weitergekommen - und zweitens, weil ich mich dank des anwachsenden Schmerzes nicht konzentrieren konnte. Ich nahm eine Kopfschmerztablette, machte leise Musik an, um mich zu entspannen, und legte mich auf mein Bett. Mir fiel die Playlist wieder ein. Auch wenn ich nicht mehr mit Zero abhängen würde, beschloss ich, trotzdem eine CD zu brennen. Keine Ahnung, ob sie was damit anfangen konnten, aber immerhin hatte ich es ihnen versprochen. Ich schloss die Lider und überlegte, was ich alles auf meine Liste setzen wollte.
 

Als ich die Augen wieder öffnete, war es dunkel.

„Scheiße.“ Ich fuhr hoch und warf einen schnellen Blick auf mein Handy. Es war nach sechs. Mist, ich war eingeschlafen. Ich rappelte mich hoch und stolperte die Stufen hinunter, das immer noch vorhandene Pochen in meiner Stirn ignorierend. Meine Eltern saßen im Wohnzimmer und sahen die Nachrichten im Fernsehen.

„Wieso habt ihr mich nicht geweckt?“, fragte ich sie wütend. Sie wussten genau, dass ich normal um drei ins Tierheim ging.

„Du sahst so erschöpft aus. Ich wollte dich nicht wecken“, sagte meine Mom. Wäre sie doch nicht so übervorsichtig mit mir. Ich war nicht aus Porzellan.

„Du hättest mich wecken sollen“, sagte ich etwas zu unfreundlich, nahm es aber nicht zurück.

„Du kannst ruhig mal einen Tag Pause machen, Lea“, mischte mein Vater sich ein. Das sagte gerade er, der Workaholic schlechthin.

„Ich habe im Tierheim angerufen und Bescheid gesagt, dass du heute nicht kommen kannst“, erklärte meine Mutter mit einem sanften Lächeln.

„Ich könnte jetzt noch hinfahren. Martha ist noch mindesten eine Stunde dort“, überlegte ich laut, doch meine Eltern schüttelten den Kopf.

„Lass es gut sein für heute“, meinte mein Vater beruhigend. Aber ich wollte keine Ruhe. Ich brauchte Ablenkung.

„Willst du nicht mit uns fernsehen? Es kommt gleich Free Willy.“ Diesen Film hatte ich als Kind geliebt. Tat ich immer noch, irgendwie. Aber auch Free Willy konnte mich jetzt nicht besänftigen. Also schüttelte ich nur den Kopf und stapfte die Treppe wieder hinauf.

„Hast du heute schon was gegessen, Schatz?“, rief mir meine Mutter hinterher. Ich antwortete ihr nicht. Meine blöden Eltern. Blöder Fernseher. Blöder Free Willy! Ich schnappte mir meinen Laptop und begann fahrig, meine blöde Playlist zu erstellen.
 

Ein paar Tage später stand ich vor dem Süßigkeitenregal im Einkaufszentrum und ließ meine Augen über die Reihen schweifen. Schokolade, Kekse, Chips, Bonbons. Alles nicht das Richtige für mich. Doch ich brauchte unbedingt Frust- und Nervenfutter, da ich schon wieder eine schlechte Note mit nach Hause brachte. Dieses Mal war ausnahmsweise nicht ich Schuld, oder zumindest nur teilweise. Ich hatte mich tatsächlich ein wenig auf die Unterrichtsstunde vorbereitet, aber die Lehrerin konnte mich einfach nicht ausstehen. Mrs. Carberry stand bereits seit der fünften Klasse mit mir auf Kriegsfuß, keine Ahnung, wieso. Bis letztes Jahr hatte ich jedoch das Glück gehabt, sie höchstens mal als Vertretung zu haben. Aber inzwischen machte sie mir jede Geschichtsstunde zur Hölle. Und heute hatte sie entschieden, mich nicht über die letzte Stunde auszufragen - was ja kein Problem gewesen wäre -, sondern über geschichtliches Allgemeinwissen, und zwar im Detail. Natürlich kannte ich die groben Eckdaten, aber die interessierten sie nicht. Ich war am Arsch.

Nach der fünften Frage, die sie so kompliziert stellte, dass ich nicht einmal wusste, worauf sie eigentlich hinauswollte, verschränkte ich schließlich die Arme vor der Brust und rutschte tief in meinen Stuhl hinein. Ich strafte sie mit Schweigen, hielt ihrem Blick jedoch stand. Nach drei weiteren Fragen, die unbeantwortet im Raum stehen blieben, schlug sie ihr Notizbuch zu und seufzte theatralisch. Meine Mitschüler tuschelten.

„So kann das nicht weitergehen, Lea.“

„Warum geben Sie mir das nächste Mal nicht gleich eine Sechs und ersparen uns diese Farce?“ Die Worte waren heraus, bevor ich mich bremsen konnte. Und jetzt würde ich wegen Geschichte durchfallen, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Ich hätte es wie vor ein paar Monaten machen sollen: Einfach gar nicht in die Schule gehen.
 

„Ich würde dir nicht die Erdnüsse empfehlen. Ich habe gehört, damit kann man ziemlichen Schaden anrichten.“ Rob tauchte grinsend neben mir auf und beendete somit meine stumme Schimpftirade auf Mrs.-Arsch-Geschichte.

„Hey, Rob.“ Er bemerkte meine schlechte Laune sofort und legte die Stirn in Falten.

„Ärger im Paradies?“

„Welches Paradies? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie auch nur einen Grashalm vom Garten Eden gesehen.“ Das war vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich war ziemlich gut darin, mich selbst zu bemitleiden.

„Dann vielleicht doch die Erdnüsse.“ Er nahm eine Dose aus dem Regal und drückte sie mir in die Hand. Erst jetzt wurde mir so richtig bewusst, dass ich gerade neben dem Typen stand, den ich letztens auf der Party völlig mit meinem Kuss überrumpelt hatte. Ich strengte mich sehr an, nicht rot zu werden, und stellte die Erdnüsse zurück ins Regal.

„Die sind nicht für mich. Ich brauche etwas für meine Mom, um sie zu besänftigen“, erläuterte ich, um das Gespräch auf neutralem Terrain zu halten. Ich wusste nicht, wie ich ihm den Kuss erklären sollte, und warum ich auf seine Nachrichten nicht geantwortet hatte. Er schien es mir nicht krumm zu nehmen, so wie er vor mir stand und mich anlächelte. Er grinste viel zu breit und sah mich zu intensiv an. Hatte ich mit meiner Aktion in der Speisekammer doch einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen?

„Was hast du angestellt?“ Ich richtete meinen Blick wieder auf die unzähligen Naschereien, weil ich ihm nicht länger in die Augen sehen konnte.

„Hab mal wieder 'ne schlechte Note eingesackt. Und jetzt falle ich wahrscheinlich durch.“ Endlich fand ich, wonach ich gesucht hatte. Eine besonders ausgefallene und teure Pralinenmarke. Meine Mutter liebte sie. Sobald die Verpackung einmal aufgerissen war, hielt es der Inhalt keinen Tag durch.

„Du könntest statt deiner Mutter doch deine Lehrer damit bestechen“, schlug Rob vor. Wenn es nur so einfach wäre. Ich schenkte ihm ein Lächeln, obwohl mir nicht danach war. Er war so nett. Wie sollte ich ihm bloß sagen, dass ich kein Interesse hatte? Andererseits, wie konnte ich so sicher sein, dass er auf mich stand?

„Meinst du, du könntest die Besänftigung deiner Mutter ein wenig aufschieben und mich zum Essen begleiten? Lebensmittel scheinen uns irgenwie immer ein Stück näher zu bringen, findest du nicht auch?“ Er lächelte verschmitzt, während er das sagte, aber er meinte es ernst.

Essen mit Rob. War das dann sowas wie ein Date? Ich hätte Nein gesagt, wäre heute nicht Carberry-Hass-Tag. Vielleicht konnte er mich auf andere Gedanken bringen. Dass ich ihn schon wieder benutzte, steckte ich ganz tief in eine Schublade, die ich sorgfältig verschloss.

„Gern.“ Um es möglichst nicht nach einem Date aussehen zu lassen, suchte ich das unpassendste Restaurant im Kaufhaus aus. Einen Dönerladen. Und obwohl ich überhaupt keine Lust hatte, mir so ein fettiges, vollgestopftes Ding in den Mund zu schieben, bestellte ich einen vegetarischen Döner mit Fetakäse. Wenn Rob sah, wie ungalant ich dieses Riesenbrötchen verschlang und mir die Soße aus dem Mundwinkel tropfte, verlor er vielleicht das Interesse.

So, wie er mir beim Essen zusah, konnte er nicht nur Freundschaft wollen. Aber er versteckte es gut, machte viele Scherze, brachte mich zum Lachen und redete über alle möglichen Dinge. Es war angenehm, mal nur zuhören zu können, anstatt ständig aufgefordert zu werden, auch etwas zu erzählen. Auch wenn sein Redefluss kein Ende kannte. Bestimmt war er nur nervös. Wenn ich mir vorstellte, mit Jesse an diesem Tisch zu sitzen...

Und schon war der Tag wieder gelaufen. Jesse, Jesse, Jesse. Kannte ich denn wirklich kein anderes Thema mehr? Das konnte so nicht weitergehen. Jetzt war es schon so weit, dass ich Rob nicht mehr folgen konnte, der gerade einen Witz erzählte. Aber die Pointe allein reichte leider nicht aus, um einen Witz zu verstehen. Den Anfang hatte ich damit verbracht, mir Jesse vorzustellen, wie er sich über seinen Döner beugte, die Zähne und die Lippen um das prall gefüllte Brötchen schloss, das er in seinen perfekten Händen hielt, während die Soße an seinem Handgelenk herunterrann, und herzhaft abbiss. Oh Gott, ich war ein Wrack!
 

Ich grinste höflich und nahm einen Schluck von meinem Wasser. Aber Rob hatte bemerkt, dass ich unaufmerksam war.

„Du bist nicht ganz bei der Sache, hm?“ Schuldgefühle brandeten in mir hoch.

„Tut mir Leid. Es ist nur...“ Ich bin verknallt in einen anderen.

„Schon okay. Ich kann verstehen, dass du nervös bist. Deine Mom wird dir schon nicht den Kopf abreißen.“ Ich hätte mich in Rob verlieben sollen. Er war so lieb und einfühlsam. Und er interessierte sich für mich.

„Komm, wir kaufen ihr noch einen Strauß Blumen, dann kann sie gar nicht böse sein.“ Und ob sie konnte.

„Wenn ich ihr mit Blumen komme, glaubt sie noch, ich sei schwanger oder so.“ Ich versuchte endlich, auch etwas zur guten Stimmung beizutragen.

„Also wenn sie das von dem Schulthema ablenkt, kann ich dir dabei gern behilflich sein.“ Wir wurden beide rot, als er das sagte, und lachten verlegen. Gut zu wissen, dass ich nicht die Einzige mit einem zu schnellen Mundwerk war.

Unser Abschied war etwas steif. Er wollte mich umarmen, aber ich presste die Blumen so fest an meine Brust wie einen Schutzschild. Er wünschte mir viel Glück bei meiner Beichte und ich bedankte mich für die Aufmunterung. Kaum hatten sich unsere Wege getrennt, waren meine Gedanken wieder bei der einzigen Person, die es in meinem Universum noch zu geben schien: Jesse.
 

In den nächsten Wochen bestand mein Leben nur noch aus Schule und Tierheim. Martha machte sich Sorgen um mich, weil ich so gut wie jeden Tag auftauchte. Nicht, dass sie nicht froh über die zusätzliche Hilfe war, aber ich sah ihr an, wie gerne sie mich manchmal fragen würde, was los war. Sie ließ es jedoch bleiben und ich war sehr dankbar dafür. So blieb mir erspart, laut auszusprechen, dass ich keine Freunde hatte und ich die einzigen Leute, die zumindest so etwas ähnliches waren, mied, weil ich meine Gefühle bezüglich einer dieser Personen nicht im Griff hatte. Außerdem machte ich endlich meinen Führerschein zu Ende, den ich vor der Sache mit Natalie begonnen hatte.

In der Schule wurde ich tatsächlich etwas besser. Allerdings nicht in Mathe. Dafür rutschte ich in Englisch und Chemie auf einen Dreier. Immerhin etwas. Die Lehrer waren über meinen plötzlichen Wandel erstaunt. Es war nicht so, dass ich mich jetzt strebermäßig immer meldete, wenn ich etwas wusste oder mich groß am Unterrichtsgeschehen beteiligte, aber zumindest konnte ich Fragen beantworten, wenn sie mich aufriefen. Eine Ausfrage, zwei Exen und eine Schulaufgabe fielen besser aus, als das ganze bisherige Jahr. Ich schwänzte nicht mehr, weil ich um jede Minute froh war, die mich davor bewahrte, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Abends las ich so viel wie nie zuvor - und ich hatte schon immer viele Bücher gehabt - oder ich feilte an meiner Playlist. Ich hatte beschlossen, zwei CDs zu machen. Eine für die schnellen, und eine für die langsamen Lieder. Ich änderte mal hier und mal dort einen Titel und überlegte mir immer, ob die Lieder die Zuschauer ebenso begeistern könnten wie mich. Wenn Zero sie spielte und ihnen ihre eigene Note verlieh, so wie bei Run boy run, hatte ich da keine Bedenken.
 

Nur einmal fragte Tammy mich noch, ob ich mitwollte zur nächsten Bandprobe.

„Es sind deine Freunde, Tammy, nicht meine. Ich kann nicht ständig mit deiner Clique rumhängen. Ist schon gut. Geh und amüsiere dich.“ Wir beide wussten, dass meine Schwester die Jungs nicht wirklich viel länger kannte als ich, aber wir schwiegen in stillem Einvernehmen. Ich konnte nicht genau sagen, wieso sie plötzlich aufhörte mit ihrem Lea-Beschäftigungsprogramm. Möglicherweise hatte sie erkannt, dass ich ein hoffnungsloser Fall war, nicht sozialisierbar. Oder sie glaubte tatsächlich immer noch, Jesse stelle eine Gefahr für mich dar. Wie lächerlich. Über Rob hatte sie versucht, mich auszufragen, aber ich hatte abgeblockt.

Rob meldete sich noch zwei-, dreimal bei mir, fragte, ob ich etwas mit ihm unternehmen wolle, Kino oder so. Ich hätte gerne Ja gesagt, weil ich ihn wirklich gut leiden konnte und er mir immer gute Laune bereitete. Aber ich hielt es nicht für klug, mit einem Jungen auszugehen, dem ich nicht mehr bieten konnte als Freundschaft, wenn er doch eindeutig mehr wollte. Es wäre nicht fair, ihm vorzuspielen, dass er eventuell eine Chance bei mir hatte. Denn dem war nicht so. Ich hatte reichlich darüber nachgedacht, ob ich ihn vielleicht doch mehr mögen könnte, wenn ich nur genug Zeit mit ihm verbrachte; wenn ich merkte, wie gut er mir tat.

Immer wieder erinnerte ich mich an den Kuss, und wie diskret er danach gewesen war. Nicht mal bei unserem Treffen hatte er ihn erwähnt. Als hätte es ihn nie gegeben; oder die Tatsache, dass Jesse ihn zur Schnecke gemacht hatte, weil er geglaubt hatte, Rob wäre mir an die Wäsche gegangen.

Doch nichts von alledem konnte mein Herz dazu bringen, schneller zu schlagen, wenn ich an ihn dachte, oder meinen Kopf davon überzeugen, dass er eindeutig die bessere Wahl wäre. Aber so lief das mit der Liebe nunmal nicht. Man konnte sich nicht aussuchen, wem man sein Herz schenkte und um wen sich seine Gedanken kreisten.

Und bei mir war es bereits entschieden. Ich konnte nichts daran ändern. Also wimmelte ich Rob jedes Mal freundlich ab, obwohl es mir einen Stich versetzte, einen der wenigen Menschen aus meinem Leben zu verscheuchen, die ich lieb gewonnen hatte. Aber es war besser so für ihn. In meinem Herzen war kein Platz mehr. Jede Ritze, jeder Milimeter, jeder noch so kleine Winkel war bereits besetzt von Jesse.
 

Ich ging oft auf lange Spaziergänge oder setzte mich in ein Café und las, um danach behaupten zu können, ich hätte etwas mit meinen Klassenkameradinnen unternommen. Nicht zu oft natürlich, sonst kaufte mir das keiner ab. Ich wollte nur nicht, dass sich meine Familie Sorgen machte.

Meine Playlists gab ich Tammy mit, doch sie erzählte mir nie, ob Zero meine Vorschläge gefielen oder nicht. Und ich fragte nicht nach. Brandon war der Einzige, den ich ab und zu zu Gesicht bekam, weil er Tammy hin und wieder abholte. Die beiden waren jetzt offiziell ein Paar. Das freute mich für meine Schwester. Und für mich selbst. Weil sie so beschäftigt war mit ihren Schmetterlingen im Bauch, dass sie keine Zeit hatte, sich groß Gedanken über mich zu machen.

Mein einziger regelmäßiger sozialer Kontakt war Kasper. Er kam ab und zu im Tierheim vorbei, um mit Bux, Pearl und mir einen Spaziergang zu machen. Inzwischen hatte sie sich an die Leine gewöhnt. Mir tat seine Anwesenheit gut. Er war so unkompliziert. Und ich musste mich nicht vor ihm verstellen. Er wusste, wer ich war. Wie ich war. Und meistens übernahm er das Reden. Ich genoss das. Ihm gingen die Geschichten von der großen weiten Welt niemals aus.

„Ich schwöre dir. Fordere niemals einen Strauß heraus. Da kann man nur verlieren.“ Ich lachte und war gleichzeitig erschrocken, dass ich nicht mehr an diesen Klang gewöhnt war.

„Du kannst einem Strauß aber auch nicht einfach sein Ei stehlen“, erwiderte ich. Kasper zuckte die Achseln.

„Ich wollte ja nur ein Foto machen.“ Ich schüttelte grinsend den Kopf.

„Du bist unverbesserlich!“ Kasper warf Bux einen Stock.

„Man lebt schließlich nur einmal.“ Meine Brust zog sich ein wenig zusammen. Wenn ich daran dachte, wie Kasper sein Leben genoss, und ich nur so vor mich hin dümpelte, bekam ich beinahe ein schlechtes Gewissen. Worauf wartete ich eigentlich? Auf eine Einladung ins Leben?

„Ich habe übrigens etwas für dich“, sagte Kasper, ungewohnt ernst. Ich sah ihn fragend an.

„Einen Brief.“ Oh. Es gab nur eine Person, von der er mir einen Brief überbringen konnte. Mein Herz begann, schneller zu schlagen.

„Wirklich?“ Ich konnte es kaum glauben. Sie hatte sich monatelang nicht gemeldet, und ich hatte aufgehört, sie zu bedrängen, da sie mir nie geantwortet hatte. Ich hatte es mit Briefen probiert, Emails, sogar eine Videobotschaft hatte ich ihr geschickt, aber nichts. Und jetzt dieser Brief? Ich bekam schwitzige Hände. Kasper zog einen einfachen weißen Umschlag aus seiner Jackentasche. Er war nicht beschriftet.

„Hier.“ Ich starrte das Papier eine Weile nur an, bevor ich es entgegennahm. Irgendwie hatte ich Angst vor dem Inhalt. Ich war neugierig und verärgert. Wieso erst jetzt? Warum ausgerechnet jetzt?

Ich hätte sie so sehr gebraucht. Ich hätte ihr so viel zu erzählen gehabt. Ich hätte eine Schulter gebraucht, an der ich mich ausweinen konnte. Aber dieser Brief war besser als nichts. Meine Hand zitterte und ich überlegte fieberhaft, ob ich Natalies Zeilen jetzt gleich lesen sollte oder lieber, wenn ich alleine war. Ich war so neugierig und sehnte mich nach einem Lebenszeichen von ihr. Ich brauchte einen Beweis, dass wir immer noch so verbunden waren wie damals, dass wir immer noch Freunde waren, wie ich immer gehofft hatte, wie ich immer angenommen hatte.

„Danke“, kam meine späte Antwort und ich konnte nicht mehr sagen, weil mir meine Stimme versagte.

„Du musst ihn nicht jetzt gleich lesen“, versicherte mir Kasper, obwohl ich ihm ansah, wie neugierig er war. Er bekam seine Schwester immerhin alle paar Wochen zu Gesicht. Er erzählte mir zwar von ihren Fortschritten, aber das war nicht dasselbe. Plötzlich hatte ich es nur noch eilig, nach Hause zu kommen, die Tür hinter mir abzuschließen und Natalies Worte in mich aufzusaugen.
 

Doch als es so weit war, kam mir der Brief auf einmal suspekt vor. Ich traute mich nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn sie mir ein für allemal klar machen wollte, dass ich sie in Ruhe lassen sollte? Oder wütend auf mich war, weil ich mich nicht mehr bemüht hatte, den Kontakt mit ihr zu halten. Schließlich war sie diejenige, die schon so viel auf ihren Schultern lasten hatte. Wie konnte ich da erwarten, dass sie die Energie aufbrachte, sich auch noch um mich zu kümmern? War das nicht selbstsüchtig? Meine Nerven flatterten. Endlich hatte ich ein Lebenszeichen von Natalie erhalten, doch ich war nicht bereit dafür. Sobald ich die Zeilen gelesen haben würde, könnte ich es nicht mehr rückgängig machen. Dann war alles entschieden.

Ich wollte nur noch einen weiteren Tag verbringen, als wäre alles unverändert.

Morgen. Morgen würde ich den Brief öffnen.

Spaß mit Hello Kitty

„Lea?“ Jen klopfte zwar an, wartete aber nicht, bis ich sie hereinbat. Ich hatte sie länger nicht gesehen. Das Erste, woran ich dachte, als ich sie sah, war, dass ich mir noch immer nicht vorstellen konnte, dass sie in Greg verknallt war.

„Hi“, sagte ich und legte mein Buch zur Seite. Jen setzte sich neben mich aufs Bett und Tammy lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Jen. Lass es doch einfach.“ Sie wirkte genervt und besorgt zugleich. Ich wurde neugierig.

„Was gibt’s?“, fragte ich.

„Ich habe gehört, du hast einen Verehrer“, begann Jen und ich sah, wie Tammy die Augen verdrehte.

„So habe ich das nicht gesagt, ich schwör’s“, verteidigte sie sich. So oder so war klar, wen sie meinte. Und dumm wie ich war, hatte ich Tammy davon erzählt. Ursprünglich, um sie zu beruhigen, dass ich nicht vollkommen von der Welt abgeschnitten war.

„Wie auch immer“, winkte Jen ab. „Kasper heißt er, richtig?“ Erleichtert seufzte ich auf. Ich hatte schon befürchtet, hier ginge es um Rob. Hatte sie tatsächlich vor, mit mir über Jungs zu reden? Ich musste mir auf die Zunge beißen, um Greg nicht zu erwähnen. Ich hatte Tammy versprochen, es für mich zu behalten.

„Ja, Kasper“, antwortete ich simpel, weil ich nicht wusste, worauf sie hinauswollte. Jen spielte mit einer ihrer Haarsträhnen.

„Kasper macht doch gerne Fotos, richtig?“ Am liebsten wollte ich sie schütteln und ihr sagen, sie solle einfach mit der Sprache herausrücken, anstatt hier so um den heißen Brei herumzureden. Ich nickte.

„Er fängt bald eine Lehre als Fotograf an.“ Jen klatschte in die Hände.

„Perfekt. Glaubst du, du kannst uns deinen Freund mal für einen Tag ausleihen?“ Ich runzelte die Stirn.

„Er ist nicht mein Freund“, stellte ich klar. „Wozu braucht ihr ihn denn?“ Tammy warf Jen einen warnenden Blick zu, doch sie ignorierte dies gekonnt.

„Wir machen Flyer für Zero. Da wäre eine erfahrene Hand hilfreich.“

Das war eine gute Idee. Werbung konnte den Jungs nicht schaden.

„Meinst du, du könntest Kasper mal fragen, ob er Interesse hätte?“ Ich nickte.

„Klar.“ Ich verstand gar nicht, wieso Tammy sich so komisch verhielt, wenn das alles war, was Jen von mir wollte. Diese sah mich abwartend an.

„Du meinst, jetzt gleich?“, fragte ich und griff zum Handy, weil ich die Antwort schon kannte.

„Das wäre entzückend.“ Ich schrieb Kasper eine SMS, weil ich nicht vor den Mädels mit ihm telefonieren wollte. Mir fiel der Brief wieder ein, der unberührt auf meinem Schreibtisch lag und ich schielte zu dem weißen Umschlag hinüber. Es schien, als wolle er mich gleich anspringen.
 

„Wann wollt ihr das machen?“, fragte ich, während ich die SMS schrieb.

„Am besten wäre dieses Wochenende. Dann haben wir nicht so einen Zeitdruck mit der Fertigung. In zwei Wochen ist der nächste größere Gig.“ Während wir auf seine Antwort warteten, erzählte Jen begeistert von dem Erfolg, den Zero in der kurzen Zeit gehabt hatte. Sie bekamen so viele Anfragen, dass sie sich aussuchen konnten, wo sie spielen wollten.

„Kein Wunder. Sie sind fantastisch“, sagte ich und meinte es ganz ehrlich. Ich fragte mich, ob es eines meiner Lieder in ihre Playlist geschafft hatte, doch ich wollte nicht nachhaken. Kasper antwortet schnell und sagte euphorisch zu.

„Er ist dabei“, verkündete ich die frohe Botschaft. Jen packte mich und küsste mich auf die Wange.

„Wunderbar. Dann sehen wir euch zwei Süßen am Samstag, ja?“ Ich wollte Einspruch erheben, denn ich hatte nicht vor, mitzugehen. Ich konnte nicht mitgehen. Aber das konnte ich auch alleine mit Kasper klären. Ich hatte jetzt definitiv keine Lust, mit Jen darüber zu diskutieren. Tammys Handy vibrierte.

„Brandon ist da. Komm, Jen, wir müssen.“ Jen wuschelte mir durchs Haar und verabschiedete sich mit einer Umarmung. Als die beiden gegangen waren, schnappte ich mir ein Kissen, legte es über mein Gesicht und schrie. Ob ich mich selbst ersticken könnte? Keine hibbelige Jen mehr, keine besorgten Blicke von Tammy, kein Schulstress. Kein schlechtes Gewissen, weil ich den Brief noch nicht gelesen hatte; keine Gewissensbisse, weil ich Rob hatte abblitzen lassen. Und kein Kampf in meinem Innern, ob ich nun Gedanken an Jesse zuließ oder nicht. Anstatt mir mit dem Kissen die Luft abzuschnüren, pfefferte ich es auf meinen Schreibtisch, sodass Blätter und Stifte herunterfielen. Die Genugtuung, die mich daraufhin erfüllte, hielt jedoch nicht lange an.
 

Kopfschüttelnd reichte ich Kasper die Utensilien, die er von mir verlangte. Ich wusste noch immer nicht, wie ich mich hatte überreden lassen, ihm zu assistieren. Naja, es war eigentlich ganz einfach gewesen: Er hatte mich darum gebeten, und ich hatte Ja gesagt. Wenn ich mich geweigert hätte, hätte Kasper sofort gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Und so gut wie er mich kannte, würde er irgendwann aus mir herauskitzeln, dass es mit einem der Jungs zu tun hatte. Das wollte ich unbedingt vermeiden.

Ty half uns, ein halbwegs professionelles Set aufzubauen. In der beengten Garage war das gar nicht so leicht. Ich hatte Kaspers Leidenschaft fürs Fotografieren unterschätzt. Er hatte sogar eine eigene Leinwand und einen Lampenschirm. So konnten wir die Jungs ideal in Szene setzen. Ich sah auf die Uhr und versuchte, ruhig zu bleiben. In einer halben Stunde würden sie hier auftauchen - würde er hier auftauchen.
 

Ich redete mir ein, dass ich die Wimperntusche und den leichten Lidstrich nur für Kasper aufgetragen hatte. Meine Haare trug ich offen und war erstaunt, wie lange sie inzwischen waren. Sie reichten beinahe bis zu meinem Bauchnabel.

Wir rückten gerade den Lampenschirm zurecht, als das Garagentor nach oben schwang und die Jungs hereinkamen. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ließ meinen Blick über sie schweifen, ohne sie wirklich anzusehen. Trotzdem fiel mir Jesses überraschter Blick auf, als er mich sah. Wahrscheinlich hatte keiner von ihnen damit gerechnet, mich je wiederzusehen. Plötzlich kam ich mir unhöflich vor. Um eventuellen Umarmungsrunden zu entgehen, tat ich so, als wäre ich äußerst beschäftigt mit der Ausrichtung des Lampenschirms.
 

„Hi“, war alles, was ich sagte. Mehr brachte ich nicht heraus. Ich spürte Jesses Anwesenheit beinahe körperlich, auch wenn ich vermied, ihn anzusehen. Verdammt. Es hatte sich nichts geändert. Mein Herz raste bereits. Aber ich versuchte, es zu ignorieren.

Nur heute, sagte ich mir. Ich musste nur heute überstehen, dann konnte ich wieder so tun, als würde es ihn nicht geben.

„Hallo Leute. Ich bin Kasper“, stellte sich Natalies Bruder selbst vor und reichte allen die Hand. Meinte ich das nur oder war Jesses prüfender Blick etwas härter als der der anderen? Wunschdenken, schalt ich mich, und half Ty mit dem Aufstellen des Stativs.

„Schön, dass ihr ausnahmsweise mal pünktlich seid“, scherzte Ty und legte einen Arm um mich, als wäre ich nie weggewesen.

„Sind alle da?“, fragte Kasper, der ja noch nie auf die Jungs getroffen war.

„Ja, wir sind komplett“, antwortete Brandon und bedeutete Kurt, Ezra und Jesse, sich vor der Leinwand aufzustellen. Kasper ließ seinen Arm auf dem Stativ ruhen und betrachtete die Jungs. Wahrscheinlich überlegte er, wie man sie am besten in Szene setzen konnte.

„Also, wie wollt ihr es machen?“, fragte er und ich war froh, dass er Tammy und Jen mehr oder weniger verboten hatte, zu kommen.

„So wenig Zuschauer wie möglich“, hatte er gebeten. War auch besser so. Es war eh schon eng in der Garage. Die beiden Mädels würden die Jungs wahrscheinlich am liebsten in einer typischen Boybandpose ablichten, aber da würde Zero sowieso nicht mitmachen. Die Jungs hatten sich hingegen anscheinend gar keine Gedanken gemacht, denn sie zuckten nur die Schultern und sahen sich ratlos an.

„Sollen wir nicht die Instrumente dazustellen? Dann wirkt es authentischer“, schlug Ty vor. Kasper schüttelte jedoch den Kopf.

„Das kriege ich hier nicht aufs Bild. Ich dachte, ich komme einfach beim nächsten Gig vorbei und fange euch dann in Aktion ein.“

Gute Idee. Ich hoffte nur, dass ich ihm nicht wieder assistieren musste, sonst waren meine Versuche, mich von Jesse fernzuhalten, eindeutig fehlgeschlagen.

„Ich würde vorschlagen, heute Gruppenfotos und Einzelporträts zu machen und das alles dann zu einer Collage zusammenzufügen. Habt ihr ein Bandlogo?“ Ty nickte und reichte Kasper eine der gebrannten CDs, von denen auch ich eine besaß. Auf den Aufnahmen war noch Freds Stimme zu hören, Jesses Vorgänger. Seine Stimme klang ganz anders. Sehr rockig. Ich musste mir das Lachen verkneifen, als Kasper die Nase beim Anblick des simplen Logos krauszog.

„Wirklich?“, fragte er nur und zuckte mit den Schultern.

„Wir können das auch ändern“, meinte Brandon. „Wir hängen nicht besonders daran. Nur leider sind wir nicht so begabt in… diesem kreativen Zeug.“ Und das aus dem Mund eines Musikers. Kasper nickte.

„Das kriegen wir schon hin. Lea?“ Er warf mir die CD-Hülle zu und ich war froh, dass ich sie nicht fallen ließ.

„Glaubst du, du kannst da was machen?“ Ich sah ihn einen Moment entgeistert an. Wieso ich? Doch dann fiel mir wieder ein, wie lange er mich schon kannte. Er wusste, wie gerne ich zeichnete. Wie konnte ich schon Nein sagen? Das würde nur Fragen aufwerfen.

„Klar. Ich probier’s.“ Ezra hob eine Augenbraue.

„Lea, du hast uns ja gar nichts von deinen künstlerischen Fähigkeiten erzählt. Wenn ich mich recht erinnere, hast du in letzter Zeit eigentlich gar nichts erzählt.“ Ich schluckte schwer.

„Können wir uns bitte wieder darauf konzentrieren, wie wir die Flyer haben wollen?“, rettete mich Brandon. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu.

„Irgendwelche Ideen?“ Es hatte sich wirklich keiner von ihnen Gedanken darüber gemacht.

„Wie wär’s in schwarz-weiß“, schlug ich vor, bevor ich mich stoppen konnte. Kasper schenkte mir ein Lächeln.

„Das halte ich für eine gute Idee. Den Rest können wir auch später genauer besprechen. Das ist der Vorteil an einer Collage.“ Keiner hatte Einwände – es hatte ja auch keiner Ahnung.

„Okay, dann machen wir zuerst ein paar Gruppenfotos und später jeden einzeln, in Ordnung?“
 

Als sie das Shooting begannen, entfernte ich mich und legte eine CD ein. Außerdem musste ich woanders hinsehen, sonst würde ich die ganze Zeit Jesse anstarren. Es passierte einfach, ob ich es wollte oder nicht. Auch wenn ich mich zwang, die anderen anzusehen, wanderte mein Blick immer wieder zu ihm zurück und verfing sich in Kleinigkeiten. Seine linke Augenbraue, die sich ab und zu leicht nach oben zog, während er versuchte, sich nicht zu bewegen. Seine Nasenflügel, die sich nach innen legten, wenn er die Nase hochzog. Seine Hände, die er in die Hosentaschen steckte, weil er nicht wusste, was er sonst mit ihnen anfangen sollte. Seine Augen, die mit der Kamera flirteten. War ich jetzt ernsthaft eifersüchtig auf eine Kamera? Ich drückte auf Play und die Musik dröhnte lauter aus den Boxen, als ich erwartet hatte.

„Tut mir Leid“, rief ich und drehte am Regler, um etwas leiser zu machen. Ich hoffte, die Musik würde uns allen helfen, zu entspannen. Den Jungs, weil sie wirklich steif auf den Fotos wirkten und mir, dass ich an etwas anderes denken konnte, als mit Jesse in einem Raum zu sein.

Mit der Zeit wurde es besser. Kasper brachte Abwechslung ins Spiel, indem er sie bat, ihre Posen zu wechseln. Mal der eine links, dann wieder rechts, etwas versetzt nach hinten und vorne, mit Stühlen usw. Irgendwann begannen die Jungs Blödsinn mit den Reifen zu machen, und auch das hielt Kasper auf der Kamera fest. Ich fand, dabei entstanden die besten Bilder. Spontan und nicht aufgesetzt. Nach etwa zwanzig Minuten hatte Kasper genug Bilder im Kasten, um die Jungs zu erlösen. Zumindest von den Gruppenfotos.

„Darf ich zuerst?“, bat Brandon, als es an die Reihenfolge der Einzelporträts ging.

„Ich habe noch ein Date.“ Er grinste breit. Schön, dass er sich so auf meine Schwester freute.

„Aber sicher“, willigte Kasper ein.

„Ja. Freiwillige vor!“ Kurt ließ sich auf einen Reifen fallen. Er hatte offensichtlich keine Lust auf dieses ganze Theater. Ezra schien dagegen nahezu kamerageil zu sein. Ich klickte mich durch die Bilder auf dem Laptop, der direkt mit der Kamera verbunden war. Zero war unglaublich fotogen. Einige der Schüsse waren besser als so manche CD-Cover von bekannten Bands.
 

Die Pizza, die Ty vorhin bestellt hatte, traf ein und während Brandon und Kasper weiterarbeiteten, stürzten sich alle auf das Essen und gaben eher unprofessionelle Kommentare zu Brandons Posen.

„Wie wär’s mit oben ohne?“, schlug Kurt breit grinsend vor.

„Ja, wir könnten dich mit Öl einreiben, damit du so richtig schön glänzt“, ergänzte Ezra grinsend und schielte zum Ölkanister im hintersten Eck der Garage. Aber immerhin brachten sie Brandon damit zum Lachen und dabei entstand ein sehr hübsches Bild. Ich konnte verstehen, wieso meine Schwester mit ihm ausging.

„Lea.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wie Jesse sich neben mich gestellt hatte, da ich so konzentriert auf das Shooting war. Es war das erste Mal heute, dass er mich direkt ansprach. Ich sah ihn abwartend an, bis ich bemerkte, dass er mir ein Stück Pizza entgegenhielt.

„Danke“, sagte ich nur. Was sollte ich auch sonst sagen? Ich hoffte, mein laut schlagendes Herz war nicht zu hören. Unsere Finger berührten sich, als ich ihm die Quattro Formaggi abnahm, und mein Magen verkrampfte sich. Ich würde am liebsten nach seiner Hand greifen und unsere Finger ineinander verschränken. In der Garage war es schon eine Weile ziemlich warm, daher hatte ich bereits seit längerem gerötete Wangen, sonst hätte ich mich jetzt verraten.

„Das war’s. Ich glaube, ich hab’s“, holte Kasper mich wieder aus meinen Gedanken. Brandon war erlöst.

„Lea, zeigst du Brandon die Aufnahmen?“ Ich wollte wiedersprechen. Ich wollte genau hier stehen bleiben, direkt neben Jesse, und einfach nur das Gefühl genießen, ihm so nahe zu sein. Aber natürlich sagte ich das nicht.

„Klar“, hörte ich mich stattdessen antworten. Brandon und ich klickten uns durch circa fünfzig Fotos, die Kasper gemacht hatte.

„Wer will als Nächstes?“ Kasper nahm sich eine Pizza und machte kurz Pause. Mein Stück war inzwischen kalt. Aber glücklicherweise handelte es sich hier um Pizza, die musste man nicht warm essen. Brandon warf sich inzwischen seine Jacke über und klopfte Kasper auf die Schulter.

„Danke, Mann. Das sind klasse Aufnahmen. Aber ich muss los. Tammy wartet auf mich.“ Eifersucht stieg in mir auf. Nicht direkt auf meine Schwester, aber auf die Tatsache, dass die beiden jetzt ein Date hatten und ich hier versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer es mir fiel, in Jesses Nähe zu sein. Ich stellte mir vor, wie stattdessen wir beide ein Date hatten, scheiterte aber kläglich. Selbst für mich war es unvorstellbar. Ich seufzte und warf den Rest meines Pizzastücks in einen der leeren Kartons.

„Hey. Das kannst du doch nicht wegschmeißen. Das ist Pizza!“, empörte sich Kurt. Ich lächelte ob seinem ernsthaft schockierten Blick. Ich zuckte die Schultern.

„Tut mir Leid. Ich habe schon zuhause gegessen“, log ich. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf.

„Man vergeudet keine Quattro Formaggi“, bläute er mir ein und ich konnte nicht anders, als zu lachen. Ich war schon kurz davor, mir meine Überreste zu schnappen und zu verschlingen, um ihn glücklich zu machen.

„Reg dich ab. Deine heilige Pizza wird schon nicht verschwendet“, mischte Jesse sich ein, nahm mein halb aufgegessenes Stück und aß es in drei großen Bissen. Ich starrte ihn nur an. Er hatte meine Pizza gegessen. Die, von der ich bereits abgebissen hatte. Ich schluckte. Ja, klar war das keine große Sache, aber irgendwie gefiel mir das. Man aß nichts Angeknabbertes von Leuten, die man nicht mochte. So ging es mir zumindest. Hieß das, er mochte mich? Ich versuchte wirklich, da nicht zu viel hineinzuinterpretieren. Wahrscheinlich war ihm scheißegal, wessen Pizza das war, Hauptsache mehr davon. Und trotzdem konnte ich die Glücksgefühle einfach nicht abstellen.

Ich schenkte Jesse ein dankbares Lächeln, das er mit gefüllten Backen erwiderte. Fand ich das nur so süß, weil ich in ihn verknallt war und mein Gehirn nicht mehr klar denken konnte, oder war er einfach tatsächlich immer umwerfend, egal, was er machte? Ich vermutete, ein bisschen von beidem.
 

Ezra meldete sich als Nächster freiwillig. Er schien die Kamera mit seinen Blicken ausziehen zu wollen. Ich dachte an meine erste Begegnung mit Ty und wie ich herausgehört hatte, dass er ein Auge auf Ezra geworfen hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Wie es aussah, hatte Ezra jedoch keine Ahnung von seinem Verehrer. Das bedeutete wohl, das Ty und ich heimliche Leidensgenossen waren. Wir hatten uns beide einen Typen ausgesucht, der für uns unerreichbar war. Nur machte Ty das schon viel länger mit. Ich fragte mich, wie er das aushielt. Ich hatte es ja so schon kaum fertiggebracht, mich nicht von meinen Gefühlen beherrschen zu lassen, aber ich hatte Jesse auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Außer in meinen Träumen vielleicht.

Jesse wechselte die CD, als die andere endete. Der Sound war mir eindeutig bekannt. Imagine Dragons. Ich liebte Imagine Dragons. Und noch mehr liebte ich, dass sie Jesse dazu brachten, mitzusingen. Nicht aus vollem Hals, es war eher ein Summen. Ich könnte mir das den ganzen Tag anhören. Und ich könnte ihn den ganzen Tag ansehen. Stattdessen beschäftigte ich mich mit den Bildern, die Kasper machte. Als Jesse an der Reihe war, tat ich so, als würde ich mit meinem Handy spielen. Denn wenn ich ihn zu lange ansah, würden mir mit Sicherheit die Augen aus den Höhlen fallen. Er saß auf dem Boden im Schneidersitz und unterhielt sich mit Kurt über irgendein Festival, das in einem Monat stattfand. Anscheinend gefiel Kasper diese lockere Haltung, denn er wies Jesse nicht an, etwas anderes zu machen.

Direkt nach seinem Shoot verabschiedete sich Jesse und ich versuchte die Leere zu ignorieren, die sich in mir ausbreitete. Glücklicherweise erhielt ich reichlich Ablenkung, weil es relativ schwierig war, Kurt richtig in Szene zu setzen. Letztendlich lockte Kasper ihn aus der Reserve, indem er ihm seine Gitarre in die Hand drückte und ihn bat, darauf zu spielen.

„Soll ich noch beim Abbau helfen?“, fragte Kurt später.

„Nein, schon okay. Das schaffen wir schon“, erlöste Kasper ihn.

„Gut. Ich treffe nämlich ein paar Groupies.“ Er ließ die Augenbrauen spielen. Mir wurde flau im Magen. Meinte er nur sich, oder waren die anderen Jungs auch dabei? Brandon war natürlich raus, der war bei meiner Schwester. Aber was war mit Jesse? Bisher hatte ich dieses Gefühl der Eifersucht nie wirklich empfunden, aber jetzt, da es sich durch jede einzelne Faser meines Körpers schlängelte, befand ich, es sei das beschissenste Gefühl, das es gab.

Kurt ließ sich nicht zweimal sagen, dass er entlassen war, und wünschte uns einen schönen Abend.

„Coole Jungs“, sagte Kasper, als wir allein waren.

„Ja, stimmt“, erwiderte ich lahm, weil meine Gedanken bei Jesse waren.

„Hängst du öfter mit ihnen ab?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Nicht mehr.“ Hätte ich mich nicht in einen von ihnen verknallt, hätte ich jetzt möglicherweise Freunde. Es war das erste Mal, dass mir dieser Gedanke kam.

„Wieso?“ Diese Frage musste ja kommen. Ich biss mir auf die Zunge. Eigentlich brauchte ich unbedingt jemanden zum Reden. Vielleicht könnte Kasper mir einen Rat geben, wie ich meine Gefühle unter Kontrolle brachte. Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, da klingelte sein Handy.

„Hi, Mom. Was? Er hat was? So ein Vollidiot. Ja, ich komme sofort.“

Ich sah ihn fragend an.

„Was ist los?“ Kasper schnappte sich seine Tasche.

„Tut mir leid, ich muss los. Bux hat irgendein Spielzeug verschluckt und jetzt röchelt er ganz komisch. Das Auto meiner Eltern ist gerade in der Werkstatt, also… Ich komme später wieder.“ Ich winkte ab.

„Nicht nötig. Ich räume das hier noch fertig auf, dann fahre ich mit dem Bus. Kümmere du dich lieber um Bux“, versicherte ich ihm. Er hielt noch einmal kurz inne.

„Danke, du bist ein Engel. Ciao.“ Er klopfte mir auf die Schulter und eilte dann zu seinem Auto. Ich schloss die Garagentür, weil es draußen recht kalt war. Inzwischen war es März, doch die Sonne wollte nicht so wirklich rauskommen.

Armer Bux. Hoffentlich konnte der Tierarzt ihm helfen. Wahrscheinlich musste man ihn narkotisieren und ihm den Magen auspumpen. Keine schöne Sache. Aber er war auch wirklich ein Trottel.

Ich versuchte, das Chaos, das die Jungs verursacht hatten, wieder zu beseitigen und die Autoreifen stapelte ich ordentlich aufeinander. Verdammt schwer, diese Dinger. Ich stopfte alle Getränkedosen und Pizzakartons in einen Sack. So langsam sah es wieder ansatzweise wie vorher aus. Nicht, dass die Garage je aufgeräumt gewesen wäre.
 

Als das Garagentor aufschwang, erschrak ich ziemlich und fuhr herum.

„Hey“, entfuhr es mir, als Jesse durch das halb hochgeschobene Tor schlüpfte.

„Du bist noch hier?“, stellte er die überflüssige Frage.

„Ja… Hast du was vergessen?“ Er begann, in dem Müllsack rumzuwühlen, den ich auf den Boden gestellt hatte.

„Mhm. Hast du meine Zigaretten gesehen?“ Nein. Aber hätte ich sie gefunden, wären sie definitiv im Müll gelandet. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, leider nicht.“ Er stöberte weiter und ich begann, mich ebenfalls umzusehen.

„Wo ist Kasper abgeblieben?“ Ich kramte in den in einem wilden Haufen übereinander liegenden CDs auf dem Tisch.

„Hab sie“, rief ich triumphierend und hielt die Schachtel in die Höhe. Jesse streckte die Hand danach aus und ich überlegte einen Moment, ob ich mich weigern sollte, sie ihm wiederzugeben. Aber er war alt genug.

„Danke.“ Er steckte sich eine hinters Ohr und ließ die Schachtel in seiner Jacke verschwinden.

„Also?“ Also was? Ich musste wohl genauso ratlos gucken, wie ich mich fühlte. Jesse grinste ob meiner beschränkten Auffassungsgabe. War ja klar, dass ihn das wieder amüsierte.

„Hm?“ Ich sollte mich wirklich mehr auf andere Dinge als seine Augen konzentrieren.

„Wo dein Freund ist“, erinnerte er mich an die Frage.

„Er ist nicht mein Freund“, schoss es aus mir heraus. „Also, ich meine, er ist nicht mein Freund… Er ist ein Freund.“ Jesse schüttelte grinsend den Kopf.

„Das war nicht die Frage.“ Er hob eine Augenbraue. Konnte er vielleicht damit aufhören? Ich fragte mich, ob Tammy möglicherweise doch recht gehabt hatte und es Jesse Spaß machte, mich zu necken.

„Ich weiß. Er ist… Sein Hund ist krank.“ Wow. Das klang ja super.

„Und dann lässt er dich einfach hier allein zurück?“

Ich ordnete die CDs zu einem geraden Stapel, um etwas zu tun zu haben.

„Er musste schnell weg. Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Es fährt ja ein Bus.“ Wieso erzählte ich ihm das überhaupt? Ich sollte verschwinden. Ich sollte nicht länger als nötig mit ihm in einem Raum sein – oder in einer Garage.
 

„Ich kann dich fahren.“ Ich sollte davonlaufen. Am besten schreiend. Ich sollte sein Angebot ablehnen und ihm sagen, er solle mich in Ruhe lassen. Ich brauchte Abstand. Wenn ich vernünftig war, hielt ich mich besser von ihm fern, sonst würde ich nie von ihm loskommen.

„Das wäre sehr nett“, hörte ich mich sagen. Scheiß auf Vernunft! Jede Sekunde mit Jesse war besser, als ohne ihn.

„Okay. Bist du hier fertig?“ Er sah sich in der Garage um. Ich nickte und schnappte mir meine Tasche.

„Ja, kann losgehen.“ Jesse hob das Tor hoch und als ich schon halb durchgeschlüpft war, hielt ich nochmal inne. Der Müll.

„Oh, warte.“

Jesse wartete geduldig, bis ich mir die Mülltüte geschnappt hatte und in die kalte Abendluft entschwand. Ich warf den Müll in die Tonne und stieg zu Jesse ins Auto, begleitet von einem stetigen lauten Herzklopfen. Es war das erste Mal, dass ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Einerseits vermisste ich den Blick auf Jesses Nacken, andererseits fühlte ich mich ihm so noch näher. Er parkte schwungvoll aus und ich bemerkte, dass er nicht angeschnallt war. Ich biss auf meine Lippe, um mir einen Kommentar zu verkneifen.

„Ist was?“, fragte er und warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich konnte kaum glauben, allein mit ihm zu sein. Ich konnte kaum glauben, wie wunderschön er war. Und vor allem konnte ich nicht glauben, wie unglaublich schnell ich mich in ihn verliebt hatte, und wieso. Ich vermutete, es war in dem Moment passiert, als ich ihn das erste Mal singen hörte. Seine Stimme war an allem Schuld.

„Lea, hey.“ Er wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht rum, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Mein Kopf fuhr zu ihm herum.

„Hm? Tschuldige. Was?“ Er musste mich echt für eine Idiotin halten. Immer war ich mit meinen Gedanken woanders. Naja, das stimmte nicht ganz. Immerhin waren meine Gedanken meistens bei ihm.

„In welche Richtung?“ Wir standen an einer Kreuzung und ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Er hatte uns doch schon mal abgeholt. Also hatte er zumindest kein unfehlbares Gedächtnis.

„Rechts. Nein, links. Links.“ Er sah mich amüsiert an.

„Bist du sicher?“

„Links. Ja, ich bin sicher.“ Das war gelogen. Ich war total unsicher. Nicht wegen der Straße, sondern wegen ihm. Was sollte ich davon halten, dass er mich nach Hause fuhr? Und dass er mein Pizzastück gegessen hatte? Und dass er sich auf der Party um mich gekümmert hatte?

„Danke übrigens nochmal. Wegen der Party, meine ich. Weil du auf mich aufgepasst hast.“ Jesse zuckte die Achseln.

„Die Party war eh lahm.“ Wow. Sollte heißen: Mir war langweilig und ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun, als den Babysitter zu spielen. Wie hatte ich auch annehmen können, dass ihm etwas an mir lag? Plötzlich wünschte ich mir, ich wäre nicht in sein Auto gestiegen.

„Und mit dir und Rob ist wirklich alles in Ordnung?“ Ich verdrehte die Augen und stöhnte. Nicht das schon wieder.

„Ernsthaft?“, fragte ich und legte meinen Kopf an die Stütze. Jesse lächelte nur. Oh Mann, ich könnte ihn die ganze Zeit wirklich nur anstarren. Er schaltete das Autoradio um auf CD, weil Nachrichten kamen. Es ertönte Sail von Awolnation. Das konnte Zufall sein, doch als ich zur Fahrertür hinüberschielte, erkannte ich tatsächlich mein CD-Cover. Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich fühlte mich wie in einer Achterbahn.

„Du hörst meine Playlist?“, fragte ich so beiläufig wie möglich. Meine Freude darüber musste er ja nicht unbedingt mitkriegen. Jesse nickte.

„Ja, ich höre mir alle CDs im Auto an. Dann kann ich so laut aufdrehen, wie ich will.“ Meine Schmetterlinge verflogen bei der Erkenntnis, dass er auch die anderen Playlists im Auto hatte. Aber immerhin hatte er meine mühsam erstellte Liste noch nicht für Müll befunden und aus dem Fenster geworfen.

„Und, was hältst du davon?“ Ich musste es einfach wissen. Jesse ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Manche Lieder passen ziemlich gut. Aber nicht alle.“ Okay. Mit der Kritik konnte ich jetzt nicht besonders viel anfangen.

„Welches gefällt dir am besten?“ Es wirkte vielleicht nach fishing-for-compliments, aber ich wollte mehr über seinen Musikgeschmack wissen. Er schaltete auf Song fünf. Teenage dirtbag. Ein Klassiker, zumindest für mich. Ich grinste.

„Ich bin schon gespannt auf die zweite.“ Die langsame Playlist war definitiv persönlicher. Am liebsten hätte ich Jesse gebeten, sie sich nicht anzuhören. Eine Weile schwiegen wir beide und hörten einfach nur Musik. Jesse drehte ziemlich laut auf. Jetzt verstand ich das mit dem Auto. Meine Eltern würden mir meine Verstärker wegnehmen, wenn ich so laut Musik hören würde. Nach ein paar Liedern stellte er wieder leiser.
 

„Also, was ist deine Ausrede?“ Ich sah Jesse verwirrt an.

„Ausrede? Für was?“ Er warf mir einen intensiven Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte.

„Hier links“, wies ich ihn an.

„Du hast wochenlang nichts von dir hören lassen. Und jetzt tauchst du einfach wieder auf…“ Ich schluckte.

„Ich bin momentan ziemlich beschäftigt, weißt du.“ Ich war keine besonders gute Lügnerin.

„Womit?“ Musste er unbedingt nachhaken? Und mussten sich seine Augen in meine bohren?

„Ich muss lernen. Viel lernen. Wenn ich nicht aufpasse, falle ich dieses Jahr durch.“ Zumindest entsprach das der Wahrheit.

„Aha“, sagte Jesse, nicht gerade überzeugt. „Musst du heute Abend auch büffeln?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Heute nicht mehr.“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen.

„Gut.“ Ohne Vorwarnung wendete er direkt auf der Straße. Ich schnappte nach Luft. Gottseidank war gerade kein anderes Auto in der Nähe.

„Was machst du?“ Jesse hob spielerisch die Augenbrauen.

„Wir haben jetzt Spaß.“ Das war alles, was ich als Antwort bekam. Der Gedanke, dass er mich irgendwohin entführte, war zwar sehr reizvoll, und meine Fantasie setzte tausende Gedanken frei, was sich Jesse unter Spaß vorstellte, doch ich wollte wirklich wissen, wo wir hinfuhren. Zuletzt schleppte er mich noch auf eine überfüllte Party, wo nur Kiffer und Besoffene rumlungerten.

„Wo fahren wir hin?“, wollte ich wissen.

„Du wolltest doch ein Tattoo, wenn ich mich recht entsinne.“ Mein Blut gefror zu Eis.

„Nein. Nein, wirklich nicht. Ich habe Schiss vor Nadeln.“ Jesse grinste breit. Er nahm mich nur auf den Arm.

„Ich dachte nur. Dann hättest du dich selbst anstarren können, anstatt mich.“ Ich schlug die Hände vor den Kopf. War das peinlich.

„Ich starre nicht“, versuchte ich kläglich, mich zu verteidigen. Doch Jesse schüttelte unnachgiebig den Kopf.

„Doch, tust du.“ Ich seufzte. Hoffentlich glaubte er wirklich, dass ich ihn nur anstarrte, weil ich seine Tattoos so faszinierend fand. Zumindest konnte ich so tun.

„Tut es denn weh?“, fragte ich, ehrlich interessiert.

„An manchen Stellen mehr, an anderen weniger. Fußknöchel sind unangenehm. Aber man gewöhnt sich dran.“ Er kratzte sich an der Nase.

„Überleg dir besser schon mal, was für ein Motiv du willst“, sponn er weiter. Zumindest glaubte ich, dass er nur scherzte. Ganz sicher war ich mir nicht.

„Hm…“ Ich rieb meine Hände gegeneinander, weil es ziemlich kalt im Auto war. „Wie wär’s mit einem Delfin?“ Meine Mutter hatte einen auf der Schulter. Frühe Jugendsünde. Er war gut gemacht, aber ganz ehrlich, ein Delfin?

„Ja, wieso nicht gleich ein Hello Kitty?“ Mich wunderte ein wenig, dass Jesse überhaupt wusste, was das war, sparte mir aber einen Kommentar dazu.

„Wie wär’s mit einem Namen? Kasper würde sich zum Beispiel…“ Ich schlug ihn. Nicht ernsthaft, aber doch fest genug, dass daraus ein blauer Fleck werden konnte. Es hielt ihn nicht davon ab, kichernd weiterzumachen.

„Oder Rob.“

„Hörst du wohl auf! Das sind nur Freunde.“ Ich fragte mich, ob es ihn stören würde, wenn es anders wäre; wenn ich einen Freund hätte. Ich schüttelte den Kopf. Wieso sollte es? Jesse konnte es herzlich egal sein, was ich mit anderen Typen trieb.

„Wo bringst du mich denn jetzt hin?“ Meine Neugierde war einfach zu groß.

„Ich dachte an einen Stripclub.“ Konnte er nicht ein Mal ernst sein? Andererseits: Wollte ich das überhaupt? Ich stieg auf sein Spiel ein.

„Oh, klasse Idee. Ich war schon lang nicht mehr in einem Stripclub.“ Ich würde keine fünf Minuten dort überleben. Wenn dort nur Mädels waren, okay, aber da ich schon bei Magic Mike rot angelaufen war, und das nur aufgrund eines Flachbildschirms, würde ich beim Anblick echter strippender Männer wohl ohnmächtig werden. Bei der Vorstellung musste ich lachen. Wenn ich mir dagegen ausmalte, wie Jesse sich in eines dieser Etablissements begab und sich am Anblick halb oder auch ganz nackter Frauen erfreute, stieg ein ziemlich ungutes Gefühl in mir auf. Jetzt war ich schon eifersüchtig auf imaginäre Stripperinnen. Viel schlimmer konnte es jetzt wohl nicht mehr werden.

„Da sind wir.“ Jesse nahm die Einfahrt zu einem großen kastenartigen, fensterlosen Gebäude. Sah nicht gerade einladend aus. Und als er dann tatsächlich vor einem Eingang hielt, über dessen Türe tattoo hell stand, wurde ich beinahe ohnmächtig.

„Jesse, ich habe das mit dem Tattoo nicht ernst gemeint. Ich will keins. Echt nicht. So gar nicht.“ Er zog eine enttäuschte Schnute.

„Also kein Hello Kitty für dich?“ Ich war mir jetzt wirklich nicht mehr sicher, ob er scherzte. Ich schüttelte heftig den Kopf.

„Nein. Kein Hello Kitty, kein Delphin, Nichts. Mir gefällt meine Haut ganz gut so, wie sie ist.“ Tat sie das? Keine Ahnung, ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Und im Eifer des Gefechts fiel mir nichts Besseres ein.

„Ja, mir auch“, sagte Jesse und stieg aus. Was? Hatte er mir gerade ein Kompliment gemacht, oder war er immer noch am rumblödeln? Ganz egal, mein Herz pochte wie wild. Die Beifahrertür wurde aufgerissen und Jesse beugte sich herunter.

„Komm schon, Eisprinzessin.“ Da war es wieder. Eisprinzessin. Doch dieses Mal zog ich nur die Nase kraus und sparte mir einen Kommentar.

„Hast du mich wirklich entführt, damit ich mir ein Tattoo stechen lasse?“, fragte ich und stieg aus.

„Entführt, hm?“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Immerhin hast du mir keine Wahl gelassen.“ Jesse ging voraus, und ohne darüber nachzudenken, folgte ich ihm in den Tattooladen. Würde ich mir – rein hypothetisch – eines Stechen lassen, wenn er mich ernsthaft darum bat? Nein, entschloss ich. So treudoof war ich dann doch nicht. Aber schon die Tatsache, dass ich auch nur darüber nachdachte, erschreckte mich. Ich mochte keine Tattoos. Zumindest nicht auf meiner eigenen Haut.

Von innen gefiel mir der Laden ziemlich gut. Es war zwar düster, aber alles hier schien ein einziges Kunstwerk zu sein. Vom Boden bis zur Decke war alles bemalt. Tattoos mischten sich mit Porträts bekannter Persönlichkeiten und Graffiti- Sprüchen. Ein schwarzer Kronleuchter rundete die Stimmung ab. Mir war klar, dass ich absolut nicht in diesen Laden passte.
 

„Jesse“, wurden wir euphorisch von einem kahlköpfigen, vollbärtigen Mann mit Ringen in den Ohren, durch die man durchgucken konnte, begrüßt. Er hatte satte grüne Augen, ganz anders als die von Jesse, die eher mattgrün-grau waren. Jesse hob die Hand zur Begrüßung und lehnte sich gegen den ebenfalls bunt verzierten Tresen, hinter dem der Tätowierer stand.

„Und Frischfleisch“, wandte er sich an mich. Er sagte es nicht anzüglich oder auf eine unverschämte Weise. Er schien sich nur über neue Kundschaft zu freuen. Doch ich schüttelte den Kopf.

„Hi. Tut mir Leid. Ich bin nur…“ Was war ich denn? Eine Freundin? Die Schwester einer Freundin? Die Schwester einer Bekannten eines Freundes?

„Das ist Lea“, half mir Jesse. Danke, meinen Namen hätte ich gerade so noch selbst hingekriegt. „Meine künstlerische Beratung“, fügte er hinzu. Oh. Wollte er sich etwa ein neues Tattoo stechen lassen? Und ich sollte es mit aussuchen?

„Hast du die Entwürfe fertig?“ Jesse meinte das tatsächlich ernst. Needle, wie auf seinem Schild angeschrieben, kramte in ein paar Papieren und zog dann ein Blatt mit seinem Namen heraus. Jesse Adburn. Jetzt kannte ich wenigstens seinen Nachnamen.

„Ich hab’s mit verschiedenen Schrifttypen und –größen probiert. Ich konnte mich nicht so wirklich entscheiden.“ Jesse dankte ihm und legte das Papier so hin, dass auch ich einen Blick darauf werfen konnte.

„Was sagst du dazu?“, fragte er ernsthaft. Ich starrte auf die Worte, die sich immer wieder in unterschiedlichem Design wiederholten.

Life is precious. Das Leben ist wertvoll. Ein schöner Spruch, sowas tiefgründiges hätte ich Jesse ehrlich gesagt nicht zugetraut. Die wenigen Tattoos, die ich bisher genauer gesehen hatte, waren zwar alle sehr schön gearbeitet, aber einen tieferen Sinn sah ich dahinter nicht.

Ein Unendlichkeitszeichen, die vier Kartenfarben, eine Wolfstatze, ein Notenschlüssel, ein Anker... Aber keine Worte oder Zitate. Kein Name irgendeines Mädchens. Gott sei Dank. Doch es gab ja unzählige Stellen seines Körpers, die ich noch nicht gesehen hatte. Noch nicht? Ich schüttelte den Kopf. Ich würde sie niemals sehen, da brauchte ich mir nichts vormachen. Wollte ich das denn? Jeden Zentimeter seines Körpers…

Mir wurde heiß und ich lief rot an. Ich studierte ausgiebig die verschiedenen Schriftzüge und ließ mein Haar nach vorn fallen, um mein Gesicht zu verdecken. Manche Entwürfe waren eher grob und fransig, andere waren fein geschwungen.

„Das da“, meinte ich schließlich und zeigte auf eine der kleineren Versionen, etwa zehn Zentimeter lang.

„Das sieht irgendwie aus wie Altdeutsch. Das gefällt mir.“ Jesse betrachtete meine Version lange und steckte den Zettel schließlich ein.

„Ich überleg’s mir noch. Danke dir“, sagte er zu Needle, der salutierte und mir zuzwinkerte.

„Falls du deine Meinung änderst, Lea: Jetzt weißt du, wo du mich findest.“ Ich versicherte ihm, es mir zu überlegen – ganz bestimmt nicht – und folgte Jesse aus der Tattoohölle.
 

Ich glaubte schon, dies sei das Ende unseres kleinen Ausflugs, doch Jesse nahm gleich den nächsten Eingang in dem dunklen Komplex. Was kam jetzt? Piercings? Oder der Stripclub? Doch es entpuppte sich als eine Bar, nein, nicht nur eine Bar; ich sah Bowlingbahnen und Billardtische. Das könnte interessant werden. Jesse steuerte auf einen runden Tisch im Eck des Raumes zu. Wenn ich mich so umsah, war nicht besonders viel los. Ein paar Gruppen, eher so in Gregs Alter, spielten an den Bowlingbahnen.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich Jesse geradeheraus. Das war schließlich keine ungewöhnliche Frage, oder?

„Einundzwanzig.“ Er sah mich an, als müsste ich etwas darauf erwidern.

„Darf ich mit siebzehn überhaupt schon hier sein?“ Ich tippte auf den Tisch. Es gab durchaus solche Einrichtungen, die erst ab achtzehn waren. Gleichzeitig hatte ich ihm somit ganz subtil unseren Altersunterschied von vier Jahren mitgeteilt. Nur für den Fall, dass es ihn interessierte.

„Wir müssen es ja keinem verraten“, sagte er verschwörerisch.
 

Eine Bedienung kam und händigte uns zwei Speisekarten aus.

„Was zu trinken?“, fragte sie etwas gelangweilt, versuchte aber, höflich zu bleiben.

„Ein Bier“, orderte Jesse und sah dann mich an.

„Wasser, bitte.“ Als sie wegging, schob Jesse seine Ärmel hoch – es war echt warm hier drin, und nein, nicht wegen ihm -, stützte einen auf seinen Oberschenkel, mit dem er unruhig wippte, den anderen legte er neben seine Karte auf den Tisch. Ich mochte die Armbänder, die er trug. Eigentlich mochte ich alles an ihm.

„Wie viele Tattoos hast du eigentlich?“ Ich war wirklich neugierig, mehr über ihn zu erfahren. Und das schien mir das unverfänglichste Thema zu sein. Er überlegte einen Moment.

„Dreiundzwanzig.“ Ich stutzte.

„Wow.“ Ich wollte mehr wissen, doch da er die Karte studierte, wollte ich ihn nicht dabei stören. Ich warf ebenfalls einen kurzen Blick auf das Angebot. Viel Auswahl gab es nicht. Pommes, Schnitzel, Salat, Flammkuchen.

„Willst du nichts essen?“, fragte er, als er mich dabei ertappte, wie ich mich in der Bar umsah. Mit meiner üblichen Ausrede, dass ich schon zuhause gegessen hatte, kam ich heute nicht durch, weil wir beinahe den ganzen Tag miteinander verbracht hatten. Und die Pizza war schon eine Weile her. Außerdem hatte er ja mein angeknabbertes Stück aufgegessen.

„Ich habe keinen großen Hunger. Ich glaube, ich nehme nur einen Salat.“ Jesse hob die Augenbraue.

„Das ist nur ein Beilagensalat. Davon wird man nicht satt.“ Glücklicherweise wurden wir von der Bedienung unterbrochen, die unsere Getränke brachte und fragte, ob wir auch etwas essen wollten.

„Einen Salat, bitte“, sagte ich, bevor Jesse auf die Idee kommen konnte, mir etwas anderes zu bestellen. Das machte meine Schwester nämlich gerne. Wieso verglich ich Jesse mit meiner Schwester?

„Den Flammkuchen mit Schinken. Danke.“ Die Bedienung mühte sich ein Lächeln ab und dampfte dann wieder ab. Jesse sah ihr nach.

„Was für ein Sonnenschein.“ Ich trat ihn unter dem Tisch, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.

„Sei nicht so gemein. Vielleicht hat sie nur einen schlechten Tag“, verteidigte ich sie. Jesse schüttelte den Kopf.

„Nein, glaub mir. Ich bin öfter hier. Die ist immer so.“

Meine Mundwinkel zuckten.

„Vielleicht ist sie nur so, wenn du da bist.“ Er sah mich direkt an.

„Touché.” Ich nahm eine Serviette und faltete sie, ohne genau zu wissen, was ich eigentlich tat.

„Also, was willst du machen?“ Ich hatte wohl schon wieder ein Fragezeichen im Gesicht, denn Jesse grinste und nickte in Richtung Bowlingbahn.

„Oh, nein. Ich bin eine absolute Niete im Bowlen“, beteuerte ich und hob abwehrend die Hände.

„Billard. Darts.“ Ich stellte mir vor, wie ich einen unglücklichen Gast mit einem der Pfeile erstach, weil er aus Versehen in meine Schussbahn geraten war.

„Billard? Ich habe das aber noch nie gespielt.“ Jesse musste sich unglaublich mit mir langweilen. Er hatte zwar gesagt, wir würden Spaß haben, da hatte er aber noch nicht gewusst, dass ich vergessen hatte, wie das ging. Er zuckte mit den Schultern.

„Ich bin auch nicht gerade ein Ass darin. Wir müssen dich erst mal dazu bringen, die Kugeln zu treffen. Die Regeln sind am Anfang nicht so wichtig.“ Ich nickte.

„Okay.“

Mein Handy klingelte. Eine SMS von Kasper.
 

Bux geht’s wieder gut. Ist noch etwas benebelt von der Narkose. Ist ziemlich amüsant.
 

Er hatte ein Bild angefügt, das die Dogge in einer seltsamen sitzenden Position zeigte. Er sah aus wie eine Giraffe am Wasserloch und schielte ein wenig. Ich prustete laut, bevor ich mich besann, wo ich war, und hielt mir die Hand vor den Mund und kicherte leise weiter.

„Was ist so komisch?“, wollte Jesse wissen und lehnte sich über den Tisch, als ich ihm mein Handy hinhielt.

„Das ist der Grund, warum Kasper so schnell wegmusste.“ Jesse grinste.

„Er scheint noch ziemlich auf Droge zu sein.“ Ich stimmte ihm zu, da kam schon wieder eine Nachricht.
 

Tut mir Leid, dass ich so überstürzt abgehauen bin. Bist du noch gut nach Hause gekommen?
 

Ich wollte Kasper irgendwie nicht auf die Nase binden, dass ich mit Jesse unterwegs war. Das war schließlich kein Date, also nicht erwähnenswert. Aber wenn es kein Date war, musste ich es auch nicht verheimlichen, oder? Hin- und hergerissen entschied ich mich für einen Kompromiss.
 

Ja, danke. Jesse hat mich heimgefahren.
 

Das war ja nicht wirklich gelogen.
 

Bin froh, dass alles gut gelaufen ist. Drück den Tollpatsch von mir.
 

Ich fügte noch einen zwinkernden Smiley hinzu – ich war eigentlich nicht so der Typ für Smileys – und steckte das Handy wieder weg. Jesse nahm einen Schluck von seinem Bier, sah mich aber über das Glas hinweg an.

„Was ist?“, fragte ich ob seinem intensiven Blick. Noch hatte ich nichts gegessen, also konnte ich nicht gekleckert haben. Er stellte das Glas langsam ab und verschränkte dann die Arme auf dem Tisch.

„Wieso kommst du nicht mehr vorbei?“ Ich brach den Blickkontakt ab.

„Ich habe dir doch gesagt, ich muss lernen. Meine Noten sind miserabel.“ Zum Glück war das die Wahrheit – zwar nur ein Teil davon, aber immerhin- denn ich war wie gesagt eine verdammt schlechte Lügnerin.

„Kein Mensch muss vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr lernen“, hielt er dagegen. Ich zuckte die Schultern.

„Vielleicht bin ich einfach dumm.“ Er war nicht amüsiert.

„In welchen Fächern bist du gefährdet?“, bohrte er weiter.

„Chemie, Physik, Französisch, Geschichte. Und Mathe. Vor allem Mathe.“ Mir wurde schon schummrig, wenn ich nur an all die Formeln und Gleichungen dachte, die für mich keinen Sinn ergaben.

„Und das ist wirklich der einzige Grund, weshalb du dich so abschottest?“ Verdammt. Jetzt ging er mir echt unter die Haut.

„Nein. Das sind fünf Gründe. Und die halten mich ganz schön auf Trab.“ Unser Essen kam. Gott sei Dank. Jesse rieb sich die Hände.

„Gut. Dann gebe ich dir Nachhilfe. Dafür kommst du zu unseren Gigs. Deal?“ Er hielt mir die Hand über dem Tisch entgegen. Ich wollte nicht einschlagen. Damit erreichte ich genau das Gegenteil von dem, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte. Nämlich mich von ihm fernzuhalten. Aber er würde in meiner Nähe sein. Und war das nicht genau das, was ich mir wirklich wünschte? Ich wollte nicht länger gegen meine Gefühle ankämpfen. Es funktionierte sowieso nicht, wie ich ja schon festgestellt hatte.

Ich nahm seine Hand und versuchte, das Gefühl von seiner Haut auf meiner in mein Gehirn einzubrennen. Für den Fall, dass es nie wieder passieren sollte, wollte ich wenigstens eine Erinnerung haben. Und wenn er mich schon bat, zu den Gigs zu kommen, wollte ich nicht Nein sagen. Außerdem war Zero wirklich eine talentierte Band, der ich gerne zuhörte.

Eine leise Stimme in meinem Kopf flüsterte mir zu, dass meine Schwester Jesse hierzu angestiftet haben könnte. Mir schöne Augen zu machen, um mich aus meinem Schneckenhaus zu locken. Aber Jesse würde da doch nicht mitmachen, oder? Ich verdrängte den Gedanken.

„Ich muss dich warnen. Ich bin wirklich keine Leuchte in Mathe.“ Jesse begann, seinen Flammkuchen zu essen. Wie konnte man Pizza und Flammkuchen am selben Tag essen? Und dabei so schlank bleiben?

„Macht nichts. Ich bin klug genug für uns beide“, sagte er beiläufig und ich fragte mich, ob er das wirklich war.

„Und eingebildet genug für uns beide“, stichelte ich, doch er grinste. Er hatte schließlich auch allen Grund, selbstbewusst zu sein. Er sah gut aus, die Mädels standen bei ihm Schlange und er hatte eine fantastische Stimme. Ich aß langsam meinen Salat, der wirklich ziemlich klein war, und fragte mich, wieso er mich hierher gebracht hatte. Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich ihn gefragt. Aber vielleicht wollte ich auch einfach die Antwort nicht hören. Jesse bot mir ein Stück von seinem Flammkuchen an, doch ich lehnte dankend ab und eröffnete ihm, dass ich seit Jahren Vegetarier war.

„Woher kennst du Kasper?“, fragte Jesse und wischte seine Hände an der Serviette ab und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. Wieso redeten wir die ganze Zeit von Kasper? Glaubte er mir nicht, dass wir nur Freunde waren? Ich räusperte mich und stocherte in meinem Salat herum.

„Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten. Seine Schwester, Natalie, sie war… ist meine beste Freundin.“ Ich konnte sie nicht mal in einem Nebensatz erwähnen, ohne traurig zu werden. Der Brief. Ich hatte den Brief noch immer nicht geöffnet.

„Bring sie doch mal mit“, schlug er vor und wartete auf eine Antwort. Ich schob die Tomate auf meinem Teller von links nach rechts und wieder zurück.

„Das geht nicht. Sie ist… Es ist kompliziert.“ Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte gerade auch nicht daran denken. Nach so langer Zeit war sie endlich mal nicht der einzige Gedanke in meinem Kopf, und jetzt brachte Jesse das Thema auf sie.

„Wieso?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ist eine lange Geschichte. Ich kann das nicht in fünf Sätzen erklären.“ Jesse sah mich prüfend an.

„Wir haben doch Zeit.“ Ich wollte nicht mit Jesse darüber reden. Nicht, weil es mir unangenehm war, was mit Nati passiert war; aber ich müsste dann auch erzählen, dass ich seitdem kein richtiges Leben mehr hatte, keine Freunde, keinen Spaß; die Depressionen.

„Können wir bitte das Thema wechseln?“, sagte ich leise und starrte auf meinen Teller. Ich erwartete schon, dass Jesse weiterbohrte oder einen Witz riss. Stattdessen blieb er stumm und schob eine Hand über den Tisch, die mit dem Tattoo am Daumen, und legte sie um meine. Wir sagten nichts, aßen schweigend weiter und Jesse nahm die Hand nicht wieder weg. Erst als die Bedienung kam, um unsere leeren Teller abzuräumen, zogen wir beide unsere Arme zurück. Meine Haut fühlte sich kalt und einsam an nach dieser langen Berührung.
 

„Ich werde echt nicht schlau aus dir“, waren Jesses erste Worte nach der langen Stille.

„Komm mir jetzt bloß nicht wieder mit diesem mysteriös-Scheiß“, sagte ich lächelnd. Ich hoffte, er hielt mich jetzt nicht für einen Freak, weil ich die Stimmung so runtergezogen hatte, aus einem Grund, den er nicht nachvollziehen konnte.

„Naja, starren tust du immer noch.“ Ich seufzte.

„Ich starre nicht.“ Jesse lachte.

„Wie du meinst. Deine Abneigung gegen mich scheint jedoch abgeklungen zu sein. Ich glaube, du hast den Crash auf dem Eis inzwischen überwunden.“ Wenn er nur wüsste.

„Möglicherweise. Aber die Backstage-Geschichte hängt mir noch nach. Ich werde nicht so gerne gezwungen, auf Knien zu betteln.“ Jesse hob abwehrend die Hände.

„Du hattest die Wahl. Und das mit dem Knien war deine Idee. Mir fallen eindeutig angenehmere Dinge ein, wenn ich ans Hinknien denke“, sagte er, ein Grinsen verkneifend. Ich verschluckte mich an meinem Wasser und hustete. Sofort lief ich rot an.

„Jesse!“ Ich sah mich um, ob uns jemand gehört hatte. Er hatte nicht gerade leise gesprochen.

„Entspann dich. Wir wollten doch Spaß haben, oder nicht?“ Ich schluckte schwer. Das war jetzt etwas zweideutig nach dem Spruch. Meinte er nur, ich sollte nicht so verkrampft sein und mich nicht darum kümmern, was andere dachten? Oder war das eine Aufforderung, mit ihm auf die Toilette zu verschwinden und… Definitiv Ersteres!

„Lass uns dieses Billard-Ding probieren“, schlug ich vor, um vom Thema abzulenken. Jesse stand auf und ging mit mir zu dem nahe gelegenen Tisch. Er warf zwei Euro in einen Kasten, der sich daraufhin öffnete und ein dreieckiges Tablett mit vielen bunten Kugeln zum Vorschein brachte. Ich hatte schon im Fernsehen Leute Billard spielen sehen, aber ich hatte es noch nie selbst ausprobiert.

„Was weißt du über Billard?“, wollte Jesse wissen, während ich noch immer seinen Spruch von vorhin verdaute. Er legte die Kugeln auf die grüne Oberfläche und stülpte das dreieckige Tablett darüber, damit sie richtig angeordnet waren.

„Naja, mit den Stöcken versucht man die Kugeln in die Löcher zu befördern.“ Das summierte so ziemlich mein gesamtes Wissen über dieses Spiel. Jesse nahm zwei von den schmalen Stöcken von einer Vorrichtung an der Wand und drückte mir einen davon in die Hand.

„Das ist ein Queue.“ Ich wiederholte das Wort.

„Mit der weißen Kugel stößt man die anderen an.“ Jesse erklärte mir die Grundregeln des Billard, doch ich achtete weniger darauf, was er sagte, sondern mehr auf die Ausführung, wenn er mir die Abläufe demonstrierte. Wie sich eine Hand um den Queue schloss und die andere auf dem Billardtisch ruhte, wie er sich nach vorne beugte und seine Augen intensiv nach der bestmöglichen Abschlagspur suchten. Als er mich aufforderte, auch einen Versuch zu wagen, suchte ich nach einer günstig liegenden Kugel, nahe an einem der Löcher. Nur nicht die schwarze Acht. So viel hatte ich mir gemerkt. Ich versuchte, Jesses Körperhaltung nachzuahmen, wobei mir meine offenen Haare über die Schulter fielen. Hätte ich nur einen Haargummi mitgenommen. Ich strich mir die Strähne hinters Ohr und peilte erneut mein Ziel an. Die Gewissheit, dass Jesse jede meiner Bewegungen beobachtete, trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Ich hoffte nur, dass ich nicht vollkommen bescheuert aussah. Aber nach den ersten missglückten Schüssen schaffte ich es sogar, ihn auszublenden und mich völlig auf die Kugeln zu konzentrieren. Ich mochte dieses Spiel. Ich war zwar nicht besonders begabt darin, aber ich mochte es. Wir spielten so gut wie ohne Regeln. Jesse ließ mich mehrmals hintereinander anschlagen, auch wenn ich nichts traf. Er hatte gelogen. Er war gut in diesem Spiel.
 

„Und, hattest du Spaß?“, fragte er im Auto, während er das Fenster herunterkurbelte, um seine halb gerauchte Zigarette auf die Straße zu schmeißen. Ich fühlte mich inzwischen ziemlich wohl in seiner Gegenwart und nickte lächelnd.

„Ja, sehr.“ Auch wenn ich diesen Abend genossen hatte, brannte mir doch noch eine Frage auf den Lippen.

„Jesse.“ Ich sprach seinen Namen gerne laut aus.

„Hm?“ Für einen Moment glaubte ich, er wolle mir die Hand aufs Knie legen, doch er betätigte nur die Kupplung. Mein Herz schlug trotzdem schneller.

„Kann ich dich was fragen?“ Ich hatte ihn heute schon viele Sachen gefragt.

„Sicher.“ Er runzelte leicht die Stirn.

„Wieso hast du das gemacht?“

Jetzt schien ausnahmsweise einmal er verwirrt.

„Was gemacht?“

„Mich mitgenommen.“ Ich flüsterte es nur. Plötzlich wollte ich die Antwort nicht mehr hören. Was, wenn wirklich meine Schwester dahintersteckte? Oder noch schlimmer, wenn er tatsächlich nur mit mir spielte. Ich wollte diese Dinge nicht denken, aber ich konnte nichts dagegen machen. Sie kamen mir einfach in den Sinn und ließen mich nicht mehr los. Ich hatte verlernt, anderen Menschen zu vertrauen. Wahrscheinlich hatte ich sogar verlernt, mir selbst zu trauen.

„Wie meinst du das?“ Er war skeptisch. Er wusste, dass ich mir in meinem kranken Hirn irgendwas zusammenreimte. Ich antwortete ihm zunächst nicht, starrte nur aus dem Fenster.

„Hat Tammy was zu dir gesagt?“ Schließlich fand ich doch den Mut, es auszusprechen. Wenn er mich nur verarschte, wollte ich es besser gleich wissen. Vielleicht würde mir die Gewissheit ja dabei helfen, von ihm loszukommen.

„Was soll sie denn gesagt haben? Lea?“ Ich biss mir auf die Lippe.

„Tut mir Leid. Vergiss es.“ Ich glaubte nicht, dass er mich deswegen anlügen würde oder sich dumm stellte. Ich traute ihm zwar zu, mich zu verarschen, aber nicht, mich zu belügen. Wie paradox war das denn? Das war eine der negativen Nebenwirkungen, wenn man verliebt war. Ich konnte nicht mehr klar denken. Glücklicherweise bogen wir gerade in meine Straße. Also konnte ich diese peinliche Situation schnell beenden. Ich schnallte mich ab, noch bevor der Wagen anhielt.

„Danke für’s Mitnehmen. Und alles andere auch.“ Er hatte für alles bezahlt. Nicht einmal die zweite Runde Billard hatte ich ausgeben dürfen. Ich sah Jesse nicht an, als ich fluchtartig das Auto verließ.

Ich hörte, wie hinter mir die Autotür zugeschlagen wurde und Schritte, die mir folgten. Ich blieb stehen, weil ich nicht wollte, dass man uns vom Haus aus sehen konnte. Auf Tammys bohrende Fragen hatte ich echt keine Lust. Oder auf eine Unterhaltung mit meinen Eltern.
 

„Lea, hey.“ Jesse packte mich am Arm und drehte mich zu sich um.

Ich war durcheinander. Und sauer auf mich, dass ich in den letzten fünf Minuten den Abend verdorben hatte. Ich hätte einfach meinen Mund halten sollen. Ich wusste, für Jesse war es nichts Besonderes, aber ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und blinzelte mehrmals, um die Tränen aufzuhalten. Gott sei Dank half es. Wenn ich hier vor Jesse in Tränen ausbrach, würde er mich endgültig als Freak abstempeln. Er sah mich mit seinen mattgrünen Augen prüfend an. Wir formten kleine weiße Wölkchen beim Atmen.

„Tut mir Leid. Hab' ich wieder was Falsches gesagt? Du weißt, ich meine das nicht so.“ Was? Er glaubte, er hätte mich verletzt? Ich schüttelte den Kopf.

„Du hast gar nichts gemacht. Ich bin nur…“ Ich bin nur in dich verliebt und kann deshalb nicht mehr klar denken. „Ich bin etwas durcheinander.“ Ich zuckte die Schultern und trat von einem Fuß auf den anderen.

„Weswegen?“

„Ich dachte, du hasst mich“, sagte ich leise und sah zu Boden. Jesse lachte zu meiner Verwunderung.

„Was ist daran so komisch?“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich hasse dich nicht. Und habe ich im Übrigen auch nie. Wie kommst du darauf?“ Erneut zuckte ich die Achseln und sah zum Haus. Niemand hatte uns bisher bemerkt.

„Ich kann dich gut leiden, Lea.“ Er sah so bezaubernd aus, wie er so vor mir stand und weiße Wölkchen atmete, die Hände in der Jackentasche, weil es so kalt war.

„Okay“, sagte ich nur. Er konnte mich gut leiden. Hieß das, wir waren jetzt Freunde?

„Kriege ich keine Antwort?“ Er wollte eine Antwort? Gut, sollte er sie haben. Ich überwand die paar Schritte Abstand zwischen uns, packte den Kragen seiner Jacke und küsste ihn. Nicht sanft, nicht schüchtern. Ich küsste ihn, so wie ich es wollte, wenigstens ein Mal. Seine Lippen waren himmlisch, besser, als ich es mir vorgestellt hatte – und ich hatte es mir oft vorgestellt! Abrupt löste ich mich von ihm und sah ihm direkt in die Augen. Die Überraschung darin spiegelte meine eigene wider. Was war nur in mich gefahren? Meine Augen füllten sich nun tatsächlich mit Tränen. Das war’s dann mit dem Versteckspielen und mit meiner neuen Clique. Ich konnte ihm nie wieder unter die Augen treten.

„So, jetzt weißt du’s“, sagte ich mit brüchiger Stimme. Seine Reaktion war genauso, wie ich erwartet hatte. Er war schockiert, sprachlos. Damit hatte er definitiv nicht gerechnet. Verdammt, damit hatte nicht einmal ich gerechnet.

„Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden“, sagte er. Wie konnte man das nicht verstehen? Machte er sich jetzt etwa lustig über mich? Ich wollte ihn anschreien, dass er sich zum Teufel scheren sollte und ich die ganze Zeit geahnt hatte, was für ein Idiot er war.

„Ich hab' dich nicht verstanden. Könntest du das bitte nochmal wiederholen?“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen.

„Was?“ Bevor ich darüber philosophieren konnte, ob er mich wieder bloßstellte, trat er einen Schritt auf mich zu und legte seine Lippen auf meine. Sein Kuss war so viel sanfter als meiner. Ich spürte die Kälte nicht mehr, nur seine Nähe, seinen Atem, mein Herz, das gleichzeitig raste und stillstand.

„Gute Nacht, Lea“, hauchte er, als er sich von mir löste. Es war wie damals auf dem Eis. Sein rauchiger Atem, der mich streifte, mein pochendes Herz, und die Zeit, die stehengeblieben zu sein schien. Wie in Trance sah ich ihm nach, wie er ins Auto einstieg – jedoch nicht, ohne sich nochmal zu mir umzudrehen.

Mein Herz pochte so heftig, dass es mir beinahe aus der Brust sprang und der Boden schien plötzlich aus Watte zu bestehen. Meine Knie übrigens auch. Wir hatten uns geküsst. Zweimal.

Ich erinnere mich nicht, wie ich in mein Zimmer gelangt war, nur daran, dass ich selig lächelnd an die Decke gestarrt hatte, bis ich schließlich eingeschlafen war.

Weiche Knie

Der nächste Morgen war die Hölle. Ich schwankte ständig zwischen dem Gefühl, verarscht worden zu sein, und dem kleinen Hoffnungsschimmer, dass es für mich und Jesse eine Chance gab. Es war nur ein Kuss gewesen, keine Liebeserklärung oder irgendwelche Versprechungen. Aber sagte ein Kuss nicht mehr als tausend Worte? Eine romantische Vorstellung, ich weiß. Doch wieso hätte er das sonst getan? Gegen meinen Kuss hatte er sich kaum wehren können, ich hatte ihn mehr oder weniger überfallen.

Ich schlug die Hände vor den Kopf. Ich durfte nicht so viel darüber nachdenken, sonst wurde ich noch verrückt. Um mich selbst zu schützen, war es wohl besser, nicht zu viel in diesen Abend hineinzuinterpretieren, auch wenn mir das beinahe unmöglich war. Wenn ich mir jedoch zu viele Hoffnungen machte, würde es nachher umso schmerzhafter sein. Beim Frühstück war ich kaum ansprechbar. Ich konnte nur an Jesses Lippen denken. Ich wollte mehr davon.

„Was sind deine Pläne für heute, Lea?“, fragte meine Mutter überflüssigerweise. Es war Sonntag. Natürlich ging ich ins Tierheim. Ich fragte mich, ob man mir ansehen konnte, was gestern passiert war. Falls da tatsächlich mehr daraus werden sollte, hatte ich jetzt schon keine Lust, meiner Schwester davon zu erzählen. Sie würde nur skeptisch sein und Jesse wahrscheinlich vorwerfen, mich nur auszunutzen. Meiner Mom würden die Augen rausfallen, wenn sie seine Tattoos sah, und dass er rauchte, machte das Ganze auch nicht besser… Oh mein Gott, jetzt dachte ich schon darüber nach, ihn meinen Eltern vorzustellen. Das ging eindeutig zu weit.
 

„Tierheim“, antwortete ich zwischen zwei Bissen Cornflakes. Tammy kam die Treppe heruntergepoltert und sah prüfend in den Spiegel, der neben der Tür hing.

„Ich bin weg. Ich gehe mit Brandon in den Zoo.“ Die armen Tiere, dachte ich mir nur, und verkniff mir einen Kommentar dazu. Meine Schwester wusste ohnehin, was ich von Käfighaltung hielt. Meine Mutter wünschte ihr einen schönen Tag und ich hörte, wie Brandon Tammy an der Tür begrüßte.

„Ähm… Lea… Komm doch mal.“ Ich verdrehte die Augen. Nein, ich wollte nicht mit den beiden in den Zoo gehen. Turteltauben konnte ich in meiner Nähe momentan nicht gebrauchen. Trotzdem stand ich auf, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Ich begrüßte Brandon, der hinter sich zeigte.

„Du hast Besuch.“ Ich runzelte die Stirn und erstarrte, als ich Jesse an Brandons Auto lehnen sah. Das Erste, was mir durch den Kopf schoss, war, dass ich mein peinliches Free-Willy-Shirt trug. Es war schon ganz ausgeblichen, doch ich hatte es nie über mich gebracht, es wegzuschmeißen.

Als Jesse mich sah, kam er ebenfalls zur Tür. Mein Herz raste, aber mein Kopf war leer. Was sollte ich zu ihm sagen? Es war keine zwölf Stunden her, dass wir uns geküsst hatten und das war das Einzige, woran ich denken konnte.
 

„Morgen“, sagte Jesse grinsend und ich merkte genau, wie seine Augen mein T-Shirt scannten. Ich wollte im Erdboden versinken.

„Morgen“, erwiderte ich in eindeutig zu hoher Tonlage. Brandon nahm Tammy bei der Hand und zog sie mit sich zum Auto. Meine Schwester war ausnahmsweise mal sprachlos.

„Bis dann, Leute“, sagte Brandon, was Jesse mit einem Winken quittierte, und stieg ins Auto. Erst als sie wegfuhren, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den überraschenden Besuch. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und hoffte, das würde den Großteil des Orcas und den dazugehörigen Schriftzug verdecken.

„Hi“, sagte ich im selben Moment, in dem mir einfiel, dass ich ihn bereits begrüßt hatte. Jesse lächelte und erwiderte mein Hi. Ich sollte ihn vielleicht hereinbeten, aber die Vorstellung von der Reaktion meiner Mutter hielt mich davon ab. Ich warf einen schnellen Blick in den Flur, um sicherzugehen, dass sie nicht in der Nähe war, trat aus dem Haus und lehnte die Tür an.

Bei dem Gedanken, dass wir uns gestern nur ein paar Meter weiter geküsst hatten, begann mein Herz schneller zu schlagen. Also, noch schneller, als es durch Jesses Anwesenheit sowieso schon schlug.

„Hast du Lust, meine Hand zu halten?“ Das war eine ziemlich seltsame Frage. Er wollte wissen, ob ich Händchenhalten wollte? Natürlich, jederzeit. Aber wollte er hier einfach nur stehen und…

„Ich lasse mir das Tattoo stechen.“

Ah, eine Metapher. Die Hand halten in Form von ihn begleiten.

„Heute ist Sonntag“, war das Erste, was mir dazu einfiel.

„Es hat so seine Vorteile, wenn man Stammkunde bei Needle ist.“ Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Mir war noch immer bewusst, dass ich in meinen Schlafsachen vor Jesse stand.

„Ich muss heute eigentlich ins Tierheim“, sagte ich unentschlossen. Ich wollte wirklich gerne Zeit mit Jesse verbringen.

„Musst du da gleich hin? Das Stechen dauert nicht lange.“ Ich sah an mir herunter.

„Ich muss mich noch umziehen.“

Jesse grinste breit. Ja, er hatte Free Willy eindeutig gesehen.

„Okay.“ Ohne groß darüber nachzudenken, packte ich sein Handgelenk und zog ihn ins Haus. Mein Vater konnte jeden Moment von seinem allmorgendlichen Spaziergang zurückkehren und außerdem wollte ich Jesse nicht draußen warten lassen.

„Komm“, flüsterte ich, warf einen Blick Richtung Küche, wo ich meine Mutter Geschirr in die Spülmaschine räumen hörte, und führte Jesse die Treppe hinauf und schloss die Tür hinter uns.

„Versteckst du mich vor deinen Eltern?“, fragte Jesse amüsiert.

„Was? Nein, ich… Vielleicht ein bisschen“, gab ich mit entschuldigendem Lächeln zurück und er schien glücklicherweise nicht sauer zu sein. Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass ich Jesse vielleicht nicht in die privaten Gefilde meines Zimmers hätte bringen sollen, doch jetzt war es zu spät. Zumindest war es momentan relativ aufgeräumt. Wenn ich an sein Auto dachte, durfte er sich sowieso nicht beschweren.

Schockiert bemerkte ich, dass auf meinem Stuhl noch mein BH lag und in einer schnellen Bewegung schnappte ich ihn mir und stopfte ihn unter mein Kopfkissen. Hoffentlich hatte Jesse das nicht gesehen. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er sich ausgiebig um. Und jetzt?

„Okay. Ich ziehe mich schnell um. Mach’s dir bequem.“ Ich kramte in meinem Kleiderschrank nach frischen Klamotten, während Jesse sich auf mein Bett setzte und meine CD-Sammlung auf dem Regal daneben durchstöberte. Oh Gott, er saß auf meinem Bett. Wie war es nur soweit gekommen? Doch der Anblick gefiel mir.

„Bin gleich wieder da“, sagte ich und flitzte ins Bad. In Rekordgeschwindigkeit duschte ich, putzte mir die Zähne und trug Wimperntusche auf. Ich entschied mich, mein Haar wieder offen zu tragen, nahm aber einen Haargummi mit, für alle Fälle.

Als ich die Türklinke meines Zimmers berührte, hielt ich für einen Moment inne und atmete tief durch. Ich hatte mir das nicht eingebildet, oder? Jesse war wirklich in meinem Zimmer und wartete auf mich. Mein Herz klopfte nun laut, aber stetig. Immer mit der Ruhe. Er war auch nur ein Mensch. Ich musste mich einfach ganz normal verhalten. Wir gingen nur in den Tattooladen, wo Jesse sich freiwillig Schmerzen zufügen ließ. Mehr war es nicht. Kein Grund, nervös zu sein. Als ich ins Zimmer zurückkam, sah er auf und ich verfing mich für einen Moment in seinen grünen Augen.
 

„Gut, von mir aus können wir los.“ Ich schnappte meine Tasche und hoffte inständig, dass meine Mutter mit irgendwas beschäftigt war, sodass sie Jesse nicht bemerkte. Ich schob ihn vor mir her, damit er auch ja nicht auf die Idee kam, herumzutrödeln. Ich öffnete die Haustür und aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Mutter in den Flur kam. Möglicherweise hatte sie gerade noch einen Blick auf meinen Besucher erhaschen können, doch bevor sie Fragen stellen konnte, rief ich ihr ein „Ich bin dann auch weg, bis später“, zu und eilte hinter Jesse aus dem Haus. Ich hoffte, dass sie nicht aus dem Fenster sah und mich mit ihm erwischte. Es war ja nicht so, als würden wir was Verbotenes machen. Eigentlich machte ich ja überhaupt nichts. Ich würde nur zusehen, wie Jesse sich ein Tattoo stechen ließ. Trotzdem wollte ich mir den Stress nicht antun, meiner Mutter zu erklären, woher ich Jesse kannte. Und Tammys Kommentare, dass er kein guter Umgang für mich war, konnten mir ebenfalls gestohlen bleiben. Auf dem Gehsteig wurde mir plötzlich bewusst, dass wir kein Auto hatten.

„Ich habe dahinten geparkt. Hier war nichts frei.“ Konnte er Gedanken lesen? Jetzt, wo Jesse auf seine Schrottkarre zeigte, sah ich sie auch. Gut. Ich hatte keine Lust auf öffentliche Verkehrsmittel. Ich hasste Busfahren. Wir stiegen ein und mir wurde wieder bewusst, dass ich neben einem Jungen – oder mehr einem Mann – saß, den ich gestern völlig überstürzt geküsst hatte. Eigentlich wollte ich ihn darauf ansprechen. Natürlich hatte ich aber nicht den Mumm dazu. Was sollte ich auch sagen?

„Du, der Kuss gestern, war das nur so aus einer Laune heraus oder hatte das irgendwas zu bedeuten? Ich für meinen Teil bin dir vollkommen verfallen, falls es dich interessiert.“

Nein. Ganz sicher nicht. Ich beschloss, diesen Kuss genauso zu handhaben wie den mit Rob: Einfach ignorieren. Wenn er darüber reden wollte, würde er schon von selbst davon anfangen. Oh mein Gott. Vielleicht war ich ja eine grauenvolle Küsserin. So was konnte man ja selbst schlecht beurteilen.

„Lea.“ Jesse musste mich mal wieder aus meinen Gedanken holen, bevor ich ansprechbar war.

„Was?“, fragte ich ertappt. Glücklicherweise konnte er keine Gedanken lesen. Jesse stellte das Lied lauter.

„Was hältst du davon?“ Ihm war so gar nicht anzumerken, was gestern passiert war. Ich fragte mich langsam, ob ich das nur geträumt hatte.

„Für die Playlist?“, fragte ich und lauschte dem Lied, das ich nicht kannte. Jesse nickte und mir kam es vor, als ruhte sein Blick länger auf mir, als gewöhnlich. Aber wie sollte ich rausfinden, ob ich mir das nur einbildete, dass nicht nur mein Wunschdenken diese Illusion erweckte, oder für mich die Zeit einfach stillstand, wenn er mich ansah?

„Gefällt mir“, sagte ich und hob die Daumen hoch. Das war zwar nicht meine Art von Musik, aber ich konnte mir vorstellen, dass es gut ankam, wenn Zero es auf der Bühne performte.

„Warst du eigentlich schon mal in einer Band?“, fragte ich neugierig. Jesse verneinte.

„Dann bist du einer von denen, die einfach mit so einer Stimme geboren werden und das gar nicht zu schätzen wissen“, sinnierte ich.

„Ich singe unter der Dusche, falls dich das beruhigt.“ Allein die Vorstellung verursachte mir Gänsehaut. Seine Stimme natürlich auch, aber vorrangig die Vision von Jesse in der Dusche, wenn die Wassertropfen seine Haut hinunterperlten. Shit, das musste wirklich aufhören.

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte Jesse und langsam kam ich mir echt unhöflich vor, weil ich ihm nie zuhörte. Hatte ich etwa verlernt, normale Konversation zu treiben? Gestern hatte das doch auch ganz gut funktioniert.

„Ich stelle mir nur gerade vor, wie gut dir ein Hello-Kitty-Tattoo stehen würde“, log ich, um die Stimmung aufzulockern. Er grinste.

„Ich dachte, wir hatten uns auf Winnie Puuh geeinigt?“ Ich lachte laut. Jesse kratzte sich am Haaransatz, dort, wo seine Beanie saß. Ihm standen diese Mützen wirklich verdammt gut. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich ihn gesehen hatte. Er hatte dieselbe Mütze getragen. Damals hatte er so unnahbar gewirkt. Wie ich mich doch geirrt hatte.

„Wann ist dein kürzester Schultag?“, fragte er und wandte seine Aufmerksamkeit kurz von der Straße ab, um mich anzusehen.

„Donnerstags, wieso?“ Das große Gebäude von gestern kam in Sichtweite. Bei Tageslicht war der Komplex noch hässlicher als in der Nacht.

„Hast du da Zeit für Nachhilfe?“ Oh, das hatte ich fast vergessen. Jesse sollte eigentlich nicht mitbekommen, wie niedrig mein IQ wirklich war.

„Oh. Ähm… na gut.“ Die Aussicht, ihn in ein paar Tagen wiederzusehen, war ausschlaggebend. „Aber ich will das nicht für umsonst.“ Jesse grinste.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du als Gegenleistung zu den Gigs kommst. Aber wenn du möchtest, finden wir bestimmt eine andere Möglichkeit, wie du bezahlen kannst.“ War das nun zweideutig? Ja, das war es eindeutig.

„Jedenfalls nicht auf Knien“, murmelte ich etwas verstimmt.

„Ich hatte eher an Geld gedacht.“ Hatte er nicht. Hatte er? Na toll, jetzt stand ich wie ein Perversling da…

„Schön, dass dich das so amüsiert“, sagte ich und wurde rot.

Wir stiegen aus und ich fröstelte sofort. Es wehte ein eiskalter Wind, der meine Haare durcheinanderbrachte. Wir benutzten den Hintereingang. Needle brauchte nur zwei Sekunden, bevor er uns die Tür öffnete und uns in sein Reich führte. Jesse kramte den zusammengefalteten Zettel von gestern aus seiner Jackentasche und zeigte auf einen Entwurf, der meinem Favoriten ziemlich ähnlich war. Nur waren die Buchstaben etwas schmaler und kantiger.

„Den hier“, bestimmte er und Needle nickte, während er sich auf einen Stuhl vor einer Liege setzte und das Tätowiergerät untersuchte. Wenn ich es genauer betrachtete, wurde mir ein wenig schlecht. Der Gedanke, dass diese kleine Nadel mehrmals pro Sekunde in meine Haut stach, verursachte mir eine unangenehme Gänsehaut. Glücklicherweise war ich nur Zuschauer.
 

„Wo möchtest du’s hinhaben?“, fragte Needle und zog sich Handschuhe an.

„Ich dachte, vielleicht am Nacken.“ Jesse fasste sich an den Hals. Sein Haar war so lang, dass es das Tattoo verdecken würde. Needle schien auch nicht gerade begeistert zu sein. Ich war schockiert, wie wenige Gedanken Jesse sich darüber gemacht hatte. Immerhin würde er diese Entscheidung ein Leben lang am Körper tragen.

„Wie wär’s zwischen den Schulterblättern. Relativ weit oben. Ungefähr hier.“ Needle berührte die Stelle, die er meinte.

„Probieren wir’s aus.“ Ich ahnte, es würde kommen, aber als Jesse jetzt wirklich Jacke, Pullover und T-Shirt ablegte, hatte ich keine Ahnung, wo ich hinsehen sollte. Ich meine, ich wusste genau, wo ich hinsehen wollte, aber ich hatte Angst, dass mir die Augäpfel rausfielen, wenn ich zu sehr starrte. Und übrigens hatte er nicht nur an den Armen Tattoos.

Warum hatte Jesse mich eigentlich mitgenommen? Wollte er mir nur zeigen, wie gut er gebaut war? Sobald er sich bewegte, konnte man genau erkennen, wie seine Muskeln unter der Haut arbeiteten. Ich schluckte und schnappte mir ein Buch, das vollgepackt war mit Entwürfen. Needle malte erstmal den Schriftzug auf Jesses Rücken und zeigte ihm diesen. Er ließ sich lange Zeit mit seiner Entscheidung, sah von allen Seiten auf seinen Rücken. Also doch nicht so impulsiv, wie ich befürchtet hatte. Gut. Er warf mir einen fragenden Blick zu, und ich nickte zustimmend.

„Okay. Machen wir’s.“ Jesse legte sich auf die Liege und seltsamerweise wurde ich nervös, wenn ich ihn so sah. Es war, als wollte ich nicht, dass er verletzt wird. Needle stellte das Tätowiergerät an und ein stetiges Surren ertönte. Ich erwartete schon einen Aufschrei, als die Nadel Jesses Haut zum ersten Mal berührte, doch er blieb ganz still und reglos. Er schien beinahe entspannt zu sein.

„Tut das nicht weh?“, fragte ich und biss mir auf die Lippe. Ich glaubte nicht, dass ich jemals so mutig sein würde, auf dieser Liege Platz zu nehmen.

„Nicht wirklich. Angenehm ist anders, aber genau so soll es ja sein.“ Jesses Stimme wirkte beinahe schläfrig.

„Manche Leute machen es hauptsächlich wegen dem Schmerz“, erzählte Needle seelenruhig, während er weitertätowierte. „Kommst du auch auf den Geschmack?“ Ich schüttelte heftig den Kopf. Es reichte mir schon zu sehen, wie sich Jesses Haut unter der Nadel rötete und winzige Tropfen Blut austraten, die Needle sofort abwischte. Needle grinste.

„Dachte ich mir. Du bist eher der Piercingtyp.“ Ich war nicht sicher, ob er scherzte. Aber um das Gespräch aufrechtzuerhalten und mich von dem stetigen Surren der Nadel abzulenken, fragte ich den Tätowierer, was für einen Piercing er mir machen würde.

„Ich würde furchtbar gern ein Loch in deine kleine Stupsnase stechen“, sagte er und grinste dabei, blieb aber auf Jesses Tattoo fokussiert.

„Und ein Bauchnabelpiercing“, fügte er hinzu und ich versuchte mir vorzustellen, wie ich dann aussehen würde.

„Nein, das ist glaube ich nichts für mich.“ Needle grinste.

„Wir könnten dir natürlich auch ein Piercing verpassen, das man nicht sofort sehen kann.“ Jesse versteifte sich etwas auf der Liege.

„Aber du würdest bestimmt viel Spaß damit haben“, redete der Tätowierer weiter. Jesse räusperte sich.

„Needle, konzentrier dich besser mal.“ Ich brauchte einen Moment, bis ich kapierte, was er meinte.

„Oh“, sagte ich nur und Needle kicherte wie ein kleines Kind. Gut, dass die beiden mit etwas anderem beschäftigt waren, so sahen sie mich nicht erröten. Needle erzählte anschließend ein paar Anekdoten von schrägen Kunden und außergewöhnlichen Motivwünschen. Nach einer halben Stunde war Jesse fertig und Needle klebte vorsorglich ein großes Pflaster über die Wunde. Noch war die Haut ziemlich gerötet, aber das Tattoo sah echt schön aus. Während Jesse sich wieder anzog – was ich einerseits sehr begrüßte, weil ich dann nicht mehr so abgelenkt war, aber andererseits hätte ich auch den ganzen Tag nichts anderes machen können, als ihn anzusehen – zog Needle sich die Handschuhe aus und kam zu mir herüber, um mir einen Arm um die Schulter zu legen.

„Und ich kann dich wirklich nicht für ein winziges Loch begeistern?“ Er tippte kurz an meinen rechten Nasenflügel.

„Genau da. Es braucht nur einen kurzen Stich, mehr nicht.“

Jesse trat zu uns und sah Needle kopfschüttelnd an, während er seinen Geldbeutel herausholte.

„Keine Chance, Freundchen. Du lässt dieses Gesicht schön in Frieden.“ Needle besah Jesse mit einem vielsagenden Blick und ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen. Ich löste mich aus der Umarmung des Tätowierers und zog mir meine Jacke über, die ich auf einem Barhocker abgelegt hatte.

Jesse legte ein paar Geldscheine auf den Tresen.

„Immer wieder schön, mit Ihnen Geschäfte zu machen“, bedankte sich Needle. „Das nächste Mal, wenn ihr kommt, bist du an der Reihe.“

Er zeigte auf mich und ich lachte nur, bevor wir uns verabschiedeten. Gleichzeitig bildete sich aber ein Kloß in meinem Hals. Würde es überhaupt ein nächstes Mal geben? Ich sollte das wirklich mit Jesse klären. Im Auto war ich schon fast so weit, ihn auf den Kuss anzusprechen, da fragte er mich nach dem Weg zum Tierheim. Enttäuschung machte sich in mir breit. Wir hatten gerade mal eine Stunde miteinander verbracht, da wollte er mich schon wieder loswerden. Warum war er dann überhaupt zu mir gekommen? Ich beschrieb ihm den Weg und verfiel dann in Schweigen.

„Wie oft gehst du eigentlich hin?“ So ziemlich jeden Tag?!

„Donnerstags und sonntags, normalerweise.“

Jesse sollte nicht denken, ich hätte nichts Besseres zu tun, oder keine Freunde. Aber leider entsprach das nunmal der Wahrheit. Ich fragte mich, ob es klug war, mehr Zeit mit Jesse zu verbringen, sodass er zwangsläufig mehr über mich erfuhr – viel gab es ja nicht zu wissen, aber das bisschen war mehr, als mir lieb war. Im Gegensatz dazu wollte ich alles erfahren, was es über Jesse zu wissen gab. Wie war seine Kindheit? Hatte er noch mehr Geschwister außer Greg und Betty? Wie kam er zu den ganzen Tattoos? Einfach alles. Aber heute würde es wohl nicht mehr so weit kommen, denn wir bogen bereits in die Einfahrt zum Tierheim ein. Am liebsten wollte ich Jesse fragen, was das denn nun zwischen uns war, ob es überhaupt irgendwas war. Darüber im Unklaren zu sein und alle Möglichkeiten tausendmal durchzugehen, machte mich wahnsinnig. Ich wollte gerade zu einem peinlichen Monolog ansetzen, an dessen Ende ich plante, fluchtartig das Auto zu verlassen und die Tür hinter mir zuzuschlagen; doch Jesse gab mir keine Gelegenheit dazu, denn er stieg vor mir aus. Perplex blieb ich noch einen Moment sitzen und folgte ihm dann. Es schien, als sei er mir immer einen Schritt voraus.

„Darf ich da überhaupt mit rein?“, fragte Jesse, die Hände in der Jackentasche wärmend. Was? Er wollte mit? Wieder einmal tat er nicht das, was ich von ihm erwartete, und ließ mein Herz höher schlagen. Da hatte ich mir wohl umsonst Sorgen gemacht. Dennoch nahm ich mir fest vor, das Thema heute noch anzusprechen. Ich musste nur noch ein wenig Mut sammeln.
 

„Klar. Wenn du mit anpackst“, sagte ich und grinste.

„Kein Problem.“ Ich betätigte den versteckten Hebel am Gatter und öffnete das Tor. Auf dem Weg zu Marthas Büro wurde mir erst bewusst, dass ich noch nie jemanden mitgebracht hatte. Kasper zählte nicht. Er holte mich nur zum Feierabend hin und wieder ab und machte vorher noch einen kleinen Spaziergang mit Bux, Pearl und mir. Ich klopfte an die Bürotür und öffnete, als Martha antwortete.

„Morgen, Lea.“ Es war zwar nicht mehr Morgen, aber das war Marthas gewöhnliche Begrüßung, egal um welche Tageszeit.

„Morgen.“ Ich sah sofort ihren überraschten Blick, als sie Jesse erspähte. „Das ist Jesse. Er wollte ein bisschen helfen. Ist das okay?“ Ich sah an ihren strahlenden Augen, wie sie sich freute.

„Sicher. Hallo, Jesse. Schön, dass du Lea ein wenig unter die Arme greifst.“ Er musste irgendeine Geste machen, die Martha zum Lächeln brachte, doch da er hinter mir stand, verpasste ich sie.

„Gut. Lasst euch nicht aufhalten“, entließ sie uns. Ich führte Jesse in den Aufenthaltsraum, wo wir unsere Jacken ablegten, und band mein Haar zu einem wirren Zopf zusammen. Ich konnte die langen Strähnen nicht gebrauchen, wenn ich arbeitete.

„Machen wir zuerst die Katzen“, instruierte ich und ging in die Geräte- und Vorratskammer.

„Hier.“ Ich drückte Jesse ein paar Müllsäcke und eine Schaufel für die Katzenklos in die Hand. Ich grinste bei dem Gedanken, wie er sich durch das Katzenstreu schaufelte.

„Hast du Erfahrung mit Katzen?“, fragte ich Jesse, während wir zum Gehege liefen.

„Ich weiß, wie man nach Scheiße gräbt, falls du das meinst“, sagte er mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen. Letztendlich machte ich die meiste Arbeit, während Jesse damit beschäftigt war, die Stubentiger zu streicheln. Nicht, dass ich ihm böse war. Er schien auch nicht arbeitsfaul, aber den Blicken und dem Gemaunze der gut zwanzig Katzen konnte er wohl nicht widerstehen. Ich verlor mich für einen Moment in dem Anblick, wie er in der Hocke saß und seine Hände durch die verschiedenen Felle gleiten ließ. Er wirkte so sanft in diesem Moment. Und natürlich stellte ich mir vor, wie er mich so berührte, wie er seinen Daumen über meine Wange gleiten ließ…

Er erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, doch ausnahmsweise sah ich einmal nicht peinlich berührt weg, sondern schenkte ihm ein mildes Lächeln, das er zu meiner Freude erwiderte.

„Hast du Haustiere?“ wollte ich später wissen, als wir den Katzenkot entsorgten, und fragte mich gleichzeitig, ob er noch bei seinen Eltern wohnte - was ich mir kaum vorstellen konnte. Er schüttelte den Kopf.

„Ich hatte mal zwei Ratten.“ Er runzelte die Stirn, als er versuchte, sich zu erinnern. „Crabbe und Goyle.“

Ich hob die Augenbrauen.

„Harry Potter? Wirklich?“ Crabbe und Goyle waren die Sidekicks von Fiesling Draco Malfoy. Ich stellte mir eine jüngere Version von Jesse vor, der die Bücher von J.K. Rowling verschlang, während ihm zwei Ratten auf den Schultern saßen.

„Meine Schwester hat sie so getauft“, sagte er mit einem Achselzucken und ich fragte mich amüsiert, ob er mich anlog, weil es ihm peinlich war.

„Als meine Mutter das rausgefunden hat, ist sie ganz schön ausgeflippt.“ Ich sah ihn erstaunt an.

„Deine Mutter hat nichts von den Ratten gewusst?“, fragte ich.

„Nein. Sie hatten keinen Käfig. Ich habe sie immer frei im Zimmer laufen lassen. Das Futter habe ich irgendwo versteckt und sie waren darauf trainiert, eine kleine Kiste als Klo zu benutzen, die ich unterm Bett stehen hatte. Das hat fast ein halbes Jahr lang funktioniert.“

Ich lachte erheitert. Wenn ich mir vorstellte, meine ahnungslose Mutter würde plötzlich zwei Ratten in meinem Zimmer entdecken, wäre die Hölle los. Jesse sah mich lange an und mein Lachen verstummte.

„Was ist aus ihnen geworden?“ Wir beluden einen Rollwagen mit Futternäpfen für die Hunde und befüllten sie.

„Greg hat sie zu sich genommen. Er hatte schon eine eigene Wohnung.“ Ich öffnete die Tür zum Hundetrakt. Wir wurden sofort mit lautem Gebell empfangen.

„Wie alt warst du da?“ Jesse überlegte kurz und reichte mir den ersten Napf, den ich zu Murphy, einem alten belgischen Schäferhund, in den Zwinger stellte.

„Zwölf oder dreizehn.“ Je weiter wir uns in dem Gang vorarbeiteten, desto stiller wurde es, weil alle Hunde mit essen beschäftigt waren.

„Wie viele sind das?“, fragte Jesse und ließ seinen Blick über die lange Reihe der Zwinger schweifen.

„Momentan haben wir zweiundvierzig Hunde hier.“ Jesse pfiff leise.

„Kein Wunder, dass du so oft hier bist.“ Mein Herz flatterte. Ich war froh, dass er Tiere mochte.

„Und das ist Pearl“, sagte ich, als wir zum letzten Zwinger kamen. Wie immer blieb mein Mädchen stumm, wedelte aber umso freudiger mit dem Schwanz und strich mir beinahe wie eine Katze um die Füße, als ich in den Zwinger trat.

„Was kommt als nächstes?“, fragte Jesse, da wir jetzt alle Näpfe verteilt hatten.

„Normalerweise würde ich jetzt mit den Hunden trainieren.“ Jesse nickte.

„Na dann machen wir das doch.“ Wir gingen auf den Übungsplatz und setzten uns auf die alte Picknickdecke, die ich immer mitnahm. Pearl legte ich die Schleppleine an.

„Ich übe gerade das Abrufen auf Kommando mit ihr. Das Problem ist, dass sie sowieso total auf mich fixiert ist. Deshalb kann ich nicht beurteilen, ob sie versteht, was ich von ihr will, oder einfach so zu mir kommt.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Soll ich es mal versuchen?“, bot Jesse sich an und erneut war ich froh, dass er ein Tierliebhaber war.

„Ja, bitte.“ Pearl schnupperte am Boden und war total beschäftigt, als Jesse sie das erste Mal ansprach. Doch beim zweiten Versuch hob sie den Kopf, schien sich aber nicht sicher zu sein, ob sie zu dem Fremden gehen sollte oder nicht. Jesse klopfte auf seine Oberschenkel, so als würde er sie auf seinen Schoß einladen. Oh verdammt, das weckte schon wieder meine Fantasie. Wieso wollte ich plötzlich Platz mit einem Hund tauschen? Mich müsste Jesse zumindest nicht lange bitten, so viel stand fest. Schließlich beschloss Pearl, dass sie Jesse trauen konnte und kam schwanzwedelnd auf ihn zu. Er lobte sie überschwänglich und ich lächelte erfreut. Pearl mochte eigentlich keine Fremden. Möglicherweise war es auch nur meine Anwesenheit, die sie sicherer machte, aber Jesse war eindeutig geübt im Umgang mit Hunden. Ich fragte ihn, woher das kam.

„Greg hatte einen Mastiff“, erklärte er.

„Hast du eigentlich noch andere Geschwister?“, fragte ich und stützte mich auf meinen Händen ab. Jesse kreuzte seine Beine in einen Schneidersitz. Mann, seine Jeans war echt eng. Ich wunderte mich, dass die Hose nicht riss. Wahrscheinlich eine Jeggings. Bei dem Gedanken von Jesse in Strumpfhosen musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Und vor allem musste ich dringend woanders hingucken. Jesse verneinte.

„Nur Greg und Betty.“ Ich würde am liebsten im Erdboden versinken bei dem Gedanken daran, wie ich seine Schwester kennengelernt hatte. Ich war eifersüchtig auf sie gewesen, weil ich dachte, sie hätte was mit Jesse am Laufen.

„Und du?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Nur Tammy. Aber damit bin ich vollends ausgelastet, glaub mir.“ Jesse grinste.

„Ja, sie ist etwas… anstrengend?“, schlug er vor. Ich stimmte zu.

„Aber nichts im Vergleich zu Jen“, sagte ich. Jesse verdrehte die Augen. Es war das erste Mal, dass ich das sah. Noch ein Punkt auf der Unwiderstehlichkeitsliste. Sie wurde allmählich zu lang.

„Hat Tammy eigentlich irgendwas gegen mich?“, fragte der Junge, in den ich mich verliebt hatte, plötzlich ernst geworden. Ich überlegte lange, was ich antworten sollte.

„Sie hat glaube ich die Befürchtung, du würdest nur mit mir spielen“, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß und rupfte stumpfes Gras von der halb gefrorenen Wiese. Jesse schwieg einen Moment und ich befürchtete schon, dass er meiner Schwester Recht gab. Er lehnte sich näher zu mir herüber und senkte den Kopf, um Blickkontakt mit mir herzustellen.

„Ich weiß ja nicht, ob du gestern Abend dabei warst… aber soweit ich das mitgekriegt habe, hatten wir ein ganz seriöses Date.“

Mein Herz raste. Date. Er hatte Date gesagt. Es war also wirklich ein Date gewesen. Dann war das heute… Moment. Aber das war noch keine Garantie dafür, dass er nicht nur herumalberte. Ich konnte ihm nicht lange in die Augen sehen und tat so, als wäre ich damit beschäftigt, Pearl zu beobachten.

„Du hast selbst gesagt, ich soll dich nicht zu ernst nehmen“, sagte ich leise. Jesse kratzte sich am Ohr und zog die Nase kraus.

„Ja, aber das war doch nicht darauf bezogen. Ich dachte eher an mein loses Mundwerk.“ Es war mir so peinlich, dass wir darüber redeten, und auch wenn ich froh war, ihn all das sagen zu hören, konnte ich ihm nicht so einfach glauben.

„Außerdem dachte ich, du wärst diejenige, die das alles nicht ernst nimmt.“ Mein Kopf fuhr zu ihm herum.

„Was? Wie kommst du darauf?“ War das etwa was Ernstes zwischen uns? Wir hatten uns doch nur ein Mal geküsst. Naja, eineinhalb Mal. Jesse zuckte die Achseln. Jetzt war er derjenige, der Grashalme zupfte.

„Ich weiß nicht. Du bist schon den ganzen Tag so still. So, als würdest du bereuen, was gestern passiert ist.“ Ich glaubte kaum, was ich da hörte. Er hatte ganz ähnliche Gedanken wie ich.

„Dabei dachte ich, nach dem Kuss…“ Seine Mundwinkel bogen sich nach oben und süße kleine Grübchen kamen zum Vorschein. Okay. Es hatte ihm gefallen. Ich klopfte mir in Gedanken selbst auf die Schulter.

„Ich bin immer still“, verteidigte ich mich und versuchte mein Herz zu ignorieren, das aus meiner Brust zu springen schien. „Und ich bereue es nicht.“ Seine Grübchen wurden tiefer.

„Gut“, sagte er schlicht und ich würde ihm am liebsten erneut um den Hals fallen.

Die restliche Zeit legten wir unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Pearl und das Training, doch Jesse schien sich in dieser Stille viel wohler zu fühlen als ich. Seltsam. Normalerweise war ich diejenige, die ihre Ruhe brauchte, und jetzt würde ich am liebsten tausend Fragen stellen. Wie würde es weitergehen? Wann sahen wir uns wieder? War das heute auch ein Date? Würden wir noch weitere Dates haben? Und womit zum Teufel hatte ich das verdient? Womit hatte ich ihn verdient?
 

„Hey“, sagte Jesse im Auto, als ich meinen Gedanken zwischen Euphorie und Zweifeln nachhing.

„Hm?“ Ich war müde. Wahrscheinlich, weil ich gestern Nacht kaum hatte schlafen können. Weil ich Jesse in meiner Vorstellung noch circa fünfhundert Mal geküsst hatte. Und die Heizung im Auto trug auch ihren Teil dazu bei, dass mir fast die Augen zufielen.

„Möchtest du Schlittschuhlaufen gehen? Nächstes Wochenende? Ich glaube, ich muss da noch was gutmachen.“ Ich grinste, so breit, wie ich es schon ewig nicht mehr getan hatte. Es tat beinahe weh.

„Okay“, sagte ich nur und war in diesem Moment einfach nur glücklich. Noch ein Date. Noch ein Date mit Jesse. Ich fragte mich, was er dazu sagen würde, wenn ich ihm gestand, dass ich bereits Hals über Kopf in ihn verknallt war. Doch ich wollte ihn ja nicht verjagen. Ich musste meine Gefühle einfach ein wenig im Zaum halten.

Jesse parkte am Straßenrand und ich bemerkte erstaunt, dass wir schon bei mir waren. Am liebsten würde ich gar nicht aussteigen. Ich wollte hier einfach nur sitzen, mit Jesse reden und Musik hören, bis mir die Augen zufielen. Eine Vision, wie wir beide aneinander gekuschelt in meinem Bett einschliefen, kreuzte meine Gedanken. Es tat beinahe körperlich weh, wie sehr ich seine Nähe wollte. War das noch normal, oder war ich völlig verrückt geworden?

Jesse zog sein Handy heraus und ich war etwas irritiert, dass er mir nicht einmal gute Nacht sagte, bevor ich ausstieg. Doch als ich mich abschnallte und die Tür öffnete, hielt er mich zurück.

„Deine Handynummer.“ Oh. Ich gab sie ihm an und er tippte sie mit flinken Fingern in sein Handy ein. Ich erinnerte mich, wie er gestern beim Essen seine Hand auf meine gelegt hatte. Wieso konnte ich mich kaum noch an das Gefühl erinnern? Es war gerade mal vierundzwanzig Stunden her. Und ich wollte mehr davon. Er rief mich an und mein simpler voreingestellter Klingelton ertönte.

„So, jetzt hast du meine.“ Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ich sollte aussteigen.

„Also dann… Gute Nacht.“ Bevor ich mich wieder selbst überraschen konnte und Jesse erneut um den Hals fiel, stieg ich aus. Und mein Puls stieg, als ich eine zweite Autotür hörte. Déjà-vu.

„Hey.“ Jesse lehnte sich gegen sein Auto und sah mich grinsend an. Es war einer seiner früheren Grinser, ein fieser.

„Um die Nachhilfestunde am Donnerstag kommst du aber nicht herum, nur damit das klar ist.“ Wieso sollte ich sie nicht wollen? Ja, ich hasste Lernen. Und ja, ich hasste Mathe. Aber solange ich Jesse sehen konnte, war mir alles egal. Das ließ ich mir jedoch nicht anmerken. Ich legte den Kopf schief und rümpfte die Nase.

„Du kannst mich nicht zu einem höheren IQ zwingen.“

Er lachte über meine Wortwahl.

„Nein. Aber ich kann dich dazu bringen, deine Nase in ein Buch zu stecken.“ Ich hob meine Augenbrauen.

„Und wie willst du das anstellen?“ Er kam auf mich zu und ich musste aufpassen, dass mir mein Herz nicht aus der Brust sprang. Direkt vor mir blieb er stehen.

„Keine Ahnung. Mir fällt schon was ein“, sagte er leise. Ich liebte seine Stimme. Ich wollte eine schlagfertige Antwort geben, aber mir fiel keine ein. Mein Hirn war wie leergefegt. Es gab nur ihn. Nur seine Augen und seine Lippen. Ich betete, dass er mich küssen würde. Noch einmal würde ich nicht die Initiative ergreifen. Die Zeit schien stillzustehen, während ich mich in seinen Augen verlor, doch er rührte sich keinen Millimeter.
 

„Gute Nacht“, hauchte ich schließlich und eiste mich von seinem Anblick los.

„Gute Nacht.“ Er überwand den Abstand zwischen uns und versiegelte meine Lippen mit seinen. Endlich. Ich musste aufpassen, dass meine Knie nicht sofort unter mir nachgaben. Nur um sicherzugehen, hielt ich mich an seinem Kragen fest. Seine Lippen waren so weich, so sanft. Der Kuss war so intensiv, dass ich ihn in jeder Faser meines Körpers spürte. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein, und er schlang seine Arme um mich. Es war göttlich. Er roch nicht nach Rauch, und er schmeckte auch nicht danach. Hatte er heute gar nicht geraucht? Ich konnte mich schlecht erinnern, ich konnte mich nicht konzentrieren. Vor allem jetzt nicht, wo er seine Zunge über meine Lippen gleiten ließ. Ohne eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, öffnete ich meine Lippen und schmolz dahin, als unsere Zungen sich trafen und der Kuss fordernder wurde. Gleich würde ich in Ohnmacht fallen, ganz bestimmt. Er war dafür gemacht, zum Küssen geboren. Ich fuhr erschrocken zurück, als in der Nähe eine Tür zugeschlagen wurde. Ich sah zu unserem Haus, doch es war alles still. Es musste von weiter weg gekommen sein. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust und schämte mich für meine Schreckhaftigkeit. Dass ein kleiner Teil von mir Angst hatte, mit ihm erwischt zu werden, schob ich in eine Schublade ganz tief in meinem Kopf. Jesse lachte leise und umarmte mich. Sein Kinn ruhte für einen Augenblick auf meinem Haar und ich fragte mich, wie wir wohl in diesem Moment zusammen aussahen.

„Ist das deine Art, mich für Mathe zu begeistern?“, fragte ich und sah zu ihm auf. Er lächelte. Ich wollte ihn schon wieder küssen.

„Funktioniert’s denn?“ Ich biss mir auf die Lippe und nickte, wohlwissend, dass ich errötete. Doch glücklicherweise war es schon ziemlich dunkel. Er hob eine Hand und fuhr mit seinem Daumen über meine Wange.

„Du bist ganz kalt.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Mir ist aber nicht kalt.“ Jesse grinste.

„Vielleicht solltest du besser reingehen.“ Es versetzte mir einen kleinen Stich, dass er mich fortschickte, aber er hatte Recht. Jetzt, wo er es sagte, merkte ich, wie die Kälte meine Füße hinaufstieg und meine Hände spürte ich kaum noch. Wie lange standen wir hier schon? Es fühlte sich nur an wie Sekunden. Auf jeden Fall nicht lang genug. Dennoch gab ich nach.

„Du hast Recht. Ich sollte gehen.“ Ich löste meine Finger von seiner Jacke.

„Gute Nacht“, sagte ich erneut. Er fuhr mit seinem Daumen noch einmal über meine Wange, ganz langsam, dann trat er einen Schritt zurück.

„Schlaf gut.“ Ich starrte ihn an, ich wusste es, und noch schlimmer war, er wusste es, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich wollte diesen Anblick in mich aufsaugen und versiegeln. Davon zehren, bis ich ihn das nächste Mal sah. Ich zählte im Stillen bis zehn, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und drehte mich nicht um, bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Ich wusste, ich hätte es sonst nicht bis ins Haus geschafft.

Nachhilfe

Die nächsten Tage versuchte ich verzweifelt, nicht die ganze Zeit auf mein Handy zu starren. Als könnte mein Blick das blöde Ding endlich dazu bringen, zu klingeln. Etwa zwei Dutzend SMS verfasste ich an Jesse, schickte sie jedoch nicht ab. Zweifel nagten an mir. Hatte er mich doch nur verarscht? Ich wollte das nicht glauben und rief mir immer wieder seine Worte ins Gedächtnis, und den Kuss.

Und doch, je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde ich. Ich wollte nicht, dass es vorbei war. Ich brauchte mehr. Immer mehr von Jesse. Ich befürchtete, es würde nie genug sein. Wieso meldete er sich nicht?

Dann endlich, am Mittwoch, wurde ich erlöst.
 

Morgen, Eisprinzessin.
 

Ich konnte mich nicht so recht entscheiden, ob mir der Spitzname nun gefiel oder nicht.
 

Wann ist morgen dein Unterricht zu Ende?
 

Es war eine so simple SMS, und doch zauberte sie mir jedes Mal, wenn ich sie las – und ich las sie ziemlich oft – ein Lächeln auf die Lippen.
 

Hi, Jesse.
 

Ich überlegte, ob ich ihm auch einen Spitznamen verpassen sollte, aber mir fiel ehrlich gesagt keiner ein, der zu ihm passte.
 

Um 14:00 Uhr. Es besteht nicht zufällig die Chance, dass ich um die Nachhilfe herumkomme?
 

Ich fügte einen Smiley hinzu und wartete fiebrig auf die Antwort.
 

Vergiss es. Ich hol dich an der Schule ab.
 

Ich wurde ganz flattrig bei dem Gedanken, ihn morgen zu sehen.
 

Okay. Ich freu mich.
 

Ich löschte das ich freu mich und machte ein bis dann daraus.
 

Unüblich für mich, überlegte ich am nächsten Tag minutenlang, was ich anziehen sollte. Mein Haar flocht ich, hauptsächlich, weil es mir auf die Nerven ging. Ich spielte mit dem Gedanken, es abzuschneiden, wusste aber im selben Moment, dass ich es nicht über mich bringen würde.

Im Unterricht fiel es mir schwer, den Lehrern zu folgen. Jede Minute, die verstrich, brachte mich Jesse näher und machte mich nervöser. Wie sollte ich mich bloß aufs Lernen konzentrieren, wenn er in meiner Nähe war?

Als der Unterricht endlich zu Ende war, hielt ich nach seinem Auto Ausschau und versuchte, nicht so aufgeregt zu wirken, wie ich mich fühlte. Ich sah erst ihn, dann seinen Wagen, an den er sich lehnte. Er zog an seiner Zigarette und beobachtete die Schüler, die in Scharen aus dem Gebäude strömten. Als unsere Blicke sich trafen, nickte er mir zu und warf seine nicht mal halb gerauchte Zigarette weg. Ich wäre am liebsten in seine Arme gerannt, doch ich bemühte mich um einen gemäßigten Gang. Bildete ich mir das nur ein, oder zog Jesse tatsächlich viele weibliche Blicke auf sich? Natürlich tat er das. Er war umwerfend. Er trug wieder seine Beanie, die ich so sehr liebte. Und den Mantel vom Sonntag, an dessen Kragen ich mich gekrallt hatte, während meine Knie zu Butter wurden. Konzentrier dich!
 

„Hi.“ Sein Lächeln war umwerfend.

„Hi.“

„Bereit?“ Nein.

„Klar.“ Er öffnete die Beifahrertür. Wie hatte ich ihn je nicht mögen können? Ich war mir durchaus bewusst, dass mehrere Augenpaare auf mir lagen, als ich in sein Auto stieg. Sollten sie doch gucken!

„Ich dachte, wir fahren zu mir. Da haben wir unsere Ruhe.“ Ich versteifte mich für eine Sekunde und schluckte trocken. Wir beide, ganz allein in seiner Wohnung. Meine Fantasie spielte sofort verrückt. Würde ich denn – vorausgesetzt natürlich, Jesse würde die Initiative ergreifen…

Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, weil mir so heiß wurde, dass ich meine Winterjacke öffnen musste. Ich hoffte inständig, Jesse würde mein laut schlagendes Herz nicht hören. Wir hatten erst zwei Dates hinter uns und ich dachte schon an sowas. Das war doch nicht normal. Andererseits fragte ich mich, ob Jesse auch darüber nachdachte. Er war ein Kerl – bestimmt tat er das. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich wollte, dass er daran dachte. Ich musste unbedingt ein Gespräch beginnen, sonst würde ich noch verrückt werden.

„Wohnst du allein?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.

„Bei Greg.“ Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Wieso bei Greg?“ Jesse verzog das Gesicht.

„Wenn ich zu neugierig bin, sag’s einfach. Du musst nicht mit mir darüber reden“, ruderte ich zurück. Er warf mir einen beruhigenden Blick zu.

„Schon gut. Ich glaube nur nicht, dass meine familiären Umstände besonders spannend für dich sind.“ Mich interessierte alles, was mit ihm zu tun hatte, aber das sagte ich ihm nicht. Als ich ihn abwartend ansah, begann er schließlich zu erzählen.

„Das ist eigentlich ganz schnell erklärt: Ich hab’s zuhause nicht mehr ausgehalten, deshalb bin ich ausgezogen. Aber eine eigene Wohnung kann ich mir nicht leisten.“

Ich würde gerne wissen, wieso er mit seinen Eltern nicht klarkam. Ich hatte das große Glück, eine intakte kleine Vorstadtfamilie zu haben.

„Darum also die Nachhilfestunden. Du brauchst das Geld“, witzelte ich. Jesse lachte nicht, sah mich nur intensiv an. Ich sollte ihn bitten, wieder auf die Straße zu gucken, aber wie könnte ich mich von diesen Augen loseisen? Schließlich brach er den Blickkontakt ab.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du als Gegenleistung zu den Auftritten kommst.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Du sollst das aber nicht umsonst machen. Und zu den Gigs komme ich von ganz allein.“ Jetzt stahl sich doch ein Lächeln auf seine Lippen.

„Was? So richtig freiwillig? Bist du dir sicher?“ Er lachte ein kehliges Lachen. „Das halte ich für fair.“ Gregs Haus kam in Sicht. Unangenehme Erinnerungen wurden in mir wach. Alkohol war wirklich nicht mein bester Freund. Jesse rief ein Hallo in die Stille, als wir das Haus betraten, doch es kam keine Antwort. Er hängte seine Jacke an die Garderobe und nahm mir meine ab.

„Sind wohl alle ausgeflogen“, meinte er und ich war nicht sicher, ob ich darüber froh sein sollte oder nicht. Wenn Greg mitbekam, dass ich hier war, würde es bestimmt Gerede in der Clique geben. Und darauf konnte ich wirklich gut verzichten.

„Hast du Hunger? Ich muss unbedingt was essen.“ Ich folgte Jesse in die Küche, zur Speisekammer. Ich schluckte. Hier hatte ich Rob geküsst. Sollte ich Jesse davon erzählen? Nein, wieso denn? Das war, bevor wir… was auch immer wir jetzt waren. Außerdem hatte er auch rumgeknutscht, da hatten wir uns schon gekannt. Zugegeben, das war eine ganze Weile vorher gewesen, aber die Bilder hatten sich gut in mein Gedächtnis gebrannt. Ich wollte nicht daran denken, konnte es aber nicht verhindern. Hatte er die Nummer des Mädchens aus dem Restaurant noch? Eifersucht bohrte sich durch meine Adern. Ich hatte keinen Anspruch auf ihn, rief ich mir ins Gedächtnis. Es waren nur zwei Dates gewesen, mehr nicht. Das hieß nicht, dass wir zusammen waren. Vielleicht traf er sich ja auch noch mit anderen Mädchen. Bei dem Gedanken wurde mir ganz schlecht.

„Couscous?“, schlug Jesse vor und hielt die Packung in die Höhe. Ich nickte. Mir war der Hunger ordentlich vergangen. Ich sollte wirklich damit aufhören, irgendwelche Hypothesen über Jesse aufzustellen und mir dadurch den Tag zu vermiesen. Ich beschloss, mein Sozialleben für heute außer Acht zu lassen und mich auf die Nachhilfe zu konzentrieren. Ich brauchte wirklich bessere Noten. Aber das war leichter gesagt als getan, wenn mein Nachhilfelehrer ausgerechnet der Typ war, in den ich verknallt war.
 

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich. Jesse holte einen Topf aus einem der Schränke, befüllte ihn mit Wasser und erhitzte dieses auf dem Herd.

„Du kannst den Tisch decken, wenn du willst.“ Er holte Teller, Besteck und Gläser heraus und reichte sie mir. Unsere Finger berührten sich kurz. Spürte nur ich den Stromschlag?

Das Tischdecken war innerhalb von zwei Minuten erledigt, dann war ich arbeitslos. Ich ging zurück in die Küche und stellte mich zu Jesse an den Herd. Er wartete noch immer darauf, dass das Wasser kochte. Seine Mütze hatte er inzwischen ausgezogen. Sein Haar war glatter als sonst. Verdammt, auch so sah er einfach umwerfend aus.

„Wie geht’s deinem Tattoo?“, fragte ich. „Alles verheilt?“ Jesse nickte.

„Willst du’s sehen?“ Ich bejahte und stellte mich hinter ihm auf die Zehenspitzen und spähte durch den weiten Kragen seines Pullovers auf die frische pechschwarze Tinte. Jesse bekam eine Gänsehaut.

„Tut mir Leid. Meine Finger sind eiskalt“, sagte ich und zog meine Hände zurück. Jesse drehte sich zu mir um und nahm meine Hände in seine.

„Vielleicht sollte ich dich ein bisschen aufwärmen.“ Er zog mich näher zu sich, bis sich unsere Körper berührten. Mein Herz explodierte. Er senkte den Kopf und ich schloss in freudiger Erwartung die Augen. Überraschenderweise trafen seine Lippen nicht meinen Mund, sondern meine Stirn. Diese liebevolle Geste brachte mich beinahe zum Schmelzen. Er zog mich in eine Umarmung und schlang seine Arme um meine Schultern. Reflexartig erwiderte ich die Berührung und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. So nah war ich ihm noch nie gewesen. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass er mein hämmerndes Herz spüren konnte. Zu meiner Erleichterung war auch sein Puls erhöht. Er roch gut, wenn man mal von der leichten Zigarettennote absah.

„Das Wasser kocht“, sagte er irgendwann leise. Wasser? Welches Wasser? Ach ja, wir machten ja Couscous. Widerwillig löste ich mich von ihm und sah zu, wie er die kleinen Körner in das sprudelnde Wasser schüttete.

„Ah, fuck!“ Er zog seine Hand ruckartig zurück, als ein paar übersprudelnde Tropfen seine Hand verbrannten.

„Shit.“ Er knallte den Deckel auf den Topf und saugte an der Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, wo es ihn getroffen hatte. Er tat mir Leid, gleichzeitig musste ich aber auch über seine heftige Reaktion lachen. Als er mich mit strafenden Augen ansah, hielt ich mir den Mund zu.

„Entschuldige. Komm.“ Ich zog ihn zum Waschbecken und stellte das kalte Wasser an. Ich ergriff sein Handgelenk und hielt die wunde Stelle unter den Wasserstrahl.

„Besser?“, fragte ich, während das Wasser über seine Hand strömte. Er entspannte sich – so schlimm war es ja nun auch nicht gewesen.

„Schon mal daran gedacht, Krankenschwester zu werden?“, fragte er mich mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein, eher Kinderärztin.“ Er brauchte einen Moment, bis er den Witz verstand.

„Haha“, sagte er nur trocken, während ich grinste. Er drehte den Hahn ab.

„Ich glaube, das reicht.“ Ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn weiter aufzuziehen.

„Möchtest du ein Pflaster?“ Er verengte die Augen und trat einen Schritt auf mich zu. Ich musste mich zwingen, nicht zurückzuweichen und laut loszulachen.

„Nein. Ich will einen Kuss.“ Er hob mir seine Hand vor die Nase und ich sah ihn ungläubig an.

„Was?“ Er zuckte die Schultern.

„Du bist doch hier die Krankenschwester. Macht man das nicht so bei Kindern? Die Wunde küssen und alles ist wieder heil?“ Die Wunde! Männer waren so wehleidig! Ich verdrehte die Augen, als er mich abwartend ansah. Er meinte das wirklich ernst. Jetzt erinnerte er mich sehr an den Jesse, wie ich ihn kennengelernt hatte.

„Na schön.“ Ich verdrehte die Augen und platzierte einen hauchleichten Kuss auf die gerötete Stelle. „Und, hilft’s?“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube, du musst nochmal.“ Ich boxte ihn gegen die Schulter.

„Vergiss es.“ Er grinste.

„Na gut. Aber du musst weiterkochen. Ich bin schwer verletzt.“ Er presste seine Hand an seine Brust, als hätte ihn gerade ein Hund gebissen. Ich schüttelte grinsend den Kopf.

„Von mir aus!“ Jesse setzte sich auf die Ablagefläche und sah ziemlich zufrieden mit sich aus.
 

Die Nachhilfe gestaltete sich weniger erfreulich. Wir begannen mit Mathe, weil ich es da am dringendsten nötig hatte. Es war mir regelrecht peinlich, wie wenig ich wusste und ich merkte Jesse an, dass er nicht erwartet hatte, dass ich so schlecht war. Nach ein paar unbeholfenen und ergebnislosen Aufgaben, bei denen ich nicht mal verstand, was man von mir wollte, schloss Jesse das Buch und kritzelte etwas auf einen Zettel.

„Okay. Hausaufgabe bis zum nächsten Mal: Die Formeln auswendig lernen. Wenn du die Formeln beherrschst, kannst du die Lösungen voneinander ableiten.“ Und die hatte er sich einfach so aus den Fingern gesaugt? Als ich mir die Zahlen und Buchstaben ansah, erkannte ich sie vage wieder. Diese Formeln standen in meinem Heft, irgendwo ganz vorne. Aber Jesse hatte nicht mal einen Blick darauf geworfen.

„Kann ich dich mal was fragen?“ Ich sollte aufhören, ihn danach zu fragen, ob ich was fragen durfte, und einfach fragen. Er nickte. Bisher war er sehr geduldig mit mir gewesen.

„Was für einen Notendurchschnitt hast du in deinem Abschluss?“ Jesse kratzte sich hinterm Ohr. War das etwa eine verlegene Geste? Ich hatte ihn noch nie so gesehen.

„Wieso fragst du?“ Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch.

„Keine Ahnung. Es interessiert mich.“

Er schien einen Moment zu überlegen, ob er es mir sagen sollte oder nicht, dann seufzte er.

„Eins Komma drei.“ Heilige Scheiße. Er war ein verdammtes Genie. Er musste mir mein Erstaunen ansehen, denn er lächelte breit.

„Wie hoch ist dein IQ?“ Er runzelte die Stirn.

„Ist das 'ne ernsthafte Frage?“ Ich nickte.

„Keine Ahnung. Ich habe noch nie einen Test gemacht.“ Ich nahm einen Schluck von meinem Wasser und war ziemlich deprimiert.

„Solltest du vielleicht.“ War er in irgendwas nicht perfekt? Diese Fehlerlosigkeit fing an, mich ein bisschen zu nerven. „Ich wette, du musstest nicht gerade viel lernen. Hast du ein fotografisches Gedächtnis?“

„Nein. Und um ehrlich zu sein, habe ich immer viel gelernt im Internat. Brav Hausaufgaben gemacht, mich auf jede Stunde vorbereitet, im Unterricht mitgemacht und so weiter.“ Mir fiel die Kinnlade runter.

„Du bist ein Streber“, sagte ich gespielt schockiert. Er verdrehte die Augen.

„Zugegebenermaßen ist mir das Lernen nie besonders schwer gefallen. Ich habe nicht den ganzen Tag in meinem Zimmer gesessen und in Bücher gestarrt, falls du das meinst“, verteidigte er sich.

„Trotzdem bist du ein Streber“, neckte ich ihn weiter.

„Wenn du meinst“, seufzte er ergeben, mit einem Grinsen in den Mundwinkeln. Es machte Spaß, ihn aufzuziehen. Außerdem bewahrte es mich davor, irgendwas anderes mit ihm lernen zu müssen. Jetzt, wo ich wusste, wie intelligent er war, wollte ich mir noch weniger die Blöße geben, mit ihm meine zahlreichen Problemfächer durchzugehen.

„Wieso?“, fragte ich.

„Wieso was?“, entgegnete er.

„Wieso hast du dich in der Schule so angestrengt?“, präzisierte ich.

„Mir war ganz schön langweilig im Internat. Und ich wollte einen guten Abschluss, um einen gut bezahlten Job zu kriegen.“ Den er nicht hatte. Wieso, wenn er doch so ein gutes Zeugnis hatte?

„Und was für ein Job wäre das?“ Jesse zuckte mit den Schultern.

„Hab' mir noch keine großen Gedanken darüber gemacht.“ Wow, das nannte ich mal einen Plan für die Zukunft. Aber ich musste auch gerade reden. Ich hatte auch keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Allerdings hatte ich auch noch ein, zwei Jahre, um mir darüber Gedanken zu machen. Möglicherweise noch mehr, wenn ich nicht bald bessere Noten bekam.

„Momentan jobbe ich in einem Plattenladen. Und ab und zu stehe ich hinter der Bar in einem Club.“ Jesse als Barkeeper. Das konnte ich mir gut vorstellen. Und ich konnte mir auch die Unmengen an Frauen vorstellen, die sich weit über den Tresen beugten, um ihm ihre Bestellungen ins Ohr zu flüstern. Ich hasste Eifersucht.

„Cool“, sagte ich trocken und legte mein Französischbuch auf den Tisch. Das war das Fach, bei dem ich noch am meisten Hoffnung für mich hegte. Ich war früher gar nicht so schlecht darin gewesen, aber seit ich aufgehört hatte, dafür zu lernen, waren die Leistungen rapide in den Keller gesunken.

„Wie steht’s mit Französisch?“, fragte ich und hoffte innerlich, dass er in irgendeinem Fach nicht genial war.

„Pourquois pas?“ Na toll. Auch das konnte er. Das Einzige, womit ich mich in dem Fach wirklich rühmen konnte, war meine Aussprache. Meine Lehrerin sagte immer, ich sei ein Naturtalent. Glücklicherweise musste ich dafür nicht besonders viel tun. Wir unterhielten uns einfach eine Stunde auf Französisch. Zu meiner Erleichterung musste auch Jesse ein paar Wörter nachschlagen. Meine Sätze waren anfangs grammatikalisch ziemlich holprig, doch je länger wir uns unterhielten, desto besser wurde ich.
 

„Bin ich für heute erlöst?“, fragte ich und stützte meinen brummenden Kopf in meine Hände. Jesse sah mich mit einem Lächeln in den Augen an und fuhr mir durchs Haar. Diese unerwartete sanfte Berührung brachte mich aus dem Konzept.

„Für heute“, gab er schließlich nach. Ich packte meine Sachen in den Rucksack. Was jetzt? Ich wollte noch nicht gehen.

„Heute wieder Tierheim?“, fragte Jesse, während er mir zusah. Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, heute nicht.“ Martha hatte darauf bestanden, mir ein paar Tage freizugeben. Sie hatte, glaube ich, ein schlechtes Gewissen, weil sie mir nur einen kleinen Lohn zahlte und ich beinahe mehr als eine Teilzeitkraft arbeitete. Außerdem wollte sie, dass ich mehr unternahm, mit Freunden und so. Sie hatte mich nach Jesses Besuch nur einmal nach ihm gefragt, und ich hatte ihr erzählt, er sei ein Freund meiner Schwester. Das war sowas von gelogen. Tammy konnte ihn nicht leiden. Und Jesse war viel mehr mein Freund als ihrer. Also, nicht mein Freund, aber eben ein Freund. Den ich zweimal geküsst hatte. Okay. Unser Beziehungsstatus war nicht eindeutig festgelegt. Natürlich hätte ich Jesse gern als meinen festen Freund, auch wenn ich mir das absolut nicht vorstellen konnte. Kein bisschen.

„Willst du meine Playlist hören?“, fragte Jesse und riss mich damit aus meinen Gedanken. Mal wieder.

„Sicher.“ Er führte mich die Treppe hinauf. Dieselbe Treppe, auf der ich Betty das erste Mal gesehen hatte. Damals hatte ich noch geglaubt, sie wäre eine seiner Eroberungen. Und auch jetzt konnte ich mich nicht davon abhalten, darüber zu philosophieren, wie viele Mädchen diese Treppe schon hinaufgestiegen waren. Ich sollte wirklich mal mit Jesse darüber reden, bevor ich mir ernsthaft Hoffnungen machte.

Mein Puls beschleunigte sich, als wir sein Zimmer betraten. Es war nicht groß und auch nicht besonders liebevoll eingerichtet. Am auffälligsten waren die Schachteln, die sich auf dem Schreibtisch stapelten, direkt neben einem alten Plattenspieler. Es sah ziemlich unordentlich aus, aber irgendwie störte ich mich nicht daran. Jesse offensichtlich auch nicht, denn er entschuldigte sich nicht für das Chaos, das hier herrschte und machte auch keine Anstalten, irgendetwas aufzuräumen.

Während er eine CD einlegte, inspizierte ich den Plattenspieler und die dutzenden Platten, die danebenlagen. Die meisten Interpreten und Lieder sagten mir überhaupt nichts. Den Covern nach zu urteilen waren sie aber auch schon mehrere Jahrzehnte alt. Ich erschrak kurz, als Jesse die CD startete. Er hörte in seinem Zimmer genauso laut Musik wie in seinem Auto. Als er meinen Gesichtsausdruck sah, drehte er zu meiner Erleichterung auf Zimmerlautstärke runter. Ich ging zu ihm und nahm die Hülle aus seiner Hand, die er beschriftet hatte. Meine Augen überflogen die Liste, doch ich konnte nichts mit den Titeln anfangen. Zumindest war anhand des ersten Liedes sofort klar, dass es seine schnelle Playlist war. War auch besser so. Wenn jetzt irgendwelche Schnulzen liefen, kam ich vielleicht noch auf falsche Gedanken. Oder er.

Weiter kam ich nicht, weil Jesse im nächsten Moment seine Lippen auf meine presste und sich mein Hirn zeitgleich ausschaltete. Das kam unerwartet. Nicht unerwünscht, nur unerwartet. Ich schlang meine Arme um seinen Hals, sodass unsere Körper förmlich aneinanderklebten, und erwiderte den Kuss. Vielleicht sollte ich nicht so schnell damit sein, mich ihm wortwörtlich an den Hals zu werfen, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Es fühlte sich einfach zu gut an. Wenn ich mich an den Kuss mit Rob erinnerte, war das nichts im Vergleich. Jetzt schoss Adrenalin in meine Adern, mein Atem wurde schneller und auf angenehme Weise zog sich mein Magen zusammen. Es fühlte sich so richtig an, und ich mich so lebendig. War das der Grund, warum ich so in Jesse verknallt war? Weil er mich aus meinem Loch herausholte und mir endlich wieder das Gefühl gab, am Leben zu sein? Wollte ich mit ihm die kahle Stelle füllen, die Natalie hinterlassen hatte? Nein, ich wollte niemanden ersetzen! Ich schubste Jesse unsanft von mir. Der Gedanke hatte mich so sehr erschreckt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich sah die Verwirrung in seinen Augen.
 

„War das zu viel?“, fragte er. Am liebsten hätte ich ihm versichert, es würde mir nie zu viel werden, aber vorher wollte ich ein für alle Mal klarstellen, was das zwischen uns war.

„Wer war das Mädchen an der Gartenhütte?“ Das war eigentlich nicht das, woran ich gedacht hatte, doch es war mir einfach so rausgerutscht. Jesses Verwirrung wurde noch größer.

„Was für eine Gartenhütte?“ Ich trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Na, auf der Party. Die Blondine im Garten. Du weißt schon.“ Ich konnte genau sehen, wie sein Hirn arbeitete. Ich versuchte währenddessen, die Bilder von den beiden, eng umschlungen, aus meinem Kopf zu vertreiben. Ich war selbst schuld.

„Du warst das auf dem Balkon“, teilte er seine neu gewonnene Erkenntnis mit mir. Ich biss mir auf die Lippe. Das war eigentlich nicht das, worauf ich hinauswollte.

„Ja“, sagte ich deshalb nur knapp und beließ es dabei. Es zu leugnen, hatte ja wohl keinen Zweck mehr.

„Du hast und beobachtet.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich konnte seine Reaktion nur schwer einschätzen. War er sauer? Amüsiert? Genervt?

„Ich dachte, es gibt ein Feuerwerk. Wegen der Böller“, versuchte ich mich zu erklären.

„Du hast uns beobachtet“, wiederholte er, dieses Mal mit einem Grinsen auf den Lippen. Wie konnte er grinsen, während wir uns darüber unterhielten, wie er mit einer anderen rumgemacht hatte? War das alles doch nur ein Spiel für ihn?

„Ist sie deine Freundin?“, fragte ich geradeheraus und hoffte, die Antwort wäre nein. Jetzt entglitten ihm doch alle Gesichtszüge.

„Was? Amanda? Nein, sie ist nur... wie kommst du darauf?“ Mir fiel beinahe die Kinnlade runter.

„Wie ich darauf komme? Du hast sie beinahe aufgefressen.“ Gut zu wissen, dass für Jesse ein Kuss nichts bedeutete. Jetzt wusste ich wenigstens, woran ich war.

„Wir haben nur...“ Er schien endlich zu begreifen, wie sehr mich das verletzte, denn seine Stimme wurde sanft und er seufzte schwer.

„Lea. Das war nichts Ernstes. Ich war betrunken. Wir waren beide betrunken. Das hatte nichts zu bedeuten.“ Er merkte, dass mich das nicht besonders beruhigte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das war vor uns.“ Uns. Hatte er uns gesagt?

„Ich werde mich nicht für etwas entschuldigen, das so weit zurückliegt.“ Seine Worte versetzten mir einen Stich, aber er hatte recht. Ich senkte den Kopf und sprach mit dem Fußboden.

„Ich will nicht, dass du dich entschuldigst. Ich möchte einfach nur wissen, woran ich bin.“ Ich scharrte mit dem Fuß über eine unebene Stelle in dem Holz und kam mir auf einmal ganz klein vor. Wenn ich im Erdboden versinken könnte, würde ich es jetzt tun. Jesse kam auf mich zu und hob mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste.

„Ich dachte, das wäre klar.“ Ich schluckte schwer. Seine nächsten Worte würden über mein ganzes Leben entscheiden. „Ich nehme nicht jede mit ins Tattoostudio.“ Aha. Was sollte mir das jetzt sagen?

„Mhm“, machte ich deshalb nur und entfernte mich wieder von ihm. Ich ertrug es gerade nicht, ihm so nahe zu sein. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sodass eine Falte dazwischen entstand.

„Was glaubst du denn, was wir hier machen?“, fragte er und ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf er hinauswollte. „Habe ich irgendetwas gemacht... oder gesagt, das dir Anlass dazu gibt, mir zu misstrauen?“

Nur, dass dein Bruder mich von Anfang an vor dir gewarnt hat.

„Was hat er gesagt?“ Jesses Miene versteinerte sich. Oh verdammt, hatte ich das etwa laut gesagt? Ich wollte Greg nicht bei Jesse anschwärzen, aber dafür war es wohl schon zu spät.

„Nichts. Er hat nur...“ Ich wusste selbst nicht, was ich sagen sollte.

„Sag die Wahrheit.“ Jesse wirkte wütend. Das konnte ich ihm aber auch nicht verübeln, wenn man hinter seinem Rücken über ihn redete.

„Er hat nur gesagt, dass du, naja... gerne spielst“, sagte ich und zeichnete dabei Gänsefüßchen in die Luft. Ich sah an seiner Reaktion, dass er etwas anderes erwartet hatte.

„Und du denkst, dass ich das tue. Nur mit dir spielen?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und blieb stumm. Keine Antwort war auch eine Antwort.

„Wow.“ Jesse trat ein paar Schritte zurück und lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. Mit verschränkten Armen beobachtete er mich. Sollte ich was sagen? Mich entschuldigen? Ich wollte es, aber kein Wort kam über meine Lippen. Erst musste ich von ihm hören, dass Greg sich irrte.
 

„Es stimmt.“

Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich hatte es geahnt, die ganze Zeit über. Wieso sollte Jesse auch ernsthaft an mir interessiert sein? Ich war so dumm.

„Ich bin nicht so der Beziehungstyp. Und normalerweise sehe ich die Mädchen, mit denen ich was hatte, nie wieder. Aber jede Einzelne wusste genau, woran sie war. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass bei mir nicht mehr drin ist.“

Ich versuchte, die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, zurückzuhalten, und mir nicht all die Mädchen vorzustellen, mit denen er schon im Bett gewesen war. Hätte ich ihn vorhin nicht zurückgewiesen, wäre ich jetzt womöglich eine Trophäe mehr in seiner Sammlung.

„Dann hast du das bei mir wohl vergessen. Zu mir hast du nichts gesagt. Du hast mich nicht vorgewarnt“, sagte ich mit zittriger Stimme und blinzelte mehrmals, um die Tränen zu vertreiben. Ich sollte mich einfach umdrehen, gehen, und nie wiederkommen. Dieses Mal würde ich Jesse wirklich aus meinem Leben streichen. Wie ich es von Anfang an hätte machen sollen. Er kam jetzt auf mich zu und all meine Sinne schrien, ich solle mich von ihm fernhalten. Gleichzeitig wollte ich jedoch meinen Kopf an seine Schulter lehnen und weinen.

„Lea. Du verstehst nicht. Das versuche ich doch die ganze Zeit zu sagen: Mit dir ist es anders. Ich will nicht nur eine Affäre. Ich will was Richtiges.“ Ich war verwirrt und runzelte die Stirn. Was denn nun?

„Wenn du das auch möchtest.“ Jesse biss sich auf die Lippe. War er jetzt unsicher? Ich dachte, das sei mein Part. Ich verstand noch nicht ganz, was das bedeutete.

„Du willst mit mir zusammen sein?“, fragte ich ungläubig.

„Ja“, sagte er schlicht, ohne zu zögern. Es kam mir vor, als bekäme ich endlich wieder Luft. Gleichzeitig fehlten mir die Worte.

„Wieso?“, entfuhr es mir schließlich. Es war das Einzige, was mir dazu einfiel. Jesse zuckte die Schultern.

„Ich mag dich, ganz einfach.“

Wieso, wollte ich erneut fragen, ließ es aber bleiben, weil ich ihn nicht überstrapazieren wollte.

„Ich mag dich auch“, gestand ich. Mögen war wohl etwas untertrieben, aber das musste Jesse ja noch nicht unbedingt wissen. Er lächelte breit und wirkte erleichtert.

„Gut“, sagte er. „Ich war mir nämlich nicht sicher.“ Er kam wieder näher, und dieses Mal kam ich ihm entgegen.

„Du hast geglaubt, ich mag dich nicht?“ Wie konnte er das nur denken? Jesse vergrub die Hände in den Hosentaschen.

„Du bist nicht gerade leicht einzuschätzen.“ Ich runzelte die Stirn.

„Liegt wohl daran, dass du so mysteriö-“ Ich hielt ihm den Mund zu.

„Nicht dieses Wort!“ Er lachte unter meiner Berührung und ich nahm die Hand weg.

„Gut. Da wir das geklärt hätten, können wir jetzt da weitermachen, wo wir aufgehört haben?“ Liebend gerne würde ich mich erneut an ihn schmiegen, bis meine Lippen taub waren. Aber ich glaubte, dass Jesse es nicht beim Küssen belassen würde. Ein nervöses Flattern erfüllte meinen Bauch.

„Nein. Ich glaube, ich gehe jetzt besser nach Hause“, sagte ich und hob meine Tasche vom Boden. Jesse runzelte die Stirn und sah mich prüfend an.

„Bist du noch sauer? Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ Ich schüttelte den Kopf und trat vor ihn.

„Ich bin nicht sauer. Alles gut. Aber ich muss noch Hausaufgaben machen.“ Ich konnte nicht widerstehen und platzierte einen federleichten Kuss auf seinen Lippen. Es hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut.

„Du kannst den Schulkram auch hier erledigen“, schlug er vor und nickte Richtung Schreibtisch. Es freute mich, dass er mich nicht gehen lassen wollte, dennoch hielt ich es für besser. Nun war es an ihm, sich zu mir herunterzubeugen und meine Lippen zu versiegeln. Seine Taktik, mich von einem Widerspruch abzuhalten, war beinahe erfolgreich, doch ich musste mir nur wieder ins Gedächtnis rufen, wo diese ganze Sache enden könnte – nämlich in seinem Bett – das reichte mir, um die Willenskraft aufzubringen, mich von ihm zu lösen.

„Ich werde mich heute sicher nicht nochmal vor dir blamieren. Streber.“ Ich grinste breit. Ich trat einen Schritt zurück, als er erneut Anstalten machte, mich zum Schweigen zu bringen. „Außerdem fragt sich meine Mom bestimmt schon, wo ich bin. Normal dauert Nachhilfe nicht so lang.“ Ich hatte meiner Mutter zwar erzählt, dass ich zur Nachhilfe ging – was sie sehr begrüßte – aber nicht, bei wem.

„Na gut. Ich fahre dich nach Hause.“ Jesse seufzte, ergriff meine Hand und ging mit mir hinunter. „Soll ich dich am Samstag mitnehmen, zum Gig?“ Ich schüttelte den Kopf und war noch völlig überwältigt von dem Gefühl, seine Hand zu halten, während wir zum Auto liefen. Das mich eine so simple Berührung so glücklich machte, hätte ich nie für möglich gehalten.

„Ich fahre mit Tammy und Jen.“ Falls Jen mitkam. „Dann musst du keinen Umweg fahren.“ Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es ein Umweg für Jesse wäre oder nicht, weil ich in dem Club, in dem Zero an diesem Wochenende spielte, noch nie gewesen war.

„Wie du meinst.“ Jesse öffnete mir die Beifahrertür und ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Ein wenig bereute ich es, dass ich so nach Hause gedrängt hatte. Aber wahrscheinlich war es besser, wenn ich den heutigen Tag erst einmal verarbeitete.

Das Schwesterherz und das Goldkehlchen

Am Samstag verkündete ich meiner Schwester, dass ich mit zu dem Gig fahren würde. Sie freute sich sehr, legte aber gleich darauf die Stirn in Falten.

„Woher der plötzliche Sinneswandel?“ Ich zuckte die Achseln.

„Einfach so. Mir fällt die Decke auf den Kopf, wenn ich die ganze Zeit nur lerne. Ich brauche eine Auszeit.“ Das war nicht mal gelogen, und es schien Tammy als Begründung zu reichen.

„So kannst du aber nicht gehen.“ Sie beäugte meine Jogginghose und den weiten Pulli skeptisch. Sie hatte vollkommen recht. Ich wollte gut aussehen für Jesse. Doch um kein Misstrauen bei Tammy zu erwecken, rollte ich wie immer genervt die Augen.

„Bitte übertreib es nicht“, sagte ich nur, als sie begann, in meinem Kleiderschrank zu wühlen.

„Wie wär's damit?“ Sie zog ein Top aus dem Regal, das einen ziemlich weiten Ausschnitt hatte.

„Nein“, sagte ich mit Nachdruck. Es war eines von Tammys Teilen, die sie mir vermacht hatte, weil sie sie selbst nicht mehr anzog. Mir fehlte eindeutig ihre Oberweite, um das Ding auszufüllen. Sie schien es einzusehen, denn sie legte es wieder zurück.

„Das hier?“ Sie hob ein dunkelgrünes T-Shirt hoch, das im Schulter- und Dekolletébereich grobmaschige Verzierungen hatte. Es war hübsch. Ich hatte es erst ein- oder zweimal getragen.

„Ist einen Versuch wert“, sagte ich.

„Und die Hose dazu.“ Sie hielt mir eine Lederimitathose entgegen und ich schüttelte vehement den Kopf. Wieso besaß ich diese Hose überhaupt?

„Zu viel!“ Aber Tammy ignorierte meinen Einwand und drückte mir die Klamotten in die Hand.

„Einfach mal anprobieren“, befahl sie und zwinkerte mir zu. Ich seufzte, widersprach jedoch nicht, weil ich wusste, dass ich sowieso den Kürzeren zog. Ich schluckte, als ich in den Spiegel sah. Die Hose war verdammt eng. Das Oberteil war wirklich schön, nur leider konnten die Verzierungen nicht über mein A-Körbchen hinwegtrösten. Was soll's, dachte ich mir, ich kann es sowieso nicht ändern.

„Soll ich deine Haare hochstecken?“, fragte Tammy. Wenn sie einmal angefangen hatte, mich zu stylen, war sie kaum wieder zu bremsen. Vielleicht sollte sie das zu ihrem Beruf machen. Ich rümpfte die Nase.

„Nein, lieber nicht.“ Ich sah ihr die Enttäuschung sofort an, aber mir waren die Klamotten schon genug Veränderung für einen Abend.

„Dann lass mich wenigstens dein Make-up machen.“ Ich bereute es langsam schon wieder, ihr erzählt zu haben, dass ich mitging. Ich hätte einfach schweigen und Jesse mich abholen lassen sollen. Meine Nerven flatterten, sobald ich an ihn dachte. Wir hatten uns gestern nicht gesehen und nur kurz geschrieben. Er war arbeiten, in dem Plattenladen. Beatz hieß er. Ich hatte ihn schon mal gesehen, aber da ich keinen Plattenspieler besaß, hatte ich ihn noch nie betreten. Jesse hatte mir erklärt, dass es auch haufenweise CDs gab. Ich beschloss, ihn mal besuchen zu gehen.

„Aber nicht zu viel. Bitte. Ich will nicht aussehen, als wäre ich in einen Farbtopf gefallen“, schärfte ich meiner Schwester ein, die ihren Schminkkasten geholt hatte.

„Entspann dich. Ich mache es natürlich, okay?“
 

Als wir den Club betraten – glücklicherweise fragte mich keiner nach meinem Ausweis – wurde ich nervös. Ich rieb meine Hände an der schwarzen Lederhose, die mir plötzlich noch enger vorkam. Es war schon ganz schön voll. In den paar Wochen, in denen ich mich in mein Schneckenhaus verzogen hatte, hatte es wohl die Runde gemacht, dass Zero wieder auftrat. Tammy sah auf ihr Handy.

„Sie sind schon backstage“, sagte sie mir und während sie voranging, kam ich nicht umhin zu bemerken, dass sich vorne an der Bühne bereits eine beträchtliche Menge von Zuschauern drängte – hauptsächlich weibliche. Ich versuchte, das Ziehen in meinem Magen zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen darauf, meine Schwester in dem Getümmel nicht aus den Augen zu verlieren. Ich bemerkte die Blicke, die mir einige männliche Gäste zuwarfen. Ich hätte diese Hose wirklich nicht anziehen sollen. Plötzlich kam ich mir nackt vor. Aber jetzt war es zu spät, etwas daran zu ändern. Der Security öffnete sofort die Tür, als er Tammy sah. Da kam man sich schon ziemlich wichtig vor. Ich schenkte dem muskelbepackten Mann ein dankbares Lächeln und folgte meiner Schwester hinter die Bühne. Es waren nur Ezra, Kurt und Jesse da.

„Hey Leute“, kündigte Tammy uns an und umarmte sie einzeln. „Wo ist Brandon?“

„Kämpft noch mit seinen Haaren“, meinte Kurt und zeigte in Richtung Toilette. Meine Schwester ging sofort zu ihm, um ihm zu helfen.

„Lea. Schön, dass du da bist.“ Es wunderte mich ein wenig, das von Ezra zu hören, da ich mit ihm nicht besonders viel zu tun hatte und schielte kurz zu Jesse. Ich zuckte die Schultern.

„Ich wollte mir das nicht entgehen lassen“, sagte ich und wurde ebenfalls umarmt.

„Du siehst hübsch aus“, flüsterte Jesse mir ins Ohr, als ich auch ihn umarmte. Ich merkte, wie ich rot wurde. Wie sollte ich mich verhalten, hier, vor den anderen? Darüber hatte ich bisher nicht nachgedacht. Doch Jesse nahm mir die Entscheidung ab, als er seinen Arm um meine Schulter legte. Ich versteifte mich ein wenig, was Jesse jedoch nicht zu merken schien. Dafür sahen Kurt und Ezra stirnrunzelnd zwischen uns hin und her.

„Fred kommt heute zu Besuch, um sich seinen Nachfolger anzusehen.“ Ich war Kurt dankbar, dass er keinen Kommentar über mich und Jesse abließ, aber ich hatte Ezra vergessen.

„Moment mal. Habe ich da irgendwas verpasst? Ist es das, wonach es aussieht?“ Er zeigte zwischen uns hin und her und ich versuchte, die Röte zurückzuhalten, die langsam meinen Hals hinaufkroch.

„Wonach sieht es denn aus?“, fragte Jesse gelassen und zog mich noch enger an sich. Toll. Ich war hier wohl die Einzige, die sich irgendwie unwohl fühlte.

„Was sehen meine lieblichen Augen?“ Glücklicherweise unterbrach Ty uns in diesem Moment, als er durch die bewachte Tür trat. Ich nutzte die Gelegenheit, mich aus Jesses Umarmung zu befreien, unter dem Vorwand, Ty zu begrüßen. Ich war liebend gerne in Jesses Nähe, aber nicht, wenn uns dabei alle neugierig anstarrten. Ty beäugte mein Outfit und stieß einen leisen Pfiff aus.

„Lea, du siehst heiß aus.“ Ich murmelte ein Dankeschön. Mit Komplimenten konnte ich nicht besonders gut umgehen.

„Finger weg, Ty. Sie ist vergeben“, sagte Ezra mit hämischem Grinsen. Na toll. Ty sah mich erstaunt und neugierig an.

„An wen?“

Ezra ließ es sich nicht nehmen, ihm auch diese Information weiterzuleiten, indem er auf Jesse zeigte.

„Ist Jen eigentlich auch da?“, versuchte ich ein Ablenkungsmanöver, wurde aber ignoriert. Eigentlich hatte sie ja mit uns herkommen wollen. Doch sie war nicht aufgetaucht.

„Wann ist das denn passiert?“

„Wann ist was passiert?“, kam nun Brandons Stimme dazu. Er gesellte sich mit Tammy wieder zu uns. Oh nein, nicht meine Schwester. Ich wollte ihren skeptischen Blick nicht sehen und ihre Predigt nicht hören – mit der sie hoffentlich wartete, bis wir zuhause waren.

„Hi, Brandon“, versuchte ich nochmals, das Gespräch zu unterbrechen. Er winkte mir kurz zu.

„Na, die beiden.“ Ty zeigte auf Jesse und mich – ich hatte mich absichtlich nicht wieder direkt neben ihn gestellt. Ich beschloss, dass dies der richtige Moment war, um meine Augen auf den hässlichen schwarzen Boden zu heften.

„Wie, die beiden?“, fragte Tammy. Konnten wir nicht einfach über was anderes reden?

„Die zwei Turteltauben hier. Dein liebes Schwesterherz und unser Goldkehlchen.“ Ich biss mir auf die Lippe und nahm mir fest vor, diesen Spitznamen für Jesse im Gedächtnis zu behalten, sollte er mich nochmal Eisprinzessin nennen.

„Lea?“, hörte ich die ungläubige Stimme meiner Schwester. Ich atmete tief durch und beschloss, meine Schwester davon abzuhalten, mir hier eine Szene zu machen, weil sie mit der Wahl meines Freundes nicht einverstanden war.

„Tamara.“ Ich benutzte ihren vollen Namen, den eigentlich nur unsere Mutter in den Mund nahm, wenn sie ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Ich sah ihr fest in die Augen, entschlossen, nicht als Erste wegzusehen, sollte das ein Starrwettbewerb werden. Sie öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder und setzte auch nicht erneut an. Ich war erstaunt, wie einfach das war. Sie schielte kurz zu Jesse herüber und ich hoffte, dass er in ihrem Blick nicht dasselbe lesen konnte wie ich. Ty klatschte in die Hände.

„Okay. Zeit für den Auftritt. Macht euch fertig.“ Ich war mir nicht sicher, ob er die aufkommende dicke Luft bemerkt hatte, oder ob die Zeit wirklich drängte, jedenfalls war ich ihm sehr dankbar für die Unterbrechung.

„Viel Glück.“ Als Letztes blieb mein Blick an Jesse hängen und ich hätte ihn auch gerne umarmt und geküsst, so wie Tammy es gerade bei Brandon machte. Doch ich tat es nicht.
 

Ich ging mit Ty und meiner Schwester zurück in den Club. Der Auftritt war unglaublich. Sie waren viel besser als beim letzten Mal. Natürlich. Sie hatten inzwischen geprobt, sich eingespielt und aneinander gewöhnt. Jesse verhielt sich auf der Bühne, als wäre er dafür geboren. Ich versuchte, die weiblichen Groupies vorne an der Bühne zu ignorieren und auch, wie er ihnen zuzwinkerte. Es war nur eine Show, rief ich mir ins Gedächtnis, und schluckte die aufkommende Eifersucht herunter. Meine Zweifel wurden jedes Mal weggewischt, wenn er mich ansah und sich ein Grinsen auf seine Lippen schlich. Das ich diejenige war, die dies hervorrief, war für mich immer noch unverständlich, aber gleichzeitig gab es meinem Selbstbewusstsein einen gewaltigen Push. Ty holte uns Drinks, die ziemlich stark waren, aber ich konnte jetzt ein wenig Alkohol gebrauchen. Ich sollte mich entspannen und die Show einfach genießen, anstatt mir den Kopf zu zerbrechen. Tammy wartete erstaunlich lange, bis sie mich auf Jesse ansprach.

„Stimmt das?“, fragte sie nur. Sie musste sich nicht genauer erklären. Ich atmete tief durch, um Ruhe zu bewahren und nahm noch einen Schluck von dem Drink.

„Ja, es stimmt“, sagte ich schlicht. Sie sah mich einen Moment an, als würde sie mich nicht kennen und das versetzte meinem Herz einen Stich.

„Wie.. ich meine, seit wann?“ Ich warf einen kurzen Blick zur Bühne und zuckte die Achseln.

„Nicht lange.“ Sie sah mich stumm an und wollte mich dadurch zum Reden bringen, doch ich schwieg beharrlich.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust.“ Ich wurde wütend.

„Du kennst ihn doch gar nicht“, verteidigte ich Jesse, weil ich es satt hatte, wie sie ihn verurteilte. Mir war klar, dass ich vor ein paar Wochen noch genauso gedacht hatte, wie sie. Zum Glück konnte man seine Meinung immer ändern.

„Du hast Recht“, stimmte Tammy mir überraschenderweise zu. „Kennst du ihn denn?“

Besser als du, wollte ich sie angiften, doch sie hatte ja nicht ganz Unrecht. Ich wusste nicht viel über Jesse. Aber ich wusste, dass er so hilfsbereit war, mir Nachhilfe zu geben. Ich wusste, dass er der Einzige war, der Rob nicht verurteilte hatte, wegen seinem Lampenfieber. Ich wusste, wie sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen schlich, wenn er mit den Katzen im Tierheim spielte. Und ich wusste, dass er in der Kälte ausgeharrt hatte, als ich betrunken auf der Schaukel seines Bruders gesessen hatte.

„Ich vertraue ihm“, sagte ich und meinte es genauso. Tammy seufzte und schien sich geschlagen zu geben.

„Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist.“ Ich verdrehte die Augen. Sie musste nochmal nachsetzen und das letzte Wort haben, war ja klar.

„Ist gut“, sagte ich schlicht, weil ich wusste, dass sie sich letztendlich nur Sorgen machte und mich davor bewahren wollte, verletzt zu werden. In einem plötzlichen Impuls umarmte ich sie und sie wollte mich gar nicht mehr loslassen. Glücklicherweise endete das Lied in diesem Moment und ich konnte mich ihr unter dem Vorwand entziehen, begeistert Beifall zu klatschen.

Ich merkte langsam, wie mir der Kopf schwirrte und sah auf mein leeres Glas. Das musste starkes Zeug gewesen sein. Ich nahm mir fest vor, heute keinen Alkohol mehr anzurühren. Dass Jesse mich einmal sturzbetrunken erlebt hatte, reichte vollkommen. Nach einer Zugabe, die die Zuschauer vehement verlangten, kamen die Jungs von der Bühne und gesellten sich zu uns. Naja, Ezra und Kurt wurden direkt auf dem Weg von ein paar Mädels aufgehalten, die sie überschwänglich komplimentierten. Brandon kam sofort zu uns. Jesse machte noch einen kurzen Abstecher an die Bar und holte ein Tablett voll Shots. Er verteilte sie an alle, für jeden drei, und ich schluckte schwer. Er schien meinen Blick zu bemerken und legte wieder seinen Arm um meine Schulter.

„Möchtest du nicht?“, fragte er leise, während sich Tammy, Brandon und Ty lautstark über den Auftritt unterhielten. Ich schüttelte leicht den Kopf.

„Nein. Ich glaube, ich sollte heute nichts mehr trinken.“ Ich drehte mein leeres Glas zwischen den Händen. Er nahm zwei meiner Shots und stellte einen vor sich, den anderen vor Brandon.

„Nur einen? Zum Anstoßen?“ Ich wusste, er wollte mich nicht betrunken machen und er würde auch nicht weiter drängen, wenn ich Nein sagte. Aber wie sollte ich ihm widerstehen, wenn er mich so ansah und mir so nahe war? Ich war immer noch überwältigt, dass er seinen Arm um mich gelegt hatte, und nicht um eines der vielen Mädchen, die sich momentan mit Kurt und Ezra vergnügten.

„Hoch die Tassen“, forderte Brandon und wir alle hielten unsere kleinen Gläser über die Mitte des Stehtisches, um miteinander anzustoßen. Glücklicherweise war das rötliche Getränk ziemlich süß und brannte nicht in der Speiseröhre. Davon hätte ich tatsächlich noch mehr trinken können, aber es war klüger, meine Drinks den Jungs zu überlassen.

„Ich geselle mich mal zu den Fluten der Groupies“, sagte Ty, seine restlichen Shots in Händen. Ich fand es etwas seltsam, zusammen mit Jesse meiner Schwester gegenüberzustehen, die sich offensichtlich darum bemühte, uns nicht anzustarren. Mit Publikum kam ich mir noch unsicherer vor als sonst und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.

Brandon, Jesse und Tammy leerten ihr zweites Glas und ich hatte das Gefühl, dass ich vielleicht doch noch einen Shot brauchen würde, um mich zu entspannen. Ich nahm Jesse seinen vierten Shot wieder ab, wofür ich einen fragenden Blick erntete.

„Cheers“, sagte ich und wartete kaum, bis er mit mir angestoßen hatte, um den süßen Alkohol meine Kehle herunterzuschütten.
 

„Tanzen?“, fragte Tammy an Brandon gerichtet und er ließ sich ergeben mitziehen. Somit waren wir allein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das nun lieber war. Ich scannte mit meinen Augen den Club und beobachtete die Leute. Jesse legte eine Hand an meine Hüfte und ich bekam trotz der Hitze hier drin eine Gänsehaut.

„Möchtest du auch tanzen?“ Seine Lippen waren ganz dicht an meinem Ohr. Wollte ich? Keine Ahnung, mein Gehirn funktionierte nicht richtig, wenn er mir so nah war. Ich bewegte mich eigentlich gerne zu Musik, aber eher in meinem Zimmer - allein. Ich zuckte die Achseln und sah zu ihm auf und verdrehte mir dabei fast den Kopf, weil er eher hinter als neben mir stand.

„Weiß nicht. Willst du?“ Ich hatte keine Ahnung, ob Jesse tanzen konnte oder nicht. Er besaß natürlich Rhythmusgefühl und bewegte sich auf der Bühne zur Musik, aber das war etwas anderes.

„Ich tanze nicht. Aber ich würde dir dabei zusehen.“ Ein schelmisches Grinsen zierte seine Lippen.

„Das hättest du wohl gern“, lachte ich und hatte gleichzeitig keinen Zweifel, dass er das wirklich machen würde. Die Vorstellung, wie er jede meiner Bewegungen genau beobachtete, trieb mir die Röte ins Gesicht. Ich musste mir das wirklich abgewöhnen. Einerseits das Rotwerden, andererseits die Fantasien, die sich in letzter Zeit zu häufen schienen. Er küsste mein Haar und zog mich näher an sich. Jetzt stand ich direkt vor ihm und mein Rücken berührte seine Brust. Ohne weiter darüber nachzudenken, lehnte ich mich an ihn und genoss einfach das Gefühl, ihm nahe zu sein. Wie auf Stichwort wurde eine Ballade gespielt. Jesse ergriff meine Hände und verschränkte seine Finger mit meinen. Seine Wange streifte meine, als er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte.

„Sollen wir hier abhauen?“ Ich könnte zwar ewig so dastehen, aber bald würde wieder Partymusik ertönen. Und der Gedanke, den wachenden Augen meiner Schwester zu entschwinden, war sehr verlockend. Ich nickte stumm.

Wir nahmen ein Taxi und Jesse gab seine Adresse an. Ich wurde nervös, weil ich nicht wusste, was er vorhatte. Um mich abzulenken, schrieb ich Tammy eine SMS, damit sie sich keine Sorgen machte. Wahrscheinlich machte ihr aber genau das Sorgen, überlegte ich, nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte. Es war glücklicherweise eine kurze Fahrt und wir hatten einen redseligen Taxifahrer.
 

Im Haus brannte Licht. Irgendwie war ich froh darüber. Wenn jemand zuhause war, würde Jesse hoffentlich nicht auf dumme Gedanken kommen. Kaum hatten wir das Haus betreten, kam Lydia in den Flur.

„Jesse, du bist schon zurück?“, rief sie, während sie um die Ecke bog und staunte nicht schlecht, als sie mich erblickte.

„Lea, hi. Schön, dich zu sehen.“ Ich lächelte und erwiderte ihre Umarmung. Sie sagte zwar nichts, aber man merkte ihr an, dass sie definitiv niemals damit gerechnet hätte, mich hier anzutreffen. Ich konnte es ihr nicht verdenken.

„Wie war der Auftritt?“, fragte sie und ging in die Küche. Da Jesse ihr folgte, ging ich ebenfalls mit. Er lief sofort zum Kühlschrank und holte einen Riesenpottich Stracciatella-Joghurt heraus.

„Ganz okay. Adam zahlt gut.“ Ganz okay. Jesse hatte wohl keine Ahnung, wie gut er wirklich war. Oder er war einfach nur bescheiden.

Wohl eher Ersteres.

„Willst du auch?“, fragte er mit Blick auf mich und deutete auf das Joghurtglas. Ich schüttelte den Kopf, doch er nahm trotzdem zwei Löffel aus der Schublade.

„Ist Greg noch arbeiten?“ Was, so spät noch? Es war mindestens zehn. Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. Viertel vor elf. Lydia zog die Nase kraus.

„Ja. Wichtige Kunden. Blabla. Du weißt schon.“ Jesse lächelte sie kurz an und ich fand es ziemlich faszinierend, dem Gespräch zu lauschen. Jesse in seinem familiären Umfeld zu sehen war neu für mich. Er wirkte irgendwie viel entspannter. Nicht, dass er sonst in irgendeiner Weise angespannt war, aber ich war mir ziemlich sicher, bei mir zuhause wäre ich viel nervöser – vor allem, wenn meine Eltern dort wären. Naja, Lydia war schließlich nicht seine Mutter. Es würde mich interessieren, wie er sich seinen Eltern gegenüber verhielt.

„Helen hat vorhin angerufen.“ Etwas an der Art, wie Jesse für einen Moment innehielt, ließ mich vermuten, dass er nicht erfreut war über diese Information. Das, oder darüber, dass ich mithörte. Er fing sich aber schnell wieder und bevor er mir einen Blick zuwarf, schaute ich schnell weg und tat so, als würde ich das Gewürzregal studieren.

„Wann?“ Lydia wiegte den Kopf.

„So vor zwei Stunden“, antwortete sie.

„War es was Wichtiges?“

„Nein, alles in Ordnung. Ich habe ihr gesagt, dass du heute erst spät heimkommst. Du kannst sie morgen zurückrufen.“ Jesse nickte.

„Mach ich.“ Er drängte mich aus der Küche und Lydia rief uns ein Gute Nacht hinterher. Ich wurde beinahe rot und wünschte ihr synchron mit Jesse dasselbe. Gute Nacht. Blieb ich denn über Nacht? Ich hatte mich noch nicht entschieden. Aber dieses Problem schob ich beiseite, denn die viel wichtigere Frage war: Wer war Helen? Dem Gespräch war nichts Besonderes zu entnehmen gewesen. Sie könnte seine Mutter sein, oder eine andere Verwandte. Seine Chefin, oder Arbeitskollegin. Aber seine Reaktion beim Erwähnen ihres Namens machte mich misstrauisch. Sicher ging nur meine Fantasie mal wieder mit mir durch. Wenn Helen jemand wäre, von dem ich besser nichts wissen sollte, hätte Lydia sie niemals erwähnt.
 

In Jesses Zimmer sah es noch genauso chaotisch aus wie beim letzten Mal.

„Was hältst du von Heimkino?“, fragte Jesse und machte die Tür hinter uns zu. Er schloss nicht ab, was mich irgendwie beruhigte.

„Gibt's auch Popcorn?“, fragte ich rhetorisch und erinnerte mich an den Kinobesuch, der schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien.

„Ich dachte, du magst kein Popcorn.“ Als Antwort streckte ich ihm nur die Zunge raus. Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden vor ein Regal und wühlte darin herum. Ich gesellte mich zu ihm. Für einen Moment hatte ich Angst, dass die Hose reißen könnte, weil sie so eng war. Das wäre ziemlich peinlich. Doch der Hersteller hatte in kluger Voraussicht Elasthan in den Stoff miteingearbeitet.

„Irgendwelche bestimmten Wünsche?“, fragte er, während ich die Titel der DVDs überflog. Es waren nicht besonders viele, aber die Auswahl gefiel mir.

„Such du aus“, sagte ich, hauptsächlich, weil ich Jesses Geschmack testen wollte.

„Kennst du den?“ Er hielt mir ein mir bekanntes Cover vor die Nase.

„Ich liebe Good Will Hunting.“ Bei dem Film würde ich nicht Gefahr laufen, mich bei gruseligen Szenen zu erschrecken, oder wegen einem traurigen Ende zu heulen.

„Gut.“ Er stellte seinen Laptop auf den Schreibtisch, sodass wir vom Bett eine gute Sicht darauf hatten.

Das Bett... Ich studierte weiterhin seine kleine Filmsammlung, weil ich den Moment, bis ich mich auf die Matratze setzte, so lange wie möglich herauszögern wollte. Mein Handy klingelte und Tammys Name erschien auf dem Display. Ich wusste, es war einfacher, gleich ranzugehen, anstatt sie fünfmal wegzudrücken.

„Hey, was gibt’s?“ Ich hörte laute Musik im Hintergrund. Sie waren noch immer im Club.

„Hey, Lea. Wir fahren so in 'ner halben Stunde nach Hause. Sollen wir euch irgendwo abholen und mitnehmen?“ Ich schwieg einen Moment.

„Nein“, sagte ich dann schlicht.

„Wo seid ihr?“ War das ihr Ernst?

„Bei Jesse“, sagte ich. Wir warfen uns gleichzeitig einen Blick zu. Deine Schwester?, formte er mit dem Mund und ich nickte und verdrehte die Augen. Einige Sekunden herrschte Stille. Es hatte ihr wohl die Sprache verschlagen.

„Kommst du heute noch nach Hause?“ Wieso fragte sie nicht direkt, ob ich bei Jesse schlief – oder besser noch: mit ihm. Denn das war es, was sie eigentlich wissen wollte.

„Nein, wahrscheinlich nicht“, war die Antwort auf beide Fragen. Ich wusste genau, dass sie noch einen Kommentar abgeben wollte, doch sie überraschte mich und schwieg. Jesse winkte mich währenddessen zu sich und ich setzte mich neben ihn auf die Matratze. Nicht zu nah, aber auch nicht so weit weg, dass es wirkte, als würde ich Sicherheitsabstand halten. Tammy seufzte am anderen Ende der Leitung.

„Okay. Ich sag Mom Bescheid, damit sie sich keine Sorgen macht.“ Das war ärgerlich, weil sie mir dann hunderte von Fragen stellen würde und ich ihr letztendlich von Jesse erzählen musste, aber unvermeidlich.

„Okay. Danke.“ Ich legte auf, bevor sie ihre Meinung doch noch änderte und versuchte, mich zu überreden, mit nach Hause zu kommen. Ich schaltete das Handy gleich ganz aus, nur zur Sicherheit. Jesse sah mir amüsiert zu.

„Was sagt sie?“, wollte er wissen. Ich winkte ab.

„Nichts Wichtiges. Lass uns den Film ansehen.“ Jesse drückte auf Play und ich versuchte, es mir bequem zu machen. Diese Hose war definitiv nicht zum Rumlümmeln geeignet. Jesse reichte mir einen Löffel und öffnete das riesige Joghurtglas. Während dem Vorspann sah ich ihm unauffällig beim Essen zu. Hin und wieder aß ich auch etwas von dem Stracciatellajoghurt und sobald Matt Damon, Ben Affleck und Robin Williams über den Bildschirm flatterten, war ich vollkommen in den Film vertieft. Irgendwann legte Jesse seinen Arm um meine Schultern und ich lehnte mich reflexartig an ihn. Es kam mir vor, als wäre es schon immer so gewesen, so einfach zwischen uns. Dabei hatte es erst vor ein paar Tagen richtig angefangen. Ich genoss das Gefühl, sein Herz schlagen zu hören und zu spüren, wie sich seine Brust beim Atmen hob und senkte. Er zeichnete mit seinen Fingern kleine Kreise auf meinen Arm und lenkte mich damit ziemlich ab. Er lehnte seinen Kopf an meinen und ich befürchtete, vor Glücksgefühlen gleich zu zerspringen. Die entspannte Atmosphäre endete abrupt, als der Film vorbei war. Und was jetzt? Jesse schaltete den Laptop aus, während ich in dem beinahe leeren Joghurtglas herumstocherte, nur um etwas zu tun zu haben. Ich war ziemlich müde und ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als in Jesses Armen einzuschlafen. Aber wie sollte ich ihm klarmachen, dass für mich momentan nicht mehr drin war? Zumindest noch nicht. Ich ertappte ihn dabei, wie er seinen Blick über meinen Körper schweifen ließ und ignorierte die Hitze, die durch meine Adern schoss.

„Möchtest du was von mir zum Schlafen? Diese Hose sieht nicht gerade bequem aus.“ Ich räusperte mich. „Obwohl ich es liebe, wie sie an dir aussieht.“ Ich wollte ihn schon damit aufziehen, dass er selbst auch immer ziemlich enge Jeans trug, ließ es aber bleiben, weil ich meiner Stimme gerade nicht traute. Er grinste zufrieden und ich blieb stumm, weil ich mit Komplimenten nicht besonders gut umgehen konnte.

„Eine andere Hose wäre nicht schlecht“, gab ich zu. Jesse wühlte in seinem Schrank und zog eine graue Jogginghose heraus, die er mir reichte.

„T-Shirt?“, fragte er und ich nickte. Ich war ziemlich froh, dass er mir Wechselkleidung anbot und nicht davon ausging, dass wir in absehbarer Zeit gar keine Klamotten mehr anhatten.

„Wo ist das Bad?“, fragte ich.

„Direkt gegenüber.“
 

Ich starrte mich einige Sekunden im Spiegel an. Jesses Sachen waren mir viel zu groß. Sein T-Shirt sah an mir aus wie ein Zelt und die Jogginghose musste ich fest zuschnüren, damit sie nicht über meine schmale Hüfte rutschte. Der Stoff der Hosenbeine sammelte sich um meine Zehen, weil Jesse viel größer war als ich. Meinen BH hatte ich anbehalten, das Oberteil und die Hose zusammengelegt. Ich nahm mir die Freiheit, eine der auf dem Regal stehenden Cremes zu benutzen, um mich abzuschminken. So fühlte ich mich schon viel wohler. Ich fragte mich, wie ich Jesse besser gefiel. Ich atmete noch einmal tief durch und ging dann zurück in sein Zimmer. Er lag bereits im Bett, die Decke bis zum Bauchnabel hochgezogen, und scrollte durch sein Handy. Er beobachtete mich, als ich meine Kleidung auf den Stuhl legte.

„Darf ich?“, fragte ich und deutete auf den Plattenspieler. Ich wollte hauptsächlich Zeit schinden, und vielleicht würde mich die Musik auch ein bisschen beruhigen. Ein kurzer Blick auf Jesses Wecker verriet mir, dass es bereits kurz nach eins war. Ich war wirklich müde.

„Sicher.“ Ich zog wahllos einen Umschlag aus dem Stapel und legte die Platte auf. Ich mochte das Knacken, das am Anfang ertönte. Let's misbehave stand auf der Scheibe, die sich nun unaufhaltsam drehte und begann, Töne zu erzeugen. Ich fragte ihn, ob er die gesamte Sammlung aus dem Laden hatte, in dem er arbeitete.

„Nein. Die meisten sind von meinem Vater.“ Ich setzte mich auf die Bettkante und wartete, ob er noch mehr sagen würde, aber er schwieg und legte sein Handy weg. Ich wollte ihn fragen, was zwischen ihm und seinen Eltern falsch gelaufen war, dass er nun bei seinem Bruder wohnte. Aber ich hatte das Gefühl, jetzt wäre nicht der richtige Zeitpunkt, um das Thema anzusprechen. Jesse hob die Decke ein wenig an und klopfte auf den leeren Platz neben sich.

„Komm her.“ Ich folgte seiner Anweisung und legte mich neben ihn. Ich starrte eine Weile stur an die Decke und versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Sie half nicht wirklich.

„Lea?“ Mir fiel wieder einmal auf, wie sehr ich seine Stimme mochte.

„Hm?“ Ich drehte den Kopf zur Seite und sah direkt in seine grünen Augen. Er lächelte. „Was ist?“, fragte ich, weil ich das Gefühl hatte, einen Witz verpasst zu haben. Sein Lachen wurde noch breiter und er biss sich auf die Lippe, um es zu verschleiern.

„Hattest du schon mal einen Freund?“ Natürlich. Zwei sogar. Den letzten, als ich fünfzehn war. Aber das war nicht die eigentliche Frage. Ich wusste genau, worauf er hinauswollte, und ich war dankbar, dass er die Worte nicht in den Mund nahm, weil ich sonst knallrot angelaufen wäre. Es hatte da einen Typen gegeben, der mich entjungfert hatte, kurz nachdem Natalie weg war und ich in meine erste Depression gestürzt war. Ich hatte getrunken und erinnerte mich an nicht besonders viel. Nur daran, dass es mir nicht gefallen hatte. Seitdem war ich nicht mehr besonders scharf auf Sex.

„Nicht wirklich“, erwiderte ich.

„Dachte ich mir schon“, sagte er und ich runzelte die Stirn.

„Was soll das denn heißen? Dass mich eh keiner haben will?“ Es rutschte mir einfach so heraus und ich bereute die Worte sofort. Ich biss mir auf die Zunge und schloss für einige Sekunden die Augen. Ich spürte Jesses Hand, die über meine Wange strich.

„Nein, so habe ich das ganz bestimmt nicht gemeint.“ Ich wollte keine Zicke sein, und ich wollte auch nicht so unsicher sein, aber zumindest zweiteres war nicht so einfach umzusetzen.

„Tut mir Leid“, flüsterte ich und öffnete meine Augen wieder. Ich nahm seine Hand und fuhr mit meinen Fingern die Tattoos nach, die sich über seinen Arm verteilten. Ich mochte den Anker, der in der Mitte seines Unterarms prangte.

„Gibt es einen Grund dafür, dass deine Schwester so einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hat?“, fragte Jesse, während er mir zusah, wie ich über die Tinte auf seiner Haut strich. Ich war froh über den Themenwechsel.

„Es ist dir also aufgefallen, ja?“ Natürlich war es ihm aufgefallen. Meine Schwester war nicht gerade gut darin, ihre Sorge für mich zu verbergen. „Sie ist nur so, weil...“ Wenn ich jetzt anfing, ihm die Wahrheit zu sagen, würde eine Frage die andere jagen und dann würde Jesse zwangsläufig klar werden, dass ich ein einsamer Freak mit einem psychischen Knacks war. „Auf der Party, als ich auf dem Balkon war... Du weißt schon.“ Als ich dich gestalkt habe, fügte ich in Gedanken hinzu. „Ich bin gegangen, ohne irgendwem was zu sagen. Das hat sie in Panik versetzt.“ Ich hatte keine Ahnung, ob ihn das überzeugte, also setzte ich zur Sicherheit noch nach. Außerdem war es ja nicht wirklich gelogen. Es war eben nur ein winzig kleiner Teil der Wahrheit.

„Und als wir dann hier waren, bei der Einweihungsparty, und ich mich völlig betrunken habe...“ Jesse grinste.

„Ja, daran erinnere ich mich.“ Ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, weil es mir noch immer peinlich war.

„Das hat ihr, glaube ich, den Rest gegeben. Sie vertraut einfach nicht darauf, dass ich selbst auf mich aufpassen kann.“ Womit sie ja auch irgendwie Recht hatte. Jesse schob einen Arm unter meinen Kopf und ich ließ mich gerne von ihm näher an sich ziehen. Mein Ohr ruhte auf seiner Brust, sodass ich sein Herz schlagen hören konnte.

„Dann passe ich ab jetzt auf dich auf“, flüsterte er in mein Haar.

Die Bombe

Als ich aufwachte, musste ich mich erst mal orientieren. Ich blinzelte mehrmals. Wo war ich? Da fiel es mir wieder ein. Oh. Ich war bei Jesse. Ich drehte mich langsam um, darauf bedacht, ihn mit meiner Bewegung nicht zu wecken. Doch das Bett war leer. Mein Kopf pochte ein wenig vom gestrigen Alkoholkonsum, aber es war erträglich. Wo war Jesse? Ich richtete mich auf und strich mein wirres Haar glatt. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte an, dass es erst kurz nach acht war. Ich ließ mich seufzend wieder in die Kissen fallen und zog die Decke über den Kopf. Alles roch nach Jesse. Daran könnte ich mich gewöhnen. Apropos Geruch. Ich hielt meine Hand vor den Mund und schnupperte an meinem Atem. Was, wenn Jesse gleich hier reinkam und ich Mundgeruch hatte? Es war zwar nicht so schlimm, trotzdem fischte ich schnell nach meiner Handtasche und stopfte mir gleich zwei Kaugummis in den Mund. Danach entspannte ich mich und ließ mich zurück auf die Matratze sinken. Meine Hand fuhr über die Delle, die Jesses Kopf in den Daunen hinterlassen hatte. Noch immer konnte ich nicht glauben, wirklich in seinem Bett zu liegen. Wenn das ein Traum war, wollte ich, dass er niemals endete. Als ich Schritte auf dem Flur hörte, nahm ich schnell ein Taschentuch und wurde den Kaugummi wieder los und als die Tür aufging, überlegte ich einen Moment, ob ich mich schlafen stellen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Ich schob die Decke gerade so weit zurück, dass ich über den Stoff Jesse ansehen konnte, der mich angrinste.
 

„Schon wach?“ Ich schüttelte entschieden den Kopf. Sein Haar war nass und tropfte auf sein T-Shirt. Er hatte geduscht.

„Bist du Frühaufsteher?“, fragte ich.

„Eigentlich nicht. Aber ich konnte nicht schlafen.“ Er setzte sich auf die Bettkante und zog die Decke weiter zurück, sodass ich mich nicht mehr darunter verstecken konnte.

„Hab' ich geschnarcht?“, fragte ich schuldbewusst, obwohl ich normal nicht der Schnarchtyp war. Jesse schüttelte den Kopf. Hatte ich vielleicht im Schlaf geredet? Ich konnte mich an keinen Traum erinnern, ich hatte geschlafen wie ein Stein. Ich drehte mich auch oft im Schlaf. Hoffentlich hatte ihn das nicht wachgehalten. Er strich mir eine verirrte Strähne hinters Ohr.

„Hast du gut geschlafen?“ Ich nickte nur und räusperte mich, um meine Stimme zurückzugewinnen.

„Wie ein Murmeltier“, sagte ich und richtete mich auf. Mein Blick verfing sich in Jesses nassen Haaren und den Tropfen, die sich an den Spitzen sammelten.

„Ich hatte eigentlich Frühstück im Bett erwartet“, sagte ich, hauptsächlich, um mich davon abzuhalten, ihn weiter anzustarren. Das Knistern zwischen uns war beinahe greifbar. Jesse grinste und beugte sich vor, sodass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten.

„Wie wär's, wenn wir gleich mit dem Nachtisch anfangen?“ Ohne Vorwarnung drehte er den Kopf und biss mir sanft in den Hals. Mir entfuhr ein erschrockener Laut, der in ein Keuchen überging, als seine Lippen meinen Hals hinaufwanderten und ich zu überrumpelt war, in irgendeiner Weise zu reagieren. Er strich mein Haar zurück, damit er besseren Zugang zu meiner Haut hatte. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, bis seine Lippen sich zu meinen vorarbeiteten. Damit konnte ich umgehen. Etwas stürmischer, als ich eigentlich geplant hatte, erwiderte ich seinen Kuss und vergrub meine Finger in seinem nassen Haar. Ich konnte spüren, wie Jesse an meinen Lippen lächelte. Adrenalin schoss durch meine Adern und während mein Kopf mich dazu drängte, mich zurückzuhalten, sagte mein Körper etwas völlig anderes. Jesse rutschte in einer fließenden Bewegung näher, schlang einen Arm um mich und drückte mich langsam in die Kissen. Er zügelte unseren unkontrollierten Kuss ein wenig und nahm schließlich den Kopf so weit zurück, dass er mir in die Augen sehen konnte.
 

„Wenn du im Bett essen willst, sollst du dein Frühstück bekommen.“ Ein breites Grinsen lag auf seinen Lippen und er wackelte verführerisch mit den Augenbrauen. Mein Magen zog sich zusammen. So hatte ich das nicht gemeint. Ich dachte, wir hätten das gestern geklärt. Vielleicht hatte ich ihm auch falsche Signale gesendet, als ich ihm gerade um den Hals gefallen war. Ich schluckte schwer. Jesse löste sich vollkommen von mir und stand auf.

„Gibt es irgendwas, was du nicht magst?“, fragte er. Woher sollte ich das denn wissen?

„Vegetarier, richtig? Also kein Fleisch. Wie steht's mit Eiern?“ Mein Gehirn brauchte eine Weile, bis es kapierte, dass Jesse tatsächlich von Essen sprach. Ich konnte nicht leugnen, etwas enttäuscht zu sein.

„Ich bin Vegetarier, kein Veganer. Ja, ich mag Eier.“ Er grinste breit bei meinen Worten und ich zog mir die Decke über den Kopf. Er dachte genauso zweideutig wie ich.

„Das ist schön zu hören“, sagte er und ich hörte an seiner Stimme, dass er sich ein Lachen verkneifen musste.

„Lieber Rühr- oder Spiegelei?“ Ich schüttelte den Kopf unter der Decke.

„Mir egal. Mach, wie du willst.“ Er lachte noch immer.

„Okay. Bin gleich wieder da.“ Sobald er die Tür hinter sich geschlossen und ich mich etwas beruhigt hatte, wurde mir erst bewusst, wie aufmerksam es von ihm war, mir tatsächlich Frühstück ans Bett zu bringen. Ich versuchte, einzuschätzen, wie lange die Zubereitung der Eier brauchen würde. Die Vorstellung, länger als eine Viertelstunde von ihm getrennt zu sein, gefiel mir gar nicht. Es war erschreckend, wie sehr ich mich danach sehnte, auch nur im selben Raum wie Jesse zu sein. Das konnte nicht gesund sein. Ich musste mich dazu zwingen, mich nicht völlig in dem Gedanken an ihn zu verlieren. Er hatte zwar gesagt, er wolle mit mir zusammen sein, aber es war unmöglich, dass er dieselben starken Gefühle für mich hegte, wie ich für ihn. Das machte mir nichts. Es genügte mir schon, Zeit mit ihm zu verbringen, in seiner Nähe zu sein.
 

Die Tür wurde aufgerissen.

„Hey, Jesse. Hast du schon- oh. Tut mir Leid!“ Betty schloss die Tür genauso schnell wieder, wie sie sie geöffnet hatte. Mein Herz raste. Das war ziemlich peinlich gewesen. Sie überlegte es sich anscheinend jedoch anders, denn sie kam erneut herein. Ich setzte mich auf und zog mir gleichzeitig die Decke über die Schultern. Betty musste ja nicht unbedingt sehen, dass ich Jesses Kleidung trug. Das könnte sie falsche Schlüsse ziehen lassen. Wem machte ich hier eigentlich was vor? Ich lag in seinem Bett!

„Lea?“, fragte sie ungläubig und musste sich offensichtlich Mühe geben, dass ihr die Kinnlade nicht herunterfiel.

„Hey“, sagte ich und hoffte, nicht rot anzulaufen. Ihre überraschte Miene bewies mir nur einmal mehr, wie absurd es war, dass ich tatsächlich hier war, in Jesses Zimmer, in seinem Bett.

„Wo ist Jesse?“, wollte sie wissen, genauso sprachlos wie ich. Ich räusperte mich, damit meine Stimme nicht allzu piepsig klang.

„In der Küche.“ Seine Schwester sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, besann sich jedoch eines Besseren und schloss mit einem Lächeln und entschuldigendem Schulterzucken die Tür hinter sich. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie das erste Mal gesehen hatte. Als die beiden die Treppe gemeinsam hinaufgestiegen waren. Damals war ich eifersüchtig auf sie gewesen. Da hatte ich auch noch nicht geahnt, dass sie verwandt waren.
 

Ich wartete noch zehn Minuten, doch als Jesse nicht zurückkam, beschloss ich, mich anzuziehen, schnappte mir meine Sachen und huschte ins Bad. Wohnte Betty auch bei Greg, wenn sie so früh schon hier war? Jesse hatte nichts dergleichen erwähnt. Ich stieg die Treppen hinunter, nachdem ich seine Klamotten sorgfältig gefaltet auf den Stuhl gelegt hatte, und hörte mehrere Stimmen aus dem Wohnzimmer. Ich warf trotzdem zuerst einen Blick in die Küche. Ein halb gefüllter Teller stand auf der Arbeitsplatte, bestückt mit Rührei und Tomaten. So viel zu meinem Frühstück im Bett. Jesse war jedoch nicht zu sehen und ich überwand mich, ins Wohnzimmer zu gehen, in dem Greg und Lydia mit zwei Erwachsenen redeten. Waren das ihre Eltern? Vom Alter würde das hinkommen. Ich konnte jedoch keine Ähnlichkeit erkennen, weder bei der dunkelblonden Frau, die gerade über etwas lachte, das Greg gesagt hatte, noch dem etwas mürrisch wirkenden Mann, dessen Haar begann, an manchen Stellen auszudünnen. Allerdings hatten Greg, Betty und Jesse auch nicht gerade viel miteinander gemein – äußerlich zumindest.
 

Betty und Jesse saßen hinter dem Sofa und waren mit irgendwas schwer beschäftigt. Ich hörte Betty leise Murmeln. Niemand bemerkte mich. Ich trat ein paar Schritte in den Raum hinein und konnte nun sehen, was sie taten. Betty hielt ein großes buntes Buch und las daraus vor, während Jesse sein Kinn auf dem Schopf eines kleinen blonden Mädchens ruhen ließ, das auf seinem Schoß saß und sich an ihn lehnte, ihre volle Aufmerksamkeit auf das Buch gerichtet. Sie war unglaublich süß. Ich schätzte sie auf drei oder vier Jahre. Ihre kleinen Hände lagen auf Jesses, der seine Arme um sie geschlungen hatte. Ich dachte, er hätte keine weiteren Geschwister? Hatte er das nicht selbst zu mir gesagt? Vielleicht gehörte die Kleine ja auch zu dem Paar, das noch immer in ein Gespräch mit Greg und Lydia verwickelt war.

Da fiel mir die Schaukel im Garten ein. Also hatte Greg doch Kinder. Die Vorstellung von Jesse als Onkel ließ mich schmunzeln. Bei dem Anblick, den die beiden zusammen boten, verzieh ich ihm sofort, dass er mich einfach vergessen zu haben schien. Das kleine Mädchen mit dem langen glatten Haar lachte über irgendwas in der Geschichte und alle drehten die Köpfe, ein Lächeln auf den Lippen.

„Lea. Du bist schon wach“, hallte Lydias Stimme zu mir herüber. Ich sah noch, wie Jesses Kopf erschrocken hochfuhr, bevor ich mich seiner Schwägerin zuwandte. Sollte er ruhig ein schlechtes Gewissen haben, dass er mich da oben vergessen hatte – auch wenn ich ihm nicht wirklich böse war. Und wenn er mich gar nicht vergessen hatte? Wenn er mich absichtlich nicht geholt hatte? Wollte er mich vor irgendwem verstecken?

„Morgen“, sagte ich und stellte mich zu Lydia, die sofort einen Arm um mich legte. Sie war ein so herzlicher Mensch. Man konnte gar nicht anders, als sie zu mögen. Das mir unbekannte Paar sah mich prüfend an. Sie mussten einfach die Eltern sein. Vielleicht auch Lydias Eltern?

„Das sind Pete und Helen.“ Bei dem Namen klingelte etwas. Natürlich. Lydia hatte gestern ihren Anruf erwähnt.

„Hallo“, sagte ich freundlich, reichte ihnen jedoch nicht die Hand, weil sie nicht so wirkten, als würden sie sie ergreifen.

„Das ist Lea, Jesses Freundin“, stellte Lydia mich vor und ich tat mein Bestes, nicht rot zu werden. Wir alle warfen Jesse einen Blick zu. Er beobachtete uns, schenkte seine Aufmerksamkeit jedoch wieder dem kleinen Mädchen, als sie ihre Arme streckte und an seinen Haaren zog, damit er ihr zuhörte. Ich kam mir plötzlich unerwünscht vor. Mochten seine Eltern mich nicht? Sie kannten mich ja gar nicht.

„Interessant“, sagte der Mann mit dem dünnen Haar nur und sah mir nicht in die Augen. Seine Frau schien freundlicher gestimmt zu sein, denn sie stieß dem Mann – Pete – ihren Ellbogen in die Seite und lächelte mich an.

„Und, Lea, wie lange kennen Sie Jesse schon?“ Ich schluckte und war froh, dass sie mich fragte, wie lange wir uns kannten und nicht, wie lange wir schon zusammen waren. Obwohl sie damit wahrscheinlich dasselbe meinte.

„Etwa ein halbes Jahr“, sagte ich. Kannten wir uns tatsächlich schon so lange? Nicht, dass wir uns in der ersten Zeit besonders oft gesehen hätten, geschweige denn unterhalten.

„Und Sie kommen damit klar?“, fragte Pete. Ich fand es befremdlich, gesiezt zu werden. Womit sollte ich klarkommen? Mit Jesse? Mein Herz begann, heftig zu schlagen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass mir eine wichtige Information fehlte. Hatte ich irgendwas verpasst, irgendein Detail übersehen? Mein erster Gedanke war, dass Jesse irgendeine Krankheit hatte, von der er mir nichts erzählt hatte. Mein Magen zog sich zusammen. Aber er sah kerngesund aus.

„Pete, ich glaube nicht-“, versuchte Lydia die Situation zu retten, doch der Mann überging sie einfach.

„Er hat es Ihnen nicht gesagt, oder?“ Er hatte seine Stimme erhoben und alle sahen ihn an, nur ich nicht. Ich sah Jesse an, der sich nun erhob, die Kleine auf dem Arm.

„Was gesagt?“ Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich musste fragen. Wenn mit Jesse irgendwas nicht stimmte, wollte ich es sofort wissen, bevor ich meine Gefühle für ihn gar nicht mehr unter Kontrolle hatte.

„Pete“, sagte Helen mit beschwörender Stimme und wollte ihn wohl zum Schweigen bringen. Aber ich wollte nicht, dass er schwieg. Ich wollte endlich wissen, was los war.
 

„Lea.“ Ich war überrascht, als Jesse zu sprechen begann. Er wollte die Situation wohl entschärfen, aber ich wollte im Moment wirklich nichts anderes, als die Wahrheit erfahren. Warum hatte er nie was gesagt? Er kam um das Sofa herum und die kleine Schönheit in seinen Armen sah mich neugierig an.

„Darf ich dir Kelly vorstellen?“ Kelly? Irgendwie kam mir der Name bekannt vor. Die Kleine lächelte schüchtern und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Meine Tochter.“

Eiseskälte

Was? Blut rauschte in meinen Ohren. Ich war mir der Blicke, die auf mir ruhten, durchaus bewusst. Doch ausnahmsweise war mir das völlig egal.

„Deine...“ Ich konnte nicht sprechen. Wie sollte ich auch? Es kam mir vor, als hätte Jesse gerade eine Bombe platzen lassen.

„Kelly, das ist Lea.“ Kelly sah mich aufmerksam an, blieb aber stumm. Ich wollte etwas Nettes sagen, ihr erklären, dass ich sie nur anstarrte, als wäre sie ein Alien, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich auf diese Eröffnung reagieren sollte. Seine Tochter. Tochter! Mir drängte sich zwangsläufig der Gedanke auf, wenn das sein Kind war, wo war dann die Mutter dazu? Mir drehte sich der Magen um. Hatte Jesse es etwa nicht für nötig gehalten, mir zu sagen, was ich unbedingt hätte wissen müssen? Er studierte mein Gesicht, wollte meine Reaktion einschätzen, aber mir waren alle Gesichtszüge entglitten.

„Hallo, Kelly“, sagte ich wie ein Roboter. Die Kleine konnte schließlich nichts dafür, dass ihr Vater ein Arschloch war.
 

Ohne ein weiteres Wort, und ohne Jesse in die Augen zu sehen, drehte ich mich um und eilte aus dem Haus. Niemand folgte mir und ich war froh darüber. Nein. Ich wünschte, mir würde jemand folgen. Und mir die ganze Situation erklären. Oder mir sagen, dass ich das alles nur falsch verstanden hatte, dass alles in Ordnung war.

Meine Tasche! Meine Tasche war noch da drin. Ich hielt einen Augenblick inne, beschloss dann jedoch, nicht um alles in der Welt zurückzugehen. Mein Handy war in der Tasche, mein Geldbeutel und meine Schlüssel. Aber gerade schien mir das nicht wichtig genug, um kehrtzumachen. Absolut gar nichts konnte mich zum Umkehren bewegen.

Im Laufschritt ging ich die Straße hinunter, ohne darauf zu achten, wo ich hinlief. Ich wusste sowieso nicht, wie ich von hier nach Hause kommen sollte. Die grobe Richtung, ja, aber wie lange würde ich laufen müssen für eine Strecke, bei der man mit dem Auto eine Viertelstunde benötigte? Zwei Stunden? Wenn ich mich nicht verlief...
 

Als mich eine Passantin schockiert ansah und fragte, ob alles in Ordnung war, nickte ich nur und ging einfach weiter. Konnte man mir jetzt schon ansehen, was für eine Idiotin ich war? Da wurde mir erst bewusst, dass ich weinte. Die Tränen flossen in Strömen meine Wangen herunter. Ich konnte gar nicht genau sagen, wieso. War ich traurig? Oder sauer auf Jesse, sauer auf mich? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem zusammen. Wind kam auf und mir fiel auf, auch meine Jacke im Haus gelassen zu haben. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und fröstelte. Zumindest hatte ich mich umgezogen, sonst würde ich jetzt in Jesses Klamotten durch die Straßen irren, sein Geruch an mir klebend. Mein Magen zog sich zusammen. Ich wollte nicht an ihn denken. Aber die Augen des kleinen Mädchens, die seinen so ähnlich waren, verfolgten mich. Kelly. Ich hatte den Namen schon mal gehört. Ich durchforstete meine Erinnerungen nach einem Hinweis auf sie. Hatte er sie mal erwähnt?
 

Da fiel mir unser Besuch im Fastfoodrestaurant wieder ein, nach dem ersten Gig, den Jesse mit Zero gespielt hatte. Der Abend, an dem er mich gezwungen hatte, ihn um Hilfe zu bitten. Wieso hatte er das damals getan? Es schien, als wäre er inzwischen eine andere Person. Aber wenn ich ehrlich mit mir war, kannte ich ihn genauso wenig wie vorher. Ein Besuch beim Tätowierer und eine Billardrunde machten uns nicht zu Seelenverwandten. Auch wenn ich mir das vielleicht wünschte. Lächerlich. Das war die einzige Beschreibung, die mir einfiel, wenn ich an meine Gefühle für Jesse dachte. Wieso hatte ich mich überhaupt in ihn verliebt?

Auch wenn ich versuchte, mich in meine Wut hineinzusteigern, musste ich nur daran denken, wie Jesse ausgesehen hatte, das kleine Mädchen auf seinem Schoß, als würde sich die Welt nur um sie beide drehen, und schon verpuffte der Ärger. Damals hatte er erwähnt, dass er sie vermisste, weil sie gerade im Urlaub war. Warum war er nicht mitgegangen? Er war schließlich der Vater, niemand sonst. Und wer war Kellys Mutter?
 

„Lea.“ Bettys Stimme drang kaum zu mir vor. Sie musste mehrmals rufen, bis ich tatsächlich realisierte, dass sie hier war. Ich drehte den Kopf. Sie fuhr in Jesses Wagen neben mir her, das Fenster heruntergekurbelt.

„Lea, bitte bleib stehen. Lass uns reden.“ Diese Worte hätte ich mir von Jesse gewünscht. Ich hatte trotz allem irgendwie gehofft, er käme mir hinterher und würde mir alles erklären, mir versichern, das alles nur ein Missverständnis war.

„Lea, bitte warte.“ Ich hielt so abrupt an, dass Betty mit dem Auto ein paar Meter vor mir stehen blieb. Sie stieg aus und eilte um den Wagen herum.

„Bist du okay?“ Sie sah aus, als wollte sie mich umarmen und würde sich nicht trauen. Wieso war sie überhaupt hier? Sie war Jesses Schwester. Sollte sie da nicht zu ihm halten, statt zu mir? Naja, es war ja nicht so, dass wir uns gestritten hatten; ich war einfach weggelaufen. Eigentlich war das ziemlich kindisch, aber es könnte mich im Moment nicht weniger interessieren.

„Wer ist ihre Mutter?“ Es schoss einfach aus mir heraus. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Dabei war das eine völlig sinnlose Frage. Ich kannte keine Mädchen – oder Frauen – aus Jesses Bekanntenkreis. Zumindest keine, die in Frage kämen. Mir fiel die Blondine aus dem Garten ein. Die Haarfarbe würde schon mal stimmen. Mir wurde schlecht. Jesse war dunkelblond, beinahe brünett, von ihm konnte Kelly die blonden Haare nicht haben. Betty biss sich auf die Lippe, sah zu Boden und steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Ich dachte, du wolltest reden?“ Mir tat sofort Leid, dass ich so ruppig zu ihr war, schließlich konnte sie nichts für ihren Bruder, aber ich hatte gerade nicht die Energie, mich zu entschuldigen. Betty rang mit sich, ob sie es mir sagen sollte.

Los, wollte ich sie drängen, spuck's schon aus.

In meinem Kopf brauten sich bereits die wildesten Fantasien zusammen. Möglicherweise war diese Blondine tatsächlich Kellys Mutter, und sie und Jesse steckten in einer On-Off-Beziehung. Oder Jesse führte ein Doppelleben und seine Freundin wusste genauso wenig von mir, wie ich von ihr. Oder er stand auf ältere Frauen und er hatte das Kind mit Helen gezeugt. Das würde erklären, warum sie hier war, zur gleichen Zeit, als Kelly auftauchte. Aber wer war dann Pete?

„Sie ist tot.“
 

Oh. Mir entglitten alle Gesichtszüge. Ich schlug die Hand vor den Mund.

„Tut mir Leid.“ All meine Wut und all die dummen Gedanken verpufften innerhalb von Sekunden. Zurück blieb nur Schuldgefühl und die Gewissheit, mich total zum Deppen gemacht zu haben. Ich wollte sofort zurück zu Jesse und mich bei ihm entschuldigen. Doch wie konnte ich ihm je wieder unter die Augen treten? Ich schämte mich in Grund und Boden.

„Es tut mir so Leid“, hauchte ich erneut und Betty schloss mich in ihre Arme. Ich spürte heiße Tränen aufkommen und blinzelte sie weg.

„Du bist eiskalt.“ Betty rieb mir über die Arme und nickte Richtung Auto.

„Komm, fahren wir zurück.“ Ich zögerte.

„Ich weiß nicht... Ich komme mir so dumm vor.“ Betty schüttelte den Kopf, während sie mich zum Wagen bugsierte.

„Du konntest das doch nicht ahnen. Außerdem hätte er es dir auch schonender beibringen können.“ Jesses Schwester lachte. „Manchmal ist Jesse echt ein Idiot. Ich glaube, er wollte nur sehen, wie du reagierst.“ Ich begrüßte die Wärme im Auto.

„Also war das ein Test?“, fragte ich und klemmte meine Hände zwischen meine Beine, damit sie etwas aufwärmten. Betty wiegte den Kopf.

„Vielleicht. So was in der Art.“ Ich seufzte.

„Dann habe ich wohl nicht bestanden“, murmelte ich und lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe, noch immer beschämt von meiner Reaktion. Betty stupste mich.

„Hey. Du sitzt hier im Auto und fährst mit mir zurück. Mehr kann er nicht von dir verlangen. Er hat wohl eher erwartet, dass du bei Kellys Anblick die Flucht ergreifst und nie wiederkommst.“ Ich sah sie stirnrunzelnd an.

„Ich habe ja auch die Flucht ergriffen.“ Wir schwiegen einige Sekunden.

„Aber ich bin nicht vor Kelly weggerannt. Ich dachte nur, wenn er ein Kind hat, hat er auch eine Freundin.“ Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. „Was ist mit ihr passiert?“, fragte ich und hatte gleichzeitig Angst vor der Antwort. Ich hatte Kellys Mutter nie getroffen, und würde es auch nie, aber die Vorstellung, dass die Kleine ohne ihre leibliche Mutter aufwachsen musste, machte mich sehr traurig.

„Sie ist bei der Geburt gestorben.“ Also hatte Kelly ihre Mutter niemals kennengelernt. Ich wischte mir verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Manchmal hasste ich es, so emotional zu sein.

„Das tut mir Leid“, sagte ich zum wiederholten Mal. Aber ich konnte es nicht oft genug sagen. Ich befürchtete nur, Jesse gegenüber kein Wort herauszukriegen.

Schneller, als mir lieb war, standen wir vor Gregs Haus. Ich wollte da nicht wieder rein. Seltsamerweise kamen mir als erstes Pete und Helen in den Sinn.

„Sind Pete und Helen...“, ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, doch ich glaubte, die Antwort bereits zu wissen.

„Ihre Eltern? Ja.“ Sie mussten mich hassen. Angespannt starrte ich das Haus an. Konnte ich da wirklich wieder reingehen?

„Wenn du willst, kann ich dir auch deine Sachen holen und dich nach Hause fahren“, bot Betty an. Doch ich merkte ihr an, dass sie hoffte, ich würde mitkommen. Ich wollte ihr Angebot annehmen, nach Hause fahren und mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Aber das heutige Maß für falsche Entscheidungen war bereits voll. So schwer es mir auch fiel, ich konnte nicht einfach wieder wegrennen. Also schüttelte ich entschieden den Kopf.

„Nein. Ich komme mit rein.“ Dafür erntete ich von Betty ein dankbares Lächeln. Bevor ich ihr folgte und aus dem Auto stieg, atmete ich tief durch. Ich überlegte, was ich zu Jesse sagen sollte, wie ich ihm erklären konnte, dass es mir Leid tat und ich mich wie eine Idiotin verhalten hatte. Sobald wir die Tür öffneten, kam uns Lydia schon entgegen. Als sie mich sah, seufzte sie erleichtert. Ich wurde jedoch immer nervöser. Jesse nach meiner Flucht wieder unter die Augen zu treten, war definitiv das Schwerste, was ich seit langem getan hatte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, was mir nicht so leicht fiel, weil ich am ganzen Körper zitterte.
 

„Sie sind gegangen“, sagte Lydia. Mir war sofort klar, wen sie damit meinte. Ich schluckte schwer. Auch wenn ich erleichtert war, mich nicht auch noch vor Pete und Helen verantworten zu müssen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie vergrault hatte. Hatten sie Kelly mitgenommen? Ich hoffte nicht. Ansonsten hätte ich Jesse die Zeit mit seiner Tochter geraubt. Seiner Tochter... Der Gedanke war noch immer befremdlich.

Im Wohnzimmer saßen Greg und Jesse auf dem Sofa. Kelly zwischen ihnen.

„Seht mal, wer da ist“, sagte Lydia und machte es mir somit unmöglich, den Rückwärtsgang einzuschalten. Jesse sah mich schweigend an. Ich konnte nicht sagen, ob er erfreut über meine Rückkehr war. Vielleicht hatte Betty mich ja aufgegabelt, obwohl er mich gar nicht hier haben wollte. Das Herz sank mir in die Hose.

„Komm, kleines Monster. Zeit für eine Runde Schaukeln.“ Greg hob seine Nichte in seine kräftigen Arme und für einen Moment befürchtete ich, sie könnte zwischen seinen Muskeln zerquetscht werden, doch er war ganz sanft zu ihr. Ohne ein weiteres Wort folgten Lydia und Betty ihm und ließen mich und Jesse allein zurück. Gregs Verlobte tätschelte mir im Vorbeigehen die Schulter und Betty fixierte ihren Bruder eine Sekunde zu lang, um es unauffällig wirken zu lassen. Wenn ich mich nicht täuschte, flüsterte sie ihm etwas zu.

„Sei nett.“
 

Dann waren wir allein. Ich schluckte. Er sah seiner Familie nach und mied es, in meine Richtung zu gucken.

„Es tut mir Leid.“ Ich war mir nicht sicher, ob er mich überhaupt hörte, denn er reagierte nicht auf meine Entschuldigung. Ich wollte ihm erklären, was in mich gefahren war, wieso ich weggelaufen war, aber es kam kein Ton heraus. Es ging einfach nicht.

„Was hat sie dir erzählt?“ Seine Stimme war neutral, völlig emotionslos. Es machte mir Angst. Ich räusperte mich.

„Genug.“ Endlich sah er mich an. Sein Blick war abschätzend, so als würde er mich zum erste Mal sehen. Exakt so hatte er mich an dem Tag angesehen, als wir auf dem See Eislaufen waren. Mein Herz hämmerte laut gegen meine Brust. Wahrscheinlich konnte auch er es hören.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du wieder zurückkommst.“

Ich auch nicht, rutschte es mir beinahe heraus, doch ich biss mir rechtzeitig auf die Zunge.

„Jesse. Es tut mir Leid. Ich hätte nicht einfach weglaufen sollen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Das war völlig bescheuert.“ Er erhob sich und nahm die Teller, die auf dem Wohnzimmertisch standen, in die Hand.

„Ja, das war es. Aber ich mache dir keine Vorwürfe.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er war mir nicht böse. Er lief an mir vorbei in die Küche und ich folgte ihm.

„Du willst bestimmt deine Sachen holen“, sagte er, während er die Teller in die Spülmaschine stellte.

„Was?“ Ich sah ihn verständnislos an.

„Deine Sachen. Du hast sie vergessen.“ Glaubte er wirklich, das war der einzige Grund, warum ich hier war? So schnell, wie sich der Knoten in meiner Brust gelöst hatte, so schnell bildete er sich auch wieder. Mir wurde kalt. Eiskalt.

„Meine Sachen? Ich bin nicht hier wegen meiner bescheuerten Sachen.“ Ich war wütend, hauptsächlich auf mich selbst. Jesse sah mich überrascht an. So einen harschen Ton kannte er von mir nicht.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ Und sehen, ob zwischen uns noch alles okay ist, fügte ich in Gedanken hinzu. Offensichtlich war es das nicht. Ich zitterte.

„Das hast du ja jetzt.“ Er wollte an mir vorbeilaufen, doch dieses Mal hielt ich ihn auf.

„Jesse.“ Meine Hand schloss sich um sein Handgelenk. Er war so warm.

„Du bist eiskalt.“ Es war das erste Mal, dass seine Mimik wieder eine Regung zeigte. Ich wollte weinen.

„Bitte. Es tut mir Leid.“ Ich würde es noch tausendmal sagen, wenn es irgendetwas half. Und jedes Mal wäre es die Wahrheit. „Ich war dumm. Ich habe nicht nachgedacht. Lass uns bitte darüber reden.“ Völlig unerwartet nahm er mein Gesicht in seine Hände.

„Du zitterst ja.“ Tat ich das? Keine Ahnung, gut möglich. Weil ich gerade eine scheiß Angst hatte, ihn zu verlieren. Das hier fühlte sich gerade sehr nach Schlussmachen an. Ich wollte ihn nicht sehen lassen, wie sehr ich an ihm hing, aber meine Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Sie rannen heiß meine Wangen herunter. Ich schloss die Augen, um sie aufzuhalten.

„Shhh.“ Jesses Daumen wischten über die feuchten Spuren, die meine Tränen hinterließen. Mir war klar, dass ich gerade kurz vor einem Zusammenbruch stand. Ich musste all meine Kraft zusammennehmen, um nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren.
 

„Lea. Beruhige dich. Du musst atmen.“ Atmen? Hatte ich etwa aufgehört, zu atmen? Tatsächlich. Ich machte die Augen auf und sah in Jesses besorgtes Gesicht. Ich öffnete den Mund und holte tief Luft. Es funktionierte. Der Mann, der mein Herz gestohlen hatte, fixierte mich genau und legte schließlich einen Arm um mich und führte mich in den Flur. Schmiss er mich jetzt raus?

„Verdammt, Lea. Du bist eiskalt.“ Ich biss mir auf die Lippe.

„Ich habe meine Jacke hiergelassen.“ Jesse fluchte.

„Du brauchst ein heißes Bad.“ Ich sah ihn verwundert an. „Na komm schon.“ Er führte mich die Treppe hinauf und ich stellte erschrocken fest, dass ich seinen Halt brauchte. Alleine wäre ich wahrscheinlich umgekippt. Ich verstand noch nicht genau, was vor sich ging. Vor zwei Sekunden hatte ich noch geglaubt, er würde Schluss machen, mich vor die Tür setzen, und jetzt waren wir hier, im Bad. Ich setzte mich auf die Toilette, während Jesse heißes, dampfendes Wasser einließ.

„Wenn du das nächste Mal abhaust, zieh dir wenigstens was an.“ Sein Ton milderte seine Worte.

„Ich habe nicht vor, nochmal wegzulaufen“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

„Falls du mich überhaupt wiedersehen willst.“ Ich starrte auf meine Finger. Sie taten weh, weil sie in der vom Wasserdampf gewärmten Luft langsam auftauten. Jesse setzte sich auf den Wannenrand. Für einige Sekunden starrten wir beide auf das einlaufende Wasser. Das Plätschern war das einzige Geräusch im Raum.

„Willst du das denn? Mich wiedersehen?“ Ich hatte das Gefühl, als hätte ich irgendwas verpasst. Ich war doch diejenige, die sich wie ein Idiot aufgeführt hatte.

„Wieso sollte ich dich nicht wiedersehen wollen?“, fragte ich geradeheraus. Jesse starrte mich an. Sprachlos.

„Ich habe ein Kind. Eine vierjährige Tochter“, sagte er schließlich.

„Ich weiß.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er erhob sich.

„Ich hatte vergessen, dass du anders bist.“ Anders? Was sollte das denn bedeuten? War das was Gutes oder was Schlechtes? Es traf mich unvorbereitet, als er mich auf den Scheitel küsste. Hieß das, er hatte mir verziehen?

„Ich hole Lydia, damit sie dir hilft. Kipp mir währenddessen nicht um, okay?“ Wobei sollte sie mir helfen? Beim Baden?

„Schon gut. Ich schaffe das allein.“ Es wäre mir unangenehm, wenn Lydia mir half. Nicht, weil sie mich dann nackt sah – na gut, deshalb vielleicht auch -, sondern weil ich nicht den Eindruck machen wollte, als würde ich Hilfe benötigen. Jesse kniete sich vor mich und nahm meine kalten Hände in seine.

„Du konntest gerade kaum alleine stehen. Ich will nicht, dass du ohnmächtig wirst und in unserer Badewanne ertrinkst.“ Ich biss mir auf die Lippe. Da hatte er nicht ganz Unrecht.

„Wenn du willst, kann ich auch hierbleiben.“ Er machte nur einen Scherz, das verriet das Schmunzeln auf seinen Lippen. Dennoch war ich mir todsicher, dass er es tun würde, wenn ich ihn ließe.

„Ich könnte die Tür nicht absperren. Und wenn ich Hilfe brauche, sage ich Bescheid.“ Jesse schüttelte entschieden den Kopf und holte aus dem Schrank zwei Flaschen heraus, die er mir vor die Nase hielt.

„Lieber Honig oder Lavendel?“ Ich zuckte die Schultern. Jesse nahm die gelbe Flasche mit Honiggeruch und ließ das Badeöl in die Wanne tropfen. Das Wasser stand inzwischen ziemlich hoch. Jesse drehte den Hahn ab und ging zur Tür.

„Ich hole Lydia. Nicht absperren!“ Er zeigte mit einem Finger auf mich und ich nickte ergeben. Sobald er weg war, entledigte ich mich schnellstmöglich meiner Kleidung. Mir war etwas schwindelig, doch entgegen jeder Vernunft stieg ich in die Wanne. Es fühlte sich an, als würde das heiße Wasser meine Haut verbrennen. Ich schnappte mir das Badeöl und ließ noch mehr davon in die Wanne ein, damit es mehr schäumte. Mein Körper war nun beinahe vollkommen von Schaum bedeckt. Gerade noch rechtzeitig, denn schon klopfte es an der Tür.
 

„Ist offen“, sagte ich und betete, dass Jesse wirklich Lydia geholt hatte und nicht selbst hereinkam. Zu meiner Erleichterung erblickte ich Gregs Verlobte, die hinter sich die Tür abschloss.

„Hey Süße. Was machst du denn für Sachen?“ Das Kribbeln auf meiner Haut verriet mir, dass meine Haut langsam auftaute. Wie lange war ich da draußen herumgestreunt? Ich schenkte Lydia ein entschuldigendes Lächeln.

„Tut mir Leid für die Umstände. Ich habe Jesse gesagt, ich kriege das auch allein hin.“ Ich musste schließlich nichts anderes machen, als hier zu sitzen und zu atmen. Obwohl mir das Atmen nicht ganz so leicht fiel.

„Ich habe dir ein paar Sachen von mir mitgebracht. Die kannst du anziehen.“ Sie legte einen Jogginganzug und einen dicken Pullover auf die Heizung, damit sie warm wurden.

„Danke.“ Ich starrte auf die Bläschen auf der Wasseroberfläche.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Lea?“ Ich sah nicht auf, nickte aber.

„Ja. Hier ist es schön warm.“ Lydia schüttelte den Kopf.

„Ich habe nicht das heiße Bad gemeint.“ Schon klar, aber über die andere Sache wollte ich nicht nachdenken. Es bildete sich schon wieder ein Kloß in meinem Hals. Jesse war gerade sehr nett zu mir gewesen, aber vielleicht nur, weil er sich Sorgen machte. Wenn es mir wieder besser ging, änderte er seine Meinung möglicherweise. Ich zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht“, sagte ich leise. „Ich glaube, Jesse ist noch sauer.“ Lydia lächelte.

„Der kleine Teufel hat gerade diese Riesenbombe platzen lassen, und deine einzige Befürchtung ist, dass er sauer auf dich sein könnte?“ Ja.

„Kleiner Teufel?“ Ich schmunzelte wegen des Spitznamens. Ich glaubte nicht, dass Jesse den gern hörte. Wir begannen beide zu lachen. Es tat meinem Körper unglaublich gut. Gemeinsam mit dem warmen Wasser löste es einen Teil meiner Verspannungen. Ich fühlte mich freier. Ich stellte mir vor, wie Jesse unten im Garten mit seiner Tochter spielte.

„Wie lange geht das schon mit euch beiden?“ Lydias Frage riss mich aus meinen Gedanken. Ich wurde etwas rot.

„Nicht lange“, sagte ich und wurde mir bewusst, wie wenig Zeit wir tatsächlich miteinander verbracht hatten. Ich wollte nicht, dass das schon vorbei war.

„Du magst ihn wirklich sehr, oder?“ Konnte sie etwa Gedanken lesen? Ich nickte. Wenn sie nur wüsste, wie sehr.

„Das ist schön. Aber Lea...“ Ich sah Lydia nun an, weil ihr Ton plötzlich so ernst wurde. „Versteh mich nicht falsch. Ich liebe Jesse, und ich kann dich gut leiden. Aber wenn dir das mit Kelly zu viel ist, sag es lieber gleich.“ Ich sah sie perplex an. Wo kam das auf einmal her?

„Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, wie viel Arbeit so ein Kind macht. Und Jesse hat vor, die Kleine zu sich zu nehmen, sobald er finanziell abgesichert ist. Momentan lebt sie zwar noch bei Eleonores Eltern, aber Jesse versucht, sie so oft wie möglich zu sehen.“ Ich hielt den Atem an.

„Eleonore.“ Das war also ihr Name. Lydia senkte den Blick.

„Ja.“ Ich wusste ja nicht mal, ob Jesse das mit mir wirklich ernst war. Und ehrlich gesagt hatte ich auch noch nicht weit in die Zukunft geplant.

„Wieso erzählst du mir das alles?“ Lydia seufzte schwer.

„Ich möchte nur nicht, dass du ihm das Herz brichst.“ Wow. Ich dachte, es wäre genau andersherum. „Oder Kelly. Es wäre nicht fair, wenn sie sich an dich gewöhnt und du dann wieder aus ihrem Leben verschwindest. Ich will nur, dass du dir genau überlegst, ob du das hinkriegst, bevor du dich entscheidest.“ Nun wurde mir doch noch schwindelig. Lydia schlug die Hände vor den Kopf.

„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verunsichern. Ich musste das nur loswerden. Hoffentlich hältst du mich jetzt nicht für durchgeknallt.“ Wie könnte ich ihr böse sein? Sie versuchte nur, Jesse und Kelly zu beschützen.

„Nein. Ich bin froh, dass du so offen zu mir warst.“ Erleichtert atmete sie aus und ließ die Schultern sinken.

„Bitte erwähne es Jesse gegenüber nicht.“ Gerne gab ich ihr das Versprechen. Lydia half mir aus der Wanne und während ich mich anzog, ließ sie das Wasser ablaufen. Der Pullover war sehr warm und flauschig. Sie föhnte mein Haar, was sehr entspannend war.
 

„Du solltest dich am besten etwas ausruhen. Möchtest du dich ein wenig hinlegen?“ Ich war ziemlich erschöpft. Und ich musste erst mal meine Gedanken ordnen.

„Ja, ich glaube, das ist eine gute Idee.“ Lydia zögerte kurz.

„Wir haben ein Gästezimmer. Aber wenn du lieber bei Jesse schlafen möchtest... Ich bin mir sicher, er hat nichts dagegen.“ Darauf würde ich nicht wetten. Natürlich würde ich lieber in Jesses Bett liegen, seinen Geruch in meiner Nase, aber angesichts der jüngsten Entwicklungen war ich mir nicht sicher, ob das für ihn in Ordnung war.

„Ich nehme das Gästezimmer.“ Wie sich herausstellte, war es direkt neben dem Bad. Es war ein kleiner Raum und anhand einiger Spielzeuge und plüschiger Kissen vermutete ich, dass Kelly ab und zu hier übernachtete. Lydia bemerkte meinen Blick und biss sich auf die Lippe.

„Tut mir Leid. Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Ich winkte ab.

„Schon gut. Alles okay.“ Ich setzte mich aufs Bett und nahm ein Stoffnilpferd in die Hand.

„Brauchst du noch irgendwas? Hast du Hunger?“ Obwohl ich heute noch nichts gegessen hatte, wurde mir bei dem Gedanken an Essen schlecht.

„Nein, danke. Ich brauche nichts.“ Lydia sah mich unschlüssig an, dann nickte sie.

„Okay. Wir sind gleich unten, wenn irgendwas ist. Versuch, ein wenig zu schlafen“, sagte sie und schloss langsam die Tür hinter sich. Als ich allein war, sah ich mich um. Überall gab es kleine Hinweise auf Kelly. Ein selbstgemaltes Bild, das wahrscheinlich eine Blume darstellen sollte, aber sicher war ich mir nicht, die Spielsachen und Stofftiere. Wenn ich in den Schrank sehen würde, lägen darin wahrscheinlich Anziehsachen für die Kleine. Ich warf einen Blick aus dem Fenster, um nachzusehen, ob Greg noch immer mit seiner Nichte auf der Schaukel spielte, aber das Fenster lag auf der anderen Seite, Richtung Straße. Ich seufzte und legte mich hin, zog mir die Decke mit dem bunten Wolkenaufdruck bis zum Kinn, weil mir noch immer etwas kalt war, und presste das Nilpferd an mich.
 

Ich wurde vom Geruch von frischen Eiern und Kaffee geweckt. Als ich die Augen öffnete, saß Jesse vor mir auf dem Boden und fächerte mir den Duft des gefüllten Tellers zu. Ich schmunzelte.

„Ich habe das Frühstück nicht vergessen“, sagte er. Ich hoffte, dass das nicht immer noch dieselben Rühreier und Tomaten waren, die ich heute morgen in der Küche gesichtet hatte. Doch da leichter Dampf von den Eiern aufstieg, war ich zuversichtlich.

„Wie spät ist es?“, fragte ich und richtete mich auf. Jesse setzte sich neben mich und drückte mir den Teller samt Gabel in die Hand.

„Kurz nach zwei.“ Er streckte sich nach dem Kaffee auf dem Nachttisch.

„Ich wusste nicht, ob mit Milch oder Zucker, deshalb ist er schwarz.“ Ich lächelte ihn an.

„Eigentlich mag ich gar keinen Kaffee.“ Er sah mich skeptisch an, sparte sich jedoch einen Kommentar und trank stattdessen die dampfende Brühe selbst. Träumte ich etwa? Jesse saß hier bei mir, brachte mir Frühstück und redete mit mir, als wäre gar nichts passiert.

„Bist du noch sauer?“, fragte ich und stopfte mir eine volle Gabel des leckeren Rühreis in den Mund. Jesse nahm ein Kissen, das er sich hinter den Rücken legte, und lehnte sich an die Wand.

„Nein.“ Er verschränkte seine lang ausgestreckten Füße. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Obwohl das nicht hieß, dass alles wieder gut war. Lydias Worte schwirrten noch immer durch meinen Kopf. „Ich hätte dich damit nicht so überfallen sollen.“ Er rieb mit dem Daumen über sein Anker-Tattoo. „Ich dachte nur, es wäre sinnlos, dich anzulügen. Ich wusste nicht, dass sie vorbeikommen würden. Das war nicht geplant.“ Ich hörte für einen Moment auf, zu kauen.

„Hättest du es mir denn erzählt?“ Jesse wiegte den Kopf.

„Schon. Nur nicht jetzt. Nicht so früh.“ Schon klar. Er wollte erst mal sehen, ob das mit uns was werden könnte. Ich kaute ausgiebig, bevor ich erneut sprach.

„Erzählst du mir jetzt davon?“ Jesse nahm noch einen Schluck Kaffee.

„Soweit ich mitgekriegt habe, haben dir Betty und Lydia eh schon alles gesagt.“ Er wirkte nicht gerade glücklich darüber. Mir war auch klar, dass er nicht gern darüber sprach, aber ich musste es aus seinem Mund hören.

„Ich würde es aber gerne von dir hören.“ Er seufzte und sah mir einige Sekunden beim Essen zu.

„Was willst du denn wissen?“, fragte er schließlich.

„Alles. Alles, was du mir erzählen möchtest.“
 

Und dann begann er, zu erzählen.

Eleonore

Er lernte sie mit sechzehn kennen. Sie war das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte. Wenn sie lächelte, dann ging die Sonne auf. Als sie das erste Mal miteinander sprachen, funkte es sofort. Sie trafen sich regelmäßig, unterhielten sich über Musik, zogen durch Clubs, für die sie eigentlich noch zu jung waren, und telefonierten stundenlang. Es war nicht die große Liebe, aber Jesse fühlte sich wohl mit ihr und wollte sie in seinem Leben nicht mehr missen. Es war eher, als wäre sie seine beste Freundin, mit gewissen Sonderleistungen. Ein paar Monate nachdem sie sich das erste Mal getroffen hatten, begann Eleonores Prüfungsphase für die Mittlere Reife. Sie hatte kaum noch Zeit, wirkte gestresst, wenn sie sich sahen, und schien Jesses Gegenwart kaum noch wertzuschätzen. Anfangs gab er sich Mühe, sie zum Lächeln zu bringen, sie so oft wie möglich zu sehen, doch da sie weiterhin abweisend blieb, gab er es irgendwann auf. Er würde einfach die Prüfungen abwarten, bis sie sich wieder eingekriegt hatte.

Und dann eröffnete seine Mutter ihm aus heiterem Himmel, dass er in ein Internat gehen sollte, ans andere Ende des Landes. Jesse hatte keinen Schimmer, wo das auf einmal herkam. Bestimmt hatte Sam, Bettys Vater, ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt. Ja, er war vielleicht kein einfacher Teenager, streifte tagelang durch die Stadt, ohne sich zuhause zu melden und schwänzte die Schule, aber das war noch lange kein Grund, ihn fortzuschicken. Die beiden ließen sich jedoch nicht erweichen, als er versuchte, sie umzustimmen. Es konnte nicht an seinen Noten liegen. Er war ein ausgezeichneter Schüler. Lernen war ihm noch nie besonders schwergefallen. Seine Mutter schob es auf die Arbeit, sie hätten keine Zeit mehr, sich um in zu kümmern. Als ob ihn das stören würde. Er war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Außerdem, was war mit Betty?

Jesse vermutete, dass Sam ihn loswerden wollte. Dieser hielt ihm Vorträge, wie gut sich der Abschluss an einem solch angesehenen Internat in seinem Lebenslauf machen würde. Dies interessierte Jesse jedoch einen feuchten Dreck. Bisher hatte er gedacht, dass er und der Mann an der Seite seiner Mutter keine Probleme miteinander hatten, dass sie mehr oder weniger koexistierten. Das hatte für ihn prima funktioniert. Aber das sah Sam wohl anders. Als Jesse Eleonore davon erzählte, meinte sie nur, das wäre doch eine tolle Chance für ihn, die er ergreifen sollte. Es war das letzte Mal, dass er sich bei ihr meldete.
 

Wenige Tage später befand er sich bereits im Internat. Er war noch nicht volljährig, musste sich also dem Willen seiner Mutter beugen. Aus Trotz begann er zu Rauchen und ließ sich sein erstes Tattoo stechen. Seine Noten verschlechterten sich drastisch, nur um seiner Mutter und Sam zu zeigen, was er davon hielt, verbannt worden zu sein. Erst viel später, als bereits fünf Monate vergangen waren, besuchte er sie am Wochenende, weil seine Mutter sich eine starke Erkältung zugezogen hatte. Bisher hatte Jesse jegliche Besuche vermieden. Als er nach Hause kam, war sie überglücklich, ihn zu sehen. Weil Sam zu beschäftigt mit arbeiten war, erklärte sich Jesse bereit, einkaufen zu gehen.

Und da sah er sie. Eleonore. Schwanger. So was von schwanger. Er musste kein großer Rechenkünstler sein, um zu erkennen, dass es sein Baby war. Er stand nur da, starrte sie an und ließ die vollen Einkaufstüten fallen. Von dem Geräusch aufmerksam geworden, entdeckte sie ihn. Ihre Augen wurden weit und einen Moment sah es so aus, als würde sie am liebsten weglaufen, doch sie fing sich wieder und kam auf in zu.

„Hallo, Jesse“, sagte sie und bückte sich, um seine Einkäufe zurück in die Tasche zu stopfen. Ihr Bauch war so riesig. Jesse sah sie lange nur an, bis er sich ebenfalls hinkniete und ihr half.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“, flüsterte er, während sich seine Gedanken wild im Kreis drehten. Eleonore lächelte ihr wunderbares Lächeln, und es war, als wäre er nie fort gewesen. Sie strich ihm über die Wange, was ihn völlig aus der Fassung brachte, und schlug vor, einen Kaffee trinken zu gehen.

„Am schlimmsten sind diese Blicke“, sagte sie zerknirscht und sah dem jungen Kellner nach, der ihren Bauch unentwegt angestarrt hatte. Sie wirkte älter, erwachsener. Jesse umklammerte seine Kaffeetasse und versuchte, den Typen mit Blicken zu töten.

„Hast du etwa ein Tattoo?“ Eleonore ergriff seine Hand und strich ihm über den Daumen. Er genoss ihre Berührung. Sie war ihm so vertraut.

„Nicht nur das eine.“ Ihre Augen wurden groß. Dann grinste sie.

„Sollte ich noch irgendwas wissen?“, fragte sie amüsiert. Jesse zog die Nase kraus.

„Ich rauche.“ Das schien sie nicht besonders zu erfreuen. „Ich werde aufhören“, versicherte er ihr.

„Das brauchst du nicht... Ich meine, wenn dann tu es für dich, nicht für mich“, erwiderte sie.

„Doch, genau deshalb. Ich will dich und das Baby nicht mit giftigen Stoffen schädigen.“ Eleonore zog ihre Hand zurück.

„Jesse, du...“ Er konnte sehen, wie sie sich auf die Innenseite ihrer Wange biss. „Es hat sich nichts geändert. Du bist noch im Internat und ich will auch, dass das so bleibt.“ Jesse sah sie ungläubig an.

„Wieso sagst du das? Habe ich irgendwas getan, womit ich dich verletzt habe? Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Abgesehen von der Tatsache, unfreiwillig ein Kind in die Welt gesetzt zu haben.

„Es... es ist doch meins, oder?“ Bei dem Gedanken, dass sie fremdgegangen sein könnte, als sie noch zusammen gewesen waren, sah er rot.

„Ja“, sagte sie, ohne zu zögern. „Natürlich bist du der Vater.“

Vater. Dieses Wort schien völlig fremd, wenn er es mit sich selbst in Verbindung brachte. Er würde Vater werden.

„Ich werde die Verantwortung tragen. Ich gehe arbeiten. Ich kann für euch sorgen.“ Eleonore schüttelte den Kopf.

„Das möchte ich nicht. Ich will, dass du deinen Abschluss machst und einen Bomben-Abschluss hinlegst.“ Jesse verzog das Gesicht.

„Das kann ich mir eh abschminken, wie es gerade aussieht.“ Eleonore runzelte die Stirn.

„Wieso?“ Jesse fühlte sich unwohl und kratzte sich am Ohr, eine nervöse Geste, die er nicht ablegen konnte.

„Ich habe mich wohl ein wenig schleifen lassen“, sagte er lahm. Eleonore hob eine Augenbraue.

„Schleifen lassen? Du? Was redest du da?“ Jesse zuckte die Schultern. Wem machte er hier eigentlich was vor? Eleonore kannte ihn viel zu gut, um ihr etwas vorgaukeln zu können.

„Na schön. Vielleicht habe ich meine Noten absichtlich schlecht werden lassen, um meine Mutter zu ärgern.“ Eleonore brach in Gelächter aus. Er liebte diesen Klang. Ihm wurde klar, wie sehr er sie vermisst hatte. Er wollte sie jeden Tag so zum Lachen bringen. Doch sie hörte abrupt auf. „Das ist nicht witzig. Du verbaust dir damit deine Zukunft. Das ist total dämlich. Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir noch mehr Tattoos stechen.“

Er liebte sie. Das wurde ihm in diesem Moment klar. Es war keine explosive, verzehrende Liebe, eher der Wunsch danach, sein restliches Leben mit ihr zu verbringen.

„Noch mehr?“, fragte er, um das Gespräch vom Thema Schule abzulenken. Er registrierte ganz genau, wie sie seinen Körper scannte, auf der Suche nach weiteren Tattoos. Doch da Winter war und er einen langen Pullover trug, konnte sie sie nicht sehen.
 

„Wie viele hast du denn?“ Jesse ging sie kurz durch.

„Sieben.“ Eleonore verschluckte sich fast an ihrer heißen Schokolade.

„Sieben? In fünf Monaten?“ Sie schien fasziniert und schockiert zugleich. Und dass sie keine Sekunde überlegen musste, wie lange er schon fort war, entging ihm ebenfalls nicht. „Das Zeug macht süchtig, das ist dir schon klar.“ Jesse zuckte die Achseln.

„Apropos Monate... Wie weit bist du eigentlich?“ Es war seltsam, darüber zu reden. Aber sie hatte ihm schließlich keine Gelegenheit gegeben, sich daran zu gewöhnen.

„Im siebten.“ Wie automatisch legte sie eine Hand auf ihren runden Bauch.

„Also hast du es schon gewusst, bevor ich gegangen bin“, stellte er fest.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“ Eleonore rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

„Ich konnte nicht. Zuerst war ich so wütend auf dich. Und auf mich. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich es behalten will.“ Sie machte eine lange Pause und starrte aus dem Fenster. Dann lächelte sie.

„Aber dann bin ich zu meiner Frauenärztin gegangen, zum Ultraschall. Und da habe ich dieses kleine Ding auf dem Bildschirm gesehen. Sie war so winzig.“ Jesse horchte auf.

„Sie?“ Eleonore nickte.

„Ja. Es ist ein Mädchen.“ Jesses Herz hämmerte heftig in seiner Brust. Es wurde alles auf einmal so real.

„Ist sie gesund?“ Er hatte so viele Fragen, wollte so vieles wissen. Und am besten alles sofort. Eleonore nahm wieder seine Hand, weil sie wahrscheinlich merkte, wie nervös er war.

„Es geht ihr gut. Sie strotzt vor Lebensfreude.“ Erleichterung durchflutete ihn.

„Und dir? Geht es dir auch gut?“ Sie nickte.

„Das Schlimmste habe ich hinter mir. Ich sag's dir, die Kotzerei in den ersten Wochen war echt grauenvoll.“ Sie verdrehte die Augen bei der Erinnerung.

„Ich wünschte nur, du hättest es mir gesagt. Ich habe alles verpasst.“

„Glaub mir, sei froh, dass du die Morgenübelkeit nicht mitgekriegt hast, das war ziemlich unschön“, scherzte sie, verstummte jedoch, als sie bemerkte, wie ernst es ihm war.

„Du weißt, ich wäre geblieben, hättest du es mir erzählt. Ich wäre nicht gegangen.“ Eleonore fuhr das Tattoo an seinem Daumen nach.

„Ist es das, was ich denke, das es ist?“ Sie beugte sich über den Tisch, was mit einem dicken Bauch wohl nicht so einfach war, und nahm seinen Daumen ins Visier.

„Lenk nicht ab.“ Er wusste genau, was sie da tat. Sie war verdammt gut darin, auch früher schon, aber dieses Thema war zu wichtig, um sich ablenken zu lassen.
 

„Mein Schatz?“, las sie die schnörkelige Schrift vor, die sich wie ein Ring um seinen Daumen schlang.

„Du bist verrückt.“ Sie schüttelte den Kopf. Jesse zuckte die Schultern.

„Es war mein erstes.“ Sie sah ihn an, als wäre er ein kleiner ungezogener Schuljunge.

„Und dein neuestes?“, wollte sie wissen.

„Es heißt: Eleonore sollte aufhören, vom Thema abzulenken.“ Sie ließ ihn abrupt los und verschränkte die Arme vor der Brust. Die im übrigen auch größer geworden war, wie ihm soeben auffiel. Er schluckte und trank noch etwas Kaffee.

„Ich kenne seit sieben Monaten kein anderes Thema. Schwangerschaft hier, Baby da. Tut mir Leid, wenn ich mal fünf Minuten nicht darüber nachdenken will.“ Sie war eingeschnappt, doch nun war es an Jesse, zu grinsen.

„Meinst du nicht, dass ich dafür der falsche Gesprächspartner bin? Immerhin bin ich der... Verursacher... dieses Themas.“ Sie hatten beide schon immer einen eigenen Humor gehabt. Und so schaffte er es auch jetzt, sie aus der Reserve zu locken. Eleonore versuchte zwar, das Grinsen zu unterdrücken, indem sie sich auf die Lippe biss, doch es gelang ihr nicht ganz.

„Du bist so ein Arsch“, sagte sie, ohne es ernst zu meinen.

„Und du bist wunderschön.“ Es rutschte ihm einfach so heraus. Sie starrte ihn an.

„Ich bin nicht schön. Ich bin schwanger.“ Sie schlürfte an ihrer Schokolade. Jesse legte den Kopf schief.

„Ich denke, du bist beides.“ Sie sah ihn über den Rand der Tasse an, beinahe schüchtern. Er wartete auf eine Reaktion von ihr. Er wusste, er musste nur lange genug still sein, dann würde sie zu reden beginnen. Vor allem, wenn er sie so unverwandt ansah. Das konnte sie nicht ertragen. Eleonore stellte die Tasse auf dem Tisch ab und klammerte ihre Hände darum.

„Jesse. Jetzt mal ernsthaft. Ich bin ein Walross. Und sobald das Baby erst mal da ist, ist Schluss mit Ausschlafen und Freizeit. Dann gibt es nur noch Windelwechseln und Füttern. Bye bye, Leben. Das kannst du doch nicht wirklich wollen!“ Jesse musterte sie befremdet.

„Versuchst du gerade, mich abzuschrecken?“ Sie widersprach nicht, was einem Eingeständnis gleichkam.

„Wieso? Willst du das alles alleine hinkriegen? Ich bin der Vater. Ich gehöre auch dazu, oder etwa nicht? Willst du mich vollkommen ausschließen?“ In Eleonores Augen sammelten sich Tränen.

„Du solltest gar nicht hier sein. Ich wollte nicht, dass du es erfährst. Deine Mutter hat mir versprochen, sie würde sich bei mir melden, falls du-“ Jesse unterbrach sie.

„Meine Mutter? Was hat meine Mutter damit zu tun?“ Eleonore starrte ihn an, als habe sie zu viel verraten. Da dämmerte es ihm.

„Sie weiß es“, hauchte er. „Sie hat es die ganze Zeit gewusst.“ Ihm wurde schlecht. Eleonore schwieg und beobachtete ihn, als würde sie sich Sorgen machen, er könnte gleich ausrasten. Jesse konnte das nicht vollkommen ausschließen.

„Sie wusste es und hat mir nichts gesagt.“ Er wollte jetzt wirklich gerne eine Zigarette rauchen. Oder irgendwas zertrümmern. Doch sein Kopf hielt noch mehr Befürchtungen parat.

„Warte. Hat sie dich dazu gebracht, mir nichts zu sagen? Wollte sie nicht, dass ich das Internat schmeiße?“ Eleonore hielt noch immer ihre Tasse umschlossen, so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Bitte, Eleonore, du musst mir die Wahrheit sagen.“ Er legte seine Hände um ihre.

„Ich kann nicht. Ich...“ Sie brach mitten im Satz ab, weil ihre Stimme stark zitterte. „Sie wusste es schon, bevor du gegangen bist. Die Schwangerschaft war der Grund, warum sie dich weggeschickt hat.“

Es traf ihn wie einen Schlag ins Gesicht.

„Was?“ Es lief ihm kalt den Rücken herunter.

„Gleich nachdem ich den Schwangerschaftstest gemacht habe, wollte ich zu dir, weil ich so durcheinander war. Du warst nicht da. Deine Mutter hat mir aufgemacht, und weil ich vollkommen verheult vor eurer Haustür stand, hat sie mich reingebeten. Irgendwie hat sie es aus mir rausgequetscht. Sie hat es wahrscheinlich schon geahnt. Erst mal war sie sprachlos. Dann begann sie von diesem Internat zu erzählen, auf dem du einen Platz ergattert hättest. Mir wurde erst viel später klar, dass du dich dort gar nicht selbst beworben hattest und deine Mutter erst nach unserem Gespräch irgendwas mit dem Direktor dort vereinbart hatte, damit die Schule dich aufnimmt. Aber da war es schon zu spät. Du warst schon weg.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Jesse wollte sie trösten, doch er war zu schockiert von der Geschichte, die sie ihm da gerade erzählte.

„Du hättest zu mir kommen sollen. Du hättest mit mir reden müssen. Glaubst du, ich wäre einfach gegangen, ohne dir etwas zu sagen?“ Am Zittern ihrer Hände und den leisen Schluchzern erkannte er, dass sie weinte. Er stand auf und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Behutsam strich er ihr über den Rücken.

„Ich weiß. Es tut mir Leid. Aber je länger ich wartete, umso unentschlossener wurde ich. Ich habe den Hörer schon hundertmal in der Hand gehabt, aber ich habe es nicht geschafft, deine Nummer zu wählen.“ Jesse lehnte den Kopf an ihre Schulter und fuhr weiter mit der Hand über ihren Rücken.

„Du Dummerchen“, flüsterte er. Sie lehnte sich an ihn und er schloss seine Arme um sie. Sie wieder so nah bei sich zu haben, fühlte sich absolut richtig an.
 

Jesse verspürte den Drang, seine Mutter zur Rede zu stellen, sie anzuschreien, und ihr zu sagen, was er von ihrem Verhalten hielt. Er würde viele Schimpfwörter benutzen und sie verfluchen. Doch das würde er auf später verschieben müssen. Im Augenblick war es wichtiger, sich um Eleonore zu kümmern. Sie brauchte ihn, auch wenn sie es nicht zugab. Noch immer konnte er nicht glauben, dass seine Mutter sie dazu gebracht hatte, Stillschweigen zu bewahren. Eleonore vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, genauso, wie sie es früher getan hatte. Sein Herz schlug schneller. Er strich über ihr Haar und konnte hören, wie die Schluchzer langsam versiegten.

„Soll ich dich nach Hause bringen?“ Sie nickte stumm. Eleonore erzählte ihm im Auto, dass ihre Eltern eine riesen Wut auf ihn hatten, obwohl das völlig paradox war, weil er ja nie etwas von dem Baby erfahren hatte. Sie hatten sie immer wieder dazu gedrängt, ihn anzurufen.

„Ich wünschte, du hättest auf sie gehört.“ Jesse umfasste das Lenkrad fester.

„Ich wollte nicht der Grund sein, für den du deine Zukunft auf's Spiel setzt.“ Jesse seufzte.

„Findest du nicht, dass ich das selbst entscheiden sollte?“ Eleonore schob trotzig die Unterlippe vor. Er würde sie am liebsten küssen, auch wenn er irgendwie sauer auf sie war.

„Irgendwann hättest du es mir vorgeworfen. Vielleicht nicht am Anfang, aber irgendwann hättest du mich dafür verantwortlich gemacht, dass dein Leben zerstört ist.“

Jesses Kiefer mahlte kräftig. Er musste sich Mühe geben, sie nicht anzuschreien.

„Das denkst du von mir, ja?“ Er hielt den Blick starr auf die Straße gerichtet. „Ich bin nicht mein Vater.“ Eleonore umfasste sanft seinen Arm.

„Es tut mir Leid. Jesse, bitte sei nicht sauer.“ Sie hob die Hand und strich ihm eine Strähne hinters Ohr. Er schloss kurz die Augen und seufzte ob der bekannten Geste. Er hätte das die ganze Zeit haben können. Er hätte sie die ganze Zeit haben können. Wie hatte er es die vielen Monate nur ohne sie ausgehalten? Wie hatte er damals nicht erkennen können, dass er sie liebte? Er musste blind und taub gewesen sein.
 

„Ich hätte dich nicht so schnell aufgeben dürfen. Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen.“ Er konnte sich nicht erklären, wie er die Anzeichen übersehen hatte können. Wahrscheinlich hatte sie sich genau deshalb so von ihm zurückgezogen. Damit er keinen Verdacht schöpfte. Und er hatte angenommen, dass sie einfach genug von ihm gehabt hatte.

„Wenn das alles nicht passiert wäre“, begann er und wusste nicht genau, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. „Denkst du, wir wären dann noch zusammen?“ Er hielt den Atem an, weil er Angst vor der Antwort hatte. Was, wenn sie sich weiterentwickelt hatte, über ihn hinausgewachsen war? Gab es vielleicht schon jemand anderen in ihrem Leben? Einen Typen, der seinen Platz eingenommen hatte? Wollte sie deshalb nicht, dass er blieb? Weil sie schon Ersatz für ihn gefunden hatte? Jesse drehte sich der Magen um.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Eleonore leise und sah aus dem Fenster.

„Gibt es einen anderen?“ Er hatte nicht fragen wollen, aber diese Ungewissheit trieb ihn in den Wahnsinn.

„Was? Wie kommst du denn darauf?“ Sie wirkte etwas gereizt.

„Keine Ahnung. Ich wollte nur sicher sein.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Es gibt keinen anderen.“ Sie schnaubte. „Was glaubst du denn! Selbst wenn ich wollte, würde sich kein Schwein für mich interessieren, weil ich eine fette, emotionale, schwangere Kuh bin.“ Jesse sah sie verwundert an. Eleonore hatte früher nie Probleme mit ihrem Selbstbewusstsein gehabt.

„Elly, das stimmt nicht. Du bist genauso hübsch wie immer.“ Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Sag noch ein Mal, dass ich hübsch bin, und ich schlage dich. Ich meine es ernst. Lass es einfach.“ Er würde dem gerne etwas entgegensetzen, doch er kannte Eleonore gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Drohung vollkommen ernst meinte. Dabei log er sie nicht mal an. Ihre Haut war noch genauso makellos wie damals, und bis auf den Bauch hatte sie kaum zugenommen. Ihre Wangen waren vielleicht etwas voller, aber das stand ihr gut. Ihr Körper schien von innen zu glühen. Und dass ihre Brüste größer geworden waren, konnte er auch nur als Vorteil sehen. Ihr das zu sagen, würde wahrscheinlich jedoch nicht viel bringen.

„Was ist mit dir. Hast du... jemanden?“, fragte sie nach einer längeren Pause. Je näher sie Eleonores Elternhaus kamen, desto nervöser wurde Jesse. Mit dem Wissen, dass Helen und Pete ihn momentan am liebsten strangulieren würden, war er nicht gerade scharf darauf, sie zu treffen.

„Nein.“ Jesse dachte an den One-Night-Stand, der etwa einen Monat zurücklag. Er beschloss, ehrlich mit Eleonore zu sein.

„Niemand bestimmten.“ Als er ihren Blick auffing, korrigierte er seine Aussage. „Es war nur ein Mal. Und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr“, erklärte er. Sie kaute auf ihrer Lippe, ohne sich dazu zu äußern. Was hätte er machen sollen? Er war auch nur ein Kerl und hatte Bedürfnisse. Außerdem hatte er damals geglaubt, mit Eleonore wäre Schluss.

„Gut“, sagte sie ganz leise. Jesse glaubte nicht, dass es überhaupt für seine Ohren bestimmt war. Sie hatte es eher zu sich selbst gesagt. Er ergriff ihre Hand und ließ sie nicht mehr los, bis sie bei Eleonores Haus angekommen waren.

Das Gespräch mit ihren Eltern verbrachte er hauptsächlich schweigend. Eleonore redete die meiste Zeit, und wann immer er das Wort ergriff, übernahm sie sofort wieder für ihn. Es kam ihm so vor, als wollte sie nicht, dass er etwas Falsches sagte. Doch nach einer Weile erinnerte er sich, wie viel Eleonore immer redete, wenn sie nervös war. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Dass sie ständig an ihrem Ring spielte, bestätigte seinen Verdacht. Ihre Eltern wirkten nicht gerade glücklich, rissen ihm aber zumindest nicht den Kopf ab. Sie kannten die Fakten zwar schon, hörten ihrer Tochter jedoch geduldig zu.
 

„Und wie ist jetzt dein Plan?“, fragte Pete direkt an Jesse gewandt, sodass seine Tochter nicht für ihn antworten konnte. Jesse räusperte sich und setzte sich ganz unbewusst etwas gerader hin.

„Ich werde vom Internat abgehen. Ich werde mir einen Job suchen und für Elly und das Baby sorgen.“ Eleonore neben ihm auf der Couch rückte etwas von ihm ab.

„Das will ich nicht. Du sollst deinen Abschluss machen.“ Sie sah ihn wütend an, aber Jesse blieb ganz ruhig.

„Das kann ich später noch nachholen. Oder ein Fernstudium machen. Ich könnte auch zur Abendschule gehen.“ Er hatte sich auf der Fahrt hierher schon Gedanken darüber gemacht, weil er mit dieser Reaktion gerechnet hatte. Eleonore konnte dem nichts entgegensetzen, deshalb schob sie wieder in ihrer typisch trotzigen Geste die Unterlippe vor.

„Außerdem will ich nicht alles verpassen. Bis ich mit der Schule fertig bin, bin ich achtzehn. Ich werde nicht die ersten Monate im Leben meiner Tochter in einem beschissenen Internat verbringen, hunderte Kilometer entfernt.“ Er hatte sie das erste Mal seine Tochter genannt. Irgendwas passierte dabei mit seinem Herzen. Es wurde unglaublich schwer und flatterte zugleich.

„Schön, dass du die Verantwortung übernimmst“, sagte Eleonores Vater. Er war kein Mann großer Worte, aber ein anständiger Kerl. Eleonore schnaubte wütend und verkroch sich in ihr Zimmer. Jesse unterhielt sich noch einige Minuten mit ihren Eltern, versicherte ihnen, auf sie aufzupassen und für das Kind zu sorgen. Er würde keinen Rückzieher machen. Dann ging er Eleonore nach. Sie antwortete nicht, als er klopfte. Trotzdem betrat er ihr Zimmer. Es sah noch genauso aus wie früher. Sie lag auf ihrem großen Bett voller Kissen und las in einem Buch. Früher hatte sie immer auf dem Bauch gelegen, die Beine in die Luft gestreckt, völlig versunken in ihre Welt. Das ging jetzt nicht mehr. Sie musste auf dem Rücken liegen.

„Hey.“ Jesse lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete sie einen Augenblick lang nur. Sein Blick blieb an ihrem Bauch hängen, auf den sie das Buch gestützt hatte.

„Du bist nicht willkommen“, sagte sie und hob eine Augenbraue, ohne von dem Buch aufzusehen.

„Glaub mir, auch wenn du das sagst, bin ich momentan tausendmal lieber bei dir, als bei meiner Mutter.“ Eleonore ließ das Buch sinken und sah ihn an. All ihre Wut war verflogen. Es war zwar hinterhältig, aber Jesse hatte diese Reaktion vorausgesehen. Ihr schlechtes Gewissen war größer als jeder Ärger. Er nickte ihr zu und entfernte sich von der Tür.
 

„Was liest du?“ Sie hob das Buch in die Höhe, sodass er das Cover sehen konnte. Krabat.

„Schon wieder?“ Er konnte nicht verstehen, was sie an dem Schmöker so toll fand. War es nicht sogar ein Kinderbuch? Er ließ sich neben sie auf die Matratze sinken und starrte an die Decke.

„Gedenke, dass ich dein Meister bin“, rezitierte er. Er hatte das Ding gelesen, nachdem er erfahren hatte, dass es Ellys Lieblingsbuch war. Einmal und nie wieder. Sie schlug ihm mit dem Buch auf den Kopf.

„Blödmann.“ Jesse seufzte.

„Es kommt mir vor, als wäre ich nie weg gewesen.“ Eleonore kicherte.

„Wenn es dir hilft, wenn ich dich beschimpfe: Ich kann das den ganzen Tag durchhalten“, schlug sie vor und Jesse drehte ihr lächelnd den Kopf zu. Ihm fiel auf, wie nahe sie sich waren. Er müsste sich nur zu ihr herüberbeugen, dann könnte er sie küssen.

„Wie selbstlos von dir“, gab er zurück. Es war unvorstellbar, dass er Eleonore nur vor wenigen Stunden getroffen hatte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Sie ergriff seine Hand, um das Ankertattoo genauer zu betrachten, das sie jetzt sehen konnte, weil er die Ärmel seines Pullovers hochgekrempelt hatte.

„Wie hast du dir das eigentlich genau vorgestellt, Jesse?“ Er runzelte die Stirn und beobachtete sie dabei, wie sie sein Tattoo nachfuhr. Die Berührung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Das mit uns. Dem Baby.“ Sie mied absichtlich seinen Blick und inspizierte weiterhin die Tinte unter seiner Haut.

„Ich weiß nicht. Ich hatte gehofft... Wenn du mich noch willst... Ich meine, ich würde mich so oder so um euch kümmern, aber ich würde gerne wieder mit dir zusammen sein... Falls du dir das noch vorstellen kannst.“ Eleonore schwieg und schien angestrengt über seine Worte nachzudenken.

„Ich glaube, das ist keine gute Idee. Ich meine, ich habe diese Familien immer verachtete, in denen die Eltern nur des Kindes wegen zusammen bleiben.“ Autsch. Damit hatte sie deutlich gemacht, dass sie ihn nicht zurückhaben wollte. Jesse wollte seinen Arm zurückziehen, konnte ihrer Berührung jedoch nicht widerstehen.

„Aber ich möchte natürlich auch, dass du Kontakt zu deiner Tochter hast.“ Immerhin wehrte sie sich jetzt nicht mehr gegen die Vorstellung, dass er seine Tochter dem Internat vorzog. „Ich glaube, du wirst ein toller Vater“, flüsterte sie. Es kostete Jesse all seine Willenskraft, sich nicht über sie zu beugen und seine Lippen auf ihre zu pressen. Doch das konnte er wohl für immer vergessen. Er nahm sich jedoch die Freiheit, ihr über die Wange zu streichen. Mit weniger konnte er sich gerade nicht zufriedengeben. Eleonore drehte jedoch den Kopf weg und kaute auf ihrer Lippe.

„Entschuldige“, sagte Jesse und nahm die Hand zurück. Er räusperte sich.
 

„Hast du dir schon einen Namen ausgesucht?“, wechselte er das Thema. Eleonore nahm das Buch wieder zur Hand und holte ihr Lesezeichen heraus, das sich als Liste voller Mädchennamen entpuppte.

„Ich kann mich nicht entscheiden.“ Sie sah Jesse zu, wie er die Namen überflog. „Was hältst du davon?“ Jesse presste die Lippen aufeinander.

„Maxime. Prisca. Roseanne. Arielle. Ernsthaft?“ Er hatte nur die Namen vorgelesen, die er absolut unmöglich fand. Der Rest war annehmbar, aber keiner davon sprach ihn wirklich an. Eleonore zuckte die Achseln.

„Keine Ahnung. Ich will dem Baby nur nicht so einen langweiligen Namen geben, den es tausendmal auf der Welt gibt.“ Jesse tippte auf den Zettel.

„Hier. Das ist doch nicht schlecht. Cara. Oder Ariana. Kelly. Pia gefällt mir auch.“ Eleonore setzte sich auf und schnappte sich einen Stift vom Schreibtisch.

„Okay. Lass uns die Hälfte wegstreichen. Wenn du das nächste Mal kommst, machen wir das wieder. Und irgendwann bleibt nur noch einer übrig.“ Jesses Ohren wurden hellhörig. Das nächste Mal.

„Heißt das, du bist einverstanden? Du hast nichts dagegen, wenn ich hierbleibe?“ Sie reichte ihm den Stift und er begann, einige Namen durchzustreichen.

„Ich kann dich doch sowieso nicht davon abbringen, oder?“ Jesse grinste.

„Nein. Aber ich würde mich freuen, wenn du wenigstens so tun würdest, als würde es dir was bedeuten.“ Er sagte es zwar in einem heiteren Ton, aber er meinte es völlig ernst.

„Natürlich tut es das. Es fällt mir nur schwer, dir das zu zeigen, wenn ich im Hinterkopf habe, dass du damit deine Zukunft zerstörst.“ Jesse schüttelte den Kopf.

„Hey, wenn ich mich recht erinnere, haben wir beide diese Situation zusammen verursacht, also stecke ich da genau so mit drin wie du.“ Eleonore sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Du nennst unseren Sex eine Situation verursachen? Wow.“ Jesse biss sich auf die Zunge, doch Elly begann zu lachen, was ihn sehr erleichterte. Sie legte jedes Wort von ihm auf die Goldwaage. Er wusste nicht, wann er etwas Falsches sagte oder nicht.

„Du hast Recht. Die richtige Beschreibung wäre wohl eher sexy, ungezügelt, befriedigend, feucht...“ Eleonore hielt ihm den Mund zu, um ihn von weiteren Ausführungen abzuhalten.

„Okay, okay. Ich hab's kapiert. Hörst du jetzt bitte auf?“ Jesse ließ den Kopf in die Kissen sinken und nickte. Erst dann ließ sie ihn los. Wenn es nach ihm ginge, würde er sie jetzt daran erinnern, wie es war, wenn sie zusammen waren. Ihr Bauch würde es etwas kompliziert machen...

„Es wird schon dunkel.“ Eleonore sah aus dem Fenster und Jesse verstand ihre verkleidete Aufforderung sofort. Er richtete sich auf.

„Zeit, nach Hause zu gehen.“ Dass er dieses Nest von Verrätern immer noch sein Zuhause nannte, kam ihm beinahe falsch vor. Eleonore machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen, doch er hielt sie zurück.

„Lass gut sein. Bleib liegen. Ich kenne ja den Weg.“ Er stand einen Moment unschlüssig vor dem Bett. Er wollte sie umarmen und am besten nie wieder loslassen. Aber sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. Damit musste er zurechtkommen.

„Kann ich dich anrufen?“, fragte er und war erleichtert, als sie ohne Zögern nickte. Er vermisste ihre langen Telefonate. Meistens redete sowieso Eleonore, aber er konnte einfach nicht genug kriegen von ihrer Stimme und dem Wissen, dass sie ihre Gedanken mit ihm teilte.

„Natürlich. Jederzeit.“ Als er das Zimmer schon verlassen hatte, rief sie nochmal nach ihm. Er kehrte sofort zurück.

„Sei nicht zu streng mit deiner Mutter“, bat sie ihn. Doch er erwiderte nichts, weil er nichts versprechen wollte, was er nicht halten konnte.
 

Kaum hatte Jesse die Tür aufgeschlossen, kam ihm Sam schon entgegen.

„Wo zur Hölle bist du gewesen? Deine Mutter hat sich Sorgen um dich gemacht.“ Jesse hätte ihm in diesem Moment am liebsten seine Faust ins Gesicht gerammt, doch glücklicherweise hielten ihn die Einkäufe in seinen Händen davon ab. Er presste die Lippen fest aufeinander, um nicht in Flüche auszubrechen, und drückte sich wortlos an Sam vorbei. Jesse steuerte in die Küche, Sam folgte ihm auf dem Fuße.

„Wozu hast du ein Handy, wenn wir dich nicht erreichen können? Machst du das mit Absicht?“ Von dem Lärm angelockt, kamen Jesses Mutter und Betty in die Küche.

„Was ist los?“, fragte seine kleine Schwester und quietschte erfreut, als sie ihren Bruder erblickte. Sie fiel ihm überschwänglich in die Arme.

„Jesse!“ Er erwiderte die Umarmung. Sie war die einzige Person in diesem Haus, bei der er sich freute, sie zu sehen.

„Wo warst du so lange?“, fragte seine Mutter, ihren Bademantel um ihren Körper geschlungen. Auch wenn sie krank war, konnte sich Jesse nicht zurückhalten.

„Ich habe Elly getroffen“, sagte er und knallte die Einkäufe auf den Tresen. Seine Mutter und Sam wechselten einen schnellen Blick. Die beiden sprachlos zu erleben, war selten.

„Wie geht es ihr?“, fragte Betty unschuldig. Sie hatte keine Ahnung und Jesse war froh darüber. Er hätte es nicht ertragen, wenn seine Schwester ebenfalls eingeweiht gewesen wäre.

„Gut. Bis auf die Tatsache, dass sie schwanger ist.“ Jesse sah bei den Worten seine Mutter an. Betty kippte die Kinnlade herunter.

„Was?“ Jesse merkte, wie seine Schwester angestrengt nachdachte.

„Ich verstehe das nicht. Ihr wart so süß zusammen. Wie kann sie da so schnell einen anderen finden? Und dann wird sie auch noch schwanger!“ Ihre Naivität ließ ihn schmunzeln.

„Nein, Schwesterherz. Du wirst Tante“, klärte er sie auf. Sie öffnete dreimal den Mund, nur um ihn dann wieder zu schließen. Sie sah ein wenig aus wie ein Fisch.

„Aber... du... oh mein Gott!“ Die gerade elfjährige Betty hüpfte auf und ab und schlug die Hände vor den Mund.

„Betty“, schnitt die Stimme ihrer Mutter durch den Raum. „Gehst du bitte in dein Zimmer?“ Ihre Tochter sah sie enttäuscht an.

„Wieso? Das ist alles so aufregend!“ Doch sie ließ sich nicht erweichen.

„Jetzt sofort.“ Betty schlurfte mit hängenden Schultern davon. Jesse wartete, bis er die Tür klicken hörte. Er wollte nicht, dass sie den Streit mitbekam, der folgen würde.

„Wieso schickst du sie nicht gleich auf ein Internat?“, schlug er trocken vor.

„Jesse, lass uns in Ruhe darüber reden“, beschwor ihn seine Mutter.

„Ihr hattet ein beschissenes halbes Jahr Zeit, mit mir zu reden. Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“ In einem plötzlichen Impuls packte er die Eierschachtel, die er heute Mittag gekauft hatte, und warf sie gegen die Wand. Flüssiges Eigelb und Eiweiß rannen die weiße Tapete herunter.

„Ihr habt mich die ganze Zeit belogen. Ihr habt mir ins Gesicht gelogen.“ Seine Mutter starrte auf den Fleck an der Wand und das Eigelb, das eine lange Spur hinterließ. Es verschaffte ihm nicht die Befriedigung, die er sich erhofft hatte.

„Wir wollten nur dein Bestes“, hauchte sie und strich ihre blondierten Haare hinter ihre Ohren.

„Und was ist mit Elly? Was ist mit ihr, Mutter? Hast du auch an sie gedacht, als du uns wissentlich auseinandergerissen hast?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie hatte die Wahl. Sie hätte diesen Weg nicht gehen müssen.“ Ihre Worte trafen ihn wie einen Schlag ins Gesicht und er taumelte tatsächlich einen Schritt zurück. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Abtreibung, das war ihre Lösung?

„Du bist widerlich!“

„Du bist noch so jung, Jesse. Du weißt doch gar nicht, was es bedeutet, ein Kind großzuziehen“, mischte Sam sich ein. Jesse warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Rede nicht mit mir, als wärst du mein Vater.“

Seine Mutter holte tief Luft.

„Jesse“, ermahnte sie ihn. „Wir konnten doch nicht zulassen, dass dieser... Umstand dein Leben zerstört.“

Jesse zeigte warnend mit dem Finger auf sie.

„Pass bloß auf. Es ist meine Tochter, von der du da sprichst. Du wirst sie nicht als Umstand bezeichnen!“

Sam schüttelte den Kopf.

„Du bist noch nicht reif genug, diese Verantwortung zu übernehmen. Sieh dich doch an. Mit deinen Tattoos und der Raucherei.“

Jesse schnaubte verächtlich.

„Und weil du so reif bist, bist du einfach abgehauen, als Mom mit Greg schwanger war, ja? Sehr männlich, Sam, wirklich. Gerade ihr beiden solltet mir keine Vorträge halten.“ Sam machte einen Schritt auf Jesse zu. Er war sicher, wenn er noch mehr sagte, würde er ihn schlagen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.

„Wir wollen nur nicht, dass du denselben Fehler machst wie wir“, sagte sie. Jesse starrte sie einige Sekunden nur an. Es kam ihm vor, als würde er seine Mutter zum ersten Mal wirklich sehen, als hätte er ihr wahres Ich bisher nicht gekannt.

„Hast du Greg gerade als Fehler bezeichnet? Willst du das damit sagen? Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest, hättest du ihn abgetrieben?“ Seine Mutter schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich liebe deinen Bruder. Genau wie ich dich liebe, und Betty.“ Jesse glaubte ihr kein Wort.

„Ach, und weil du mich liebst, hast du mich weggeschickt, ja?“ Seine Mutter begann zu weinen, doch es interessierte ihn nicht.

„Ich wollte dich nur beschützen!“ Jesse schüttelte den Kopf und ging ruhelos auf und ab.

„Nein. Du wolltest nur dich selbst schützen. Deinen Ruf wahren. Was werden die Nachbarn denken, wenn dein dummer Junge ein Mädchen schwängert!? Das müssen wir natürlich verhindern! Hast du Eleonore aufgefordert, das Kind wegmachen zu lassen, als sie zu dir gekommen ist?“ Schon der Gedanke drehte ihm den Magen um. Und er befürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

„Ich habe sie nur darum gebeten, sich genau zu überlegen, was sie tut und sich im Klaren zu sein, was das für euch bedeutet, dass euer ganzes Leben davon abhängt, eure Zukunft.“ Jesse wollte noch einmal etwas schmeißen, fuhr sich stattdessen jedoch durch die Haare.

„Oh mein Gott. Du machst mich krank. Ihr beide seid... der allerletzte Abschaum.“ Jesse rannte in sein Zimmer, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er hörte seine Mutter nach ihm rufen, und Sam ihr zureden, sie solle ihn erst mal in Ruhe lassen. Möglichst laut knallte er die Tür zu, warf seinen Koffer aufs Bett und stopfte seine Sachen hinein, so schnell er konnte. Hätte er bloß vorhin nicht ausgepackt. Er wollte nur noch weg. Er hielt es keine Minute länger hier aus. Unerwartet wurde die Tür aufgerissen.
 

„Was ist denn los?“, fragte Betty besorgt. Natürlich hatte sie etwas mitbekommen. Sie hatten so laut geschrien, sie musste etwas aufgeschnappt haben.

„Ich muss hier weg.“ Betty trat ins Zimmer.

„Aber du bist doch gerade erst angekommen!“ Jesse atmete tief durch, konnte sich aber nicht beruhigen.

„Was ist denn passiert? Ist was mit Elly und dem Baby?“ Jesse schloss den Koffer und schleifte ihn hinter sich her.

„Frag Mom“, antwortete er und polterte die Treppen hinunter, gefolgt von seiner Schwester.

„Jesse, können wir jetzt in Ruhe über alles reden?“, fragte seine Mutter, die mit Sam auf dem Sofa saß, sich jedoch sofort erhob, als sie den Koffer in seiner Hand sah. „Wohin gehst du?“

Jesse blieb nicht stehen und öffnete die Haustür.

„Weg hier. Ich halte es hier nicht länger aus.“ Seine Mutter sah ihn entsetzt an.

„Aber.. Wo willst du hin?“

Jesse zuckte die Achseln und trat auf die Straße.

„Ganz egal. Einfach nur weg. Ich bin hier fertig.“ Und dann ging er.
 

„Jesse. Das ist aber eine Überraschung!“ Greg schloss seinen Bruder in die Arme und bemerkte dabei den Koffer.

„Bist du vom Internat getürmt?“, fragte er belustigt, wurde jedoch wieder ernst, als er den Gesichtsausdruck seines kleinen Bruders bemerkte.

„Bist du? Ohne Scheiß?“ Jesse schüttelte den Kopf.

„Nein. Zumindest war es nicht so geplant.“ Der Effekt war derselbe.

„Komm erst mal rein.“ Greg schnappte sich Jesses Koffer und schob ihn ins Haus.

„Weiß Mom, dass du hier bist?“, wollte er wissen.

„Ich komme gerade von ihr“, erwiderte Jesse.

„Scheiße“, fluchte Greg, als Jesse Jacke und Pullover auszog und die Tattoos zum Vorschein kamen. War es wirklich so warm in der Wohnung seines Bruders, oder hatte allein die hitzige Diskussion mit Sam und seiner Mutter sein Blut zum Kochen gebracht?

„Kein Wunder, dass sie dich wieder weggeschickt hat.“ Sein Bruder lachte amüsiert und geleitete Jesse ins Wohnzimmer. „Bierchen?“ Jesse schüttelte den Kopf. Er würde sich zwar gerne betrinken, aber er musste andere Wege finden, mit der Situation zurechtzukommen. Sie setzten sich aufs Sofa und Greg öffnete seine Bierdose.

„Also, hast du Heimaturlaub, oder was?“ Jesse wäre am liebsten einfach mit der Wahrheit herausgeplatzt, doch er wollte alles in Ruhe erklären. Allein schon, um das ganze Ausmaß selbst zu verstehen.

„Ich wollte Mom besuchen, weil es ihr nicht so gut geht“, begann er, und hörte gar nicht mehr auf. Es musste alles raus. Es kam ihm vor, als erzählte er seine halbe Lebensgeschichte. Greg war ein erstaunlich guter Zuhörer. Den Teil, in dem seine Mutter gemeint hatte, es wäre ein Fehler gewesen, Greg zu kriegen, ließ er jedoch aus.

„Und jetzt bin ich hier“, schloss Jesse. Er schaltete sein Handy aus, weil bereits zum dritten Mal seine Mutter anrief. Schnell überlegte er es sich jedoch wieder anders und machte es wieder an. Was, wenn Eleonore sich meldete?

„Also wirst du jetzt Vater“, sagte Greg und stellte sein Bier ab. Jesse nickte. Es war das erste Mal, dass er Angst bekam, wenn er darüber nachdachte.

„Was, wenn ich das nicht hinkriege? Wenn ich ein beschissener Vater bin?“ Greg schüttelte den Kopf.

„Ihr kriegt das schon hin, ihr beiden. Du bist ja nicht allein damit. Vielleicht solltest du dich aber zur Sicherheit darüber informieren, wie man Windeln wechselt, ohne angepinkelt zu werden“, scherzte Greg, aber Jesse konnte darüber nicht lachen. Er hatte noch nie ein Baby im Arm gehalten, geschweige denn gewickelt. Als Betty geboren wurde, war er noch so klein gewesen, dass er damit nichts zu tun gehabt hatte. Er hatte keine Ahnung. Von nichts. Morgen würde er sich als Erstes einen Ratgeber kaufen. Er würde das gesamte Ding lesen, egal wie viele Seiten es hatte.

„Elly geht doch bestimmt zur Schwangerschaftsgymnastik. Frag sie doch, ob du mitkommen kannst. Da kannst du bestimmt was lernen“, schlug Greg vor. Der Gedanke von lauter Pärchen, die auf riesigen Gymnastikbällen herumturnten und Atemübungen machten, gefiel ihm nicht besonders, aber Greg hatte Recht. Jede Möglichkeit, sich auf das Baby vorzubereiten, würde er ergreifen.
 

„Und was ist nach der Geburt?“ Jesse verstand nicht, worauf sein Bruder hinauswollte. „Zieht ihr dann zusammen? Oder bleibt Elly bei ihren Eltern? Oder ziehst du zu ihnen?“

Jesse sank tiefer in das Sofa, lehnte den Kopf in die Kissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich habe keine Ahnung. Wir haben noch nicht darüber geredet.“ Greg runzelte die Stirn.

„Aber ihr seid wieder zusammen, oder nicht?“ Jesse seufzte frustriert. Er packte ein Kissen und legte es sich auf den Bauch.

„Nein. Für Elly ist die Sache gelaufen.“ Greg sah seinen Bruder prüfend an.

„Und was ist mit dir? Was willst du?“ Jesse zupfte einzelne Federn aus dem Kissen. Sein Bruder überging das großzügig. Der Klingelton von Gregs Handy unterbrach sie.

„Mom.“ Er verdrehte die Augen, ging jedoch hin. Jesse gestikulierte ihm, er solle ihr nicht sagen, dass er hier war, doch Greg drehte sich absichtlich um und ignorierte ihn.

„Mom, beruhige dich. Hör auf so zu schreien, ich kann dich sehr gut hören. Ja, er ist hier.“

Jesse knurrte und ließ sich zurück in die Kissen sinken.

„Ich glaube nicht, dass er gerade mit dir reden will. – Das halte ich für keine gute Idee. – Lass ihm einfach etwas Zeit. – Was erwartest du denn von ihm? Ihr habt ihn angelogen. Er hatte ein Recht, es zu erfahren. - Nein, ich denke nicht. - Ja, ich sag's ihm. Mach's gut.“ Greg legte genervt auf, wirkte jedoch etwas besorgt.

„Verräter“, grummelte Jesse.

„Sie ist vollkommen aufgelöst.“

Jesse interessierte das einen feuchten Dreck.

„Ich soll dir sagen, es tut ihnen Leid und sie wollen mit dir reden.“ Jesse schnaubte.

„Darauf kann sie lange warten.“

Greg wollte ihm ins Wort fallen, doch er sprach schnell weiter.

„Kann ich bei dir pennen? Ich bin müde.“ Greg seufzte und beschloss, seinen Bruder für heute in Frieden zu lassen.

„Klar kannst du hierbleiben. Mason ist vor ein paar Wochen ausgezogen. Du kannst in sein Zimmer.“

Jesse erhob sich und schleppte den Koffer hinter sich her.

„Danke. Ich haue mich gleich auf's Ohr.“

Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen.
 

Möchtest du vorbeikommen? Ich war gerade beim Ultraschall und habe neue Bilder, stand in Eleonores SMS, zwei Tage später. Wieso schrieb sie ihm auf dem Handy? Sie war noch nie der Typ für Textnachrichten gewesen. Früher hatte sie wegen jeder Kleinigkeit angerufen. Und sei es nur, um ihm zu sagen, dass sie sich langweilte. Oder ihn vermisste. Er hatte gestern hundertmal kurz davorgestanden, sie anzurufen. Doch er wollte ihr den Freiraum geben, den sie brauchte.

Um sich zu beschäftigen war er in die nächste Buchhandlung gefahren und hatte sich einen Ratgeber über Schwangerschaften gekauft. Eigentlich zwei. Einen normalen, der als Bestseller ausgeschrieben war, und einen speziell für Männer. Die etwas ältere Dame an der Kasse hatte ihn mit einem seltsamen Blick beäugt.

Nun kam er auch in den Geschmack der verurteilenden Gesellschaft. Wenn Eleonore das seit sieben Monaten aushalten musste, war es kein Wunder, dass sie leichter reizbar war als früher. Jesse hatte ein dickeres Fell, ihm war schon immer ziemlich egal gewesen, was die Leute von ihm hielten. Aber er musste ja auch nicht ständig mit dieser Kugel vor sich herumlaufen. Während er sich durch die Ratgeber wälzte, in denen einige beunruhigende Fakten standen und verstörende Bilder zu sehen waren, fragte er sich, wie es sich wohl anfühlte, ein Lebewesen in sich zu tragen.
 

Klar. Ich mach mich gleich auf den Weg, schrieb er zurück und schalt sich in Gedanken, weil er so aufgeregt war. Es hatte sich nichts geändert. Eleonore würde ihn nicht zurücknehmen. Sie wollte ihn nur auf dem Laufenden halte, was das Baby anging.

Wenige Minuten später stand er vor ihrer Haustür und war nervöser, als er es sich eingestehen wollte.

„Hey.“ Eleonore zog ihn ins Haus, bevor er sie überhaupt begrüßen konnte.

„Mach schnell, meine Eltern sind nicht da.“ Für eine Sekunde glaubte er wirklich, sie würde gleich über ihn herfallen. Die Hormone der meisten Frauen spielten in der Schwangerschaft völlig verrückt, das hatte er zumindest gelesen. Sollte er vernünftig sein und ihr sagen, dass das keine gute Idee war? Niemals! Doch als sie ihn in die Küche zog und das Eisfach öffnete, war ihm bereits klar, dass es hier nicht um Sex ging.

„Ich sterbe vor Hunger. Naja, eigentlich sind es nur Gelüste.“ Dass Jesse auch Gelüste hatte – jedoch einer völlig anderen Art – behielt er lieber für sich. „Ich könnte jeden Tag so einen Kübel essen“, sagte sie und öffnete die Ein-Liter-Straciatella-Eisschachtel. Sie holte zwei Löffel heraus, gab einen davon Jesse, lehnte sich über den Tresen und begann, zu essen. Nach dem ersten Bissen seufzte sie zufrieden. Jesse beobachtete sie nur und lächelte. Er hatte sie so vermisst.

„Weißt du, was am schlimmsten ist?“, fragte sie, wartete seine Antwort jedoch gar nicht ab. „Ich habe ständig Hunger auf irgendwelche ekligen Sachen. Letzte Woche habe ich Schnecken gegessen. Schnecken! Ich hasse Schnecken. Schleimiges Zeug im Allgemeinen. Ich meine, das ist doch absolut widerlich... Was?“ Sie sah ihn skeptisch an, weil er sich das Grinsen kaum verkneifen konnte. „Was ist so komisch?“, fragte sie mit in die Hüften gestemmte Hände. Jesse befürchtete schon, sie würde wieder sauer werden, deshalb versuchte er, sie zu beschwichtigen.

„Das ist doch was Gutes. Sieh es als Sinneserweiterung, oder so.“ Er stocherte in dem Eis herum.

„Es ist keine Sinneserweiterung, wenn ich Kriechtiere in mich hineinstopfte.“ Jesse zuckte die Schultern.

„Dann eben eine Magenerweiterung.“ Eleonore schien einen Moment ernsthaft zu überlegen, ob sie mit Eis nach ihm werfen sollte.

„Witzig“, sagte sie trocken. „Meine Eltern meinen, es könne nicht gesund sein, was ich alles esse. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich den ganzen Tag nichts anderes machen.“ Jesse aß einen Löffel Eis.

„Ich dachte, das wäre einer der Vorteile daran, schwanger zu sein. So viel zu essen, wie man will.“ Eleonore schüttelte den Kopf.

„Glaub mir. Es gibt keine Vorteile. Nur Nachteile.“

„Doch. Es gibt eine Sache, für die ich dich immer beneiden werde.“ Eleonore legte die Stirn in Falten.

„Als Mutter baust du eine Bindung zu dem Kind auf, die ich nie haben werde. Ich denke, das liegt daran, dass ihr für diese lange Zeit so eng miteinander verbunden seid.“

Eleonore starrte ihn nur an.

„Zumindest habe ich das gelesen“, murmelte er, weil seine Worte ihm plötzlich peinlich waren.

„Du hast ein Buch darüber gelesen? Wann?“ Sie schien völlig überrascht.

„Gestern“, war die offensichtliche Antwort.

„Das ist unfair“, sagte Elly und verräumte schnell das Eis, als sie draußen das Auto ihrer Eltern in der Einfahrt hörte.

„Was ist unfair?“, fragte Jesse und ließ sich mit in ihr Zimmer ziehen.

„Du hast erst vor zwei Tagen erfahren, dass ich schwanger bin und hast anscheinend schon deinen Frieden damit gemacht. Weißt du, wie lange ich gebraucht habe, um damit klarzukommen? Monate!“ Jesse setzte sich wie selbstverständlich aufs Bett, während Eleonore im Zimmer herumtigerte.

„Das ist doch etwas völlig anderes.“

„Genau. Weil ich die Mutter bin. Eigentlich solltest du vollkommen ausrasten und Dinge durch die Gegend werfen.“ Jesse lehnte sich etwas zurück und stützte sich auf seine Hände.

„Habe ich. Als ich bei Mom war.“ Er war nicht stolz darauf, wie er sich verhalten hatte, aber er hatte kein schlechtes Gewissen.

„Du hast was?“ Es war zwar ihr eigener Vorschlag gewesen, dennoch schien sie ziemlich verblüfft. Sie setzte sich neben ihn auf die Matratze, ließ sich langsam zurücksinken und starrte an die Decke.

„Jetzt geht’s mir schon besser. Ich hatte schon Angst, ich sei die Einzige, die das erst mal auf die Reihe kriegen muss.“

Jesse kratzte sich am Ohr.

„Je länger ich in diesem Buch gelesen habe, umso unsicherer wurde ich. Ich meine, es gibt so viel zu beachten.“ Eleonore seufzte.

„Ja. Wem sagst du das... Wie ist es bei deiner Mutter gelaufen?“ Jesse verzog das Gesicht.

„Beschissen.“ Ihm fiel wirklich kein anderes Wort ein, um die Situation richtig zu beschreiben.

„Was ist passiert?“, wollte Eleonore wissen und sah ihn argwöhnisch an. Sie tat beinahe so, als wäre er der Übeltäter.

„Wie gesagt. Ich habe ein paar Sachen durch die Gegend geworfen, sie eine Weile angeschrien und dann habe ich meine Sachen gepackt und bin zu Greg.“ Eleonores Augen wurden groß.

„Das ist ja schrecklich.“ Jesse zuckte die Schultern.

„Ich habe dir doch schon erzählt, dass ich was an die Wand geschmissen habe.“

„Schon. Ich dachte nur, das wäre wegen mir.“ Jesse runzelte die Stirn.

„Wieso wegen dir?“, fragte er.

„Na, weil ich schwanger bin. Und dir nichts davon erzählt habe.“

Einem Impuls folgend, nahm Jesse Eleonores Gesicht in seine Hände.
 

„Hör mir zu. Ich bin nicht sauer auf dich, okay? Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen.“ Jesse fragte sich, ob ihr schlechtes Gewissen daherrührte, dass sie sich entschlossen hatte, das Kind zu bekommen, oder weil sie es ihm all die Zeit verschwiegen hatte. Wahrscheinlich eine Kombination aus beidem.

„Kann ich dich was fragen, und du versprichst mir, ehrlich zu antworten?“ Erst als sie nickte, sprach er weiter. „Hat meine Mutter dich aufgefordert, das Baby... nicht zu bekommen?“ Allein schon ihr Zögern verriet ihm die Antwort. Jesse ließ Elly los und sank auf die Matratze. Er legte einen Arm über seine Augen und brummte unzufrieden.

„Ich glaub's einfach nicht. Wie konnte sie nur.“ Eleonore zog seinen Arm weg, damit sie ihn ansehen konnte.

„Sie hat es ja nicht... direkt gesagt. Sie hat mich nur darum gebeten, mir genau zu überlegen, was ich will, weil ich es dann nicht mehr rückgängig machen könnte.“ Jesse schnaubte verächtlich.

„Genau. So wie sie mit Greg. Kannst du dir das vorstellen? Sie hat mir praktisch ins Gesicht gesagt, dass sie ihn lieber nicht bekommen hätte. Und sowas nennt sich Mutter. Wahrscheinlich bereut sie mich genauso.“ Er biss sich auf die Lippe, fest, weil er sich nur so daran hindern konnte, noch schlimmere Dinge über seine Mutter zu sagen. Eleonore fuhr ihm durchs Haar, weil sie genau wusste, dass es ihn beruhigte. Jesse schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen. Er genoss ihre Berührung.

„Ich will nicht werden wie meine Mutter. Lass mich nie so werden“, wisperte er.

„Okay“, flüsterte sie und plötzlich spürte er ihre Lippen auf seinen. Nur ganz leicht, ein Hauch nur, und er musste die Augen öffnen, um sicherzugehen, dass er sich das nicht nur einbildete.

Das tat er nicht. Sie küsste ihn. Sein Herz hämmerte wie wild, hin- und hergerissen zwischen erfüllender, überquellender, alles einnehmender Freude, und der Angst, dass sie sich sofort wieder von ihm zurückzog und ihm das Herz brach. Noch einmal berührten ihre Lippen kurz die seinen, dann löste sich Eleonore von ihm.

„Ich liebe dich.“ Ihm wurde erst bewusst, dass er es laut ausgesprochen, und nicht nur gedacht hatte, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

„Was?“ Sie blinzelte.

„Ich liebe dich“, wiederholte er.

„Wieso sagst du so etwas?“

So etwas? Jesse fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog.

„Weil es die Wahrheit ist.“ Eleonore schien ziemlich verwirrt zu sein.

„Warum auf einmal? Damals hast du doch... Du hast es noch nie gesagt.“ Ihre Augen füllten sich zwar nicht mit Tränen, aber an ihrer zittrigen Stimme konnte er hören, dass sie kurz davor war, zu weinen.

„Ich weiß. Ich hätte mich mehr bemühen sollen. Ich hätte nicht einfach abhauen sollen. Aber du warst so distanziert. Ich dachte, du hättest mit mir abgeschlossen. Ich konnte ja nicht ahnen, was der Grund für deine abweisende Haltung war.“ Jetzt, wo er es aussprach, klang es so, als würde er ihr die Schuld geben. Aber zumindest ein klein wenig stimmte das ja auch. Hätte sie ihm gleich erzählt, was los war, wäre er niemals ins Internat gegangen. Damals hatte er sich gedacht, er ging lieber fort, in eine fremde Stadt, wo er niemanden kannte, als zu Hause zu bleiben, wo er unerwünscht war. Seine Eltern - seine Mutter - schickte ihn fort, und seine sogenannte Freundin sah ihn nicht mal mehr mit dem Hintern an.

Fünf beschissene Monate.
 

„Ich wusste nicht, dass du so empfindest“, flüsterte Eleonore und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, noch so eine Angewohnheit, wenn sie nervös war. „Du hast es nie gesagt. Und ich dachte, ich wäre nur...“ Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippe.

„Nur was?“, hakte Jesse nach. In ihm keimte langsam Hoffnung auf. Versuchte sie ihm etwa zu sagen, dass sie genau dasselbe empfand, dass sie sich die ganze Zeit nur missverstanden hatten?

„Naja, eine von vielen. Ich dachte nicht, es wäre dir ernst.“ Jesse stützte sich auf seine Ellbogen.

„Es tut mir Leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe-“, begann er, doch Elly unterbrach ihn.

„Nein, nein. Es war nicht deine Schuld. Ich bin damals einfach davon ausgegangen, habe mir nicht die Illusion gemacht, es würde ewig halten.“ Jesse glaubte nicht wirklich, dass Eleonore damals so empfunden hatte. Sie war ein wunderschönes, außergewöhnliches Mädchen gewesen, das genau wusste, was für eine Wirkung sie auf Jungs hatte – das hatte sich für Jesse nicht geändert.

Doch durch die Schwangerschaft und den Verlust ihres Selbstbewusstseins, der damit einherging, verzerrte sich offenbar ihre Sichtweise. Natürlich war ihm bewusst, wie anziehend er auf viele Mädchen wirkte und einige Blicke an ihm hängenblieben, aber dass Elly davon ausging, er hätte sie nur benutzt und sie wäre nur eine von vielen gewesen, wie sie gesagt hatte, traf ihn doch ziemlich.
 

„Na schön. Um das ein für alle Mal klarzustellen: Mich interessieren keine anderen Mädchen. Ich will nur dich. Dich und das Baby. Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir jetzt bitte sagen würdest, dass du dasselbe empfindest.“ Er hielt dieses Hin und Her nicht mehr aus, die Andeutungen, das Gerede über die Vergangenheit. Er wollte wissen, woran er war, sofort.

„Du hast Recht. Ich fühle dasselbe. Ich bin auch nicht an anderen Mädchen interessiert“, sagte sie breit grinsend. Aber selbst wenn sie die Worte nicht aussprach, hatte er jetzt seine Antwort. Erleichterung durchflutete ihn, pure Freude, und Hitze, ein Zittern. Er setzte sich auf und küsste sie. Doch er war keineswegs so vorsichtig, wie sie vor noch ein paar Minuten. Es war, als wäre Eleonore ein Brunnen und er am verdursten. Sein Körper war ein Feuerwerk, seine Haut übersensibel, seine Lippen wie magnetisch von ihren angezogen. Mit einem plötzlichen Stöhnen löste sich Elly von ihm.

„Was ist?“ Wehe, sie hatte es sich doch anders überlegt.

„Sie tritt“, sagte die Mutter seines Kindes unter schmerzhaftem Lächeln und legte eine Hand auf ihren runden Bauch. Jesse biss sich auf die Lippe.

„Tut es weh?“ Eleonore wiegte den Kopf.

„Manchmal.“ Jesse starrte wie gebannt auf ihr T-Shirt, doch er konnte keine Bewegung erkennen, außer das stetige Auf und Ab vom Atmen. Konnte man es überhaupt sehen, oder nur fühlen?

„Darf ich?“, fragte er und sah Elly um Erlaubnis bittend an. Sie lächelte, ergriff seine Hand und legte sie auf das gelbe T-Shirt, das über die Mitte ziemlich spannte. Wie gebannt sah Jesse auf ihre übereinanderliegenden Hände und wartete voller Spannung darauf, ob sich etwas tat. Er konnte Eleonores warme Haut durch den Stoff spüren. Für einen Moment fand er es faszinierend, dass sie bisher nicht geplatzt war, oder ihre Haut gerissen, weil sie so stark an Umfang zugenommen hatte. Sie war so zart gewesen, mit weibliche Kurven.

Jesse versuchte sich das kleine Ding unter all der Haut, den Zellen, dem Fleisch und Blut vorzustellen, aber das war schwierig.

„Ich kann sie nicht fühlen“, sagte er enttäuscht. Elly fuhr über seine Wange und lächelte ihn aufmunternd an.

„Keine Sorge. Sie wird mich noch oft genug treten. Sie ist sehr aktiv.“ Jesse wusste, dass Eleonore Recht hatte, doch er fühlte sich gerade wie ein kleines Kind, das nicht bekam, was es wollte, hätte am liebsten mit dem Fuß auf den Boden gestampft und geschrien. Er konnte es einfach nicht erwarten, seine Tochter zu fühlen. Seine Tochter. Noch immer durchflutete ihn ein Rausch bei dem Gedanken.

„Gib mir mal meine Tasche“, bat Eleonore und kramte darin, als Jesse sie ihr überreicht hatte. Sie holte ihren Geldbeutel heraus und zog einen Zettel hervor, den sie entfaltete und ihm vor die Nase hielt.

„Das ist sie.“ Jesse starrte das Bild an, auf dem ihr Baby in schwarzweiß abgelichtet war. Er nahm es Elly ab und betrachtete jeden Millimeter. Eleonore legte ihr Kinn auf seine Schulter und sah ihm zu.

„Sie hat deine Nase“, flüsterte Jesse und fuhr mit den Fingern über das Bild.

„Na zum Glück“, neckte Elly ihn und küsste ihn auf die Wange. „Du kannst es behalten. Ich habe extra zwei machen lassen.“ Jesse löste endlich seinen Blick von seiner Tochter und küsste Eleonore.

„Danke.“ Elly ergriff schnell seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.

„Da. Spürst du es?“, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an. Jesses gesamte Welt schrumpfte auf seine Hand zusammen, an der er ein leichtes Klopfen wahrnahm. Er grinste so breit wie noch nie in seinem Leben.

„Ich kann sie spüren. Hey, Kleines. Ich bin's. Dein Daddy.“
 

Später zog Eleonore ihn damit auf, dass sie ihn nie wieder küssen würde, weil ihre Tochter sie gerne in genau diesen Momenten trat. Jesse wiederum behauptete, dass es wahrscheinlich gar nicht das Baby war, das sich bewegte, sondern die Schmetterlinge, die in ihrem Bauch flatterten.

Er verbrachte die meiste Zeit bei Eleonore. Dem Internat hatte er seine Situation erklärt und sich abgemeldet. Sie versuchten nicht, ihn zum Bleiben zu überreden. Er bekam einen Job im Plattenladen BEATZ, demselben, in dem er auch jetzt wieder arbeitete.

Die Zeit verging. Und während Jesse und Elly der Geburt entgegenfieberten und ihre gemeinsame Zukunft samt Baby planten, sprach Jesse kein einziges Wort mit seiner Mutter. Einmal noch hatte er aufgrund von Eleonores Drängen seine Mutter aufgesucht, doch sie zeigte sich uneinsichtig und hielt es für den größten Fehler seines Lebens.

„Jesse, überleg dir das doch nochmal. Du bist noch so jung. Willst du wirklich deine Zukunft zerstören? Du bist doch so ein kluger Junge. Du solltest etwas aus deinem Leben machen.“

Daraufhin brach er jeglichen Kontakt ab.
 

Und dann kam der Tag, an dem die Wehen einsetzten. Auf dem Weg ins Krankenhaus – Ellys Eltern fuhren selbstverständlich mit – brach Eleonore Jesses kleinen Finger, weil sie seine Hand so fest umklammerte. Er biss jedoch die Zähne zusammen und sagte nichts. Im Krankenhaus ging alles ganz schnell und organisiert. Eleonore wurde sofort in einen Rollstuhl und in die Gynäkologie verfrachtet. Ihr Vater füllte die Papiere aus, während ihre Mutter und Jesse sie in den Kreissaal begleiteten. Jesse war froh, dass Helen dabei war, denn er gab zwar sein Bestes, Elly gut zuzusprechen, da sie völlig hysterisch wurde, aber er war eigentlich selbst ein einziges Nervenbündel.

„Ich kann das nicht. Ich bin noch nicht bereit dazu. Ich werde eine schreckliche Mutter, ich weiß es. Ich schaffe das nicht.“

Jesse hatte sie noch nie so reden hören. Allerdings hatte er sie auch noch nie so schreien gehört. Er fand es beinahe verwunderlich, dass ihm nicht das Trommelfell platzte. Oder ein weiterer Finger brach, so wie Elly seine Hand quetschte. Vorsorglich hatte er ihr die gesunde Hand hingehalten. Sein kleiner Finger hätte weitere Torturen nicht ertragen. Aber all das war nur Nebensache. Seine größte Sorge galt Elly, die von Verzweiflung auf Fluchen umgstieg. Hebammen mussten schon eine Menge Dinge mitangehört haben, dachte Jesse, wenn alle Frauen bei der Geburt so ein loses Mundwerk hatten.

„Scheiße ficken Kackdreck! Fuck!“ Die Hebamme blieb völlig unbeeindruckt und sah Elly ermutigend an.

„Und jetzt nochmal ganz fest pressen. Die Wehe ist gleich vorbei. Nur einmal noch.“ Das Nur einmal noch hatte sie jetzt schon etwa achtmal versprochen. Aber Eleonore schien es nicht aufzufallen.

„Der Kopf ist draußen“, verkündete die Hebamme über Ellys Schrei hinweg. Diese ließ den Kopf, an dem ihr nasse Haarsträhnen klebten, in die Kissen fallen, und schloss erleichtert die Augen.

„Sehr gut, Elly. Bei der nächsten Wehe musst du alles geben. Es soll die letzte werden, okay? Dann hast du es hinter dir. Dann ist dein Baby da“, motivierte Sarah – so stand es auf dem Schild der Hebamme. Jesse strich seiner Freundin über die verschwitzte Stirn.

„Wir haben es gleich geschafft,“ sagte er und war sich dabei durchaus bewusst, dass Eleonore die ganze Arbeit allein machte. Es machte ihn rasend, so nutzlos zu sein. Er hätte gerne die Schmerzen mit ihr geteilt. Zumindest waren seine Nerven stark genug, um ihr beizustehen. Ihr Vater, Pete, wartete lieber draußen. Jesse redete Elly gut zu, weil sie das zu beruhigen schien, und sie entspannte sich ein wenig.

„Du schlägst dich echt klasse.“ Sie öffnete die müden Augen und lächelte ihn erschöpft an. Die Verschnaufpause dauerte jedoch nicht lange, da meldete sich schon die nächste Wehe. Das Schreien und Fluchen begann erneut, aber plötzlich verstummte Eleonore und sackte zurück in die Kissen. Sie hatte wohl ihr Limit erreicht. Sarah versuchte, sie zu animieren, nicht aufzugeben. Doch Eleonore reagierte nicht.
 

„Elly? Elly, hörst du mich?“ Keine Antwort.

„Was ist los?“, fragte Jesse und sah beunruhigt zwischen Elly und Sarah hin und her. Sarah rief nach Hilfe. Und Jesse verfiel in Panik. Helen versuchte, mit Eleonore zu reden, doch sie war nicht ansprechbar. War sie ohnmächtig geworden?

„Elly. Sieh mich an. Wach auf.“ Jesse rüttelte an ihrer Schulter. Nichts. Weitere Personen betraten das Zimmer. Zwei Schwestern und ein Arzt.

„Sie müssen bitte das Zimmer verlassen“, wurden Helen und Jesse angewiesen.

„Was ist passiert?“, fragte Helen panisch.

„Ihre Tochter hat das Bewusstsein verloren. Ich muss sie wirklich bitten, zu gehen.“ Ihnen wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen.

„Aber was ist mit meiner Tochter?“ Helen schrie die Tür an. Pete war sofort an ihrer Seite. Jesses Herz sprang ihm beinahe aus der Brust und es fiel ihm schwer, zu atmen. Was bedeutete das denn nun? War Eleonore in Gefahr? Und das Baby? Ein Rauschen erfüllte seine Ohren und er musste sich an die Wand lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Was war passiert? Vor noch wenigen Sekunden hatte Elly sie alle verflucht und geschworen, nie wieder Sex zu haben, damit ihr das auf keinen Fall ein zweites Mal passieren konnte. Und jetzt standen sie hier draußen.

Die Minuten verstrichen so langsam, dass Jesse beinahe verrückt wurde. Er musste wissen, was los war, sonst malte er sich noch das Schlimmste aus. Nein. Nein. Elly ging es gut. Und dem Baby auch. Es konnte gar nicht anders sein. Es durfte nicht anders sein.
 

Jesse sah sich nach dem nächsten Mülleimer um. Nur für den Fall, dass er sich gleich übergeben musste.

Ein Schrei war zu hören. Der Schrei eines Babys. Seines Babys. Jesse fuhr herum. Am liebsten hätte er das Zimmer gestürmt. Das Baby war da. Das hieß, Elly ging es gut. Ein riesiger Stein fiel ihm vom Herzen. Er hätte am liebsten geweint vor Erleichterung. Jetzt würden sie ihn jeden Moment hereinlassen. Er war sauer, weil er den entscheidenden Moment verpasst hatte. Aber Hauptsache, den beiden ging es gut. Doch die Tür öffnete sich nicht.

„Wieso dauert das so lange?“, fragte Jesse an Helen und Pete gerichtet, die selbst wie gebannt auf die Tür starrten. Endlich trat der Arzt heraus.

„Sie sind die Eltern?“, fragte er an die beiden gewandt. Jesse trat zu ihnen, der Arzt musterte ihn einen Moment.

„Ich bin der Vater“, erklärte er. Doch als Jesse seinen Gesichtsausdruck sah, wollte er plötzlich nicht mehr wissen, was er zu sagen hatte.

„Dem Baby geht es gut. Es gab jedoch Komplikationen. Eine Ader im Bauchraum ihrer Tochter ist geplatzt. Wir haben alles getan, um die Blutung zu stoppen. Doch da wir zuerst das Baby herausholen mussten, blieb uns nicht genügend Zeit.“

Jesse hörte die Uhr im Gang laut ticken. Es war wie ein Hammer, der auf ihn einschlug, jede Sekunde aufs Neue.

„Wir konnten die Blutung nicht rechtzeitig stoppen. Es tut mir sehr Leid.“
 

Jesse wollte seine lahme Entschuldigung nicht hören. Er glaubte ihm kein Wort. Eleonore ging es gut. Dieser dahergelaufene Typ in dem weißen Kittel, der so tat, als wäre er etwas besseres, hatte doch keine Ahnung. Vor noch wenigen Minuten war er dort drin gewesen, bei Eleonore, und ihr ging es gut. Sie hatte geschrien und geflucht, ihm seine Finger vor Schmerzen zerquetscht, aber es ging ihr gut. Sie war quicklebendig. Was erlaubte sich dieser Kerl, etwas anderes zu behaupten? Machte er einen grausamen Scherz? Er würde gleich durch diese Tür spazieren, hinter der Eleonore auf ihn warten würde, ihr gemeinsames Kind im Arm.

Aber als Jesse Helen an Petes Schulter sinken sah, bitterlich weinend, traf ihn die Realität wie eine Abrissbirne. Er fühlte sein Herz noch, auch wenn er sich sicher war, dass es nicht mehr schlug. Eleonores Eltern folgten dem Arzt in das Zimmer, doch Jesse blieb genau dort stehen, wo er war. Er konnte sich nicht bewegen. Wollte es auch gar nicht. In diesem Moment hatte er aufgehört, zu existieren.

Die erste Zeile eines Briefes

Ich atmete tief aus, als Jesse seine Geschichte beendete. Ich hatte Tränen in den Augen und wischte sie mir aus den Augenwinkeln. Er räusperte sich und sah mich abwartend an. Ich hatte jedoch keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich war so ergriffen von seiner Vergangenheit, und fühlte mich auf einmal wie ein Fremdkörper neben ihm, als könnte ich niemals Teil seines Lebens werden. Wie konnte ich je mit Eleonore mithalten? Sie war seine große Liebe gewesen. Mit ihr und Kelly hatte er sein Leben verbringen wollen. Und dieses Leben hatte er nicht freiwillig aufgegeben. Es war ihm einfach genommen worden.
 

„Es tut mir so Leid“, flüsterte ich schließlich. Es war das Einzige, was mir in diesem Moment sinnvoll erschien. Ich hatte nicht erwartet, dass er mir wirklich alles erzählen würde, alles, ohne irgendetwas auszulassen. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte ihn nicht gefragt. Nein, das stimmte nicht. Ich war dankbar, wie offen er mir gegenüber war.

„Danke, dass du mir das alles erzählt hast“, sagte ich und wurde mir plötzlich wieder Lydias Ratschlag bewusst, mir erst klarzuwerden, ob ich all das ertragen konnte, bevor ich mich auf Jesse einließ. Aber seine Geschichte hatte nichts an meinen Gefühlen geändert, oder dem Wunsch, mit ihm zusammenzusein.

Allerdings hatte es mich noch unsicherer bezüglich Jesses Gefühlen für mich werden lassen. Würde er mich mit Eleonore vergleichen? Gegen Tote kam man niemals an. Und so, wie er Kellys Mutter beschrieben hatte, war sie das totale Gegenteil von mir. Sie war voller Lebensfreude, gesprächig, temperamentvoll, gab ihm Kontra. Und was war ich dagegen? Eine graue Maus, wie ein Schatten, uninteressant. Wieso gab er sich überhaupt mit mir ab? Ich wollte ihn fragen, aber nachdem er mir diese traurige Geschichte erzählt hatte, erschien es mir nicht richtig.
 

„Sag mir, was du denkst“, forderte Jesse mich auf und sah mich unverwandt an.

„Ich würde gerne wissen, wie sie aussieht.“ Ausgesehen hat, wäre der richtige Ausdruck, aber ich brachte es nicht über mich, in der Vergangenheitsform von Eleonore zu sprechen. Das war nur einer von Millionen Gedanken, der mir im Kopf schwirrte. Jesse zeigte auf einen Bilderrahmen, der auf dem Bettkasten stand. Es wunderte mich, dass er mir bisher nicht aufgefallen war. Ein junges Mädchen lächelte mich von dort aus an, zeigte ihre weißen Zähne und ihre wallenden blonden Locken, die ihr über die Schulter fielen, weil sie sich leicht nach vorn beugte. Mir drehte sich der Magen um. Sie war so wunderschön. Ich machte mir nicht vorrangig Gedanken darüber, ob ich damit klarkommen würde, dass Jesse vor allem anderen Kellys Vater war, sondern dass seine Gefühle für mich niemals so stark sein konnten wie für Eleonore. Er sollte sie ja nicht aus seinem Gedächtnis streichen, aber ich würde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens das Gefühl haben, mit ihr verglichen zu werden. Schon jetzt fing ich damit an, als ich ihr Bild betrachtete. Sie war einfach so hübsch. Was wollte er da mit mir? Hatte er mich extra ausgesucht, weil ich so völlig anders war als Eleonore, äußerlich und innerlich? Wir hatten nichts gemein. Wollte er einfach nicht an sie erinnert werden? War ich ein schematisch ausgesuchtes Opfer? Ich hasste mich für meine Gedanken und die dabei aufkommenden Tränen, die ich zurückzuhalten versuchte.

Wieso ich, wollte ich Jesse fragen. Was magst du wirklich an mir? Oder bin ich nur ein Zeitvertreib? Es war unfair, so etwas zu denken. Ich sollte ihm mitteilen, wie ich mich fühlte, damit er meine Zweifel zerstreuen konnte. Doch ich entschied mich aus zwei Gründen dagegen.

1: Ich wollte nicht wie ein kleines verunsichertes Mädchen wirken – das ich ja eigentlich war.

Und 2: Ich hatte Angst, dass er meine Zweifel nicht zerstreuen konnte.
 

„Ist das alles?“, fragte Jesse und riss mich damit aus meinen Gedanken. Worüber hatten wir gerade nochmal gesprochen? Er sah mich stirnrunzelnd an.

„Ich denke, dass dein Rührei das Beste ist, das ich je gegessen habe“, log ich. Mir kam eine völlig andere Idee. Wenn Jesse so ehrlich zu mir war, sollte ich das auch sein.

„Und ich glaube, ich muss dir was erzählen. Alles andere wäre unfair.“

Also erzählte ich ihm von Natalie und wie mein Leben aus der Bahn geraten war, weil ich ohne sie völlig hilflos war, weil ich keine anderen Freunde hatte. Ich erzählte ihm, dass ich wochenlang das Haus nicht verlassen hatte, nicht einmal, um in die Schule zu gehen. Ich erzählte ihm von meinen Depressionen, von meiner Antriebslosigkeit, von meinem ausbleibenden Hunger. Von der Sorge meiner Eltern und meiner Schwester, von den Sitzungen beim Psychiater, die mir nie wirklich weitergeholfen hatten, von den Versuchen meiner Familie, mich wieder ins Leben zurückzuholen. Ich erzählte ihm von meinen verzweifelten Briefen, die ich Natalie geschrieben hatte, die sie jedoch nie beantwortet hatte, dass mein gesamtes Selbstvertrauen mit ihr verschwunden war. Und davon, wie ich mich nie vollkommen von ihrer Abwesenheit und meiner damit einhergehenden Einsamkeit erholt hatte, bis... Bis ich ihn getroffen hatte.
 

„Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet du. Am Anfang konnte ich dich nicht mal leiden“, gestand ich ihm. „Aber du hast mich aus meinem Loch geholt. Ich kann mich wieder auf etwas freuen, wenn ich aufstehe, und warte nicht nur geduldig darauf, dass ein weiterer Tag an mir vorbeizieht. Und dafür bin ich dir unendlich dankbar.“ Ich starrte auf meine Hände, denn ich wollte nicht sehen, wie sich der Ausdruck in seinen Augen verändert hatte, weil er jetzt die Wahrheit kannte.

„So, jetzt weißt du es. Ich hätte es dir vielleicht früher sagen sollen, aber ich wusste nicht, wie...“, sagte ich, weil ich die Stille nicht ertrug. Er wusste wohl nicht, was er sagen sollte. Tja, das konnte ich ihm nicht verdenken. Ich machte mich darauf gefasst, dass er mich nun zurückwies. Mir war klar, dass er ein labiles Mädchen nicht im Umfeld seiner Tochter gebrauchen konnte. Er hatte schon genug Probleme. Für eine kurze Zeit hatte ich wirklich geglaubt, mit uns beiden könnte es klappen. Aber wem machte ich hier was vor? Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich sollte mich glücklich schätzen, überhaupt seine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Mein Kopf fand sich erstaunlich schnell damit ab, bald wieder allein zu sein. Mein Herz bereitete mir dagegen mehr Probleme. Aber damit kannte ich mich ja aus. Wenn Jesse es nur endlich hinter sich brächte. Ich wäre ihm nicht böse; ich konnte es verstehen.

„Sag irgendwas“, bat ich ihn, während meine Fingernägel sich in meine Handinnenflächen pressten. Doch er sagte nichts. Seine Hände umfassten mein Gesicht, und bevor ich kapierte, was er tat, lagen seine Lippen auf meinen. Ich hatte mit so ziemlich allem gerechnet, aber nicht damit. Es war kein sanfter Kuss. Er war bestimmt und fest, sicher, wie ein Versprechen. Als er sich von mir löste, war er etwas außer Atem.

„Glaubst du etwa, damit kannst du mich in die Flucht schlagen?“ Er sah mich beinahe tadelnd an. Mein Herz schlug wie das eines kleinen Vogels. Ein Kolibri, würde ich vermuten.

„So schnell wirst du mich nicht los.“ Dieses Mal war ich diejenige, die ihn küsste. Die Zeit verlor an Bedeutung, der Raum begann sich aufzulösen, es gab nur noch mich und Jesse. Seine Hände auf meinem Rücken, meine Hände in seinem Haar. Unsere Herzen, die ich beide schlagen spürte, und das Rauschen in meinen Adern, die Erleichterung, die mich durchströmte. Das Gefühl, lebendig zu sein.

„Ich würde sie gerne richtig kennenlernen“, murmelte ich, als Jesse meinen Hals mit Küssen bedeckte. Er hielt inne und sah mich an, beinahe unsicher. Aber ich wollte ihm zeigen, dass ich es ernst meinte. Mit ihm, und mit Kelly.

„Okay“, sagte er schließlich.
 

Meine Schwester rief Jesse an – ich hatte ja mein Handy ausgeschaltet – und er gab sie nach kurzem Wortwechsel an mich weiter. Ich bat sie, mich abzuholen. Dafür erntete ich von Jesse einen fragenden Blick.

„Sie wird sich besser fühlen, wenn sie mit eigenen Augen sieht, dass du dich über Nacht nicht in ein Monster verwandelt hast“, versuchte ich einen Witz. „Außerdem will ich dir nicht deine kostbare Zeit mit deiner Tochter stehlen“, fügte ich hinzu.

„Zeit mit dir ist auch kostbar“, entgegnete Jesse, was mich dahinschmelzen ließ. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter und atmete tief durch. Ich wollte diesen Moment fest in mich einschließen. Sein Geruch in meiner Nase, das Gefühl, mich an seiner Schulter anzulehnen und unsere ineinander verschränkten Hände.

Beinahe hätte ich ihm gesagt, dass ich ihn liebte. Aber ich tat es nicht. Noch immer – und trotz seines Versprechens, ihn nicht so schnell wieder loszuwerden – saß in mir noch immer die Angst fest, dass schon morgen alles vorbei sein könnte. Wahrscheinlich litt ich unter Verlustängsten. Ich beschloss, wieder in meine eigenen Klamotten zu schlüpfen, bevor Tammy kam.

„Nimm wenigsten einen Schal von mir“, bat Jesse und schlang ihn mir zeitgleich um den Hals. „Du hast dir bestimmt eine Erkältung eingeholt“, sagte er und küsste meine gerötete Nase.
 

Im Auto gelang es Tammy erstaunlich lange, zu Schweigen. Ich bemerkte natürlich die Blicke, die sie mir zuwarf. Aber ich würde ganz bestimmt nicht von alleine anfangen, zu reden. Eigentlich wollte ich ihr gar nichts erzählen. Die wesentlichen Dinge würde ich garantiert nicht erwähnen. Wenn sie jedoch nach Banalitäten fragte, wie zum Beispiel, ob Jesse und ich im selben Bett geschlafen hatten, würde ich ihr wohl oder übel das Nötigste erzählen müssen. Es kam mir bereits wie eine Ewigkeit vor, seit ich in Jesses Armen eingeschlafen war. So viel war inzwischen passiert.

Ich fragte mich, ob Tammy es nicht vielleicht schon wusste. Immerhin wussten die Jungs ja, wer Kelly war. Hatte Brandon ihr gegenüber etwas erwähnt? Doch ich konnte ihr ansehen, dass meine Befürchtung unbegründet war. Ich hätte es längst bemerkt, wenn sie Bescheid wüsste.

„Also...“, begann meine Schwester schließlich, als sie vor unserem Haus parkte. „Sollte ich irgendwas wissen?“ Sie sah mich durchdringend an, als könnte ich sie dann nicht mehr belügen. Doch ich zuckte nur mit den Schultern und sah sie unschuldig an.

„Nein, es ist nichts passiert“, log ich. Wobei – auf das bezogen, was Tammy meinte, war es nicht mal eine Lüge.

„Und ihr seid jetzt so richtig zusammen?“ Ich schnallte mich ab und stieg aus.

„Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber es ist mein Leben“, sagte ich, während Tammy an meine Seite eilte.

„Na dann viel Spaß, wenn du es Mom und Dad erzählst.“ Jetzt klang sie beinahe schadenfroh. Wahrscheinlich hatte ich es nicht anders verdient. Ich streckte ihr als Antwort nur die Zunge raus. Unsere Eltern warteten schon am Küchentisch auf uns.
 

„Hi“, sagte ich so unverfänglich wie möglich und holte mir etwas zu Trinken aus dem Kühlschrank, weil ich etwas zu tun haben wollte und bereits jetzt ihre bohrenden Blicke in meinem Rücken spürte.

„Hallo, Tochter.“ Ich hasste es, wenn meine Mutter mich so nannte. Es hieß, ich hatte etwas falsch gemacht und würde gleich eine Standpauke dafür ernten. Tammy trat klugerweise den Rücktritt in ihr Zimmer an.

„Setz dich zu uns“, bat mein Vater und ich kam mir vor wie in einem Kreuzverhör, als ich mich den beiden gegenüber an den massiven Holztisch setzte. Ich zog Jesses Schal aus und knetete ihn in meinen Händen.

„Also“, begann meine Mutter. Sie und Tammy waren sich so ähnlich.

„Wann hattest du vor, uns zu erzählen, dass du einen Freund hast?“, wollte sie wissen und tauschte mit meinem Vater einen kurzen Blick. Also hatte meine Schwester doch schon etwas verraten. Ich versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. Für eine Sekunde tauchte eine Vision vor mir auf, in der Jesse und ich in vielen Jahren dieselbe Diskussion mit Kelly führten. Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

„Ich wollte es euch erst erzählen, wenn ich mir sicher bin“, erklärte ich lahm. Ich reifte zu einer immer besseren Lügnerin heran. Als ob ich mir meiner Gefühle für Jesse nicht sicher wäre! „Und das ist jetzt der Fall. Also: Überraschung! Ich habe einen Freund.“ Ich konnte an der Reaktion meiner Eltern nicht erkennen, wie sie das fanden.

„Geht das auch ein bisschen genauer?“, hakte mein Vater nach.

„Er heißt Jesse, ist einundzwanzig und er ist in Brandons Band.“ Ich hoffte, dass sie Letzteres beruhigte. Sie mochten Brandon.

„Einundzwanzig?“ Natürlich war das das Einzige, was bei meiner Mutter hängenblieb. So groß war der Altersunterschied eigentlich gar nicht. Das wirkte nur so.

„Und wann dürfen wir ihn mal kennenlernen?“ Das war weniger eine Frage als eine Aufforderung. Ich seufzte.

„Bald.“ Ich konnte mir meine Eltern und Jesse nicht an einem Tisch vorstellen. Die Tattoos würden sie wahrscheinlich nicht weiter stören – solange seine Leidenschaft nicht auf mich übersprang – aber das Rauchen würde zum Problem werden. Mein Großvater war an Lungenkrebs gestorben, weshalb dieses Thema in unserer Familie absolut tabu war. Aber Jesse war ja bereits dabei, aufzuhören. Seit wir uns kennengelernt hatten, war es schon viel besser geworden. Und Kelly mussten wir ja nicht sofort erwähnen. Nicht, dass ich sie verheimlichen wollte oder es mir unangenehm wäre, aber ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mutter mir verbieten würde, Jesse weiterhin zu sehen. Nicht wegen mir, sondern um Kellys Willen. In ihren Augen war ich noch immer hochgradig labil.
 

Nach dem Verhör ging ich sofort in mein Zimmer und legte mich aufs Bett. Ich hatte zwar extrem viel geschlafen, aber die Ereignisse heute hatten mich geschafft. Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch, an dem ich in den letzten Tagen für das Logo von Zero gearbeitet hatte. Es waren letztendlich zwei Entwürfe geworden, weil ich mich nicht für einen hatte entscheiden können. Als meine Augen über das Chaos schweiften, registrierten sie noch etwas völlig anderes. Natalies Brief. Ich hatte wochenlang versucht, ihn zu ignorieren, aber jetzt bekam ich ein schlechtes Gewissen. Wieso hatte ich das so lange vor mir hergeschoben? Weil ich nicht verletzt werden wollte, war die schlichte Antwort. Ich wollte keine abweisenden Worte von ihr hören. Aber jetzt fühlte ich mich stark genug, die Zeilen zu lesen, egal, was darin stand. Ich schnappte mir das Couvert und riss es auf. Es war nur ein einzelnes Blatt. Ich hatte ihr früher halbe Romane geschrieben, als ich sie darum gebeten hatte, sich nicht von mir abzuwenden und ihr zu versichern, dass wir immer Freundinnen bleiben würden, egal was kam; dass wir das zusammen durchstehen würden. Aber ganz gleich, wie dick die Briefumschläge auch waren, sie hatte nie darauf geantwortet. Einmal hatte ich sogar befürchtet, die Ärzte würden ihr nicht erlauben, Post zu erhalten, aber Kasper hatte diese kleine Hoffnung leider zunichtegemachte, indem er mir versicherte, dass all meine Briefe in einer Schublade in Natalies Zimmer lagen. Ob gelesen oder nicht, hatte er leider nicht in Erfahrung bringen können. Zumindest hatte sie sie nicht weggeschmissen.
 

Liebe Lea, stand in der ersten Zeile, danach ein langer Abstand. Schon das war zu viel für mich. Ich stopfte das Blatt mit zittrigen Fingern zurück in den Umschlag und hätte mich am liebsten selbst angeschrien, nicht so ein Schisser zu sein. Doch solange ich nur diese eine Zeile gelesen hatte, konnte ich so tun, als würde sie die ersten beiden Worte genauso meinen. Liebe Lea. Ich konnte mir einreden, dass ich ihr wirklich noch lieb und teuer war, dass uns noch mehr miteinander verband als unsere Vergangenheit, dass auch meine Abwesenheit ein Loch in ihr Herz gerissen hatte, das durch nichts wieder gefüllt werden konnte. Ich legte den Umschlag zurück auf den Schreibtisch und starrte ihn misstrauisch an. Und wenn sie auf eine Antwort wartete? Bevor ich weiter mit mir hadern konnte, unterbrach mich das Klingeln meinens Handys. Es war Jesse.
 

„Hi“, sagte ich und rollte mich auf den Rücken, um die Decke anzustarren.

„Hey. Bist du gut nach Hause gekommen?“, wollte er wissen. Ich beschloss, einfach mit der Tür ins Haus zu fallen.

„Ja. Mehr oder weniger. Meine Eltern wollen dich kennenlernen.“

„Das klingt so, als müsste ich Angst haben.“

„Ich hoffe, du bist kugelsicher“, scherzte ich.

„Solange sie nicht aus Silber sind“, erwiderte Jesse.

„Soso, ein Werwolf also. Ich glaube, ich habe bei Vollmond schon was vor.“ Ich hörte Jesses klares Lachen durch den Lautsprecher.

„Ich dachte eigentlich an einen Vampir“, erklärte er. Ich zuckte die Schultern und wurde mir zu spät bewusst, dass er das ja nicht sehen konnte.

„Macht nichts. Dann gehe ich eben nur noch bei Tageslicht aus dem Haus“, wand ich ein.

„Dafür ist es zu spät, schon vergessen? Ich habe dich heute morgen gebissen.“ Sofort schnellten meine Finger zu der Stelle. Das war echt erst heute gewesen? Natürlich hatte ich keine Bissmale an meinem Hals, aber über die Vorstellung musste ich trotzdem schmunzeln.

„Ich glaube nicht, dass mir ein Leben in ewiger Dunkelheit gut gefällt“, gab ich zu bedenken.

„Keine Sorge. Wir sind moderne Vampire. Wir können auch bei Tageslicht raus. Wir sind Glitzer-Eddies.“ Ich runzelte die Stirn.

„Was sind Glitzer- Eddies?“ Jesse seufzte am anderen Ende der Leitung.

„Na du weißt schon, dieses Twilight-Zeug. Da gibt es diesen Typen, Edward. Und der glitzert, wenn er im Sonnenlicht steht. Daher Glitzer- Eddie.“ Ich lachte.

„Warte. Woher weißt du, worum es in Twilight geht? Bitte sag mir nicht, dass du diesen Film gesehen hast.“ Ich hörte im Hintergrund ein lautes Quietschen. Kelly.

„Nein. Elly hat die Bücher gelesen.“ Oh. Ich blieb stumm, weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.

„Aber ich bin sehr froh, dass du nicht mit diesem Zeug infiziert bist“, ergriff Jesse wieder das Wort, weil er wohl merkte, wie verlegen ich war. Daran musste ich arbeiten. Ich konnte nicht jedes Mal beim Erwähnen von Eleonores Namen in Stillschweigen verfallen. Sie war ein Teil seines Lebens. Und würde es immer bleiben.

„Was liest du denn so?“, wollte Jesse wissen. Ich sah auf mein volles Regal, das so überquoll, dass bereits einige Bücher ihren Platz auf dem Fußboden gefunden hatten.

„Ach, alles mögliche. Das, was alle anderen auch lesen.“

Jesse schwieg am anderen Ende der Leitung.

„Und was wäre das?“, hakte er nach, als ich nicht weitersprach.

„Ähm... Das Schicksal ist ein mieser Verräter, the perks of being a wallflower, sowas.“ Es waren Jugendbücher. Aber verdammt gute. „Die Bücherdiebin, Wunder... Soll ich jedes einzelne Buch durchgehen?“

„Wie lange würde das dauern?“, fragte Jesse.

„Eine Weile“, gestand ich und fasste gleichzeitig den Entschluss, mein Regal bald mal wieder aufzuräumen.

Waffenstillstand

Am nächsten Tag packte ich den Brief in meine Tasche, um ihn nach der Schule direkt zum Tierheim mitzunehmen und dort zu lesen. Tiere hatten den Vorteil, gut zuzuhören, aber nie zu wiedersprechen oder einem ins Wort zu fallen. In Mathe bemerkte ich, dass ich noch immer die Formeln nicht gelernt hatte, die Jesse mir aufgeschrieben hatte.

Ich bekam furchtbare Kopfschmerzen, weil ich über so viele Dinge nachdachte. Jesse. Eleonore. Kelly. Natalie. Im Unterricht passte ich nicht auf. Und zu meinem Pech schrieben wir in Französisch einen unangekündigten Test. Ich konnte mich nicht konzentrieren und beantwortete nur etwa die Hälfte der Fragen, und auch diese wahrscheinlich fehlerhaft. Das ließ meine Stimmung endgültig in den Keller sinken. Ich war froh, als ich nach Schulschluss endlich an die frische Luft kam. Da ich hoffte, dass meine Kopfschmerzen dadurch verschwinden würden, beschloss ich, zum Tierheim zu laufen.

Zu meiner Überraschung sah ich Kasper mit Martha reden. Bux, der ihn wie immer begleitete, kündigte mein Eintreffen an. Ich hob die Hand zur Begrüßung und gab Bux die Liebkosung, die er vehement forderte.

„Lust auf einen Spaziergang?“, fragte Kasper mit seinem schiefen Lächeln.

„Ich hole nur schnell Pearl.“ Wir machten eine große Runde und setzten uns danach ins Gras auf dem Hundetrainingsplatz, um die beiden frei laufen lassen zu können. Bisher hatten wir hauptsächlich über seine Ausbildung als Fotograf gesprochen, die er vor kurzem begonnen hatte. Wenn ich ihm dabei zuhörte, wie er davon schwärmte, und sah, wie seine Augen dabei leuchteten, wünschte ich mir, ich könnte mich auch für etwas so begeistern, für etwas, das ich zu meinem Beruf machen könnte. Die Arbeit mit den Tieren machte mir zwar großen Spaß, und ich konnte das den ganzen Tag machen, aber von dem Gehalt eines Tierpflegers im Tierheim konnte man leider nicht leben. Ich würde mir nie eine eigene Wohnung leisten können. Aber ich hatte wirklich nicht vor, ewig bei meinen Eltern zu leben, ganz egal, wie gerne ich meine Arbeit verrichtete.
 

Ich beneidete Jesse darum, dass er sich von seinem Elternhaus abgenabelt hatte, auch wenn ich weiterhin Kontakt zu meinen haben wollte.

„Du siehst müde aus“, sagte Kasper und betrachtete mich besorgt.

Wenn du wüsstest, dachte ich und biss mir auf die Lippe.

„Ich habe nur schlecht geschlafen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Alles in Ordnung.“ Er glaubte mir meine Lüge, denn ich merkte deutlich, wie er sich entspannte. Er blinzelte der Sonne entgegen und stützte sich auf seine Hände.

„Wann haben Zero ihren nächsten Auftritt?“, fragte der Bruder meiner besten Freundin und mir wurde bewusst, dass ihn keiner über den Auftritt am Samstag informiert hatte, was mir sofort ein schlechtes Gewissen bereitete. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung.

„Tammy hat einen Plan für die nächsten Monate zuhause. Ich sage dir dann Bescheid.“ Ich kramte in meiner Tasche nach Stift und Zettel, um mir das aufzuschreiben, weil ich in letzter Zeit dauernd Gefahr lief, etwas zu vergessen. Dabei stieß ich auf den Brief.

„Was ist?“, fragte Kasper, als er mich zögern sah. Ich zog den Brief heraus. „Du hast ihn gelesen“, schlussfolgerte er, da der Umschlag aufgerissen war. Ich schüttelte den Kopf und starrte zum hundertsten Mal auf das Papier.

„Nein. Ich habe ihn aufgemacht, aber nicht gelesen.“ Kasper seufzte.

„Meine Schwester ist nicht zu einem Monster mutiert. Das weißt du, oder?“ Es schockierte mich, dass er das sagte.

„Ich weiß“, erwiderte ich sofort. „Keine Ahnung, wieso ich das so lange vor mir herschiebe.“ Kasper nahm mir den Brief aus der Hand. Beinahe hätte ich ihn dafür angeschrien.

„Soll ich ihn zuerst lesen? Wenn was Blödes drinsteht, können wir ihn ja verbrennen.“ Ich schmunzelte. „Ich kann ihn dir auch vorlesen“, schlug er vor. Das hielt ich für eine gute Idee, denn so konnte ich mich nicht mehr davor drücken. Zustimmend nickte ich.

„Okay.“ Kasper sah mich aufmunternd an, während ich mich nervös in einen Schneidersitz hockte und an meinen Nägeln kaute. Das hatte ich seit Jahren nicht mehr getan.
 

„Liebe Lea“, begann Kasper, nachdem er sich geräuspert hatte.

„Ich bin's. Natalie. Du weißt schon, dieses blonde Mädchen, das mal deine beste Freundin war.“ Mir fiel sofort die Vergangenheitsform auf, was mir einen Stich versetzte. Außerdem waren ihre Haare nur blond gefärbt. Kasper schien zu merken, wie ich die Luft anhielt und ergriff meine Hand. Ich war froh, etwas zum festhalten zu haben.

„Zunächst möchte ich mich für all deine Briefe bedanken. Da ich dir nie zurückgeschrieben habe, ist es nicht verwunderlich, dass du irgendwann damit aufgehört hast. Aber ich kann dir versichern, ich habe mich über jeden einzelnen der vierunddreißig Briefe gefreut. Und es ist schön, zu wissen, dass es dir gut geht.“ In keinem meiner Briefe hatte ich erwähnt, wie schlecht es mir eigentlich ging. Ich hatte mich immer nur darauf konzentriert, ihr zu versichern, dass ich sie nicht aufgeben würde. Ich hatte Schultratsch erzählt, um ihr etwas Alltag zurückzugeben. Aber wie es mir ging, hatte ich nie erwähnt. Oder ich hatte gelogen.

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, was für eine schlechte Freundin ich war. Nicht nur, seit ich weg bin, sonder auch davor schon. Du hast mich immer vor Sven gewarnt, doch ich wollte nicht auf dich hören. Ich habe dich vernachlässigt und dadurch unsere wunderbare Freundschaft gefährdet. Ich hoffe, wenn ich entlassen werde, die Gelegenheit zu haben, wiedergutzumachen, was ich getan und wie ich mich verhalten habe. Und ich hoffe, diese Chance von dir zu bekommen. Wenn du das nicht möchtest, kann ich das natürlich verstehen. Ich wünsche mir nur mein Leben zurück. Und du warst – bist – ein wichtiger Teil darin.“ Kasper sah mich prüfend an. Mir ging es gut. Ich hatte Tränen in den Augen, aber mir ging es gut. Fantastisch.

„Da steht noch mehr“, sagte Kasper und ich nickte.

„Lies weiter.“ Meine Stimme war ein ersticktes Zittern, doch ausnahmsweise weinte ich Freudentränen.

„Komm mal her.“ Natalies Bruder legte den Brief zur Seite und nahm mich in den Arm, während ich vor mich hin schluchzte. Ich hielt nichts zurück. Es tat so gut, loszulassen, die Zweifel endlich begraben zu können.

„Ich bin so erleichtert.“ Kasper klopfte meine Schulter.

„Siehst du. Kein Monster.“ Ich lachte und wischte mir die Tränen ab.
 

„Störe ich bei irgendwas?“ Bei dem Klang seiner Stimme löste ich mich sofort von Kasper.

„Jesse.“ Er stand, mit den Ellbogen auf den Zaun gestützt, am Rand des Trainingsplatzes. Und er wirkte nicht gerade erfreut. Ich stand auf, um Abstand zwischen mich und Kasper zu bringen, was lächerlich war, weil wir nichts Falsches getan hatten. Für Jesse hatte das wahrscheinlich einen anderen Eindruck gemacht. Ich strich mir eine Strähne hinters Ohr und war unschlüssig, ob ich zu ihm gehen sollte. Er nahm mir die Entscheidung ab, indem er das Tor öffnete und zu uns hereinkam. Bux begrüßte ihn stürmisch, doch er ignorierte es und steckte seine Hände in die Jackentasche.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich so heiter wie möglich. Jesse betrachtete Kasper von oben bis unten und beschloss dann, ihn zu ignorieren, als dieser ihn begrüßte. Kasper war im ersten Moment etwas verwirrt, doch er kombinierte anscheinend ziemlich schnell und rief nach Bux, um ihn an die Leine zu nehmen. Ich hatte ihm noch nicht von Jesse und mir erzählt.

„Ich lasse euch beide mal allein“, sagte er und warf mir einen vielsagenden Blick zu, worüber ich nur die Augen verdrehte.

„Danke, Kasper. Für alles.“ Ich wollte eigentlich nicht, dass er ging. Doch ihn zu bitten, zu bleiben, schien mir keine schlaue Idee zu sein, so wie Jesse ihn beäugte. Es erinnerte mich an unsere erste Begegnung. Da hatte er mich auch so skeptisch angesehen.

„Hier. Ich glaube, das schaffst du jetzt alleine.“ Er drückte mir Natalies Brief in die Hand. Für einen Moment wog der Umschlag genauso schwer wie damals, doch als ich mich an die Worte erinnerte, wurde es gleich besser.

„Danke“, flüsterte ich erneut und er zwinkerte mir zu. Ich war mir nicht sicher, ob er das extra machte, damit Jesse es sah. Doch es war mir eigentlich egal. Jesse sollte sich nicht so anstellen. Kasper war mein Freund. Und das würde sich nicht ändern, nur weil er eifersüchtig war.

„Wir sehen uns.“ Ob er das zu mir sagte oder Jesse, oder uns beiden, konnte ich nicht heraushören, aber im Gegensatz zu Jesse erwiderte ich seinen Gruß. Erst als Kasper ins Auto gestiegen war, drehte ich mich zu Jesse um, dessen Hände noch immer in seiner Jacke steckten.
 

„Hi“, sagte ich, als mir auffiel, dass ich ihn bisher gar nicht richtig begrüßt hatte.

„Hi.“ Er schien sich etwas zu entspannen, sah aber immer noch skeptisch zu, wie Kasper davonfuhr. Wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, wäre ich nie darauf gekommen, dass Jesse gestern sein großes Geheimnis gelüftete hatte.

„Woher wusstest du, wo ich bin?“ Ich war nervös, weil ich Angst hatte, Jesse könnte da ernsthaft was in den falschen Hals gekriegt haben. Kasper und ich hatten uns zwar nur umarmt, aber ich war ja bekanntlich eher nicht so der anhängliche Typ.

„Du warst nicht zuhause, also... Es gibt nicht so viele Plätze, an denen man nach dir suchen muss.“ War das ein absichtlicher Seitenhieb?

„Wow“, war alles, was ich darauf entgegnete. Ich ging in die Hocke, was Pearl sofort dazu veranlasste, zu mir zu laufen. Ihr Schwanz wedelte freudig, während ich ihr die Leine anlegte.

„Ich bringe Pearl in ihre Box.“ Und dann, weil ich es doch nicht aushalten konnte, sauer auf ihn zu sein, und ich ihn so nah bei mir haben wollte wie möglich: „Kommst du?“ Ich schlug einen versöhnlichen Ton an. Jesse sagte zwar nichts, zögerte aber keine Sekunde, mir nachzusetzen. Ich nahm das als Friedensangebot, oder wenigstens als Waffenstillstand. Ich wollte ihm sagen, dass ich mich freute, ihn zu sehen, doch er kam mir zuvor.

„Kasper ist also nicht nur unser Fotograf, was?“

Von wegen Waffenstillstand. Ich seufzte und schloss die Tür hinter uns, als wir den Hundetrakt verließen.

„Lea. Oh. Hallo, Jesse. Schön, dich wiederzusehen.“

Ich konnte Martha ihre Überraschung ansehen. Normalerweise war ich immer allein, und heute kamen mich gleich zwei Männer besuchen. Ich wollte nicht, dass sie möglicherweise ausplauderte, dass Kasper öfter vorbeikam, deshalb verabschiedete ich mich schnell, mit der Entschuldigung, wir seien gerade auf dem Sprung. Nicht, dass ich vor Jesse meine gelegentlichen Treffen mit Kasper geheimhalten wollte, aber ich wollte es ihm selbst sagen, in aller Ruhe. Wir stiegen in Jesses Wagen und ausnahmsweise drehte er die Musik leise.

„Wo fahren wir hin?“, fragte ich und bemerkte, wie angespannt sein Kiefer war, als ich ihm einen Blick zuwarf. Es wunderte mich, keine Mahlgeräusche zu hören. Ich seufzte.

„Kasper ist Natalies Bruder“, erinnerte ich ihn und beobachtete seine Reaktion. Offensichtlich hatte er das vergessen. Er biss sich auf die Lippe. Am liebsten hätte ich mich zu ihm hinübergelehnt und ihn geküsst.

„Und gerade eben, als du dazugestoßen bist, hat er mir einen Brief von ihr vorgelesen. Es ist der Erste, den sie mir geschrieben hat.“ Ich wollte unbedingt wissen, was noch darin stand. Es juckte mich in den Fingern, den Umschlag hervorzuholen und die Zeilen zu überfliegen.

„Ich habe das wochenlang vor mir hergeschoben. Ich brauchte einfach jemanden, der das mit mir gemeinsam macht.“ Jesse seufzte.

„Das verstehe ich ja. Aber wieso bist du nicht zu mir gekommen?“ Er war nicht sauer, nur neugierig.

„Du kennst sie nicht.“ Ich sagte es, ohne nachzudenken, doch es entsprach der Wahrheit. Jesse hatte keinerlei Bezug zu Natalie.

„Außerdem wollte ich nicht noch mehr Chaos... Ich meine, wir haben schon genug Dinge zu verarbeiten. Da wollte ich nicht auch noch damit kommen.“ Jesse presste die Lippen aufeinander.

„Das heißt jetzt hoffentlich nicht, dass du bei jedem Problem zu ihm rennst, statt zu mir.“ Verdammt. Er war noch immer eifersüchtig. Ich dachte, nach gestern würden wir uns nicht mit solchen Banalitäten aufhalten. Doch da hatte ich mich wohl getäuscht. Wir waren ein Paar mit ganz normalen Problemen – und noch ein paar mehr. Aber eigentlich war ich auch froh über seine Reaktion, weil es mir zeigte, wie wichtig ich ihm war.

„Nein. Du bist immer noch meine Nummer eins, wenn es darum geht, mir beim Heulen zuzusehen“, versuchte ich einen Scherz.

„Du hast geweint?“, fragte Jesse jetzt besorgt. Ich zuckte mit den Schultern.

„Ausnahmsweise waren es Freudentränen“, erklärte ich ihm.

„Also ist es ein guter Brief?“ Ich nickte, und nach einiger Überlegung fügte ich hinzu: „Willst du den Rest mit mir lesen?“

Jesse verzog das Gesicht. Ich wusste genau, was er dachte.

„Ich frage dich nicht, damit du dich besser fühlst. Vielleicht bekommst du durch den Brief ein Gefühl dafür, wer Natalie ist.“ Jesse nahm meine Hand, ohne von der Straße wegzusehen.

„Ich würde deine Freundin gerne kennenlernen.“ Er setze mehrmals zu einem neuen Satz an, schloss aber jedes Mal wieder den Mund.

„Was?“ Er atmete tief durch.

„Ich bin ziemlich erleichtert... Ich dachte schon, nach gestern... Dass dir das alles zu viel ist und...“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, vielleicht hast du es dir anders überlegt.“

Ich umschloss seine Hand, die meine festhielt, mit der anderen. Ich war nicht die Einzige, die unsicher sein konnte, das durfte ich nicht vergessen.
 

„Jesse.“ Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn liebte. Ich wollte es wirklich. Aber nicht im Auto. „Es hat sich nichts geändert. Ich will mit dir zusammen sein. Mit allem, was dazugehört.“ Jesse nickte. Er hatte sich wieder gefangen.

„Gut, dann weiß ich, was wir jetzt machen.“ Ich runzelte die Stirn.

„Zeit, deine Eltern kennenzulernen.“

Ich machte große Augen. Ich war mir nicht sicher, ob ich dazu schon bereit war; jemals bereit sein würde.

„Du solltest vielleicht nicht erwähnen, dass du rauchst“, fiel mir als erstes dazu ein. Man konnte es nicht mehr riechen. Keine Spur von Nikotin oder Rauch.

„Ich bin so gut wie clean“, sagte Jesse stolz. „Manchmal abends noch eine, aber das war's. Ich habe auch immer nur eine dabei. Für Notfälle.“ Er griff in seine Jackeninnentasche und zeigte mir die Zigarette.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte ich und fuhr ihm durchs Haar. Es passierte von ganz allein. Ich spürte, wie er seinen Kopf leicht in meine Richtung lehnte, die Berührung genießend. Ich wollte nicht zu meinen Eltern fahren, sondern mit ihm allein sein. Aber je schneller wir dieses Kennenlerngespräch hinter uns brachten, desto besser.

„Sonst noch was, das ich besser verschweigen sollte?“, fragte er und ich lachte.

„Deine Tattoos sollten kein Problem sein. Solange du mich nicht dazu überredest, mir auch eins stechen zu lassen.“ Ich erinnerte mich an unseren Besuch im Tattoostudio. „Aber vielleicht lasse ich mir ja doch die Nase piercen.“

Jesse warf mir einen warnenden Blick zu.

„Wehe. Ich lasse nicht zu, dass jemand Hand an dein süßes Gesicht legt.“ Ich wurde etwas rot, doch glücklicherweise musste Jesse sich auf die Straße konzentrieren.

„Bei dir alles gut verheilt?“, fragte ich Jesse und sah auf seine Schulterblätter.

„Ja. Bei Needle hatte ich noch nie Probleme. Er ist sehr professionell.“ Wir kamen bei mir zuhause an. Ich wollte noch nicht aussteigen und fragte deshalb weiter.

„Wie bist du eigentlich auf die Idee für den Spruch gekommen? Ich meine, die Message ist klar: Life is precious. Aber wie kommt man da drauf?“ Jesse schnallte sich ab und wandte sich mir zu.

„Kellys zweiter Vorname ist Precious.“ Oh. Das war ja nicht nur ein schöner Spruch, sondern auch noch ganz schön bedeutungsschwanger.

„Das gefällt mir“, sagte ich und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Anfangs erwiderte er den Kuss, doch dann lehnte er sich etwas zurück.

„Und du versuchst, Zeit zu schinden. Lass und endlich da reingehen.“ Wie war es möglich, dass er mich nach so kurzer Zeit schon so leicht durchschaute? Ich seufzte und folgte ihm zum Haus meiner Eltern. Es fühlte sich an, wie der Gang zur Schlachtbank.
 

Zur Sicherheit drehte ich den Schlüssel um, damit keine peinlichen Situationen entstanden.

„Das hätten wir geschafft.“ Ich lehnte mich gegen die Tür meines Zimmers und schloss kurz die Augen.

„War doch gar nicht so schlimm“, meinte Jesse und setzte sich wie selbstverständlich auf mein Bett. Ich mochte das. Ich zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich weiß nicht. Es war irgendwie komisch.“ Jesse ließ seinen Blick über mein Bücherregal schweifen.

„Bist du dir auch vorgekommen, wie bei einem Bewerbungsgespräch?“, fragte ich und setzte mich neben ihn.

„Ich finde deine Eltern, ehrlich gesagt, ziemlich nett.“ Ich wollte widersprechen, doch dann fiel mir wieder ein, wie schwierig sein Verhältnis zu seiner Mutter war. „Außerdem ist es doch verständlich, dass sie mich ausfragen. Sie wollen eben wissen, mit was für einem Typen ihre Tochter abhängt.“

Ich hob meine Augenbrauen. Ich wünschte, ich könnte es mit nur einer, aber egal wie lange ich vor dem Spiegel übte, es klappte einfach nicht. Da hatte man so viele Gesichtsmuskeln, und zu nichts waren sie nutze.

„Abhängt?“, wiederholte ich seine Worte. Jesse verdrehte die Augen.

„Gut, dann lass uns abhängen.“ Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Wir hatten genau die richtige Größe füreinander.

„Jesse“, schlug ich nach einer kurzen Stille einen ernsteren Ton an.

„Hm?“ Ich spürte, wie er mich von oben ansah.

„Wieso hast du... Ich meine, es ist deine Sache – ich meine, deine Entscheidung -, aber wieso hast du Kelly nicht erwähnt?“ Meine Eltern hatten ihn natürlich nicht danach gefragt, ob er eventuell Vater eines Kleinkinds war und eine tote Exfreundin hatte, aber es hatte Gelegenheiten gegeben, das Thema anzuschneiden. Ich war ihm nicht böse deswegen, eher erleichtert, aber ich wollte trotzdem gerne seine Beweggründe erfahren.

„Ich dachte, das wäre nicht unbedingt das passende Thema für eine erste Begegnung.“ Er legte einen Arm um mich. „Ist das okay für dich?“ Ich nickte.

„Natürlich. Es ist deine Entscheidung.“ Ich hoffte, bis zu dem Tag, an dem sie es erfuhr, meine Mutter endlich davon überzeugen zu können, dass es mir besser ging. Sonst würde sie Jesse all die Dinge erzählen, die ich getan hatte. Er wusste zwar inzwischen von meinen Depressionen, aber im Detail konnte das doch nochmal eine ganz andere Wirkung auf ihn haben. Und wenn meine Mutter ihm dann nahelegte, ich wäre kein guter Umgang für Kelly – und Kinder im Allgemeinen –, würde Jesse sich das mit uns vielleicht doch nochmal überlegen.
 

Woher ich wusste, dass meine Mutter das tun würde? Ganz einfach: Sie hatte es schon mal getan. Als meine Cousine uns samt Ehemann und Baby besuchen gekommen war. Wie das nunmal so war mit Neugeborenen, wurde Phil – Ein schrecklicher Name für ein Kind, wie ich fand. Nur Erwachsene sollten Phil heißen. Man konnte nicht mal einen Kosenamen daraus machen. Phily. Philchen. Funktioniert nicht. – der Reihe nach in der Familie herumgegeben, und jeder verfiel in einen Wahn der Babysprache und des Grimasseschneidens. Nur ich nicht. Ich hatte keine Lust, mich mit Phil zu unterhalten. Er würde ja doch nicht antworten. Und als ich dann an die Reihe kam, ihn auf den Arm zu nehmen, wurde er mir trotz Protest einfach in die Hand gedrückt. Also stand ich da, stocksteif, das Baby im Arm, ohne mich zu bewegen oder Anstalten zu machen, ihn mit seltsamen Lauten zum Lächeln zu bringen. Phil schien meine abgeneigte Aura zu empfangen, denn er begann sofort, zu weinen. Und als ich auch dagegen nichts unternahm, wurde mir das Baby wieder entrissen und alle versuchten, ihn zu beruhigen. Mir war es egal. Mir war es egal, ob ich Phil zum Weinen gebracht hatte, mir war sogar egal, ob er wieder damit aufhörte oder nicht. Mir war egal, was die anderen von mir dachten, nur weil ich kein angebrachtes Interesse an dem Baby zeigte. Ich steckte in einer meiner tiefsten Depressionen, was bedeutete, dass mir so ziemlich alles egal war. Auch, dass meine Mutter meiner Cousine flüsternd erzählte, wie ich auf dem Spielplatz eine Woche zuvor mit einem Stein nach einem Kind geworfen und getroffen hatte.

Sie hatte mich in die Küche geschickt, um Getränke zu holen, damit ich nicht mitbekam, wenn sie es erzählte. Doch auch wenn ich kaum etwas sagte und auf keine Fragen antwortete, die mir gestellt wurden, bedeutete das nicht, dass mein Gehör beeinträchtigt war. Das schien meine Mutter häufig zu vergessen. Aber auch das war mir egal. Was mir im Nachhinein jedoch nicht egal war, war die Tatsache, dass meine Mutter fest davon überzeugt war, ich hätte das Kind mit Absicht beworfen. Das kleine Mädchen hatte übrigens eine große Schramme auf der Stirn davongetragen, die mit vier Stichen genäht werden musste. Ich glaubte auch, mich an eine Gehirnerschütterung zu erinnern. Ich hatte zwar tatsächlich vorsätzlich mit Steinen geworfen, aber nicht auf Kinder, sonder ins Gebüsch. Das half mir, Aggressionen abzubauen – oder Langeweile zu bekämpften, je nachdem. Dumm nur, dass sich in einem der Büsche ein Mädchen versteckt hatte. Und noch dümmer, dass sie felsenfest behauptete, ich hätte sie mit Absicht getroffen. Was sollte ich sagen. Ihr Wort stand gegen meines. Und sie war ein süßes, verheultes Mädchen mit einem blutigen Kopf, und ich ein depressiver, gefühlloser Teenager. Kurz gesagt: Alle glaubten ihr, nicht mir. Einschließlich meiner Mutter. Ich wäre verletzt gewesen, hätte ich zu der Zeit etwas empfunden.

Jedenfalls wurde mir Phil nicht erneut aufgedrängt, als ich aus der Küche zurückkam. Ich beschwerte mich nicht darüber.
 

Um meine Gedanken aus diesen Erinnerungen zu reißen, holte ich den Brief aus meiner Tasche und drückte ihn Jesse in die Hand.

„Liest du ihn mir vor?“
 

Liebe Lea,

Ich bin's. Natalie. Du weißt schon, dieses blonde Mädchen, das mal deine beste Freundin war. Zunächst möchte ich mich für all deine Briefe bedanken. Da ich dir nie zurückgeschrieben habe, ist es nicht verwunderlich, dass du irgendwann damit aufgehört hast. Aber ich kann dir versichern, ich habe mich über jeden einzelnen der vierunddreißig Briefe gefreut. Und es ist schön, zu wissen, dass es dir gut geht. Ich möchte mich dafür entschuldigen, was für eine schlechte Freundin ich war. Nicht nur, seit ich weg bin, sondern auch davor schon. Du hast mich immer vor Sven gewarnt, doch ich wollte nicht auf dich hören. Ich habe dich vernachlässigt und dadurch unsere wunderbare Freundschaft gefährdet. Ich hoffe, wenn ich entlassen werde, die Gelegenheit zu haben, wiedergutzumachen, was ich getan und wie ich mich verhalten habe. Und ich hoffe, diese Chance von dir zu bekommen. Wenn du das nicht möchtest, kann ich das natürlich verstehen. Ich wünsche mir nur mein Leben zurück. Und du warst – bist – ein wichtiger Teil darin. Bis ich hier rauskomme, dauert es wohl noch ein paar Wochen, aber bis dahin würde ich mich sehr über einen Brief von dir freuen. Möglicherweise hast du ja schon lange mit mir abgeschlossen...

Ich möchte dir nur mitteilen, dass es mir besser geht. Ich weiß inzwischen, dass ich nicht so weitermachen kann. Ich habe meine Krankheit akzeptiert und arbeite daran. Auch wenn mir das nicht immer leicht fällt. Das Pflegepersonal ist sehr nett. Ich glaube, ich habe mich ein wenig in Angus verknallt. Er ist auch hier in Behandlung. Mir war nie klar, dass auch Jungs magersüchtig werden. Klischee lässt grüßen. Er ist total witzig. Ich glaube, ich habe es hauptsächlich ihm zu verdanken, dass es mit mir wieder aufwärts geht.

Wie sieht es bei dir aus? Gibt es jemanden? Kasper hat erzählt, du hängst jetzt öfter mit einer Band ab? Wie cool ist das denn! Ich möchte alles wissen, was bei dir passiert ist, seit ich weg bin. Wirklich alles! Bitte schreib mir.
 

Deine Natalie
 

Jesse sah mich aufmerksam an, nachdem er geendet hatte. Ich lächelte nur.

„Bist du glücklich?“, fragte er und legte mir den Brief in die Hand.

„Ja“, sagte ich und küsste ihn. Wir lagen beide auf dem Bett und ich kuschelte mich an ihn.

„Sie hört sich nett an.“ Er fuhr mit seiner Hand unablässig meinen Rücken hinauf und hinab. Wäre ich dazu fähig, würde ich jetzt schnurren.

„Das ist sie“, stimmte ich zu.

„Stellst du mich ihr später mal vor?“ Mir gefiel, dass er von uns in der Zukunft sprach.

„Besser. Ich schreibe ihr von dir.“ Jesse grinste.

„Liebe Natalie. Mir geht es fantastisch. Ich habe mir nämlich den besten Typen der Stadt gekrallt. Er ist gutaussehend, wahnsinnig witzig, charmant, sexy, intelligent und ein unglaublich guter Küsser.“ Ich boxte Jesse in die Seite.

„Das hättest du wohl gerne!“ Er sah mich unschuldig an.

„Was? War etwa irgendwas davon gelogen?“ Er fasste sich gespielt verletzt an die Brust. „Doch nicht letzteres, oder? Das müssen wir ändern. Lass mich üben.“ Er beugte sich zu mir herüber und versiegelte meine Lippen mit seinen. Ich spürte, wie er lächelte. Er musste definitiv nicht üben. Aber ich ließ ihn trotzdem.

Kelly Precious und heiße Schokolade

Es kam der Tag, an dem ich Kelly kennenlernte. Richtig kennenlernte. Ich war ziemlich nervös, weil ich Angst hatte, sie könnte mich nicht mögen. Ich kannte ja meine Wirkung auf Kinder. Andererseits ging es mir gut. Ich war nicht mehr depressiv. Und ich freute mich auf sie. Trotzdem blieb der Gedanke, was passieren würde, wenn sie mich nicht ausstehen konnte. Doch meine Befürchtung blieb unbegründet. Sie war entzückend. Anfangs ein wenig verhalten, aber das war ich auch. Sie blühte aber schnell auf, als wir Memory spielten. Es war ein einfaches mit nur zwanzig Paaren, aber ich stellte bald fest, dass ich mich kaum zurückhalten musste, um sie gewinnen zu lassen. Sie war ziemlich schlau. Und sie lachte für ihr Leben gern. Ich konnte mich kaum auf das Spiel konzentrieren, weil ich so gefesselt war von dem Anblick. Jesse im Schneidersitz, mir gegenüber, und auf seinem Schoß seine Tochter, die jedes Mal vergnügt quietschte, wenn er sie im Nacken kitzelte. Ich fragte mich, ob seine Beine nicht längst taub waren. Kelly war zwar nicht schwer, aber sie saßen nun schon über eine halbe Stunde so da. Ich war froh, dass Jesse ganz normal mit ihr sprach, nicht wie mit einem Kleinkind, sodass ich nicht in Piepsstimmenton verfallen musste.
 

„Kelly?“, fragte Jesse, gerade als sie an der Reihe war. Sie hörte ihn gar nicht, weil sie so konzentriert auf das Spiel war. Jesse stupste sie an, als sie gerade eine Karte umdrehte.

„Kelly, musst du aufs Klo?“ Ich bemerkte, wie sie auf seinem Schoß hin und her rutschte.

„Nein“, sagte sie und drehte ein zweites Plättchen um. Sie passten zusammen.

„Bist du sicher?“, fragte er zweifelnd. Sie antwortete nicht und drehte schnell noch zwei Plättchen um. Dieses Mal hatte sie Pech.

„Doch. Ich muss“, gab sie jetzt zu. Jesse hob sie von seinem Schoß und stellte sie auf dem Boden ab.

„Dann aber schnell.“ Es war eine so alltägliche Szene und doch war ich total gerührt. Die beiden waren so süß. Kelly tapste schnell davon, ihr langes blondes Haar hinter ihr her fliegend.

„Ich passe auch auf, dass Lea nicht schummelt“, rief er ihr hinterher. Er sagte es nur, um mich zu ärgern. Ich streckte ihm die Zunge raus und betrachtete die Stapel, die wir bisher gesammelt hatten. Meiner war der kleinste.

„Ich glaube, schummeln hilft mir jetzt auch nicht mehr.“ Kelly hatte zwei Pärchen mehr als ich. Jesse lag klar in Führung. Er gewährte Kelly eindeutig keinen Kinderbonus. Jesse lehnte sich gegen das Sofa – wir saßen auf dem Boden im Wohnzimmer – und sah mich einfach nur an. Ich versuchte, seinen Blick schweigend zu erwidern, hielt es aber nicht lange aus.

„Was ist?“, fragte ich und akzeptierte sein verschmitztes Lächeln, weil er unseren Starrwettbewerb gewonnen hatte.

„Es ist schön, dass du da bist“, sagte er. Ich spürte, wie mir die Röte den Nacken hinaufkroch und meine Ohren warm wurden. Ich wollte etwas erwidern, doch da kam Kelly schon wieder angeflitzt. Sie streckte Jesse stolz ihre Hände entgegen.

„Hände gewaschen“, erklärte sie und erntete dafür ein Lächeln von ihrem Vater.

„Sehr schön. Aber wieso habe ich keine Klospülung gehört?“, fragte er. Kelly erstarrte für eine Sekunde, lächelte dann zuckersüß und rang die Hände.

„Ups. Vergessen.“ Rasch drehte sie um, wenige Sekunden später war die Klospülung zu hören. Als sie zurückkam, ließ sie sich auf Jesses Schoß plumpsen, legte ihre Hände auf seine Backen und drückte sie zusammen.

„Du bist dran.“ Jesse schlang einen Arm um ihren kleinen Körper, mit dem anderen schwebte er sekundenlang über dem Tisch und konnte sich nicht entscheiden, welche Karte er nehmen sollte. Kelly deutete auf ein bestimmtes Plättchen, immer wieder.

„Nimm das da“, flüsterte sie ihm zu. Er tat ihr den Gefallen.

„Und was jetzt?“ Sie grinste ihn an und tippte auf ein anderes. Jesse sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. Er wollte von mir wissen, ob sie ihn anschwindelte. Ich zuckte nur die Schultern, konnte mir ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. Ich wusste genau, dass sich nicht das passende Bild unter der Karte versteckte. Aber ich würde mich hüten, ihm das zu verraten. Als Jesse misstrauisch unter das Plättchen spähte und die Augen verdrehte, als ihm klar wurde, dass seine Tochter ihn veräppelt hatte, quietschte sie vor Vergnügen.

„Reingelegt. Dummerchen!“ Sie klopfte ihm auf die Schulter und ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen.

„Was hatten wir zum Thema Lügen erzählen vereinbart?“, fragte Jesse das kleine Mädchen, das ihn nur unschuldig ansah. Ich stützte meine Ellbogen auf den Tisch und legte meinen Kopf in meine Hände.

„Genau genommen hat sie dich nicht angelogen. Sie hat nie behauptete, dass die beiden Karten zusammenpassen“, erklärte ich ihm amüsiert. Kelly nickte eifrig zu meinen Worten. Jesse stützte seinen Kopf auf Kellys. Verräter, formte er mit den Lippen. Ich zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Wir Frauen müssen zusammenhalten, oder Kelly?“ Sie nickte immer noch.

„Genau.“ Sie gab mir high-five. Als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Jesse in sich hineinlächelte, während er uns beobachtete, hätte ich alles darum gegeben, zu wissen, was er gerade dachte.
 

„Warst du schon wieder bei Jesse?“, begrüßte mich Tammy, als ich abends nach Hause kam. Ich war ziemlich fertig. Ein kleines Kind zu bespaßen war gar nicht so einfach, auch wenn Kelly sehr umgänglich war. Sie schien mich zu mögen. Zumindest hatte sie mich zum Abschied fest umarmt und mich gebeten, bald wieder zum Spielen vorbeizukommen.

„Hallo! Ich rede mit dir!“ Tammy wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Ich zuckte zurück und zog meine Jacke aus.

„Ja, ich war bei Jesse“, sagte ich etwas angepisst. Tammy war schließlich auch ständig bei Brandon, warum sollte das dann bei mir und Jesse anders sein?

„Wann hast du eigentlich vor, Mom und Dad zu erzählen, dass sie Großeltern werden, wenn das zwischen euch beiden hält?“ Ich erstarrte. Woher wusste sie das? Sie musste es bei den Jungs aufgeschnappt haben. Es war ja eigentlich kein Geheimnis.

„Das mache ich schon irgendwann. Aber nicht jetzt.“ Ich hoffte, unsere Eltern hatten sie nicht gehört. Tammy sah, wie ich in die Küche spähte.

„Keine Angst. Sie sind nicht da.“ Ich setze mich auf die Sofalehne und sah meine Schwester durchdringend an.

„Ich werde es ihnen ganz bestimmt sagen. Aber ich will, dass sie Jesse erst etwas besser kennenlernen. Okay?“ Ich musste sie unbedingt davon abbringen, etwas auszuplaudern. Tammy hob abwehrend die Hände.

„Hey. Ich sage nichts. Das ist deine Sache. Ich finde nur, du solltest nicht so viel Zeit mit ihm verbringen.“ Ich sah sie verständnislos an.

„Er ist mein Freund. Natürlich verbringe ich so viel Zeit mit ihm, wie ich kann.“ Tammy zuckte mit den Achseln.

„Ich meine ja nur.“ Ich verdrehte die Augen und musste mich anstrengen, nicht gleich aus der Haut zu fahren.

„Was meinst du nur?“ Kam jetzt wieder ihre Predigt, wie wenig wir zusammenpassten? Damit konnte sie mir wirklich gestohlen bleiben. Tammy wiegte den Kopf hin und her.

„Ich sage ja gar nicht, dass du mit ihm Schluss machen sollst. Er ist bestimmt ein feiner Kerl, wenn du ihn magst. Ich glaube nur, du solltest auch was mit anderen unternehmen, ab und zu.“ Ich sah sie entgeistert an.

„Tammy. Ich habe keine Freunde, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“ Meine Schwester änderte ihre Sitzposition und robbte näher zu mir.

„Genau das meine ich ja. Das solltest du vielleicht mal ändern.“ Autsch. Ich war sprachlos, sodass ich gar nichts erwidern konnte. Was glaubte sie denn? Dass es mir Spaß machte, ein Einsiedler zu sein? Sie hatte doch ganz genau miterlebt, wie sich die Leute von mir abgewandt hatten, als das mit den Depressionen angefangen hatte. Nicht, dass es besonders viele Leute in meinem Umfeld gegeben hatte, die ich hätte vergraulen können. Und den Ruf als durchgedrehter Zombie ohne Gefühle wurde man so schnell nicht mehr los.

„Mir gefällt mein Leben, so wie es gerade ist. Ich will nichts daran ändern. Ich bin glücklich, Tammy. Ich bin endlich wieder mal glücklich.“ Die Lippen meiner Schwester zitterten leicht. Sie griff nach meiner Hand, doch ich wich zurück.

„Das freut mich für dich, Lea, wirklich. Ich möchte, dass du glücklich bist. Aber was, wenn irgendwas schiefläuft, wenn du und Jesse nicht zusammenbleibt?“ Ich sah sie wütend an.

„Es wird nichts schieflaufen. Wir haben uns gern.“ Ich wollte sagen, dass wir uns liebten, aber Jesse hatte es noch nicht zu mir gesagt. „Er weiß auch von meinen Problemen. Und er hat sie akzeptiert. Ihm macht es nichts aus.“ Tammy schüttelte den Kopf.

„Jede Beziehung kann in die Brüche gehen. Es muss ja gar nicht passieren. Aber was, wenn doch? Wenn ihr euch trennt? Dann bist du wieder allein. Willst du das?“ Ich schüttelte den Kopf, weil ich ihre Worte aus meinem Gehirn verbannen wollte.

„Hör auf.“ Inzwischen schrien wir uns an. Ich flüchtete in die Küche, um ihrem Gerede zu entkommen, doch sie folgte mir.

„Lea, hör mir zu. Alles, was ich will, ist, dass du auch ein bisschen was mit anderen Leuten unternimmst. Was ist mit Kasper?“ Ich schlug ihre Hand weg, als sie mich am Arm festhalten wollte. Wieso kam sie jetzt mit Kasper?

„Du kannst Jesse nur nicht leiden und willst uns deshalb auseinanderbringen. Aber du kennst ihn gar nicht. Wenn du wüsstest, wie er wirklich ist, würdest du nicht so über ihn reden.“ Tammy fuhr sich durch die Haare.

„Nein. Nein, darum geht es überhaupt nicht. Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal, mit wem du zusammen bist. Aber ich werde nicht nochmal zusehen, wie du in ein schwarzes Loch fällst, wenn du allein dastehst, und deine Scherben aufsammeln. Das schaffe ich nicht nochmal.“

Sie weinte. Meine Schwester weinte.
 

„Weißt du eigentlich, wie das für mich war? Und Mom und Dad? Dich so zu sehen? Am Boden zerstört, völlig apathisch, so als gäbe es nichts auf der Welt, dass dich noch interessiert? Das hat mir eine Scheißangst gemacht, Lea. Ich dachte, ich verliere meine Schwester. Und jetzt fixierst du dich schon wieder nur auf eine einzige Person. Ich will nicht nochmal zusehen müssen, wie du dich in eine seelenlose Hülle verwandelst. Weißt du eigentlich, was ich für dich aufgegeben habe? Ich habe meine Freundinnen zum Teufel geschickt, weil sie schlecht über dich geredet haben. Ich habe mein Leben für dich aufgegeben. Aber ich mache das nicht nochmal. Tut mir Leid. Wenn du dieses Mal auf dem Boden aufschlägst, werde ich nicht da sein, um dich aufzufangen.“ Sie wischte wütend ihre Tränen weg und ließ mich völlig verdattert stehen. Ich hatte ja keine Ahnung.
 

Hatte Tammy Recht? Verbrachte ich zu viel Zeit mit Jesse? War ich zu sehr auf ihn fixiert? Aber war das nicht so, wenn man verliebt war, dass man an nichts anderes mehr denken konnte? War ich wirklich so egoistisch und hatte nicht gemerkt, wie sehr ich Tammys Leben mit meinen Problemen beeinflusst hatte? Es stimmte. Ich hatte in den letzten Monaten nie groß darauf geschaut, wie es anderen ging. Ich war so auf mich und mein Selbstmitleid konzentriert gewesen, dass ich die Welt um mich herum vergessen hatte. Ich war von mir selbst angewidert und enttäuscht und ließ meinen Tränen freien Lauf. Dieses Mal richteten sie sich gegen mich selbst. Ich war so aufgewühlt und musste unbedingt meine Gedanken ordnen. Ich stellte laut Musik an und begann, einen Brief an Natalie zu schreiben. Der Stift flog nur so über das Papier. Ich schrieb alles auf. Meinen Streit mit Tammy, die daraus resultierenden Selbstvorwürfe, die Angst, mich in jemand anderen verwandelt zu haben, der ich eigentlich nicht war, oder zumindest nicht sein wollte, sogar von meinen Depressionen erzählte ich ihr. Es war an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich machte sie nicht für meine Probleme verantwortlich, das stellte ich klar, aber ich gab zu, dass mit ihrem Verschwinden alles angefangen hatte. Tammy hatte gesagt, ich solle Freunde finden. Vielleicht konnte ich ja eine alte Freundin zurückgewinnen. Vielleicht konnte Natalie mir auch aus der Ferne den Rücken stärken und mir Rat geben. Ich erzählte ihr auch von Jesse, wie ich ihn anfangs nicht hatte leiden können, und wie unmöglich es mir jetzt schien, ein Leben ohne ihn zu führen. Aber war nicht genau das das Problem? Dass ich mich zu sehr in meine Gefühle stürzte? Es würde mir nicht wehtun, wieder mehr Zeit mit Kasper zu verbringen, oder Jen und Tammy. Möglicherweise sollte ich auch in der Schule wieder anfangen, mit den anderen zu sprechen. Ich könnte wirklich jemanden brauchen, mit dem ich reden konnte.

Mein Brief umfasste letztendlich sieben Seiten, vollgeschrieben mit eng aneinander gedrängten Worten. Für eine Weile spielte ich mit dem Gedanken, das Papier in Stücke zu reißen, oder zu verbrennen. Doch ich tat es nicht. So ehrlich, wie in dem Brief, war ich zu mir selbst schon lange nicht mehr gewesen. Ich las ihn nochmal ganz durch und war teilweise schockiert über meine eigenen Gedanken. Das durfte eigentlich niemand lesen. Aber früher hatte ich auch jeden Gedanken mit Natalie geteilt. Es war an der Zeit, sie nicht mehr als Opfer zu betrachten, das in Watte gepackt werden musste, sondern als die, die sie war: Meine beste Freundin; von der ich momentan echt ein paar aufmunternde Worte gebrauchen konnte.
 

Ich machte heiße Schokolade und klopfte an Tammys Tür. Es dauerte eine Weile, bis sie mich hereinbat. Ich hob die beiden Tassen hoch und hoffte, mir damit Eintritt erschleichen zu können. Als ich die geröteten Augen meiner Schwester sah, bekam ich ein noch schlechteres Gewissen. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett und drückte ihr den Kakao in die Hand.

„Es tut mir Leid, Tammy. Ich will nicht mit dir streiten.“

Sie stellte die Tasse unberührt ab. Um meine Hände freizuhaben, tat ich dasselbe und ergriff ihre Handgelenke.

„Du hast Recht. Ich war egoistisch. Und es tut mir so Leid, dass du so viel für mich aufgegeben hast. Ich möchte so nicht mehr sein. Ich möchte meinen Mitmenschen das nicht mehr antun. Schon gar nicht dir.“ Ich hatte ihr Beschäftigungsprogramm nie wirklich zu schätzen gewusst. Tammy schniefte.

„Ohne dich hätte ich Jesse nie kennengelernt. Dafür möchte ich dir danken. Und auch für alles andere, was du für mich getan hast. Du bist die beste Schwester der Welt. Und ich werde mir Mühe geben und auch mal mit anderen Leuten was unternehmen, ich verspreche es. Weil du Recht hast. Nicht, dass ich Jesse deshalb abschreibe. Aber ich habe das Gefühl, ich sollte öfter auf dich hören.“

Tammy brach in Tränen aus. Ich war schockiert, wie sehr unser Streit sie getroffen hatte.

„Tammy, es tut mir Leid, wirklich.“ Doch sie schüttelte nur den Kopf.

„Das ist es nicht.“ Sie wischte sich wütend über die Augen, die nicht aufhören wollten, zu tränen. „Ich habe mit Brandon Schluss gemacht.“ Fassungslos sah ich sie an. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, was sie da sagte.

„Was?“, hauchte ich. Die beiden waren so perfekt füreinander gewesen. Tammy lachte bitter.

„Tja, es hat sich rausgestellt, dass er sich ein wenig zu gut um seine Groupies kümmert.“ Und wieder einmal hatte ich nicht mitbekommen, was um mich herum passierte.

„Oh nein.“ Ich biss mir auf die Lippe. „So ein Arsch.“

Die Mundwinkel meiner Schwester zuckten. Beinahe hätte sie gelächelt.

„Das kannst du laut sagen.“ Sie schnäuzte in ein Taschentuch.

„Hier. Trink.“ Ich drückte ihr die Tasse wieder in die Hand.

„Heiße Schokolade löst alle Probleme“, sagten wir gleichzeitig. Mom hatte das damals immer zu uns gesagt, als wir noch klein waren und nicht einschlafen konnten. Artig nahm sie ein paar Schlucke.

„Übrigens bist du nicht die einzige Schwester, die dazu bereit wäre, einen Typen zu verprügeln, das ist dir hoffentlich klar.“

Jetzt grinste sie tatsächlich.

„Ich würde liebend gerne zusehen, wie du dir Brandon vorknöpfst, aber das ist er gar nicht wert.“ Ich glaubte ihr nicht. Sie hatte ihn bestimmt noch nicht vergessen. Aber meine Schwester war so viel stärker als ich.

„Trotzdem, danke für das Angebot. Ich weiß es zu schätzen.“

Ich nahm sie in den Arm.

„Ich hab' dich lieb“, flüsterte ich.

Mütter und Einhörner

Es war eine Sache, zuhause bei Jesse mit Kelly zu spielen, aber eine völlig andere, in der Öffentlichkeit mit den beiden unterwegs zu sein. Jetzt verstand ich Eleonore, die die Blicke der Passanten nicht ertragen hatte. Mir war bewusst, dass mich alle für Kellys Mutter hielten. Ich wäre eine verdammt junge Mutter. Andererseits: War Eleonore nicht etwa in meinem Alter gewesen, als sie das Kind gekriegt hatte? Es machte mir nichts aus, dass man falsche Schlüsse darüber zog, aber überhaupt angestarrt zu werden, fand ich nicht sehr prickelnd. Ich spürte, wie Jesse mich anfangs beobachtete, um zu sehen, wie ich reagierte. Dabei waren mir meine Depressionen endlich mal hilfreich. Ich hatte damals gelernt, alles um mich herum auszuschließen, einfach nicht mehr zu sehen, was ich nicht sehen wollte. Und so tat ich das jetzt auch. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf Kelly und Jesse und überließ den Rest der Welt sich selbst.

Wir gingen in eine Shoppingmall, weil ich Kelly versprochen hatte, ihr ein neues Kuscheltier zu kaufen. Nicht, um mich einzuschleimen. Das war gar nicht nötig. Wir verstanden uns prima – vor allem, wenn wir uns gegen Jesse verbündeten. Ich wollte einfach, dass sie etwas besaß, das sie mit mir in Verbindung bringen konnte. Außerdem hatte sie Henry, ihren Lieblingskuschelhasen, verloren. Sie lief zwischen uns, unsere Hände haltend. Je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto weniger fühlte ich mich wie eine depressive Jugendliche, auf die man aufpassen musste. Sie tat mir gut, machte mich selbstständiger und selbstbewusster. Wenn zum Beispiel eine Spinne plötzlich auf dem Tisch auftauchte, wäre früher mein erster Instinkt gewesen, schreiend aufzuspringen und jemanden zu suchen, der das achtbeinige Ding wegmachte. Jetzt aber war Kelly es, die schrie. Und da Jesse unter der Dusche stand, war ich diejenige, die nach dem Besen griff, die Spinne darauf klettern ließ, so schnell es ging in den Garten rannte, um sie auf der Wiese abzustreifen, und die Balkontür wieder fest hinter mir verschloss. Wäre Jesse da gewesen, hätte ich ihn das natürlich machen lassen. Aber in solchen Kleinigkeiten über mich hinauszuwachsen, verschaffte mir eine ungeahnte Genugtuung.
 

Wir steuerten direkt auf den Spielzeugladen zu, in dem sich etliche Kinder und Eltern tummelten. Während Kelly begeistert durch die Regale streifte, ließ Jesse sie keinen Moment aus den Augen. Kaufhäuser waren ein beliebter Ort, um Kinder verschwinden zu lassen. Ich konnte es ihm nicht verübeln, und löste selbst meinen Blick kaum von ihr. Mit ihrer effektiven Schnute brachte sie Jesse dazu, ihr neue Malstifte zu kaufen.

„Das ist mir tausendmal lieber, als wenn sie mich um ein eigenes Handy bittet“, sagte er. In der Stofftierabteilung fiel ihr die Entscheidung nicht so leicht. Den Wunsch nach einem Riesenteddy musste ich ihr leider abschlagen, weil mein Budget dafür nicht reichte. Allerdings wäre es amüsant gewesen, zuzusehen, wie Kelly mit dem Teddy, der doppelt so groß war wie sie, durchs Haus rannte. Ins Stechen gingen stattdessen das blaue Kuschelmonster von Monster AG und ein rosa-flauschiges Einhorn. Kelly war ganz Mädchen und entschied sich letztendlich für das Pferd. Sie bedankte sich brav bei mir, nachdem ich es bezahlt und ihr in die Hand gedrückt hatte.

„Bekommt es auch einen Namen?“, wollte ich wissen.

„Ja. Aber ich weiß noch nicht!“ Auf dem Weg zum Parkplatz hüllte sie sich in Schweigen. Anscheinend hatte ich ihr mit der Namensgebung eine Mammutaufgabe aufgehalst.

„Ich habe mich übrigens für ein Fernstudium angemeldet“, sagte Jesse aus heiterem Himmel. Ich blieb vor Überraschung stehen und hielt damit unsere kleine Karawane an.

„Was? Das ist ja fantastisch. Und das erwähnst du einfach so in einem Nebensatz?“ Ich freute mich für ihn. Endlich wusste er, was er mit seinem Leben anfangen wollte. „Was ist das denn für ein Studium?“ Er sah mich einige Sekunden einfach nur an, als wäre er sich nicht sicher, ob er es mir wirklich verraten sollte. Wir erreichten das Auto. Ich stupste ihn an der Schulter.

„Komm schon. Ich will es wissen. Mach es nicht so spannend.“ Er nahm Kelly, hob sie auf den Kindersitz und schnallte sie an. Sie probierte währenddessen verschiedene Namen an ihrem Einhorn aus, doch keiner schien ihr so richtig zu gefallen. Er schloss die Tür und winkte ihr von außen, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und wandte sich mir zu.

„Psychologie.“ Ich sah ihn nur entgeistert an.

„Ist das dein Ernst?“ Er biss sich auf die Unterlippe und legte den Kopf schief.

„Ich will nicht, dass du das in den falschen Hals kriegst, oder so. Meine Entscheidung hat nichts mit dir zu tun.“ Dass er das explizit erwähnte, traf mich mehr, als ich zugeben wollte. Es gab mir das Gefühl, ein Psycho zu sein. „Mich hat das nur schon immer sehr interessiert. Und man kann danach so vieles tun. Ich könnte eine Praxis aufmachen, oder ins Marketing gehen. Marktforschung, oder mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen arbeiten. Es gib so viele Möglichkeiten.“ Er klang wirklich begeistert. Ich wollte ihm das nicht kaputtmachen.

„Du weißt aber schon, wie schwierig so ein Studium ist, oder?“ Jesse nickte.

„Ich weiß. Deshalb muss ich mich voll reinhängen. Aber ich will das.“

Ich hatte ihn noch nie so erlebt, so voller Feuer und Flamme. Ich legte meine Hände auf seine Unterarme.

„Und du schaffst das. Ich glaube an dich. Außerdem bist du ja hochbegabt, also sollte das ja kein Problem für dich sein.“ Er verdrehte die Augen.
 

„Jesse!“ Eine weibliche Stimme ließ uns herumfahren. Eine dunkelblonde Frau mit Nadelstreifenkostüm und Hochsteckfrisur kam auf uns zu, ihre Einkäufe in der Hand. Als ich Jesses Gesichtsausdruck bemerkte, wusste ich sofort, wer sie war.

„Mom“, sagte er trocken. Ich trat einen Schritt von ihm zurück und meine Handinnenflächen begannen zu schwitzen. Niemals würde ich ihren abschätzigen Blick vergessen, den sie erst nach mehreren Sekunden von mir nahm.

„Mom, das ist Lea“, stellte Jesse mich vor.

„Freut mich“, sagte ich und streckte ihr höflich die Hand entgegen, nachdem ich sie unauffällig an meiner Hose abgewischt hatte, doch sie ergriff sie nicht. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass sie nur in einer Hand Einkäufe trug. Es wäre also ein Leichtes für sie gewesen, die Tüte in die andere Hand zu wechseln und mir diese Peinlichkeit zu ersparen. Bisher hatte ich angenommen, sie sei nur eine Mutter, die sich um ihren Sohn sorgte und deshalb ein paar irrationale Entscheidungen getroffen hatte. Doch offensichtlich hatte ich mich getäuscht. In diesem Moment beschloss ich, sie nicht zu mögen.

„Ich habe dich lange nicht gesehen“, sagte sie beinahe vorwurfsvoll zu Jesse, nachdem sie mich mit einem schlichten Hallo abgefertigt hatte. Dann entdeckte sie Kelly im Auto. Sie winkte ihr, doch ihre Enkelin bekam es nicht mit.

„Ihr solltet uns öfter besuchen kommen.“

Mir war klar, dass sie nicht mich damit meinte. Ich biss mir in die Innenseite meiner Wange und Jesse verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du weißt genau, wie ich dazu stehe.“ Sie schob den Träger ihrer Tasche zurück an seinen Platz, nachdem er ihr von der Schulter gerutscht war.

„Jesse. Sie ist meine Enkelin. Ich habe ein Recht darauf, sie zu sehen.“ Sie bemühte sich merklich, nicht verärgert zu klingen.

„Dieses Recht hast du dir vor langer Zeit verwirkt.“ Jesse schob mich vor sich her. „Steig ein. Wir fahren.“ Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Trotz der Vorkommnisse in der Vergangenheit, und trotz der Tatsache, dass ich seine Mutter nicht leiden konnte, wollte ich, dass sie sich vertrugen. Doch ich würde mich hüten, ihm jetzt zu widersprechen. Ich wollte ihm nicht in den Rücken fallen. Es war bestimmt auch so schon schwer genug für Jesse, seiner Mutter die kalte Schulter zu zeigen.

„Jesse, warte“, rief seine Mutter, doch er erhörte sie nicht und fuhr vom Parkplatz. Ich beobachtete, wie fest er das Lenkrad griff. Seine Knöchel traten weiß hervor. Er hatte noch nicht mit der Sache abgeschlossen. Ich war wütend auf seine Mutter, weil sie uns den Tag versaut hatte. Jesses Kiefer mahlte. Ich wollte seine Hand nehmen, damit er sich entspannte, aber ich war mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war.

„Hast du dich schon für einen Namen entschieden?“, fragte ich stattdessen Kelly, damit sie die Anspannung nicht mitbekam.

„Clara. Oder Bibi. Bin mir nicht sicher. Was meinst du?“ Ich tat so, als würde ich angestrengt überlegen.

„Hm. Es ist dein Einhorn. Du solltest das entscheiden. Aber du kannst ihm auch einfach zwei Namen geben.“ Ich fragte mich, ob Kelly überhaupt wusste, dass sie einen Doppelnamen hatte. Jesse nannte sie niemals Precious. Und auch Helen und Pete nicht.

„Nein. Clara“, sagte sie entschieden und hielt ihr rosa Plüschtier in die Höhe.

„Hallo, Clara“, sagte ich und warf Jesse beiläufig einen Blick zu. Er schien sich etwas entspannt zu haben, hielt die Augen aber streng auf die Straße gerichtet.
 

Helen und Pete begrüßten uns überschwänglich. Sie hatten mich schnell in ihr Herz geschlossen, als ihnen klar wurde, dass ich wegen Kelly nicht schreiend davonrennen würde.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Helen und besah sich Jesse genau. Dieser fuhr sich müde über die Augen und lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Wir haben Marissa getroffen.“ Er sagte Marissa, nicht Mom. Pete lenkte Kelly ab, indem er mit ihr ins Haus ging und ihr vorschlug, einen Platz für ihr neues Kuscheltier in ihrem Zimmer zu suchen.

„Schätzchen, lass uns reingehen und darüber reden.“ Helen war so viel mehr eine Mutter für ihn, als Marissa. Ich war froh, dass er sie hatte. Sie fuhr ihm unablässig über den Rücken, während er noch zögerte.

„Ich komme gleich nach“, sagte er zu ihr und sie nickte.

„Na komm, Lea.“ Sie nahm mich an der Hand und ließ die Tür einfach offen stehen. Ich sah gerade noch, wie er in seine Jackeninnentasche griff, bevor Helen mich ins Wohnzimmer zog. Ich schluckte schwer. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass ich dieses Haus zum ersten Mal betrat.

Ihr Haus. Eleonores zuhause. Ich fühlte mich nicht wohl. Es kam mir vor, als sollte ich nicht hier sein, als wäre es illegal, ihr Territorium zu betreten. Es war eine bizarre Situation. Ich war unter demselben Dach wie ihre Eltern, ihre Tochter und Jesse, mit dem ich jetzt zusammen war; was nicht so wäre, wenn sie noch leben würde.

„Er muss sich nur einen Moment abreagieren. Dann wird es schon wieder“, sprach Helen mir gut zu, die meinen besorgten Gesichtsausdruck falsch deutete. Ich setzte mich aufs Sofa und sie holte uns etwas zu trinken.

Da sah ich die Bilder. Sie waren hübsch aufgereiht in weißen Rahmen, hingen in einer geraden Linie von der Decke bis zum Boden. Familienfotos. Hauptsächlich von Elly. Immer wieder ihr Gesicht, ihr strahlendes Lächeln. Aber das Foto, das meine Aufmerksamkeit erregte, zeigte Eleonore zusammen mit Jesse. Sie standen irgendwo im Freien und hatten offensichtlich nicht mitbekommen, dass sie fotografiert wurden. Eleonore hatte ihr Kinn auf Jesses Schulter gestützt und musterten ihn genau. Jesses Augen ruhten in der Ferne. Die Sonne schien in einem solch fabelhaften Winkel durch die Bäume, dass die Szene in ein warmes Licht gehüllt wurde und wie ein Traum wirkte. Beide lächelten selig in sich hinein. Sie wirkten wie eine Einheit. Zwei Kunstwerke, die gerade zu einem verschmolzen.

„Ihr hättet euch gemocht“, holte mich Helens Stimme aus meinen Gedanken. Sie stellte eine Tasse Kaffee vor mir ab, für die ich mich herzlich bedankte. Ich brachte es nicht über mich, ihr zu sagen, dass ich keinen Kaffee mochte. Als ich den ersten heißen Schluck nahm, fragte ich mich, ob auch Eleonore aus dieser Tasse getrunken hatte; ob sie auf demselben Polster auf dem Sofa gesessen hatte.
 

„Ihr seid euch sehr ähnlich.“ Helen klang nicht wie eine noch immer trauernde Mutter, die den Tod ihrer Tochter nicht verkraftet hatte, sondern eher wie eine fürsorgliche Frau, die meine Selbstzweifel vertreiben wollte, weil ich gerade das Foto meines Freundes, Arm in Arm mit seiner Exfreundin, entdeckt hatte.

„Vielleicht nicht auf den ersten Blick. Aber eure Herzen, die schlagen im selben Takt.“ Und vor allem schlugen sie beide für Jesse.

„Ich hätte sie gerne kennengelernt“, sagte ich leise, die Tasse immer noch fest umklammert. Ich sah mir auch die anderen Bilder an. Kelly als Baby, im Arm ihrer stolzen Großmutter. Helen und Pete gemeinsam mit Eleonore. Sie wirkten so glücklich. Helen zog die Nase kraus.

„Glaub mir, gegen Ende der Schwangerschaft war sie unausstehlich. Sie war schon immer stur und eigenwillig. Das kombiniert mit Wehleidigkeit und Schwangerschaftsbeschwerden...“ Sie hob abwehrend die Hände.

Ich hörte Poltern und Gelächter von oben. Pete spielte mit Kelly. Ich warf einen Blick in Richtung Flur. Jesse war noch nicht ins Haus gekommen.

„Sie war der Teufel höchstpersönlich. Launisch, und nie zufriedenzustellen. Ich habe es bewundert, wie ruhig Jesse bleiben konnte, wenn sie ihm stundenlang die Ohren volljammerte und ihn herumkommandierte.“ Sie nahm selbst einen Schluck von ihrem Kaffee.

„Versteh mich nicht falsch, ich habe meine Tochter geliebt, tue es immer noch, jeden einzelnen Tag, aber manchmal hätte ich sie gerne gepackt und an die Wand geschmissen.“ Sie lachte. „In den letzten Tagen vor der Geburt habe ich es nicht länger als eine halbe Stunde mit ihr im selben Raum ausgehalten.“

Die Haustür fiel leise ins Schloss und Jesse kam zu uns. Helen streckte die Hand nach ihm aus und er setzte sich neben sie.

„Du hast es so viel besser mit ihr ausgehalten. Wie du das gemacht hast, ist mir noch immer ein Rätsel. Und du hast nie dein Lächeln verloren. Wie sie es dir gestohlen hat, werde ich nie vergessen.“

Ich sah zwischen den beiden hin und her. Sie wirkten tatsächlich wie Mutter und Sohn. Und ich war mir sicher, dass sie auch so empfanden.

„Neunzehn Tage lang.“

Jesse verdrehte die Augen, wie ein Junge, der nicht wollte, dass eine peinliche Geschichte über ihn erzählt wurde.

„Helen.“ Doch sie schüttelte den Kopf.

„Neunzehn Tage lang hat er nicht ein einziges Mal gelächelt, kaum ein Wort gesprochen, so gut wie nichts gegessen, ist kaum aus dem Haus gegangen.“ Ich runzelte die Stirn.

„Was war am neunzehnten Tag?“ Das hörte sich an wie eine Geschichte aus der Bibel. Am ersten Tag erschuf Gott Himmel und Erde, und so weiter.

„Da hatte ich Kelly das erste Mal auf dem Arm“, erklärte Jesse.

Neunzehn Tage

Tag 1
 

Die Krankenschwester fragte ihn zum wiederholten Mal, ob sie ihm irgendwie helfen konnte, und bat ihn, sich von einem Arzt ansehen zu lassen. Doch Jesse wollte keinen Arzt. Er wollte keine Hilfe. Er wollte gar nichts mehr. Er hörte Helen schluchzen und wünschte sich, sie würde damit aufhören. Auch die Stimme der Krankenschwester klang unangenehm laut in seinen Ohren, obwohl sie ganz sanft mit ihm sprach. Es war, als wäre er auf einmal für alles empfänglicher geworden. Er nahm alles viel genauer wahr, seine Sinne waren geschärft. Er fühlte die Kälte an seinem Rücken, weil er schon seit Stunden auf dem kalten Boden des Krankenhausflurs saß, gegen kalte Fliesen gelehnt; er fühlte die Gänsehaut, die seine Arme entlangkroch, die sich aufstellenden Härchen, das Dröhnen in den Ohren, sogar die Schwingungen der Schallwellen an seinem Trommelfell. So kam es ihm zumindest vor. Er spürte sein Herz schlagen und das Blut durch seine Adern rauschen. Er spürte, wie sich seine Lungen mit Sauerstoff füllten, wie sich sein Brustkorb beim Einatmen dehnte, wie sich seine Augen röteten, weil er zu wenig blinzelte.

Er fühlte so viel auf einmal, und doch war er gleichzeitig leer. Es war, als hätte man sein Herz herausgerissen, und trotzdem schlug irgendetwas in ihm weiter, ein schwarzes Loch, das seinen Körper langsam aber sicher vergiftete. Niemals würde er aus dieser Starre erwachen.

Wenn er einfach genauso blieb, würde diese unendliche Leere weitergehen, immer weiter, und er müsste nie wieder den Schmerz spüren, der ihn vor einiger Zeit so gnadenlos überspült hatte wie eine meterhohe Welle, die direkt über ihm zusammenbrach. Er hätte gerne geschrien, als das passiert war, doch sein Hals war wie zugeschnürt gewesen; er war in seinem eigenen Körper gefangen, obwohl er hatte zerbersten mögen.

Schmerz in jeder Sehne, in jeder Zelle seines Körpers und ein Zittern, das ihn ergriff und von den Beinen riss.

Dann hatte sich irgendwann diese Taubheit eingestellt. Benommen, wie er war, hatte er für mehrere Sekunden aufgehört zu existieren. Hatte nicht gedacht, nicht gefühlt. Vielleicht nicht einmal geatmet. Eine Erlösung. Aber dieser Zustand hielt leider nicht lange an.
 

Tag 2
 

Es kam Jesse nicht richtig vor, am Leben zu sein. Noch bevor er die Augen öffnete, verfluchte er sich dafür, dass er noch immer atmete. Gäbe es eine Möglichkeit, würde er sofort mit Eleonore tauschen. Sie hatte es nicht verdient, diese Ungerechtigkeit. Doch so lange er auch darüber nachdachte und versuchte, zu verstehen, es gab einfach keine plausible Antwort. Zur Hölle mit Gott und dem Schicksal. Es gab keinen größeren Plan, keinen Weg, der einem vorbestimmt war. Elly war einfach tot. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Und sie würde nicht an einen besseren Ort kommen, in den Himmel, das Nirwana, oder was auch immer. Sie wurde nicht von ihren Sünden erlöst und wachte nicht von oben wie ein Engel über diejenigen, die sie zurückgelassen hatte. Ihr Körper war kalt und starr und würde bald anfangen zu verrotten. Ihre Haut würde grau werden und sie würde in sich zusammenfallen. Sie konnte ihn nicht mehr hören, wenn er zu ihr sprach, und Jesse konnte auch nicht ihre Anwesenheit spüren. Sie würde nicht für immer in seinem Herzen sein und darin ewig weiterleben. Sein Herz hatte sich nämlich aufgelöst, hatte sich in alle vier Winde zerstreut, wie Asche. Geblieben war nur das schwarze Loch.
 

Tag 3
 

Jesse musste dringend aufs Klo. Seine Blase war zum Bersten voll. Hätte jemand gegen seinen Unterleib gedrückt, war er sicher, dass sich sein Organ einfach entleert hätte. Einige Minuten überlegte er sogar, ob er es einfach passieren lassen sollte, dem Druck nachgeben. Was machte es schon, wenn er sich einnässte. Er war sowieso im Krankenhaus. Die waren das gewöhnt. Vielleicht würden sie ihm eine Windel anziehen. Aber nicht einmal das konnte ihn abschrecken. Er besaß keinen Stolz mehr, weil er nicht mehr existierte.

Doch seine volle Blase erinnerte ihn schmerzlich daran, dass das nicht stimmte. Er lebte noch, atmete noch, existierte noch. Er konnte nicht einfach damit aufhören, so wie Eleonore. Das schwarze Loch in seiner Brust zog sich für einen Moment zusammen und zog an seinen Nerven. Letztendlich raffte er sich doch auf und stieg aus dem Bett. Er war schwach und ihm war schwindelig, weil er seit zwei Tagen weder gegessen, noch getrunken hatte. Gleichzeitig fühlte er sich aber auch ganz leicht, als würde er schweben und die Schwerkraft hätte keinen Einfluss mehr auf ihn. Dafür, dass er sich besser fühlte, nachdem er sich erleichtert hatte, verabscheute er sich. Er verabscheute sich dafür, überhaupt etwas zu fühlen.
 

Tag 4
 

Lydia, seine Krankenschwester, betrachtete seufzend sein unberührtes Essen. Sie war ziemlich jung, nur ein paar Jahre älter als er. Von allen hier war sie am erträglichsten. Sie hielt ihm keine endlosen Vorträge, stellte ihre Forderungen nur einmal, diese dafür aber umso nachdrücklicher. Trotzdem ignorierte er sie. Er war zu müde, um Mitleid mit ihr zu haben, oder sich für sein Verhalten zu schämen.

„Du hast Besuch.“ Es war Greg, nicht wie erwartet Pete oder Helen, die in den letzten Tagen öfter nach ihm gesehen hatten.

„Jesse.“ Sein Bruder eilte zu ihm ans Bett und erschrak, als er ihn genauer betrachtete. Jesse konnte es ihm nicht verdenken. Er sah bestimmt furchtbar aus. Sicher konnte er sich jedoch nicht sein, da er sich bisher nicht die Mühe gemacht hatte, in den Spiegel zu schauen. Wahrscheinlich roch er auch nicht gerade angenehm. Die Dusche hier hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Alles sinnlos. Unnötig.

„Es tut mir so Leid, Jesse. Ich habe gerade eben erst davon erfahren. Ich wäre sofort hier gewesen... Wie geht es dir? Und dem Baby?“

Jesse wandte die Augen von seinem Bruder ab. Er sollte es nicht erwähnen. Er wollte nichts damit zu tun haben. Er gab dem Kind keine Schuld. Eleonore war nicht seinetwegen gestorben. Ihretwegen. Es war ja ein Mädchen. Aber Jesse interessierte sich einfach nicht dafür. Er konnte kein Vater für das kleine Ding sein. Er konnte gar nichts sein, für niemanden. Er war zerstört, defekt, wie ein kaputtes Uhrwerk. Er funktionierte nicht mehr richtig. Das kleine Mädchen würde es ohne ihn besser haben.

„Jesse?“ Greg hörte sich sehr besorgt an und legte eine Hand auf seine Schulter, doch obwohl er nicht wollte, dass sich sein Bruder Sorgen machte, brachte er den Mund einfach nicht auf. Er konnte nicht reden. Wozu auch? Es würde Elly nicht zurückbringen.

„Dem Baby geht es gut“, antwortete Lydia für ihn und drückte Greg das Essenstablett in die Hand.

„Ihr Bruder steht unter Schock. Er spricht momentan nicht. Aber vielleicht bringen Sie ihn dazu, etwas zu essen. Wenn nicht, essen Sie es selber.“ Damit ließ sie die beiden allein.

„Du willst mir das doch nicht wirklich antun, oder?“, fragte Greg mit angewidertem Blick auf das Essen. Jesse lächelte nicht.
 

Tag 5
 

„Komm schon, du musst was essen. Du musst wieder zu Kräften kommen, damit du dein Baby sehen kannst. Solange sie in diesem Glaskasten steckt, können sie sie nicht zu dir bringen.“

Greg packte fettig riechende Pommes und einen Burger aus seinem Rucksack.

„Ich verstehe ja, dass bei dem Krankenhausfraß nicht gerade Appetit aufkommt, aber einem Burger wirst du ja wohl kaum widerstehen können, oder?“

Jesse sah aus dem Fenster und beobachtete einen Vogel dabei, wie er auf dem Ast eines nahe gewachsenen Baumes herumhüpfte.

„Wenn du nicht isst, dann rede wenigstens mit mir. Oder mach was kaputt. Du kannst dich auch an meiner Schulter ausweinen, ist mir egal. Aber mach irgendwas!“

Jesse hätte seinem Bruder gerne gesagt, dass er seine Energie nicht an ihn verschwenden sollte, weil er innerlich sowieso so gut wie tot war. Er war die Mühe nicht wert. Aber jedes Wort von ihm ließ Greg, Helen und Pete vielleicht neue Hoffnung schöpfen. Falsche Hoffnung.

„Ich bin zwar der Onkel, aber ich kann nicht mit Kindern umgehen. Du musst wieder auf die Beine kommen. Außerdem verzeihe ich es dir nie, wenn deine Krankenschwester mich wieder zwingt, dein Essen aufzuessen.“

Genau in diesem Moment kam Lydia herein.

„Tag, Schwester“, begrüßte Greg sie höflich. Sie nickte nur kurz und übersah großzügig die McDonaldstüte auf dem Tisch neben Jesses Bett.

„Wenn du heute nichts isst, müssen wir dir eine Sonde legen und du wirst künstlich ernährt. Ich an deiner Stelle würde mir das gut überlegen. Man weiß nie so genau, was sie da in einen reinpumpen.“ Sie schnappte sich eine Pommesstange, öffnete das Fenster und drehte sich im Hinauslaufen nochmal um.

„Vielleicht tut dein Bruder uns ja einen Gefallen und spritzt dich mit einem Gartenschlauch ab. Du bist nicht gerade Hugo Boss.“
 

Tag 6
 

„Bruder, ich hoffe du bist jetzt nicht gleich sauer auf mich. Ich habe Mom erzählt, was passiert ist. Sie hat gesagt, sie kommt dich heute besuchen.“

Jesse warf Greg einen giftigen Blick zu. Er war nicht gerade erfreut über diese Information. An Gregs wartender Haltung bemerkte er, dass dieser damit gerechnet hatte, mit seiner Offenbarung endlich zu ihm durchzudringen, ihn zum Reden zu bringen. Aber nicht einmal der Gedanke an seine Mutter konnte in ihm irgendeine Regung auslösen. Sie hatte dumme Sachen gesagt in der Vergangenheit, aber es kam ihm nun wie eine Kleinigkeit vor, verglichen mit seinem Verlust.
 

Tag 7
 

Da er gestern ein paar Bissen heruntergewürgt hatte, blieb ihm die Essenssonde erspart. Appetit verspürte er trotzdem nicht. Er musste sich zwingen, jedes einzelne Körnchen zu schlucken. Schmecken tat es dabei nach nichts. Es war, als wären seine Geschmacksnerven einfach abgestorben. Er hätte auch auf Dreck herumkauen können und hätte den Unterschied nicht bemerkt.

Seine Mutter war gestern nicht erschienen, was Greg ganz fahrig gemacht hatte. Wahrscheinlich war ihr ein wichtiges Meeting dazwischengekommen. Oder ihr Ehemann hatte sie davon abgehalten, zu ihm zu gehen. Es war Jesse einerlei. Ob er nun Gesellschaft hatte, oder nicht, war ihm ganz egal. Es machte für ihn keinen Unterschied.

Gregs Abwesenheit registrierte er zwar – sein Bruder musste wieder zurück in die Werkstatt -, fühlte aber nichts dabei. Weder Bedauern, noch Einsamkeit, noch Erleichterung, oder Enttäuschung. Jeder Tag war wie der andere und er wünschte sich nur, dass die Kette sich endlos aneinanderreihender Tage endlich abbrechen möge und er eines morgens einfach nicht mehr aufwachte.
 

Tag 8
 

Seine Mutter kam doch. Zu Jesses Erleichterung ohne Begleitung. Ihren Mann hätte er nicht ertragen, und Betty sollte ihn nicht in diesem Zustand sehen.

Er würde nie ihren schockierten Gesichtsausdruck vergessen, als sie schwungvoll die Tür öffnete und ihre Augen an ihm hängenblieben. Sie hatte ihre Mimik schnell wieder unter Kontrolle und kam zu ihm ans Bett. Sie betrachtete ihn von oben bis unten. Jesse überraschte es, dass er sich nach tröstenden Worten von ihr sehnte. Er erinnerte sich daran, wie er als kleines Kind hingefallen war und sie seine Schmerzen einfach weggepustet hatte. Er wünschte sich, sie würde noch immer diese Macht besitzen, ihn in den Arm nehmen, ihm versichern, es würde alles gut werden, und die letzten Tage ungeschehen machen.

Mach Elly wieder lebendig, hätte er beinahe gefleht, doch stattdessen schluckte er schwer, weil sich ein Kloß in seinem Hals gebildet hatte. Das größte Anzeichen von Emotionen in den vergangenen sieben Tagen.

Er musste sich zusammenreißen. Er wollte nicht wieder damit anfangen, zu empfinden. Er hatte sich in diese gefühllose Stille gerettet, die es ihm ermöglichte, zu atmen, ohne in Flammen aufzugehen.

Seine Mutter fuhr über sein Haar, das bestimmt ganz fettig war.

„Du siehst furchtbar aus“, sagte sie und packte Kleidung aus ihrer Tasche. „Hier. Zieh dich um. Dann gehen wir nach Hause und du kannst eine gescheite Dusche nehmen. Ich habe die Entlassungspapiere schon ausgefüllt.“

Jesse machte keine Anstalten, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Er blinzelte nur. Seine Mutter seufzte.

„Damit eins klar ist: Ich werde nicht dabei zusehen, wie du in Selbstmitleid badest. Du hast dich schon genug gehen lassen. Schau dich an. Du bist nur noch Haut und Knochen.“ Es stimmte, er hatte abgenommen, seine Haut schien sogar einen Ton grauer geworden zu sein. Seine Mutter hielt sich die Hand unter die Nase. „Und du stinkst.“ Charmant. Früher hätte er eine freche Bemerkung zu ihrem Kommentar abgegeben. Doch wie die letzten Tage auch, hüllte er sich jetzt in Schweigen. Er fand es irgendwie tröstlich, das ewige Genörgel seiner Mutter, den fachmännischen Ton, den sie so gut wie nie ablegte. Es gab ihm das Gefühl, dass sich die Welt trotz allem weiterdrehte. Sie warf die Klamotten auf seinen Schoß.

„Komm jetzt. Zieh dich an. Ich warte draußen auf dich.“ Jesse sah ihr hinterher, wie sie hinausstolzierte, die Absätze ihrer Schuhe auf dem Boden klappernd. Eine Weile saß er bewegungslos da, starrte nur an die Wand.

Irgendwann ging dann ein Ruck durch seinen Körper, ganz von allein, und er stand auf und tat, wie ihm geheißen. Als er in den Flur trat, frische Kleidung am Körper und die paar Habseligkeiten, die er hier gehabt hatte, in einem Müllbeutel verstaut, sagte seine Mutter kein Wort. Sie stand einfach auf und lief ihm voraus zum Auto. Während der Fahrt starrte er die ganze Zeit aus dem Fenster, ließ die Welt an sich vorbeiziehen, ohne wirklich etwas davon zu sehen. Es kam ihm seltsam vor, dass die Menschen auf der Straße sich ganz normal verhielten. Wussten sie denn nicht, was passiert war? Wussten sie nicht, dass Eleonore - nein. Nicht dieser Name. Nicht daran denken. Nicht fühlen. Das war leichter.

„Deine Schwester ist auf Klassenfahrt. Sie weiß noch nichts davon.“ Jesse liebte seine Schwester, war allerdings froh um diesen Umstand, denn er könnte ihren mitleidigen Blick im Moment nicht ertragen. Allein der Weg vom Auto ins Haus und die Treppen hinauf erschöpften ihn. Er ließ sich auf sein Bett sinken und wartete darauf, dass der Schwindel aufhörte.

„Ich mache eine Suppe. Nach dem Essen kannst du dich hinlegen.“ Er hatte gar nicht gemerkt, dass seine Mutter ihm gefolgt war. Er nickte nur, weil er hoffte, sie würde dann weggehen und er seine Ruhe haben. Nach wenigen Sekunden war er eingeschlafen.
 

Tag 9
 

Jesse war verwirrt, weil er sich kaum daran erinnerte, wie er in sein Zimmer gekommen war. Es war alles sauber. Seine Mutter musste aufgeräumt haben, als er vor mehreren Wochen das Haus überstürzt verlassen hatte. Seitdem war er nicht mehr hier gewesen. Ein komisches Gefühl. Es war schon so lange nicht mehr sein zuhause. Selbst in Gregs Bruchbude hatte er sich wohler gefühlt, auch sein Internatszimmer hatte er sich wohnlich eingerichtet gehabt, und bei Eleonore hatte er sich sowieso immer wie zuhause gefühlt. Das schwarze Loch in seiner Brust meldete sich wieder zu Wort. Er hatte es beinahe vergessen. Er versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren: Den Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge brach – Marissa musste sie gestern noch zugezogen haben – und die Staubkörner, die im Licht flirrten. Jesse hörte das Plätschern von Wasser, ungewöhnlich laut, und Schritte. Seine Mutter öffnete die Tür, ohne vorher anzuklopfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich deswegen aufgeregt hätte. Lappalien.

„Du bist wach. Gut. Ich habe dir ein Bad eingelassen. Danach wird gefrühstückt.“ Jesse war dankbar für ihre Autorität, dass sie ihm sagte, was er zu tun hatte. Ansonsten wäre er endlos so dagelegen und hätte gewartet – ohne zu wissen, worauf.
 

Tag 10
 

Auch wenn er es nicht zugeben wollte, hatte das Bad gestern gutgetan. Es hatte seine verspannten Muskeln etwas gelockert, seinen unangenehm werdenden Körpergeruch verschwinden lassen und für einige Zeit hatte er so empfunden, als hätte das Badewasser die Vorkommnisse der vergangenen Tage fortgewaschen. Als könnte er die Vergangenheit einfach abstreifen, wie eine zweite Haut. Aber leider war er kein Reptil. Und leider hörte sein Gehirn auch nicht auf, zu denken. So sehr er auch versuchte, seine Gedanken nicht in Eleonores Richtung wandern zu lassen, sie kamen doch immer wieder dort an, sie umkreisten ihn wie Aasgeier, die darauf warteten, zuzuschlagen.

Er konnte sich die Zeit nicht mit Lesen vertreiben, weil Bücher ihn an sie erinnerten, Fernsehen war auch keine Option, weil er dem Programm nie folgen konnte und immer wieder abschweifte. Auf einen Spaziergang hatte er keine Lust, wahrscheinlich war er sowieso noch zu schwach, um länger draußen zu sein. Stattdessen schnappte er sich seine Gitarre und zupfte ein wenig an den Saiten, bis ihm einfiel, wie Elly ihn immer angesehen hatte, wenn sie ihm dabei zusah. Sie hatte es geliebt, ihn singen zu hören, aber noch mehr hatte sie es genossen, ihm beim Gitarrespielen zuzusehen.

Es ist, als würdest du dabei in eine andere Welt entschwinden, hatte sie einmal gesagt. An einen Ort, den nur du allein kennst. Das macht mich ein bisschen eifersüchtig.

Jesse schmetterte das Instrument gegen die Wand. Er erschrak bei dem lauten Krachen, mit dem die Gitarre zerbrach.

„Nein!“ Es war das erste Wort, das seit langer Zeit über seine Lippen kam. Es war nur ein Flüstern, doch er wiederholte es immer wieder.

„Nein. Neinneinnein!“ Er kniete sich neben das zerschmetterte Holz und versuchte, die Stücke wieder zusammenzufügen. So viel Kraft hätte er sich gar nicht mehr zugetraut. Er hatte sie völlig zerstört. Ein scharfer Splitter schnitt ihm in die Haut, als er ihn berührte, doch das beachtete er gar nicht. Er versuchte, irgendwie zu retten, was noch zu retten war. Das Instrument war in der Mitte durchgebrochen, die Saiten hingen schlaff und ohne Spannung auf dem Boden.

„Nein. Nein.“ Sam öffnete schwungvoll die Tür und sah das Chaos, Jesse inmitten der Überreste, seine blutige Hand, die auf Instrument und Boden tropfte.

„Marissa. Komm her.“ Er packte Jesse an den Schultern und zog ihn von dem Missgeschick fort. „Zeig mir deine Hand.“ Jesse leistete keinen Widerstand, als Sam seine Hand ergriff und nach Splittern absuchte. Es war dieselbe, an der er einen Gips am kleinen Finger trug.

„Was machst du denn, Jesse?“ Er schüttelte den Kopf und machte ein besorgtes Gesicht, welches seine Mutter nie hinbekommen hätte. Zum ersten Mal kam Jesse der Gedanke, dass damals nicht Sam die treibende Kraft hinter seiner Mutter gewesen war. Sie ließ sich sowieso nie etwas sagen. Wie hatte er glauben können, Sam sei der Buhmann? Wahrscheinlich war es leichter, zu akzeptieren, dass nicht die eigene Mutter einen verraten hatte. Schnelle Schritte kamen die Treppe hinauf.

„Jesse!“ Marissa seufzte nur schwer, als sie das Chaos sah und schüttelte den Kopf. Sie machte sich wohl mehr Sorgen darüber, wer das hier wieder aufräumen würde, als um die Verletzung ihres Sohnes.

In diesem Moment begann Jesse wieder zu fühlen. Es kroch langsam durch seinen Körper hindurch und sammelte sich schließlich an seinem schwarzen Loch und setzte sich dort fest. Es war Enttäuschung.
 

Tag 11
 

Ein weißer Verband umhüllte seine linke Hand. Jesse hatte sich strikt geweigert, zurück ins Krankenhaus zu gehen und die Wunde behandeln zu lassen. Doch weil der Stoff immer wieder durchnässte und sich rot färbte, bestand seine Mutter schließlich doch auf einen Arzt. Sie füllte das Anmeldeformular aus, während Jesse und Sam Platz nahmen und warteten.

„Das könnte eine schöne Narbe geben.“ Im Gegensatz zu Marissa versuchte Sam nicht, ein Gespräch mit ihm zu führen. Er redete mit ihm, ja, aber erwartete niemals eine Antwort. Jesse war sehr dankbar dafür.

Seit er gestern angefangen hatte, wieder etwas zu empfinden, konnte er nicht mehr damit aufhören. Es waren Kleinigkeiten, die in Schüben kamen, aber manchmal trotzdem mehr, als er verkraften konnte. Hier, an einem öffentlichen Ort, war es noch schlimmer. Der Geräuschpegel machte ihn nervös, genauso wie die Absätze seiner Mutter. Der medizinische Geruch, der sich nicht aus seiner Nase vertreiben ließ, auch wenn er versuchte, ganz flach zu atmen, bereitete ihm Übelkeit. Und so viele Menschen auf einem Haufen konnte er schlicht nicht ertragen. Außerdem war es dasselbe Krankenhaus. Hier war es passiert.

Jesse begann, mit dem Fuß zu wippen, eine nervöse Angewohnheit, die er eigentlich schon lange abgelegt hatte. Er hätte jetzt auch gerne wieder mit Nägelkauen angefangen. Das war früher immer sehr beruhigend gewesen.

„Jesse.“ Helen. Oh nein. Sie kam auf ihn zu, gerade, als seine Mutter wieder zurückkam. Die beiden Frauen waren sich noch nie begegnet, und als sie jetzt voreinander standen, spürte man deutlich die geladene Energie, die zwischen ihnen strömte.

„Hallo. Ich bin Helen.“ Eleonores Mutter fasste sich schließlich als Erste ein Herz und reichte Marissa die Hand.

„Marissa. Mein aufrichtiges Beileid.“

Jesse stand auf, wollte nur noch weg von hier.

„Warte“, Helen fasste ihn sanft an der Schulter. „Willst du nicht deine Tochter sehen?“

Nein, das wollte er nicht. Er hatte Angst, dass sie ihr ähnlich sah, dass sie ihre Augen hatte, ihre Nase, ihr Lächeln. Er konnte sie nicht sehen, wollte sich nicht in sie verlieben, weil er kein Vater sein konnte. Momentan konnte er ja nicht mal für sich selbst sorgen.

„Was ist mit deiner Hand passiert?“ Jesse wollte Helen die Wahrheit sagen, presste aber stattdessen nur die Lippen aufeinander. Er wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten. Sie hatte schon genug Kummer. Und wenn sie erfuhr, wie schlecht es ihm noch immer ging, würde sie auch noch für ihn da sein wollen. Sie war so viel mehr eine Mutter für ihn, als die Frau, die ihn geboren hatte.

„Ein kleiner Unfall. Wahrscheinlich muss es genäht werden. Wir warten schon auf den Arzt.“

Bei diesen Worten fiel es Jesse wie Schuppen von den Augen. Seine Mutter wollte nicht, dass er das Baby sah, sein eigen Fleisch und Blut. Deshalb hatte sie ihn aus dem Krankenhaus geholt. Um ihn unter Kontrolle zu haben und ihn von seiner Tochter fernzuhalten. Ihm wurde schlecht. Er wollte nur noch weg von ihr.

„Wo ist sie?“, fragte er an Helen gewandt. Seine Stimme klang komisch in seinen Ohren. Er hatte sie so lange nicht mehr benutzt.

„Willst du nicht warten, bis der Arzt sich das angesehen hat?“ Helen deutete auf seine Hand, doch Jesse schüttelte entschieden den Kopf.

„Ich habe lange genug gewartet.“

Seine Mutter machte Anstalten, ihnen zu folgen, doch Sam hielt sie zurück.

„Wir warten hier und sagen dem Arzt Bescheid.“

Jesse dankte ihm im Stillen.

Der Weg in die Neugeborenen-Station kam ihm ewig vor. Jesse wusste nicht, was ihn erwarten würde. Er wusste nicht, was er empfinden würde, wenn er sie sah. Er hatte Angst davor, dass seine Gefühle über ihn hereinbrachen, wenn seine Augen die ihren trafen, und er hatte Angst davor, dass er vielleicht gar nichts spürte. Er wusste nicht, ob es besser war, tief Luft zu holen, oder den Atem anzuhalten.

Helens Hand legte sich auf seinen Rücken, als die Glasscheibe in Sicht kam, hinter der die kleinen Zwerge lagen. Es waren sieben oder acht Babys. Jesse war verwirrt, weil er nicht sofort erkannte, welches seines war. Er sollte es doch wissen, wenigstens spüren. Er war der Vater.

„Das ist sie.“ Helen zeigte auf einen Knirps direkt hinter der Scheibe. Sie war so winzig. Der Großteil ihres Körpers war mit einer Decke belegt, doch ihre winzigen Händchen und der Kopf schauten oben heraus. Sie schlief. Ihr Mund war offen und bewegte sich leicht im Schlaf. Sie trug ein Mützchen, deshalb konnte er nicht sehen, ob sie schon Haare hatte. Er legte eine Hand an die Scheibe und wünschte sich, er könnte sie berühren. Er wollte, dass sie ihn spürte, seine Anwesenheit wahrnahm. Sie sollte wissen, dass ihr Daddy jetzt da war. Und sie nie wieder verlassen würde.

„Ist sie gesund?“ Als er sprach, fiel ihm seine kratzige Stimme auf. Er weinte, hatte es nur noch nicht bemerkt. Helen, selbst Tränen in den Augen, nickte lächelnd.

„Ja. Putzmunter. Die ersten Tage war sie ein wenig schwach und hat Hilfe beim Atmen gebraucht. Sie war in so einem hässlichen Glaskasten. Aber jetzt geht es ihr prima.“

Jesse hasste sich dafür, dass er nicht da gewesen war, als er gebraucht wurde. Er nahm Helen fest in den Arm.

„Es tut mir so Leid. Ich hätte hier sein müssen. Ich war so dumm. Nur... Ich konnte nicht. Das wird sich ändern, ich verspreche es.“

An den Schluchzern merkte er, dass auch Helen jetzt weinte.

„Ist schon gut. Ich verstehe das. Wir haben dir nie Vorwürfe gemacht.“ Sie löste sich von ihm und sah ihm fest in die Augen.

„Hauptsache, du bist jetzt da.“

Jesse nickte und wischte sich die Tränen weg, obwohl schon neue nachkamen. Dann sah er wieder zu den Winzlingen hinter der Scheibe. Er wollte den ganzen Tag so dastehen und sie einfach nur betrachten, ihren Anblick in sich aufsaugen.

„Deine Hand.“ Der Verband war schon wieder blutdurchtränkt.

„Komm, wir lassen dich jetzt erst mal zusammenflicken. Die Kleine läuft uns nicht weg.“ Jesse wollte widersprechen, aber Helen hatte Recht. Seine Hand musste wieder in Ordnung gebracht werden, schließlich wollte er in der Lage sein, seine Tochter zu halten. Er prägte sich ihre Gesichtszüge ein, die Stupsnase, die geröteten Pausbacken, den kleinen Schmollmund und die langen Wimpern.

„Okay“, sagte er schließlich und riss sich von seiner Tochter los. In nur wenigen Sekunden hatte er einen Entschluss gefasst: Er wollte leben.
 

Tag 12
 

Der restliche gestrige Tag war wie im Nebel. Seine Hand hatte mit mehreren Stichen genäht werden müssen. Die örtliche Betäubung hatte ihn mehr mitgenommen, als sie sollte. Wahrscheinlich war der Cocktail aus Narkotika, zu wenig Schlaf, überstrapazierten Nerven und zu wenig Nahrungsaufnahme nicht gerade gut für seinen Körper gewesen. Jesse erinnerte sich, Richtung Kinderstation gedrängt zu haben, er war aber so schwach gewesen, dass Sam und Marissa ihn dazu überreden konnten, nach Hause zu gehen, um sich auszuruhen.

Er hatte das erste Mal friedlich einschlafen können, auch wenn die Schmerzmittel irgendwann nachließen und er ein heftiges Pochen in der Hand spürte. Es wunderte ihn sowieso, kaum Schmerzen verspürt zu haben, als er sich geschnitten hatte. Er war froh, dass seine Mutter auf einen Arzt bestanden hatte. Ansonsten wäre er nicht ins Krankenhaus gegangen und hätte seine Tochter nicht gesehen. Jetzt konnte er es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Es gab tatsächlich wieder etwas, worauf er sich freuen konnte. Die Kleine war jetzt sein Lebensinhalt. Er wollte alles für sie tun, der beste Vater werden, den es auf der Welt gab. Nicht so wie seiner, der nur durch Abwesenheit glänzte. Jesse hatte noch nie eine besonders enge Bindung zu seinem Vater gehabt. Er sah ihn nur selten, alle paar Jahre, wenn er nicht gerade auf einer seiner Expeditionen war, wie es sich für einen Meeresbiologen gehörte.

„Ich möchte wieder ins Krankenhaus.“ Jesses Worte durchschnitten die Stille und ließen seine Mutter und Sam in ihren Bewegungen innehalten. Sam fasste sich schnell wieder und führte die Gabel zum Mund, während Marissa das Besteck ordentlich auf ihrem Teller ablegte. Offensichtlich hatte er ihr den Appetit verdorben.

„Ich will sie sehen“, sagte Jesse mit Nachdruck. Als müsste er sich vor seiner Mutter rechtfertigen. Seit ein paar Wochen war er achtzehn, also hatte sie ihm gar nichts mehr zu sagen. Sie legte ihre nachdenkliche Miene auf und musterte ihn ausgiebig.

„Bist du dir sicher?“, fragte sie in sachlichem Ton.

„Absolut“, erwiderte er ohne Zögern. Marissa verschränkte die Hände auf dem Tisch ineinander.

„Ich bin mir da nicht so sicher. Ich denke, du bist noch nicht bereit dazu.“

Es überraschte Jesse kein bisschen, dass sie nicht einverstanden war.

„Sie ist meine Tochter. Sie ist deine Enkelin.“ Er hoffte, letzteres könnte ihr Herz erwärmen.

„Ich will dich gar nicht von ihr fernhalten. Ich befürchte nur, dass dir das noch zu viel sein könnte. Es ist noch nicht lange her, seit -“ Jesse knallte sein Besteck auf den Tisch, damit er nicht hören konnte, was sie sagte.

„Siehst du?“, sagte seine Mutter und sah ihn triumphierend an.

„Du bist noch nicht so weit.“ Jesse stand ruckartig auf, wobei sein Stuhl über den Boden scharrte.

„Seit Tagen sagst du mir, ich soll mich zusammenreißen. Jetzt reiße ich mich zusammen, und du bist immer noch nicht zufrieden. Ich habe mich unter Kontrolle.“

Seine Mutter stand ebenfalls auf.

„Das nennst du unter Kontrolle? Du schreist mich an, nur weil du nicht hören willst, wie ich versuche, dir klarzumachen, dass Eleonore tot ist.“ Jesse starrte sie an. In ihm tobte ein unbändiger Sturm, der kurz davor war, aus ihm herauszubrechen. Gleichzeitig überkam ihn eine Ruhe, die ihm beinahe Angst machte. Es war die Gewissheit, dass seine Mutter ihn nicht kannte; ihn niemals verstehen würde, niemals wissen würde, was er brauchte. Stattdessen stand sie vor ihm und versuchte, ihn kleinzumachen. Sie wollte ihm weismachen, er sei noch nicht bereit, anstatt ihm zu helfen und ihn zu unterstützen. Und dann sagte sie ihm auch noch ins Gesicht, dass seine Freundin gestorben war, wie einen Trumpf, den sie aus ihrem Ärmel zog.

„Sieh dich doch an. Du kannst nicht damit umgehen. Die letzten Tage warst du kaum anwesend. Du hast nur apathisch vor dich hin gestarrt, hast nicht gegessen, nichts gesagt. Und jetzt willst du auf einmal Vater spielen?“ Auch sie hatte die Stimme erhoben.

„Du wirst nie wollen, dass ich ihr Vater bin, dass ich die Verantwortung für sie übernehme. Du warst von Anfang an gegen sie.“ Jesse holte tief Luft, um eine Tirade von Schimpfwörtern auf sie herabregnen zu lassen, doch seine Mutter fiel ihm ins Wort.

„Du hast Recht, ich war dagegen. Und hätte Eleonore damals auf mich gehört, wäre sie jetzt noch am Leben.“ Der Kontrast zwischen der erhobenen Stimme seiner Mutter und der Stille, die danach folgte, war erdrückend. Was? Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt?

„Du wirst sie niemals zu Gesicht bekommen. Ich verbiete dir, jemals in ihre Nähe zu kommen, hast du verstanden!? Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Jesse sah seine Mutter ein letztes Mal an, eine Frau, die ihm völlig fremd war, die er sein ganzes Leben für jemand anderen gehalten hatte. Dann stürmte er aus dem Raum und packte – erneut – seine Sachen.

„Wo willst du hin?“, rief sie ihm hinterher und zum ersten Mal meldete sich Sam zu Wort.

„Lass es, Marissa. Du bist zu weit gegangen.“

Ja, das war sie. Jesse war froh, dass sie ihm nicht in sein Zimmer folgte. Er wusste nicht, was er sonst getan hätte. Wäre er fähig, seine eigene Mutter zu schlagen? Er hoffte, nicht. Doch erst in Extremsituationen offenbarte sich den Menschen, wozu sie wirklich in der Lage waren. Andererseits gab es trotz all der Vorkommnisse eine leise Stimme in seinem Kopf, die sich wünschte, sie würde zu ihm kommen und sich bei ihm entschuldigen. Aber seine Wut übertönte bald alles andere, er machte sich Vorwürfe, erneut auf sie hereingefallen zu sein. Wie hatte er vergessen können, wer sie war und wozu sie imstande war?

Er hatte glücklicherweise nicht mehr viele Habseligkeiten in seinem Zimmer, da er alles bei Greg untergebracht hatte. Also schnappte er sich nur einen alten verstaubten Rucksack und packte alles ein, was ihm noch lieb und teuer war, denn er schwor sich, nie mehr einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Dieses Mal endgültig.

Er ging, ohne sich zu verabschieden. Er wollte sie nicht nochmal sehen. Ehrlich gesagt hatte er auch etwas Angst davor, sie könnte vielleicht weinen, und dieser Anblick ließe ihn schwach werden. Aber wem machte er hier etwas vor? Marissa weinte nicht. Sie hatte keine Gefühle. Menschen mit Gefühlen sagten nicht solche Dinge.

Lass mich nie so werden, Eleonore, betete er in den Himmel und setzte sich in den nächsten Bus, der in Richtung Krankenhaus fuhr.
 

Stundenlang stand er vor der Glasscheibe. Als er einer Hebamme erklärte, er sei der Vater, schenkte sie ihm ein trauriges Lächeln.

„Ihrer Tochter geht es ein bisschen schlechter. Aber kein Grund zur Sorge. Sie braucht nur wieder ein wenig Unterstützung beim Atmen. Das ist nichts ungewöhnliches nach einer schwierigen Geburt. Mein herzliches Beileid, wegen ihrer Freundin.“

Jesse blinzelte mehrmals, um keine Tränen aufkommen zu lassen.

„Ja. Danke.“ Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was erwiderte man auf Beileidsbekundungen?

Ist ja nett gemeint, aber das bringst sie mir auch nicht wieder zurück? Sie haben sie gar nicht gekannt, also halten Sie die Klappe?

Stecken Sie sich Ihren Kondolenz-Scheiß sonstwo hin?

Die weiteren Ideen wurden nicht gerade freundlicher, deshalb hörte er auf, darüber nachzudenken.

„Wieso ist sie in einem Glaskasten?“ Es sah fürchterlich aus, genau wie die kleine Maske, die über Nase und Mund gestülpt war.

„Das schützt sie vor Infektionen. Wir wollen sie von jeglichen Keimen fernhalten.“

Sie sieht aus wie ein Tier, in einem Käfig eingesperrt, dachte Jesse.

„Nur ein paar Tage, dann hat sie es überstanden“, versprach ihm die Hebamme.

„Kann ich zu ihr?“, fragte er und hoffte, nicht mehr durch diese blöde Glasscheibe von ihr getrennt zu sein. Sie nickte.

„Natürlich. Wir können hineingehen. Aber ich darf sie nicht aus ihrem Kasten holen.“ Jesse nickte nur. „Na dann, kommen Sie.“

Er folgte ihr durch eine Tür auf die andere Seite des Raumes. Das sein Baby nicht das Einzige war, das in so einem komischen Kasten lag, tröstete ihn irgendwie. Sein Herz klopfte schneller, als sie zu ihr traten. So nah war er ihr noch nie gewesen. Heute hatte sie die Augen geöffnet. Jesse starrte sie an. Sie war ein Wunder, sein und Eleonores Wunder. Er hatte wochenlang mit ihrem Bauch geredet, ihre kleinen Tritte gespürt, aber sie jetzt zu sehen, ihr so nahe zu sein, war überwältigend. Die Hebamme öffnete eine Klappe an der Seite des Kastens.

„Nur zu.“ Jesse sah unsicher zwischen der Dame und seinem Kind hin und her. Durfte er sie tatsächlich berühren?

„Seien Sie nicht schüchtern. Es ist alles gut.“ Das kleine Mädchen, mit den blauen Augen ihrer Mutter, schien ihn beinahe auffordernd anzusehen. Sie strampelte ungeduldig mit ihren kleinen Füßchen und gab einen zarten Laut von sich. Jesse streckte ganz automatisch die Hand durch die Öffnung. Er wollte, dass sie ihn spürte, sie sollte wissen, dass sie nicht alleine war; nie wieder sein würde. Sie sah so zerbrechlich aus. Zaghaft strich er über ihren winzigen Handrücken. Ihre Haut war so weich. Ihre Finger schlossen sich um seinen Daumen. Sie kamen nicht ganz herum, aber ihr Griff war überraschend kraftvoll.

„Okay. Ich muss jetzt auf Visite. Kann ich Sie beide hier allein lassen?“ Jesse hatte die Anwesenheit der Hebamme völlig vergessen.

„Ja, klar. Danke.“

Sie klopfte ihm auf die Schulter, als wollte sie ihm gut zusprechen.

„Ich sehe später nochmal nach Ihnen.“

Jesse hatte das Gefühl, als machte sie sich mehr Sorgen um ihn, als um das Baby. Er merkte kaum, wie sie fortging. Seine Tochter hatte bereits seine gesamte Aufmerksamkeit zurückgewonnen. Ihre Augen musterten ihn genau.

„Tut mir Leid, dass ich so spät komme“, flüsterte er und strich mit seinen freien Fingern über ihre Hand, die seinen Daumen noch immer fest umklammert hielt.

Er hatte das Zeitgefühl verloren, als erneut die Tür aufging.

„Jesse.“ Helen stand vor ihm.

„Hallo“, sagte er leise, um die inzwischen Eingeschlafene nicht zu wecken.

„Schön, dass du da bist.“ Helen strich ihm über den Arm.

„Sie ist wundervoll, nicht wahr?“, sagte sie mit Blick auf ihre Enkelin.

„Ja, das ist sie.“ Jesse zog vorsichtig seine Finger aus ihrer Umklammerung und schloss die Klappe. Helen wirkte müde.

„Bist du jeden Tag hier?“, fragte er und meinte, die Antwort darauf bereits zu kennen.

„Natürlich. Pete muss arbeiten, die meiste Zeit.“ Jesse sah durch die Glaswand auf den Flur, wo sein Rucksack noch immer auf dem Boden lag.

„Helen“, begann er und wusste nicht so recht, ob er wirklich aussprechen sollte, was ihm durch den Kopf ging. „Ich habe es bei Marissa nicht mehr ausgehalten.“ Er benutzte mit Absicht ihren Namen. Sie hatte sich das Recht verwirkt, seine Mutter zu sein. „Ich bin ausgezogen. Dieses Mal endgültig.“ Helen seufzte.

„Jesse, sie ist deine Mutter.“ Er schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Sie hat Dinge gesagt. Dinge, an die ich nie wieder denken möchte. Sie ist – Ich halte es in ihrer Nähe einfach nicht mehr aus.“ Es schnürte ihm die Kehle zu. So von seiner eigenen Familie zu reden, war nicht leicht.

„Du kannst jederzeit zu uns kommen, wenn du möchtest“, schlug sie ihm vor. „Die Kleine wird in ein paar Tagen entlassen. Dann kann sie raus aus dem Krankenhaus.“

Der Gedanke, ganz allein mit dem Baby zu sein, die Verantwortung zu tragen, wo er noch nicht einmal einen Schulabschluss hatte, geschweige denn, ein geregeltes Einkommen, machte ihm Angst.

„Ich schaff' das nicht allein.“ Helen schüttelte den Kopf.

„Du bist nicht allein. Wir helfen dir. Komm, wir bringen erst mal deine Sachen zu uns nach Hause. Dann sehen wir weiter.“
 

Tag 13
 

Jesse war nicht sicher, ob er es hier wirklich aushalten konnte. In ihrem Zimmer, mit ihren Sachen, ihrem Geruch. Und den Erinnerungen. Erinnerungen, die ihn erneut in einen schwarzen Abgrund zu ziehen drohten. Das schwarze Loch hatte gestern Risse bekommen, einzelne Teile hatten sich beim Anblick seiner Tochter gelöst und seine Brust erleichtert. Doch so schnell wie die Risse entstanden waren, so schnell hatten sie sich wieder mit Zement gefüllt. So fühlte es sich zumindest an. Es war kein verzehrendes Feuer mehr, wie am Anfang, es war eher erkaltende Lava, die ihn langsam erstickte. Auch wenn er versuchte, sich mit Gedanken an sein Kind über Wasser zu halten, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass nur er ihr geblieben war, zog ihn seine Umgebung unter die Oberfläche. Er drehte sich im Bett herum, legte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht in ihrem Kissen. Auch das erinnerte ihn an sie. Es erinnerte ihn an ihre innigsten, intimsten Momente. Hier war aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Baby entstanden. Jesse holte den Zettel aus der Schreibtischschublade hervor, auf dem noch zwei Namen übrig waren. Eleonore hatte darauf bestanden, nicht nur einen auszuwählen, weil es ja möglich war, dass der Name nicht zu dem Neugeborenen passte.

„Sobald sie da ist, werden wir sehen, ob sie eine Kelly oder eine Prudence ist.“

Jesse wusste genau, sie wollte eine Prudence haben, aber mit dem Namen konnte er eigentlich nichts anfangen. Nun hatte er die Entscheidungsfreiheit und fand, dass zu der Kleinen keiner der beiden Namen passte. Aber er würde jeden Namen akzeptieren, ganz egal wie absurd er war, wenn nur Eleonore hier wäre und ihn aussuchte.

Jesse wischte die Träne weg, die ihm über die Wange rollte. Inzwischen merkte er kaum noch, wenn er weinte. Es war beinahe normal geworden. Er fragte sich, ob er wohl austrocknen oder kollabieren konnte, wie wenn man zu wenig trank oder zu viel schwitzte. Hätte er seine Tränen alle in einem Eimer aufgefangen, wäre dieser wahrscheinlich schon übergelaufen. Meistens weinte er sich in den Schlaf, weil er im Dunkeln, allein im Bett, keine Ablenkung mehr hatte, nichts, was seine Gedanken daran hindern konnte, in die Vergangenheit zu reisen und jeden Moment mit Elly erneut zu durchleben, nur dieses Mal mit einem Stechen in der Brust, egal wie glücklich der Augenblick auch gewesen sein mochte.

Mehrmals fragte sich Jesse, ob es nicht erträglicher wäre, wieder zurück zu Greg zu gehen. Er hatte zwar einen neuen Untermieter, aber bestimmt könnte er auf der Couch schlafen. Aber Jesse vermutete, dass der Umgebungswechsel nichts ändern würde. Es gab nichts, was ihn von dem Monster befreien konnte, das sich um sein Herz geschlossen hatte. Und wann immer es wollte, drückte es zu.

Sieh nur, was du aus mir gemacht hast, sagte er im Stillen zu Eleonore und versuchte, die Wut, die in ihm aufkam, zu unterdrücken. An dem Pochen in seiner verletzten Hand merkte er, wie fest er die Fäuste ballte. Er wollte nicht sauer sein, aber er konnte nichts dagegen tun. Er war wütend auf Eleonore, weil sie ihn im Stich gelassen hatte, ihn mit allem allein gelassen hatte. Er war wütend, weil er sich nicht einmal hatte verabschieden können. Er war wütend auf die Ärzte, weil sie Eleonore hatten sterben lassen. Er war wütend auf seine Mutter, weil sie so war, wie sie war. Und er war wütend auf sich selbst, weil er nichts hatte tun können. In einem Impuls nahm er einen Stift vom Schreibtisch und strich den letzten Namen durch. Jetzt stand da nur noch Kelly.

„Das hast du davon, wenn du nicht mehr hier bist, um mich davon abzuhalten.“
 

Tag 14
 

„Jesse, was machst du denn hier draußen?“ Helen lehnte sich gegen die Haustür und registrierte mit einem Stirnrunzeln, wie Jesse an seiner Zigarette zog.

„Tut mir Leid. Ich kann nicht anders.“ Das Nikotin verschaffte ihm für eine kurze Weile Ruhe, als hätte er sich etwas mehr unter Kontrolle. Er hätte niemals mit diesem Blödsinn anfangen sollen, doch jetzt war er froh, etwas zu haben, das ihn runterholte. Es war erst fünf Uhr morgens, doch er hatte keinen Schlaf gefunden, und nachdem er sich endlos hin und her gewälzt hatte, war in ihm plötzlich das Verlangen nach einer Zigarette aufgekommen. Und daran war nur seine Mutter Schuld. Jesse wusste, dass er sich das eigentlich selbst eingebrockt hatte, aber hätte er nicht nach einer Möglichkeit gesucht, seine Mutter auf die Palme zu bringen, wäre es nie so weit gekommen. Er erinnerte sich an Eleonores Worte, als sie es herausgefunden hatte.

Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir lieber noch mehr Tattoos stechen. Gute Idee. Nicht wegen Marissa. Aber das Stechen eines Tattoos hatte eine viel bessere Wirkung, als eine Zigarette.

„Du wirst nicht rauchen, wenn die Kleine hier ist, damit das klar ist. Nicht im Haus und nicht im Garten. Gar nicht. Du musst damit aufhören.“ Es waren die ersten herrischen Worte, die Helen je an ihn gerichtet hatte. Früher hatten sie immer nur Eleonore gegolten.

„Es ist ungesund. Mach dich nicht selber krank.“

An diesem Tag startete Jesses zweiter Entzugsversuch. Die Besuche bei Kelly im Krankenhaus bestärkten ihn in seinem Vorhaben. Es war das erste Mal, dass ihm seine Trauer bei irgendetwas half, denn er spürte kaum etwas von den Entzugserscheinungen.
 

Tag 15
 

Es war das erste Mal, dass Jesse außer Haus ging, ohne ins Krankenhaus zu gehen. Zum ersten Mal betrat er die tattoo hell und traf auf Needle. An diesem Tag ließ er sich das Unendlichkeitszeichen stechen. Pete schüttelte nur den Kopf, als er das Pflaster sah, Helen schwieg. Es war ihnen wohl beiden lieber, dass er sich Farbe unter die Haut stechen ließ, als giftiges Nikotin in seine Lungen zu pumpen. Eleonore hatte Recht. Es war eine Sucht. Damit er auch das unter Kontrolle bekam, nahm er sich vor, nur einmal im Jahr ins Tattoostudio zu gehen.

Im Krankenhaus teilten sie ihm mit, dass Kelly voraussichtlich in drei Tagen nach Hause durfte. Es beflügelte und verängstigte Jesse zugleich. Helen beruhigte ihn mit den Worten, sie habe schon einmal ein Kind groß gekriegt, und Jesse sei nicht alleine damit, aber sie betonte auch lächelnd, dass er ganz bestimmt nicht ums Windelwechseln herumkam. Jesse hatte zwar das Buch über Babys gelesen, aber die Praxis war meistens nochmal ganz anders als die Theorie. Er fühlte sich ganz flattrig. Aufregung und Angst krochen gleichermaßen an seinem Hals hinauf und schnürten ihm die Luft zum Atmen ab.

„Was, wenn ich ein schlechter Vater bin?“ Jesse wusste nicht, ob Helen und Pete klar war, dass Sam nicht sein richtiger Vater war und sein Erzeuger irgendwo auf dem offenen Meer herumschipperte und auch nur selten von sich hören ließ, wenn er mal an Land war. Pete klopfte ihm auf die Schulter, sodass Jesse beinahe an seinem Essen erstickte, das er gerade herunterschluckte.

„Mach dir keine Gedanken, Junge. Jeder Mann kriegt Schiss beim Anblick eines Babys. Aber wenn du sie erst mal auf dem Arm hast, ergibt alles einen Sinn.“ Helen legte eine Hand auf Jesses, sodass er aufhören musste, Essen in sich reinzuschaufeln. Er hatte so lange nichts gegessen, er hätte den ganzen Tag den Kühlschrank leerräumen können.

„Du wirst kein schlechter Vater. Du bist ein guter Kerl.“ Jesse seufzte. Er war ein siebzehnjähriger Teenager ohne festen Arbeitsplatz, mit Tattoos und einem Nikotinproblem. Optimale Voraussetzungen waren das nicht gerade. Aber er war fest entschlossen, der bestmögliche Vater für Kelly zu werden. Und er wollte Eleonore stolz machen, sollte sie ihn von oben beobachten. Er glaubte eigentlich nicht an dieses ganze Zeug, Himmel und Hölle, Gott, oder was auch immer. Aber es machte es erträglicher; sich vorzustellen, dass sie einfach nur woanders war.

„Ich habe mir übrigens überlegt, ihr einen zweiten Namen zu geben.“ Wenn er sich über solche Dinge Gedanken machte, lenkte ihn das wenigstens von Elly ab. Helen und Pete legten ihre Bestecke weg und sahen ihn abwartend an. „Ich dachte mir, weil Elly doch gerne ausgefallene Namen mag“, Jesse stockte, weil es schwierig für ihn war, ihren Namen in den Mund zu nehmen; und er brachte es einfach nicht über sich, in der Vergangenheitsform von ihr zu reden. Das war eindeutig zu viel. Er räusperte sich.

„Ich dachte an Precious.“ Er hatte sich wirklich lange Gedanken darüber gemacht, den Namen dutzende Male ausgesprochen, um sich an den Klang zu gewöhnen. Außerdem gefiel ihm die Bedeutung, der eigentlich ausschlaggebende Punkt. Für ein paar Sekunden war es vollkommen still am Tisch, der Name schien noch im Raum nachzuhallen. Dann lächelte Helen, während ihr Tränen in die Augen stiegen, die sie wegwischte, bevor sie ihre Wangen herunterkullern konnten.

„Das halte ich für eine wunderbare Idee“, stimmte sie zu. Pete nickte nur. Er nickte oft, denn er war kein Mann großer Worte, aber Jesse sah mehr einen Vater in ihm, als in Sam oder seinem Erzeuger.

„Okay.“ An diesem Tag kam sich Jesse das erste Mal wieder lebendig vor. Er sprühte nicht vor Lebensenergie und er machte keine Luftsprünge, denn er war noch weit davon entfernt, glücklich zu sein. Es war eher ein kleiner Schritt aus der Unglücklichkeit, das Gefühl, dass die Taubheit, die sich über ihn gelegt hatte, ein kleines bisschen nachließ.
 

Tag 16
 

In dieser Nacht begannen die Albträume. Er träumte von Eleonore in einem Krankenbett. Sie war in ein weißes Kleid gehüllt und ihre blonden Locken rahmten ihr schlafendes Gesicht ein. Sie sah so friedlich aus. Dann hörte Jesse, wie etwas auf den Boden tropfte. Er sah unter das Bett. Dort hatte sich bereits eine rote Pfütze gebildet, und als er wieder aufschaute, saugte sich das Laken bereits mit Blut voll. Ihr Bauch, der so flach war, wie vor der Schwangerschaft, begann, in sich zusammenzufallen und war bald ebenfalls blutgetränkt. Eleonores Augen öffneten sich, und mit schmerzverzerrtem Gesicht begann sie, zu schreien. Stumm zu schreien. Es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Auch Jesse konnte nicht sprechen. Er wollte sie beruhigen, ihr beistehen, doch er konnte sich nicht einmal bewegen. Nicht, weil er starr vor Angst war. Es ging einfach nicht. Es kam ihm vor, als hätte ihn jemand in Zement gegossen. Und mit einem Mal, nach einem Augenzwinkern, war sie weg. Nur das blutrote Laken blieb zurück, von dem weiterhin Tropfen zu Boden fielen und mit leisem Platschen in der bereits vorhandenen Blutlache landeten.

Schweißgebadet wachte Jesse auf. Für einen Moment glaubte er, selbst in einer Lache aus Blut zu liegen, oder sich eingenässt zu haben. Doch der Geruch nach kaltem Schweiß, der klebrige Film auf seiner Haut, und wie ihm die Haare im Nacken klebten, machten ihm klar, dass beide Befürchtungen unbegründet waren. Er stieg aus dem Bett, die Klamotten an ihm klebend wie eine zweite Haut. Sein Herz pochte wie wild und sein Mund war so trocken, dass er erst einmal etwas zu trinken brauchte. Er ging in die Küche, auf wackligen Beinen, und hoffte nur, im Schlaf nicht geschrien und somit möglicherweise Helen und Pete geweckt zu haben. Doch im Haus war alles still. Er war der Einzige, der um diese Uhrzeit noch herumgeisterte. Die kühlen Fliesen in der Küche und ein kalter Luftzug ließen ihn frösteln. Nachdem er zwei Gläser Wasser in großen Zügen leerte, stellte er sich unter die Dusche und ließ das heiße, dampfende Wasser über seinen Körper rinnen. Er stand einfach nur da, minutenlang, bis das Wasser langsam kalt wurde. Er wollte nicht wieder ins Bett. Er wollte nicht einschlafen, denn er wollte nie wieder diesen Traum haben. Um sich abzulenken, wechselte er erst einmal das Bettzeug und als er nach etwas suchte, das ihn wachhalten würde, fielen seine Augen auf ein Buch. Krabat.

Die Seiten waren schon völlig zerlesen. Hier ein Kaffeefleck, da ein paar Brösel – wahrscheinlich von Zwieback, den Eleonore leidenschaftlich gerne aß – und der Umschlag des Taschenbuchs war durch das viele Umknicken schon ganz weich geworden. Jesse begann, zu lesen, tauchte ein in Krabats Welt voller Dunkelheit und Gefahren. Er hatte es nicht so düster in Erinnerung. Warum hatte Elly das Buch so gut gefallen? Gerade als der Meister herausgefunden hatte, dass Krabat ein Mädchen liebte, wurde vorsichtig die Tür geöffnet und Jesse kehrte zurück in die Wirklichkeit. Helen steckte den Kopf herein.

„Du bist ja schon wach.“ Ihr Blick fiel auf das Buch. Sie wusste genau, welches es war. Jesse fuhr sich über die müden Augen.

„Ja, ich konnte nicht schlafen.“ Er hatte nicht vor, Helen von den Albträumen zu erzählen. Sie machte sich schon genug Sorgen. Jesse fragte sich, wie sie das aushielt, wie sie das ertragen konnte, wie sie so stark bleiben konnte, wo doch gerade ihre eigene Tochter gestorben war. Er hörte sie manchmal weinen, nachts, wenn sie glaubte, dass er schon schlief. Pete murmelte hin und wieder beruhigende Worte, doch meistens blieb er stumm. Jesse konnte sich lebhaft vorstellen, wie die beiden am Tisch saßen, Helen völlig aufgelöst, und Pete, der einfach ihre Hand hielt und ausharrte, bis es vorbei war, darum bemüht, nicht selbst in Tränen auszubrechen, weil er stark für seine Frau sein wollte.

„Ist es wirklich in Ordnung, dass ich hier bin?“, fragte Jesse und legte das Buch zur Seite. Helen setzte sich zu ihm aufs Bett und fuhr ihm über Stirn und Wange, so als wollte sie seine Sorgenfalten wegstreichen.

„Jesse.“ Sie schüttelte den Kopf, suchte nach den richtigen Worten.

„Wir sind sehr froh, dass du hier bist. Du bist ein Teil dieser Familie. Du bist der Vater meiner Enkelin.“ Bei dem Gedanken, dass sie tatsächlich Oma war, zog sie kurz die Nase kraus. „Und du füllst die Leere aus, die Eleonore hinterlassen hat. Ich würde mich freuen, wenn du hierbleibst. So lange du möchtest. Du bist immer willkommen.“ Sie machte eine kurze Pause und legte ihre Hand auf seine. Jesse fiel das erste Mal auf, wie sehnig ihre Haut war. „Aber ich kann verstehen, wenn dir das zu viel ist. Hier.“ Sie ließ ihren Blick durch Ellys Zimmer schweifen.

„Nein. Ich bin lieber hier, als irgendwo anders.“ Dass er sich ab und zu vorstellte, Elly würde jeden Moment durch diese Tür kommen, sagte er Helen jedoch nicht. Er war nicht verrückt. Ihm war klar, dass Elly tot war, aber manchmal war es einfach erträglicher, sich etwas anderes vorzustellen.
 

Tag 17
 

Trägheit überkam ihn, kaum dass er aufgewacht war. Ausnahmsweise hatte er in dieser Nacht keinen Albtraum gehabt. Doch von Eleonore zu träumen, wie sie wohlauf an seiner Seite war, nur um dann aufzuwachen und festzustellen, dass er alleine war, war noch viel schlimmer. Eine Träne perlte aus seinem linken äußeren Augenwinkel und rann seine Wange entlang, direkt an seinem Ohr vorbei über seinen Hals, und tropfte auf das Kissen. Er wischte sie nicht weg. Melancholie drohte ihn erneut einzuhüllen. Jesse wusste, Elly würde nicht wollen, dass er sich so gehen ließ, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, aufzustehen, irgendetwas zu tun. Er lag einfach da, die Arme um ein Stoffnilpferd geschlungen, und starrte an die Decke. Er wartete darauf, dass sein Herz vor Schmerz aufhören würde zu schlagen, doch den Gefallen tat es ihm nicht. Eigentlich hatte Jesse geglaubt, diese Phase überwunden zu haben. Die Phase der allumfassenden Trauer, die ihn erst schmerzhaft erfüllte und dann aushöhlte und leer zurückließ. Da hatte er sich wohl getäuscht. Wie lange würde es noch dauern, bis er endlich einen Atemzug tun konnte, ohne an sie zu denken, bis er endlich nicht mehr bei allem, was er tat, an sie erinnert wurde. Es war wie ein Teufelskreis. Je mehr er versuchte, nicht an sie zu denken, drang sie in jede seiner Fasern ein und ließ nicht mehr von ihm ab. Es war pure Folter.

Durch Kelly, hatte Jesse gehofft, würde er sich endlich auf etwas anderes konzentrieren können. Stattdessen hielt er immer wieder die winzigen Kleidungsstücke, die sie bereits vor der Geburt gekauft hatten, in den Händen, fuhr mit den Fingern über den Stoff und war erfüllt von Wut darüber, dass Eleonore ihre Tochter niemals kennenlernen würde.

Die Spur der Träne begann langsam zu trocknen und leicht zu jucken. Jesse wischte sie fort und zog die Decke über den Kopf.
 

Tag 18
 

Jesse wurde unruhig. Kelly im Krankenhaus zu besuchen und zuhause alles für ihre Ankunft vorzubereiten, war eine Sache, aber die Gewissheit, dass sie morgen tatsächlich bei ihm sein würde – und von da an für immer – machte ihn unglaublich nervös. Vor allem aber hielt er das Warten nicht mehr aus. Sosehr er auch Angst hatte, etwas falsch zu machen – und es gab so vieles, was man falsch machen konnte – sosehr sehnte er sich auch danach, seine Tochter endlich im Arm zu halten. Er wollte ein guter Vater sein, der bestmögliche. Er wollte Elly nicht enttäuschen. Kelly war ein Teil von ihr, oder nicht? Das hieß, sie würde auf eine Art immer bei ihm sein. Er stellte das Mobile über dem kleinen Bettchen an und lauschte der Melodie. Jesse stellte sich vor, wie Eleonore darin geschlafen hatte, als sie noch klein gewesen war. Hätte er sie doch nur früher kennengelernt. Hätte er doch eher erkannt, wie viel sie ihm bedeutete. Und hätte er bloß seine Mutter durchschaut. Den Gedanken schob er schnell beiseite, weil er Marissa aus seinem Leben verbannt hatte.

Jesse fragte sich, ob Elly ausgesehen hatte wie Kelly. Er fragte sich, ob seine Tochter ihr Temperament besaß und ihre Lebensfreude. Hoffentlich hatte sie möglichst viele Eigenschaften von ihr, nicht von ihm. Jesse summte die Melodie des Mobile mit, bis er unten die Haustür hörte.

„Ich bin zuhause“, rief Helen in das bis auf Jesse leere Haus hinein. Für einen aberwitzigen Moment hatte er erwartet, Eleonores Stimme zu hören.
 

Tag 19
 

Endlich war es soweit. Kelly Precious wurde aus dem Krankenhaus entlassen und zog um in ein neues Heim. Ihr Bettchen, Eleonores alte Wiege, stand in ihrem Zimmer. Jesse weigerte sich strikt, es als seines zu bezeichnen. Es war Eleonores.

„Wie du meinst, Junge“, hatte Pete nur gemeint. Er nannte ihn ständig Junge. Das gefiel Jesse; als wäre er sein Sohn – oder zumindest ein Teil der Familie. Und mit Kelly kam endlich wieder Leben in das Haus. Sie hatte ein kräftiges Organ, was sie sehr bald unter Beweis stellte.

„Ganz die Mama“, sagte Helen mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Da hat wohl jemand Hunger.“

Jesse beobachtete, wie Helen das Fläschchen vorbereitete. Er versuchte, sich jeden Handgriff einzuprägen. Die Menge des Pulvers, die Temperatur beim Warmmachen, das Testen auf der Haut. Er folgte ihr wie ein Schatten zum Sofa, auf dem Pete mit Kelly saß und diese an Helen übergab. Fasziniert betrachtete Jesse seine Tochter, während sie trank. Ihre großen blauen Augen waren weit aufgerissen und starrten Helen neugierig an.

„Vielleicht will dein Papa ja übernehmen“, sagte Helen gleichzeitig an ihn und seine Tochter gerichtet. Jesse erstarrte. Er sehnte sich danach, sein Baby zu halten, doch er konnte nicht.

„Ich...“ Er suchte nach den richtigen Worten, wandte sich abrupt ab und verließ das Wohnzimmer. Er schimpfte sich einen elenden Feigling, einen Idioten, doch er konnte nichts gegen das Zittern tun, das ihn ergriff.

„Jesse.“ Pete trat zu ihm in die Küche. „Du darfst der Kleinen nicht die Schuld für das geben, was passiert ist. Das ist nicht richtig. Und Eleonore würde das bestimmt nicht wollen.“ Jesse schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist es nicht. Ich... Ich kann einfach nicht. Ich habe von ihr geträumt. Ich habe geträumt, dass ich sie fallen lasse, verstehst du. Sie ist mir einfach aus den Händen gerutscht.“ Jesse starrte auf seine Hände und sah die Szene vor seinem inneren Auge. Er hatte sie gehalten, sie hatte ihn angelächelt, doch dann hatten sich seine Arme wie von selbst bewegt und Kelly war gefallen, endlos lang, und als sie auf dem Boden aufschlug, brach ihr Genick mit einem fürchterlichen Knacken.

„Was, wenn ich sie fallen lasse?“ Pete legte seine großen Hände auf Jesses Schultern.

„Sie ist dein Baby. Du wirst sie nicht fallen lassen, vertrau mir. Du wirst sie eher nie wieder loslassen. Glaub das einem alten Herren, der das selbst schon mal erlebt hat. Du wirst sie nicht loslassen. In keinen Armen wird sie so sicher sein, wie in deinen.“ Petes Augen waren unendlich traurig. Er redete von sich und Eleonore, seiner Tochter. Seiner toten Tochter. Jesse wollte Pete sagen, wie Leid es ihm tat, stattdessen nickte er nur.

„Okay.“ Gemeinsam gingen sie zurück ins Wohnzimmer. Kelly hatte die Flasche inzwischen fast leer getrunken. Helen sah lächelnd auf. Jesse war sich ziemlich sicher, dass sie das Gespräch mitangehört hatte, doch sie ließ sich nichts anmerken.

„Sie ist genauso gierig wie du“, sagte sie und winkte ihn zu sich. Er setzte sich neben die beiden, strich Kelly über den Kopf und spürte die kurzen blonden Härchen.

„Kann ich sie halten?“, fragte er, nachdem sie die Flasche völlig geleert hatte. Helen grinste.

„Liebend gern. Du weißt, was als Nächstes kommt, oder?“ Sie übergab ihm Kelly vorsichtig. Seine Arme schlossen sich beschützend um das kleine Ding. Sie war so leicht. Er konnte sie atmen spüren. Er fühlte ihre weiche Haut und ihre Wärme. Jesse vergaß, zu atmen. Er war so fasziniert von diesem kleinen Wunder, das er in Händen hielt. Er würde sie nicht loslassen, Pete hatte Recht. Niemals.

Gerade, als Helen das Tuch, das sie über die Schulter gelegt hatte, an ihn weitergeben wollte, passierte es.

„Das ging schnell“, sagte Pete schmunzelnd und betrachtete die kleine Spur, die Jesses Pullover hinunterlief.

„Im Bäuerchenmachen ist sie wohl ein Naturtalent.“

Jesse lächelte. Es war ihm scheißegal.

Drei Worte

Wenn ich mir vorstellte, wie Kelly Jesses Pullover ruiniert hatte, musste ich grinsen.

„Ja, sehr witzig.“ Jesse verdrehte die Augen. Es war ihm anzumerken, dass ihm die Begegnung mit seiner Mutter noch schwer im Magen lag. Helen legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Du riechst nach Rauch“, sagte sie und rümpfte die Nase. Also hatte er tatsächlich eine geraucht. Jesse erwiderte nichts darauf, zupfte sich nur einen Fussel von seinem Shirt.

„Wie läuft es eigentlich in den Proben?“, fragte Helen, um das Thema zu wechseln. Sogar ich merkte, dass Jesse schlecht drauf war, obwohl ich ihn noch nie so erlebt hatte. Er sah aus, als würde er sich am liebsten unter der Bettdecke verkriechen und mit niemandem sprechen. Ich fragte mich, ob er sich zusammenriss, weil ich dabei war. Ungefähr so eine Laune hatte er bei unserer ersten Begegnung gehabt. Hatte er an dem Tag womöglich ebenfalls seine Mutter getroffen? Jesse zuckte mit den Schultern.

„Ist nicht gerade prickelnd. Der Haussegen hängt etwas schief.“ Als ich Jesse erzählt hatte, dass Brandon meine Schwester betrogen hatte, hatte er ihn zur Rede gestellt, vor all den anderen. Wie sich herausstellte, hatten Ezra und Kurt davon gewusst. Ty und Jesse waren davon nicht sehr begeistert und waren mit den dreien in Clinch geraten.

Ich wäre zu gerne dabei gewesen, um Brandon die Meinung zu sagen und meiner Schwester wenigstens etwas von dem zurückzugeben, was sie mir in all der Zeit an Beistand geleistet hatte. Ihn hätte ich tatsächlich mit Absicht mit Steinen beworfen.
 

Tammy gab sich zwar tapfer, aber die Trennung ging ihr trotzdem an die Nieren. Ausnahmsweise war ich es, die versuchte, sie abzulenken. Die vertauschten Rollen schienen sie ziemlich zu verwirren.

„Wie ist das nur passiert? Bei dir läuft alles perfekt und mein Leben ist am Arsch!“, hatte sie gesagt. „Nicht, dass ich es dir nicht gönne!“

Sie hatte Recht. Und auch, wenn sie mir mit diesem Kommentar kein schlechtes Gewissen machen wollte, bekam ich trotzdem eines. Ich versuchte, zuhause weniger an Jesse zu denken, weil mir das immer ein dämliches Grinsen ins Gesicht zauberte. Um mich beim Essen davon abzuhalten, von ihm zu reden, schöpfte ich mir ein zweites Mal. Mein Vater, meine Mutter und Tammy hörten gleichzeitig auf, zu essen und starrten mich an. Ich zuckte mit den Schultern.

„Was? Ich habe Hunger!“ Das hatte ich tatsächlich. Mein Appetit war zurückgekehrt.
 

Wie ich meine Schwester aufheitern oder ablenken konnte, wusste ich. Aber wie schaffte ich das bei Jesse? Ich gähnte. Nicht, weil ich müde war, sondern weil ich hoffte, Jesse würde es sehen. Ich wollte ihn nicht auffordern, seine Familie zu verlassen, wo wir doch gerade erst angekommen waren. Aber aufmerksam, wie er war, bemerkte er es.

„Sollen wir langsam aufbrechen?“, fragte er mich und ich bekam ein schlechtes Gewissen, obwohl ich genau das hatte erreichen wollen. Ich zuckte die Schultern.

„Wir können ruhig noch bleiben.“ Ich mochte Helen und Pete wirklich gern, aber dieses Haus weckte in mir ein Unwohlsein, an das ich mich wohl nie gewöhnen würde. Ich schielte zu den Bildern hinüber und bereute es sofort, weil Jesse meinen Blick auffing. Er stand auf.

„Na komm. Du bist müde.“

Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Wahrscheinlich wusste es auch Helen. Doch sie sagte nichts, umarmte uns nur herzlich und bat mich, doch öfter mit Jesse vorbeizuschauen. Ich nickte lächelnd, auch wenn mir davor grauste. Wir gingen kurz nach oben, um uns von Pete und Kelly zu verabschieden, die in einem Berg aus Stofftieren saß, Clara obenauf. Sie überschüttete Jesse mit Küssen und wollte ihn gar nicht gehen lassen. Ich fragte mich, was in diesem Moment in ihm vorging. Seine Tochter immer wieder zurückzulassen, konnte nicht einfach sein.

Im Auto legte ich meine Hand auf seine, und er drehte sie um, sodass wir unsere Finger ineinander verschränken konnten. Als wir an die Kreuzung gelangten, die zu mir nach Hause führte, bat ich ihn, geradeaus zu fahren; seine Richtung. Er warf mir einen kurzen Blick zu, doch ich starrte auf die Straße. Gut, dass Freitag war. So musste ich nicht mit meiner Mutter darüber streiten, wie lange ich wegbleiben durfte. Außerdem hatte ich nicht vor, heute in meinem eigenen Bett zu schlafen. Ich schickte Mom eine kurze SMS und hoffte, sie würde nicht anrufen, um mit mir darüber zu diskutieren. Ich war alt genug.
 

Als wir jedoch in Jesses Zimmer waren, völlig allein, war ich mir nicht mehr so sicher. Noch immer zog die Begegnung mit Marissa an seinen Nerven. Deshalb war er sehr wortkarg. Sanft strich ich ihm die Locken aus der Stirn, wofür ich ein kleines Lächeln erntete. Ich wollte nicht, dass sein Gesicht von Sorgenfalten zerfurcht wurde. Um seine Lippen zu erreichen, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, doch er kam mir schnell entgegen. Ihm kam die Ablenkung anscheinend sehr gelegen, denn er wollte mich gar nicht mehr loslassen. Ich beschwerte mich nicht. Dennoch löste er sich bald von mir und lehnte seine Stirn an meine.

„Tut mir Leid, wie meine Mutter dich heute übergangen hat. Sie ist-“

Ich legte meine Finger auf seinen Mund und brachte ihn so zum Schweigen. Ich schüttelte den Kopf. Es war nicht wichtig.

„Ich mein's ernst, sie-“

Erneut ließ ich ihn nicht aussprechen. Am Saum seines Shirts zog ich ihn wieder zu mir herunter und versiegelte seine Lippen, damit er nicht erneut auf die Idee kam, das Thema anzusprechen. Um meine Absichten klarzumachen, ließ ich meine Hände unter den Stoff gleiten. Dass meine Berührung ihm eine Gänsehaut bereitete, verschaffte mir selbst eine. Jesse fackelte nicht lange und befreite sich von dem störenden Stück Stoff. Einen Moment betrachtete ich einfach nur seine Tattoos und den zu erahnenden Sixpack. Ich fuhr über die schwarze Farbe auf seiner Haut und merkte, wie sehr er sich beherrschen musste, um nur still dazustehen und mich gucken zu lassen.

„Du starrst schon wieder“, flüsterte er, was mir ein Lachen entlockte. Es waren seine letzten Worte. Das Einzige, was in dieser Nacht noch mehrmals über seine Lippen kam, war mein Name.
 

Ich änderte meine Meinung über Sex. Grundlegend. Vielleicht lag es auch einfach an Jesse. Ich liebte das Gefühl, seine Haut auf meiner zu spüren. Ich liebte es, wie er mich danach ansah, und währenddessen. Ich liebte es, wie er den Arm um mich schlang und mir zuflüsterte, wie froh er war, dass ich in sein Leben getreten war. Ich liebte es, wie begehrenswert ich mich bei ihm fühlte. Ich liebte es, ihm beim Schlafen zuzusehen.

Als ich mir ganz sicher war, dass er eingeschlafen war, fuhr ich mit dem Zeigefinger über seine Schläfe und betrachtete seine Züge. Die langen Wimpern, die einem nur auffielen, wenn man genau hinsah, weil sie so hell waren. Die Form seiner Oberlippe, die ein kleines bisschen voller war als die Unterlippe. Die Haare, die sein Gesicht umrahmten. Er sollte sie vielleicht mal schneiden. Langsam wurden sie echt lang. Sie reichten ihm schon fast bis zur Schulter. Ich betrachtete seinen Hals, und die Ader, die ich leicht pulsieren sah. Und die Linie seines Kiefers, die ich sehr verführerisch fand.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich ganz leise, sodass er es nicht einmal gehört hätte, wenn er wach gewesen wäre.

Vermasselter Geburtstag

Im Mai wurde Jesse zweiundzwanzig. Ich war froh, dass Lydia es eine Woche vorher ansprach, denn Jesse hatte es mit keinem Wort erwähnt. Ich geriet ein wenig in Panik, weil ich nicht wusste, was ich ihm schenken sollte. Das war unsere erste gemeinsame Feier. Weihnachten, Silvester und den Valentinstag hatten wir noch als Singles verbracht.

„Wieso hast du nichts gesagt?“, fragte ich ihn ein wenig eingeschnappt. Er zuckte die Schultern.

„Ist doch keine große Sache. Und die Party war Lydias Idee. Sie besteht darauf.“ Er verdrehte die Augen. „Ich will auch keine Geschenke“, sagte er und sah mich beschwörend an. Lydia lachte nur im Hintergrund.

„Lea, hilfst du mir, die Party zu organisieren?“

Ich hatte zwar keine Ahnung davon, wollte aber helfen und nickte deshalb eifrig.

„Sehr gern.“

Jesse packte seine Lernsachen und stapfte die Treppe hinauf.

„Da ich hier sowieso nicht gefragt werde, verziehe ich mich jetzt.“

Wir sahen ihm nur grinsend hinterher, auch wenn sein Abgang mir ein Ziehen im Magen bereitete. Er lernte wirklich viel, seit er das Fernstudium begonnen hatte. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, hielten ihn die Bandproben oder die Arbeit auf Trab. Und falls er dann doch mal Zeit hatte, war meistens Kelly da. Ich wollte mich nicht beschweren, aber ein paar Stunden allein mit ihm waren momentan rar. Ihm schien das nicht besonders viel auszumachen. Anfangs hatte ich auch nicht geglaubt, dass es mich stören würde. Tat es aber. Ich war selbst Schuld, da ich mich weigerte, zu den Bandproben mitzugehen, weil ich Brandon boykottierte. Außerdem hatte ich mir eine Nachhilfelehrerin gesucht, damit Jesse sich auf seine Psychologiestudien konzentrieren konnte – und ich mich nicht mehr vor ihm blamierte. Am Anfang war er deshalb ziemlich eingeschnappt gewesen, aber er erkannte wohl selbst, dass er zu viel um die Ohren hatte. Er kündigte seinen Teilzeitjob im Plattenladen, dafür stand er häufiger hinterm Tresen in der Bar. Dort bezahlten sie besser. Und das Trinkgeld war beträchtlich. Bisher hatte ich es vermieden, ihn dort zu besuchen, weil ich nicht sehen wollte, wie er mit den weiblichen Gästen flirtete. Bei den Auftritten war das was anderes. Ich war immer dabei, und die Groupies bekamen bald mit, dass Jesse vergeben war. Außerdem hatte ich ihn da immer im Auge. Ich wollte wirklich keine krankhaft eifersüchtige Kuh sein, aber es fiel mir nicht leicht.
 

Am liebsten hätte ich Tammy gefragt, was man seinem Freund am besten schenkte, doch da sie noch immer mit ihrem Liebeskummer zu kämpfen hatte, verzichtete ich darauf. Stattdessen fragte ich Greg und Lydia, ob ihnen irgendetwas einfiel, das Jesse vielleicht in letzter Zeit erwähnt hatte. Doch so wie es aussah, hatten sie selbst Probleme, ein passendes Geschenk zu finden. Letztendlich ging ich zu Needle in die Tattoohell und besorgte einen Gutschein. Das war nicht besonders kreativ, aber lieber schenkte ich Jesse etwas Simples, das er gebrauchen konnte, anstatt irgendeinen Blödsinn zu kaufen. Und für kitschige Liebesgedichte und Herzchen waren weder er noch ich der Typ. Ich fragte mich, was er sich wohl stechen lassen würde. Die meisten seiner Tattoos hatten irgendeine Bedeutung. Der Spruch über Precious, der Anker, der Notenschlüssel, das aufgespießte Unendlichkeitszeichen. Nur sein erstes, das Zitat aus Der Herr der Ringe, war spontane Dummheit gewesen. Mir gefiel es trotzdem, mit den schnörkeligen, filigranen Buchstaben. Ich fragte mich, ob Jesse sich freuen würde, wenn ich mir eines stechen lassen würde. Doch wenn ich an unseren Besuch bei Needle zurückdachte, würde er mich eher umbringen. Needle erinnerte sich noch an mich, was ich äußerst schmeichelhaft fand und er versuchte erneut, mich für einen Nasenpiercing zu begeistern, doch er hatte kein Glück. Ich kaufte einen Gutschein für fünfzig Euro und war mir ziemlich unsicher, ob das zu viel oder zu wenig war. Vor allem, da Jesse mir ausdrücklich verboten hatte, ihm etwas zu schenken. Doch das ignorierte ich beflissentlich.

Lydia lud auch Jesses Mutter und Sam ein, worüber er sich unerwarteterweise nicht beschwerte. Ich hatte etwas Angst, weil sowohl Tammy als auch Brandon zugesagt hatten. Selbst Jen wollte kommen.

Es gab einiges, was mich an dem Abend nervös machte, doch als ich Kasper und Rob erspähte, erstarrte ich. Lydia kannte Kasper nicht, also musste Jesse ihn eingeladen haben. Wieso? Und Rob? Wir hatten uns seit dem Date nicht mehr gesehen. Wieso tauchte er gerade jetzt auf? Meine Hände wurden schwitzig, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab. Aber wenn ich daran dachte, wie eifersüchtig Jesse gewesen war, als ich Kasper umarmt hatte, wollte ich mir nicht ausmalen, wie er reagierte, wenn er herausfand, was damals wirklich in der Speisekammer vorgefallen war. Ich hatte ihm hundertmal beteuert, es sei nichts passiert. Nichts, was ich nicht selbst initiiert hätte. Aber das wusste Jesse nicht. Und ich hatte auch nicht vor, das zu ändern. Wahrscheinlich machte ich mir völlig umsonst Sorgen. Wieso sollte Rob den Kuss überhaupt ansprechen – oder das Date? Und selbst wenn, damals war ich noch nicht mit Jesse zusammen gewesen. Er hatte selbst gesagt, er würde sich für nichts entschuldigen, was vor unserer Beziehung passiert war. Also alles ganz easy.
 

Außerdem hatte ich gar keine Zeit, mir Gedanken darüber zu machen, weil ich alle Hände voll damit zu tun hatte, Tammy davon abzuhalten, sich zu betrinken und Brandon eine Szene zu machen, Jen von Greg und Lydia fernzuhalten, Marissa aus dem Weg zu gehen und Kelly zu bespaßen. Am liebsten hätte ich mich in Jesses Zimmer vergraben und die Decke über den Kopf gezogen. So viele Menschen auf einmal, die mit mir reden wollten, Notiz von mir nahmen, war ich einfach nicht gewohnt. Ich war darum bemüht, mein Lächeln aufrechtzuerhalten, was mir immer schwerer fiel, und flüchtete regelmäßig in die Küche, um Getränke und Knabberzeug aufzufüllen.

„Na, Stress?“ Kasper tauchte plötzlich hinter mir auf und legte seine Hände auf meine Schultern und massierte meine verspannten Muskeln. Ich seufzte zufrieden und schloss für einen Moment die Augen, bis ich mich besann und daran dachte, wie Jesse gucken würde, wenn er uns so sah. Ich räusperte mich und als hätte Kasper meine Gedanken gelesen, ließ er von mir ab. Er lächelte sein bezauberndes Lächeln, dann griff er in seine hintere Hosentasche.

„Ich weiß, es ist eigentlich Jesses Geburtstag, aber ich habe trotzdem was für dich.“ Er holte einen Briefumschlag hervor, was mir sofort ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Von Natalie?“, fragte ich überflüssigerweise. Natürlich war er von seiner Schwester. Kaspers Grinsen wurde noch breiter. Am liebsten wollte ich das Papier sofort aufreißen und die Zeilen in mich aufsaugen. Aber der Umschlag fühlte sich dicker an als letztes Mal. Sie hatte mehr geschrieben. Ich wollte nicht unhöflich sein und Jesse und seine Familie und Freunde vernachlässigen.
 

„Ich lese ihn später“, sagte ich, woraufhin Kasper den Kopf schief legte.

„Alles in Ordnung. Ich will ihn nur in Ruhe lesen“, erklärte ich ihm.

„Hey, Lea. Da bist du.“ Oh nein. Rob. Ich war ihm bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen.

„Kann ich mir und den Jungs ein Bier holen?“, fragte er, während er bereits die Speisekammer betrat.

„Klar“, erwiderte ich, bewegte mich aber nicht vom Fleck, um ihm zu helfen, wie ich das normalerweise getan hätte. Ich war nicht gerade scharf darauf, nochmal mit Rob in der Speisekammer zu stehen.

„Das weckt Erinnerungen, was?“, meinte Rob grinsend und kam mit vier Flaschen in den Händen zurück. Ich versuchte mich an einem Lachen, doch es blieb mir im Hals stecken.

„Was für Erinnerungen?“ Ich drehte mich in Zeitlupe um und hoffte, ich hätte mir Jesses Stimme vielleicht nur eingebildet. Doch er lehnte wahrhaftig an der Küchentheke und sah zwischen den Jungs und mir hin und her. Mein Mund wurde trocken und ich versuchte, Rob stumm zu verstehen zu geben, dass er die Klappe halten sollte. Er verstand mich nicht.

„Wie Lea über mich hergefallen ist. Das war echt süß. Sie war so betrunken.“

Kasper schüttelte den Kopf, doch Rob sah es zu spät. Er runzelte die Stirn, als ich den Kopf hängen ließ und hörbar ausatmete.

„Was denn?“ Rob hatte wohl echt keine Ahnung. Er wusste nicht, dass Jesse und ich zusammen waren. Oder er war ein Arschloch und ein guter Schauspieler.

„Über dich hergefallen?“, fragte Jesse. Er klang völlig ruhig und gelassen. Das gefiel mir nicht.

„Wer weiß, wo wir gelandet wären, wenn ich dich nicht gebremst hätte.“

Er zwinkerte mir zu.

„Rob“, sagte ich beschwörend und hoffte, er würde endlich aufhören. Wenn er anfing, Details auszupacken, müsste ich ihn wohl oder übel umbringen. Ich fragte mich kurz, ob er vielleicht doch absichtlich den Kuss erwähnt hatte. Was, wenn er von Jesse und mir wusste, eifersüchtig war, und versuchte, mir eins auszuwischen. Ich hasste mich für diese Gedanken, aber sobald jemand meine und Jesses kleine Welt zu zerstören drohte, sah ich rot. Rob hatte das nicht verdient. Schon den ganzen Abend ging ich ihm aus dem Weg, mied eine Konversation, wo es nur ging. Er wollte bestimmt nur lustig sein. Vielleicht war er längst über mich hinweg, versuchte ich mir einzureden, während die Blicke, die er mir zuwarf, etwas ganz anderes sagten.

„Tatsächlich?“ Jesses Blick ruhte auf mir. „Ist ja interessant“, sagte er trocken.

„Rob. Komm, wir bringen den Jungs das Bier“, schaltete Kasper sich ein und schob den etwas verwirrten Rob vor sich her.

„Hab' ich was Falsches gesagt?“, hörte ich ihn noch sagen, bevor sie verschwanden. Dann waren es nur noch Jesse und ich. Meine Fingernägel krallten sich in Natalies Umschlag.

„Noch ein Brief?“, fragte Jesse mit Blick auf das Papier. Ich nickte nur, weil ich meiner Stimme nicht traute und schluckte schwer, während ich auf den Ausbruch wartete. Einige Sekunden, in denen ich es nicht wagte, ihm in die Augen zu sehen, herrschte bedrückendes Schweigen.

„Also... du und Rob.“ Es klang eher nach einer Feststellung, als einer Frage.

„Es war nur ein Kuss. Es hatte nichts zu bedeuten. Ich war völlig betrunken.“

Jesse verzog das Gesicht.

„Ja, daran erinnere ich mich.“ Ich wollte ihn nicht so sehen, so distanziert. Es fühlte sich an, als würde sich eine Schlucht zwischen uns auftun und den Abstand zwischen uns stetig vergrößern.

„Es war bedeutungslos. Und es war auch nicht so wild, wie sich das bei Rob angehört hat, ich schwör's. Es war nur ganz kurz.“

Ehrlich gesagt konnte ich das nicht so genau beurteilen. Der Alkohol hatte mir damals jegliches Zeitgefühl geraubt. Jesse schüttelte den Kopf.

„Und ich habe mir Sorgen gemacht, dass er dich bedrängt hat.“

Mein schlechtes Gewissen wuchs.

„Ich habe dir doch gesagt, er hat nichts gemacht“, erwiderte ich kleinlaut. Jesse verengte die Augen zu Schlitzen.

„Du hast Recht. Nächstes Mal sollte ich mich vielleicht lieber um Rob kümmern und ihn fragen, ob ihm jemand auf die Pelle gerückt ist.“

Sein Kommentar hinterließ mich sprachlos. Bisher hatte ich nur Schuldgefühle, doch diese schlugen nun in Ärger um.

„Entschuldige mal. Wir waren damals nicht zusammen. Also ist doch nichts dabei.“ Dass ich schon damals unsterblich in Jesse verliebt gewesen war, behielt ich für mich.

„Und mit wem hast du sonst noch was gehabt, wenn du betrunken warst?“

Ich schielte Richtung Flur, ob uns jemand hörte, weil Jesse nicht gerade leise sprach.

„Mit niemandem! Für wen hältst du mich denn? Außerdem ist das unwichtig. Das war vor uns.“

Jesse zuckte die Schultern.

„Vielleicht macht es mir aber trotzdem was aus.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ach ja? Darf ich dich an dein kleines Stelldichein im Garten erinnern - mit dieser... Amy?“

„Amanda“, verbesserte mich Jesse, was mir einen Stich versetzte.

„Ist mir egal, wie sie heißt. Tatsache ist, dass du sie in der Nacht beinahe aufgefressen hättest.“

Jesse sah mich verwirrt an.

„Was hat das denn jetzt damit zu tun? Das ist eine uralte Geschichte.“ Ich nickte.

„Ja, genau. Ist es bei mir und Rob auch. Außerdem hätte ich mich doch nie an ihn rangeschmissen, wenn du nicht...“ Ich verstummte.

„Wenn was?“

Ich stieß wütend Luft aus.

„Ich war eifersüchtig, okay!? Deshalb habe ich mir ja überhaupt den ganzen Alkohol reingekippt. Und wäre ich nicht so betrunken gewesen, wäre das mit Rob gar nicht passiert.“

Jesses Gereiztheit schlug in Neugier um.

„Auf wen warst du eifersüchtig?“, wollte er wissen. Ich biss mir auf die Lippe. Das war so verdammt peinlich. Ich konnte ihm doch nicht erzählen, dass ich auf seine Schwester eifersüchtig war. Wenn er ihr das weitererzählte, könnte ich ihr nie wieder unter die Augen treten, ohne rot anzulaufen.

„Betty“, presste ich leise hervor und spürte, wie meine Ohren begannen, zu glühen. Ich konnte das Fragezeichen vor Jesses Nase förmlich sehen.

„Betty?“ Ich zuckte verlegen die Schultern.

„Damals wusste ich ja noch nicht, dass sie deine Schwester ist“, sagte ich kleinlaut. Ich wollte am liebsten im Erdboden versinken. Doch als Jesse nun lauthals zu lachen begann, war mir das tausendmal lieber, als wenn wir weiter stritten. Ich schlug ihn leicht, aber er hörte nicht auf und legte die Hand auf die Brust, um sich wieder zu beruhigen.

„Haha“, sagte ich und zog einen Schmollmund. Jesse zog mich an sich und hielt meinen Blick fest.

„Also warst du damals schon scharf auf mich“, meinte er und zog eine Augenbraue hoch. Ich wand mich ein wenig. Jetzt war es sowieso zu spät, es noch zu leugnen.

„Ein bisschen vielleicht“, flüsterte ich verlegen. Jesse küsste meine Stirn und meine Nase.

„Hätte ich das bloß gewusst. Wieso hast du nichts gesagt?“ Sollte ich ihm verraten, dass ich niemals vorgehabt hatte, ihm meine Gefühle zu offenbaren? Wenn er nicht die Initiative ergriffen hätte, würde ich mich noch immer in meinem Schneckenhaus verkriechen. Ich zuckte nur die Schultern, statt eine Antwort zu geben, und legte meinen Kopf an seine Halsbeuge.

„Na gut. Aber versprichst du mir, das nächste Mal gleich Bescheid zu geben, wenn du eifersüchtig bist, anstatt irgendwem um den Hals zu fallen?“, sagte er mit einem Lächeln. Ich war wirklich froh, dass die Sache mit Rob keinen ernsthaften Streit verursacht hatte, doch Jesses Worte hinterließen einen bitteren Beigeschmack. Warum sollte ich Grund haben, eifersüchtig zu sein? Ich merkte, wie mir meine Gesichtszüge kurz entglitten und versuchte, das durch einen lockeren Kommentar wettzumachen.

„Wieso? Hast du noch mehr Schwestern, von denen ich nichts weiß?“

Jesse schüttelte den Kopf und versiegelte meine Lippen mit einem Kuss, bevor ich noch etwas sagen konnte.
 

„Daddy!“ Wie immer kam Kelly genau im richtigen Augenblick. Ich seufzte und Jesse rollte kurz mit den Augen, dann setzte er ein strahlendes Lächeln auf und nahm seine Tochter auf den Arm.

„Na, wen haben wir denn da!“ Er kitzelte sie im Nacken, was ihr wie immer ein Lachen entlockte.

„Ich hab' dir ein Bild gemalt“, verkündete sie stolz und fuhr mit ihren kleinen Händen über seine Wangen. Das machte sie in letzter Zeit häufiger. Wahrscheinlich, weil Jesse das mit dem Rasieren momentan nicht so genau nahm und die kleinen Stoppel auf seiner Haut zu spüren waren.

„Noch ein Bild. Ich bin wohl ein Glückspilz.“ Es war mindestens das dritte, das sie ihm heute gemalt hatte. Ich holte Gemüse und Schneidebrett hervor, um das Abendessen vorzubereiten, während Kelly versuchte, ihren Vater zu kitzeln. Nur leider war Jesse nicht kitzelig. Nirgends. Ich hatte es selbst an sämtlichen Stellen versucht. Am ehesten erhielt ich eine Reaktion, wenn ich über seine linke Kniekehle fuhr.

„Willst du es mir zeigen?“ Precious schüttelte den Kopf.

„Nein, ich will Lea zuschauen.“ Wie alle kleinen Kinder änderte sie schnell ihre Meinung und ließ sich leicht ablenken.

„Oh. Okay. Du kannst mir sogar helfen, wenn du willst. Die Paprika und die Gurken müssen gewaschen werden. Möchtest du das für mich übernehmen?“ Ich hatte schnell gelernt, Kelly kleine Aufgaben zu übertragen. So war sie beschäftigt und fühlte sich wie eine von den Großen. Sie nickte heftig. Jesse stellte den kleinen Schemel, den er extra für sie besorgt hatte, vor die Küchentheke, sodass sie groß genug war, um an den Wasserhahn zu kommen. Eine zeitlang sah er ihr dabei zu, wie sie wusch, und mir, wie ich alles kleinschnitt. Ich wäre jetzt wirklich gerne mit ihm allein gewesen. Und ich hätte liebend gern den Brief gelesen.

„Das Bild. Du musst dir mein Bild ansehen“, befahl der kleine Blondschopf wie aus heiterem Himmel, als wäre es ihr gerade wieder eingefallen. Dieses Mal gab sich Jesse nicht die Mühe, das Augenrollen vor ihr zu verbergen.

„Schon gut, Picasso. Bin gleich wieder da“, sagte er an mich gewandt und ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Ich wollte, dass er glücklich war. Es war schließlich sein Geburtstag. Auch alle anderen schienen sich anzustrengen, denn bisher hatte es keine Streitereien gegeben.

„Gibt es keine Tomaten?“ Kelly liebte Tomaten.

„Doch, bestimmt.“ Ich sah im Kühlschrank nach, doch von dem roten Gemüse keine Spur. Wahrscheinlich in der Speisekammer. Ich durchforstete die Regale, und wie sollte es auch anders sein, lagen sie ganz oben. Dort, wo ich nicht hinkam. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, blieb aber erfolglos. Leise fluchend zog ich eine Bierkiste heran, um darauf steigen zu können. Ich konnte die Speisekammer nicht mehr leiden, seit das mit Rob passiert war, und noch weniger, seit Jesse es vorhin herausgefunden hatte.
 

Ein Schrei ließ mich zusammenfahren. Beinahe wäre ich von der Kiste gestürzt, konnte mich aber gerade noch am Regal festhalten.

„Kelly!“ War sie den Schemel hinuntergefallen? Hatte sie das Wasser zu heiß aufgedreht? Schnell rannte ich die wenigen Schritte aus der Speisekammer zurück in die Küche. Jesses Tochter saß auf der Theke und hielt sich die Hand. Die blutende Hand. Oh nein!

„Kelly, Süße. Zeig her.“ Ich sah das Messer, das nicht mehr an der Stelle lag, an der ich es abgelegt hatte. Und ich sah, dass an der Spitze frisches Blut klebte. „Ich muss mir das ansehen.“ Doch sie schüttelte den Kopf und weinte. Kein Show-Weinen, wie Kleinkinder es gerne taten. Sie hatte Schmerzen. Ihr Schrei hatte auch Jesse zurück in die Küche gelockt.

„Was ist passiert?“ Kelly streckte die Arme nach ihrem Vater aus. Dabei tropfte Blut auf die Ablage. Mir wurde schlecht. Nicht wegen des Blutes, sondern weil es meine Schuld war.

„Daddy.“ Schluchzend ließ sie Jesse die Wunde sehen. Ich trat neben ihn und sah den tiefen Schnitt in ihrem linken Zeigefinger.

„Jesse. Es tut mir so Leid. Ich wollte nur-“

Sein Blick brachte mich zum Schweigen.

„Wie konnte das nur passieren?“ Er war wütend. Stinkwütend.

„Ich wollte nur kurz was aus der Speisekammer holen. Ich war nicht lange weg. Ich wollte doch nicht, dass sie sich verletzt.“ Ich war den Tränen nahe.

„Du hättest auf sie aufpassen müssen. Weißt du, was alles hätte passieren können?“ Ich schluckte bei der Vorstellung und wegen seines harten Tonfalls. Er wandte sich von mir ab.

„Ist gut, Schätzchen. Wir bringen das gleich in Ordnung.“

„Es muss bestimmt genäht werden.“ Er reagierte nicht auf meine Worte, riss nur zwei Blätter Küchenpapier ab, das ich ihm hinhielt, und presste es auf die Wunde. Dass wir inzwischen Zuschauer hatten, fiel mir erst auf, als Jesse Greg bat, ihn mit Kelly ins Krankenhaus zu fahren.

„Kann ich mitkommen?“, fragte ich über Kellys laute Schluchzer hinweg. Meine Schuldgefühle waren so groß, und doch waren sie nicht so stark wie die Angst, Jesse würde nie wieder mit mir reden. „Jesse, lass mich bitte mitkommen.“ Mein Flehen blieb unerhört. Er gab mir keine Antwort.

„Ich fahre mit und melde mich gleich.“ Lydia schnappte sich ihre Tasche, schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und lief den Männern hinterher. Betty legte einen Arm um mich und ich starrte der Liebe meines Lebens hinterher, die zusammen mit Greg, Lydia und Kelly das Haus verließ. Es war totenstill. Keiner sagte etwas. Mit der Party war es jetzt vorbei.
 

Liebe Lea,

ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, den Brief von dir zu erhalten. Danke, dass du mir geantwortet hast. Und ich danke dir, dass du so ehrlich zu mir warst. Es bestürzt mich, der Auslöser für deine Schwierigkeiten gewesen zu sein. Das werde ich nie wieder gutmachen können. Es tut mir sehr Leid! Aber ich verspreche dir, mich zu bemühen, dir in Zukunft eine bessere Freundin zu sein. Ich bin immer für dich da, auch wenn ich momentan sehr weit weg bin.
 

Seufzend legte ich den Brief weg. Natalies Worte konnten mich nicht ablenken. Am liebsten hätte ich sie sofort angerufen und ihr erzählt, was gerade passiert war. Wie hatte ich nur so leichtsinnig, so dumm sein können? Jesse hatte Recht, es hätte sonst was passieren können. Ich hätte Kelly niemals alleine in der Küche lassen dürfen. Oder ich hätte zumindest das Messer weglegen müssen. Eigentlich hatte ich gedacht, es außer Reichweite abgelegt zu haben, aber ich konnte schließlich nicht ahnen, dass die Kleine auf die Ablage klettern und fröhlich weiterschnibbeln würde. Aber ihr konnte ich die Schuld nicht geben, wollte ich auch gar nicht. Kelly war ein kleines Kind. Natürlich hatte sie nicht daran gedacht, sich mit dem großen scharfen Messer verletzen zu können. Bestimmt hatte sie mir nur helfen wollen. Und ich ließ sie dafür allein und brachte sie damit in Gefahr. Ich stand kurz davor, meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Verdient hätte ich es. Normalerweise verletzte ich mich nicht selbst zur Strafe, aber die andere Option, meine Wut auf mich loszuwerden, war, all meinen Frust herauszuschreien und das Zimmer zu verwüsten. Da ich mich in Jesses Zimmer verbarrikadiert hatte, war das keine besonders gute Idee. Kindisch, wie ich war, hatte ich hinter mir abgeschlossen. Helen, Kasper und meine Schwester hatten erfolglos versucht, mich herauszulocken. Aber ich wollte jetzt niemanden sehen. Ich wollte mich nicht rechtfertigen müssen. Ich wollte die anklagenden Blicke nicht sehen, oder das Mitleid.
 

Vielleicht hatte meine Mutter Recht. Womöglich konnte ich tatsächlich nicht mit Kindern umgehen, egal wie viel Mühe ich mir gab. Im Spielen mit Kelly schlug ich mich zwar ganz gut, aber erzieherische Maßnahmen hatte ich bisher noch nicht bei ihr angewandt. Ich wollte mich nicht einmischen. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie Jesse dazu stehen würde, wenn ich Eleonores Tochter etwas vorschreiben wollte. Und das war ja das Problem: Ich wollte ihr nicht sagen, was sie durfte und was nicht. Ich mochte sie sehr, hatte sie gern um mich, aber als einen Mutterersatz sah ich mich einfach nicht. Weder jetzt, noch irgendwann. Was erwartete Jesse von mir? Wollte er, dass ich irgendwie Eleonores Platz einnahm? Bei dem Gedanken, Kelly könnte „Mom“ zu mir sagen, wurde mir fast schlecht. Ich war einfach keine Mutter. Ich hatte ja gerade mal gelernt, für mich selbst verantwortlich zu sein. Mehr ging nicht. Aber was, wenn Jesse genau so jemanden brauchte? Jemand, der ihm die Last des Eltern-Seins von der Schulter nehmen konnte. Jemand, der eine Mutter sein wollte. Jemand, der Freundin und zugleich Aufpasserin war. Ich war einfach nicht die Richtige für ihn. Nicht unter diesen Umständen. Vielleicht, wenn er ein normaler junger Mann wäre. Normal. Wie ich dieses Wort hasste. Und jetzt wand ich es selbst an, um ihm einen Stempel aufzudrücken. Was war denn bitteschön normal und was unnormal? Ich war eindeutig unnormal, Jesses Situation war unnormal, unsere Beziehung war unnormal. Aber das hieß nicht gleichzeitig, dass es schlecht war.

Frustriert faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn zurück in seinen Umschlag. Ich hatte gehofft, die Zeilen könnten mich beruhigen, mir ein besseres Gefühl geben, aber mein Kopf spielte einfach nicht mit. Ich war vollkommen durch den Wind. Dieser Zwischenfall ließ mich alles in Frage stellen.
 

Das Klopfen weckte mich aus meiner Trance.

„Lea?“ Es war Betty. Ich mochte Jesses Schwester, aber ich wollte momentan niemanden sehen. „Lydia hat gerade angerufen.“

Noch während ihrer Worte stürmte ich durchs Zimmer und schloss schnell auf.

„Wie geht es Kelly?“

Betty erschrak beim plötzlichen Aufreißen der Tür.

„Es ist nicht so schlimm, wie es zunächst ausgesehen hat. Sie musste nicht mal genäht werden. Sie hat nur einen Druckverband bekommen, um die Blutung zu stillen.“

Erleichtert seufzte ich auf. Wenn sie sie hätten nähen müssen, oder eine Sehne beschädigt worden wäre...

„Gott sei Dank.“

Betty lächelte mich aufmunternd an.

„Möchtest du nicht mit runter kommen? Die anderen sind schon gegangen. Nur Helen und Pete sind noch da.“

Ich schämte mich, ihnen wieder unter die Augen zu treten, nachdem ich mich in Jesses Zimmer eingeschlossen hatte. Warum war ich immer so impulsiv? Ich fühlte mich beinahe so wie damals, als ich abgehauen war, nachdem mir Jesse Kelly vorgestellt hatte. Wiederwillig nickte ich und folgte ihr nach unten ins Wohnzimmer.

„Du stehst wohl auf 'nen großen Abgang, was?“ Ich wusste, Pete wollte nur die Stimmung auflockern, doch er erreichte mit diesem Kommentar genau das Gegenteil. Ich wurde noch nervöser.

„In einer Viertelstunde sollten sie spätestens zurück sein“, versuchte Betty, das Thema zu wechseln.

„Hat jemand Hunger? Ich mache mal was zu essen.“ Ich musste meine Nerven in den Griff kriegen. Und ich wollte allein sein. Den ganzen Tag hatte ich so viele Menschen um mich gehabt.

Jemand hatte das Gemüse und alles andere aufgeräumt. Ich starrte nur auf die Anrichte, auf die vorhin Kellys Blut getropft war. Ich bekam das Bild nicht aus dem Kopf. Und Jesses Gesichtsausdruck auch nicht. Der Vorwurf, der in seinen Augen lag. Würde er mich immer noch ignorieren, wenn sie zurückkamen? Würde er mich überhaupt noch sehen wollen? Fieberhaft dachte ich darüber nach, wie ich meinen Fehler wiedergutmachen konnte, doch es war sinnlos. Mein Fehlverhalten war unverzeihlich.
 

Leise zog ich meine Schuhe an, schnappte mir meine Jacke und die Tasche und öffnete die Haustür. Doch dann hielt ich inne. Ich konnte nicht schon wieder davonlaufen, feige sein. Zwar hatte ich Angst, Jesse würde mich weiterhin ignorieren, oder noch schlimmer, mich sogar fortschicken, aber ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Kelly wohlauf war. Ich ließ meine Tasche fallen und hockte mich auf die kalten Steinstufen, die zum Hauseingang führten. Meine Augen schweiften die Straße entlang, hielten Ausschau nach Gregs Wagen. Was, wenn Kelly mich jetzt nicht mehr leiden konnte, wenn auch sie mir die Schuld an den Ereignissen gab?

Helen bemerkte ich erst, als sie sich neben mich setzte und die Arme auf den Knien verschränkte.

„Ziemlich frisch hier draußen“, sagte sie und behielt ebenfalls die Auffahrt im Auge. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Warum seid ihr nicht mit ins Krankenhaus gefahren?“, wollte ich wissen und legte die Stirn in Falten. Eigentlich waren es doch Helen und Pete, die täglich über Kelly wachten, bei denen sie lebte, die soetwas wie ihre Eltern waren. Eleonores Mutter sah mich nun direkt an und lächelte gutherzig. Dieses Wort gefiel mir eigentlich nicht, aber es beschrieb Helen doch genau: Sie hatte ein durch und durch gutes Herz.

„Jesse schafft das schon allein. Und so schlimm sah der Schnitt nun doch nicht aus.“ Sie machte eine kurze Pause, so als überlegte sie sorgfältig, ob sie die nächsten Worte tatsächlich aussprechen sollte.

„Ich mache mir eher Sorgen um dich.“

Erstaunt sah ich sie an.

„Um mich? Wieso?“ Ich fragte mich, ob Helen meine blanken Nerven erahnen konnte. Wahrscheinlich waren meine übereilte Flucht und das darauffolgende Eingesperrtsein in Jesses Zimmer genügend Hinweise, um zu kombinieren, dass ich ziemlich durch den Wind war. Ich seufzte.

„Es war nicht deine Schuld“, sagte Helen und sah mich dabei aufmerksam an. Mein Blick wanderte zu Boden.

„Doch, war es.“ Es war ja nett, dass sie mich trösten wollte, aber dieses Mal konnte man wirklich niemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben. Ich hatte meine Aufsichtspflicht verletzt. Dazu musste ich nun stehen. Doch sie schüttelte den Kopf.

„Nein. Es war nicht deine Schuld.“

Ich zuckte nur mit den Schultern, um ihr nicht erneut zu widersprechen.

„Was, wenn Jesse mir nicht verzeiht?“

Helen legte einen Arm um mich.

„Jesse hat nur einen unglaublichen Schreck bekommen. Wenn er mitkriegen würde, wie oft Kelly bei uns auf die Nase fällt oder gegen irgendetwas läuft, würde er die Krise kriegen.“ Helen lachte leise. Ich bewunderte diese Frau. „Sein Beschützerinstinkt ist eben sehr ausgeprägt.“

Ich wusste genau, was sie damit meinte.

„Er will nicht noch jemanden verlieren.“

Helen nickte.

„Leider übertreibt er es damit manchmal ein bisschen. Auch wenn er sonst ein ziemlich cooler Dad ist.“ Jetzt lachten wir beide.

„Er will auch dich nicht verlieren, Lea.“ Ich musste mich beherrschen, damit ich nicht anfing, zu heulen.

„Hoffentlich.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Ich hatte noch nie richtig mit Jesse gestritten. Mir wäre auch kein Grund eingefallen. Aber jetzt kannte ich ihn. Das Einzige, was ihm wirklich heilig war. Seine Tochter.

Für einen Moment wünschte ich mir den alten Jesse zurück. Den Jesse, über den ich kaum etwas wusste, der zynische Kommentare abgab und der mich herausforderte, mich mehr zu mir selbst machte, mich aus meinem sicheren Kokon lockte. Aber jetzt war ich draußen, ungeschützt und verletzbar. Sollte der Erste, der einen Riss in mein verwundbares Fleisch schnitt, derselbe sein, der mich ins Leben zurückgeholt hatte?

Ich schämte mich für meine eigenen Gedanken. Ich wollte Jesse genau so, wie er war, mit allem, was dazugehörte. Und ich würde nie genug über ihn erfahren können, ich würde immer noch mehr wissen wollen. Ich wollte Teil an seinem Leben haben. Ich wollte ein Teil seines Lebens sein.
 

„Nimm es nicht zu ernst, wenn er sauer ist. Er muss sich erst wieder einkriegen“, riet mir Helen, als Gregs Auto in Sichtweite kam. Mein Herz begann, heftiger zu schlagen. Doch es war anders als sonst. Es war keine freudige Erwartung, wie gewöhnlich. Vielmehr wünschte ich mir, Greg würde langsamer fahren, damit das Auto nicht so bald bei uns ankam. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten, was ich sagen sollte. Zum ersten Mal hatte ich Angst davor, Jesse zu sehen - wie er mich ansehen würde, wenn er mich überhaupt eines Blickes würdigte. Ich konnte mich nicht entscheiden, was schlimmer war: Wenn er mir strafende Blicke zuwarf, oder mich ignorierte. Mit keinem von beidem konnte ich umgehen. Meine Hände wurden schwitzig, als das Auto vor dem Haus hielt. Ich hätte doch besser abhauen sollen. Lydia stieg als Erste aus und versicherte uns, dass alles okay sei.

„Gott sei Dank“, sagte ich, obwohl wir das ja eigentlich schon von Betty wussten. Diese kam nun, Pete im Schlepptau, aus dem Haus. Greg legte seiner Freundin den Arm um die Schulter und grinste.

„Dafür, dass sie kein Blut sehen kann, war sie ziemlich tapfer.“

Die anderen lachten amüsiert. Lydia verdrehte die Augen und mir wurde klar, dass Greg sie meinte, und nicht Kelly. Er wollte nur die Stimmung auflockern, denn uns war natürlich allen klar, dass Lydia durch ihren Beruf als Krankenschwester sehr wohl an den Anblick von Blut gewohnt war. Alle waren so heiter, als ob nichts passiert wäre. Am liebsten hätte ich sie angeschrien, wie sie nur so sein konnten, wo die Welt für mich doch gerade auf der Kippe stand. Sahen sie denn nicht, was auf dem Spiel stand?

Jesse trat an uns vorbei ins Haus, Kelly auf dem Arm. Er sagte nichts, sah mich nicht an. Nun war es klar: Ignoriert zu werden, war eindeutig schlimmer, als beschuldigt zu werden. Ich machte den Mund auf, der auf einmal völlig trocken war, um ihm etwas hinterherzurufen, klappte ihn aber gleich wieder zu. Kelly hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und schlief. Ich wollte sie nicht aufwecken, denn ich wollte nicht noch etwas falsch machen. Ich sah den beiden nach, wie sie im Haus verschwanden. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war ein unerträgliches Gefühl, diese Ungewissheit. Ich stolperte leicht nach vorn, als Greg mir einen aufmunternden Klaps auf den Rücken gab.

„Keine Angst, Kleines. Entspann dich. Er kriegt sich schon wieder ein.“

Warum waren sich da alle so sicher? Ich war es jedenfalls nicht. Außer einem Nicken und einem schwachen Lächeln brachte ich keine Antwort zustande.

„Ich sehe mal nach ihnen.“ Wohl wissend, dass alle Blicke auf mir lasteten, eilte ich ins Haus und die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Tür zu Kellys Zimmer war geschlossen. Jesse legte sie bestimmt gerade in ihr Bett. Vor meinem inneren Auge konnte ich genau sehen, wie er ihr die Socken auszog, die Decke über sie breitete und ihr liebevoll das Haar aus der Stirn strich. Gottseidank schlief sie. Das hieß, sie hatte keine großen Schmerzen.

Ich hielt es nicht länger aus, ich wollte zu ihm, mich bei ihm entschuldigen und ihm versichern, dass mir so etwas bestimmt nicht nochmal passieren würde. Ich würde Kelly nie wieder aus den Augen lassen. Ich musste aus seinem Mund hören, dass zwischen uns alles in Ordnung war, dass er mir verzeihen würde. Erst, als meine Lunge begann, zu schmerzen, wurde mir klar, sekundenland die Luft angehalten zu haben.

Atme, befahl ich mir selbst und schnappte nach Luft. Es wird alles gut.

Wenn ich Eleonore wäre, würde ich einfach da hineinspazieren, Jesse am Ärmel packen und ihn aus dem Zimmer zerren. Dann würde ich ihm sagen, was ihm eigentlich einfiel, sich so aufzuspielen und mich so zu behandeln. Schließlich trug ich genau dieselbe Verantwortung für Kelly, wie er; immerhin war ich die Mutter.

Doch ich war nicht Kellys Mutter. Ich war nicht Eleonore.

Ich war Lea.
 

Meinen ganzen Mut zusammennehmend, hob ich die Hand zur Klinke, doch bevor ich sie herunterdrücken konnte, wurde die Tür bereits von innen geöffnet. Jesse war genauso überrascht wie ich, fand jedoch als erster wieder Worte.

„Wie lange stehst du schon da?“, fragte er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ich antwortete nicht und versuchte stattdessen, seine Stimmung zu deuten. Er redete mit mir, das war schon mal ein Anfang.

„Es tut mir Leid, Jesse. Ich verspreche dir, so etwas passiert nie wieder. Ich schwöre es. In Zukunft werde ich besser aufpassen.“

Meine Zuversicht löste sich in Luft auf, als er mich einfach stehen ließ und in sein Zimmer ging. Dieses Mal ließ ich mich nicht abschütteln. Ich folgte ihm auf dem Fuße. Er warf einen Blick über die Schulter, sagte aber nichts. War das nun ein gutes Zeichen?

„Ich werde mir das nie verzeihen. Und ich erwarte auch nicht von dir, dass du das tust.“ Wünschen würde ich es mir trotzdem. „Bitte rede mit mir.“ Er setzte sich auf sein Bett. Ich blieb stehen, weil ich es nicht zu weit treiben wollte. Ich fühlte mich wie auf dünnem Eis, das jederzeit einen Knacks bekommen konnte. Ich wusste genau, dass es einbrechen würde, nur nicht genau, wann. Er nahm das kleine Kissen in die Hand, das ich meistens benutzte, wenn ich bei ihm schlief. Stirnrunzelnd fuhr er über den Stoff. Den feuchten Stoff, wie mir gerade wieder einfiel. Ich hatte vorhin Rotz und Wasser geheult, im wahrsten Sinne des Wortes. Kurzerhand riss ich ihm das Kissen aus der Hand.

„Ich wasche das“, sagte ich und versuchte, den Reißverschluss des Überzugs zu öffnen, der jedoch klemmte. Ich zog und zog, aber er blieb immer an derselben Stelle hängen.

„Komm schon. Geh auf, du Scheißteil“, fluchte ich leise.

„Gib her“, sagte Jesse und streckte fordernd die Hand aus. Nach einem letzten verzweifelten Versuch gab ich mich geschlagen und gab es ihm zurück. Mit einem kräftigen Ruck erledigte er die Sache und streifte den Überzug vom Kissen. Doch er gab ihn mir nicht. Stattdessen legte sich seine Stirn in Falten, als er das Stück Stoff in seiner Hand betrachtete.

„Schon wieder Tränen?“, fragte er.

„Nicht nur Tränen“, sagte ich kleinlaut, um ihm klarzumachen, was er da in der Hand hielt.

„Ich habe monatelang Windeln gewechselt, wenn ich dich daran erinnern darf. Da kann mich ein bisschen Rotze nicht schocken.“

Ich lächelte über seine Worte, doch als ich merkte, wie er mich anstarrte, verblasste es sofort.

„Tut mir Leid.“ Ich sollte in solch einer Situation nicht lachen. Vor allem nicht, da ich Schuld an der ganzen Misere war.

„Hör auf, dich zu entschuldigen.“ Jesse klang müde. Furchtbar müde.

„Nein, ich höre nicht damit auf.“ Nun setzte ich mich doch aufs Bett.

„Es tut mir nun mal Leid. Das wirst du akzeptieren müssen. Und es gibt auch nichts, was du dagegen tun kannst. Also lass mich mich verdammt noch mal entschuldigen.“ Etwas überrascht, keine Einwände zu hören, fuhr ich fort. „Es tut mir Leid, dass ich nicht aufgepasst habe. Es tut mir Leid, dass Kelly sich verletzt hat. Es tut mir Leid, dass du dir solche Sorgen machen musst. Und es tut mir Leid, dass ich deinen Geburtstag versaut habe.“ Ich holte tief Luft, weil ich kaum geatmet hatte, als die Worte aus mir herausgesprudelt kamen. Jesse sah mich nachdenklich an. Ich hasste die Momente, in denen ich absolut nicht einschätzen konnte, was in ihm vorging.

„Gut. Dann werde ich jetzt auch etwas los: Es tut mir Leid, dass ich dich so angefahren habe. Das hätte genauso gut mir passieren können. Ich habe überreagiert.“

Ich blinzelte erstaunt. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

„Wieso sagst du das?“ Ich konnte ihm anmerken, dass er noch nicht mit der Sache abgeschlossen hatte, aber seine Worte erleichterten mich ungemein.

„Weil ein großer Bruder doch manchmal zu etwas nütze ist.“

Als ich den Kopf schief legte, erklärte er: „Greg hat mir auf der Rückfahrt eine kleine Gehirnwäsche verpasst, was ich für ein Klemmi bin. Und er hat nicht ganz Unrecht.“ Endlich lächelte er. Ich war so froh über dieses Lächeln. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Auch wenn mir klar war, dass Jesse noch eine Weile brauchte, bis er auch meinte, was er sagte.

„Das heißt, du verzeihst mir?“ Ich versuchte, zu grinsen, doch es gelang mir nicht ganz. Die Verunsicherung saß noch zu tief. Jesse lehnte sich nach hinten und stützte sich auf seinen Händen ab.

„Das kommt ganz drauf an“, sagte er und ein anzügliches Grinsen verzog seine Lippen. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie konnte er so schnell von kalt auf heiß umstellen? Ich jedenfalls war gerade nicht in der Stimmung. Aber wenn es hieß, dass er mir verzieh, würde ich so ziemlich alles machen... Röte stieg mir in die Wangen.

„Auf was?“

Sein Grinsen wurde noch breiter.

„Nicht, was du denkst, du kleiner Perversling. Ich meine mein Geschenk.“ Wie peinlich. Ich dachte an den Gutschein in meiner Tasche, der mir plötzlich ein ziemlich blödes Geschenk zu sein schien.

„Ich weiß doch, dass du es nicht lassen kannst. Also rück es schon raus.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Eigentlich ist es ein ziemlich blödes Geschenk.“

Jesse zuckte die Schultern.

„Ist mir egal. Ich mag blöde Geschenke.“ Er schob sich auf der Matratze näher zu mir heran und sah mich auffordernd an. Er wusste genau, dass ich ihm nicht widerstehen konnte und nutzte das schamlos aus. Doch im Moment wollte ich nichts lieber, als ihm um den Hals fallen und ihn ganz fest an mich drücken. Und das tat ich dann auch.

„Danke“, flüsterte ich in sein Haar, das mich an der Nasenspitze kitzelte. Er wich ein Stück zurück, um mir ins Gesicht sehen zu können.

„Ich hatte solche Angst“, wisperte ich. Als er mich küsste, war ich froh, dass das Thema Geschenk für heute erledigt war.

Amanda, Miranda

Am nächsten Tag merkte ich, dass die Sache mit dem Unfall doch noch nicht erledigt war. Es waren nur Kleinigkeiten, wie ein Blick oder eine Bemerkung – im Lesen zwischen den Zeilen war ich ziemlich gut. Jesse meinte es wahrscheinlich nicht böse, war sich dessen, was er sagte, und wie es auf mich wirkte, gar nicht bewusst. Oder ich bewertete alles über. Beim Frühstück zum Beispiel fragte er mich, ob er mir den Semmel aufschneiden sollte. Als ob es unverantwortlich wäre, mir nochmal ein Messer in die Hand zu drücken. Oder als ich etwas aus der Speisekammer holen wollte, bot er sich an, das für mich zu erledigen. Als wäre die Kombination von mir und der Speisekammer ein Vorzeichen für Unheil.

Helen hatte gestern darauf bestanden, Kelly wieder mit nach Hause zu nehmen, ungeachtet der Widerworte, die Jesse eingelegt hatte. Sie gab die fürsorgliche Oma, die auf ihre Enkelin achten wollte. Aber ich war mir sicher, dass sie nur darauf bestanden hatte, um Jesse und mich zu entlasten. Wenn die Kleine hiergeblieben wäre, den dicken Verband – den sie gestern Abend ziemlich cool gefunden hatte – um den Finger gewickelt, wäre Jesse mir vielleicht doch nochmal böse geworden.
 

Ich sah ihm dabei zu, wie er einen Bericht über Freuds Theorien las. Völlig konzentriert, immer wieder einen Schluck Kaffee nehmend, ohne von dem Blatt aufzusehen. Seine Haare kräuselten sich noch ein wenig mehr als sonst, weil er gerade erst geduscht hatte. Ich beobachtete seinen Kehlkopf, wie er bei jedem Bissen nach unten und wieder nach oben glitt, seinen Kiefer beim Kauen, seine Hand, die das Croissant immer wieder an seine Lippen führte.

„Du starrst schon wieder.“ Erwischt. Wie konnte er das sehen, wo seine Augen doch fest auf das Blatt vor sich gerichtet waren. Doch nun ließ er den Text links liegen und schenkte mir ein verschmitztes Lächeln. Ich würde es niemals zugeben, auch wenn wir beide wussten, dass er Recht hatte. Deshalb zuckte ich nur die Schultern und nahm einen großen Zug von meinem Kakao. Jesse nahm meine Hand und malte mit seinem Daumen kleine Kreise auf meine Handinnenfläche.

„Was machen wir heute?“, fragte er mich und verschlang den Rest seines Croissants mit einem Bissen. Ich sah ihn freudig überrascht an.

„Musst du nicht lernen?“ Demonstrativ wanderte mein Blick zu den Blättern, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Jesse winkte ab.

„Das kann warten. Wir haben schon so lange nichts mehr nur für uns gemacht.“ Konnte er Gedanken lesen? Ich konnte das breite Grinsen, das sich auf meinen Lippen ausbreitete, nicht zurückhalten.

„Und das sehe ich in letzter Zeit auch viel zu selten“, flüsterte er und strich mir über die Lippen. Mein Körper reagierte sofort. Die letzte Nacht war mir noch gut in Erinnerung. Jesse anscheinend auch, denn ich konnte sehen, wie sich der Ausdruck in seinen Augen veränderte. Er sah aus, als wollte er mich gleich hier und jetzt verschlingen. Ich spürte die Wärme in meine Wangen und Ohren steigen, doch ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, vor Jesse zu erröten. Er hatte mir mal gesagt, dass er es liebte, wie sich meine Wangen pink färbten. Ich wollte ihm gerne sagen, dass ich einfach alles an ihm liebte. Dass ich ihn liebte. Dies war der richtige Augenblick. Ich fühlte mich bereit, es laut auszusprechen.

„Morgen!“ Gregs Stimme beförderte uns zurück in das Hier und Jetzt und Jesse ließ seine Hand sinken. Meine Lippen kribbelten, wo er mich berührt hatte. Mit der anderen hielt er mich weiterhin fest.

„Na, ihr Turteltauben! Wieder versöhnt?“ Ich hoffte inständig, dass Jesses Bruder damit nicht auf gestern Nacht anspielte. Hatten sie uns etwa gehört? Oh Gott, wäre das peinlich. Jesse lachte, als das Rot in meinem Gesicht noch dunkler wurde. Ich war froh darüber, mir anscheinend nur eingebildet zu haben, er sei noch nachtragend, aber in diesem Moment würde ich ihm gerne einen Seitenhieb verpassen. Auch wenn ich den Klang seines Lachens liebte.

Und Gregs breites Grinsen machte es auch nicht besser.
 

Wir entschieden uns für einen Ausflug in die Stadt. Ein bisschen shoppen, irgendwo ein Eis essen, einfach das schöne Wetter und einander genießen. Jesse war jetzt zweiundzwanzig. Ich fragte mich, ob man uns den Altersunterschied anmerkte. Wie wir überhaupt miteinander aussahen. Oder vielmehr: Ob ich ihm gerecht wurde. Diese Bedenken konnte ich leider nicht so einfach abstellen. Doch sobald Jesse meine Hand nahm oder mir den Arm um die Schultern legte, waren alle Zweifel sofort verflogen. Ich konnte sehen, wie die jungen Mädels auf der Straße sich nach Jesse umdrehten.

„Ich kann dieses Geglotze nicht ausstehen“, knurrte er, was mich ein wenig verwirrte. Zu seinen Groupies war er normalerweise sehr charmant.

„Wenn sie noch länger so starren, muss ich wohl oder übel eingreifen.“ Wir standen an einer Ampel und warteten auf das grüne Signal. Als ich seinem Blick folgte, wurde mir erst bewusst, dass er nicht von Frauen sprach, sondern zwei Männern, die sich auf der gegenüberliegenden Seite befanden und uns immer wieder Blicke zuwarfen. MIR Blicke zuwarfen. Jetzt ergab das alles einen Sinn. Ich legte eine Hand um Jesses Oberarm und drückte leicht, damit er sich von den Schaulustigen losriss und mich ansah. Ich lächelte ihn an.

„Die sind mir völlig egal.“

Er grummelte etwas Unverständliches und zog mich demonstrativ an sich. Dieses Revierverhalten kannte ich von ihm gar nicht. Beschämenderweise musste ich zugeben, dass es mir sogar gefiel. War ihm denn nicht bewusst, wie fest er mich bereits in seinen Bann gezogen hatte? Dass ich nur noch Augen für ihn hatte? Ich nahm seine Hand und hielt sie ganz fest, was ihn ein wenig besänftigte. Trotz allem konnte er es nicht lassen, die beiden jungen Männer herausfordernd anzufunkeln, als wir schließlich die Ampel überquerten. Glücklicherweise waren sie nicht auf Streit aus und wandten schnell die Blicke ab.

„Hättest du dich wirklich mit denen geprügelt?“, fragte ich Jesse später, als ich fasziniert meinen riesigen Eisbecher voller Früchte und Sahne beäugte. Er zuckte mit den Schultern.

„Wenn sie es drauf angelegt hätten“, meinte er schlicht. Ich lachte.

„Dir ist schon bewusst, dass du es warst, der es drauf angelegt hat, oder?“ Er nahm einen viel zu großen Löffel Eis aus seinem Becher und verschluckte sich fast dabei.

„Sie hätten dich eben nicht so anglotzen sollen.“

Ein wenig Eifersucht fand ich ja süß, aber bevor das Ganze aus dem Ruder lief, wollte ich ihn von dem Thema ablenken.

„Hättest du es denn mit ihnen aufnehmen können?“

Er sah mich stirnrunzelnd an, als wollte er mich dafür tadeln, an seiner Kraft zu zweifeln. Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Immerhin waren sie zu zweit.“

Er klaute mir etwas Sahne, weil sie die in seinem Eisbecher vergessen hatten.

„Ich habe im Internat Kickboxen gelernt, also...“

Das erklärte endlich mal, wo seine Muskeln herkamen, denn ich hatte ihn noch nie Sport treiben sehen. Beeindruckt ließ ich meinen Löffel sinken.

„Also bist du eine richtige Killermaschine, was?“

Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf seine Lippen.

„Möchtest du's rausfinden?“

Ich hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf.

„Nein, danke. Ich ergebe mich.“ Seine Miene wurde ernster.

„Ich könnte dir ein bisschen davon zeigen, wenn du möchtest.“

Liebend gerne würde ich seinen Muskeln dabei zusehen, wie sie mir seine Stärke demonstrierten, aber bei der Vorstellung, die Übungen dann auch nachmachen zu müssen, hörte der Spaß für mich auf.

„Nicht nötig.“

Doch er ließ nicht von dem Thema ab.

„Ich habe im Keller einen kleinen Trainingsraum eingerichtet. Du kannst es dir doch einfach mal ansehen.“

Er hätte auch ein Versuchslabor haben können, in dem er Schafe klonte, und ich hätte keine Ahnung davon. Wieso gab es so viele Dinge, die ich von Jesse nicht wusste? Das störte mich.

„Ich bin nicht besonders sportlich, weißt du. Aber ich sehe es mir gerne mal an“, beschwichtigte ich ihn, weil ich ihm die Enttäuschung ansehen konnte. Eleonore wäre bestimmt sofort Feuer und Flamme gewesen.

Hör auf, dich mit ihr zu vergleichen, ermahnte ich mich selbst. Ich konnte nicht ständig daran denken, was sie gesagt oder getan hätte. Damit tat ich keinem einen Gefallen. Mir am allerwenigsten. Und hätte er eine vor Energie sprühende, Witze reißende und abenteuerlustige Freundin gewollt, wäre ihm bestimmt schon längst aufgegangen, dass ich dafür nicht die richtige Kandidatin war.
 

„Hey. Wo bist du mit deinen Gedanken?“ Jesse kannte meine gelegentlichen Ausflüge in eine nur mir bekannte Welt und wartete jedes Mal ruhig ab, bis ich wieder zu ihm zurückfand. Ich schüttelte den Kopf und lächelte, um ihn zu beruhigen.

„Tut mir Leid. Alles okay.“

Wie immer sah er mich mit diesem Blick an, der besagte, dass ich ihm alles anvertrauen konnte, was es auch war. Aber er drängte mich nicht, meine Gedanken mit ihm zu teilen - wofür ich ihm sehr dankbar war.

„Ich habe mir nur gerade vorgestellt, wie ich aussehen würde, wenn ich dieses... Kickboxen probieren würde.“ Ich müsste ihn nicht anlügen, ich könnte es einfach dabei belassen. Aber es war ein so perfekter Tag und ich wollte ihn für gestern entschädigen. Also war ich darauf bedacht, nichts zu tun oder zu sagen, worüber er sich Sorgen machen könnte, nicht mal ein kleines bisschen.

„Ich dachte, zur Selbstverteidigung wäre das doch ganz gut.“ Er sagte es leise, nur ganz beiläufig und versenkte seinen Löffel tief im Eis, um nach der Schokoladensauce zu graben.

„Wieso? Läuft irgendwo ein Mörder frei rum?“ Ich war belustigt, zog seinen Kommentar ins Lächerliche, doch als ich sah, wie seine Stirn sich kräuselte und seine Brauen sich zusammenzogen, verkniff ich mir weitere Kommentare.

„Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass du dich wehren kannst.“

Zwar hatte ich keine Ahnung, wo seine plötzlichen Befürchtungen herrührten, aber ich fand es unglaublich niedlich, wie sehr er sich um mich sorgte. Ich legte meine Hand auf sein Knie.

„Mir passiert schon nichts. Und wenn es dich beruhigt, kannst du mir ruhig ein paar Kniffe zeigen, wenn du möchtest.“

Er blinzelte mich gegen die Sonne an.

„Ich will kein Kontrollfreak sein.“

Ich schüttelte beschwichtigend den Kopf, als mir endlich klar wurde, was Sache war. Der Unfall mit Kelly gestern hatte ihn ziemlich aufgewühlt und er hatte Angst, nochmal jemanden zu verlieren.

„Aber dir ist schon klar, dass du dir dann in Zukunft zweimal überlegen solltest, ob du dich mit mir anlegst“, sagte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Jesse tat so, als bliebe ihm ein Lachen im Hals stecken.

„Provozier mich nicht, Zwerg, oder du wirst es bereuen.“

Wir plänkelten heiter vor uns hin und Jesse versuchte erneut, mir zu entlocken, was für ein Geschenk ich denn für ihn besorgt hätte, doch ich weigerte mich strikt, ihm die Wahrheit zu sagen.

„Irgendetwas musst du mir aber schenken“, wand er ein und kaute auf seiner Unterlippe. Das machte er mit Absicht. So konnte ich mich schlechter konzentrieren.

„Du hast gesagt, du willst nichts.“ Demonstrativ verschränkte ich die Arme vor der Brust, damit er nicht auf die Idee kam, meine Hand zu nehmen um mich mit seiner Berührung noch mehr aus der Fassung zu bringen.

„Das sagt man doch nur so. Insgeheim wünscht man sich trotzdem, etwas zu bekommen.“

Ich zog die Nase kraus.

„Lügner.“

Jesse stützte seine Unterarme auf dem Tisch ab und lehnte sich darüber, ein Funkeln in den Augen.

„Oder habe ich das Geschenk etwa gestern Nacht bekommen?“ Seine Augenbrauen wackelten anzüglich und ich sah mich schnell um, ob uns jemand an den umliegenden Tischen zuhörte.

„Jesse“, raunte ich, schon wieder errötend. Doch dann schüttelte er den Kopf und fuhr mit Daumen und Zeigefinger über seine Lippen.

„Nein. Unmöglich. Du hast gesagt, es sei ein blödes Geschenk. Und das, was gestern in meinem Bett lief, war definitiv nicht-“

Ich schnellte vor und hielt ihm den Mund zu. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich nun peinlich berührt oder amüsiert sein sollte, weil er unser Liebesleben so in die Welt hinausposaunte. Er hatte zwar nichts Konkretes gesagt, aber ich traute ihm durchaus zu, dass er sich in Ausschweifung ausließ, sollte ich ihm nicht endlich beichten, was ich ihm hatte schenken wollen. Der Gutschein befand sich immer noch in meiner Tasche. Ich hätte ihn einfach herausnehmen und ihm überreichen können. Doch ich tat es nicht.
 

Wir wollten gerade aufbrechen, als ich spürte, wie jemand seine Hände auf die Rückenlehne meines Stuhls legte. Ich sah nur manikürte Fingernägel aus dem Augenwinkel und rechnete mit Jen, doch die Stimme, die dann ertönte, passte eindeutig nicht zu ihr.

„Hi, Jesse. Lange nicht gesehen.“

Jemand anderem wäre sein kurzes Innehalten nicht aufgefallen, doch ich kannte ihn so gut, dass mir das kleine Zucken seiner Hand auffiel, während er sein Wasserglas zum Mund führte, um es mit einem großen Schluck vollständig zu leeren. Versuchte er, Zeit zu schinden? Ich verrenkte mir den Hals, um zu sehen, wer dort hinter mir stand und kam mir dabei ziemlich blöd vor. Als meine Augen auf diese wallend blonden Haare und die durch und durch kurvige Figur des Mädchens trafen, durchschoss mich die Eifersucht wie ein heißer Blitz. Miranda!

„Amanda“, sagte Jesse und setzte ein Lächeln auf. Er sah aus, als würde er sich tatsächlich freuen, sie zu sehen. Merkte ich mir ihren Namen absichtlich nicht, quasi aus Protest?

„Ja, es ist eine Weile her.“

Bilder aus dem Garten tauchten in meinem Kopf auf. Wie Jesse zunächst gelangweilt Richtung Haus geblickt und dieses Mädchen ihre Schimpftirade abgefeuert hatte; wie sie ihn geohrfeigt hatte; wie er sie gegen die Wand der Gartenhütte gepresst hatte und seine Finger unter ihr T-Shirt geglitten waren.

Ich krallte meine Hände in die Tasche, die auf meinem Schoß lag, achtete aber darauf, dass Amanda das nicht mitbekam. Ich wollte ihr nicht die Genugtuung geben, ihr zu zeigen, wie sie mich verunsicherte und rasend machte. Ich spürte, wie die roten Flecken langsam meinen Hals hinaufwanderten, während ich versuchte, ruhig zu bleiben und mir nichts anmerken zu lassen. Doch die Mühe konnte ich mir sparen, denn Jesse beachtete mich überhaupt nicht.

„Ich habe dich schon vermisst.“

Uns Menschen ist es aus anatomischen Gründen nicht möglich, zu schnurren, trotzdem erinnerte mich Amandas Stimme an eine rollige Katze. Ich meinerseits hätte jetzt lieber die Fähigkeit besessen, meine Krallen auszufahren. Sollte ich nicht den Mund aufmachen und ihr verklickern, dass sie ihre dreckigen Finger von meinem Freund lassen sollte? Noch dazu vor meinen Augen!

„Da habe ich wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen“, meinte Jesse und grinste. Machte er das mit Absicht? Mit dieser Miranda – gut, wem machte ich hier eigentlich was vor, ich wusste ganz genau, wie ihr richtiger Name lautete – vor meinen Augen zu flirten. War er etwa doch noch sauer und zahlte es mir so heim?

„Nicht nur einmal.“

Es war verdammt unhöflich, so hinter mir zu stehen und mich völlig zu ignorieren. Wo waren ihre Manieren! So etwas machte man einfach nicht. Man stellte sich höflich vor, gab einem die Hand und erkundigte sich gegebenenfalls noch nach dem Befinden seines Gegenüber.

Mit diesen Gedanken versuchte ich, zu verhindern, dass ihre eben ausgesprochenen Worte mein Gehirn erreichten und überfluteten.

Nicht nur einmal. Nicht nur einmal. Nicht nur einmal.

Wie naiv war ich doch gewesen. Wie hatte ich davon ausgehen können, dass die beiden sich auf der Party zum letzten Mal gesehen hatten. Vielleicht schrieben sie sich sogar noch gelegentlich. Vielleicht telefonierten sie. Vielleicht trafen sie sich. Vielleicht... Die Bilder in meinem Kopf, die sich daraufhin bildeten, vertrieben die Röte aus meinem Gesicht und ließen mich erbleichen.

„Ich bin eben gut in dem, was ich tue.“ Nahm er diese Worte tatsächlich in den Mund, vor mir, wo ich doch direkt neben ihm saß? Mir fiel es schwer, meinen Unterkiefer wieder hochzuklappen. Ich starrte ihn an, doch er bemerkte es gar nicht.

Ich träume, dachte ich benommen. Das war die einzige Erklärung für diese absurde Situation. Er flirtete mit einer anderen – oder zumindest ließ er die Vergangenheit ihrer amourösen Beziehung Revue passieren. Aber das war schon schlimm genug. Ich war nicht weniger entsetzt, als hätte er mir eine Ohrfeige gegeben. Es hatte mir die Sprache verschlagen. Sollten sie doch turteln und sich an alte Bettgeschichten erinnern. Ich würde ihnen nicht die Genugtuung geben, die Verletzte zu mimen. Denn eines durfte man nicht vergessen: Im Ignorieren war ich besser als jeder andere. Ich blendete ihr Geplänkel aus und nippte seelenruhig an meinem Rest Zitroneneistee. Trotzdem konnte ich nicht bestreiten, dass ich verdammt froh war, als der Kellner uns endlich die Rechnung brachte. Ich machte keine Anstalten, mein Portemonnaie herauszuholen, denn wie immer bezahlte Jesse für uns beide. Anfangs hatte ich noch versucht, ihn davon abzubringen, aber er war hartnäckig geblieben.

„Wir sollten das mal wiederholen.“

Oh ja. Ein Dreier, das wäre doch was. Ganz bestimmt würde mir das gefallen, Miranda! Ich spielte kurz mit dem Gedanken, meinen Stuhl mit den Füßen umzukippen und sie so unter mir zu begraben. Das Bild entlockte mir ein Lächeln, oder zumindest das Zucken eines Mundwinkels.

Ich tauschte Amanda gegen das kleine Mädchen im Gebüsch aus und bewarf sie mit Steinen.

Das Ausmaß der Ausschweifungen meiner Fantasie machte mir Angst.

Ich sah einen Zug über Schienen fahren, blonde Haare auf den Gleisen.

Ein See, ein aufgedunsener Körper, der im dunklen Wasser trieb, bis zur Unkenntlichkeit ergraut, bis auf die roten Fingernägel, die sich gerade in meine Stuhllehne krallten.

„Da muss ich leider passen.“ Leider? Das wurde ja immer besser.

„Ich bin nicht mehr zu haben.“

Der hohe Sockel, auf den ich Jesse immer gestellt hatte, fing langsam an, zu bröckeln. Ich konnte das Rad in Amandas kleinem Hirn rattern hören und spürte ihren Blick auf mir.

„Herrje, tut mir Leid. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Sie nahm ihre Hände von meinem Stuhl und trat zur Seite, sodass ich ihr endlich in die Augen sehen konnte, in diese verdammt strahlend blauen Augen.

„Entschuldige.“ Es hörte sich aufrichtig an. Und wie konnte ich ihr eigentlich verübeln, einen Narren an Jesse gefressen zu haben? Schließlich wusste ich ganz genau, wie schnell sein Zauber sich über einen legte. Ich streckte ihr die Hand entgegen, die sie perplex schüttelte.

„Hi. Ich bin Lea.“ Hatte er uns tatsächlich nicht vorgestellt? Was war in ihn gefahren? „Schön, dich kennen zu lernen.“

Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf, was sie noch mehr verwirrte. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich am liebsten im Erdboden versinken. Und so sah sie auch aus. Meine Vision der Männer fressenden Amanda löste sich auf, die Schienen und der See blieben verlassen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jesse nicht mit meiner Reaktion gerechnet hatte. Tatsächlich schien er jetzt erst die Absurdität der Situation zu begreifen. Ihm konnte ich sein Verhalten jedoch nicht so einfach vergeben. Er sollte es besser wissen.

„Jesse, wollen wir langsam los? Wir kommen sonst zu spät.“
 

Ich stand auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Wir hatten keine Eile, mussten nirgendwo hin. Doch dieses Mal war Jesse schlau genug und hielt den Mund. Er realisierte langsam, dass er Mist gebaut hatte, das konnte ich an seinem Blick sehen, der ständig zwischen Amanda und mir hin und her huschte.

„Bis dann, Amanda.“ Ich lächelte dieses hübsche Mädchen an und hoffte inständig, dass keiner von uns beiden sie je wiedersehen würde. Jesse nickte ihr kurz zu und stand ebenfalls auf.

„Ja, bis dann“, stammelte sie, während ich mich einfach umdrehte und ging. Ich entfernte mich mit großen Schritten, weil ich schnellstmöglich so viel Raum wie möglich zwischen mich und Amanda bringen wollte. Im Moment war mir ziemlich egal, ob Jesse mir folgte, oder nicht. Aber ich hörte seine Schritte dicht hinter mir. Er spürte wohl, dass ich ihn nicht bei mir haben wollte. Vielleicht steigerte ich mich da auch nur total rein, aber war es nicht unerhört, wie er sich gerade verhalten hatte? Stellte uns nicht vor, ließ mich links liegen und schwelgte lieber mit seiner Affäre in Erinnerungen. Viel respektloser ging es nicht. Es hatte mich fast schon gewundert, als er zugegeben hatte, vergeben zu sein – und das auch noch an mich – und nicht gleich aufgesprungen und mit Amanda hinters nächste Gebüsch gesprungen war. Wenn ich daran dachte, wie eifersüchtig er sich gegeben hatte, als der Kuss mit Rob rausgekommen war, passte das nicht zu seiner jetzigen Leichtigkeit bezüglich des Themas alte Geschichten. Ich würde die Bilder von sich wälzenden Körpern, schwitzend und stöhnend, ineinander verschlungen, nicht so schnell loswerden.

War es Zufall, dass sie Eleonore ähnelte? Oder war das wieder eines meiner Hirngespinste? Auf einmal verspürte ich das Bedürfnis, Jesses andere Verflossenen zu sehen. Ließ sich da ein bestimmtes Muster erkennen? Fiel ich aus dem Rahmen? Ich hasste es, schon wieder Selbstzweifel zu verspüren. Langsam hatte ich aufgehört, zu denken, nicht gut genug zu sein, ihn nicht zu verdienen.
 

Schweigend gingen wir zurück zum Auto. Als ich mich angeschnallt hatte, sah ich Jesse an und bat ihn, mich nach Hause zu fahren.

„Lea.“ Es ging ihm gegen den Strich, sich zu entschuldigen, das war nicht zu übersehen, doch er sah wohl auch ein, dass es sein musste.

„Ich hätte mich nicht so verhalten sollen“, räumte er halbherzig ein. Er sagte das nur, weil ich es hören wollte und nicht, weil er es so meinte. Ich presste die Lippen aufeinander.

„Bitte fahr mich heim. Ich habe Kopfschmerzen.“ Das war gelogen und wir wussten es beide, doch Jesse befand sich nicht in der Position, mir das vorzuhalten.

„Sie ist mir egal. Das weißt du, oder? Ich war nur nett.“

Ich musste mich wirklich anstrengen, um nicht verächtlich zu schnauben.

„Ich will im Moment einfach nicht in deiner Nähe sein“, flüsterte ich und schloss kurz die Augen. Als ich realisierte, dass ich meine Worte tatsächlich so meinte, erschreckte mich das zutiefst. Noch nie hatte ich genug von Jesse gehabt, noch nie den Wunsch verspürt, nicht bei ihm zu sein. Die von Stille erdrückte Fahrt war mir unangenehm. Eigentlich hatte ich gehofft, er würde sich mehr bemühen. Sobald wir anhielten, schnallte Jesse sich ab und drehte sich zu mir um.

„Sehen wir uns morgen?“ Das war sein Versöhnungsangebot.

„Ich weiß noch nicht. Kann ich dich anrufen?“ Ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, um meine Worte zu entschärfen. Dann stieg ich schnell aus, bevor ich doch noch schwach wurde und ihm leichtfertig vergab. Er knallte seine Autotür zu, was mich herumfahren ließ.

„Ich verstehe das nicht. Ich trage dir die Sache mit Kelly nicht nach, aber du darfst jetzt beleidigt sein? Ich habe doch gar nichts gemacht!“ Ich sah kurz Richtung Haus. Hoffentlich war niemand da.

„Das mit Kelly war ein Unfall. Das weißt du ganz genau. Und mir das jetzt vorzuhalten, ist echt gemein. Du weißt genau, was für Vorwürfe ich mir deswegen mache.“ Würde er die Kelly-Karte jetzt immer ziehen, wenn ich einen Fehler machte?

„Ich meine ja nur, du solltest nicht so eine große Sache daraus machen. Ich habe dir ja auch verziehen, oder nicht.“

„Tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass wir jetzt eine Strichliste führen. Dann vergebe ich dir natürlich!“ Meine Stimme wurde lauter, was ich nicht zu verhindern versuchte, und ging den Fußweg entlang, um Abstand von unserem Haus zu halten. Meine Eltern mussten nichts von unserem Streit mitbekommen, falls sie zuhause waren. Jesse folgte mir.

„Vergeben? Was denn vergeben? Es ist doch gar nichts passiert. Du tust gerade so, als hätte ich dich betrogen. Dabei bist doch du diejenige, die in meiner Speisekammer rumknutscht.“ Mir fiel die Kinnlade runter.

„Wow. Das war echt unnötig.“

Jesse verdrehte die Augen. Er verdrehte wirklich die Augen!

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich mich gerade gefühlt habe? Als sie dich angemacht hat, vor meinen Augen, und ihr über alte Zeiten geplaudert habt, als wäre ich gar nicht da? Es hat mich gewundert, dass du nicht noch einen Dreier vorgeschlagen hast.“

„So ein Quatsch. Ich dachte, es ist okay für dich, wenn wir uns unterhalten. Du hast nichts gesagt.“

„Tut mir Leid. Ich bin davon ausgegangen, dein gesunder Menschenverstand würde dir sagen, nicht mit deiner Ex vor deiner neuen Freundin zu flirten.“

„Wir haben nicht geflirtet.“ Damit konnte er nicht mal sich selbst überzeugen. Aber er wollte nicht zugeben, im Unrecht zu sein.

„Wenn ihr nicht geflirtet habt, will ich nicht wissen, wie es aussieht, wenn du mal mit einer anderen flirtest.“

„Wieso sollte ich das tun? Ich habe doch – Weißt du was, es ist mir echt zu blöd, mich für etwas zu rechtfertigen, das gar nicht passiert ist. Keine Ahnung, wieso du dich so auf Amanda fixierst.“ Er bekam langsam richtig schlechte Laune, das spürte ich. Aber es interessierte mich nicht. Egal wie schlecht er drauf war, mir ging es noch miserabler.

„Weißt du das wirklich nicht?“ Mir ging langsam die Luft aus. Stellte er sich nur so dumm, oder hatte er tatsächlich keinen blassen Schimmer? Jesse steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte die Schultern.

„Tut mir Leid, ich kann nicht hellsehen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Zwei gesunde Augen sollten eigentlich ausreichen.“

„Tja, dann bin ich wohl blind. Können wir mit diesem bescheuerten Ratespiel aufhören, und du sagst mir einfach, was Sache ist?“
 

„Sie ist Eleonore so ähnlich.“ Es platzte aus mir heraus und ich konnte es nicht aufhalten. Ich hatte nicht vorgehabt, das Thema auf sie zu lenken, aber mein loses Mundwerk war schneller gewesen als mein Verstand. Wir blieben beide stehen, und er sah mich mit einem undeutbaren Blick an. Ich atmete tief durch, um das Zittern in meiner Stimme zu vertreiben. Es war nie mein Plan gewesen, mit ihm über Elly zu reden. Sie war ein Teil seines Lebens, sie war Kellys Mutter, das konnte ich akzeptieren, aber dass ich mich ständig mit ihr verglich, wollte ich ihm eigentlich nie erzählen.

„Was hast du gesagt?“

Ich konnte nicht einschätzen, ob er sauer war, weil ich sie erwähnt hatte. Aber wenn das zwischen uns funktionieren sollte, musste ich ihm sagen, wie es in mir aussah. Ich konnte nicht ewig Verstecken spielen.

„Amanda sieht Eleonore sehr ähnlich.“

Jesse war anzusehen, dass er die beiden vor seinem inneren Auge verglich.

„Nein, tut sie nicht“, stritt er das Unverkennbare ab.

„Doch, es ist wahr.“

Er erwiderte nichts darauf, trat mit seinen Hacken ein Loch in den Rasen des Nachbargartens. Schnell wischte ich mir über die Augen, nutzte den Moment, in dem er zu Boden sah, damit er nicht merkte, wie nah ich den Tränen war. Ich sah mich um, ob irgendjemand in der Nähe war, seinen Hund spazieren führte oder von der Arbeit nach Hause kam, aber wir waren allein. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart allein.

„Darum geht es hier eigentlich, oder? Um Eleonore?“

Die Antwort darauf kannte ich selbst nicht. Ging es um Eleonore? Ging es um Amanda? Oder ging es um die einfache Tatsache, mir im Moment nicht vorstellen zu können, wie eine gemeinsame Zukunft mit Jesse aussehen sollte? Oder dass ich mir immer noch Vorwürfe wegen Kelly machte, Angst hatte, keine Verantwortung für sie übernehmen zu können? Oder waren es meine Verlustängst, hervorgerufen von Natalie?

„Ja, es geht auch um Eleonore. Es geht um so viele Dinge. Ich frage mich einfach, ob das überhaupt etwas bringt.“ Ich verfiel in alte Verhaltensmuster: Lieber schubste ich die anderen von mir fort, bevor sie mir wehtun konnten.

„Ob was etwas bringt?“ Er trat einen Schritt auf mich zu, sauer und zugleich besorgt. Ich gestikulierte zwischen uns beiden hin und her.

„Na, das mit uns. Sieh uns doch an. Wir streiten uns wegen dieser dummen Tussi.“

„Nur weil du eifersüchtig bist, musst du sie nicht gleich beleidigen.“ Mir klappte die Kinnlade runter.

„Verteidigst du sie jetzt auch noch?“

Natürlich, tief in meinem Innern, wusste ich, dass Amanda eigentlich nichts für all das konnte. Sie war zwar vielleicht etwas unsensibel und hatte echt ein schlechtes Timing, aber ich schob es auf ihren beschränkten IQ, nicht gecheckt zu haben, wer ich war. Trotzdem sollte Jesse auf meiner Seite stehen, nicht auf ihrer. Hatte er in den letzten zehn Minuten denn nichts gelernt? Hatte er mir überhaupt zugehört?

„Sie hat dich vor meinen Augen angemacht. Zumindest in meinem Universum ist das etwas, das kein anständiger Mensch tut.“

„Wie oft soll ich es dir noch sagen? Das war alles ganz harmlos.“

Mir reichte es.
 

„Schön, dann freut es dich bestimmt, zu hören, dass ich auch ein ganz harmlose Dates mit Rob hatte. Aber keine Angst, wir haben nur in alten Zeiten geschwelgt und uns darüber ausgelassen, wie gut wir sind, in dem was wir tun.“ Ich benutzte mit Absicht seine Worte und malte dabei mit meinen Fingern Anführungszeichen in die Luft. Es war nicht mal ein richtiges Date gewesen, aber das musste Jesse ja nicht wissen.

„So, jetzt ist es raus. Aber da ich weiß, dass das für dich kein Problem ist, weil es ja so harmlos war, kann ich es dir ja beruhigt erzählen.“

Jesses Gesichtsfarbe wurde einige Nuancen dunkler. Gut. Genau das hatte ich erreichen wollen.

„Ich hoffe für dich, du hast das gerade nur erfunden“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Ich zuckte mit den Schultern.

„Wieso sollte ich? Es ist doch alles bestens, oder nicht? Du hast nichts gemacht, ich habe nichts gemacht. Also können wir einfach weitermachen wie zuvor.“ Meine Stimme war zuckersüß, aber mein Blick kalt und abweisend.

„Das ist etwas völlig anderes.“ Da war es wieder. Wenn er mit einem Eleonore-Double vögelte, war das okay, aber wenn ich mich mit Rob traf, schwenkte er das rote Tuch.

„Es ist überhaupt nichts anderes. Das mit Rob war vor uns. Amanda war vor uns. Was regst du dich also auf?“

„Das mit Amanda war lange vorher vorbei. Außerdem fährt Rob total auf dich ab, das weißt du ganz genau.“ Da konnte ich ihm nicht wiedersprechen, und für einen Moment tat es mir Leid, Rob zu benutzen, um Jesse auf die Palme zu bringen. Ich hoffte nur, dass er nicht morgen vor seiner Tür auftauchte und ihm die Nase brach.

„Ach, und Amanda fährt nicht total auf dich ab, oder wie?“

Jesse schnaubte frustriert. Im Haus auf der anderen Straßenseite ging im Fenster ein Licht an, was uns zurück zu seinem Auto scheuchte.

„Zum letzten Mal: Es war nur eine Bettgeschichte.“ Als würde mich das beruhigen. „Das mit Amanda und mir hatte nie eine Zukunft. Aber dass du dich mit Rob getroffen hast, der total in dich verknallt ist... Hast du Gefühle für ihn?“

Ich würde Jesse nicht auf die Nase binden, bei dem Date mit meinen Gedanken ständig bei ihm gewesen zu sein. Aber warum regte er sich jetzt so über dieses Date auf, wo er doch schon von dem Kuss wusste? Was glaubte er, was wir getan hatten? Ein romantisches Candle-Light-Dinner mit anschließendem Stelldichein? Traute er mir das wirklich zu? Ich könnte ihn einfach erlösen, indem ich ihm erklärte, dass der Kerzenschein nur aus schwachem Neonlicht bestanden hatte, das Dreigängemenü ein triefender Döner und die romantische Musik das Summen des Tellerwäschers gewesen war. Und statt zweier starker Arme, die mich im Schlaf hielten, hüllte mich die Gewissheit ein, dieses Schuljahr wahrscheinlich wiederholen zu müssen, meine Mutter trotz Pralinen und Blumen stinksauer auf mich war – obwohl ich zugeben musste, dass der Ärger durch die Bestechung deutlich kleiner ausgefallen war – und dass Jesse immernoch unerreichbar für mich war.
 

Das waren damals meine Gedanken gewesen, und heute stand ich hier und stritt mich mit meinem Freund über ein belangsloses Treffen mit einem anderen, das schon ewig her war. Es ein Date zu nennen, war wohl ein wenig übertrieben. Beinahe tat er mir Leid. Aber nur beinahe. Ich musste mich nur an Jesses Gespräch mit Amanda erinnern, und schon war jeder Zweifel ausradiert.

„Nein. Ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, eine Beziehung mit ihm anzufangen. Aber gerade Frage ich mich, ob das vielleicht ein Fehler war.“ Mit Rob wäre bestimmt alles viel einfacher. „Er hat mir wenigstens gezeigt, wie viel ihm an mir liegt.“

Jesse trat gegen den Hinterreifen seiner Schrottkarre.

„Ach ja? Ich bin mir sicher, er kann mir in der Beziehung nicht das Wasser reichen. Aber es fällt mir nun mal verdammt schwer, dir das klarzumachen, wenn du dich verhältst wie eine...“ Er stoppte sich gerade noch rechtzeitig.

„Wie eine was?“

Er vermied tunlichst Blickkontakt.

„Wie eine was, hm? Spucks schon aus.“

Doch kein Wort kam mehr über seine Lippen. Jesse schüttelte nur den Kopf.

„Weißt du was, vergiss es.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte ich mich um und rannte ins Haus.
 

Es vergingen drei Tage, in denen er sich kein einziges Mal meldete. Ich hatte mein Handy immer wieder in die Hand genommen, den Daumen über dem grünen Telefonzeichen schwebend, aber ich hatte es nicht über mich gebracht, ihn anzurufen. Wenn ich mich zuerst meldete, hieß das auch, mich entschuldigen zu müssen. Aber ich fühlte mich im Recht, jetzt mal unabhängig von der Geburtstagsparty. Das Schlimme war, ich wusste genau, dass Jesse den Vorfall mit Kelly eben doch noch nicht ganz weggesteckt hatte. Hätte er mir das verziehen, hätte er längst angerufen, denn für ihn war der Streit wegen Amanda nur eine Lappalie. Nicht so für mich.

Es verletzte und verunsicherte mich, wenn er mit seiner alten Flamme fröhlich plauderte. Warum konnte er das nicht verstehen? Nicht genug damit, dass ich mich ständig mit Eleonore verglich, die sowieso völlig außer Konkurrenz stand, nun musste ich mich auch noch fragen, ob ich Amanda im Bett das Wasser reichen konnte. Wie sollte ich je wieder mit Jesse intim werden, ohne daran zu denken? Frustriert schlug ich das Buch zu, das ich gerade las. Es trug auch nicht gerade zu meiner guten Laune bei. Ich betrachtete die schwarzen Vögel auf dem blauen Cover, das Haus, das eine Windmühle darstellen sollte. Krabat. Tammy hatte zufällig noch eine alte Auflage davon in ihrem Schrank gehabt.
 

Liebe Lea,

ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich gefreut hat, den Brief von dir zu erhalten. Danke, dass du mir geantwortet hast. Und ich danke dir, dass du so ehrlich zu mir warst. Es bestürzt mich, der Auslöser für deine Schwierigkeiten gewesen zu sein. Das werde ich nie wieder gutmachen können. Es tut mir sehr Leid! Aber ich verspreche dir, mich zu bemühen, dir in Zukunft eine bessere Freundin zu sein. Ich bin immer für dich da, auch wenn ich momentan sehr weit weg bin. Ich hoffe, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, aber ich würde mich wirklich freuen, dich zu sehen. Nächstes Wochenende ist Besuchszeit. Hast du Lust, zu kommen? Das würde mich echt glücklich machen. Ich bin gespannt, wie du aussiehst. Ob du dich verändert hast, meine ich, älter und reifer geworden bist. Aber du warst sowieso immer die erwachsenere von uns beiden. Normal sollte ich sagen: Hätte ich damals nur auf dich gehört. Würde ich auch, hätte ich hier nicht Angus getroffen. Er wurde letzte Woche in die Freiheit entlassen, wie wir es nennen. :-) Aber er ruft mich jeden Tag an und unterstützt mich weiterhin, so gut er kann. Dass du auch jemanden gefunden hast, freut mich total. Jesse scheint ein echt netter Kerl zu sein. Den darfst du dir nicht durch die Finger gehen lassen. Was meinst du, glaubst du, wir können mal alle zusammen ausgehen? Auf ein Doppeldate sozusagen? Bitte schreib mir wieder!
 

In Liebe, Natalie

Der Mann mit den grünen Augen

Der Rattenschwanz, den die Begegnung mit Amanda nach sich zog, war unangenehm lang. Ich kramte in meiner Schublade nach Natalies Brief. Vielleicht würde es mich aufheitern, ihn erneut zu lesen und an das bevorstehende Treffen zu denken. Doch beim Durchwühlen des Chaos fiel mir etwas ganz anderes in die Hände. Der Gutschein. Im Nachhinein war ich froh, ihn Jesse nicht gegeben zu haben. Nicht nur, weil ich mich für meine langweilige und einfallslose Idee schämte. Ich war schlicht und ergreifend stinksauer auf ihn. Mir fiel plötzlich wieder ein, was Eleonore über seine Tattoos gesagt hatte: „Wenn du deine Mutter ärgern willst, lass dir lieber noch mehr Tattoos stechen.“

Meine Eltern würden mich umbringen. Aber hatte Needle nicht behauptet, mir würde ein Nasenpiercing ausgezeichnet stehen? Ich war eigentlich kein Freund von Trotzreaktionen, und dennoch schnappte ich mir Gutschein und Autoschlüssel - Tammy hatte sich letzte Woche eine fürchterliche Schrottkarre gekauft – und war auf dem Weg zur Tattoohell, bevor ich es mir nochmal anders überlegen konnte.
 

Ich betrachtete den kleinen, glitzernden Stecker in meiner Nase durch den Spiegel, immer noch fasziniert darüber, wie anders mich dieses kleine Detail wirken ließ. Es gefiel mir echt gut. Vorsichtig betastete ich das Metall mit dem Zeigefinger. Wenn ich mir Jesses Gesicht ausmalte, hatte sich die Aktion auf jeden Fall gelohnt. Sollte ich ihn je wiedersehen. Inzwischen waren fünf Tage vergangen. Und langsam bekam ich wirklich Angst, das würde immer so weitergehen. Meine Wut war größtenteils verraucht, die Sehnsucht nach ihm eindeutig stärker.

Ich entschied mich für den Zwischenweg und rief Lydia an, zu einer Zeit, bei der ich sicher sein konnte, dass Jesse beim Arbeiten hinterm Tresen stand. Ich fragte sie, wie es ihm ging, ob er noch sauer war, ob er von mir sprach, und wie seine Laune war. Die Antwort war ernüchternd. Jesse blockte wohl jedes Mal ab, wenn mich jemand erwähnte oder nachfragte, was los war.

„Wenn du ihn überraschen willst: Am Wochenende hat seine Mutter Geburtstag. Greg und Betty haben ihn überredet, hinzugehen. Er würde sich bestimmt freuen, wenn er moralische Unterstützung kriegen würde.“

Ich bedankte mich bei ihr und legte auf. Jesse hatte Marissas Geburtstag nie erwähnt. Hatte er ein Geschenk gekauft? Sollte ich hingehen? Wollte er mich überhaupt dort haben? Wenn ich an sein schwieriges Verhältnis zu Marissa dachte, wollte ich wirklich gern bei ihm sein und ihn unterstützen.

Lydia schickte mir die Adresse, doch als ich vor diesem Haus mit dem kurzgeschorenen Rasen stand, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Von Greg hatte ich den Tipp mit Marissas Lieblingspralinen bekommen, die ich nun in meinen zittrigen Händen hielt. Ich war zu früh. Kein mir bekanntes Auto stand an der Straße. Eigentlich stand dort überhaupt kein Auto. Verdammt. Ich war extra zu Fuß hergelaufen, um genug Zeit zu haben, meine Gedanken zu ordnen und mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

„Hallo, Mrs. Adburn. Alles Gute zum Geburtstag. Ich muss mit ihrem Sohn reden.“ Alle Vorschläge hatte ich bisher wieder verworfen. Ich drückte mich hinter der nächsten Hecke herum. Marissa sollte nicht sehen, wie ich draußen herumlungerte. Ein VW-Bus fuhr um die Ecke, eindeutig schneller, als es die Straßenschilder erlaubten. Der Wagen war bunt bemalt, ein Hippiebus, der Lack bröckelte an einigen Stellen ab und der Rost fraß sich durch die Motorhaube. Es ging alles zu schnell, um den Insassen erkennen zu können. Niemand, den ich kannte, würde so ein Auto fahren. Bis auf Kasper vielleicht. Doch der Mann, der aus dem Bus stieg, war eindeutig größer als Natalies Bruder. Ich schätzte ihn auf über zwei Meter. Seine Haare reichten ihm bis zur Schulter und sein Vollbart fast bis zur Brust. Ein paar vereinzelte graue Strähnen schimmerten in der üppigen Behaarung. Seine Augen waren durch eine runde, alte schwarze Sonnenbrille verdeckt.
 

„Hey, Kleines.“ Er winkte mich heran und ich blieb einen Moment wie ein verängstigter Hase stehen, bis ich mir einen Ruck gab und den Abstand zwischen uns mit ein paar schnellen Schritten überwand.

„Hallo.“ Ich konnte mich selbst kaum hören, so zaghaft kam das Wort über meine Lippen.

„Du gehst auch auf die Party, oder?“ Er nickte Richtung Haus.

„Mhm“, war alles, was ich herausbrachte. In mir wuchs langsam ein Verdacht heran, wer dieser Mann sein könnte. Ich musterte ihn noch genauer. Die viel zu weite Hose an seinen langen Beinen, das Hemd, das er bis zum vierten Knopf offengelassen hatte, wodurch ein paar seiner Brusthaare zum Vorschein kamen. Er berührte mich kurz an der Schultern.

„Komm. Wagen wir uns in die Höhle des Löwen.“ Er sagte es ganz trocken, aber ich konnte den Humor seiner Worte deutlich heraushören.

„Okay.“ Wir gingen Seite an Seite über den Kiesweg. Ich fühlte mich seltsam wohl neben diesem Fremden. Er klingelte, schob die Sonnenbrille in sein Haar und lächelte mich mit seinen grünen Augen an. Ich kannte diese Augen.

„Du bist eine Freundin von Betty?“, fragte er, während wir darauf warteten, dass uns jemand öffnete. Ich räusperte mich.

„Sowas in der Art. Ich bin Lea.“

Er nickte, sein Blick schweifte auf das kleine Paket in meiner Hand.

„Freut mich, Lea. Und du bist so aufmerksam und hast ein Geschenk dabei.“ Ich zuckte mit den Schultern.

„Ist nur eine Kleinigkeit.“

Er hob eine Augenbraue. Auch diese Geste kannte ich.

„Das ist mehr, als ich Zustande gebracht habe.“ Er trat zwei Schritte zurück und pflückte eine Blume vom nächsten Busch.

„So wie ich Marissa kenne, wird sie das eher ärgern, als erfreuen.“

Als er ein schiefes Grinsen zeigte, war die Ähnlichkeit unverkennbar.

„Entschuldigen Sie. Sind Sie...“ Ich konnte meine Frage nicht zu Ende stellen, denn im nächsten Moment wurde die Haustür aufgerissen und das Geburtstagskind stand vor uns. Ich würde niemals Marissas Gesichtsausdruck vergessen, als sie den Mann ansah, der vor ihr stand. Überraschung, Entsetzen, Belustigung. Alles auf einmal. Doch ich meinte, auch einen Anflug von Freude wahrnehmen zu können.
 

„Walt“, begrüßte sie ihn ungläubig, und bestätigte damit meinen Verdacht. Walt Carson. Jesses Vater. Auf einmal war ich völlig aus dem Häuschen. Jesses Vater war hier! Das würde ihn so freuen!... Würde es doch, oder?

„Happy birthday, Mary.“ Er streckte ihr die Blume entgegen, die sie wortlos, aber mit gehobenen Augenbrauen entgegennahm.

„Danke“, erwiderte sie schließlich steif. Endlich schwankte ihr Blick auch zu mir. Sie rang sich ein Lächeln ab, doch ich konnte sehen, wie sie in ihrem Gedächtnis nach meinem Namen graben musste.

„Lea. Wie schön, dass du gekommen bist.“

Ich fühlte mich ganz und gar nicht willkommen.

„Wo hast du denn Jesse gelassen?“ Wie immer war sie für einen Schlag in die Magengegend gut. Ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie Marissa und Walt jemals ein Paar hatten sein können.

„Der kommt noch“, wich ich aus, drückte ihr mein Geschenk in die Hand und ging ins Haus, wo ich hoffentlich gleich auf Betty traf.

„Alles Gute zum Geburtstag“, murmelte ich im Vorbeigehen und war mir bewusste, wie unhöflich ich war. Walt folgte mir auf dem Fuße und so ließen wir eine verdutzte Marissa an der Tür stehen, die noch ein paar mal blinzelte, bevor sie sich wieder fing.

„Lea! Du bist gekommen. Wie schön.“ Betty schloss mich fest in ihre Arme, kaum dass ich den Flur betreten hatte. Ihr glaubte ich. Als ihr Blick auf Jesses Vater fiel, quietschte sie vergnügt.

„Walt!“ Auch ihn drückte sie freudig an sich. Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und wuschelte durch ihr Haar, als wäre sie ein Kleinkind. Doch sie störte sich nicht daran und grinste breit.

„Ich bin zwar eine Woche zu spät dran...“ Eine Woche zu spät. Also war er eigentlich wegen Jesses Geburtstag hier. Betty winkte ab.

„Hauptsache, du bist da. Du musst endlich mal deine Enkelin kennenlernen. Opa.“
 

Marissa stellte sich zu uns. Sie wirkte etwas konsterniert. Kein Wunder, bei dem Anblick des Vaters ihres Sohnes, zusammen mit ihrer Tochter – eines anderen Vaters – und dem Mädchen, das hoffte, noch immer Jesses Freundin zu sein.

„Sag nicht Opa. Da fühle ich mich steinalt.“ Er sah nicht steinalt aus. Er hatte sich besser gehalten als Jesses Mutter, war braungebrannt, drahtig, und so gut wie faltenfrei. Die Krähenfüße an Marissas Augen waren hingegen nicht zu übersehen.

„Lasst uns Kuchen essen.“ Es war eher ein Befehl, als ein Angebot und wir waren alle klug genug, ihren Zorn nicht auf uns zu ziehen, indem wir ihr widersprachen. Außer uns waren keine Gäste da. Ich fragte mich, ob noch jemand kommen würde.

„Ich habe deine Torten vermisst“, sagte Walt mit vollem Mund und stopfte sich die nächste Gabel in den Rachen. Er zeigte mit der Kuchengabel auf Marissa. „Wisst ihr, Mary ist eine miserable Köchin, war sie schon immer, aber im Backen, da konnte ihr keiner was vormachen. Aber wem erzähle ich das“, winkte er ab und lud sich sein inzwischen drittes Stück auf. So schnell wie er aß, konnte ich gar nicht gucken. Der Trick war wahrscheinlich, nicht zu kauen. Betty grinste.

„Die Tischmanieren hat Kelly eindeutig von dir geerbt.“

Ich wüsste zu gerne, was damals genau vorgefallen war, zwischen Marissa und Walt. Warum hatten sie sich getrennt? Sie schienen ja ein relativ normales Verhältnis zu haben.

„Apropos Kelly. Wo ist denn meine Enkeltochter? Und wo ist mein Sohn?“ Marissa schenkte uns allen Kaffee nach.

„Seit wann interessiert dich das?“ Ihr scharfer Ton verwunderte mich. Schließlich war sie selbst nicht gerade eine vorbildliche Mutter.

„Du hast ihn seit sechs Jahren nicht gesehen.“

Walt musste sich offensichtlich anstrengen, nicht die Augen zu verdrehen, und klopfte sich die Kuchenbrösel von den Händen.

„Lass gut sein, Mary. Ich kenne die Leier.“

Jesses Mom knallte die Kaffeekanne auf den Tisch.

„Es gut sein lassen? Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Du musstest ja nicht mitansehen, wie er anfing, zu kiffen und sich mit diesen grauenvollen Tattoos zukleisterte. Wie er seine Zukunft weggeworfen hat für dieses Mädchen. Du weißt genau, wie viel er hätte erreichen können.“

Zu unser aller Erstaunen lächelte Walt milde. Ich hingegen wäre am liebsten von hier verschwunden. Ich fühlte mich absolut fehl am Platz. Betty schien es genauso zu gehen, denn sie nahm meine Hand und starrte stur auf die Tischplatte. Dieses Mädchen hatte in diesem Haus schon zu viel Streit mit angehört.

„Du hast nur Angst davor, dass er so wird wie ich.“ Walt zog eine Zigarette aus der Hosentasche und zündete sie an einer Kerze an, die auf dem Tisch stand. Marissa hatte eine Antwort parat, das konnte man ihr ansehen. Die Worte lagen schon auf ihren Lippen, doch sie schluckte sie hinunter und nickte Richtung Terrasse.

„Geraucht wird draußen“, sagte sie kühl und begann, unsere Teller aufzuräumen, obwohl wir noch nicht aufgegessen hatten.
 

Walt stand auf und ging hinaus auf die Terrasse, Betty half ihrer Mutter mit dem Geschirr. Und ich saß an diesem Tisch, völlig allein, und hatte keine Ahnung, was ich hier überhaupt machte. Wo war Jesse? Wo waren Greg und Lydia? Und wo war Sam, Marissas Mann? Ich wollte nicht allein sein, wollte nicht über Marissas Worte nachdenken. Hatte sie tatsächlich kiffen gemeint, oder kannte sie den Unterschied einfach nicht? Aus ihrem Munde klang es so, als wäre ihr Sohn total abgestürzt. Noch immer machte sie Eleonore und im Grunde auch Kelly verantwortlich für das verpfuschte Leben ihres Sohnes. Hatte sie ihn denn noch nie singen gehört? Wusste sie nicht, wie erfolgreich Zero gewesen waren, bevor sie sich zerstritten hatten oder war für sie ein Musiker nicht mehr wert als ein Meeresbiologe, der ständig auf offener See schipperte und sich nie bei seinem Kind meldete? Offensichtlich hatte Jesse niemandem der Anwesenden erzählt, dass er studierte. Und ich hatte nicht vor, das zu ändern.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Lydia hatte zu mir gesagt, sie würden um drei vorbeikommen. Hatten sie es sich anders überlegt? Würde Jesse noch kommen? Ich fühlte mich nutzlos und überflüssig. Selbst wenn Jesse noch kam, hieß das nicht automatisch, dass er sich freuen würde, mich zu sehen. Er hatte bestimmt nicht umsonst eine Woche Funkstille gehalten. Ich verfasste eine SMS:

Dein Vater ist da. Er würde sich freuen, dich zu sehen.

Ich schrieb die Worte, starrte darauf, und löschte sie wieder. Was, wenn es ihn eher davon abhielt, zu kommen. Ich beschloss, das zu machen, worin ich inzwischen echt gut geworden war: Abhauen. Mit einem schnellen Griff pflückte ich meine Jacke vom Stuhl und streifte sie über.

„Willst du schon gehen?“ Betty stand mit frischem Geschirr im Türrahmen und sah mich enttäuscht an. „Lass mich bitte nicht allein mit den beiden“, formten ihre Lippen lautlos, als die Stöckelschuhe ihrer Mutter hinter ihr lauter wurden. Ergeben ließ ich mich zurück auf meinen Platz fallen. Wir drei Frauen saßen am Tisch, starrten auf imaginäre Punkte an den Wänden und schwiegen uns an.

„Wann, hattest du gesagt, kommt Jesse nach?“ Marissa zupfte an dem üppigen Blumenstrauß herum. Mir fiel auf, dass sie auch Walts Rose dazugesteckt hatte. Sie wirkte etwas deplatziert, genau wie ich.

„Ich habe gar nichts gesagt.“ Die Schokoladentorte lag mir schwer im Magen und der Kaffee, um den ich nicht herumgekommen war, machte mich ganz hibbelig. Wäre Jesse hier gewesen, hätte er meine Tasse einfach mitgetrunken. Marissa schürzte die Lippen. Walt kam genau in dem Augenblick zurück ins Haus, als sie wieder das Wort an mich richtete.
 

„Also. Wie habt ihr euch kennengelernt?“

Ich holte tief Luft.

„Naja. Wir haben uns eigentlich nur durch Zufall getroffen. Zuerst dachte ich, Ihr Sohn wäre ein riesengroßes Macho-Arschloch. Aber dann stellte sich heraus, dass er nur so mies drauf war, weil er an dem Tag bei Ihnen war. Kein Wunder, wie verkorkst er ist, bei den Eltern. Ich persönlich kann Sie ja nicht leiden, aber um Jesses Willen hoffe ich echt, dass Sie irgendwann mal von Ihrem hohen Ross steigen und sich wieder einkriegen.

Keine Ahnung, wie Jesse so ein toller Vater werden konnte, bei den Vorbildern. Und wenn wir schon dabei sind, Walt, Sie könnten sich ruhig ab und zu bei Ihrem Sohn melden. Er ist zwar schon alt genug und hat vor langer Zeit gelernt, ohne Sie zurechtzukommen, aber welcher Sohn wünscht sich nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung seines Vaters.

Ich kann nicht glauben, wie verlogen Sie sind. Sie geben zwar beide vor, sich um Jesse zu sorgen, aber wirklich etwas zu tun kommt Ihnen wohl nicht in den Sinn. Finden Sie es nicht traurig, dass er Eleonores Eltern eher zu seiner Familie zählt, als Sie? Darüber würde ich mir mal Gedanken machen. Und Kelly ständig als einen Ausrutscher und Fehler zu bezeichnen ist echt krank! Die Kleine hat wirklich etwas Besseres verdient.“

Marissa blinzelte mich an.
 

„Lea?“

Wie gerne hätte ich ihnen all das vor den Kopf geworfen, endlich mal die Wahrheit ausgesprochen. Aber wie immer war ich zu feige.

„Durch meine Schwester. Wir waren Schlittschuhlaufen.“

Betty grinste breit.

„Das ist ganz schön schnulzig.“

Ich verzog das Gesicht und dachte an den Moment, als Jesse mich beinahe umgefahren hatte.

„Glaub mir, so toll war das damals nicht.“

Walt schien jetzt auch endlich zu begreifen, dass ich nicht nur eine Freundin von Betty war.

„Du bist Jesses Mädchen?“ Jesses Mädchen. Wie altmodisch das klang. Aber irgendwie gefiel mir das. Nur leider wusste ich nicht, ob das überhaupt noch der Wahrheit entsprach, deshalb machte ich nur eine vage Geste, die alles hätte bedeuten können.

„Die zwei sind so süß miteinander. Einfach zum anbeißen.“

Ich schickte ein stilles Stoßgebet in den Himmel, Betty möge damit aufhören. Ich kam mir wie eine schamlose Lügnerin vor.

„Er hatte schon immer einen guten Geschmack, was das anging. Nicht so wie ich.“ Ich konnte nicht glauben, dass Walt diese Worte tatsächlich laut aussprach, vor uns allen.

„Charmant wie immer“, giftete Marissa zurück. „Du hast noch immer nicht gelernt, wann man besser den Mund hält.“

Walt sah so aus, als würde ihn Marissas Wutausbruch ziemlich amüsieren.

„Ich weiß genau, wann ich den Mund halten sollte. Ich tu's nur nicht. Entspann dich doch mal, Mary. Mach dich locker. Es ist dein Geburtstag.“ Jesses Mom schnaubte verächtlich.

„Mich entspannen! Du hast doch keine Ahnung. Ich mache mir hier solch eine Mühe, und wie dankt man es mir? Du bist ein undankbarer, gefühlloser Mensch, dem alle anderen völlig egal sind.“

Mir war schon immer schleierhaft gewesen, wie Menschen ihre Konflikte so offen vor anderen austragen konnten. Aber es war auch sonnenklar, dass diese Emotionen und Vorwürfe nicht erst seit dem heutigen Tag bestanden. Wahrscheinlich hegte Marissa bereits seit vielen Jahren einen Groll gegen Walt, weil er sie damals verlassen hatte – so zumindest hatte Jesse es mir erzählt.

„Gefühllos? Und das aus dem Munde einer Frau, deren eigener Sohn sie aus seinem Leben verbannt hat.“ Er hatte ihren wunden Punkt getroffen, denn sie starrte ihn nur hasserfüllt an, bevor sie schließlich ihre Sprache wiederfand.

„Du hast Recht“, sagte sie unterkühlt, und das war viel schlimmer als das bisherige Geschrei. „Ich hätte es so machen sollen wie du. Nämlich genau anders herum. Seit du Jesse aus deinem Leben gestrichen hast, läufst du wenigstens nicht mehr Gefahr, von ihm zurückgewiesen zu werden.“

Das Geschirr klirrte lautstark, als Betty abrupt aufstand und dabei gegen den Tisch stieß.
 

„Hört auf, alle beide.“

Erst jetzt schien den beiden bewusst zu werden, dass wir alles mitbekommen hatten. Zumindest sahen sie peinlich berührt und schuldbewusst aus.

„Hört auf, euch gegenseitig anzuschreien und Vorwürfe zu machen. Wenn es euch wirklich um Jesse gehen würde, würdet ihr euren blöden Streit begraben und euch für ihn zusammenreißen. Ich höre mir das nicht länger an!“ Sie stieß ihren Stuhl zurück und rannte aus dem Zimmer. Walt starrte betreten in die Kerzenflamme, Marissa spielte abwesend an ihrer Halskette herum. Ich meinerseits schüttelte nur den Kopf und erhob mich ebenfalls.

„Wenn Sie nicht noch ein Kind verlieren möchten, hören Sie besser auf das, was sie sagt.“

Marissa verweigerte Blickkontakt zu mir. Aber es war mir egal. Ich glaubte nicht, dass ihr noch zu helfen war, dass sie sich jemals für ihre Familie ändern würde.

Zum zweiten Mal an diesem Tag nahm ich eine geeignete Fluchtmöglichkeit nicht wahr. Zwar wusste ich nicht, wo sich Bettys Zimmer befand, aber da das Haus nicht übermäßig groß war, hatte ich sie schnell gefunden. Ich klopfte an, während ich bereits die Tür öffnete. Eine Angewohnheit, die eigentlich meinen Eltern vorbehalten war. Jesses Schwester saß auf ihrem Bett und kritzelte in ein Notizbuch. Sie schrieb wohl Tagebuch. Ich hatte nicht die Gelegenheit, einen Blick auf die Worte zu werfen, da sie das Heft zuklappte, als ich eintrat.
 

„Hey.“ Sie brachte nur ein schwaches Lächeln zustande, und erinnerte mich dabei sehr an mich selbst.

„Hey.“ Ich schloss die Tür hinter mir und sah mich in ihrem Zimmer um. Es hing ein Bild an ihrer Wand, schwarz-weiß, ziemlich groß, und zeigte Zero auf der Bühne, eingehüllt von Sprühnebel, Jesse im Vordergrund. Es hatte etwas sehr dynamisches an sich.

„Das ist ein klasse Foto. Hast du das gemacht?“

Betty errötete schlagartig.

„Nein. Ich hab's von Kasper.“

Ich runzelte die Stirn.

„Von Kasper?“ So gut kannten sich die beiden doch gar nicht.

„Er wollte es den Jungs eigentlich geben, damit sie es als CD- Cover verwenden können. Aber dann... du weißt schon.“

Ich nickte und setzte mich zu ihr aufs Bett.

„Ja, ich weiß. Das Arschloch, das fremdgegangen ist.“

Noch immer wurde ich wütend, wenn ich daran dachte, wie Brandon meine Schwester verarscht hatte. Betty betrachtete nachdenklich das Poster, wobei sich eine Falte zwischen ihren Augen zeigte, die der ihres Bruders sehr ähnelte.

„Du weißt, dass Jesse das nie tun würde, oder?“ Offensichtlich hatte Jesse mit seiner Schwester über unseren Streit geredet.

„Ich weiß“, gab ich zurück. „Ich bin auch nicht deshalb sauer auf ihn.“

Ich glaubte wirklich nicht, dass Jesse etwas mit Amanda gehabt hatte, seit wir zusammen waren. Betty nahm ein Kissen in die Hände und presste es vor die Brust.

„Wieso dann?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Es ging eher um die Art und Weise, wie er sich verhalten hat. Das war nicht okay.“

Betty pustete eine dunkle Haarsträhne aus ihrem Gesicht und machte damit gleichzeitig klar, für wie überflüssig sie unsere Auseinandersetzung hielt.

„Könnt ihr das nicht einfach vergessen? Ist doch blöd, sich wegen sowas zu streiten.“ Sie hatte Recht, aber das wollte ich im Moment nicht zugeben. Ich stupste sie am Arm.

„Hey. Ich bin eigentlich hergekommen, um dich zu trösten.“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Nicht nötig. Ist ja nicht so, als wäre das der erste handfeste Streit, den ich mitkriege.“

Ich pulte an meinem Fingernagel, unter den sich ein Stück Schokotorte verirrt hatte.

„Streiten Sam und Marissa denn oft?“

Betty schüttelte den Kopf.

„Normal nicht. Aber vor drei Tagen sind ganz schön die Fetzen geflogen und seitdem ist er nicht mehr nach Hause gekommen.“

Ich musste mich daran erinnern, dass Sam Bettys und Gregs leiblicher Vater war. Es musste ziemlich verwirrend für sie sein, Jesses Dad mit ihrer Mutter zusammen zu sehen. Hatte sie auch denselben Eindruck wie ich, dass Marissa noch nicht über Walt hinweg war? Das wäre schrecklich.

„Das tut mir Leid.“

Das Einzige, was noch schlimmer war, als ein Paar, das sich trennte, war ein Paar, das nur wegen ihrer Kinder zusammenblieb.

„Schon okay. Mom hat nie einen Hehl daraus gemacht, Dad nicht so sehr zu lieben, wie er sie. Aber ich dachte schon, dass sie ihr Leben mit ihm verbringen will. Schließlich hat sie sich damals aus freien Stücken für ihn entschieden und Walt abgeschossen.“

Hatte Mary ihrer Tochter das so erzählt, damit sie nicht als die Verliererin dastand? Oder hatte Jesse mich angelogen? Wenn ich genau darüber nachdachte, konnte er nicht älter als fünf Jahre gewesen sein. Betty war dort noch nicht mal geboren. Also spielte ihm seine eigene Erinnerung womöglich einen Streich.

„Hat er sich seitdem gar nicht mehr gemeldet?“

Betty zog eine Feder aus ihrem Kissen und drehte sie in ihrer Hand.

„Doch, bei mir schon. Das wird schon wieder. Es ist alles nur ein bisschen viel in letzter Zeit.“

Da konnte ich ihr nur Recht geben. Für ihr Alter war Betty unglaublich tough. Aber sie war auch nur ein Jahr jünger als ich, fiel mir dann wieder ein. Aus einem plötzlichen Impuls heraus nahm ich sie in den Arm.

„Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn was ist, okay!?“

Betty nickte und zog mich dann nochmal in eine Umarmung.

„Danke, Lea.“
 

Als ich die Treppe hinunterschlich, haderte ich mit mir, ob ich den beiden Streithähnen noch auf Wiedersehen sagen sollte, oder ihnen vielleicht noch eine Standpauke auftischen sollte, wie unmöglich sie sich vor ihren Kindern verhielten. Aber einfach abzuhauen, schien mir doch die erträglichere Variante.

„Wie kannst du behaupten, ich wäre eine schlechte Mutter?“, drang Marissas Stimme zu mir in den Flur. Sie stritten noch immer, jetzt jedoch in gedämpfterem Ton.

„Hast du vergessen, was damals passiert ist? Muss ich dich wirklich daran erinnern?“
 

Ich sollte einfach gehen, diesen Ort verlassen und nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen. Mein Elternhaus kam mir auf einmal so friedlich und behütet vor. Aber die Neugierde siegte und ich blieb reglos stehen, froh, dass mich die beiden vom Wohnzimmer aus nicht sehen konnten.

„Natürlich habe ich es nicht vergessen. Wie könnte ich!“

Walt klang seltsam. Seine Stimme war belegt. Weinte er etwa? Ich wagte es nicht, einen Blick um die Ecke zu werfen. Marissa redete trotzdem weiter.

„Du warst so high, dass du nicht mal mehr von der Couch hochgekommen bist, hast die ganze Zeit vor dich hin gekichert und gesagt: Guck mal, wie tief er schläft. Er schläft wie ein Engel. Als wäre er direkt vom Himmel gefallen.“

Jetzt war ich mir sicher, ein Schluchzen zu hören. Aber ich konnte nicht eindeutig sagen, von wem es kam.

„Hör auf, Mary“, flehte Walt. Aber sie hörte nicht auf.

„Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich ihn da auf dem Boden liegen sah. Nicht schlafend, bewusstlos. Weil du ihn dein beschissenes Zeug hast rauchen lassen.“

Mir lief es kalt den Rücken herunter. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film, der eine absurde Wendung nahm. War dieser Moment wirklich? Waren ihre Worte wahr?

„Du hast ihm Drogen gegeben. Einem Vierjährigen!“

Irgendetwas ging zu Bruch. Es hörte sich nach einem Teller an. Ich hoffte inständig, dass Betty es nicht hörte. Zumindest kam sie nicht aus ihrem Zimmer. Vielleicht hatte sie einfach genug für heute.

„Ich habe ihn genommen und geschüttelt, während du auf dem Sofa lagst und mir sagtest, ich solle ihn doch schlafen lassen. Er hat sich nicht bewegt, war nicht ansprechbar. Du hast nicht mal bemerkt, wie der Jointstummel ihm die Haut versenkt hat. Du warst nicht mit im Krankenhaus und hast nicht gesehen, wie er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat. Wie er geschrien hat, minutenlang, und einfach nicht aufhören wollte.“ Ich hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und öffnete leise die Haustür, um schnell verschwinden zu können.

„Du hast unseren Sohn fast umgebracht und bist dann abgehauen, also mach mir keine Vorwürfe, weil er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Dazu hast du kein Recht.“

Als Schritte ertönten, schlüpfte ich nach draußen und rannte los, so schnell ich konnte.

Dunkle Vergangenheit und helle Zukunft

Mein Herz raste noch, als ich längst angehalten hatte. Ich lehnte mich an einen Baumstamm und versuchte, das Rauschen in meinen Ohren loszuwerden. Ich sah ihn vor mir. Jesse, als kleinen Jungen, wie er auf dem Boden lag. Reglos, den abgebrannten Stummel in seinen kleinen Fingern. Den kleinen verbrannten Fingern. Er hatte keine Narben, fiel mir ein. Wusste er das noch? Konnte er sich erinnern? Ich schielte hinüber zum Haus. Keine Ahnung, wie weit es war, aber ich war den ganzen Weg gerannt.
 

Marissas Worte schwirrten noch immer in meinem Kopf. Walt hatte seinem Sohn Drogen gegeben und ihn damit fast umgebracht. Jetzt wurde mir auch in vollem Maße bewusst, wieso Jesse seine Mutter so damit hatte ärgern können, dass er rauchte. Er wusste es doch? Oder glaubte er einfach nur, sein Vater hätte sie, mir nichts dir nichts, ohne jeden Grund verlassen – was zugegebenermaßen auch nicht viel besser wäre. Er hatte mir erzählt, er hatte damals Angst gehabt, wie seine Mutter zu werden, aber über seinen Vater hatte er nie ein Wort verloren. Was für eine verstörende Kindheit. Nicht nur, dass sein großer Bruder und seine kleine Schwester denselben Vater hatten, er war also mehr oder weniger das Kuckuckskind, und dann hätte ihn Walts Verantwortungslosigkeit beinahe das Leben gekostet. Zum ersten Mal verstand ich Marissa. Ich fragte mich, ob Walt freiwillig gegangen war, um seinen Sohn vor sich zu schützen, oder ob Mary ihn rausgeworfen hatte.
 

Konnte Greg sich erinnern? Er musste damals etwa zehn gewesen sein, Betty noch nicht einmal geboren. Mir schmerzte der Kopf von all diesen Gedanken. Mit mir selbst ringend, beobachtete ich das Haus.

Ich sah Gregs Auto, nicht jedoch Jesses. Konnte ich einfach dort hineinspazieren und alte Wunden aufreißen? Und was, wenn sie es nicht wussten? Ich würde mir wie eine Petze vorkommen. Ich würde vielleicht den letzten Faden an Verbindung zwischen Jesse und Walt zerstören, der noch bestand. Würde er mich dafür hassen, oder wollte er die Wahrheit wissen, egal wie schrecklich sie auch war? Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich das wollen würde.

Ich entschied mich für den Mittelweg: Erst einmal mit Greg darüber reden. Vielleicht konnte er mir sagen, was ich tun sollte. Mit weichen Knien ging ich zur Tür und fragte mich, ob ich überhaupt das Recht hatte, mich einzumischen. Meine Hand fand von ganz allein zur Klingel und entschied somit über meinen Kopf hinweg. Es war mir egal, ob Jesse noch sauer auf mich war, oder tatsächlich alles aus war. Die Wahrheit war im Moment wichtiger. Ich hoffte nur, er war nicht zuhause. Greg öffnete die Tür und sah mich überrascht an.

„Lea, du bist zu früh.“ Stirnrunzelnd sah ich auf meine Armbanduhr.

„Nein. Ihr seid zu spät. Zwei Stunden. Wollten wir uns nicht bei Marissa treffen?“ Ich sah Gregs Adamsapfel auf und ab springen.

„Ja, tut mir Leid. Wir waren schon so gut wie unterwegs, da hat Betty Bescheid gegeben, dass Walt auch da ist...“

Ich hörte jemanden in der Küche werkeln.

„Ist Jesse da?“

Greg schüttelte den Kopf.

„Gut“, sagte ich und betrat ohne Aufforderung das Haus. Mit einem schnellen Hallo lief ich an Lydia in der Küche vorbei und ging direkt ins Wohnzimmer, wo ich von einer Ecke in die andere tigerte. Jesses großer Bruder lehnte im Türrahmen und verfolgte mich mit den Augen.

„Alles in Ordnung?“

Ich blieb kurz stehen.

„Nein. Wir müssen reden.“

Greg deutete aufs Sofa.

„Willst du dich setzen? Du wirkst etwas durch den Wind.“

Lydia, die ihre Hände an einem Tuch abwischte, gesellte sich zu uns.

„Was ist denn los?“

Ich fuhr mir durchs Haar und imitierte somit Jesses Geste, wenn er nervös war.

„Es ist was sehr persönliches.“ Ich wusste selbst nicht, ob es gut war, wenn Lydia meine Geschichte mitanhörte.

„Soll ich lieber gehen?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Nein.“ Schließlich setzte ich mich doch hin und kam mir dabei vor wie ein Häufchen Elend.

„Geht es um Jesse?“, fragte Greg und warf Lydia einen Blick zu, der bedeuten sollte, sie könne ruhig bleiben. Ich nickte. Ging es bei mir nicht immer um Jesse?

„Und um seinen Vater.“

Die beiden setzten sich mir gegenüber und warteten geduldig, bis ich mit der Sprache rausrückte. Ich räusperte mich. Wo sollte ich anfangen?

„Also, ich war gerade bei Marissa. Walt kam auch, wie ihr ja schon wisst. Und die beiden haben sich ganz schön gefetzt.“

Greg verdrehte die Augen.

„Ist ja keine große Überraschung.“

Ich wischte meine feuchten Handinnenflächen an meiner Hose ab. Jetzt kam der entscheidende Teil.

„Na, jedenfalls bin ich dann irgendwann mit Betty nach oben, in ihr Zimmer. Und als ich später wieder runterkam, um mich rauszuschleichen, habe ich die beiden streiten hören. Ich wollte nicht lauschen, wirklich! Aber ich konnte nicht anders.“

Greg beugte sich nach vorn und stützte seine Ellbogen auf seine Knie.

„Was haben sie gesagt?“

Ich schluckte schwer, weil mein Mund so trocken war.

„Wenn ich etwas wirklich Schlimmes mitangehört hätte, würdet ihr es wissen wollen?“

Lydia griff nach Gregs Arm. Sie kam mit ihren feinen Händen nicht um seinen stattlichen Bizeps herum.

„Was hast du gehört, Lea?“ Greg sah mich an, als ahnte er, worum es ging.

„Ich habe gehört, wie sie über die Nacht redeten, als Jesse ins Krankenhaus musste. Die Nacht, aufgrund derer Walt gegangen ist.“

Greg seufzte und ließ die Schultern sinken.

„Du weißt es“, stellte ich fest. Er fuhr sich mit seiner großen Hand übers Gesicht.

„Ja. Ich habe damals den Streit gehört und habe von der Treppe aus alles beobachtet.“

Ich schlug die Hände vor den Mund. Mitanzusehen, wie der eigene Bruder dort lag, reglos, musste schrecklich gewesen sein.

„Es tut mir so Leid“, flüsterte ich und schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

„Das ist beinahe zwanzig Jahre her, Lea. Ich komme schon damit klar.“ Auch Lydia schien die Geschichte zu kennen, denn sie stellte keine Fragen.

„Tut mir Leid, dass du das mitanhören musstest.“ Ein Gedanke schreckte ihn auf. „Hat Betty es auch mitbekommen?“ Die Vorstellung schien ihm Angst zu machen.

„Nein. Sie war oben. Sie weiß es nicht“, beruhigte ich ihn. Ich holte tief Luft, um die entscheidende Frage zu stellen.

„Weiß es Jesse? Kann er sich erinnern?“

Greg nickte und wirkte niedergeschlagen.

„Mom hat keinen Hehl daraus gemacht, was für ein schlechter Vater Walt war. Ich schätze, sie wollte wohl sichergehen, dass Jesse nicht auf die blöde Idee kam, ihn zu suchen. Er war zwar noch klein, aber schon sehr entschlossen, hatte seinen eigenen Kopf. Er sagte immer wieder, jeder verdiene eine zweite Chance, dass er beim nächsten Mal den Joint einfach nicht annehmen würde. Als wäre es seine Schuld. Daraufhin hat unsere Mutter ihm haarklein erzählt, wie sie versucht hat, ihn wieder wachzukriegen, während Walt teilnahmslos auf dem Sofa lag, wie er die ganze Nacht geschrien hatte, und zeigte ihm die Brandnarbe an seinem Daumen.“ An seinem Daumen. Ich brauchte nicht zu fragen. Ich wusste, welcher. Mein Schatz. Also hatte dieses erste Tattoo doch mehr Bedeutung, als Jesse zugeben wollte. Lydia wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Bestimmt wollte sie ihn nur beschützen, aber das war einfach falsch.“ Ich musste mich selbst anstrengen, um nicht in Tränen auszubrechen. Der Kloß in meinem Hals wuchs und nahm mir die Luft zum Atmen.
 

„Und dann? Wie ging es weiter? Ist Walt einfach abgehauen und hat sich nie wieder blicken lassen?“

Walt liebte seinen Sohn, das hatte ich heute gesehen. Ebenso wie Marissa ihn liebte, auch wenn sie es nur auf ihre sehr verquere Art zeigen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Walt seinen Sohn einfach so aufgegeben hatte.

„An Weihnachten tauchte er wieder auf, als Weihnachtsmann verkleidet, mit einem Sack voller Geschenke für Jesse und mich.“ Eine Zeit lang war Walt auch Gregs Vater gewesen. Bestimmt war es für ihn auch nicht leicht gewesen, ohne ihn. „Aber Mom ließ ihn nicht rein. Er beteuerte, er sei seit Wochen clean und würde seine Kinder nie wieder solch einer Gefahr aussetzen. Er entschuldigte sich tausendmal, bat darum, uns wenigstens an den Wochenenden sehen zu dürfen. Aber sie ließ sich nicht erweichen und drohte ihm mit Polizei, sollte er sich je wieder blicken lassen.“

Greg wirkte müde. All das war zwar schon ewig her, aber solche Momente vergaß man nie. „Ich weiß noch, wie ich am Küchenfenster stand und alles mitbekam. Damit Jesse es nicht sah, hatte ich ihm erlaubt, schon sein erstes Geschenk zu öffnen. Dafür habe ich später übrigens ganz schön Ärger bekommen.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil mir plötzlich kalt wurde, von innen heraus.

„Also glaubt Jesse bis heute, dass sein Vater sich einen Dreck um ihn schert.“

Greg zog die Nase hoch.

„Naja, ich habe damals nichts gesagt, weil... Ihr wisst schon. Als Kind fällt man seiner Mutter nicht in den Rücken. Aber ein paar Jahre später, als ich im rebellischen Teeniealter war und Jesse einen Brief seines Vaters zerriss, ohne ihn gelesen zu haben, erzählte ich ihm die Wahrheit. Nur glaubte er mir da nicht mehr. Es war zu spät. Mom hatte ihn schon davon überzeugt, dass Walt ein gefühlloses Monster ist.“

Ich stand auf, konnte nicht mehr ruhig sitzen.

„Manchmal würde ich sie gerne nehmen und... keine Ahnung... schütteln, bis das, was bei ihr kaputt ist, wieder einrenkt.“ Ich sah zwar Lydia schmunzeln, dennoch bereute ich, vor Greg so von seiner Mutter zu reden.

„Tut mir Leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.“

„Entspann dich. Das ist nichts, was ich mir nicht schon selbst überlegt hätte.“

Lydia stand auf und hakte mich bei sich ein.

„Was meinst du: Ich nehme ihre linke Seite, du die rechte?“

Ich lächelte, auch wenn mir eigentlich nicht danach war. Gregs Verlobte warf einen Blick auf die Uhr.

„Bleibst du zum Essen? Jesse sollte auch bald zurück sein.“

Bei der Vorstellung von uns beiden im selben Raum zog sich bei mir alles zusammen – und nicht nur auf die angenehme Weise.

„Ähm. Nein. Ich glaube, besser nicht.“

Lydia sah mich mit Schmollmund an.

„Ach, komm schon. Ich habe etwas Leckeres gekocht.“

Greg sah seine Freundin stirnrunzelnd an.

„Ich glaube nicht, dass es dein Essen ist, worüber sich Lea Sorgen macht, Süße.“

Lydia seufzte und pustete sich ihr Pony aus der Stirn.

„Ihr solltet das endlich mal klären. Jesse ist nicht mehr sauer auf dich.“ Er sauer auf mich? Das wäre ja noch schöner! Ich war hier diejenige, die das Recht hatte, sauer zu sein.

„Ach ja? Das soll er mir selber sagen.“ Ich wollte wirklich noch sauer auf ihn sein, aber mit der Geschichte von eben im Hinterkopf gestaltete sich das überaus schwierig. Das war nicht fair.

„Dann bleib doch.“

„Nein, ich muss wirklich nach Hause.“

Ich sah die Enttäuschung in den Gesichtern der beiden.

„Aber sagt Jesse, ich würde mich über einen Anruf freuen, okay?!“

Wieso ließ ich mich eigentlich immer erweichen?
 

Ich war unglaublich nervös und knetete den Strauß Blumen in meiner Hand, als wäre er mein einziges Rettungsseil, während der Aufzug nach oben fuhr. Ich musste zwar nur ein Stockwerk weiter, aber ich fühlte mich wackelig auf den Beinen und hatte Angst, mich zu verlaufen. Eigentlich hatte ich mir die Einrichtung, in der Natalie untergebracht war, mehr wie ein Gefängnis vorgestellt. Ein blöder Gedanke. Aber dieses wunderschöne Anwesen, dreistöckig, wie ein altes Herrenhaus, edel und einladend, mit gelber Fassade und weißen Fensterläden, mitten im Grünen, hatte ich auf jeden Fall nicht erwartet.

Es war noch früh, man konnte die Vögel zwitschern hören und den Tau auf den Blumenbeeten, die das Gebäude umsäumten, glitzern sehen. Es war wahrscheinlich keine schlechte Idee, an einem Ort, an dem alle Patienten schon genug mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen hatten, die Stimmung nicht noch zusätzlich durch hässliches Gemäuer und einen trostlosen, kahlen Garten zu trüben. Vielleicht hätte ich herkommen sollen, als mich meine Depressionen übermannten. Aber niemand außer mir hatte meine Krankheit damals wirklich einsehen wollen. Eine schwierige Phase, klar, ich war eben nicht gut drauf. Pubertär und rebellisch. Wer konnte das einem Mädchen im besten Teenager-Alter schon verübeln. Aber ich hatte es gegoogelt: Woran erkennt man Depressionen? Viele Symptome kamen mir bekannt vor. Ich füllte sogar einen Fragebogen aus, der einem klarmachen sollte, ob man professionelle Hilfe benötigte. Er war eindeutig ausgefallen. Natürlich zeigte ich ihn niemandem, habe ich bis heute nicht. Die Vorstellung, dass es mit mir auch ganz anders hätte ausgehen können, jagte mir eine Gänsehaut über Nacken und Arme. Doch ich hatte nochmal die Kurve gekriegt. Ich war nicht nur über dem Berg, ich war glücklich. Und ich wusste genau, wem ich das zu verdanken hatte.

Ich atmete tief durch und sammelte mich, als ich vor der Zimmernummer einunddreißig stehen blieb, die mir die Dame am Empfang angegeben hatte. Ihr Name stand auf dem kleinen Schild neben der Tür. Hier war ich richtig. Nur noch durch eine Wand von Natalie getrennt zu sein, war ein komisches Gefühl. Nervosität mischte sich mit Vorfreude, und Vorfreude mit Angst. Was, wenn wir uns auseinandergelebt hatten, nicht mehr zueinander passten? Vielleicht stand gleich eine völlig fremde Person vor mir, die ich nicht einschätzen konnte, mit der ich keine Gemeinsamkeiten hatte, über deren Witze ich nicht lachen konnte. Auch die Vision eines abgemagerten Körpers, der nicht viel mehr war als ein Skelett, überzogen mit Haut, schoss mir durch den Kopf. Aber es ging ihr ja besser. Sie würde bald entlassen werden. Also war alles in Ordnung. Nur meine Fantasie spielte mir wieder einen gemeinen Streich.
 

Ich wünschte, Jesse wäre hier und würde meine Hand halten. Scheiß auf den Streit. Er war dumm und überflüssig. Ich hatte gelernt, was es hieß, einen wichtigen Menschen beinahe zu verlieren. Dieses Risiko wollte ich nicht nochmal eingehen.

Die Tür wurde bereits nach dem zweiten Klopfen aufgerissen, sodass ich mich fragte, ob Natalie schon direkt dort gestanden und gewartete hatte. Als Erstes sah ich ihr strahlendes Lächeln. Genau wie früher. Auch ihre leuchtenden Augen wirkten so klar und offen wie immer.

„Lea. Du bist da. Ich freue mich so.“

Im nächsten Moment fand ich mich in einer herzlichen Umarmung wieder. Die Blumen wurden zwischen uns zerquetscht. Nat war ein ganzes Stück größer als ich und ihre Arme waren genauso schlaksig und lang wie bei unserer ersten Begegnung. Ich drückte sie an mich und war froh, nicht nur Haut und Knochen zu spüren. Tatsächlich stellte ich fest, dass wir beide inzwischen beinahe dieselbe Statur hatten.

„Du siehst klasse aus.“

Sie hielt mich auf Armeslänge von sich und nickte anerkennend. Ich trug die schwarze Lederhose, weil ich gehofft hatte, sie würde mir etwas Selbstvertrauen verleihen. Und das tat sie. Ich lächelte.

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben!“

Sie sah gesund aus. Richtig gesund und glücklich.

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“

Ihr langes blondes Haar war noch länger geworden und reichte ihr nun fast bis zum Hintern. Sie trug es offen und einzelne Strähnen flatterten bei jeder ihrer Bewegungen hin und her. Mir wurde bewusst, wie nervös sie war. Ich nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen.

„Herrje, du bist ja genauso aufgeregt wie ich.“

All meine Befürchtungen waren umsonst gewesen. Es fühlte sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Ihre Hand in meiner fühlte sich so vertraut an. Kein krampfiges Verhalten, kein blödes Gestotter. Nur die Aufregung. Wir lachten und hörten uns beinahe gleich an. Das hatte sich über die Jahre wohl so entwickelt.

„Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du kommen würdest. Jetzt bin ich so erleichtert.“

Ich gab ihr die Blumen, die ich beinahe vergessen hatte.

„Die machen's wohl nicht mehr lange“, sagte ich bei dem Anblick der zerdrückten Blüten.

„Ich finde sie wunderschön!“ Natalie nahm ein Glas und hielt es unter den Wasserhahn – sie hatte ein Waschbecken in einer Ecke des Zimmers.

„Ich habe leider keine Vase, also...“

Ich winkte ab und sah mich um. Der Raum war nicht riesig, aber hübsch. Es gab einen Kleiderschrank, ein großes Bett und einen Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster stand. Von hier aus hatte sie Aussicht auf ein kleines Waldstück.

„Hübsch hast du es hier.“ Ich sagte es nicht nur aus Nettigkeit, das Zimmer gefiel mir wirklich. Aber trotzdem fehlte irgendetwas. Ein Detail, das ich nicht benennen konnte.

„Es gibt keinen Spiegel.“ Sie hatte meinen inspizierenden Blick bemerkt.

„Als ich das erste Mal hier drin war, kam es mir auch so vor, als würde irgendetwas fehlen. Aber ich konnte nicht gleich sagen, was es war. Ich habe zwei geschlagene Stunden gebraucht, um daraufzukommen.“

Wir hatten die Fähigkeit nicht verloren, uns ineinander hineinzuversetzen.

„Wow. Das ist... Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das finden soll.“ Ich trat ans Fenster und sah nach unten auf eine große Terrasse mit mehreren Sitzmöglichkeiten. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, wo ich hier war, ansonsten hätte ich glauben können, ich wäre im Urlaub.

„Es ist hilfreich.“ Nat stellte sich neben mich und sah ebenfalls hinaus. „Und absolut nervig. Wollen wir rausgehen? Das Wetter ist so schön.“

Ich nickte überschwänglich.

„Ja, gern.“
 

Außer uns war niemand draußen, was mich ziemlich wunderte.

„Die meisten sind beim Baden. In der Nähe des Waldes gibt es einen kleinen Tümpel.“ Sie rümpfte die Nase. „Mich würden da keine zehn Pferde reinkriegen. Das Wasser ist so trüb, dass man nicht mal den eigenen Körper sieht, wenn man darin schwimmt.“ Die Vorstellung ließ uns beide erschaudern.

„Na lecker.“

„Ja. Aber sonst ist es echt schön da. Ich war dort oft mit Angus.“

Beim Erwähnen seines Namens stahl sich ein breites Grinsen auf ihre Lippen.

„Er muss ja ein toller Typ sein. Erzähl mal. Wie ist er so?“

Ich würde jeden Kerl vergöttern, der Natalie über – ich will seinen Namen nicht in den Mund nehmen – IHN hinweggeholfen hatte. Also hatte Angus so oder so einen Stein bei mir im Brett.

„Er macht viel Sport. Weil er es mit der gesunden Ernährung etwas übertrieben hat, ist er hier gelandet. Er kam erst nach mir an. Eigentlich musste er eher lernen, weniger zu trainieren, als mehr zu essen.“

In meinem Kopf bildete sich aus irgendeinem Grund ein Bild von einem drahtigen Balletttänzer mit engen Strumpfhosen und blutigen Zehen.

„Was für Sport treibt er denn?“, fragte ich, um dieses Bild schnellstmöglich loszuwerden. Natalie zählte an den Fingern ab.

„Leistungsturnen. Kajakfahren. Marathonlaufen. Und Schwimmen.“

Der Balletttänzer verformte sich in einen muskulösen, etwas kleineren Typen mit breiten Schultern und schmalen Hüften.

„Hast du ein Foto?“

Sie kramte in ihrem Geldbeutel nach einem gefalteten Polaroid. Es zeigte sie beide auf einer Picknickdecke auf einer Wiese. Sie lächelten breit in die Kamera, Nat hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Er sah vollkommen normal aus. Kurz geschorene, dunkelblonde Haare, ein nettes Lächeln und etwas kleine, braune Augen. Seine Arme waren muskulöser und auch die für Turner übliche Nacken- und Schultermuskulatur war gut ausgeprägt. Ich konnte ihn mir an diesem Ort gar nicht vorstellen. Er passte nicht hierher. Ich hatte vorhin auf dem Flur ein paar andere Gestalten gesehen, die ungesund aussahen, mit blasser, beinahe durchschimmernder Haut, hängenden Schultern und dürren Gliedern. Aber wie Natalie in ihrem Brief geschrieben hatte: Es war wohl ein Vorurteil, dass nur Mädchen, und Menschen die aussahen, als wären sie kurz vor dem Hungertod, eine Essstörung hatten.

„Er sieht sympathisch aus.“

„Ist er. Sehr charmant. Er will dich unbedingt kennenlernen.“

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Mich? Wieso das denn?“

Sie zuckte unschuldig die Achseln.

„Ich habe vielleicht ein oder zwei Worte über dich verloren.“

Sie biss sich auf die Zunge und grinste.

„Ja, Jesse hat auch -“ Ich verstummte mitten im Satz. Ich hätte ihn nicht erwähnen sollen. Jedoch war mir durchaus bewusst, dass Natalie irgendwann bestimmt auf das Thema zu sprechen gekommen wäre.

„Was hat Jesse auch?“, hakte meine ehemals beste Freundin nach – wahrscheinlich war sie es immer noch, teilte sich jetzt den Platz mit meiner Schwester.

„Ach, nichts.“ Ich wollte wirklich keine schlechte Laune verbreiten, deshalb wimmelte ich das Thema ab. „Dein Bruder ist ein verdammt guter Fotograf geworden. Hat er dir schon mal Bilder gezeigt?“

„Ja, von Zero zum Beispiel.“ Sie ließ mich das Thema nicht abhaken.

„Er hat mir auch gesagt, welcher Jesse ist.“ Sie pfiff leise.

„Lea, da hast du echt einen guten Fang gemacht.“

Ich unterdrückte ein Seufzen.

„Sollte man meinen“, sagte ich mehr zu mir selbst, aber Natalie ging sofort darauf ein.

„Was ist los?“

Fast hätte ich gesagt, ich wolle nicht darüber reden und es ginge sie überhaupt nichts an. Aber ich war schließlich hergekommen, um unsere Freundschaft wiederherzustellen. Und das funktionierte nur, wenn ich über meinen Schatten sprang und mich ihr anvertraute.

„Ärger im Paradies.“ Ich nahm einen Schluck von dem selbstgemachten Eistee, den wir von einer netten Dame in der Kantine bekommen hatten.

„Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wo ich anfangen soll. Es lief eigentlich alles super, bis zu seinem Geburtstag. Ich habe ziemlich Scheiße gebaut. Ich war mit seiner Tochter in der Küche und habe kurz nicht aufgepasst und da hat sie sich in den Finger geschnitten.“

Wer Kelly war, musste ich glücklicherweise nicht mehr erklären. Das hatte ich schon in einem meiner Briefe getan. Doch von dem Unfall zu reden, machte mir schon wieder ein schlechtes Gewissen.

„Es war zwar nicht so schlimm, aber es hat ziemlich heftig geblutet und Jesse ist total ausgerastet. Ich meine, ist ja verständlich. Er hatte natürlich Angst um seine Tochter.“

Natalie nickte zustimmend und kratzte sich am Kopf. Irgendwie wirkte sie nervös. War dieser Vorfall doch schlimmer, als ich zunächst angenommen hatte? Schockierte sie diese Geschichte so sehr?

„Naja, jedenfalls sind sie ins Krankenhaus gefahren und ich dachte, er sei ultra sauer auf mich. Aber am selben Abend habe ich mich noch bei ihm entschuldigt und er hat gesagt, es sei okay.“ Ich trank noch einen Schluck, weil mein Mund so trocken wurde. Die Angst, dass ich alles vermasselt hatte, stieg wieder in mir auf. „Am nächsten Tag haben wir dann eine seiner Verflossenen getroffen und ich bin total ausgetickt. Wir haben uns gestritten und angeschrien, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.“ Den Zwischenfall mit Jesses Eltern ließ ich erst mal weg. Es war auch so schon genug.

„Ich habe alles kaputtgemacht. Ich bin so ein Idiot!“

„Nein, hast du nicht.“ Natalie schüttelte den Kopf. Sie wollte mich aufbauen und trösten, was echt nett war. Aber sie kannte Jesse nicht. Sie hatte unseren Streit nicht miterlebt.

„Doch, habe ich. Glaub mir.“
 

Natalie ließ von ihrem Glas ab und beugte sich leicht über den Tisch.

„Tut mir Leid. Ich kann den Mund einfach nicht halten. Ich hab's versprochen, aber wenn ich sehe, wie fertig du dich machst, halte ich das echt nicht aus.“

Das Fragezeichen in meinem Gesicht musste Rekordgröße haben.

„Wovon redest du?“

Natalie atmete tief durch und gab damit ihren letzten Widerstand auf.

„Es ist nicht zu spät. Ich weiß, dass nicht alles verloren ist, weil er es mir selbst gesagt hat.“

Mir war klar, was sie da gerade sagte, aber ich verstand es nicht.

„Er war hier“, erläuterte Nat. „Er war hier und hat mit mir gesprochen.“ Das Einzige, was mir dazu einfiel war: „Wann?“

„Es muss kurz nach eurem Streit gewesen sein. Am Dienstag.“

Ich schüttelte den Kopf. Mir hatte es echt die Sprache verschlagen.

„Wir haben über euren Streit geredet. Erst mal hat er sich mir vorgestellt und praktisch seine gesamte Lebensgeschichte vor mir ausgebreitet. Das mit Kelly und Eleonore. Die Probleme mit seiner Mutter. Aber hauptsächlich war er wegen dir hier. Er wollte wissen, ob ich ihm helfen würde, alles wieder hinzukriegen.“

Ich schnappte ungläubig nach Luft. Hatte Jesse das wirklich getan? Kam extra hierher, weil er wusste, dass Natalie mich wie keiner sonst kannte, zog sich - metaphorisch gesprochen - bis auf die Unterhose vor ihr aus. Aber das Beste an der ganzen Sache: Auch er wollte alles wieder ins Lot bringen. Er wollte noch immer mit mir zusammen sein. Ich spürte, wie ein Knoten in meiner Brust platzte und fühlte mich sofort leichter.

„Was hast du ihm gesagt?“

Jetzt überkam Natalie Verschwiegenheit.

„Das werde ich dir ganz bestimmt nicht verraten. Nur so viel: Du wirst ihm garantiert um den Hals fallen.“

Dieses Wechselbad der Gefühle war unerträglich. Erst war ich traurig wegen Jesse, dann erschüttert wegen seiner Eltern, dann erleichtert, weil mit Natalie alles so gut klappte, und jetzt völlig aufgeregt aufgrund der hoffentlich bald bevorstehenden Versöhnung mit Jesse.

„In Natura sieht er übrigens noch besser aus.“

Ich könnte Natalie löchern und ihr entlocken, was sie genau besprochen hatten. Aber eigentlich wollte ich mir die Vorfreude und die Überraschung gar nicht nehmen lassen.

„Ich weiß“, sagte ich deshalb nur, konnte jedoch ein breites Grinsen nicht zurückhalten. Natalie seufzte theatralisch.
 

„Eigentlich schade. Ich dachte immer, du hättest eine Schwäche für meinen Bruder. Hättest du dir Kasper geschnappt, wären wir so was wie Schwestern.“

Ich schnalzte mit der Zunge.

„Tja, vor zwei, drei Jahren hätte ich sofort Ja gesagt, hätte er mich um ein Date gebeten. Jetzt ist es leider zu spät.“

Wie froh war ich, dass es nicht so gekommen war. Sonst hätte ich Jesse niemals kennen -, oder zumindest nicht lieben gelernt. Auch wenn alles verdammt verkorkst und kompliziert war, wollte ich um nichts auf der Welt einen anderen.

Natalie und ich plauderten bis in die frühen Abendstunden und als sich der Himmel langsam orangerot färbte, verabschiedeten wir uns herzlich und versprachen, bald wieder zu schreiben, oder uns zu treffen.
 

Als ich im Auto saß und den ereignisreichen Tag Revue passieren ließ, fiel mir auf, dass wir kein einziges Wort über die vergangene Funkstille verloren hatten. Nicht, weil uns das Thema unangenehm war, sonder weil wir es bereits überwunden hatten. Wir hatten beide eine dunkle Zeit durchgemacht, aber wir hatten uns unabhängig voneinander wieder aufgerappelt. Wir hatten unsere eigenen Leben und waren dennoch miteinander verbunden. Das war ein gutes Gefühl.

Ein ebenso gutes Gefühl hatte ich, wenn ich an Jesse dachte. Noch immer konnte ich es nicht fassen, dass er zu Natalie gegangen war, um sie um Rat zu bitten. Das zeigte mir, wie wichtig ich ihm war. Und weil ich an unserem Streit genauso beteiligt gewesen war wie er, wollte ich mir etwas überlegen, um es wiedergutzumachen. Ich hatte auch schon eine Idee. Aber dazu benötigte ich Tammys Einverständnis.

In letzter Zeit sahen wir uns nicht mehr so häufig, da sie viel mit Jen um die Häuser zog, um Brandon zu vergessen. Ich hatte ihr nichts von meinen Schwierigkeiten mit Jesse erzählt, weil ich sie nicht zusätzlich belasten wollte. Sie hatte mir in der Vergangenheit so viel gegeben, da hatte sie jetzt etwas Ruhe und Frieden verdient. Zumindest wollte ich nicht mehr der Auslöser für ihre Sorgen sein. Glücklicherweise war sie heute Abend zuhause. Ich klopfte mit dem Fuß an ihre Zimmertür, weil ich in den Händen die inzwischen zur Routine gewordenen Tassen trug, aus denen heißer, süß duftender Kakaogeruch aufstieg.
 

„Komm rein.“ Tammy nahm das Getränk freudig entgegen. „Danke dir.“ Sie klappte das Buch zu, das sie gerade las. Irgendeine abstruse Geschichte über einen uralten Greis, der in der Welt herumschipperte, und einen Elefanten. Sie sah mich auffordernd an, während sie an ihrem Kakao pustete. Ich meinerseits verwendete ebenfalls ein nonverbales Kommunikationsmittel und hob meine Augenbrauen.

„Muss ich dir das echt aus deiner gepiercten Nase ziehen?“

Ich hatte mir übrigens nicht wirklich ein Loch stechen lassen. Es war nur ein abnehmbares magnetisches Piercing. Bisher hatte ich das aber noch keinem verraten und fand die Reaktionen äußerst amüsant.

„Wie war's?“

Ich lächelte breit. Wenn ich meinen aktuellen Gemütszustand beschreiben müsste, wäre die Antwort: Glücklich. Genau in diesem Moment war ich glücklich.

„Es lief prima“, sagte ich und nahm erst einmal einen großzügigen Schluck aus meiner Tasse, um meine Schwester auf die Folter zu spannen.

„Ist das alles, was ich kriege? Jetzt erzähl schon!“ Sie stupste mich am Bein und ich musste über ihre Ungeduld lachen. Dabei erinnerte sie mich ziemlich an Kelly, auch in dem trotzigen Blick, den sie mir jetzt zuwarf.

„Das Haus ist wunderschön.“ Ich wollte nicht Anstalt oder Klinik sagen., das klang so negativ. „Es hat sich angefühlt wie Urlaub. Und Natalie geht's sehr gut. Sie kann wohl bald entlassen werden. Das heißt, eigentlich dürfte sie inzwischen selbst bestimmen, wann sie nach Hause geht, aber die Ärzte raten ihr, noch ein bisschen zu warten, zur Sicherheit. Im Alltag wird es dann nochmal schwieriger, daran muss sie sich erst wieder gewöhnen. Aber sie sieht echt klasse aus, richtig gesund. Und irgendwie... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Lebensfroh, ja, das trifft es am ehesten. Wir haben uns super verstanden. Es war fast wie früher. Ich habe mich total wohlgefühlt mit ihr.“

Tammy nahm meine Hand und drückte sie.

„Das freut mich so für dich. Für euch beide. Ich, eigentlich wir, also Mom und Dad auch, waren ehrlich gesagt ein bisschen besorgt, ob dir das wirklich guttut.“ Sie atmete tief aus, als würde ihr eine schwere Last von den Schultern fallen.

„Ich weiß. Tut mir Leid, dass ihr euch immer so viele Sorgen um mich macht. Aber mir geht es fantastisch. Wirklich.“ Ich wollte sie auf Brandon ansprechen, ob sie ihn inzwischen abgehakt hatte, aber ich wollte keine alten Wunden aufreißen.

„Wie war die Party am Wochenende?“, fragte ich stattdessen. Vielleicht erzählte sie ja etwas über einen neuen Kerl, den sie interessant fand.

„Oh. Wir sind gar nicht ausgegangen. Wir haben uns eine Schnulze reingezogen und sind um halb zwölf eingepennt.“

Ich war froh, Jen an Tammys Seite zu wissen. Da ich viel zu beschäftigt mit mir selbst war, brauchte sie ein offenes Ohr und eine starke Schulter.

„Wir sollten mal wieder zusammen weggehen. Wir drei, meine ich. Das letzte Mal ist schon viel zu lange her.“ Ich sagte das nicht nur, um sie auf andere Gedanken zu bringen, ich vermisste wirklich unsere gemeinsamen Abende.

„Bist du nicht viel zu beschäftigt damit, verliebt zu sein?“

Eine Sekunde lang überlegte ich ernsthaft, ihr die Wahrheit zu sagen, das ganze Chaos vor ihr auszubreiten, aber ich schluckte es herunter. Das hatte Zeit. Außerdem hatte ich ja vor, mich mit Jesse zu versöhnen.

„Hey, wo wir gerade davon reden. Hast du noch deine Gitarre, du weißt schon, die du von Dad zum Geburtstag gekriegt hast.“

Tammy runzelte die Stirn.

„Stimmt. Zum zwölften, glaube ich. Das hätte ich fast vergessen. Ich habe sie nie angerührt. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wo sie ist. Wahrscheinlich im Keller.“

Ich nahm ihre Hand, wohlwissend, dass ich nicht das Recht hatte, sie erneut um einen Gefallen zu bitten.

„Kann ich sie haben? Ich gebe dir auch das Geld dafür.“

So eine Gitarre war verdammt teuer, das wusste ich. Instrumente waren eine kostspielige Anschaffung. Zwar hatte ich keine Ahnung, wie ich Tammy bezahlen sollte, aber endlich hatte ich ein Geschenk, über das sich Jesse bestimmt freuen würde, und für das ich mich nicht schämen musste. Tammy winkte ab.

„Du musst mir das Geld nicht geben. Ich kann sie sowieso nicht gebrauchen. Bei Jesse ist sie bestimmt in besseren Händen.“

Erstaunt sah ich sie an.

„Woher wusstest du -“

Meine Schwester grinste nur und zuckte mit den Schultern.

„Komm schon, Lea. Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Was ist aus deinem Geschenk geworden? Hat es ihm nicht gefallen?“

„Der Gutschein hat anderweitig Verwendung gefunden“, sagte ich ausweichend. Tammy schlug eine Hand vor den Mund.

„Oh mein Gott, bitte sag mir nicht, ihr habt euch so ein bescheuertes Pärchen-Tattoo stechen lassen.“

Ich schüttelte lachend den Kopf.

„Nein, nicht direkt. Needle macht auch Piercings.“ Ich tippte an meine Nase, in der der falsche Piercing steckte. „Ich habe ihm den Gutschein nicht gegeben. Irgendwie fand ich die Idee plötzlich doof.“ Ich löste den Magnetstecker, wischte ihn an meiner Hose ab und zeigte ihn meiner Schwester.

„Der ist gar nicht echt“, erkannte sie, während sie ihn fasziniert in den Händen drehte. „Mach ihn wieder rein. Er passt irgendwie zu dir.“

Ich stand auf und stellte mich vor ihren Kleiderschrank, an dessen Mittelteil ein Spiegel war, und steckte den Piercing an die Nase. Noch immer fühlte es sich komisch an, etwas in der Nasenhöhle zu haben, aber man gewöhnte sich schnell daran. Needle hatte recht. Mir stand dieser kleine Schmuckstein wirklich ausgezeichnet. Er hatte mir geholfen, ihn auszusuchen. Trotzdem würde er mich niemals zu einem echten Loch überreden können.

Ich beschloss, den Piercing zu tragen, wenn ich zu Jesse ging, um ihn ein wenig zu ärgern. Natürlich wollte ich mich wieder mit ihm versöhnen, aber sein Gesicht wollte ich um nichts auf der Welt verpassen. Ich drehte mich um und gab meiner Schwester einen Kuss auf die Wange.

„Danke für die Gitarre. Ich lasse mir was einfallen, um das wiedergutzumachen.“

Tammy winkte ab und meinte, wir wären quitt, wenn ich ihr bis zum Ende ihres Lebens jeden Abend einen Kakao ans Bett brachte.

„Das lässt sich einrichten“, ließ ich mich auf den Deal ein und umarmte sie.

„So. Und jetzt wünsch mir Glück. Ich rede mit Mom und Dad und sage ihnen, dass sie um hundert Ecken irgendwie Großeltern sind.“

Diesen Entschluss hatte ich auf der Fahrt gefasst. Wenn ich wieder mit Jesse zusammen sein wollte - um Himmels Willen, ich hoffte, wir waren momentan nicht wirklich getrennt – durfte es keine Geheimnisse mehr geben. Mir war durchaus bewusst, die beiden damit ziemlich zu schockieren und bestimmt würden sie mich bitten, mir das Ganze nochmal gut zu überlegen. Aber genau das war nunmal das Leben, das ich führen wollte. Sie waren Teil meiner Familie. Jesse und Kelly. Greg, Lydia und Betty. Helen und Pete. Und auch mit Walt und Marissa würde ich mich irgendwie arrangieren. Ich wollte das. Genau das. Mit Leib und Seele. Nichts und niemand konnte mich davon abbringen. Auch nicht meine Eltern.

Eine Hüpfburg?

Rastlos ging ich in meinem Zimmer auf und ab, während es am anderen Ende der Leitung tutete. Ich zählte stumm mit.

Eins. Zwei. Drei.

Mein Herz klopfte wild, so aufgeregt war ich. Hoffentlich überschlug sich meine Stimme nicht gleich, wenn ich sprach.

Vier.

„Hallo?“ Es tat so gut, seine Stimme zu hören. Wie sehr hatte ich diesen Klang vermisst. Er wirkte überrascht, ein Lebenszeichen von mir zu erhalten.

„Hallo, Jesse.“ Ich musste mich stark zurückhalten, um nicht vor Sehnsucht zu zerfließen. Ich hatte mir zwar die Worte zurechtgelegt, die ich ihm sagen wollte, aber jetzt war alles wie weggeblasen. Mein Kopf war leer. Ich konnte nur daran denken, dass ich am liebsten sofort ins Auto steigen wollte, um ihn zu sehen.

„Wie geht's dir?“

Ich war ihm so unendlich dankbar, die peinliche Stille zu unterbrechen, weil ich keine Worte fand. Ich räusperte mich mehrmals, um mich wieder in den Griff zu bekommen, und haute mir ein Kissen ins Gesicht, was er glücklicherweise nicht sehen konnte.

„Gut. Ja, mir geht's gut.“ Das war erbärmlich. Ich war erbärmlich. Wie sollten wir uns so wieder versöhnen? Ich könnte genauso gut über das Wetter reden oder den Mückenstich in meiner Kniebeuge, der mich seit zwei Tagen plagte, weil er nicht aufhörte, zu jucken.

Konzentrier dich, ermahnte ich mich in Gedanken.

„Jetzt, wo ich deine Stimme höre“, fügte ich verspätet hinzu. In diesem Moment lächelte er. Hundertpro. Ich wusste es einfach. Er lächelte und schüttelte dabei den Kopf.

„Es ist auch schön, dich zu hören.“

Ich atmete tief durch, um endlich das loszuwerden, was ich ihm die ganze Zeit schon sagen wollte.

„Ich habe es meinen Eltern gesagt. Das mit Kelly. Ich habe ihnen alles erzählt. Naja, die Kurzfassung, natürlich. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen.“ Ich unterbrach mich selbst, weil ich mich in Rage redete.

„Ich hoffe, das ist okay für dich.“

„Natürlich ist es okay.“

Mit der Antwort hatte ich gerechnet, war aber trotzdem erleichtert, als er es sagte.

„Gut. Ich wollte nämlich reinen Tisch machen, bevor wir... Ich meine, bevor ich... Naja.“ Und ich wollte Sprachwissenschaften studieren. Klar, so wortgewandt, wie ich war.

„Hey. Ganz ruhig. Atme tief durch. Und dann sag, was du sagen willst.“

Es war so süß von ihm, mir gut zuzureden. Nach allem, was vorgefallen war. Aber wie konnte er die Ruhe selbst sein? War er nicht ebenso aufgeregt und nervös wie ich?

„Weißt du nicht längst, was ich sagen will?“ Immerhin kannte er mich gut. In der Leitung war es für einige Sekunden still.

„Doch. Aber ich möchte es hören. Ich will, dass du es sagst.“

Aha. Ein kleiner Sadist steckte also doch noch in ihm.

„Jesse“, quengelte ich. War nicht er derjenige gewesen, der die große Versöhnung geplant hatte? Natalie hatte mich doch nicht angelogen, oder? Nein, das würde sie nicht tun. Aber hier stand ich nun, kaute auf meinem Daumennagel und rang mit mir, ob ich es ihm wirklich so leicht machen sollte. Ich starrte mich im Spiegel an und schalt mich einen Feigling.

„Okay, war nett, mit dir zu reden.“ Wollte er etwa auflegen?

„Was? Nein, nein. Warte“, rief ich hektisch. Bei seinem Lachen verengten sich meine Augen zu Schlitzen. Schade, dass er mich jetzt nicht sehen konnte.

„Sehr witzig, wirklich.“ Ich war erleichtert, weil er die Situation so locker sah. Diese Coolness besaß ich leider nicht.

„Na schön. Hör zu, ich sage dir alles, was du hören willst. Aber nicht am Telefon. Können wir uns sehen?“

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

„Klar. Passt dir morgen?“

Ich hatte auf heute gehofft, aber so hatte ich wenigstens Zeit, mich hübsch zu machen. Und mir die richtigen Worte zurechtzulegen – nochmal. Vielleicht sollte ich einfach einen Brief schreiben. Aber so wie ich Jesse kannte, würde er dann von mir verlangen, ihn laut vorzulesen. Und das war weitaus schlimmer, als einfach nur herumzustammeln.

„Ja. Morgen ist super.“ Ich hatte noch mehr zu sagen, so viel mehr. Aber ich wollte ihn dabei ansehen, ihm gegenüberstehen und ihm um den Hals fallen, seine Arme spüren, wenn sie mich festhielten. Seinen Herzschlag, seine Wärme. Die Sehnsucht kam in immer größeren Wellen und drohte, mich zu ersticken. Nur noch ein Tag. Dann war alles überstanden.

„Okay. Dann bis morgen“, sagte ich, weil Jesse sich in Schweigen hüllte.

„Lea.“

Beinahe hätte ich schon aufgelegt. Ich presste das Handy fest an mein Ohr. „Ja?“

„Ich hab' dich vermisst.“

Und schon schmolz ich dahin. War das nicht schon wie eine Versöhnung?

„Ich habe dich auch vermisst“, flüsterte ich, obwohl ich es in die ganze Welt hinausschreien wollte.
 

Ich packte die Gitarre nicht ein, dafür war das Instrument viel zu unhandlich und ich zu unbegabt im Umgang mit Geschenkpapier. Ich band nur eine grüne Schleife um den Hals. Blassgrün. So wie seine Augen. Mich putzte ich dafür umso mehr heraus. Sogar meinen Haaren tat ich Gewalt mit Tammys Lockenstab an. Jesse war das nicht so wichtig, das war mir durchaus bewusst, dennoch wollte ich für ihn schön aussehen. Trotz des warmen Wetters zog ich die Lederimitathose an, die ihm so gut an mir gefiel. Ich wollte alle Trümphe ausspielen, die ich besaß. Auf den Nasenpiercing verzichtete ich jedoch nicht. Einen kleinen Schreck hatte er sich durchaus verdient. Ich bat Tammy um das Auto – schon wieder ein Gefallen, den ich kaum wiedergutmachen konnte. Die Liste wurde immer länger. Aber es war einfach praktischer, mein Geschenk im Auto zu verstauen, bis ich sicher sein konnte, dass wir uns wirklich versöhnten. Schließlich ging es hier um die Gitarre meiner Schwester. Falls aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund alles schief ging, konnte ich einfach ins Auto steigen und nach Hause fahren – mit der Gitarre. Aber auf diese Option musste ich hoffentlich nicht zurückgreifen.

Ich war so aufgeregt, wie schon lange nicht mehr. Freude vermischte sich mit Angst und Nervosität und mein Magen wurde so unruhig, dass ich schon befürchtete, ich müsse mich übergeben.

Per SMS hatten wir uns um 11:00 Uhr bei ihm verabredet. Das war mir lieber, weil ich meine Eltern die Neuigkeit von Kelly erst einmal verdauen lassen wollte. Jesse würde sich früher oder später sowieso ihrem Fragenbombardement stellen müssen. Aber das war eine Schublade, die ich sorgfältig verschloss und versuchte, zu verdrängen. Jetzt hieß es erst mal versöhnen. Alles andere musste warten.

Da ich davon ausging, heute nicht mehr so schnell von Jesses Seite zu weichen, rief ich Martha an, um ihr zu sagen, dass ich heute nicht ins Tierheim kommen konnte.

„Aber knuddel Pearl fest von mir, ja?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, was mich stutzig werden ließ. Martha war normal nicht auf den Mund gefallen. Mich beschlich eine dunkle Vorahnung und mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Es war doch nichts passiert? Schlechtes Gewissen überkam mich, weil ich in den letzten Tagen kaum bei Pearl gewesen war.

„Was ist passiert?“ Meine Zunge klebte förmlich an meinem Gaumen, weil mein Mund so trocken war. Meine Augen hingegen wurden blitzschnell wässrig. Eigentlich wollte ich die Antwort nicht hören, weil nicht alles in Ordnung sein konnte. Sonst würde sich Martha nicht so verhalten.

„Martha?“

Sie holte tief Luft und ich hörte die Last, die ihr auf den Schultern lag.

„Lea, es tut mir Leid. Ich hätte dich ja angerufen und dir Bescheid gesagt, aber es ging alles so schnell.“

Mein Herz flatterte, wie aufgeregte Schmetterlinge. Allerdings hatten sie nichts mit jenen gemein, die einen beflügelten, wenn man verliebt war, eher im Gegenteil. Sie bereiteten mir eine unbeschreibliche Übelkeit und brachten meine Gedanken durcheinander.

„Was ist mit Pearl? Ist sie...“ Die Worte über die Lippen zu bringen, war unmöglich.

„Nein! Nein, um Himmels willen. Es geht ihr gut. Tut mir Leid, ich sollte mich genauer ausdrücken. Pearl ist kerngesund.“

Die Schmetterlinge mit ihren wilden Flügeln explodierten in meiner Brust, sprengten mich beinahe von innen heraus. Endlich konnte ich wieder richtig atmen.

„Aber es waren heute Interessenten da.“

Das sollte mich eigentlich freuen. Tat es aber nicht. Ich fühlte mich miserabel. Natürlich wollte ich ein schönes Zuhause für meinen kleinen Schützling – und ich wusste, wie schwierig das war, bei einem Hund mit nur drei Beinen.

„Das ist doch schön“, sagte ich halbherzig. Pearl gehörte zu mir. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass sie sich bei jemand Fremden wohlfühlte.

„Lea. Sie haben sie gleich mitgenommen.“

Ich durchlebte innerhalb von Sekunden die verschiedensten Gefühlswelten. Gerade war es Wut.

„Was? Du hast sie einfach gehen lassen? Wieso? Was ist mit den Kontrollen?“ Normalerweise wurde jeder Anwärter zunächst genauestens überprüft. Martha sah sich die Wohnverhältnisse der Personen an und stellte in einem längeren Gespräch fest, ob die Tierliebhaber auch über genug Fachwissen verfügten, um sich richtig um das Tier kümmern zu können. Und das hatte sie einfach außer Acht gelassen, ausgerechnet bei Pearl. Dabei war sie, was das anbelangte, normalerweise sehr gewissenhaft.

„Wie konntest du das tun?“ Ich war ja eigentlich nicht der aufbrausende Typ, aber bei meinem Schützling konnte ich mich einfach nicht zurückhalten.

„Keine Angst. Ich kenne die Leute. Ich kann ihnen vertrauen, dass sie sich gut um Pearl kümmern. Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche es dir.“

Ich vertraute Martha. Sie verfügte über eine gute Menschenkenntnis. Meine Besorgnis legte sich langsam. Trotzdem war die Enttäuschung, Pearl nie wiederzusehen, sehr groß.

„Es tut mir Leid, dass du dich nicht von ihr verabschieden konntest. Aber ihre neue Familie wird sich gut um sie kümmern“, versuchte die Tierheimleiterin, mich zu trösten. Sie hatte ja Recht. Aber aufheitern konnte mich das nicht. Die Vorfreude auf das Treffen mit Jesse war getrübt.

„Du hast bestimmt Recht“, murmelte ich.

„Lass den Kopf nicht hängen“, bat Martha und hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen.

„Mache ich nicht. Ich freue mich ja für Pearl.“ Das tat ich. Nur fühlen konnte ich es nicht. Ich sah auf die Uhr. Langsam musste ich mich beeilen, sonst kam ich zu spät.

„Ich muss jetzt aufhören. Ich melde mich bald.“

Um nicht Gefahr zu laufen, in Selbstmitleid zu zerfließen, mich unter der Decke zu vergraben und hemmungslos zu weinen, stand ich sofort vom Bett auf und machte mich auf den Weg zu Jesse. Auch wenn ich versuchte, mich auf ihn zu freuen, überwog der Gedanke an die leere Box, die mich beim nächsten Mal erwarten würde, wenn ich ins Tierheim ging. Kein überschwängliches Schwanzgewedel, kein Um-die-Beine-streichen. Irgendwie musste ich diese Bilder aus meinem Hirn kriegen. Wenn ich bei Jesse aufkreuzte und ein Gesicht machte, als wäre gerade die Welt untergegangen, machte das nicht gerade einen guten Eindruck.

Denk einfach an etwas anderes, redete ich mir im Auto gut zu. Denk an Jesse, an seine Augen, an seine Stimme. Ein wenig beruhigte mich das.

Ein wenig.
 

Je näher ich der Straße und dem Haus kam, desto unruhiger wurde ich. Beinahe schämte ich mich dafür, die Vorfreude eines kleinen Mädchens zu verspüren, das auf Ostern oder Weihnachten wartete. Nachdem ich den Wagen geparkt hatte, atmete ich tief durch und wischte meine feuchten Hände an der Hose ab.

„Du schaffst das. Es wird alles gut“, sagte ich zu mir selbst im Rückspiegel. Ich gab mir einen Ruck und stieg aus. Beim Näherkommen betrachtete ich die Fenster. Stand er da und wartete auf mich, beobachtete mich durch die kleinen Löcher im Muster des Vorhangs? Das hätte ich jedenfalls getan. Sein Auto parkte direkt vor dem Haus und schon allein das ließ meinen Puls höherschlagen. Über eine Woche hatten wir uns nicht gesehen. Elf Tage. Eine grauenvoll lange Zeit. Angespannt wartete ich auf Schritte hinter der Tür, als ich klingelte. Das Erste, was ich jedoch hörte, war ein lautes Quietschen und schnelles Getrippel.

„Ich mach' auf.“

„Warte, Kelly“, forderte Jesse sie auf, doch da war es schon zu spät. Sie stand freudestrahlend vor mir, als wollte sie mir ihre kleinen Milchzähne zeigen, und hüpfte auf und ab.

„Lea!“ Sie umklammerte meine Beine, bis ich mich befreien konnte und mich hinkniete, um sie richtig zu umarmen.

„Ich habe dich auch vermisst, Kelly!“ Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Während wir so dastanden, tauchte Jesse in der Tür auf. Er lächelte mich an, als wäre ich der hellste Stern im Universum. Und so fühlte ich mich in diesem Moment auch. Ich war hier, bei ihm, genau dort, wo ich sein wollte, wo ich hingehörte.

„Kelly, lass Lea bitte los. Du knuddelst sie noch ohnmächtig.“

Aus Erfahrung wusste ich, dass ihre Umarmungen gut und gerne fünf Minuten dauern konnten, deshalb war ich nicht böse über Jesses Anweisung.

„Na gut“, gab sie etwas enttäuscht zurück, nahm mich aber gleich bei der Hand, als ich aufstand. Ich hatte sie wirklich vermisst, das war nicht nur so dahergesagt. Allerdings nicht so sehr wie ihren Vater.

„Hi, Jesse.“ Wir standen da und sahen uns nur an. Mir wurde warm und meine Knie weich.

„Schön, dass du da bist.“ Er schien sich nicht sicher gewesen zu sein, ob ich auch wirklich aufkreuzte.

„Aber die Überraschung will ich ihr zeigen“, riss seine Tochter uns zurück in die Realität.

„Eine Überraschung?“ Ich hob eine Augenbraue – endlich hatte ich den Bogen raus. „Etwa noch eine, außer dass du heimlich bei meinen Freunden spionieren gehst?“ Ich sagte es in einem versöhnlichen Ton. Schließlich wollte ich keinen Streit vom Zaun brechen. Jesse scharrte mit dem Schuh über den Fußabstreifer und sah mich spitzbübisch an.

„Verdammt. Hat sie mich doch verraten.“ Er warf den Kopf gespielt frustriert in den Nacken. „Dabei hat sie doch die Verschwiegenheitsklausel unterschrieben.“

Ich versuchte, nicht zu grinsen, was mir sichtlich schwer fiel. Schon allein die Tatsache, dass wir uns hier gegenüberstanden und es kein bisschen krampfig zwischen uns war, erzeugte Hochgefühle in mir.

„Tut mir Leid. So kann ich nicht arbeiten“, meinte er pikiert und verschränkte die Arme vor der Brust. Kelly prustete los und ihr Lachen steckte mich an.

„Spinner“, formte ich mit den Lippen, um es nicht laut vor Kelly auszusprechen, und schüttelte den Kopf.

„Komm. Komm, ich zeig' dir die Überraschung.“ Kelly zog mich aufgeregt mit sich. Unglaublich, wie viel Kraft in so einem kleinen Körper steckte. Sie ging direkt an Jesse vorbei, der kurz die Augen verdrehte.

„Hey. Wessen Überraschung ist das hier eigentlich? Man könnte meinen, ich hätte mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun.“

Seine Tochter ignorierte diesen Kommentar, ich ließ mich ergeben mitziehen und zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. Auch wenn ich gerne bei ihm stehen geblieben wäre, ihn umarmt und geküsst und einfach nur angesehen hätte, jedes noch so kleine Fältchen, jede Unebenmäßigkeit, seine Lippen, seine Wimpern, seine Augen in mich aufgesogen hätte. Aber mir blieben nur Sekunden. Sein Haar war in einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden, sein Kinn zierte etwas mehr als ein Flaum. Das stand ihm gut. Seine Augen – meine Zeit war um, Kelly zog mich ins Haus und es wurde unmöglich, sich nach Jesse den Hals zu verrenken, ohne dass dies die Konsequenz einer Halskrause nach sich zog. Zum Glück hörte ich ihn gleich nach uns die Wohnungstür schließen und seine Schritte auf dem Gang. Ich wollte nicht eine Minute von ihm getrennt sein. Nie wieder.

„Schneller, beeil dich.“

Langsam fragte ich mich, was das für eine Überraschung war, wenn sie Kelly so sehr gefiel. Aber ich musste zugeben, ich hatte nicht den leisesten Schimmer. Mir fiel die Gitarre im Auto ein und hoffte, dass diese neben Jesses Überraschung nicht völlig verblasste. Im Wohnzimmer holte Jesse uns ein und klemmte sich seine Tochter mit geübtem Griff unter den Arm. Sie stand jetzt kopfüber und kicherte erschrocken und belustigt. Er kitzelte sie, sodass sie anfing zu zappeln. Dann gab er ihr einen liebevollen Klaps auf den Po und setzte sie behutsam auf dem Boden ab.

„Okay. Tauschen ist angesagt. Jetzt bekomme ich meine fünf Minuten.“ Kelly wurde ernst und nickte, als hätten sie das vorher besprochen.

„Jawohl.“ Sie salutierte, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen.

„Gut. Dann hol jetzt bitte das Geschenk. Und vergiss nicht. Fünf Minuten.“ Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt und flüsterte. Kelly lief zu meiner Verwunderung hinaus in den Garten. Eine Überraschung im Garten? Schmiss er etwa eine Party für mich? Wohl kaum. Tammy und Jen saßen zuhause und wälzten Modezeitschriften. Und wen wollte er sonst schon groß einladen.

„Bekomme ich etwa eine Hüpfburg?“, scherzte ich.

Jesse trat direkt vor mich, ganz dicht, sodass ich mich nur auf meine Zehenspitzen zu stellen bräuchte, um ihn zu küssen. Ich wurde wieder zappelig, konnte nicht stillstehen.

„Hey.“ Jesse strich mir beruhigend über die Arme. Er spürte meine Nervosität. Wie konnte er nur so ruhig sein? Doch an der Art, wie er tief Luft holte und sich räusperte, merkte ich, dass auch er aufgeregt war.

„Schließ die Augen.“ Es war so schön, seine Stimme zu hören. Am Telefon war es einfach nicht dasselbe. Ich blinzelte zweimal in das Grün seiner Augen, dann schlossen sich meine Lider. Kam jetzt die Überraschung?

Ganz sanft, fast so, dass es kitzelte, legten sich seine Lippen auf meine. Ich wollte die Arme um ihn schlingen und mich an ihn pressen, damit ich sein Herz gegen meines schlagen spüren konnte. Aber ich blieb ganz still stehen, was mich eine unglaubliche Selbstbeherrschung kostete. Viel zu schnell löste er sich wieder von mir und hinterließ ein Kribbeln auf meiner Haut, dort, wo er mich berührt hatte. Eigentlich kribbelte mein ganzer Körper. Bevor ich etwas sagen konnte – was schwierig war, weil mein Hirn völlig umnebelt war – küsste er mich erneut, dieses Mal weniger vorsichtig. Er legte seine Hände an meine Wangen, strich langsam nach hinten zu meinem Nacken, was meine dortigen Härchen sofort veranlasste, sich aufzustellen. Er bewegte seine Zunge langsam, fast so, als würden wir uns noch nicht kennen. Ich musste mich an seinen Armen festhalten, um nicht dahinzuschmelzen. Der Kuss war wie ein Versprechen. Mir kam es vor, als stünden wir ewig so da, doch irgendwann mussten wir beide zu Atem kommen. Erst da öffnete ich wieder meine Augen. Meine Lippen pulsierten.
 

„Wenn das meine Überraschung war, bin ich vollauf zufrieden.“

Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen Lippen.

„Hätte ich gewusst, dass du so leicht zufriedenzustellen bist, hätte ich mir nicht solche Mühe gegeben.“

Ich zuckte mit den Schultern und legte meine Hände auf seine Brust.

„Ich bin zufrieden, wenn ich bei dir bin.“

Jesse hob eine Augenbraue – er konnte es immernoch besser als ich – und zog seinen Kopf ein wenig zurück.

„Ich würde dasselbe über dich sagen, aber... Hast du das nur gemacht, um mich zu ärgern?“

Ich war noch so im Liebesrausch, dass mein Gehirn nicht richtig funktionierte und ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Auf mein Stirnrunzeln hin hob er eine Hand und tippte mit dem Zeigefinger auf meine Nasenspitze.

„Oh. Das.“ Eigentlich hatte ich vorgehabt, ihn eine Weile auf den Arm zu nehmen. Aber ich überlegte es mir anders, weil seine Nähe so entwaffnend war. Außerdem wollte ich nicht riskieren, ihn wirklich zu verärgern.

„Ist nur ein Fake. Magnetisch.“

Erleichtert legte er seine Stirn an meine.

„Gottseidank. Ich hatte schon befürchtet, ich müsste Needle eine Lektion erteilen.“ Er grinste bei seinen Worten, aber ich war mir nicht sicher, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckte. „Hör mal, weger der Sache mit Amanda...“ Seine Finger verschränkten sich mit meinen.

„Können wir uns einfach darauf einigen, dass es uns beiden leidtut, und es dabei belassen?“, unterbrach ich ihn. Ich hatte mir so eine schöne Rede zurechtgelegt, aber jetzt wollte ich all das einfach nur noch vergessen. Es war nicht wichtig, Hauptsache, wir waren zusammen.

„Okay. Schade. Dabei hatte ich dir eigentlich extra ein Lied zur Entschuldigung geschrieben.“

Mit großen Augen sah ich ihn an. Das war also meine Überraschung?

„Wirklich?“, fragte ich atemlos. Jesse schüttelte den Kopf und ich konnte meine Enttäuschung nicht völlig verbergen.

„Tut mir Leid. Hätte ich gewusst, dass dir sowas gefällt, hätte ich das natürlich in Betracht gezogen.“

Wem, um Himmels willen, würde so etwas denn nicht gefallen?

„Aber ich verspreche dir, du wirst nicht enttäuscht sein, wenn du erst mal siehst-“ Er wurde von einem lauten Ruf seiner Tochter unterbrochen.

„Überraaaaaaaaaaschung!“ Sie stand dort, in der Terrassentür. Aber nicht allein. Neben ihr, schwanzwedelnd und völlig außer sich, stand Pearl. Ich blinzelte mehrmals, bis ich sicher war, mir das nicht nur einzubilden. Ich starrte den Hund an, den ich so sehr in mein Herz geschlossen hatte, und von dem ich geglaubt hatte, ihn nie wiederzusehen, und meine Augen füllten sich mit Tränen.
 

„Sie sieht nicht glücklich aus“, gab Kelly bei meinem Anblick zu bedenken. Ich schluckte schwer, fand keine Worte.

„Was...“

Jesse legte einen Arm um mich, um mich zu stützen. Mir kamen meine Beine tatsächlich vor wie Wackelpudding.

„Tut mir Leid. Ich wollte dich schonend darauf vorbereiten, aber es scheint, als hätte ich meine fünf Minuten mit etwas anderem zugebracht.“ Er grinste. Doch nicht einmal dazu war ich imstande. Ich sah ihn nur verwirrt an und er nickte.

„Pearl ist ab jetzt Teil unserer Familie. Wir haben sie heute aus dem Tierheim geholt. Lydia und Greg sind gerade im Tierfachhandel und besorgen Futter, ein Körbchen und so weiter. Aber keine Angst, wir haben uns das gut überlegt und lange darüber gesprochen. Natürlich braucht sie in der Eingewöhnungsphase jemanden, dem sie vertraut, eine Bezugsperson. Was meinst du, hättest du Lust?“

So langsam realisierte ich, das alles nicht nur zu träumen. Weil ich noch immer kein Wort herausbrachte, strich er mir zärtlich über die Wange.

„Lea. Alles okay? Freust du dich?“

Da endlich erwachte ich aus meiner Starre und fiel ihm überschwänglich um den Hals. Ich schlang meine Beine um ihn, sodass ich wie ein Äffchen an ihm hing, und er nahm mich fest in den Arm.

„Ob ich mich freue? Das ist das beste Geschenk aller Zeiten!“ Ich übersäte ihn mit Küssen. „Ich liebe dich“, sagte ich und obwohl ich sonst immer so viel über diese Worte nachdachte, kamen sie mir jetzt völlig leicht über die Lippen. Ich sah die Überraschung in seinem Gesicht, die Freude, und auch, dass er sich diese Worte vielleicht bereits erhofft hatte. Ich sagte es noch einmal, um es nicht wie einen Ausrutscher klingen zu lassen, küsste ihn erneut und ließ dann von ihm ab, um mich meinem Geschenk zu widmen.

Er brauchte es gar nicht zu erwidern. Allein die Tatsache, was er für mich getan hatte, dass er genau wusste, was mich am allerglücklichsten machte – noch bevor ich selbst mir darüber im Klaren war – zeigte mir, wie viel ich ihm bedeutete.

Kelly, die äußerst erleichtert schien, dass ich mich nun doch freute, kam mit Pearl zu uns, die mir sofort freudig um die Beine strich und an mir hochsprang.

„Hey, meine Süße.“ Meine Stimme war belegt und ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Ich wischte sie schnell weg, weil ich mir nicht sicher war, ob Kelly verstehen würde, was Freudentränen waren. Ich kraulte Pearl hinter den Ohren, am Hals und zwischen den Augen, das mochte sie am liebsten. Jesse kniete sich neben mich und ließ sich beschnuppern. Die beiden waren wohl schon auf Tuchfühlung gegangen, denn sie leckte ihm freudig die Finger. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Pearl gehörte jetzt Jesse. Das hieß, sie gehörte mehr oder weniger auch mir.

„Ich danke dir. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich -“

Ich fand keine Worte, die mein Glücksgefühl auch nur ansatzweise beschreiben konnten. Stattdessen küsste ich ihn erneut. „Danke!“

Kelly ging zu meiner Erleichterung ganz vorsichtig mit Pearl um. Das war nicht selbstverständlich. Ich hatte schon Kinder gesehen, die ihre Tiere eher wie einen Boxsack oder ein Klettergerüst behandelten.

„Ich finde es total schön, einen Hund zu haben“, sagte sie, während sie Pearl vorsichtig streichelte. Ich fuhr über ihr blondes, glattes Haar.

„Ja, ich finde das auch sehr schön“, sagte ich mit einem Seitenblick auf Jesse, der inzwischen im Schneidersitz auf dem Boden hockte und die Zufriedenheit eines Mannes ausstrahlte, der alles richtig gemacht hatte. Ich verzog ein wenig das Gesicht und legte den Kopf schief, während ich Kelly und Pearl betrachtete.

„Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen“, gab ich zu. Jesse sah mich fragend an. „Naja, meine Überraschung ist nicht halb so toll.“

Er horchte auf.

„Ich kriege endlich mein Geschenk?! Ich wusste doch, dass du es nicht lassen kannst.“

Ich nahm seine Hand und zog ihn mit hoch, als ich aufstand.

„Es ist nicht das ursprüngliche Geschenk. Aber definitiv besser.“

Das hoffte ich zumindest.

„Was war das ursprüngliche Geschenk?“, fragte er und ließ meine Hand nicht mehr los. Ich grinste breit.

„Das wirst du nie erfahren.“ Das meinte ich total ernst. Ich hoffte, Needle würde mich nicht irgendwann verraten. Aber bis zu Jesses nächstem Tattoo – sollte es je dazu kommen – dauerte es sicher noch eine Weile. Bis dahin hatte er es bestimmt vergessen.

„Und woher soll ich dann wissen, dass mir das Geschenk wirklich besser gefällt?“

„Da wirst du wohl auf mein Urteil vertrauen müssen.“ Ich nickte Richtung Flur. „Ich habe es im Auto.“

Jesse ließ kurz von mir ab, um die Balkontür zu schließen, und bat Kelly, auf uns zu warten.

„Wir sind sofort wieder da. Macht keine Dummheiten, ihr beiden.“

Sie gaben wirklich ein herzliches Bild ab, wie sie da auf dem Teppich zusammen schmusten. Die würden so schnell nirgendwo hingehen.

„Okay“, antwortete Kelly verträumt und strich weiter über Pearls Rücken. Ich wusste genau, wie hypnotisierend ihr ruhiger Atem und ihre Wärme auf der Haut sein konnten.

Jesse schob mich vor sich her aus dem Haus, doch bevor er einen weiteren Schritt machen konnte, hielt ich ihn am Arm fest.
 

„Warte.“

Er drehte sich zu mir um und wirkte ganz ungeduldig. Ich hob eine Augenbraue – meine neu erworbene Fähigkeit musste ich schließlich ausnutzen.

„Jetzt bist du an der Reihe. Augen zu.“

Er brauchte etwas länger, um sich dazu durchzuringen. Immerhin lag noch die Straße zwischen uns und unserem Ziel, da ich auf der anderen Seite parkte.

„Vertrau mir.“ Behutsam strich ich ihm über die Augen, die er daraufhin geschlossen ließ. Ich nahm seine Hände und führte ihn langsam über die Straße. Es war absolut kein Verkehr.

„Okay. Warte kurz. Augen zulassen. Wehe, du guckst!“

Ich stellte ihn auf dem Bordstein ab und öffnete den Kofferraum. Wie lange würde er wohl so stehen bleiben, wenn ich mich jetzt einfach umdrehte und ins Haus zurückging? Zehn Sekunden, eine Minute? Bei der Vorstellung musste ich ein Prusten unterdrücken. Was war ich doch für ein Kindskopf. Vor einem halben Jahr wären mir solche Scherze niemals in den Sinn gekommen. Ich war viel zu ernst. Gottseidank hatte sich das inzwischen gelegt. Und das verdankte ich Jesse.

„Was ist so komisch?“, fragte Jesse und öffnete ein Auge. Auf meinen strengen Blick hin schloss er es aber schnell wieder.

„Gar nichts. Hör auf zu schummeln.“ Ich holte die Gitarre heraus und schloss das Auto wieder ab, wobei ich ihm immer wieder prüfende Blicke zuwarf. Jetzt kam die Nervosität wieder. Würde ihm mein Geschenk gefallen, oder endete die Überraschung in einer Katastrophe? Seine eigene Gitarre hatte er zerschmettert, als Eleonore gestorben war. Hoffentlich glaubte er nicht, ich wolle sie damit irgendwie verdrängen. Aber wenn ich in der Zeit mit Jesse eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass ich mir meistens viel zu viele Gedanken um alle möglichen Dinge machte. Ich wollte ihm einfach nur eine Freude bereiten, und so würde er das bestimmt auch sehen.

„Happy Birthday“, sagte ich, woraufhin er seine Augen öffnete. Er blinzelte zwei-, dreimal, sein Blick schwenkte zwischen mir und der Gitarre hin und her. Dann schüttelte er den Kopf. Mir rutschte das Herz in die Hose, weil ich wieder mal nicht deuten konnte, was in ihm vorging. Doch als er mich in eine feste Umarmung zog, legten sich meine Zweifel ganz schnell wieder.

„Du bist unfassbar.“ War es etwas Gutes, unfassbar zu sein? Ich ging stark davon aus, so wie er mich im nächsten Moment küsste. Fast ein wenig hart, aber es gab keine Art, wie mir seine Lippen auf meinen nicht gefielen.

„Damit du mir ein Lied komponieren kannst“, witzelte ich.

„Vielleicht mache ich das sogar. Danke. Damit hätte ich echt nicht gerechnet. Ich liebe es.“ Dann grinste er breit. „Du kannst natürlich nichts dafür, dass mein Geschenk durch nichts zu toppen ist.“

Ein Geistesblitz schoss ihm durch den Kopf, das war deutlich zu sehen, denn eine besorgte Miene wischte sein Grinsen weg.

„Sag mal, Süße. Du weißt schon, was so eine Gitarre kostet. Das ist doch viel zu teuer. Ich kann das nicht annehmen.“ Andächtig drehte er das Instrument in seinen Händen. „Oder du sagst mir, was sie gekostet hat. Ich will sie nämlich nicht wieder hergeben.“

Ich schüttelte vehement den Kopf. Selbst wenn ich meine ganzen Ersparnisse dafür ausgegeben hätte, würde ich nicht wollen, dass er mir etwas zurückzahlte.

„Sie hat gar nichts gekostet. Tammy hat sie mal geschenkt bekommen, aber nie benutzt. Da dachte ich, bei dir ist sie in besseren Händen, und du freust dich vielleicht.“

Jesse nahm meine Hand.

„Vielleicht? Soll das ein Witz sein? Ich hätte mir schon längst eine neue gekauft, wenn ich das Geld dazu gehabt hätte.“

Nun war ich wirklich erleichtert.

„Gut. Ich war mir nämlich nicht sicher...“

Das Ende des Satzes ließ ich im Raum stehen. Er konnte sich bestimmt denken, was ich meinte, so gut, wie er mich kannte.

„Also, ich bin mir, was dich betrifft, auf jeden Fall absolut sicher“, sagte er, küsste mich und zog mich mit sich zurück zum Haus, gerade als Gregs Wagen um die Ecke bog.

„Perfektes Timing“, meinte Jesse. Wir warteten auf die beiden, um ihnen beim Tragen von Pearls Sachen zu helfen. Sie grinsten breit, als sie mich sahen.

„Schön, dich zu sehen“, sagte Lydia und drückte mich kurz an sich.

„Da hast du aber Glück, dass du es nicht verbockt hast, Brüderchen. Ansonsten hätte ich dir ordentlich die Leviten gelesen.“ Greg nahm wie immer kein Blatt vor den Mund. Ich bedankte mich bei den beiden dafür, dass sie bereit waren, Pearl bei sich aufzunehmen.

„Das bedurfte keiner großen Überredungskunst. Greg wollte sowieso schon lange einen Hund im Haus. Und Pearl ist ja wirklich ein Sonnenschein. Wir haben uns alle auf Anhieb in sie verliebt“, erklärte Lydia mir, während wir Hundefutter und Näpfe in die Küche schleppten.

„Ja, vor allem Kelly. Die beiden sind jetzt schon ein Herz und eine Seele“, tat ich meine Beobachtung kund. Gregs Verlobte nickte und lehnte sich gegen die Anrichte.

„Allerdings bin ich nicht besonders scharf auf den Moment, wenn Helen sie abholen kommt. Da werden haufenweise Tränen fließen.“

„Ja, das muss ich auch irgendwie verkraften. Die Trennung wird hart.“ Lydia grinste.

„Reden wir jetzt noch von dem Hund?“

Ich streckte ihr nur die Zunge raus und füllte Trockenfutter in eine Eisenschale, die ich auf den Boden stellte. Die Jungs nestelten an der Verpackung eines überdimensionalen Körbchens, als wir zu ihnen ins Wohnzimmer stießen. Kelly lag mit Pearl noch genau an demselben Fleck, wo wir sie zurückgelassen hatten. Beide beobachteten die Männer aufmerksam.

„Können wir spazieren gehen?“, fragte Kelly mit schläfriger Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt noch zehn Schritte gehen konnte, ohne einzuschlafen.

„Das ist eine fabelhafte Idee“, begeisterte sich Jesse zu meiner Verwunderung über diesen Vorschlag. Lydia kramte in der Kiste voller Spielzeug und Kauknochen nach einem neuen Halsband und einer dazu passenden Leine. Als das Körbchen in der Ecke neben dem Sofa verstaut war und ich Pearl die Leine angelegt hatte, strömten wir alle Richtung Hausgang. Als ich den anderen hinterher aus der Tür folgen wollte, hielt Jesse mich plötzlich auf. Fragend sah ich ihn an, doch er winkte nur den anderen zu.

„Viel Spaß. Wir räumen noch die restlichen Sachen auf. Genießt den Spaziergang. Bis später.“

Lydia, die die Leine hielt, winkte zurück und Greg, der sich seine Nichte auf die Schultern gesetzt hatte, lächelte wissend. Kelly bekam gar nicht mit, dass ihr Vater ihnen nicht folgte, da sie vollkommen auf Pearl fixiert war, die interessiert ihre neue Umgebung beschnupperte.

Jesse knallte die Tür zu, sodass ich den Blickkontakt zu ihnen verlor.

„Was ist denn jetzt los?“

Seine Hände legten sich um meine Hüften und zogen mich näher an ihn heran. Ein Prickeln durchströmte meinen Körper. Seine Mundwinkel zuckten.

„Ich habe lange genug gewartet.“ Er packte mich und hob mich hoch, was mir einen quietschenden Laut entlockte, und trug mich zur Treppe.

„Wir feiern jetzt Versöhnung.“

Jesse

Jesse hörte seiner Mutter gar nicht mehr zu, als er so schnell wie möglich das Haus verließ. Wieso hatte er sich schon wieder auf sie eingelassen? Langsam sollte er doch wissen, dass von ihr nichts anderes zu erwarten war als Enttäuschungen. Sie hatte so viele schlimme Sachen gesagt und Dinge getan, zu denen eine Mutter nicht fähig sein sollte. Er hatte ihr verziehen, seinen Vater aus dem Haus gejagt zu haben und sich wieder mit dem Mann einzulassen, der sie vor Jahren verlassen hatte. Sam war kein schlechter Mensch, er war ein guter Mann, ein guter Vater für Greg und Betty, und irgendwie auch für ihn, zumindest in den früheren Jahren, bis Jesse begriffen hatte, wie abstrus ihre Familienkonstellation eigentlich war. Es war leichter für ihn, Sam die Schuld in die Schuhe zu schieben und zu behaupten, Walt habe sich wegen ihm aus dem Staub gemacht und sich nur alle paar Jahre gemeldet. Dann musste er sich nicht eingestehen, dass seine Mutter jeglichen Versuch der Kontaktaufnahme unterband, oder dass sein Vater sich einen Dreck um ihn scherte.
 

Eigentlich hatte er all das längst hinter sich gelassen, das Gefühl, ungeliebt und das Kuckuckskind zu sein. Er konzentrierte sich lieber auf seine neue Familie: Helen, Pete und Kelly. Eleonores Eltern waren so stolz auf seinen Abschluss, ermutigten ihn zu einem Studium – sie würden das mit Kelly schon irgendwie hinbekommen – und wollten ihn seine Träume verwirlichen lassen. Seine Mutter hingegen war der Auffassung, er könne mit einem Kind, dem Klotz am Bein, nichts erreichen. Sie schlug ihm vor, Kelly in eine Pflegefamilie zu geben, bis er festen Fuß in der Arbeitswelt gefasst hatte. Später könnte er sich ja immer noch um sie kümmern.

Sie wollte sie weggeben. Anstatt ihre Hilfe anzubieten, wollte sie ihre Enkelin loswerden. Jesse hätte es besser wissen müssen. Wie oft hatte sie Kelly seit ihrer Geburt gesehen? Zehnmal vielleicht? Und niemals war sie auch nur ansatzweise so liebevoll mit ihr umgegangen, wie Helen es tagtäglich tat. Jesse spürte genau, dass sie sich nicht mit dem kleinen Mädchen verbunden fühlte. Dabei war sie ihr eigen Fleisch und Blut. Sein Fleisch und Blut. Das sollte eigentlich genügen.
 

„Jesse, warte. Du weißt genau, wie ich das meine.“ Marissa folgte ihm nach draußen. Ihre klappernden Schuhe brachten seine Nerven beinahe zum Zerreißen. Wider besseren Wissens blieb er stehen und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte, was nicht so einfach war, weil sie mit den hohen Absätzen im Kies versank. Er hoffte inzwischen nicht mehr darauf, sie würde sich für irgendetwas entschuldigte oder ihre Worte zurücknehmen, das hatte er aufgegeben, aber dennoch kam er nicht umhin, es sich zu wünschen.

„Das ist ja das Problem, Mutter. Ich weiß ganz genau, wie du das meinst.“ Er steckte die Hände tief in die Hosentaschen, um sie darin in Fäuste zu ballen. Es kostete ihn so viel Anstrengung, mit ihr zu reden. So sollte das nicht sein, zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.

„Ich will doch nur nicht, dass du dir alle Chancen verbaust. Kelly ist noch so klein, sie wird sich später gar nicht mehr daran erinnern, von dir getrennt gewesen zu sein.“

Magensäure stieß Jesse gegen den Gaumen. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!

„Aber ich werde mich daran erinnern. Ich war im Internat drei Monate von ihr getrennt, und ich habe es kaum ausgehalten. Ich habe sie so sehr vermisst, dass ich mir mehrfach überlegt habe, alles hinzuschmeißen. Weißt du, warum? Weil ich sie liebe!“ Er fragte sich, ob seine Mutter dieselben Gefühle für ihre Kinder hegte. Wahrscheinlich, auf eine verquere Art und Weise, liebte sie sie drei. Aber sich liebte sie womöglich mehr. „Ich erwarte nicht von dir, das zu verstehen.“ Er konnte sie nicht mehr ansehen.

„Jetzt wirst du aber unfair. Habe ich nicht alles versucht, um dich zu beschützen? Habe ich nicht immer dein Bestes gewollt?“ Ihre Stimme wurde bei jedem Wort lauter. Jesse musste sich auf die Lippe beißen, um sie nicht anzuschreien.

„Aber hast du dich je gefragt, ob ich das überhaupt will? Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, was mich glücklich macht? Du hast keine Ahnung, was ich will. Du weißt doch nicht mal, wer ich bin.“

„Ich habe den Mann, den ich liebe, aus meinem Haus geworfen, nur damit du in Sicherheit bist.“

Jesse fiel sofort auf, dass sie nicht in der Vergangenheitsform sprach. Liebe, nicht liebte. Armer Sam. Er war schon immer mehr Mittel zum Zweck gewesen. Ein guter Vater für die Kinder, eine Schulter, an die man sich lehnen konnte, ein Mann, der Sicherheit ins Haus brachte und ein festes Einkommen. Es war unglaublich, dass sie ihm das jetzt vorhielt. Er war damals noch so klein gewesen.

„Ich habe dich nicht darum gebeten.“ Noch nie hatte sie mit ihm darüber gesprochen. Früher hatte er sich immer gewünscht, sie möge ihm erklären, wieso sie Walt nicht noch eine Chance gegeben hatte. Aber so war Marissa nicht. Sie gab keine zweiten Chancen. Und Jesse war es Leid, ihr eine zu geben. „Außerdem geht es nicht um mich. Du verstehst es noch immer nicht. Es geht um meine Tochter. Meine und Eleonores Tochter.“ Er sagte mit Absicht ihren Namen, weil er wusste, sie konnte es nicht leiden. Wie auf Stichwort rümpfte sie die Nase.

„Weißt du was.“ Jesse hob abwährend die Hände, als würde er aufgeben.

„Du kannst dich bei mir melden, wenn du endlich bereit bist, Precious zu akzeptieren.“ Auch diesen Namen konnte sie nicht leiden.

„Bis dahin hälst du dich von uns beiden fern.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und wartete nicht darauf, ob seine Mutter etwas erwidern würde. In völlige Stille eingehüllt, nur das Knirschen des Kieses unter seinen Füß, verließ er die Auffahrt.
 

Ungeduldig lauschte Jesse dem Tuten in der Leitung und wartete, bis sein Bruder ans Handy ging.

„Hey, freier Mann. Wo steckst du?“

„Ich war bei Mom“, antwortete er zerknirscht und scharrte über den Kies. Er war nur so weit gelaufen, bis sie ihn vom Haus aus nicht mehr sehen konnte und hoffte nun, Greg würde ihn abholen.

„Klar. Ich bin eh gerade unterwegs. Bin in zehn Minuten da.“

Es dauerte nicht lange, bis er mit seinem Schlitten um die Ecke bog.

„Bitte bring mich hier weg“, sagte Jesse, noch während er einstieg.

„Hey, was sind das für Manieren? Kein freudiges Wort der Begrüßung?“

Als Greg Jesses verbissene Miene sah, sparte er sich jeglichen weiteren Sarkasmus und drückte stattdessen aufs Gas.

„Was hat sie jetzt wieder gemacht?“, hakte er nach einer Weile des Schweigens nach.

„Na, was sie immer macht. Können wir das Thema bitte lassen?“ Jesse stellte die Musik demonstrativ lauter, sodass es in den Ohren rauschte. Die Zigarettenschachtel, die er sich eben noch am Automaten geholt hatte, wog schwer in seiner Manteltasche. Eigentlich hatte er ja längst aufgehört. Aber im Internat hatte er sich des Stresses halber hin und wieder eine Stange gegönnt. Und wie immer brachte seine Mutter sein Blut so zum Kochen, dass es ihn bereits wieder nach Nikotin verlangte. Er musste das ganz schnell wieder in den Griff kriegen. Aber heute musste es noch diese Eine sein. Aus dem Augenwinkel sah er den Sixpack auf dem Rücksitz und drehte sich nach hinten um.

„Was sollen die Schlittschuhe?“ Er musste seine Frage laut wiederholen, um die Musik zu übertönen. Greg erklärte ihm, er habe sich mit Tyler und noch ein paar anderen am See verabredet.

„Möchtest du mitkommen? Vielleicht lenkt dich das ein wenig ab.“

Jesse wollte schon ablehnen, aber mit seiner Wut allein in seinem Zimmer zu sitzen, schien ihm auch keine gute Idee. Und zu Kelly wollte er in seinem geladenen Zustand schon gar nicht gehen. Sie sollte ihn niemals so sehen. Also zuckte er die Schultern.

„Von mir aus.“
 

„Komm schon, du Griesgram. Lass uns ein bisschen Spaß haben.“

Greg boxte ihn in den Arm und stieg zuerst aus, den Sixpack in der Hand. Jesse war durchaus bewusst, dass sein Bruder versuchte, ihn auf andere Gedanken zu bringen, aber er hatte auf einmal überhaupt keine Lust mehr auf Gesellschaft. Die Jungs begrüßten seinen Bruder überschwänglich und kamen ans Auto. Jesse kannte sie vom Sehen. Tyler kam öfter in Gregs Werkstatt vorbei, um sein Auto aufmotzen zu lassen. Brandon kannte er auch. Er war in Tylers Band. Den dritten Typen hatte er schon mal gesehen, konnte sich aber nicht an dessen Namen erinnern. Es war ganz praktisch, dass die Scheiben des Autos verdunkelt waren, so konnte er die anderen beoachten, ohne selbst gesehen zu werden. Wenn er wollte, konnte er sich einfach umentscheiden und sitzen bleiben, bis die Meute verschwunden war. Dann hätte er seine Ruhe. Ehrlich gesagt wusste er gerade selber nicht, was er wollte.

„Hallo, Ladies. Ich habe leider keinen Champagner dabei. Ich hoffe, Bier ist auch okay“, hörte er Greg gedämpft durch die Scheiben sagen. Es tauchten nun drei Mädchen auf. Jesse kannte keine von ihnen.

„Besser als nichts.“ Eine Blondine nahm seinem Bruder ohne Umschweife eine Flasche aus der Hand. Seltsam, dass Jesse tatsächlich Vorurteile gegen hellhaarige Mädchen hatte. Dabei war doch Eleonore blond gewesen. Aber irgendwie hatte das bei ihr nicht gezählt. Sie war kein typisches Blondchen gewesen. Außerdem hatte sie ihre Haare nie gefärbt, wie es bei den meisten anderen der Fall war. Ihre Farbe war echt. Jesse schloss kurz die Augen. Es war nun schon über vier Jahre her, dass sie ihn verlassen hatte, und trotzdem schmerzte ihn ihre Abwesenheit noch immer. Er brauchte wirklich ganz dringend Nikotin.

Greg holte ihn aus seinen Gedanken, indem er gegen die Scheibe klopfte.

„Komm raus, Lahmarsch.“
 

Jesse atmete tief durch, überlegte sich ein letztes Mal, ob er nicht doch einfach sitzen bleiben sollte, und stieg dann schließlich aus. Die Jungs schienen erfreut, ihn zu sehen, dabei kannte er sie doch kaum. Aber vielleicht störte ihn heute auch einfach alles und jeder, nach dem Gespräch mit seiner Mutter, und alle verhielten sich ganz normal, nur er war der schräge Vogel. Er hob kurz die Hand zur Begrüßung, deutete ein Grinsen an und steckte sich sofort eine Zigarette an. Er hielt es keinen Moment länger aus. Den verbissenen Blick, den Greg ihm zuwarf, versuchte er, zu ignorieren. Er wusste selbst, wie dumm es war, dazu brauchte er keinen großen Bruder, der ihm das unter die Nase rieb.

„Ich dachte, ich muss meinem kleinen Bruder mal wieder die Welt zeigen, jetzt, wo er endlich aus dem Knast raus ist!“ Greg hatte eine Vorliebe dafür entwickelt, seinen Internatsaufenthalt als Knast zu bezeichnen. Jesse beließ es dabei und inhalierte tief aus seiner Marlboro. Den Rauch stieß er durch seine Nasenflügel in die kalte Winterluft. Während Greg den Kofferraum öffnete und einen zweiten Sixpack und Schlittschuhe an alle verteilte – er hatte völlig vergessen, dass sie sich als Kinder einen Spaß daraus gemacht hatte, diese Dinger aus dem Eisstadion herauszuschmuggeln – betrachtete Jesse die weiblichen Gäste genauer. Vielleicht konnte er ja später mit einer von ihnen etwas Frust abbauen. Doch sie schienen alle jünger zu sein. Auf ein One-Night-Stand mit einer Minderjährigen wollte er sich nicht einlassen. Auch wenn das Mädchen mit den langen braunen Haaren verdammt hübsch war. Sie mied jedoch Blickkontakt. Eindeutig zu schüchtern.

„Ich habe Größe Vierzig, nicht Achtunddreißig. Wie soll ich da bitteschön reinpassen? So kann ich nicht auf den Dingern fahren“, beschwerte sich Blondi neben ihr. Jesse ging sie jetzt schon auf seine strapazierten Nerven.

„Dann spielen wir ein bisschen Cinderella und hacken dir die Fersen ab.“ Greg hob verschwörerisch die Augenbrauen. Jesse verkniff sich ein Grinsen.

„Es wird schon gehen“, murrte Jen, wie ihre Freundinnen sie nannten.

Greg steuerte Richtung See und die Jungs folgten ihm ausgelassen.

„Wollten wir nicht Schlittschuhlaufen?“, fragte das dritte Mädchen mit den Locken und hielt ihre Schuhe demonstrativ hoch.

„Schätzchen, genau neben dem Stadion ist ein See. Und der ist kostenlos“, erläuterte Greg und zwinkerte ihr zu.

„Und keine Sorge, das Eis ist so dick, dass es hundertprozentig einbruchsicher ist“, fügte Alex aufgrund der beunruhigten Mienen der Mädchen hinzu. Eleonore wäre die Erste auf dem Eis gewesen, ganz sicher. Aber sie war eben einzigartig. Jesse warf sich seine an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Schlittschuhe über die Schulter, zog an seiner Zigarette und folgte der Truppe. Er spürte den Blick der Schüchternen auf sich, ignorierte es aber und drehte sich nicht nach ihr um. Das Mädchen, das neben ihr ging – sie sahen sich sehr ähnlich, wahrscheinlich waren sie Schwestern – lachte laut über irgendetwas, was schließlich doch seine Aufmerksamkeit erregte. Er konnte jedoch keinen Blickkontakt aufbauen, weil sie stur in die andere Richtung sah.

Am Ufer des Sees hockten sie sich auf Bänke und wechselten die Schuhe.

„Hey, Angsthäschen, seht mal her.“

Da die Mädels noch immer Schiss hatten, das Eis könnte brechen, hüpfte Greg darauf herum. Als Kinder waren sie im Winter beinahe jeden Tag hier gewesen. Sie hatten Betty auf einem Schlitten hinter sich hergezogen, spielten mit Stöcken und einem Tennisball Eishockey und hielten Wettrennen ab. Jesse freute sich auf den Tag, an dem er mit Kelly hierherkommen würde, sie das erste Mal auf ihren kleinen Füßen über das Eis rutschte und sich fest an ihn klammerte, um Halt zu suchen.
 

Die Jungs fackelten nicht lange herum und gingen aufs Eis, doch Jesse blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt, rauchte weiter, und verlor sich in seinen Tagträumen. Als er Leas Blick auffing – so hieß sie, wenn er richtig zugehört hatte, da war er sich fast sicher -, sah er sie prüfend an. Irgendwie wirkte sie ihm gegenüber feindselig. Dabei hatte er doch gar nichts getan. Normalerweise war er ein Gentleman, aber im Moment war er auf Krawall gebürstet, also verengte er die Augen zu Schlitzen, um zu sehen, wie sie reagierte. Sie starrten sich lange an, doch letzen Endes senkte sie verlegen den Blick. Jesse warf seine Zigarette weg und betrat ebenfalls das Eis. Während die anderen Blödsinn machten, entfernte sich Jesse von der Gruppe, fuhr weit hinaus. Er hätte nicht mitkommen sollen. Tatsächlich fühlte er sich gerade ziemlich asozial. Er hatte ohne irgendeinen Grund diese Kleine verschreckt, nur weil sie ihn angesehen hatte. In seiner Verfassung war er keine gute Gesellschaft.

Um sich wieder einzukriegen, schaltete er den Kopf aus und beschleunigte, erinnerte sich an die Bewegungen, die ihm in Kindestagen so vertraut gewesen waren. Seine Beine prickelten ob der kalten Winterluft, sein Atem formte sich zu Wölkchen, und langsam wurde ihm von Innen heraus warm. Er spürte, dass seine Wangen leicht rot wurden und das Prickeln auf seiner Haut vom frischen Fahrtwind. Er glitt geschmeidig über das Eis, immer schneller und schneller setzte er nach. Wenn er jetzt hinfiel, bei der Geschwindigkeit, gäbe das eine böse Verletzung. Aber aus irgendeinem Grund konnte ihn die Vernunft gerade nicht erreichen. Er wollte nur immer weitermachen, seinen Frust rauslassen.
 

Völlig in Gedanken, merkte Jesse beinahe zu spät, dass er direkt auf Lea zusteuerte, die genau in seine Fahrbahn geraten war. Sie bemerkte es im selben Augenblick wie er, das konnte er an ihren Augen sehen, die auf einmal riesig wurden, und ihren rudernden Armen. Dieses Mädchen konnte eindeutig nicht Schlittschuhlaufen. Es lag an ihm, ihr auszuweichen. Aber seine Beine steuerten weiterhin direkt auf sie zu. Es war, als würde sein Körper seinem Gehirn nicht mehr gehorchen. Jesse sah die Angst in ihrem Gesicht, doch inzwischen war es zu spät, um auszuweichen. Außerdem konnte er bereits jetzt vorausahnen, sie würde jede Sekunde hinfallen, so unsicher, wie sie auf den Kufen war. Also legte er genau vor ihr eine scharfe Bremsung ein, um sie aufzufangen. Leider hatte er den Abstand etwas falsch eingeschätzt, sodass er sie mit ziemlicher Wucht rammte. Zwar schwankte er kurz, konnte sich jedoch auf den Beinen halten. Sie klammerte sich an ihn, nach Halt suchend. Jesse hielt sie fest, war selbst voller Adrenalin, und froh, nicht gemeinsam mit dem Mädchen auf das harte Eis geknallt zu sein. Sie waren sich nun so nahe, dass er ihr Gesicht genau betrachten konnte. Die grauen Augen, die vor Schreck weit aufgerissen waren, ihre Lippen, die stoßweise Wölckchen ausatmeten, ihre geröteten Wangen und die vereinzelten Sommersprossen auf der Stirn.

Für einen Moment sahen sie sich nur an. Es kam Jesse so vor, als wäre die Zeit stehen geblieben und die Welt hätte aufgehört, sich zu drehen. Wann hatte er sich das letze Mal so gefühlt? Er meinte sogar, durch ihre dicken Winterjacken hindurch ihren schnellen Herzschlag spüren zu können, auch wenn das unmöglich war.

Und mit einem Mal fiel ihm auf, dass all sein Schmerz, all seine Wut veflogen war. Aufgelöst, wie Rauch in der Luft. Er fühlte sich leicht. Frei. Das brachte ihn zum Lächeln. Aber der Zauber war schnell verflogen, als sie ihn grob von sich schubste.

„Bist du total bescheuert?“, schrie sie ihn an. Völlig perplex, weil Jesse sich eingebildet hatte, auch sie habe diese Verbindung, diesen Moment eben gespürt, wich er zurück.

„Lea, alles in Ordnung?“, wehte die Stimme ihrer Schwester zu ihnen hinüber. Lea strich sich über die Jacke, als wollte sie seine Berührung wegwischen und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

„Jesse“, ertönte nun auch noch Gregs warnende Stimme. Jesse hob beschwichtigend die Hände.

„Bleibt mal locker. Alles gut.“ Mit einer flüssigen Bewegung fuhr er hinter sie und streifte mit seinen Lippen das Haar dicht an ihrem Ohr. „Oder etwa nicht?“

Er hatte doch gar nichts gemacht. Okay, zumindest nicht mit Absicht. Nicht mit voller Absicht... Da war er sich nicht ganz sicher. Aber eines wusste er ganz genau: Er wollte sie wiedersehen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (17)
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Von:  Silberwoelfin
2019-06-21T20:42:47+00:00 21.06.2019 22:42
Ich wünsch mir immer noch eine Fortsetzung
Von:  Silberwoelfin
2017-12-27T14:15:35+00:00 27.12.2017 15:15
Huhu
Gibts bald ne Fortsetzung? :)
Von:  Silberwoelfin
2017-10-25T13:17:28+00:00 25.10.2017 15:17
Sooooo tut mir Leid...
die letzen Wochen waren stressig, alles vorbereiten, arbeit, Pferd holen etc :)

Das Kapitel war klasse. Es ist echt interessant mal die Story aus Jesse Sicht zu sehen.... das macht neugierig darauf was bei den anderen Treffen z.B das Date, erster Kuss etc die Gedanken von ihm zu wissen.

Aber war auch wiederrum komisch als letzes Kapitel sozusagen das erste wieder dazu haben :D

War echt eine sehr schöne Story, ich werd es echt vermissen. War gerade die einzige Story die ich noch aktiv auf Animexx verfolgt habe.
Würde mich wirklich freuen sollte es hier eine Fortsetzung geben... gibt noch so viele Punkte die offen sind und mich interessiert es wirklich die die Zukunt der beiden bzw. der drei aussieht.

Sollte es weiter gehen lass es mich bite wissen.
Gerne auch wenn du eine andere Story neu rausbringst.

Gruß
Antwort von:  nadscha
25.10.2017 17:22
Dem kann ich nur zustimmen bin auch gespannt ob es weiter geht
Von:  Silberwoelfin
2017-10-13T12:03:52+00:00 13.10.2017 14:03
Sooo jetzt schaff ich es auch mal zu schreiben :)
Stressige Woche aber tolle Woche... hab ein neues Pferd gekauf <3
Lustigerweiße heißt es Ally... also fast Elly wie Eleonore.
Und ich finde es voll fies das du mich im Dunkeln tappen lässt :P
Ich bin kein geduldiger Mensch O:)

Zurück zum Thema :D
Ein Mega Kapitel... ich hab schon gerätselt wie die Versöhnung ausfallen könnte... aber darauf bin ich nicht gekommen.

Gemein von Jesse das er Lea am Telefon so zappeln lässt... sollte er doch froh sein das sie sich bei ihm gemeldet hat... ich hätte es nicht gemacht :D
Voll süß wie Kelly sich über Lea gefreut hat und wie aufgeregt sie wegen der Überraschung war.
Sie wirkt aber etwas zu erwachsen für eine 4jährige, wobei ich ehrlich sagen keine Ahnung von Kindern habe :D
Und Lea macht es Jesse viel zu leicht.. ich hätte ihn Leiden und auf den Knieen rumrutschen lassen. Keine Vernünftige Entschuldigung und dann kommt nicht mal ne Erwiederrung auf Leas Geständniss... Männer.
Aber die Überraschung ist wirklich gelungen, schön das Pearl jetzt auch zur Familie gehört und das Greg%Lydia dabei auch mitziehen.
Jetzt sind sie ja wirklich fast eine komplette kleine Familie. Fehlt nur noch die eigene Wohnung.

Ahhh sie haben sich wieder versöhnt, voll toll... ich liebe diese Story einfach.

Gruß


Von:  Silberwoelfin
2017-10-07T04:33:34+00:00 07.10.2017 06:33
Huhu
So nach einer langen Woche bei der ich viel Geschäftlich unterwegs war und dann auch noch krank, endlich mein Kommentar.

Maaan also das Greg von der Sache mit den Drogen wusste... und Jesse auch ganz schön heftig.
Was wohl in Jesse deswegen vorgeht und wie er wohl zu ihm steht? Immerhin scheint es zumindest Grund genig gewesen zu sein um nicht auf den Geburtstag zu gehen.
Wobei Jesse dazu vermutlich eh wenig Lust hatte.
Ob Lydia schon davon gewusst hat oder ob die zum ersten mal davon gehört hat?

Und endlich gab es den lang erwarteten Besuch bei Nat.
Schön das doe zwei sich immer noch so gut verstehen und das Nat bald wieder nach Hause
darf. Das kein Spiehel im Zimmer ist wäre mir vermutlich nicht aufgefallen, ich hab auch keinen wirklich.
Aber das Jesse zu Nat gekommen ist hätte ich echt nicht erwartet, dache schon fast es gibt keine Happy End mehr.
Und das Jesse Nat auch noch so bereitwillig von seinem Leben erzählt. Ich bin echt gespannt da boch kommt, freu mich schon richtig drauf.
Wie Jesse wohl auf sein neues Geschenk reagiert? Und Leas Eltern auf ihr Geständnis das sie Großeltern sind :D
Hoffentlich geht es auch Tammy bald besser.



So und jetzt, sag mir bitte das es rine Fortsetzung von der Geschichte gibt T.T
Es sind doch noch so viele Punke offen.ä:
- wie klappt es wenn Nat heim darf
- wie verläuft das Zreffen mit Angus
- was wird aus Kasper und Betty
- wie reagieren Jesse Rlter darauf das Lea bescheid weiß
- was wird aus Zero
- gesteht Ty Ezra noch seine Gefühle
-Hochzeit von Greg und Lydia
- wann kann Jesse Kelly zu sich nehmem
Und vor allem wie geht es bei Lea und Jesse weiter

Biiiiitte schreib weiter...

Gruß Silberwölfin
Von:  Silberwoelfin
2017-09-25T07:43:30+00:00 25.09.2017 09:43
Huhu
So mal wieder bin ich total überrascht :D
Das Kapitel hat nicht den erwarteten Inhalt, ich dachte heute ist ein Streit-schnulziges Versöhnungskapitel dran. Mit dem Thema hab ich gar nicht gerechtet und macht das ganze natürlich noch komplizierter.
Lea und Jesse sind schon zwei extreme Sturköpfe…. Reden könnte so viel helfen.
Und ob Jesse die Trotzreaktion von Lea mit dem Nasenpiercing so soll findet, bezweifle ich so ein bisschen… aber für mich macht sie das noch sympathischer, da ich auch ein paar Piercings und Tattoos habe :P
Dass Jesse so extrem bockig ist und nicht das Gespräch sucht überrascht mich schon, so vernünftig wie er immer wirkt…. Aber wer weiß schon was da noch für Gedankengänge oder Verlustsängste dahinter stecken.
Eine sehr mutige Aktion von Lea, sich alleine auf den Geburtstag von Jesses Mum zu trauen…. Immerhin war sie bisher nicht sonderlich freundlich zu Lea und wie Jesse darauf reagiert hätte, war ja auch nicht gerade ersichtlich.

Walt… ich weiß nicht was ich von dem Mann halten soll…. Wirkt ein bisschen zu sehr wie ein sorgloser Hippie… der Streit war heftig.. klar das es Betty irgendwann zu viel wird… insgesamt sehr schwierige Familienverhältnisse.
Ja und zu der Geschichte mit dem Joint… da weiß ich gar nicht was ich sagen soll… ob Jesse selber davon weiß? Vermutlich eher nicht.
Da kommt wohl noch einiges auf sie zu…. Und irgendwie hab ich das Gefühl das eine Versöhnung erstmal in weite Ferne rückt.. und Marissa wird vermutlich auch nicht begeistert sein das Lea das Gespräch mitbekommen hat… die Haustüre haben sie bestimmt zufallen hören…

Und jetzt heißt es wieder warten T.T eine Woche ist viel zu lange 

Gruß

Von:  Silberwoelfin
2017-09-18T14:38:26+00:00 18.09.2017 16:38
Huhu
Ja es gab doch noch ein neues Kapitel, hab gestern sehnsüchtig drauf gewartet.
Jaaa was soll ich sagen… Männer sind doch irgendwie alle gleich… alles kleine Prinzessinnen…
Das Frühstück war echt toll beschrieben, so wie man sich eine nahezu alltägliche Situation vorstellt oder eben auch peinliche Momente mit Familienmitglieder :D
Ein gesundes Maß Eifersucht gehört zu jeder guten Beziehung, solange es nicht überhandnimmt. Bei Jesse ist es zumindest mal noch niedlich. Auch wenn man hier sehen kann wie blind sie für die Gefühle des anderen sind.
Erschreckend aber leider meistens Wahr, dass Männer doch gerne mit zwei Maß messen, wenn um du&ich geht. Das Treffen mit Amanda… ja da kann ich Lea gut verstehen.. wenn ein der Freund wie Luft behandelt und dann mit der Ex-Freundin über alte Bettgeschichten spricht ist das natürlich nicht so prickelnd. Und das müsste auch Jesse wissen, immerhin regt er sich auch über die Sache mit Rob auf obwohl da weitaus weniger lief. Vor allem da ihm das ganze ja nicht mal wirklich Leid zu tun scheint. Und ja dann den Unfall mit Kelly ins Spiel zu bringen, damit hat er sich kein Gefallen getan, das war kein netter Zug. Gut von Lea dann mit Rob anzufangen, der für Jesse eh ein rotes Tuch ist… naja.
Die zwei müssten sich endlich mal zusammen raufen und Klartext reden und auch tatsächlich mal aussprechen was sie stört… dieses zwischen den Zeilen lesen und davon ausgehen das der andere sich schon was denken kann, funktioniert einfach nicht.
Und eben mal Aussprechen was man für einander fühlt.
Ahhhh und jetzt heißt es wieder eine Woche warten… wie fies.
Ich bin gespannt und lauer auf das neue Kapitel

Huhu
Ja es gab doch noch ein neues Kapitel, hab gestern sehnsüchtig drauf gewartet.
Jaaa was soll ich sagen… Männer sind doch irgendwie alle gleich… alles kleine Prinzessinnen…
Das Frühstück war echt toll beschrieben, so wie man sich eine nahezu alltägliche Situation vorstellt oder eben auch peinliche Momente mit Familienmitglieder :D
Ein gesundes Maß Eifersucht gehört zu jeder guten Beziehung, solange es nicht überhandnimmt. Bei Jesse ist es zumindest mal noch niedlich. Auch wenn man hier sehen kann wie blind sie für die Gefühle des anderen sind.
Erschreckend aber leider meistens Wahr, dass Männer doch gerne mit zwei Maß messen, wenn um du&ich geht. Das Treffen mit Amanda… ja da kann ich Lea gut verstehen.. wenn ein der Freund wie Luft behandelt und dann mit der Ex-Freundin über alte Bettgeschichten spricht ist das natürlich nicht so prickelnd. Und das müsste auch Jesse wissen, immerhin regt er sich auch über die Sache mit Rob auf obwohl da weitaus weniger lief. Vor allem da ihm das ganze ja nicht mal wirklich Leid zu tun scheint. Und ja dann den Unfall mit Kelly ins Spiel zu bringen, damit hat er sich kein Gefallen getan, das war kein netter Zug. Gut von Lea dann mit Rob anzufangen, der für Jesse eh ein rotes Tuch ist… naja.
Die zwei müssten sich endlich mal zusammen raufen und Klartext reden und auch tatsächlich mal aussprechen was sie stört… dieses zwischen den Zeilen lesen und davon ausgehen das der andere sich schon was denken kann, funktioniert einfach nicht.
Und eben mal Aussprechen was man für einander fühlt.
Es wundert micha cuhd as Lea tatsächlich durch hält und sich nicht meldet… ob das bei den zwei Sturmköpfen noch was wird.
Aber immerhin ein neuer Brief von Nat… vielleicht geht Lea sieh ja demnächst mal Besuchen… wobei der Besuch vermutlich mit Kasper wäre… ob das nicht wieder Ärger gibt..

Ahhhh und jetzt heißt es wieder eine Woche warten… wie fies.
Ich bin gespannt und lauer auf das neue Kapitel

Gruß
Von:  Silberwoelfin
2017-09-14T12:34:20+00:00 14.09.2017 14:34
Soo jetzt komm ich auch noch dazu mich mal ein paar Minuten an den PC zu setzen um meinen Kommi zu schreiben.... am Handy ist mir das immer zu mühselig.
Ich weiß nicht warum aber das Kapitel hat mich komplett überrascht… ich weiß nicht was genau ich als nächstes Kapitel erwartet hatte, aber dieses irgendwie nicht.
Es war glaub auch das erste mal das ein Datum genannt wurde oder? Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern das schon mal ein Datum oder Monat genannt wurde, daher weiß ich gar nicht wann Jesse und Lea zusammen gekommen sind… irgendwo zwischen Mitte Februar und Mai.
Jesse wirkt in diesem Kapitel anders wie sonst, normal hat man immer den Eindruck vom verständnisvollen und einfühlsamen jungen Mann… und hier wirkt er auf eine gewisse weiße egoistisch und ein wenig kleinlich.
Das es Jesse nicht so toll fand von der Sache mit Rob zu erfahren ist klar… aber wenn er sich selbst in die Nase packt würde ihm auffallen das es mit Amanda nahezu dasselbe war.
Und die Art wie er mit Lea umgegangen ist als sich Kelly geschnitten hat war auch nicht gerade eine Glanzleistung und darauf hätte ihn nicht erst sein Bruder bringen müssen. Im ersten Momentan kann man es auf den Schock und die Panik schieben, aber spätestens beim Heim kommen wäre eine Entschuldigung fällig gewesen. Und diese von sich heraus und nicht erst nach Bitten und Bettel von Lea. Dieses lange hinhalten und anschweigen, war nicht nett.
Auch insgesamt hatte man den Eindruck, dass Jesse ein recht reserviertes Verhalten gehabt hatte.
Ich fürchte auf die Zwei wird noch einiges zukommen, wenn man bedenkt das sie jetzt schon kaum noch Zeit für einander haben… und dann noch die anderen Mädels in der Bar und bei den Konzerten… ob Lea das so verpackt.
In welcher Klasse ist Lea nun eigentlich? Müsste sie mit 17 nicht schon in der Abschlussklasse sein?
Und was macht eigentlich Tamy, sie müsste mit der Schule ja schon fertig sein… Fragen über Fragen 
Bin gespannt auf das nächste Kapitel, bis hoffentlich Sonntag

Von:  Silberwoelfin
2017-09-06T07:43:20+00:00 06.09.2017 09:43
Huhu :)

Also mit dem Kapitel hast du mich echt überrascht.... klar das es irgendwann zum Sex kommen würde aber an der Stelle hätte ich es noch nicht erwartet.

Aber fangen wir mal oben an...
Ich finds echt süß von Jesse das er sich mit der Band angelegt hat um Tammy zu verteidigen.
Tammy war meistens bisher nicht sonderlich freundlich zu ihm, daher hätte Jesse auch einfach nichts machen können.
Ich hätte ja zu gerne Brandons Arrgumente gehlrt um sich zu "rechtfertigen".
Vielleicht verstehen sich Tammy und Jesse dann auch besser... vorallem da die Familie jetzt ja auch merkt das Jesse Lea gut tun, immerhin isst sie wieder mehr.
Und Jesse bemüht sich immerhin sehr um Lea, sie ist voll in sein Leben in sein Leben intigiriert und er geht so gut er kann auf sie ein....
Das Jesse unter der schelchten Beziehung zu seiner Mutter etwas leidet ist nachvollziehbar. Seine Mutter gibt sich auch nicht gerade Mühe wieder für ein besseres Verhältniss zu sorgen oder irgendwie auf ihn zu zugehen.

So zum eigentlichen spannenden Teil gibt es gar nicht so viel zu sagen.
Ich hätte nicht gedacht das Lea den ersten Schritt macht sonderen eher das Jesse irgendwann die Initiative ergreifen wird. Vermutlich war Jesse erstmal genauso überrascht :D

Vielleicht gibt es ja irgendwann noch Bilder von den Personen, hab bei sowas immer so wenig Fantasie :D

Gruß


Von:  Silberwoelfin
2017-08-28T07:31:15+00:00 28.08.2017 09:31
Huhu,
Gestern hatte ich schon fast befürchtet das es kein Kapitel gibt :D
Hab mich schon richtig dran gewöhnt das es sonntags ein Kapitel gibt.
Und wow mit dem Thema hatte ich irgendwie gar nicht gerechtet... ich weiß nicht warum so im Nachhinein betrachtet irgendwie logisch weil das davor ja damit geendet hat, aber trotzdem war ich irgendwie überrascht.

Der Verlust eines geliebten Menschen muss für angehörige Unglaublich schwer zu verkraften sein, vor allem wenn der Verlust so plötzlich ist und die verstorbene Person noch so jung war.
Du hast es unglaublich gut geschafft die Phasen der Trauer aufzufassen und rüber zubringen... der Schock über den Verlust, das nicht begreifen wollen, die Leere, die Verzweiflung, die Wut

Jesse wirkte bisher nicht unbedingt sehr emotional oder gefühlsbetont, aber in diesem Kapitel hat man gemerkt wie viel doch in ihm vor sich geht, wie tief seine Liebe zu Elly war oder vielleicht auch noch ist.
Bestimmt hat er auch nach den 4Jahren immer noch sehr daran zu Knabbern, vielleicht nicht mehr so sehr das er Elly gegenüber ein schlechtes Gewissen hat (immerhin hat er ja in Kap. 12 angedeutet das er sich schon immer wieder, zumindest körperlich, auf andere Mädchen eingelassen hat) aber genug um doch regelmäßig an sie zu denken.
Wie weiter er wohl wirklich bereit ist sich auf Lea einzulassen wird wohl erst die Zeit zeigen.
Helen hatte ja schon gesagt das Lea und Elly sich zumindest Charakterlich doch ähneln... welche parallelen Jesse zwischen den Zwei sieht, kann man wohl nur vermuten.
Helen und Pete kommen in dem Kapitel sehr liebevoll und fürsorglich vor, die Beide haben sowohl Jesse als auch Kelly ohne den geringsten Gram bei sich aufgenommen und ihnen geholfen.
Da Stellt sich dann nur die Frage warum Pete beim ersten zusammen Treffen mit Lea so unfreundlich war bzw. Lea mit Kelly so überrumpelt hatte. Es kam so rüber als würde sich Helen&Pete mit Jesse nicht so gut verstehen und als gäbe es ggfs. Meinungsverschiedenheiten bzgl. Kelly
Und Pete deswegen nicht damit einverstanden wäre das Jesse jetzt sozusagen Elly ersetzt…. Aber nach dem Kapitel kann ich mir nicht vorstellen als würden sie Jesse das nachziehen.

Was noch nicht so ganz klar hervor ging ist ob die Erzählung nur für den Leser ist oder ob es auch Lea erzählt wurde. Wird sich bestimmt im nächsten Kapitel klären… falls sie es erzählt bekommen hat, hoffe ich das sie sich davon nicht noch mehr unter Druck gesetzt fühlt.

So jetzt geht das ungeduldige warten bis zum Erscheinen des nächsten Kapitels von neuem los.
Gruß und schöne Woche


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