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Caelum

von
Koautor:  Puppenspieler

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„Du hast dich überhaupt nicht verändert.“

 

Arata schmunzelte, ein seltenes, sichtbares Grinsen auf dem Gesicht bei seinem Kommentar, während Aoi vor Überraschung über seine eigenen Füße stolperte und sich beinahe der Länge nach auf den kirschblütenblättergepflasterten Gehweg legte. Er lachte leise, nervös, als könnte er seinen Patzer damit irgendwie überspielen. Im Grunde war es egal; es war nicht, als würde Arata dem zu viel Bedeutung beimessen, und im Stillen war er dankbar darum.

„F-findest du?“ – „Mh-hm. Wenn man von der Größe absieht bist du immer noch der Gleiche.“

 

Es war ein Kompliment. Aoi kannte seinen Freund lange genug, um zu wissen, was in seinen Worten steckte, und in diesem Fall war es etwas Positives – ich bin froh, dass du immer noch du bist. Ich mag dich, wie du bist. Bleib so.

Es schnürte ihm trotzdem den Hals zu. Er presste die Lippen zusammen, während er zusah, wie um sie herum Kirschblüten fielen, wie sich kleine, zartrosa Blütenblätter in Aratas Haar verfingen.

Kirschblüten.

 

Veränderung.

 

Sie hatten immer Veränderung bedeutet für Aoi. Sie markierten die Zeitspanne des Schuljahreswechsels. Weg von alten Kameraden und hin zu neuen. Ob nun nur eine Klassenstufe höher, oder eine ganz neue Schule, es war jedes Jahr ein spürbarer Wandel. Bisher war es eine simple Selbstverständlichkeit gewesen – es gehörte einfach dazu.

Doch mit einem Mal wirkte die Veränderung, die die Kirschblüten ankündigten, während sie still und leise zur Erde tanzten, groß und angsteinflößend, und Aoi wünschte sich, er könnte die Zeit anhalten, sie daran hindern, zu fallen und damit eine neue Ära einzuläuten, für die er noch nicht bereit war.

Vielleicht würde er nie bereit sein.

 

Er versuchte, den Gedanken von sich zu schieben, doch es war beinahe unmöglich. Sein Blick kehrte von dem rosafarbenen Tanz in der Luft zu seinem Freund zurück. Aratas Blick war längst wieder zu üblicher Neutralität zurückgekehrt, eine Augenbraue kaum merklich erhoben, abwartend und auffordernd.

„Ich komme“, rief Aoi ihm mit einem leisen Lachen zu, das ihm halb in der Kehle stecken blieb. Arata schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich um, trottete weiter den Weg entlang. Es dauerte nur ein paar Schritte, bis Aoi zu ihm aufgeschlossen hatte.

Ganz selbstverständlich verfielen sie ins gleiche Schritttempo, liefen im gleichen Takt – es war schon immer so gewesen, und es würde sich wohl auch nicht ändern. Muskelgedächtnis, eine Routine, die längst viel zu sehr in Fleisch und Blut und Selbstverständlichkeit übergegangen war, um jemals verloren zu gehen.

Es war seltsam tröstlich, dass da Dinge waren, die ewig bleiben würden, wie sie waren.

Dinge, die sich nicht verändern würden, obwohl so vieles andere nicht gleich bleiben konnte.

 

Arata hatte sich schon verändert.

 

Es waren Kleinigkeiten.

 

Er hatte aufgehört, zu heulen, wenn er einen Horrorfilm sah. Schon vor vielen, vielen Jahren. Aber Aoi erinnerte sich noch, wie sie einmal in kindlichem Übermut nachts den Fernseher eingeschaltet hatten, statt zu schlafen – und natürlich bei einem Horrorfilm gelandet waren. Sie hatten beide geweint, und während Arata heute keine Miene mehr verzog, obwohl er Horrorfilmen noch genauso wenig zugetan war wie damals, war Aoi immer noch der Typ, der sich viel zu schnell aufwühlen ließ und lieber die Flucht ergriff.

Er hatte aufgehört, ständig seinen Vorrat an Leuchtstäben wieder aufzufüllen, weil er sie schlicht nicht mehr ansatzweise so oft brauchte wie früher, als er noch die Zeit gehabt hatte, selbst Fan statt Idol zu sein.

Er hatte angefangen, ein deutliches Interesse an Mädchen zu entwickeln; etwas, das an Aoi immer noch vorbeizog. Natürlich bekam er Liebesbriefe, und alleine aus Respekt heraus beantwortete er sorgfältig jeden einzelnen, aber er selbst sah sich noch lange kein Interesse an den Mädchen haben, die ihm schöne Augen machten. Und gut, bei allem Interesse, es war nicht, als peilte Arata eine Beziehung an, aber trotzdem war es eine Veränderung: Er hatte begonnen, sich für Dinge zu interessieren, von denen Aoi immer noch rote Ohren bekam, wenn er nur daran dachte.

Er hatte begonnen, Bekanntschaften zu schließen, die über gemeinsamen Freundeskreis hinausgingen.

 

Es waren Kleinigkeiten.

Noch waren sie zusammen, in allem, was sie taten. Arbeit. Studium.

 

Irgendwann würde sich das auch ändern.

 

Sie waren ihr Leben lang den gleichen Weg gelaufen, und Aoi würde ihn womöglich ewig weiterlaufen, während Arata irgendwann eine Abzweigung finden würde, die ihn auf einen anderen Pfad brachte, einen Pfad, den er nicht  mehr mit ihm teilte. Mit einem eigenen Leben, einem anderen Beruf, einem neuen Freundeskreis und einer eigenen Wohnung.

 

„Aoi. Hey, was ist los?“

Aratas Worte ließen ihn kurz innehalten. Er sah auf, sah in das vertraute Gesicht seines Freundes, und hätte er nicht aus jahrelanger Erfahrung gewusst, dass sie da war, er hätte die Sorge in Aratas Blick nicht gesehen.

„Es ist nichts“, gab er zurück, seine Mundwinkel zuckten automatisch zu einem Lächeln, „Ich habe nur nachgedacht.“

Was sollte er sonst sagen?

Ich habe Angst, dich zu verlieren. Weil du dich veränderst, und ich mich nicht. Weil die kleinen Dinge, die heute anders sind, irgendwann einmal nicht mehr klein sondern groß sein werden, groß genug, um eine Kluft zu sein, die zwischen uns liegt. Weil irgendwann nicht mehr ich derjenige sein werde, den du morgens als ersten begrüßt und abends als letzten verabschiedest.

Nein. Das funktionierte einfach nicht. Das konnte er Arata gar nicht sagen. Was würde das mit ihrer Freundschaft machen? Würde Arata wütend werden? Ihn auslachen? Sich bedrängt fühlen von Aois Ängsten und Unsicherheiten?

 

Nein. Es war unfair, so etwas überhaupt zu denken. Solche Reaktionen wären überhaupt nicht Aratas Art!

 

Wie er reagieren würde, das konnte Aoi bei aller Arata-Kenntnis aber auch nicht abschätzen. Vielleicht war es seine eigene Angst vor der Antwort, die ihn daran hinderte, das übliche Verständnis aufzubringen. Vielleicht war es auch einfach eines der Dinge, die Arata so gut verbarg, das selbst Aoi sie nicht sah; seine Nervosität blieb ihm schließlich auch oft verborgen.

„Worüber?“

Aoi schüttelte den Kopf, schüttelte Gedanken und Gefühle ab, sah Arata mit einem strahlenden Lachen an, das halb aufgesetzt und halb ehrlich war, und vollkommen seine Angst verbarg.

 

„Nicht wichtig.“

 

Es war ein Thema, vor dem Aoi lieber fortlaufen wollte, als sich ihm zu stellen.

 

 
 

***

 

 

„Yuzuru-San hat uns Karten zur Vorpremiere geschickt.“

 

Vor seiner Nase wedelten ein paar Eintrittskarten herum, deren Sinn Aoi gerade gar nicht erkennen konnte. Er blinzelte von dem bedruckten Papier zu Arata hinüber, der ihn wenig aussagekräftig beobachtete. In seinem Blick lag kaum sichtbar eine stumme Aufforderung; die Frage, ob er mitkommen wollte. Mitkommen wohin? Aoi blinzelte verwirrt, schüttelte desorientiert den Kopf.

„Bitte?“

„Karten“, wiederholte Arata noch einmal. Jetzt mischte sich Sorge in seine Stimme – Aoi war selten so unaufmerksam. „Für die Vorpremiere. Der neue Film? Du erinnerst dich? Der, mit dem Iku uns in den Ohren gelegen hat, weil ihn das Thema so sehr interessiert?“

Es war irgendetwas Sportliches, das wusste Aoi noch. Ein Drama über einen High-School-Sportler, der aus Gründen, die Aoi sich nicht gemerkt hatte, mit dem Sport aufhören musste, und schließlich Jahre später eine neue Chance bekam. Es müsste Leichtathletik gewesen sein, oder etwas Ähnliches zumindest; irgendwoher musste Ikus gesteigertes Interesse an dem Film doch kommen.

Natürlich erinnerte Aoi sich noch.

Er merkte sich, was seine Freunde bewegte. Mit einem verlegenen Lachen blinzelte er Arata kleinlaut zu.

„Entschuldige, Arata. Dass wir Karten bekommen haben, ist sehr nett von Mikazuki-San!“

 

Ah.

 

Das war es. Das hatte Aoi so aus der Bahn geworfen. Er blinzelte verblüfft, suchte Aratas Blick. Außer Verwirrung begegnete ihm nichts – nichts Fremdes vor allem. Das war immer noch Arata. Als hätte sich gar nichts verändert.

„Ich wusste nicht, dass ihr auf Vornamenbasis seid“, platzte er heraus, ehe er sich überlegen konnte, ob das wirklich eine so kluge Idee war. Es war natürlich keine kluge Idee, etwas, das ihm auch bewusst wurde, kaum, dass die Worte ihm herausgerutscht waren, aber – nun war es auch schon zu spät.

Arata schien die Worte zuerst nicht einmal zu begreifen. Er sah Aoi mit einem kaum sichtbaren Hauch von Verwirrung an, hob die Augenbrauen, ließ sie im nächsten Moment wieder sinken. Verwirrung wich Verstimmtheit, während er die Karten zur Seite legte und sich selbst rücklings in seine Kissen warf. Die Bewegung war so vertraut, dass sie Aoi trotz aller flauen Gefühle lächeln ließ.

„Er hat angefangen“, gab Arata zurück. Trotz des immer noch eher monotonen Tonfalles erkannte Aoi das unverwechselbare Meckern in seiner Stimme. Erleichtert lachte er auf, lehnte sich zu Arata hinunter und grinste ihn ungeniert neckend an.

„Es stört dich nicht wirklich.“

Es war beängstigend, dass aus Mikazuki-San, dem ungeliebten Mentor, ein Freund geworden war.

 

Es war tröstend, dass Arata nicht den ersten Schritt auf diesen neuen Pfad getan hatte.

 

Aois Lachen verblasste, als Arata spielerisch nach ihm schlug, begleitet von dem Kommentar „Du bist doch nur neidisch“.

 

Es war absolut furchterregend, dass jemand anderes die Kraft hatte, Arata auf einen neuen Pfad zu ziehen.

 

 
 

***

 

 

Der Tag war viel zu lang gewesen. Aoi seufzte schon erschöpft, als die automatischen Türen zur Lobby hinter ihm zufielen. Der Portier grüßte ihn, ein Gruß, den er selbst nur mit einem vagen Murmeln beantwortete. Selbst nach all den Jahren verschätzte er manchmal noch den Aufwand, der hinter einem einzelnen Job stecken konnte.

Und dieses Mal hatte er radikal danebengelegen.

Gut, er hatte es aber auch nicht ahnen können. Mit Menschen zusammenarbeiten zu müssen, die er überhaupt nicht kannte, war einfach wie Russisch Roulette. Die meiste Zeit war es eine unglaublich spannende Erfahrung, von der er profitierte, und manchmal zerrte es einfach nur an seinen Nerven, ließ ihn gefrustet und müde zurück, weil das kleine Grüppchen Fremder, das sich da zusammenfand, einfach gar nicht harmonierte.

 

Als er auf der richtigen Etage aus dem Fahrstuhl stieg, war sein einziges Ziel sein Zimmer, um möglichst schnell ins Bett zu fallen. Eigentlich wollte er mit Arata reden, aber selbst dafür war er gerade noch zu müde. Es war nicht das erste Mal, dass einer von ihnen nach einem Job oder einem Meeting nichts anderes mehr tat als schlafen zu gehen, also war es nicht schlimm. Kein Grund zur Sorge. Ein schlechtes Gewissen hatte Aoi trotzdem, als er müde in Richtung Wohnzimmer schlurfte, um dort auf dem Tisch nur noch die Bücher abzulegen, die er sich zu Recherchezwecken von Hajime geliehen hatte.

 

Mikazuki saß auf dem Sofa, so selbstverständlich, als hätte er nie etwas anderes getan.

 

Arata saß ihm gegenüber. Die beiden waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft; sie bemerkten nicht einmal, dass Aoi eingetreten war, der verdutzt kurz hinter der Tür stehen blieb.

Aoi konnte sich nicht erinnern, dass jemals einer von ihnen Besuch mitgebracht hatte. Gut. Familienmitglieder. Kais Geschwister kannte er der Reihe nach vom Sehen her, weil sie doch das ein oder andere Mal hier gewesen waren. Chihiro war ab und zu hier gewesen, genau wie Aratas Schwester. Einige Eltern. Ikus Familie hatte sogar den Familienhund dabei gehabt, der sich direkt mit dem gesamten Kleinzoo angefreundet hatte, der sich hier im Wohnheim tummelte.

Familie war etwas anderes.

Niemand hatte bisher Freunde mitgebracht. Nicht einmal You und Yoru, die sich regelmäßig mit Mattsun trafen. Weil der Kerl zu verschiedenen Gelegenheiten bei Auftritten gewesen war, kannte Aoi ihn inzwischen ziemlich gut. Er war nett. Er war ein guter Freund, der oft präsent war, und trotzdem war er nicht hergekommen.

 

Es war ein ungeschriebenes Gesetz: Ins Wohnheim nahm man niemanden mit. Die einzigen Ausnahmen waren Familienmitglieder.

 

Und Beziehungspartner. (Bisher war es eine theoretische Ausnahme gewesen. Niemand hatte je Gebrauch davon gemacht.)

 

Aoi stand da, unbemerkt, während Aratas Lachen den Raum erfüllte, und genauso unbemerkt, still und leise, zerbrach seine Welt.

Arata hatte es ihm nicht gesagt. Arata, mit dem er seit schon immer alle Geheimnisse geteilt hatte, hatte zum ersten Mal im Leben ein Geheimnis vor ihm, ein ernsthaftes, großes Geheimnis. Eines, von dem Aoi immer geglaubt hatte, dass er der erste sein würde, der davon erführe. Er schluckte hart um einen Kloß herum, presste die Lippen aufeinander, während seine Gedanken hektisch umeinander rasten. Warum? Wann war es passiert? Die Vorpremiere war schon seit Monaten vorbei, und seitdem hatte Aoi gar nichts mehr von Mikazuki gehört, das über ein paar höfliche Grüße und Glückwünsche zu entsprechenden Anlässen hinausgegangen war.

Hatte Arata es gezielt verheimlicht? Dass er ihn hierher eingeladen hatte, zeigte doch, dass es nichts sein konnte, das erst seit gestern lief.

 

Veränderung.
 

Da war sie. Die Veränderung, vor der er sich gefürchtet hatte. Der Moment, an dem etwas geschah, das sie unmissverständlich trennte, das ganz deutlich zeigte, dass ihre Pfade nun unterschiedlich verliefen. Arata hatte einen eigenen Weg gefunden. Einen anderen Weg. Einen neuen Weg. Einen Weg, den er mit Mikazuki teilen würde, statt mit Aoi.

Er wollte sich abwenden und weglaufen, bevor ihn noch jemand bemerkte. Damit er gar nicht hören musste, was er ohnehin schon sichtbar vor sich sah.

 

„Yuzuru-San und ich sind zusammen. Wir haben es eben schon den anderen erzählt.“

 

Es passte nicht zu Arata! Bisher hatte Aoi keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, dass sie sich immer alles erzählen würden. Und Arata, obwohl er so aussah, war gar kein guter Geheimniskrämer. Hätte er es wirklich so lange vor Aoi geheim halten können? Warum?

Es passte gar nichts zusammen.

Eine andere Erklärung gab es auch nicht.

 

Es war vorbei.

 

„Aoi-San?“

Sasakuma Ichigou baumelte in Ikus Armen, die kleinen Pandaaugen neugierig auf Aoi gerichtet, das Köpfchen schief gelegt. Sein Herrchen sah ähnlich verwirrt drein, nur weniger nach Panda oder Teddybär; Iku war aus seinem kindlichen Image längst herausgewachsen, wurde Aoi gerade im direkten Vergleich zu seinem Haustier bewusst. Wann war er so erwachsen geworden?

Automatisch lächelte er, ein Reflex, den Arata durchschauen würde, wenn er denn hinsähe.

„Iku. Was macht ihr beiden denn hier?“

Iku grinste. Aoi bildete sich ein, Verlegenheit auf seinem Gesicht zu erkennen. Waren seine Wangen gerötet? Vielleicht die Anstrengung davon, den nicht gerade leichten Panda durch das Haus zu schleppen.

„Sorry! Wir sind geflüchtet, weil Shun-San einfach nicht mehr mit dem Jammern aufgehört hat. Wollte nicht riskieren, dass er das mit dem Verfluchen doch am Ende ernst meint…“

 

Iku sprach laut genug, dass die beiden Männer am Wohnzimmertisch auf sie aufmerksam wurden. Aoi lächelte verkrampft unter den Blicken von Mikazuki und Arata. Keiner von beiden schien zu merken, wie unangenehm die Situation war.

Arata sah aus wie immer. Sah ihn an, wie er es immer tat. Seine Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen, wie immer, wenn er besorgt um Aoi war. Da lag etwas Fragendes in seinem Blick, eine stumme Aufforderung, sich über den offenkundig anstrengenden Tag auszusprechen. Seine Augen brannten, als Aoi blinzelnd den Blick abwandte, zu Mikazuki, als wäre das einfacher. Der Mann grinste amüsiert – an ihm vorbei. Mehr unbewusst folgte Aoi seinem Blick, bis er Iku wiederfand, der mit Panda auf dem Arm gerade zum Sofa hinübertrottete. Er ließ sich neben Mikazuki darauf plumpsen. Der Panda machte es sich augenblicklich auf seinem Schoß bequem und gab einen kleinen, behaglichen Laut von sich. Er sah ausgesprochen zufrieden aus.

„Tut mir Leid, dass ich so lange gebraucht habe. Der Kleine hier hat sich vor Shun-Sans dämonischer Aura versteckt und überhaupt keine Lust gehabt, unter meinem Bett vorzukommen.“ – „Dass er da überhaupt drunterpasst, ist ein Wunder“, kommentierte Arata trocken. Er hatte nicht einmal Unrecht damit. Die Vorstellung, wie der doch eher mopsig wirkende Panda sich unter Ikus Bett einkauerte, war wirklich ein bisschen unfassbar. Und vor Shun versteckt?

„Und dafür lässt du mich mit Yuzuru-San allein. Schämst du dich nicht?“

Iku lachte nur.

„Beschwer dich bei ihm? Er wollte den Panda kennenlernen.“ – „Ich muss die Konkurrenz eben abstecken.“

 

Langsam verstand Aoi gar nichts mehr. Gar nichts mehr. Er war nur noch verwirrt von der Gruppe dort drüben. Mikazuki und Arata, das ergab Sinn. Aber was Iku und Sasakuma Ichigou dabei zu suchen hatten, war – unbegreiflich für Aoi.

Er fühlte sich, als wäre er der Einzige, der das Drehbuch zu diesem irren Drama verpasst hatte.

 

„He, Satsuki. Willst du Wurzeln schlagen, oder weshalb stehst du da so rum? Wenn du nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen hast, sag mir mal, wo die Küche ist, ich bin durstig.“

„Ähm…“

Aoi blinzelte hilflos von Mikazuki zu Arata hinüber. Dessen Blick war von Sorge zu etwas anderem gewechselt, das Aoi seit Jahren als eine sehr aratahafte Form von Bettelblick kannte. Es war herzzerreißend vertraut und natürlich reagierte er darauf. Geschlagen warf er die Hände in die Luft und grinste schief.

„Ist okay, ich hol was. Erdbeermilch für Arata, und… Iku? Mikazuki-San?“

Iku wollte einen Tee, Mikazuki lieber Kaffee, weil er noch einen langen Abend vor sich hatte, wie er sagte. Insgeheim war Aoi dankbar um die Gelegenheit, sich zurückzuziehen und seine verwirrten Gedanken sortieren zu können. Während er Tee und Kaffee kochte, starrte er Löcher in die Luft. Es gab nicht viele Möglichkeiten, was hier eigentlich los war. Eigentlich gab es so ziemlich nur zwei. Die eine, die naheliegende, ergab keinerlei Sinn. Aoi kannte Arata viel zu gut! Er konnte nicht– Er würde eine Beziehung niemals vor ihm verheimlichen. So betrachtet konnte er gar nicht mit Mikazuki zusammen sein.

Und überhaupt hatte Arata doch bisher nur Interesse an Frauen gezeigt!

Irgendwo in seinem Hinterkopf meldete sich ein leises Stimmchen, das ihn daran erinnerte, wie Arata ihn nach der Vorpremiere angestoßen hatte, um ihm Iku und Mikazuki zu zeigen, die in ein lebhaftes Gespräch verwickelt gewesen waren. Natürlich. Iku hatte der Film wahnsinnig gut gefallen, und er hatte schon auf dem Weg hinaus aus dem Vorführsaal nicht mehr den Mund zugekriegt darüber, wie authentisch die Geschichte gewesen war, und wie gut die einzelnen Rollen gespielt waren.

Es hatte Sinn ergeben, dass er sich mit einem der Hauptdarsteller darüber unterhalten würde.

 

Jetzt ergab es irgendwie Sinn, dass Iku und Mikazuki gemeinsam auf dem Sofa saßen.

 

Iku und Mikazuki. Aoi erstickte ein überfordertes Lachen in seiner Hand. Arata hatte keine Geheimnisse.

 

 
 

***

 

 

Ikus Beziehung brachte einen ganz schönen Wirbel mit sich.

 

Im Nachhinein konnte Aoi sehr gut verstehen, dass er und Mikazuki aus Procellas Wohnräumen geflüchtet waren. Selbst Wochen später war Shun noch am Lamentieren, wann immer Aoi ihn sah.

„Hajime! Es wird Zeit, dass wir unsere Liebe der ganzen Welt zugänglich machen. Es geht nicht, dass Ikkun uns so sehr die Show stiehlt.“

Absehbar, ganz egal, wie oft Shun es versuchte, blieb Hajimes Antwort gleich – „Es gibt nichts zu zeigen.“

 

(Aoi, nach all den Jahren, wusste immer noch nicht, ob Shun seine Liebe nun ernst meinte oder nicht. Manchmal war er sich sicher, es war nur einer von Shuns theatralischen Anfällen, die er doch aus jedem Unfug machen konnte. Dann wieder gab es Momente… Kurze Blicke, Gesten. Ein Lächeln, eine flüchtige Berührung.

Aoi wusste es wirklich nicht. Und wenn nicht irgendjemand irgendwann die Mutprobe annahm, Hajime ernsthaft zu fragen, ob da nicht doch etwas mit Shun lief, würden sie es wohl nie erfahren.)

 

Es war nicht nur Shun. You machte ein ganz schönes Aufheben um die ganze Sache, einfach nur, weil er es konnte. Kai, ganz der große Bruder, der er war, hielt Mikazuki wohl ernsthaft eine wunderbare großer-Bruder-Rede. Natürlich hatte Arata auch seinen Spaß an der Sache. Selbst Hajime und Haru mischten sich mit ein paar freundlichen Worten – Drohungen – ein, als sich die Gelegenheit ergab.

Aoi hielt sich lieber zurück. Er gönnte Iku sein Glück, und er bewunderte es, dass er den Mut gefunden hatte, offen zu seiner Beziehung zu stehen.

 

Er war mit Sicherheit nicht der Erste, der es zu einer Liebschaft gebracht hatte, und er würde mit Sicherheit nicht der Letzte bleiben. Bisher hatte sich schlicht niemand offen zu irgendetwas bekannt. Gut. Es gab You und seine Mädchengeschichten, die immer mal wieder den Weg in Klatschpresse und Internetblogs fand, aber es schien nie etwas Ernstes zu sein. Wenn man You und seinem schalkhaften Grinsen glauben durfte, dann liebte er doch sowieso nur Yoru.

Gerüchteweise traf sich einer der Jungs von SolidS schon seit mehr als einem Jahr mit dem gleichen Mädchen. Einer der Quell-Zwillinge hatte angeblich schon seit vor ihrem Debüt eine feste Freundin.

Solche und ähnliche Gerüchte gab es genug. Bestätigt war nichts.

Wenn Aoi ehrlich war, er würde es selbst wohl nicht anders halten. Arata würde er es natürlich erzählen, keine Frage, aber darüber hinaus? So sehr er besonders Gravi und Procella schon als Familie betrachtete, das war ein Thema, das nur ihm gehörte. Er würde sich auch gar nicht trauen, es offen zuzugeben. Vermutlich ging es den anderen ähnlich damit, aus welchen Gründen auch immer.

 

Natürlich war es Iku, der es anders hielt.

Hätte man Aoi im Vorfeld gefragt, wer von ihnen wohl am Ehesten geneigt wäre, seine Beziehung offen zuzugeben, er hätte ohne zu zögern auf Iku getippt. Es passte zu Iku, geradeheraus und ehrlich zu sein. Er hatte es schließlich auch geschafft, sich völlig ernsthaft vor seine Bandkollegen zu stellen und zu verkünden, dass er  hart daran arbeiten würde, irgendwann männlich und cool genug zu sein, um selbst in glitzernden Idol-Outfits noch ernstzunehmend auszusehen.

Er hatte es geschafft.

 

„Du grübelst.“

 

Aoi hob den Blick von der Falte auf der Bettdecke, die er gefühlt seit Minuten angestarrt hatte. Er lachte leise, lächelte Arata zufrieden zu.

„Nicht wirklich. Hab eher geträumt.“

Aratas hochgezogene Augenbrauen fragten, wovon. Aoi musste noch mehr lachen, als ihm bewusst wurde, wie dumm seine Antwort klingen würde. Von Iku. Nicht wirklich, aber das kam der Sache wohl am Nächsten, huh? Er schüttelte den Kopf.

„Beziehungen“, bot er schließlich als Kompromiss zur Antwort. Es klang nicht halb so verfänglich und war genauso wahr. Jetzt war es an Arata, den Kopf zu schütteln. Er lehnte sich bequemer gegen sein Kopfkissen zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Dachte, du wärst nicht der Typ dafür? Hast du nicht den letzten Liebesbrief auch wieder mit nem Korb beantwortet?“

 

Natürlich hatte Aoi das! Er kannte diese Mädchen nicht, also wie sollte er ihre Liebe erwidern?

„War mehr ein generelles Träumen.“

Und weil er nicht mehr darüber reden wollte, weil er selbst nicht wusste, wie er wirklich zu dem Thema stand, weil er gar nicht darüber nachdachte, warf er Arata lieber das zweite Kissen ins Gesicht und grinste. Diese Momente taten gut. Einfach beieinander sein zu können, herumzualbern, wie sie es immer getan hatten. Aoi liebte jeden einzelnen Augenblick, der ihm wieder versicherte, dass Arata immer noch bei ihm war und noch lange sein würde.

Die große Veränderung würde kommen. Irgendwann. Aber es würde noch lange, lange dauern. Aoi war sich sicher, dass es dauern würde. Noch einmal würde er sich nicht von seiner Paranoia zu lächerlichen Überinterpretationen bringen lassen.

Er lachte herzlich, als das Kissen zurückgeflogen kam, fing es auf und knautschte es im Schoß zusammen. Arata sah so empört aus, wie er eben aussehen konnte – nicht sonderlich empört also. Und im Grunde war er amüsiert, seine Augen funkelten kaum merklich.

„Und du? Oder hast du endlich aufgegeben, You und seine Eskapaden einholen zu wollen?“

 

Kam das Gespräch auf Beziehungen, verlief es im Endeffekt immer gleich – flapsige Fragen, flapsige Antworten, ein paar stichelnde Scherzen in beide Richtungen, bis sie sich in liebevollem Spott über You und sein Womanizer-Image verloren.

 

Arata antwortete nicht sofort. Er sah Aoi an, unlesbar, richtete sich langsam in eine weniger lümmelnde Position auf. Nervosität begann an Aois Herzen zu zupfen und er schluckte, das Grinsen in seinem Gesicht verblasste zu einem vorsichtigen Lächeln.

„Arata?“

Was auch immer jetzt kam, es war nicht die flapsige Antwort, auf die Aoi gewartet hatte.

 

Eigentlich wusste Aoi auch, was kommen würde. Aoi wusste es, und es schnürte ihm die Kehle zu. Er schüttelte den Kopf, noch ehe er es hörte, überfordert, hilflos.

 

Veränderung.

 

„Ich bin verliebt.“

 

 
 

***

 

 

„Du hast dich verändert.“

 

Aoi stolperte auf dem kirschblütenblättergepflasterten Weg. Er sah Arata an, ohne wirklich zu begreifen, was sein Freund ihm gerade gesagt hatte. Er lächelte, sichtbarer, als Aoi es gewöhnt war, und in seinem Blick lag mehr Emotion, als es sonst oft der Fall war.

Arata hatte sich verändert. Noch mehr, seit dem letzten Mal, dass sie durch den kirschbaumgesäumten Park spaziert waren. Ein Jahr. War es wirklich schon ein Jahr her, dass sie hier gestanden hatten?

Und bei aller Veränderung waren sie immer noch zusammen.

„Findest du?“

 

Aoi fand nicht, dass er sich veränderte. Er war immer noch er selbst. Trat auf der Stelle, wo die anderen voranliefen. Klammerte sich lieber an altbewährtes, statt neues auszuprobieren, zumindest in einigen Belangen. Er hatte immer noch Angst vor der Veränderung, die irgendwann dafür sorgen würde, dass ihre Wege sich trennen würden.

Er hatte Angst vor Aratas Gefühlen, weil Liebe etwas so viel größeres und unbeständigeres war als Freundschaft, viel unsicherer, und weil der Pfad, den sie wies, so unbeschritten und wild war.

 

Er beobachtete, wie Arata die Schultern zuckte, die Hände in den Hosentaschen. Sein Blick wanderte, folgte den Kirschblüten bei ihrem leisen Tanz zur Erde. Aoi konnte und wollte den Blick nicht von ihm abwenden.

„Du hast aufgehört, wegzulaufen, oder?“ – „Eh?“

Aratas Blick wanderte wieder. Aus dem Augenwinkel fixierte er Aoi auf eine Art, die beinahe unangenehm scharfsinnig war.

„Du bist früher immer vor unangenehmen Gedanken weggelaufen. Du hast angefangen, dich mit ihnen auseinander zu setzen.“

 

Aoi blieb verblüfft stehen, wo er stand, während Arata abdrehte und wieder lostrottete. Es war die absolute Selbstsicherheit, mit der Arata sprach, die Aoi innehalten und wirklich darüber nachdenken ließ.

Er lief nicht mehr fort.

Es stimmte. Er hatte begonnen, sich mit den Gedanken auseinanderzusetzen, die ihm Angst einjagten. Veränderung. Liebe. Die Zukunft als großes, ungewisses Ganzes. Es waren keine schönen Gedanken, und er war weit davon entfernt, dass er zu einer Erkenntnis kam, mit der er zufrieden sein konnte. War das wirklich schon genug, um als Veränderung zu gelten?

Und wenn ja…

 

Was würde sie bringen?

 

Arata wurde langsam kleiner, während er den Weg entlanglief. Alleine. Aoi wollte zu ihm aufschließen. Selbst wenn es nur noch für ein paar Tage sein mochte. Oder Wochen. Er wusste, dass irgendwann der Tag kommen konnte, an dem sich ihre Pfade unabdingbar voneinander trennten. Sie würden neue Pfade finden, beeinflusst von zahllosen Dingen, die Aoi heute gar nicht einschätzen konnte. Freunde, Familie, Karriere.

Gefühle.

 

Vielleicht muss nicht jeder neue Weg ein einsamer sein.

 

„Arata!“

Er blieb stehen, drehte sich um. Aoi sah auf die Entfernung, dass sein Freund lächelte; er schien zu wissen, welche Antwort Aoi für sich gefunden hatte, obwohl er nichts gesagt hatte. Vielleicht hörte er es am Klang seiner Stimme. Unwillkürlich verzogen sich auch Aois Mundwinkel, während er zu Arata aufschloss.

Dass er sich ausgerechnet diesen Moment aussuchte, um die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, war wie eine stumme Aufforderung, der Aoi nachkam, ohne darüber nachzudenken. Aratas Hand war warm an seiner.

 

Egal, wie viel Veränderung noch mit den Kirschblüten kommen würde, und egal, wohin all diese Veränderung führen würde. Die Zukunft lag in der Zukunft, unerreichbar und unvorhersehbar.

Heute wollte Aoi genießen, was er hatte. Ohne Angst davor, was morgen kommen könnte. Ohne Angst davor, wohin der neue Pfad führen mochte, den er einschlug.

 

„Ich liebe dich, Arata.“

 

„Ich weiß.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ai_Mikaze
2016-12-29T14:56:04+00:00 29.12.2016 15:56
Sehr tolle und süße FF, auch wenn einem Aoi leid tun kann ;;
Von:  ParadoxKanata
2016-12-24T20:05:27+00:00 24.12.2016 21:05
Naww QAQ
Aoi tut mir voll leid, ich wusste nun auch nicht, was es sonst sein soll und ich bin schon total gespannt auf das zweite Kapitel, wie es weitergeht und vor allem wie es auch ausgeht!

Es ist auch echt super geschrieben, auch Aois Gedankengänge, der arme Kerl macht sich echt zuviel Sorgen, aber das kenne ich, den Fehler mache ich auch ab und zu.
Und... ach man ich weiss nie genau was ich schreiben soll :'D
Auf jeden Fall freue ich mich total über die FF ♥


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