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Are you ready!?

von
Koautor:  Puppenspieler

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Start a journey

Kaname lächelte, als er den Blick über die zwölf völlig entgeisterten Gesichter schweifen ließ, die ihnen vom Konferenztisch entgegenblickten. Es war so selten, sie gleich allesamt sprachlos zu sehen, dass er das Schmunzeln gar nicht zurückhalten konnte. Ein unauffälliger Seitenblick zu seinem Kollegen zeigte, dass auch Kurotsuki grinste, offensichtlich zufrieden  mit der Reaktion ihrer Jungs.

„Dai, Kaname… ihr habt euch aber nicht im Monat geirrt und einen zu frühen Aprilscherz gestartet?“

„Natürlich nicht!“, empörte Kurotsuki sich sofort. Shuns Grinsen ließ Kaname vermuten, dass der junge Leader von Procellarum das selbst wusste, aber der überflüssige Kommentar hatte trotzdem geholfen – die absolute Sprachlosigkeit wich. Hier und da wurden Stimmen laut. Kakeru. Koi. You. Die üblichen Verdächtigen eben.

„Ich fass es nicht!“

„Das ist ja soooo cool!“

„Wollen wir wetten, wohin wir alles reisen?!“ – „Ich wette nicht gegen dich, Koi! Ich verlier doch eh!“ – „Aber Kakeru-San!“

 

„Jungs, ihr seid ein bisschen voreilig“, kommentierte Kaname sanft. Es war wunderbar, wie engagiert und enthusiastisch sie waren, aber es war noch viel zu früh, über solche großen Dinge nachzudenken. Sie hatten einige Etappen vor sich, bis sie ihr Ziel erreichten! Und wenn sie die auf dem Weg aus den Augen verloren, würde das mit dem Ziel auch nichts mehr werden, huh?

„Tsukishiro-San hat Recht. Gerade sollten wir andere Prioritäten haben. Könnten Sie Manager bitte noch einmal genau erläutern, wie die Agentur sich das Projekt vorstellt?“

Kaname lächelte zufrieden. Er war froh, dass Six Gravity in Hajime einen besonnenen, praktischen Leader gefunden hatten, der ihre verrückten Persönlichkeiten hervorragend unter einer Herrschaft vereinen konnte.

„Es ist im Grunde nicht viel mehr als das, das wir bereits erwähnt haben“, begann Kurotsuki. Er erhob sich von seinem Platz am Konferenztisch, um zum Whiteboard hinüberzutreten, auf dem der grobe Abriss des Projekts stand, das aktuell noch unter dem Arbeitstitel InterMoon stand – ob er bleiben würde, hing zu guten Teilen mit davon ab, ob die beiden Bands damit einverstanden waren. Mit den Fingerknöcheln tippte er gegen die schwarze Schrift.

„Zwölf Monate, Zwölf Projekte, die jeweils von einem von euch geleitet werden, korrespondierend mit eurem jeweiligen Monat. Idealerweise ist es natürlich etwas, das eure internationalen Fans anspricht, aber das hatten wir ja schon, nicht wahr?“

Er hob die Augenbrauen, abwartend, fragend.

„Keine Einschränkungen?“, hakte Haru nachdenklich nach. Kaname nickte.

„Keine Einschränkungen. Der Chef war sehr zufrieden mit eurem letzten eigenen Beitrag zu einem Projekt. Und nachdem der gemeinsame Song so ein großer Erfolg gewesen ist, dass er euch sogar international erste Aufmerksamkeit beschert hat, hat er beschlossen, diese Aktion eurer Kreativität zu verüberantworten. Natürlich hat er zugesagt, dass ihr alle Unterstützung bekommt, die ihr braucht, auch, wenn euch irgendwo Ideen und Anregungen fehlen.“

„Ob ihr versucht, Songs zu schreiben, oder irgendwelche Reportagen macht, oder etwas ganz anderes – es ist eure Sache. Wir brauchen lediglich bis zur Mitte des jeweiligen Vormonats euren Entwurf, damit wir die nötigen Vorbereitungen treffen können und euer entsprechendes Projekt pünktlich im entsprechenden Monat senden können.“

 

„Wie wird bestimmt, dass wir erfolgreich waren?“

You zog die Augenbraue hoch, stützte das Kinn auf die Handfläche. Obwohl er halb so aussah, als hätte er keinerlei Lust auf die Diskussion, war er voll dabei, was Kaname nach wie vor erfreute. Als er Procellarums Mitglieder kennengelernt hatte, hatte You auf ihn im ersten Atemzug nicht sehr professionell gewirkt.

Wie sehr er sich getäuscht hatte.

„Ich meine, bei dem einen Manager-für-einen-Tag-Event von Gravi waren es Verkaufszahlen. Wir verkaufen aber nichts, jedenfalls nicht zwingend, richtig? Worauf läuft es hinaus? Clicks? Views? Unser Medium wird doch in erster Linie das Internet sein, huh?“

„Richtig“, erwiderte Kurotsuki. Es war ihm anzusehen, dass er zufrieden war – Yous Worten war im Grunde wirklich nichts mehr hinzuzufügen, „Euer Erfolg richtet sich nach den erreichten Views eurer Projekte. Und natürlich auch ein Stück weit danach, wie die allgemeine Resonanz in Form von Kommentaren und anderen Postings sein wird. Ist der Chef am Ende zufrieden, wird die Welttournee geplant.“

Die Erwähnung ihrer Belohnung ließ wieder Unruhe aufkommen. Während die Jungs bisher noch relativ brav gewesen waren und aufmerksam zuhörten, begann nun erneut das große Geplapper. Es war nicht verwunderlich – so etwas Großes hatte sich zu Beginn ihrer Karrieren vermutlich niemand vorstellen können. Kaname zumindest wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass die sechs Chaoten, die man in seine Obhut übergeben hatte, irgendwann einmal die Möglichkeit haben könnten, nicht nur ihre Heimat, sondern die ganze Welt mit ihrer Musik zu erreichen.

Er war unglaublich stolz auf sie.

 

Er wäre es auch immer noch, wenn sie ihr Ziel nicht erreichten. Allerdings zweifelte er nicht an ihnen; er kannte die Jungs inzwischen gut genug, um zu wissen, was sie erreichen konnten.

Und allein ein Blick in Ikus konzentriertes Gesicht zeigte ihm, dass sie sich wirklich keine Sorgen zu machen brauchten.

Der Junge sah auf, als er Kanames Aufmerksamkeit bemerkte, sah ihn kurz nachdenklich an.

„Wann geht es los? Frühestens im Oktober, oder?“ – „Im Idealfall ja“, erwiderte er sanft, „Aber niemand erwartet, dass du in so kurzer Zeit ein Projekt auf die Beine stellst, Iku-Kun. Wir können es genauso gut auf den November verschieben, auch wenn der Chef natürlich hofft, dass es so bald wie möglich losgeht.“

Er brauchte keine verbale Antwort. Dass Iku es nicht zulassen würde, dass sie unnötig aufschoben, sah er sofort. Es war typisch für ihn, immer mit voller Seele dabei zu sein und sich im Zweifelsfall zu viel Arbeit aufzuhalsen statt zu wenig.

 

„Keine Sorge, ich schaffe das. Kannazuki Iku ist stets zu Diensten! Sie bekommen den Entwurf pünktlich auf Ihren Schreibtisch!“

First steps

Iku seufzte. Es war das siebte Mal innerhalb der letzten fünf Minuten, dass er seufzte. Vielleicht war er doch zu voreilig darin gewesen, Pünktlichkeit zuzusagen. Eine Idee hatte er, aber – ja. Eben nur eine Idee. Wie sollte er ein Videotagebuch über die Eigenheiten der japanischen Kultur filmen, wenn ihm kaum etwas einfiel? Das Blatt Papier vor seiner Nase war immer noch viel zu leer. Sein Brainstorming funktionierte einfach nicht! Abgesehen von dem großen Japan in der Mitte des Blattes stand beinahe nichts darauf.

Essen hatte er notiert. Logisch. Japanisches Essen war relativ eigen, das wusste Iku zumindest grob. Das war doch in jedem Land so. Wie Italien mit Pizza und Pasta, oder die USA mit Burgern und Hotdogs. Oder Deutschland! Er hatte mal eines dieser kleinen Oktoberfeste in Tokyo besucht, da hatte es auch ganz schön seltsames Essen gegeben. Für Iku seltsam. Für ihre internationalen Fans mochten Sushi und Miso-Suppe genauso eigenartig sein, also war das ein guter Anfang, nicht wahr?

Dummerweise hatte er selbst vom Essen wenig Ahnung.

Seine Freunde einzubinden war doch aber auch keine schlechte Idee. Also hatte er vom Essen aus zwei kleine Strichchen gemacht und Yoru-San und Aoi-San dazu notiert.

Das notierte Kabuki-Theater hatte er bald wieder durchgestrichen, weil er einfach doch nicht genug Zugang dazu hatte – und auch niemanden, der es ihm erklären konnte. Er seufzte noch einmal, warf noch einen Blick auf die Uhr. Bald war Mitternacht, und Mitternacht würde den Punkt markieren, an dem ihm nur noch zwei Tage blieben, um sein Konzept so weit auszuarbeiten, dass er seine Freunde um Hilfe bitten konnte, um sie dann hoffentlich wirklich fest einzuplanen und alles an Kurotsuki zu übergeben.

Natürlich könnte er es auch alles alleine machen, aber wäre das nicht traurig? Sie gehörten immerhin zusammen! Das sollten ihre ausländischen Fans auch sehen können.
 

„Ikkun.“

 

Ruis leise Stimme ließ Iku von seinem viel zu leeren Papier aufsehen. Er lächelte, als er den Jungen im Türrahmen entdeckte, Yamato auf dem Arm und schon in Schlafsachen gehüllt. Wunderte ihn nicht, es war spät. Eigentlich hätte Rui längst im Bett sein sollen, wenn es danach ging – er würde morgen früh quasi unweckbar sein. Iku wünschte Kai sehr, sehr viel Spaß damit…

„Was machst du so spät noch?“ – „Sollte ich das nicht dich fragen? Du gehst sonst immer früher ins Bett.“

Rui blinzelte. Er tappte leise zu Iku hinüber, ließ sich neben ihm aufs Sofa sinken. Kurz glitt sein Blick zu Ikus Notizzettel, dann konzentrierte er sich darauf, den schwarzen Kater auf seinem Schoß hinter den Ohren zu kraulen.

„Hab die Zeit vergessen. Arbeitest du noch an deinem Projekt, Ikkun?“ – „Mhm. Ich hab ja schon nen Plan, aber… Irgendwie fällt mir zu wenig ein!“

Er lachte hilflos, kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Hast du schon Ideen, Rui?“

Die Antwort war ein Kopfschütteln. Es war ja auch nicht nötig – Rui hatte noch viel Zeit, bevor er sich Gedanken um sein Projekt machen musste. Gerade beneidete Iku ihn fast. Aber auch nur fast! Er war eigentlich verdammt stolz, dass er das ganze Projekt beginnen durfte, und er war fest entschlossen, einen guten Eindruck zu hinterlassen!

„Wenn dir nichts einfällst, solltest du Kai fragen, Ikkun.“

Die Idee war Iku auch gekommen. Kai war eine gute Anlaufstelle für alles. Aber dieses Mal… Er seufzte, schüttelte den Kopf.

„Nein. Das ist mein Projekt! Ich meine, ich schätze Kai-Sans Hilfe, aber… das wäre ganz schön lahm, wenn ich erst so große Töne spucke und dann bei der ersten Hürde nicht mehr alleine weiterlaufen kann, oder?“

Rui legte den Kopf schief. Er sah doch wieder auf das Papier hinunter.

 

„Was machst du denn eigentlich, Ikkun?“

„Meine Idee ist ein Videotagebuch. Ich wollte den Fans im Ausland Dinge zeigen, die typisch japanisch sind, und interessant genug, dass sie Spaß machen. Und wenn es etwas ist, wo mir einer der anderen helfen kann, ist es umso besser. Wie das Essen eben.“

Er tippte auf entsprechende Notiz.

„Oder – keine Ahnung. You und die Temp–“

Mit einem herzlichen Lachen schlug er sich gegen den Kopf. Natürlich! Die Tempel! Das war eindeutig etwas typisch Japanisches, und es war interessant, nicht nur kulturell, sondern auch, um Playboy You mal von einer anderen Seite zu sehen! Das würde den Fans doch sicher gefallen.

Dass ihm das nicht früher eingefallen war, war wirklich peinlich.

Sofort wurde die Idee notiert und Iku grinste Rui zufrieden an. Auf dem Gesicht seines Partners lag ein kleines, sanftes Lächeln. Er lehnte sich vor, um nach dem Kugelschreiber zu greifen, den Iku wieder auf dem Tisch hatte liegen lassen. In seiner ungewöhnlichen Handschrift notierte er erst Geister & Dämonen, und machte von dem Notizpunkt aus dann einen kleinen Strich, hinter den er Shun schrieb. Er sah zu Iku auf, groß und wie zumeist eher nichtssagend, aber sein Blick war warm und freundlich, wenn man genau hinsah.

„Kai sagt, es ist okay, wenn man nicht alleine weiterlaufen kann. Wichtig ist nur, dass man trotzdem weiterläuft.“

 

Vielleicht hatte Kai Recht. Iku hatte trotzdem nicht vor, sich allzu sehr auf anderer Leute Hilfe zu verlassen. Diesmal nicht.

„Wie kommst du eigentlich drauf?“, wechselte er lieber das Thema, tippte auf Ruis Notiz. Neben Ikus absolut langweiliger Ottonormalhandschrift wirkte Ruis eigener Stil gleich noch ungewöhnlicher. Es war faszinierend.

„Hab letztens mit Shun drüber geredet. Er weiß viel.“

Etwas, das Iku sich lebhaft vorstellen konnte. Zu lebhaft vielleicht. Ob es den Fans wirklich gefallen würde, gruselige Spukgeschichten von ihrem Lieblingsdämonenkönig zu hören? Andererseits waren Horrorfilme und Gruselattraktionen doch nicht umsonst so beliebt, also warum nicht? Es klang eigentlich sogar richtig lustig! Iku hoffte trotzdem, dass Shun sich ein bisschen zurückhielt, man musste doch niemanden verstören.

Ruis Gähnen unterbrach seinen Gedanken. Er lächelte sanft zu ihm hinüber, beobachtend, wie Rui sich verschlafen die Augen rieb.

„Du solltest ins Bett gehen, Rui. Du musst morgen doch auch wieder früh aufstehen.“

Rui zog die Nase kraus, sichtlich unzufrieden damit. Es war kein Geheimnis, dass er ungern früh aufstand, und nachdem es jetzt schon wirklich spät war glaubte Iku nicht, dass er auch nur ansatzweise gut aus dem Bett kommen würde. Der arme Kerl.

„Aber Ikkun. Schaffst du das denn jetzt alleine?“ – „Hmhm. Mach dir keine Sorgen, Rui! Na komm. Geh schlafen. Ich schaffe das schon, versprochen! Kannazuki Iku steht schließlich zu seinen Zusagen!“

„Okay.“

Manchmal war es so einfach. Zumindest mit Rui.

 

Iku wünschte ihm  noch eine gute Nacht, ehe Rui sich endgültig verabschiedete, dann lehnte er sich seufzend auf dem Sofa zurück und schloss für einen Moment die Augen. Müdigkeit zupfte an seinem Bewusstsein und er merkte, wie seine Gedanken einfach willkürlich abdrifteten, ohne dass er etwas dagegen tun konnte oder wollte. Einfach schlafen klang gerade unglaublich attraktiv…

Und eigentlich hatte er auch nicht wirklich mehr Ideen. Mit einem müden Blinzeln zwang Iku sich, die Augen doch wieder zu öffnen, sah auf sein Papier hinunter. Essen. Folklore, denn darunter konnte man Shun und seine Geister und Dämonen wohl recht gut zusammenfassen. Tempelkultur. Es würde reichen, um ein solide langes Videotagebuch auf die Beine zu stellen, nicht wahr?

Wo er es so betrachtete, fühlte es sich irgendwie altmodisch an.

Nicht das Essen – aber der Rest. Wie war das denn außerhalb von Japan? Für Tempel und Folklore interessierte sich hier doch eigentlich nicht unbedingt ein Großteil der Jugend. Und ihre Fans waren eben größtenteils genau das: Jugendliche. Ob das nicht eher ein seltsames Licht auf sie warf, wenn sie dann nur mit solchen altmodischen Geschichten aufwarten konnten? Also klar, Männer, die kochen konnten, waren attraktiv, sagte man, aber der Rest könnte ihnen womöglich ein etwas altbackenes Image bescheren.

Kontraproduktiv.

Iku seufzte noch einmal – inzwischen hatte er aus den Augen verloren, wie oft – und schüttelte entschieden den Kopf. Nein! Das konnte er nicht zulassen. Er brauchte noch etwas, um das auszupendeln. Er hoffte nur, ihm fiel überhaupt noch etwas ein.

 

Irgendwie war es faszinierend schwierig, als Japaner etwas zu finden, das typisch japanisch war – und gleichzeitig untypisch genug für den Rest der Welt, um interessant zu sein.

 

 
 

***

 

 

Am Morgen war ihm immer noch keine Erleuchtung gekommen.

Inzwischen hatte er das Seufzen aufgegeben, hockte am Frühstückstisch und knabberte an einem Toast herum, den Kai ihm zugeschoben hatte, kaum, dass er hereingekommen war. Abwesend sah er zu, wie der Ältere Kaffee kochte. So müde, wie Iku sich gerade nach einer Nacht mit viel zu wenig Schlaf fühlte, war der Anblick seltsam erbaulich.

Obwohl er schlussendlich dann doch recht bald vor dem Brainstorming kapituliert hatte, hatte er nicht einschlafen können. Viel zu sehr war er beschäftigt damit, wieder und wieder seine Ideen durchzugehen und zu überlegen, ob er nicht doch noch etwas fand, das dem ganzen einen frischeren Anstrich verpassen konnte. Ihm war kein neuer Einfall gekommen. Irgendwann war er einfach nur vor Erschöpfung eingeschlafen, und zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er bereut, dass sein Wecker immer sehr früh klingelte.

Er hätte ihn noch einmal umstellen sollen. Es war nicht, als hätte er so frühe Termine heute.

Jetzt war es dafür aber sowieso zu spät und er würde den Tag irgendwie rumbringen müssen, wie es war. Das war okay. Iku war anstrengende Tage gewöhnt! Pendeln war kein Zuckerschlecken, und Leichtathletik und Idol-Sein ließen sich auch nicht gut vereinbaren und er schaffte es trotzdem. Da musste auch ein bisschen Schlafmangel locker wegzustecken sein.

„Bist du fertig geworden?“

Kais Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, zusammen mit der Kaffeetasse, die vor seiner Nase auf dem Tisch landete. Iku lächelte müde, griff nach dem dampfenden Getränk. Erst, als er ein paar Schlucke getrunken hatte, konzentrierte er sich auf Kai, der inzwischen ihm gegenüber am Tisch saß.

„Nicht wirklich. Irgendwie…“

Er brach ab, zuckte hilflos mit den Schultern. Es war wirklich verlockend, es einfach an Kai abzuschieben, aber gleichzeitig war er viel zu stolz dazu. Er war der Jüngste hier bei Procella! Er konnte wirklich nicht immer gleich zu seinen älteren Kollegen laufen, sobald er eine Hürde nicht beim ersten Sprung schaffte. Entschieden schüttelte er den Kopf und grinste Kai selbstbewusst an.

 

„Aber das wird werden!“

 

Es sah nicht aus, als ob Kai daran zweifeln würde, etwas, das wirklich beruhigend war. Es tat gut, wenn die eigenen Freunde an einen glaubten.

„Da bin ich sicher. Du bekommst alles hin, das du dir vornimmst, solange du nur dranbleibst.“

Es war wirklich lieb, aber das Thema war Iku genug. Also – Themenwechsel.

„Danke. Ah, aber sag mal, Kai-San, hast du schon Ideen–?“

Vermutlich, genau wie Rui, würde er keine haben. Sie hatten aber auch beide noch so viel Zeit! Iku hätte– mit mehr Zeit vermutlich auch nichts anfangen können. Er war kein großartiger Planer, wenn er ehrlich war, und vermutlich hätte er nie etwas anderes zusammenbekommen als dieses Videotagebuch, selbst wenn er zwei Jahre am Stück darüber gebrütet hätte. Und vermutlich wäre ihm am Ende auch nicht so viel mehr eingefallen.

„Ein paar“, war die mehr als unerwartete Antwort, halb verborgen hinter der Kaffeetasse, die Kai gerade zum Mund führte. Iku blinzelte ihn verblüfft an, brachte ihn damit dazu, nach seinem Schluck Kaffee erst einmal sanft aufzulachen. Er stellte die Tasse ab und hob abwiegelnd die Hände.

„Es ist noch nichts Konkretes! Aber ein paar erste Ansätze hab ich. Ich denke, was ich tatsächlich mache, hängt auch stark davon ab, was ihr euch überlegt habt bis dahin. Es wird langweilig, wenn wir alle in die gleiche Richtung schlagen, nicht wahr?“

Das hatte Iku bisher noch nicht bedacht. Er lächelte flüchtig.

„Es hat also auch Nachteile, so weit hinten zu liegen, huh?“ – „Ein paar.“

Erleichternd. Aber wie er Kai kannte, würde er das mit Bravour meistern. Und er war ein Gruppenmensch, also würde er sicher einige der anderen mit einbeziehen. Kai war gut in solchen Dingen.

„Shun hat auch schon ein paar erste Ansätze“, erzählte er weiter. Er grinste amüsiert, „Aber gut, er braucht es auch, huh? Unser träger Dämonenkönig ist verblüffend engagiert in dieser Sache.“

Seine Augenbrauen wanderten vielsagend in die Höhe, Schalk blitzte in seinen Augen. Er sah aus wie ein spitzbübischer kleiner Junge in diesem Moment.

„Die Aussicht auf die Chance, mit Hajime Paris, die Stadt der Liebe, besuchen zu können, scheint sehr zu motivieren.“

 

Iku lachte laut auf. Ernstnehmen konnte er Shuns Theater einfach nicht, aber er konnte sich viel zu lebhaft vorstellen, wie Shun genau diese Worte als Argument herangezogen hatte, weshalb er tatsächlich zur Abwechslung einmal freiwillig arbeitete, statt so zu tun, als wäre er der faulste Mensch auf Erden. (Dass Procellas Leader das absolut nicht war, wusste Iku inzwischen zur Genüge. Shun pflegte dieses seltsame Image einfach nur mit viel zu viel Sorgfalt.)

„Hauptsache, er ist motiviert?“, gab er grinsend zurück. Kai nickte lachend.

„Das sind wir doch alle, oder?“ – „Auf jeden Fall!“

Darüber zu reden machte Iku unglaublich neugierig auf alles, was die anderen machen könnten. Sie waren allesamt charakterlich so verschieden, dass es so ziemlich alles sein könnte – vor allem viele Dinge, die sich Iku gar nicht vorstellen konnte. Wer wusste schon, wozu solche kreativen Köpfe wie Shun fähig waren? Oder solche großartigen Organisatoren wie Haru? Und Kois verrückte Ideen könnten ausnahmsweise auch einmal weniger verrückt als unglaublich cool enden.

„Ich freu mich echt schon drauf, alle Projekte zu sehen. Das ist so spannend! Ich weiß überhaupt nicht, was ich erwarten kann.“

„Ich auch nicht. Ist mal wieder etwas neues, huh? Sonst sind wir entweder überall gleichermaßen involviert, oder aber, es betrifft uns eigentlich gar nicht, weil es Einzeljobs sind. Jetzt ist es beides.“

Wenn er ehrlich war, dann hatte Iku nicht daran geglaubt, dass sie noch so viel Neues zu tun finden würden. Das gemeinsame Konzert war ein riesiger Meilenstein gewesen, der im ersten Atemzug so gigantisch ausgesehen hatte, dass Iku darüber hinaus einfach nichts mehr gesehen hatte, das noch größer sein könnte. Und jetzt standen sie vor der Möglichkeit, durch die ganze Welt zu reisen!

 

„Es ist unglaublich.“

 

Iku merkte nicht, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte, bis Kai freundlich grinste und ihm über den Tisch hinweg eine Hand auf die Schulter legte. Er sah nicht wirklich besorgt aus, aber es war eine typische Geste für ihn; er war zumindest kurz davor, sich Sorgen zu machen.

„So unglaublich es ist, Iku, überstress dich nicht. Niemandem ist geholfen, wenn unser Strahlemann auf einmal müde in der Gegend herumhängt.“

„Ich weiß“, antwortete er mit einem müden, schiefen Grinsen. Ihm war selbst bewusst, dass er gerade genau das tat, das er vermeiden sollte, „Aber das ist leichter gesagt als getan. Es soll gut werden!“

Und damit es gut wurde, musste er eben einhundert Prozent geben – oder noch mehr! Er konnte sich nicht vorstellen, dass die anderen schlussendlich anders damit umgehen würden. Vielleicht würde man es ihnen nicht so sehr ansehen, aber Iku wusste, dass jeder einzelne von ihnen alles in seine Projekte steckte. Wo er außerdem ohnehin schon etwas plante, das seine Freunde einspannte, fand er es nur recht und billig, dass er sich sehr genaue Gedanken darum machte, wie das funktionieren konnte. Er brauchte schließlich einen ordentlichen, handfesten Schlachtplan, bevor er ihnen seine Pläne unterbreiten und ihre Mithilfe erfragen konnte.

Nicht, dass er an ihren Zusagen zweifelte. Selbst You, der nie so ganz glücklich mit seinem Tempelkindhintergrund war, dürfte wohl kaum ablehnen. Es war ein Job, von dem sie alle profitierten, und Iku würde genauso, wenn irgendeiner der anderen ihn für irgendetwas brauchte – und sei es dafür, einen Baum in einem Theaterstück zu spielen –, sofort mit dabei sein.

Wo er so darüber nachdachte…

Er seufzte leise, nippte nachdenklich an seinem Kaffee. Immerhin half das bittere Gebräu und so langsam fühlte er sich wirklich wach genug, um den Tag zu überstehen.

„Sag mal, Kai-San.“ – „Hm?“ – „In dieser Sache… Die anderen einzubeziehen sollte doch in Ordnung gehen, nicht wahr? Aber ist es auch in Ordnung, sie nicht alle einzubeziehen?“

Bisher hatte er darüber gar nicht nachgedacht. Aber es war nicht, als würde ihm einfallen, wo jeder seiner Freunde etwas beitragen könnte. Rui? Hatte sicher ein großes musikalisches Fachwissen, aber erstens schlug er mit seiner Musik und seinem Instrument selbst in eine eher weltweite Richtung – Klaviere gab es doch überall –, und zweitens glaubte Iku nicht, dass so ein deutliches Fachwissen im musikalischen Bereich für Leute, die nicht aus der Branche waren, interessant sein mochte. Wäre Rui jemand, der traditionell japanisch musizierte, wäre das ja etwas ganz anderes, aber so? Eher nicht.

Und bei einigen der Anderen sah es einfach ähnlich mau aus. Oder Iku wusste nicht genug über sie, und es erschien ihm auch ein bisschen dämlich, sie erst einmal über ihr Leben auszufragen, bevor er sein Projekt planen konnte.

 

„Klar.“

Es klang so einfach, wie Kai es sagte, dass Iku sich beinahe dumm für seine Frage fühlte. Gleichzeitig gab Kai ihm nicht das Gefühl, dumm zu sein, was ausgesprochen erleichternd war.

„Wir haben alle unsere Stärken und Schwächen, und da alles unter einen Hut zu bekommen, vor allem mit so wenig Vorbereitungszeit – das wäre unmöglich. Unter uns gesagt: Ich glaube gar nicht, dass einige von uns dir gerade eine große Hilfe wären.“

Er zwinkerte liebevoll. Iku blinzelte, dann lachte er auf.

Woher auch immer Kai das nun so genau wusste. Vielleicht hatte Rui es ihm erzählt, irgendwo zwischen gestern Nacht und heute Morgen – unwahrscheinlich! –, oder er hatte einfach nur Ikus Notizzettel im Wohnzimmer gefunden, als er aufgestanden war.

„Danke, Kai-San.“

Sie verfielen in behagliches Schweigen. Iku knabberte endlich seinen Toast auf, trank den Kaffee leer. Er hatte die Zeit vertrödelt, um die er sich üblicherweise zu seinem Morgenjoggen aufmachte, aber mit der Projektdeadline im Nacken war er auch gar nicht so sehr geneigt, den Frühsport noch nachzuholen. Mit vollem Kopf lief es sich so schlecht, das wusste er inzwischen aus Erfahrung. Statt also hinauszugehen trottete er zurück ins Wohnzimmer, nachdem er fertig mit dem Frühstück war, ließ sich mit einem Seufzen aufs Sofa plumpsen und zog seinen Notizzettel wieder zu sich. Er würde am Abend joggen gehen, sobald sein Kopf freier war.

Beinahe automatisch fiel sein Blick auf Ruis eigentümliche Handschrift. Er lächelte still in sich hinein. Sein Partner war einfach unheimlich lieb, und oft genug verblüffte er Iku mit wirklich guten Ideen. An Shun hätte er gar nicht gedacht.

An Koi und Arata auch nicht. Verdutzt betrachtete Iku die Notiz, die ganz sicher nicht von ihm war. Die krakelige, unordentliche und chaotische Schrift gehörte absolut nachweisbar zu Koi – spätestens an dem unnötigen Smiley und dem Herzchen auf dem Papier war es unverwechselbar zu erkennen. Er fragte sich ernsthaft, was der Kerl mitten in der Nacht in der falschen WG zu suchen hatte! Nachfragen würde er vermutlich trotzdem nicht. Bei Kois verrücktem Kopf war er sich nicht sicher, ob er die Antwort doch lieber gar nicht erst wissen wollte.

Lachend ließ er sich zurückfallen und schloss die Augen. Nun, damit hatte sich das Problem der mangelnden Jugendkultur wirklich gelöst.

 

„Dabei wollte ich doch diesmal keine Hilfe…“

 

Dankbar war er trotzdem!

Auf Koi und und Arata und ihre Manga-Interessen wäre er niemals gekommen! Jetzt im Nachhinein betrachtet wusste er wirklich nicht, wieso er es so sehr vergessen hatte, aber wie sagte man doch so klug? – Manchmal sah man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Er grinste sein Papier an. Eigentlich hatte er keine Hilfe gewollt.

 

Aber eigentlich sah es wunderschön aus mit den verschiedenen Handschriften.

Food quiz

„Ikkun. Was fällt dir ein, wenn du an typisch japanisches Essen denkst?“

 

Yoru und Aoi standen am Küchentisch, auf dem verborgen unter Tüchern einige Gegenstände lagen, von denen Iku nicht mehr erkannte, als dass da wohl Schüsseln und Flaschen dabei waren. Nachdem er den Camcorder, den er zum Filmen nutzte, auf einen Küchenstuhl und einen Stapel Kochbücher gestellt hatte, damit der ohne sein Festhalten ein sinnvolles Bild filmen konnte, hatte er sich zu ihnen gesellt; die neue Perspektive hatte ihm aber auch nicht geholfen, zu erraten, was die Sachen auf dem Tisch sollten.

Eine erste Erklärung, was er eigentlich mit seinen Freunden vorhatte, hatte er schon in seinem Zimmer gefilmt, auch wenn er eigentlich davon ausging, dass er am Ende der Aufnahme-Aktionen ein neues Intro filmen würde.

Aber lieber zu viel als zu wenig, nicht wahr?

 

Sehr zu seiner Erleichterung hatten beide natürlich ihre Hilfe zugesagt, als Iku an sie herangetreten war. Gleiches galt auch für die anderen Namen auf seiner Liste; Shun hatte sogar ein paar Krokodilstränen verdrückt vorlauter Rührung, dass Iku sich freiwillig an ihn wandte. (You hingegen hatte erst lautstark gemeckert, und im nächsten Atemzug dann aber verkündet, es würde ohnehin wieder Zeit für einen Familienbesuch.)

Auch die Manager waren der Idee nicht abgeneigt gewesen. Iku war so nervös gewesen, als er ihnen den braunen Papierumschlag mit seiner Projektbeschreibung überbracht hatte! Es war einfach nicht spektakulär. Es war bodenständig, und ihm fehlte viel von den typischen grellen und schillernden Charakteristika, die einer Idol-Karriere sonst so innewohnten.

„Es passt zu dir“, hatte Kurotsuki schmunzelnd kommentiert. Zuerst war Iku sich gar nicht sicher gewesen, ob es ein Kompliment oder eher eine versteckte Kritik war, aber er vertraute darauf, dass das Management sein Projekt nicht durchgewunken hätte, hätte es nicht gepasst.

Also wohl doch ein Kompliment.

 

„Ähm…“

 

Seine beiden Kameraden hatten ihn gemahnt, nicht im Vorfeld zu recherchieren. Iku hatte es auch nicht getan, denn er verstand schon, wieso. Es war für die Fans wohl um einiges unterhaltender, wenn das Gespräch nicht nur daraus bestand, dass Iku alles, was Yoru und Aoi erzählten, mit „das wusste ich schon“ abwinken konnte.

Jetzt bereute er es ein bisschen, denn er fühlte sich gar nicht vorbereitet! Zum Glück gab es doch ein paar Dinge, die ihm auch unvorbereitet einfielen.

„Reis!“

Das war einfach. Er lachte nervös, kratzte sich am Hinterkopf.

„Aber das wird jetzt kein dauerhaftes Ratespiel, oder?“

Iku kannte die Antwort, ehe er sie bekam. Aoi kicherte, Yoru grinste, so schelmisch, dass er es sich zweifelsohne bei einem Leben an Yous Seite abgeguckt haben musste. Der Gedanke ließ auch Iku unwillkürlich wieder bedeutend zufriedener lächeln. Er mochte es, in diesen seltenen Momenten Facetten an seinen Freunden zu entdecken, die man ihnen auf den ersten Blick gar nicht zutraute.

„Natürlich wird es das“, gab der Blondschopf sanft zurück. Er griff einen Kochlöffel, der ebenfalls auf dem Tisch lag und den Iku bisher gar nicht bemerkt hatte, und reichte ihn weiter. Iku konnte nur verwirrt blinzeln, als er das Kochgeschirr annahm; er kam sich dumm vor mit dem Ding in der Hand.

„Wenn du allzu schlecht abschneidest, hilfst du uns kochen!“ – „W-was?!“

 

Iku  konnte nicht kochen. Es war nicht, weil er Sachen anbrennen ließ, oder pauschal unfähig war, aber sobald er kein ganz genaues Rezept vor der Nase hatte, war es bei ihm vorbei. Sich zu merken, wie man welches Gericht zubereitete, oder welche Gewürze man wann und wo verwendete – unmöglich. Er war ohnehin kein Talent im Auswendiglernen, und das bisschen Erinnerungsvermögen, das er besaß, ging einfach für wichtigere Dinge drauf.

Mit Yoru und Aoi an seiner Seite musste er sich um Rezepte sicherlich keine Sorgen machen, trotzdem hielt sich seine Begeisterung in Grenzen. Auch in Hinblick darauf, hier mit einer Schürze am Herd zu stehen… Es war ein bisschen wie mit den glitzernden Idol-Outfits. Nicht Ikus Welt. Aber war es damit nicht auch eine Herausforderung? Er konnte Idol-Outfits tragen, ohne sich noch unwohl zu fühlen, da ging das auch mit Kochschürzen!

„Reis ist übrigens richtig.“

Iku war dankbar, dass Aoi ihn davon erlöste, sich weiter vorstellen zu müssen, wie ein rosa Rüschenungetüm von Schürze an ihm aussehen würde – obwohl er eigentlich ganz genau wusste, dass so ein Ding in ihrem Haushalt nicht existierte. Interessiert sah er zu, wie sein Freund eines der Tücher abhob; darunter kam eine Schüssel voll ungekochtem Reis zum Vorschein.

„Reis ist im Grunde das japanische Grundnahrungsmittel“, begann Yoru zu erzählen, „Heutzutage findet man zwar auch in vielen Gerichten stattdessen Nudeln wie Udon oder Soba, oder sogar die aus China stammenden Ramen-Nudeln, und Brot erfreut sich auch immer größerer Beliebtheit, aber immer noch essen rund siebzig Prozent der Bevölkerung täglich zu mindestens einer Mahlzeit Reis.“

 

Es machte Iku neugierig – wie viel hatten die beiden wohl recherchiert, und wie viel ohnehin schon gewusst? Dass sämtliche Prozentangaben recherchiert waren, war ja eigentlich logisch, aber Iku selbst hätte nicht einmal gewusst, dass Ramen einen ausländischen Ursprung hatte – oder dass so große Mengen Reis verzehrt wurden. Wann hätte ihm das auch auffallen sollen?

„Ich seh hier so oft jemanden morgens mit einem Toast in der Hand, dass ich gar nicht gedacht hätte, dass so viel Reis gegessen wird.“

Yoru lachte sanft. Aoi grinste, beinahe verschwörerisch.

„Wer nicht kochen kann oder will, isst natürlich keinen Reis.“ – „Und gerade, wenn ihr Frühaufsteher von Procella morgens aus dem Bett fallt, ist doch noch lange kein Frühstück fertig.“

Das stimmte allerdings. Morgens war Iku meistens schon wach, ehe der Koch auch nur darüber nachdachte, bei ihnen aufzuschlagen. Genau wie Kai. Den er übrigens noch nie hatte kochen sehen. Laut Rui konnte er es zumindest halbwegs, aber es schien wohl definitiv nicht zu seinen Hobbies zu gehören.

Und dass Shuns Kochkünste genauso inexistent waren wie sein Schamgefühl, das wusste Iku zur Genüge. Er lamentierte aber auch laut genug darüber! Wer nicht einmal die verpackten Reisbällchen aus dem Supermarkt öffnen konnte, ohne gleich einen halben Super-GAU draus zu machen… Aber gut. Das mussten die Fans nicht wissen. Ein paar Witzeleien waren okay, aber niemand hier würde Rufschädigung betreiben!

„Brot ist übrigens wirklich klar nicht-typisch japanisch“, fuhr Aoi schließlich fort. Die Stille dauerte gerade so lange, dass sie noch angenehm war. Man merkte, dass sie alle eine gewisse Erfahrung darin hatten, vor der Kamera zu reden, „Das ist erst mit allen anderen westlichen Einflüssen nach Japan gekommen. Hey, Iku. Fällt dir noch etwas ein, das wir heutzutage essen, das aber gar nicht traditionell ist?“

 

Ein Blick in sein ratloses Gesicht sollte reichen, um zu signalisieren, dass Iku nichts einfiel. Yoru und Aoi schienen ihn trotzdem nicht vom Haken lassen zu wollen – und das war auch gut so!

„Curry?“, riet er blindlings ins Blaue hinein. Curry klang an sich gar nicht so japanisch, wenn er es recht bedachte.

„Auch richtig, aber schon zu kompliziert. Es geht um Nahrungsmittel, nicht um ganze Gerichte. Und es ist etwas, dass du gerne isst, Ikkun.“

Für einen Moment hatte Iku keine Ahnung, worauf Yoru hinauswollte. Etwas, das er gerne aß. Aber kein spezifisches Gericht, sondern irgendein allgemeines Nahrungsmittel. Er hob ungläubig die Augenbrauen.

Fleisch?“

Die Antwort war ein beinahe synchrones Nicken. Wie Yoru weiter zu erklären wusste, war Fleisch etwas, das in der japanischen Kultur lange nicht gegessen wurde, nicht zuletzt, weil mit dem Auftreten des Buddhismus dann auch noch ein entsprechendes Tabu aufgekommen war. (Er warf scherzhaft ein, dass Iku doch You mal fragen sollte, ob er mehr darüber wusste. Obwohl Iku glaubte, dass You ihn dafür gehörig durch die Mangel nehmen würde, merkte er sich den Gedanken mal. Wenn es sich ergab…) Scheinbar war Fleisch erst seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wirklich ein gängiges Grundnahrungsmittel.

Für Iku war das unglaublich – es gehörte so selbstverständlich dazu, dass er sich gar nicht vorstellen konnte, wie er nur mit Fisch und Gemüse leben sollte.

„Was bin ich froh, nicht im neunzehnten Jahrhundert geboren zu sein!“

Also, nicht nur wegen dem Fleisch, aber – auch deshalb.

„Oh, ich bin sicher, du würdest noch mehr Gründe finden, warum du froh bist“, gab Aoi schmunzelnd zurück, „Yoru, Arata, You und ich haben ein bisschen recherchiert für unsere Bühnenrollen. So cool Samurai auch sind, ich hätte auch nicht in solchen Zeiten leben wollen.“

 

Iku hätte gerne mehr gehört, aber – falscher Zeitpunkt. Vielleicht konnte ja einer der viere eine kleine Geschichtsstunde abhalten in seinem eigenen Projekt? Das wäre doch cool! Er würde es in jedem Fall unterstützen. Er würde jedes Projekt unterstützen, so tatkräftig er konnte, immerhin war das nun wirklich das Mindeste, das er tun konnte, nachdem er selbst so viel Unterstützung bekam.

Jetzt galt es vor aller Unterstützung aber erst noch, sein eigenes Projekt zu meistern, und bisher… sah es da eher mau aus. Typisches japanisches Essen. Was aß er denn in der Regel dazu, wenn Reis serviert wurde? (Und nicht gerade You gekocht hatte.)

Und vermutlich auch wieder keine ganzen Gerichte, sondern nur Nahrungsmittel?

„Gemüse. Fisch. Tsukemono.“

Mit jedem Kommentar wurde ein weiteres Tuch gehoben. Unter einem fand Iku verschiedenes Gemüse, das ihm aus dem Alltagsgebrauch bekannt war – Karotten, Zwiebeln, Kohl. Ingwer war auch dabei. Ein zweites Tuch verbarg Tintenfisch, und das Letzte ein Gefäß mit eingelegtem Gemüse.

„Miso-Suppe?“

Auch wenn er nicht glaubte, dass Yoru und Aoi hier einen Suppentopf versteckt hatten. Wo denn auch? Hier sah nichts nach einem Topf aus. Trotzdem zog Aoi ein weiteres Tüchlein weg. Keine Suppe, aber ein kleines Schraubglas mit Dashi-Pulver, das eine der elementaren Zutaten für Miso-Suppe war.

„Seetang?“

Ein weiteres Tuch verschwand und enthüllte einige Nori-Blätter.

„Im Grunde ist das auch alles.“

Yoru lächelte. Trotz seiner Worte hob er noch ein paar Tücher ab. Darunter versteckt waren Gewürze – Salz und Zucker –, sowie einige Fläschchen mit Sake, Mirin, Essig und Sojasauce.

„Wenn man es ganz traditionell herunterbricht, sind das weitestgehend die Hauptbestandteile der japanischen Küche. Im Vergleich sind viele andere Nahrungsmittel, die wir heute kennen und lieben, eher selten – oder einfach nicht typisch japanisch, sondern aus dem Ausland entlehnt.“

Iku hob die Augenbrauen, interessiert, aber skeptisch.

„Das sind ganz schön wenige Gewürze.“

Wenn er so daran dachte, wie viel Zeug You bei seinem Curry immer brauchte, sah es gleich noch weniger aus.

„Das hat seine Richtigkeit“, gab Aoi zurück, „Viel mehr an Gewürz nutzt man in der Regel nicht. Ab und an ein paar Kräuter, aber häufig eher zur Zierde als zum Geschmack.“ – „Genau. Besonders bei all den saisonalen Nahrungsmitteln, die wir hier haben, wird Wert darauf gelegt, dass die Zubereitung erfolgt, ohne viel von ihrem natürlichen Geschmack zu übertünchen. Einiges wird sogar ganz ohne Würze zubereitet.“

 

„Womit wir auch gleich beim nächsten Thema wären.“

Aoi hob belehrend den Zeigefinger. Mit der freien Hand deutete er auf die restlichen Tücher auf dem Tisch, die ein Stück entfernt lagen von dem Haufen an Lebensmitteln, die sie schon enthüllt hatten.

„Japan ist stark geprägt von saisonaler Küche. Das ist natürlich im Grunde in vielen Teilen auf der Welt so, dass es bestimmte Lebensmittel nur zu bestimmten Zeiten gibt, aber von allem, was ich mitbekommen habe, scheinen wir es da ganz schön zum Exzess zu treiben im Vergleich. Import, Export und fortgeschrittene Konservierungsmethoden haben saisonale Nahrungsmittel allgemein ziemlich entzerrt, aber wir haben an der Tradition deutlich festgehalten.“

Saisonale Nahrungsmittel. Iku warf verzweifelt die Hände in die Luft.

„Yoru-San! Aoi-San! Wie soll ich das denn erraten?!“

„Solltest du als Herbstkind nicht in der Lage dazu sein, typisch herbstliches Essen zu erkennen?“, konterte Aoi frech. Und ja, natürlich hatte er Recht, und Iku fielen sogar ein paar Sachen ein. Aber wusste er dadurch schon, ob sie typisch japanisch waren oder eher weniger? Unfair!

„Ich kenne Kürbis.“

Aber soweit Iku wusste, gab es den nicht nur im Herbst, auch wenn er den spätestens seit seinem Halloween-Shooting stark damit assoziierte.

„Birnen. Süßkartoffeln.“

Immerhin letztere beiden waren korrekt. Danach allerdings – scheiterte Iku drastisch. Er riet mehr auf gut Glück noch so einiges, das ihm gerade spontan einfiel, konnte aber kein weiteres Tuch dazu bringen, preiszugeben, was es versteckt hatte.

 

Irgendwann gab er auf. Yoru und Aoi lachten, und sie klangen viel zu zufrieden dabei.

„Wenn du aufgibst, wirst du uns automatisch kochen helfen müssen!“

Inzwischen hatte Iku sich mit dem Schicksal schon abgefunden, also willigte er seufzend ein. Die letzten Tücher enthüllten jetzt unter Yorus Erklärung, was sich dort befand – womöglich Dinge, die einige ausländische Fans so noch nicht gesehen hatten –, Kakis, Kastanien und einen Fisch, dessen Namen Iku nicht einmal gewusst hätte, wenn sein Leben davon abhinge. Pazifischer Makrelenhecht, und scheinbar wurde der nur im Herbst gefangen.

Dass sogar Fisch saisonal war, war beeindruckend.

Beeindruckend war auch, dass Iku jetzt, wo alles aufgedeckt war, neben dem Fleisch, das fehlte, noch mehr vermisste.

„Wenn man das so betrachtet, sieht es recht einseitig aus“, kommentierte er, die Augenbrauen ungläubig hochgezogen, „Was ist denn mit Milch und solchen Sachen? Ich meine, selbst wenn Fleisch aus ethischen Gründen nicht gegessen wurde, hat sich das wirklich auch auf Milch ausgeweitet?“

„Milch ist wirklich selten in der japanischen Küche“, erwiderte Aoi sanft, „Und selbst wenn sie das nicht wäre, wäre sie doch recht universell, oder?“ – „Gilt das nicht für vieles? Ich meine, Fisch und Gemüse ist auch international.“

„Aber vieles von diesem Gemüse gibt es auch nicht in allen Ländern, beziehungsweise, sie haben einfach einen anderen Schwerpunkt darauf, was oft gegessen wird und was nicht. Es könnte spannend sein, zu vergleichen, ob man diese Gemüsesorten auch öfter mal zuhause auf dem Teller hat, obwohl man ganz woanders herkommt, nicht wahr?“

Yoru hatte Recht. Und natürlich hatte Iku so weit nicht gedacht. Der Gedanke war allerdings schön; sich verbunden fühlen zu können einfach nur dadurch, dass man die gleichen Dinge auf dem Teller hatte, war doch super! So konnten ihre internationalen Fans sicher ein paar Dinge finden, um sich ihnen näher zu fühlen. Er grinste zufrieden.

„Und Fisch und Meeresfrüchte sind typisch, weil wir als Inselstaat natürlich viele unserer Ressourcen aus dem Meer holen?“ – „Genau. Japan ist sehr stark vom Meer abhängig. Wir feiern doch nicht umsonst den Umi no Hi.“

 

Feiertage. Das wäre eigentlich auch ein gutes Thema gewesen, oder? Japan hatte so viele tolle Feiertage und Feierlichkeiten! Er hoffte, dass zum Frühjahr oder Sommer hin einer der Jungs die Sparte abdecken würde. Und hey, eine Ausrede, auf ein Fest zu gehen, nahmen sie sicherlich alle gern. Iku hatte sich viel zu lange nicht mehr am Goldfischfischen versucht, auch wenn sie eigentlich schon genug Haustiere hatten.

Aber so ein paar Fische machten doch wirklich keinen Unterschied mehr, oder?

Er schob den Gedanken erst einmal wieder weg, konzentrierte sich wieder auf ihr Gespräch. Wo war der Faden noch gleich gewesen? Ach ja!

„Aber wirklich“, murmelte er kopfschüttelnd, „So viel Milch, wie wir immer im Kühlschrank haben, hätte ich nicht gedacht, dass die selten ist!“ – „Ist sie aber“, bekräftigte Yoru noch einmal, „Viele Japaner sind sogar laktoseintolerant. Kai-San ist einfach ein Ausnahmefall. Außerhalb seiner Reichweite wirst du wohl eher weniger große Milchvorkommen finden.“

Der Kommentar ließ Iku laut auflachen.

Innerhalb seiner Reichweite suchst du sie noch vergebener!“

Auch Aoi und Yoru stimmten in sein Lachen mit ein. Eigentlich stimmte das nicht einmal so ganz; wo Kai war, war Milch, das war ein unumstößliches Gesetz, weil irgendwie inzwischen doch jeder, der mal mit dem Einkaufengehen geschlagen war, Milchtüten einpackte. So wie Iku auch im Kühlschrank immer Sportsdrinks fand, oder Rui seinen Pudding. Er war sich auch ziemlich sicher, dass Gravi immer Süßigkeiten für Koi herumliegen hatten.

Es gehörte einfach dazu.

Und wo ihm das gerade so bewusst wurde – das war total wunderbar. Sie waren eben mehr als einfach nur ein Haufen Jungs, die zufällig zusammenarbeiteten. Sie waren wirklich wie eine Familie, in der sich jeder um jeden kümmerte!

 

„Eigentlich hatten wir übrigens auch überlegt, dir ein kleines Quiz zum Thema Tischmanieren und Essverhalten zu stellen. Scheint, als wären wir da auch wieder ganz schön eigen. Aber irgendwie war es dann doch zu trocken, deshalb haben wir es gelassen.“

Iku war froh darum. Er war nun wirklich kein unordentlicher Esser, aber er hätte es vermutlich trotzdem ganz schön versemmelt. Allein die kleine Info, die Aoi noch zu berichten wusste, dass es eine japanische Macke war, jede Komponente einer Mahlzeit getrennt zu servieren, hätte Iku gar nicht gewusst! Auch wenn es an sich irgendwie logisch war – in internationalen Filmen sah das immer ganz anders aus, wenn Leute aßen.

Es war unvorstellbar für ihn; Fisch und Gemüse auf sein Reisschälchen türmen? Undenkbar! Das ging doch einfach nicht.

Sicherlich wäre es interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, was das japanische Essverhalten ausmachte, aber auf der anderen Seite verstand Iku zur Genüge, dass das verdammt öde werden könnte. Trockene Theorie war sowieso immer langweilig, aber an typisch japanischen Lebensmitteln hatten ihre Fans immerhin insofern noch etwas, dass sie sie, wenn sie wollten, selbst ausprobieren konnten. Aber Tischmanieren? Eher weniger, damit würden sie doch in ihrer Heimat nur schief angeschaut werden.

Sie unterhielten sich nur kurz darüber, und es dauerte nicht lange, bis das Thema zum Essen zurückkehrte, immerhin war das schlussendlich der Grund für ihr Zusammensein.

 

Dass es überhaupt so viel dazu zu sagen gab, war verblüffend.

 

„Übrigens sind die Geschmäcker hier in Japan auch noch stark regional bedingt“, erklärte Aoi. Er stupste das Schraubglas mit dem Dashi-Pulver an.

„Hier in der Kanto-Region wird allgemein sehr stark gewürzt gegessen.“ – „Zu stark“, erwiderte Yoru mit einem leisen Schnaufen, „Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, egal, wie lange ich hier bin!“

Aoi lachte sanft.

„In der Kansai-Region isst man viel milder, nicht wahr?“ – „Genau. You macht es nichts aus, aber manchmal ist mir das wirklich zu viel. Besonders an der Miso-Suppe merkt man es sehr. Deshalb koche ich sie immer noch gern selbst.“

Iku erinnerte sich vage, dass das schon einmal Thema gewesen war, als Koi und Aoi diese seltsame Weckaktion gestartet hatten. Er war zwar nicht live dabei gewesen, aber natürlich hatte er sich die Aufzeichnung angesehen – und gehört, was da so alles rausgeschnitten worden war. Aus gutem Grund!

Aber davon ab wäre es ihm nie aufgefallen. Yoru kochte öfter mal, aber Iku könnte nicht sagen, dass sein Essen so bemerkenswert anders war als das, das er sonst aufgetischt bekam. Vielleicht war er einfach zu unaufmerksam in solchen Dingen. Er sollte Rui einmal fragen. Empfindlich, wie der manchmal war, bemerkte er sicherlich auch Geschmacksunterschiede sehr viel deutlicher.

Der Gedanke an Rui erinnerte ihn vor allem wieder daran, dass er noch ein Thema hatte, dass er dringend besprechen wollte. Und je länger sie quatschten, desto länger konnte er sich um die inexistente rosa Rüschenschürze drücken!

 

„Wie steht es eigentlich mit Süßigkeiten?“

Jedes Mädchen mochte Süßigkeiten, nicht wahr? Ikus Kenntnis über Süßkram belief sich allerdings im Grunde nur auf die Valentinsschokolade, die er seit ein paar Jahren bekam, und das Zeug, das er ab und zu mal naschte. Bonbons. Knabberzeug. Aber er hatte keine Ahnung, was davon nun allgemein gängig bekannt war, und was eher wieder ihrer besonderen Küche zuzuschreiben war.

„Unsere traditionell japanischen Süßigkeiten lassen sich unter dem Begriff Wagashi zusammenfassen. Sie werden normalerweise aus komplett pflanzlichen Rohstoffen hergestellt. Solche Sachen wie Daifuku, Dango oder Manjuu. Charakteristisch ist die Verwendung von Reismehl, und häufig wird Anko als Füllung verwendet. Heutzutage werden sie eigentlich in erster Linie zum Tee gereicht oder zu festlichen Anlässen zubereitet.“

Iku war immer noch ganz beeindruckt davon, wie viel Aoi und Yoru recherchiert hatten. Er hätte ein schlechtes Gewissen, wenn er nicht recht sicher wäre, dass sie beide viel Spaß gehabt hatten. So, wie Iku auch extrem viel Freude daran gehabt hätte, tausend Sportarten zu recherchieren. (Wieso hatte er es eigentlich nicht getan? Es gab doch auch sicher typisch japanischen Sport! Vielleicht, wenn er noch die Zeit fand…)

Er schüttelte den Gedanken wieder ab, als Aoi mit seiner kleinen Erzählung fortfuhr:

„In den letzten Jahren ist wohl alles Mögliche mit Grünteegeschmack in Mode gekommen, und darüber hinaus haben wir wohl an modernen Süßigkeiten viel aus dem Ausland übernommen – oder uns inspirieren lassen. Käsekuchen und solche Dinge. Pockys. So richtig japanischen Ursprungs ist das alles nicht, aber ich denke mal, da es auf unseren Geschmack abgestimmt ist, ist es schon wieder irgendwie typisch japanisch.“

 

Das Argument ließ Iku im ersten Moment verdutzt blinzeln. War das denn so ein großer Unterschied?

„Mich würde jedenfalls sehr interessieren, wie unsere heutigen Süßigkeiten, die es teilweise auch international vertrieben gibt, in anderen Ländern schmecken.“

Er grinste, weil Yoru ihm beinahe die Gedanken aus dem Kopf klaute. Doch, darauf wäre er auch neugierig! Und sicher nicht nur er. Das war doch genau das richtige Stichwort, um ihre ausländischen Fans ebenfalls anzusprechen, oder? Sicherlich würden einige jetzt auf die Idee kommen, japanischen Süßkram probieren zu wollen, vor allem die internationalen Marken, wo sie ernsthaft vergleichen konnten.

Und vermutlich aber nicht nur sie.

„Sagt das aber nicht zu laut, sonst kommt Koi auf Ideen.“

Yoru lachte herzlich. Aoi verzog das Gesicht zu einer gutmütigen, aber leidenden Grimasse. Er konnte sich vermutlich viel zu gut vorstellen, wie das enden würde, wenn Koi da auf die Idee kam, sich durch internationalen Süßkram futtern zu wollen.

„Bitte nicht! Hajime-Sans Gesicht dürfte ganz schön entgleisen, wenn da auf einmal eine riesige Kiste mit ausländischen Süßigkeiten vom Postboten abgegeben wird!“

 

Iku ahnte, dass da nicht nur Hajimes Gesicht entgleisen würde; Harus Begeisterung dürfte sich ebenfalls in Grenzen halten.

 

Leider wurde die Vorstellung viel zu bald unterbrochen, als eine Zwiebel auf ihn zuflog. Iku fing sie reflexartig auf, blinzelte zu Aoi hinüber, der gerade grinsend aus einem Schrank einen Stoß Schürzen hervorzog. Keine einzige war rosa oder hatte Rüschen. Beruhigend.

„Es wird Zeit, dass wir mit dem Kochen anfangen, oder? Die Jungs werden Hunger haben, wenn sie von ihren Jobs zurückkommen!“

Iku willigte ein – eine andere Wahl hatte er sowieso nicht, und außerdem begann sein Magen, sich bemerkbar zu machen. Er griff nach der Schürze, die Aoi ihm hinhielt – sie war ganz neutral dunkelblau, und er war dankbar dafür –, und band sie sich um. Yoru und Aoi taten es ihm gleich, und für einen Moment waren sie so alle drei mit ihren Schürzen beschäftigt.

Eigentlich wusste Iku, dass man in diesem Haus nichts unbeaufsichtigt stehen lassen konnte. Besonders in der Nähe von Nahrungsmitteln auch nur mal kurz wegzuschauen war in der Regel eine verdammt dumme Idee.

In diesem Moment hatte er es aber vergessen.

Wahrscheinlich hätte Iku auch noch lange gebraucht, um zu bemerken, dass etwas fehlte, als er wieder von seiner Schürzenbinderei aufsah.

 

„Nanu? Wo ist denn der Kohlkopf?“

Erst Aois Worte machten ihn darauf aufmerksam, dass da etwas nicht stimmte. Er blinzelte. Sah sich verwirrt um. Sah rein aus Reflex unter dem Tisch nach, auch wenn er nicht glaubte, dass der Kohlkopf einfach kommentarlos da hinuntergerollt war.

War er auch nicht.

Er war schändlich entführt worden. Und gemeuchelt. Überall lagen Kohlfetzen verstreut, während ein dicker, schwarzer Hase eine tiefe Kuhle in den Kohl knabberte, in der sein dickes, rundes Hasengesicht beinahe verschwand. Für einen langen Moment starrte Iku einfach nur, sah zu, wie das Hasenköpfchen tiefer in dem Kohl verschwand. Dann stürzte er sich mit einem hilflosen Schrei auf das kohlvernichtende Ungetüm.

 

„Kuroda!!!“

Ghost stories

Es war das erste Mal, das Iku in Shuns Zimmer war. Irgendwie war der Gedanke, in die vier Wände des Dämonenkönigs einzudringen, bisher nie sonderlich attraktiv gewesen, also hatte er es bisher nie getan. Er wusste, dass Rui ab und zu einmal bei ihm war, und laut Ruis Aussage war auch nichts dabei, und er wusste, dass Kai regelmäßig morgens bei Shun aufschlug, nur um ihn zu wecken. Und den schien der Gang in die Dämonengemächer auch nicht zu stören.

Er wusste aber auch, dass Koi und Aoi bei ihrer Weckaktion damals schreiend die Flucht ergriffen hatten.

Kurzum: Er hatte überhaupt keine Ahnung, was ihn erwarten würde. Ein einfaches Zimmer? Eine gruselige, dämonische Aura, die über allem hing? Vielleicht auch ein besonders großes Bett, es ging immerhin um Shun, der eine bekennende Schlafmütze war.

 

Zumindest mit dem Bett behielt er Recht.

 

Alles andere hingegen… Sprachlos sah er sich um, den Camcorder in seiner Hand immer noch auf Shun gerichtet, weil er gar nicht wusste, was er überhaupt filmen oder nicht filmen sollte. Der Raum war riesig! Wie passte so ein großes Zimmer auf ihre Etage?! Und so prunkvoll eingerichtet, wie es hier war, fühlte Iku sich gleich einmal underdressed. Als wäre er in Bettlersfetzen zu einer Audienz beim König erschienen.

Es war wirklich beeindruckend. Überall Prunk und Pomp, massive Möbel, ein gigantisches Bett – und trotzdem verblasste das alles bei dem Anblick, den eine Zimmerecke bot. Iku wollte gar nicht hinsehen, aber er konnte nicht anders. Und er fühlte sich beobachtet!

Wie oft starrte ihm Hajimes Gesicht aus dieser Ecke entgegen?

Zu oft. Iku wollte nicht nachzählen.

„Ah~ Ikkun, bist du sprachlos?“

Iku lachte leise, nervösm ertappt. Er zwang sich, den Blick loszureißen von der seltsamen Fan-Ecke, die Shuns ganzes Zimmer mit ihrer Präsenz zu dominieren schien, und suchte über den Camcorder hinweg den Blick seines Leaders. Der grinste, rätselhaft wie immer. Es war definitiv nicht beruhigend.

„Keine Sorge. Du musst keine falsche Zurückhaltung walten lassen. Filme ruhig, was du möchtest. Ich bin sicher, die Fans freuen sich~“

 

Iku hatte vor allem den Eindruck, dass Shun sich freuen würde.

 

„Sicher? Ich meine–“

Er sagte nichts weiter, gestikulierte nur in Richtung der Hajime-Sammlung. Das ganze Schwarz und Lila dort in der Ecke biss sich mit dem Rest der Einrichtung, die in überwiegend hellen bis kräftigen, warmen Farben gehalten war. Shun folgte seiner Geste, der Anblick ließ seine Augen unheilvoll aufleuchten und er lachte viel zu freundlich.

„Aber natürlich, Ikkun! Die ganze Welt soll teilhaben an meiner Liebe zu Hajime!“

„Wenn du das sagst…“

Iku ahnte beinahe schon, dass es dem Schnitt zum Opfer fallen würde, so wie beinahe alles, was Shun im Kontext Hajime von sich gab, aber – wenn es ihm Freude machte? Und zumindest über den restlichen Einblick in sein Schlafzimmer würden die Fans sich sicher freuen. Er ließ den Camcorder einmal durch den Raum schweifen, bevor er schließlich zu Shun zurückkehrte. Inzwischen saß der an seinem riesigen Schreibtisch und gestikulierte Iku, dass er sich zu ihm setzen sollte.

„Ich hätte uns ja gern ein paar Gesprächspartner eingeladen“, begann der Ältere im Plauderton, „Aber leider sind sie alle sehr kamerascheu. Und es hätte für die Zuschauer sicher seltsam ausgesehen, wenn wir mit der Luft reden, nicht wahr?“ – „Haha, ja…“

Ein Schaudern unterdrückend versuchte Iku, sich nicht zu intensiv vorzustellen, wie Shun eine fröhliche Teeparty mit einem Haufen Geister feierte. Nicht, dass er wirklich an Geister glaubte, aber bei Shun konnte man einfach nie so ganz sicher sein, ob er gerade nur Theater spielte oder doch die Wahrheit sagte. Ganz egal, wie abstrus es klang.

Bevor der Ältere es noch schaffte, Ikus Weltbild in seinen Grundfesten zu erschüttern, sollten sie besser damit anfangen, ihr Programm abzuspulen. Er richtete den Camcorder ein bisschen besser aus, so dass er Shuns Gesicht und Oberkörper bequem aufs Bild bekam, versuchte dabei krampfhaft, zu ignorieren, wie beobachtet er sich aus Richtung Hajime-Sammlung fühlte. Gruselig.

 

Wie konnte Shun in so einem Zimmer schlafen?

 

„Also“, begann er schließlich. Er gab es schon wieder auf, das Kribbeln in seinem Nacken ignorieren zu wollen, „Nachdem wir jetzt keine, äh, Spezialisten auf dem Gebiet bei uns haben, um sie zu interviewen – was hast du geplant, Shun-San?“

Die Art, in der Shuns Augen sich mit seinem breiten Grinsen verengten, war furchteinflößend und beunruhigend genug, dass jedes Kribbeln im Nacken dagegen effektiv verblasste. Iku war froh, dass man sein Gesicht gerade nicht sehen konnte! Also, die Zuschauer nicht. Shun schon, und der amüsierte sich vermutlich ganz wunderbar darüber, wie er erbleichte.

„Ich habe mir gedacht, zuerst erzähle ich dir ein bisschen etwas. Japan hat viele Geisterwesen und Dämonen, aber neben allen Dingen, die vielleicht real sind, haben wir auch eine Vielzahl an Geschichten. Ich bin sicher, sie werden dir gefallen.“

Das Lächeln auf Shuns Gesicht wurde weicher, weniger gefährlich, und darin noch gefährlicher. Wenn man ihn nicht kannte, sah es harmlos und gut gelaunt aus, aber – Iku kannte ihn.

„Rui jedenfalls mag die Geschichten.“

Was an sich kein gutes Argument war; Rui mochte, warum auch immer, so vieles, das normale Leute eher als gruselig betrachten würden – und er hatte dabei gar kein Verständnis dafür, wie gruselig es war! Wahrscheinlich also würde Iku die Geschichten gar nicht gut finden, sondern eher angsteinflößend. Und die Fans wohl auch? Andererseits war japanischer Horror irgendwo in Übersee vielleicht einfach nicht mehr gruselig.

 

Während Iku noch seinen Gedanken nachhing, griff Shun nach einem Buch, das auf seinem feinsäuberlich aufgeräumten Schreibtisch lag. Es sah alt aus, die Seiten vergilbt, der Einband verblasst. Er konnte die Zeichen nicht mehr lesen, die auf das Cover gestanzt waren. Weil Shun es beinahe auffordernd hochhielt, ließ Iku den Fokus der Aufnahme auf das Buch umschwenken.

„Es ist eine Geschichtensammlung“, begann Shun zu erklären. Er strich liebevoll über die Kanten der alten Buchseiten, „Ist schon eine Weile in Familienbesitz. Vielleicht… hm. Ah, nein, das bleibt ein Geheimnis.“

Er zwinkerte. Iku beobachtete, wie er das Buch aufschlug, so behutsam und vorsichtig, dass er automatisch den Eindruck bekam, dass es schrecklich wertvoll sein musste. Er war wirklich froh, dass Shun es ihm gar nicht erst in die Hand gab!

„Die Geschichten hier drin fallen unter den Sammelbegriff Kaidan. Es ist ein Genre von japanischen Horrorgeschichten, das seine Wurzeln in der Edo-Epoche hat. Heutzutage laufen die meisten Horrorerzählungen unter anderen Sammelbegriffen. Dieser hier wird nur noch genutzt, wenn man absichtlich ein folkloristisches Flair überbringen möchte.“

Inzwischen hatte Shun aufgehört, zu blättern, seine langen Finger ruhten entspannt auf den aufgeschlagenen Seiten. Er tippte leicht gegen das vergilbte Papier.

„Die Geschichten basierten ursprünglich auf buddhistischen Lehrgeschichten, hatten also viel mit Moral und Karma zu tun. Entsprechend ist es ein gängiges Bild, dass rachsüchtige Geister sich an ihren Peinigern rächen. Es hat aber nicht lange gedauert, bis der grundlegend belehrende Tonfall dem Drang nach Horror und Makabrem gewichen ist. Na, so viel zum Hintergrundwissen! Was hältst du davon, wenn ich dir eine meiner Lieblingsgeschichten erzähle?“

Shun tippte noch einmal auf die aufgeschlagenen Buchseiten, hielt das Buch dann behutsam hoch. Am oberen Rand der rechten Seite konnte Iku den Titel der Geschichte in leicht verblasster Tinte lesen – Botan Dourou. Die Pfingstrosenlaterne.

 

Iku lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er kontrollierte noch einmal, dass sein Camcorder einen ordentlichen Bildausschnitt aufnahm, dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Bett entdeckte er einen kleinen, flauschigen Knubbel. Shiroda. Er hatte das kleine Häschen beim Hereinkommen gar nicht bemerkt. Shun unterdessen begann zu erzählen, seine Stimme klang ruhig. Angenehm. Eindrucksvoll, und sehr danach, dass er ganz genau wusste, was er tat.

Da war ein leiser, kaum merklicher Unterton in ihr, der Ikus Nackenhaare kribbeln ließ – oder war das nur wieder Hajimes starrer Blick? –, der ihn nicht vergessen lassen konnte, dass die Geschichte, die Shun erzählte, unheimlich sein sollte.

Zuerst fing es gar nicht so unheimlich an. Shun erzählte, dass die Geschichte zwei Fassungen hatte. Die Ursprüngliche, die noch etwas kürzer war, und eine zweite Fassung, die schließlich deutlich später auch fürs Kabuki geschrieben worden war; man hatte hier einen deutlich romantischeren Unterton verwendet. Shun, absehbar, mochte die romantische zweite Fassung der Geschichte erheblich lieber. Weil die grundlegende Geschichte wohl im Endeffekt identisch blieb, wollte er nicht beide Versionen rezitieren, sondern konzentrierte sich gleich auf seine Lieblingsvariante:

 

Ein junger Student namens Saburo verliebte sich in eine wunderschöne Frau, Otsuyu, die Tochter des besten Freundes seines Vaters. Natürlich wurden seine Gefühle erwidert, und die beiden trafen sich regelmäßig im Geheimen, versprachen sich, zu heiraten. Doch bevor es so weit kommen konnte, wurde Saburo schwer krank. Er konnte das Haus nicht mehr verlassen und war so lange Zeit unfähig, seine Angebetete wiederzusehen.

Als er endlich genesen war und loszog, um seine Geliebte wiederzusehen, wurde ihm erzählt, dass Otsuyu gestorben sei. Während des Obon-Festes betete er für ihre Seele. Just in diesem Moment überraschte ihn das Geräusch von Schritten, die sich ihm näherten: Es waren zwei Frauen. Als er sie sah, erkannte er, dass sie verblüffend nach Otsuyu und ihrer Dienstmagd aussahen. Wie sich herausstellte, hatte ihre Tante, die gegen die Hochzeit von Saburo und Otsuyu war, das Gerücht gestreut, dass Otsuyu gestorben sei; Otsuyu hingegen erzählte sie, dass ihr Geliebter seiner Krankheit erlegen sei.

Jetzt, wo sie wieder zusammen waren, kehrten die beiden Geliebten zu ihrer geheimen Beziehung zurück. Jede Nacht verbrachte Otsuyu bei Saburo, begleitet von ihrer Dienstmagd, die eine Pfingstrosenlaterne trug.

 

Iku konnte sich nicht einmal vorstellen, was eine Pfingstrosenlaterne war. Bisher jedoch empfand er die Geschichte nicht als besonders unheimlich, wenn er rein von dem Erzählten ausging. Es waren Shuns Stimme und Mimik – inzwischen sah Iku wieder zu ihm, nachdem das schlafende Häschen nicht interessant genug gewesen war –, die ihm immer noch ein unwohles Gefühl bescherten. Das unheilvolle Glühen in seinen Augen. Der sanfte, melodische Klang seiner Stimme, in den irgendetwas eingewoben war, das völlig fehl am Platze und unharmonisch wirkte, ohne, dass Iku den Finger drauf legen konnte, was es war.

In jedem Fall hatte das ganze Schauspiel etwas Hypnotisches – Iku hätte nicht weghören oder wegsehen können, so sehr er es auch wollen mochte.

 

Die Geschichte nahm damit ihren weiteren Lauf, dass Otsuyu und Saburo eine ganze Weile friedlich bei ihren nächtlichen Stelldicheins blieben. Zumindest solange, bis eines Nachts ein Diener durch ein Loch in der Wand zu Saburos Schlafzimmer blickte. Was er dort erblickte, war sein Herr, der gerade den Akt der Liebe vollzog – an einem verwesenden Skelett. Ein zweites Skelett saß nahe der Tür und hielt eine Pfingstrosenlaterne. Natürlich berichtete er einem örtlichen buddhistischen Priester davon, der schließlich herausfand, wo die Gräber von Otsuyu und ihrer Magd sich befanden. Er brachte Saburo dorthin und überzeugte ihn von der Wahrheit, dass seine große Liebe längst gestorben war, und versprach ihm außerdem, ihm dabei zu helfen, sich und sein Haus vor den Geistern zu schützen. Der Priester platzierte überall um das Haus herum Ofuda und betete jede Nacht.

Der Plan funktionierte; Otsuyu und ihre Magd waren nicht mehr fähig, einzutreten, obgleich sie jede Nacht zurückkehrten. Sie riefen immer wieder nach Saburo, versicherten ihn ihrer Liebe und ihrer Sehnsucht. Weil er sich so sehr nach seiner Liebe sehnte, wurde es immer schlechter um Saburos Gesundheit. Seine Diener, die fürchteten, ihr Herr könnte an seinem gebrochenen Herzen sterben und sie ohne Arbeit zurücklassen, lösten die Ofuda an den Hauswänden. Nun konnte Otsuyu wieder eintreten, und ein letztes Mal gaben sie und Saburo sich ihrer gemeinsamen Liebe hin.

Am Morgen wurde Saburo tot aufgefunden; er lag in inniger Umarmung mit Otsuyus Skelett, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht.

 

Iku war inzwischen übel. Ob es an der Geschichte lag oder an dem geradezu seligen Ausdruck auf Shuns Gesicht, das wusste er selbst nicht so genau. In jedem Fall war ihm gar nicht wohl mit der ganzen Sache.

„Ist es nicht eine wunderschöne Geschichte?“, säuselte Shun. Er klappte sein Buch wieder zu, strich liebevoll über den Einband, legte es zur Seite. Iku folgte den Bewegungen abwesend, aber es half nicht, die makabren Bilder in seinem Kopf wieder loszuwerden. Er lachte nervös auf.

„Ich weiß nicht… vielleicht bin ich zu jung, um ihre Schönheit zu sehen!“

Shun lachte. Es klang so wenig beunruhigend, dass Iku tatsächlich für einen Moment entspannte.

„Vielleicht. Warte nur, Ikkun, bis du selbst deine große Liebe findest.“

Iku klappte den Mund auf, protestierend. Hitze breitete sich in seinen Wangen aus.

„S-Shun-San! Wenn ich jemals meine große Liebe finde, dann werde ich sicher nicht darüber nachdenken wollen, wie–“

Er konnte das nicht aussprechen! Musste er aber auch nicht, Shun schien sehr genau zu wissen, worauf er hinauswollte, und lachte nur noch einmal herzlich auf.

„Du übersiehst die Botschaft dahinter, Ikkun. Ist es denn nicht ein wunderbarer Gedanke, dass die Liebe so stark sein kann, dass sie selbst den Tod überdauert? Otsuyu hat nie von ihrem Liebsten abgelassen, selbst, als sie nicht mehr in dieser Welt weilte. Und für Saburo, schlussendlich, war der Tod auch nur eine Erlösung, ermöglichte er ihm doch, endlich wieder ungestört mit seiner Geliebten zusammen zu sein. Weißt du, würde ich frühzeitig sterben – aber keine Sorge, so etwas passiert nicht –, ich würde auch wiederkehren, weil meine Liebe zu Hajime so viel stärker ist als der Tod!“

 

Es gab Dinge, die Iku sich nicht vorstellen wollte. Dieses Bild, das sich gerade in seinen Kopf brannte und nicht mehr herauskommen wollte, gehörte unangefochten auf Platz eins der Liste.

 

 
 

***

 

 

„Nachdem wir jetzt fertig mit der kleinen Märchenstunde sind… Wie wäre es mit ein paar Erfahrungsberichten?“

 

Shuns Grinsen hatte wieder begonnen, unheilverkündend zu werden. Iku schluckte, versuchte, es zu erwidern, doch sein eigenes Lächeln fiel wackliger aus, als ihm lieb war. Es war wirklich beruhigend, sich hinter dem Camcorder verstecken zu können.

„Erfahrungsberichte.“ – „Natürlich, Iku! Ich könnte dir noch viel, viel mehr darüber erzählen, was für Geister und Dämonen auf japanischem Boden wandeln, aber ich könnte ihre Existenz leider nicht belegen. Also muss es so reichen.“

Wenn er ganz ehrlich war, dann war es Iku jetzt schon zu viel. Natürlich machte Shun nur Witze – hoffte er! –, aber das bedeutete nicht, dass die Vorstellung weniger gruselig war. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, Shun um Hilfe zu bitten. Aber Horror war beliebt, und Shun war vor allem auch beliebt, also – zwei Fliegen mit einer Klappe? Und bei aller Unheimlichkeit konnte Iku nicht leugnen, dass es wirklich interessant war.

„Keine Sorge, Ikkun. Wenn es dir zu gruselig wird, kannst du dich gern an mich klammern~“ – „I-ich verzichte!“

 

Eigentlich war es auch ganz harmlos. Shun erzählte von besessenen Gegenständen. Schirme mit Augen und einem Standbein, die durch die Gegend hüpften. Schriftrollen, Gemüsereiben. Es war so skurril und albern, dass Iku nicht einmal wirklich Angst davor haben konnte. Er war sich sicher, in dem Moment, in dem er einem Schirm mit riesigem Augapfel gegenüberstand, würde das anders aussehen, aber gerade im Moment brachte ihn die Vorstellung eher zum Schmunzeln.

Wie die anderen wohl reagieren würden? Rui würde er zutrauen, sich mit besessenen Gegenständen anzufreunden. Koi würde wohl eher schreiend davonrennen, genau wie Kakeru – der bei seinem Pech dann in eine von einem Dämon besessene Tür rannte, die ihn von oben bis unten mit ihrer riesigen Zunge abschlabbern würde.

Vielleicht könnten sie mit solchen Situationen wirklich mal erfahren, ob You nun Exorzismus beherrschte oder nicht. Andererseits war irgendwie wahrscheinlicher, dass solche Typen wie Kai oder Hajime die armen, unglücklichen Youkai einfach vor die Tür setzen würden.

 

Irgendwie wäre das nun doch fast amüsant. Zu schade, dass sie keine Youkai im Haus hatten!

 

Was sie allerdings im Haus hatten, zumindest behauptete Shun das vehement, war Zashiki Warashi. Ein Geist, der aussah wie ein kleiner Junge mit Bobschnitt und roten Wangen, den man üblicherweise eher in alten Herrenhäusern fand, und der scheinbar Glück und Zufriedenheit mit sich brachte. Angeblich würde dafür aber das Grundstück geradezu vom Pech verfolgt werden, wenn er es je verließe.

„Er ist ein netter Junge“, erzählte Shun im Plauderton, „Ich habe ihn ab und zu einmal gesehen. Macht manchmal ein bisschen Schabernack, aber so sind Kinder eben. Vielleicht hast du ihn auch schon einmal bemerkt? Schritte auf dem Gang, obwohl da niemand ist, oder seltsame Geräusche…“

Natürlich hatte Iku schon seltsame Geräusche im Haus gehört! Das war auch kein Wunder, wo sie eine halbe Zoohandlung bei sich aufgenommen hatten. Da hörte man schonmal seltsame Geräusche. Kuroda war richtig gut darin, seltsame Geräusche zu machen. Und ein paar Haustiere konnten unerklärliche Schritte auch echt gut erklären. Das hatte noch lange nichts mit einem Geist zu tun!

 

Er erinnerte sich, dass Kakeru einmal bei einem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte, dass er in der Nacht geträumt hatte, auf dem Flur einem kleinen Jungen begegnet zu sein.

 

Es war nichts. Hier gab es keine Geister. Iku machte den Mund auf, um Shun genau das zu sagen, doch das wissende Grinsen auf dem Gesicht des Älteren ließ ihn wieder innehalten, stocken, den Kopf schütteln. Shun würde ihm sowieso widersprechen. Vermutlich auch noch mit Argumenten, die besser waren, als es Iku lieb wäre.

„Ich denke, es sind genug der Geschichten, oder?“, versuchte er, vom Thema abzulenken. Shun lächelte, verständnisvoll, zumindest oberflächlich.

„Awww, schon? Ich habe noch viel mehr, Ikkun! Die japanische Mythologie hat noch viel mehr Geisterwesen zu bieten! Und wir müssen ja auch nicht bei den altmodischen Geschichten bleiben. Es gibt auch ganz viele modernere Geister.“

Von denen Iku aber auch nicht viel hören wollte, denn immerhin – na ja. Wenn sie erst seit ein paar Jahrzehnten spukten, hatten sie sicher noch viel mehr Lust, auf den Plan zu treten, oder? Andererseits war modern ein gutes Stichwort. Damit es nicht altbacken blieb, wäre das doch genau die richtige Lösung. Er ahnte, dass Shun darauf spekuliert hatte, ihn damit zu kriegen, denn in den Augen des Anderen blitzte Triumph auf, als er geschlagen seufzte.

 

„Also gut, erzähl.“

 

Shun erzählte. Von Geistern auf Schultoiletten – zum Glück nur auf dem Mädchenklo! –, Geistern, deren ganzer Nachlebensinhalt es zu sein schien, Leute zu ermorden, und das so makaber wie möglich, Ritualen, die so kompliziert und obskur klangen, dass Iku sich gar nicht merken konnte, wie sie ablaufen sollten. Er wollte es sich auch nicht merken, denn weder wollte er irgendeine Anderswelt betreten, noch Geisterjungen anrufen, die ihm all seine Fragen beantworten konnten.

Wäre in Mathe-Prüfungen sicher nützlich, aber nein.

Als Shun aber auf die Idee kam, Kokkuri-San spielen zu wollen, lehnte er rundheraus ab.

„Aber Ikkun~ Es ist doch gar nichts dabei. Wirklich, Kokkuri-San ist ganz harmlos. Wir stellen ihr nur ein paar Fragen, und danach lassen wir sie wieder ihrer Wege ziehen. Ich bin sicher, dass es auch unsere Fans interessiert, was Kokkuri-San zu sagen hat.“

„Ich weiß ja nichtmal, was ich sie fragen sollte. Außerdem ist es doch viel spannender, die Antworten selbst zu finden, nicht wahr?“, argumentierte er, in der Hoffnung, dass das Shun halbwegs überzeugen würde. Er ahnte, dass es verlorene Liebesmüh war. Shun war der Typ Mensch, der gern alles wusste, und das weit über die Dinge hinaus, die er wissen musste, also würde ihm ein allwissendes Geistermädchen natürlich gefallen.

„Findest du? Wäre es nicht besser, das Schicksal schon zu kennen? Immerhin hast du dann die Möglichkeit, es zu verändern.“

Iku schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein. Ich bin lieber unwissend! So kann ich wenigstens in der Überzeugung leben, dass ich alle meine Entscheidungen getroffen habe, weil ich das wollte, und nicht, weil ich wahlweise einem Schicksal entgehen oder entsprechen wollte. So eine Illusion von Freiheit ist doch viel – freier.“ – „Wie weise du bist, Ikkun.“

Obwohl Shuns Grinsen beinahe spöttisch aussah, und obwohl seine Stimme viel zu amüsiert klang, fühlte Iku sich nicht ausgelacht. Er lächelte flüchtig, behutsam. Eigentlich fühlte er sich sogar ehrlich gelobt. Shun war wirklich talentiert darin, Empfindungen zu transportieren, die auf den ersten Blick nicht sichtbar waren.

 

„Aber es ist schade“, murmelte er seufzend, „Ich hätte sie zu gerne gefragt, ob Hajime meine Liebe je erwidern wird. Nicht, dass ich die Antwort nicht ohnehin schon kenne.“

 

Nein?

Iku grinste schief. Das war ein Thema, in das er sich nicht einmischen wollte. Obwohl er Shun immer noch nicht ganz ernstnehmen konnte in seinem ganzen Liebesdrama, hatte er doch zumindest ein bisschen das Gefühl, dass es… irgendwie ernstgemeint sein könnte. Und das warf einen Haufen an Gedanken und Komplikationen auf, mit denen Iku sich nicht auseinandersetzen wollte, solange er es nicht musste.

Wenn er sich irgendwann einmal verliebte, würde er darüber nachdenken, was es für die Liebe bedeutete, ein Idol zu sein.

Bis dahin blieb er gerne unwissend, und auf Dinge konzentriert, die aktuell einfach wichtiger für ihn waren. Die Musik. Der Sport. Sein Leben irgendwie unter einen Hut zu bekommen, ohne irgendwo zu schludern. Seine Träume zu verwirklichen. Wie Rui es gesagt hatte, sie waren noch mitten dabei, es war okay, wenn nicht alles funktionierte. Solange sie nur am Ball blieben, würde das werden.

Iku freute sich darauf. Er freute sich vor allem darauf, irgendwann endlich zu erfahren, was es mit Ruis großem Traum auf sich hatte. Er würde warten, ganz, wie er es versprochen hatte.

 

„Nun gut. Ikkun, noch eine Geschichte, dann bist du erlöst.“

 

Es war nicht, als könnte Iku ablehnen, also stimmte er mit einem resignierten Lachen zu. Die Aussicht, nach noch einer Geschichte rauszukommen, war aber auch attraktiv! Sein Nacken kribbelte immer noch unangenehm, und so langsam fürchtete er, er würde noch Albträume von Hajimes starren Blicken kriegen, wenn das so weiterging.

„Es geht um einen kleinen Finger.“

Shun grinste breit, hob den eigenen kleinen Finger, um provokant mit ihm zu wackeln. Iku hob die Augenbrauen, ungläubig. Das klang einfach albern.

„Ein kleiner Finger.“ – „Genau. Also, pass auf…“

 

Es war die Geschichte eines Traums, wie Shun erzählte. Eines Traums, in dem man an einem Flussufer stand, das von dichtem Nebel eingehüllt war. Eine alte Frau befand sich nahe eines Tores, auf dem Boden kniend, scheinbar suchte sie etwas im hohen Gras.

Wonach suchen Sie?, wirst du in diesem Traum fragen. Die Alte wird sich herumdrehen und dir erklären, dass sie einen kleinen Finger sucht. Sie hält ihre Hand hoch“ – Shun tat das Gleiche, knickte dabei den kleinen Finger ab – „und du wirst sehen, dass ihr linker kleiner Finger fehlt. Sie wird dich bitten, ihr beim Suchen zu helfen. Du musst einwilligen.“

Die fremde Hand sank wieder. Iku beobachtete, wie Shun beide Hände locker im Schoß verschränkte, sah dann wieder zu ihm auf, in das Gesicht mit dem rätselhaften, undurchdringlichen Lächeln, das gerade noch viel unheimlicher aussah als während der letzten Erzählungen zusammengenommen.

„Wenn du den Finger nicht findest, wirst du nicht mehr aufwachen.“

Kein schöner Gedanke. Iku hob unwohl die Schultern, runzelte dann aber die Stirn. Irgendwie fehlte an dieser Geschichte noch etwas. Ein Bezug zur Realität. So war es einfach nur – eine Geschichte. Als er genau das an Shun weitergab, lachte der andere nur sanft auf. Es klang seltsam gnadenlos.

 

„Oh, Ikkun. Es ist ein Spiel. Eine Art Ritual, weißt du?“

 

Shuns Lächeln wurde schmal, dünn, gefährlich. Seine Augen blitzten.

 

„Wer die Geschichte hört, wird den Traum innerhalb der nächsten sieben Tage träumen. Viel Glück bei der Suche, Ikkun.“

Autumn leaves

Der Tempel war eher klein. Er war so typisch, dass Iku in dem traditionell japanischen Bauwerk nichts Besonderes fand – dafür war er völlig eingenommen von den Bäumen, die rings um das Tempelgelände wuchsen und in den leuchtendsten Herbstfarben schillerten. Unter ihren Füßen waren bunte Blätter, die bei jedem Schritt raschelten. In einer Ecke des großen Innenhofes sah Iku einen hübschen, jungen Mann, der gerade dabei war, das Laub aufzufegen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie You ihm bedeutete, den Camcorder in eine andere Richtung zu schwenken, und sofort gehorchte er.

„Mein älterer Bruder“, murmelte You ihm leise zu, „Er hat gesagt, ich krieg Prügel, wenn sein Gesicht irgendwo auftaucht.“

Iku lachte leise. You klang auch nicht, als würde es ihn wirklich stören; so schlimm war es vermutlich also gar nicht.

„Ich habe mit dem Tempeloberhaupt gesprochen. Ich darf dir einen Rundgang durch den gesamten Tempel anbieten, wenn du möchtest. Ich warne dich aber, so wahnsinnig spannend ist es nicht, und so wahnsinnig viel Ahnung von Religion hab ich auch nicht.“

Ein Blick hinüber zu Yoru, der gutmütig die Augen verdrehte, ließ Iku ahnen, dass das so nicht ganz stimmte. Er ließ es unkommentiert, willigte nur ein, sich den Tempel zeigen zu lassen. Er wusste, dass man als nicht dem Tempel zugehöriger Mensch in viele Räumlichkeiten eigentlich gar keinen Einblick bekam; ein bisschen war er also selbst neugierig, nicht nur um der Fans Willen.

Ein Gähnen unterdrückend folgte er You, als er mit Yoru an seiner Seite auf den Haupteingang zusteuerte.

 

Iku war müde. Seit Shuns Horrorgeschichten vor zwei Tagen hatte er grauenhaft geschlafen. Ohne kleine Finger, bisher, aber das machte es nicht einmal besonders viel besser! Er wollte wahlweise diesen Traum oder diese Woche hinter sich bringen, damit er gar nicht mehr darüber nachdenken musste, denn offensichtlich setzte es ihm zu. Er war allein in der letzten Nacht dreimal aus dem Schlaf geschreckt, und obwohl er als Pendler eigentlich ein Meister darin war, in den Zügen zu schlafen, war er bei der Fahrt hierher bei jedem leisen Rumpeln sofort wieder panisch hochgefahren.

Dass sie heute alle bei You übernachten würden, war da unglaublich tröstlich. In einem buddhistischen Tempel würde sich doch kein Geist der Welt wagen, ihn belästigen, nicht wahr? Eine Nacht voll friedlichem Schlaf klang gerade wirklich verlockend – auch wenn die Nacht noch lange hin war. Es war zwölf Uhr mittags, und ihr Plan sah vor, dass sie sich den Tempel ansehen würden, gegebenenfalls ein bisschen über die dazugehörige Religion plaudern würden, und schließlich noch einen Spaziergang hinaus ins nächste Wäldchen unternahmen, das jetzt im Herbst atemberaubend schön sein musste. (You hatte es natürlich anders ausgedrückt, aber das war die Botschaft seiner Worte gewesen.)

Besonders auf den Spaziergang freute Iku sich. Er war einfach gern in Bewegung!

 

Bevor sie im Inneren des Tempels verschwanden, blieb er noch einmal zurück, um möglichst viel des altmodischen Tempelgebäudes und –Geländes filmen zu können. Für Iku mochte der Anblick völlig vertraut sein, aber ihre Fans draußen in der ganzen Welt hatten sicherlich keine Ahnung von traditioneller, japanischer Architektur.

„Ich kann Tempel und Schreine kaum auseinanderhalten“, kommentierte er, als er wieder zu You und Yoru aufschloss, die abwartend im Eingang standen. You sah ihn amüsiert an und schüttelte den Kopf.

„Wundert mich nicht. Sie bauen beide auf den gleichen architektonischen Grundgedanken auf. Wusstest du, dass es früher sogar richtig viele Schreintempel gab? Also Tempel und Schreine in einem? Shintoismus und Buddhismus waren sich mal ziemlich nah.“ – „Echt?“

Nein, das hatte Iku nicht gewusst. Religion war nicht seine Welt. Klar, es gehörte irgendwie zum Alltag dazu, aber es war nichts, das Iku sehr stark interessiert hätte. Er hätte einen Vortrag über alle großen Laufbahnen in Japan halten können, kein Problem, aber das, was You ihm gerade erzählte, war völliges Neuland für ihn.

„Jap. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde ein Gesetz verabschiedet, dass jedwede Mischung der beiden Religionen verbot. Im Zuge dessen mussten viele Schreine ihren buddhistischen Einflüsse aufgeben, und umgekehrt viele Tempel ihre shintoistischen. Unser Tempel hatte früher auch einen kleinen Schrein dabei. Ich kann dir die Ecke später zeigen, wo er stand – man sieht heute nichts mehr davon.“

„Hast du ne Ahnung, wieso das Gesetz aufgekommen ist?“

„Das war Teil einer Anti-Buddhismus-Bewegung. Die hat wohl schon zur Mitte der Edo-Epoche angefangen und dann ihren Höhepunkt in der Meiji-Ära gefunden. Man hat Buddhismus damals als Störenfried von außen betrachtet und wollte dem japanischstämmigen Shintoismus mehr Möglichkeiten geben, seine Macht auszudehnen. Ich glaube, es hatte unter anderem auch damit zu tun, dass der damalige Kaiser Anhänger einer Shinto-Sekte war. Heutzutage steigt die Anzahl an Buddhisten in Japan übrigens wieder; wenn ich es richtig im Kopf habe, müsste sie bei etwa dreißig Prozent der Bevölkerung liegen.“

 

Während sie durch die Flure des Tempels liefen, blieb es danach relativ still. Iku war sich fast sicher, dass es einfach daran lag, dass You dazu erzogen war, im Tempel mit Respekt herumzustreifen. Sicherlich waren einige Priester im Gebet, oder in Studien vertieft, oder mit irgendetwas anderem beschäftigt, wo sie dankend darauf verzichten konnten, von drei lärmenden Jugendlichen gestört zu werden.

Es war faszinierend, wie viel man hier finden konnte. Neben Räumen und Hallen, die zum Gebet dienten oder besondere Artefakte und Statuen beherbergten, gab es genauso viele Räumlichkeiten, die sich mit den weltlichen Belangen der Menschen hier befassten. Büros, Küchen, eine kleine Bibliothek mit Nachschlagewerken zum Buddhismus. Und natürlich Privaträume. Vor seinem alten Kinderzimmer blieb You grinsend stehen und verkündete, dass da niemand reinkommen würde.

Er gab nicht nach, egal, wie oft Iku darum bettelte.

„Lass ihn“, murmelte Yoru nach dem fünften Mal. Er lachte leise, „Er will doch nur seine Sailor-Moon-Poster verstecken.“  - „Yoru!“

You schnaubte empört.

„Ich habe keine Sailor-Moon-Poster, das weißt du genau!“

Yorus Blick sagte etwas anderes. Der verdächtige, leichte Rotschimmer auf Yous Wangen auch. Er schnaubte noch einmal empört, dann öffnete er ein bisschen zu schwungvoll die Schiebetür und deutete unwirsch in den Raum.

„Bitte sehr! Keine Poster.“

 

Es war ein Kinderzimmer. Kein Jugendzimmer. Ein Kinderzimmer. Kein Bett, stattdessen wohl ein Futon, der gerade eingerollt in irgendeinem Schrank verbrachte. Stofftiere, die man dem You von heute gar nicht mehr zutrauen würde. Bei einem Teddybär, der selig in einer Ecke des Raumes auf einer niedrigen Kommode samt Nachtlicht stand, war Iku sich sicher, dass er ein Gegenstück dazu einmal auf einem Kinderfoto in Yorus Zimmer gesehen hatte.

An den Wänden hing nichts mehr, aber der blassgrüne Anstrich wies an einigen Stellen verräterisch rechteckige Verfärbungen auf, die auf Poster oder Bilderrahmen hindeuteten. Weil Iku nirgendwo Löcher entdeckte, ging er eher von Postern aus.

Insgesamt war es relativ leer. Auf einem Schubladenschrank, der etwa hüfthoch war, lag ein Fußball. An einer Pinnwand pinnte ein alter, zerknitterter Songtext. Vielleicht von einer Choraufführung? Das Bücherregal war weitgehend ausgeräumt, aber Iku entdeckte einen guten Stoß an Kinderbüchern. Sogar Kinderkochbücher, ein Anblick, der ihn unwillkürlich schmunzeln ließ.

„Langweilig, huh? Das Meiste ist mit mir ausgezogen“, kommentierte You. Als Iku wieder zu ihm hinübersah, stand er neben dem Nachttischchen und ließ das Stummelärmchen des Teddybärs winken.

 

Nostalgie war ein seltsamer Ausdruck auf Yous Gesicht.

 

„Ich hätte das Zimmer gern mal in all seiner Pracht gesehen“, erwiderte er grinsend. You lachte – „Vergiss es! Dafür bist du ein paar Jahre zu spät, ha!“

Und leider, das wusste Iku dafür umso besser, war Yous Zimmer in ihrer WG wirklich, wirklich unspektakulär. Ein Zimmer eben. Wie man es von einem jungen Erwachsenen erwarten würde. Ordentlich, nicht besonders viel Dekokrempel. Eigentlich war es fast schade, aber andererseits musste Iku zugeben, dass er auch selbst niemals auf die Idee kommen würde, sein Zimmer allzu bunt vollzukleistern, selbst wenn es ihm gefallen würde.

Selbst bei Koi hielt es sich in Grenzen!

Vielleicht war das einfach der Einfluss des WG-Lebens, gegen den nur Shun und sein Hajime-Altar immun waren.

 

Die Gedanken wieder weggeschoben ging es weiter; inzwischen hatte Yoru die Kamera übernommen. Wie er sagte, damit die Fans auch mal ein bisschen mehr von Iku sahen, immerhin war das Projekt seine Idee gewesen und damit sollte eigentlich doch er der Star des Programms sein, nicht wahr? Es war lieb, und Iku genoss die neue Freiheit, wo er nicht mehr darauf achten musste, dass er ordentlich filmte und nicht irgendwann versehentlich nur noch den Fußboden aufs digitale Band brachte.

„Oh, aber You, sag mal. Yoru-San hat letztens erwähnt, dass der Buddhismus Fleischverzehr verbietet.“

You brummte vage.

Verbieten ist nicht ganz das richtige Wort. Der Buddhismus, so wie ich ihn kenne, hat keine strikten Verbote und Vorschriften, sondern es sind mehr… Anregungen. Die werden trotzdem meistens recht streng eingehalten – Stichwort Karma. Weil Buddhisten glaubten, dass alles, was sie in diesem Leben falsch machen, im nächsten wieder auf sie zurückfällt, sind sie natürlich nicht blöd genug, fröhlich gegen jedes Idealbild ihrer Religion zu verstoßen. Wie kommt ihr denn auf sowas?“

„Fleisch steht doch noch gar nicht so lange so groß auf dem Speiseplan der Japaner, You. Erinnerst du dich? Wir haben etwas drüber gelesen, als wir fürs Theater recherchiert haben.“ – „Ja, richtig. Ich erinnere mich. Fand ich damals schon seltsam. Na ja, ich denke mal, heutzutage wird religiöse Maxime einfach nicht mehr so streng gesehen, huh? Und es deckt sich auch ziemlich gut. Hat das mit dem Fleisch nicht angefangen, kurz nach der Sache mit den Anti-Buddhismus-Bewegungen? Ende neunzehntes Jahrhundert?“ – „Genau.“

Iku verfolgte das Gespräch zwischen seinen Freunden schweigend, interessiert. Jetzt war es natürlich dumm, dass Yoru hinter dem Camcorder verborgen war. Es schien aber, dass er sich wohler hinter der Kamera als davor fühlte, und möglich hätten sie gar nicht so intensiv miteinander geredet, wäre er jetzt nicht da hinten.

 

Es war zuerst irgendwie unerwartet gewesen, aber Iku war froh, dass Yoru sie begleitet hatte.  

 

 
 

***

 

 

Nach dem Mittagessen – das nicht gefilmt wurde – gingen sie hinaus in den Wald. You hatte alles andere als zu viel versprochen.

Es war wunderschön.

Die Bäume – „Fächerahorn“, wusste Yoru zu berichten – strahlten in leuchtenden Rottönen, und jetzt, da der Herbst noch nicht so weit fortgeschritten war, waren ihre Kronen noch dicht belaubt, obwohl die roten Sprenkel auf dem weichen Waldboden langsam dichter wurden. Iku hatte den Camcorder wieder an sich genommen, einem spontanen Impuls folgend. You und Yoru liefen vor ihm, halb rückwärts und halb vorwärts. Die ersten Augenblicke ihres Spaziergangs war es still, während Iku versuchte, möglichst viel der herbstlichen Schönheit um sie herum auf Film festzuhalten. Wie das Sonnenlicht durch die dichten Baumkronen tröpfelte und die Blätter am Boden und an den Zweigen zum Strahlen brachte. Wie das Wispern des Windes die sonnenhellen Tupfer auf der Walderde wieder und wieder neu zeichnete.

„Sag mal, weißt du noch?“

Das waren die Worte, die nach einigen Minuten die Stille durchbrachen. You grinste. Er stand gerade auf einem großen Flecken sonnenbeleuchtetem Waldboden, wurde selbst direkt vom Licht angestrahlt – er sah aus wie die Sonne persönlich. Yoru blieb blinzelnd stehen. Im ersten Moment wusste er offensichtlich nicht, worauf sein Freund anspielte.

„Was denn?“, hakte Iku neugierig nach.

„In der Grundschule haben wir mit einem Freund hier in der Gegend verstecken gespielt.“ – „Oh! Ich weiß es wieder! Mattsun hatte sich ein kleines Loch in den Boden gebuddelt und sich dann unter Herbstlaub versteckt. Bist du nicht erst auf ihn draufgetreten und dann noch auf ihn gefallen?“

You lachte herzlich. Yoru stimmte mit ein, und auch Iku ließ sich schnell von der heiteren Stimmung anstecken.

 

Es war eine gute Idee gewesen, die Kamera wieder zurückzunehmen.

 

Ihr weiterer Weg über die gewundenen Pfade des Waldes war gespickt mit kleinen Anekdoten, die Iku immer wieder ein Grinsen ins Gesicht trieben. Yoru, der sich abends im Dunkeln verlaufen hatte und dann so lange weinte, bis You ihn gefunden hatte – „Ich hab überhaupt nicht geweint!“, protestierte Yoru mit hochroten Wangen. You allerdings behauptete steif und fest, dass er ihn ohne sein lautes Heulen doch niemals gefunden hätte –, You, Yoru und ihr gemeinsamer Freund beim Käfersammeln im Sommer, wobei sie sich scheinbar immer gegenseitig Steine in den Weg gelegt hatten, um die besten, größten, coolsten Käfer zu finden.

„Ich weiß noch, wie You damals versucht hat, die Mädchen mit seinen Fängen zu beeindrucken.“

Yoru grinste breit und liebevoll. Diesmal war es an You, zu protestieren. Iku konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Mädchen scharenweise davonliefen, auch wenn das gar nicht mehr zu dem Bild passte, das man heute von You bekam. Er war einfach ein Frauenheld! Irgendwie war es tröstlich, zu wissen, dass er auch nicht ganz oben angefangen hatte.

„Du hast deinen ersten Liebesbrief vor Schreck fallen lassen, Yoru. Der Wind hat ihn den ganzen Hügel runtergepustet und wir sind ihm stundenlang nachgelaufen.“ – „Haha, ja. Du hast ganz schön geflucht! Und deine neue Hose hatte nachher so viele Grasflecken…“

„Und das nur dafür, dass du dem armen Ding dann einen Korb gegeben hast.“

 

Es war schade, dass viel von dem, das sie gerade besprachen, am Ende dem Schnitt zum Opfer fallen würde, einfach, weil es eine Zeitgrenze gab, die es einzuhalten galt. Vielleicht würde sogar noch etwas rausfallen, weil You und Yoru selbst beschlossen, dass es doch zu privat war, und sie im Eifer des Gefechts ihre eigenen Grenzen nicht mehr gefunden hatten. Ikus Meinung nach war zwar nichts Verfängliches dabei, aber er konnte nachvollziehen, dass man einfach nicht alles an die Öffentlichkeit tragen wollte. Und vielleicht war es Yoru unangenehm, wenn die Fans davon wussten, wie er mit seinen ersten Liebesbriefen umgegangen war. Vielleicht war es You unangenehm, wenn die Fans erfuhren, dass er als Kind einfach noch kein Mädchenschwarm gewesen war.

Vielleicht wollten sie einfach nur vermeiden, dass ihr Freund am Ende genug Erwähnung fand, dass irgendein aufmerksamer Fan ihn sich merken würde.

Ob sie das ungeschnittene Filmmaterial behalten dürften? Iku wollte es aufheben, denn er fand die kleinen Geschichten aus Yous und Yorus Kindheit unglaublich liebenswert. Beneidenswert. Er hatte keinen Kindheitsfreund, der sich durch sein ganzes Leben zog.

 

Wie er ihnen da zuhörte, wurde er glatt neidisch.

 

Eine hübsche, kleine Lichtung war erst einmal Endstation ihrer Reise. Yoru hatte Proviant eingepackt, und weil Iku auch langsam wieder hungrig wurde, meckerte er sicher nicht, als sein Freund verkündete, es wurde Zeit für ein Picknick. Nachdem sie sichergestellt hatten, dass sie ausreichend Speicherplatz auf dem Camcorder übrig hatten, und noch einen Ersatzakku in der Tasche, wurde das Gerät laufen lassen. Es bekam einen Platz in den niedrigen Ästen des Baumes, in dessen Schatten sie sich niederließen. Das Bild war an den Seiten verdeckt von dem bunten Laub, das sich vor die Linse schob. Ein hübscher Effekt, wie Iku fand.

„Sag mal, Ikkun.“

Yoru schob ihm ein Reisbällchen zu, sah ihn dabei lächelnd an. In seinen Augen schimmerte Sorge.

„Du siehst schon ein ganzes Weilchen sehr müde aus. Ist alles okay?“

„Ähm… Ja. Doch. Haha… Shun-Sans Gruselgeschichten haben mich vielleicht ein bisschen mitgenommen, aber keine Sorge! Ich lass mich doch nicht unterkriegen!“ – „Ich weiß doch. Aber trotzdem. Wenn es dir nicht gut geht, dann sag Bescheid, ja? Wir müssen nicht noch ewig herumlaufen, wenn du zu erschöpft bist.“

Es war okay. Iku fühlte sich wohl hier draußen zwischen Oktobersonne und Herbstlaub, und die frische Luft half ihm, seine Gedanken zu klären und einfach nicht mehr an die seltsame Traumgeschichte zu denken, an die er nicht denken wollte.

„Was hat der alte Dämon wieder getrieben?“

Iku blinzelte. Er biss nachdenklich von seinem Reisbällchen ab und begann schließlich, zu erzählen, was Shun ihm erzählt hatte – nur so verallgemeinert, dass welcher obskure Fluch auch immer sich nicht auf seine Freunde ausweiten dürfte. You bedachte die kleine Anekdote mit einem Augenrollen und einem Kopfschütteln, während Yoru mitleidig lächelte.

 

„Mach dir keinen Stress. Solchen Schwachsinn gibt’s mit Sicherheit nicht. Geister verhalten sich hoffentlich nicht ganz so dämlich.“

Der Gedanke brachte Iku dazu, sich an ein ganz anderes Thema zu erinnern.

„You, sag mal – wie ist das eigentlich mit Exorzismus? Gibt es sowas bei euch?“ – „Hah?!“

Eindeutig nicht begeistert. Der Rotschopf warf ihm über sein eigenes Reisbällchen hinweg vernichtende Blicke zu. Iku fürchtete schon, dass You ihn jetzt demonstrativ ausschweigen würde, oder noch schlimmeres tun, aber nach einem würdevollen Schnaufen schien er sich wieder soweit zusammengerissen zu haben.

„Ja, es gibt Exorzismus. Bin mir ziemlich sicher, dass irgendwelche Formen von Geisteraustreibung in jeder Religion betrieben werden. Nein, ich kann’s nicht, also komm nicht auf Ideen. So ein Zeug wie Talismane oder Ofuda findest du bei Buddhisten übrigens auch nicht wirklich, das sind Sachen, die eher aus dem Shintoismus kommen. Bei uns sind’s nur Rituale, Mantras, bestimmtes Räucherwerk.“

Auch wenn er das nicht laut sagen würde – Iku war enttäuscht. Irgendwie hatte er gehofft, dass You einen Talisman hervorzaubern könnte, der ihn vor bösen Geistern beschützen konnte. Wirklich, er glaubte Shun nicht so ganz, was er erzählte, aber es nahm ihn mit! Er schlief nicht gut, und mit einem Talisman würde er vermutlich bedeutend besser schlafen. Er seufzte leise.

„Also kennst du die nötigen Mantras und Prozeduren zum Exorzieren nicht?“ – „Nein. Wenn ich in irgendeiner Form bewandert wäre, hätte ich unseren Dämonenkönig längst ausgetrieben!“

You zwinkerte. Iku lachte leise, nicht ganz motiviert dazu, sich zu amüsieren. Er fing Yorus Blick auf, der wieder sorgenvoll in seine Richtung wanderte, dann aber lächelte der Ältere aufmunternd.

„Hey. Wir könnten Morgen noch zu dem Schrein hier in der Nähe? Ikkun einen Talisman kaufen. Und wenn wir dort kurz filmen dürfen, haben wir einen hübschen Vergleich zum buddhistischen Tempel.“

Und das war es mit dem Thema. (Iku war übrigens sehr angetan von dem Gedanken an den Talisman!) Ein paar Scherze später war es erst einmal wieder vergessen, sie alle mit dem Essen beschäftigt. Als absehbar wurde, dass nichts Spannendes mehr passieren würde, schaltete Iku den Camcorder doch ab; er musste nicht unnötig viel Filmmaterial sammeln, nicht wahr?

 

Sie verbrachten die nächsten Stunden unter dem leuchtend roten Herbstlaub, tauschten Geschichten und Erinnerungen aus, die sie mit dem Herbst verbanden.

You erzählte, dass er einmal bei einem kleinen Festival gewesen war, das ähnlich wie die großen Events zum Kirschblütenschauen im Frühling abgehalten wurde, um sich an der Pracht der Herbstbäume zu erfreuen. Nichts Besonderes, wie er sagte, sondern ein typisches kleines Straßenfest, wie es sie gerade im Sommer einfach zu Hauf gab.

Iku hoffte, dass einer der Jungs das Thema wirklich noch aufgreifen würde. Vielleicht konnte er es Rui vorschlagen, wenn dem Jungen zeitnah nichts Schönes einfiel.

Irgendwann waren sie auf den Pfaden ihrer Erinnerung so weit gelaufen, dass sie zusammenführten. Es war lustig, wie viele Dinge Iku schon vergessen hatte, die dafür Yoru oder You im Gedächtnis geblieben waren, und umgekehrt, wie viel er noch wusste, das seine Freunde vergessen hatten. Dass sein Spitzname auf Yous Kappe ging, hatte er wirklich schon verdrängt. Weshalb ausgerechnet You ihn jetzt aber gar nicht benutzte – na. Es störte Iku nicht. Er war glücklich, wie es war.

„Ich bin froh. Über den Spitznamen.“ – „Ernsthaft?“

You lachte. Er zog die Augenbrauen hoch, grinste provokant.

„Heißt das, ich krieg jetzt ne Belohnung? Du darfst mir bei Gelegenheit ein Eis spendieren oder so.“ – „So war das nicht gemeint! Aber ja. Froh. Es hat Rui geholfen, sich mir anzunähern. Wisst ihr noch? Nachdem er angefangen hat, mich Ikkun zu rufen, ist er endlich aufgetaut.“

„Das hab ich auch bemerkt“, gab Yoru nachdenklich zurück. Er lächelte auf diese wehmütig-nostalgische Art, die Iku sonst nur von seiner Mutter kannte, wenn sie mal wieder auf dem Weg zur Amtspost statt dem Aktenordner das alte Kinderfotoalbum aus dem Schrank gezogen hatte. „Ich bin sehr froh darüber. Rui war am Anfang wirklich ein bisschen schwierig.“

 

Aber eigentlich waren sie das wohl alle gewesen. Und selbst wenn nicht. Iku wollte niemals einen anderen Partner als Rui haben.

 

 
 

***

 

 

Die Sonne ging unter. Zwischen den Bäumen sickerte rötlich-goldenes Licht hindurch, tauchte die ohnehin schon roten Blätter in einen feurigen Glanz und ließ die ganze Welt erstrahlen wie in Gold getaucht. Allein für diesen Anblick hatte Iku die Aufnahme wieder begonnen. Vor ihnen zerstreute sich der Wald langsam, es ging bergauf zu einem kleinen, felsigen Hügel, der in den flammenden Abendhimmel hinaufragte.

Yoru war stehengeblieben. Iku tat es ihm gleich, mehr aus Reflex. Auch You stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und etwas an seinem Blick sagte Iku, dass er diesen Ort kannte – und irgendetwas Wichtiges damit verband. So standen sie da, schweigend, jeder von ihnen mit Gedanken beschäftigt, die dem anderen nicht zugänglich waren. Zumindest war Iku nicht zugänglich, was in den beiden Älteren vor sich ging, und so verschlossen, wie ihre Gesichter gerade wirkten, war er sich nicht sicher, ob sie es denn gegenseitig wussten.

 

Es war schließlich Yoru, der die Stille des herbstlichen Abends unterbrach, indem er sich in Bewegung setzte. Iku verfolgte ihn mit dem Camcorder, sah zu, wie er den kleinen Hügel erklomm und schließlich dort oben stehen blieb. Ein kurzer Seitenblick zu You zeigte schweigende Überraschung.

 

Dann begann Yoru zu singen.

 

Iku erinnerte sich nicht, dass er ihn jemals so laut und kräftig gehört hatte. So selbstbewusst. Ohne Mikrofon, ohne instrumentale Begleitung, ohne jemanden, der mit ihm sang.

Er war sprachlos. Und unsicher.

Gehörte das wirklich noch in eine öffentliche Aufnahme? Iku wollte abschalten, aber – er wollte es festhalten. Egal, ob es dem Schnitt zum Opfer fiel. Aber für sie selbst. Oder würde Yoru dann böse werden? Hatte er überhaupt  noch im Blick, dass da eine Kamera lief?

Der Gedanke verlor sich, als er sah, wie auch You loslief. Er gesellte sich zu seinem Freund auf den Hügel, stimmte in das Lied mit ein, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Die Sonne schien so grell auf ihre Gesichter, dass Iku in dem starken Kontrast aus strahlendem Licht und dunklen Schatten kaum etwas erkennen konnte, aber er war sich sicher, dass sie glücklich aussahen.

Ein Windstoß wirbelte Laub auf.

 

Zwischen goldenem Sonnenlicht, feurigen Herbstblättern, und den letzten Tönen eines Liedes, das er nicht kannte, und das gerade vom Wind hinfortgetragen wurde, fühlte Iku sich zweifelsfrei fehl am Platz – und war trotzdem unglaublich froh, dass er hier sein konnte, um festzuhalten, was er sah.

Fanservice

Schon den ganzen Tag war Koi viel zu aufgedreht. Es hatte am Morgen begonnen, als er in Ikus Zimmer gepoltert war – so früh, dass selbst Iku noch schlief! – und laut verkündet hatte, dass es Zeit für ihr Styling wurde. (Es störte Iku nicht, dass er geweckt wurde – dank dem Talisman, den Yoru ihm ausgesucht hatte, schlief er längst schon wieder wie ein Baby. Und auch wenn die Woche inzwischen vorbei war, zur Sicherheit lag das kleine Glücksbringerchen immer noch auf seinem Nachttisch.)

Koi selbst hatte zu dem Zeitpunkt seine Verkleidung schon spazieren getragen: Für seine Verhältnisse eine viel zu blasse, viel zu brave Kleidungskombi, die von einer dicken Brille mit Fensterglasgläsern abgerundet wurde und einem schlichten, braven Hut, unter dem er seine Haarnadeln und seinen pinken Schopf verstecken konnte.

 

Weil es ja so viel spannender war, die Anime-und-Manga-Kultur Japans hautnah zu erleben, hatte Koi natürlich auf einem Ausflug bestanden.

 

Und natürlich mussten sie sich dafür ein bisschen vor den Augen der Fans schützen, besonders, wenn sie genau die Gegenden frequentieren wollten, in denen man üblicherweise Anhänger der verschiedensten Sparten fand.

Also Tarnung.

Iku, der selbst nie ein herausragend gutes Händchen dafür bewies, sich hinter Kleidung und Accessoires zu verstecken, ließ Koi einfach machen, wie er meinte. Zugegeben, in der Regel reichte es bei Iku, wenn er einfach kein buntes Idol-Outfit trug, denn ehrlich – er war nicht besonders auffällig. Er hatte keine außergewöhnliche Haarfarbe, keine außergewöhnlichen Augen, hatte keinen außergewöhnlichen Kleidungsstil. In der Regel ging er perfekt in der Menge unter, ohne dass er sich auch nur eine Brille auf die Nase ziehen musste.

Aber Koi hatte Spaß an dem Theater, und Iku fand, in diesem Fall war sicher besser, also ließ er sich mit Kamm und Stylingprodukten attackieren, nachdem Koi seinen Kleiderschrank durchwühlt und ihm ein völlig un-iku-haftes Outfit zusammengestellt hatte.

Er sah aus wie ein anderer Mensch, als er in den Spiegel blickte. Iku hatte nicht einmal gewusst, dass er seine Haare theoretisch so stylen konnte!

 

So beeindruckend es aussah – nie wieder. Er fühlte sich einfach wohler, wenn er er selbst war! Auch wenn er selbst sein manchmal bedeutete, dass er bunte Idol-Klamotten trug, die an allen Enden und Ecken glitzerten und flimmerten und leuchteten.

 

Inzwischen hatten sie auch längst Arata abgeholt, dessen Verkleidung sich auf eine Sonnenbrille und einen Schal vor dem Mund belief, und waren längst draußen und auf bestem Weg zu ihrem ersten Ziel. Akihabara, ein Stadtteil, der, wenn man Kois schon seit Minuten andauerndem Geplapper glauben durfte, so ziemlich die größte Anlaufstelle in ganz Tokyo war für all jene, die sich im Volksmund häufig schon eher unter Otaku als unter Fan zusammenfassen ließen.

Iku war noch nie hier gewesen. Zwischen aller Arbeit und aller Schule und aller Leichtathletik fehlte ihm einfach die Zeit dazu! Und er sah wenig Reiz daran, wenn er ehrlich war, Anime und Manga und Idols und Videospiele nicht wirklich seine Welt. Gäbe es einen ganzen Stadtteil nur für Sportlerbedarf… das wäre wohl etwas anderes.

 

So, wie es war, war Iku jedenfalls überhaupt nicht vorbereitet auf den Anblick, der ihn erwartete.

 

Das erste, das ihm ins Auge stach, war die Tatsache, wie bunt es hier mitten im Großstadtdschungel Tokyo auf einmal wurde. Iku starrte, völlig überwältig, ungläubig, und so sehr abgelenkt von allem, was er hier sah, dass er sogar das Filmen vergaß. Es ging so weit, dass Koi ihm lachend die Kamera mopste und verkündete, er würde hier übernehmen, damit auch jeder Fan da draußen Ikus Ehrfurcht sehen konnte.

Ehrfurcht war allerdings nicht das richtige Wort. Er war einfach nur überrascht. Die riesig hohen Hausfassaden waren grellbunt, so sehr, dass es in den Augen schmerzte, und überall waren riesige Reklametafeln, auf denen irgendwelche Animefiguren, Idols oder sonstige Gestalten abgebildet waren. Er kam keine zwei Schritte weit, ohne von allen Seiten von großen, leuchtenden Kulleraugen betrachtet zu werden. Es war nicht ganz so nervenzerreißend wie all die Hajimes in Shuns Zimmer, aber es war trotz und alledem nicht gerade angenehm.

Und dann waren da die Cosplayer! Iku wusste natürlich, dass es Cosplayer gab. Alleine, weil selbst sie Fans hatten, die sich ab und zu als ihre Idole verkleideten, und auch wenn Iku selbst sicher nicht das Internet danach durchwühlte – Koi tat es. Koi durchwühlte das Internet viel zu gerne nach allen möglichen Dingen, von denen Iku nicht näher wissen wollte.

 

Er erinnerte sich noch vage an seine erste und einzige Begegnung mit einem Medium namens Fanfiction, die er nie wieder wiederholen wollte.

 

Es waren unglaublich viele Maids. Sie teilten Flyer aus, lächelnd, strahlend. Es war irgendwie beinahe charmant, aber wirklich – überwältigend. Koi schien das hingegen gar nicht zu stören, genauso wenig wie Arata, der völlig nonchalant Flyer über Flyer annahm und im Laufen schließlich zu vergleichen schien.

„Wir sollten eines besuchen“, kommentierte er und wedelte mit dem bunt bedruckten Papier in seiner Hand herum. Koi drehte sich im Laufen zu ihm um, halb hinter dem Camcorder verborgen. Sein breites Grinsen war trotzdem zu sehen.

„Maid-Café? Ehrlich, Arata-Kun?“ – „Es ist Teil der japanischen Kultur.“

Obwohl Iku ahnte, dass er gar nicht so genau wissen wollte, was ein Maid-Café eigentlich war, fragte er nach.

„Ein Maid-Café ist so ziemlich genau das, wonach es klingt“, gab Koi zurück. Er reichte blindlings den Camcorder an Arata weiter, fiel dann zurück, bis er wieder neben Iku lief; Arata unterdessen nahm Kois rückwärtslaufenden Platz an der Spitze ihrer kleinen Gruppe ein. „Es ist ein Café. Kuchen, Süßigkeiten, du weißt schon. Die Angestellten sind als Maids verkleidet. Wobei es nicht damit getan ist! Es ist eigentlich sogar richtig streng, was man alles beachten muss, um in einem Maid-Café arbeiten zu können. Nicht nur, dass das Aussehen stimmen muss, man muss ein gewisses Maß an schauspielerischem Talent mitbringen, fähig sein, eine Rolle zu halten, und man darf diese Rolle den ganzen Arbeitstag über nicht fallen lassen. Oft genug geht es so weit, dass ganz strikt jedweder persönlicher Kontakt mit den Kunden verboten ist – sie dürfen eine Maid niemals außerhalb ihres Kostüms sehen. Entsprechend dürfen private Informationen natürlich auch nicht weitergegeben, das ist logisch, ne? Maids erfreuen sich übrigens extrem großer Beliebtheit. Viele machen noch zusätzlich Geld, indem sie Fotos von sich verkaufen, oder Fotos mit den Gästen machen. Einige veröffentlichen sogar CDs. Aber was wirklich das Besondere an einem Maid-Café ist, ist definitiv der Service! Statt einem normalen Kunden-Angestellten-Verhältnis zielen Maid-Cafés eher darauf ab, das Gefühl von Meister-Dienstmagd-Beziehungen zu imitieren. Sie sind ziemlich beliebt, und das übrigens nicht nur bei solchen Kerlen wie Arata-Kun, sondern inzwischen auch bei Pärchen und Frauen.“

Iku war sich sicher, dass Arata Koi einen bösen Blick zuwarf, aber der Kerl ignorierte ihn einfach nur. Er grinste höchstens nur noch breiter.

„Apropos Frauen – es gibt auch Butler-Cafés, Cosplay-Cafés allgemein, und~ Cafés, die Trapmaids anstellen! Also Männer, die sich in hübsche Maiddresses schmeißen.“

 

Irgendwie war Iku mit einem Mal sein Idol-Outfit so viel lieber. Er lachte nervös auf, kratzte sich am Hinterkopf. Männer in Maidkleidern… das war eine seltsam beunruhigende Vorstellung.

„Dafür, dass du gerade noch so empört warst, weißt du aber verblüffend viel, Koi-Kun. Dass es männliche Maids gibt, wusste ja nicht einmal ich. Sag nicht, du hast sie schonmal live gesehen?“ – „A-Arata-Kun!!!“

Koi lief schlagartig rot an. Er gestikulierte wild, stammelte etwas, das Iku überhaupt nicht verstand, das aber wohl Teil seiner Verteidigungsrede sein sollte. Nachdem er einfach kein sinnvolles Wort herausbekam, gab er nach einigen Sekunden schnaufend auf und schüttelte einfach nur noch vehement den Kopf, so hektisch, dass Iku sich schon darauf einstellte, seinen Hut aus der Luft zu fischen. Er fiel nicht, zum Glück.

„Jedenfalls!“, schnaubte er schließlich, als seine Gesichtsfarbe langsam wieder einen eher menschlichen als tomatigen Farbton annahm, „Werden wir nicht in ein Maid-Café gehen! Dafür haben wir gar keine Zeit, unser Tagesplan ist vollgestopft bis oben hin!“ – „Ich stimme Koi zu.“

Iku lächelte behutsam.

„Wir haben wirklich noch einiges vor uns, und ich denke kaum, dass wir dort filmen dürften. Und es wäre schade, etwas zu unternehmen, an dem die Fans keinen Anteil haben können, nicht wahr?“ – „Genau, genau! Da hörst du es, Arata-Kun!“

„Klappe, Nervensäge.“

 

Koi hielt nicht die Klappe. Ein bisschen war Iku sogar froh darum – nachdem er genug gezetert hatte und wieder dazu zurückkehrte, ihre Umgebung zu moderieren, wurde sein Geplapper immerhin wieder nützlich! Und Iku hätte es nicht gekonnt, dafür kannte er sich hier einfach zu wenig aus.

Mit Koi als Fremdenführer kamen sie aber wunderbar zwischen den bunten Fassaden voran.

Es fiel Iku erst auf, als er zum fünften Mal fruchtlos versuchte, in einen Laden hineinzusehen – es gab nur wenige Schaufenstern, und sie waren bedeutend kleiner als üblich. Arata erklärte, dass es mit der allgemeinen Otaku-Kultur zusammenhing. Diskretion. Otakus schienen nicht die Typen dafür zu sein, ihre Vorlieben allzu deutlich in die Welt hinauszuposaunen, etwas, das Iku ebenfalls wieder nicht gewusst hatte.

Es war interessant für ihn! Wie interessant würde es dann erst für ihre Fans überall auf der Welt sein? Iku konnte es eigentlich kaum erwarten, ihre Reaktionen mitzubekommen! Er war aufgeregt, wenn er nur daran dachte. Mädchen auf der ganzen Welt würden das hier verfolgen können! Ihr Leben, ihre Heimat, ihre völlig unterschiedlichen Interessen. Irgendwie würde Iku sich selbst einmal gern durch Fan-Augen sehen. Sich, und natürlich seine Freunde. Wie würden sie wirken? Würde Kois und Aratas Gezänker auf die Fans eher liebenswert wirken, so wie Iku es wahrnahm? Als selbstverständlichen Ausdruck  ihrer Freundschaft eben? Oder würden sie eher enttäuscht über den harschen Umgangston sein, weil sie fürchten mussten, dass die Beziehungen ihrer Lieblingsband untereinander nicht gut waren? Wie würden sie auf den Tempeljungen You reagieren. Enttäuscht, weil das sich mit seinem Frauenschwarm-Image biss? Oder beeindruckt, weil da so viel mehr hinter der Fassade steckte? Und Shun!

Ob es wohl irgendwo auf der Welt auch Mädchen gab, die die Nase rümpften über Männer, die kochen konnten? Oder würden einige Mädels versuchen, das Sushi nachzukochen, das sie zubereitet hatten? Iku schmunzelte, als er sich daran erinnerte, wie unglaublich schlecht er darin gewesen war, die gefüllten Noriblätter aufzurollen. Seine Sushirollen sahen wie alles aus, aber nicht wie Rollen. Yoru und Aoi  hingegen waren so beneidenswert geschickt!

 

Während sie bald begannen, durch die Läden zu streifen, fing Iku wirklich an, Spaß an der Sache zu haben. Kois Begeisterung, mit der er alle möglichen neuen Entdeckungen mit ihnen teilen musste, angefangen bei Sammelfiguren über Mangas bis hin zu neuen Alben seiner Lieblingsbands und –Idols, war einfach ansteckend!

 

Zumindest solange, bis Iku Bekanntschaft mit etwas machte, das noch viel schlimmer war als Fanfiction: Doujinshi.

 

Fanmanga. Manga, die wahlweise Geschichten zu bereits bestehenden Werken erzählten – oder zu Videospielen. Zu Idols. Zu allem Möglichen. Iku konnte nur entsetzt starren, als Koi eines dieser Heftchen hochhielt, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

„Hajime-San wird dich umbringen dafür“, kommentierte Arata trocken. Koi lachte nur. Iku war sich sicher, dass Arata Recht hatte, aber er war sich ungefähr genauso sicher, dass Shun Koi vor dem sicheren Tod retten würde. Er wollte nicht dabei sein, wenn ihre beiden Leader sich darum prügelten, ob Koi nun einen Kopf kürzer gemacht gehörte, oder ob man ihm eher einen Orden verleihen sollte.

„Du wirst das aber nicht–“

Kois Blick war schon Antwort genug. War er wirklich. Der Kommentar „Ich brauch doch noch ein Geburtstagsgeschenk für Shun-San!“ hätte ehrlich nicht mehr sein müssen.

„Du wirst sterben.“

Arata klang nicht, als würde es ihm wirklich leidtun.

 

Er hätte gedacht, es könnte nicht noch schlimmer kommen. Koi hielt sich wenigstens in einem jugendfreien Rahmen! Arata hingegen war der festen Überzeugung, dass es nötig war, die Fans darauf aufmerksam zu machen, dass Hentai, also Anime– und Manga–Pornos, auch ein essentieller Teil ihrer Kultur waren. Iku sah gar nicht hin, als Arata irgendein mit Sicherheit obszönes Cover hochhielt, während Koi panisch kreischend den Camcorder in eine andere Richtung lenkte und versuchte, Aratas monotone Erklärung mit irgendetwas zu überquatschen, auf das Iku sich nicht konzentrieren konnte, das aber immerhin laut genug war, um seinen Zweck zu erfüllen.

 

Wobei es eigentlich ja gar nicht so schlimm war. Am Ende würde doch eh alles geschnitten werden, das nicht okay war.

 

 
 

***

 

 

„Und hier sind wir! Unser nächstes Ziel: Willkommen auf der Otome Road!“

 

Iku blinzelte verdutzt.

„Otome… Road?“

Er sah  nichts, das den Namen rechtfertigte. Wo Akihabara so grell und bunt gewesen war, waren sie hier in einer ganz gewöhnlichen, großstädtischen Straße voller Hochhäuser. Das einzige, das wirklich auffiel, war der große Animate an der Straßenecke, aber davon ab – bei dem Namen hätte Iku mehr Rosa, Glitzer und Kitsch erwartet. Viel mehr.

„Du siehst verwirrt aus.“

Koi sah schadenfroh aus. Iku seufzte leise, wandte den Blick zu seinem rosahaarigen Freund um und grinste hilflos.

„Na ja – irgendwie wirkt alles hier nicht sehr… Otome.“ – „Ne? Ist ganz simpel! Akihabara ist ja ne riesige Gegend, in der es nur dieses ganze Otaku-Zeugs gibt – hier aber umfasst der ganze Krempel nur ein paar hundert Meter die Straße entlang, der Rest ist ganz normale, langweilige japanische Großstadt. Kann man sich gar nicht leisten, hier allzu bunt zu werden, das fände wohl niemand sonst lustig, der die Straße entlanglaufen muss.“

Na, das war immerhin eine Erklärung für all das fehlende Glitzerzeug und den fehlenden Kitsch. Arata war auch so nett,  noch eine Erklärung beizusteuern, wieso dieser Ort überhaupt auf seinen Namen kam. Scheinbar war das hier quasi die Otaku-Anlaufstelle für weibliche Fans, während Akihabara sich primär auf Männer ausgerichtet hatte. Hier gäbe es einen bedeutend höheren Anteil an mädchenorientierten Animes, Mangas, Merchandise und Doujinshi.

 

Iku hoffte ernsthaft, dass sie die Doujinshi diesmal einfach auslassen würden, denn er hatte entschieden genug davon gesehen!

 

Es war schwer, den Doujinshi ganz auszuweichen. Koi, der es auch gar nicht versuchte, fand in jedem Laden irgendetwas, das Iku in seinem Leben niemals hatte sehen wollen, und er war viel zu begeistert von dem ganzen Unfug. Aratas spitze Kommentare halfen zumindest ein bisschen, Kois Freude zu dämpfen, und nach dem dritten Laden, den die beiden damit verbrachten, darüber zu diskutieren, ob Kois Begeisterung für seltsame Pärchen-Doujinshi wohl Ausdruck irgendwelcher versteckten Bedürfnisse war, hatte Koi offenbar doch genug von der ganzen Sache und verlegte sich lieber darauf, bei jeder Gelegenheit gegen Aratas Interessengebiete zu sticheln.

Kinder.

Iku vergaß manchmal, dass sie so kindisch sein konnten. Also, jeder von ihnen, er selbst eingeschlossen. Zwischen Berufsleben und Schulabschlüssen war irgendwie selten Zeit dafür, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass sie eigentlich fast alle noch lange nicht erwachsen waren. Solche Tage wie dieser waren also wirklich, wirklich kostbar.

 

Wie lange sie sich im Endeffekt noch auf der Otome Road befanden, wusste Iku im Nachhinein nicht, denn er hatte mehr als einmal versäumt, auf die Uhr zu sehen, aber in jedem Fall war es längst am Dunkelwerden, als sie langsam den Rückweg antraten. Vor der riesigen, weiß-blauen Fassade des Animate blieben sie stehen.

„Gehen wir noch rein? Iku, du warst doch noch nie hier drin, oder?“

„Mh-mh. Alles, was ich kenne, ist von eurem Manager-für-einen-Tag-Event. Hab ein paar der Aufzeichnungen gesehen, aber so viel gab es gar nicht.“

Damit war für Koi beschlossene Sache – sie mussten da rein. Iku seufzte ergeben, ließ sich von ihm mitschleifen. Der Laden selbst war interessant! Riesig, voll mit Dingen, von denen Iku nicht einmal ganz gewusst hatte, dass sie existierten. Und so viel aus der Musikindustrie! Bergeweise CDs, aber vor allem unglaublich viele Fanartikel, angefangen bei Schlüsselanhängern bis hin zu aufwändigen Fotobüchern und Hochglanzpostern, die doch glatt schon zu schade waren, um sie an die Wand zu hängen.

Iku hätte gerne ignoriert, dass das Hochglanzpapier der Poster seine Idol-Klamotten nur noch greller und auffälliger aussehen ließen, aber er konnte es nicht. Das war – das hatte er gar nicht gewusst! Er würde sich noch mehr anstrengen müssen, damit er diese Outfits zukünftig weiter mit Würde tragen konnte! Nicht nur tatsächlich, sondern auch auf penetrant glänzenden Postern.

 

Bevor sie endlich den Rückweg nach Hause antraten, kaufte Koi sich noch ein kitschig rosafarbenes Tsukiusa-Häschen, das er gleich an seine Tasche pinnte, und einfach nur, weil er es konnte, zwang er Iku und Arata auch gleich je  ein Häschen auf – als Andenken an den Tag. Irgendwie war die Geste ja süß, deshalb beschloss Iku, das kleine, bronzefarbene Tierchen in Ehren zu halten.

 

 
 

***

 

 

Iku war sich sicher gewesen, dass es damit genug war. Aber kaum, dass der Aufzug sich auf Gravis Stockwerk öffnete, packten Koi und Arata ihn links und rechts und zerrten ihn mit sich hinaus.

„H-hey!“, protestierte er lachend, „Was wird das denn?!“ – „Na was wohl! Wir sind noch nicht fertig mit dir! Und das Beste haben wir uns zum Schluss aufgehoben!“

Das Beste. Iku konnte sich nicht vorstellen, was nach einem ewiglangen Marsch durch zwei große Otaku-Gegenden noch so viel besser sein sollte. Koi kam jetzt aber nicht auf die Idee, seine Internetfixierung an ihm auszulassen und ihm wieder irgendwelche Fanfictions aufzuzwängen? Oder gleich darauf zu bestehen, dass sie ja eine für ihre Fans vorlesen könnten.

Bitte nicht.

Iku schluckte jeden Gedanken daran mühsam herunter, ehe er Koi nachher noch selbst auf Ideen brachte. Leider wurde er nicht ruhiger, als sie zielstrebig auf das Zimmer des rosa Wuschelkopfs zusteuerten. Das einzige, das irgendwie tröstlich war, war die Tatsache, dass sein PC offenkundig nicht eingeschaltet war.

Keine Fanfictions.

Nur – was dann?

 

„Also!“

Erklärung kam keine, aber dafür bekam Iku etwas in die Hand gedrückt, das verdächtig nach den Leuchtstäben aussah, die am Eingang aller Konzerthallen verkauft wurden. Er sah irritiert auf die beiden Stäbe in seiner Hand hinunter, dann zu Koi, der gerade weitere Leuchtstäbe an Arata verteilte, ehe er sich selbst zwei packte und dann breit grinsend in die Kamera winkte.

„Stell das Ding mal ab, du brauchst jetzt beide Hände!“

Iku gehorchte. Stellte den Camcorder zur Seite, auf Kois Schreibtisch, noch erhöht durch einige Mangas, die er aus dem Regal fischte.

„Iku~ hast du schonmal was von Wotagei gehört?“

 

Nein. Hatte Iku nicht. Sein verwirrter Gesichtsausdruck schien das auch gut genug zu übermitteln, denn Koi lachte nur herzlich und schüttelte den Kopf.

„Unmöglich! Dabei machen unsere Fans das doch auch! Und sie geben sich so viel Mühe damit! Aber gut. Arata-Kun, erklär mal. Du hast viel zu wenig gesagt heute.“ – „Du hast einfach zu viel geredet, Koi-Kun. Da war kein Platz mehr für jemand anderen.“

Kurz sah es aus, als würde Koi wieder zurücksticheln wollen. Er ließ es dann aber doch bleiben, gestikulierte nur noch einmal drängend in Aratas Richtung, dass er zu erklären beginnen sollte. Wotagei, wie er sagte, war eine Form von Anfeuerung, die in Bezug auf Idols benutzt wurde. Konzerte, Events, Meetings. Gewissermaßen auch eine Art von Tanz, bestehend aus bestimmten Bewegungsfolgen, Gesten, Klatschen, und diversen Rufen.

Iku fand, es klang wahnsinnig kompliziert.

Es gab einen MIX, eine bestimmte Form von Anfeuerungsruf, die wohl in instrumentalen Parts von Songs praktiziert wurde. Und es gab übrigens verschiedene Formen davon, wobei drei sehr gängig waren, und darüber hinaus aber einige bekannte Idol-Gruppen ihre ganz eigene Variante vom MIX hatten. Außerdem war es absolut unhöflich, während ruhigen oder emotionalen Songs den MIX zu rufen, also – kompliziert. Iku war das viel zu kompliziert.

„Du musst echt mal drauf achten“, kommentierte Koi schmunzelnd, als Aratas monotoner Redeschwall verebbte, „Beim nächsten Konzert oder so. Unsere Fans ziehen das auch durch, das ist total cool! Es ist auch nicht halb so schwer, wie es aussieht, ehrlich. Willst du mal versuchen?“

 

Iku wusste, dass er mit einem Nein keine Chance hatte, außerdem klang diese Sache nach dem ersten für heute, mit dem er wirklich Zugang zu der Kultur finden könnte, die seine Freunde ihm hatten näherbringen wollen. Tanzen. Bewegung. Sport. Wieso nicht?

Er grinste, krempelte die Ärmel hoch.

 

„Ich hab zwar keine Ahnung, wofür wir das brauchen sollten, aber – los geht’s!“

Sports day

„Ikkun.“

 

An dem Anblick war so vieles falsch – also nicht falsch, aber ungewohnt –, dass Iku über alles Starren hinweg völlig das Antworten vergaß. Das war Rui. Offensichtlich. Der in der Tür zu seinem Zimmer stand. Um, immerhin hatte Ikus Wecker noch nicht geklingelt, viel zu früh Uhr morgens. Ah, vielleicht träumte er ja einfach noch… Und weil der Wecker noch nicht einmal geklingelt hatte, konnte Iku doch im Grunde wirklich weiterschlafen, nicht wahr? Er brummte vage, spürte, wie ihm die Augen schon wieder zufielen.

„Ikkun.“

Noch einmal. Drängender. Mühsam öffnete er die Augen doch wieder, blinzelte zu Rui hinüber, der mit einem beinahe beleidigten Blick – so weit man das bei Rui überhaupt erkennen konnte – immer noch in der Tür stand. Und immer noch völlig un-rui dabei aussah. Langsam setzte er sich auf, schob die Bettdecke von sich. Es war kühl im Zimmer; keine Heizung eingeschaltet spürte man die morgendliche Herbstkälte von draußen hereinkriechen. Es half Iku dabei, wirklich hochzukommen, wenn er aufstehen musste, aber gerade bereute er es wie jeden Morgen doch ein bisschen mehr als nötig und er schlang bibbernd die Arme um den Oberkörper.

„Bist du jetzt wach?“

Iku lachte schwach, „So halb…“ – Bis er wirklich wach war, würde noch ein bisschen Zeit vergehen. Dafür musste er erst einmal aufs Klo und seine Morgenroutine abspulen, aber danach war er bereit, den Tag zu tacklen! Also, zumindest war er dann wach, aber er war sich nicht sicher, ob er bereit für den Tag war, denn irgendwie… vielleicht waren das ja auch die Nachwehen von Shuns seltsamen Spukgeschichten. Hatte er nicht von Parallelweltenkram erzählt? Anderswelt oder so. Vielleicht hatte Iku versehentlich irgendein Ritual abgespult, um die Anderswelt zu betreten.

Beunruhigender Gedanke.

Ruis leises Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Iku schüttelte hilflos den Kopf, fuhr sich mit einer Hand durch das schlafzause Haar. „Verrätst du mir, was so lustig ist?“ – „Ich hab dich noch nie so müde gesehen.“

Das glaubte Iku ihm allerdings aufs Wort!

Er konnte sich auch nicht erinnern, dass er Rui jemals wach erlebt hatte, wenn er früh morgens aufwachte.

 

Oder dass Rui jemals Sportkleidung getragen hätte.

 

Einmal tatsächlich raus aus dem Bett war Iku schnell munter. Immer noch verwirrt, aber munter. Dass ausgerechnet Rui ihn dann auch noch aufforderte, Sportsachen anzuziehen, ehe er zum Essen kam, war nur noch verwirrender, aber inzwischen war Iku vor allem neugierig, also folgte er der Aufforderung schlicht. In der Küche wartete ein traditionelles, japanisches Frühstück auf ihn, was Iku vermuten ließ, dass Yoru bereits wach war, denn für die Köche war es noch zu früh.

„Guten Morgen, Ikkun.“

War er wirklich. Er stand an die Arbeitsplatte gelehnt da, eine Tasse mit dampfendem Kaffee in den Händen, an der er in kleinen Schlucken nippte. Sein Grinsen war viel zu amüsiert, und genau wie Rui war sein Aufzug ganz schön ungewohnt mit anzusehen. Iku konnte nur noch einmal den Kopf schütteln, als er sich auf seinen angestammten Platz am Küchentisch plumpsen ließ und nach einer Tasse und Kaffeekanne griff.

„Ich habe das Gefühl, ihr wollt mich heute allesamt auf die Schippe nehmen.“

Yorus Antwort war nur ein weiteres Grinsen, seine Augen blitzten amüsiert. Iku nahm es hin. Seine Erklärung würde er bekommen, früher oder später.

„Schlafen die anderen noch?“ – „Ich denke, ein paar. Kai-San ist gerade dabei, sie zu wecken.“

Iku hob die Augenbrauen.

„So früh? Wenn Shun ihn dafür nicht verflucht…“

Seine Worte ließen Yoru auflachen. „Ob du es glaubst oder nicht, Ikkun, es gibt Dinge, für die selbst unser Dornröschen von einem Leader gern früh aufsteht.“

 

Iku ahnte irgendwie, dass diese Dinge wohl mit Hajime anfingen und mit unnötigem Unheilstiften aufhörten – und vermutlich in Kombination miteinander am Attraktivsten waren.

 

 
 

***

 

 

Eine halbe Stunde später stand Iku an Ruis Seite in einem nahegelegenen kleinen Stadtpark, und eigentlich war er sich immer noch sicher, dass er träumte – oder in einer seltsamen Paralleldimension gefangen war. Oder in seinem eigenen Wunschdenken?

 

Es war Gesundheits– und Sporttag. Iku wusste das. Weil sich die Idol-Industrie aber nicht unbedingt an normale Feiertage hielt, hatte er trotzdem in wenigen Stunden einen zeitaufwändigen Job, der ihn daran gehindert hatte, das Wochenende zuhause zu verbringen – und außerdem auch am Sonntag einen Job gehabt, der ebenfalls hinderlich gewesen war – und am jährlichen Sportevent seiner Schule teilzunehmen, weil er eindeutig nicht die Zeit gehabt hatte, um zu pendeln.

Er wusste auch, dass mindestens drei Viertel der anderen ebenfalls in wenigen Stunden bei der Arbeit sein mussten, alleine, weil sein eigener Job drei weitere seiner Kollegen mit einschloss.

Kurzum: Er hatte, scheinbar ein bisschen zu frühzeitig, wie es aussah, einen seiner liebsten Feiertage des Jahres abgeschrieben, weil er fest davon überzeugt gewesen war, dass ihm schlicht die Zeit dafür fehlte.

 

„Ikkun.“

Wieder einmal war es Rui, der ihn aus seiner Starre riss. Iku grinste ihn flüchtig an, konnte dann aber doch nicht anders, als wieder zu starren. Er war – völlig überwältigt. Sprachlos. Und er verstand nicht so ganz, wo das nun herkam.

Und wieso da ein Camcorder in Kois Hand war, der fröhlich vor sich hingrinste.

„Ich will wirklich nicht undankbar sein, aber – gibt‘s hierfür eine Erklärung?“

Es gab eine Erklärung, dessen war Iku sich sicher. Eine Erklärung gab es immer, aber ob es daran lag, dass es noch früher Morgen war und seine typischen Aufwachrituale zum Teil ausgeblieben, oder daran, dass er den Kopf voll mit Arbeit und Schulstoff hatte, Iku sah sie nicht. Wahrscheinlich war sie sogar sehr offensichtlich, daran gemessen, dass seine Frage von amüsiertem Grinsen und Lachen beantwortet wurde, ehe schließlich Shun einen Schritt aus der Gruppe vortrat.

Er sah überhaupt nicht mehr furchteinflößend aus in der simplen Sportklamotte, die er trug.

Und es war überhaupt nicht sein Stil. Irgendwie war das unglaublich amüsant. Da, wo Iku sich lange fehl am Platz gefühlt hatte mit den schillernden, auffälligen Idol-Outfits, wo er geglaubt hatte, dass das einfach nicht sein Ding war, dass das nicht zu ihm passte, dass man ihm ansehen musste, dass er sich fühlte wie ein kleines Kind, das Mamas Kleiderschrank geplündert hatte, waren es nun seine Freunde, die teilweise so unpassend aussahen wie – hm. Schillernde Tropenblumen in einer langweiligen, schnöden Eiswüste vielleicht. Gerade bei Shun war es auffällig. Bei Rui beinahe sogar noch mehr. Bei Koi fiel einfach nur ins Gewicht, dass sein Outfit im Vergleich zu sonst viel zu farblos war – irgendwie hatte er es aber geschafft, ein grellpinkfarbenes Schweißband aufzutreiben, das das Gefühl von unpassender Farblosigkeit wieder ein bisschen entzerrte.

Bei Arata sah es auch seltsam aus. Bei Haru. Nicht, weil Iku ihm keine Sportlichkeit zutraute, sondern weil Haru für ihn einfach eher der Buchhaltertyp war. Klar, mit der Brille und dem Organisationstalent…

 

Irgendwie war das liebenswert.

 

Aber die Überlegung hatte Iku völlig von Shuns Erklärung abgelenkt. Er blinzelte, als ihm bewusst wurde, dass er von den Worten des anderen so ziemlich gar nichts mitbekommen hatte, lachte verlegen auf.

„Ehm, Shun-San, könntest du das wiederholen?“ – „Was, du hast mir nicht zugehört? Ikkun, das verletzt mich aber. Ich weiß nicht, ob ich je wieder so schöne Worte finde, um dir unsere Liebe begreiflich zu machen…“

„Was Shun damit sagen will“, begann Kai schmunzelnd. Er trat neben den schmollenden Kerl, legte ihm kumpelhaft eine Hand auf die Schulter, „Er hat seinen eigenen Text wieder vergessen.“ – „Kai. Meine Liebe zu Hajime nimmt eben mein ganzes Sein ein, da gehen andere Dinge schon einmal verloren. Aber wo du schon hier bist, darfst du gern für mich übernehmen. Ist das nicht großzügig von mir.“ – „Total.“

Die Erklärung, die schließlich von Kai kam, war wirklich unglaublich simpel: Sie würden ihren eigenen Gesundheits– und Sporttag zelebrieren. Nichts Großes, schon alleine, weil die Zeit nicht reichte, und tolle Preise gab es auch nicht. Staffellauf, Tauziehen, und Kiba-sen, wenn sie am Ende echt noch genug Energie und Zeit dafür übrig hatten. Teams waren durch ihre Bands sowieso schon eingeteilt, und die Gewinnerband bekam am Ende das Recht darauf, ihr nächstes Ausflugsziel für einen geschlossenen gemeinsamen freien Tag zu bestimmen – ohne Vetorechte. Ein verdammt großer Preis, wenn Iku so daran dachte, wie die wenigen gemeinsamen freien Tage bisher gelaufen waren. Im Vorfeld hatten sie sich beinahe totdiskutiert, weil zwölf verschiedene Leute immerhin zwölf verschiedene Meinungen hatten.

 

„Es war Kais Idee“, murmelte Rui an seiner Seite, gerade, als Kai mit seiner Erklärung geendet hatte, „Als ich ihm von deinem Projekt erzählt habe, wollte er das gleich organisieren. Weil das doch auch typisch japanisch ist.“

War es? Iku hätte es nicht gewusst. Wäre es nicht viel besser, wenn überall auf der Welt solche Feiertage existieren würden?! Er grinste schief, verlegen, resigniert. Er sah wirklich den Wald vor lauter Bäumen nicht in dieser Sache. Und obendrein hatte Kai ihm nun doch geholfen, obwohl Iku das eigentlich nicht gewollt hatte – und er konnte nicht einmal so tun, als wäre er nicht glücklich darüber.

„Kai-San ist wirklich toll.“ – „Uh-hu.“

Aber es erstaunte Iku wirklich, dass Kai es geschafft hatte, sie alle zu mobilisieren. Rui hätte er es nicht wirklich zugetraut, wenn er ehrlich war. Arata auch nicht unbedingt, der wirkte in der Regel einfach nicht wie jemand, der sich besonders davon mitreißen ließ, sich sportlich betätigen zu müssen. Und außerhalb vom Tanzen glaubte Iku, dass die wenigsten von ihnen wirklich sportlich engagiert waren. Kai. Aber dass der ein extrem guter Fußballer war, das wusste jeder von ihnen. Koi und Kakeru waren Wildfänge, natürlich mochten sie Sport. Und You war auch ein prinzipiell sportlicher Typ. Dann gab es das allgemeine Mittelfeld, und eben die Leute wie Rui oder Arata, von denen Iku sich nur sehr schwer vorstellen konnte, wie sie sich an einem sportlichen Event beteiligten.

An und für sich wäre das sicher auch ein spaßiges Konzept für irgendein TV-Programm. Ein Sportwettbewerb oder so. Allerdings war Iku mit dem Gedanken nicht glücklich, dass sich dabei der ein oder andere von ihnen ein bisschen zu sehr zum Deppen machen könnte; er wollte niemanden vorführen.

 

 
 

***

 

 

Staffellauf, normalerweise, wurde auf einer Strecke von viermal hundert Metern gelaufen. Es war einfach so. Weil sie zu sechst und nicht zu viert waren, hatte Kai sich die Freiheit herausgenommen, die Regeln umzuschreiben und die Strecke auf sechsmal hundert Meter zu verlängern. Zusätzlich hatten sie keine ordentliche Laufbahn, sondern lediglich den relativ unebenen Parkweg. Ordentliche Markierungen gab es auch nicht – aber bunte Straßenkreide, die genauso taugte. Irgendwie.

Es war herzerwärmend unprofessionell.

Immerhin war Staffellauf an sich wirklich einfach. Iku konnte trotzdem überhaupt nicht abschätzen, welches Team gewinnen würde. Mit ihm und Kai hatte Procella definitiv zwei Mitglieder, die ziemlich gut darin waren, ziemlich schnell von A nach B zu kommen. Dafür dürften Shun und Rui das recht gut wieder ausgleichen, und wie es um Yorus Kondition bestellt war, wusste Iku gar nicht, er glaubte aber, sich vage zu erinnern, dass sie nicht gut war. You schätzte er relativ gut ein, soweit er das von ihrem letzten Fußballspiel noch in Erinnerung hatte – Gleiches galt aber auch für Koi und Kakeru, die beide sicher nicht langsam waren. Und Hajime konnte doch alles – es wäre ein Wunder, wenn er hier so einfach scheiterte. Haru und Arata hingegen waren wohl etwas weniger gut dabei, und Aoi… hm. Sah nicht aus wie ein großer Läufer. Alles in allem also eher ausgeglichene Verhältnisse, wenn Iku sich da nirgendwo drastisch verschätzt hatte.

 

Er hatte sich verschätzt.

 

Shun war bedeutend schneller, als er erwartet hätte. Ob das einfach immer so war, oder nur daran lag, dass sein Gegner Hajime war (Kai hatte das geschickt eingefädelt!), konnte Iku allerdings nicht ganz beurteilen. Jedenfalls endeten die beiden so ziemlich gleichauf, obwohl Hajime echt nicht langsam war. Darüber hinaus allerdings lief es ziemlich so, wie er erwartet hatte. Da kamen keinen Überraschungen mehr, und nachdem Shun so bedeutend besser abgeschnitten hatte als vorhergesagt, reichte es, damit Procella den ersten Sieg des Tages einheimsen konnte.

„Beim nächsten Mal kriegen wir euch!“

Immerhin konnten die Verlierer noch lachen. Koi sah jedenfalls nicht sonderlich verschmollt aus, während er Wasserflaschen aus einer Tasche angelte und jedem entgegenwarf, der auch nur halbwegs so aussah, als wollte er gern eine haben.

„Es ist sowieso unfair“, fuhr er fort, als er selbst eine halbe Flasche geleert hatte. Er wischte sich die letzte Feuchtigkeit vom Mund und funkelte anklagend in Ikus Richtung.

„Ich meine, du bist Leichtathlet! Natürlich bist du schnell! Und Kai-San hätte Profi-Fußballer werden können! Wir haben in dieser Sache doch gar keine Chance gegen euch! Wir sollten beim nächsten Mal einen Wettbewerb ausrufen, der fairer ist! Oder unfair euch gegenüber. Sowas wie…“

Es war offensichtlich, dass er keine Ahnung hatte.

„Wie wäre es mit Kellnern?“, schlug Kakeru grinsend vor, „Oder Haustiere einfangen. Oder Kisten stapeln. Regale einräumen. Inventur machen…“ – „Kakeru-San! Niemand will einen Wettbewerb im Teilzeitjobben! …außer dir.“

„Wie wäre es mit einem Wettbewerb darüber, wer von uns die tiefste Liebe empfindet?“

Shuns Idee stieß eindeutig nicht auf Begeisterung. Hajime warf ihm einen kurzen, aber eindeutig unbegeisterten Blick zu, der ihm aber nur ein sanftes, melodisches Lachen entlockte.

„Keine Sorge, Hajime. Ich meinte nicht einmal speziell unsere Liebe… aber ich bin mir sicher, Procella würde trotzdem gewinnen.“

 

Natürlich fühlte sich Koi, so als Valentinskind, das ständig auf Liebe und Kitsch hinuntergemünzt wurde in seinem Image, furchtbar angegriffen von der Implikation, dass Gravi liebloser sein könnten, und prompt begann er eine völlig unnötige Diskussion mit Shun darüber, die immerhin – völlig nichtssagend blieb.

Iku war wirklich froh darum!

 

Kaum auszudenken, was da ausgeplaudert werden könnte, das ihren Managern am Ende nur vorzeitig ergraute Haare bescherte.

 

 
 

***

 

 

Waren sie für den Staffellauf zu viele gewesen, so waren sie fürs Tauziehen strenggenommen nicht genug. Acht Leute sollten es pro Mannschaft sein, und die hatten sie einfach nicht, aber schlussendlich – war das auch egal. Es war nicht, als wollten sie an einer offiziellen Veranstaltung damit teilnehmen. Iku kannte das ganze Spielchen noch aus den letzten Jahren, die er an entsprechenden Sportevents in der Schule teilgenommen hatte, und eigentlich hätte er gedacht, dass jeder wusste, worum es ging.

Rui wusste es nicht. Hajime bat ebenfalls um Regelauffrischung, weil er zu lange nicht mehr mitgemacht hatte.

An sich war es simpel. Man hatte ein Seil, man hatte zwei Mannschaften, die an dem Seil zogen, auf dem Seil waren Markierungen, die die Mitte markierten und den Bereich, ab dem eine Mannschaft verloren hatte. Die Mitte des Seiles wurde über einer Markierung am Boden ausgerichtet, und von dem Punkt aus wurde – ja, gezogen. Wenn die Bodenmarkierung mit einer der Seitenmarkierungen des Seils übereinstimmte, hatte das entsprechende Team, das so weit zur Mitte hin gezogen worden war, verloren.

Es gab natürlich noch viel mehr Regeln. Es gab bestimmte Zugpositionen, die nicht erlaubt waren, und dies und das und jenes, und eigentlich war Tauziehen auch nichts, das man mit roher Muskelkraft gewann, sondern mit Taktik und einem sinnvollen Rhythmus, aber die Details waren für einen Haufen Laien eher müßig. Interessanter war da die Sicherheitspredigt, die von Kai noch kam. An und für sich sollte nichts passieren, und das Seil, das er besorgt hatte, war auch definitiv zum Tauziehen geeignet, aber trotzdem sollten sie lieber Vorsicht als Nachsicht walten lassen, es nicht übertreiben mit dem Kraftaufwand, und im Zweifelsfall bei der ungewohnten Anstrengung lieber irgendwann aussteigen, als dass sie sich irgendwo ernsthaft wehtaten.

Während Kai redete, hatte Arata wohl das Internet um Antworten bemüht, denn schließlich begann er, aus Berichten vorzulesen, wie die Verwendung von nicht fürs Tauziehen geeigneten Seilen dazu geführt hatte, dass hier und da ganze Gliedmaßen abgetrennt worden waren, als die Seile rissen.

Aoi hielt ihm nach nicht einmal zwei Sätzen den Mund zu.

 

Niemand schien traurig darüber zu sein.

 

Es war geradezu faszinierend, wie lange es eigentlich dauerte, bis sie sich mit dem Seil wirklich koordiniert hatten. Bis sie ausgelotet hatten, wie viel Abstand zwischen den einzelnen Teammitgliedern sein musste, damit man sich nicht versehentlich den Ellenbogen sonstwohin rammte, oder auf die Füße trat. Und wie viel Abstand es maximal sein durfte, damit man sich zur Sicherheit gegenseitig abfangen konnte, wenn jemand stürzte. Im Zuge dessen musste natürlich auch erst einmal herausgefunden werden, wer eigentlich Stolperpotential hatte, und wer standfest genug war, um entsprechende Stolperer aufzufangen. Schlussendlich hatte Gravi sein Sorgenkind Kakeru, der direkt vor Hajime positioniert wurde, und Procellas Sorgenkind Rui hatte Kai im Rücken.

Dieses Mal war sich Iku aber recht sicher, dass sie gewinnen würden. Nicht, weil Gravi schlechter waren, oder schwächer, sondern aus dem ganz banalen Grund, dass er mit Kakeru in der Reihe schon die gesamte Aufstellung von Gravi stolpern und in den Dreck fallen sah. Bei Kakerus Glück…

 

Vielleicht sollte Iku die Prognosen lieber sein lassen.

 

Am Ende war es sein eigenes Team, das verlor. Weshalb genau, das konnte Iku nicht einmal festmachen – Gravi hatte wahlweise mehr Kraft, einen besseren Zugrhythmus, oder was auch immer, jedenfalls gewannen sie.

„Sieht aus, als könnten wir uns einen neuen Wettbewerb sparen, huh?“, kommentierte You spöttelnd. Er sah angefressen aus, ob das daran lag, dass er sich beim Tauziehen so unglücklich angestellt hatte, dass seine Handflächen jetzt aufgeschürft waren, oder eher daran, dass er ein schlechter Verlierer war – na, wahrscheinlich beides.

„Wir werden trotzdem gewinnen.“

„Und selbst wenn nicht, dann haben wir auch nichts verloren“, gab Yoru sanft zurück. Er hatte irgendwoher eine Salbe aufgetrieben. Er streckte auffordernd die freie Hand nach You aus. Mit einem Seufzen und einem genervten Blick legte der Rotschopf seine eigene Hand, die gerötete Handfläche nach oben, in Yorus und ließ sich bis auf alle bösen Blicke brav versorgen.

„Wir verlieren unsere Ehre, Yoru. Und gewinnen ein scheußliches Ausflugsziel.“ – „Du übertreibst. Außerdem ist die Hauptsache doch, dass wir zusammen rauskommen, hm? Wir haben sowieso viel zu wenig Gelegenheit dazu. Ich wäre selbst dann noch glücklich, wenn wir uns ein sterbenslangweiliges Museum angucken würden. Über… ich weiß nicht. Stacheldraht oder so.“

Nicht, dass es so etwas Albernes geben würde!

„Wobei das sicher tatsächlich interessant wäre“, kommentierte Aoi erheitert, „So etwas sieht man immerhin nicht alle Tage. Dagegen ist so ein normales Kunstmuseum doch fast schon zu gewöhnlich, hm?“

 

„Wie wäre es mit einem Henta–“ – „Arata-Kun, nein!!!“

 

 
 

***

 

 

Trotz der langen Vorbereitung zum Tauziehen blieb noch genug Zeit für den dritten Wettkampf. Kiba-sen, was ungefähr Kavallerie-Schlacht bedeutete, war ein ziemlich gängiger Wettkampf in Schulsportevents. Ein Team, das üblicherweise aus vier Leuten bestand – wieder waren sie zu viele –, war so positioniert, dass ein Teammitglied von den anderen dreien getragen und gestützt wurde. Das Gegnerteam war genauso aufgebaut. Die beiden Spieler, die oben waren, trugen wahlweise ein Stirnband oder einen Hut. Ziel des Wettkampfs war es, das gegnerische Team entweder zum Umsturz zu bringen, oder Stirnband oder Hut zu entfernen.

Um das Verletzungsrisiko einzudämmen, hatten sie Hüte bekommen. Große, peinliche, bunte Hüte, die sich hervorragend mit ihren ordentlichen Sportoutfits bissen, aber Iku fand es wenn überhaupt nur lustig. Immerhin war dieses Mal auch die Teamaufteilung einfach – die Kleinsten und Leichtesten kamen nach oben, sprich, Kakeru und Rui. Denen übrigens die Hüte überhaupt nicht standen, und natürlich mussten solche Unruhegeister wie Koi erst einmal einen ganzen Haufen Fotos machen.

 

„Eeeeeh! Haru-San hat seine Essenz abgelegt!“

 

Kakerus beinahe panischer Ausruf ließ Ikus Aufmerksamkeit von seinem eigenen Team zu den Gegnern hinüberwandern. Der Blondschopf mit dem albernen Hut zeigte in Harus Richtung, der gerade tatsächlich mit einem verdutzten Blinzeln und der Brille in der Hand statt auf der Nase da stand.

„Nun… ja. Natürlich.“

Er kniff kritisch die Augen zusammen. Iku grinste, weil Haru offensichtlich aufgegeben hatte, noch irgendetwas gegen Kois und Kakerus albernem Runninggag tun zu wollen. Er packte die Brille in ihr Etui, dann zog er ein zweites aus der kleinen Sporttasche, die er bei sich hatte – und setzte sich die darin befindliche Brille auf.

„Uwaaaaaaah! Haru-Sans Essenz hat sich verdoppelt!“ – „Nein, Koi. Das ist meine Ersatzbrille. Du erinnerst dich sicher noch an sie.“

Iku erinnerte sich zumindest noch. Er erinnerte sich auch noch an Harus seltsame Erklärung, dass seine eigentliche Brille ja so viel bequemer sei, obwohl beide das genau gleiche Modell waren.

„Aber warum ist jetzt der Doppelgänger von Haru-Sans Essenz da? Ist das eine neue Ablenkungstaktik?“

Haru seufzte, runzelte unwillig die Stirn. Iku bemerkte, wie Hajime ein Grinsen hinter seiner Hand versteckte, während Koi und Kakeru sowieso nur noch der Schalk aus den Augen blitzte.

„Nein. Meine Brille–“ – „Haru-San!!!“ – „Schön, na gut. Meine Essenz ist einfach viel bequemer als das Ding hier. Also bringe ich sie in Sicherheit. Für den Fall, dass etwas kaputt geht, ist es nicht so schlimm.“

 

„Ich werde den Unterschied nie verstehen“, murmelte Iku kopfschüttelnd in sich hinein. Er hatte es versucht, ernsthaft. Wenn er sich vorstellte, er hätte zweimal das gleiche Paar Laufschuhe, aber eines besser eingelaufen als das andere, dann war das natürlich ein Unterschied. Aber konnte man Brillen überhaupt eintragen? War das wirklich möglich? Er hatte noch nie eine Brille auf der Nase gehabt.

Trotz Sportschuh-Vergleich wurde es einfach nicht glaubhafter.

„Ich versteh ihn“, gab Rui neben ihm leise zurück. Iku sah zu seinem Partner hinüber, der ihn über die Krempe seines Huts hinweg groß anblinzelte.

„Haru-Sans Essenz strahlt viel heller als der Ersatz.“

…was auch immer das bedeuten sollte. Iku lachte hilflos auf, „Ist das so?“ – „Aber natürlich, Ikkun. Das hat Rui ganz richtig erkannt.“

Irgendwie wurde es nur nicht viel überzeugender dadurch, dass Shun zustimmte. Aber irgendeinen Sinn würde es schon haben. Haru war niemand, der unnötiges Theater um nichts veranstaltete.

 

Immerhin, nachdem Haru seine Brille gewechselt hatte, waren sie bereit für ihren Wettkampf. Ihren Wettkampf, der nach nicht einmal fünf Minuten vorbei war. Den Wettkampf, der so vollkommen unspektakulär endete, dass Haru sich jede Sicherheitsvorkehrung hätte sparen können. Den Wettkampf, in dem all das Unglück, das Kakeru bisher vermieden hatte, tatsächlich noch zum Tragen kam, als ihm der Hut beinahe schon ohne jedes Zutun vom Kopf flog.

Ein bisschen war Iku enttäuscht.

Ein bisschen war es Iku aber gar nicht möglich, allzu enttäuscht zu sein, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, über die völlig bedröppelten Gesichter der Gravi-Mitglieder zu lachen, die ihr Pech der Reihe nach nicht so ganz fassen konnten.

Eigentlich war es ja lustig.

Und es war in jedem Fall ein voller Erfolg! Sowohl als kleiner Sporttag, als auch als Abschluss für Ikus kleines Videotagebuch, denn natürlich hatte der Camcorder all die Zeit fleißig von seinem Platz aus mitgefilmt. Beim Tauziehen und Kiba-sen von einer Parkbank aus, auf ein paar aufgetürmten Taschen thronend, beim Staffellauf darüber, dass Hajime, der mit Shun gemeinsam als erster losgelaufen war, die ganze Strecke mit dem Camcorder noch mit zurückgelegt hatte. Die Fans würden es mögen, oder? Trotz mit Sicherheit teilweise schlechter Tonqualität – und Videoqualität, spätestens im Staffellauf, aber auch die wenig dynamische Perspektive war nicht gerade ein Anzeichen für eine hochwertige Produktion.

Aber es steckte Liebe drin. Viel Liebe. Iku war wirklich, wirklich stolz auf das ganze Projekt, und er war stolz, dass er so unglaublich tolle Freunde hatte, die ihn so selbstverständlich unterstützt hatten.

Mehr konnte er sich wirklich nicht wünschen!

 

„Vielleicht sollte ich mir extra einen Job suchen, wenn Procella unseren freien Tag bestimmen.“

Aratas träge Stichelei ließ Ikus Sinnieren zu einem Ende kommen. Er lachte, ließ sich den Camcorder von Yoru geben, der sich inzwischen dahinter versteckt hatte und schloss zu Arata auf – da kamen nun sicher Retourkutschen.

„Wirst nicht fehlen“, war Kois dreiste Antwort. Er grinste sonnig, „Ich erzähl dir dann von all den coolen Sachen, die du verpasst hast~!“

„Oh, aber wirklich, Arata-Kun. Du wirst viel verpassen. Ich habe schon großartige Ideen für unseren nächsten freien Tag.“

„Shun.“

„Hm~?“

Hajime sah nicht begeistert aus. Er fuhr sich mit einer Hand durch das unordentliche Haar, während er den anderen kritisch musterte. Das Blitzen in Shuns Augen verriet Iku, dass zwischen den beiden gerade ein Gespräch auf einer Ebene stattfand, die für ihn überhaupt nicht zugänglich war. Wahrscheinlich war er im Endeffekt sogar froh darum.

„Schau nicht so, Hajime. Auch wenn dein missbilligendes Gesicht natürlich atemberaubend ist~ Aber du hast keinen Grund dazu.“

„Shun.“

„Wirklich nicht! Meine Ideen sind wunderbar, vertrau mir.“

 

Shun. Ein Love Hotel ist kein Ausflugsziel.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Aphrodi
2016-10-19T19:32:55+00:00 19.10.2016 21:32
Also, sag mir jetzt nicht, dass Koi wetten einfach immer mit mehr Glück als Verstand gewinnt! Da will man dann echt nicht gegen wetten. Vor allem nicht, wenn man am Ende noch nen fiesen Wetteinsatz einlösen muss. Uff, nein, Wettschulden sind böse! Sieht man ja an unseren Wetten, ne? XD

Ich finde, die Erklärung des Projekts - also das Wie ist gut gelöst. Es als schon angerissen erklärt abzutun und es dann für alle Mitglieder nochmal zusammenfassen zu lassen, damit nicht nur die teilweise kleinen Dummchen der Gruppen es verstehen, sondern eben auch der Leser. Das Projekt als Idee gefällt mir auch! Ich bin gespannt, was dabei alles in die Hose geht. Irgendwas muss doch in die Hose gehen (oder vieles, sobald Koi und Kakeru ins Spiel kommen XD)
Dass man den Jungs so viel Eigenverantwortlichkeit lässt, ist echt gewagt. Gut, sie haben wirklich bisher bewiesen, dass etwas offenbar Gutes bei rauskommt. Aber das Homevideo von Koi?! Ich will niiiiiicht wissen, was da noch kommt XD

Hach, Ikkun, ich drück dir die Daumen? Hätte er vielleicht doch erstmal den November abwarten sollen, denn Shun wäre irgendwie... besser so als Eröffnung gewesen. Hach, dummer, kleiner, ehrgeiziger Ikkun!


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