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Aus Glas gebaut

von

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Weil du mich interessierst

Als Shayne in den Vorlesungssaal trat, spürte er das Wunder der Pubertät in seinen Schritt greifen und erbarmungslos zudrücken. Er hatte in der Vergangenheit viele Dinge getan, die im besten Fall als fragwürdig bezeichnet wurden und nur wenige davon bereute er. Karma hingegen schien seine Taten weniger wohlwollend betrachtet zu haben und setzte ihm demonstrativ seinen ehemaligen Klassenkameraden vor, vermutlich stolz auf diesen Geniestreich von einem Plottwist. Das Schlimmste war, dass es ihn tatsächlich dort traf, wo es weh tat und er nicht nur Karma sondern auch sein Verhalten in der Vergangenheit augenblicklich verfluchte. Hätte er sich damals zurückgehalten, wäre dieses Wiedersehen ein Lottogewinn gewesen, jetzt aber stellte er sich die Frage, ob es so etwas wie kosmischen Sadismus gab.
 

“Würde sich der werte Herr bitte setzen.”

Der Professor hatte Recht, wie eine Amöbe durch die Gegend zu starren war in keinem Fall eine glorreiche Idee. Allerdings war sich Shayne nicht sicher, ob sein Vorschlag eine bessere Option darstellte. Er konnte Karma auch den Eigenlob-Lolli aus dem Mund klauben und sein Hauptfach wechseln, einfach um dem Kosmos seine entblößte Kehrseite ins Gesicht zu drücken. Kein Klassenkamerad, kein schlechtes Gewissen. Aber dieses Handeln würde vermutlich auch irgendwelche tiefsinnigen Folgen haben und im Endeffekt würde er als Ameise in der Hölle landen.
 

Shayne bemühte sich, einen entschuldigenden Blick in Richtung des Dozenten zu werfen und erntete ein Augenrollen. Er wollte keine Höllenameise werden, denn auch wenn er an so etwas eigentlich nicht glaubte, konnte man ja nie wissen. Also suchte er sich einen freien Platz, was angesichts der zahlreichen leeren Reihen nicht schwer war, und stellte sich so seinem Schicksal. Vermutlich würde es die beste Taktik sein, Ivo schlichtweg in Ruhe zu lassen. Wenn er nichts mit ihm zu tun hatte, konnte er auch nichts falsch machen. Ganz einfach. Andererseits war Ivo attraktiv geworden und besaß nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem verpickelten Jungen, welcher gemeinsam mit ihm die Mittelstufe besucht hatte. Und das war ein Problem.
 

Sein Handy vibrierte und eine Nachricht schob sich auf seinen Lock Screen.

“[Hat dein Prof dich noch rein gelassen?]” Shayne starrte auf die unbekannte Nummer.

“[Sitze in der Vorlesung]”, war die neutralste Antwort, die ihm einfiel, vielleicht saß ja Karma am anderen Ende.

“[Meiner hat mich rausgeworfen. Aber das war es wert. Lust auf eine Wiederholung?]”

Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er den neuen Kontakt unter „Quickie“ abspeicherte.

“[Klar. Aber nur wenn dir was besseres als das Klo einfällt.]”

“[Hahahahaha, okay! Auf der Studentenparty heute Abend?]”

“[Falls ich komme.]”

“[Ich bin mir sicher das wirst du.]” Shayne lachte über die Doppeldeutigkeit und spürte im selben Augenblick einen kalten Schauer über seine Haut fahren. Ivo war auf ihn aufmerksam geworden. Mit verengten Augen musterte er ihn, jedoch nur für einen kurzen Moment, der so schnell vorüber war, dass Shayne ihn sich hätte eingebildet haben können.
 

♦♦♦
 

Normalerweise hätte Shayne eine Studentenparty in irgendjemandes Wohnung vermutet, stattdessen fand er sich in einer Art Lagerhalle gerade außerhalb des Campus wieder. Der Bass pulsierte durch seinen Körper und der Alkohol wurde ihm von einer Gruppe betrunkener Studenten direkt vor die Füße gegossen. Wenn er jetzt noch seinen Quickie wiederfand und dessen Namen in Erfahrung brachte, war der Abend perfekt.

Es war nicht einfach, den sich aneinander reibenden Körpern zu entkommen ohne zwischen zwei Leuten eingeklemmt zu werden. Sie waren die Venusfliegenfallen und Shayne die Beute, aber er war zu nüchtern, um sich in ihren Berührungen zu verlieren.

"Gibt's hier auch noch was anderes als Alkohol?", keuchte Shayne, als er die Bar erreichte.

"Obwohl wir dafür keine Abnehmer haben, gibt es das tatsächlich, ja."

Shayne spürte, wie ihm die Luft wegblieb, als er zum Barmann aufblickte. Ivo stand vor ihm, so ruhig und unnahbar wie ein klarer Wintertag, Strähnen seines himmelblauen Haares im Gesicht und die kühlen braunen Augen auf seinen neuen Kunden gerichtet. Nebenher war er dabei, einen Shaker zu reinigen und er sah unverschämt gut dabei aus.

"Ja, dann nehm ich was Alkoholfreies. Ich weiß aber gar nich, was es alles gibt."

"Und ich hatte immer angenommen, du könntest lesen." Mit einem knappen Nicken deutete Ivo auf eine Tafel hinter ihm, die in riesiger neonfarbener Schrift die erhältlichen Getränke jedem Interessierten entgegen schrie.

„Ich glaub ich nehm… Kakao!“ Etwas Seltsames geschah in Ivos Gesicht, als Shayne seine Bestellung aufgab. Wenn er sich daran störte, dass Kakao angeblich ein Kinderding war, dann kümmerte das Shayne herzlich wenig. Wer auch immer diesen Standpunkt vertrat, hatte offensichtlich nicht begriffen, wie großartig Kakao war. „Sehr schokoladig, bitte“.

Ivo löste sich aus seiner Starre und begann damit, das braune Pulver in Milch einzurühren, langsam und so präzise, als wäre er ein Bogenschütze auf der Jagd. Kleine Brocken zerfielen zu winzigen Partikeln, bis sie sich in der Flüssigkeit lösten und sie stetig dunkler färbten.

„Mehr“, flüsterte Shayne, als Ivo im Begriff war, die Kakaopackung zu verschließen. Offenbar hatte er wirklich keine Ahnung von den Feinheiten des Kakaokonsums, aber das machte nichts, solange Ivo nur seine Hand zurück zu der Verpackung führte und den Löffel ein weiteres Mal in das Pulver grub.
 

„Sechs Euro, bitte“, verlangte Ivo, als er die Tasse aus der Mikrowelle nahm.

„Wucher.“

„Mitnichten. Es handelt sich um einen ganz normalen ‚Partypreis‘.“

„Auf Partys bekommt man normalerweise keinen Kakao.“

„Und damit hätten wir den Preis für diese Exklusivität gerechtfertigt.“ Ivos Lächeln besaß eine gefährliche Süße, die Shayne sofort in ihren Bann zog. Er hatte ihm fern bleiben wollen, aber wie konnte er das, nachdem Ivo ihm eine Kostprobe von etwas derart Unerwartetem gab, das so verheißungsvoll, so verführerisch und so vielversprechend war. Den neuen Ivo kennenzulernen war ein Abenteuer, das er sich nicht entgehen lassen wollte, auch wenn er sich am Ende vielleicht an ihm verbrannte. Für ihn würde er vom Masochismus kosten.

Shayne lehnte sich über den Tresen, um den Kakao entgegen zu nehmen und fiel beinahe vom Stuhl.

„Wenn du ihn verschüttest, weil dein Gleichgewichtssinn unzureichend ausgeprägt ist, musst du dennoch zahlen.“

Für diese Bemerkung hätte Shayne ihn am liebsten mit einem Kuss zum Schweigen gebracht. Diese freche Art, so herausfordernd und neu, traf bei ihm genau ins Schwarze. Er wollte seine Grenzen mit ihm austesten, sehen wie weit sie miteinander gehen konnten, bevor es einem von ihnen zu viel wurde. Aber es war fraglich, ob Ivo ihn jemals so nahe an sich heranlassen würde und Shayne konnte nicht sagen, wie lange er es aushielt, auf der Stelle zu treten. Am liebsten hätte er ihn hier und jetzt mit seinen Küssen um den Verstand gebracht.

Statt ihrer Lippen, streiften sich ihre Hände, als Ivo die Bezahlung entgegen nahm. Shayne starrte auf seinen Zehneuroschein und beschloss, ihn als Investition in die Zukunft zu betrachten.

„Stimmt so.“ Na, Karma, was sagst du jetzt?

„Vielen Dank. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“

Shayne hoffte, dass Karmas Antwort vielversprechender ausfallen würde. Er war großzügig gewesen, also konnte er doch auch eine großzügige Folge seiner Tat erwarten, Gesetz des Falles, er hatte das Prinzip richtig verstanden.

Noch während Ivo das Geld in sein Portemonnaie schob, bemühten sich andere Partygäste um seine Aufmerksamkeit. Shayne war abgeschrieben, aber er hatte immer noch den teuersten Kakao seines Lebens, welchen Ivo eigenhändig für ihn zubereitet hatte. Er zog sich an den unbelebten Rand der Bar zurück, der zu abgeschirmt war, um bedient zu werden. Von hier aus hatte er Ivo gut im Blick, genauso wie seine Kundschaft, die ihn regelrecht umschwärmte, in der Hoffnung, ihn entweder im Laufe des Abends abzuschleppen oder als Kumpel zu gewinnen. Das war häufig auch der Typ Barmann, welcher mit dem meisten Trinkgeld nach Hause ging. Shayne konnte das nur bestätigen, er hatte 67% mehr hingeblättert, als verlangt worden war und zwar, weil er sich beides erhoffte – so bald wie möglich. Er würde sich allerdings auch nur mit Sex zufrieden geben.
 

♦♦♦
 

Am nächsten Morgen erschien Shayne pünktlich zur Vorlesung und wählte seinen Sitzplatz direkt neben Ivo. Es war erstaunlich, wie ausgeruht er aussah, obwohl er kaum mehr Schlaf als Shayne bekommen haben konnte.

Das Mädchen, welches für gewöhnlich neben Ivo saß, schielte von einer der vorderen Reihen zu ihnen hinauf. Shayne lächelte entschuldigend und ließ seine Lippen ein stummes 'Sorry' formen. Er hatte immer geglaubt, dass feste Sitzordnungen ein Schulding waren, um den Lehrern ein Gefühl von Sicherheit zu geben, aber das sah seine Kommilitonin offenbar anders. Man musste schon reichlich verwirrt sein, um sich so oft umzudrehen, wie sie es tat.

„Ist es überhaupt erlaubt, so spät in ein Semester einzusteigen?“

Es dauerte eine Weile, bis Shayne verstand, dass Ivo soeben das Wort an ihn gerichtet hatte.

„Es gab Komplikationen“, antwortete er knapp, ein verspieltes Grinsen auf den Lippen.

„Du meinst, es gab Bewerber, die höhere Qualifikationen aufweisen.“

„Aber ich hatte auch nen komplizierten Umzug.“

„Natürlich.“ Ivo war unheimlich heiß, wenn er seine Augenbrauen zusammenschob.

„Du kannst dir gern mein Zimmer angucken und das is noch der entspannteste Teil.“

Ein erstickter Laut entfuhr Ivo, der selbst für Shayne abfällig klang und dafür sorgte, dass er sich dumm fühlte. Normalerweise meisterte er lockere Unterhaltungen souverän, brachte den anderen zum Schmunzeln, entfachte eine angeregte Konversation nach der anderen, bis sie beide schließlich mit einem guten Gefühl auseinander gingen. Ivo hingegen gab ihm gelegentlich das Gefühl, ein Trottel zu sein, das machte es schwieriger, ihn für sich zu gewinnen. Wenn er allerdings Glück hatte, besaß Ivo eine schwache Ader für gutaussehende Kerle mit 'trotteligen' Tendenzen.

„Hast du eigentlich jemals genug?“, fragte Ivo und überraschte Shayne.

„Versteh ich nich. Was meinst du?“

„Allgemein auf dein Leben bezogen.“

„Kommt drauf an. Ich will von allem so viel wie geht, aber nich mehr als möglich. Weißt du was ich meine?“

„Da bin ich mir nicht sicher.“

„Ich…hab ein gesundes Verhältnis zu meiner Gier?“

„Aha.“

„Nee, das klingt jetz blöd.“ Shayne fuhr sich mit der Hand durch sein wildes grünes Haar und verfing sich darin.

„Das ist dahingehend unproblematisch, als dass du gerade nicht nur so klingst.“

Shayne konnte nicht anders, als zu lachen und erntete diesmal einen kühlen Blick seitens seines Professors.

„Hm, pass auf. Also ja, ich hab nie genug, aber ich teile gerne. Deshalb is das okay.“

„Wie schön, dass du diese Entscheidung so generös für deine Mitmenschen mit triffst.“

„Mach ich gar nich.“ Shaynes Augenbrauen schoben sich zusammen.

„Oh doch, das ist genau das, was du machst.“
 

Er war sich nicht sicher, worauf dieser Kommentar sich genau bezog, aber kaum dass Ivo seinen Gedanken los geworden war, hatte er seinen Blick nach vorn gerichtet und die Hände unter dem Kinn gefaltet. Darauf folgte Stille. Es war leise genug, sodass Shayne des Professors Gemurmel vernehmen konnte, leise genug, dass ihm das irritierte Mädchen wieder in den Sinn kam, leise genug, dass er sich einen Stift nahm und auf sein Pult zu kritzeln begann. Es ärgerte ihn, dass ihre Unterhaltung so seltsam geendet hatte. Er hatte geglaubt, ihr gestriges Aufeinandertreffen hätte die Karten neu gemischt, doch im Moment schien es, als wäre Karma nicht durch Trinkgeld zu beeindrucken.
 

Ein tiefes Summen forderte Shaynes Aufmerksamkeit und er spürte Ivos Augen auf seinem Handybildschirm.

„Privatssphäre“, mahnte er und drehte sich von seinem Sitznachbarn weg.

„[Hat dir der Lagerraum gestern besser gefallen?]“ Quickie schien der Typ Mensch zu sein, der sich gern im Nachhinein über seine sexuellen Erlebnisse austauschte.

„[Definitiv. Obwohl irgendein weicher Untergrund auch mal ganz cool wär. Ich bin überall blau.]“

„[War ich gestern auch.]“

Shayne rollte mit den Augen. Ivo hätte sicherlich eine coolere Antwort als dieses offensichtliche Wortspiel gefunden.

„[Heute Abend nochmal?]“

„[Du bist ja echt ausgehungert. Such dir für heute mal wen anders.]“ Er wollte sich auf Ivo konzentrieren, was schwierig war, wenn Quickie ihn ständig dazu brachte, in seiner freien Zeit mit ihm zu schlafen.

„[Schreib mir, wenn du wieder Bock hast.]“
 

„Du hast Freunde namens Quickie?“ Ivos Augenbrauen wanderten bis zu seinem Haaransatz.

„Du hast eiskalt meinen Privatkram gelesen!“

„Nein, ich habe nur den Namen gesehen, als er dick und fett auf deinem Bildschirm aufgeleuchtet ist. Dein Handy lag quasi direkt vor mir.“

„Ja, Freunden gibt man eben Spitznamen.“ Besonders, wenn man ihren tatsächlichen Namen noch immer nicht in Erfahrung gebracht hatte. Allerdings wollte Shayne nun wirklich nicht mit Ivo über seine Sexbeziehung reden. Es gab andere Themen, die ihn mehr interessierten. „Ich bin total überrascht, dass du Single bist.“

Ivo blinzelte. „Bitte, was?“

„Naja, du siehst echt gut aus, da erwartet man, dass du vergeben bist, aber alle sagen, du hättest niemanden.“ Bevor Quickie am Vorabend aufgekreuzt war, hatte er sich unter das weniger betrunkene Volk gemischt und sich umgehört. Es war erstaunlich, wie bekannt Ivo unter den Studenten war, sei es nur namentlich oder weil sich sein hübsches Gesicht in ihre Köpfen eingebrannt hatte. Man beobachtete ihn, sprach über ihn, interessierte sich für ihn.

„Du redest also über mich. Mit anderen Studenten.“ Ivo sortierte die losen Notizblätter auf dem Klapptisch vor ihm.

„Haben die anderen Recht?“

„Warum willst du das wissen?“

„Weil... du mich interessierst.“

„Shayne, ich weiß nicht, was du von mir willst oder was du dir versprichst. Glaubst du wirklich, dass ich noch etwas mit dir zu tun haben will? Such dir wen anderes. Ich bin mit dir durch.“

Ivos Worte trafen ihn wie Pistolenschüsse, präzise und schmerzvoll in die empfindlichsten Regionen seines Stolzes. Er verstand nicht, warum Ivo sich so quer stellen musste.

„[Heute Abend steht. Komm auf mein Zimmer.]“
 

♦♦♦
 

Shayne ließ den leeren Frühstücksteller ins Spülbecken gleiten und warf sich seine Jacke über. Sein Bett war noch ein einziges Durcheinander von der Nacht, die er mit Quickie verbracht hatte, der eigentlich Liam hieß. Wie immer war er sofort danach gegangen, was Shayne nicht sonderlich störte, so musste er morgens niemanden rausschmeißen.

Um an einem Samstag gut in den Tag zu starten, hatte er sich angewöhnt, die Lagerhalle zu besuchen, welche an Wochenenden tagsüber und an Werktagen nachmittags ein beliebtes Café für alle Studenten war, die von ihren Zimmern ebenso frustriert waren wie Shayne.

„Guten Morgen“, grüßte ihn Ivo, als er sich auf seinem Stammplatz direkt an der Bar niederließ. „Man könnte meinen, dass du nach drei Monaten einmal einen Samstag auslassen würdest.“

„Gib's doch zu, meine Anwesenheit freut dich.“

Ivo lächelte leicht und servierte ihm einen warmen Kakao, für den er nicht mehr als 90 Cent verlangte. Mittlerweile wusste er, dass Ivo ihn auf der Party gnadenlos verarscht hatte, aber seine Argumentation war so schlüssig gewesen, dass Shayne ihm die 6 Euro voll abgekauft hatte. Er musste noch immer schmunzeln wann immer er sich daran erinnerte.

„Hast du heut schon was vor?“ Diese Frage war mittlerweile fast zu einer Floskel geworden, rhetorisch genug, um Ivo nur noch selten dazu zu veranlassen, überhaupt drauf einzugehen. Manchmal allerdings schien er es für nötig zu halten, Shaynes einziges Tabuthema auf den Tisch zu bringen – er hasste das, es erinnerte ihn an den Grund, warum sie immer noch auf der Stelle traten.

„Du weißt, dass ich bereits mit jemandem ausgehe.“ Mit einer geübten Bewegung griff sich Ivo ein Tuch, um das Glas in seiner Hand zu polieren, wobei er sein Gesicht von Shayne abwendete.

“Jaja, das is schon seit Ewigkeiten euer Status, so lange, dass es fast gar nich mehr zählt. Aber darum geht's nich.” Zudem war Ivos Date ein Mysterium maximum. Noch nie hatte er mehr über ihn bekannt gegeben, als dass sie regelmäßig miteinander ausgingen und er deshalb quasi vergeben war. Ein Bild konnte sich Shayne davon noch lange nicht machen, für ihn war dieser Typ ein dunkler Schatten, der ihm seine Möglichkeit auf Intimität mir Ivo nahm. Und das nervte ihn gewaltig.

„In Ordnung. Wir können heute Zeit miteinander verbringen.“

Shayne verschluckte sich an seinem Kakao. Hatte er gerade richtig gehört?

„Sieh mich nicht so an, oder ich ändere meine Meinung.“

Shayne senkte hastig seinen Blick, um das breite Grinsen zu verbergen, welches ihn so plötzlich überkommen hatte. Er konnte es kaum fassen. Sie würden sich also endlich treffen, privat, außerhalb des Cafés und des Vorlesungssaales.

„Wenn du dich nicht sauber machst, ziehe ich meine Zusage ebenfalls zurück.“ Ivo schob ihm eine Serviette zu, weil er kakaoverschmierte Gesichter offenbar untragbar fand.

„Keine Sorge, du wirst es nicht bereuen, dich mit mir getroffen zu haben.“ Und das war ein Versprechen.

„Was hast du denn vor?“

„Lass dich überraschen.“

Ich kenne keine Gnade

„Ivy!“, rief Shayne, als er zu dem gleichaltrigen Mittelstüfler herüber schlenderte. Ivo ließ sich Zeit damit, seinen Spind zu verschließen und drehte sich nur langsam zu Shayne herum. Die Schulbücher in seinen Armen wirkten zu wuchtig für die zierliche Gestalt, doch sein Griff war eisern. Ivo betrachtete ihn mit festem Blick, sein Mund öffnete sich nur für einen kurzen Atemzug, mehr Reaktion zeigte er nicht. Ivo war ein fürchterlich stiller Junge und Shayne fragte sich, ob er in seiner Klasse überhaupt Anschluss fand - die Ruhigen gingen in den Klassengemeinschaften meistens unter. Zumindest brauchte Shayne bei den Zurückhaltenden immer am längsten, um ihre Namen zu lernen. Wie viele sich wohl daran erinnerten, wie Ivos hieß? Er legte einen Arm um dessen Schultern, die um einiges niedriger waren, als seine eigenen.

„Bitte“, flüsterte Ivo und brachte Shayne damit zum Lachen. Er hatte nicht den blassesten Dunst, wie ein Bitte in den Kontext passte, eine Begrüßung wäre ihm logischer vorgekommen.

„Bitte...was? Bitte auffälliger mit dir reden? Damit die anderen mitkriegen, dass wir Besties sind?“ Shayne grinste verschwörerisch, stieß jedoch auf Widerstand, als er Ivo zu sich heran ziehen wollte. „Jetzt hab dich doch nicht so, dann bekommst du vielleicht endlich Freunde.“

„Ich habe Freunde.“

„Ah ja? Wo denn?“ Shayne blickte den Schulflur entlang. Er hatte Ivo noch nie mit anderen Schülern zusammen gesehen und auch jetzt konnte er niemanden entdecken, der auf ihn gewartet hätte.

Ivo starrte ihn aus großen Augen an und blieb still. Aha. Er hatte gelogen. Shayne setzte an, ihm beschwichtigend auf den Rücken zu klopfen, als Ivo sich flink aus seinem Arm wandte und quer durch den Flur davon rannte. Sein erschöpfter Atem hallte von den Wänden wider.

„Bis später dann, Ivo“, rief er ihm in dem Versuch, die Situation zu retten, hinterher und hängte vorsorglich seinen Namen hinten an.
 

♦♦♦
 

Shayne fühlte sich danach, seinen Tisch zugreifen und ihn umzuwerfen, direkt in das Chaos, welches sein Zimmer war. Die Stunden des Herumräumens seiner Habseligkeiten hatten nichts als eine Verlagerung der Problembereiche erwirkt. Blätter flogen durcheinander und begruben seinen Basketball, Bücher ummauerten sein Fahrrad und seine Kleidung pflasterte den Boden. Zu allem Überfluss hatte es soeben an seiner Tür geklopft. Normalerweise kam Shayne mit seiner ‚angespannten Zimmersituation’ ganz gut zurecht, in diesem Moment störte sie ihn jedoch stark – er wollte nicht, dass Ivo schreiend davonlief, nicht nach all der Zeit, die Shayne auf seinen Besuch hingearbeitet hatte.

Er öffnete seine Tür einen winzigen Spalt breit, gerade genug, um hindurch sehen zu können. „Vielleicht sollten wir spazieren geh‘n.“

„Es regnet.“

„Sommerregen is schön.“

„Shayne, so schlimm kann dein Zimmer nun wirklich nicht sein“, sagte Ivo und drückte ihn beiseite, um die Trümmerlandschaft zu betreten. Nach nur einem Schritt stieß er mit Shaynes Playstation zusammen, die unter seinem Pullover Zuflucht gefunden hatte, und wagte sich nicht weiter vor. „Wie kann man in so einem Saustall leben? Wie kann das hier“, er deutete um sich, ein wenig zu theatralisch wie Shayne fand, „noch der entspannteste Teil deiner ‚Komplikationen‘ sein? Ich habe ja schon Angst, mir etwas einzufangen, wenn ich nur hier stehe.“

„Naah, du weißt, dass das Unsinn is“, erinnerte ihn Shayne beschwichtigend und erntete einen scharfen Blick.

„Ich möchte bitte, dass du dir vor Augen führst, wie lange du bereits in diesem Zimmer lebst. Die Tatsache, dass du noch immer in solch einem Chaos haust kann einzig darauf zurückzuführen sein, dass du vollkommen unfähig bist, Ordnung zu schaffen. Deine Pläne für den heutigen Tag sind angesichts dieser Krisensituation nichtig. Wir. Räumen. Auf.“

So hatte sich Shayne seinen ersten gemeinsamen Nachmittag nicht vorgestellt.

„Ich hab aber keine Gummihandschuhe oder sowas“, es war ein lahmer Versuch, aber ihm fiel nichts Besseres ein, als an Ivos Ekel zu appellieren. Er wollte wirklich nicht noch länger in seinem Zimmer wüten, er wollte Spaß haben, Ivo näher kommen, mit ihm lachen und diesen blöden Phantomfreund ablösen.

„Ich gehe nicht davon aus, dass deine Besitztümer tatsächlich kontaminiert sind.“ Und damit hatte sich das erledigt.
 

Shayne hatte nicht erwartet, dass die Socke in solch einem perfekten Bogen fliegen würde, bevor sie auf Ivos Kopf landete. Andererseits spielte er nicht umsonst Basketball.

„Ich hoffe für dich, dass dieses fürchterliche Exemplar ungetragen ist.“

„Ich hab die vor Wochen das letzte Mal angehabt!“ Ivos Blick war tödlich. „Nein echt, die sind sauber, das würdest du sonst riechen, glaub mir.“

Die Klamottenberge waren zu ordentlich sortierten Häufchen geschrumpft, was Shayne eigenhändig zu verantworten hatte, dagegen war Ivo mit dem Sortieren seiner Unterlagen beschäftigt, die wie Kraut und Rüben in seinem Zimmer wucherten. Shayne hatte die Vermutung, dass Ivo ein ganz kleines bisschen Freude bei dieser unsäglichen Tätigkeit empfand.

„Soll ich uns was zu trinken machen?“

„Ja, bitte.“

Erleichtert, der bunten Flut für eine kurze Weile entronnen zu sein, lief Shayne zu seiner offenen Einbauküche und holte zwei Gläser aus dem Schrank. Mit einem dumpfen Geräusch wurde er von etwas Weichem am Kopf getroffen, das weiter gegen die Schranktür flog und dann seinen Teller im Spülbecken traf. Hinter ihm ertönte ein ersticktes Lachen.

„Eine Rachesocke, ich verstehe.“ Er fischte den Stoffball aus dem Becken und stürzte sich auf Ivo, der seine vorschnelle Aktion sicherlich schon bereute. „Nimm dies“, rief er mit angemessenem Pathos und stürzte einen Pulloverhaufen auf Ivo.

„Nein, die viele Arbeit!“, bemühte dieser sich, an Shaynes Gewissen zu appellieren, aber der Versuch war vergebens. Ein weiterer Stapel regnete auf Ivo herab, welcher seine Belustigung nicht mehr länger unterdrücken konnte, ein paar Kissen folgten und schließlich begrub ihn Shayne unter sich wie eine menschliche Lawine. Rätselhafterweise gelangte Ivo an eines der Kissen, welches er Shayne entschlossen ins Gesicht drückte. Als Antwort sausten Sockenbälle gegen seinen Oberkörper.

„Du bist wahnsinnig“, keuchte Ivo zwischen zwei Lachanfällen und schoss die Bälle mit erschütternder Präzision zu ihrem Absender zurück. Ein Kissen diente Shayne nun als Schild und als Ivo die Munition ausgegangen war, ließ er sich bäuchlings auf ihn fallen.

„Ich kenne keine Gnade.“

„Wie ungünstig…“, sagte Ivo mit einem Lächeln, das Shayne so noch nie auf seinen Lippen gesehen hatte. Es war selbstbewusst, prickelnd, herausfordernd. Verführerisch. Shaynes Atem stockte und das Blut rauschte laut in seinen Ohren. Was, wenn er ihn jetzt einfach küsste, wenn er die Hände über seinen Körper gleiten ließ, wenn er sich endlich das nahm, worauf er so lange gewartet hatte? Was, wenn er mit einer solchen Aktion den einen Schritt zu weit ging und seine Chance für immer verspielte? Er durfte seine monatelange Arbeit nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen. Er musste stark bleiben, vernünftig sein, sich zurückhalten.

Feuer entfachte auf Shaynes Haut, als Ivo die Finger in seinem Haar vergrub und ihn näher zu sich herab zog. Sie waren einander so nahe, dass sein Gesicht vor Shaynes Augen verschwamm und sein Atem heiß über seine Lippen rollte.

„…ich nämlich auch nicht.“ Der letzte Abstand schwand, als wäre er nie zwischen ihnen gewesen und Shaynes Kopf erlitt einen Kurzschluss.
 

Er konnte nicht sagen, wie lange ihr Kuss gedauert hatte, als sie sich mit einvernehmlichen Widerwillen voneinander lösten. Ihr Atem ging schwer und irgendwie war Ivos Hemd abhanden gekommen, Shaynes Gürtel gelöst und eine seiner Socken ausgezogen worden.

Ivo lag neben ihm, sein sonst ordentliches Haar zerzaust, die Haut gerötet und sein Blick undeutbar.

„Hast du… Durst?“, fragte Shayne, um sich davon abzuhalten, ihren berauschenden Moment anzusprechen. Er hatte die Befürchtung, dass das alles kaputt machen würde.

„Mh, ja... Ich hätte sehr gern einen Kakao, bitte.“

Shaynes Augenbrauen trafen sich auf seinem Nasenbein. „Was?“ Er war sich sicher, dass Ivo sich über ihn lustig machte.

„Allerdings nicht so übersüßt, wie du ihn zu trinken pflegst. Drei gehäufte Teelöffel sind vollkommen ausreichend. Außerdem bevorzuge ich ihn kalt.“

„In… Ordnung. Ich wusste gar nich, dass du auch Kakao magst. Irgendwie hätt ich bei dir eher Kaffee erwartet.“

Ivo lachte leise in sich hinein. „Es wäre nicht das erste Mal, dass du dich bezüglich meiner Person irrst.“

Shayne betrachtete das braune Pulver und tauchte einen Löffel hinein. Vielleicht lag er nur deshalb falsch, weil Ivo sich verändert hatte. Der alte Ivo war bestimmt ein Kaffeetrinker gewesen. Mit viel Zucker und Milch, wenn er nun Kakao bevorzugte.

„Deshalb hast du so komisch geguckt, als ich das bei dir bestellt hab, stimmt’s? Weil du dir das auch bestellt hättest“, sagte Shayne.

„Es hat mich erschreckt, dass wir Gemeinsamkeiten aufweisen.“ Ivos Stimme streifte Shaynes Ohr und sein Oberkörper berührte seinen Arm.

„Naja, außer dass ich heiß bin und du kalt. Also irgendwie gegensätzlich. So wie Sommer und Winter oder Sonne und Mond oder Feuer und Eis.“

„Ich fürchte, dass du dich gerade immer weiter von der Tatsache entfernst, dass wir über Kakao sprechen.“

„Na man kann das Ganze auch philosophisch betrachten.“

„Sicherlich kann man das. Ich empfinde es allerdings als unangebracht.“

„Banause“, beschwerte sich Shayne und erntete ein Lachen, das viel zu freundlich klang, um verachtend zu sein. Ein wohliges Gefühl breitete sich in seiner Brust aus und machte Anstalten, seinen gesamten Körper zu übernehmen.

Shayne drehte sich zum Kühlschrank, um die Milch zu greifen und trat dabei in eine Unterhose, die ihm beim Aufräumen entwischt sein musste. Was warf Quickie sein Zeug auch in die Küche... Ivo lehnte sich über den Tresen, um einen Blick auf den Ausreißer zu werfen.

„Das ist eine wirklich teure Boxershorts von Versace“, stellte Ivo fest. Shayne war sich nicht ganz sicher, was er mit dieser Information anfangen sollte. Wollte er, dass Shayne sie in einer Vitrine ausstellte oder in Goldpapier einwickelte? Im Endeffekt war es doch auch nur ein Fetzen Stoff, um das beste Stück zu verhüllen.

„Kann sein“, sagte Shayne mit einem Schulterzucken.

„Deinen anderen Kleidungsstücken nach zu urteilen hätte ich nicht erwartet, dass du dir solch eine luxuriöse Schlafhose gönnst. Nicht einmal deine Schuhe sehen aus, als wären sie 300€ wert.“

„Bitte was?! Ich will mich ja jetz gar nich um meine Schuhe streiten, aber wer zur Hölle gibt denn so viel Geld für eine Unterhose aus? Die sieht man nichmal!“

„Also ist es nicht deine“, schlussfolgerte Ivo und seine Stimme hätte Glas schneiden können. Shayne begriff, dass er in diesem Moment alles verlieren konnte. Er verfluchte diese dumme Boxershorts und seinen dummen Vorschlag, sich bei ihm zu treffen. Es hätte ihm doch klar sein müssen, dass irgendwo ein Moodkiller lauerte, auch wenn er nicht erwartet hätte, dass dieser so dramatisch ausfallen würde. Nervös vergrub Shayne den Löffel im Kakaopulver und zwang sich zu einer hoffentlich plausiblen Lüge.

„Ich hab die geschenkt bekommen. Von Verwandten. Zum 18. Kann ja keiner ahnen, dass die so übertreiben.“

Ivos Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt, aus denen er ihn wie Katze auf der Lauer musterte. Da er noch nicht davongerannt war oder ihm irgendeine intellektuelle Beleidigung an den Kopf geworfen hatte, riskierte Shayne ein paar weitere Worte.

„Vielleicht sollte ich die bei eBay reinstellen und mir davon was Sinnvolles kaufen, wie einen Fallschirm oder einen Städtetrip.“

Shayne betete, dass Ivo sich mit der Erklärung zufrieden gab. Er hasste es, zu lügen und normalerweise hätte er zu seiner ‚Affäre‘ gestanden oder sie einfach unerwähnt gelassen, immerhin war er ein freier Mann ohne Dates und ohne Partner. Eigentlich war er niemandem Rechenschaft schuldig. Und trotzdem preschte das Adrenalin durch seinen Körper und verbreitete ein unangenehmes Kribbeln.

„Viel Glück damit“, war alles, was Ivo dazu sagte. Er atmete tief durch und lehnte sich wieder gegen die Arbeitsfläche, allerdings war der Abstand zwischen ihren Körpern um ein Vielfaches vergrößert worden. Shayne wagte es nicht, diese unsichtbare Grenze zu überqueren.

Geräuschlos trat er die Boxershorts in eine Ecke, um sie aus Ivos Blickfeld zu entfernen, während er versuchte, die Milch in ihre Tassen zu füllen. Die Flüssigkeit ergoss sich über die gesamte Küchenzeile, wofür er mit einem Zungenschnalzen gescholten wurde. In dem Versuch, das Chaos einzudämmen, rutschte ihm der Karton aus den Händen und sein hastiges Nachgreifen resultierte in einer riesigen Milchfontäne.

„Ich fürchte, ich hätte das Glück hiermit besser gebrauchen können“, sagte Shayne trocken.

„Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass du der größte Idiot bist, der mir bisher untergekommen ist.“

„Gar nich wahr“, wehrte sich Shayne und streckte sich nach dem Küchenpapier, um der Sauerei entgegenzuwirken. Sein nackter Fuß landete in einer kalten Pfütze und glitschte über die Fliesen. Mit einem tiefen Rumms krachte er in Ivo und riss sie beide zu Boden.

„Ich glaube das jetzt nicht. Ich hoffe, du hast dir weh getan“, sagte Ivo mit angestrengter Stimme. Er lag unter Shayne begraben, dessen Knie vom harten Aufprall tatsächlich schmerzten.

„Du wurdest erhört…wie geht’s dir?“

„Hervorragend.“ Ivo rollte die Augen und Shayne spürte, wie sich seine Socke mit Milch voll sog.

„Fehlt nur noch das Schokopulver.“ Was eigentlich ironisch gemeint war, wurde zu einer Prophezeiung, die sich augenblicklich erfüllte. Der Behälter, welcher nur halb auf der Küchenfläche stand, gab dem Gewicht des Löffels nach und kollidierte mit Shaynes Kopf. Das Pulver war überall.

Falls Ivo etwas hatte sagen wollen, wurde es von dem Lachen verschluckt, welches ihn plötzlich überkam und Shayne augenblicklich ansteckte.
 

„Das ist so absurd“, sagte Ivo mit zittriger Stimme, als sie sich einigermaßen beruhigt hatten. Auch wenn seine Haare ein einziges Chaos waren und seinen Oberkörper pulverige Muttermale zierten, war Ivo unheimlich attraktiv. Sein seltenes Lachen und der verwegene Anblick waren genug, um Shayne alle Zweifel vergessen zu lassen. Er stützte sich auf, gerade genug, um mit seiner Nasenspitze über Ivos Wange zu streifen und überwand die letzten überflüssigen Millimeter, welche ihre Lippen trennten. Ivos Körper verkrampfte sich unter Shayne, seine Kiefer pressten sich unnachgiebig aufeinander, doch sein Mund blieb entspannt. Shayne verteilte sanfte Küsse auf der rosigen Haut. Langsam begann das Eis in Ivos Venen zu schmelzen, seine Muskeln entspannten sich und seine Lippen bewegten sich zaghaft gegen Shaynes.

Er wusste, dass es falsch war, was er hier tat. Dass er sich zusammenreißen musste, dass sein inneres Feuerwerk schleunigst ein erstickendes Vakuum benötigte. Doch Ivos Arme drückten ihn näher an sich und seine Zunge vertiefte den Kuss bis zu dem Punkt, von welchem eine Rückkehr in die Vernunft ausgeschlossen war.

Es war viel zu einfach, Ivos Hose zu öffnen und die eigene mit einem Tritt in irgendeine Ecke seines Zimmers zu befördern. Seine Hände fanden die Stellen, von welchen er nächtelang phantasiert hatte, mit überraschender Leichtigkeit und es verwunderte ihn nicht, dass sie sich in Wirklichkeit um Längen besser anfühlten. Unter einer dünnen Schicht Gewebe lagen Muskeln verborgen, die Shayne ganz klar unter seinen Fingerspitzen fühlen konnte. Er hatte immer geglaubt, dass sich Ivo durch und durch weich anfühlen würde. Diese Entdeckung überraschte ihn. ‚Es wäre nicht das erste Mal, dass du dich bezüglich meiner Person irrst.‘ Ivos Stimme hallte mit nicht zu vernachlässigendem Amüsement in Shaynes Kopf wider und er kam nicht umhin, ihm diesen Punkt einzugestehen. Er war gespannt darauf, mehr unerwartete Dinge über ihn zu erfahren.

Ein dumpfes Klopfen, welches Shayne für seinen Herzschlag gehalten hatte, drang zu seinem Bewusstsein durch und milderte das Rauschen in seinem Kopf. Nun, da sein Gehör wieder einsetzte, bemerkte er auch, dass das Pochen viel zu unregelmäßig für einen gesunden Puls war.

„Hey Shayne, mach mal bitte schnell auf, ich muss kurz was holen. Ich habe es echt eilig! Alter, wenn du nicht da bist, dreh ich durch, du gehst nicht an dein Handy, wozu hast du das überhaupt?“

Das war ja nun wirklich ein äußerst beschissenes Timing für einen unangekündigten Besuch. Ivo war bereit, Shayne an sich ran zu lassen, da blieb kein Raum für umsichtiges Sozialverhalten. Was auch immer der Typ vor seiner Tür brauchte, Shayne brauchte das hier noch viel dringender. Sollte er doch durchdrehen da draußen. Seine Hände, die keine Sekunde von Ivo abgelassen hatten, fuhren in dessen Haare und drehten seinen Kopf, um ihn abermals zu küssen. Doch all die leidenschaftliche Hitze war aus seinem Blick gewichen und Shayne dämmerte, dass die Realität sie eingeholt hatte.

Widerwillig drückte sich Shayne in den Stand und richtete sich so gut wie möglich.

„Was brauchst du denn? Ich such’s kurz raus“, brummte er ohne die Tür zu öffnen. Es war ja nicht unbedingt nötig, dass seine momentane Affäre und seine zukünftige Affäre sich begegneten, besonders da Ivo nicht wie der Typ für einen Dreier schien.

„Die Barocco. Hast du grad geschlafen? Es ist mitten am Tag.“

Shayne kratzte sich am Kopf und überlegte, was eine Barocco war. Alles, was ihm dazu einfiel war Carpe Diem und Memento Mori, aber das war sicherlich nicht, worauf Quickie hinaus wollte.

Shayne warf die Hände in die Luft. „Keine Ahnung.“

Plötzlich stand Ivo neben ihm und peitschte Shayne die wahnwitzig teuren Boxershorts in die Arme.
 

♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦♦ Kapitel 02 - Ende

Aus Glas gebaut

„Er redet von diesen hier, sie riechen sogar nach seinem Parfum. Ich kann nicht glauben, dass du mir das wirklich angetan hast. Du bist das Allerletzte, Shayne. Das aller Allerletzte.“

Die Welt stand Kopf, alles brach auseinander und Shayne wusste nicht, wie er das Universum vom Kollabieren abhalten sollte. Das war doch alles nicht möglich, das war ein schlechter Scherz, ein dummer Albtraum, eine wahnwitzige Phantasie, aber niemals das, was gerade tatsächlich passierte.

Quickie war Liam und Liam war der mysteriöse Typ, den Ivo schon seit Monaten datete, fast genauso lange, wie Shayne mit ihm ins Bett ging. Es konnte gar keine andere Erklärung für das geben, was sich hier gerade abspielte. Woher sonst sollte Ivo wissen, wie Liams Unterhose aussah, wenn nicht aus eigener Erfahrung?

Der laute Zusammenprall von Wohnungstür und Wand riss Shayne aus seinem schockähnlichen Zustand.

„Scheiße“, war alles, was Liam dazu einfiel, „hättest du mir nicht sagen können, dass Ivo bei dir ist?“

„Hättest du mir nicht sagen können, dass du wen datest?! Wer datet denn Leute und vögelt nebenbei rum? Oder hab ich den Sinn vom Daten nich verstanden? Geht’s noch?“

„Das muss ich mir von jemandem wie dir nicht anhören“, blaffte Liam zurück und schnappte sich seine Versacehose aus Shaynes Arm. Wut kochte in Shayne hoch. Er war nicht allein für diese beschissene Situation verantwortlich und verglichen mit Liam hielt sich sein Anteil an diesem Dilemma stark in Grenzen.

„Ich mach wenigstens niemandem falsche Hoffnungen! Mit jemandem auszugehen, nur weil man ihm anders nich an die Wäsche darf, is eine ganz ekelhafte Tour. Verpiss dich mit deinem Designerbullshit und fang mal an, auf dein Leben klar zu kommen.“

Ein Fausthieb landete in Shaynes Gesicht, der ihn rückwärts in sein Zimmer stolpern ließ. Diese Situation war so absurd, so surreal, so bescheuert, dass es schon wieder komisch war.

Liams Mund bewegte sich, aber falls er etwas sagte, ging es in Shaynes Lachen unter. Was konnte er schon von sich geben, das von Bedeutung war? Die Bombe war geplatzt und nun konnten sie nichts weiter tun, als die Scherben aufzusammeln. Als Liam sich verdrückte, wollte Shayne schreien - weil er ihn in diesem Chaos allein ließ, obwohl er einen verdammt großen Teil dazu beigetragen hatte. Warum zur Hölle war Shayne der Sündenbock? Klar, er hatte Mist gebaut: Ihm war bewusst gewesen, dass Ivo von jemandem schwärmte und trotzdem hatte er ihm den Hof gemacht - während er parallel mit Liam schlief. Allerdings war ihm zu keiner Sekunde klar gewesen, wie sie zusammenpassten. Liam hingegen wusste genau, was er tat und vor allem, mit wem er es tat.

Karma musste Shayne wirklich hassen. Sehr. Und das hier war die Abrechnung.
 

Die Fliesen fühlten sich noch warm unter Shaynes sockenlosen Fuß an. Er konnte genau sehen, wo Ivo und er noch vor wenigen Momenten gelegen hatten, denn der Kakao hatte ihre Silhouetten auf den Boden gezeichnet. Einige Fußspuren verschmierten den puderigen Rand und die Milch fraß sich allmählich in Richtung Tür. Sie ließ sich damit mehr Zeit, als Ivo es getan hatte.

Mit einem Aufschrei schnappte sich Shayne seinen Basketball und flüchtete aus seinem Zimmer. Er konnte es nicht ertragen, in seinen Gedanken gefangen zu sein, sich selbst Vorwürfe zu machen, den Nachhall von Ivos Wärme zu spüren, über die Ungerechtigkeit der Anschuldigungen zu brüten. Er dribbelte den Ball durch den Flur und überwand die Treppenstufen mit großen Sprüngen, die in seinen Knien schmerzten. Es war gut, sich lebendig zu fühlen, seinen Körper zum Brennen zu bringen, um seinen Kopf zu betäuben. Auf dem Rasen verweigerte der Basketball seine Dienste, weshalb ihn Shayne unter seinen Arm klemmte und den restlichen Weg sprintete.

In den letzten Monaten war er häufig des nachts auf den Sportplatz gegangen und hatte den Korb für sich beansprucht. Problematisch war das selten gewesen, außer wenn sich irgendwelche betrunkenen Studenten direkt darunter verirrt hatten, um sich ihrem Rausch zu überlassen. Als er diesmal auf den Platz trat, waren die anwesenden Studenten hellwach und genug in ihrer Anzahl, um niemanden zu dulden, der nicht in ihr Team gehörte. Das war doch nicht zu glauben! Warum war eigentlich immer das, was er wollte, außerhalb seiner Reichweite? Shayne warf den Ball gegen das Gitter, welches den Sportplatz flankierte. Mit einem lauten Scheppern prallte er von den dünnen Metallstäben ab und schoss gegen Shaynes Oberschenkel. Für einen Moment wünschte er sich, der Ball hätte seinen Unterleib getroffen.
 

Stöhnend bückte er sich, um den runden Verräter unter seinen Arm zu klemmen. Der einzige Ort, welcher ihm jetzt noch einfiel, war der fensterlose Durchgang zwischen zwei Campuswohnhäusern, den eigentlich niemand nutzte. Außer Shayne, wenn er sich mal wieder verlaufen hatte.

Wie erwartet befand sich keine Menschenseele in der Gasse. Der Abstand zur Wand war eigentlich zu schmal, um ordentlich Basketball zu spielen, aber wenn er sich nicht selbst ausdribbeln wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich damit zu arrangieren. Genauso, wie er sich mit der neuen Situation arrangieren musste, in welche Liam ihn gebracht hatte. Shayne stieß den Ball hart gen Boden. Die Kraft, welche er in den Stoß gelegt hatte, katapultierte den Ball bis zur gegenüberliegenden Wand und wieder zurück. Das orangene Geschoss raste wild zwischen den Hauswänden hin und her, bis es dank einer Unregelmäßigkeit in den Backsteinen seinen Kurs änderte und den Durchgang hinab sprang. Das war es also, entweder kopfloses Ballumherschleudern oder stundenlanges Joggen. Alles andere kam nicht gegen seinen Drang, das Erlebte wieder und wieder durchzugehen, an.

Was Shayne für das Schlurfen seiner Schuhe über den Boden gehalten hatte, begann, je näher er seinem Ball kam, immer menschlicher zu klingen. Es war ein unterdrücktes Schluchzen, durchsetzt von zittrigen Atemzügen. Vermutlich wäre es eine edle Geste gewesen, der Person zu helfen, welche sich ganz in seiner Nähe befinden musste. Aber Shayne war noch nie sonderlich erfolgreich mit seinen Aufmunterungstechniken gewesen, jedenfalls nicht, wenn es um schlechte Noten oder gebrochene Herzen ging. Außerdem brauchte er selbst gerade mindestens genauso viel Trost. Und die Vorstellung gemeinsam in Selbstmitleid zu versinken führte dazu, dass ihm übel wurde.

Eine Böe stieß den Basketball an, sodass er einige Zentimeter weiter rollte, genug, damit Shayne die Gasse verlassen musste, um ihn sich wiederzuholen.

Und dann sah er ihn. Ivo, zusammengekauert an einer Wand lehnend, das Gesicht in seinen Armen vergraben und die Hände zu Fäusten geballt. Der Sonnenschein bildete einen fürchterlichen Kontrast zu dem Bild, welches sich Shayne bot. Er fühlte sich hilflos. Sein Herz zog sich zusammen und überwältigte ihn mit einer Welle von Schmerz. Shayne hatte Ivo noch nie so zerbrechlich erlebt und es machte ihm Angst. Menschen konnten nicht einfach so auseinander fallen, sie waren nicht aus Glas oder Porzellan, sondern aus Knochen und Fleisch, die sie fest zusammenhielten. Menschen waren robust. Menschen zerbrachen nicht so leicht. Oder?

Shayne streckte seine Hand aus, zögerlich. Ivo hatte ihn nicht bemerkt, er hielt noch immer seine Knie fest umschlungen und den Kopf in diese verzweifelte Umarmung gepresst.

Nein. Nein er konnte das nicht. Hastig griff Shayne seinen Ball und rannte - rannte bis seine Lungen stachen und seine Beine zu zerreißen drohten. Rannte, bis der Schmerz in seinem Körper sich dem in seiner Seele angepasst hatte.
 

Die Nacht legte sich schwer über Shayne. Er hatte es nicht fertig gebracht das Chaos in seiner Küche zu beseitigen oder seine Kleidung wieder zu ordentlichen Stapeln zu sortieren. In der Dunkelheit machte es ohnehin keinen Unterschied. Wenn er in seinem Bett lag und sich zur Wand drehte, konnte sein Zimmer alle möglichen Stadien aufweisen ohne dass es ihn störte. Wenn er zur Wand gedreht war, konnte er auch nicht auf die Stellen sehen, an denen sie gesessen oder gelegen hatten. Dann konnte er die Dekokissen ignorieren, welche Ivo zur Selbstverteidigung eingesetzt hatte. Dann war es, als hätten sie sich nie bei ihm aufgehalten, denn der einzige Ort, welchen Ivo gemieden hatte, war Shaynes Bett gewesen. Liam hingegen hatte eigentlich nur sein Bett interessiert, selten war er lange genug geblieben, als dass sich Shayne ein Bild von ihm an einer anderen Stelle hätte einprägen können.

Shayne wälzte sich herum und dann, so schnell er konnte, wieder zurück. Der Blick auf seinen Zimmerboden war tabu, zu viele aufwühlende Erinnerungen lauerten dort auf ihn. Er konnte nicht noch mehr Bilder gebrauchen, die in seinem Kopf herumspukten. Es reichte ihm, Ivos Schluchzen zu hören, die unüberwindbare Distanz zwischen ihnen zu spüren, wieder und wieder den Moment zu durchleben, in welchem er seine Hand weggezogen und kehrt gemacht hatte. Ivo in dieser Verfassung zu sehen, war schockierend gewesen, und unwirklich. Es verfolgte ihn bis in den Schlaf, der lange auf sich warten ließ.
 

Es war nicht einfach, in den Vorlesungssaal zu treten, wohl wissend, dass er dort auf Ivo treffen würde. Aber er musste ihn wiedersehen, mit ihm sprechen, die Dinge richtigstellen, es irgendwie wieder gut machen. Er musste ihn wieder zusammensetzen, denn vielleicht waren Menschen doch für einen gewissen Anteil aus Glas gebaut. Die Frage war nur, ob er sich daran schneiden würde.

Ivo saß schon an seinem Platz und studierte eingehend seine Unterlagen. Seine Freunde musste er weggeschickt haben, denn seine Sitznachbarin hatte sich eine Reihe weiter vorn niedergelassen, nur um regelmäßig über ihre Schulter zu blicken und Ivo anzustarren. Unter einem derartig penetranten Röntgenblick hätte sich Shayne auch in seinem Zeug vergraben. So geräuschlos wie es ihm nur möglich war, bewegte er sich durch die Sitzreihen und sendete dem Mädchen einen ich-darf-das-Blick ohne sich sicher zu sein, ob es den Tatsachen entsprach. Sie plusterte ihre Wangen auf und ließ ihn keine Sekunde unbeobachtet.

“Uhm, Ivo?” Nervosität begann, von ihm Besitz zu ergreifen. Egal, wie stark Ivo tun würde, Shayne hatte gesehen, wie verletzt er wirklich war. Es war ihm unangenehm, dieses Wissen über Ivo zu besitzen - als hätte er ihm ein Geheimnis gestohlen, auf das er kein Anrecht hatte. Es war unfair.

Ivo blieb stumm und hielt seinen Kopf weiterhin gesenkt. Früher hatte er ihn ähnlich ignoriert, aber da war so etwas nicht zwischen ihnen vorgefallen und Shayne hatte nie einen Grund dafür gehabt, sich entschuldigen zu müssen.

“Ich hab’s nich gewusst, ehrlich”, sagte er und fand selbst, dass es erbärmlich klang. “Und er is auf mich zugekommen, hätt ich gewusst, wer er is hätt ich mich nie drauf eingelassen.”

Ivo lachte freudlos auf. “Dass du nach all dem, was du mir angetan hast, die Dreistigkeit besitzt, mich anzusprechen.”

“Ich will die Sache klären.”

“Die Situation hat keinen Raum für Missverständnisse gelassen.” Ivos Augen waren gerötet, ebenso wie seine Nase. Shayne wusste nicht, was er zu sehen erwartet hatte, als Ivo sich ihm endlich zuwendete. Vielleicht hatte er gehofft, dass es Ivo doch nichts ausmachte, dass die Nacht seine Wunden geheilt hatte, dass die kauernde Gestalt doch jemand anderes gewesen war…

“Ivo…”, Shayne wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Kopf dröhnte vom Schlafentzug und es fiel ihm schwer, sich rationale Argumente zu überlegen. Vermutlich wäre es klüger gewesen, wenn er sich Zeit genommen hätte, um sich eine Strategie zu überlegen oder überhaupt darüber nachzudenken, wie er die Sache angehen sollte. Jetzt war es dafür zu spät.

“Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Du bist so unheimlich penetrant und von dir selbst eingenommen, dass du dir vermutlich gar nicht vorstellen kannst, jemand könnte genug von dir haben. Du solltest anfangen, dich mit diesem Gedanken anzufreunden.”

“Ich möchte es doch nur wiedergutmachen und nicht so im Raum stehenlassen.” Shayne lehnte sich vor, um irgendwie zu Ivo durchzudringen.

“Lass. Mich. In. Ruhe.”
 

“Ivy”, rief eine ihm wohl bekannte Stimme, als Ivo gerade dabei war, die Schulsachen seiner bereits absolvierten Fächer in seinem Spind zu verstauen. Er wusste, dass es sich nicht lohnen würde, vor Shayne wegzulaufen, denn früher oder später würden sie sich wieder über den Weg laufen und dann war ihr Aufeinandertreffen für gewöhnlich noch unausstehlicher als ohnehin schon. Ivo ließ sich extra Zeit damit, seinen Spind zu verschließen und gab sich Mühe, diese letzten Gnadensekunden zu genießen. Kaum drehte er sich zu Shayne um, legte dieser seinen Arm besitzergreifend auf seine Schulter. Ivo mochte es nicht, wenn man ihn einfach so berührte, schon gar nicht wenn es auf solch eine selbstverständliche Weise geschah, wie Shayne es sich regelmäßig erlaubte. Ivo gehörte sich selbst und niemand anderem, das galt nicht nur für seinen Geist, sondern insbesondere für seinen Körper. Wenigstens in der Schule, wo er sicher vor dem Frust seines Bruders war, wollte er diese Selbstbestimmung leben. Doch Shayne drängte sich immer wieder dazwischen. Die ständige Konfrontation mit seiner Machtlosigkeit, zehrte an Ivo und frustrierte ihn bis zum Punkt der Verzweiflung.

“Bitte”, sagte Ivo leise und fühlte sich erbärmlich. Sein Verstand sagte ihm, dass er Shayne wegstoßen oder ihm entschlossen die Stirn bieten sollte, aber aus einem ihm unerklärlichen Grund konnte er es nicht. Vielleicht lag das an Shaynes hübschem Gesicht. Er hätte es gern mit seiner neuen Kamera, die er sich zum Geburtstag gewünscht hatte, festgehalten. Es machte Ivo sauer, dass er so über Shayne dachte, besonders, da dieser solch eine Aufmerksamkeit nicht verdiente. Und, weil er sich über ihn lustig machte. Offenbar war das Wort, welches sich Ivo abgerungen hatte, ein Witz, über den Shayne sich unbedingt amüsieren musste. Ivo wollte den Jungen wirklich unbedingt hassen. Niemand sonst wagte es, so auf seinem Stolz und seinen Gefühlen herumzutrampeln.
„Bitte…was? Bitte auffälliger mit dir reden? Damit die anderen mitkriegen, dass wir Besties sind?“ Shayne versuchte, ihn näher an sich zu ziehen, aber Ivo verkrampfte unter seiner Berührung. Er wollte das nicht. Er wollte nicht, dass Shayne ihn einfach anfasste, aber Shayne war zu blind, um das zu verstehen. “Jetzt hab dich doch nich so, dann bekommst du vielleicht endlich Freunde.”

„Ich habe Freunde”, sagte er und war versucht, Shayne zu fragen, wie viele wahre Freunde er wohl besaß. Viele ließen sich von seinem Aussehen und seinem Enthusiasmus blenden, aber irgendwann mussten auch sie erkennen, dass er ein selbstgefälliger Egoist war.

„Ah ja? Wo denn?“

Ivo musste sich nicht rechtfertigen. Er war Shayne keine Rechenschaft schuldig und doch versetzte ihm diese Nachfrage einen Stich. Sie war so selbstgefällig. Shayne gab ihm das Gefühl, als wäre Ivo nur ein dummer kleiner Junge, den man eines besseren belehren müsste. Wieso nur nahm ihn niemand ernst? Wieso dachte jeder, dass er mit ihm tun konnte, was er wollte? Wieso konnte er nichts dagegen machen? Und trotz all dieser inneren Wut vermochte Shayne es, Ivos Widerstand mit einem einzigen Blick zu brechen und er hasste ihn dafür. Shayne würde ihm seinen Entschluss nicht wegnehmen, besonders da sein freundschaftliches Getue nichts mit wahrer Freundschaft gemein hatte. Für ihn war Ivo ein amüsanter Zeitvertreib, jemand über den er sich lustig machen konnte, eine Spielfigur…

Shayne bewegte seinen Arm und löste Ivo so aus seiner Starre. Er drehte sich aus Shaynes Griff und obwohl er sich zur Ruhe zu zwingen versuchte, rannte er den Flur entlang. Seine Augen brannten und seine Lunge bebte.

„Bis später dann, Ivo”, rief Shayne ihm nach und Ivo wollte nur noch schreien. Wieso nur, versuchte Shayne so akribisch ihm seine Würde zu rauben?
 

“Ivo, bitte, ich weiß, dass das eine scheiß Situation ist. Es-“

“Hör auf”, sagte Ivo und schnitt Shayne das Wort ab. Aber Shayne konnte nicht einfach aufgeben, auch wenn er noch immer keinen Plan hatte.

“Ich versuch’s nochmal anders, weil ich es offenbar irgendwie nich richtig hinbekomm’…”

“Nein, Shayne, du verstehst nicht. Ich lasse mich von dir nicht mehr herumschubsen. Du hast das letzte Mal auf mir herumgetrampelt. Ich will dich nie wieder sehen müssen.” Und dann stand Ivo plötzlich auf, seine Sachen auf dem Arm, und verließ den Vorlesungssaal.

Zurück blieb eine erdrückende Leere.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bin unheimlich gespannt, wie es euch gefällt! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ooops, Shayne. Einfach nur oops Komplett anzeigen
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Vielen herzlichen Dank für 4 Favoriten! Ich bin unglaublich glücklich über jede Resonanz!! :)

Ich plane ein paar kleine Zeichnungen zu den Charakteren anzufertigen.
Würde euch soetwas interessieren? Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Shion_Mitoshi
2016-05-19T21:28:41+00:00 19.05.2016 23:28
Ich fand diese Geschichte spannend aber jetzt zum Schluss war sie schon sehr traurig:(
Mir hat diese ff gefallen *.*
Mach weiter so^^


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