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My Dear Brother

The Vampires
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hiermit beginnt das Vorgeplänkel! Viel Spaß beim Lesen und hier nochmal kurz angemerkt:
Die FF ist von 2008... Bitte erwartet keinen hohen Standard an Syntax etc.

Ich würde mich natürlich sehr über einen Kommentar freuen! ♥ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
VORSICHT und TRIGGER WARNUNG
Dieses Kapitel ist ein Bonus Kapitel und gehört nicht zur weiterlaufenden Story! Willst du nach dem Prolog weiterlesen, klicke bitte zum nächsten Kapitel!


Ein Bonus Kapitel - als Dankeschön für knapp 100 Favoriten!! Vielen herzlichen Dank an alle meine lieben Leser und Kommentarschreiber, die mit Hiro und Yoshi mitgefiebert haben!!

TRIGGER WARNUNG: In diesem Bonus wird über Depression gesprochen. Darunter auch selbstverletzendes Verhalten und Persönlichkeitsstörungen. Bitte nicht lesen, wenn solche Themen triggern oder schlechte Gefühle auslösen!

Es wird aus der Sicht von Kiyoshi geschrieben, das wird aber sehr deutlich. Zudem wird hier noch einmal auf das Tier in Kiyoshi eingegangen. Der Bonus spielt vor und während der ersten zwei Kapitel. Wer also ein bisschen vergleichen will, kann sich vorher gerne die ersten zwei Kapitel noch einmal durchlesen... ;-)

Viel Spaß beim Lesen!! Und noch einmal vielen herzlichen Dank an alle!!
ヽ(〃v〃)ノ





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Vorwort zu diesem Kapitel:
So dala~ Hier das nächste Kapitel! Weil ich kein Massenupload veranstalten will, lade ich die Kapitel nach und nach hoch! Ich schätze mal so jeden Tag eins, bis wir alle 27 haben! :-) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen, vielen Herzlichen Dank an alle Favos und die lieben Kommentarschrieber!! Wirklich, ich freue mich über jeden Kommentar und jedes Favo! Ich bin froh, dass diese Geschichte doch guten Anklang findet! :-))

Ich hoffe weiterhin, dass die Story euch gefällt! Es kommt noch einiges, aber die gute Hälfte haben wir geschafft :D
Danke euch! ♥ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
ahh~ gomen nasia! Habe gestern total vergessen, ein neues Kapitel hochzuladen :-((

Aber jetzt geht's weiter! Und ... so langsam ... neigt es sich dem Ende :D Komplett anzeigen

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Ich liebte mein Leben und alles was damit verbunden war. Doch wo verdammt noch mal blieb meine Rettung?
 

Ich saß im riesigen Wohnzimmer meiner Mutter auf ihrer knatschroten Couch. Vor mir wurzelte sich der kleine, hässliche Glastisch, auf dem meine Cola stand. In ihr schwammen die Eiswürfel ihre Runden, während meine Mutter ihren siebzigsten Vortrag hielt. Neben mir saß mein Handy. Es war schwarz und glänzte mich an. Es schrie danach, benutzt zu werden, nur um meiner Mutter zu entgehen.

Sie redete irgendetwas von »Ich verstehe dich einfach nicht, Hiro« oder »Kannst du nicht mal jemanden nettes vorbei¬bringen?«. Solche Dinge sagte sie ständig. Wie gesagt, es war nun schon das siebzigste Mal, dass sie solch einen Vortrag vor meiner Cola hielt. Natürlich hörte die ihr noch weniger zu als ich es vielleicht hätte tun sollen.

Ich legte meinen rechten Arm lässig über die Couchlehne und versuchte entspannt zu sein. Doch meine gesamten Muskeln spannten sich wieder an, als meine Mutter ihre Stimme ein paar Oktaven höher legte. Das tat sie immer, wenn sie sehr genervt, nervös und wütend war. Verzweif-lung kam meistens auch dazu.
 

Ich heiße Hiroshi Kabashi und bin achtzehn Jahre alt. Ich bin schlank und wohl auch recht sportlich. Meine Haare sind etwas länger und fast weiß, so hellblond bin ich. Ich sehe eigentlich nicht schlecht aus, habe aber trotzdem immer Pech, wenn es um Beziehungen geht. Meine Längste war drei Monate. Die Frauenwelt ist mir einfach zu kompliziert.

Ich habe mich noch nie als ein sehr schwieriges Kind einge¬stuft. Meine Mutter schon. Ich lebe meine Pubertät in vollen Zügen aus und bin demnach für jeden Erwachsenen schwierig. Ich liebe es meine Mutter auf die Palme zu bringen, liebe es sie reinzulegen oder zu erschrecken, wenn sie in einer ihrer Frauenzeitschriften vertieft ist.

Mein Kosename ist Hiro. Die Kinder aus der Grundschu-le, gemein wie sie halt sind, machten sich gerne den Spaß und nannten mich »Hero«. Jedenfalls wussten die damals nicht, dass das »Held« heißt, sonst wäre es ja keine Beleidigung gewesen. Aber leider wusste ich das auch nicht und habe sie immer verprügelt. Nach wenigen Monaten haben sie es dann nicht mehr gesagt. Wenn mich heute jemand so nennt, dann lache ich drüber und höre sogar auf den Namen. Meine Mutter findet ihn schrecklich. Meine Freunde finden ihn »cool« und benutzen ihn demnach auch. Aber nur, wenn meine Mutter nicht dabei ist. Sie ist in solchen Sachen schwierig.

Ich wohne mit ihr alleine in einer kleinen Wohnung. Ja, richtig. »Riesiges Wohnzimmer« und »kleine Wohnung« widersprechen sich. Aber meine Mutter bestand damals darauf, dass es ein großes Wohnzimmer sein musste. Der Rest war ihr egal. Denn nach ihrer Meinung ist das Wohnzimmer der Hauptpunkt der Wohnung. Ja, zum Glotze gucken und rumgammeln ist es klasse, aber da würde mir auch ein 10 Quadratmeter Zimmer reichen. Meiner Mutter zum Beispiel nicht. An unserem kleinen Glastisch stellt sie immer ihr Ikebana hin, welches sie an unserem großen Esstisch fabriziert. Tausende Frauenzeit-schriften liegen auf dem riesigen Schlafsofa, welches sich mitten vor dem Balkon erstreckt, sodass man noch nicht mal die hässliche Aussicht auf die dreckige Innenstadt mit der Hauptstraße unter einem genießen kann. Ihre knatsch¬rote Couch, auf der ich sitze, erstreckt sich vor einem Plasma¬fernsehr, der an einer goldfarbigen Wand hängt, an der auch Van Gogh und Hundertwasser platziert ist. Meine Füße trampeln auf einem beigefarbenen Teppich von irgendeiner unbekannten Marke. Sowieso ist das ganze Wohnzimmer billig eingerichtet, ausgenommen der Plasmafernsehr. Aber selbst den hat sie ersteigert und ist demnach Secondhand.
 

Meine Mutter heißt Ai Kabashi. Ich weiß nicht wie alt genau sie ist, aber um die vierzig ist sie bestimmt. Ihr Mädchenname ist Ai Hamase. Aber weil sie meinen Vater vor achtzehn Jahren heiratete, nahm sie seinen Namen an. Sie hat lange blond gefärbte Haare, in Wirklichkeit sind sie dunkel blond. Sie ist schlank, hat aber eine Menge Falten im Gesicht. Sie macht mich immer dafür verantwortlich, was ich nicht ganz verstehen kann. Sie zieht sich immer sehr Modebewusst an, obwohl mir die Kleidung, die sie trägt, nicht gefällt. Wie meine Mutter so drauf ist, erwähnte ich bereits. Ikebana, Kochen, Möbel, Accessoires, Life-Style, Frauenzeitschriften, starker Kaffee für ihre Nerven, Kunstbanause, Cola-Hasserin, Starbucks-Liebhaberin, Versace und Dolche und Gabbana (Wobei sie sich das nicht leisten kann) und noch vieles, vieles mehr. Sie arbeitet als Sozifuzi. Sie hat Sozialpädagogik studiert, wobei sie mehr Freizeit als Studium hatte, so wie sie es mir erzählt, und arbeitet nun in einer Beratungsstelle für Drogenabhän-gige und Leute, die Probleme mit der Liebe haben. Also Liebeskummer. Die Kombination ist mir etwas schleierhaft, aber wer’s mag?

Sie verdient nicht sehr viel, weswegen wir nur eine kleine Wohnung haben. Mein Zimmer ähnelt einer Abstellkam-mer und ihr Zimmer einer noch kleineren Abstellkammer. Das Bad ist fast kleiner als in so Mitternacht-Hotels und die Küche ähnelt einem Schlachtfeld, weil wir kaum Platz für Geschirr oder Lebensmittel haben. Nur unser Wohnzim-mer: Das ist ein Palast; ein Zimmer, was in so einer Wohnung nichts zu suchen hat. Als meine Mutter damals mit ihrer wunderbar bescheuerten Idee ankam, eine Wohnung zu suchen, die ein so großes Wohnzimmer hat, wie alle restlichen Zimmer zusammen, dachte ich, so was muss erst gebaut werden. Aber anscheinend gibt es Architekten, die denken wie meine Mutter. Also Schraube locker.
 

Das ist nun schon sieben Jahre her. Seit dem wohne ich hier mit meiner verrückten Mutter. Für sie bin ich der grauen¬hafteste Sohn, den man sich vorstellen kann: Ich bin schlecht in der Schule und pfeif auf sie. Ich habe »böse« Freunde, die skaten und den ganzen Tag vorm Computer hängen. Ich ziehe mich unmöglich an, weil ich weite Jeans und weiter T-Shirts trage mit Aufdrucken wie »Never Die« oder »I live hard, because I hear Hard Rock«. Ich bin zu verwöhnt, weil ich nichts im Haushalt mache. Ich spüle und staubsauge nicht. Ich züchte Staubflocken auf meinen Möbeln und lasse die Milben in meiner Bettwäsche Tango tanzen. Ich räume mein Zimmer nicht auf und wenn ich es tue, dann packe ich alles in das Zimmer meiner Mutter oder unter mein schon vollgepacktes Bett. Mit der Ordnung und Sauberkeit habe ich es eh noch nie so eng gesehen. Meine Mutter schon. Deswegen bin ich ein schlechter Sohn, der nur an sich denkt und an sonst niemanden. Muss ich ihr Recht geben.
 

Ihr Vortrag heute hatte seinen Ursprung an einem Mittwoch¬nachmittag. Ich hatte meinen Kumpel ohne Vorwarnung mitgebracht. Und was ist schlimmer für eine Mutter, als einen Sohn zu haben, der aussieht, als wäre er schon einmal tot gewesen? Natürlich: Einen Sohn zu haben, der Freunde hat, die ge¬nauso aussehen wie der Sohn: bereits tot.

Sie war stinksauer, dass ich ihr nicht Bescheid gesagt habe. Als ich das Argument am Esstisch brachte, dass ich mein Handy aber nicht dabei hatte, hob sie die Hand und schüttelte den Kopf. Das typische »Ich-will-da-jetzt-nicht-drüber-Reden«-Handsignal. Und der »Darüber-reden-wir-später-noch«-Blick folgte kurz danach.

»Später« war nun jetzt. Aber das »Wir-reden-darüber«-Prinzip ist zu einem »Ich-rede«-Prinzip mutiert, denn meine Mutter führte einen Monolog für sich. Die Eiswürfel in meiner Cola waren schon zu Wasser geworden und schwammen nun gesellig dahin. Ihr Schweine, habt euch einfach verdrückt und lasst mich hier mit meiner Mutter alleine. Dafür werdet ihr büßen.
 

Sofort war die Cola in meinem Bauch verschwunden und ich stellte das Glas mit einem kräftigen Schlag auf der Glasplatte ab.
 

»Bitte, Hiro, hör auf die Gläser immer so auf die Glas-platte zu hauen. Das ist nicht gut für die Beschichtung«, flehte meine Mutter und riss mir das Glas weg, um kurz danach mit ihren Fingern über die Glasbeschichtung zu fahren. Ihre künstlichen, bunt angemalten Nägel kratzen dabei fürchterlich auf der Beschichtung. Jetzt sollte sie mal überlegen was schlimmer war: Glas oder Nägel. Vom Geräusch her die Nägel, meiner Meinung nach.

Kaum wurde das Glas entfernt, ging das Geräusch in meinen Ohren weiter. Wie ein Wasserfall redete sie auf mich ein. Ihr Hauptproblem war regelrecht, dass ich einen meiner »bösen« Freunde mitgenommen hatte, ohne sie vorgewarnt zu haben. Das wiederum führte zu dem Problem, dass er das unaufge¬räumte Wohnzimmer gesehen hatte. Dabei ist es doch der Raum, der gezeigt wird, wenn Gäste da sind. Auch wenn es ihr immer schwerfällt, einen meiner Freunde als »Gast« zu bezeichnen.

Natürlich war ihm egal, ob die Frauenzeitschriften nun zerstreut auf dem Sofa lagen oder gestapelt neben dem Sofa. Oder ob ihr Ikebana schon fertig auf dem Glastisch oder noch unfertig auf dem Esstisch stand. Meine Mutter machte allein der Gedanke an die anderen Mütter, die dann über ihre Unordnung im Wohnzimmer herziehen würden, angst. Erstens: Bei denen sieht es wahrscheinlich noch schlimmer aus, als bei uns. Zweitens: Mein Kumpel würde nie auf die Idee kommen, seiner Mutter von den Frauen-zeitschriften oder dem Ikebana zu er¬zählen. Der kann Ikebana noch nicht mal buchstabieren.
 

Jedenfalls, zurück zum Vortrag meiner Mutter. Sie hatte schon kaum mehr Puste für mehr Bandwurmsätze. Sie denkt nämlich immer, dass lange Sätze akademischer klingen. Sie sind einfach nur unverständlich. Aber Profes-soren an Unis sind auch oft unverständlich, vielleicht liegt es daran. Plötzlich ließ sie mich aufhorchen:
 

»Hiro, ich hab gestern mit deinem Vater gesprochen«, erzählte sie mir in einem strengen Ton, der aber mehr verzweifelt als furchteinflößend klang.

»Wirklich? Das ist aber mal was Neues …«, spottete ich. Immerhin habe ich meinen Vater seit meiner Geburt nicht mehr gesehen. Und als ob ich mich da noch an ihn erinnern könnte. Der hat nämlich damals die Fliege gemacht. So erzählt es mir meine Mutter tagtäglich. Er ist ein böser Mann, der nichts versteht und nur an sich selber denkt. Also so wie ich. Schon war er mir sympathisch.
 

»Hiro, bitte.«

»Danke.«

Sie seufzte kurz und ließ sich auf einen Esstischstuhl fallen. Dann sah sie mich böse an und versuchte wieder streng zu sein. Manchmal bewunderte ich sie schon: Immerhin hat sie es ganze achtzehn Jahre mit mir ausgehal-ten. Wobei ich mir die ersten fünf Jahre nicht schlimm vorstellen kann. War ich ja noch klein und brav. Meine Mutter erzählt mir immer das Gegenteil.
 

»Er möchte dich sehen«, ließ sie in den Raum fallen, was dazu führte, dass ich meine Kinnlade der Schwerkraft überließ. »Jetzt am Wochenende, wenn die Ferien anfangen, fliegst du zu ihm.«

»Das erzählst du mir jetzt? Drei Tage davor?« Meine Stimme wurde etwas höher.

»Ich habe das auch erst gestern mit ihm ausgemacht«, schrie mich meine Mutter mit ihrer drei Oktaven höheren Stimme an.

»Das wäre immerhin ein Tag mehr gewesen!«

»Hiro, bitte!«

»Ich habe ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Also eigentlich noch nie. Und jetzt soll ich ihn in drei Tagen besuchen gehen? Was, wenn der Kerl ein Kinder-schänder ist?«

»Hiro, es ist dein Vater!«

Klar. Deswegen ja.

»Mama, das kannst du mir nicht antun«, quengelte ich und setzte mich im Schneidersitz auf die Bonbon-Couch.

»Deine Ausreden funktionieren jetzt nicht. Du fährst hin. Und zwar für eine Woche.«

Was?

»Was?«, rief ich ungläubig.

Spinnt die?

»Es wird bestimmt lustig für dich.«

»Glaub ich weniger …«

»Wenn du schon mit so einem Gesicht zu ihm gehst, schickt er dich früher weg«, ermahnte sie mich.

»Gut.«

Sofort zog ich eines meiner schlimmsten Gesichtsausdrü-cke und verschränkte die Arme vor meiner Brust.

»Hiro, bitte, benimm dich.«

»Und was, wenn nicht?«

»Das entscheidet dann dein Vater.«

Ich seufzte und ließ meine Arme in meinen Schoß fallen. Wunderbar. Der Tag konnte nur besser werden.

»Dein Vater wohnt im Norden.«

Okay, es ging wohl doch noch schlechter.

»Ich pack schon mal nur Regensachen sein …«, murmelte ich. Der Norden war doch dafür bekannt, dass es dort nur regnete, oder? Ich habe in Erdkunde nie wirklich aufge-passt.

»Hiro, noch mal: Benimm dich.«

»Ja-ha …« Wir beide waren genervt. Meine Mutter, weil ich sie nicht vorgewarnt hatte, ich, weil sie mir einen Stunden-Vortrag hielt, dann wieder sie, weil ich den mit einem Desinte¬resse feinster Art verfolgte, ich wiederum, weil sie mir mit einer plötzlichen »Vater-Besuchs«-Aktion ankam und sie schließlich wieder, weil ich so genervt von der »Vater-Besuchs«-Aktion war. Typischer Ablauf eines Tages.
 

Schließlich stand sie auf und schob den Stuhl wieder an den Tisch. Sie ging in die Küche und kramte Töpfe und Pfannen raus.

»Ich koche jetzt.«

Mit einem Schwung erhob ich mich von der Couch und wollte schon in mein Zimmer gehen, da hielt mich meine Mutter natürlich auf:

»Und du hilfst mir.«

Seufzend machte ich kehrt und schlenderte in die viel zu kleine Küche.

»Mama, die Küche ist zu klein für uns beide. Entweder du kochst oder ich, aber wir beide, das geht nicht.«

Kann mich jemand schlagen? Habe ich gerade »ich koche« in Bezug auf mich verwendet?

»Dann kochst du heute«, befahl sie und hielt mir den Koch¬löffel entgegen.

»Wenn du sterben willst, okay.«

»Hiro«, mahnte sie mich wieder.

»Ja, Mama«, spottete ich in einem viel zu höflichen Ton und verbeugte mich vor ihr. Sie gab nur irgendeinen Laut von sich und zwängte sich dann an mir vorbei. Kaum war sie aus dem Raum, griff ich zum Telefon.

Kurz danach verließ auch ich ihn.

Meine Mutter saß auf ihrem Schlafsofa vor der Terrasse und las in einer ihrer Zeitschriften. Verwundert über mein Vor¬haben, mich in mein Zimmer zu begeben, sah sie mir hinterher.

»Und wo ist das Essen, junger Mann?«

»Noch in der Pizzeria. Aber es musste in circa achtzehn Minuten hier sein. Die wirst du ja wohl noch warten können, oder?«
 

Natürlich rastete sie aus und schrie wieder in ihrer hohen Oktave. Ich schaltete ab und wartete sehnsüchtig auf meine Pizza. Auch wenn es meiner Mutter nicht ganz passte, bezahlte sie trotzdem das Essen, was wir kurz darauf schweigend aßen. Ich entnahm ihrem Blick, dass sie mit der Gesamtsituation unzufrieden war. Wie immer.

Nach dem Essen wurde ich dazu verdonnert, die Pizza¬schachteln nach unten in den Müll zu bringen und danach in mein Zimmer zu gehen. Und dort auch bis zur nächsten Mahlzeit zu bleiben. Die würde offiziell erst wieder morgen früh sein. Natürlich fragt sich meine Mutter trotz allem, warum ihre Joghurts am nächsten Morgen oft weg waren.

Als ich in meinem Zimmer saß und aus dem verdreckten Fenster sah, dachte ich über die »Vater-Besuchs«-Aktion nach. Wie er wohl aussehen wird? Vielleicht habe ich dann ein Déjà-vu Erlebnis und erinnere mich schlagartig an ihn, wie ich ihn damals mit meinen Kulleraugen nach meiner Geburt angesehen hatte. Mir huschte ein Grinsen über meinen Mund. Als ob.

Langsam, fast wie in Zeitlupe ließ ich mich auf mein Bett sinken und starrte die weiße Wand mit den riesigen Rissen an. Renovierungsfähig, dieser Raum. Obwohl ich mich endlich in ihm wohlfühlte. Früher, als ich und meine Mutter noch frisch hier eingezogen waren, machte sie sich noch die Mühe mein Zimmer aufzuräumen. Doch jetzt sagt sie, dass ich mittlerweile alt genug bin, um das selber zu machen. Ich bin in der Tat alt genug für Putzen und Aufräumen. Aber ob ich es auch tue ist etwas völlig anderes.

Ich drehte mich genüsslich auf die Seite und starrte auf meine Funkuhr. Sie war Digital, deswegen konnte ich nicht die Augen schließen, um den Sekunden zuzuhören. Die gab keine Geräusche von sich. Das war auch eine Vorausset-zung meiner Mutter, als ich mir eine Uhr wünschte. Sie musste Digital sein und Funk haben. Ansonsten wäre ich ja nie pünktlich. Das wäre ich vielleicht, wenn sie falsch ginge.

Ich drehte die Uhr zur Seite, sodass ich ihre Uhrzeit nicht sah und starrte nun auf ein Bild mit meinen Freunden drauf. Wir waren in einem Vergnügungspark, wobei wir uns für dieses Foto auf eine Wiese nebenan gestellt hatten. Keiner wollte diesen albernen Freizeitpark mit auf dem Foto haben. Es war selbstverständlich ein Schulausflug. Nie-mand würde freiwillig in so was reingehen. Jedenfalls nicht in unserem Alter.
 

Es ging einfach nicht, ich ließ meine Fantasie spielen. Wie mein Vater wohl ist? Ob er groß ist? Ich bin immerhin auch nicht klein. Ich kann von stolzen ein Meter achtzig sprechen. Dafür, dass meine Mutter nur ein Meter sechzig ist, ist das ausgesprochen viel. Es kann ja nur von meinem Vater kommen. Und ob er mehr Geld hat als meine Mutter? Bestimmt, sonst würde er mir nicht eben mal einen Flug buchen. Ob er nett ist? Auf jeden Fall, wenn er so ist wie ich. Ich finde mich nämlich sehr nett und höflich. Ich sage immer Bitte und Danke, frage immer nach und bin nicht zu direkt, aber auch nicht zu schüchtern. Ich weiß was ich will und setzte es meistens auch durch; ich bin strebsam, wenn es um Dinge geht, die ich erreichen will. Die Schule gehört nicht dazu. Das Bitte und Danke verwende ich immer nur außer Haus. Meine Mutter würde nie von so etwas hören. So nett wie sie nämlich ist, fragt sie sich immer in meiner Gegenwart, wie ich zu Freunden komme. Sie glaubt, ich besteche die Leute, damit sie zu mir nach Hause kommen, um ihr weiß zu machen, ich hätte welche.
 

So viel wie ich weiß, heißt mein Vater Fudo Kabashi. Er ist etwas älter als meine Mutter, aber wie alt er ist, weiß ich auch nicht. Ich habe einmal ein Bild von ihm gesehen. Er hatte kurze braune Haare und einen ordentlichen Anzug an. In der Hand hielt er eine Mappe und schien gerade auf der Arbeit zu sein, denn das Gebäude, in dem er stand, sah groß und geräumig aus. Alles war aus Marmor und hell eingerichtet, wobei man nur Pflanzen und ein Paar Gegenstände sah. Im Hintergrund sah man noch eine Marmorne Treppe. Sie war eine geschwungene, leicht gebogene Treppe mit einem Geländer, das golden schim-merte. Jetzt, wo ich mir das alles wieder in den Kopf zurückrief, musste er gut verdienen. Wer in so einem Palast arbeitete, der konnte nur viel Kohle haben. Selbst als Sekretär würde man da wahrscheinlich mehr verdienen als manch anderer.

Ob er allein wohnt? Wie seine Wohnung wohl auch aussehen mag? Vielleicht hat er ja sogar ein Haus? Im Norden zu wohnen ist bestimmt nicht so teuer, wie hier im Süden, wo es schön warm ist. Wer will schon da oben wohnen?
 

Ich langweilte mich zu Tode. Ich hatte weder einen Computer oder einen Fernseher in meinem Zimmer stehen. Das einzige was hier reinpasste, war ein Bett, ein Schrank und ein Schreib¬tisch. Wobei der dazugehörige Stuhl immer in der Ecke stand. Ich machte ja nie etwas an meinem Schreibtisch. Hausauf¬gaben? So was gibt es bei mir nicht. Hobbys? Sehe ich aus, als würde ich zeichnen? So was kann ich nicht.

Ich bin ja mal gespannt, was mein Vater so alles für mich auf Lager hält. Immerhin werde ich ihn das erste Mal in meinem Leben bewusst sehen. Und vor allen Dingen: warum er mich ausgerechnet jetzt so kurzfristig zu sich bestellt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht heiratet er und möchte, dass ich sie kennen¬lerne? Aber was habe ich denn mit ihr zu tun? Einen feuchten Dreck eigentlich, denn soweit ich mich erinnere, war meine Mutter schon seine dritte Ehe. Aber ich bin wohl sein erstes Kind, denn aus den Ehen davor kam nie ein Kind heraus. Gut für mich, ein Einzel-kind hat’s oft leichter.
 

Früher wollte ich immer einen Bruder haben. Am besten einen größeren, denn der hätte mich immer vor meinen blöden Klassenkameraden beschützen können. Außerdem hätte ich seine Freunde kennengelernt, demnach auch seine Freundinnen. Wäre doch nicht schlecht gewesen.

Aber wenn ich mir vorstellte, dass der hier mit in der Woh¬nung wohnen würde, zog sich alles in mir zusammen. Nein, alleine mit meiner Mutter ist’s doch am besten.
 

Ob mein Vater auch eine nette Überraschung für mich hat? Ich mach mich mal auf das Schlimmste gefasst: Er ist arm und hat nur eine kleine Wohnung mit einer bescheuer-ten Frau, die er bald Standesamtlich heiraten wird.
 

Ich hoffte, es würde nicht schlimmer werden …

Das Tier - BONUS

»Hiroshi wird uns bald besuchen kommen. Treffe Vorbereitungen«, hallte es in meinem Kopf wider und die Stimmung nahm schlagartig eine Wendung.

»Hiro.... shi?«

Vater nickte, schwenkte sein Glas Blut und nippte kurz daran. Sein Blick galt dem Kamin, in dessen die Flammen loderten und das sonst dunkle Wohnzimmer in ein rotes Licht tunkten.

»Dir ist bewusst, dass er nichts von dir weiß. Ich überlege noch, wie ich euch dann vorstellen werde. Aber versuch es nicht ... auf deine Art, verstehst du, Kiyoshi? Keine düsteren Bemerkungen. Auch keine Sarkastischen oder Ausfälligen.«

Ich nickte nur stumm, sah auf den Boden. Völlig unangenehm berührt stand ich im großen Türrahmen, der das Wohnzimmer vom Esszimmer trennte. Mamoru saß Zeitung lesend am Esstisch und wartete indirekt auf weitere Anordnungen meines Vaters.

Schließlich hörte ich ein Seufzen vom Kamin. Der Blick galt nun meiner schmächtigen Erscheinung.

»Bitte, Kiyoshi... Ich bin am Ende meines Lateins. Du möchtest nicht meine Hilfe, du möchtest nicht die Hilfe eines Therapeuten... Du möchtest wohl in dieser Badewanne voller Selbstmitleid sitzen, hm?«

Seine Worte stachen in meiner Brust wie tausend Messerstiche. Es war, als würde da noch etwas in mir leben. Etwas, was sich nur vage an einer Klippe entlang hangelte und drohte abzustürzen. Jeden Augenblick.

Vaters Augen durchbohrten mich, schließlich stand er auf. Der Blick wurde schlagartig sanft und suchte keinen Schuldigen mehr, sondern eine Antwort.

Ich wich einen Schritt zurück.

»Ich möchte, dass es dir gut geht. Das ist der Grund, wieso ich Hiroshi hole. Vielleicht kann er dir helfen. Er ist immerhin dein Zwilling.«

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»... Bullshit.« Zittrig und noch immer nicht über die Tatsache hinweg, dass ich meinen Bruder kennen lernen sollte, zog ich die Arme vor meine Brust; die leichten Rötungen unter dem Hemd verbergend.

»Wie soll mir ein Mensch helfen? Schwach und so zerbrechlich? Er sollte nicht kommen ...«

Geräuschvoll stellte mein Vater das Glas auf den kleinen Tisch ab und setzte sich wieder schwungvoll in den großen Samtsessel.

»Mach, was du willst, Kiyoshi. Ich habe keine Ahnung, was ich noch tun soll. Du kannst mich noch so sehr für die Verwandlung hassen, es ist aber nun mal geschehen. Deine Mutter und ich wollten dich nicht sterben lassen.«

»Ihr hättet es lieber lassen sollen ... Dann wäre jeder glücklicher geworden.«

Manchmal stieg es einfach in mir hoch. Diese Wut über mich selbst. Über meinen Vater. Und vielleicht auch ein bisschen über Hiroshi, den ich nicht mal kannte.

»Kiyoshi, bitte. Sprich nicht so über sie ... Sie ist eine wundervolle Mutter und-«

»Wieso hat sie mich dann verstoßen?!«, platzte es aus mir raus.

Es endete immer gleich. Jede Diskussion mit ihm. Am Ende ging es immer um Mutter und Hiroshi. Wieso ich hier mein Dasein fristen musste, in diesem dunklen Haus voller Trauer und verlorenen Erinnerungen, während Hiroshi mit Mutter im Süden sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließen.

»Sie hat dich nicht verstoßen, wie oft soll ich es dir noch sagen? Seit so vielen Jahren erkläre ich dir, dass das eine gemeinsame Entscheidung war, euch zu trennen!«

Gereizt drehte ich den Kopf weg. Doch Vater ließ mich nicht zu Wort kommen; fuhr mit einer gereizten und doch leisen Stimme fort:

»Ihr beide wart nun mal Menschen... Und du bist gestorben... Kein Elternteil möchte sein Kind sterben sehen. Es war nun mal die einzige Möglichkeit, dich zu retten. Mach mir deswegen keinen Vorwurf, dass ich dich in ein ewiges Leben geholt habe, um den Tod zu umgehen.« Seine Augen fixierten das Glas, welches er langsam wieder in die Hand nahm und somit seine Ausgangsstellung wieder einnahm. »Dass ein Vampir-Kind nicht unter Menschen leben kann, ist dir doch klar. Du bist ein schlauer Junge. Also musstest du hierher. ... Und erfülle ich dir nicht jeden Wunsch, den du hast?«

Ich öffnete meinen Mund, wollte das sagen, was ich immer darauf sagte, doch er fiel mir abermals ins Wort.

»Nein, ich kann dich nicht zu einem Menschen machen, Kiyoshi. Und selbst, wenn ich es könnte, würde es deinen angeborenen Herzfehler mit Sicherheit nur wieder aufleben lassen. Finde dich damit ab, dass du ein Wesen bist, für dessen Existenz andere morden würden. Viele Menschen wollen wie wir sein. Aber du bist es.«

...

Wie kann man nur so sein wollen? Ein Tier? Ein lustgetriebenes Stück Fleisch, welches von Blut anderer lebt?

»Versuch positiv zu denken.«

Ich hasste diesen Satz. Ich hasste ihn so sehr.

Mit zusammengepressten Lippen, ließ ich die Hände gen Boden fallen und sah mit unterdrückter Wut zu meinem Vater.

»War's das? ... Kann ich gehen?«

Für einen Moment schien er zu überlegen und nickte schließlich, schwenkte das Glas in meine Richtung und seufzte leise. »Ja, Kiyoshi. Bitte denk dran noch etwas zu trinken, bevor du schlafen gehst.«

Ja, sicher. Damit ich nicht wieder Amok laufe.

Mit einer 180 Grad Wendung stampfte ich die Treppe hoch und verschwand sofort in meinem Zimmer. Nicht mal abschließen konnte ich. Der Schlüssel wurde mir nach einem misslungenen Versuch genommen.

 

Ich klappte den Laptop auf und schaltete ihn an. In der Zeit, in der er hochfuhr, starrte ich in die Schwärze hinter meinem Fenster.

Hiroshi soll mir helfen? In welchem Universum soll das geschehen? Er ist ein Mensch, er kennt mich nicht, ja, er weiß ja nicht mal um meine Existenz bescheid.

Mutter wollte wohl nichts mehr mit uns zu tun haben, nachdem sie Hiroshi als ihren einzigen Sohn anerkannte.

Ich frage mich, wieso Mutter einwilligte, ihren einzigen Sohn in ein Nest voller Vampire zu schicken. Meine Vermutung lag darin, dass Vater geplaudert hatte. Wie es um mich stand. Dass er Mutter überzeugen konnte, dass sie ihn hierher schicken würde.

Nach all den Jahren liebten sie sich ja doch noch. Wie Vater häufig abwesend im Studio saß und sich die alten Bilder von ihr ansah. Völlig neben der Spur blendete er alles aus und erinnerte sich an die Zeit, in der sie noch hier wohnte.

Aber so groß konnte die Liebe nicht gewesen sein, wenn sie weder selber ein Vampir werden, noch ihren zweiten Sohn haben wollte. Geschweige denn weiterhin hier wohnen wollte, sondern das Weite im Süden suchte.

 

Mein Laptop war mittlerweile hochgefahren, sodass ich ins Internet gehen konnte. Die paar Hausaufgaben aus unserem Lernportal der Schule löschte ich sofort und beschloss sie nicht zu machen.

Stattdessen suchte ich nach ihm. Gab seinen Namen in eine Suchmaschine ein und sah sofort sein Gesicht. Nein, mein Gesicht.

Nur in glücklich.

Er lachte, im Hintergrund einige andere Menschen. Es sah wie ein Mannschaftsfoto aus. Vom Sport oder von irgendetwas anderem. Der Link wurde mir versperrt, sodass ich keinen Zugriff auf den Inhalt der Seite hatte.

Schlussendlich kam ich auf seine Facebook-Seite. Auch hier konnte ich mir nicht alles anschauen, da ich selber kein Facebook besaß und auch nicht mit ihm "befreundet" war.

Etwas lustlos klickte ich in seiner Chronik rum und sah mir einige Bilder an.

»Hiroshi ... «, flüsterte ich seinen Namen und blieb bei einem alten Profilfoto stehen. Seine Haaren waren länger und er sah jünger aus, doch genau in dieser Perspektive sah er mir wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Mit den Haaren, den Augen, den Lippen. Doch wie immer am Grinsen. Es gab kein Bild, wo er nicht Lächelte.

Es stimmte mich traurig und ich klappte enttäuscht den Bildschirm runter.

 

»Wie immer tut es weh über ihn nachzudenken... «

Vorsichtig schob ich die Ärmel von meinem Hemd hoch und strich über die bereits verheilten Stellen. Vielleicht war das etwas Gutes. Die Haut blieb immer glatt. Egal, was ich tat. Selbst wenn ich den Knochen freilegte. Es wuchs wieder zusammen. Und hinterließ nicht mal eine Narbe.

Schnell zog ich den Ärmel wieder über die Handgelenke und schlurfte ins Bett, da klopfte es kurz an der Tür.

»Ja?«

Die Tür öffnete sich leise und Mamoru trat einen Schritt hinein.

»Der junge Herr Kiyoshi sollte noch ein bisschen trinken. Ich habe Ihnen ein Glas gebracht.« Mit den Worten trat er ein Stückchen mehr in den Raum und stellte das Glas am Schreibtisch ab. Nickend bedankte ich mich, vermied aber den Augenkontakt.

»Junger Herr. Ich weiß, wie schwer es Ihnen zurzeit mit Ihrem Vater ist. Aber bitte haben Sie weiterhin den Blick nach vorne gerichtet. Ich bin mir sicher, dass, wenn der andere junge Herr hier ist, sich die Dinge ändern werden.«

Mit einem müden Lächeln nickte ich abermals. »Danke, Mamoru. Das denke ich auch. Er wird sicherlich aus allen Wolken fallen, wenn er mich sieht. Einen Zwilling zu haben ist ja schon selten genug. Wenn er dann auch noch ein Vam-«

»Sie wissen, dass Ihr Vater angeordnet hat, dass der junge Herr Hiroshi nichts von diesem Belangen erfahren sollte«, fiel mir Mamoru höflich, aber bestimmend ins Wort.

Wieso musste mich denn jeder immer unterbrechen? Ich legte eh schon wenig Wortwahl an den Tag. Am besten schwieg ich gleich.

»... Ich weiß«, knurrte ich dann mit dem Lächeln aus meinem Gesicht verschwindend. »Obwohl ich der Meinung bin, dass er ruhig seinen Ursprung wissen darf. Nur, weil Ai das nicht will ... Vielleicht findet er es ja cool.«

Mamoru seufzte nur leise und sah mich erziehend an. »Junger Herr Kiyoshi... Bitte hören Sie einmal auf das, was Ihr Vater sagt. Er wird seinen Grund haben.«

»Ja-ha.«

Damit beendete ich das Gespräch und stand noch einmal auf, warf aus dem silberfarbenen Döschen eine Pille ins Glas und schwank es solange, bis sich die Flüssigkeit rot verfärbte. Mit dieser Bewegung verschwand auch Mamoru wie ein Geist aus meinem Zimmer und hinterließ eine weitere unheilvolle Stimmung. Normalerweise war Mamoru derjenige, der mir immer zusprach. Der mir wenigstens ein bisschen Mut machte, dass die Ewigkeit nichts ist, vor der man sich fürchten müsste. Dass man zwar in der Dunkelheit lebt, aber sie mit Licht füllen kann, wenn man nur will. Aber dieser Wille fehlte mir. Was sollte schon so hell sein, dass es das tote Herz eines Depressiven erhellt...

Ich schmunzelte über mich selber und trank zügig das synthetische Blut, bevor ich zurück ins Bett fiel und die Augen schloss.

 

In dieser Nacht schlief ich ausgesprochen ruhig. Ich träumte von Hiroshi. Wie er bei mir war. Und obwohl sein Gesicht nur Schemenhaft zu erkennen war, spürte ich seine Wärme. Und einen Herzschlag.

Es fühlte sich so echt an, dass ich mir instinktiv an die Brust fasste und davon aufwachte. Es wirkte für einen Moment so, als hätte ich seinen Herzschlag gehört.

 

 

Die Tage verflogen wie im Nu. Meine Nervosität breitete sich exponential aus und fraß regelrecht mein Denkvermögen. Immer wieder schaute ich mir die gleichen Facebook-Bilder an und analysierte sein Gesicht. Wie sich wohl seine Stimme anhören würde? Was für eine Hautfarbe er in Wirklichkeit hat? Ob er tattowiert ist? Ob er Rechtshänder oder Linkshänder ist?

Ich suchte für alle Fragen eine Antwort und konnte nur wenige beantworten. Wie zum Beispiel die Lieblingsfarbe und was er für Unterwäsche trug. Denn die Hose hing ihm teilweise in den Kniekehlen, sodass man freie Sicht auf seinen Hintern hatte. Wieso man so etwas auf Facebook stellte, war mir unbegreiflich.

Immer wieder klickte ich auf die Bilder. Andere Menschen waren zu sehen, mal sogar eine Frau, die ihn küsste. Das Bild war jedoch 2 Jahre alt. Ob er noch mit der Frau zusammen ist? Ob sie überhaupt ein Paar waren?

Er schien ein immer-froher Junge zu sein, der viele Freunde hatte und genauso viel Unsinn im Kopf.

Wo ich die Bilder zuerst mit Unwohlsein betrachtet hatte, schob sich Neugierde vor und ließ mich regelrecht auf seine Ankunft hinfiebern.

 

Der Tag bevor er kam, wurde mir schlecht. Die Neugierde und das Verlangen, ihn kennen zu lernen, schlug in regelrechte Übelkeit um und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Wie in Trance lag ich auf meinem Bett und starrte auf dem Fenster. In meiner Verzweiflung und meiner Wut über mich selber, dass mich mein eigener Bruder so aus der Fassung bringen konnte, obwohl er nicht mal anwesend war, hatte ich mich erneut geschnitten. Das Blut lief an meinem Arm entlang und bahnte sich den Weg unter mein Hemd. Wieso war ich so schwach? Wieso ließ mich ein Gedanke so zittern?

Was, wenn er mich nicht mögen würde? Was, wenn er sich sogar vor mir ekeln würde? Er würde mit Sicherheit spüren, dass ich anders war. Vielleicht würde ich mich nicht beherrschen können? Und ihn anfallen?

 

Sofort wurde mir noch schlechter. Der Gedanke, wie ich diesen Hals beißen und sein Blut trinken könnte... Das lebendige Blut, das menschliche Blut, was im Grunde wie meins wäre.

Unbewusst leckte ich über meine Lippen und seufzte sehnsüchtig, hielt mir den blutenden Arm und presste auf die Wunden.

»Ich weiß nicht, ob ich es ertragen würde, dich zu sehen... Hiroshi... «

 

Wirklich, ich war mir nicht mehr sicher. Zuerst wollte ich ihn nicht hier haben, dann sofort, jetzt wieder nicht. Diese Launen, sie kamen und gingen. Ich wusste nicht wieso. Wahrscheinlich, weil man mich mit meinen Gedanken allein ließ.

Vorsichtig richtete ich mich auf und starrte in den regnerischen Tag. Ich hatte wieder einmal Schule geschwänzt, weil ich die Nacht nicht gut geschlafen hatte. Wie hatten zunehmenden Mond... Ein wirklich unpassender Zufall, dass ausgerechnet Hiroshi kommen sollte. Vater versicherte mir, dass er Hiroshi darum beten wird, abzuschließen.

Doch ich war mir sicher, dass er das irgendwann nicht mehr tun würde. Aus Spaß. Aus grundloser Freude daran zu erfahren, was dann passieren würde. Das schloss ich allein aus den Bildern, wo er einfach mal so aus dem zweiten Stock seines Schulgebäudes gesprungen war. Adrenalin-Junkie.

Ich hörte Vater reden. Dann Mamoru. Sie richteten sein Zimmer her. Es sollte das letzte im Gang sein.

Schwermütig schluckte ich und kuschelte mich in eine Decke. Morgen war es soweit. Und ich fühlte mich so schlecht. So furchtbar schlecht.

Vater bat mich, nicht so zu sein, wie ich war.

Aber das konnte ich nicht.

 

 

 

»Villa.«

 

Da war sie. Die Stimme.

Schweigend saß ich am Fensterbrett; hatte das Auto schon von weitem kommen sehen. Kerzengrade verfolgte ich sie mit meinem Blick und wartete die Sekunden ab, die sie von der Tiefgarage ins Haus brauchten.

Er verbesserte meinen Vater. Er ließ sich nicht mit dem Koffer helfen. Wie ich mir bereits dachte: Ein einfacher Junge aus einfachen Verhältnissen, der weder Anstand noch Bildung kannte.

Wieso war ich so verbittert? Dabei habe ich mich so auf ihn gefreut ... Doch jetzt, wo er da war, breitete sich das mulmige Gefühl in mir aus.

Jetzt ... wo er mir so nah war... hatte ich ein unfassbares Verlangen ihn bei mir zu haben. Aber ich wusste, dass das nicht ginge und dass ich die Erlaubnis nicht hatte. Ich musste das liebe Brüderchen vom Lande spielen, das wegen einer Krankheit damals von ihm getrennt wurde und seither geheimnisvoll in dieser Villa lebte.

 

Als seine Schritte kurz an meiner Tür vorbeigingen, hielt ich den Atmen an. Schwere Schritte. Große Schritte.

Und ein leichter Geruch von herbem Parfüm. Darunter eine Note von Rauch. Ob er rauchte? Oder Mutter? Oder ob einer seiner Freunde rauchte?

Meine Neugierde kannte keine Grenzen. Leise lauschte ich weiter, hörte nur dumpfe Geräusche. Vater hatte die Tür geschlossen.

 

Ich atmete durch und öffnete mein Fenster. Mit einem Schritt stieg ich auf den Mauervorsprung der Verzierungen der Hausfront und hangelte mich entlang. Mit leichten, tapsigen Schritten näherte ich mich der Hausecke. Ich sah das Licht heraus scheinen.

Sein Duft wurde stärker. Seine Stimme lauter. Sie redeten über den Schlüssel. Und wie immer machte Vater ein viel zu großes Geheimnis draus.

Mit noch einem Schritt näherte ich mich seinem Fenster. Ich wollte ihn sehen. Aber ein Sprung in die Bäume wäre zu riskant gewesen.

Da hörte ich Vater gehen. Die Tür klacken. Und sein leises seufzen. Vorsichtig glitt ich mit den Fingerspitzen an sein Fenstersims. Der Drang das Fenster einfach zu öffnen und ihn zu überraschen, überkam mich schleichend.

 

»Schon irgendwie gruselig hier ... «

 

Er sah aus dem Fenster.

 

Ich spürte seinen Blick, der aus dem Fenster reichte. Ein heißer Schmerz durchfuhr meine Fingerspitzen. Sofort zog ich sie weg und bekam Angst, gesehen worden zu sein.

 

»Jetzt fang ich schon an zu spinnen. Ist wohl vom Flug.«

 

Mein Atem wurde flacher und ich hörte ihn schließlich auspacken. Er spürte es also auch.

Meine Anwesenheit.

 

Vorsichtig biss ich mir auf die Lippe, widerstand dem Drang zu ihm zu gehen und kletterte die Hauswand wieder zurück zu meinem Zimmer, in das ich sofort rein glitt und das Fenster schloss. Ein leichtes seufzen durchfuhr dann auch mich.

Ich wollte ihn sehen. Wann zur Hölle würde Vater mich denn vorstellen?! Herrgott, kann doch nicht so schwer sein!

 

Mamorus Schritte wanderten den Gang entlang. Holten Hiroshi zum Essen.

Ein weiterer enttäuschender Schlag traf mich, zu hören, dass sie erst mal essen würden. Natürlich dürfte ich nicht dabei sein. Wie gerne hätte ich ihn essen gesehen. Menschliches Essen.

Ich hatte mal einige Sachen probiert, doch alles schmeckte wie Erde... Und mir wurde schlecht. Dabei sah das Essen wirklich immer gut aus.

Trotzdem erinnerte ich mich wage an einen Geschmack. Noch nie hätte ich Schokolade gegessen haben können, doch in mir drin wusste ich: es war ein feinherber, süßlicher Geschmack von Würze, der Kakaobohne.

 

Mit den Gedanken beim Essen, bemerkte ich zu spät, dass Hiroshi wieder an mir vorbei gegangen war.

Für einen Moment spielte ich wieder Mäuschen und öffnete schließlich meine Tür, als ich Stimmen aus dem Speisesaal hörte.

Wenn Vater mich erwischen würde, wäre sowohl die Überraschung für Hiroshi verdorben, als auch die bisher eh schon schlechte Vater-Sohn-Beziehung.

 

Doch jedes Kind lernte einmal das nächtliche umherschleichen, weil es nicht schlafen wollte.

Mit leisen Schritten näherte ich mich dem Speisesaal und lauschte erneut.

»Hiroshi.«

»Ja?«

»Du möchtest sicher etwas trinken, oder?«

»Hm, ja schon. Es ist nur Wein da ... und ich bin nicht so der Wein-Fan.«

Elendiger Lügner. Du warst zwei Jahre hintereinander auf einem Weinfest und hast dir doch die Hucke vollgesoffen, schoss es mir durch den Kopf und schüttelte ihn.

»Wein? Welcher Wein?«

 

Ich schmunzelte sofort. Na, welchen Wein wird er wohl meinen, Herr Papa.

 

Aufgebracht hörte ich wie er Mamoru faltete, dass er den Wein entfernen sollte. Dann, wie Hiroshi Vater einige Dinge fragte.

 

Da zuckte ich zusammen, als ich Schritte hinter mir hörte. Mamoru war für einen Moment stehen geblieben und sah mich verwundert an. Ich deutete ihm mit meinem Zeigefinger ein Schweigen an.

Ich war gar nicht da. War brav in meinem Zimmer und wartete.

Doch Mamoru schüttelte nur den Kopf, deutete auf die Treppe hin. Ich zuckte mit den Schultern und blieb am Türrahmen stehen. Sein Zeigefinger zeigte nach oben. Und ohne ein Wort zu verlieren, wusste ich, dass er mich umgehend in mein Zimmer bat. Abermals schüttelte ich den Kopf.

Etwas gereizt ging er dann mit dem Wasserkrug durch das Wohnzimmer in den Speisesaal und stellte ihn ab.

Das Gespräch nahm weitere Wendungen, Vater log, dass sich die Balken bogen. Von wegen Mutter war verängstigt wegen der Arbeit...

Das dauerte mir alles viel zu lange. Es sollte endlich mal jemand zu mir kommen. Ich wollte ihn kennen lernen! ... ein bisschen verstören. Ein bisschen seine Grenzen ausreizen. Diesen Menschen brechen. Ihn das spüren lassen, was ich spüren muss...

 

Sofort hielt ich den Atem an. Diese Stimme in meinem Kopf, die machte mich rasend. Die von Hass zerfressene Stimme!

 

Ich sah mich um, suchte eine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit subtil auf mich zu lenken. Da schlich ich erneut zum oberen Absatz der Treppe, holte tief Luft und ging in normaler Lautstärke die Treppe runter.

Er hörte mich.

Ich hörte, wie sein Sitz knarrte und er sich bewegte. Er lauschte. Er hörte mich.

Gut... Und jetzt... komm zu mir, dachte ich und wartete im Foyer ab.

 

Doch Vater ging nur bedingt drauf ein und Hiroshi gestand sich keine Schritte gehört zu haben ein.

Verdammt!

Ich suchte weiterhin nach einem Mittel der Aufmerksamkeit, doch dann hörte ich den magischen Satz:

 

»Möchtest du deinen Bruder sehen?«

 

Der Atem stockte abermals, die Lippen aufeinander gepresst und ich hörte regelrecht seinen Herzschlag. Wie er schneller wurde. Natürlich leugnete er mich erst einmal. Natürlich gab es mich gar nicht. Wieso sollte man einen Zwillingsbruder verstecken?

»Hiroshi, bitte. Gib ihm wenigstens eine Chance. Lern ihn erst mal kennen.«

Ja, genau. Lern mich kennen. Und mach dir dann ein Bild darüber, wie furchtbar ich bin.

»Wen denn?«

»Deinen Bruder Kiyoshi.«

 

Er weigerte sich wohl bis zur letzten Minute.

 

Wie angewurzelt stand ich mitten im Foyer und lauschte ihrem Gespräch. Da kam Mamoru wieder aus dem Zimmer und deutete mir mit aufgeregten Handbewegungen an, dass ich meinen Hintern sofort in mein Zimmer bewegen sollte.

Nervös und ein bisschen tollpatschig rannte ich zur Treppe, hörte noch den Satz von meinem Vater

 

»Oben, in seinem Zimmer.«

 

und betrat mit Gummiknien mein Zimmer. Ich schloss die Tür, suchte nervös ein Buch, richtete meine Haare im Spiegel, öffnete den ersten Hemdknopf. Schloss ihn wieder. Öffnete ihn wieder. Hörte schließlich die Schritte und amtete erneut durch, setzt mich ans Fenster, das Buch aufgeschlagen und tat so, als würde ich lesen.

Die Kerze flackerte kurz im Luftzug und ich seufzte innerlich. Na super. Die Kerze wird alles viel besser erscheinen lassen. Aber für's Aufstehen und zum Lichtschalter gehen, war es zu spät. Ihre Schritte kamen näher.

 

Ich hatte das Gefühl, meine Brust zerspränge.

War das meine Nervosität?

Oder war das seine?

 

Es klopfte drei Mal.

 

Die Tür öffnete sich.

 

»Hiroshi, das ist dein Zwillingsbruder Kiyoshi.«

 

Er war wunderschön. Er stand so verzweifelt an der Tür, starrte mich an. Kreidebleich, die Angst in seinen Augen widerspiegelnd. Und er war so, so, so schön.

 

»Schön, dich zu sehen, Hiroshi.«

 

In der Tat war es das. So schön. Ich wollte ihn anfassen. Ihn berühren. Ihn schmecken. Ihn die tausend Dinge fragen, die mir auf den Lippen lagen.

 

Doch Vater lachte. Er lachte laut los und ich schob die Augenbrauen zusammen. Wieso lachte er? Es war unser Moment, mach ihn nicht kaputt!, dachte ich sofort und blies Luft aus meiner Nase.

»Ich glaube, wir haben ihn jetzt genug geschockt.«

Ach, haben wir das, ja?

Also so etwas ...

 

Er nickte mir zu. Okay, ich hatte vielleicht wieder etwas übertrieben. Ich kannte diesen Blick, den er mir zuwarf.

Trotzig legte ich das Buch weg und blies die Kerze aus.

Zufrieden, alter Mann?

»Ich freue mich wirklich, dich kennen zu lernen, Hiroshi.«

 

Fass mich an. Na los, nimm sie. Meine Hand. Und schüttele sie. So machen Menschen das doch.

 

Und tatsächlich. Er nahm sie. Zögerlich, so ängstlich, dass ihn fast gleich umarmt hätte, wenn nicht Vater da stand. Gib mir alles von dir, Hiroshi.

Dein Leben... es roch so gut.

Und er war so wunderschön. Ich wollte ihn besitzen. In diesem einen Moment durchfloss nur dieser eine Satz meine Gedanken.

 

Hiroshi war so unsicher. Vater roch das. Und er roch meine Gier.

»Na ja, ich glaube, das reicht für heute, oder Hiroshi?«

Nein! Nein! Lass ihn mir hier! Manno!

 

»Eine gute Nacht, Bruder.«

Ich will bei dir sein. Erzähl mir alles. Bleib die Nacht hier. Komm wieder. Ich will all deine Geschichten hören.

 

Wieso drehte sich alles in meinem Kopf um ihn? Es war wie ein Schlag ins Gesicht. All die Jahre, in denen ich alleine hier saß, drehten sich um mich. Jetzt, auf einmal, stand er da. Mein Ebenbild, mein Bruder. Und er war so beeindruckend. Dabei war er sicherlich furchtbar eingeschüchtert und nicht mal ansatzweise so, wie er es auf den Bildern bei Facebook war.

Trotzdem war ich fasziniert. Das erste Mal in meinem Leben sah ich meinen Bruder.

So lange Zeit ...

... habe ich nach dieser Hälfte gesucht.

 

Wieso wurde mir das in diesem Moment klar?

 

Dann schloss Vater die Tür. Er gab mir noch einen vernichtenden Blick, dass ich es wohl mal wieder vermasselt hatte.

 

Ich hatte gar nichts vermasselt. Vielleicht wirkte ich nicht sehr überzeugend, aber mein Interesse war da.

 

Es war geweckt.

Die Gier.

Das Verlangen.

Er war wunderschön.

Und ich würde ihn besitzen.

 

Ihn trinken.

 

Und dann langsam schmerzend dahinraff-

 

»Nein... «, flüsterte ich in die Stille. »Das darf nicht passieren.«

 

Dieses Tier in mir. Es darf nicht die Überhand gewinnen. Ich muss mich abschotten. Ich darf ihm nicht näher kommen. Ihm nicht wehtun.

Bitte schließ ab.

Dein Zimmer.

Deine Gedanken.

Dein Herz.

Lass mich nicht rein.

 

 

Ich spürte wie es schwarz vor meinen Augen wurde.

Einige Sequenzen blieben mir im Kopf.

Wie ich auf den Flur schlich, mich vor seine Tür stellte und wartete.

Das nächste, was ich sah, war sein Rücken. Wie er an der Treppe stand und hinunter sah. Er war verängstigt. Abermals. Aber immer, wenn er sich umdrehte, hing ich an der Decke. Er sah mich nicht. Ging wieder zurück.

Nur wie durch einen Fernseher konnte ich all die Dinge wahrnehmen. Die Kontrolle über meine Körper hatte Es.

 

Irgendwann spürte ich das Tier verschwinden. Ich kehrte nach etlichen Stunden vor seiner Tür stehend in mein Zimmer zurück und fiel erschöpft ins Bett.

 

Ich durfte es nicht zulassen. Erahnen konnte ich es, aber dass es so werden würde?

 

Er war so wunderschön. Und dieses Etwas in mir wollte ihn.

Es wollte ihn fressen.

 

Wie würde ich das unterdrücken können? Ohne ihn zu verletzen.

 

Auf Abstand gehen. Mach dich unbeliebt. So wie immer.

Dann wird er lustlos. Nimmt von selber Abstand.

 

Ich spürte Tränen in mir aufsteigen. Wieso war ich so? Wieso hatte ich das in mir? Wieso konnte ich mich nicht einmal meinem Bruder nähern?

 

Die Gedanken schweiften ab.

 

Und ich spürte weit entfernt seinen Atem auf meiner Haut. Wie er schlief. Der Herzschlag ganz ruhig.

 

So ist das also, wenn man seinen Zwilling nach so langer Zeit bei sich hat. Es war magisch.

 

Er war so schön.

 

Verdammter Flug

Freitag früh morgens: Ich kullerte aus meinem Bett und stieß mir heftig den Kopf an meinem Pseudo-Schrank, zog mir meine Uniform raus und zog sie mir im Halbschlaf an. Ich schlurfte in meiner morgendlichen Gereiztheit ins Bad, welches natürlich durch meine Mutter besetzt wurde.
 

»Mom, mach das Bad frei«, brummte ich durch die Tür, während ich gegen sie hämmerte.

»Eine Minute wirst du ja wohl noch warten können«, rief sie aus dem kleinen Raum. »Auf dem Esstisch steht schon was zu essen.«
 

Langsam, aber sicher, schlurfte ich mit meinen schwarzen Pantoffeln zum Esstisch in unser riesiges Wohnzimmer. Ich ließ mich auf einem der Lederimitat-Stühle fallen und stocherte in meiner Cornflakes-Schüssel rum. Heute war es soweit. Heute war der Tag, wo ich zu meinem Vater flog. Ich war aufgeregt. Und zwar richtig. Ich hätte es kaum für Möglich gehalten, aber mein Adrenalin schoss mir in mein Blut und verursachte heftiges Herzklopfen. Schon am frühen Morgen, dabei musste ich noch einen sechs Stunden Schultag meistern. Aber der würde wohl schneller vorbei-gehen, als gewollt.
 

Endlich ging die Badezimmertür auf und meine Mutter kam frisch gestylt raus. Sie sah grauenhaft aus. Knatsch roter Lippenstift, blauer Liedschatten, dicker Liedstrich drauf und noch eine Meterschicht aus Make-up.
 

»So, du kannst jetzt rein, Schatz. Ich bin dann weg«, begrüßte sie mich, wie jeden Morgen, und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann verschwand sie aus unserem Palast und schloss laut die Tür. Seufzend ließ ich mich im Stuhl sinken und schaufelte mir weiter die Cornflakes rein. Kurz danach ging ich ins Bad, kämmte mir meine Haare und packte schnell meine Schultasche. Als ich in meiner typischen Hektik aus meinem Zimmer stürmen wollte, vergaß ich, dass mein Koffer ja schon dort stand und flog natürlich schön über ihn gen Boden. Nach ein paar fluchenden Worten, vergaß ich den stechenden Schmerz an meinem linken Arm und rannte weiter aus der Haustür. Ich ließ alles stehen und liegen, wie jeden Morgen, nur um meinen Bus zu bekommen.

Außer Atem rannte ich noch schnell in den Bus und ließ mich neben meinem Kumpel fallen. Es war genau der gleiche, den ich Vorgestern, ohne Vorwarnung, mitge-bracht hatte: Jiro. Er hatte schwarze Haare, die ihm über ein Auge fielen. Eigentlich war er sowieso nur in schwarz gekleidet. Manchmal schminkte er sich seine Augen auch schwarz, doch er sah immer ganz genau an meinem Blick, dass ich das etwas übertrieben fand. Aber wer’s mag?
 

»Na, wieder zu spät aufgestanden?«, fragte er mit einem breiten Grinsen, sichtlich darüber amüsiert, dass ich fast gestorben wäre.

»Schuld allein ist meine Mutter.«

»Wie immer.«

»Genau.«
 

Dann schwiegen wir. Er hörte seine Musik und ich meine. Gespräche dieser Art sind normal. Wenn jemand was zu sagen hat, dann soll er halt nerven und es sagen. Da wir beide Morgenmuffel waren, waren wir demnach auch schlecht drauf. Der letzte Tag in der Woche, auch noch vor den Ferien, war sowieso immer sehr schwer. Besonders, wenn es mein letzter Tag hier war. Ich hatte niemandem bis jetzt davon erzählt, aber Jiro musste sich wohl unbedingt unterhalten:
 

»Was machst du in den Ferien?«, fragte er, sichtlich des¬interessiert.

»Ich fahr zu meinem Vater.«

Sofort stieg das Interesse.

»Zu deinem Vater?« Er klang sehr ungläubig.

»Ja, so was hab ich auch. Meine Mutter ist nicht alleine Schuld an der Sache mit mir.«

Er seufzte kurz und schüttelte den Kopf.

»Das meine ich nicht. Du hast ihn doch noch nie gesehen, oder?«

»Ja, schon, aber es gibt immer ein erstes Mal.« Ich musste gähnen und hoffte natürlich innerlich, dass ich damit das Gespräch beenden konnte. Immerhin zeigte ich ihm gerade das Ausmaß meiner Müdigkeit, welches sich kaum in Worte fassen ließ, so gewaltig war es.

»Und? Bist du aufgeregt?« Er grinste dabei verschmitzt und knuffte mich in die Seite.

»Nein, natürlich nicht. Es ist mein Vater. Er wird schon kein Monster auf acht Beinen sein.«

Oh Gott, ich war so aufgeregt.

»Haha! Natürlich nicht. Sonst sähest du ja auch so aus.«

»Nicht unbedingt, ich kann ja auch nach meiner Mutter kommen.«

»Dann bist du aber zu groß geraten. Oder deine Mutter kniet immer unter ihren Röcken, damit sie kleiner wirkt.«

»Sehr lustig«, meinte ich ironisch und verdrehte die Augen.

»Ich finde schon.« Dabei lachte er über seinen eigenen Witz.

»Wenn, dann hat sie sich operieren lassen. So Knieschei-ben wegoperieren. Meine Mutter ist für alles zu haben. Die würde sich auch die Zehen verkleinern lassen, nur um in Designer¬schuhe, die nur bis Größe neununddreißig gehen, zu passen.«

»Im Ernst?«

»Klar. Es ist meine Mom.«

»Stimmt, ich vergaß.«
 

Ja, meine Mutter war schon bekannt für ihre außerge¬wöhn¬lichen Angewohnheiten und Vorlieben. Ich kannte keine Mutter, die so drauf war. Sie benahm sich, wie ein Teenager. Mit nur mehr Falten. Viele fanden das lustig und mal »abwechs¬lungsreich«. Das einzige »Abwechslungsrei-che« in unserer Familie sind die Schulden, die wegen ihrer schrägen Ideen, die sie dann auch immer ausprobiert, entstehen. Mal sind sie größer, mal sind sie kleiner. Sehr »abwechslungsreich«.
 

Der Bus hielt endlich an unserer Haltestelle. Wir stiegen aus und trafen dann auch meine anderen zwei Kumpels. Roku und Kyo. Beide ebenfalls düster angezogen, genau wie wir. Roku hatte eine grüne Strähne in den schwarzen Haaren und Kyo eine blaue. Manchmal sahen sie aus wie Zwillinge, aber das waren sie nicht. Sie waren so gut miteinander befreundet, dass sie die ganze Zeit miteinander rumhingen. Manche sagten immer, sie seien schwul. Waren sie aber auch nicht. Ihre Freundschaft war halt einfach nur … etwas enger. Weswegen sie auch die »69«-er genannt wurden. Bekannt ist die Stellung beim »Geschlechtsver-kehr« und ist im weitesten Sinne auch gemeint. Roku heißt nämlich »sechs« und Kyo heißt »neun«. Ein lustiger Zufall, den viele für schmutzige Gedanken ausnutzen. Ich bin ehrlich, ich auch. Und Jiro natürlich auch. Den beiden machte das aber nichts aus, die fanden das zwar nicht gerade toll, aber weltuntergangsmäßig auch nicht. So war jeder Glücklich: Wir konnten unsere schmutzigen Gedan-ken an ihnen auslassen und sie konnten weiterhin Freunde sein. Ein idyllisches Leben, wären da nicht andere Mitglie-der der "Gruppe".
 

»Hallo, Jungs«, erschreckte uns eine tiefe Frauenstimme. Es war Fräulein »Unbekannt«. Sie hatte alle möglichen Schmuck in ihrem Gesicht. Dabei meine ich die Piercings, von denen ich nicht wissen möchte, wo sie noch alles welche hat. Sie war nämlich auch nicht die schlankste. Außerdem hatte sie rot gefärbte Haare. Sie trug nur Schwarz und lila. Das lila stach mit ihren Haaren und führte Tag für Tag einen unerbittlichen Kampf mit dem rot aus, um den Preis, wer mehr auffiel. Sie war Fräulein »Unbekannt«, weil niemand ihren Namen kannte, da der viel zu kompliziert zum Aussprechen war. Nur Roku, ihr Bruder, und die Lehrer, aber selbst die nannten sie nur noch Fräulein. Unter uns hieß sie Lampe. An den Ursprung für diesen Namen kann sich kein Schwein mehr erinnern, aber sie war Lampe und damit fand sie sich ab. Man konnte so tolle Dinge mit ihrem Namen machen: »Schau mal, die Lavalampe kommt« oder »Sch, Lampe, sei still«. In der Tat war sie so etwas wie eine Schlampe. Nicht nur, weil sie unordentlich war, sondern auch, weil sie mit jedem ins Bett sprang. Und wenn ich sage, mit jedem, meine ich mit jedem. Auch Mädchen. Leider gehörte sie zu unserer Clique und war demnach öfter da als von mir gewollt.
 

Jedenfalls ging sie mit einer ihrer Freundinnen an uns vorbei und ich betete, dass sie auch wirklich nur vorbeiging. Ich war mir nicht sicher, wieso ich sie nicht mochte. Es lag an ihrer Art, an ihrem Aussehen. Einfach alles. Aber alle anderen mochten sie, weil sie so "locker" und "ungezwun-gen" war. Gerade das störte mich. Ich bin eigentlich der Lockere; aber sie toppt es. Manchmal war sie selbst für meinen Geschmack ein wenig zu locker. Als ihr Portmonee mit dem Geld ihrer Mutter verschwunden war, scherte sie sich einen feuchten Kehricht drum und unternahm nichts dergleichen, es zu suchen. Erst als ein Lehrer das Ding durch Zufall auf dem Gang fand und es ihr wiedergab, bedankte sie sich cool und steckte es wieder weg. Ich glaube, ich wäre gestorben, denn in dem Ding war mehr als viel Geld drin. Es sollte für ihre Großmutter sein, die im Altersheim lag und um etwas Geld gebeten hatte. So was erzählte sie uns ganz offen. Ich würde noch nicht mal Jiro erzählen, dass ich eine Menge Kohle mit mir rumschleppen würde.

Na ja, genug von Lampe. Sie ging nämlich schön brav an uns vorbei, Richtung Schulgebäude. Ich war sichtlich erleichtert, wobei mich der Gedanke an den beschissenen Flug am Nachmittag ganz schnell wieder einholte. Meine Gesichtsfarbe wurde schlagartig blasser als sie eh schon war und meine Augen weiteten sich um das doppelte.
 

»Alles klar bei dir, Hero?«, fragte Jiro, sichtlich verwun-dert über meine Mutation.

»Alles bestens, ich musste nur grade an den Anfall meiner Mutter denken, wenn sie den Saustall sieht, den ich vorhin hinterlassen habe«, log ich und versuchte mich zu beruhi-gen. Jiro lachte und winkte ab, dass ich nicht solche Scherze mit meiner Mutter treiben sollte. Roku und Kyo, die es ab jetzt nur noch im Doppelpack gab, grinsten mich beide an und deuteten auf das Schulgebäude. Sofort verschwand das Lachen aus Jiros Gesicht und veränderte sich zu einem grimmigen Ausdruck. Langsam schlurften wir zu unserer Klasse. Wie immer kamen wir zu spät, wie immer die Lehrerin auch.
 

Als der Unterricht nach fünfzehn Minuten Verspätung begann, gehörte meine ungeteilte Aufmerksamkeit mal wirklich der Lehrerin. Ich tat das Unfassbare nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Neben mir schwafelte Jiro sich einen zusammen, während ihm, anstatt ich, seine reizende Nachbarin zuhörte. Sie hieß Natasha und ihre Eltern kamen aus Amerika. Eigentlich nicht selten in Japan zu finden, aber sie war eine Klasse für sich. Und das im wortwörtlichen Sinne. Sie war Klassensprecherin, Schüler-vorsitzende und, wenn sie älter wäre, Elternvorsitzende wohlmöglich auch noch. Denn das ist ihre Mutter. Wenn es um Feste oder Veranstaltungen ging, hatte sie immer die Nase vorne. Es benötigte keine »Arbeits-Gruppen«, es reichte, wenn sie die »Gruppe« war. Im Unterricht meldete sie sich bei jeder Frage, ob sie sie nun beantworten konnte oder nicht. Der Drang, immer im Mittelpunkt zu stehen, war bei ihr wohl mal so groß, dass sie sich nach einer verhauenen Klausur im Klo eingesperrt hat und da nicht mehr rausgekommen ist, bis der Hausmeister sie mit einem Brech¬eisen aus der Klokabine geholt hatte. Natasha war bei uns »Always«. Weil sie »Always« dabei sein musste. Aber leider reagiert sie auf den Namen »Always«, was natürlich dann nicht mehr als Beleidigung gelten kann. Bei Lampe war das was anderes. Die will ja keiner beleidigen... außer mir. Aber bei unserer Natasha sollte es fies gemeint sein, doch der Drang zur Aufmerksamkeit war es, auch wenn es der falsche Name war, sie darauf hören zu lassen. Haupt¬sache sie war gemeint. Hauptsache sie.
 

Die Stunde ging schnell rum, so wie das Gelaber von Jiro an mir vorbeiging. Der laberte immer noch weiter. Anscheinend erzählte er mir gerade, was er in den Ferien vorhatte. Unsere liebe Always hörte schön zu. Gespannt auf eine Lücke in seinem vollen Terminplan zu hören, stützte sie ihre Arme mit dem Kopf in der Hand auf die Tischplatte und hörte ihm interessiert zu. Der bemerkte das natürlich nicht und führte seinen Monolog weiter.

Es ging zur letzten Stunde vor den Ferien. Die Noten von den Klausuren waren raus und trotz so vieler schlech-ten Noten, war die Stimmung gut; immerhin waren es die Sommerferien, auf die sich doch jeder freute. Alle. Nur ich nicht.

Die Stunde der Wahrheit rückte immer näher. Und so wie ich mich fühlte, die Stunde meines Todes auch.
 

Nachdem sich jeder ausgetauscht hatte und wieder der Kampf um den besten Notendurchschnitt losging, stopfte ich die Übersicht der Noten in meine Schultasche. Und dort würde sie auch bis nach den Sommerferien bleiben.

Wir durften die letzte Stunde in der Übung diskutieren, wohin wir in den Sommerferien sein werden. Als die Reihe durch war und nur noch ich übrig blieb, warteten alle gespannt auf meine Antwort. Nachdem ich aber nichts sagte, ergriff Jiro das Wort für mich:

»Er fährt zu seinem Vater.«
 

Alle starrten mich genauso ungläubig an, wie es Jiro im Bus tat und ließen ihren Kinnladen freien Lauf nach unten. Ich ignorierte die Blicke der anderen und beschäftigte mich mit Lampe, die mich genauso anstarrte, sich aber schnell wieder fing und mich dann angrinste. Ich versuchte zurück zu grinsen, aber es wurde mir verwehrt, als mir Jiro die Hand auf den Rücken schlug.

»Jetzt sag doch mal was! Immerhin ist es eine Erfahrung für sich.«

Ich nickte nur stumm und sah Jiro danach wütend an. Der ließ seinen Arm schnell wieder zu sich sinken, denn mein Blick verriet, dass der sonst ganz schnell ab wäre, wenn er ihn dort gelassen hätte.

»Na ja, es kam etwas überraschend, ich weiß auch erst seit ein paar Tagen von der Reise in den Norden«, versuchte ich mit meiner Klasse zu kommunizieren. Alle nickten verständnisvoll.

»Und hast du schon mit deinem Vater gesprochen?«, fragte die Tutorin.

»Nein, meine Mutter hat alles geregelt.«

»Und wie findest du deinen Vater dann am Flughafen?«, schmiss Always in den Raum und schaute mich dabei neugierig an.

»Ich häng mir ein Schild um den Hals und schreibe drauf, dass ich aus Idioten-City komme und meinen Weiberhel-den-Daddy suche«, zischte ich ihr über Jiros Kopf hinweg zu, was sie zusammenzucken ließ.

»Hiroshi, bitte«, ermahnte mich die Tutorin und ver-schränkte die Arme. Das signalisierte, dass sie auf eine Antwort wartete. Ich seufzte in mich hinein und gab widerwärtig eine Antwort:

»Keine Ahnung; das will mir meine Mutter noch sagen, wie ich ihn finde.«

Wieder trat Stille ein und alle starrten mich an. Mit einem bösen Blick versuchte ich die Leute abzuschrecken, aber das schien nur bei Always und Jiro zu funktionieren, denn die anderen starrten schön weiter. Ich verdrehte die Augen.
 

»Gut, dann wünschen wir dir viel Spaß und dass dein Vater nett ist.« Die Tutorin versuchte für alle zu sprechen und das Thema abzuhaken. Schlechte Erfahrungen bleiben bei ihr wohl nicht hängen. Sofort fingen alle an zu tratschen und zu reden. Sie redeten nicht nur auf mich ein, sondern auch auf sich gegenseitig. Da fing das Gewusel an und ich hielt einfach meinen Mund. Ich wurde Dinge gefragt wie zum Beispiel »Bist du aufgeregt?« und »Magst du deinen Vater?«, »Was weißt du eigentlich so über ihn?«.

Ich krallte mir Jiro und verschwand mit den »69«-er Jungs. Die Tutorin rief zwar hin und wieder in die Klasse, dass die Übung noch nicht vorbei sei, aber darauf hörte jetzt eh keiner mehr. Als Always sah, dass es diesmal nicht um sie ging, versuchte sie anderen Klassenkameraden zu erzählen, dass sie eine Cousine hat, die sie auch noch nie gesehen hatte und jetzt wieder sieht. Aber alles schien sich noch um die achtzehn-Jahre-nicht-gesehen-und-jetzt-so-plötzlich-Geschichte zu drehen.
 

Als wir draußen angekommen waren, klopfte mein Herz wie wild, als ich meine Mutter am Tor stehen sah. Sie holte mich ab? Das tat sie nur, wenn ganz besondere Anlässe bevorstanden. Gut, es war ein besonderer Anlass, aber sonst waren es mehr Gäste, die zu Besuch kamen, oder Feste, auf die wir beide gingen.

»Hey, guck mal Hero. Da ist deine Mom«, sagte Kyo und zeigte auf sie. Ich schlug ihm den Finger wieder runter.

»Ja, ich weiß. Zeig lieber nicht auf sie, sonst rastet sie wieder aus.«

»Sorry.«

Langsam trotteten wir gen Tor. Auf halber Strecke holte uns Lampe noch ein. Sie verstand aber in kürzester Zeit, dass es jetzt für mich auf nach Norden ging.
 

»Hey, Mom. Was machst du hier?«, fragte ich vorsichts-halber, es könnte ja sein, dass sie nur sehen wollte, ob ich auch nach Hause kommen und mich nicht aus dem Staub machen würde.

»Na, was wohl? Dich abholen. Wir fahren jetzt sofort zum Flughafen.«

Mein Atem stockte, das Herz setzte aus und ich dachte ich fall gleich um.

»Jetzt …? Sofort …?«, stammelte ich und knibbelte an meiner Jacke. Es war mir stockpeinlich, dass meine Freunde meinen Nervositätsausbruch miterlebten, aber im Moment des Schrecks war es mir egal.

»Ja, jetzt sofort. Ich stehe dahinten. Komm«, zischte sie und zeigte auf ihren Giftgrünen Seat, der hinter einem roten Benz stand.

Ich nickte leicht und drehte mich dann um, um mich von meinen Freunden zu verabschieden. Die Situation ähnelte einem Abschied für immer; als ob ich jetzt in den Tod gehen und mich feierlich von meinen tapferen Mitstreitern verab¬schiede würde. Jiro grinste mich nur gemein an.

»Melde dich, wenn du angekommen bist, ja?«, fragte er und konnte schon fast nicht mehr, weil er sich das Lachen so unterdrücken musste. Er nahm mich in den Arm und drückte mich kurz.

»Mh-Hm …«, brachte ich noch grade so raus und machte ein geschocktes Gesicht, während sich alle anderen über mich lustig machten. Selbst meine Mutter musste kichern. Das hörte ich genau, obwohl sie hinter mir stand.

Nachdem ich mich auch zuletzt von Lampe verabschie-det habe, widerwillig, aber so was gehört zum Ehrenkodex, schleifte mich meine Mutter zu ihrem Auto. Als ich meine Schultasche in den Kofferraum werfen wollte, erschlug mich mein Koffer. Der kam aus dem Kofferraum raus und fiel mir auf die Füße. Ich verkniff mir einen Aufschrei und biss mir stattdessen auf die Lippe. Trotzdem quetschte ich ein »Au« raus.

»Oh, Schatz, tut mir Leid. Ich hätte dir sagen sollen, dass du den Kofferraum vorsichtig hättest aufmachen müssen.« Schnell kam sie angelaufen und hob den Koffer von meinen Füßen auf.

»Schon … okay …«

Nein, war es nicht. Der Fuß war mindestens verstaucht. Aber ich bin ein Mann und keine Memme.

»Sag mal, warum ist der so schwer?«, fragte ich meine Mutter, als ich in das Auto einstieg.

»Ich hab dir noch Handtücher und Duschsachen einge-packt. Ach ja, und drei Paar Schuhe, falls das Wetter doch schöner wird und Bettwäsche. Außerdem hast du vergessen dein Handyakkuladegerät und deine CDs mit einzupacken.«

Ungläubig über die Worte meiner Mutter drehte ich genervt meinen Kopf zu ihr auf die Fahrerseite.

»Nicht im Ernst …«, mahnte ich sie, in der Hoffnung, es war nur ein Scherz.

»Stimmt, du hast Recht. Ich hätte deine Bücher weglassen können, die liest du ja eh nicht«, seufzte sie und überlegte wahrscheinlich schon, wie sie den Koffer noch mal aufbe¬kommen würde.

»Du hast Bücher eingepackt? Mama!«

»Bildung, Hiro, Bildung.«

»Deine blöden Liebesgeschichten sind bestimmt keine Bil¬dung!«

»Doch, die helfen dir über Menschenkenntnisse im klaren zu werden.«

»Mama, dein Beruf ist eine Sache. Aber mein Privatleben, beziehungsweise unser Privatleben, ist eine andere Sache. Vermisch das doch nicht immer.«

»Es wäre eine gesunde Mischung für dich, auch mal zu lesen.«

»Vergiss es. Die geb’ ich Papa, der freut sich.«

Sofort trat Stille in das Auto.

»Woher willst du wissen, ob dein Vater gerne liest?«, fragte sie spitz, um mir Unrecht geben zu können.

»Jeder Erwachsene liest gerne. Und Papa scheint von dem Typ Erwachsener zu sein.«

Wieder trat Stille ein. Meine Mutter verkrampfte sich ans Lenkrad und starrte aus der Windschutzscheibe.

Seufzend ließ ich mich im Sitz sinken und verschränkte die Arme vor der Brust. Mein Herz klopfte immer noch furchtbar schnell.
 

Kaum waren wir im Flughafen angekommen, ging alles viel zu schnell. Am Schalter alles geregelt, der Koffer war weg und eine halbe Stunde danach auch ich. Schweigend saß ich im Flieger Richtung Norden zu meinem Vater und zu noch jemandem, von dem mir nichts erzählt wurde …

Privatdetektiv

Der Flug dauerte doch nicht so lange wie erst erwartet. Zu meiner größten Enttäuschung. Nach der Landung ging die Sturmschlacht auf das Gepäck los. Jeder im Flieger sprang auf, um an seine Sachen zu kommen, die in diesen Ablagefächern über den Sitzen waren. Die Passagiere, die ihr Gepäck schon hatten, versuchten so schnell wie möglich dieses Flugzeug zu verlassen, aber da es ja noch die anderen Leute gab, die noch ihre Sachen rausholen mussten und es wiederum Leute gab, so wie ich, die sich keinen Stress daraus machten, ging das nicht ohne weiteres. Ein ziemliches Gewusel in solch kleinen Gängen. Deswe-gen hasse ich fliegen, es macht nur Stress.
 

Kaum war das Flugzeug leer, sprangen sie wie die Raub-tiere auf ihr restliches Gepäck auf dem Gepäckband. Keine einzige freie Stelle war mehr an dem Band zu finden. Alle sammelten sich davor, als ob jeden Moment ihr Koffer wie aus dem Nichts zum Vorschein hätte kommen können. Dabei waren die Leute vom Flughafen noch dabei, die dämlichen Teile auf das Band zu laden. Und das dauerte immer etwas länger. Der Flughafen insgesamt war eigent-lich ganz nett. Ich würde fast sagen, etwas schöner als unserer im Süden. Aber nur fast.

Endlich erspähte ich meinen Koffer und kämpfte mich siegessicher durch die Menge, um ihn zu erhaschen. Kaum hatte ich ihn ergriffen, wollte ich ihn hochheben, doch der Koffer war zu schwer. Ich wollte ihn nicht loslassen, doch das Band bewegte sich natürlich weiter, die Leute machten kaum Platz, sodass ich mit meinem Koffer an der Hand dem Band entlang gehen musste. Dabei stieß ich alle möglichen Leute an, die mich verständnislos ansahen. Mein Koffer wollte einfach nicht vom Band, bis ich ihn wieder losließ und schnell vor¬rannte. Da sah ich ihn wieder und kaum war er in meiner Nähe, er¬griff ich ihn nicht nur am Griff sondern auch an den Rollen. Dummer Gedanke, denn Rollen bewegen sich genauso gut wie dieses Band, weswegen der Koffer aus meiner Hand flutschte und mit voller Wucht wieder auf das Band fiel. Ich ächzte mir was zusammen und wollte meinen Koffer nicht noch einmal loslassen. Ich lief ihm also wieder hinterher, bis das Band in einem Schacht endete. Eine Weile versuchte ich meinen Koffer zu retten, bevor er im schwarzen Loch verschwin-den würde, doch es war nichts zu machen.

Der Koffer war einfach zu schwer! Und anstatt, dass mir mal jemand half, starrten sie mich alle nur dumm an und tratschten wohlmöglich noch über mich. Verärgert ging ich zum Anfang des Kofferbands und quetschte mich durch die Menge von Leuten. Es dauerte nicht lange, da kam er wieder an. Diesmal ergriff ich ihn am Griff und am anderen Ende. Mit einem Kampfschrei der härtesten Kriegsart stemmte ich den Koffer wie ein Schwergewichtssportler vom Band und warf ihn zu Boden. Geschafft ließ ich mich auf ihm sinken und beobachtete die Leute mit ihren neugierigen Blicken. Peinlich war mir das nicht, aber hätte meine Mutter da nicht so viel reingestopft, hätte ich diesen Akt hier nicht gehabt.

Nach wenigen Minuten des Kampfes, erhob ich mich und schleifte den Koffer neben mir her. Jetzt würde die Stunde der Wahrheit kommen. Bevor ich jedoch raus ging, stellte ich mich vor eine Säule, die mit Glas überzogen war. Ich konnte mich darin spiegeln und musste feststellen, dass ich ziemlich mitgenommen aussah. Meine Uniform war schief und die Krawatte schon fast gar nicht mehr am Hemd. Das einzige, was noch da war, wo es sein sollte, war meine Hose. Und das war auch gut so.

Bewusst zupfte ich an der Krawatte und an meinem Hemd und fummelte noch kurz in meinen Haaren rum. Als ich mich für »Okay« einstufte, begab ich mich mit heftigem Herzklopfen in den Empfangsraum. Dort sah ich eine Menge Menschen, entweder mit Schildern oder Rosen in der Hand. Doch nirgends sah ich einen Mann, der meinem Vater auf dem Foto ähnlich sah. Verunsichert, ob ich auch am richtigen Flughafen war, rollte ich meinen Koffer erst einmal hinter die Glasscheibe. Oder vor sie. Wie man es nun halt sah.
 

Ich sah mich in der Gegend um und versuchte jemanden zu erkennen, aber die Leute sahen alle nicht aus, wie mein Vater vielleicht aussehen könnte. Meine Mutter meinte, er würde mich erkennen. Na, dann soll er mich mal erkennen.
 

»Hiroshi?«, erklang eine Männerstimme hinter mir. Ich drehte mich um und erblickte das bekannte Männergesicht vom Foto. Meine Augen weiteten sich etwas.

»Vater?«, murmelte ich und spürte wie glücklich ich war ihn zu sehen. Sei es, dass es der Instinkt eines Kindes ist, seinen Vater nach so langer Zeit endlich wiederzusehen, oder sei es, dass ich so verzweifelt war, hier allein zu sein.

»Hiroshi, ich freue mich, dich zu sehen. Du bist wirklich ein richtiger junger Mann geworden.«

Mein Vater lächelte mich mit einem Herzhaften Lächeln an und strahlte eine unglaubliche Wärme aus. Ganz anders als meine verrückte Mutter. Jedoch traute ich mich nicht, ihn zu umarmen. Er war im Anzug und roch richtig gut. So schick gemacht, kam er bestimmt von der Arbeit oder so etwas. Dabei war es schon acht Uhr. Trotzdem war es schön, meinen Vater das erste Mal in meinem Leben zu sehen. Er sah immer noch so aus wie auf dem Foto. Kurze braune Haare, mit etwas Gel zurück gekämmt, einen ordentlichen, grauen Anzug an mit einer schwarzen Krawatte um ein Perlweißes Hemd. Die Schuhe schienen ebenfalls nicht billig gewesen zu sein, sie sahen sehr edel aus; aus reinstem Leder. Da fühlte ich mich gleich zwei Klassenschichten weiter unten.
 

»Komm, Hiroshi, fahren wir nach Hause. Gib mir doch deinen Koffer«, sagte er freundlich und hielt mir seine offene Hand hin, erwartungsvoll, dass ich ihm den Koffer gebe.

»Er ist aber sehr schwer …«, murmelte ich und weigerte mich innerlich ihm den Koffer zu geben.

»Gerade deswegen solltest du ihn mir geben. Du bist noch jung, da holt man sich schnell Rückenprobleme.«

Verblüfft über die Erklärungsweise von ihm, übergab ich ihm meinen Koffer. Meine Mutter sah das immer anders: »Du nimmst den Koffer, du bist noch jung und beweglich. Deine Mutter ist alt und hat Rückenprobleme«. Erstaunlich.
 

Wir gingen ein Stück durch den Flughafen, dann kamen wir am Parkhaus an. Er bezahlte schnell das Ticket. Er fragte mich Dinge wie »Was isst du gerne?«, »Schaust du gerne Fernsehen?« oder »Was ist deine Lieblingsfarbe?«. Alles so banale Dinge, die eigentlich kein Schwein interes-sieren würden. Ihn schon. Er war die ganze Zeit freundlich und sanft im Ton. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich den schroffen Ton meiner Mutter gewohnt war. Ich beantwortete ihm jede Frage, die er mir stellte. Als wir am Auto ankamen, kam uns ein anderer Herr entgegen, der schon aus der etwas älteren Generation war. Er trug eine schwarze Stoffhose und ein weißes Hemd. Darüber eine schwarze Kellner-Weste. Er sah aus wie ein Butler. Und ehe ich mich versah, nahm er meinem Vater den Koffer ab.
 

»Geben Sie mir das, Herr Kabashi«, sagte er höflich und trug den Koffer zum Auto. Auto? Sagte ich Auto? Das war ein Schiff. Ein Mercedes Benz S-Klasse. Ein riesiges Schlachtschiff in schwarzem Lack. Ich stand regungslos vor diesem Auto und betrachtete die getönten Fensterscheiben. Der Butler holte mich mit dem Zuknallen des Kofferraums aus meinem Koma. Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Guten Tag, junger Herr Hiroshi. Ich bin Mamoru Yutaka, der Butler. Nennen sie mich bitte Mamoru.« Dabei machte er eine kleine Verbeugung. Ich gab ihm meine Hand und wir schüttelten sie kurz. Dann löste er sich von mir uns setzte sich ans Steuer. Mein Vater kam von hinten und legte mir eine Hand auf den Rücken.

»Komm, steig ein.« Wieder lächelte er mir zu. Ich ver-suchte auch zu lächeln, doch ich konnte mir eine Frage nicht ver¬kneifen:

»Du hast einen Butler?«

Erst schien mein Vater das nicht ganz zu verstehen, doch dann grinste er.

»Er erleichtert einem das Leben und er macht das für mich schon seit achtzehn Jahren.«

Seit dem ich lebe. Seit dem du die fliege gemacht hast. Seit dem schien es ja nur bergauf gelaufen zu sein.

Ich nickte kurz und stieg dann in das noble Auto ein. Die Sitze waren aus hellem Leder, die Armatur sowie das Lenkrad waren aus lackiertem Holz. Ich traute mich gar nicht, mich richtig hinzusetzen. Angespannt und total versteift saß ich im Auto. Mein Vater bemerkte das und drehte sich zu mir um.

»Du kannst dich ruhig richtig hinsetzen. Das ist ein Auto und keine zerbrechliche Vase«, lachte er und deutete mir, dass ich entspannter sein kann.

»Aber das Auto war bestimmt teurer als eine Vase …«, murmelte ich und versuchte mich normal hinzusetzen. Mein Vater lachte und winkte ab. Ich seufzte leicht und versuchte mein Herz während der Autofahrt zu beruhigen. Mein Vater sah nicht nur gut aus, er war stinkreich. Jetzt war ich doch mal auf sein Haus gespannt. Eine Wohnung wird er ja wohl kaum haben. Jedenfalls dann keine kleine.
 

Die Autofahrt dauerte schon ein wenig. Wir durchfuhren hauptsächlich Städte. Meine Hoffnungen, dass er in der Stadt wohnte, machten sich aber schleunigst zu Nichte, als wir die Stadt verließen und aufs Land fuhren. Von weitem sah ich einen Wald. Der Butler steuerte den auch noch an. Wir durchfuhren ihn, aber noch auf einer befestigten Straße. Es war so anders, als bei mir. Um zu mir zukommen, musste man von der U-Bahn Haltestelle aus nur eine Straße überqueren und aufpassen, dass man nicht von der Straßenbahn angefahren wird. Und hier? Eine halbe Weltwanderung.

Wir machten Halt vor einem riesigen Tor. Es war aus Metall und mit Eisenstangen versehen. Es war bestimmt mehr als drei Meter hoch. Eine Goldfarbene Verzierung schmückte die Spitzen der Eisenstangen. So wie das Tor aussah, so sah in etwa auch der Zaun aus, der links und rechts im Wald verschwand.

Mein Blick schien skeptisch zu wirken, als wir die riesige Einfahrt hineinfuhren, denn mein Vater lächelte mich erneut an.

»Keine Angst, das ist kein Hexenschloss oder derartiges.«

Ich nickte kurz und sah dann weiter aus dem Fenster. Es wurde langsam dämmrig, das tunkte die ganze Atmosphäre um mich herum noch mal in ein anderes Licht. Wenn ich dieses Jahr Halloween feiern möchte, dann hier.
 

Es dauerte eine Weile, bis wir in eine Tiefgarage fuhren.

»Gehört das alles dir, Vater?«, fragte ich ihn und lehnte mich zu ihm nach vorne.

»Ja. Gefällt es dir?«

Allein von der Tatsache her, dass meinem Vater so ein riesiges Grundstück gehörte, gefiel mir das schon.

»Ja, doch. Es hat was.«

»Dann warte ab, bis zu das Haus siehst«, lachte er und drehte sich wieder nach vorne. Ich war schon aufgeregt. Wie ein kleines Kind, das gleich das erste Mal in seinem Leben in den Zoo fahren wurde.

Der Butler, also Mamoru, parkte das Auto in der Tiefga-rage, in der noch weitere Nobelautos standen und packte meinen Koffer aus dem Kofferraum.

Ich betrachtete die restlichen Autos, während mein Vater mir mit seinen Blicken folgte. Ich spürte das und drehte mich kurz zu ihm um.

»Alles deins?«, fragte ich und zeigte auf die Autos. Er nickte und grinste mich an. Mein Blick schien so etwas wie »Ich-bin-begeistert« auszustrahlen, denn mein Vater wirkte beruhigt. Noch einmal ging ich mit den Augen die Autos entlang, kurz darauf hielt mir mein Vater eine Tür auf. Wir gingen zu einem kleinen Aufzug und stiegen ein. Nach einer Etage, stiegen wir schon wieder aus und standen im Empfangsraum. Ja, richtig, Es war mehr ein Empfangs-raum, als ein Flur. Es war der helle, marmorne Raum, mit den Pflanzen und den Statuen im Hintergrund, in dem mein Vater auf dem Bild stand. Es war also nicht seine Arbeit, sondern sein Haus. Nein, seine Villa.

Plötzlich hörte ich meinen Vater kichern. Ich drehte mich zu ihm um. Erst als er versuchte, sich das Lachen zu unterdrücken, merkte ich warum er lachte: Meine Mund-winkel verformten sich zu einem Oval und mein Kinn klappte nach unten, während meine Augen sich um das doppelte vergrößerten. Ich kam wirklich aus dem Staunen nicht mehr raus. Mein Vater ist reich, stinkreich, hat eine Villa mit einem riesigen Grundstück und tausende von Nobelwagen stehen in seiner eigenen Tiefgarage. Er hat einen Butler Namens Mamoru und lebt wohlmöglich noch alleine in diesem Nobelschuppen.
 

»Komm, ich zeig dir dein Zimmer und ein wenig das Haus«, sagte mein Vater und gab mir mit einer Handbewe-gung zu deuten, dass ich ihm folgen solle.

»Villa«, verbesserte ich ihn, noch sichtlich beeindruckt von dem Ding. Er lächelte mich sanft an und ging voraus. Mamoru schleppte meinen schweren Koffer die Treppe hoch. Es war die edle Treppe, die etwas gebogen und mit einem vergoldeten Geländer verziert war. Als ich sah, wie Mamoru sich einen abrackerte, ergriff ich das Wort und ging zu ihm:

»Soll ich das nicht lieber tragen?«, fragte ich höflich und reichte ihm meine Hand zur Hilfe.

»Aber Herr Hiroshi, das ist doch nicht ihr Aufgabe«, meinte er und richtete seine kleine Brille.

»Aber es ist mein Koffer!« Es war ja nett, dass er das für mich machen wollte, aber er war ja nicht mein Sklave.
 

»Lassen Sie nur, Mamoru. Wenn Hiroshi seinen Koffer selber tragen will, dann lassen Sie ihn«, warf mein Vater ein und klopfte Mamoru auf die Schulter. Der seufzte nur und übergab mir dann meinen Koffer. Während ich schon meinen Koffer hoch hievte, drehte ich mich noch einmal kurz um, um zu sehen, ob mein Vater auch mitkam. Da sah ich wie er Mamoru etwas ins Ohr flüsterte. Der nickte kurz und schon widmete sich mein Vater wieder ganz mir zu. Er lächelte freundlich und ignorierte meinen verwirrten Blick. Mamoru ging wieder runter und verschwand in einem anderen Raum. Als ich mich versuchte etwas zu recken, um zu sehen, was das für ein Raum war, legte mein Vater eine Hand auf meinen Rücken und zwang mich quasi weiter zu gehen. Widerwillig tat ich das auch, obwohl meine nervige Neugier im Moment gestillt werden wollte.
 

Seufzend hievte ich meinen Koffer hoch. Mein Vater fragte zwar immer Mal wieder, ob er mir helfen soll, aber stur wie ich war, sagte ich jedes Mal »Nein, geht schon«.

Als wir endlich oben ankamen, rollte ich meinen Koffer meinem Vater hinterher. Hier war eine Galerie, verziert mit einem weiß-goldenen Geländer. Der Fußboden war hier jedoch aus weichem, schwarzem Teppichboden. Der Kontrast war sehr stark, aber es hatte was. Das erste Mal dachte ich wieder an meine Mutter. Ihr würde das hier sicher sehr gut gefallen. Alles sehr »Designer«-Mäßig eingerichtet.
 

Wir gingen nach links in einen langen Gang. Ich schaute kurz nach rechts und erblickte nur eine einzige Tür. Schon seltsam, dieses Gebäude. Es wirkte zwar groß und übersichtlich, aber als wir den langen Gang mit den vielen Türen entlang gingen, erinnerte es mich eher an ein Labyrinth, aus dem man nur schwer wieder herauskam.
 

Die letzte Tür gehörte wohl mir. Mein Vater zog einen goldenen, verschnörkelten Schlüssel aus seiner Hosenta-sche und schloss den Raum auf. Er hielt mir die Tür auf und ich sah nur dunkel. Langsam trat ich ein.

»Du, wo ist denn der Lichtschalter?«, fragte ich vorsichtig. War eigentlich nicht meine Art, aber man sollte sich ja nicht gleich am ersten Tag vergraulen.

Plötzlich ging das Licht an.

»Hier.« Er lächelte mich an und hielt noch seine Hand an den Lichtschalter. Er war direkt neben der Tür. Ich wurde leicht rosa im Gesicht und lächelte zögerlich.
 

Der Raum war recht groß. Ein großes Fenster würde wahr¬scheinlich am Tag viel Licht einlassen. Ein großes Bett stand in der linken Ecke mit einem kleinen Nachttisch-schränkchen und einer Lampe darauf. Die Tagesdecke für das Bett war schwarz mit jeweils einer roten Rose an den vier Ecken. Ein Schreib¬tisch stand an der rechten Ecke, wobei man dann mit der Seite zum Fenster saß. Auf ihm standen schwarze Rosen und ein paar Stifte in einem Stiftbehälter. Der Schreibtischstuhl war ein verschnörkelter alter Holzstuhl mit schwarzem Polster. Wobei das Polster mit zarten Rosen verziert war. Neben dem Schreib¬tisch, fast schon an der anderen Ecke, stand der Schrank, ein wuchtiger, großer Holzschrank, ebenfalls mit Rosen im Holz geschmückt. Hinter der Tür und halb neben ihr stand eine kleine Holztruhe. Wahrscheinlich für Kleinsachen. Links direkt neben der Tür war ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel. Das Zimmer erinnerte mich schon fast an ein Wohnheim. Vielleicht war es das mal? So viele Räume in einem Gang sind jedenfalls doch selten in einer riesigen Villa. Die Räume schienen nämlich alle nicht sehr groß gewesen zu sein.
 

»Und? Gefällt dir dein Zimmer?«, fragte mein Vater vorsichtig, als er merkte, dass ich nichts sagte.

»Ja. Es gefällt mir. Es ist wirklich schön.« War noch nicht mal gelogen. Ich war so schüchtern in der Gegenwart meines Vaters. Woher das wohl kam …
 

»Gut, dann lasse ich dich jetzt alleine. Du hast sicher Hunger. Es gibt dann auch in circa einer halben Stunde Essen. Du kannst dann runter kommen.«

Er wollte schon wieder aus dem Zimmer gehen, da stockte er und lächelte.

»Ich vergaß. Hier ist der Schlüssel für dein Zimmer. Sperr dich bitte nachts ein, das ist eine Bitte von mir.«
 

Verunsichert nahm ich den Schlüssel.

»Warum?«, fragte ich leise und umklammerte das goldene Ding.

»Es ist besser. Man fühlt sich doch dann auch sicherer, wenn man weiß, dass niemand reinkommen kann, oder?«, lachte mein Vater und trieb anscheinend Späße mit mir. Ich lachte auch zögerlich. Dann ging er.

Die Stille brach in den Raum ein. Ich drehte mich um und stellte meinen Koffer neben dem Waschbecken ab. Dann ging ich langsam zum Fenster und sah in die dunkle Nacht hinaus. Ich starrte auf den Wald und eine kleine Lichtung etwas weiter entfernt.
 

»Schon irgendwie gruselig hier …«, flüsterte ich für mich in die Stille. Als ich wie gebannt in die Schwärze sah, durchfuhr mich ein kalter Schauer über dem Rücken. Sofort zog ich die Bänder von den zurückgezogenen Vorhängen und ließ sie vor das Fenster fallen. Mir stand etwas Schweiß auf der Stirn.

Mir war, als durfte ich nicht hinausschauen.
 

Ich schüttelte den Kopf und fing leise an zu lachen.

»Jetzt fang ich schon an zu spinnen. Das ist wohl vom Flug.«

Ich legte meinen Koffer auf das Bett und öffnete ihn. Sofort lächelten mich die fünf Wälzer an, die meine Mutter mir eingepackt hatte. Ich nahm eins in die Hand.

»Die Liebe stirbt zu letzt …«, las ich murmelnd den Titel vor und legte es ganz schnell wieder weg. Ich raffte mich auf und stapelte die Bücher auf meinem Schreibtisch. Dort würden sie nun eine Woche lang bleiben. Noch starrte ich eine Weile auf mein getanes Werk, dann machte ich mich auf, um meine restlichen Dinge in den Schrank einzuquar-tieren. Es war sicher nicht viel, eher die Dinge von meiner Mutter zu verstauen, das war viel.
 

Als ich alles in die nette Holzkiste verdammt hatte, verstaute ich auch den Koffer im Schrank. Zufrieden über meine Arbeit, ließ ich mich auf dem Bett nieder. Es war gemütlich weich. Vorsichtig zog ich die Tagesdecke ein Stück zur Seite. Die Bettwäsche war weiß wie Schnee. Sie hatte kein Muster und die Nähte waren kaum zu sehen. Es waren Daunen, die im Kissen und in der Decke enthalten waren. Aber solch eine dicke Decke mitten im Sommer? Meine Mutter wechselte immer, wenn die Jahreszeiten wechselten. Aber es war wirklich nicht erstaunlich warm im Zimmer. Vielmehr war es frisch. Dabei hatte ich das Fenster nicht auf. Vielleicht lag es an den Wänden.
 

Plötzlich klopfte es drei Mal an meiner Tür.

»Ja?«, fragte ich und wartete eine Antwort ab. Stattdessen ging die Tür langsam auf.

»Würde der junge Herr Hiroshi zum Essen kommen?«, fragte Mamoru und verbeugte sich vor mir. Sofort sprang ich auf und ging zu ihm.

»Ja, ich komme. Aber …«, murmelte ich und beugte mich ein Stück zu Mamoru runter, der sich immer noch vor mir verbeugte, »… du brauchst dich nicht immer zu verbeugen. Ich weiß, dass ist reine Höflichkeit, aber ich mag das nicht so.«

Mamoru sah mich verwundert an und als ich ebenso verwirrt zu ihm sah, schien etwas in ihm aufgegangen zu sein.

»Verstehe, Herr Hiroshi. Kommen sie mit.«
 

Immer noch sichtlich verwirrt über die plötzliche Er-kenntnis in seinen Augen, folgte ich ihm langsam. Leise schloss ich die Tür und ging den langen Gang entlang. Er war zwar beleuchtet, aber es war mehr ein mattes Licht. Auch mein Zimmer war nicht allzu stark beleuchtet. Das machte natürlich die ganze Atmosphäre umso gruseliger. Aber ich war ja bei meinem Dad und in keinem Horrorfilm.

Mamoru führte mich nach unten in den Empfangssaal, danach ging er nach rechts und hielt mir eine große Tür auf. Ich trat ein und stand in einem mindestens genauso großen Raum, wie der Empfangssaal. Mitten in ihm stand ein großer Tisch mit vielen Leckereien gedeckt. An ihm saß mein Vater und wartete mit einem Lächeln auf mich. Seine Hände waren vor seinem Gesicht leicht gefaltet, was den Anschein auf hohe Manieren hatte. Und jetzt kam ich daher mit meinen »Schlampigen-Umgangsformen«.
 

Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl nieder, den mir Ma¬moru vorgeschoben hatte. Erst jetzt fielen mir die großen, gläsernen Kronleuchter über dem Tisch auf. Ich saß meinem Vater gegenüber, der mich immer noch anlächelte. Doch er schien recht weit weg zu sein, denn der Tisch war mindestens drei Meter lang.

Mamoru verbeugte sich und ging nach dem Nicken von meinem Vater. Ich fühlte mich unwohl. Und das zeigte ich wohl auch ziemlich deutlich.

»Für dich ist das hier ziemlich neu, oder?«, fragte mein Vater vorsichtig und legte seine Hände nun auf den Tisch.

»Ja, schon«, gab ich kleinlaut zu und versteckte meine Hände unter dem Tisch.

»Du brauchst dich nicht genieren. Fühl dich wie zu Hause.«

»Lieber nicht, sonst sieht es hier bald auch so aus, wie zu Hause …«

Mein Vater fand das wohl urkomisch und lachte laut. So witzig fand ich das nicht, denn ich meinte das ernst. Wenn ich mich wie zu Hause fühlen würde, sähe es spätestens in ein paar Stunden aus, als wäre vor ein paar Minuten eine Bombe explodiert. Ich bin halt nicht einfach …
 

»Wirklich, Hiroshi, iss was und fühl dich wie zu Hause. Immerhin ist das auch dein zweites zu Hause.«

Ich wollte mir gerade etwas zu Trinken nehmen, doch es stand nur Wein in einem Krug auf dem Tisch.

»Zweites zu Hause?«, wiederholte ich und ließ das erst mal mit dem Trinken.

»Ich bin dein Vater, Hiroshi.«

»Ja, schon. Aber … bis vor ein paar Stunden kannte ich dich aber noch gar nicht.«

»Ich weiß. Das tut mir auch Leid. Trotzdem, sei bitte nicht abweisend mir gegenüber. Du bist mein Sohn und das bleibst du ganz gewiss auch.«

»Sicher …« Mein Tonfall kam vielleicht ein wenig sarkas-tisch rüber.

»Hiroshi.«

Ich blickte nach oben und sah ihn an. Seine Augen waren dunkelbraun. Manchmal fragte ich mich, welche Gene ich abbekommen hatte. Ich hatte nichts von meinem Vater und nichts von meiner Mutter. Niemand hatte weißblonde Haare, niemand hatte blau-violette Augen und niemand hatte die Gesichtsform wie ich. Einmal glaubte ich, ich sei adoptiert gewesen, aber als ich dann die Babybilder von mir und meiner Mutter im Krankenhaus sah, verwarf ich den Gedanken schnell wieder.
 

»Ja?«, fragte ich auf meinen genannten Namen hin.

»Du möchtest sicher etwas trinken, oder?«, fragte er sehr freundlich.

»Hm, ja schon. Es ist nur Wein da … und ich bin nicht so der Wein-Fan«, murmelte ich und deutete auf den Krug mit der roten Flüssigkeit.

»Wein? Welcher Wein?«, fragte mein Vater etwas verwirrt.

Ebenbild

»Wein? Was für einen Wein meinst du denn?«, fragte mein Vater, sichtlich verwirrt über meine Aussage.
 

Wollte er mich reinlegen?

»Na, der, der da steht. In dem Krug«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf das Glasgefäß.

Mein Vater schien zu erschrecken und rief nach Mamoru. Der kam ganz schnell ins Zimmer und verbeugte sich vor ihm.
 

»Mamoru, schaffen Sie den Wein weg«, zischte er ihm zu und sah nicht gerade freundlich aus. Ich hätte es mir kaum vor¬stellen können, dass er auch mal böse sein könnte. Aber hier war nun das lebende Beispiel.

Mamoru verstand erst nicht ganz. Erst als mein Vater auf den Krug deutete, verstand Mamoru.

»Entschuldigen Sie, Herr Kabashi.«

Sofort entfernte er den Krug mit dem Wein und ver-schwand aus dem Raum.
 

Etwas verwirrt über den Ausraster meines Vaters, genier-te ich mich noch mehr.

»Es war doch nicht so schlimm, dass der Wein hier stand.«

Meinem Vater huschte sofort ein Lächeln über das Gesicht.

»Natürlich nicht. Aber Mamoru soll lernen, dass du noch ein Kind bist und noch keinen Wein bekommst.«

Kind?! Tz, wenn der wüsste, dass ich mit meinen Kum-pels immer Komasaufen veranstalte. Jedes Wochenende. Nur dieses Mal nicht. Heute Abend wäre bestimmt eine riesige Ferienfete gewesen. Aber ich sitze hier in einem Nobelschuppen bei meinem Vater, der sich gerade bei seinem Butler über einen vorhandenen Krug Wein beschwert hat.
 

»Ich weiß, Hiroshi, du siehst das mit dem Alkohol nicht so eng.« Er lächelte und musste sich wohl ein typisches Vater¬lachen unterdrücken.
 

»Klar, ich bin achtzehn. Ich trinke gerne mal ein Schlück-chen«, versuchte ich locker zu klingen und nahm mir ein paar Dinge von den leckeren Sachen, die da so köstlich und verführerisch vor mir lagen. Ich hatte einen Bärenhunger.
 

Während ich aß, saß mein Vater nur da und sah mir zu. Als es mir nach einer Weile zu unangenehm wurde, fragte ich ihn:

»Isst du nichts?«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Aber du hast seit dem wir hier sind nichts gegessen.«

»Das ist nicht schlimm. Ich esse selten viel.«

Ich nickte kurz und widmete mich wieder meinem Essen.

Als ich mehr als voll war, legte ich das Besteck auf den Teller und lehnte mich etwas zurück. Mein Vater sah glücklich aus, dass er mich satt bekommen hatte. Wir schwiegen eine Weile, dann ergriff ich das Wort und sprach das Thema an, was mir schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte.

»Sag mal, warum meldest du dich eigentlich erst nach achtzehn Jahren bei mir?«

Mein Vater lächelte immer noch und stützte seinen Kopf auf seine Hände.

»Weil ich vorher nicht dazu gekommen bin.«

»Was kann denn so wichtig sein, dass du deinen Sohn nicht mal anrufen kannst?«, spottete ich etwas. Entweder er machte große Show, dass ich sein Sohn war oder er hielt es für nicht so wichtig. Aber beides widersprach sich.

»Meine Arbeit.« Er klang auf einmal etwas abweisend.

»Was arbeitest du denn?«

»Ich bin Privatdetektiv.«

»Wirklich? Wow!«, sagte ich begeistert und konnte mir nun vorstellen, warum er sich so eine Villa leisten konnte.

»Na ja. Deswegen hat mich auch deine Mutter verlassen.«

Ich stutzte.

»Ich dachte, du hast sie verlassen?«

Nun stutzte er und sah mich verwundert hat. Dann lächelte er und fuhr sich langsam durchs Haar.

»Typisch deine Mutter. Verdreht alles.«

»Na ja, so aus den Fingern gezogen klang es eigentlich nie. Immerhin war sie deine dritte Ehe.«

»Schon. Aber meine zwei Ehen vor ihr sind nicht wegen mir zu Bruch gegangen. Die Frauen wollten einfach nicht mehr.«

»Und warum?«

Er holte tief Luft. Mein Herz fing an zu klopfen.

»Weil …«, fing er an, brach seinen Satz jedoch wieder ab.

»Weil?«, hakte ich nach. Er schüttelte leicht den Kopf.

»Weil ich ihnen erzählt hatte, dass ich Privatdetektiv bin und sie das ängstigte. Immerhin hatte ich auch manchmal Morde aufzuklären.«

Ich schwieg. So schwer war das doch jetzt nicht. Die Story klang mehr ausgedacht. Welche Frau steht denn nicht auf den Retter, der Privatdetektiv, der seine Arbeit gut macht und so eine Villa besitzt. Wenn ich jedoch an die unheimliche Atmo¬sphäre dachte, durchfuhr mich eine leichte Gänsehaut und ich konnte schlagartig verstehen, warum die Frauen nicht unbe¬dingt hier leben wollten.
 

Auf einmal hörte ich wen die Treppe runtergehen. Das war bestimmt Mamoru.
 

Aber der kam plötzlich zu uns ins Zimmer und holte eine leere Schüssel vom Tisch ab. Die Schritte hörten aber nicht auf. Doch als ich gerade fragen wollte, wessen Schritte das wären, hörten sie schon wieder auf. Ich bekam Angst. Aber gewaltige Angst.
 

»Und, warum meldest du dich jetzt? Wieso sollte ich so plötzlich vorbei kommen?«, fragte ich zur Ablenkung. Mein Vater sah anscheinend die Nervosität in meinen Augen, denn sofort verschwand sein Lächeln.

»Ist irgendetwas, Hiroshi?«, fragte er sanft und schien sich Sorgen zu machen.

»Alles in Ordnung«, antwortete ich ohne groß Nachzu-denken. »Also?«

Er nickte kurz und fing an zu erzählen.

»Ich wusste viele Jahre nicht, wo ihr euch aufhieltet. Jetzt, da ich euch gefunden hatte, wollte ich meinen Sohn auch mal sehen.«

»Sehr kurze Geschichte, Vater. Du hast wirklich achtzehn Jahre gebraucht, um festzustellen, dass wir im Süden Japans wohnen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe auch ganz schön viel Stress mit deiner Mutter gehabt. Hat sie dir nicht erzählt, dass ich öfter mit ihr telefoniert habe?«

Ich stutzte.

»Nein, hat sie nicht.«

»Typisch deine Mutter.« Er schüttelte den Kopf und machte ein trauriges Gesicht.

»Wolltest du mich denn nie sprechen?«, fragte ich vor-sichtig. Auf meine Mutter lass ich sicher nicht alles schieben.

»Hin und wieder. Aber ich habe meistens sehr spät abends angerufen, da warst du entweder weg oder schon schlafen. So oft habe ich auch nicht angerufen. Vielleicht alle halbe Jahre einmal.«

»Und wie hast du Mom dazu bekommen, dass sie mich zu dir lässt?«

»Ich habe sie wirklich darum bitten müssen. Und das Argu¬ment, dass es Zeit wird, ihn zu treffen, hat sie auch überzeugt.«

»Ihn?«, wiederholte ich und machte ein fragendes Gesicht.
 

»Möchtest du deinen Bruder sehen?«
 

Ich schwieg. Ich glaube, ich hielt sogar den Atem an.

»Bruder? Du hast geheiratet?«, fragte ich verwundert. Mein Vater verstand erst nicht ganz, doch dann lachte er.

»Aber nicht doch. Ich habe nicht wieder geheiratet. Dein Bruder, dein leiblicher.«

Ich zögerte. Dann musste ich vorsichtig grinsen.

»Vater, ich habe keinen Bruder.«

»Natürlich hast du einen.«

»Es gibt kein einziges Foto von ihm bei uns.«

»Deine Mutter mochte ihn auch nicht.«

»Wie bitte? Wie kann man denn sein eigenes Kind ver-stoßen? Wenn es wirklich noch eins gäbe.«

»Dein Bruder war kränklich. Er sollte nicht durchkom-men. Da habe ich ihn zu mir genommen, als wir uns getrennt hatten.«

Ich schüttelte langsam den Kopf. Dann sprang ich vom Stuhl auf.

»Erzähl doch keinen Mist! Ich habe keinen Bruder! Mom macht zwar viel, aber sie würde nie ihr eigenes Kind verstoßen, nie! Es müsste glaube ich schon ein blutrünsti-ges Monster sein!«, schrie ich und haute auf die Tischplatte. Das Lächeln meines Vaters verflog und er stand auch auf. Als er sogar auf mich zukam, zuckte ich zusammen.

»Was … Was willst du?«, schrie ich und lief auf die Gegenüber¬liegende Seite des Tisches. Ich hatte Angst vor meinem Vater. Er hatte seltsame Augen bekommen, wütende Augen. Augen, die einen gleich töten würden.
 

»Hiroshi, bitte. Gib ihm wenigstens eine Chance. Lern ihn erst einmal kennen.«

»Wen denn?«, fragte ich verzweifelt.

»Deinen Bruder Kiyoshi.«
 

Ich zögerte. Ich hatte also wirklich einen Bruder? Wie alt er wohl sein mag? Er musste auf jeden Fall jünger sein, denn sonst hätte ich es gewusst oder wage Erinnerungen an ihn gehabt. Ich schluckte heftig und merkte, dass ich einen ganz schönen Kloß im Hals hatte.

»Und … wo ist er?«, fragte ich leise.

»Oben, in seinem Zimmer.« Die Miene von meinem Vater besänftigte sich wieder und meine Muskeln ent-spannten sich.

Ich nickte vorsichtig.
 

»Komm, wir gehen zu ihm«, sagte mein Vater und ging aus dem Raum. Erst blieb ich stehen und überlegte. Aber ich würde eine Woche hier bleiben. Spätestens beim nächsten Essen oder durch Zufall auf dem Gang würde ich ihn treffen. Also ging ich langsam mit. Ich folgte meinem Vater nach oben und ging mit ihm durch den langen Gang. Genau an der dritten Tür blieb er stehen. Leise klopfte er drei Mal an.
 

»Kiyoshi? Hiroshi ist hier«, sagte er und wartete eine Antwort ab. Mein Herz klopfte dermaßen vor Aufregung, dass ich glaubte, es spränge mir gleich aus der Brust. Alles kam so plötzlich. Erst sehe ich Dad nach achtzehn Jahren das erste Mal und dann darf ich feststellen, dass er in einer riesigen Villa wohnt und sehr gut als Privatdetektiv verdient. Und dann erfahre ich von meinem Bruder, von dem ich noch nicht einmal wusste, dass er existierte.
 

Die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt. Im Raum war es sehr dunkel, aber nicht stockduster.

Mein Vater öffnete den Spalt noch ein wenig mehr, sodass ich in das Zimmer sehen konnte.
 

Dort saß ein junger Mann.

Er sah aus wie ich.

Das gleiche Gesicht.

Die gleichen Haare.

Die gleichen Augen.

Die gleiche Größe.

Nur sein Blick war kalt und düster.
 

Er saß auf der Fensterbank und starrte mich an. Seine Augen verformten sich zu Schlitzen und sein Mund zu einer graden Linie. Er trug ein schwarzes Hemd mit einer schwarzen Hose und schwarze Schuhe. Seine weißblonden Haare hingen ihm etwas im Gesicht und seine blau-violetten Augen stachen heraus. Auf dem Schreibtisch stand eine große Kerze, die das einzige Licht im Raum gab.

Es herrschte Stille. Niemand sprach ein Wort oder machte Ambitionen dazu. Er sah aus wie ich. Genau wie ich. Beängsti¬gend sein eigenes Gesicht vor einem zu sehen, ohne dabei in einen Spiegel zu blicken.

»Hiroshi, das ist dein Zwillingsbruder Kiyoshi«, brach mein Vater die Stille. Ich sah immer noch ziemlich geschockt aus und brachte kein Wort aus meinem eh schon offen stehenden Mund raus.
 

»Schön dich zu sehen, Hiroshi«, sagte mein Ebenbild in einer ähnlichen Stimme, wie sie mir gehörte, nur viel anmutiger und kühler. Er veränderte nicht seinen Ge-sichtsausdruck, nur sein Mund bewegte sich. Starr wie eine Salzsäule saß er da. Und starr wie ein Stein stand ich vor Schock an der Tür. Erst jetzt erkannte ich, dass er ein Buch gelesen hatte, welches er in der Hand hielt. Sein Zimmer sah genauso aus wie das, was mir gegeben wurde, nur dass es zur anderen Seite ging. Seine Vorhänge waren noch zusammen¬gebunden und sein Bett noch frisch gemacht. Nicht nur der Raum an sich, sondern auch er selber tunkte die ganze Situation in eine angespannt-unheimliche Atmosphäre. Ich hatte etwas Angst und die Gänsehaut stand mir auf dem Nacken.
 

Plötzlich lachte mein Vater los. Erschrocken sah ich ihn an.

Kiyoshi blickte durchdringend zu ihm und schien zu ver¬stehen, warum er lachte.

»Ich glaube, wir haben ihn jetzt genug geschockt«, lachte mein Vater und zwinkerte Kiyoshi zu. Der nickte nur und schaltete das Licht an einem Schalter an, der sich neben dem Bett befand. Dann blies er die Kerze aus und legte das Buch weg.

»Ich freue mich wirklich dich kennenzulernen, Hiroshi«, sagte Kiyoshi aber immer noch in einem höflichen und anmutigen Ton und reichte mir die Hand. Ich nahm sie zögerlich an und schüttelte sie leicht. Sie war kalt und fast wie aus Porzellan, sodass ich mich kaum traute sie richtig zu drücken. Ich war mehr als geschockt.

»Ich … mich auch …«, stammelte ich und ließ dann seine Hand los.

»Und wie ist es, sein Ebenbild zu sehen, Hiroshi?«, fragte mich mein Vater und schien etwas zu spotten.

»Es ist … als hätte man einen transportablen Spiegel vor sich.« Ich kam immer noch nicht aus dem Staunen heraus. Kiyoshi sah mich nur ausdruckslos an. Das ließ mich noch weiter zögerlich dreinblicken.

»Na ja, ich glaube, das reicht für heute, oder Hiroshi?«, fragte mein Vater.

»J-Ja.«

»Eine gute Nacht, Bruder«, sagte Kiyoshi kühl und blieb wie angewurzelt an der Stelle stehen.

»Äh, ja … Gute Nacht …«, stammelte ich, bevor mein Vater die Tür vor ihm zu machte.
 

»Geh jetzt auch besser auf dein Zimmer.«

»Was denn? Jetzt schon? Aber es ist doch gerade mal acht Uhr!«

»Der Tag beginnt für dich morgen ja auch schon um circa sieben Uhr«, grinste mich mein Vater an. Ich erstarrte.

»S-Sieben … Uhr?«, brachte ich noch gerade so raus.

»Natürlich. Kiyoshi und du habt euch sicher viel zu erzählen.« Damit ging er den Gang zur Treppe entlang.

»Dann dir auch eine gute Nacht, Hiroshi. Das Bad ist die erste Tür«, sagte er und ging um die Ecke die Treppe runter. Doch er kam noch einmal kurz wieder rauf.

»Und denk daran abzuschließen. Denk an meine Bitte.« Dann lächelte er sanft, winkte mir kurz zu und ging endgültig.

Da stand ich wie angewurzelt und wusste nicht was ich sagen sollte. Ich glaube, ich war noch nie so sprachlos, wie in diesem Moment. Abwesend trottete ich in mein Zimmer. Eigentlich wollte ich noch duschen, aber die Villa war mir in der Nacht nicht ganz geheuer. Ich würde morgen duschen.

Nachdem ich meine Zimmertür geschlossen hatte, drehte ich den goldenen Schlüssel in meinem Schloss um und ließ ihn dort stecken. Ich machte das Licht an. Langsam trottete ich auf mein Bett und ließ mich dort fallen. Steif vor Schreck wie ich war, saß ich auf meinem Bett und atmete tief ein und aus.
 

»Einen Zwillingsbruder …«, murmelte ich. Kiyoshi bedeutete so viel wie »Ruhig«. Das war er nach den ersten fünf Minuten wirklich. Viel zu ruhig. Er machte mir Angst. Vielleicht war es sogar ganz gut, das Zimmer abzuschließen.

Ich hatte gehofft, dass mein Vater Überraschungen für mich auf Lager hätte, aber solche? Auf solche hätte ich auch verzichten können.
 

Auf einmal gab es ein hohes Geräusch in meinem Zim-mer und ich erschrak. Schnell sprang ich von meinem Bett auf und rannte zur Tür. Dort beruhigte ich mich. Ich zitterte an den Händen und umklammerte feste den Schlüssel. Mein Atem war hektisch und unregelmäßig. Plötzlich huschte mir ein Grinsen übers Gesicht. Ich fing etwas an zu lachen und drehte mich dann langsam um. Es war nichts im Raum. Ich drehte nun völlig durch. Der erste Abend hier, gerade mal die ersten Stunden und ich wurde schon irre.

Ich ließ den Schlüssel los und ging in die Raummitte. Plötz¬lich ertönte das helle Geräusch ein zweites Mal. Wieder zuckte ich zusammen, aber ich erkannte es nun. Schnell rannte ich zu meiner Schultasche, die ich in den Schrank gestellt hatte und kramte mein Handy raus.

»Zehn verpasste Anrufe von meiner Mom …«, murmelte ich und bemerkte dann, dass das einfach nur der Erinne-rungsalarm von meinem Handy war. Ich wählte aber zuerst Jiros Nummer, ich hatte ihm ja auch versprochen, ihn anzurufen. Und ein Telefonat mit ihm wäre wesentlich kürzer als ein Telefonat mit meiner Mom. Langsam und mit noch immer zittrigen Händen, gab ich seine Nummer ein. Danach wartete ich einen kurzen Moment.
 

»Hey Hero!«, erklang die bekannte Stimme.

»Hallo Jiro.«

»Na, alles klar bei dir? Wie ist dein Dad so?« Er klang fröhlich.

»Ganz okay. Er sieht genauso aus, wie auf dem einen Foto, was ich dir mal gezeigt habe.«

»Ist ja cool. Und sonst? Hübsche Wohnung?«

»Wohnung? Das hier ist eine Villa!«, lachte ich etwas zögerlich.

»Im Ernst? Ist dein Dad reich?« Er klang ziemlich er-staunt. Gut, dass war ich auch.

»Ja, richtig reich. Er ist Privatdetektiv.«

»Ne, ist ja geil! Dein Dad ist ja mal spitze! Und verträgst du dich auch gut mit ihm? Vielleicht springt da mal was für dich-«

»Ich verstehe mich prima mit ihm«, redete ich ihm ins Wort. Eine kurze Schweigeminute brach ein.

»Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?«, fragte er vorsich-tig nach. Sollte ich ihm das erzählen? Erzählen, dass ich einen Bruder hatte?

»Alles in Ordnung. Wirklich. Ich bin nur was müde vom Flug«, log ich und schwieg danach.

»Verstehe. Hey, rufst du mich dann morgen noch mal an? So um die Zeit? Dann kannst du mir ja erzählen wie die Umge¬bung so ist.«

Das hätte ich jetzt schon tun können. Sie war waldig und gruselig. Überhaupt waren alle sehr mysteriös hier.

»Klar, mach ich. Ansonsten schreib ich dir eine SMS, wenn ich es nicht schaffe, okay?«

»Alles klar.«

»Gut, bis dann, Jiro.«

»Ciao, mach’s gut.«

Dann legte er auf. Langsam nahm ich das Handy von meinem Ohr und drückte auf den roten Hörer. Ich seufzte leise und nahm nun meine Mutter in Angriff.

Ich musste eine Weile warten, bis sie dran ging.
 

»Hiro? Schatz?«, meldete sie sich. Ihre Stimme klang schon sehr besorgt.

»Hey Mom. Alles klar hier«, beruhigte ich sie in einem meiner kühlen Arten.

»Wirklich, Schatz? Du kannst mir alles erzählen!«, erbet-telte sie schon fast. Ach ja. Sie weiß ja, dass ich einen Bruder habe. Obwohl ich ihr auch zutrauen würde, dass sie es nicht wissen würde.

»Na ja … Ich habe vorhin Kiyoshi kennengelernt.«

»… Und?«

Die Frage klang mehr, als ob ich erzählen würde, ich wäre in einem Film gewesen und sie möchte wissen, wie er gewesen ist.

»Er ist … nett«, gab ich kurz und knapp.

»Wirklich?«

»Ja, wirklich.«

»Und sonst nichts?«, hakte sie noch einmal nach.

»… Was soll denn noch sein?«

Da fiel mir ein, Vater erwähnte, dass er kränklich war bei seiner Geburt. Ob sie wissen möchte, wie es ihm geht?

»Nichts, ich dachte nur. Immerhin habt ihr euch noch nie gesehen«, murmelte sie. Es klang mehr nach einer Lüge. Meine Mutter konnte noch nie gut lügen.

»Wir haben auch nicht viel miteinander gesprochen. Vater hat uns vorgestellt, er hat gesagt, dass er sich freut mich zu sehen und das war’s eigentlich auch schon.«

Eine kurze Stille trat ein. Als meine Mutter lange nichts mehr sagte, fragte ich nach:

»Mom?«

»Findest du ihn irgendwie komisch oder beängstigend?«

Die Frage ließ mich stutzten. Erst schwieg ich, dann fing ich mich wieder.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Das Treffen an sich war alles noch etwas versteift, aber ich denke, das gemütliche kommt noch.« Ich erzählte ihr lieber nicht, dass ich fast vor Angst gestorben wäre und mir immer noch die Hände zitterten.

»Im Ernst? Ist er ein lieber Junge?«

»Ganz lieb, Mama. Ganz lieb.«

»Das freut mich …«, sie klang erleichtert. Wie eine richtige Mutter.

»Mom, ich geh jetzt schlafen.«

»Wirklich? Jetzt schon?« Sie klang ziemlich erstaunt. Es war auch erst halb neun.

»Ja, ich bin ziemlich müde, vom Flug auch. Und die ganze Aufregung mit Dad und Kiyoshi …«

»Dann ist gut. Schlaf schön mein Schatz, wir telefonieren morgen noch mal, okay?«

»Ja, okay.«

»Ich hab dich lieb und vermisse dich.«

Kurz schwieg ich. Ob sie Kiyoshi auch manchmal ver-misst hat?

»Ich dich auch, Mom.«

Dann legten wir auf. Ich seufzte in mich hinein. Dann starrte ich mein Handy an.
 

Plötzlich hörte ich ein Knarren. Es kam von draußen. Direkt vor meiner Tür. Ich sprang von meinem Bett auf, ging zur Tür und drehte mit weichen Knien und zittrigen Fingern den Schlüssel um. Als das öffnende Geräusch kam, hielt ich kurz inne. Ich atmete einmal tief ein und aus.

Dann riss ich die Tür auf und hielt den Schlüssel fest in meinen Händen, um ihn notfalls zur Wehr einzusetzen.
 

Doch auf dem Gang war niemand. Es war dunkel und still. Niemand war zu sehen, nichts war zu hören. Langsam ging ich aus meinem Zimmer. Vorsichtig und leise schloss ich die Tür und begab mich auf den Flur. Aufmerksam und mit starkem Herzklopfen schlich ich den Gang entlang. Es war so still, dass ich meinen abgehackten Atem hören konnte. Und wenn ich die Luft für einen kleinen Moment lang anhielt, hörte ich sogar meinen Herzschlag.

Die gedämpften Lichter von vorhin waren nun ausge-schaltet, sodass es selbst unten im Empfangssaal stockduster war. Niemand machte einen Mucks. War denn niemand mehr wach? Gingen die wirklich so früh schlafen?

Ganz sachte näherte ich mich der Treppe. Langsam fuhr ich mit den Fingern am Geländer entlang. Das Haus war gruselig. Und nicht nur das Haus, auch die Bewohner. Aber als selbst nach wenigen Minuten nichts geschah, beruhigte ich mich wieder und schlurfte zurück in mein Zimmer. Kurz davor rannte ich aber hinein. Sobald ich im Raum angekommen war, schmiss ich die Tür zu und schloss energisch ab, bis es nicht mehr ging. Ich vergewisserte mich, dass die Tür zu war und ließ dann langsam von ihr ab. Vorsichtig drehte ich mich um und sah mich im Zimmer um. Alles war noch an seinem Platz. Mein Herz schlug noch immer. So langsam fragte ich mich, wie ich überhaupt nachher schlafen wollte.
 

Vorsichtig zog ich meine Schuluniform aus. Ich lockerte meine Krawatte und legte sie über die Lehne des Stuhls. Dann zog ich meine Jacke aus und legte sie ebenfalls über die Lehne des Stuhls. Mit dem Blick zur Tür, knöpfte ich mein Hemd auf. Ich hing es ordentlich in den Schrank, kurz darauf auch meine Hose. Die Schuhe stellte ich neben dem Schreibtisch ab. Der Teppichboden war wirklich sehr weich. Trotzdem kramte ich meine Hausschuhe raus und zog mir meine Schlafanzughose über, gefolgt von meinem Hemd.
 

Ich hatte die Tagesdecke auf dem Bett gelassen, je mehr drauf war, desto mehr Schutz. Immer noch mit den Nerven am Ende und den zitternden Gliedmaßen, legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Als ich es nicht konnte, merkte ich, dass das Licht noch an war. Ich hatte Angst es auszumachen. Jedoch war niemand in meinem Zimmer. Die Tür war verschlossen und das Fenster auch. Niemand würde hineinkommen. Also legte ich langsam meine Hand auf den Lichtschalter. Noch einmal ging ich mein Zimmer mit den Augen entlang. Dann drückte ich den Lichtschalter um und vergrub mich innerhalb weniger Augenblicke in die Decke.
 

Ein ebenso spannender wie grauenhafter Tag …

Und ich war froh, dass er vorbei war. Jedoch war es nicht der Letzte.

Sündhafter Tag

»Hm …«

»Junger Herr Hiroshi, bitte stehen sie doch auf.«

»… Was? … Hä?«, murmelte ich, als ich die bekannte Stimme von Mamoru hörte.

Ich blinzelte kurz und sah in seine besorgten Augen. Dann erkannte ich, in welcher Lage ich mich befand: Mit einem Bein aus dem Bett, mit dem anderen drin und die Bettdecke um meine Taille gewickelt, lag ich halb tot in den weichen Kissen. Die Tagesdecke habe ich in der Nacht wohl rausgeschmissen, denn die hatte Mamoru über dem Arm liegen.

»Es ist schon nach zehn Uhr. Wollen sie denn nicht langsam mal aufstehen?«, fragte er mich und war sichtlich erleichtert, dass ich noch lebte und aufgestanden war.

»Was? Ich denke …«, murmelte ich. Hatte mein Vater nicht erwähnt, dass er mich um sieben weckt? Anscheinend hatte er wohl doch Erbarmen.

»Bitte machen sie sich fertig, Herr Hiroshi. Wir wollen gleich aufbrechen.« Mamoru machte eine Verbeugung und ver¬schwand aus dem Zimmer. Vorher legte er meine Tagesdecke auf den Schreibtisch.

»Aufbrechen? Wohin de-«

Doch da war er schon weg. Ich seufzte kurz und fasste mir dann in meine verstrubbelten Haare. Sie waren ein wenig fettig. Ich wollte ja duschen gehen, dachte ich im nächsten Moment und drückte mich aus dem Bett. Ich saß noch eine Weile stumm auf der Bettkante. Ich hoffte innerlich, der Tag würde besser werden als der gestrige.
 

Seufzend stand ich endgültig auf und zog den Vorhang beiseite. Mich strahlte die Sonne an und die Bäume gaben vereinzelt Schatten. Die Blätter bewegten sich mit dem Wind und man hörte schon vereinzelt Vögel. Vorsichtig drehte ich den Hebel des Fensters um und öffnete es. Eine warme Brise durchfuhr mein Haar und der Anschein des Bösen von gestern schien wie verflogen zu sein. Draußen war es hell und fröhlich. Ein wunderschöner Tag in einer wunderschönen Umgebung.
 

»Na? Genießt du das Wetter?«, kam eine Stimme von hinten. Ich drehte mich langsam um und sah in das Gesicht von meinem Vater.

»Hm, ja. Es ist schön heute«, sagte ich etwas leise und ver¬suchte den Augenkontakt mit ihm zu meiden. Als ob ich versuchen wollte, das gestrige Erlebnis vom Gang zu ver¬tuschen. Es war mir im Moment doch etwas peinlich.

»Ist etwas passiert, Hiroshi?«, fragte er und kam ein Stück näher. Er sah sehr besorgt aus.

»Nein … Nein, es ist nichts passiert«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Plötzlich schien er erleichtert.

»Hast du gut geschlafen?« Sein Grinsen ging ihm über beide Ohren und er kam noch ein Stück näher an mich heran.

»Äh … Ja, doch. Wie ein Stein.« Er musste lachen und nickte kurz.

»Dann bin ich froh. Komm gleich runter zum Essen. Es steht schon auf dem Tisch.«

»Ja, in Ordnung«, flüsterte ich und sah meinem Vater hinter¬her, wie er den Raum verließ.

Schon seltsam.

Er kommt herein, ohne dass ich ihn gehört habe. Dabei war es so still in meinem Raum.

Ich erklärte mir den Vorfall, indem ich mir sagte, dass ich in Gedanken versunken war. Langsam zog ich mir Sachen aus dem Schrank. Ich trottete zur Tür und musste Schlu-cken als der Schlüssel umgedreht in der Tür steckte. Die Tür sollte abge¬schlossen sein, denn der Hebel zum verriegeln stand aus ihr heraus. Ich konnte mich auch erinnern die Tür abgeschlossen zu haben. Wie kam Mamoru hier rein? Vielleicht hatte er einen Ersatzschlüssel? Aber warum schloss er dann die Tür ab, ohne sie an das Schloss anzulehnen? Und dass die Tür nicht richtig zu war, konnte auch nicht sein, denn ich hatte mich ja verge¬wissert, dass sie zu war.

Meine Nackenhaare stellten sich ein wenig auf. War jemand in der Nacht hier? Sehr unwahrscheinlich.
 

Ich öffnete die Tür und drehte den Schlüssel wieder richtig. Dann ging ich auf den Gang zum Bad. Vorsichtig öffnete ich sie und spähte hinein. Sofort traf mich wieder das Erstaunen:

Ich blickte in ein weißes, marmornes Bad, welches nicht nur mit riesigen Spiegeln sondern auch mit einem Whirl-pool geschmückt war. Die Toilette befand sich an der linken Wand, so wie das Waschbecken mit einem riesigen Spiegel darüber. Direkt geradeaus stand der Whirlpool, der in den Boden eingearbeitet war. In der rechten Ecke war noch eine Dusche platziert. Direkt neben ihr viele kleine weiße Schränkchen, darüber wieder Spiegel. Auf dem Boden befanden sich königsblaue Teppiche, die sehr weich aussahen.

Langsam tastete ich mich auf einen der Teppiche und musste feststellen, dass er so weich war, wie er aussah. Ich warf meine Sachen auf einen der weißen Schränke und zog mir mein T-Shirt aus. Da fiel mir ein, lieber abzuschließen. Zu meiner Enttäuschung fand ich aber weder ein Schlüssel-loch noch irgendetwas anderes, womit man die Tür hätte abschließen können. Verzweifelt suchte ich nach irgendet-was, womit man jemandem hätte zeigen können, dass ich im Bad war.
 

Vorsichtig machte ich die Tür auf und sah mich im Gang um. Kurz blieb mein Blick an der Tür von Kiyoshi stehen. Ob er da war? Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, wie man die Tür hier zubekommt.

Ich hätte mich für den Gedanken schlagen können. Na, wer war ich denn? War ich nun locker oder nicht? Ich hatte doch sonst nie Hemmungen einfach jemanden zu fragen.

Vielleicht lag es daran, dass es mein komischer Bruder war. Bruder … Das Wort für mich zu benutzen war wie der Satz »Ich koche«, den ich vor drei Tagen benutzt hatte.
 

Ich ging zu der Tür und klopfte vorsichtig an. Es kam keine Antwort. Sofort sank mein Mut und ich fing wieder an etwas zu zittern. Es fühlte sich an, als ob etwas in diesem Raum war, vor dem ich Angst haben sollte. Mächtige Angst.

Ich klopfte noch einmal an. Doch dann hörte ich plötz-lich ein Klacken und Schritte. Die Tür wurde schlagartig aufgerissen und mein Ebenbild sah mich verärgert an.

»Was ist?«, fragte er genervt, jedoch war er wieder anmu-tig wie gestern. Er sah wirklich nach etwas Besserem aus.

»I-Ich wollte nur fragen, wie das mit dem Bad ist … Kann man das abschließen?«

»Nein.«

Eine sehr kühle und direkte Antwort.

»Und wie mache ich erkennbar, dass ich drin bin?«

»Denk dir was aus«, motzte er mich an und wollte die Tür schon zudrücken.

»Warte!«, rief ich ihm noch dazwischen. Er hielt inne, beließ die Tür aber bei einem Schlitz.

»Was?«

» … «

Sollte ich ihm von gestern Abend erzählen, dass ich etwas gehört hatte?

»Ach, schon gut«, murmelte ich und drehte ihm den Rücken zu. Sofort hörte ich die Tür in das Schloss einrasten.
 

Ich schlurfte wieder zum Bad zurück und beschloss einfach meine Hausschuhe vor die Tür zu stellen. Notfalls konnte ich ja immer noch »Nein« schreien. Ich zog mir nun auch meine Hose und Boxershorts aus.

Vorsichtig stieg ich in die Dusche und versuchte mit dem modernen Duschsystem klar zu werden. Es war ein Hebel, der die Temperatur verstellen konnte, angebracht und ein Dusch¬kopf. Doch wie man das Wasser anmachen konnte, war mir schleierhaft. Ich drehte ein paar Mal am Tempera-turhebel. Da entdeckte ich einen anderen Griff. Unsicher, ob das auch der richtige war, drehte ich dran.

Sofort schoss kochendheißes Wasser aus der Brause, direkt auf meinen Kopf.
 

Ich schrie wie am Spieß und sprang wieder aus der Dusche.

Auf einmal wurde die Badtür aufgerissen und ich sah ge¬schockt in die Augen von Kiyoshi. Der, ebenfalls erschrocken, sah eher Kampfbereit als zur Hilfe kommend aus.

»Was ist los?«, fragte er mit lauter Stimme, jedoch hörte es noch unter Kontrolle gehalten an.

»Nichts … Das Wasser war … Nur ein wenig zu heiß«, stammelte ich und versuchte mich von der heißen Haut zu beruhigen.
 

»Das Wasser?«, wiederholte er, was ich gesagt hatte und sah wieder etwas genervt aus.

»Ja, ich wusste nicht genau, wie man das Wasser anstellte und da- …«

»Geh dich wieder duschen …«, sagte er recht abweisend und ging wieder aus dem Badezimmer. Erst als ich versuchte zu verstehen, warum er so schnell wieder das Bad verließ, lief ich rot an.

Er hatte mich nackt gesehen; natürlich, ich stand hier ja auch ohne Kleidung! Und das schon beim zweiten Treffen. Na wunderbar.
 

Aber warum sollte mir das wichtig sein? Ich habe Lampe auch das erste Mal gesehen, da leckte sie gerade halb nackt mit einem anderen Mädchen rum. Auch nicht gerade eine tolle Begrüßungs¬szene. Es schien mir aber wichtig zu sein, diesem Kiyoshi zu zeigen, dass ich auch so toll sein kann wie er sich fühlte. Ich fand ihn nicht toll, er kam nur arrogant mit seiner Art rüber.

Trotzdem hatte er was. Das gleiche was auch mein Vater hatte. Diese Anmut und dieser Stolz, der immer sichtbar war. Nicht nur für mich, sondern wahrscheinlich für jeden. Immer¬hin konnten sie aber auch von sich behaupten, etwas Besseres zu sein. Bei der Villa …
 

Ich streckte meinen rechten Arm in die Dusche und drehte den Temperaturhebel auf etwas kühler. Kurz danach begab ich mich wieder zurück hinter das milchige Glas der Duschkabine und fing an mich endlich abzubrausen. Das Duschgel und das Shampoo waren an der Wand befestigt. Es sah sehr originell aus. Wäre eine Idee für meine Mutter gewesen.

Obwohl das Haus sehr alt an manchen Stellen ist, ist es doch modern. Das Bad und auch die Einrichtung sahen sehr neu aus. Was wir heute wohl machen würden?
 

Als ich fertig war, zog ich mich an und rubbelte meine Haare etwas trocken. Leider suchte ich vergebens nach einem Föhn, doch ich wollte Kiyoshi nicht noch mal auf die Nerven gehen.

Mit feuchten Haaren begab ich mich mit meinem Schlaf-anzug im Arm in mein Zimmer zurück. Ich stockte leicht, als die Tür einen Spalt geöffnet war. Vorsichtig stupste ich sie kurz an, damit sie weiter aufging. Aber in meinem Zimmer war niemand. Ich ging einen Schritt hinein, sah mich um und als ich niemanden erblickte, warf ich meinen Schlafanzug auf mein Bett. Schnell begab mich aus dem Zimmer. Vorsichtshalber nahm ich den Schlüssel mit, schloss aber nicht ab.

Unten angekommen, begrüßte mich mein Vater mit einer seiner Unterlagen unter dem Arm.
 

»Hallo, Hiroshi. Bist du fertig?«, fragte er freundlich und wieder mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Äh … Ja, bin ich. Muss nur noch kurz was essen.«

Er nickte und wollte schon weitergehen, da entdeckte er meine nassen Haare.

»Willst du dir deine Haare nicht trocken föhnen?«, fragte er besorgt und wollte schon auf mich zu gehen, da schüttelte ich schon den Kopf.

»Nein, nein. Ich lass die meistens so trocknen.«

Ich musste mich leicht räuspern, als Mamoru hinter meinem Dad stand und grinsen musste. Er schien wohl zu wissen, dass ich den Föhn nicht gefunden hatte.
 

»Dann ist in Ordnung. Aber verkühl dich nicht«, sagte mein Vater und ging seinen Weg weiter in Richtung eines Zimmers, welches von der Haustür aus gesehen links war.

Eine Weile blieb ich an der Treppe stehen. Dann begab ich mich in das Esszimmer von gestern. Der lange Tisch war an einem Ende, wo ich auch gestern gesessen hatte, gedeckt. Leckere Dinge strahlten mich an. Wunderbare Dinge, die es bei meiner Mutter nie gegeben hätte.

Glücklich setzte ich mich an den Tisch und fing an mich zu bedienen. Erst als ich schon am essen war, fiel mir auf, dass etwas fehlte. Ich saß wirklich ganz alleine am Tisch. Niemand war in diesem riesigen Esszimmer. Und auch der Tisch selber war wirklich nur für mich gedeckt. Ich musste leise schlucken. Andere Himmelsrichtungen, andere Sitten. Anscheinend. Obwohl ich den Norden nun nicht gut kannte.
 

Als ich fertig war, dachte ich kurz nach. Kiyoshi, mein Zwillingsbruder, ist so stur und abweisend. Genau das Gegen¬teil meines Vaters, der sehr nett und schon fast zu freundlich ist. Mamoru ist der seltsame Butler, der Türen auf mysteriöse Weise öffnen kann. Also noch einmal fürs Protokoll: Kiyoshi, mein Zwillingsbruder, ist dauer-unfreundlich und arrogant. Mein Vater ist dauer-freundlich und viel beschäftigt. Mamoru ist der Butler und kann zugesperrte Türen leicht öffnen und sie dann so aussehen lassen, als ob nie etwas passiert wäre. Und alle drei gehen um punkt acht schlafen.

Wo bin ich gelandet?
 

Ich stand auf und schob meinen Stuhl wieder an den Tisch. Langsam schlurfte ich aus der Tür in den Empfangs-saal. Dort stand mein Vater im kompletten Anzug mit meinem Bruder, der ebenfalls zugepackt bis zum Hals an der Tür stand.
 

»Hiroshi! Komm, wir fahren los und zeigen dir die Gegend«, rief mir mein Vater zu und grinste wie immer freundlich.

»Äh … Jetzt?«, fragte ich etwas perplex und konnte nicht ganz verstehen wie man mitten im Sommer mit einem Anzug und einem dicken Mantel rumlaufen konnte.

»Natürlich. Komm, zieh dir die Schuhe an und wir fahren los.«

Verwundert über den plötzlichen Aufbruch ging ich ebenfalls zur Tür. Dann erinnerte ich mich, dass meine Schuhe ja oben in meinem Zimmer standen.

»Ich muss noch mal kurz hoch, da stehen meine Schuhe-«, fing ich an, drehte mich schon halb um und lief fast gegen Mamoru, der mir meine Turnschuhe hinhielt.

»Bitte sehr«, sagte er in einem sehr höflichen Ton und ver¬beugte sich wieder halb, als er mir meine Schuhe hinhielt. Verwirrt nahm ich sie entgegen und zog sie mir an.

»Äh … Danke …«

Er war in meinem Zimmer? Ich hatte ja nicht abgeschlos-sen.
 

»Können wir, Hiroshi?«, fragte mein Vater und öffnete schon die Tür. Ich nickte kurz und ging mit schnellen Schritten auf ihn zu. Kiyoshi stand noch neben mir und starrte mich mit demselben ausdruckslosen Blick an, wie er ihn immer hatte. Seine Haare hingen ihm im Gesicht und seine blauen Augen sahen kalt aus. Wir waren uns so ähnlich, aber irgendwie doch nicht. Ich war der festen Überzeugung anders auszusehen. Und sympathischer zu sein.

Ich ging aus der Tür und genoss die Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es fühlte sich schön an. Als ich aber nichts hörte, drehte ich mich kurz um. Kiyoshi ging auch aus der Tür und zog sich seine Kapuze auf. Die Hände in den Hosentaschen und die Beine in der langen Jeans versteckt, schlurfte er den Weg entlang. Es war heiß und die Sonne knallte auf unsere Köpfe und Kiyoshi lief mit einer dicken Jacke rum. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Er muss das machen. Er ist doch etwas kränklich.«

Ach ja. Mein Vater erwähnte das. Erst jetzt bemerkte ich den Schatten über mir.
 

»Und warum trägst du einen Sonnenschirm mit dir?«, fragte ich meinen Vater und starrte auf den grauen Schirm.

»Nur so.« Er grinste wie immer freundlich, sodass ich meine anderen nervigen Fragen runterschluckte. Langsam ging ich den bepflasterten Weg entlang, der an der Seite mit schönen Blumen geschmückt war. Mein Blick war wohl vielverratend, denn mein Vater sprach mich wieder an:

»Na, gefällt dir der Garten?«

»Ja, er ist mir gestern Abend gar nicht so aufgefallen.« Ich konnte meinen Blick nicht von den Blumen lassen. Meine Mutter liebte Blumen. Vielleicht frage ich meinen Vater mal, ob ich ihr welche mitbringen darf.

»Es war ja auch dunkel, da sieht man ja sowieso nicht so viel.«

»Ja, stimmt.«

Dann schwiegen wir wieder und ich bemerkte, dass Kiyoshi einige Meter vor uns herging. Er schien nicht begeistert von unserem Waldspaziergang zu sein.

»Hat er irgendwas?«, fragte ich meinen Vater vorsichtig, der von seinem Verhalten nicht begeistert zu sein schien.

»Er ist halt pubertär, wie ihr Jungs in eurem Alter seid«, sagte er sanft und grinste vor sich hin.

»Das lässt er aber ganz schön raus …«, murmelte ich. Im nächsten Moment versuchte ich den Gedanken loszuwer-den, dass ich meine Laune auch oft und vor allen Dingen gerne an meiner Mutter ausließ.

»Entschuldige ihm das. Es ist für ihn immerhin auch nicht so leicht, seinen Bruder nach so langer Zeit wiederzu-sehen.«

»Aber er wusste wenigstens, dass es mich gibt.«

»Das ist deine Mutter schuld.«

»Ich weiß …«

Und schon wieder schwiegen wir vor uns hin.

Der Weg, den wir entlang gingen war grün und an manchen Stellen sogar bunt bepflanzt. Es war eine schöne Atmosphäre, wobei diese schnell wieder durch Kiyoshis schlechte Lauen zerstört wurde.
 

»Wollten wir nicht ‚fahren’?«, fragte ich nach kurzer Zeit und erinnerte mich an die Worte meines Vaters.

»Wir fahren mit der Straßenbahn in die Stadt. Das ist doch sicher schöner für dich, oder?« Mein Vater lächelte mich an und erwartete eine Antwort wie ‚Ja’.

»Oh, ach so. Ja, natürlich.«

Ich wusste nicht wieso, aber ich stimmte meinem Vater trotz meines Widerspruchs in mir zu. Ich fand Bahnfahrten schon immer langweilig.
 

Mein Vater gab sich danach zu frieden und blickte zu Kiyoshi. Der blieb an einer Kreuzung stehen und wartete anscheinend auf uns. Jedoch zeigte er uns immer noch den Rücken.

»Wo lang?«, fragte er schroff, als wir neben ihm standen.

»Zu Straßenbahn. Wir fahren in die Stadt«, sagte mein Vater sanft und lächelte leicht. Kiyoshi sah ihn noch nicht mal an und ging nach links, wo das riesige Tor von gestern war. In meinen Gedanken spukte der Satz, dass ich mein Kind anschreien würde, wenn es so mit mir herumspringen würde. Mein Vater und ich gingen Kiyoshi einfach hinterher, wobei der Abstand zu dem davor geringer wurde.
 

Sofort, als wir durch das Tor gingen, wurde es schlagartig laut. Wir standen noch auf dem Kiesweg, doch vor uns bildete sich schon ein Betonweg, umringt von Gras. Direkt danach kam eine große Straße mit vielen Autos und LKWs. Das Entsetzen über diesen Umschwung war mir wohl im Gesicht geschrieben, denn mein Vater lachte leise und legte seine Hand auf meine Schulter.

»Der Wald dämpft diese Geräusche gut ab.«

Mich durchfuhr ein kalter Schreck und ich drehte mich ruckartig um, wobei ich seine Hand leicht weg schlug.

Sein Gesicht schien erst überrascht und als ich zur Ent¬schuldigung ansetzen wollte, schüttelte er den Kopf und winkte ab. Dann lächelte er wieder und sagte:

»Schon in Ordnung.«

Ich seufzte leise und hörte mein Herz heftig schlagen. Mich hatte in dem Moment ein kalter Schauer überwältigt.

Als ich mich wieder in Richtung Straße umdrehte, blickte ich in Kiyoshis Augen. Er hat meine Reaktion wohl beobachtet. Ich versuchte zu lächeln, doch meine Mund-winkel wollten sich nicht bewegen. Kurz darauf drehte er sich weg und starrte in eine andere Richtung. Langsam blickte ich mich nun auch um.

»Wo sind wir eigentlich?«, fragte ich murmelnd und blickte meinen Vater fragend an.

»Wir sind an der Hauptstraße. Gleich dahinten ist die Halte¬stelle.«

Ich sah in die Richtung, die mein Vater angedeutet hatte und erblickte eine kleine Haltestelle, an der ein paar andere Leute standen. Endlich andere Menschen. Himmel sei Dank, ich bin nicht alleine mit diesen seltsamen Leuten auf der Welt, dachte ich
 

»Hier sind wir aber gestern nicht lang gefahren, oder?«, fragte ich erneut und hoffte meinen Vater nicht mit meinen ständigen Fragen zu nerven.

»Nein, nein. Das hier ist das Südtor. Gestern sind wir durch das Nordtor gekommen.«

»Und wie viele gibt es?«

Die Frage erledigte sich, als mein Vater lachte. Manchmal sollte ich erst denken und dann reden.

Mein Vater und Kiyoshi gingen langsam los und stellten sich brav an eine Ampel. Sie war noch rot. Ich trottete zu ihnen, obwohl ich lieber über rot gegangen wäre. Das tat ich immer, wenn kein Auto zu sehen war. Aber dieses Mal war mein Vater und mein Bruder da. Und beide waren seltsam ordentlich und pflichtbewusst in der Beziehung. Manchmal kam mir der Gedanke, dass Kiyoshi in der Schule ein ganz schöner Loser sein müsste, aber seine feine und grazile Art machte alles Streberhafte wieder wett.
 

Es wurde grün und die beiden stürmten schon fast los. Mein Vater ging in riesigen Schritten über die Straße, während Kiyoshi beinahe über den Boden flog, so schnell ging er. Ich stand noch regungslos an der anderen Seite und realisierte erst einmal, dass die Ampel grün geworden ist. Dann ging auch ich stutzend über die Straße und rannte etwas, da die beiden nicht daran dachten auf mich zu warten. Erst als ich rief, drehte mein Vater sich um und wurde langsamer.

»Halt! Ich bin nicht so schnell!«

»Tut uns Leid, Hiroshi, aber die Straßenbahn wird gleich kommen. Wir müssen uns etwas beeilen«, sagte mein Vater und nahm mich lächelnd am Handgelenk, während ich im Augen¬winkel Kiyoshi weiter rennen sah. Obwohl es weniger ein Rennen war, sondern mehr ein fließendes, schnelles Gehen. Mein Vater riss mich schon fast mit sich und versuchte mit mir an der Hand mit Kiyoshi Schritt zu halten. Und tatsächlich sah ich schon die Straßenbahn, wie sie langsam die grade Straße entlang fuhr. Sie hielt kurz an der Haltestelle und gerade so huschte Kiyoshi rein, um uns die Tür aufzuhalten. Zuletzt huschten mein Vater und ich dazu. Danach schloss die Tür und die Bahn fuhr los.
 

Die Bahn sah neu aus und gemütlich. Graue Sitze und ein grauer Boden verkörperten das Innere und rote Stangen zum Festhalten kamen aus dem Boden und gingen bis zur Decke. Es war sehr leer, nur die Leute, die an der Haltestel-le standen, saßen vereinzelt auf den Sitzen und beschäftigten sich mit Dingen, die sie bei sich hatten.

Kiyoshi ging langsam den schmalen Gang entlang, mein Vater und ich folgten. Dann setzte er sich auf einen Sitz, neben dem noch einer frei war. Ohne eine Mimik starrte er aus dem Fenster. Jedenfalls glaubte ich, dass er das tat, denn unter seiner Kapuze sah man nicht viel von seinem Gesicht.

»Setz dich, Hiroshi«, sagte mein Vater und ging lächelnd an mir vorbei. Danach setzte er sich auf den Sitz, der hinter Kiyoshi war und drehte uns sozusagen den Rücken zu. Ich schluckte etwas und sah dann zu meinem Bruder. Anmutig wie immer, saß er auf dem Sitz und verschränkte leicht die Arme vor seiner Brust. Vorsichtig und ganz langsam setzte ich mich neben ihn, ohne dabei die Augen von ihm zu lassen.

»Gibt es einen Grund, warum du mich so anstarrst?«, fragte er plötzlich in einem kühlen Ton, der mich kurz zusammenfahren ließ.

»Äh … Nein, also … Nein, gibt keinen Grund«, stammel-te ich und wendete meinen Blick von ihm. Er hat mich doch gar nicht angeschaut, woher wusste er, dass ich ihn beobachtete? Vielleicht sah er mich im Fenster. Spiegelbild, so was halt.
 

Dann schwiegen wir wieder und ich wusste gar nicht wo ich hinschauen sollte. Also sah ich mir die anderen Menschen in der Bahn genauer an. Vor uns saßen zwei Frauen. Eine auf der linken Seite, die andere auf der rechten Seite. Beide circa auf selber Höhe. Die auf der linken Seite war blond, lockig und hörte Musik. Sie schien genau den Musikstil zu hören, den ich nicht mochte. Dagegen die andere auf der rechten Seite, sah mehr nach Lampe aus. Jedoch hatte diese Dame pechschwarze Haare und trug auch sonst nur schwarz. Offen und glatt lagen ihre Haare auf ihren Schultern, während sie ein Buch las. Wer hinter uns saß, konnte ich nicht erkennen, doch ich wusste, dass da noch ein älterer Mann, eine Oma und eine Mutter mit einem kleinen Kind waren.
 

Sofort trat wieder die Langeweile ein. Ich sah auch aus dem Fenster und merkte, dass wir über ein Feld fuhren. Auf der anderen Seite war auch nur Feld. Vor uns erkannte ich leicht die andere Stadt, zu der wir wohl fuhren. Hinter uns war demnach die Stadt, in der ich für eine Woche wohnen würde. Sowohl mein Bruder als auch mein Vater waren seltsam. Von Mamoru keine Rede, der war auch nicht normal. Das ganze Anwesen war mehr ein Spukhaus, als ein gemütliches Zuhause. Und jetzt erfahre ich auch noch, dass unser kleines Städtchen sich in einer Einöde befindet. Wohlmöglich fährt diese dumme Straßenbahn auch nur einmal am Tag und in eine Richtung, dachte ich vor mich in und wendete meinen Blick wieder zu Kiyoshi.

»Ist dir nicht warm?«, fragte ich Kiyoshi vorsichtig und versuchte seine Augen zu suchen.

»Nein.«

Wieder kühl und abweisend, aber immer noch anmutig. Ich zuckte kurz mit den Schultern und beließ es dabei. Wenn er nicht mit mir reden wollte, dann nicht. So was hab ich nicht nötig, dachte ich mir beiläufig.

Er wendete seinen Blick nicht vom Fenster und verharrte Minutenlang in seiner Position. Ich musterte ihn etwas genauer, auch wenn er mich wahrscheinlich wieder anmaulen würde.
 

Seine Jacke war schwarz und nicht dick, aber schon aus festerem Stoff. Seine Kapuze war ihm etwas zu groß und hing ihm schon fast auf der Nase. Er trug eine gräuliche Jeans, die etwas eng anlag, aber noch nicht so, dass es unmöglich aussah. Aber bei mir mussten Hosen auch extrem weit geschnitten sein, weswegen mir seine Hose vielleicht etwas zu eng vorkam. Unter der Hose blitzten schwarze Turnschuhe heraus, die mich an meine erinnerten. Meine Mutter wusste die Marke, ich merkte mir so was ja nicht. Irgendwas mit Converse … Oder so.

Erst jetzt fielen mir seine Hände auf, die aus der langen Jacke herausstrahlten. Sie waren schneeweiß und seine Venen stachen blaugrün aus seiner Haut. Hätte ich noch genauer geschaut, hätte ich wahrscheinlich sein Blut fließen gesehen. Einen derartig blassen Mann hatte ich noch nie gesehen. Im Gegensatz zu ihm war ich ja braun gebrannt. Und ich war schon sehr blass …
 

Auch wenn ich ihn nicht besonders gut leiden konnte, ich musste mich einfach in dem Moment unterhalten, sonst wäre ich vor Langeweile eingegangen.

»Auf was für eine Schule gehst du eigentlich?«

Er schwieg und zeigte keinerlei Reaktion. Erst als ich den Mund öffnete, um mich zu erkunden, ob er mich auch verstanden hatte, sprach er.

»Auf eine Privatschule«, bemerkte er knapp. Wieso war mir das klar? Papa hat viel Geld und klein Söhnchen darf auf die Privatschule nebenan gehen. Wohlmöglich ist er auch noch hyperintelligent und schreibt Glänznoten.

»Verstehe. Wie ist es da so? Ich bin ja auf einer Staatli-chen Schule.« Es interessierte mich zwar nicht, aber ich interessierte mich für seine arrogante Redeart. Immer wenn er sprach, durchfuhr mich so ein seltsames Gefühl. Es war ein Gefühl der Angst, aber auch der Anziehung. Ich drehe schon am Rad, dachte ich genervt und wartete seine Antwort ab.

»Ganz … lustig.«

»Klingt ja nicht grade umwerfend.«

»Es ist halt Schule.«

» … « Tatsächlich hatte er Recht. Es war halt Schule. Ich habe wohl erwartet, dass er seine Schule, wie ein normaler Streber halt auch, sein zweites Zuhause nannte. Verwunde-rung durchfuhr wohl mein Gesicht, denn er sah mich endlich an. Ich er¬kannte seine Augen, die wie meine aussahen, aber doch ganz anders waren.

»Magst du Schule etwa?«, fragte er monoton, als ob es ihn überhaupt nicht interessieren würde.

»Natürlich nicht. Ich scheiß auf Schule«, meinte ich locker und ließ mich im Sitz sinken.

»Ach so.«

Ich zog meine linke Augenbraue hoch und sah ihn von der Seite aus an.

»’Ach so?’ Hast du jetzt eine Erleuchtung bekommen, oder warum klang das grade etwas verarschend?«

»Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht so gut in der Schule bist …«, sagte er und grinste schon fast, »… aber dass du auch noch so ignorant der Schule gegenüber trittst, hätte ich nicht von dir erwartet.«

Angewidert sah ich ihn an.

»Wenn du streit mit mir suchst, dann sag’s. Wenn nicht, dann halt die Klappe, so was hab ich nicht nötig. Du redest wie meine Mom.«

»Unsere Mutter«, korrigierte er.

»Bin ich mir nicht sicher. Wir sehen zwar gleich aus, aber du bist vollkommen anders als ich.«

»Wäre ja auch eine ziemliche Schande so zu sein wie du.«
 

Ich riss die Augen auf und positionierte mich aus meiner lockeren Sitzstellung in eine Angespannte.

»Bitte was?«, fragte ich gereizt und kochte innerlich schon.

Er zuckte nur mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster.

Ich wollte schon nach seiner dummen Jacke greifen und ihn mir vorknöpfen, da riss mir mein Vater die Hand weg.

»Lass gut sein, Hiroshi«, sagte er sanft.

»Aber Dad! Er hat gesagt, dass …«

»Ich hab’s gehört. Kiyoshi, darüber reden wir noch. Und jetzt entschuldige dich bei Hiroshi.«

Als mein dämlicher Bruder keine Reaktion zeigte, mahnte mein Vater ihn erneut.

»Kiyoshi. Sofort.«

»Sorry.«, murmelte er in seine Jacke, wendete seinen Blick aber nicht vom Fenster ab.

Mein Vater schüttelte nur den Kopf und versuchte mir zuzulächeln, doch es sah gekränkt aus. Kiyoshi schien doch kein so lieber Junge zu sein, wie er schien. Danach drehte mein Vater sich wieder um und es herrschte wieder Stille …

Seltsame Sitten

Die Endstation rückte immer näher. Ich fragte mich bei jeder Haltestelle, ob wir hier aussteigen würden. Wir waren schon längst in der Stadt und die Bahn füllte sich dement­sprechend. Es war schön, wieder mitten im Leben zu sein. Kiyoshi schien das weniger zu gefallen, da er immer mehr in seinem Sitz versank, wenn mehr Leute dazu stiegen. Mein Vater unterhielt sich ganz freundlich mit einer älteren Dame, die neben ihm saß.

Er war so anders als meine Mutter. So lieb und nett. Während der lang erscheinenden Bahnfahrt, dachte ich darüber nach, was aus mir geworden wäre, wenn ich bei meinem Vater und meinem Bruder gewohnt hätte. Wahrscheinlich wäre ich jetzt so wie mein Ebenbild. Gut, dass ich bei meiner Mom lebte.

Ich konnte mir den blöden Kommentar einfach nicht ver­kneifen:

»Magst du Menschenaufläufe nicht so?«, fragte ich ihn hä­misch. Er schwieg einfach und antwortete nicht. Ich zuckte grinsend die Schultern. Das musste ich nicht von ihm wissen, das sah man ihm einfach an. Er schaute nur grimmig in die Menschenmenge hinein und musterte jeden einzelnen.

 

»Dad? Sag mal, wann müssen wir aussteigen?«, fragte ich meinen Vater beiläufig und drehte mich etwas zu ihm um. Der unterbrach das Gespräch mit dem alten Herrn höflich und drehte sich auch ein wenig um.

»Die Station heißt ‚Am alten Rathhaus’. Die müsste gleich kommen. Dann steigen wir aus und gehen sozusagen den weg zurück.«

»Den Weg zurück? Wieso?«, fragte ich verwirrt.

»Die Einkaufsstraße zurückgehen. Wir durchfahren sie ja grade und wenn wir am Ende sind, brauchen wir nur die Bahn nehmen und müssen nicht noch mal die ganze Stadt durch­fahren.« Na ja. War logisch.

Ich nickte kurz und drehte mich wieder um. Kiyoshis Miene wurde immer mehr verärgert und er wollte anscheinend schon wieder zurück. Es war nämlich genau das Gesicht, was ich gezogen hatte, als meine Mutter erzählte, ich sollte doch für eine Woche zu meinem Vater und mich benehmen. Bis jetzt fand ich, tat ich das ganz gut. Die Sache mit dem Benehmen.

 

Die Ansage für ‚Am alten Rathhaus’ kam schon wenige Minuten danach. Ich stand auf und wollte mich schon durch die Menge quetschen, da ging mein Vater schon vor mir und alle Leute machten Platz. Manche schienen es automatisch zu machen und andere sahen mehr verängstigt aus. Andere wiederum starrten ihn nur ungläubig an. Kiyoshi war direkt hinter mir und ich hatte das Gefühl, er würde mir gleich irgendetwas in den Rücken stechen, so eine böse Aura strahlte er aus. Kaum waren wir ausgestiegen, standen wir vor einem großen Gebäude.

 

»Ich nehme an, das ist das alte Rathhaus?«, fragte ich meinen Vater der nur grinsend nickte und fragte:

»Möchtest du rein?«

»Nee, nee. Rathhäuser gibt’s bei uns auch.«

Da lachte er und schüttelte leicht den Kopf. Kiyoshi grinste nicht einmal, sondern schaute nur die einzelnen Leute an, die an uns vorbeigingen. Der einzige Gedanke, der mir dazu einfiel war: ‚Der ist ja schlimmer als ich und das ist schon eine Kunst’.

Als wir endlich losgingen, ging ich wieder mit meinem Vater zusammen und Kiyoshi schlich schon fast hinter uns her. Mein Vater spürte, dass ich immer wieder hinter mich schaute, um nach Kiyoshi zu sehen.

»Kiyoshi. Komm nach vorne und geh nicht immer hinter uns«, sagte er und winkte ihn an seine Seite. Der brummte was vor sich hin und kam dann zu uns.

 

Es war mir gar nicht aufgefallen, dass mein Vater wieder unter seinem schwarzen Sonnenschirm stand und Kiyoshi immer noch unter seiner Kapuze. Ich genoss die Sonne in vollen Zügen und tanzte schon fast, weil ich so glücklich war wieder bei normalen Menschen zu sein. Ganz normale Familien zogen an uns vorbei und Pärchen, die glücklich Händchen hielten, gingen neben uns her. Die Geschäfte hier sahen aus, wie bei uns im Süden. Kleidungsgeschäfte meiner Art und der Art, die ich weniger mochte. Lebensmittelgeschäfte, gefolgt von Schmuckgeschäften, wiederum gefolgt von Schuhgeschäften und was noch alles folgte, war unbeschreiblich viel.

»Warum wohnt ihr eigentlich soweit außerhalb, hier in der Stadt ist es doch schöner?«, fragte ich meinen Vater, dessen glücklichen Blick ich wieder vernahm.

»Es ist ruhiger und ich liebe die Natur. Kiyoshi nörgelt mir auch immer die Ohren zu, dass er in der Stadt wohnen möchte«, lachte er und deutete auf Kiyoshi, dessen Miene sich etwas verbessert hatte. Trotz allem sagte er kein Wort.

»Wirklich? Ich wohne ja in der Stadt und es ist wirklich toll da. Na ja, manchmal muss man um sein Leben fürchten, wenn einen mal wieder eine Straßenbahn nicht sieht, aber sonst ist es klasse da.«

»Das freut mich für dich. Aber die eine Woche bei uns auf dem Land wirst du doch überleben, oder?«

»Ja, klar.« Weiß ich noch nicht, wäre eine bessere Antwort gewesen.

 

Nachdem wir ein Stück gegangen waren, kam ein Kleidungs­geschäft, in dem ich immer mit meinen Kumpels einkaufte. Mein Vater spürte wohl meinen interessierten Blick ins Schaufenster.

»Möchtest du da rein?«, fragte er lieb und deutete auf den Eingang des Geschäfts hin.

»Oh, also … Schon, gerne, ja«, brachte ich wieder keine richtige Antwort raus. Bei meiner Mutter waren solche Gespräche anders: »Mom, ich will da rein« - »Okay« und damit waren wir im Geschäft.

Mein Vater ging aber schon in Richtung Eingang und ich folgte ihm glücklich. Kiyoshi grummelte wieder irgendetwas vor sich hin. Es hörte sich an wie: »Hier will der rein?«

Ich gebe zu, das Geschäft ist nicht für jedermann toll. Hier wurde immer rockige Musik gespielt und die meisten Kleidungs­stücke waren schwarz oder zumindest dunkel. Das Geschäft hatte zwei Etagen und unten waren die Frauen, oben die Männer. Ich fand immer, dass die Frauen in solchen Klamotten viel mehr Auswahl hatten, aber was soll’s?

Mein Vater und ich rannten schon fast nach oben, während Kiyoshi nur langsam folgte. Ich rannte, weil ich wissen wollte, was es neues gab und mein Vater rannte, weil er wahrscheinlich neugierig war, was ich so trage. Kiyoshi schlich, weil er keinen Bock hatte.

 

Oben angekommen, erstrahlten meine Augen schon und fielen auf eine Jeans, die schwarz und wunderbar weit war. Ich sah auf den Preis und musste etwas schlucken. Sie war recht teuer und für mich fast unbezahlbar, da meine Mutter mir nicht viel Geld gab. Von was denn ja auch. Trotzdem nahm ich eine vom Bügel und sah sie mir genauer an. Sie hatte viele Taschen und der Bund war unten mit silbernem Garn im Zick-Zack Muster vernäht worden. Mein Nietengürtel würde darauf bestens passen, dachte ich mir beiläufig und ging schon meinen halben Kleiderschrank durch, was passen könnte.

Mein Vater stand die ganze Zeit neben mir und musterte die Hose.

»Magst du sie?«, fragte er vorsichtig.

»Ja! Sie ist schön, aber zu teuer. Ich spare einfach ein bisschen, dann hol ich sie mir«, sagte ich und hing sie glücklich wieder auf den Ständer.

»So was ziehst du an?«, hörte ich die grimmige Stimme, die wie meine Klang, aus dem Hintergrund. Ich drehte mich genervt um und blickte in Kiyoshis Augen.

»Ja, so was zieh ich an«, gab ich schnippisch zurück. Er nahm seine Kapuze ab und gab sein glänzendes, schon weißes Haar preis. Es hing ihm im Gesicht, als ob er schon seit längerem keinen Friseur mehr besucht hätte. Er kam langsam zu mir herüber und hielt die Hose in der Hand. Ich ging einen kleinen Schritt zur Seite und sah ihm zu, wie er die Hose mitmusterte.

»Na ja. Sie passt zu dir«, murmelte er und ließ sie verachtend wieder los.

»Würde dir nicht schaden, dich auch mal etwas ‚mehr im Trend’ zu kleiden.«

»’Im Trend’ würde ich das nicht nennen«, meinte er rechthaberisch und verschränkte seine Arme.

»Und als was würdest du dich bezeichnen, Loser?«

» … «

Da schwieg er. Ha! Ich hatte ins Schwarze getroffen.

»Als einen normalen Menschen, Punk«, meinte er nun frech und verzog ein angriffslustiges Gesicht.

»Punk? Ich bin doch kein Punk! Kannst du keinen Rocker von einem Punk unterscheiden?«

»Doch kann ich, aber für mich bist du rebellisch unangenehm, deswegen Punk.«

»Ich bin aber Rocker, du stinklangweiliger Idiot.«

»Du bezeichnest mich als einen Idioten? Für dich müsste dann ja noch eine Bedeutung erfunden werden.«

»Ach ja? Und was würdest du für eine Vorschlagen?«

» Einfach ein -… «

»Schluss jetzt!«, rief mein Vater dazwischen. Erst jetzt merkte ich, dass wir schon unsere Hände zum Kampf gehoben hatten.

»Ihr beide kennt euch grade mal 1 ½ Tage und müsst euch schon die Köpfe einschlagen«, schimpfte unser Vater und schlug uns die Hände runter. Die Leute im Geschäft sahen uns schon interessiert an. Aber ihre Blicke fielen mehr auf Kiyoshi und meinen Vater, weniger auf mich. Wahrscheinlich, weil die so anders aussahen und nicht hierhin passten.

»Wenn er meinen Geschmack so runter macht? Das lass ich mir doch nicht gefallen!«, meckerte ich.

»Dito!«, meckerte auch Kiyoshi und starrte mich böse an. Ich knirschte schon mit den Zähnen. Jeder andere in meiner Schule wäre schon längst am Boden, wäre er so mit mir herumge­sprungen. Plötzlich knurrte Kiyoshi und zeigte mir seine Zähne.

 

Ich erschrak zu Tode. Seine Augen funkelten mich böse an und seine Eckzähne schienen viel zu lang zu sein. Es war nur eine Sekunde lang, doch mich durchfuhr ein kalter Schreck.

Mein Vater schlug plötzlich zu und klatschte Kiyoshi eine. Aber richtig heftig. Er taumelte leicht zur Seite und hielt sich die Wange mit der linken Hand, um den Schmerz zu lindern. Er sah nicht auf, sondern blickte nur zu Boden und sagte keinen Ton.

»Raus! Aber sofort! Und dann wartest du vor dem Geschäft auf uns!«, zischte mein Vater Kiyoshi zu und griff ihn am Oberarm. Er packte richtig feste zu. Das sah man an seiner zusammen geknautschten Jacke. Mein Bruder sagte nichts, sondern ging einfach mit gesenktem Blick nach unten. Noch etwas irritiert, sah ich Kiyoshi hinterher.

»Entschuldige. Der Junge hat seine Phasen«, meinte mein Vater kühl, trotzdem versuchte er freundlich zu bleiben.

»Nein, ist schon okay. Ich war mit Schuld. Du bist immerhin unser Vater. Du musst das ja tun«, murmelte ich reumütig. Ich ging mit meiner rechten Hand kurz ins Haar und spürte Feuchte an meiner Stirn. Es war kalter Schweiß. Etwas verwirrt und gleichzeitig geschockt, sah ich das Nasse an meiner Hand an.

»Möchtest du die Hose nicht anprobieren?«, unterbrach mich mein Vater wieder mit einem Lächeln und deutete auf eine freie Kabine hin. Ich nickte kurz und nahm die Hose vom Ständer.

In der Umkleide konnte ich dieses Bild nicht loswerden. Kiyoshi hat mich angeknurrt, wie ein Tier. War es vielleicht nur eine Einbildung? Aber dafür war es viel zu real. Das klang vielleicht dumm oder kindisch, aber ich hätte jetzt gerne meine Mutter hier gehabt.

Mit Herzklopfen zog ich die Jeans an und sie passte wie angegossen. Ich betrachtete mich im Spiegel und war begeistert. Es ist schon fast Liebe auf den ersten Blick, spaßte ich innerlich, um mich abzulenken.

»Zeig dich doch mal, Hiroshi«, rief mein Vater durch die Umkleide von draußen. Ich zog den Vorhang weg und zeigte mich kurz. Er musterte mich und nickte.

»Sie steht dir wirklich gut.«

»Dankeschön«, murmelte ich. Als keiner was sagte und mein Vater mich nur musterte, fragte ich ihn:

»Sag mal, Dad …«

»Ja, Hiroshi?«

»Kannst du mich bitte Hiro nennen. Ich mag meinen vollen Namen nicht so gerne.«

Als mein Vater mich nur verwundert ansah, bekam ich Herzklopfen, dass ich was Falsches gesagt haben könnte. Doch dann lachte er und nickte verständnisvoll.

»Natürlich, Hiro. Ich wusste nicht, ob ich dich so nennen durfte. Kiyoshi mag es nämlich überhaupt nicht, wenn ich ihn nur Kiyo nenne.«

»Bei mir sollst du es sogar«, lachte ich und schwor mir schon innerlich, dass ich meinen bescheuerten Bruder am Abend Kiyo nennen würde. Oder Yoshi. Das wäre doch noch süßer. So heißt doch dieser Drache von Super Mario, dachte ich und lachte mich innerlich halb tot. Yoshi, Yoshi, Yoshi! Haha! Nein, war das lustig.

»Warum grinst du, Hiro?«, fragte mein Vater verwundert über mein glückliches Erscheinen.

»Ach, nur so.«

Dann verschwand ich wieder in der Umkleide und freute mich schon auf heute Abend.

 

Kurz danach kam ich auch schon wieder raus und wollte die Hose wieder zurückbringen, da nahm sie mir mein Vater ab.

»Du möchtest sie doch haben, oder?«, fragte er und grinste mich an.

»Ja, schon, aber ich habe nicht so viel Geld dabei.«

»Ich bezahl das schon.«

»Nein, die ist viel zu teuer.«

»Du weißt, dass ich das bezahlen kann.«

»Ja, aber -«

»Ist schon okay, Hiro«, meinte er und ging schon zur Kasse. Natürlich freute ich mich, dass mein Vater mir eine Hose kaufte, aber für mich war das viel Geld und es ist mir egal ob die jemand kauft, der viel Geld hat oder nicht. Es bleibt beim Preis. Aber das ist so ein Gefühl, das kann er wahrscheinlich nicht verstehen. Er musste sicher noch nie in einem Winter frieren, weil nicht genug Geld da war, um die Heizung anzumachen.

 

Nachdem mein Vater das viele Geld ausgegeben hatte und ich der glückliche Besitzer einer wunderschönen Jeans war, fuhren wir mit der Rolltreppe wieder runter und sahen Kiyoshi schon unten am Eingang stehen. Er sah nicht glücklich aus, eher reumütig. Wir gingen aus dem Geschäft und stellten uns neben ihn. Der sah uns nicht an und wartete wahrscheinlich nur darauf, dass wir weitergingen.

»Du, Kiyoshi. Tut mir Leid wegen grade eben«, murmelte ich ihm zu, sodass mein Vater es nicht hörte.

»Das braucht dir nicht Leid tun, ich mag dich halt nicht. Das ist alles«, meinte er schnippisch und sah mich wieder funkelnd an.

Sofort kam das Bild von vorhin wieder in meinen Kopf geschossen und mich durchfuhr ein kalter Schauder. Ich hätte gerne gefragt, ob ich das auch wirklich gesehen hatte, aber wie? Die Frage »Du sag mal, hattest du vorhin so komische Augen und Fangzähne und hast du wirklich geknurrt?« klang, als würde ich Matsche in der Birne haben.

»Aha«, gab ich kurz zurück. Er mag mich also einfach nicht. Schön für ihn. Ich ihn auch nicht.

»Dito«, musste ich einfach noch hinzufügen. Er nickte kurz und wendete sich dann wieder den Geschäften zu. Wir gingen also weiter.

 

Die Stadt war schön, sie hatte jedenfalls was für sich. Viele Geschäfte waren recht klein und gemütlich. Andere wiederum waren groß und hatten viel Auswahl.

Wir gingen auch mal in ein Geschäft für meinen Vater rein. Dieses Geschäft schien irgendwie nur Spießerkleidung zu führen. Polohemden, Anzüge, Krawatten, Hemden, Stoffhosen und handgemachte Lederschuhe. Und natürlich alles sehr teuer. Selbstverständlich für meinen Dad. Kiyoshi schien hier auch öfter zu sein, denn der sah sich auch manche Sachen genauer an. Aber es waren Hemden, die ich vielleicht auch noch anziehen würde. Aber nur zu besonderen Anlässen. Kiyoshi schien sie aber dann öfter anzuziehen.

Plötzlich trennten sich Kiyoshi und mein Vater voneinander und jeder ging seine Richtung im Geschäft. Ich wusste nicht ganz wem ich jetzt folgen sollte. Kiyoshi ganz sicher nicht, aber meinem Vater auch nicht gerne. Also ging ich meinen eigenen Weg durch das Labyrinth der Polohemden und Stoffhosen.

Ich sah mir vereinzelt Klamotten an, doch das gefiel mir alles irgendwie nicht. Etwas weiter hinten war die Damenabteilung und sie war zu meinem Erstaunen recht klein. Hier würde sich meine Mutter wohl fühlen. Alles nach ihrem langweiligen Geschmack. Aber ihr roter Lippenstift würde auch hierzu nicht passen.

 

»Ist nicht deine Welt, oder?«

Ich drehte mich langsam um und sah Kiyoshi böse an.

»Das weißt du ja.«

»Nicht ganz, aber ich kann’s mir jedenfalls gut denken.«

»Aber es ist deine, oder?«

»Nein, auch nicht.«

»So?«, fragte ich ungläubig und musterte ihn. »Sieht aber ganz anders aus.«

»Unser Vater mag diese Sachen, ich weniger«, gab er schnip­pisch zurück und verschränkte seine Arme.

»Dann sag ihm, dass du sie nicht magst. Fertig.«

»Er zieht sie mir trotzdem an.«

»Weil du sie magst.«

»Nein.«

»Haha. Ja, doch.«

»Nein, Hiroshi.«

Oho, jetzt wird die Konversation hart, er hat meinen Namen gesagt.

»Dann zeig doch mal, was du unter deiner Jacke trägst«, sagte ich auffordernd und deutete auf ihn.

»Ein T-Shirt. Was sonst?«

»Was genau für ein T-Shirt?«

»Ein schwarzes.«

»Schwarz? Das will ich sehen.«

»Zu Hause.«

»Warum? Ich möchte es jetzt sehen.«

»Hiroshi, nein.«

»Komm schon, Yoshi

Seine Augen formten sich zu Schlitzen, die mich böse an­funkelten. Aber es war nicht wie vorhin, jetzt war es etwas lustiger.

»Yoshi? Ich heiße Kiyoshi.« Wobei seine Betonung auf dem ‚Ki’ war.

»Für mich bist du Yoshi. Und jetzt zeig mir dein T-Shirt!«

Als er immer noch den Kopf schüttelte und die Arme vor seiner Brust verschränkte, griff ich nach seinen Armen und versuchte sie wegzudrücken. Dabei lachte ich natürlich, es sollte nur ein Spaß sein. Und, habe ich mich da versehen? Er grinste mich an. Es war zwar ein gemeines Grinsen, aber es war eins. Er versuchte meine Hände von seinen Armen wegzudrücken, aber ich bekam seinen Reißverschluss zu packen und zog ihn nach unten. Er rief etwas wie ‚Nein’ und ich ‚Doch’ und es war mehr eine Rangelei, als ein Kampf. Das schwarze T-Shirt blitzte hervor und ich erkannte eine weiße Schrift darauf. Da stand etwas von ‚Schluss’ und ‚20’. Sah ganz nach einem Abschluss-T-Shirt aus.

Plötzlich verlor er den Halt und flog nach hinten über einen kleinen Tisch mit Polohemden. Dabei hatte ich ihn an der Jacke und wollte ihn noch festhalten, da zog er mich trotzdem mit runter und wir flogen auf den dunkelgrauen Teppich.

 

Man hörte nur schmerzhaftes Gestöhne und ich versuchte mich aufzurichten. Ich rieb mir meinen Kopf und schüttelte ihn etwas. Mir tat der Arm ganz schön weh. Es war der Arm, den ich mir in meiner Hektik am Freitag angeschlagen hatte, als ich über den Koffer gestürzt bin. Vorsichtig sah ich ihn mir an. Er war ganz schön blau und grün geworden.

Erst als ich zwei Hände an meinen Knien spürte, die ver­suchten sie hoch zu drücken, sah ich runter. Kiyoshi lag direkt unter mir und blutete etwas am Kopf. Er machte ein schmerz­haftes Gesicht und versuchte meine Knie hoch zu drücken, damit ich von ihm aufstehe.

»Oh, tut mir Leid!«, sagte ich und stand sofort auf. Eine Verkäuferin hatte uns wohl gesehen und kam direkt angerannt.

»Ist alles in Ordnung bei euch?«, rief sie und schon sah ich unseren Vater mit angelaufen kommen. Ich schluckte heftig. Er hatte nur Stress mit uns.

Ich hielt Kiyoshi aufhelfend die Hand hin. Er starrte sie erst an, dann starrte er mich an.

»Komm schon, ich helfe dir auf«, sagte ich und deutete noch einmal auf meine Hand.

»Danke.«

Er nahm meine Hand und erhob sich. Das Blut lief Kiyoshi an der Schläfe runter.

»Du blutest da. Ist alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig und deutete auf das rote hin. Er packte sich mit dem rechten Zeigefinger hin und starrte die Flüssigkeit an.

»Alles in Ordnung«, versicherte er mir und sah zu unserem Vater.

»Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt?«

Kiyoshi zeigte auf mich.

»Diesmal ist er Schuld«, meinte er kühl. Mein Vater seufzte, dann sah er mich erwartungsvoll an.

»Na ja, ich wollte nur sein T-Shirt sehen und er hat sich geweigert. Da wurde ich etwas handgreiflich«, murmelte ich vor mich hin und sah dabei Kiyoshi böse an. Dummer Bruder.

»Ihr beiden seid doch keine zehn mehr, wo ich alle paar Minuten nach euch schauen muss, oder? Also benehmt euch doch mal«, seufzte unser Dad und unterhielt sich dann kurz mit der Verkäuferin, die uns zur Hilfe geeilt war. Anscheinend bedankte er sich. Danach ging sie.

»Jungs, benehmt euch«, mahnte er uns und sah, dass ich es wohl geschafft hatte, sein T-Shirt zu sehen. Er zog eine Augenbraue hoch und musterte uns.

 

Kiyoshis Jacke hatte nur noch an seinen Armen halt und sein schwarzes T-Shirt gab einen kleinen Teil seiner Hüfte preis, die, unnötig zu erwähnen, bleichweiß war. Seine Hose war in seine Schuhe gerutscht und seine Haare lagen ihm nun vollkommen im Gesicht.

Mein T-Shirt war etwas verschoben, sodass meine eine Seite vom Kragen direkt an meinem Hals und die andere halb über meiner Schulter war. Meine Haare waren verstrubbelt und mein eines Hosenbein war leicht hoch gerutscht. Im Ganzen sahen wir etwas mitgenommen aus. Kiyoshi blutete noch ein wenig.

»Dad, Kiyoshi blutet, ich glaube er hat sich heftig den Kopf gestoßen«, meinte ich dann, da niemand etwas zu seiner Verwundung sagte.

»Das ist nicht schlimm, Dad«, sagte er dann wieder in seinem desinteressierten Ton. Unser Vater nickte nur und zeigte uns mit einer grimmigen Handbewegung, dass wir das Geschäft nun verlassen würden.

 

Mir tat das etwas Leid, aber ich glaubte, Kiyoshi weniger. Ich konnte die Augen einfach nicht von seiner Verletzung lassen. Doch da kramte er ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und wischte sich das Blut weg. Er richtete seine Haare und, wie geht das? Es war keine Wunde zu sehen. Jedenfalls nicht, wo ich gedacht hätte, das da eine wäre. Ich schüttelte den Kopf und erklärte mich für heute etwas geisteskrank.

 

Langsam und etwas reumütig folgte ich den beiden. Natürlich war Kiyoshi wieder vermummt und mein Vater mit seinem tollen Schirm geschützt. Wir durchliefen weiterhin die Stadt und sahen uns Geschäfte an. Der Shoppingtag war nun für mich vorbei. Ich war kaum zwei Tage hier, schon hatte ich Zoff mit meinem Vater und mit meinem Bruder ja sowieso. Ich scheine hier nicht mehr sehr willkommen zu sein.

Plötzlich kam ein kleiner Kramladen, vor dem einzelne Stände aufgestellt waren. Kiyoshi lief sofort zu ihnen. Seine Augen funkelten schon fast vor Glück. Neugierig begutachtete er die Holzarmbänder und Holzketten. Es gab sie in ver­schiedenen Farben, Größen und Formen. Langsam ging ich zu ihm hin und schaute mir die Armbänder aus genauster Nähe an.

»Magst du solche Armbänder?«, fragte ich leise und versuchte neutral zu scheinen.

»Ja. Sie haben was für sich. Irgendetwas gefällt mir immer an diesen Holzarmbändern«, sagte er schon fast flüsternd. Als er meinen neugierigen Blick bemerkte, krempelte er seinen Ärmel etwas hoch. Ich staunte nicht schlecht: Mindestens fünf oder mehr Armbänder schmückten sein Handgelenk. Alle aus Holz und in einem etwas rötlichen Stich. Ich wollte vorsichtig nach seinem Arm greifen, da streifte er den Ärmel wieder über ihn und ließ ihn nach unten fallen. Er mied in dem Moment jeden Augenkontakt.

»Bist also so eine Art Fan von den Teilen«, fragte ich mit einem leichten Grinsen auf den Lippen. Er musste auch grinsen und nickte, während er mich wieder ansah. So gefiel er mir viel besser, als wenn er so mürrisch und ungesprächig war.

 

Auf einmal versagte sein Lächeln und er starrte gradewegs an mir vorbei. Seine Augen wurden größer und sein Blick sah geschockt aus. Schnell drehte ich mich um.

Unser Vater stand mit einem anderen Mann auf der Einkaufs­straße und unterhielt sich mit ihm. Der Mann war groß, fast größer als unser Vater, und trug einen schwarzen Mantel. Seine Schuhe waren riesige Klumpen und seine Hose mit vielen Schnallen versehen. Das Hemd, was er trug, wurde mit Bändern in der Mitte zusammengehalten. Er selber hatte lange schwarze Haare, die ihm glatt über seine Schulter fielen. Endlich mal jemand, der meinen Geschmack vertritt. Obwohl ich das schon wieder zu derb fand.

»Ist was mit dem Typen? Kennst du den?«, fragte ich Kiyoshi, dessen Miene sich nicht veränderte. Er gab mir keine Antwort. Nur seine Lippen bewegten sich langsam.

»Kiyoshi?«, wiederholte ich und winkte ihm vor seinem Gesicht rum.

»Nein, kenn ich nicht. Aber Dad. Keine Ahnung, wer das ist«, meinte er nur schnell und drehte sich sofort wieder zu den Armbändern.

»Das soll ich dir abkaufen? Du kennst den doch.«

»Nein, tue ich nicht.«

»Um was wetten wir?«

»Wir wetten nicht«, gab er nun kühl zurück und seine alte, arrogante, aber anmutige Art kam wieder zum Vorschein. Ich zuckte leicht zusammen und mich durchfuhr wieder ein kalter Schreck.

»Okay, okay.«

 

Hin und wieder drehte ich mich um und blickte zu unserem Vater, der immer noch mit diesem Mann redete. Sie schienen eine etwas hitzige Diskussion zu haben. Dann sah ich wieder zu Kiyoshi, der in seine Armbänder vertieft war und mehr krampfhaft versuchte, nicht zu unserem Vater zu blicken.

»Sollen wir reingehen?«, fragte ich ihn. Er hielt in seiner Bewegung inne und schien zu überlegen.

»Ja, lass uns rein gehen«, meinte er trocken und zog mich am Handgelenk mit schnellem Schritte in den Laden. Ich hatte das Gefühl, er wollte gar nicht rein gehen, aber wegen dem ‚Vater-Mann-Grund’ kam ihm das wohl grade Recht. Wir standen in dem kleinen Kramladen, in dem nicht viele Leute waren, aber doch genug, um sich nicht einsam und verlassen zu fühlen. Kiyoshi hatte mich immer noch am Handgelenk und ver­krampfte sich ganz schön. Sein Griff wurde immer fester, während wir durch den kleinen Laden hetzten. Ich war ja keine Memme, aber als wir das Ende des Ladens erreichten, spürte ich einen spitzen Schmerz.

»Aua! Kiyoshi, warum drückst du deine Fingernägel so in mich rein?«, motzte ich ihn an und versuchte loszukommen. Er schreckte, wie aus einem Trauma, auf und entriss sofort seine kalte, leblose Hand. Mein Handgelenk war rot und an der Stelle, wo er seine Nägel in meine Haut gedrückt hatte, fing es leicht an zu bluten.

»Sag mal, geht’s dir noch gut? Warum bist du denn jetzt so seltsam-«

Ich stockte.

Sein Blick war auf mein Handgelenk gebannt. Er ließ es gar nicht mehr aus den Augen. Ich wechselte kurz den Blick zwischen meinem blutigen Handgelenk und Kiyoshi. Es war nur ein kleiner Bluttropfen, aber der schien ihn mehr als alles andere zu faszinieren.

»Zeig mal«, sagte er monoton und nahm mein Handgelenk in seine Hände. Er führte es zu sich, ganz langsam, als ob es eine zerbrechliche Vase wäre. Sein starrer Blick fixierte wirklich nur diesen einen Tropfen. Er senkte seinen Kopf und sein Gesicht verschwand schon fast unter seinen langen Haaren. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich versah oder ob er wirklich seine Zunge rausstreckte. Er führte mein Handgelenk zu seinem Gesicht. Ich wollte schon zur Frage ansetzen, was er da überhaupt mache, da spürte ich schon eine andere Hand, die Kiyoshi und mich voneinander drückte.

 

»Vater …«, murmelte ich, als er mich plötzlich schützend in seinem Arm hielt. Er sah besorgt aus.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Hiro?«

»J-Ja … Ja? Ja, wieso sollte nicht-«

»Dann ist gut.«

Mein Blick verriet, dass mein Innerstes verwirrt und ver­zweifelt zu gleich war. Was ist heute eigentlich los? Mein Vater benimmt sich seltsam und mein Bruder wird auch immer verrückter. Oder werde ich verrückt? Drehe ich am Rad? Oder gibt es wirklich schon Außerirdische, die vom Mars kommen und sich als mein Bruder und Vater tarnen? Ich drehe wirklich am Rad …

Mein Vater drückte mich sanft zur Seite und ging zu Kiyoshi, der seine Hände vor sein Gesicht hielt. Er sah verzweifelt aus. Aber was habe ich denn getan? Er wurde von Vater kurz in den Arm genommen. Er sagte irgendetwas zu ihm und dann nickte Kiyoshi. Er löste seine Hände von seinem Gesicht und sah mich ausdruckslos an. So wie … immer.

»Tut mir Leid, Hiroshi. Ich wollte dich nicht so verwirren.« Seine Sätze klangen wie auswendig gelernt.

»Ist schon in Ordnung, aber was war denn überhaupt los?«

Er sah zu Boden, dann zu Vater.

»Wunder dich nicht, Hiro. Das hat mit seiner Krankheit zu tun, dass er manchmal nicht Herr über seinen Körper ist«, sagte dann mein Vater und versuchte zu lächeln. Die ganze Situation war aber zu drückend, als dass er genussvoll lächeln konnte. Ich versuchte zurückzulächeln und nickte nur.

Danach verließen wir den Laden. Die Leute schienen nichts mitbekommen zu haben, denn niemand starrte uns blöd an oder derartiges. Trotz allem war wieder dieses unbewusste Platz machen da. Die Leute sahen meinen Vater gar nicht, machten aber trotzdem einen Schritt zur Seite oder nach hinten. Genau das gleiche, wie in der Bahn.

 

Wir gingen auf die Straße zurück. Die Sonne stand hell am Himmel und Kiyoshi nahm immer noch nicht seine Kapuze ab. Mein Vater spannte seinen Schirm wieder auf und ich versuchte noch wenigstens die Sonne zu genießen. Der Ausflug war ein glatter Reinfall. Mehr Abklatsch und Chaos, als Spaß und Entspannung. Und das sollte nun eine Woche lang so gehen? Herr Gott, ich will nach Hause, zu meiner Mom. Wortwörtlich, ausnahmsweise.

Die Schritte von uns allen wurden schneller und ehe ich mich versah standen wir an einer Haltestelle. Die Einkaufsstraße ging noch ein ganz schön langes Stückchen weiter, aber ich hielt meinen Mund, denn ich wusste, dass Vater nach Hause wollte. Kiyoshi schien es nach der Ladensache auch nicht so gut zu gehen.

 

Es dauerte nicht lange, da kam schon die Straßenbahn und wir stiegen ein. Sie war recht voll, doch sobald wir einstiegen, hatten wir Platz. Aber wirklich viel Platz. Alle Menschen um uns herum hielten Abstand. Aber es sah nicht gewollt, sondern wieder ungewollt und unbewusst aus. Dieses Mal war es aber ganz angenehm. Ich stand neben Kiyoshi und hielt mich an einer Stange fest. Er behielt seine Hände in den Hosentaschen.

»Kiyoshi? Du solltest dich festhalten«, sagte ich zu ihm und versuchte nicht gegen seine Kapuze zu reden.

»Nicht nötig.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Okay …« Ich musste leicht seufzen und beendete damit das Gespräch. Mein Vater hielt sich schön brav an einer der oberen Deckenstangen fest und hatte wieder ein Dauerlächeln auf den Lippen. Obwohl dieses Lächeln nicht mehr so aufrichtig aussah, wie bei der Hinfahrt. Kiyoshis Zustand schien sich zu ver­schlechtern, denn er atmete schwer. Selbst durch die Laute Bahn und das Gerede der Menschen um uns, hörte ich jeden Atemzug von ihm. Mein Vater schien nichts mitzubekommen, denn er beachtete uns beide gar nicht. Sein Blick galt ganz der Welt jenseits des Fensters der Bahn.

Plötzlich bremste sie. Viele Menschen schrien oder lachten, weil sie zur Seite fielen. Kiyoshi konnte sich nirgends festhalten und fiel gegen mich. Er krallte sich an meinem T-Shirt fest und seine Kapuze rutschte ihm dabei runter. Als die Bahn zum Stillsand gekommen war, tuschelten alle und versuchten einen Blick zu erhaschen, warum die Bahn so plötzlich hielt.

Mir gefiel Kiyoshis Anblick ganz und gar nicht.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich leise, kaum hörbar.

»Ja …«, flüsterte er zurück und versuchte sich aufzurichten. Vater schien Kiyoshis Fallen mitbekommen zu haben und sah mich an. Sein Blick verriet nicht was er dachte. Er war starr und ausdruckslos. Wie manchmal Kiyoshi schaute. Es machte mir etwas Angst, aber die Lage von meinem Bruder beschäftigte mich mehr.

»Wirklich? Du atmest doch so schwer.«

»Was? Das hörst du?«, fragte er verwundert und sah mich mit kugelrunden Augen an. Sie funkelten etwas violett.

»Das ist aber auch laut …«, versicherte ich ihm, dass ich nicht zu einem Luchs mutiert war. Sein Blick fiel zu Vater, der wieder in eine andere Richtung schaute.

»Mir geht es nicht so gut«, murmelte er und setzte sich seine Kapuze wieder auf. Seine Stirn glänzte etwas und unter seinen Augen bildeten sich schwarze Ringe.

»Dann setz dich lieber hin«, sagte ich und suchte schon nach einer sitzenden Person, die ich nach dem Platz fragen würde, da hielt mich Kiyoshi fest. An der Stelle, wo er mir auch wehgetan hatte. In der Zwischenzeit hatte sich über meine Wunde eine Kruste gebildet. Ich erstarrte schon fast, als seine kalte Hand wieder nach meinem Handgelenk griff. Aber diesmal war der Griff sanft und fast wie ein Tuch, glitten seine Finger über meine noch rötliche Haut. Mein Blick fiel von der Stelle in sein Gesicht. Er sah mich durch seine Haare unter seiner Kapuze mit einem gierigen Blick an.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und meine Knie fingen an zu zittern. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Seine Augen glühten wieder. Sie stachen in meine Augen. Sie bannten mich. Meine Augen weiteten sich und sein sanfter Griff führte mein Handgelenk zu ihm.

Plötzlich sah ich im Augenwinkel die Türen aufgehen und Leute stiegen hinzu. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir wieder gefahren waren. Es stiegen so viele Leute dazu, dass unser Vater weggedrängt wurde, auch wenn die Menschen ihren gewissen Abstand hielten. Er war auf einmal aus meinem Blickfeld verschwunden und ich fühlte mich, als wäre ich mit Kiyoshi alleine. Ganz alleine.

Wir wurden so sehr aneinander gedrängt, dass unsere Nasen­spitzen sich fast berührten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Sein Blick fesselte mich. Die Bahn fuhr weiter.

 

Ich spürte einen Schmerz. Er hatte mit seinem Nagel meine Kruste abgerissen. Ich merkte, wie er mit seinem Finger in meiner kleinen Wunde spielte. Es tat mir weh, trotzdem sagte ich nichts. Auch jegliche Fluchtversuche unterließ ich. Nur unsere Blicke trafen sich. Ich spürte im Nachhinein seinen restlichen Körper an mir. Um uns herum waren so viele Menschen. Sie lachten, hörten Musik, unterhielten sich und beschäftigten sich mit anderen Dingen. Nur nicht, dass ich schreckliche Angst hatte. Angst vor meinem Bruder. Angst, er würde etwas tun, was für mich grauenhaft enden könnte. Angst, er könnte mir wehtun. Angst, dass er es mit vollem Bewusstsein tun würde.

Er führte mein Handgelenk zu seinem Gesicht. Er wendete seinen Blick von mir ab und starrte mein Blutverschmiertes Handgelenk an. Sein Finger, mit dem er die Kruste entfernte und in meiner Wunde spielte, war ebenfalls voller Blut.

 

Ich sah nur noch, wie er mein Handgelenk zu seinem Mund führte und seine Zunge gierig das Blut ableckte.

 

Dann wurde es dunkel.

Blutiger Moment

         »Ah …«

Ich sah nur seine Zunge und wie sie begierig mein Blut leckte.

Dann wurde es dunkel. Wir fuhren durch einen Tunnel. Ich sah fast nichts. Nur Kiyoshis Augen, wie sie mich anfunkelten und versuchten meine Angst zu bändigen. Mein Herz klopfte wie verrückt und meine Hände zitterten. Ich lehnte etwas an der Stange und hielt mich fest. Mein Bruder stand mir direkt gegenüber und würde ich es nicht besser sagen können, roch ich mein Blut. Es roch … eklig und zugleich doch verlockend lecker.

 

 

Es wurde hell. Und Kiyoshi sah aus dem Fenster. Er saß. Und ich auch. Es war fast leer in der Bahn, nur vereinzelte Leute saßen vor uns. Ich sah Kiyoshi verwirrt an. Der bemerkte mich gar nicht. Dann blickte ich zur anderen Seite. Dort saß mein Vater. Erst starrte er nur nach vorne, dann bemerkte er meinen Blick und lächelte mich an. Mein Ausdruck verdeutlichte wohl, dass ich die Situation nicht ganz zuordnen konnte.

»Ist alles in Ordnung, Hiro?«, fragte er freundlich und sah etwas besorgt aus.

»Äh … Wo sind wir?«, stellte ich eine Gegenfrage.

»Auf dem Weg nach Hause, in der Bahn. Wir müssen gleich aussteigen. Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Oh ach so. Ja. Natürlich.«

War das alles nur Einbildung? Habe ich geschlafen? Bin ich vielleicht eingenickt?

Ich sah auf mein Handgelenk. Die Wunde sah frisch aus, aber auf ihr war schon wieder eine leichte Kruste. Sofort schaute ich zu Kiyoshi. Er sah immer noch nicht gut aus, aber besser als ich ihn in Erinnerung hatte. Langsam fasste ich mir an den Kopf und schüttelte ihn leicht. Dann seufzte ich und schloss die Augen.

 

Kurze Zeit später stiegen wir wieder aus. Es war mittlerweile schon am Dämmern. War es denn schon so spät? Ich hatte mein ganzes Zeitgefühl verloren. Wir waren im Norden. Da geht die Sonne doch immer etwas früher unter, oder wie war das?

Wir stiegen an der Haltestelle aus, wo wir auch eingestiegen waren, nur auf der anderen Seite versteht sich. Schweigend gingen wir drei auf die andere Straßenseite zum Tor. Dort wartete Mamoru schon mit einem der noblen Wagen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass Kiyoshi seine Kapuze nicht anhatte. Vater rannte trotzdem noch mit dem Sonnenschirm rum, aber mein Bruder zeigte sich mal der Öffentlichkeit. Seine Augen funkelten im roten Licht der Sonne und seine Haare warfen leichte Schatten auf sein Gesicht. Langsam stiegen wir ins Auto. Vater saß vorne, Kiyoshi hinter Mamoru, der am Steuer saß, und ich hinter Vater. Erst da bemerkte ich, wie benebelt es mir ging. Mein Kreislauf machte fast schlapp, so fühlte es sich jedenfalls an. Meine Augen wollten immer zuklappen und meine Arme und Beine lagen schlaff auf dem Sitz. Mein Blick folgte den vorbeistreifenden Bäumen. Sie waren so schnell. Oder wir waren so schnell. Ich fühlte mich wie high. Wie auf Drogen. So seltsam.

Die Autofahrt dauerte nicht lange und schon stand ich wieder in der großen Empfangshalle. Ich hatte meine Schuhe aus­gezogen und stellte sie neben den anderen Schuhen.

»Hast du Hunger, Hiro?«, fragte mich mein Vater freundlich. Wie in Trance antwortete ich ihm.

»Nein, danke. Heute nicht mehr.«

Dann ging ich die Marmorne Treppe rauf. Langsam schlurfte ich in mein Zimmer. Als ich in diesem Gang war, erinnerte ich mich an das gestrige Nachterlebnis. Mein Schritt wurde schneller und ich verschwand so schnell wie möglich in meinem Zimmer. Es war dunkel, da es draußen durch die Bäume auch nicht sehr hell war. Ich schaltete das Licht ein und setzte mich langsam auf mein Bett. Danach schloss ich meine Augen und atmete tief ein und aus. Das war ein Tag.

 

Ich legte mich quer über die Decke und starrte die Wand an. Kiyoshi hatte mich heute angeknurrt und seltsame Augen bekommen. Dann hatte er merkwürdige Stimmungs­schwan­kungen. Danach traf Vater einen Mann, den Kiyoshi hundert­prozentig kannte und verletzte mich, warum auch immer, an meinem Handgelenk, was er kurzerhand in der Bahn ableckte. Er leckte mein Blut. Er genoss es. Sein Gesicht kam mir in mein Gedächtnis zurück. Diese Mimik, wie er mit seiner gierigen Zunge immer wieder mein Blut leckte. Danach wurde es dunkel, so verblassten auch meine Erinnerungen. Ich hatte einen wirklichen Filmriss. Aber um uns herum waren doch so viele Leute, hat das denn keiner gesehen? Und was war mit mir passiert? Keiner der beiden erwähnte etwas. Und jetzt fühlte ich mich so ausgelaugt. Ich legte erst eine Hand auf mein Gesicht, dann die andere auch und hob meine Ellebogen in die Luft. Ich seufzte laut und lauschte der Stille. Ich wollte mich duschen gehen, doch ich traute mich nicht. Mein Kopf war noch so unklar. Und Kiyoshi benahm sich heute sowieso so seltsam. Wo war ich denn hier gelandet? Im Irrenhaus? Das soll wirklich mein Bruder sein? Ein … ich weiß überhaupt nicht, als was ich ihn bezeichnen könnte.

 

Ich beschloss meine Mom kurz anzurufen. Ich brauchte jetzt jemanden, mit dem ich kurz reden konnte. Langsam griff ich in meine Hosentasche und zückte mein Handy. Dann setzte ich mich auf, während ich ihre Nummer wählte.

»Hiro?«, meldete sie sich wieder sehr besorgt.

»Hey Mom.« Es war nicht alles klar, das konnte ich dieses Mal nicht sagen.

»Wie geht es dir?«

»Geht so.«

»Was ist passiert? Was ist los? Soll ich kommen?«

Am liebsten ja, aber ich will nicht blöd dastehen.

»Nichts ist passiert. Wir waren heute in der Stadt und das war etwas … chaotisch.«

Sie schwieg.

»In der Stadt?«, fragte sie leicht ungläubig noch einmal nach.

»Ja, in der Stadt. Man muss nur in die Straßenbahn steigen und etwas fahren, dann ist man in der Innenstadt.

»Ich weiß. Aber dein Vater und du?«

»Und Kiyoshi.«

»Im Ernst?«, piepste sie in ihrer hohen Stimme ins Telefon und fiel wohl grade fast vom Glauben ab.

»Ja …? Was ist daran so komisch?«

»Er … Er ist doch krank …« Sie klang nun etwas beruhigter, aber immer noch außer sich.

»Ach so. Er trug die ganze Zeit eine Jacke und eine lange Jeans. Das ging schon.«

Wieder schwieg sie.

»Du weißt … warum?«

 

Ich weiß warum? Es klang mehr nach einer Frage, die sich bestätigen wollte, dass ich schon etwas wüsste, was ich vorher nicht wusste.

»Was soll ich wissen?«, hakte ich nach.

»Warum er … Nicht einfach so aus dem Haus gehen kann.«

Ich schwieg.

»Na, wegen seiner Krankheit doch, oder?«

Meine Mutter seufzte.

»Ja, wegen seiner Krankheit«, sagte sie dann. Sie schien erleichtert.

»Was hat er eigentlich?« Interessiert mich doch mal.

»Eine Blutkrankheit.«

»Leukämie?«

»Nicht so schlimm, aber so in der Art.«

»Ist das tödlich?«

Sie schwieg. Dann musste sie leicht kichern.

»Nein, nein. Er wird leben.« Irgendetwas stimmte nicht mit meiner Mom.

»Mom. Wenn du mir etwas verschweigst in Dingen Kiyoshi, solltest du es mir sagen.«

»Natürlich, Schatz.« Sie log.

»Mom, bitte.«

»Ich hab doch ja gesagt.« Das Gespräch verlief ins Sinnlose.

»Okay, ich vertraue dir.« Ein bisschen ins schlechte Gewissen reden nützte immer etwas.

»Das hoffe ich doch.« Vielleicht log sie ja doch nicht? Heute war eh ein komischer Tag, ich konnte es ja nicht oft genug denken.

»Aber sonst ist alles klar bei dir?«, fragte meine Mom noch einmal.

»Ja … Ich denke schon.«

Mein Blick fiel auf die Wunde an meinem linken Arm. Nichts war in Ordnung.

»Mom?«

»Ja?«

»Mag Kiyoshi … Blut?«

 

Die Frage klang so dumm, ich hätte sie am liebsten wieder zurückgenommen. Meine Mutter schwieg. Ich hörte ihren Atem durch das Telefon, sie schien aufgeregt zu sein.

»Gib mir deinen Vater.«

»Nein, beantworte mir meine Frage!«

»Du gibst mir jetzt sofort deinen Vater.« Ihr Ton klang streng, aber sie hatte keine Chance gegen meinen sturen Willen.

»Mom, sag’s mir!«

»Sofort, Hiroshi!«, schrie sie ins Telefon und klang, als wäre sie kurz vorm Wutausbruch. Ich schwieg und versuchte nicht zurück zu schreien.

»Warum?«

»Gib ihn mir jetzt.«

Ich seufzte und stand auf.

»Moment«, murmelte ich ins Telefon und öffnete die Tür. Wutendbrand achtete ich nicht auf den Weg, sondern stürmte einfach raus. Dann sah ich in die Augen von Kiyoshi. Der hielt mir seine offene Hand hin.

»Gib sie mir«, befahl er schon fast. Hat er etwa gelauscht?

»Nein, sie will mit Dad sprechen.«

»Er ist nicht da. Er ist mit Mamoru weggegangen. Ich kann auch mit ihr sprechen.«

Leicht zögerlich ging ich wieder ans Telefon.

»Mom?«

»Ich hab’s gehört. Dann gib ihn mir.«

Ärgerlich, dass meine Mutter auch noch Kiyoshis Auf­forde­rung Folge leistete, gab ich ihm mein Handy. Der ging dran und meldete sich mit »Was ist los?«. Ich hörte zwar nicht viel von dem was meine Mutter sagte, aber sie schien wie ein Wasserfall zu reden. Und laut, da ich überhaupt irgendein Gemurmel hörte. Kiyoshis Blick wurde düster. Erst starrte er einen Fleck am Boden an, dann traf mich sein Blick. Er sah sehr böse aus. Aber wie aus dem Nichts weichte seine Miene und er löste unseren Augenkontakt mit einem sanften Augen­schlag nach unten.

»Ja …«, sagte er sanft und schien nun traurig zu sein. Er wiederholte sein »Ja« noch ein paar Mal, dann gab er mir mein Handy wieder. Ich hielt das Sprechloch zu.

»Was ist los?«, flüsterte ich zu Kiyoshi. Der schüttelte nur seinen Kopf.

»Nichts Schlimmes. Erkläre ich dir ein anderes Mal, okay?«, flüsterte er sanft zurück. Dann senkte er seinen Blick zu Boden und ging den Gang entlang. Ich drehte mich leicht seufzend zur Seite und legte das Telefon wieder ans Ohr. Da drehte ich mich noch einmal um, da ich keine Schritte mehr vernahm und er war wirklich nicht mehr zu sehen. Mein Herz klopfte wie wild.

»Hiro? Bist du wieder dran?«, hörte ich meine Mutter durch mein Handy sprechen.

Er hätte mindestens noch zwei oder drei Sekunden bis zu seinem Zimmer gebraucht und ich hätte eine Tür gehört, denn alle waren verschlossen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz mir wieder in die Knie rutschte.

»Ja, ich bin wieder dran …«, murmelte ich. Dann ging ich zurück in mein Zimmer.

 

Das Gespräch mit meiner Mom endete dann recht schnell. Sie fragte, mich was ich morgen noch machen würde und als ich mit »Keine Ahnung« antwortete, verabschiedete sie sich auch schon. Langsam nahm ich das Handy von meinem Ohr, nachdem sie aufgelegt hatte. Schweigend starrte ich auf den Boden. Draußen wurde es immer dunkler und der Himmel schwärzte sich. Mir fielen die Worte von Kiyoshi wieder ein. Vater war also nicht da. Wo er wohl sein mag? Ich warf einen kurzen Blick auf meine Handyuhr. Es war grade mal sieben Uhr. In einer Stunde würden wieder alle ins Bett gehen. Erst überlegte ich, ob ich mich bei Jiro melden sollte, dann verwarf ich den Gedanken und verschob es auf morgen. Stattdessen schrieb ich ihm eine SMS.

 

»Hey Jiro! Wollte nur bescheid sagen, dass ich nicht anrufen kann, weil wir noch essen gehen. Wäre ja was unhöflich ;)

Ich melde mich morgen bei dir. Hiro«

 

Dann schickte ich sie ab. Es war zwar gelogen, aber ich sah diese Lüge in der Situation als eine Notlüge an. Mein Blick fiel zu meiner Tür. Sie war verschlossen, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass jemand hinter ihr stand. Nach der heutigen Geschichte zweifelte ich zwar wieder an meinem Verstand, aber als dann der Boden knackte, wurde ich hellwach. Vorsichtig legte ich mein Handy aufs Bett und erhob mich. Ich ergriff einen Stift vom Schreibtisch und näherte mich der Tür.

Mit einem Mal drückte ich die Klinke runter und schmiss sie auf.

Der Gang war hell erleuchtet und niemand war, wie immer eigentlich, zu sehen. Meine Hände zitterten und meine Knie erweichten. Ich schluckte feste und versuchte meine böse Miene zu erhalten. Grimmig schlurfte ich den Gang entlang und zerquetschte den Bleistift in meiner rechten Hand. Langsam ging ich an den verschiedenen Türen vorbei. Mich interessierte ja schon, was sich hinter ihnen verbarg, aber in diesem Moment wollte ich das nicht unbedingt wissen. Als ich an Kiyoshis Tür vorbeikam, stoppte ich kurz. Ich konnte die Augen nicht von ihr lassen. Der Gedanke allein an heute verursachte kalte Gänsehaut auf meinem Rücken.

Plötzlich sah ich nur, wie Kiyoshi an der Treppe stand und grade für mich am Gang sichtbar wurde. Ich habe ihn gar nicht die Treppe hochgehen gehört …

Er hielt ein Glas in der Hand. Das, was in dem Glas war, war rot bis dunkelrot. Es sah aus, wie das was in dem Krug war, der auf dem Tisch stand. Also … Wein? Er trank Wein? Er schien mich nicht zu bemerken, denn er ging schnurstracks zu der einzigen Tür auf der rechten Seite.

 

»Kiyoshi …«

 

Erst als ich merkte, dass ich seinen Namen gesagt hatte, erschrak ich vor mir selber. Und als er auch noch in seiner Bewegung verharrte und sich langsam umdrehte, zitterte ich noch stärker.

»Hiroshi? Was machst du hier auf dem Gang?«, fragte er mit seiner anmutigen Stimme und schien das Glas in seiner Hand vor mir zu verstecken.

»Ich … äh … hatte ein Geräusch gehört. Ich wollte schauen, was das war.« War ja noch nicht mal gelogen.

Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich von Kopf bis Fuß.

»Erstens: Das ist ein altes Gebäude, auch wenn es renoviert wurde. Das macht hin und wieder mal Geräusche. Und zweitens: Willst du ein Geräusch mit einem Bleistift be­kämpfen?«, spottete er und ließ seine Augenbraue wieder in den Normalzustand fallen.

Meine Gesichtsfarbe färbte sich etwas rosa.

»Das Haus hier ist halt nicht so mein Fall.«

»Gefällt es dir nicht? Trotzdem ist das kein Grund-«

»Nein, ich meine, dass es gruselig ist.«

Dann schwieg er mit einem offenen Mund, da ich ihn mitten im Satz unterbrochen hatte.

»’Gruselig’? Hiroshi, es ist ein Haus. Ein Haus

»Ich weiß. Aber die Insassen … machen mir auch Angst.« Ich hatte wohl in dem Moment einen wunden Punkt erwischt, denn sein Blick fiel zur Seite. Ich sah ihn erwartungsvoll an, dann seufzte er kaum hörbar.

»Was willst du wissen?«, fragte er nun etwas angesäuert.

Ich entspannte mich. Jetzt hatte ich ihn wohl da, wo ich ihn unbewusst haben wollte.

 

»Was war heute eigentlich los? Ich meine, erst hast du mich ‚angeknurrt’ und deine Augen strahlten mehr Hass aus, als man es in Worte fassen könnte. Dann siehst du einen Mann und ritzt mich vor Wut. Zudem kommt noch, dass dich mein Blut faszinierte und unser Vater uns voneinander trennen musste. Und das wichtigste überhaupt: Was war das bitte in der Bahn?«

Er schwieg und sah mich mit seinem ausdruckslosen Blick an.

»Das sind eine menge Fragen.«

»Wäre schön, wenn du sie beantworten könntest«, meinte ich daraufhin etwas belustigend. Er schüttelte seufzend den Kopf und kam auf mich zu. Alles spannte sich an und meine Knie fingen wieder an zu zittern.

»Keine Angst, ich tu dir schon nichts«, versicherte er mir und ging stur vorbei zu seiner Tür. Er machte sie auf und ging rein. Als ich nicht folgte, machte er mir mit einer Handbewegung klar, dass ich mit reinkommen sollte. Vorsichtig betrat ich sein Zimmer, zum ersten Mal. Das erste, was mir auffiel, war, dass es gut roch. Ein herber Duft, aber doch angenehm. Sein Bett war allerdings nicht gemacht und auf seinem Schreibtisch lagen ungeordnete Blätter wie wild rum. Kleidung lag auf dem Boden und über dem Stuhl. Der Kleiderschrank stand offen und in dem sah es auch nicht sehr geordnet aus. Ein kleines Grinsen huschte mir über meine Lippen, als ich dieses Chaos sah. Er war also wirklich ein ganz normaler, unordentlicher Mensch. Wie ich.

Mit einer Handbewegung schlug er die Schranktür zu und zündete seine schwarze Kerze wieder an. Dafür schaltete er das Deckenlicht aus. Schon war die Stimmung wieder düster.

»Wenn du mir Angst machen willst, brauchst du jetzt nur noch so zu gucken wie heute in dem Laden, den du nicht mochtest«, murmelte ich.

 

Mit einem Mal drehte er sich um und formte seine Augen zu Schlitzen. Sein Blick stach wieder hervor und meine Gänsehaut verteilte sich auf meinen gesamten Körper.

»Hör auf, Kiyoshi.« Die Bitte klang schon fast flehend. Er stellte sein Glas ab und wendete den Blick gen Boden. Er zeigte aufs Bett und setzte sich selber etwas lässig auf den Stuhl vom Schreibtisch.

Langsam ging ich zu seinem Bett. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen. Dann setzte ich mich und faltete brav meine Hände um den Stift.

»Du willst also wissen, was heute los war?«, fragte Kiyoshi und beugte sich zu mir vor.

»Ja.«

Seine Augen trafen meine und ließen nicht mehr los. Er wechselte seinen Blick zwischen meinen Augen und fesselte mich. Ich versuchte standhaft zu bleiben, doch mir ging es immer noch nicht blendend.

»Dir geht es nicht gut, stimmt’s?«, hakte Kiyoshi nach und verformte seinen Mund zu einer strengen Linie.

»Warum? Warum geht es mir nicht gut? Du kannst es mir sagen, du weißt warum, das sehe ich dir an!«, schoss ich los und zerquetschte den Stift schon wieder vor Aufregung in meinen Händen.

»Stimmt, ich weiß warum. Aber ich kann es dir nicht sagen. Das ist die Aufgabe unseres Vaters.«

»Wie bitte? Es ist also doch etwas passiert?«

»Tz … « Er sah etwas verärgert zur Seite und schien nicht ganz anwesend zu sein. Er schien zu überlegen, ob er es mir  doch sagen sollte. Die Sache beschäftigte also nicht nur mich, sondern auch ihn.

Ohne den Blick vom Boden abzuwenden, sagte er zu mir:

»Du hast es doch gesehen … Wie ich dein Blut geleckt habe …«

Meine Augen weiteten sich.

Mein Atem wurde schneller.

Seine Augen trafen meine.

Sein Blick durchbohrte meine Gedanken.

 

»Du hast … wirklich mein Blut geleckt? Es war keine Ein­bildung?«

»Einbildung? Hast du mich nicht schlucken gehört? Wie ich dein Blut getrunken habe?«, murmelte er. Seine Augen fingen an zu funkeln und hatten einen beängstigten Stich.

Angstschweiß klebte mir auf der Stirn und erst als ich seinen Atem spürte, bemerkte ich, wie nah er mir inzwischen ge­kommen war.

»Du hast es getrunken …?«

»Ja, es war köstlich …«

» … köstlich?«

Er nickte kurz und fasste mit seiner kalten Hand nach meinem Nacken.

Mich durchfuhr ein kalter Schreck. Doch es war wie in der Bahn. Wie gelähmt.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Ich hörte nur meinen Herzschlag.

Ich vernahm nur seinen Atem.

Und seine kalte, abgestorbene, blasse Hand in meinem Nacken.

»Was hat … meine Mutter zu dir gesagt?«, flüsterte ich.

Er musste kurz grinsen, doch dann verschwand das Grinsen so schnell wie es gekommen war.

»Das wüsstest du wohl gerne, hm?«

»Ja …«

Er stand von seinem Stuhl auf und legte seine linke Hand auf meine Schulter während seine rechte in meinem Nacken blieb.

»Sie sagte, ich solle dich in Ruhe lassen. Ich solle vor allen Dingen dein Blut in dir belassen. Die meinte nämlich, dass es so nicht abgemacht war. Du solltest in Frieden kommen und auch in Frieden wieder zu ihr gehen. Würde ich dich auch nur einmal …« Dann stockte er. Sein Mund war noch ein wenig offen.

Ich wollte nachhaken, doch ich konnte nicht. Sein Blick fesselte mich zu sehr, als dass ich etwas von meinem Körper eigenhändig bewegen oder steuern konnte.

 

» … einmal beißen, dann käme sie persönlich hierher und stäche mir einen Pfahl in mein totes Herz …«

 

Er bemerkte meinen geschockten Blick. Meine Augen weiteten sich auf das doppelte und mein Herz klopfte so stark, als würde es mir gleich aus der Brust schießen. So etwas würde meine Mutter nie tun. Nie. Niemals.

»Jetzt fragst du dich sicher, was hier vor sich geht. Was dein blöder Bruder da überhaupt labert. Aber das alles … ist gemein von ihr, nicht wahr? Wie könnte sie ihr eigenes Kind er­stechen?«

Ich nickte innerlich und versuchte meinen Mund zu bewegen, doch kein Laut kam aus ihm heraus.

»Ich sag’s dir: Für sie bin ich ein Monster. Eine Missgeburt. Denn ich bin wie Vater. Und das verkraftete sie nicht. Du bist normal. Sei froh, du wirst von ihr geliebt. Ich wurde es nie.«

Dann fiel sein Blick zu Boden. Seine Hände blieben an meinem Körper, doch ich fand mich wieder.

»Was redest du da …?«, murmelte ich und ließ den Bleistift zu Boden fallen. »Was redest du für einen Schwachsinn? … Einen Pfahl in dein totes Herz? … Wenn du mich beißen würdest? Was bist du denn für ein ‚Monster’? Es klingt, als wärst du ein … Vampir …«

 

Das Wort klang seltsam.

Das Wort wollte anfangs nicht aus meinem Mund.

Das Wort huschte mir schon die ganze Zeit in meinem Kopf herum, doch ich wollte es nicht wahrhaben. Es würde alles erklären. Alles, bis aufs kleinste Detail. Alles würde einen Sinn ergeben. Aber Vampire existieren nicht. Und selbst wenn, wieso sollte ausgerechnet meine Familie davon betroffen sein?

 

Seine Augen leuchteten hell und fesselten mich wieder. Die dunkle Atmosphäre im Hintergrund machte das ganze noch viel schlimmer. Sein Griff verfestigte sich.

 

»Was, wenn ja? Was, wenn ich einer bin? Ein … Blutsauger? Was würdest du tun?«

»Ich würde …«

Ja, was würde ich tun?

»Ich würde … versuchen zu verstehen, warum … du einer bist und warum du das Blut brauchst.«

 

»Nein, das würdest du nicht!«, zischte er mir zu. Seine Augen sahen wütend aus. »Du würdest weglaufen und dich verstecken. Du würdest schreien und nach Hilfe rufen. Du würdest alles Verzweifelte tun, aber nicht versuchen mich zu verstehen

Ich musste schlucken. Ja, vielleicht würde ich das eher tun, aber im Moment konnte ich es nicht. Er hatte ja gar keine Ahnung wie lähmend er auf mich wirkte.

»Mag sein …«, murmelte ich. »Kann sein, dass ich weglaufen oder um Hilfe rufen würde. Aber …«

Ich nahm all meinen Mut zusammen.

 

»Bist du denn … einer?«

Für immer Untot

Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen

 

»Bist du denn einer? Bist du … ein Blutsauger?«

 

Seine Hand, die vorher in meinem Nacken lag, wanderte plötzlich in meine Haare und packte feste zu. Dann zog er meinen Kopf nach hinten, sodass man meine entblößte Kehle sah.

»Würde dir ein Biss … als Antwort genügen?«, flüsterte er und starrte mich mit seinen glühenden Augen an. Seine Hautfarbe wurde weiß und die Augenringe wurden noch viel dunkler. Selbst seine Lippen färbten sich weiß, so sah seine Innenlippe noch viel röter aus. Als ich keine Antwort gab, sondern ihn nur starr vor Schreck ansah, öffnete er seinen Mund und ich sah seine Fangzähne. Riesige, weiße Fangzähne. Spitz und gefährlich, wie bei einem Raubtier, das kurz vor dem Erhaschen seiner Beute die Zähne zum Angriff zeigte.

 

Mein Herz klopfte unglaublich und der Angstschweiß stieg mir erneut auf die Stirn. Meine Hände zitterten und um­klammerten seine Schultern. Sein Griff in meinen Haaren schmerzte und selbst der Griff an meiner Schulter fing an weh zu tun.

 

Es gab kein entrinnen.

Vater war nicht da.

Niemand würde kommen.

Er will seine Beute.

Ich bin seine Beute.

In meinem ganzen Leben hätte ich nie gedacht, mich mal in so einer Situation wieder zu finden. Es ist schrecklich.

 

»Halt einfach still … Dann tut es nicht so weh.«

Obwohl sein Flüstern schon fast wieder beruhigend klang, starb ich innerlich vor Angst.

Würde ich meine Mutter nie wieder sehen?

Nie wieder mit meinen Freunden zusammen feiern gehen?

Nie wieder mit Jiro morgens im Bus Morgenmuffel sein?

Ich würde nie wieder nach Hause kommen, ich würde hier bleiben?

Meiner Mutter nicht mehr sagen können, dass ich sie lieb habe?

Ich habe Angst. Ich habe so schreckliche Angst.

 

Während ich das dachte, sah ich Kiyoshi immer näher kommen. Er leckte sich kurz über seine zarten Lippen. Und am Schluss bemerkte ich nur noch seine Haare in meinem Gesicht. Ich spürte seine Zunge an meinem Hals lecken. Es war die rechte Seite. Mein Herz klopfte so doll, dass er meinen Puls allein durch seine Zunge spüren musste.

Ich schloss meine Augen und lauschte seinem gierigen Atem. Wartend auf den tödlichen Schmerz, atmete ich noch einmal genussvoll aus.

 

 

Dann biss er zu.

Es tat weh.

Ich spürte, wie meine Haut seinen Fangzähnen nachgab.

Ich hörte wie er mein Blut trank.

Wie er schluckte. Wie er jeden Schluck genoss.

Wie er genussvoll seine Zähne in mein Fleisch bohrte. Be­merkte, wie er seinen Griff lockerte und mich in seinen Armen wie ein zerbrechliches Stück Porzellan behandelte.

Es fühlte sich so nah an.

Trotzdem ließ mich die Angst nicht los, dass es jeden Mo­ment vorbei sein könnte. Wieso habe ich das nicht gemerkt? Wieso habe ich das nicht eher gemerkt?

 

Die Kerze im Hintergrund leuchtete in meinen tränen­überfüllten Augen. Sie funkelte in die Dunkelheit hinein.

 

Dann verlor ich das Bewusstsein.

 

 

»Hiroshi … Hiroshi …«, hörte ich Kiyoshis Stimme. Sie klang schmerzerfüllt.

»Hiro … Er kommt gleich … Wach auf«, sagte er. Wer kommt gleich? Ich spürte eine Hand auf meiner Wange, wie sie ein paar Mal auf ihr klatschte. Sie war kalt und … leblos.

Dann öffnete ich meine Augen. Ich erblickte Kiyoshi und sah ihm in seine blau-violetten Augen. Seine Haare lagen ihm wie immer zerzaust ihm Gesicht. Ich musste grinsen.

»Bin ich … schon tot?«, fragte ich murmelnd und versuchte Kiyoshi zu berühren. Als ich ihn an der Wange mit meinem Zeigefinger ertastete, sagte er:

»Quark. Du bist quicklebendig. Und jetzt steh bitte auf, Vater kommt sicher gleich.«

Mit einem Schwung setzte ich mich auf. Ich saß in Kiyoshis Bett und er saß auf der Kante. Es war voller Blut. Mein Blut. Die Kerze war schon fast abgebrannt und es wurde schon  wieder dämmrig jenseits des Fensters. Kiyoshis Blick sah sehr menschlich aus, so … viel sagend.

Verwirrt sah ich meine Hände an. Sie sahen wie vorher aus. Ich fühlte mich nur schwach. Wie vorhin im Auto. Dann kam die Erinnerung zurück.

»Du hast mein Blut getrunken …«, murmelte ich und sah meinen Bruder entsetzt an.

»Es tut mir Leid, Hiro. Ich wollte es dir eigentlich nicht gleich so beibringen.« Er sah beschämt aus. »Ich hatte nur so lange kein Menschenblut mehr gehabt …«

Ich zuckte etwas zusammen.

»Du hast es auch schon … in der Bahn getrunken, stimmt’s?«

»Ja … Aber nicht so viel. Es ist nur, dass Menschen einen halben Liter Blutverlust nicht mal so eben wegstecken.«

»Verstehe …«

»Ja …«

Wir schwiegen und schauten den jeweils anderen nicht an. Er schämte sich für seine Aktion und ich schwieg, weil mir das etwas unangenehm war.

»Du bist also … wirklich ein Vampir?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja.«

»So … richtig Vampir?«

»Was ist denn ein falscher Vampir?«

»Du trinkst also Blut und … das ist deine einzige Nahrung?«

»Ja, andere Lebensmittel vertrage ich nicht.«

»Übernatürliche Kräfte und so was?«

»Ich kann nicht zaubern, aber mehr als Menschen kann ich schon.«

»Und Fledermausartige Verwandlungen?«

»Nein, die sind nicht drin.«

»Schade.«

»Wäre ziemlich cool, oder?«

»Schon, irgendwie.«

Wieder schwiegen wir. Es waren nur kurze Dialoge, die wir führten, aber sie waren von so großer Bedeutung. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Es war alles … so irreal. Trotz allem waren so viele Fragen in meinem Kopf, ich dachte, er würde jeden Moment zerplatzen.

»Und seit wann bist du ein Vampir?«

»Seit meiner Geburt.«

»Was? Im Ernst? Ich bin mit einem Vampir auf die Welt gekommen?«

»Ja, bist du. Deswegen gibt es auch keine Babybilder von mir. Mein Vater hat mich als Vampir sofort erkannt und mitge­nommen. Mutter wollte kein Monster als Kind haben.«

»Das heißt Vater ist auch …?«

»Ja, er auch.«

Ich überlegte kurz. Das war zwar grauenhaft, schien mir aber nicht ganz klar zu sein.

»Moment, Moment! Und warum hat Mom ihn dann als Mann gehabt?«

»Sie wusste es wahrscheinlich nicht. So wie die anderen Frauen auch, die er hatte.«

Ich nickte kurz. Mein Vater ist ein Vampir und mein Bruder auch. Beide trinken nur Blut. Wie schrecklich.

»Dann hast du noch nie Schokolade gegessen?«

»Nein.«

»Du Armer.«

»Nicht schlimm. Man kann nichts vermissen, was man nicht kennt.«

»Bist du nicht manchmal neugierig, wie es schmecken könnte?«

»Manchmal, aber eher selten.«

Wieder nickte ich. Mir streiften so viele Fragen im Kopf. Doch er war neblig. Mir ging es gar nicht gut. Vorsichtig fasste ich mir an meinen Hals und ertastete die Wunde. Doch es war ein Verband drum.

»Du solltest da lieber nicht drauf rum drücken. Ich weiß nicht, wie dick der Verband ist und wie gut er hält.«

»Ach so. Ist schon in Ordnung. Danke.«

»Danke? Ich hab dir das doch angetan.«

»Du hättest mich auch einfach ausbluten lassen können.«

»Dann hätte ich ärger von Vater bekommen.«

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Nur deswegen?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Wäre eine Verschwendung des Blutes wegen gewesen.«

»Ich hör wohl nicht recht!«, rief ich empört. Leider musste ich das sofort mit einem stechenden Schmerz in meinem Hals bezahlen.

Er lächelte sanft. Ich wusste, er hat es wegen mir gemacht und nicht, weil die Reinigungsrechnung so hoch gewesen wäre.

»Ist die Wunde … denn tief?«, fragte ich vorsichtig und hoffte auf schnelle Genesung. Er zuckte die Schultern.

»Was ist bei dir denn ‚tief’?«, stellte er eine Gegenfrage. Er öffnete seinen Mund und zeigte mir noch einmal seine Zähne. Mich durchfuhr ein Schreck und ich zuckte etwas zusammen.

»Recht … groß …«, murmelte ich und fasste mir automatisch an meinen Hals.

»Keine Angst. Jetzt … reicht das erst mal.«

»’Erst mal’?«

»Ich kann dir keinen genauen Termin sagen …«

»Willst du dann wieder … mein Blut?«

» … « Er schwieg und sah mich mit seinen großen Augen an. Anscheinend wollte er es schon.

»Wenn es dringend ist … Meld dich«, murmelte ich und sah verlegen zur Seite.

»Ich versuche mich anderweitig zu ernähren. Versprochen.«

»Okay.«

Es standen noch so viele Fragen offen. So viele Fragen, die mich beschäftigten. Aber dieses Ereignis musste ich erst einmal Verdauen.

»Hätte nie gedacht, dass es … Vampire gibt. Ich dachte immer, das wäre eine einfache Erfindung von Hollywood. Oder ein Aberglaube aus dem Mittelalter, weil Graf Dracula eine blutige Angewohnheit hatte.«

»Sagen wir mal so … Wir versuchen unentdeckt zu bleiben, da sonst die Medienwelt zu aufmerksam auf uns werden würde. Natürlich wissen es ein paar eingeweihte Menschen auf dieser Erde. Wir sind ja nicht die Einzigen. Aber bitte, behalte das für dich. Und dass du das jetzt weißt, sollte selbst vor Vater erst einmal ein Geheimnis bleiben.«

»Weil du sonst Ärger bekommst?«

»Ja, so in etwa.«

»Alles klar.«

Er nickte. Ich dann auch und schon schwiegen wir wieder. Es waren Schweigeminuten, die drückend auf uns wirkten.

»Wie lange war ich eigentlich vorhin Ohnmächtig?«, fragte ich, um die Stille zu brechen.

»Zwei ein halb Stunden.«

»Wirklich nur so kurz?«

»Könnten auch drei gewesen sein, keine Ahnung.«

Ich versuchte zu grinsen. Als er das bemerkte, grinste auch er. Eine Weile sahen wir uns einfach gegenseitig in die Augen und lächelten den jeweils anderen an.

»Du bist jetzt so … menschlich.« Das musste ich einfach loswerden.

»Ich weiß. Mein Körper produziert halt kein eigenes Blut mehr, das muss ich manuell aufnehmen. Und wenn ich auch noch mein eigenes Blut sozusagen aufnehmen kann, bin ich in bester Form.«

»Das … freut mich für dich.«

»Nein, das muss es nicht. Du musst leiden, während ich mich stärke. Das ist nicht richtig. Aber in Momenten des Durstes und des Verlangens denke ich über Richtig und Falsch nicht nach.«

»Verständlich.«

»… Wenn du das sagst.«

Er sah so bedrückt aus. Es tat ihm wirklich Leid. Ich wollte ihn trösten, wenigstens ein bisschen. Und was tut man, wenn man jemanden trösten will? Man nimmt ihn in den Arm.

Ich umarmte ihn vorsichtig am Hals und drückte ihn an mich. Er war kalt und leblos. Wie ein toter Körper. Er legte seine Hände auf meinen Rücken. Es fühlte sich wieder so seltsam an, dass ich Gänsehaut bekam. Ich umarmte eine nichtmenschliche Gestalt.

»Hast du keine Angst vor mir?«, fragte Kiyoshi etwas erstaunt.

»Tz … Ich sterbe gerade vor Angst.« Dabei lachte ich etwas. Auch wenn es ein zögerliches Lachen von mir war, lachte auch er. Doch wir wussten beide, dass ich zwar über meinen Schatten springen konnte, das aber nicht leicht war.

»Du bist mein Bruder. Auch wenn ich das erst seit gerade mal achtundvierzig Stunden weiß.«

»Ja, stimmt.«

»Warum bin ich dann eigentlich ein Mensch und du ein Vampir?«

»Bei dir haben die menschlichen Gene halt überwogen. Bei mir demnach die vampirischen.«

Klang logisch. Dann durchfuhr mich der Schreck, der in Hollywoodfilmen klassisch war.

»Werde ich nach deinem Biss eigentlich auch ein … Vampir?«

»Nein, nein.« Er musste leicht lachen. Das lockerte ungemein die Situation auf. »Nur, wenn ich dich schon fast töte und du dann mein Blut trinkst. Dann könnte es klappen.«

»Könnte

»Manchmal geht es auch schief.«

Ich schluckte leise. Er bekam das mit.

»Aber du wirst ein Mensch bleiben, keine Angst. Und ich werde darauf achten, dass du bis zu deinem Tode auch einer bleibst.«

Bis zu meinem Tod. Ob der bald kommt?

»Lebt ihr Vampire nicht für immer?«

»Ja. Für immer.« Das ist … lange.

»Und ab wann alterst du nicht mehr?«

»Keine Ahnung. Schätze so mit dreißig oder so was.«

»Ach so.«

Wir verharrten immer noch in unserer Umarmung. Er war so kalt, aber langsam nahm er meine Körpertemperatur an. Jedenfalls hatte ich so das Gefühl.

Die ganze Situation war so anders. Er war kein Mensch. Er war eine Kreatur der Nacht. Jedenfalls entnahm ich das Mal der Informationen, die er mir gegeben hatte.

 

Mein Blick fiel nach einer Weile auf das noch immer gefüllte Glas. Er hatte wohl nach meinem Blut keinen Durst mehr gehabt …

»Ist das dann eigentlich … Blut?«, fragte ich vorsichtig. Er löste sich von mir und sah hinter sich auf den Schreibtisch.

»Ja, das ist künstliches Blut. Es schmeckt nicht sonderlich gut, aber es dämpft unseren Durst für eine gewisse Zeit.«

»Das hatte Dad auf dem Tisch in einem großen Krug stehen und ich dachte es wäre Wein gewesen.«

Kiyoshi musste kurz lachen.

»Wein? Wein sieht doch ganz anders aus.«

»Für dich vielleicht, aber für mich sehen die zwei Flüssig­keiten genau gleich aus.«

»Nein, nein. Wein ist viel flüssiger.«

»Jetzt nicht kleinlich werden. Ich bekomme Blut nicht so oft in so großen Mengen angeboten wie du.«

Er seufzte. Dann blickte er wieder zu Boden. » Es tut mir Leid.«

»Ist okay. Ich lebe ja noch«, meinte ich und ließ meine Hände an seinen Armen sinken.

»Noch.«

Ich stockte.

»Willst du mich das nächste Mal aussaugen?«

»… Ich weiß nicht, zu was ich fähig bin.«

»Oh …«, bekam ich nur raus, lächelte aber immer noch.

Er bemerkte das.

»Du läufst ja gar nicht weg«, sagte er trocken.

»Wie denn? Ich bin viel zu schwach, um jetzt zu laufen.«

»Du würdest aber gerne?«

»Jetzt auch nicht mehr. Aber vorhin wäre ich gerne.«

»Verständlich.«

Ich nickte und stand dann auf. Ich merkte Kiyoshis Blick auf meinem Rücken. Torkelnd ging ich zum Schreibtisch und griff nach dem Glas. Ich war wie benebelt, wusste nicht richtig, was ich da gerade tat.

»Du sagst es schmeckt nicht? Ich schmecke bestimmt keinen Unterschied …« Meine Augen fixierten dieses Glas.

»Nein! Hiro, lass das!«, rief Kiyoshi und richtete sich auf.

»Warum? Es ist doch nur Blut.«

»Aber wenn du das Blut trinkst …-«

 

Da trank ich es schon. Es schmeckte widerlich. Es war so lecker …

Dieser Geschmack weckte irgendetwas in mir. Meine Erin­nerungen an früher. Wo ich ein kleines Kind war und immer mein Wundblut geleckt hatte. Meine Mutter hat mich danach geschlagen, weil sie es mir verboten hatte. Der Geschmack, der wie echtes Blut sein sollte, war wirklich nicht mit echtem Blut zu vergleichen. Trotzdem war es wie ein Getränk der Hölle.

 

Ich spürte nur einen Schlag. Das Glas fiel mir aus der Hand und zersplitterte mit einem lauten Knall auf dem Boden. Der gesamte Inhalt ergoss sich über den Teppich. Innerhalb Sekunden sah ich Kiyoshis Augen, die mich entsetzt anstarrten, seine blutige Hand, die das Glas aus meinen Händen geschlagen hatte, und meine blutigen Hände.

 

»Was ist hier los?«, schrie eine Stimme. Kiyoshi und ich drehten uns zur Tür. Dort standen Mamoru und Vater. Beide sahen entsetzt aus. Als Dad dann auch noch meinen Blutver­schmierten Mund sah und Kiyoshis blutige Hand, mein Verband am Hals und das blutverschmierte Bett, platzte es wohl in ihm.

»Was um alles in der Welt ist hier passiert, als ich mit Mamoru weg war?«, zischte er in einem lauten Ton. Dabei sah er Kiyoshi ganz bestimmt an. Der zuckte etwas zusammen und schien nach einer angemessenen Antwort zu suchen.

 

Plötzlich verschwamm alles. Mein Hals wurde so trocken. Ich musste Husten. Keuchend krümmte ich mich und hielt mir vor Schmerzen den Hals. Ich spürte Kiyoshis haltende Hände an meinen Schultern. Dann sah ich wie Vater auf mich zukam und be­sorgt schaute.

»Kiyoshi, was hat er gemacht?«

»Er hat das künstliche Blut getrunken …«

»Wie … bitte?«

»Ich … hab …«

Ich verstand nur noch Bruchstücke des Gesprächs. Der Schmerz in meinem Hals hörte nicht auf. Er rutschte langsam in mein Herz. Es fühlte sich an, als ob sich alles in mir zusammen­zog. Plötzlich sah ich Kiyoshi in seiner Schreibtisch­schublade kramen, während Dad mich hielt. Er holte eine schwarze Dose raus und öffnete sie. Viele kleine rote Tabletten waren drin enthalten. Er nahm eine und legte sie an meine Lippen.

» … Schluck sie …«, verstand ich noch.

»Was … ist das?«, brachte ich krächzend raus. Kiyoshi schüt­telte den Kopf und wiederholte seinen Satz. Alle sahen etwas verzweifelt aus. In der Tat war das auch ich. Was geschah mit mir?

»… Schluck!«

Ohne weiter nachzudenken, öffnete ich meinen Mund und schluckte die kleine rote Tablette. Mein Hals war so trocken, dass ich sie kaum runter bekam. Doch dann, in nur wenigen Sekunden, besserte sich mein Hals und ich atmete nur noch schwer. Erst jetzt merkte ich, dass ich bereits am Boden kniete und Kiyoshis Arme fest umklammerte. Der sah geschockt aus und starrte mich mit runden Augen an.

 

Es war sonst nicht meine Art, aber …

Das war einfach zu viel für mich und meinen Körper.

Ich weinte. Die Tränen kullerten mir über die Wange und meine Hände fingen an zu zittern. Langsam ließ ich Kiyoshi los und legte meine Hände auf mein Gesicht. Dann schluchzte ich laut. Was geschah hier eigentlich? Was geschah jetzt mit mir? Vampire? Alle Vampire? Und ich … jetzt auch? Ich trank Blut. Es schmeckte lecker. Oder wie Kiyoshi sagte »Es war köstlich«. Und diese Tablette. Sie schmeckte ebenfalls nach Blut. Wieso ich? Wieso musste ich hier hin? Ich lebte glücklich bis jetzt. Bis jetzt. Jetzt endete mein Leben …?

Kiyoshi sagte nichts, sondern nahm mich nur in den Arm. Es war mir nicht unangenehm, aber ein seltsames Gefühl, wie immer. In diesem Moment war ich das erste Mal froh, einen Bruder zu haben. Obwohl, wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich gar nicht erst in dieser Situation. Aber früher oder später, hätte ich es durch meinen Vater erfahren.

Ich nahm meine Hände von meinem Gesicht und legte sie auf Kiyoshis Rücken. Glücklich, dass er da war, drückte ich ihn an mich und vergrub meinen Kopf in seine Schulter. Es war einfach zu viel für mich. Zwei Mal habe ich Blut verloren, beziehungsweise ausgesaugt bekommen, dann kam das Geständnis von Kiyoshi über unsere Familie und dann werde ich irre und trinke Blut, wobei mein Körper einen Kollaps macht. War es nicht verständlich, dass ich dann weinte?

 

Ich weiß nicht wie lange ich in Kiyoshis Armen hing und wie lange unser Vater dabei stand und meinen Kopf streichelte, aber das Weinen tat gut. Es änderte weder die Situation noch ließ es alle Beteiligten wieder zu Menschen werden, aber es fühlte sich für einen Moment lang gut an. Denn ich fühlte nichts. Fast hätte ich sogar vergessen, warum ich eigentlich weinte. Aber als Kiyoshi sich von mir löste und mir meine Tränen wegwischte, starrte ich wieder in seine Augen und sah sozusagen mein Ebenbild. So sehe ich auch aus. Und ich hatte Angst, das wirklich wortwörtlich zu nehmen. Wortwörtlich in dem Sinne, dass ich auch zu einem Vampir werde. Oder, dass ich schon einer bin …?

Schicksal

Als ich wach wurde, lag ich in meinem Zimmer. Die Roll­läden waren heruntergelassen und der Raum wurde in eine gemütliche Atmosphäre getunkt, da die Sonne halb durch die Fensterscheiben schien. Der           dunkelrote Vorhang war zur Hälfte vor die Fenster gezogen, sodass ein Rotschimmer sich über das Zimmer legte. Langsam erhob ich mich und setzte mich aufrecht hin. Niemand war in meinem Zimmer, nur ich. Mein Kopf tat fürchterlich weh. Er fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Da es hell war, wollte ich nach der Uhrzeit schauen, doch ich fand nirgends eine Uhr. Erschöpft und in einem elenden Zustand stand ich auf, suchend nach meinem Handy. Erst als ich meine Hose auf dem Stuhl vermisste, bemerkte ich, dass ich angezogen war. Ich fasste mit der rechten Hand nach meinem T-Shirt und zog etwas daran. Es war wirklich das T-Shirt, das ich gestern in der Stadt anhatte. Es war doch gestern, fragte ich mich innerlich.

Mit einem Griff in die rechte Hosentasche zückte ich mein Handy und sah, dass ich eine SMS bekommen hatte. Sie war von Jiro. Doch erst wollte ich die Uhrzeit wissen.

»Schon dreizehn Uhr …«, murmelte ich, als ich die digitale Handyuhr betrachtete. Ich fasste mir an meinen Kopf und setzte mich wieder aufs Bett. Ich war einfach so erschöpft und müde.

Ich berührte den Touchscreen meines Handys und öffnete die SMS.

 

»Yo. Alles klar, dann guten Appetit. Ich hab mal recherchiert und deine Familie hat einen voll langen Stammbaum, der reicht bis ins 16. Jahrhundert! Wundere mich nur, da gibt’s einen, der heißt wie dein Dad. Erzähl dir mehr am Telefon. Hadde! Jiro«

 

Meine Familie …?

Es machte ‚Plopp’ und schon war alles wieder da. Die Erinne­rung kehrte zurück. Und sofort schmerzte mein Kopf umso mehr.

Meine Familie besteht aus Vampiren.

Richtige Vampire. Und ich spinne nicht, dachte ich mir und fasste an den Verband an meinem Hals. Es tat nicht mehr allzu sehr weh, aber ein gewisser Schmerz war noch da. Kiyoshi hat mich gebissen. Es tat ihm zwar Leid, aber er hat mir ganze zwei Mal das Blut ausgesaugt. Mein Vater ist auch einer. Und aus Neugierde über den Geschmack von Blut, trank ich dieses Synthetikzeug. Alles zog sich in mir zusammen und ich musste eine Tablette schlucken. Danach bin ich wohl umgekippt oder eingeschlafen. Die Erinnerungen verblassten an der Stelle.

Sie taten weh. Es waren Erinnerungen, die ich nicht brauchte. Der Gedanke allein, dass ich in einer Hütte voller Monster saß, ließ eine kleine Träne über meine Wange kullern. Ich war sonst keiner, der sofort heulte, aber das reichte über die Vorstellungs­kraft eines Menschen. Über eigentlich alles Menschliche.

Während ich traurig auf meinem Bett saß, versuchte ich über die SMS von Jiro nachzudenken. Die erste Frage, die mir in den Sinn kam, war, wieso Jiro sich überhaupt über meine Familie informierte. Aber das könnte ich ihn ja am Telefon fragen. Die zweite war, wieso es so komisch sein sollte, dass ein Familien­stammbaum bis ins 16. Jahrhundert ging. Die erste richtige Frage war: Wo um alles in der Welt kann man meinen Familien­stammbaum einsehen? Sicher nicht in der Stadtbibliothek. Und in Geschichtsbüchern auch nicht, so was meidet Jiro. Bleibt nur noch das Internet, aber so Stammbäume veröffentlicht man doch nicht. Außer man ist berühmt. Aber das war ich ja nicht.

Da kam mir sofort mein Vater in den Sinn. Er war vielleicht berühmt. Und damit man etwas über ihn weiß, veröffentlicht er vielleicht seinen Stammbaum im Internet? Wäre ziemlich dumm, aber heutzutage ist alles möglich, dachte ich und legte mein Handy auf mein Nachttischschränkchen. Da fiel mir eine schwarze Dose auf. Sie war klein und rund. Sie sah aus wie die von Kiyoshi. Vorsichtig machte ich sie auf und seufzte sofort. Darin waren die roten Tabletten. Ich schloss die Dose wieder und legte sie zurück.

 

War ich jetzt … auch so ein Monster?

Aber Kiyoshi hat mir doch gesagt, ich sei kein Vampir ge­worden. Ich hätte doch sein Blut trinken müssen, wenn meine Erinnerung mich nicht täuschte. Langsam stand ich auf und öffnete ein kleines Stück den Vorhang. Die Dunkelheit machte mich wütend. Ich ergriff das Band für die Rollladen und riss es nach unten. Sofort traf mich das grelle Sonnenlicht.

 

Es war so angenehm, Sonne auf seiner Haut zu spüren. Sofort musste ich grinsen. Ich war kein Vampir. Sonst würde ich schreiend weglaufen oder zusammenzucken. Jedenfalls war das immer so in diesen Filmen. Kiyoshi und mein Vater mussten sich auch immer vor der Sonne schützen, deswegen bestätigte das meine These umso mehr.

Ich fühlte mich in meiner eigenen Haut nicht wohl, auch wenn ich mir nun sicher sein konnte, kein Monster zu sein. Vorsichtig öffnete ich meinen Schrank und kramte mir Sachen raus. Der Beschluss zu Duschen kam, als ich auch noch meine fettigen Haare im Gesicht hängen hatte. Als ich vor der Tür stand, atmete ich noch einmal tief ein und aus. Dann drückte ich leise die Klinke runter und öffnete sie. Ich spähte durch den Türschlitz und als ich niemanden sah, tapste ich leise den Gang entlang. Ich bemühte mich möglichst leise zu sein, damit ich auch niemandem begegnen würde. In der nächsten Zeit wollte ich erst mal keinem Vampir begegnen.

 

Als ich am Bad ankam, klopfte ich kurz an. Es kam keine Antwort, also öffnete ich die Tür. Niemand war im Bad zu sehen. Erleichtert und erfreut, schloss ich die Tür hinter mir und legte meine Sachen auf einer der weißen Schränkchen. Schnell zog ich mich aus und sprang unter die Dusche. Das System war mir zum Glück schon bekannt und es schien sich auch nicht geändert zu haben. Leise brauste das Wasser auf meinen Kopf herab. Erst als ich mir durch meine Haare fuhr und meine Hand an meinem Hals herunter gleiten ließ, merkte ich, dass ich den Verband nicht abgemacht hatte. Vorsichtig und mit Sorgfalt, fummelte ich den Verschluss nach hinten und riss mir schon fast den Verband ab. Schnell warf ich ihn aus der Dusche und schloss die Duschtür wieder. Das Wasser schmerzte etwas an der Wunde. Es war ein heißer Schmerz. Fast genau der gleiche, als er mich biss. Ich kniff die Augen zusammen und ließ das Wasser direkt auf mein Gesicht prasseln. Es war sehr angenehm, aber der Schmerz in meinem Kopf hörte nicht auf. Auch die Schmerzen am Hals und an meinem Handgelenk nicht. Überhaupt tat mir fast alles weh.

Wo bin ich da nur rein geraten? Ich war plötzlich wütend. Diese Wut machte mich rasend. Ich suchte die Schuldperson. Meine Mutter war schuld. Sie musste mich ja unbedingt hier hin schicken und das erfahren lassen. Aber wäre mein Vater nicht gewesen, hätte meine Mutter mich erst gar nicht zu ihm geschickt. Sie wusste von dem ganzen und hat es mir nie erzählt. Deswegen mied sie auch immer den Kontakt zu meinem Vater. Be­stimmt jedenfalls. Sie kannte die Gefahr und hat mich ihr trotzdem ausgesetzt. Aber Kiyoshi hat meiner Mutter auch gesagt, er würde mir nichts tun und hat es trotzdem. Er ist schuld. Aber auch meine Mutter. Und mein Vater erst recht, denn hätte er meine Mutter nicht geheiratet, wäre Kiyoshi gar nicht erst hier …

Aber ich auch nicht. Was denke ich eigentlich, fragte ich mich und hielt meine Hände vor das Gesicht. Es war zwar sowieso nass, aber ich spürte meine warmen Tränen, wie sie in Richtung Kinn abkühlten und mit dem restlichen Duschwasser gen Boden fielen.

 

Ich schlug mit voller Wucht gegen die Wand, wo der Dusch­kopf befestigt war. Danach schmerzte mir auch noch die Hand, aber es war kein Vergleich zu dem Schmerz, der mir durch den Hals ging. Als ich meine Augen öffnete, sah ich die rote Flüssigkeit an mir runter fließen. Ich konnte es nicht mehr sehen. Ich wollte es auch gar nicht mehr sehen.

Ich schluchzte laut los und kniete mich hin. Immer wieder seufzte ich auf, während ich mein Gesicht in meinen Händen vergrub. Es war zum Verrückt werden. Es war einfach schrecklich. Alles. Meine Familie besteht aus Vampiren. Und ich gehöre dazu? Aber ich bin keiner. Meine Mutter und ich sind die einzigen Menschen.

 

Nach langer Zeit, stieg ich aus der Dusche. Im ersten Mo­ment tat es mir etwas Leid wegen der Wasserrechnung, aber mein Vater hatte gewiss genug Geld. Als ich mir meine Boxershorts anzog, tropfte es auf die Fließen. Mein Hals hörte nicht auf zu bluten. Ich ergriff mir ein paar Tücher aus einer Box und versuchte das Blut etwas zu stoppen. Dabei fiel mein Blick in den Spiegel.

 

Ich sah grauenhaft aus.

Meine Haare waren nass und zerzaust vom Duschen und meine Gesichtsfarbe ähnelte der Wand hinter mir. Die Augenringe gingen mir schon fast bis unters Fleisch, so tief und schwarz waren sie. Meine Augen dagegen sahen matt und müde aus. Sie hatten jeglichen Glanz verloren und waren im Augen­weiß rot vom Weinen. Es war, als würde mich eine Kreatur anschauen. Als würde sie mir sagen wollen, wie schlecht es ihr geht.

Vorsichtig entfernte ich die schon aufgeweichten Tücher von meinem Hals und sah mir die Bisswunde an. Es waren zwei runde Löcher in meinem Hals. Sie sahen tief aus. Schon quoll das Blut aus ihnen und floss an meinem Hals herunter. Es wurde nicht weniger. Langsam bahnte es sich seinen Weg über meinen Oberkörper, wo es schließlich langsamer wurde und aufhörte. Der Anblick im Spiegel war so anders. Als ob das nicht ich wäre. Wo war der lustige Hiroshi hin? Wo war das Leben hin? Bis vor zwei Tagen war noch alles in Ordnung. Mein Leben war wie immer. Manchmal regte ich mich über den Alltagstrott auf, doch jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als den wieder zu bekommen. Gar nicht zu wissen, dass es Vampire gibt. Niemand hat mich gefragt, ob ich das überhaupt wissen wollte. Meine Familie war mir egal. Ich wollte das ganze hier gar nicht. Und jetzt steckte ich mitten drin. Wie sollte ich das nur Mom beibringen?

Die Gedanken huschten mir durch den Kopf. Ausreden, Lügen und vielleicht sogar Wahrheiten würde ich meiner Mutter entgegenbringen.

 

Auf einmal wurde die Badtür aufgerissen. Ich erschrak und sah geschockt zur Tür.

Dort stand Kiyoshi und sah mich mit entsetzten, glänzenden Augen an.

 

»Oh, tut mir Leid … Ich habe nur frisches Blut gerochen und dachte … es sei was passiert …«, sagte er und sah sich im Bad um. Seine Augen waren wie gestern, als er mich gebissen hatte.

»Es … ist auch etwas passiert …«, murmelte ich und wendete meinen Blick zum Waschbecken vor mir. Dabei legte ich meine rechte Hand auf die Kante.

Kiyoshi schien das verstanden zu haben und schloss die Tür hinter sich. Jedoch blieb er dort stehen und ließ seine Hände an der Klinke, während er mich ansah.

»Hiroshi, es tut mir wirklich Leid. Wegen gestern.« Jeglicher menschliche Ton war nun verschwunden. Er klang wie eine Puppe. So unecht. Aber doch so perfekt. Wie ein … Vampir.

»Was passiert ist, ist passiert«, murmelte ich und verfestigte meinen Griff um das Waschbecken.

»Hiroshi, ich weiß nicht, wie ich es wieder gut machen kann. Sag du mir, was ich tun kann.« Er klang zwar immer noch genau gleich, doch ein verzweifelter Unterton war zu erkennen.

Ich überlegte kurz.

»Lasst mich nach Hause fahren.« Ich schloss meine Augen und betete schon förmlich, dass er mit meinem Vater reden würde.

»Ich weiß nicht, ob das so gut ist, dich direkt nach diesem Vorfall wieder nach Hause zu lassen …«

»Wieso?«, schrie ich und mir kamen schon wieder die Tränen in die Augen geschossen. Ich würde es keinen einzigen Tag mehr aushalten.

»Ich habe Vertrauen zu dir, Hiroshi, und Vater sicher auch, aber … du solltest das lieber erst verdauen, bis du nach Hause fährst.« Kiyoshi blickte dabei zu Boden.

»Willst du damit sagen, ich könnte es ja wem erzählen?« Hin und wieder versagte meine Stimme, da ich versuchte mir die Tränen zu unterdrücken.

»Ja, so in etwa.«

»Das ist ja wohl mehr als albern!«, rief ich erneut und schlug heftig gegen den Waschbeckenrand. Die Hand schmerzte kurz, aber er verging genauso schnell wie er gekommen war.

»Hiroshi, bitte …«

»Wieso nennst du mich jetzt wieder bei meinem vollen Namen? Gestern hat’s doch auch geklappt!« Ich biss mir auf die Lippe und versuchte die aufgestaute Wut nicht an Kiyoshi auszulassen. Aber er sprach immer so gehoben, als sei er etwas Besseres.

»Gut, Hiro. Aber du solltest lieber noch etwas hier bleiben. Wer weiß wie sich dein Zustand entwickelt«, murmelte er.

»Mein Zustand? Ich fühle mich zwar beschissen, aber ich bin kein Monster geworden!«, schrie ich. Plötzlich stach etwas in meinem Hals und ich griff mir automatisch an die Wunde. Das Blut quoll wieder aus den zwei Löchern und breitete sich über meiner Hand aus.

»Du wirst zwar kein Monster … Aber ich weiß nicht, was das für Wirkungen haben wird, da du ja gestern Blut getrunken hast.« Er ließ die Klinke los und kam einen Schritt auf mich zu, blieb aber sofort wieder stehen.

»Blut getrunken … Was ist daran so schlimm?«, fragte ich, während sich meine Stimmlage wieder auf normale Lautstärke beruhigt hatte.

»Die … Nein … Du …« Er wusste nicht ganz wie er an­fangen sollte und suchte nach Worten. Dabei sah er auf den Boden und fasste sich mit der linken Hand in den Nacken.

»Was ist mit mir?«, hakte ich nach und wurde immer wüten­der, weil er selbst bei unperfekten Dingen wie Formulierungs­suchen perfekt wirkte.

Er sah zu mir. Kurz danach kam er noch zwei Schritte näher. Doch diesmal blieb er nicht stehen.

»Bleib da wo du bist!«, rief ich und zeigte mit meinem linken Zeigefinger auf ihn. »Komm mir nicht zu nahe oder ich ramme die sonst was in deine Brust!«

Nicht nur ich schien vor meinen eigenen Worten erschrocken zu sein, denn auch Kiyoshi öffnete seinen Mund ein kleines Stück und sah mich entsetzt an. Sofort ging er einen kleinen Schritt zurück.

»Nein, nein … So meinte ich das nicht …«, fügte ich sofort hinzu und nahm meinen Finger runter. »Ich möchte mein Blut nur erst einmal … behalten.« Dabei sah ich wieder nach unten ließ meine Hand von der Wunde sinken.

Plötzlich war seine Stimme ganz nah.

»Würde ich im Moment nach deinem Blut dürsten, hätte ich dich schon längst angefallen.«

Er stand direkt vor mir und sah mich mit funkelnden Augen an. Trotzdem sagten sie nichts aus. Es war dieser gleichgültige, arrogante Blick, der mich anstarrte.

»Aha …« Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Ich hatte Angst vor ihm, nach dem gestrigen Erlebnis noch mehr als vorher.

 

Dann schwiegen wir. Mein Blut lief mir mittlerweile nicht mehr aus der Wunde, trotzdem war es noch nass.

»Auch wenn du noch ein Mensch bist, hast du die Vampir-Gene in dir.«

»Und was ist mit dir? Hast du menschliche Gene?«

»Nein. Ich hatte mal welche, aber mein Körper kam damit nicht klar. Unser Vater musste mich richtig Verwandeln.«

Mir kam ein verzweifeltes Grinsen auf den Mund.

»Und du willst mir jetzt damit sagen, dass mir das gleiche passieren könnte?«

»So in etwa, ja …«

»Ich … Ich will aber …-«

»Ich habe mir das auch nicht ausgesucht!« Seine Stimmlage klang auf einmal so menschlich. Sie war aufgeregt und ver­zweifelt. Dabei hatte er seine Hand um meinen Arm gelegt und hatte ihn feste im Griff. Er starrte mich traurig und wütend zugleich an. »Ich wurde auch nicht gefragt, ob ich dieses Leben haben möchte. Ich wurde so geboren und hatte nur die Wahl zwischen Leben und Tod. Aber selbst die hatte ich nicht, denn mit eineinhalb Jahren kann man solche Entscheidungen noch nicht treffen. Du hattest wenigstens ein menschliches Leben.«

»Ich hätte es auch weiterhin gehabt, wenn ihr nicht gewesen wärt!«

»Du hast in deiner eigenen Dummheit das Blut getrunken. Du kannst die Schuld nicht nur uns alleine geben!«

»Ich wusste ja nicht, dass ich dieses dumme Synthetikzeug nicht vertrage!«

»Du hast es schon vertragen, nur deine Vampir-Gene sind damit aktiviert worden. Es war zwar nicht mein Blut, aber künstliches. Da ist es erst einmal egal ob es Vampirblut oder unechtes Blut ist. Ich habe dir gesagt, dass du es nicht trinken sollst -«

»Vampir-Gene aktiviert? Wieso hast du mir das zu dem Zeitpunkt nicht gesagt?«

»Hätte ich dir das von grade eben in einer Moralpredigt gehalten, dann hättest du das Glas fünf Mal ausgetrunken!«

Wir schrien uns immer lauter an. Sein Griff an meinem Arm festigte sich von Satz zu Satz und ich sah seinen Augen an, dass er immer wütender wurde. Natürlich hatte ich eine kleine Mitschuld, aber die war ja wohl so gering, dass man sie auch fast weglassen konnte.

»Willst du mir damit also sagen, dass ich auf dem besten Wege bin, ein Vampir zu werden?«

»Eher gesagt erst mal ein Noneternal.«

»Ein … was?«

»Ein Noneternal. Wörtlich ‚sterblich’. Du bist halb Vampir, halb Mensch.«

»So wie bei Blade?«

Kiyoshi verdrehte die Augen.

»Nur, dass wir hier nicht in Hollywood sind und das nicht funktioniert.«

»Wieso nicht? Blade kann halt -«

»Der Schauspieler Blade ist weder ein Vampir noch ein Mischmasch aus Mensch und Vampir. Der Rest ist erfunden. Es geht nicht.«

Er unterbrach mich andauernd.

»Und warum nicht?«, fauchte ich ihn an und wollte ihm meinen Arm entziehen, doch mir schmerzte immer noch alles, sodass es für mich fast unmöglich war.

»Weil dein Vampirblut dafür sorgen wird, dass deine Lebens­wichtigen Organe zum Stillstand kommen werden. Und deine menschliche Seite braucht die aber. Das Vampirblut ist stärker als das menschliche, sodass deine Organe lahm gelegt werden und du stirbst.«

Mein Mund öffnete sich ein Stück. Ich realisierte die Situation und zuckte kurz mit dem Kopf, um dann zur Seite zu schauen. Dann sah ich Kiyoshi wieder an.

»Sind ja tolle Aussichten für mich und mein Leben«, spottete ich mit einem sarkastischen Unterton.

»Ach, wirklich? Ja, natürlich sieht das nicht glänzend aus. Deswegen solltest du auch hier bleiben. Der Tag kann morgen kommen, er kann auch erst in einer Woche kommen. Aber dann muss jemand von uns bei dir sein, damit wir dich retten können.«

Jetzt nahm ich meine gesamte Kraft und riss meinen Arm weg.

 

»Lieber sterbe ich!«, schrie ich ihn an. Seine Augen weiteten sich.

»Lieber sterbe ich, als dass ich zu so einem Blut saugenden Monster werde! Ich habe die Wahl, das weißt du. Und ich will kein Vampir werden! Das ist kein Leben, das ist einfach nur dahin existieren. Ich weiß nicht viel von euch, aber das was ich weiß, hat schon keinen einzigen positiven Aspekt. Und wie soll ich das meiner Mutter beibringen? Oder meinen Freunden? Ich müsste einfach gehen, ohne irgendwem etwas zu sagen, weil ich es ja nicht darf! Das ist, als ob ich sterben würde. Und da sterbe ich lieber richtig. Da habe ich wenigstens bei meiner Beerdi­gung meine Freunde bei mir.«

Mir schossen die Tränen in die Augen und ich schluchzte kurz auf. Das Blut fing langsam an zu trocknen und bildete schon eine krustenartige Substanz.

Kiyoshi sah mich nur entsetzt an. Er schien traurig über meine Worte zu sein. Ich wusste, sie hatten ihn verletzt. Ich dachte genauso wie meine Mutter. Vampire sind Monster. Und ich will kein Monster werden.

Doch der Gedanke, dass ich sterben würde, ließ mir noch mehr Tränen in die Augen fließen. Mein Leben kann jeden Moment vorbei sein. So hat es Kiyoshi mir jedenfalls gesagt. Vielleicht kommt der Tag schon morgen, vielleicht auch erst in einer Woche.

 

Kiyoshi schüttelte langsam den Kopf. Dann blickte er zu Boden.

»Dann … soll das deine Entscheidung sein und ich möchte dir da auch nicht reinreden«, murmelte er. Er sah verletzt und traurig aus.

Drei Tage sind vergangen, seitdem ich von Kiyoshi weiß. Und wir sind uns nur am streiten. Jetzt würde ich sogar lieber sterben, als dass ich so werde wie er.

Meine Augen öffneten sich ein kleines Stück, als ich Kiyoshis Hände auf seinem Gesicht sah. Er vergrub es in seinen weißen Händen und machte keinen Ton. Es war die Stellung, die er auch gestern im Laden gemacht hat, nachdem Vater uns getrennt hatte.

Er verharrte eine Weile so, bis ich fragte:

»Weinst du?«

»Nein …«, sagte er leise und nahm seine Hände vom Gesicht.

Er weinte tatsächlich nicht. Sein Blick sagte nichts, doch sein Gesamtbild sah traurig aus.

»Ich dachte nur …«

Er schüttelte langsam den Kopf.

»Ich weine nie.«

In mir stieg plötzlich die Wut.

»Siehst du! Noch so eine Sache, die euch Vampire so un­erträglich macht! Ihr könnt keine Emotionen zeigen. Nur wenn ihr grade euer Essen hattet. Dann könnt ihr mal menschlich sein. Aber sonst seid ihr wie Puppen, wie perfekte Roboter, die von irgendeiner Hand gesteuert werden und selber keinen eigenen Willen haben. Was ist denn das für ein Leben?«, schrie ich ihn schon wieder an.

Kiyoshi öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, doch er stockte für einen kurzen Moment. Dann sah er zu Boden und schloss ihn wieder.

»Was wolltest du sagen …?«, fragte ich leise. Als er mir keine Antwort gab, seufzte ich und sah zur Seite. Mein Blick fiel kurz in den Spiegel. Da standen wir beide uns gegenüber und sahen aufs Haar genau gleich aus. Er war blass, ich auch. Er hatte fast weißes Haar, ich auch. Er hatte diese matten Augen bekommen, ich auch. Er hatte starke Augenringe, ich auch. Er war ein Vampir und … ich auch?

 

»Ich wollte sagen, dass mich deine Worte sehr verletzen … Aber du hast Recht. Sie verletzen mich zwar im ersten Moment, aber ich kann dir nicht meine Gefühle preisgeben oder dir zeigen, wie sehr die Worte mich treffen.«

Ich blickte ihn erst durch den Spiegel an, dann direkt. Er fasste vorsichtig nach meiner blutverschmierten Hand und legte sie auf sein schwarzes Hemd. Es war die Herzseite der Brust, die ich da unter meiner Hand spürte. Er sagte nichts und ich auch nicht.

 

Es war so still.

Zu still.

 

Dann verstand ich was er mir damit sagen wollte.

Da schlug kein Herz. Da hob sich kein Brustkorb. Es war einfach nur ein kalter, lebloser Körper. Ich hatte das Wort ‚leblos’ nur immer benutzt, weil es so zu ihm passte, aber nun war es ein noch besser passendes Wort. ‚Kiyoshi’ bedeutete so etwas wie ruhig. Ja, das war er. Ruhig. Er und sein Körper. Wie eine Leiche.

»Ich bin tot. Tote haben keine Emotionen, weil sie nichts spüren. Und wer nichts spürt, ist einfach nur da. Eine belang­lose Existenz. Du hast vollkommen Recht.«

Sein Blick war Ausdruckslos, doch dann formte er mit seinen weißen Lippen ein trauriges Lächeln. Seine Hand lag auf meiner, während ich noch immer auf einen Herzschlag wartete.

»Du bist tot …?«

»Ja, ich bin tot.«

Küss mich

»Ja, ich bin tot.«

Der Satz hallte in meinem Kopf noch Sekunden nach.

»Vater … auch?«

»Alle Vampire«, meinte er und nahm meine Hand in beide Hände. Er legte sie sanft auf seine Wange. »Du bist mein lebendiges Ebenbild, Hiro. Bald besteht unsere Familie nur noch aus Vampiren.«

»Aber Mom ist doch …«

»Sie wird irgendwann sterben, wie jeder Mensch. Das ist nun mal so.«

»Wir leben ewig …?«

»Ja, ewig.«

»Aber dann müsste es doch massenweise Vampire geben, wenn sie doch nicht aussterben, sondern sich nur vermehren.«

Kiyoshi musste leicht lächeln. Es war ein schönes Lächeln, fast schon erfreuend.

»Viele halten es nach über fünfhundert Jahren nicht mehr aus und bringen sich um oder stellen sich dem Feind.«

Das Lächeln versiegte bei dem Satz und er sah mich durch­dringend an.

»Ich habe noch eine Ewigkeit vor mir. Du, wenn du nicht stirbst, auch. Vater hat schon viel miterlebt.«

»Wirklich? Ist er etwa schon fünfhundert Jahre alt?«

»Nein, erst um die vierhundert.«

»Erst ist gut …« Auch wenn diese Information recht heftig war, überraschte sie mich nicht sonderlich. Selbst wenn es egoistisch klang, es ging mir erst einmal um mich.

Kiyoshi schloss die Augen und drückte meine Hand ein kleines Stückchen an sein Gesicht.

»Ich kann deinen Puls spüren …«, murmelte er. Ich biss etwas meine Zähne aufeinander und blickte zur Seite. Er bemerkte das.

»Keine Angst, es ist nur entspannend mal einen Puls zu hören.«

»Verstehe …«

Wir verharrten eine Weile so, bis er die Augen wieder öffnete und mich ansah. Dann ließ er meine Hand los und ich ließ sie wieder zu mir fallen.

»Es ist deine Entscheidung, was du machen möchtest. Aber überlege dir gut, was du willst. Solange du überlegst, bleibst du aber besser hier. Deiner Mutter solltest du vielleicht auch erst einmal verschweigen, was hier vor sich geht.«

»Wieso sollte ich das tun?«

»Weil sie sonst hierher kommt und dich mitschleppt.«

»Ein Grund mehr es ihr zu sagen.«

»Hiro. Du bist kurz davor zu sterben

»Ich fühle mich aber überhaupt nicht so.«

»Mag sein, aber dein Körper kämpft grade mit sich selber. Zwei Blutarten treffen aufeinander und das Vampirblut wird siegen. Da gibt es keine Zweifel.«

»Und wann merke ich, dass es soweit ist?«

Dann schwieg er. Er setzte wieder zu seinem Satz an, doch verstummte im selben Moment.

 

»Wenn du einfach merkst, dass du stirbst.«

Ich musste schlucken.

»Klingt nicht … angenehm.«

»Ist es auch nicht.«

Ich sah zu Boden. Dann wieder zu ihm.

»Wann hattest du deine Sterbephase?«

»Als ich eineinhalb Jahre alt war, sagte ich schon.«

»Ach ja. Stimmt.«

Er nickte kurz. Die Stimmung wurde sehr drückend.

»Du kannst dich also nicht mehr daran erinnern?«, fragte ich noch einmal.

»Nein, nicht wirklich.«

»Schade …«

»Ich kenne leider auch keinen, der sich noch daran erinnern kann.«

»Ja, Vater bestimmt nicht. Nach vierhundert Jahren … das ist lange.«

»Ja, das stimmt.«

Dann schwiegen wir wieder. Es war eine traurige Stimmung. Und für mich war es wieder eine Situation zum heulen. Ich rede über meinen eigenen Tod. Mein Leben ist bald vorbei und ich hocke hier in der Pampa. Ich habe meine Freunde … vielleicht das letzte Mal gesehen. Jiro, Kyo und  Roku, Lampe und … meine Mutter. Ich verrecke hier und keiner bekommt davon was mit. Niemand. Nur die eh schon toten Leute hier im Haus.

 

Auf einmal nahm mich Kiyoshi in den Arm. Eine Hand umfasste meinen Rücken und die andere meinen Hals. Es war eine seltsame Umarmung, wie immer eigentlich. Aber ich war nun auch seltsam. Ich war so gut wie tot. So gut wie ‚er’. Ich legte auch eine Hand auf seinen Rücken und eine auf seine Schultern. Ich atmete stockend und mein Herz raste etwas.

»Hast du Angst vor mir?«

»Nein, eigentlich nicht«, murmelte ich und versuchte mich zu beruhigen.

»Das ist der menschliche Schutzsinn. Vampire sind halt eine natürliche Bedrohung für den Körper.«

»Ja, das stimmt …« Ich musste leicht lachen. Es war ein verzweifeltes Lachen. Was soll ich nur tun? Niemand nahm mir meine Entscheidung ab. Ich musste sie alleine fällen, aber das war so schwer.

 

»Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für dich ist, alles aufzugeben.«

Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass er sich das vor­stellen konnte, aber es war nett gesagt von ihm. Er versuchte mich wenigstens aufzubauen. Ich nickte stumm und drückte ihn einfach an mich. Es war etwas beruhigend. Trotzdem wäre ich glücklicher gewesen, wenn ich ihn einfach so umarmt hätte und nicht, weil ich kurz vorm Zusammenbruch stand. Ich vergrub meinen Kopf in seinen Hals und genoss seinen Geruch. Es war dieser herbe Duft aus seinem Zimmer. So angenehm. Zum Glück eigentlich, dass er nicht auch noch nach Tod roch.

Kiyoshi bewegte seine Hand von meinen Schultern zu meinem Kopf und streichelte mich dort ein wenig. Es war schön, das musste ich zugeben. Wenn ich jetzt sterben würde, dann wäre es wenigstens einigermaßen okay gewesen. Es war das erste Mal seit meiner Ankunft, dass ich mich wohl fühlte. Ich schloss sanft meine Augen und genoss es einfach von ihm gestreichelt zu werden. Seine kalte Hand lag auf meinem nackten Rücken und bewegte sich leicht. Das verschaffte mir Gänsehaut. Ich kuschelte mich etwas an ihn ran.

Wie lange wir im Bad standen und uns umarmten, weiß ich nicht, aber es war bestimmt lange, denn ich war kurz davor alles zu vergessen. Doch, als hätte er eine Ahnung gehabt, dass ich alles zu vergessen schien, löste er unsere Umarmung. Trotzdem ließ er mich nicht los. Seine linke Hand blieb noch an meinem Kopf und seine rechte an meiner Hüfte. Er legte seine Stirn auf meine. Ich ließ meine Hand einfach an seiner Schulter und an seiner Hüfte liegen. Er sah mir eine Weile in die Augen.

 

»Soll ich dir das Blut abwaschen? Es ist dir auch am Rücken runter gelaufen.«

Ich nickte kurz, dann ließ er mich los und ging zu einem der weißen Schränke. Er holte einen blauen Waschlappen raus und kam dann wieder zu mir ans Waschbecken. Danach hielt er ihn unter das warme Wasser, bis er vollständig nass war, wrang ihn aus und krempelte seine Ärmel etwas hoch. Seine blaugrünen Adern stachen aus seiner blassen Haut hervor. Es sah schon fast beängstigend aus. Er bemerkte meinen stechenden Blick, sah erst mich an, dann den Arm und grinste dann. Ich lief etwas rot an. War mir dann doch etwas peinlich, immerhin müsste ich doch langsam dran gewöhnt sein.

 

Er legte vorsichtig den warmen Waschlappen an meine Wunde an und versuchte das Blut abzuwaschen. Seine Bewegun­gen waren so fließend und durchdacht, dass es schon wieder so perfekt war. Einfach perfekt. Alles an ihm. Ob es der Neid war oder einfach nur, weil es schon zu perfekt war, ich wurde wieder etwas wütend. Er war so perfekt und ließ das auch immer gleich so raus. Im nächsten Moment, als er wieder beim Waschbecken den blutigen Waschlappen auswrang, kam ich zum Entschluss, dass er das vielleicht gar nicht extra machte, sondern dass er das im Unterbewusstsein einfach so tat und nicht viel darüber nachdachte.

Kiyoshi nahm vorsichtig meine Arme und drehte mich leicht, sodass ich ihm meinen Rücken zeigte. Sofort danach spürte ich wieder die sanfte Berührung des Waschlappens. Er rieb ein wenig an manchen Stellen, dann hörte ich wieder Wasser plätschern, danach fühlte ich wieder den Waschlappen. Manchmal legte er noch seine andere Hand auf meinen Rücken.

»Du bist Linkshänder?«, fragte ich leise.

»Ja. Du bist Rechtshänder, stimmt’s?«

»Stimmt.« Ich musste leicht grinsen. Wir waren so ver­schie­den, aber dann doch wieder so gleich. Schlimm, einfach schlimm.

»Drehst du dich wieder um?«

Ich nickte und drehte mich wieder zu ihm. Er hatte ein ganz leichtes Lächeln auf den Lippen. Dann bemerkte er etwas und hielt meinen rechten Arm fest.

»Da ist noch eine Stelle, warte.« Dann wrang er das Blut aus dem Waschlappen, machte ihn noch einmal nass und ging über eine noch blutige Stelle an meinem Oberarm. Ich beobachtete ihn genau. Seine Gesichtszüge, sein Handeln, seine Konzentra­tion, die er dabei anwendete und sein ganzes Erscheinungsbild. Ob es daran liegt, dass wir Zwillinge sind? Oder einfach nur, weil er als Vampir doch eine anziehende Wirkung auf mich hat? Jedenfalls fühle ich mich zu ihm hingezogen, fühle mich einfach bei ihm wohl, auch wenn ich ihn manchmal für seine arrogante Art schlagen könnte. Aber ich glaube, er meinte das nie so.

Solche Gedanken schwirrten mir schon öfters durch den Kopf, aber jetzt war ich mir sicher, dass er auch eine gute Seite hatte. Nachdem er fertig war, wusch er den Waschlappen aus und legte ihn über den Rand. Dann schnappte er sich mein Handtuch und legte es mir über die Schultern. Dabei kam er mir ganz nah, sodass ich seinen Atem spüren konnte.

»Du atmest ja doch …«, murmelte ich und erinnerte mich an die Sache in der Bahn, wo ich auch seinen Atem gespürt hatte.

»Ich möchte doch was riechen können und sprechen. Aber im Grunde müsste ich nicht atmen.«

»Verstehe …«

Dann grinste er wieder und selbst ich schaffte ein Lächeln. Es war zwar etwas gezwungen, aber immerhin bekam ich noch eins zustande.

Kiyoshis Nase berührte fast meine, während wir uns gegen­über standen. Seine Hände hielten noch mein Handtuch fest, während ich meine langsam in seine Armbeugen legte.

 

Meine Haare tropften noch etwas. Seine Augen ließen meine einfach nicht los. Mein Herz klopfte so unglaublich. Auch wenn Kiyoshi meinte, es sei einfach ein Warnmechanismus des menschlichen Körpers, konnte ich es nicht bändigen. Mein Atem war so unregelmäßig und Kiyoshis so gleichmäßig. Er schien die Ruhe selbst zu sein.

 

Ich weiß nicht was geschah, aber plötzlich senkte Kiyoshi seinen Blick auf meinen Mund und auch ich sah seinen an. Wir kamen uns immer näher. Unsere Nasen berührten sich leicht. Ich öffnete ein Stück meinen Mund und auch er schien seine Lippen ein wenig auseinander zu schieben. Mein Herz klopfte immer mehr. Ich schloss die Augen und wartete einfach die Berührung ab.

 

Ich spürte seine kalten Lippen auf meinen. Ein kalter Schauer durchfuhr meinen Körper. Es war eine kurze Berührung. So flüchtig und doch so innig. Wir beließen unsere Lippen aufeinander. Kiyoshi zögerte einen kurzen Moment, da löste er seine Hände vom Handtuch und legte sie auf meine Wangen.

 

Es waren Sekunden, die verstrichen, als Kiyoshi abrupt aufhörte. Ich starrte ihn etwas verwirrt an, doch er schnappte sich mein Handtuch und warf es mir auf den Kopf. Etwas perplex sah ich nur noch schwarz und hörte Wasser plätschern. Als ich das Handtuch von meinen Augen nahm, sah ich Vater an der Tür stehen. Sofort lief ich rot an.

»Ach, hier seid ihr. Ich hab euch schon gesucht«, sagte er freundlich und wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

Kiyoshi wusch den Waschlappen erneut unter dem Wasser aus und sah Vater kein Stück an. Ich dagegen wechselte meinen verwirrten Blick zwischen den beiden hin und her.

»Was möchtest du denn, Vater?«, fragte Kiyoshi schroff und wrang den Waschlappen mit einem sehr festen Griff aus.

»Ich wollte euch fragen, ob ihr beiden nicht Lust habt für mich ein paar Besorgungen zu machen?«

»Besorgungen? Was denn für Besorgungen?«, hakte mein Bruder nach.

Ich zog mich, während die beiden redeten, schon mal um, denn immerhin stand ich die ganze Zeit in Boxershorts da. Weil es an dem Tag wieder sehr warm war, zog ich eine dreiviertel Shorts und ein Hemd mit kurzen Ärmeln an. Alles wie immer in schwarz, als würde ich eine andere Farbe tragen.

 

Trotz allem: Meine Gedanken hingen diesem … Kuss nach. Ich hatte wirklich meinen Bruder geküsst? Ich war nicht nur so gut wie tot, sondern auch noch geisteskrank. Er hat es aber auch getan. Ich spürte mein Herz immer noch klopfen. Kiyoshi hatte wohl so plötzlich aufgehört, weil er merkte, dass unser Vater kommen würde. Ein praktischer Vampirsinn. Trotzdem war Vampirsein ziemlich beschissen. Jedenfalls in meinen Augen

 

»Ich habe hier eine kleine Liste gemacht, es sind Dinge aus dem Shop, der hier um die Ecke ist. Einfach aus dem Westtor gehen. Du kennst den Weg ja.«

Kiyoshi trocknete sich kurz die Hände ab und nahm dann den kleinen, quadratischen Zettel entgegen. Er war weiß, auf dem mit einem grünen Stift geschrieben wurde.

Als ich endlich angezogen war, trocknete ich mir noch eben meine Haare ab und legte mir dann das Handtuch locker über die Schulter. Ich ging zu Kiyoshi und wollte lesen, was auf dem Zettel stand, da bemerkte ich den durchdringenden Blick meines Vaters.

»Hiro, wir reden heute nach dem Essen mal, in Ordnung?«

Ich musste heftig schlucken. Ich wollte schon sagen, dass ich im Moment lieber nicht über die Sache reden wollte, doch ich nickte einfach.

»Okay …«, murmelte ich vor mich hin, während ich das Handtuch ordentlich zusammen faltete und es auf den Ständer legte, wo ich es herhatte.

»Wir gehen dann gleich los«, sagte Kiyoshi und deutete damit an, dass Vater gehen sollte. Der nickte nur, bedankte sich und ging. Die Tür schloss sich. Mein Bruder ging zu einem der weißen Schränkchen und öffnete die linke Tür. Er kramte einen Kasten heraus und stellte ihn auf dem Schränkchen ab. Nachdem er es geöffnet hatte, wühlte er drin rum. Er drehte mir den Rücken zu, sodass ich seine Mimik nicht sehen konnte. Ich wollte ihn in dem Moment auf diesen Kuss ansprechen, doch ich traute mich nicht. Meine Gesichtsfarbe wurde etwas rot und ich kratzte mich leicht am Nacken.

Plötzlich stand er vor mir und sah mich mit einem etwas ausdrucksloseren Gesicht an, als vorher. Trotzdem schien er nicht wütend oder sonst etwas zu sein. Erleichtert über seinen Gesichtsausdruck, versuchte auch ich etwas entspannter zu sein.

»Halt still, ja?«, sagte er und legte einen Verband neben dem Waschbecken auf die marmorne Platte ab. Dann platzierte er eine kleine Mullbinde mit einem Cremeklecks auf meiner Wunde.

»Hältst du das mal fest?« Er deutete auf die Mullbinde, die er nur noch mit seinem Zeigefinger festhielt. Ich drückte mit meiner rechten Hand die Mullbinde auf die Wunde, während Kiyoshi den Verband um meinen Hals wickelte. Irgendwann ließ ich dann los und er verband noch fertig. Dann befestigte er es mit einem dieser Verschlüsse.

Er ging zurück zum Kasten, schloss ihn und stellte ihn wieder in das weiße Schränkchen zurück. Ich wollte schon wieder zur Frage ansetzten, doch wieder kam nichts aus meinem Mund.

 

»Hiro …«, sagte er leise, während ich nach Worten suchte.

»Ja?«

»Wegen grade …« Er stockte leicht. Dann drehte er sich langsam zu mir um. Seine Augen trafen wieder meine, doch sein Blick war etwas unsicher.

»Das war … etwas …«, versuchte ich zu erklären, doch er fiel mir wie immer ins Wort.

»Vergiss das einfach wieder … okay?«

»Vergessen?«, fragte ich nach.

»Ja … Das war ein Ausrutscher. Tut mir Leid.«

Ich sah zu Boden und schüttelte leicht den Kopf, kaum erkennbar. Auch wenn es nur ein Kuss war, ausgerechnet auch noch von ihm, war er mir doch wichtig. Das Wort ‚Ausrutscher’ tat weh, denn es sagte so viel aus wie »nicht von Bedeutung« oder »einfach passiert«. Ich fand keinen Grund, aber im ersten Moment hatte ich gehofft, er meinte es wenigstens ein bisschen ernst. Wobei der Gedanke, dass er mein Bruder war, alles in meinem Kopf zerstörte.

»Okay, vergesse ich«, sagte ich leise und drehte ihm den Rücken zu. Dann sah ich im Spiegel, dass mein unterster Knopf von meinem Hemd offen war. Schweigend und mit gesenktem Blick knöpfte ich ihn zu.

»Warum hast du-«, wollte ich frage, doch dann versagte mir die Stimme, da ich immer leiser wurde.

Es war einen Moment lang still. Niemand sagte ein Wort. Ich konnte seine Mimik nicht erkennen, da ich ihm den Rücken zuwendete.

»Warum hast du eigentlich mitgemacht?«, stellte er eine andere Frage. Ich lief etwas rosa an und steckte meine Hände in die Hosentaschen.

»Wenn du keine Antwort für meine Frage übrig hast, habe ich auch keine für deine übrig«, meinte ich schroff und drehte mich mit einem bösen Blick zu ihm um. Kiyoshi warf mir ebenfalls einen wütenden Blick zu.

»Seit wann ist ‚Warum hast du’ eine vollständige Frage?«, motzte er wieder rum.

»Jetzt werde mal nicht kleinlich!«

»Ich werde nicht kleinlich, ich antworte halt nicht auf irgend­welche Satzteile.«

»Es geht doch jetzt nicht um meine angeblich ‚nicht vorhan­dene Frage’, oder?«

»Im Moment schon.«

»Nein! Es geht darum, dass du mich geküsst hast!«

Dabei schrie ich so laut, dass ich mir nach dem Satz sofort an den Mund fasste. Kiyoshi öffnete seine Augen um das doppelte und starrte mich geschockt an.

»Das war zu laut, oder?«, flüsterte ich ihm über unsere Dis­tanz zu.

»Also wenn es unser Nachbar jetzt noch nicht weiß, dann ging’s«, meinte er ironisch und stemmte seine Hände in die Hüfte.

»Ihr habt Nachbarn?«, fragte ich verblüfft.

»Ja, im nächsten Stadtteil!«, sagte Kiyoshi und war anschei­nend stink sauer.

»Sehr witzig, wirklich.«

»Tz.«

Dann schwiegen wir. Kiyoshi sah auf irgendeine Stelle am Boden und ich starrte ihn an.

»Warum hast du mich jetzt geküsst?«, fragte ich noch einmal sehr leise, aber noch hörbar.

»Warum … Warum … Weiß ich doch nicht«, murmelte er und schloss dabei seine Augen. Trotz allem noch genervt.

»Du … weißt es nicht?«

»Weißt du, warum du mitgemacht hast?« Er sah mir tief in die Augen und hoffte auf eine ähnliche Antwort wie seine.

»Nicht richtig, aber ich habe auch schon Typen geküsst. Für mich ist das nicht schlimm.«

 

Im nächsten Moment sah ich seine Gesichtszüge entgleisen und wie seine blau-violetten Augen mich groß anstarrten.

»Du bist homosexuell?« Dabei ließ er seine Arme von seiner Hüfte sinken und sah mich an, als würde das alles erklären. Ich fasste mir mit meiner rechten Hand leicht an die Stirn.

»Kiyoshi, nur weil man das gleiche Geschlecht küsst, ist man nicht gleich homosexuell.«

»Du erwähntest die ‚Typen’ aber im Plural, also schätze ich, das ist schon öfter vorgekommen …?« Seine Augen wurden zu Schlitzen.

»Ich war betrunken. Und außerdem sind das alles meine besten Freunde gewesen.«

»Du … küsst deine besten Freunde?«

Ich seufzte laut.

»Ja-ha! Und? Wenn Mädchen sich ablecken ist das in Ord­nung, aber sobald wir Typen das machen, sind wir gleich schwul.«

»Ich finde das auch bei Mädchen eklig«, spottete er und verdrehte leicht die Augen. Ich hob meine rechte Hand und winkte ab.

»Du bist ja auch nicht normal.«

»Tut mir Leid, dass ich so geboren wurde und du das Glück auf deiner Seite hattest.«

»Das meinte ich nicht. Du bist grundsätzlich … anders.« Er zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

»’Anders’?«, fragte er nach.

»Ja. Wie viel mal hast du schon gefeiert? So richtig bis zum Umfallen, meine ich.« Er schien kurz zu überlegen.

»Ich feiere nicht oft.«

»Und wie viele Freundinnen hattest du schon?«

»Keine.«

»Im Ernst?«

»Ja. Und?«

»Haha …«, lachte ich sarkastisch.

»Was ist so lustig?«

»Und dein erster Kuss?«

Er sah auf die Uhr, dann schaute er wieder zu mir.

»Knappe zehn Minuten her.«

Meine Kinnlade klappte auf und jegliche Körperhaltung verlor ihre Spannung.

»Was?«

Er schüttelte den Kopf und ging auf mich zu. Ich sah nur ein Grinsen auf seinen Lippen und spürte seine rechte Hand auf meiner Schulter.

»Leichtgläubiger Mensch.«

Damit ging er aus der Tür.

Und ich stand mitten im Bad, wie bestellt und nicht abgeholt. Er war so zwiespältig. Manchmal war er lieb und nett und richtig angenehm. Aber hin und wieder, so wie grade eben, war er unerträglich. Einfach ein Arschloch. ‚Hin und wieder’ war da noch untertrieben. Eigentlich ‚most of the time’.

Seufzend stützte ich meine Hände auf dem Waschbeckenrand ab und sah ins Waschbecken. Ich muss wirklich starke Nerven haben, dass ich mich noch nicht erhängt habe, dachte ich bei mir und schaute dann in den Spiegel. Ich dachte immer, ich wäre ein Individuum. Mich gäbe es nur einmal. Und nun gibt es mich sozusagen zweimal. Auch ich hatte Vampir-Gene in mir? Ich? Wieso ich?

 

»Hiro?«

Ich drehte mich zur Tür und erblickte meinen Vater.

»Ja?«

»Kiyoshi ist schon unten in der Eingangshalle. Wolltet ihr nicht gemeinsam gehen?«, fragte er und machte ein fragendes Gesicht. Ich schüttelte leicht den Kopf.

»Ja, wollten wir …« Genervt und nicht in Einkaufsstimmung, schlurfte ich mit noch immer feuchten Haaren aus dem Bad zu Kiyoshi nach unten. Schweigend zog ich meine Schuhe an und ging schon zur Tür, da hielt mich jemand an der Schulter fest.

»Du solltest dir auch eine Jacke anziehen«, sagte mein Bruder monoton und hielt mir meine Sweatshirtjacke hin. Verwirrt darüber, wie er so schnell an meine Sachen gekommen war, nahm ich sie entgegen.

»Wieso? Ist es kalt?«

»Wirst du schon sehen«, meinte er knapp und ging aus der Tür. Augen verdrehend folgte ich ihm.

 

Natürlich schien die Sonne und es war warm. Ich band mir meine Jacke einfach um die Hüfte. Kiyoshi sagte nichts, also war das wohl noch okay. Er war natürlich wieder in seiner schwarzen Jacke eingepackt und zog die Kapuze auf. Dem schien nicht warm zu werden.

Wir gingen ein paar Minuten den Waldweg entlang. Niemand sagte ein Wort. Trotz allem gingen wir nebeneinander.

»Sag mal …«, fing ich an und wollte erst mal seine Reaktion abwarten.

»Ja?«, fragte er monoton, aber nicht wütend.

»Heute ist doch Sonntag. Wo hat hier bitte ein Shop auf?« War mir nur mal so aufgefallen.

»Wir gehen ja nicht zu irgendeinem. Wir gehen in einen Privatladen.«

»Privat? Lass mich raten: Privat, nur für euch

Kiyoshi grinste kurz, dann nickte er.

»Ja. Die Liste, die Vater uns gegeben hat, beinhaltet Dinge, die wir nicht in einem normalen Laden bekommen«, sagte er und sah mich dabei an. Ich nickte kurz.

»Ach so.«

Dann schwiegen wir wieder.

Ich betrete also gleich einen Vampirladen. Nett.

 

Es dauerte nicht lange, da bogen wir ab und ich erspähte das Westtor. Kiyoshi öffnete das schwere Eisentor und schloss es auch nach mir wieder. Vor uns erstreckte sich ein Wiesenweg, der aber doch recht kurz war und dann in einem kleinen Häuserblock endete. Mit zügigen Schritten liefen wir zu diesen Häusern. Erstaunt, dass diese Gebäude sehr neu waren, im Gegensatz zu den anderen, die ich schon gesehen hatte, lief ich Kiyoshi hinterher und betrachtete die Mauerwerke.

»Ist es noch weit bis zum Shop?«, fragte ich wie ein kleines Kind. Erst drehte sich Kiyoshi kurz zu mir, dann sah er sofort wieder geradeaus. Zwei ältere Damen kamen uns entgegen und unterhielten sich fröhlich. Ihre Blicke fielen erst auf mich, dann auf Kiyoshi. Man sah richtig, wie ihre Gesichtszüge entgleisten und sie versuchten, so schnell wie möglich weiterzukommen. Ich seufzte in mich hinein.

Als die beiden Damen außer Reichweite waren, setzte Kiyoshi erneut an.

»Nein, gleich dahinten kommt er.« Dabei deutete er auf eine kleine Kreuzung. Mein Herz fing an zu pochen.

Chloe

Die Straße, auf der wir gingen war klein und hauptsächlich nur für Fußgänger gedacht. Trotzdem stand ein blauer Van am rechten Straßenrand vor einem kleinen weißen Haus. Das Gebäude wirkte nett und freundlich, da vor den Gardinen am Fenster kleine Blumen standen, die von der Sonne angestrahlt wurden. Der Van dagegen sah dreckig und verbeult aus. Als wir beide an dem Auto vorbeigingen, spähte ich kurz rein und wendete mich sofort wieder ab, da es da drin auch nicht besser aussah.

 

Kiyoshi ging so schnell, dass ich schon fast rennen musste. Dabei waren unsere Beine gleich lang, trotzdem konnte er seine schneller bewegen.

»Kiyoshi! Warum rennst du so?«, rief ich ihm hinterher und rannte schon hin und wieder ein kleines Stück.

»Im Gegensatz zu dir, gefällt mir diese prallende Sonne nicht«, antwortete er stur und drehte sich nicht einmal um. Sein Stechschritt verlangsamte sich kurz, als wir an der Kreuzung waren. Er bog scharf nach rechts. Ich folgte ihm und schon standen wir in einer kleinen Gasse. Nicht mal ein Auto würde hier durchpassen.

Auf der rechten Seite stand an einer Wand ein Zigarettenauto­mat. Und diese Wand gehörte einem Laden.

 

»Bestattungen … Ziemlich kranken Humor haben die Leute hier«, murmelte ich vor mich hin.

Kurz nach dem Bestattungsladen folgte auch schon der nächste. Vor dem blieb Kiyoshi stehen. Dieser kleine Laden mit keinem Schaufenster und keinem Schild, war in einem sehr alten Mauerwerk, ganz im Gegensatz zu den restlich doch relativ neuen Gebäuden. Efeu wuchs eine Regenrinne hoch und die Tür war mit schwarzen Verschnörkelungen verziert. Alles sehr barock. Er blickte mich an und wartete die letzten Meter, bis ich ihn erreichte.

»Zieh deine Jacke an«, sagte Kiyoshi auffordernd.

»Was? Ist das ein Befehl?«, gab ich eingeschnappt zurück.

»Ja, ist es. Nun zieh schon an, Hiro.«

Seufzend lockerte ich meine schwarze Sweatshirtjacke von meiner Hüfte und zog sie an. Mir war schon nach wenigen Sekunden zu warm.

»Verhalte dich ruhig, okay?«, meinte Kiyoshi und griff nach der Tür. Sie war schwarz mit getönten Scheiben und einer waagrecht angebrachten Metallstange.

»Wieso? Fressen die mich da drin auf, wenn ich was sage?«, spottete ich und verschränkte die Arme. Mein Bruder seufzte und schüttelte den Kopf. Ich wusste zwar, was er meinte, machte aber trotzdem meine Späßchen. Nun hieß es also: So verhalten wie mein Bruder. Immer schön vampirisch wirken. Ich musste innerlich etwas lachen, obwohl das mehr aus Verzweiflung entstand.

 

Kiyoshi öffnete die schwere Tür und wir betraten einen Raum, der so dunkel war, dass ich meine eigenen Füße nicht mehr sehen konnte, als die Tür wieder ins Schloss fiel. Es war nicht nur dunkel, sondern auch verdammt kalt. Jetzt wusste ich, wieso ich eine Jacke mitnehmen sollte, da höchstens zehn Grad in diesem Raum herrschten. Es war einen kurzen Moment lang still. Ich hörte weder Schritte noch sonst irgendetwas. Nur mein Herz, das in diesem Moment so viel Blut pumpte, dass ich fast umgefallen wäre.

Auf einmal spürte ich eine Hand um mein Handgelenk. Sie war kalt und löste bei mir Gänsehaut aus. Ich hoffte innerlich, dass es sich hierbei um Kiyoshis Hand handelte und nicht um eine andere vampirische Hand.

Die Hand zog mich ein kleines Stück mit sich, bis ich an einem Widerstand stehen blieb. Es fühlte sich an wie ein hoher Tisch oder eine Theke.

 

Dann ging das Licht an. Erst wurde ich leicht geblendet, doch dann verschwand der Lichtstrahl aus meinem Gesicht. Ich schaute auf und erblickte eine Frau. Der Raum war klein und hinter der Theke war schon die Wand mit einer kleinen Tür. Links daneben standen ein paar Regale und zwei Kühltruhen.

Die Frau hatte lange braune Haare, die lockig über ihre Schultern lagen. Ihre Augen waren stark geschminkt und ihre Nägel in einem knalligen pink lackiert. Sie trug ein schwarzes Top mit einer auffälligen Aufschrift, die ebenfalls knallig pink war. Der Ausschnitt zeigte sehr viel von ihrem Busen, der zum Verhältnis ihrer schlanken Figur, relativ groß war. Anscheinend trug sie keinen BH, da man leichte Züge ihrer Brustwarzen auf dem Top sah. Außerdem trug sie einen verdammt kurzen, ausgefransten Minirock aus Jeansstoff, wo jeder Gedanke in mir hoffte, dass sie wenigstens darunter etwas anhatte. Ich schätzte sie vom Aussehen her auf Mitte zwanzig.

Sie stand hinter der Theke und ihre großen blauen Kuller­augen sahen mich verwundert an, während ihre Hände noch auf der Lampe lagen, die mich wohl geblendet hatte.

 

»Oh … Entschuldige bitte, dass ich dich angeleuchtet habe«, sagte sie. Ihre Stimme war sehr hoch, doch sie passte zu ihrem Aussehen.

»Kein Problem …«, murmelte ich und mein Blick fiel auf ihre Haut. Sie war kahl und weiß. Ihre Adern und Venen stachen wie bei Kiyoshi blau und grün heraus. Trotz allem wirkte sie sehr attraktiv. Was ich aber noch lange nicht als anziehend empfand. Sie war also auch ein Vampir.

»Seit wann hast du denn deinen Klon mit dabei?«, fragte die Frau und sprach dabei wohl mit Kiyoshi. Der stand noch regungslos neben mir und bemerkte meine neugierigen Blicke an dieser Frau gar nicht.

»Er ist nicht mein Klon, sondern mein Bruder«, brummte er und sah sie dabei nicht sehr freundlich an. Ich zog meine Augenbraue hoch und dachte nur: Was für ein Muffel.

 

»Du hast einen Bruder?«, brachte sie freudestrahlend hervor. Dabei legte sie ihre Handflächen aufeinander und sah mich wieder mit ihren großen Kulleraugen an. Als mir in dem Moment keine passende Reaktion einfiel, streckte sie ihre Hand aus.

»Mein Name ist Chloe! Und wie heißt du?« Sie strahlte über das ganze Gesicht und schien sich richtig zu freuen.

»Äh … Ich heiße Hiroshi … Aber nenn mich Hiro, bitte«, stotterte ich vor mich hin, da ich so eine menschliche Reaktion gar nicht gewohnt war. War sie vielleicht doch ein Mensch?

»Wah, ist ja Wahnsinn! Dass die Kabashi Familie doch noch ein Mitglied hat, ist ja selbst mir neu«, sagte sie aufgeregt und hüpfte hin und her. Dabei hielt sie meine Hand noch mit beiden Händen fest.

»War es mir aber bis vor kurzem auch noch …«, seufzte ich mit einem leichten Grinsen auf den Lippen.

»Wie?«, fragte sie neugierig und drehte ihren Kopf dabei leicht zur Seite.

»Genug des Vorstellens. Wir suchen die Dinge, die Vater braucht«, brummte Kiyoshi wieder, packte mich am linken Oberarm und zog mich von Chloe weg.

»Kiyoshi! Lass mich doch mit deinem Zwilling reden!«, meckerte sie und stützte sich dabei auf die Theke. Ihre großen Brüste lagen dabei mit auf der schwarzen Oberfläche. Ich verdrehte leicht die Augen, damit ich nicht die ganze Zeit auf ihre Brüste starrte.

»Lass ihn einfach, Chloe«, zischte Kiyoshi und zog mich weiter. Plötzlich stockte Chloe und machte ein entsetztes Geräusch.

 

»Du bringst einen Menschen in meinen Laden?«, fragte sie und riss ihre Augen noch weiter auf. Dabei glänzten sie so, wie sie immer bei Kiyoshi leuchten, wenn er an Blut denkt, es sieht oder schmeckt. Mein Herz raste weiterhin und mein Adrenalin­spiegel stieg rapide an.

»Chloe …«, mahnte Kiyoshi die Frau hinter der Theke und stellte sich schon fast schützend vor mich.

Wie ein kleines Raubtier bewegte sie ihren Hals um an Kiyoshi vorbeizuspähen. Sie grinste etwas. Doch so schnell wie das Grinsen gekommen war, versiegte es auch wieder. Ihre Augen normalisierten sich etwas und sie richtete sich wieder normal auf. Mein Atem stockte für einen kurzen Moment, doch als sie wieder in ihren Normalzustand überlief, entspannte ich mich.

»Du hast ihn gebissen …«, sagte sie so leise, dass es kaum hörbar war. Die Augen meines Bruders verformten sich zu schlitzen.

»Die Verwandlung ist fehlgeschlagen, Kiyoshi. Er hat nicht dein Blut getrunken, sondern das eines anderen. Wie nachlässig von dir.« Dabei verschränkte sie ihre Arme vor ihrer Brust. Ihr Blick verdüsterte sich. »Du weißt, was er wird.«

»Das geht dich nichts an, Chloe«, zischte Kiyoshi erneut und war wahrscheinlich kurz davor den Laden wieder zu verlassen.

»Was sagt Fudo dazu?«, fragte sie und ließ ihrem finsteren Blick freien Lauf. »Er wird sicher nicht begeistert sein, dass sein einziger menschlicher Sohn kurz davor ist zu sterben.«

 

»Halts Maul!«, schrie Kiyoshi plötzlich.

 

Chloe zuckte zusammen und auch ich riss meine Augen dementsprechend auf. Kiyoshi hatte einen Wutanfall? So etwas Menschliches hat er ja noch nie gemacht.

Chloe seufzte laut und winkte ab.

»Ist ja gut, ist ja gut. Fang nicht gleich an, den bösen Blut­sauger zu spielen«, sagte sie sarkastisch. Dann grinste sie wieder breit. »Mach dir nichts draus, Hiro. Vampir sein hat auch seine Vorteile.«

»Die wären?«, fragte ich ungläubig und stützte mein Kinn etwas auf Kiyoshis Schulter ab.

»Fängst du schon wieder damit an?«, zischte er mir zu und drehte sich etwas zu mir.

»Es gibt ja auch nichts Gutes! Jedenfalls hast du mich noch nicht vom Gegenteil überzeugen können.«

»Der kann dich auch sicher nicht überzeugen …«, warf Chloe ein und verdrehte gespielt die Augen. Sie schien ihn also nicht sehr zu mögen. Kiyoshi seufzte genervt und ging weiter in den kleinen Raum hinein zu den Kühltruhen. Da es nur geringfügig heller war als vorher, sah ich ihn nach wenigen Metern Entfernung nicht mehr. Ich drehte mich wieder zu Chloe, die grinste mich freundlich an. Noch etwas zögernd, ging ich zu ihr zur Theke.

»Na? Fühlst du dich schon anders?«, fragte sie freundlich und legte ihren Kopf etwas zur Seite.

»Hm. Ich fühle mich eigentlich schon seit dem ich hier zu meinem Vater und meinem Bruder gekommen bin sehr komisch«, versuchte ich zu Spaßen, doch Chloes Lächeln versiegte.

»Wirklich? Aber Fudo ist doch nett. Er ist immer freundlich und höflich.«

»Ja, natürlich. Aber die Atmosphäre ist für einen Menschen schon etwas seltsam.«

»Hast du auch wieder recht. Wir haben eine andere Aura auf euch Menschen. Wir wirken anziehend, wusstest du das?« Dabei lachte sie etwas und zwinkerte mir zu.

»Nein, wusste ich nicht«, lachte ich, »aber ich glaube, ich bin davon nicht betroffen.«

»Och, ich glaube schon. Ihr Menschen habt zwar im ersten Moment Angst vor uns, aber danach wirken wir so unglaublich attraktiv und anziehend auf euch, dass ihr am liebsten nur noch in unserer Aura versinken möchtet.« Chloe verfinsterte ihre Miene, grinste aber noch. »Dass ist dafür, dass wir besser und schneller an unsere Beute kommen.«

 

Mein Gesichtsausdruck fiel wohl in sich zusammen, denn Chloe lachte los und rief so etwas wie: »Dein Blick!«

Ich fand das weniger lustig. Sie hatte nämlich recht. Wenn ich mich fade zurückerinnerte, habe ich mich damals auch Kiyoshi einfach so hingegeben. Ich wollte seine Haut an meiner spüren. Meine Angst stieg mir zwar bis in die Fingerspitzen, trotzdem wollte ich bei ihm sein. Er wirkt also so gegensätzlich auf mich, weil er so eine anziehende Wirkung auf mich hat. Das würde wiederum erklären, wieso ich ihn geküsst …

»Alles in Ordnung, Hiro?«, fragte Chloe und schnippte vor meinem Gesicht rum.

»Oh, ja. Tut mir Leid.«

»Du warst grade so abwesend. Hat dich das so geschockt?« Dabei sahen mich ihre großen blauen Augen erneut an.

»Nein, nein. Eigentlich nicht.« Ich grinste sie etwas an und damit wollte ich das Thema beenden. Sie nickte.

»Wenn wir Hunger haben, wirken wir aber noch anziehender als sonst. Also wenn du Kiyoshi plötzlich nahe kommen möchtest, dann tu es lieber nicht.«

»Okay … Danke für den Tipp«, lachte ich gequält und kratzte mich etwas verlegen am Nacken. Hätte man mir das nicht mal früher sagen können?

 

»Weißt du, Vampir-Sein ist zwar nicht immer Stressfrei, aber es ist oft angenehm.«

Ich sah sie fragend an, dann fuhr sie fort:

»Du kannst zwar Tagsüber nicht so freizügig rumlaufen, dafür hast du aber die ganze Nacht nur für dich. Du benutzt also sozusagen den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden lang. Vampire brauchen nicht so viel Schlaf, wir können sogar eine Woche ohne Schlaf aushalten. Wir brauchen keine teuren Lebensmittel kaufen, denn uns reicht das Blut aus der Blutbank. Jeder hat seine Lieblingsblutart. Ich mag zum Beispiel am liebsten A+. Aber das gibt es leider so selten. Und wir Vampire können viel schneller Laufen als Menschen. Wir brauchen nämlich kein Auto oder derartiges für kürzere Strecken, die laufen wir genauso schnell. Und überhaupt, es gibt so viele Dinge, die toll an Vampire sind. Ich glaube, an uns Vampiren finden die Menschen die Unsterblichkeit am Besten. Wer will schon nach circa neunzig Jahren sterben?« Dann lachte sie wieder etwas und grinste mich glücklich an.

 

»Halt keine Vorträge, kassier das hier lieber«, brummte Kiyoshi von meiner linken Seite aus und stellte einen Korb auf die Theke.

Chloe seufzte und verdrehte die Augen. »Ich versuche nur deinem Bruder sein neues Leben näher zu bringen, dass du ihm ja beschert hast. Es wäre deine Aufgabe, ihm sein neues Leben schöner zu machen, indem du ihm positive Argumente bringst und nicht nur negative zeigst.«

»Mach einfach.« Kiyoshi deutete auf die Gegenstände hin. Ich starrte fassungslos auf den Haufen im Korb.

 

Darin enthalten waren bestimmt sechs Blutpackungen, zwei Packungen mit den roten Tabletten, Kanülen mit Spritzen, Pipetten und eine Packung blutdurchtränktes Fleisch. Meine Augen weiteten sich, als Chloe das Zeug einzeln aus dem Korb nahm und es mit dem Strichcodeleser kassierte.

»Heute so wenig?«, fragte sie monoton.

»Ist ja auch nur für ihn«, murmelte Kiyoshi und deutete auf mich. Sofort sah Chloe zu mir.

»Findest du das nicht was übertrieben? Du hast ihn doch erst vor kurzem gebissen, ich kann seine offene Wunde doch noch riechen.«

»Es kann jeden Moment passieren. Außerdem ist das nur die Einkaufsliste von meinem Dad, ich habe da keinen Einfluss drauf.«

Sie seufzte wieder und widmete sich weiter dem kassieren. Ich fühlte mich so schlecht, als wäre ich zu Stein geworden.

»F-Für mich?«, stotterte ich vor mich hin und sah Kiyoshi entsetzt an.

»Wenn du erst mal soweit bist, findest du das auch lecker«, strahlte Chloe mich an und grinste.

»Hm … Okay … Wenn du das sagst«, murmelte ich und sah zu, wie sie das Zeug in eine Tüte packte. Kiyoshi bezahlte und nahm die Tüte entgegen. Ich wusste nicht, wie viel es kostete, da Chloe weder den Preis sagte, noch ich so schnell zählen konnte, wie viel sie Kiyoshi zurückgab, noch was er gegeben hatte.

 

»Wir gehen. Bis dann, Chloe«, murmelte Kiyoshi und ging zur Tür. Vorher zog er sich seine Kapuze wieder auf und vergrub seine eine Hand, mit der er die Tüte trug, in seinem Jacken­ärmel, damit sie nicht der prallen Sonne ausgesetzt war. Ich wollte ihm schon folgen, da packte mich Chloe am Ärmel und flüsterte mir etwas zu:

»Hey, Hiro. Wenn der Kerl dich mal nervt oder du was wissen willst, kannst du immer vorbeikommen. Ich mach dir dann eine heiße Milch. Und bei Bedarf auch mit etwas Blut drin.« Sie lächelte freundlich und ließ mich dann wieder los.

Ich nickte und bedankte mich. Milch mit Blut klang zwar etwas eklig, aber sie meinte es ja nur gut.

Ich verabschiedete mich freundlich von ihr und winkte, während ich zum Gehen ansetzte. Dann ging auch ich aus dem Laden, wo Kiyoshi schon wartete. Sofort schälte ich mich aus der Jacke, da die Sonne eine gewaltige Kraft auf mich hatte. Es war schön warm im Gegensatz zu da drinnen. Ich erhaschte noch einen kurzen Blick in den Laden, wo man durch die getönten Scheiben noch etwas Licht erkennen konnte. Dann erlosch auch dieses Licht und der Laden sah wieder so aus wie vorher: düster und dunkel.

 

»Sie ist ein lustiger Vampir«, murmelte ich vor mich hin und vergrub meine Hände in meinen Hosentaschen.

»Sie labert mir zu viel«, entgegnete mir Kiyoshi mit grimmiger Miene. Es missfiel ihm etwas, das war unübersehbar.

»Du magst sie also nicht?«

»Doch, schon. Sie war die einzige damals, als wir hierhin gezogen sind, mit der ich spielen konnte. Aber da ging sie mir mit ihrem dummen Getue auch noch nicht so auf die Nerven.«

»Na ja. Also so schlimm ist es jetzt auch nicht«, versuchte ich ihr wirklich leicht dummes Geschwafel ins Positive zu ziehen.

»Du scheinst dich ja prächtig mit ihr zu verstehen.«

Aha. Da haben wir’s doch. Das ist also der Punkt, der ihm missfällt. Ich verstehe mich gut mit Chloe und er hat Probleme mit ihr.

»Du magst es also nicht, dass ich mich gut mit ihr verstehe?«, hakte ich nach und grinste dabei etwas verschmitzt.

Während wir unser mehr oder weniger gutes Gespräch führten, gingen wir langsam die kleine Straße wieder zurück, von der wir auch kamen.

»Nein, das ist es nicht.«

Als er nichts weiter sagte, musste ich ihn einfach weiter ausquetschen:

»Sondern?«

»Ich mag sie einfach nicht so. Und es war mehr eine Feststellung, dass du dich gut mit ihr verstehst.«

Ich musste leicht in mich hineingrinsen. Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Der Gedanke gefiel mir auf eine Weise, weswegen ich auch ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen bekam.

»Was grinst du so?«, fragte Kiyoshi genervt und schien zu erahnen, was ich dachte.

»Nur so«, meinte ich und sah mich in der Gegend um, so als ob nichts wäre.

»Wehe du denkst jetzt, ich sei eifersüchtig«, zischte er und sah eingeschnappt zur Seite.

»Nein, nein …« Ich musste etwas kichern. Zu spät. Ich dachte es schon.

Mein Blick fiel zu ihm, als er zur Seite schaute. Kurz erblickte ich einen Teil seines Gesichtes und er war leicht rosa an den Wangen. Wie niedlich, dachte ich bei mir und grinste fröhlich weiter. Er scheint mich also doch etwas zu mögen.

 

Als wir wieder am Westtor ankamen und wieder jenseits der normalen Welt standen, dachte ich noch mal über die ver­gangenen Tage nach. Ich war jetzt ein Noneternal. Seltsame Vorstellung kein Mensch mehr zu sein. Ich war ein halbes Monster geworden. Wenn ich in den Spiegel blickte, dann sah ich nicht mehr mich, sondern jemand anderen. Das war nicht ich. Mein Leben endete hier. Traurige Vorstellung eigentlich.

Kiyoshi und ich schlurften den etwas sandigen Walsweg entlang. Die Sonne schien prall auf uns herab. Kiyoshi schien wieder zu leiden.

»Ich dachte immer, dass es im Norden in der Sommerzeit mehr regnen würde …«, sagte ich zu ihm. Er schien es erst nicht wahrgenommen zu haben, dass ich etwas sagte, doch dann drehte er seinen Kopf zu mir.

»Normalerweise tut es das auch. Doch auch der Norden hat manchmal seine Sommertage.«

Ich nickte und grinste traurig. Dabei starrte ich den Boden an und versank in meinen Gedanken.

»Stimmt etwas nicht, Hiro?«, fragte mein Bruder und kam mir mit dem Gesicht etwas näher.

»Wenn es also so weit wäre … müsste ich Mom dann auch verlassen, stimmt’s?« Meine Stimme versagte zwischendurch mal, weil ich mir wie immer meine Tränen unterdrücken musste. Ich sterbe und ich muss alles zurück lassen. Ich wurde ermordet. Durch die Zähne meines Bruders. Ich sollte ihn hassen …

 

»Wenn du es in der Sonne weiterhin gut aushaltest, kannst du auch dort bleiben, obwohl es mit der Schule schwierig werden würde«, sagte Kiyoshi und versuchte mir anscheinend ein paar Hoffnungen zu machen. Ich schüttelte leicht den Kopf.

»Abwarten was passiert. Du weißt ja, ich habe mich noch nicht entschieden.«

Damit blieb Kiyoshi stehen. Er blickte mich entsetzt an und versuchte sein perfektes Gesicht seinen menschlichen Zügen freien Lauf zu lassen.

»Du willst immer noch lieber sterben als ein Vampir zu werden?«

Ich blieb ebenfalls stehen, doch mit einem Abstand von circa zwei Metern. Ich sah ihn mit einem Lächeln an und versuchte damit den Ernst der Situation zu entlasten.

»Die Wahl liegt bei mir, hast du gesagt. Und ich habe mich noch nicht entschieden. Wenn ich lieber sterben wollen würde, dann hätte ich mich ja schon entschieden.«

»Hiro, das ist Irrsinn. Du solltest leben und nicht sterben. Außerdem -«

»Ich bin doch schon halb tot!«, unterbrach ich Kiyoshi und ließ mein Lächeln sofort versiegen.

»Nein, Hiro, das bist du nicht. Ich bin halb tot -«

»Du bist tot. Das hast du gesagt und ich glaube das auch. Du und Vater, ihr beide seid nicht normal. Ihr seid Monster. Blutrünstige Monster. Und Mom wusste das, deswegen hat sie dich weggegeben.«

Kiyoshi knirschte kurz mit den Zähnen und verkrampfte seine Hand an der Tüte.

»Schön, dass du das behalten hast«, zischte er durch seine zusammengedrückten Zähne und funkelte mich böse an.

»Allein die Vorstellung, zu leben und dabei tot zu sein, ist für mich eine Tortour. Dann soll ich das also auch noch durch­machen? Vergiss es.«

»Tja.«

»’Tja’?«, wiederholte ich seine arrogante Antwort. Sofort sah ich an seinem Blick, dass seine Vampirzüge wieder voll und ganz zur Geltung kamen. Anmutig und selbstbewusst richtete er sich auf und starrte mich mit verachtenden Augen an. Diesmal konnte mir niemand mehr erzählen, dass er das aus dem Unterbewusstsein tat. Das machte er mit vollem Be­wusstsein. Aus voller Absicht. »Alles was du dazu zu sagen hast, ist ‚tja’?«

»Ja. Mach doch, was du willst. Dich zwingt niemand, irgend­ein ‚blutrünstiges Monster’ zu werden. Du kannst dich auch deinem Schicksal hingeben und einfach sterben, wenn es soweit kommt. Glaube mir, er wird nicht angenehm werden.«

 

In meinen Augen sammelten sich erneut Tränen. Es waren aber keine traurigen Tränen, diese waren gefüllt mit Wut. Wut über Kiyoshi und meinen Vater. Auch wenn Fudo sehr wenig dafür konnte, hatte er doch eine Mitschuld daran, mich einfach dieser Gefahr auszusetzen. Meine Mutter kam entsprechend dazu. Doch die Hauptschuld an meinem Tod trug Kiyoshi und er nahm es auch noch locker hin. Er hatte sich zwar dafür entschuldigt, aber mal im Ernst: Das bringt mir mein Leben auch nicht wieder.

»Danke für den Tipp, Brüderchen. Ich sollte dich abgrundtief hassen. Dafür, dass du mir das angetan hast.«

»Mich hassen? Das hast du dir schön selber zugefügt. Ich gebe zu, dass, wenn ich dich nicht fahrlässig gebissen hätte, die Voraussetzung für dieses Dilemma nicht gegeben gewesen wäre, aber im Endeffekt hast du dir das selber eingebrockt.«

»Ich mir selber? Du spinnst ja wohl! Ich habe früher auch einfach mal Blut geleckt, da ist nie irgendetwas passiert und plötzlich trinke ich euer Synthetik-Zeug und schon verwandle ich mich in ein Monster! Kannst du nicht ein bisschen verste­hen, wie ich mich gerade fühle?« Und da kullerte schon die erste Träne meine Wange runter.

Kiyoshi sah mich ausdruckslos an und in seinen Augen war noch immer dieser verachtende Blick zu spüren.

»Nein. Kein Stück«, brachte er raus und starrte mich weiter an. Meine Augen öffneten sich ein Stück, ich drehte mich stur um und rannte zum Hauseingang. Dort machte mein Vater gerade die Tür auf. Ich stürmte rein und rannte die Treppe hoch in mein Zimmer. In der Tat war ich darüber überrascht wie schnell ich es erreichte. Ich rannte definitiv schon schneller als vorher. Ich knallte mit einem lauten Schlag die Tür zu. Danach trat Stille um mich herum ein.

 

Ich ließ mich erschöpft auf meinem Bett nieder. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und weinte in sie herein. Ich schluchzte immer wieder auf. Meine Verzweiflung stieg mir in den Kopf und alles wollte auf einmal raus. Alles war in diesem Moment zerstört. Mein Glück, meine Freude, meine Hoff­nungen, mein Lächeln und mein Leben. Ich griff mir mit meinen Händen in die Haare und packte etwas zu. Sofort erinnerte es mich an den Moment, wo Kiyoshi meine Kehle entblößte und dabei mit seiner Hand meine Haare nach hinten zog. Sofort schluchzte ich erneut auf und biss die Zähne aufeinander. Wie oft habe ich mir schon im Unterbewusstsein gesagt, dass ich stark sein musste. Einfach versuchen alles mit Spaß und Freude zu sehen. Versuchen, einfach durchzu­kommen. Irgendwie. Doch nun konnte ich nicht mehr. Kiyoshi war ein Arschloch, ein Monster, das alles in mir zerstört hatte. Und alles was er mir entgegenbringen konnte, war Arroganz und Egoismus. Jetzt war alles vorbei.

 

Doch ich konnte an kein Ende denken. Ich löste mich kurz aus meinen Händen und versuchte mit verschwommenem Blick zu sehen. Meine Vorhänge waren leicht zusammengezogen und lie­ßen etwas Licht in den Raum. Sie zauberten eine schöne Atmosphäre, die mich noch trauriger machte. Sie erinnerte mich an unser großes Wohnzimmer. Wir hatten an einem Fenster auch lange Vorhänge, die, wenn die Sonne schien, ein bisschen Licht durchließen. Es war immer schön dann auf dem Sofa zu sitzen und in den Himmel zu schauen. Einfach zu träumen und an Nichts weiter zu denken. Keine Sorgen zu haben. Nur für einen kleinen Moment.

Ich stand auf und zog den Schreibtischstuhl vor das Fenster. Ich öffnete es einen Spalt und setzte mich auf den Stuhl, sodass ich mich auf der Lehne aufstützen konnte. Ich blinzelte leicht, eine letzte Träne floss über meine Wange und tropfte auf meinen Arm. Ich legte meinen Kopf auf die Lehne und starrte aus dem Fenster. Die Bäume wehten ein wenig im Wind und ließen die Sonne auf den Boden. Wenige Wolken schwebten langsam am Himmel. Einige Vögel saßen auf den Ästen und zwitscherten vor sich hin.

 

Ich genoss den Moment und versuchte wieder einmal alles zu vergessen. Es war erst schwer, doch plötzlich wusste ich gar nicht mehr, wieso mein Herz so schwer war. Es war einfach nur noch schwer. Es weinte weiter und erholte sich nicht, doch ich selber konnte abschalten. Wenn auch nur für einen Moment. Nur ganz kurz. Aber es tat gut.

 

Plötzlich hörte ich Geschrei. Es kam aber nicht von draußen, sondern aus der Villa. Es hörte sich grauenhaft an … Sofort öffnete ich meine Augen und drehte mich zur Tür. Langsam stand ich auf und wollte nachsehen, wieso diese grauenhaften Schreie in unserem Haus waren …

Strafordnung

Das Geschrei hörte nicht auf. Es wurde immer lauter. Zwei Personen schrien rum. Ich ging zur Tür. Noch einmal wischte ich mir über das Gesicht um nicht allzu verheult auszusehen, dann öffnete ich sie langsam. Sofort verstand ich, wer da schrie.

 

»Was soll ich denn noch tun? Was? Sag’s mir!«, schrie Kiyoshi. Er schien im Foyer zu stehen.

»Dich nicht so benehmen! Weißt du überhaupt was du ihm angetan hast? Ein bisschen mehr Respekt wäre angebracht!«, rief nun auch mein Vater und schien wieder sehr in rage zu sein. Doch diesmal um einiges schlimmer als damals wegen dem ‚Wein’.

»Ich habe Respekt vor ihm! Aber er hat keinen vor mir, was bitte soll ich ihm also entgegenbringen? Immer den lieben, netten Sohn vom Lande spielen?«

»Nein, aber du sollst ihn nicht so fertig machen!«

»Ich mache ihn nicht fertig, er macht mich fertig! Vater, er will sterben! Er will nicht verwandelt werden!«

»Weil du ihm genau die Seiten dieses Lebens zeigst, die nicht rosig sind. Du machst dein eigenes Leben zur Hölle, Kiyoshi«, schrie mein Vater laut. Plötzlich herrschte Stille. Ich kauerte an meinem Türrahmen und hörte neugierig dem Gespräch zu. Kiyoshi und Vater stritten sich. Aber heftig. Ob das öfter so ist, fragte ich mich innerlich und lauschte, wieso plötzlich Stille eintrat.

Plötzlich schluchzte Kiyoshi.

»Dann mache ich mir mein Leben eben zur Hölle. Aber deswegen mache ich doch nicht das Leben von Hiroshi ebenfalls zur Tortour!«, schrie er wieder. Hin und wieder versagte seine Stimme. Er …?

»Kiyoshi, achte auf deinen Ton mit dem du mit mir sprichst.«

»Ich spreche ganz normal! So bin ich halt, du hast mich erzogen. Ist es nicht deine Schuld, dass ich so geworden bin wie ich nun bin? Du bist es doch Schuld!«

»Zum letzten Mal. Vergreife dich nicht so im Ton, junger Mann.«

»Zum letzten Mal, ich vergreife -«

 

Dann schallte es im Foyer und jemand schien hinzufallen. Sofort trat Stille ein. Ich zuckte leicht zusammen. Vater hat Kiyoshi doch nicht etwa geschlagen? Das hörte sich um so einiges schlimmer an als im Kaufhaus gestern.

 

Er weinte. Er schluchzte laut auf und zog kurz die Nase hoch. Das ging bestimmt Sekunden so. Ich hörte nur seine Schluchze und wie sehr er sich quälte. Meine linke Hand wanderte vom Türrahmen zu meinem Mund, wo ich sie vor Entsetzen auf meine Lippen legte. Erst als eine Träne auf mein Handgelenk tropfte, merke ich, wie sehr ich mitfühlte. Es tat mir Leid, dass er nun Ärger von Vater bekam. Er schien ein strenger Vater zu sein. Einerseits gab ich ihm Recht, dass Kiyoshi sicher etwas übertrieben hatte, aber andererseits gab ich Kiyoshi auch Recht. Er ist so. Natürlich ist er nicht leicht, aber was soll er schon tun? Jiro ist auch eine Nervensäge, trotzdem kommen wir alle irgendwo mit ihm klar. Lampe ist eklig und einfach unan­genehm, trotzdem gehört sie zu uns. Und Kyo und Roku sind sehr empfindlich, trotzdem geigen wir ihnen manchmal die Meinung, auch wenn es danach im Streit endet. So auch Kiyoshi. Er ist ein Arschloch und die Arroganz in Person, trotzdem ist er mein Bruder. Trotzdem habe ich ihn lieb, auch wenn ich ihn kaum kenne. Die Verbindung ist da. Jetzt besonders, wo mir das gleiche Schicksal ereilt wie ihm. Die Unsterblichkeit.

 

Ich wollte schon einen Schritt nach vorne setzen, um nach unten ins Foyer zu gehen, da hörte ich irgendein Gemurmel und wie Kiyoshi wieder schrie:

»Dein Vatergetue kannst du dir in den Arsch schieben! Ich hasse dich!«

Sofort hörte ich Treppenrumpeln und bevor ich in mein Zimmer zurückgehen konnte, starrte ich schon in die tränen­überfüllten blau-violetten Augen. Sein Blick war verzweifelt. Unser Blickkontakt dauerte nur wenige Sekunden, dann verschwand er in seinem Zimmer mit einem lauten Türeschlag. Wie angewurzelt blieb ich am Türrahmen stehen und starrte auf die schon längst geschlossene Tür. Erst nach einigen Sekunden fiel mir innerlich auf, dass seine linke Wange verdammt rot war. Ob sie blutete? Ich war mir nicht sicher, aber ich traute mich auch nicht es herauszufinden.

Starr und stumm blieb ich stehen. Ich wischte mir vorsichtig wenige Tränen aus dem Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. Was für ein Gewirr. Hoffentlich endete der Tag bald, hoffte ich und drehte mich langsam wieder um.

 

Ich schlurfte in mein Zimmer und schloss hinter mir die Tür. Vorsichtig griff ich nach meinem Handy in meiner Hosentasche. Es war schon kurz nach sechs Uhr. Trotzdem schien der Tag nicht enden zu wollen. Mein Magen knurrte plötzlich. Ich hatte Hunger. Aber den schob ich erst einmal beiseite. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und starrte auf mein Handy. Mein Blick wechselte kurz zwischen Handy und Fenster, dann entschloss ich Jiro anzurufen. Ich hatte dieses Bedürfnis, wem zu erzählen, was gestern Nacht vorgefallen war. Was passiert war und was mit mir geschehen wird. Aber ich durfte nicht. Ich konnte es Jiro einfach nicht erzählen, das wäre fatal. Trotzdem wollte ich mit einem meiner Freunde sprechen.

 

Langsam wählte ich Jiros Hausnummer. Ich wartete kurz, dann meldete sich seine Mom.

»Hallo Hiroshi?«, meldete sie sich und zeigte damit, dass sie meine Nummer auf dem Telefondisplay erkannt hatte.

»Hallo Frau Hirotaka. Ist Jiro da?«

»Ja, sicher. Einen Moment.« Man hörte Stimmen und wie das Telefon weitergereicht wurde.

»Hero, was geht?«, meldete er sich in seiner typisch aufge­drehten, lustigen Art. Ich musste grinsen. Ich hätte schon wieder weinen können. Ich vermisste das so.

»Hey. Nicht viel. Bei dir?«, antwortete ich gespielt locker.

»Wie nicht viel? Ist bei deinem Dad nix los?«

»Nicht wirklich, nein.« Oh, hier ist genug los. Eigentlich schon zu viel für meinen Geschmack.

»Sag bloß. Erzähl doch mal. Wie ist es da so. Du wolltest noch die Umgebung und so beschreiben.«

»Na ja … Was gibt es da viel zu beschreiben. Er hat halt eine riesige Villa und ein großes Anwesen. Es ist sehr waldig hier und es gibt vier Tore. Nord-, Süd-, Ost- und Westtor. Bei jedem Ausgang kommt man woanders raus. Ansonsten … recht langweilig hier. Nicht so wie City bei uns.«

»Klingst ja nicht grade begeistert. Ist was passiert? Du klingst so niedergeschlagen?« Ich konnte es also nicht sehr gut vertuschen.

»Hm, habe mich mit Kiyoshi gestritten.«

»Mit … wem?«

»Na …-«, ich stockte. Verdammt noch mal, ich hatte ihm ja noch gar nicht erzählt, dass ich einen Bruder habe. Jetzt war’s zu spät. Da habe ich mal nicht nachgedacht und nun ist es raus. Prima. Perfekt.

»Wer ist Kiyoshi? Ein Freund von deinem Vater oder so?«

»Nee … Du Jiro, bist du mir böse, wenn ich dir jetzt was erzähle, was ich dir vorher verschwiegen habe?«

»Ich glaube nicht, nein. Außer es ist etwas, was uns beide angeht, dann schon.« Er klang etwas angereizt.

»Nein, es geht eher um mich und Familie.«

»Ach so. Rück schon raus! Wer ist Kiyoshi? Dein geheimer Bruder?« Dann lachte er. Ich lachte kurz mit, dann hörte ich abrupt auf.

»Ja, genau.«

Sofort trat Stille ein.

»Nicht im Ernst, oder?«, fragte Jiro noch einmal nach und schien nun den Ernst der Situation verstanden zu haben.

»Doch. Kiyoshi ist mein Zwillingsbruder.«

»Zwilling auch noch? … Eineiigig?«

»Ja …«

»Auch das noch! Wahnsinn …« Er schien fassungslos zu sein.

»Ja, so habe ich auch reagiert …«

»Wieso hast du mir das nicht direkt erzählt?«

»Ich hatte gehofft, er wäre nur eine Einbildung.« War gelogen, aber klang wenigstens noch lustig.

»Oh man. Ist er denn nett -?«

»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Darüber musste ich nicht wirklich groß nachdenken. Kiyoshi war ja wohl alles andere als nett.

»Äh ... Oh.«

»Ja, er ist arrogant und eingebildet und zeigt ganz schön deutlich, dass er von der besseren Sorte ist.« Dass das wegen dem Vampirsein zutun hatte, erwähnte ich aber definitiv nicht.

»Im Ernst? Du armer. Grade du, der ja eigentlich das Gegen­teil ist. Lustig, locker und alles andere als eingebildet und arrogant.«

Ich schwieg kurz. Dann lächelte ich traurig.

»Danke, Jiro. Das höre ich gerne.« Dann verkniff ich mir weitere Tränen.

»Mensch, Hero! Ist alles klar bei dir? Du klangst schon nach der Anreise so komisch und jetzt ist es ja mal extrem. Ist irgendetwas passiert? Kann ich dir helfen? Soll ich herkommen und deinen blöden Bruder verhauen?«

Ich musste lachen. Jiro, jetzt wusste ich wieder ganz genau, wieso du mein bester Freund warst.

»Nein, nein, du brauchst nicht vorbei kommen.« Obwohl es mir lieber wäre. Doch Jiro würde nicht gewinnen. Kiyoshi war zwar zierlich und doch irgendwo nicht allzu mächtig, aber wenn er es drauf anlegte, konnte er ganz schöne Kräfte anwenden. Ich habe das am eigenen Leib gespürt, als er mich festhielt, um mich …

»Ist denn wirklich alles in Ordnung? Oder ist was passiert?«

»Wie gesagt, nur ein Zoff mit ihm. Nichts Weltbewegendes.«

»Hero, das kauf ich dir nicht ab. Wie oft gehst du voll ab, wenn Lampe was Blödes macht und ihr streitet euch. Da ist’s dir doch auch egal.«

»Ja, bei Lampe. Wenn wir uns streiten würden, wäre ich auch ziemlich down.«

»Im Ernst? Oh Gott, Hero, wir streiten uns nie wieder, wenn du dann so bist.« Ich musste wieder leise lachen. Jiro, du bist niedlich, wie ein kleines Kind.

»Hero, noch mal. Wenn irgendetwas passiert sein sollte, dann sag es mir doch. Du weißt, ich behalte es auch für mich, wenn du es willst. Du kannst mit mir über alles reden.«

»Das weiß ich, Jiro. Danke dafür.«

»Null Problem.«

»… Du, ich glaube ich ruf mal meine Mom an.«

»Ja, okay. Kann ich dich morgen mal anrufen? Sind ja Ferien, wir müssen ja nicht in die Schule.«

»Äh …« Wer weiß, was morgen alles passiert. Ich hatte schon wieder Angst. »Klar. Ruf einfach an. Wenn ich nicht drangehe, kann sein, dass ich mein Handy grade nicht zur Hand habe.«

»Du gehst ran. Wenn du nicht drangehst, dann mach ich mir Sorgen und ruf bei deiner Mom an. Du weißt, dass die sofort einreist oder die Polizei ruft.«

»Das würdest du nicht tun!«

»Du weißt, wozu ich fähig bin.«

Kurzes Schweigen trat ein. Dann lachten wir beide los. Meine Mutter war schon eine gute Drohung.

»Nein, wirklich Hero«, sagte er beim Lachen, »Geh bitte ran. Sonst mach’ ich mir wirklich Sorgen.«

»Ich versuche es so gut ich kann.«

»Alles klar. Dann bis morgen.«

»Ja, bis morgen.«

 

Dann legte Jiro auf. Ich drückte auf den roten Hörer und ließ mein Handy sinken. Ich seufzte in mich hinein.

 

»Wer war das?«, ertönte die bekannte Stimme.

Sofort drehte ich mich in Richtung meines Bettes um. Dort saß Kiyoshi mit angewinkelten Beinen und hielt mein Kissen in seinen Armen. Er sah mich mit rot unterlaufenen Augen an und machte einen schlappen Eindruck.

»Was machst du hier?«, fragte ich perplex ohne Rücksicht auf seine Frage zu nehmen.

»… Ich wollte nicht so alleine in meinem Zimmer sein«, murmelte er schon halb ins Kissen und senkte seinen Blick. Ich schluckte kurz.

»Das war Jiro. Mein Kumpel aus der Schule.«

Kiyoshis Blick hob sich wieder.

»Er wusste also nichts von mir?«, fragte er.

»Nein, ich wollte damit nicht gleich rumposaunen. Man kann eigentlich jetzt die Uhr danach stellen, bis es die ganze Nachbar­schaft weiß.« Das war zwar gemein Jiro gegenüber, aber was halt stimmt, stimmt eben.

Er nickte kurz und versank dann wieder im Kissen. Ich starrte ihn eine Zeit lang an. Er sah so fertig aus. Seine Wange war noch immer leicht errötet. Die Haare waren zerzaust und lagen ihm im Gesicht. Seine Augen, rot unterlaufen, glänzten noch von den Tränen.

»Sag mal … Was war vorhin eigentlich los?«, versuchte ich vorsichtig das Thema anzusprechen.

»Hat man doch gehört, oder?«, kam eher etwas schroff zurück.

»Klang nach einem Streit …«

»War’s auch.«

»Und wieso? Wegen mir?«

»Natürlich, wegen wem sonst?«

Der Geduldsfaden riss langsam.

»Kannst du auch mal was netter sein? Ich versuche es vor­sichtig anzugehen, weil du wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett sitzt und du gibst mir die schroffsten Antworten über­haupt. Wenn du nicht alleine sein willst, dann sei auch nett.«

Er seufzte kurz. Dann blickte er zur Seite wo die Tür war und legte seine linke Wange vorsichtig auf das Kissen. So konnte ich ihm nicht mehr in die Augen schauen.

»Ja, es war wegen dir. Gerade, weil ich so schroff zu dir bin. Ich vergreife mich gerne im Ton.«

»Hat man an einigen Stellen gemerkt.«

Er zuckte kurz mit den Schultern.

»Ist Alltag bei uns.« Dann drehte er sich wieder zu mir. Seine traurigen Augen sahen wieder ausdruckslos aus und starrten mich nur noch an. »Das ist fast jeden Tag so. Eigentlich ist es gar nicht so besonders, nur, dass es halt diesmal um eine andere Person geht, die sonst nicht dabei ist. Ansonsten ist die Abfolge die Selbe.«

»Jeden Tag schlägt er d-?«, rief ich entsetzt darüber, dass unser Vater jeden Tag so handgreiflich meinem Bruder gegenüber wird. Sofort sprang Kiyoshi auf und hielt mir den Mund mit seiner linken Hand zu.

»Nicht so laut. Man hört viel in diesem Haus. Besonders, wenn Vater unten im Wohnzimmer sitzt und sein Glas Blut trinkt. Dann ist es immer besonders still. Also sei leise«, zischte er mir entgegen. Dann ließ er langsam seine Hand von meinem Mund gleiten.

»Sorry«, murmelte ich und wendete den Blick gen Boden. »Andere Väter trinken abends ein Glas Wein. Unser Vater trinkt sein Glas Blut. Das ist krank.«

»Das sind Vampire, Hiro.«

»Ja, ich weiß.«

Dann schwiegen wir. Kiyoshi setzte sich wieder auf mein Bett und umarmte das Kissen hinter seinen angewinkelten Beinen. Dann blickte auch er auf den Boden.

»Es sind erst zwei Tage rum, seitdem ich hier bin. Mir kommt es vor wie eine Woche oder länger.«

»Die Tage vergehen langsam, ich weiß. Irgendwann …« Dann stockte er. Ich blickte auf und sah ihn an.

»Irgendwann?«, wiederholte ich und wartete auf seine Fort­setzung.

»Irgendwann … wenn du unsterblich bist … ist ein Tag nichts. Er ist nichts wert, er erfüllt dir keine Träume mehr und gibt dir keine neuen Chancen. Weil du weißt, dass sich eh nichts ändern wird.«

Sein Blick trübte sich und sein Griff um das Kissen verengte sich ein Stück.

»Wieso sprichst du eigentlich so schlecht über das Vam­pirsein? Chloe und Vater sind glücklich so wie sie sind. Wieso bist du es nicht?«

»Wieso bist du nicht glücklich?«, fragte er und sah mir feste in die Augen.

»Weil ich mein Leben verliere, dass ich vorher hatte. Ich muss alles aufgeben. Und mein Leben war nicht derart schlecht, dass ich es aufgeben möchte.«

»Tz …« Kiyoshi sah verärgert zur Seite und sagte danach nichts mehr. Er schien sich sein eigenes Leben wirklich zur Hölle zu machen. Ich dachte noch vor wenigen Stunden, dass Kiyoshi die erwachsene Person wäre. Er wüsste, wo Grenzen sind und wo er noch einen Schritt tätigen könnte. Aber anscheinend ist er genauso in seinem depressiven Fluss der Jugend wie viele andere in unserem Alter auch.

 

Ich streckte mein Bein nach ihm aus und stupste ihn so am Arm an, dass er zur Seite fiel.

»Hey!«, sagte er etwas perplex und starrte mich erschrocken an. Ich grinste etwas.

»Du hast gesagt, du hasst Vater. Ich glaube nicht, dass du ihn hasst. Du fühlst dich nur ungerecht behandelt mir gegenüber. Das ist alles. Also zieh nicht so ein Gesicht. Wenn du dich mal etwas mehr anstrengen würdest, ein guter Sohn zu sein, dann würde er dich bestimmt auch anders behandeln.«

»Das sagt der richtige, Chaos-Junge.«

»Lieber Chaos-Junge als ein Arroganter und Eingebildeter Schnösel.«

»Danke, ich habe schon mitbekommen, was du über mich erzählst.«

»Nichts als die Wahrheit, Yoshi

»Hör auf mich so zu nennen.«

»Der Name passt aber so gut zu dir.« Ich musste fies grinsen. Ich hatte tatsächlich für einen Moment meinen Tod vergessen.

»Wie gesagt, für dich muss noch ein Wort kreiert werden.«

»Fang an.«

» … «

Er schien zu überlegen. Er lag noch immer halb auf der Seite und stützte sich mit seinem rechten Arm auf der Decke ab. Mein Fuß lag ebenfalls noch neben ihm auf der Bettkante. Plötzlich grinste er und musste leicht lachen.

»Und? Hast du einen Namen?«

»Keinen neu kreierten, dafür brauche ich mehr Zeit. Aber Zwerg reicht fürs erste.« Dann sah er mich belustigend an.

»Zwerg? Wieso denn Zwerg?« Etwas verwundert über die Aussage, verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

 

»Erstens: Du bist zehn Minuten jünger als ich. Zweitens: Du benimmst dich wie ein kleines Kind, das Zwergen sehr nahe kommt. Und drittens: Du bist so unberechenbar, gemein, hinterhältig und sarkastisch wie ein kleiner Giftzwerg. Ich finde der Name passt perfekt zu dir.« Kiyoshi setzte sich hin und stützte sich weiterhin mit seiner linken Hand ab. In der rechten Hand hielt er noch immer das Kissen.

Ich schnaufte kurz zur Seite.

»Das ist verdammt dämlich, weißt du das?«

»’Yoshi’ ist genauso dämlich.«

»Aber nicht so dämlich wie ‚Zwerg’.«

»Mal sehen wie immun du bist, wenn ich dich ab jetzt immer so nenne.«

»Sehr immun. Jedenfalls so lange, bis ich dich verprügele, wie die kleinen Kinder in der Schule, die mich immer gemobbt haben.«

»Du willst dich mit mir anlegen? Dass ich nicht lache!«

»Pass auf was du sagst!«, drohte ich ihm.

 

Es war wie im Kaufhaus, als es um das Bedürfnis ging, sein T-Shirt zu sehen. Wir beide grinsten uns hämisch an und stachelten uns gegenseitig hoch. Ich hatte diesen Drang ihm eine rein zu hauen. In sein perfektes Gesicht, dass keine Makel aufwies. In sein perfektes Gesicht, dass mich so fies ansah. In sein perfektes Gesicht, damit es nicht mehr perfekt war.

»Zwergchen.«

 

Sofort sprang ich rüber auf mein Bett, ergriff seine Arme und riss sie zur Seite. Er schrie einen Kampfschrei aus, ich schrie irgendwelche Wörter, die ich selber nicht ganz verstand und wühlte mit ihm in meinem Bett rum. Das Kissen verabschiedete sich auf den Boden und die Decke legte sich vereinzelnd auf uns. Er lachte, ich auch. Er kratzte mich und ich kratzte ihn. Er zog mir an den Haaren, ich ebenfalls. Es war eine Rangelei à la Zwillinge.

Nach wenigen Minuten waren wir beide schon erledigt, doch wir rangelten weiter. Immer weiter.

 

Bis sich unsere Beine ineinander verhakten und wir uns gegenüber saßen. Unsere Nasenspitzen berührten sich leicht. Mit zerkratzen Händen und Armen hielten wir uns gegenseitig fest. Unsere Blicke trafen sich. So verharrten wir für wenige Sekunden.

Seine Augen glitzerten auf und ich versank wieder in ihnen. Auch er schien nicht ganz bei Sinnen zu sein, denn auch er löste sich nicht von meinen Augen.

 

Plötzlich näherten wir uns wieder. Es war so still im Raum. Niemand sagte etwas, nur unser schneller Atem war zu hören. Ich spürte seine Porzellanhaut auf meiner. Seine kalten, dünnen Finger strichen über meine Arme.

Unsere Lippen berührten sich schon fast. Wir schlossen schon unsere Augen und warteten die sinnliche Berührung ab.

 

… »Wenn wir Hunger haben, wirken wir aber noch anziehender als sonst. Also wenn du Kiyoshi plötzlich nahe kommen möchtest, dann tu es lieber nicht.« …

 

Sofort wich ich zurück. Ich stieß Kiyoshi von mir und sprang aus dem Bett. Außer Atem und wie aus der Trance erwacht, sah ich ihn entsetzt an. Der, ebenfalls etwas perplex, blickte mich durch seine verwuschelten Haare an. Er schüttelte leicht den Kopf, dann richtete er sich wieder etwas auf.

»W-Was ist los …?«, fragte er vorsichtig.

»Was los ist? Da war es schon wieder! Diese Anziehung! Chloe hatte Recht. Wenn ich mich zu dir hingezogen fühle, sollte ich es liebe nicht zulassen, sonst ende ich wieder als dein Leckerbissen«, sagte ich aufgebracht in einem schon etwas lauteren Ton.

»Wie bitte? Das ist doch absurd!«, rief er empört.

»Absurd klingt das für mich weniger.«

»Ich sag dir mal, was Sache ist: Wenn ich durstig wäre, würde ich nie zu dir kommen und schon fast darauf warten, dass ich dich beißen darf.«

»Ach ja? Und …-«

Plötzlich knurrte mein Magen verdammt laut. Ich wurde leicht rötlich und hielt mir die Hände vor den Magen. Kiyoshi starrte auf meinen Bauch und musste hämisch grinsen.

»Ich glaube, du bist diesmal derjenige der Hunger hat.«

»Das findest du wohl urkomisch, hä?«, fauchte ich ihm entgegen. Sofort versiegte sein Lächeln.

»Nein, das finde ich weniger komisch, weil du die Schuld wieder mal auf mich schieben wolltest. Das finde ich nicht lustig.«

»Tz, verständlich, oder? Wenn du doch die letzten paar Male dafür verantwortlich warst?«

»Fürs Blutaussaugen bin ich verantwortlich, ja, aber für unseren Kuss wohl weniger.«

»Wer weiß, wer weiß.«

»Zwerg …«, mahnte er mich und verschränkte die Arme.

»Yoshi …«, mahnte ich zurück und äffte ihn nach, indem ich auch meine Arme vor der Brust verschränkte.

Nach wenigen Sekunden seufzte er. Dann griff er zur Kom­mode und schnappte sich das schwarze Döschen. Er machte es auf und nahm eine Tablette.

»Hier.« Er hielt mir die kleine rote Tablette entgegen und wartete, dass ich sie mir wohl nehmen würde.

»Ich will was Richtiges zu Essen«, motzte ich und drehte meinen Kopf zur Seite. Kiyoshi zog eine Augenbraue hoch und ließ die Tablette in der Dose verschwinden.

»Und was versteht der Herr unter etwas ‚Richtigem’?«

»Menschliches Futter«, spottete ich und ging zur Tür.

Ich drehte mich kurz vor der Tür noch einmal um. »Sorry, Kiyoshi, du bist nicht aus Cheeseburger, sonst würde ich auch an dir knabbern.« Damit verschwand ich aus meinem Raum. Ich ging schnurstracks den matt belichteten Flur entlang. Ich hörte keine Schritte hinter mir, also ging ich davon aus, dass er in meinem Zimmer bleiben würde.

 

»Sehr lustig.«

Ich erschrak und drehte mich zur Seite. Da lief Kiyoshi neben mir her. Ich blieb kurz stehen und sah auf seine Füße. Sie bewegten sich und kamen auch auf dem Boden auf, aber er machte keinerlei Geräusche.

»Schwebst du, oder so?«, fragte ich perplex.

»Klar, ich kann fliegen.«

»Kannst du nicht.«

»Natürlich nicht.«

»Also?«

»Hol dir deinen Cheeseburger, den wir nicht haben.«

Ich verdrehte die Augen und schnappte mir Kiyoshi am Handgelenk.

»Wir machen uns jetzt welche«, befahl ich schon fast. Ich wollte losgehen, doch er blieb stehen.

»Zwerg, denk nach«, seufzte er.

»Ja, ich weiß, du darfst nichts Menschliches essen. Wir machen einen spezial Cheeseburger für dich. Wirst sehen, den darfst du bestimmt essen.« Ich grinste ihn siegessicher an, doch er verzog ein ungläubiges Gesicht.

»Wer’s glaubt.«

»Was würde denn passieren, wenn du richtiges Essen ver­putzen würdest?«

»Ich würde glaube ich kotzen.«

»Im Ernst?«

»Ja.«

»Ist doch nicht so schlimm.«

»Ich will aber nicht jedes Mal kotzen, wenn ich was probiere.«

Ich zuckte mit den Schultern. Dann zog ich ihn mit mir. Wir rannten die Treppe runter und wollten schon nach links abbiegen, da kam unser Vater aus dem Wohnzimmer. Sofort wendete Kiyoshi seinen Blick ab und versteckte sich halb hinter mir.

»Hallo Hiro«, begrüßte er mich freundlich.

»Hallo Vater.«

»Was hast du denn vor?«

»Mit Kiyoshi kochen.« Diesmal bezog ich ‚Ich koche’ mit vollster Absicht auf mich. Auch wenn es mir weniger gefiel.

»Aber das musst du doch nicht. Mamoru macht doch das Essen.« Er schien voll und ganz Kiyoshi zu ignorieren.

»Ja, aber Kiyoshi und ich wollen uns was Eigenes machen.«

»Was hast du denn vor?«, fragte er neugierig, noch immer mit einem Lächeln.

»Vater, wir sind zu zweit. Immer noch.«

Sein Lächeln versiegte und er schien an meinem sturen Blick zu merken, dass ich auf einen Plural bestand.

»Dann macht was ihr wollt, aber versaut die Küche nicht so«, sagte er zwar immer noch freundlich, aber nicht mehr nett. Damit ging er dann die Treppe hoch und bog nach rechts in den geheimnisvollen Raum ab. Kiyoshi und ich warteten eine Weile im Foyer, bis sich die Tür schloss.

Blutiger Spaß

»Sag mal, was ist eigentlich in dem Raum?«, fragte ich neu­gierig.

»Nichts Besonderes«, meinte Kiyoshi kühl.

»Was heißt denn ‚nichts Besonderes’?« Wahrscheinlich irgendwelche Gemälde oder sonstiges Wertvolles, was für ihn keine große Bedeutung hat.

»Bücher, Krimskrams, Zeichnungen und so weiter. Ist so ein Studio von uns.«

»Ach so. Ist ja schön.«

 

Damit zog ich ihn weiter zur Küche. Ich öffnete die schwere Tür und staunte nicht schlecht, als ich in einer schwarzen, futuristischen und gut ausgestatteten Küche stand.

»Wow, erinnert mich ein bisschen an diese Restaurantküchen«, sagte ich erstaunt und zog Kiyoshi weiter in die Küche.

»Hm. Nichts Tolles, diese Küche.«

Ich hustete kurz, dann drehte ich mich zu meinem Bruder um.

»Da hast du unsere noch nicht gesehen. Die ist noch nicht mal ein fünfzehntel hiervon.«

»Oh?«, sagte er und zog eine Augenbraue hoch.

»Ja, stell dir vor. Nicht alle sind so steinreich wie du«, motzte ich und kam ihm etwas näher, um ihn mehr zu ärgern.

»Sehr lustig, das weiß ich selber.« Er wich ein kleines Stück zurück.

 

Nach ein paar Sekunden, ging ich zum Kühlschrank und öffnete ihn. Dort waren alle möglichen Leckereien: Von Käsesorten bis Wurstsorten, Marmelade und Gelee, Obst und Gemüse in Boxen und Tüten, Fleisch und Snacks, sogar Nutella und andere süße Brotaufstriche, Butter und Margarine, Eier und Zitronensaft. Ein Eisfach gab es auch. Ich griff den Hebel und öffnete die Tür. Sofort sank meine Freude.

Blutpackungen, blutiges Fleisch und anderes rotes Zeug, das ich mir nicht näher anschauen wollte. Kiyoshi trat hinter mir.

»Was hättet ihr mir denn erklärt, wenn ich einfach an das Eisfach gegangen wäre und ich noch nicht über euch Bescheid gewusst hätte?«, fragte ich leise und drehte mich ein Stück zu Kiyoshi um.

»Es war abgeschlossen. Ganz einfach.«

»Abgeschlossen? Wie arm ist das denn?«, spottete ich und sah nun die kleine Öse in der man ein Sicherheitsschloss hätte anbringen können.

»Geheimnisse müssen gewahrt werden.«

»Hast du ja toll hinbekommen, das zu wahren«, ließ ich in den Raum fallen.

Er schnaufte zur Seite und lehnte sich an die andere Küchen­platte an, die mitten im Raum stand.

»Wie gesagt … Sag mir, was ich tun kann, damit ich mich in deinen Augen angemessen entschuldigen kann.«

»Hm«, sagte ich und zuckte mit den Schultern, »Du kannst mich immer noch nach Hause lassen, aber das willst du ja nicht.«

»Ich kann es nicht. Von mir aus, kannst du gehen.«

Etwas fassungslos, schloss ich die Kühlschranktür wieder.

»Im Ernst? Du würdest mich gehen lassen?«

»Natürlich. Was soll ich dich hier wie in einem Gefängnis halten. Du bist hier zu Besuch, ein Gast. Gäste können gehen, wann sie wollen.«

»Und warum hast du dann heute Mittag so einen Aufstand gemacht?«

»Aus dem Grund, weswegen ich gleich wieder einen mache: Du kannst nicht in die Öffentlichkeit gelassen werden, wenn du kurz davor bist zu sterben. Stell dir vor, du kippst bei unserer Mutter um. Sie würde verrückt werden und natürlich den Notarzt rufen. Der würde dein Blut auf alle Fälle prüfen, weil sie dir ja helfen wollen. Im Endeffekt werden die im Labor -«

»… merken, dass ich kein menschliches Blut in mir trage und die werden mich wohlmöglich noch weiter untersuchen, bis sie herausfinden, dass es Vampire gibt.«

 »Du hast es erfasst.«

Dann schwiegen wir. Ich starrte Kiyoshi an und er mich. Ich verstand ihn zwar, trotzdem sah ich dieses Risiko nicht ein. Andererseits war ich mir ja noch nicht sicher, ob ich sterben will. Wenn es soweit sein sollte, irgendwann, dann muss jemand dabei sein, um mich retten zu können. Und das wäre dann im Nachhinein keiner.

Ich seufzte kurz.

»Also beläuft es darauf hinaus, dass ich die Woche hier absitzen muss?«

»So in etwa.«

»Wieso nur so in etwa?«, fragte ich und verschränkte die Arme.

»Wenn du dich bis zu deinem Rückflug nicht verwandelt hast …«

»Nein! Nein, nein, nein! Auf keinen Fall!«, rief ich und zeigte mit einer schwingenden Handbewegung, dass genau da der Faden reißen würde. »Ich bleibe ganz sicher nicht länger als gedacht. Das kannst du vergessen.«

»Hiro … Bitte, es ist nur zu deinem Besten«, seufzte Kiyoshi und nahm mit seiner Porzellanhand mein Handgelenk, um es wieder nach unten zu drücken. Mich durchfuhr wieder ein Schwall Gänsehaut. Er schien das zu merken und ließ sofort los.

»Sorry«, murmelte ich und versteckte meine Hand hinter meinem Rücken.

»Kannst du ja nichts für. Ist immer noch deine menschliche Seite.«

»Schön zu wissen, dass sie noch da ist.« Ich lächelte leicht und sah auf den Boden.

»Du bist noch sehr menschlich. Wir müssten nur mal unsere Haut vergleichen, das reicht schon.«

Ich blickte auf und sah mir seine Haut an. Sein zarter Hals mit den bläulichen Adern, der in seinem schwarzen Hemd ver­schwand. Sein feines Gesicht, das durch die strubbeligen, fast weißen Haare etwas verdeckt wurde, sah aus, als wäre es mit feinen Linien gezeichnet worden. Die schwarzen Augenringe unter seinen mittlerweile normal gewordenen Augen, die im faden Licht der Küche leuchteten, zeigten den tödlichen Schimmer. Die zarten Lippen, die eine strenge Linie bildeten, schimmerten leicht rosa. Aus den Ärmeln des weich fallenden Hemdes traten die weißen Handgelenke mit den Porzellan­händen, welche von weiteren Äderchen durchlaufen waren. Seine Finger waren dünn und blass. Die Nägel waren gepflegt und kurz geschnitten. Auf seinen Armen waren leichte Härchen zu sehen, die aber so hell waren, dass man sie kaum sehen konnte. Die schlanke, aber trotzdem etwas muskulöse Figur nahm ihren Lauf in langen Beinen, die in einer schwarzen Jeans umhüllt waren. Sie lag etwas enger an und lief auch eng zusammen. Seine Füße standen wohlgeformt in schwarzen Socken auf den dunkelgrauen Fliesen. Eine Weile betrachtete ich seine Statue und musterten ihn von Kopf bis Fuß.

 

»Oh man … Du Götterstatue bist echt nur perfekt; da liegen ja Welten zwischen uns. Hast du eigentlich auch Makel?« Ich stemmte meine Arme in meine Hüfte und sah ihn etwas angenervt an.

»Genug.«

»Nenn mir eins.«

Er schüttelte den Kopf und klopfte sich auf die Brust. »Keine äußeren Makel. Innere.«

Sofort ließ ich meine Arme sinken und blickte auf seine Brust, wo seine Hand lag.

»Du könntest es ändern. Dann wäre Dad bestimmt auch nicht so seltsam vorhin gewesen.«

»Ist er immer. Er tut dann so, als würde es mich nicht geben.«

»Sehr nett, muss ich schon sagen.« Dabei formte ich meine Augen zu schlitzen.

»Der Vaterschein trügt halt gerne mal. So ein toller Vater ist er nämlich gar nicht.«

»Hm. Ich denke schon, dass er ein guter Vater wäre, wenn die Chemie stimmt.«

»Und die stimmt bei mir und ihm jedenfalls nicht.«

»Scheint so.«

»Hm.«

Dann trat wieder Schweigen in die Küche und jeder starrte den jeweils anderen an. Es war eine erdrückende Stille im Raum, die kaum zu beschreiben war. Sie war einerseits traurig, weil es doch schade ist, wenn der Sohn sich überhaupt nicht mit dem Vater versteht. Andererseits war sie angespannt, weil Kiyoshi sauer war; ich konnte das schon mitempfinden. Wer wird schon gerne von seinen Eltern ignoriert? Und zuletzt war da noch diese Anziehung, die immer war. Ich hätte ihn gerne berührt. An seiner Porzellanhaut entlang gefahren und seinen typisch verführerischen Duft eingeatmet. Aber er ist mein Bruder und ein Arschloch noch dazu. So was hab ich noch nicht mal bei meiner Ex gemacht, als wir noch zusammen waren. Gut, die war auch kein Vampir.

 

Ich klatschte in die Hände. Kiyoshi erschrak sich etwas.

»Fangen wir an. Der Hunger wird nicht weniger, wenn wir in der Küche stehen«, sagte ich laut und drehte mich wieder zum Kühlschrank. Ich wühlte ein bisschen rum, bis ich Käse­scheiben fand. Mit Schmackes warf ich sie Kiyoshi entgegen, der sie mit einer Hand fing. Der sah sich die Packung an, während ich weiter in einer Tüte kramte, bis ich Hackfleisch fand.

»Also dafür, dass ihr euch nur von Blut ernährt, habt ihr ganz schön viel Menschenfutter.«

»Ist ja auch alles für dich.«

»Im Ernst?«, fragte ich erstaunt und hielt in meiner Bewegung inne.

»Ah ja. Wer soll denn das sonst essen?«

»Heißt das Mamoru ist auch ein Vampir?« Ich drehte mich entsetzt um und sah meinen Bruder geschockt an. Der hob nur kurz seine Schultern.

»Was dachtest du denn?«

»Dass er nur bescheid weiß, aber sonst nichts damit zu tun hat. Du hast ja von wenigen Eingeweihten gesprochen. Ich dachte halt, Mamoru gehört zu denen.«

»Quark. Der ist genauso Vampir wie Vater und ich. Er ist nur unser Butler, weil er unserer Familie sozusagen verschuldet ist.«

»Geld geliehen?«

»Nein«, Kiyoshi verdrehte die Augen, »verschuldet aus alten Zeiten. Sozusagen verpflichtet. Seine Familie stand schon immer im Dienste unserer. Bevor Mamoru hier Butler war, war es sein Vater.«

»Uff … Stört die das nicht irgendwann, immer Bedienstete zu sein?«

»Anscheinend nicht.« Wieder zuckte er mit den Schultern und legte die Käsepackung auf die Ablage, an der er lehnte.

»Aha …« Komische Familie, komische Bekannte.

Ich warf das Hackfleisch ebenfalls zu Kiyoshi, der es auffing und zum Käse legte. Danach schloss ich die Kühlschranktür und sah mich weiter in der Küche um. Ich erspähte keine Brotbox oder etwas was danach aussehen könnte, deswegen fragte ich lieber:

»Habt ihr so was wie Brötchen?«

Kiyoshi sah sich ebenfalls in der Küche um.

»Fragst du den Richtigen …«

»Also hast du keine Ahnung?«

»Nein«, sagte er gelassen und schüttelte den Kopf.

 

Eine kurze Schweigeminute trat ein. Dann hob ich meine Schultern und ließ meine Hände gegen meine Oberschenkel klatschen.

»Gut! Fangen wir an zu suchen. Du dahinten und ich hier«, befahl ich und zeigte auf eine Ecke mit Schränken. Kiyoshi seufzte und schien etwas genervt zu sein, bewegte sich aber trotzdem zur genannten Ecke.

Wir durchsuchten die Schränke und Schubladen, bis wir uns in der Mitte wieder trafen.

»Ergebnislos, bei dir?«, sagte ich enttäuscht und hoffte auf eine andere Antwort.

»Ebenfalls.«

Seufzend kratzte ich mich etwas am Kopf und ging schon Richtung Tür, da packte mich etwas Kaltes am Handgelenk. Ich drehte mich um und sah in seine Augen.

»Lass gut sein. Iss einfach eine Tablette. Glaube mir, danach bist du auch satt.«

Angeekelt von alleine dem Gedanken, freiwillig diese Tablette zu schlucken, schüttelte ich den Kopf.

»Danke, ich bestehe immer noch auf etwas menschliches Essen.«

»Hiro, irgendwann wirst du eh diese Tabletten nehmen müssen.«

»Ja, irgendwann. Solange ich noch normales Essen verputzen kann, sollte ich das auch tun.«

Seine Lippen verformten sich zu einer graden Linie und eine gewisse Aura umgab ihn. Er schaltete immer zwischen Vampirsein und Menschsein hin und her. Manchmal schien er so menschlich, aber hin und wieder auch so vampirisch. So wie jetzt. Er ließ mein Handgelenk los und ging wieder zurück an seinen alten Platz an der Ablage.

»Dann mach was du willst.«

»Tu ich eh.« Ich grinste und ging weiter zur Tür. Ich öffnete sie und wollte schon den Raum verlassen, da überlegte ich noch einmal.

 

Die Idee war dumm, da Kiyoshi das Essen eh nicht vertragen würde. Und alleine Essen wollte ich ebenfalls nicht. Um an diese Brötchen zu kommen, müsste ich Vater fragen, den ich im Moment lieber nicht fragen wollte. Meine Hemmschwelle bestand rein daraus, diese Tablette zu nehmen. Ich habe Tabletten und Pillen schon immer gehasst. Wenn ich krank war, musste meine Mutter sie mir immer klein machen, in Joghurt oder Babybrei, damit ich sie zu mir nahm. Ansonsten habe ich sie entweder wieder ausgespuckt oder ausgekotzt.

Kiyoshi merkte, dass ich nicht vorhatte weiter zu gehen.

»Was ist los, Hiro?«, fragte er etwas verwirrt. Ich drehte mich zu ihm um und grinste enttäuscht.

»Ich hab keine Lust jetzt was zu machen.« Damit trat ich wieder in die Küche und ließ die Tür zufallen.

»Keine Lust? Du änderst ja schnell deine Meinung.«

»Soll vorkommen, hm?«

Ich schleppte mich zu Kiyoshi. Ich konnte an seinem Blick nicht erkennen, was er gerade dachte. Vorsichtig griff ich hinter ihn, um an die Käsepackung und das Hackfleisch zu kommen. Dabei kamen wir uns so nah, dass ich seinen leisen Atem auf meinem Gesicht spürte. Ich griff extra langsam nach den Lebensmitteln, damit ich seinen Geruch länger einatmen konnte. Ich war schon komisch geworden: Bin extra langsam, um die Nähe meines Bruders genießen zu können.

Ich richtete mich wieder auf und traf damit kurz seine Augen. Er sah mich in einer Art erwartungsvoll an, in einer anderen ziemlich gleichgültig. Langsam schlurfte ich wieder zum Kühlschrank und legte die Käsepackung und das Hackfleisch wieder dahin, wo ich sie herhatte.

 

 »Und was willst du jetzt essen?«, fragte Kiyoshi. Ich schloss die Kühlschranktür und suchte die Küche ab.

»Irgendwas, aber bestimmt keine Tablette«, motzte ich und verschränkte die Arme.

»Oh man, oh man. Dann nimm das Synthetik-«

»Auch nicht.«

Wieder seufzte er und verdrehte die Augen. Ich lehnte mich ebenfalls an einer Ablage an, die gegenüber von Kiyoshis war. So standen wir in etwa einen Meter voneinander entfernt. Ich konnte seinen Geruch immer noch riechen. Und er war lecker.

Lecker?

»Du willst also keine Tablette und auch kein Kunstblut. Willst du etwa frisches?«, fragte er in einem ruhigen Ton.

Verführerisch lecker?

»Frisches Blut? Gar kein Blut …«, antwortete ich monoton.

Zum Anbeißen lecker …

»Wenn du kein Blut trinken willst, iss was anderes. Der Kühlschrank ist hinter dir.« Er zeigte auf den metallisch glänzenden, schwarzen Kühlschrank.

Dieser erstickende, süße Geruch von ihm …

Als ich keine Antwort mehr gab, sondern ihn nur noch anstarrte, musste er hämisch grinsen.

»Was?«, fragte ich schroff.

»Deine Augen verraten dein Verlangen«, sagte er in einem benebelnden Fluss.

Ich merkte selber, wie mein Herz immer schneller pochte. Mein Atem wurde schneller und abgehackter.

»Verlangen …?«, wiederholte ich einen Bruchteil seines Satzes.

»Komm und hol dir, was du willst.« Kiyoshis Grinsen wurde immer bösartiger, seine Fangzähne blitzen aus seinem Mund und seine Augen fingen an zu glänzen, wie sie es gerne taten. Wenn er an Blut dachte. Wenn er an mein Blut dachte.

 Ich war mir nicht sicher, was genau geschah, aber mein Innerstes verlangte nach seinem Geruch, nach genau diesem einen Geruch. Langsam tätigte ich einen Schritt vor den anderen und im nu stand ich vor meinem Bruder. Meine Hände umfassten seine schmalen Handgelenke. Er lehnte noch immer gelassen an der Ablage, während ich mein Körpergewicht auf seinen Körper übertrug. Ich lehnte mich an ihn an, um so nah wie möglich an ihm zu sein.

 

Unsere Nasenspitzen berührten sich kurz, unsere Wangen streiften aneinander, unsere Körper bewegten sich zusammen. Auf einmal spürte ich seine Haut. Mit meiner Zunge leckte ich über seine blaugrün heraus stechenden Adern am Hals. Auf der rechten Seite seines Halses hielt ich meine Hand, die nur Kälte vernahm. Die linke Seite seines Halses gehörte nur meiner Zunge, wie sie gierig versuchte, Kiyoshis Geruch zu schmecken. Ich spürte seine Hände um meine Taille, wie sie mich fest umschlangen und an ihn drückten. Wie seine kalten Hände meinen Rücken vereinnahmten und Gänsehaut verursachten. Meine linke Hand lag auf seinem Rücken und meine rechte legte ich auf seinen Hinterkopf, während mein Arm auf seiner Schulter ruhte. Genüsslich leckte ich seine blasse Haut weiter ab, gierig auf das, was unter ihr floss.

Gierig nach der Flüssigkeit. Gierig nach seinem Blut.

 

Vorsichtig griff ich mit meiner rechten Hand nach seinen Haaren, um seinen Kopf etwas schief zu legen. Ich hörte seinen Atem ganz genau in meinen Ohren, der mich nur noch mehr dazu anstachelte, meine Zähne in seine Porzellanhaut zu drücken.

 

Meine Zähne? Ich spürte sie mit meiner Zunge. Da waren Zähne, riesige Zähne. Fangzähne der feinsten Art. Sie drückten sich durch mein Zahnfleisch und begehrten Kiyoshis Haut. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich wollte zubeißen. Jetzt. Auf der Stelle. Meinen Durst stillen. Seinen Geruch aufnehmen, diesen süßen, herben Geruch, der nur ihm gehörte und sonst keinem anderen.

Diese Umarmung sollte ewig dauern, so schön empfand ich sie. Dieses Verlangen, diese Vorfreude auf das Stillen dieses Verlangens. Jetzt, gleich würde ich meine Zähne in seine Haut bohren und sein süßes Blut trinken …

 

 

Wir fuhren auseinander. Die Tür öffnete sich mit einem Schlag und Mamoru stand mit ein paar Plastiktüten in der Küche. Kiyoshi und ich standen nebeneinander, angelehnt an der Ablage und sahen verlegen in der Gegend rum.

 

»Was tun Sie denn hier in der Küche?«, fragte Mamoru verwundert und stellte die Tüten auf der Ablage neben dem Kühlschrank ab.

»Wir wollten etwas Essen machen«, antwortete Kiyoshi, da ich meinen Mund nicht aufbekam. Was habe ich da getan? Ich … habe den Verstand verloren.

»Aber junge Herren, das mache ich doch jetzt. Dann gibt es gleich Essen.« Kiyoshi nickte kurz, umfasste mit seiner rechten Hand meine Hüfte und führte mich mit schnellem Schritte aus der Küche. Mamorus Blick zu urteilen, schien er etwas verwirrt zu sein, trotzdem sagte er nichts. Hüfte an Hüfte gingen wir das Foyer entlang und rannten schon fast die Treppe hoch, an der er seine rechte Hand von meiner Hüfte nahm und meine linke Hand ergriff. Noch immer benebelt, folgte ich seinem Ziehen in den matten Gang. Dort blieben wir stehen. Er löste seine Hand von meiner und griff nach seinem Schlüssel, um seine Tür aufzuschließen. Als die Tür offen war, zog er mich rein. Ich blieb bei ihm stehen, während er sie abschloss. Wir verharrten eine Weile so, auch nachdem die Tür abgeschlossen war. Wir standen nebeneinander, er mit dem Rücken zum Fenster und ich mit dem Rücken zur Tür.

 

Auf einmal drehte er sich abrupt um und lief zu seinem Schreibtisch. Er kramte in einer Schublade und suchte an­scheinend das schwarze Döschen, das er auch letztes Mal in genau dieser Schublade hatte.

»Ich will keine Tablette …«, murmelte ich und setzte mich langsam auf sein nicht gemachtes Bett.

»Du nimmst diese Tablette. Hast du gerade gemerkt, was passiert, wenn man keine Kontrolle mehr über seinen eigenen Körper hat und hungrig ist?« Er kramte weiter in der Schublade.

»Ja, habe ich …«, murmelte ich, legte meine Arme auf meine Beine und vergrub meinen Kopf in meinen Händen. Er schien das Döschen gefunden zu haben und holte eine Tablette raus. Sofort spürte ich seine kalten Finger an meinem Handgelenk, die versuchten es unter meinem Kopf wegzuziehen. Ich sah auf und starrte auf eine rote Tablette.

»Hier.«

 

Ich drehte den Kopf zur Seite.

»Ich will keine Tablette.«

»Hiro. Wir sind grade so davongekommen; die Situation war ganz schön haarig …«

»Ich will trotzdem keine.«

»Hiro!«

»Ich reiß mich zusammen!«, schrie ich. Kiyoshis Blick weitete sich etwas und er ließ die Tablette sinken. »Ich reiß mich zusammen bis zum Essen. Wenn ich erst mal … was gegessen habe, bin ich wieder normal. Bestimmt.«

Er sah etwas ratlos aus, legte die Tablette trotzdem wieder zurück in das Döschen.

»Hiro. Bitte nimm die Tablette. Danach fühlst du dich viel besser.«

»Nein.«

»Hiro, bitte.«

»Nein.«

»Dann tu es für Vater.«

»Nein.«

»Für Mutter?«

»Nein.«

»Für mich?«

»… Nein.«

Er seufzte. Langsam verschloss er die Dose und stellte sie zurück in die Schublade. Kurze Stille trat ein.

»Ich kann dich ja zu nichts zwingen …«, murmelte Kiyoshi in seinem anmutigen Ton. Sein vampirischer Blick traf meinen. »Nur wenn Vater merkt, dass du Hunger hast, lässt er dich ganz sicher nicht mehr an menschliches Essen ran.«

»Ich benehme mich wirklich …« Ich versuchte zu lächeln und mich grade hinzusetzen. Mit einem lieben Lächeln versuchte ich Kiyoshi davon zu überzeugen. Der wollte mir anscheinend nicht ganz glauben, hielt sich aber mit seinen Kommentaren zurück. Wieder seufzte er und setzte sich auf seinen Schreibtisch­stuhl.

 

»Grade eben …«, begann ich leise. Kiyoshi lauschte auf. »Meinst du, das ist normal?«

»Was genau meinst du denn?«

»… wir beide …«, brachte ich nur einen Bruchteil meines Satzes heraus. Ich traute mich auf eine gewisse Weise nicht, unser seltsames Verhalten anzusprechen.

»Ach so. Ich weiß nicht … Ich dachte du wüsstest es?«

»Ich hab noch nie so gehandelt … Kann man doch auch verstehen, oder?«

Kiyoshi grinste leicht.

»Ich ebenfalls nicht.«

»So viele Brüder haben wir ja auch nicht«, spaßte ich ein wenig. Kiyoshi nickte mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.

»Vielleicht, weil wir Zwillinge sind?«, sagte Kiyoshi.

»Vielleicht … Könnte schon sein.«

»Und zudem kommt noch das vampirische Anziehen.«

»Ja, das könnte die tödliche Mischung sein.«

Dann schwiegen wir.

Wir beide saßen uns gegenüber und spekulierten, wieso oder warum wir beide uns so nahe standen. Auf den einfachsten Gedanken der Zuneigung wollte keiner von uns beiden kommen. Wir unterdrückten diesen Gedanken. Wir wollten es nicht wahrhaben. Nach zweieinhalb Tagen, mehreren Vampir­bissen, vielen Litern Blut und einem Kuss? Schon möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Alleine aus dem Grund, dass er mein Bruder ist, ich auf Frauen stehe und er ein Arschloch ist, würde ich nie auf den Gedanken kommen eine gewisse Zuneigung zu ihm zu haben.

 

Aber anscheinend war das der Fall. Das wussten wir beide. Ich habe Jiro auch schon geküsst. Trotzdem war das anders. Wir waren hacke und auf einer Party. Keiner von uns beiden dachte da über irgendwelche Gefühle nach, sondern nur ans rumlecken. Dass dabei zwei Männer im Spiel waren, war uns erst einmal egal. Im Nachhinein war es zwar etwas peinlich, aber trotzdem noch belustigend.

Aber mit meinem Bruder? Kiyoshi und ich sind Zwillinge, Vampir und Halb-Vampir, beide begehren das Blut des anderen. Da war ein Kuss schon von größerer Bedeutsamkeit. Vor allen Dingen nach dem gestrigen Vorfall.

 

Draußen wurde es schon etwas dämmrig. Wir näherten uns also rapide der sieben Uhr Grenze. Mein Blick bannte nach draußen und verwurzelte sich am Himmel. Er wurde rot und glänzte schön. Die Sonne neigte sich dem Ende. Ob ich sie das letzte Mal gesehen hatte? Das würde nun mein Gedanke für die nächsten Tage werden. Kiyoshi blickte ebenfalls nach draußen. Eine kleine Sehnsucht war in seinen Augen zu erkennen, dass auch er gerne einmal in der Sonne liegen würde, um sich zu bräunen. Und ich wollte immer blass sein, habe mich extra nicht rausgelegt, habe extra Sonnenmilch verwendet, um bloß nicht braun zu werden. Kiyoshi würde sicher gerne mal braun werden.

Seine Haut glänzte etwas in der Sonne. Ein rötlicher Schim­mer legte sich auf seine Elfenbeinfarbene Haut. Alles an ihm glänzte, wie eine Porzellanfigur. Wie perfekt er auf seinem Stuhl saß. So locker, aber doch so anmutig. Seine langen Beine schienen nicht zu enden, da seine Füße unter dem Stuhl verschwanden. Grazil und doch etwas darstellend. Eine gesunde Mischung aus Schönheit und Anmut. Muskeln und feine Linien in einem Körper. Weiß er eigentlich, wie perfekt er ist? Bestimmt, ich bin sicher nicht der Einzige, der ihm das sagt. Seine zarten Lippen glänzten ebenfalls, während sie eine strenge Linie bildeten. Eigentlich war bei ihm kein Ausdruck zu erkennen. Trotz allem spiegelte er etwas wieder.

 

Ich stand auf und ging auf ihn zu. Er sah mich verwundert an und beobachtete, was ich tat. Ich blieb vor ihm stehen. Versunken in seinen Augen, streichelte ich sein zartes Gesicht mit meinen Händen. Es war so weich. Vorsichtig strich ich mit meinem Daumen über seine Lippen, die er etwas geöffnet hatte.

Langsam beugte ich mich vor.

Was tat ich da bloß?

Seine Augen öffneten sich ein Stück mehr, fesselten meine Augen. Er hielt still; ich kam mit meinem Gesicht immer näher. Mit beiden Händen beugte ich seinen Kopf etwas nach links. Seine Hände lagen sachte auf meinen Armen. Ich beugte mich noch ein Stück weiter runter …

Oh, Kiyoshi

Ich beugte mich noch ein Stück weiter nach vorne. Unsere Nasen berührten sich kurz.

 

»Kommt der Herr Hiroshi dann zum Essen?«

 

Kiyoshi und ich fuhren auseinander und starrten in Mamorus Gesicht. Der stand an der Tür, verbeugte sich kurz und drehte sich um. So schnell wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder weg.

Sichtlich erschrocken über das plötzliche Erscheinen, schwie­gen wir. Kiyoshi schien wohl schneller wieder die Fassung gewonnen zu haben, da er seinen Kopf wieder zu mir drehte. Meine Hände umfassten noch immer seine Wangen, die, unnötig zu erwähnen, kalt waren. Plötzlich spürte ich seine Hände auf meinen. Er stand langsam auf.

»Du solltest essen gehen«, sagte er sanft und kaum hörbar. Er nahm meine Hände von seinen Wangen und trat zur Seite. Geräuschlos nahm er ein Buch, welches auf seinem Schreib­tisch lag.

»Kommst du nicht mit?«, fragte ich, etwas enttäuscht, da ich die Antwort bereits kannte.

»Nein. Du weißt, ich esse nichts.« Er lächelte zwar etwas, aber in seinen Augen war die Enttäuschung ebenfalls zu lesen. Ich nickte kurz und ging zur Tür. Ich drückte die Klinke runter und trat aus dem Raum. Eine kleine Sekunde verharrte ich am Türrahmen, in der Hoffnung, er würde noch etwas tun, doch als nichts geschah, ging ich schweigend auf den Flur und schloss die Tür.

 

Auf dem Weg ins Wohnzimmer, kam mir der Gedanke, dass Mamoru schon wieder ins Zimmer gekommen war, indem er das Schloss auf mysteriöse Weise austrickste. Selbst Ab­schließen brachte also nichts. Ungestörtheit in diesem Haus war also undenkbar.

Als ich das Wohnzimmer betrat und meinen Vater an dem langen Esstisch sitzen sah, holte mich der Gedanke an das Gespräch nach dem Essen, das er wünschte, ganz schnell wieder ein. Schwer schluckend setzte ich mich auf meinen Stuhl.

 

»Hallo Hiro. Wie geht es dir heute?«, fragte er wieder sehr freundlich und hatte wie immer nichts auf seiner Tischhälfte stehen.

»Ganz gut. Hatte zwar schon bessere Zeiten, aber es geht.«

»Hiro, du weißt, dass uns das unglaublich Leid tut. So hätte es nie enden sollen.«

Ich zuckte mit den Schultern und wendete den Blickkontakt mit meinem Vater ab. »Hab mich dran gewöhnt.«

»Das ging aber recht schnell.« In seinem Ton war eine Spur misstrauen.

»Ich muss mich ja wohl mit meinem Schicksal abfinden, oder? Eine andere Wahl bleibt mir nicht. Außerdem ist Chloe sehr nett, sie hat mir die rosigen Dinge aufgezählt.« Ich wollte das Wort ‚Vampir’ aus irgendeinem Grunde nicht gegenüber meines Vaters verwenden. Es war so albern auf irgendeine Weise.

»Chloe? Ach, das Mädchen aus unserem Laden«, schien sich mein Vater an sie zu erinnern. »Ja, die ist nett. Sie spielte früher immer mit Kiyoshi.«

»Ich weiß, hat er mir erzählt.« Ich nahm mir ein Stück Brot und beschmierte es zügig mit Butter. Schnell nahm ich mir ein Stück Wurst und legte es auf die Scheibe. Ehe ich mich versah steckte es in meinem Mund und ich kaute. So rasant hatte ich noch nie ein Brot geschmiert. Die vampirischen Vorzüge schienen immer mehr durchzukommen. So schnell geht das?

»Hiro, ich weiß nicht, wie ich das wieder gut machen kann. Du weißt, dass ich dich nur sehen wollte, du Kiyoshi kennen lernst und in Frieden wieder zu deiner Mutter gehst«, sagte mein Vater sehr anmutig. Kein Lächeln war auf seinen Lippen zu sehen und die Freundlichkeit schien auch nicht mehr dieselbe zu sein. Der Vampir kam durch. Jetzt musste er sich ja nicht mehr verstellen.

 

»Ist schon in Ordnung. Da kann man nicht mehr viel machen.« Wieder biss ich von der Brotscheibe ab.

»Was ist denn mit dir los, Hiro? Du wirkst so abweisend.«

Ich blickte auf und sah meinem Vater tief in die Augen. Sie waren immer noch braun, aber diesmal war jede Wärme vergangen und mich starrten ganz allein nur diese trüben, dunklen Punkte an.

»Du hast dich vorhin ganz schön mit Kiyoshi gestritten. Es hat mich geschockt, dass du so handgreiflich werden kannst.«

»Kiyoshi hat dir also seine Seite der Geschichte erzählt.«

»Er benimmt sich bestimmt nicht immer vorteilhaft, trotzdem ist er dein Sohn. Und Kinder schlägt man nicht, egal was sie getan haben.« Mein Ton wurde von Wort zu Wort schärfer.

Auf einmal lächelte er.

»Worüber ich eigentlich mit dir reden wollte: Deine Ver­wandlung steht bevor. Mit der Zeit dürftest du nach Blut dürsten.«

Meine Augen verformten sich zu Schlitzen. Er würgte das Thema eiskalt ab.

»Und wie ich sehe, hast du das schon an eigenem Leibe gemerkt.«

Mein starrer Blick sollte nichts verraten. Nichts Derartiges.

»Hiro, ich möchte, dass dies dein letztes Essen gewesen sein soll. Es ist für dich am Besten, wenn dein Körper sich mit dem Blut auseinandersetzt.«

Ich biss erneut von der Brotscheibe ab, ohne dabei meinen Vater aus den Augen zu lassen.

»Und ich möchte, dass du nicht mehr allzu freizügig in die Sonne gehst. Die UV-Strahlen schaden mit der Zeit deiner Haut.«

Langsam schluckte ich das Brotstück runter. Es schmeckte nicht. Es schmeckte nach Holz.

»Wenn du Blut benötigst, brauchst du nicht zögern, in der Tiefkühltruhe ist alles, was du benötigst für den Anfang.«

Ich kämpfte mit dem letzten Stück Brot und schluckte auch dieses runter. Der Tisch war wieder so schön gedeckt, doch mir verging der Appetit.

 

»Zuletzt noch eine Bitte von mir, Hiro.«

Ich stand auf.

»Kiyoshi und du, ihr seid Brüder.«

Fast Geräuschlos schob ich den Stuhl wieder an den Tisch.

»Also verhaltet euch auch so.«

Er faltete seine Hände vor seinem Gesicht.

»Es findet in diesen vier Wänden kein Blutaustausch statt.«

Schweigend und mit einer Hand in der Hosentasche sah ich ihn an.

»Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Ich musste gespielt grinsen. Dann nickte ich. Mit einer leichten Verbeugung verließ ich den Raum.

Geräuschlos schloss ich die Tür. Mit finsterer Miene ging ich das Foyer zur Treppe entlang. Ich stapfte sie hoch bis zum Gang. Dort wartete ich einen Moment und lauschte. Niemand war zu hören, es war nach acht Uhr. Leise ging ich den langen Gang entlang. Als ich an Kiyoshis Tür vorbei kam, blieb ich kurz stehen. Ich atmete tief ein und vernahm einen kleinen Funken seines Geruchs. Dann ging ich jedoch weiter. Vater hatte Regeln aufgestellt, an die ich mich besser hielt. Wie in Trance lief ich in mein Zimmer. Hinter mir schloss ich die Tür und sperrte sie ab.

 

Es dauerte nicht lange, da hatte ich mich umgezogen und ins Bett gelegt. Ich war geschafft, obwohl ich die Hälfte des Tages verpennt hatte. Ich war so müde. Draußen war es noch hell. Genervt riss ich die Vorhänge zu und ließ die Rollläden runter. Als ich mich in mein Bett legen wollte, brummte etwas in meiner Hose. Ich griff nach meinem Handy und hob ab.

 

»Hey Mom.«

»Hallo mein Schatz. Wieso meldest du dich nicht? Ist etwas passiert? Hast du meine SMS nicht bekommen? Du hattest nicht zurück geschrieben und da dachte ich -«

»Alles in Ordnung, Mom.« Sie war wieder in ihrem »Ich-bin-so-aufgeregt«-Element.

»Es ist nichts in Ordnung. Was ist passiert?«, fragte sie auf einmal in einer tiefen Stimme und ganz anders als sonst.

»Nichts. Es ist nichts. Was soll sein?« Unschuldig wie ich war, versuchte ich auch so zu klingen.

»Das höre ich dir an, Hiro. Hat Kiyoshi dir etwas angetan?«

»Nein, Mom.«

»Wirklich nicht?«

»Er hat mich nicht mal angefasst.« Gelogen, gelogen.

»Das glaube ich dir nicht. Mit dir stimmt etwas nicht.«

»Mama …«

»Du nennst mich Mama? Schatz, sag mir was passiert ist! Hat er dich angefasst? Dich drangsaliert? Dich bedrängt? Oder ist er dir anderweitig zu nahe getreten?«

»Nein, Mom.«

»… Schatz, ich mach mir doch nur Sorgen um dich.«

»Ich weiß, Mom.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Nicht so.«

»Warum denn?« Ihre Stimme klang wieder aufgeregt. Aber so anders. So … wirklich besorgt.

»Vater ist etwas seltsam.«

»Gib ihn mir.«

»Nein, Mom, nicht so seltsam.«

»Was meinst du mit ‚so’? Was weißt du? Du weißt es?«

Ich weiß mehr als du. Mehr, als du jemals wissen wirst.

»Ich weiß was?«

»Dass … ach egal.«

»Was denn?« Das Spiel musste ich spielen, auch wenn ich gar keine Lust hatte, mit ihr zu telefonieren. Ich war müde. Ich war sauer. Ich war irgendwie alles nur nicht fröhlich.

»Nichts.«

»Mom.«

»Nichts, Schatz.«

»Wenn du meinst. Sollte es etwas wichtiges sein, dass meine weitere Zukunft in irgendeiner Weise in Anspruch nehmen könnte, sag mir bescheid.«

»Wie sprichst du denn? So kenne ich dich ja gar nicht. Du weißt es doch, Hiro.«

»Ich weiß was?«

Sie seufzte kurz. Dann schwieg sie.

»Was machst du heute noch?«

»Nichts. Ich bin müde und will schlafen gehen.«

»Dann … tu das. Geh schlafen. Auch wenn es gerade mal viertel nach acht ist.«

»Die gehen hier halt so früh ins Bett. Ich muss mich an die Regeln halten.«

»Du haltest dich doch sonst nicht an die Regeln.«

»Hier schon.«

Wieder seufzte sie.

 

Danach wünschte sie mir eine gute Nacht und legte auf. Es war wohl das kürzeste Gespräch seit langem mit ihr. Ich war sauer auf sie. Sie log mich die ganze Zeit an. Sie wusste es die ganze Zeit und sagte nichts.

Ich pfefferte das Handy wieder zurück auf den Schreibtisch und wühlte mich in mein noch verwuscheltes Bett. Es roch an einigen Stellen nach ihm. Vater wusste, was zwischen mir und Kiyoshi war. Mamoru hat bestimmt geplaudert. Er hatte uns immerhin schon knappe zwei Mal erwischt. Ich wollte Kiyoshi küssen. Und ich wollte ihn beißen. Ich bin verrückt. Ich habe den Verstand verloren. Und die Kontrolle über meinen Körper. Ich verlange Blut. Brot schmeckt nach Holz und Wasser trocknet mir die Kehle aus. Sonnenlicht ist nun mehr eine Sehnsucht und die Nacht mein Freund. Kann ich wieder so sein wie früher? Lachen ohne dabei an Blut zu denken? Spaß haben ohne dabei auf die Kehle des anderen achten? Zurück in meine Schule kehren ohne alle anzufallen wie ein Raubtier?

 

Ich war mir nicht sicher. Ich war nur müde.

Dann schlief ich ein …

 

Der Wecker klingelte. Ich haute meine linke Hand auf den schwarzen Knopf meiner Digitaluhr. Der Alarm hörte auf. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und blinzelte ein wenig. Dann richtete ich mich auf und schob sachte die leichte Decke von mir. Ich wollte aufstehen und griff zur Hilfe an den Rand des Sarges.

 

Sarg?

 

Ich blickte an mir herunter. Eine schwarze, etwas zerfetzte Hose mit schwarzen Stiefeln schmückten meine Beine. Ein ebenfalls etwas zerfetztes, schwarzes Hemd, darüber einen schwarzen Frack mit ein paar Nieten lagen auf meinem Oberkörper. Meine Hände waren weiß und sahen so dünn aus. Meine Haare lagen mir vereinzelt im Gesicht und schienen strubbelig und ungekämmt zu sein. Vorsichtig stand ich auf und trat aus dem schwarz lackierten Ebenholz Sarg, der im Inneren Bordeauxfarbenes Polster hatte. Ich stand in einem dunklen Raum, der nur ein Fenster besaß, durch das fades Mondlicht schien. Ich öffnete es und sah hinaus. Vor mir lag ein riesiger Friedhof. Viele Gräber auf einem flachen Feld mit vereinzelt Bäumen.

Ich stieg wie im Fluge aus dem Fenster und betrat das leicht grüne Anwesen. Langsam und geräuschlos ging ich die schmalen Wege entlang.

 

Plötzlich stand ich vor vier leeren Gräbern. Sie waren ausge­schaufelt und gingen tief unter die Erde. An ihnen standen zerstörte Grabsteine. Dort wo normalerweise Tote hätten liegen müssen, war nun mehr ein Loch, ein gewaltig tiefes Loch. Man hörte ein Eisentor quietschen. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm.

Plötzlich sah ich Chloe auf einem Baum sitzen. Sie grinste mich hungrig an. Dann verschwand sie im Gebüsch. Mein Herz fing an zu klopfen. Ich hörte es. Es schlug heftig gegen meine Brust.

Ich drehte mich um und erblickte Mamoru. Er stand nur wenige Meter von mir entfernt und hielt ein silbernes Tablett mit Deckel in der Hand. Er grinste ebenfalls hungrig. Seine Brille leuchtete kurz auf, dann öffnete er den Deckel des Tabletts. Zum Vorschein kamen vier blutige Herzen. Ich erschrak und wich zurück. Sofort verschwand Mamoru.

Auf einmal packte mich jemand von hinten an meinen Händen. Ich versuchte zu erkennen, wer das war. Es war Vater. Auch er hatte das Grinsen. Erst jetzt, wo mir etwas Blut über die Schulter floss, bemerkte ich, dass in seiner Brust, wo das Herz normalerweise sein sollte, ein Loch war. Mamoru und Chloe standen vor mir und hatten ebenfalls ein Loch in ihren Brustkörben.

 

Dann erkannte ich Kiyoshi. Er kam auf mich zu. Er sah genauso aus wie ich. Er trug dieselben Klamotten und dieselbe Frisur. Seine Augen waren Blutrot und die Augenringe unter ihnen noch schwärzer als sonst. Er machte mir Angst; seine Augen, sein Erscheinen, einfach alles. Durch sein hungriges Grinsen, das ebenso hämisch und hinterhältig war, blitzten seine langen Reißzähne hervor. Er streckte seine linke Hand nach mir aus.

 

»Du wirst einer von uns, Hiro.« Seine Stimme klang so vampirisch. So wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich spürte meine Angst immer höher klettern, wie mein Herz immer stärker klopfte, als wolle es fliehen.

Vorsichtig legte er seine Hand sanft auf meine Brust und streichelte kurz darüber.

»Werde wie wir, Hiro. Bleibe bei uns«, flüsterte er mir ins Ohr. Mit seiner anderen Hand hielt er meinen Kopf, dann küsste er meine Lippen. Es brannte kurz. So schnell wie er mich küsste, so schnell löste er sich auch wieder von mir. Seine Augen fesselten meine. Vor Angst spürte ich eine kleine Träne über meine Wange rollen. Kiyoshi beobachtete die Träne und küsste sie auf einmal weg.

»Bleibe bei uns. Bleibe bei den Toten.«

Er trat kurz zur Seite und ich erblickte fünf ausgegrabene Gräber. Am fünften stand ein Grabstein mit einem bekannten Namen.

 

Hiroshi Kabashi

 

Ich zuckte zusammen und konnte meinen Mund nicht mehr zubekommen. Wieder öffnete Mamoru den Deckel des Tabletts. Die vier Herzen schlugen nicht mehr, sondern lagen stumm und blutig auf dem silbernen Metall.

»Es wird nicht wehtun, Hiro. Halt einfach still«, flüsterte Kiyoshi und knöpfte meinen Frack und mein Hemd auf. Er streichelte kurz über meinen nackten Körper.

 

Mit voller Wucht stieß er seine spitzen Fingernägel durch meine Brust und packte in meinem Inneren mein Herz. In Sekundenschnelle zog er es raus und hielt es in seinen dünnen Händen. Mein Blut strömte seine Hand herunter. Alles ging so schnell; er grinste hämisch und leckte das Blut ab. Dann hörte auch mein Herz auf zu schlagen und er legte es auf das Tablett von Mamoru. Der schloss den Deckel wieder und verschwand. Mein Vater ließ mich los und ging mit Chloe. Ich sank auf die Knie und sah nur noch schwarz. Schwarz. Schwarz …

 

 

»Hiro. Steh auf.« Diese Stimme klang vertraut. Es war seine Stimme.

Ich blinzelte kurz und erblickte Kiyoshis Gesicht. Er sah komisch aus. So … zurechtgemacht.

Auf einmal  richtete ich mich schlagartig auf und kroch in die hinterste Ecke meines Bettes. Außer Atem hielt ich meine rechte Hand verkrampft an meine Brust. Kiyoshi schien erschreckt zu sein, da er einen Schritt zurück wich.

»Alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig und schien meine Reaktion nicht ganz zu verstehen.

Perplex sah ich an mir herunter. Mein Schlafanzug, kein einziger Bluttropfen und eine glatte Brust ohne irgendein Loch. Ich lauschte kurz. Mein Herz pochte heftig und schien genauso aufgeregt zu sein, wie ich mich fühlte. Erleichtert seufzte ich auf.

»Hiro?«, fragte Kiyoshi erneut und sah besorgt aus.

 

Ich sah auf und sah ihn mit einem leichten Lächeln an.

»Nur ein Traum …«, murmelte ich vor mich hin. Jetzt schien er zu verstehen und schüttelte leicht den Kopf.

»Zieh dich an. Mamoru fährt sonst ohne uns.«

»Hä?«, sagte ich und suchte eine Uhranzeige. Kiyoshi ging zu meinem Schrank und zog meine Schuluniform raus. Ich sprang aus meinem Bett und ging an mein Handy.

»Es ist ja erst sieben Uhr. Wieso stehen wir jetzt schon auf? Und vor allen Dingen, wo fährt Mamoru denn mit uns hin?«, fragte ich aufgebracht, noch immer etwas mitgenommen von meinem Alptraum.

Kiyoshi schmiss mir meine Schuluniform entgegen.

»Zur Schule.«

Meine Augen weiteten sich mit einem Schlag.

»Was? Vergiss es! Ich hab Ferien! Ich fahr doch nicht in den Ferien in die Schule!«, posaunte ich raus und schmiss meine Schuluniform auf mein Bett. Kiyoshi kam genervt auf mich zu und zischte mir ins Ohr:

»Ich hab genauso wenig Lust wie du. Es ist die Anordnung von unserem Herrn Papa. Er möchte, dass du meine Schule siehst.«

»Warum? Weil es bald meine sein könnte, oder was?«, motzte ich und sah ihn verständnislos an.

Er zuckte nur mit den Schultern und ging zur Tür.

»Kann sein.«

Damit ging er aus der Tür.

 

Ich seufzte laut los. Genervt stemmte ich meine Hände in meine Hüfte und sah mich kurz im Zimmer um. Draußen war es schon hell.

Nach wenigen Minuten ärgerte ich mich über das plötzliche Erscheinen meines Bruders. Ich hatte doch abgeschlossen. Mein Blick fiel auf die Tür, insbesondere auf das Schloss. Der Schlüssel steckte auf der Außenseite und Kiyoshi schien mit allen Mitteln versucht zu haben, die Tür zu öffnen, da sie viele Kratzer und Beulen hatte. Um sein Werk genauer zu betrachten, ging ich zur Tür und starrte auf das Schloss. Ich wollte sie schon zumachen, da knarrte sie heftig und schien fast aus ihren Verankerungen zu fallen. Erschrocken ließ ich die Tür sofort los.

»Kiyoshi? Was hast du mit der Tür gemacht?«, rief ich durch den Flur. Der steckte seinen Kopf kurz durch seine Tür.

»Versucht rein zukommen«, meckerte er und steckte den Kopf wieder zurück. Ich seufzte kurz. Verständnislos be­trachtete ich die zerstörte Tür.

»Machst du wohl etwas schneller?«, rief Kiyoshi erneut durch den Türspalt und zeigte mir mit einer Handbewegung, dass ich mich schneller fertig machen sollte. Ich winkte ab.

»Ja, ja.«

 

Langsam und ohne Hektik schlurfte ich zurück zu meinem Bett und nahm mir meine Schuluniform. Ich hatte sehr wenig Lust in den Ferien zur Schule zugehen, vor allen Dingen in Kiyoshis blöde Privatschule. Meine Laune hielt sich demnach schwer in Grenzen, weswegen ich auch mit der dement­sprechenden Miene durch die Gegend lief. Mies gelaunt, wie ich also war, schlurfte ich ins Bad und zog mich aus. Ich wusch mir mein Gesicht und versuchte etwas frischer auszusehen. Als ich in den Spiegel blickte, erschrak ich wie immer.

»Hiro, du siehst grauenhaft aus«, murmelte ich für mich selber und betrachtete mein anderes Ich. Meine Haut war blass und matt. Sie glänzte nicht und sah auch nicht schön aus. Meine Augenringe verstärkten sich, obwohl ich so viele Stunden geschlafen hatte. Ich war auch nicht müde, das kam zu meinem Überraschen dazu. Meine Adern traten an einigen Stellen heraus. Sie pochten stark, wenn man seinen Finger draufhielt. Meine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Ich sah aus … wie tot. Wie nicht mehr lebendig.

Mein Blick fiel auf den Verband um meinen Hals. Ich öffnete ihn vorsichtig und band ihn ab. Die kleinen Löcher waren nun zwei Punkte geworden, die noch rot durchschimmerten.

»Das ging ja schnell …«, bewunderte ich die schnelle Ge­nesung meiner Wunde.

 

»Vampirische Vorzüge.«

Ich musste mich noch nicht mal zur Tür drehen, um zu sehen wer da wieder stand.

»Was willst du?«

»Dir ein Pflaster draufkleben«, sagte Kiyoshi und ging schnur­stracks zum kleinen weißen Schrank.

»Wieso? Die Wunde ist doch verheilt.«

Er schüttelte den Kopf und kam mit einem großen Pflaster auf mich zu.

»Man kann immer noch dein Blut riechen. Die Haut dort ist sehr dünn, es ist besser, wenn du sie noch schützt.« Dann machte er die Folie von der Klebebeschichtung ab und pustete meine Haare zur Seite. Ich legte meinen Kopf etwas in die Schräglage, dann klebte er das Pflaster auf die Wunde.

Er schmiss die Folie in den kleinen Papierkorb unter dem Waschbecken, während ich die Klebestelle noch weiter andrückte.

»Du bist auch dafür prädestiniert immer ins Bad zu kommen, wenn ich gerade nur in Unterwäsche bin«, bemerkte ich nebenbei und verschränkte meine Arme. Er hielt kurz inne, dann grinste er.

»Nein, du bist dafür prädestiniert, immer, wenn ich ins Bad komme, in Unterwäsche zu stehen.«

»Du drehst alles so wie es dir passt, oder?«, meckerte ich und griff nach einer Bürste, um mir die Haare zu kämmen.

»Ich gehe nur alle Möglichkeiten durch.« Er grinste leicht, ging zur Tür und verschwand fast geräuschlos.

 

Ich seufzte kurz auf. Mein Bruder macht mir nicht nur mein Leben zunichte, sondern er macht mich auch noch krank, war ein Gedanke von mir, als ich die Bürste wieder weglegte. Ich zog mir mein Hemd an, band die rote Krawatte ordentlich um den Kragen und zog mir die schwarze Stoffhose an. Nachdem ich ein bisschen gezupft und gerichtet hatte, warf ich mir noch eben meinen Blazer über. Erschreckend war es schon. Das letzte Mal, wo ich mich in Schuluniform sah, war ich noch der lockere, lustige und menschliche Hiro vor dem Flughafen­spiegel. Und jetzt?

Vorsichtig versuchte ich mit meiner rechten Hand das andere Ich im Spiegel zu berühren. Sanft berührte ich die kalte Oberfläche und sah in das Gesicht des Monsters. Es sah traurig aus und schrie innerlich nach Hilfe. Verzweiflung und Wut stauten sich in seinen Augen zusammen. Die Tränen kamen erneut aus den toten Augen, die sich langsam ihren Weg über die blasse Haut bahnten.

 

Ich ließ den Spiegel los und wischte mir mit einem Ruck die Tränen aus dem Gesicht. Schnell hob ich den Hebel für den Wasserhahn an und stellte ihn auf ganz kalt. Mit einem Platsch spritzte ich mir das eiskalte Wasser ins Gesicht. Sofort stellte ich das Wasser wieder aus und griff nach dem Handtuch. Ich rubbelte die restlichen Tropfen ab und schaute wieder in den Spiegel.

 

»Siehst immer noch nicht viel anders aus, aber nimm das Leben ab jetzt mit Genuss und Freude«, sagte ich mit Stolz und Selbstvertrauen zu mir selber. Ich grinste siegessicher in den Spiegel und stemmte zufrieden die Hände in die Hüfte. Nach wenigen Sekunden nickte ich und ging mit meinem Schlafanzug unterm Arm aus dem Bad. Draußen wartete schon Kiyoshi vor seiner Tür und beobachtete mich traurig. Grinsend ging ich an ihm vorbei.

»Was ist los? Guckst so traurig«, stellte ich schon fast belusti­gend fest.

»Du bist ein armer Irrer …«, murmelte er und sah mir hinter­her. Ich drehte mich kurz um und ging rückwärts weiter zu meiner Tür.

»Ich sehe das Leben nur positiv und versinke nicht in meinen eigenen Depressionen, die mich dazu bringen, anderen beim Selbstgespräch zu lauschen.« Ich musste lachen und drehte mich sofort wieder um, damit ich nicht gegen die geschlossene Tür lief. Mit viel Elan warf ich meinen Schlafanzug auf mein Bett und schnappte mein Handy. Ich steckte es in meine Hosentasche und ergriff meine noch gepackte Schultasche. Ich hatte am letzten Schultag eh keine Hefte und Bücher mit, also musste ich nicht viel umpacken. Schnell zog ich mir noch meine schwarzen Schuhe an, die meine Mutter so toll fand, da sie aus mattem Leder waren. Freudestrahlend griff ich den goldenen Schlüssel und wollte schon abschließen, da sah ich die zerstörte Tür. Ich steckte ihn einfach in meine Hosentasche und grinste beim Rausgehen wieder meinen Bruder an.

»Versuch auch mal zu lächeln, würde dir bestimmt gut tun«, spottete ich etwas und ging auf ihn zu. Der verdrehte nur die Augen und schnappt sich seine Tasche. Als er so vor mir herging, musste ich ihn einfach etwas mustern.

Er trug eine schwarze Stoffhose und einen schwarzen Blazer, wie ich. Doch unter dem Blazer trug er ein dunkelrotes Hemd mit einer schwarzen Krawatte. Seine Schuhe waren aus schwarzem Lackleder, welches im matten Licht des Ganges schon glänzte. Seine Tasche war eine Umhängetasche mit einer riesigen Schnalle. Viele silberne Reißverschlüsse schmückten den sonst eher langweiligen schwarzen Stoff. Seine Haare waren zur Seite gekämmt und sahen so ordentlich aus. Nicht wie sonst, wo er sie einfach im Gesicht hängen hatte. An seiner rechten Hand trug er eine silberne Uhr mit einem schwarzen Lederband. Er sah aus, als würde er gleich auf eine Beerdigung gehen. Alles in schwarz. Außerdem hatte er sein Hemd in die Hose gesteckt und den Blazer zugeknöpft. Ich dagegen hatte das Hemd locker raushängen und den Blazer nur übergezogen. Ich seufzte kaum hörbar und schüttelte leicht den Kopf. Tote zogen sich also auch noch so tot an. Er jedenfalls.

 

Als wir unten im Foyer ankamen, stand unser Vater an der Tür und hielt mit einem leichten Lächeln zwei blickdichte Flaschen in der Hand. Kiyoshi ging stur an ihm vorbei und schnappte sich dabei eine Flasche. Genervt öffnete er die Tür und ging im Morgenrot zum schwarzen Mercedes, der vor der Tür parkte.

Ich blieb noch kurz bei Vater stehen und sah Kiyoshi hinter­her.

»Scheint, als hätte er heute Morgen wieder schlechte Laune«, sagte mein Vater seufzend und lächelte mich dann wieder an. Im Gegensatz zu gestern scheint er ja wieder gut drauf zu sein.

»Wie immer eigentlich …«, fügte ich hinzu und schüttelte grinsend den Kopf. Plötzlich hielt mir mein Vater die andere Flasche hin.

»Es wird dir nicht gefallen, aber nimm die bitte mit.« Hoffnungs­voll sah er mich an.

»Was ist denn drin? Wein

Mein Vater musste lachen und schüttelte den Kopf. Ich nahm die Flasche an und steckte sie in meine Tasche. Zwar fragte ich mich im ersten Moment, wie ich vertuschen sollte, was wirklich drin war, aber das würde ich mir später noch überlegen.

»Kein Problem, Dad. Ich nehme sie einfach mit. Wenn ich keinen Durst habe, gebe ich sie einfach Kiyoshi.« Er nickte kurz und legte seine linke Hand auf meinen Rücken. Damit schob er mich etwas aus der Tür.

»Dann bis heute Abend.«

Verwirrt drehte ich mich um.

»Heute Abend

Vater winkte nur und lächelte vor sich hin. Fassungslos drehte ich mich wieder um und ging ebenfalls zum Mercedes. Langsam stieg ich ein.

 

»Guten Morgen, Herr Hiroshi«, begrüßte mich Mamoru durch den Rückspiegel.

»Morgen«, gab ich zurück und schnallte mich an. Ich traute mich wieder nicht, mich richtig hinzusetzen. Meine Mutter fuhr keinen großen Wagen, aber wozu auch? In der Stadt braucht man keinen großen Wagen.

Mamoru gab Gas und fuhr eine kleine Straße entlang. Diese hatte ich noch nie gesehen, deswegen ging ich davon aus, als wir an einem Tor ankamen, dass dies das Osttor sein musste. Langsam öffnete sich das Tor automatisch und Mamoru fuhr weiter. Wir kamen an einer Kreuzung raus, die aber nicht so groß und befahren war, wie die am Südtor, wo die Straßenbahn war. Er fuhr gerade aus weiter. Die ganze Autofahrt verlief schweigend, sodass ich mich ganz der Welt jenseits des Fensters widmen konnte. Eine lange Allee mit vielen Bäumen an den Seiten schmückte einen kleinen Ort. Er sah schön aus, auch wenn die Häuser alle etwas unbewohnt aussahen, da nirgendwo eine Gardine am Fernster hing oder der Garten bepflanzt war. Die Gegend konnte ich also auch abstempeln.

Auf einmal bog Mamoru in eine kleine Einfahrt rechts ab. Wir durchfuhren eine weitere Allee, die aber im Vergleich zur ersten viel kleiner und mehr bepflanzt war. Ehe ich mich versah, hatten wir ein großes, verschnörkeltes und schwarzes Eisentor durchfahren. Eine große Einfahrt war zu erkennen, die Mamoru befuhr. Auf einmal hielt er an. Ich staunte nicht schlecht …

Orden "Red Rose"

Ich staunte nicht schlecht, als Mamoru den Wagen in der runden Einfahrt parke.

Ein riesiges Gebäude stand direkt vor uns. Es sah alt aus und an einigen Stellen wuchs Efeu die Wände hoch. Die Fenster waren alle alt und mit Holzrahmen versehen. Trotz allem wirkte es renoviert, da die Eingangstur noch im besten Zustand war. Es war eine schwere Holztür mit vielen Einritzungen, die von weitem aussahen, als wüchse da irgendetwas entlang. Eine große, aber kurze Treppe führte zu diesem Eingang mit einem schwarzen, verschnörkelten Metallgeländer an beiden Seiten. Vor dem Schulgebäude waren kleine Pflanzen, die im Morgen­rot langsam aufgingen. Kiyoshi stieg aus und knallte die Tür mit »Bis später, Mamoru« zu. Ich stieg ebenfalls aus.

»Tschüss, Mamoru.«

»Auf Wiedersehen und viel Vergnügen.« Ich musste zögerlich grinsen. Vergnügen? In diesem Geisterschloss?

 

Als ich neben Kiyoshi stand, fuhr Mamoru weg. Kaum war er nicht mehr sichtbar gewesen, drehte ich mich wieder zu meinem Bruder um.

»Das ist deine Schule?«, fragte ich noch immer etwas ungläu­big.

»Ja«, gab er knapp zurück und ging zum Eingang. Schweigend folgte ich ihm. Wer geht schon auf so eine Schule? Die schien erstens sehr teuer zu sein, weil es ja eine Privatschule war, zweitens ein Geisterhaus, da überall Verschnörkelungen aus dem letzten Jahrhundert waren, und drittens einen sehr leeren Eindruck verschaffte. Mit einem Quietschen der schweren Holztür betraten wir um kurz vor acht Uhr ein leeres Foyer. Dunkelgraue Marmorplatten führten zu einer großen Treppe aus dunklem Holz. Das Foyer mit der schweren Treppe erinnerte mich ein bisschen an den  »Harry Potter« Film. Obwohl es in Harry Potter noch gemütlicher aussah als hier, da dort noch Schüler rum liefen.

»Du, sag mal. Gibt’s hier auch so was wie Schüler?«, flüsterte ich Kiyoshi zu, da es so leise war.

»Ja, in den Klassen.« Kiyoshi sprach ganz normal, aber wieder sehr gehoben. Sein Territorium, wie mir schien. Dabei gab’s hier noch nicht mal Mädels, die er mit seiner coolen Art hätte aufreißen können.

 

Mit schnellem Schritte gingen wir die Treppe rauf. An der Wand hingen riesige Gemälde von Landschaften oder von Personen, die kaum zu erkennen waren. Selbst das Holz­geländer der Treppe war mit Verzierungen geschmückt. Alles in einem wirkte sehr aufwendig verarbeitet. Wir betraten einen langen Gang, der mit dem gleichen matten Licht beleuchtet wurde, wie der Gang bei uns im Haus. Das fade Licht zeigte einige Räume, deren Türen ebenfalls sehr groß und schwer aussahen. Mein Blick fiel noch einmal zurück ins Foyer. Riesige Fenster mit langen, schweren Vorhängen schmückten die goldfarbenen Wände. Die Scheiben waren getönt, sodass nur wenig Licht eintrat. Mir kam immer mehr der Gedanke, dass ich hier auf einer besonderen Schule war, wo nicht jeder draufkam.

 

»Kommst du?«, hörte ich Kiyoshis anmutige Stimme nach mir rufen. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn schon vor einem Raum stehen. Sofort nickte ich und ging zu ihm.

»Das ist deine Klasse?«, fragte ich vorsichtig.

»Mein Kurs, ja.«

Ich nickte. Mein Herz klopfte wahnsinnig. Jedoch war ich immer froh es zu hören. Meine Angst stieg mir weiter in die Finger. Kiyoshi öffnete die Tür. Wir gingen in einen großen Hörsaal. Dann bog er zu den Tischen ab und ich erkannte, wer sich alles schon in diesem Raum befand.

 

Damen und Herren saßen vereinzelt auf den Tischen und Stühlen und unterhielten sich leise. Alle sahen anmutig aus. Alle waren sie blass und alle waren sie … perfekt. Keine Makel waren auf ihren Gesichtern zu erkennen, die Frisur saß und keiner hatte irgendein Gramm Fett zu viel an seinem Körper. Die Mädchen trugen kurze Faltenröcke mit roten Blusen und darüber der schwarze Blazer. Erst jetzt fielen mir die vielen kleinen Knöpfe auf, die sie auf ihren Blazern hatten. Der Faltenrock hatte am Saum eine feine rote Linie. An ihren Blusen hatten die Mädchen eine schwarze Schleife sanft verknotet mit einer roten Rose als Brosche auf dem Blazer. Die Männer, so auch Kiyoshi, trugen an ihren Blazern die rote Rose auch als Brosche. Am Hosensaum war ebenfalls eine feine rote Linie gezogen. Alle ihre Krawatten waren ordentlich gebunden, alle Schleifen ordentlich geknotet und alle hatten ihre Bluse oder ihr Hemd ordnungsgemäß in ihrem Rock oder ihrer Hose. Diese Anmut und diese Perfektion in ihren Gesichtern, die keinen Ausdruck vermittelten, ließen mich nur eine Schluss­folgerung ziehen:

 

Das war eine Schule, ganz allein nur für Vampire. Jeder in diesem Raum war ein Vampir. Jeder einzelne. Kein Mensch befand sich in diesen vier Räumen. Ich stand in einem Haufen Toter. Mein Herz schlug immer heftiger. Dass es in unserem Haus nur von Toten wimmelte, war irgendwo schon zu viel und jetzt auch noch eine ganze Schule voller Vampire? Ich wollte dieses Gebäude sofort verlassen.

 

»Hiro! Jetzt komm schon hoch«, rief Kiyoshi durch den Raum. Ich stand immer noch verlassen an der schon längst geschlos­senen Tür und konnte nicht fassen, wo ich gelandet war. Mein Bruder stand an einem Tisch und hatte seine Tasche abgelegt. Um ihn herum standen drei andere Vampire. Ein Mädchen und zwei Jungs. Er hatte also doch Freunde …

Langsam und zögerlich ging ich die kleinen Treppen entlang, um zu Kiyoshi an die Bank zu kommen. Dort stellte ich meine Tasche neben seiner am Boden ab. Der edle Holzboden war weder dreckig noch anderweitig beschmutzt. Er sah so neu aus. Genauso wie die weißen Tische. Sie waren so sauber und glatt auf ihrer Oberfläche. Auch in diesem Raum waren riesige, getönte Fenster mit schweren, schwarzen Vorhängen, die mit einem roten Band zurückgebunden waren. Die Umgebung interessierte mich im Moment aber herzlich wenig, da mich die Insassen dieses Raumes viel nervöser machten.

 

»Das ist also dein Bruder?«, fragte nun das eine Mädchen in einer hohen, aber angenehmen Stimme. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr glatt über der Schulter lagen. Ihre langen, grazilen Beine, die in schwarzen Stiefeln endeten, lagen sachte übereinander, während sie auf dem Tisch saß. Sie hatte grüne Augen, die stark heraus stachen. Ansonsten hatte sie ein eher längliches Gesicht, welches aber doch wohlgeformt war. Mit einem verführerischen Blick, der trotzdem neugierig aussah, starrte sie mich an.

»Ja. Hiro, das ist Kathleen. Kat, das ist Hiroshi«, stellte Kiyoshi uns vor. Sie grinste freundlich, trotzdem noch gehoben und reichte mir ihre kalte, dünne Hand. Ich nahm sie mit einem zö­gerlichen Grinsen an und schüttelte sie kurz. Ihr Griff war für ihre zarte Hand doch recht fest.

»Freut mich, Hiro«, sagte sie freundlich und grinste weiter.

»Mich ebenfalls, Kathleen.«

»Nenn mich ruhig Kat. Das ist kürzer.«

Ich nickte kurz, dann ließen wir unsere Hände wieder sinken.

»Und das sind Ichiru und Yagate«, stellte Kiyoshi nun die zwei anderen vor. Yagate war groß und hatte selbst unter der dicken Schuluniform einen stämmigen Körper. Er schien sehr muskulös zu sein, da auch seine Hände etwas größer waren. Trotz allem wirkte er wie alle anderen auch: Fein und Anmutig. Seine kurzen, verwuschelten braunen Haare waren mit etwas Gel zurechtgestylt. Seine dunkelbraunen Augen erinnerten an die meines Vaters. Kalt und doch aussagend darüber, was er war: Besser als alle anderen.

Ichiru schien der Lockere von allen zu sein. Auch wenn alles an ihm so saß wie bei jedem, so strahlte er etwas Freundliches aus. Seine dunkelblonden Haare waren etwas länger und ähnelten der Frisur von Kiyoshi, wenn er seine Haare nicht kämmte. Trotzdem hatten Ichirus Haare Form und Ordnung. Seine grauen Augen schienen eher matt zu wirken, doch wenn man genau schaute, strahlten sie genauso stark wie die anderen. Er war nicht ganz so muskulös wie Yagate, aber nicht ganz so zierlich wie mein Bruder. Mehr so wie ich. Er schien mir sowieso sehr ähnlich zu sein.

Wir gaben uns die Hand, begrüßten uns und ließen uns wieder los. Beide hatten kalte Hände, die von blaugrünen Adern durchzogen waren. Sie sahen alle gleich aus. Alle hatten einen ganz bestimmten Touch.

 

»Bist du jetzt für immer hier?«, fragte Yagate in einer sehr dunklen Stimme. Ich schüttelte leicht den Kopf.

»Ich denke, nur zu Besuch.«

»Du denkst? Bist du dir nicht sicher?«, spaßte Ichiru etwas und setzte sich zu Kat auf den Tisch. Diese lächelte ebenfalls.

»Na ja … Den Umständen entsprechend …«, murmelte ich vor mich hin und sah trübe auf den Boden.

 

Jetzt schienen die drei zu verstehen, wieso ich mir nicht ganz sicher war.

»Dein Zwilling ist ein Mensch?«, fragte Ichiru fassungslos und beugte sich etwas zu mir vor, um mich betrachten zu können.

»Eher ein Noneternal, wie es aussieht«, verbesserte Kat und sah Kiyoshi fragend an.

»Wie kann das denn sein?«, sagte nun auch Yagate. Alle drei schienen ziemlich aus der Fassung zu sein. Ich war wohl der erste Mensch in ihrer Runde.

Kiyoshi blieb ruhig.

»Es war … ein Unfall. Aber ich denke, dass seine Ver­wand­lung bald kommt«, sagte er ruhig und verschränkte leicht die Arme, während er sich auf den Tisch über Kat und Ichiru setzte und die Füße auf die Stühle stellte.

»Dein armer Bruder … wer war das denn?« Kat schien etwas Mitleid für mich zu empfinden, was sie mir im Übrigen sehr sympathisch machte, da sie menschliche Züge zeigte.

 

Kiyoshi schwieg und sah zur Seite. Ich schaute zu Kiyoshi, der keine Reaktion zeigte. Sofort sah ich in die Runde. Alle drei warteten gespannt auf eine Antwort. Als keine kam, zog Yagate seine Augenbrauen hoch.

»Kiyoshi?«, fragte er etwas fassungslos.

»Was denn? Du hast mal die Fassung verloren?«, spottete Kat etwas und beugte sich zu Kiyoshi nach vorne, um ihm ins Gesicht zu schauen.

»Haha. Das wir das noch mal erleben, dass unser Kiyoshi sich mal nicht beherrschen konnte.« Ichiru musste kurz lachen. Auch wenn es ein gekünsteltes Lachen war. Verwundert über das Gekicher der anderen, sah ich zu Kiyoshi, der etwas verärgert zur Seite schaute. Er schien also nicht oft die Fassung zu verlieren, geschweige denn die Kontrolle über sich. Er war also nach außen hin immer der perfekte junge Mann, der voll und ganz Herr über sich selber war. Und ich war sozusagen die kleine Ausnahme, die große Auswirkungen für ihn hatte. Bei meinem Blut konnte er also einfach nicht nein sagen?

 

»Kiyoshi, Kiyoshi. Du hast also auch mal einen Fehler ge­macht. Gab’s Ärger vom Papi?«, kam plötzlich eine andere Stimme. Unsere Blicke fielen zu einem anderen Tisch, auf der anderen Seite des Ganges.

Dort stand ein Mann mit etwas welligen, schwarzen Haaren, die sachte glänzten. Er verschränkte seine Arme vor der Brust und sah Kiyoshi mit seinen eisblauen Augen neckend an. Sein Grinsen war fies und griff förmlich alles an, was er ansah. Hinter ihm saßen mindestens vier Weiber, alle am Kichern und hielten sich vor Anstand die Hand vor den Mund. Sie sahen sehr weiblich aus und würden bei mir auf der Schule wohl alle als ‚Tussis’ bezeichnet werden. Also genau die Art Mädchen, die ich nicht mag und bei dir ich so viel Abstand gewinnen wollen würde, wie möglich.

»Was willst du, Alexander?«, fragte Kat angeekelt. An den Blicken der anderen konnte man erkennen, dass der Typ genau der gehasste, fiese Störenfried war, der das Klima in der Gruppe immer zerstören wollte. Schön zu wissen, dass es bei Vampiren auch die genormten Rollen der Klasse gab.

»Kiyoshi, unser liebe, anständige und immer perfekte Junge hat einen Fehler gemacht und aus Versehen seinen Zwillings­bruder verwandelt? Das ist doch mal etwas Neues«, lachte dieser Alexander und schien sich köstlich zu amüsieren.

»Hey, wenn du Streit suchst, dann sag’s offen und mach hier keinen blöd an«, meckerte Yagate und wollte schon zu Alexander gehen, da hielt Kiyoshi die Hand vor seine Brust und hielt ihn zurück.

»Lass gut sein, Yagate«, sagte er monoton in seinem ge­hobenen Ton.

»Aber -«

»Lass ihn«, flüsterte Ichiru und hielt Yagate am Oberarm fest. Das ganze schien ihm nicht ganz zu passen, trotz allem ließ er ab und setzte sich auf den Tisch. Ich war nun der einzige der stand.

»Süß, wenn deine Freunde dich immer verteidigen müssen, Kiyoshi«, spottete Alexander weiter, während mein Bruder nur vor sich hin schwieg und ihn noch nicht mal zu beachten schien. Kat, Ichiru und Yagate sahen nur auf den Boden oder irgendwo anders hin.

 

»Es war nicht sein Fehler. Ich habe mich ihm sozusagen angeboten.«

Kiyoshi sah mich entsetzt an. Auch die anderen drei sahen etwas verwirrt aus.

Alexander hob nur eine Augenbraue an und grinste weiter.

»So? Und warum ist dann die Verwandlung fehlgeschlagen? Wieso bist du dann nur ein Noneternal und kein richtiger Vampir geworden?«, fragte er frech. Verdammt, stimmt ja … Die Verwandlung hätte ja auch richtig stattfinden können. Das hatte ich total vergessen.

»Dein Zwillingsbruder scheint ja nicht grade eine Leuchte zu sein, Kiyoshi«, prustete Alexander los.

 

Jetzt schien bei meinem Bruder endgültig der Faden gerissen zu sein. Auf einmal war er von seinem Platz weg. Verwundert sah ich mich um.

 

Er kam sanft auf der Ecke des Tisches auf, wo Alexander stand und hockte sich anmutig hin. Er packte Alexanders Kinn mit seiner rechten Hand und sah ihn missachtend an.

»Wenn du meinen Bruder noch einmal beleidigst, werde ich mich vielleicht kurze Zeit anderweitig ernähren. Von dir selbstverständlich …«, zischte er Alexander zu. Seine Pupillen wurden zu kleinen Punkten, umgeben von der glänzenden Iris seiner blutroten Augen.

 

Wie in meinem Traum …

 

Ich zuckte zusammen. Nicht nur ich schien in mich gefahren zu sein, sondern auch die anderen Vampire wichen zurück und sahen geschockt zu Kiyoshi. Er strahlte so etwas beängstigend aus. So majestätisch. So war er ja sogar noch nie zu mir gewesen. Er war verdammt zornig und vermittelte uns das mit seiner beängstigenden Aura.

 

Alexander schien zu Stein geworden zu sein. Er blieb ver­ängstigt an seiner Stelle stehen und zitterte. Wenige Sekunden später erhob sich Kiyoshi wieder und ließ Alexander los. Der wich schnell zurück und sah verlegen zur Seite. Dann auf einmal kniete er nieder. Kiyoshi blieb anmutig auf dem Tisch stehen.

»Entschuldige, Kiyoshi«, sagte Alexander mit zittriger Stimme und senkte seinen Kopf. Mein Bruder ließ sich geräuschlos wieder auf dem Boden nieder und kam neben Alexander auf. Langsam ging er wieder in unsere Richtung, wo er wieder in seinen Normalzustand rutschte. Sachte setzte er sich auf seinen Klappstuhl und packte eine Mappe aus, auf der Chemie stand.

Erst jetzt erhob Alexander und begab sich reumütig auf seinen Stuhl. Total perplex beobachtete ich dieses Spiel und stand fassungslos neben Kiyoshi und den anderen dreien. Alle Vampire schwiegen nun und sahen verschämt zu Boden. Nur ich wusste nicht, was überhaupt los war.

 

Auf einmal öffnete sich die Tür. Herein kam eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die sie in einem Zopf zusammen­gebunden hatte. Sie sah hübsch aus und schien das Alter meines Vaters zu haben, also war sie wohl die Lehrerin. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, klingelte es. Ein angenehmer Dreiklang durchtönte das stille Klassenzimmer. Sie trug einen langen weißen Kittel, der so rein aussah, als ob er noch nie benutzt worden wäre. Geräuschlos legte sie ihre blaue Mappe auf das steinerne Pult, welches sich wie in einem normalen Hörsaal unten befand. Alle gingen auf ihren Platz. Bei uns war das immer eine gewaltige Geräuschkulisse, wenn der Lehrer rein kam. Und die Schüler hörten erst auf zu reden, wenn der Lehrer sie drei Mal um Ruhe gebeten hatte. Hier ganz anders:

Fast geräuschlos begaben sich die Schüler auf ihre Plätze und standen sofort auf. Als alle an ihrem Platz waren, nickte die Lehrerin.

»Guten Morgen«, sagte sie sachte und legte ihre zarten Hände bewusst auf das Pult, wo ihre Mappe lag.

»Guten Morgen«, sagte die Klasse, wie im Chor, aber ohne Melodie. Mehr wie in der Armee. Bei uns war das immer ein Singsang der feinsten Art. Oftmals ziemlich schief oder lustlos, sodass der Lehrer schon wusste, welche Motivation aufzufinden war: Nämlich gar keine.

Die Lehrerin nickte noch einmal. Sofort setzten sich alle hin und öffneten ihre Mappen, die vereinzelnd auf den Tischen lagen.

 

»Öffnet bitte das Buch auf Seite Hunderteinundachtzig. Dort wird noch einmal erklärt, wie die Wasserstoffbrückenbindung zustande kommt. Wir hatten uns letzte Woche den Versuch Nummer drei angeschaut, der hier noch einmal genauer beschrieben wird. Wer kann mir noch einmal erklären, was genau die Voraussetzungen für eine Wasserstoffbrücken­bindung sind?«

Alleine aus dem Grund, dass sie so schnell sprach und für meine Ohren fast schon zu undeutlich, verstand ich schon nichts. Aus dem anderen Grunde hatte ich schon keinen Plan was eine ‚Wasserstoff-Was-Weiß-Ich-Bindung’ sein sollte.

Einige meldeten sich brav. Niemand schwatzte und niemand schien im Buch zu blättern, ob nicht irgendwo die Lösung stand. Ich schielte zu Kiyoshi ins Buch. Ein langer Text und ein Bild waren zu sehen. Auch er meldete sich und als er sah, wie ich rüberschielte, schob er das Buch in die Mitte von uns beiden.

»Danke …«, flüsterte ich ihm zu. Er nickte nur kurz.

 

»Kiyoshi, bitte«, forderte die Lehrerin ihn auf. Und schon legte er los:

»Eine Wasserstoffbrückenbindung ist eine intermolekulare Kraft und muss mindestens ein positiv teilgeladenes Wasserstoff­atom und ein negativ teilgeladenes Atom mit freistehenden Elektronenpaaren haben. Zusätzlich müssen die Atome eine Elektronegativitätsdifferenz von mindestens 0,8 haben, da eine polare Atombindung vorliegen muss.«

 

Mit offenem Mund und fassungslos geöffneten Augen starrte ich meinen Bruder an. Der war also nicht nur perfekt vom Aussehen, sondern auch perfekt in der Birne. Jedenfalls lächelte die Lehrerin und nickte kurz.

»Sehr gut, Kiyoshi. Warum stellst du uns denn nicht deinen Zwilling mal vor?«, fragte sie freundlich und stützte sich mit der rechten Hand am Pult ab, während sie erwartungsvoll in die Menge schaute.

»Er ist nur zu Besuch hier und wird für eventuell eine Woche hier sein. Sein Name ist Hiroshi, er möchte aber Hiro genannt werden«, sagte er anmutig, mit aber einem spitzen Unterton. Ich kannte ihn wohl schon gut genug, um sagen zu können, dass er immer noch angesäuert von grade eben war.

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Hiro. Ich bin Frau Yamatsuki, die Chemielehrerin, wie du vielleicht schon gemerkt hast.« Sie lächelte mich freundlich an und stellte sich wieder richtig hin.

»Äh … Ja, das habe ich mir schon gedacht«, murmelte ich vor mich hin und lief etwas rosa an. Ich habe kein Wort von dem verstanden, was sie und Kiyoshi gelabert haben. Ich hätte in Chemie besser aufpassen sollen.

»Deinem Blick zu urteilen, hast du das von grade eben nicht ganz verstanden, stimmt’s?«, fragte Frau Yamatsuki und grinste etwas fies.

»Nicht ganz …«, gab ich zu und versank etwas in meinem Sitz. Dann kicherte sie, fast wie gespielt, und sagte:

»Keine Angst. Wir sind hier mit dem Stoff bestimmt schon etwas weiter, als auf deiner Schule. Trotzdem wundert es mich, da wir diesen Stoff mit der Wasserstoffbrückenbindung schon letztes Jahr hatten«, sie unterbrach kurz und drehte sich zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und drehte sich wieder um, »weswegen mich diese wenigen Meldungen sehr irritieren. Vielleicht sollten wir den Stoff noch einmal wiederholen?«

Die Klasse blieb still und starrte nur stumm nach vorne.

»Weißt du Hiro: Nur weil dein Bruder es weiß, heißt es noch lange nicht, dass der ganze Kurs es weiß. Wir wissen ja alle, dass er schnell lernt«, preiste Frau Yamatsuki meinen Bruder an und lächelte freundlich. Trotzdem hatte sie etwas Arrogantes in ihrem Lächeln. Kiyoshi schien ihr Lieblingskind zu sein. Jedenfalls schien alles danach zu scheinen. Ich seufzte leise und verkroch mich hinter dem Tisch. Er waren Ferien und ich hatte so gut wie keine Lust auf Unterricht. Die hatten also wirklich keine Ferien. Privatschule mit Vampiren. Gut, Vampire müssen nicht so viel schlafen und nicht so viel essen wie Menschen, aber brauchen die auch weniger Freizeit als wir? Wenn ich zum Vampir werde, will ich weiterhin Freizeit haben und nicht das ganze Jahr hindurch zur Schule gehen müssen.

 

Ich versuchte die Stunde abzuschalten. Es war langweilig, trotzdem hörte ich mit einem Ohr zu. Die ganze Zeit herrschte Stille, nur ab und zu sagte ein Schüler etwas, aber nur weil er zur Lösung von etwas beitragen wollte. Was mich wunderte, dass niemand tuschelte, weil ich da war. Niemand starrte mich blöd an und niemand machte irgendwelche Witze darüber, dass ich ein Halb-Vampir war. Ein Noneternal. Vielleicht traute sich jetzt nach dem Vorfall von vorhin keiner mehr überhaupt irgendetwas zu sagen. Kiyoshi schien eine ziemliche Persönlich­keit im Kurs darzustellen.

Der Kurs bestand aus genau siebenundzwanzig Vampiren. Wobei es dreizehn Jungs und vierzehn Mädchen waren. Schön aufgeteilt, musste ich schon sagen. Mit mir wären es dann genau fünfzig Prozent Mädchen und fünfzig Prozent Jungs. Ob das extra so gedacht war? Hoffentlich nicht …

 

Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, doch dann klingelte es. Frau Yamatsuki klappte ihre Mappe zusammen, verabschiedete sich und ging aus dem Raum. Nun fingen die Schüler wieder an zu reden. Aber sehr gesittet. Niemand schrie und niemand machte Anstalten großartig etwas zu erzählen. Alle blieben auf ihrem Stuhl sitzen, viele wechselten nur die Mappe von Chemie nach Physik. Ich seufzte innerlich, als ich die Mappe von Kiyoshi sah und verdrehte leicht die Augen. Wieso muss ich das mitmachen?

Kat, Ichiru und Yagate, die vor uns in der Reihe saßen, drehten sich zu uns um und grinsten.

 

»Wie war die erste Stunde bei uns?«, fragte Kat und legte ihren Kopf auf unseren Tisch. Ich grinste zögerlich.

»Interessant … Sehr interessant.«

Ichiru musste kichern.

»Du hast nicht wirklich aufgepasst, oder?«, fragte er und zwinkerte kurz. Ich schüttelte leicht den Kopf und tat so, als würde ich mich für meine Untat schämen.

»Kiyoshi passt immer auf. Er ist das Lieblingskind von allen Lehrern«, sagte Yagate und deutete auf meinen Bruder, der in seine offene Flasche starrte. Er schien grade ganz woanders zu sein, nur nicht hier. Traurig betrachtete ich ihn. Irgendwie saß er da, als wäre er alleine und würde am liebsten ganz woanders sein.

 

»Sagt mal, habt ihr eigentlich auch Ferien?«, fragte ich die drei. Alle schauten sich kurz an, dann zuckte Ichiru mit den Schultern.

»Man kann sich frei nehmen, wann man will.«

»Was? Im Ernst?« Nicht schlecht …

»So was wie Ferien haben wir hier nicht. Man muss nur zum Direktor gehen und sagen, dass man zwei oder drei Wochen frei haben möchte. Dann trägt man sich in eine Liste ein, von wann bis wann man weg ist und fertig«, erklärte Kat und grinste wieder.

»Ach so. Das ist ja praktisch«, bewunderte ich das tolle System. »Gibt’s da kein Limit?«

»Doch, schon. Ich glaube mehr als fünfzehn Wochen darf man sich nicht frei nehmen«, meinte Yagate und schien zu überlegen, ob er das richtige behauptet hatte.

»Ja, so in etwa. Aber hier hat noch nie jemand sich so viel frei genommen«, lachte Ichiru.

»Echt nicht? Ich würde das voll und ganz ausnutzen …«, murmelte ich.

Kat schüttelte den Kopf. »Man langweilt sich nur. Glaub uns, du nimmst dir keine fünfzehn Wochen im Jahr frei.«

Ich zuckte kurz mit den Schultern. »Ich kenne nur feste Ferien, deswegen kann ich das so schlecht sagen.«

»Ja, die Menschen haben jetzt Sommerferien, stimmt’s?«, fragte Ichiru und starrte zum Fenster, wo zwei Mitschüler die schweren Vorhänge zumachten, da die Sonne schon verein­zelnd rein schien. Plötzlich wurde es etwas dunkel, dann machte einer ein mattes Licht an, welches von kleinen Lampen an den Wänden ausgestrahlt wurde.

»Ja, endlich. Bei uns ist Schule ätzend, da wir andauernd irgendwelche Tests oder Klassenarbeiten schreiben«, murmelte ich vor mich hin und beobachtete Kiyoshi aus den Augen­winkeln heraus. Der bekam wahrscheinlich noch nicht mal mit, dass ich mich mit seinen Freunden unterhielt. Kat bemerkte wohl meinen Blick.

 

»Keine Angst, das macht er immer in den kleinen Pausen«, flüsterte sie mir zu und grinste mich an. Etwas ertappt nickte ich und spekulierte, ob er uns zuhören würde.

»Sag mal …«, flüsterte ich Kat zu, »… was war denn das vorhin mit diesem Alexander? Kiyoshi ist ja total … komisch geworden. Passiert das öfter?«

Sie schüttelte mit ernster Miene den Kopf.

»Nein. Normalerweise läuft es so ab, wie am Anfang. Wir versuchen ihn zu verteidigen und er schweigt. Irgendwann hören wir dann auf, wenn die Situation anfängt zu eskalieren, während Kiyoshi ihn immer noch nicht beachtet.«

»Er meint nämlich, wenn er Alexander ignoriert, verliert dieser irgendwann den Spaß daran, ihn zu ärgern und runter zu machen, aber wie man sieht, klappt es nicht«, fügte Ichiru hinzu und kam zu Kat und mir herüber. Auch Yagate mischte sich noch dazu, sodass wir vier einen kleinen Kreis bildeten.

»Dieser Alexander … Was will der eigentlich damit er­rei­chen?«, meckerte ich vor mich hin und stellte indirekt eine Frage.

Alle zuckten nur mit den Schultern.

»Wahrscheinlich gönnt er Kiyoshi seinen Erfolg nicht«, rätselte Kat.

»Ist er denn der einzige Streber hier? Habt ihr keine anderen?« Ich musste da nur an meine Klasse denken, wo wir sogar einen ganzen Haufen von denen hatten.

»Um die Noten geht es eigentlich weniger. Alexander ist sogar viel beliebter und kommt besser bei den anderen an«, sagte Yagate. Ichiru führte fort:

»Es geht mehr um seine Stellung hier auf der Schule. Immer­hin ist er ein Reinblütler.«

 

»Ein … Was?«, fragte ich nach. ‚Reinblütler’ klang sehr adlig.

»Reinblütler. Kiyoshi scheint dir ja nicht grade viel über sich erzählt zu haben.« Kat musste grinsen und stützte sich auf unserem Tisch ab.

»Er schweigt wie ein Grab. Das muss ich mir alles selber erfragen«, spaßte ich und winkte ab, »Was genau ist denn dann ein ‚Reinblütler’?«

»Ein Vampir, in dem wirklich nur Vampirblut fließt. Er wurde ja so geboren. Wir sind alle verwandelt worden. Dass ein Vampir geboren wird, ist nämlich extrem selten«, erklärte Kat und richtete dabei ihre Haare.

»Also selbst wenn zwei Vampire ein Kind bekommen, was eigentlich so gut wie unmöglich ist, ist es unter Umständen trotzdem ein Mensch, da die meisten Vampire ja früher einmal Menschen waren.«

» … «

Das erklärte auch, warum Alexander vor meinem Bruder niederkniete. Er ist ein Reinblütler und damit etwas Besseres. Er gehörte zu einer raren Art.

»Eigentlich wundert es mich dann, dass ihr beide als Zwillinge so unterschiedlich auf die Welt gekommen seid«, äußerte Yagate und stützte seinen Kopf auf seinen Armen ab, die er auf unseren Tisch gelegt hatte.

»Wenn du erst mal ein Vampir bist, dürftest du eigentlich auch kein niedriger werden.« Ichiru sah zu Kat, dann zu Yagate. »Immerhin ist euer Vater ja schon ein hohes Tier.«

 

»Im Ernst?«

Die drei sahen mich verwundert an.

»Sag mal, was weißt du eigentlich schon alles? Das scheint nämlich ziemlich wenig zu sein«, zog mich Kat auf und grinste frech.

 »Meine Familie ist sehr schweigsam mir gegenüber. Da kann ich wenig ausrichten.«

Ich ließ einen kurzen Blick nach links fallen und beobachtete Kiyoshi. Der hatte mittlerweile die Augen geschlossen. Es sah fast so aus, als würde er schlafen. Verwundert sah ich nun richtig zu ihm rüber.

»Lass ihn, er schläft«, flüsterte Ichiru und zog etwas an meinem Blazer. Ich drehte mich sofort wieder zu den dreien um. Er schläft? Wir gehen doch schon um acht Uhr ins Bett. Hat der nicht langsam mal genug Schlaf?

»Mein Vater ist also ein hohes Tier? Ist er etwa auch ein Reinblütler?«, hakte ich neugierig nach.

»Ja, genau.« Yagate nickte kurz. Ich wusste nicht ganz, ob ich jetzt begeistert oder entsetzt sein sollte. Einerseits war es schon cool zu wissen, dass der Vater eine hohe Stellung hatte. Andererseits war es auch beängstigend zu wissen, dass der Vater eine hohe Stellung bei den Toten hatte. Ich entschied mich kurzfristig für ein Mittelding, dass ich es erst einmal so hinnahm und später noch einmal darauf zurückkam.

Es herrschte kurze Stille und die drei verstanden, dass ich das erst einmal verarbeiten musste. Anmutig, wie sie da saßen, fiel mein Blick nach einiger Zeit auf Yagate. Er schien auf der anderen Seite jemanden zu beobachten. Mein Blick folgte seinem zu Alexander, der alle paar Sekunden verstohlen zu uns schaute. Auch alle anderen Vampire in diesem Raum wechsel­ten ihre Blicke zwischendurch zu uns. Vielmehr zu mir. Die Blicke waren aber weniger freundlich und strahlten vielmehr Kälte und Missfallen aus. Ich fühlte mich nicht gerade willkommen …

Respekt, Ehre und Blut

Ihre Blicke sahen neugierig und gehässig zugleich aus. Sobald ich ihre Augen traf, sahen sie schnell wieder weg.

 

»Ich scheine hier nicht so ganz willkommen zu sein …«, murmelte ich. Jetzt drehten sich auch Kat und Ichiru um und beobachteten die neugierigen Blicke der anderen.

»Keine Angst. Kiyoshi hat dir Respekt verschaffen. Wenn die wirklich etwas von dir wollen würden, wären die schon längst auf dich zugekommen. So wie Alexander auf Kiyoshi«, sagte Ichiru locker, verschränkte die Arme und lehnte sich locker zurück.

»Verstehe ich sowieso nicht … Wenn Alexander … also eigentlich jeder hier weiß, dass Kiyoshi ein Reinblütler ist und damit auch einen hohen Rang bei euch hat, warum ärgert und verspottet dieser Typ ihn dann trotzdem?«

»Wie gesagt … Aus reinem Missfallen seines Ranges. Und wahrscheinlich zusätzlich noch aus Dummheit. Es kommt zwar nicht oft vor, dass Kiyoshi so reagiert wie heute, aber es ist schon vorgekommen. Als Alexander zum Beispiel eure menschliche Mutter angegriffen hat.« Yagate schüttelte den Kopf beim Reden.

»Na, da würde ich aber auch so abgehen, wenn ich es könnte!« Etwas wütend darüber, was dieser Alexander sich eigentlich erlaubte, ballte ich etwas meine Fäuste.

»Na ja …«, sagte Kat und legte ihre kalten, zarten Hände auf meine Fäuste, »Alexander ist auch nicht irgendwer. Seine Eltern sind beide stinkreich und er selbst ist in allen möglichen Clubs, sodass er nicht nur bei uns Vampiren eine hohe Stellung hat, sondern auch bei den Menschen, was eure Familie ja nicht hat.«

»Und stolz drauf. Was müssen wir denn berühmt sein? So können wir unser Geheimnis halt besser bewahren«, verteidigte ich unseren Familienstand. Ich fühlte mich schon richtig dazugehörend und empfand es als nicht wesentlich eine Berühmtheit sowohl in deren als auch in meiner Welt zu sein.

»Natürlich, so sehen es die meisten hier, aber Alexander und seine Familie nicht. Die wollen Ruhm und Reichtum genießen«, seufzte Ichiru.

»Schwer wird’s nur, wenn ihre dreißig Jahre um sind«, kicherte Kat böswillig und hielt sich die Hand vor den Mund. Schien hier so eine Art Attitüde zu sein.

»Dreißig Jahre? Lebt ihr nicht ewig?«, wunderte ich mich. Ichiru musste kurz lachen.

»Ja, gerade deswegen. Es wird doch auffällig, wenn ein Nachbar über dreißig Jahre nicht altert, oder? Deswegen sollten wir Vampire circa alle dreißig Jahre den Wohnort wechseln oder für einige Zeit untertauchen.«

»Oh … Verstehe …« Klang logisch, aber auch nervig.

 

Da schellte es auch wieder im harmonischen Dreiklang. Sofort wurde die Tür aufgerissen und ein großer Mann betrat den Saal. Die Schüler beendeten sofort ihre Gespräche und standen wie in der Armee auf. Ich, nicht so schnell im Handeln, stand nachträglich auf und zog somit die ungeteilte Aufmerksam­keit des Lehrers auf mich.

»Guten Morgen«, brummte er in seiner sehr dunklen Stimme. Wieder sprachen die anderen im Chor ein »Guten Morgen«. Sofort setzten sie sich wieder hin und öffneten ihre Bücher. Der Lehrer schwieg und sagte kein Wort. Er drehte sich nur zur Tafel, nahm eine Kreide und schrieb etwas an die Tafel. Als ich langsam nervös wurde, warum der Lehrer nichts tat, schielte ich zu Kiyoshi, der nur desinteressiert und ruhig auf seinem Platz saß und schweigend nach vorne sah. Wann war er denn aufgewacht? Oder hat er doch nicht geschlafen?

Er bemerkte meinen Blick und sah mich an.

»Ist etwas?«, flüsterte er mir kaum hörbar zu.

»Sagt der Lehrer nichts?«, fragte ich vorsichtig und beugte mich etwas zu Kiyoshi rüber. Der wollte grade seinen Mund zur Antwort öffnen, da brummte die Stimme direkt hinter mir.

 

»Du bist der Bruder von Kiyoshi, richtig?«

Ich fuhr heftig zusammen und drehte mich sofort zum Lehrer um. Er trug einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose. Ein blauer Schal lag locker um seinen Hals. Das Kälte- und Wärmeempfinden schien bei Vampiren nicht ganz so aus­geprägt zu sein wie bei uns Menschen. Seine kurzen schwarzen Haare und sein schwarzer Bart machten ihn düster und unangenehm. Sowieso sah sein Blick nicht sehr freundlich aus.

»J-Ja, bin ich …«, brachte ich kleinlaut hervor. Wäre es ein normaler Lehrer gewesen, hätte ich sicher anders reagiert. Aber als ich seine großen Fangzähne beim Sprechen sah, zuckte alles in mir zusammen und ich wusste wieder, wo ich eigentlich war. Bei Vampiren, bei Monstern, die mich jeden Moment aus­saugen könnten.

»Ein Mensch ist selten in unseren Runden, das hast du sicher schon gemerkt«, sagte er in einer lauten und strengen Stimme, die mich wieder zusammenfahren ließ. Die Chemielehrerin war mir um einiges sympathischer …

 

Ich nickte kurz und ließ mich im Sitz sinken, nachdem er endlich wieder nach vorne zum Lehrerpult ging. Dieser Mann, wie auch immer er hieß, war mir nicht ganz geheuer. Und nicht nur, weil er ein Vampir war, sondern auch, weil er eine strenge und seltsame Weise hatte zu sprechen. Schweigend nahm ich das Verhalten des Lehrers hin und schielte mit Kiyoshi in ein Buch, während er seinen Unterricht hielt. Zwischendurch wurde Kiyoshi drangenommen, obwohl er sich gar nicht gemeldet hatte, was mich innerlich etwas irritierte. Denn niemand meldete sich in diesem Unterricht, der Lehrer rief einfach Namen auf.

 

Meine Gedanken schweiften wieder kurz ab, da ich dem Stoff sowieso nicht ganz folgen konnte. Betrübt sah ich auf das Buch. Ich kam einfach nicht darüber hinweg, wo ich bin, wer ich bin, was ich werde und mit wem ich es zu tun habe. Obwohl sich alle Fragen beantworten ließen, waren sie doch ein Rätsel für mich. Ich hatte so Angst ein Monster zu werden. So ein blutrünstiges Monster, was nur an das eine denkt: Essen. Blut.

Die gestrige Sache in der Küche war beängstigend genug. Ich war so in meiner Trance, dass ich mein Handeln nicht mehr beeinflussen konnte. Und meine Verwandlung war noch nicht mal Vollständig. Was würde dann also aus mir werden, wenn ich erst einmal ein richtiger Vampir wäre. Der Gedanke an meinen baldigen Tod holte mich wieder ein und meine Gesichtsfarbe nahm die der Tische an: weiß.

 

»Alles in Ordnung?«, fragte die weibliche Stimme vor mir. Ich blickte auf und starrte in Kats grüne Augen. Sie sah besorgt aus und drehte sich noch ein Stück zu mir um. Ich versuchte zu lächeln.

»Ja, alles klar.«

Sie versuchte dann auch zu lächeln und drehte sich wieder um.

Wir hatten erst die zweite Stunde und mir kam es vor, als wäre es schon die fünfte. »Bis heute Abend« hat Vater gesagt. Das klang ja schon mal vielversprechend …

 

Die Stunde nahm ihren Lauf und als es wieder klingelte, verschwand der unbekannte Lehrer so schnell wie er ge­kommen war. Alle Schüler standen auf und packten ihre Sachen. Als Kiyoshi schon aufgestanden war und anscheinend auf meiner Seite die Bank verlassen wollte, stand ich ebenfalls auf und ließ ihn durch.

»Wo gehen wir jetzt hin?«, fragte ich vorsichtig, da Kiyoshi wieder sehr missgestimmt aussah.

»In den nächsten Kurs«, sagte er schroff und ging an seinen drei Freunden vorbei. Yagate schüttelte nur den Kopf und sah aufmunternd zu mir herüber.

»Mach dir nichts draus. Der ist immer so«, meinte er und klopfte mir kurz auf die Schulter. Danach ging auch er nach unten und verließ den Klassenraum. Seufzend folgte ich den restlichen Schülern. Hinter mir gingen Ichiru und Kat.

Plötzlich spürte ich sanfte Hände an meinem linken Arm.

»Wir haben jetzt Russisch. Hast du das auch?«

Ich stockte.

»Russisch?«, fragte ich ungläubig.

»Ja! Das ist ein tolles Fach.«

»Hält sich in Grenzen …«, murmelte Ichiru hinter uns und grinste lustlos. Ich musste leicht mitgrinsen.

»Ich kann kein Russisch, davon abgesehen …«, musste ich wohl oder übel zugeben und verließ nun auch mit den beiden den Klassenraum. Auf dem Flur traf mich erst einmal der Schlag:

 

Hunderte Schüler liefen auf diesem Gang rum. Eine Geräusch­kulisse, wie man sie aus Filmen kennt. Oder aus meiner Schule. Viele unterhielten sich, standen an der Wand und hielten ihre Mappen in den Armen. Einige Lehrer, jedenfalls Erwachsene, liefen auch durch die Gänge und grüßten manche Schüler. Für eine kurze Zeit machte es den Anschein, als sei es eine ganz normale Schule. Doch sofort kam mir die Wirklichkeit wieder ins Gesicht gesprungen. Alle Schüler waren Kreidebleich und sahen einfach nur perfekt aus. Einige große Schüler gingen an uns vorbei, andere waren eher kleiner. Trotzdem war keiner dick, keiner magersüchtig, keiner hatte auch nur einen Pickel im Gesicht und keiner hatte die Haare blöd liegen, sodass es unmöglich aussah.

Kiyoshi stand noch neben der Tür von unserem Raum und hatte anscheinend auf mich gewartet. Mit genervtem Blick verdrehte er leicht die Augen und ging den Gang weiter zu den anderen Klassen, wie ich vermutete.

»Kiyoshi ist heute aber extrem schlecht drauf …«, bemerkte selbst Kat, die Ichiru an der Hand und mich am Arm hatte.

»Tja. Heute auf dem falschen Fuß aufgestanden«, lachte Ichiru in seiner fröhlichen Leichtigkeit. Erst jetzt bemerkte ich, wer fehlte.

»Wo ist denn Yagate? Hat der jetzt kein Russisch oder ist er schon vorgegangen?«

»Yagate hat kein Russisch belegt. Er hat dafür jetzt Heb­räisch.«

Ich riss meine Augen auf und lachte zögerlich.

»Hebräisch? Was kann man denn hier noch so alles belegen? Afghanisch? Isländisch?«

»Hm … So weit ich weiß gibt es für unsere Jahrgangsstufe nur Russisch, Hebräisch, Italienisch, Spanisch, Französisch, Finnisch, Schwedisch, Chinesisch und Afrikanisch«, zählte Kat auf und grinste mich an.

»’Nur’ ist gut …«, murmelte ich und musterte die Schüler, die an uns vorbeigingen.

»Kat würde doch am liebsten alle belegen.« Ichiru musste lachen und Kat stieß ihm spaßeshalber kurz den Ellebogen in die Seite. Kiyoshi ging schweigend neben mir her und hatte seine Hände in den Hosentaschen. Die meisten, die an uns vorbeigingen, starrten mich oder Kiyoshi an. Wahrscheinlich überlegten sie kurz, ob wir Zwillinge sind, dachten sich »Ja« und bemerkten dann, dass ich ein Mensch war und Kiyoshi selbstverständlich nicht. Jedenfalls konnte ich das soweit aus ihren entgleisten Gesichtszügen entnehmen. Wobei »entgleist« noch lange nicht unperfekt hieß.

 

 

Auf einmal hörte man empörtes Rufen aus mehreren Ecken. Leute wurden zur Seite geschubst und andere machten schon freiwillig Platz.

Uns kam eine kleine Gruppe von fünf Leuten entgegen, wobei einer von denen Alexander war. Da waren dann noch zwei Mädchen und zwei Jungs. An Alexanders Lache konnte ich schon seine Intention erkennen: Mobbingtime für Kiyoshi.

Die Gruppe blieb vor uns stehen, sodass wir nicht an ihnen vorbeikamen.

 

Die zwei Weiber hatten lange blonde Haare, wobei eine von den beiden lockige, die andere glatte Haare hatte. Beide waren schlank und hatten ihren Rock für meinen Geschmack schon etwas zu hoch gezogen. Die eine starrte Kat verärgert, aber doch überlegen an und hatte ihre Hände vor der Brust verschränkt. Die andere, mit den lockigen Haaren, starrte mich verführerisch an und schien von meinem Aussehen recht amüsiert zu sein. Ihre goldgelben Augen sahen mich intensiv an. Während die Mädels uns schon fast mit ihren Blicken aus­nahmen, wurden die drei Jungs ganz schön unangenehm. Der eine war eine totale Kante und noch größer als Yagate; und der war schon groß. Er hatte schwarze Haare, die sehr kurz geschoren waren. Er sah schon von weitem nicht sehr nett aus, wobei der seinen Hemdkragen, wie die anderen beiden Jungs, hochgestellt hatte. So was nennt man bei uns in der Schule Bonze, dachte ich mir und konnte meinen Blick nicht von Jungs ablassen. Der andere neben Alexander war genauso groß wie er selbst, doch auch muskulöser. Mehr wie Yagate. Er hatte seinen Blazer locker über dem Arm liegen und hatte sein Hemd hochgekrempelt. Alle sahen etwas arroganter aus, als die anderen Schüler hier. Das will schon was heißen …

 

Die Jungs bildeten einen Kreis um Kiyoshi, der fast ein halber Kopf kleiner war, als die drei. Trotzdem schien er ihnen deswegen noch lange keinen Respekt entgegen zu bringen. Kat hatte mich noch immer an meinem linken Arm und schien sich regelecht zu verkrampfen.

 

»Du bist Hiro? Der Zwilling von Kiyoshi?«, sprach eine erotische Frauenstimme. Angeekelt von dieser Frau, die vor mir stand und ihre lockigen Haare zurückstrich, musterte ich ihr Auftreten. Sie war so groß wie ich und schien das in vollen Zügen zu genießen. Als die andere auch noch dazukam, widmete sich ihr Blick auch ganz meiner Existenz. Beide hatten eine recht große Oberweite, was sie immer mehr in das Format ‚Schlampe’ einordnen ließ.

 

»Süß«, sagte die andere Blonde und grinste mich vernaschend an.

»Auch noch ein Mensch. Zum Anbeißen …«, murmelte die lockige Blonde und leckte sich kurz über die Zähne. Ich wich einen kleinen Schritt zurück und sah hilflos zu Kat runter. Die starrte beide nur böse an. Ichiru ebenfalls.

»Darf ich eure Namen, bevor ich euer Leckerbissen werde, auch noch wissen?«, versuchte ich zu spaßen und sah gehässig zu den beiden. Sie lachten und hielten sich wieder einmal die Hand vor den Mund.

»Ich bin Rose und das ist meine Schwester Sam. Freut uns, dich kennenzulernen.«

»Ihn weniger!«, rief Kat dazwischen und sah verärgert aus. Rose und Sam sahen verachtend zu ihr rüber und schubsten sie zur Seite. Die löste sich von meinem Arm und stolperte zu Ichiru, der sie auffing.

»Hey, was soll das?«, schrie Ichiru die beiden an. Die kicher­ten wie immer nur.

»Die kleine Kathleen soll sich mal lieber da raushalten, wenn wir flirten«, meinte Sam und schien wohl die größere Feindin von Kat zu sein.

»Danke, es besteht kein Interesse an euch«, sagte ich rau und schielte zu Kiyoshi.

 

Er war weg. Genauso wie die drei Jungs.

 

»Wo ist Kiyoshi?«, fragte ich auffordernd die beiden Weiber, die nur ratlos taten.

»Keine Ahnung, vielleicht ist er ja nach Hause zu seinem Daddy gerannt.« Dann gackerten beide wieder los.

Ich sah mich kurz um und versuchte durch die Massen hindurch irgendwo meinen Bruder zu erblicken, doch nirgend­wo erkannte ich die weißen Haare.

Plötzlich ergriff mich eine Hand am Gesicht und drehte ihn wieder zu den Weibern. Die Hand gehörte zu Rose, die mir langsam über die Wange strich.

»So ein hübscher Mensch. Wäre doch Verschwendung dein Blut in dir zu lassen, oder etwa nicht?« Sie grinste und ihre Zähne blitzen kurz durch ihren roten Lippenstift durch.

»Ich finde es gut an der Stelle wo es ist, danke.«

»Warum so abweisend uns gegenüber? Dein Bruder durfte doch auch mal zubeißen …«, fragte Sam und umgriff meinen Hals von hinten. Ich drehte mich etwas zu ihr um, da packte Roses Hand mein Kinn und hielt es fest. Ein Schmerz durch­zog mein Gesicht. Die beiden wandten ganz schöne Kräfte an. Vampirkräfte halt, gegen die ich keine Chance hatte.

»Was wollt ihr?«, quetschte ich durch meinen Mund raus, der im Klammergriff von Rose war.

»Was wollen wir? Das weißt du doch …«, flüsterte sie.

»… Spaß und Blut …«, flüsterte auch Sam mir ins Ohr und zog mich zur Wand des Ganges.

 

Zum Glück kamen Kat und Ichiru auf uns zu.

»Lasst ihn los! Er ist hier zu Besuch und ihr wisst, was passiert, wenn er Schaden nimmt«, rief Kat und drückte Rose weg. Ichiru nahm Sam am Oberarm und zog sie ebenfalls von mir, um sie dann zu ihrer Schwester zu schubsen. Schon fast außer Atem verkroch ich mich zwischen Kat und Ichiru, die sich schützend vor mich stellten.

Rose und Sam lachten hämisch.

»Wenn nicht heute, dann morgen. Wir haben Zeit, Süßer. Komm, wann du willst.« Rose winkte und ging mit ihrer Schwester den Gang zur großen Treppe entlang. Sofort verschwanden sie in der Vampirmenge, die anscheinend von der Ganze Sache wenig mitbekommen hatte.

 

»Danke …«, bedankte ich mich bei den beiden. Die drehten sich um und lächelten aufheiternd.

»Die beiden übertreiben es ziemlich. Sie sind die Schul­matratzen und haben schon mit jedem Typen hier auf der Schule geschlafen«, spottete Kat und stemmte ihre Hände in die Hüfte. Dabei sah Ichiru verlegen zur Seite.

»Echt? Auch mit meinem Br-«

»Nein, mit dem nicht«, unterbrach mich Ichiru und musste wie immer breit grinsen. »Dein Bruder hatte noch nie eine Beziehung, geschweige denn Interesse an einem Mädchen. Er ist sehr Gefühlskalt …« Danach seufzten beide.

»Trotzdem ist er ja nett«, meinte Kat und klopfte mir auf die Schulter. »Oder?«

»Äh … Ja … Doch, schon.«

Na ja … Nett?

 

Trotzdem war nirgends eine Spur von Kiyoshi zu sehen. Ich wollte nicht sagen, dass ich mir Sorgen machte, aber unbesorgt war ich auch nicht. Er würde sich behaupten können, wenn es darum gehen würde, sich zu verteidigen, aber welches Ausmaß das haben könnte, war mehr einen Gedanken wert. Wer weiß, was jetzt grade passierte?

»Komm, wir gehen schon mal in die Klasse. Vielleicht ist Kiyoshi ja schon da.« Damit zog mich Kat mit Ichiru wieder in die Menge, die langsam kleiner wurde.

Wir gingen einige Meter und standen dann vor einer Klasse, die aussah, wie jede andere Klasse auch. Nur dass diese wieder riesige Vorhänge und Fenster hatte, mit weißen Tischen, die im faden Licht glänzten. Die Stühle waren ebenfalls weiß und sahen sehr neu und futuristisch aus. Das Ganze erinnerte mich ein bisschen an IKEA. Wenige Schüler saßen schon auf ihren Stühlen. Manche aus dem Chemie- und Physikkurs von vorhin waren auch dabei.

 

Ich atmete auf. Kiyoshi saß alleine an einem langen Tisch für vier Personen. Er starrte gedankenverloren auf den weißen Tisch.

Fast schon freudestrahlend lief ich auf ihn zu und kroch neben ihn in die Bank. Leise ließ ich mich auf den bequemen Stuhl nieder.

»Hey …«, begrüßte ich ihn mit einem vorsichtigen Lächeln. Der drehte sich wie aus der Trance erwacht zu mir um und murmelte irgendetwas von »Oh … Hallo«.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt, da die Situation von vorhin mit den so ‚freundlichen’ Typen recht unangenehm war.

»Ja, alles klar«, sagte er schroff und starrte wieder auf den Tisch.

Sofort ließ ich von ihm ab. Er war nicht nur schlecht drauf, sondern auch noch abweisend.

Kat und Ichiru setzten sich neben mich an den Nebentisch. Beide packten liebevoll und mit perfekten Handlungsabfolgen ihre Hefte und Bücher aus.

»Ist er noch schlecht drauf?«, fragte Kat, beschäftigt mit ihren Heften.

»Ja …«

»Wird schon«, versicherte mir Ichiru und hielt seinen Daumen hoch. Ich musste grinsen und nickte kurz.

 

Eigentlich viel zu nette Freunde, dafür, dass er so ein Stoffel war. Aber sie schienen ihn anscheinend doch irgendwo zu mögen. Vielleicht ist er sonst auch anders.

Es dauerte nicht lange, da klingelte es wieder und eine Lehre­rin betrat sofort den Raum. Ich sah kurz auf meine Handyuhr und diagnostizierte, dass eine zehn Minuten Pause vorbei war.

Die Lehrerin hatte kurze dunkelbraune Haare. Sie trug eine Brille und schien wie alle Lehrer Mitte dreißig zu sein. Aus ihrem dunkelbraunen Stoffrock kamen schlanke Beine zum Vorschein, während aus ihrem farblich passenden Blazer ebenfalls schlanke, weiße Hände ragten. Sie schien wirklich eine Russin zu sein. Doch die Perfektion stand ihr im Gesicht geschrieben. Wie jedem hier (außer mir natürlich).

 

Die Lehrerin begrüßte die schon längst aufgestandenen Schüler kurz mit einem seltsamen Wort, diese antworteten und setzten sich wieder. Ich verstand nichts und sah nur hilflos zu meinem Bruder, der nach einem Gemurmel von Worten der Lehrerin sein Buch aufschlug. Der beachtete mich gar nicht großartig, sondern widmete sich ganz dem Unterricht. Ich seufzte in mich hinein und hoffte darauf, dass mich die Lehrerin nicht bemerken würde. Selbst als Kiyoshi dann ein paar Mal etwas auf Russisch sagte, beachtete sie mich gar nicht. Kat und Ichiru saßen nur still neben mir und schienen nur zuzuhören, aber sonst nichts. Leere Blicke gingen nach vorne zur Lehrerin. Leere Blicke von jedem, der hier Anwesenden. Ein trauriger Anblick war es schon. Jugendliche, die tot waren und nur einen Weg in die Ewigkeit kennen. Was soll man da schon vom Leben erwarten?

Ich freute mich nicht wirklich auf meinen Tod, aber wenn ich daran dachte, unsterblich zu sein, war ich schon neugierig auf die Zukunft. Vielleicht fliegen wir ja wirklich irgendwann mit Raumschiffen hier rum und müssen eines Tages auf den Mars fliehen, da die Erde keine Vorräte mehr für uns bietet. Oder wir machen einen solchen Evolutionsrückschritt, dass wir alle von neu anfangen müssen. Irgendetwas würde schon passieren. Das würde ich alles miterleben. Meine Mutter leider nicht. Meine Freunde auch nicht. Niemand, außer meinem Vater, meinem Bruder, Mamoru und den anderen Vampiren vielleicht. Traurige Vorstellungen trübten meinen Kopf und ich versank in meinem Stuhl.

 

Ich wusste nicht wie mir geschah, als es plötzlich wieder klingelte und die Schüler aufstanden. Etwas verwirrt sah ich mich um und sah nach links. Kiyoshi packte seine Sachen zusammen und wollte aufstehen.

»Ist die Stunde schon vorbei?«, fragte ich perplex und fasste mir kurz an den Kopf.

»Ja«, kam eine monotone Antwort.

»Ach so …«, murmelte ich vor mich hin und stand langsam auf.

»Wir sehen uns dann in der Mittagspause!«, rief Kat mit Ichiru. Die beiden Standen schon an der Tür und winkten uns zu. Ich winkte kurz zurück, dann waren sie aus dem Raum.

»Wo gehen die beiden hin?«

»Kurs.«

»Hast du jetzt einen anderen?«

»Ja.«

Etwas genervt von den kurzen, schroffen Antworten, fasste ich mir kurz an die Stirn, während ich mit ihm den Raum verließ.

»Welchen denn?«

»Mathematik.« Urghs. Wer sagt denn heute noch Mathematik? Außer vielleicht die Mathematiklehrer, aber selbst die sagen bei uns nur Mathe. Es ist halt Kiyoshi … Kiyoshi halt …

»Hast wohl eher naturwissenschaftliche Fächer, hm?«, ver­suchte ich ein Gespräch zu führen.

»Ja.«

Das Gespräch scheiterte wohl.

»Bist du eigentlich immer so in der Schule? Zu Hause redest du viel mehr.« Wir gingen den langen Gang entlang, der nur halb so voll wie gerade eben war.

»Findest du?«

»Ja, finde ich. Und du bist netter. Na ja. Manchmal. Gestern jedenfalls warst du es.«

»Aha.«

»Ist irgendetwas passiert? Zwischen dir und diesen Typen da vorhin?« Neugierig sah ich ihn von der Seite aus an. Sein Blick zerknirschte sich etwas.

»Nein, nichts wesentliches.«

»Haben die dich wieder fertig gemacht?«

»Nein. Nur blöde Sprüche gebracht.«

»Ihr habt euch aber nicht geprügelt, oder?«

»So etwas tun wir nicht.«

»Hätte ja sein können …«

Dann war das Gespräch wieder beendet. Wir waren in­zwischen die große Treppe runter gegangen und standen nun kurz im Foyer. Sofort lief Kiyoshi nach rechts und betrat direkt den ersten Raum. Es war wieder ein Hörsaal, aber viel größer als der andere. Massen von Schülern unterhielten sich, aber wie immer gemäßigt. Wir setzten uns in eine Mittlere Reihe. Es waren Dreiertische, genauso wie im anderen Hörsaal. Kiyoshi legte seine Schultasche sachte auf den weißen Tisch und öffnete sie. Ich konnte einen kurzen Blick in sie erhaschen und sah in ein geordnetes Innenleben mit Heften und Büchern, nach Größe geordnet. Seufzend legte ich meine Tasche unter den Tisch und setzte mich auf einen der Klappstühle. Gelangweilt von der Tatsache, dass ich in meinen Ferien in die Schule gehen musste, ließ ich mich sinken. Der Raum füllte sich nach einigen Minuten immer mehr, bis es schließlich klingelte und eine Frau den Raum betrat. Zu meiner Überraschung war sie schon alt und hatte Falten. Sie war bestimmt Mitte fünfzig. Sie stellte ihre große Ledertasche auf dem Pult ab und schob einen Overhead­projektor mit sich. Sie lächelte sanft und sah nun in die Masse. Alle standen auf.

»Guten Morgen, meine Lieben.«

»Guten Morgen.«

Und schon saßen wieder alle. Verwundert setzte ich mich wieder hin. Rechts von mir saß niemand, links Kiyoshi. Der Raum war brechend voll. Nur wirklich vereinzelte Plätze waren frei. Die Lehrerin, die uns so fröhlich begrüßt hat, klappte ihre Tasche auf und holte einen Stapel Papierblätter raus.

»Die bitte in der Klasse verteilen, danke«, sagte sie sachte und gab sie einer Schülerin, die vorne in der ersten Reihe saß. Und ehe ich mich versah, hatte Kiyoshi schon ein Blatt in der Hand.

»Huh?«, brachte ich raus und Kiyoshi sah mich nur ge­lang­weilt an. »Das Blatt wurde doch gerade erst rumgegeben!«

»Wir sind da halt etwas schneller«, murmelte er und öffnete seinen schwarzen Ordner, auf dem Mathematik stand. Er heftete es ordentlich ein und schob es in die Mitte zwischen uns. Plötzlich hörte man einen hohen Ton, wie von einem Mikrofon.

»Wir haben letzte Stunde uns die Trigonometrie noch einmal angeschaut, wer kann mir denn dazu etwas erzählen?«, fragte die Lehrerin durch ein Mikrofon, damit sie auch der ganze Hörsaal verstehen konnte.

Einige Finger gingen hoch, genauso Kiyoshis. Ich lehnte mich kurz zu ihm.

»Was ist das?«, flüsterte ich ihm zu.

»Trigonometrie?«, flüsterte er zurück.

»Ja.«

»Kosinus, Sinus, Tangens.«

»Hä?«

»Erklär ich dir später.«

Ich bin wohl wirklich strohdoof oder ich passe einfach nie im Unterricht auf. Ich stützte meinen Kopf auf meine rechte Hand. Gelangweilt starrte ich nach vorne und dachte mir: »Das eine schließt das andere nicht aus …«

 

Die ältere Lehrerin nahm einen Schüler aus der hinteren Reihe dran. Der faselte etwas von Winkelberechnung und Hypotenusen. War mir auch egal. Das hier sollte nie meine Schule werden. Und selbst wenn sie es werden würde, könnte ich dann als Vampir ja immer noch alles nachholen. Als Vampir, wie bescheuert. Wie aus einem schlechten Hollywoodfilm.

Die Stunde zog sich wie Gummi. Die Lehrerin legte eine Folie auf und erzählte dazu etwas. Sie schaltete dafür das Licht aus und ich konnte an vielen Gesichtern erkennen, dass das für sie viel angenehmer war. Nachtwesen halt. Mich lud es zum Schlafen ein. Also legte ich meinen Kopf auf meine Arme und war auch schon nach wenigen Sekunden ganz woanders.

 

»Junger Mann?«, kam eine Frauenstimme. Ich blinzelte kurz. Dann blinzelte ich noch einmal und hob meinen Kopf etwas an. Sofort erblickte ich die Lehrerin. Ich richtete mich auf und lief etwas rosa an.

»Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte ich höflich. Die grinste nur und winkte ab.

»Schon in Ordnung. Menschen leiden ja schnell unter Schlaf­mangel.« Dann ging sie lächelnd wieder nach unten zurück zu ihrem Pult. Etwas verwirrt sah ich mich in der Runde um. Alle starrten mich an, wendeten ihren Blick aber sofort ab, wenn ich ihn traf. Ich fasste mir kurz an die Stirn, dann sah ich zu Kiyoshi.

Der sah wie immer desinteressiert nach vorne und starrte wie ein Toter durch seine Haare. Ich seufzte kurz.

»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, flüsterte ich zu ihm. Der zuckte nur die Schultern.

»Ich dachte, ich lasse dich mal schlafen«, sagte er monoton ohne mich dabei anzusehen und schlug eine Seite in seinem Ordner um.

»Hm …«, brummte ich und wendete mich ab. Die Situation war nicht wirklich peinlich, aber angenehm sicherlich auch nicht. Ich wollte eigentlich nur noch nach Hause.

Nach wenigen Minuten klingelte es auch wieder. Doch niemand stand auf, niemand packte seine Sachen. Das roch nach einer Doppelstunde. Laut seufzend ließ ich mich wieder sinken und starrte an die Decke.

 

Ich bekam langsam durst. Mein Hals wurde etwas trocken. Ohne Frühstück auch kein Wunder. Ich bekam ja kein menschliches Essen mehr. Mit einem Mal ließ ich meinen Kopf nach vorne fallen und griff nach meiner Tasche. Vorsichtig versuchte ich einen Blick zu Kiyoshi zu erhaschen. Der starrte wieder nur in seine Flasche und sagte nichts. Nervig. Im Grunde ist er ziemlich langweilig.

Langsam zog ich die Flasche aus meiner Tasche. Sie war wie Kiyoshis schwarz und hatte einen dunkelgrauen Verschluss. Mein Magen knotete sich etwas zusammen, als ich daran denken musste, was sich darin befand. Es wäre jetzt das erste Mal, dass ich Blut trinken würde. Das erste Mal, ausgenommen natürlich meinem verhängnisvollen Trank nach dem Biss.

 

Das erste Mal, dass ich mich wie ein Vampir verhalten würde. Doch irgendetwas in mir weigerte sich diese Flasche aufzu­drehen und daraus zu trinken. Mein Hals tat aber schon fast weh, weil er so trocken war. Ich legte meine Finger um den Deckel und drehte langsam auf.

Unaufhaltsamer Durst

Ich drehte den Deckel der Flasche langsam weiter auf.

 

Mein Wille siegte. Sofort verschwand die Flasche wieder zugedreht in meiner Tasche. Irgendwann werden die hier bestimmt eine richtige Pause haben. Dann werde ich mal schauen, was es hier so zu kaufen gibt. Das war mein Plan und an den würde ich mich auch halten. Schon klingelte es wieder und die Schüler wurden still. Kiyoshi packte seine Flasche weg und schenkte der Lehrerin wieder ein Desinteresse feinster Art. Dabei fiel mir auf, dass wenn er künstliches Blut trank, er gar nicht diese glänzenden Augen bekam. Nur wenn er frisches Blut roch, trank, sah oder nur daran dachte. Also eigentlich immer …

So nahm die langweilige Mathestunde ihren lauf. Hin und wieder musste ich gähnen und einfach für ein paar Sekunden meine Augen schließen. Der netten Mathelehrerin zur Liebe, legte ich mich nicht noch einmal schlafen. Auch wenn sie von Verständnis redete, dass ich Schlafmangel besaß. Denn den hatte ich wirklich: Von Freitag auf Samstag hatte ich Verfolgungs­wahn, den ich im übrigen immer noch nicht vollständig erklären konnte, von Samstag auf Sonntag wurde ich auch schon gebissen und hatte mich zwar dann fast ausgeschlafen, doch die Halb-Verwandlung nahm mich ziemlich mit. Und Sonntag auf heute war nun auch nicht gerade eine ruhige Nacht. Ich bekam am Vorabend nichts mehr zu essen, durfte mir einen Vortrag von meinem Vater anhören und träumte von herausgerissenen Herzen meiner Familie. Alles sehr entspannend, doch, wirklich. Schöne Ferien.

 

Das erlösende Klingeln ließ auf sich warten. Zwischendurch mussten die Schüler eine Aufgabe machen und Dinge von der Tafel abschreiben. Manche Aufgaben kamen mir bekannt vor, andere wiederum waren für mich fast wie Hieroglyphen, die erst entziffert werden mussten.

Dann klingelte es endlich. Die Erlösung. Mein Hals kratzte richtig heftig.

»Haben wir jetzt Pause?«, bettelte ich Kiyoshi schon fast an und sprang von meinem Klappstuhl auf. Der sah mich erst verwundert an, dann nickte er.

»Ja, zwanzig Minuten.«

»Nur?«, fragte ich verwundert.

»Reicht doch. Was willst du denn so lange machen?« Er zog eine Augenbraue hoch und stand ebenfalls auf.

»Mir was zu essen kaufen …«

»Du hast doch -…«

»Nein«, unterbrach ich ihn stur. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und sah verärgert zur Seite. Kiyoshi verdrehte die Augen und seufzte laut.

»Hiro, du weißt, dass dir menschliches Essen schaden kann.«

»Kann. Tut es aber noch nicht.«

»Wie auch immer«, sagte er und hing sich seine Tasche um, »Du kannst das Gebäude jetzt nicht einfach verlassen. Das nächste Geschäft ist sowieso eine ganze Ecke von hier entfernt. Entweder haltest du es bis zur Mittagspause aus oder du trinkst das Blut. Ist deine Sache, was du tust.« Damit ging er an mir vorbei und stapfte die Treppe runter, um den Raum zu verlassen. Langsam folgte ich ihm. Mit missgestimmter Miene verließ ich den Raum und überlegte, was ich nun tun sollte. Eine riesige Masse von Schülern bewegte sich durch die Gänge der Schule. Einige starrten mich dumm an, andere eher interessiert.

»Wo gehen wir jetzt eigentlich hin?«, fragte ich Kiyoshi, der vor mir herging.

»In die nächste Klasse.«

»Ich denke, wir haben Pause?«

»Und wo deiner Meinung nach, sollen wir diese Pause verbrin­gen?«, fragte er genervt und drehte sich halb zu mir um. Seufzend schüttelte ich kurz den Kopf und folgte ihm einfach weiterhin. Noch nicht mal einen Schulhof haben die? Was ist das für eine Schule?

Anstatt die Treppe hochzugehen, liefen wir an der großen Eingangstür vorbei in Richtung eines anderen Ganges. Hier wurden die Massen schon weniger. Ich wollte ihn nicht schon wieder fragen, was er jetzt für ein Fach hatte, deswegen ließ ich mich einfach überraschen. Wir liefen den Gang entlang und mussten einmal kurz links abbiegen. Sofort roch ich Farben. Der Geruch von Terpentin stieß mir sofort in die Nase und sogleich kamen einige Schülerinnen mit Leinwänden an uns vorbei.

Ich ging ein paar Schritte schneller, um neben Kiyoshi zu gehen.

»Lass mich raten, du hast jetzt Kunst«, murmelte ich vor mich hin.

»Ja.«

Na, super. Ich und zeichnen. Geschweige denn mit Farben umgehen und damit malen. Das ist ja schon knapper Mord. Mein Bruder steuerte einen Raum an und ging durch die offene Tür. In ihm saßen nur wenige Schüler. Sie musterten mich sofort und fingen an zu tuscheln. Der Raum war klein und mit den weißen Tischen schon fast überfüllt. Sie waren wie ein Hufeisen angeordnet. Auf jedem Platz lag schon eine Leinwand mit Zeichnungen drauf. Einige Stellen waren auch schon bunt. Kiyoshi ging zu einem Platz und legte eine Leinwand etwas zur Seite. Dann schob er einen Stuhl halb hinter, halb neben sich und deutete darauf, dass das meiner ist. Ich nickte und legte meine Tasche auf ihn. Dann erspähte ich eine Leinwand auf seinem Platz.

»Ist das deine?«, fragte ich neugierig und spähte ihm über die Schulter.

»Ja.«

Die kurze Antwort kaum beachtend, sah ich mir das Gemälde genauer an. Mit Bleistift wurde eine Rose skizziert, die neben einem Kreuz und einem Glas stand. Das Glas war mit Ver­schnörkelungen verziert, die es edel erschienen ließen. Das Kreuz war eher schlicht, doch seine Enden waren mit ver­zierten Dreiecken geschmückt. Der Hintergrund sollte wohl schwarz werden, da er an einigen Stellen schon schwarz war.

»Wow. Das sieht toll aus«, bewunderte ich das recht dustere Bild. Auf einmal musste ich husten. Ich wendete mich von Kiyoshi ab und hustete mich erst einmal aus. Mein Hals war so trocken. Ich würde es keine Minute länger mehr aushalten. Doch ich wollte dieses Blut nicht trinken.

»Geht’s?«, fragte Kiyoshi und legte seine Hand auf meine Schulter.

»Ja, geht schon. Hab mich nur fürchterlich verschluckt«, log ich ein wenig und grinste ihn an.

»Verschluckt? Solltest du nicht lieber mal etwas trinken?«

»Nein, das geht schon.« Damit drehte ich ihm wieder den Rücken zu und bewunderte das Bild weiter.

 

Dann kam mir eine Idee.

 

»Sag mal, Brüderchen, wo ist hier eigentlich das Klo?«, fragte ich leicht grinsend.

»Wenn du jetzt direkt nach links den Gang entlang gehst, die letzte Tür. Steht aber auch dran.«

»Alles klar. Danke. Ich bin gleich wieder da.« Damit ver­schwand ich aus der Tür. Ich bemerkte zwar Kiyoshis miss­trauenden Blick, beachtete ihn aber nicht weiter. Für mich war nur noch das Klo interessant. Vielmehr das Waschbecken, aus dem Wasser floss. Klares Wasser, das mir zwar gestern noch weiter die Kehle ausgetrocknet hat, doch ich hatte die stille Hoffnung, es würde diesmal das Gegenteilige bewirken. Kaum ein Mensch, oder eher Vampir, war auf dem Gang zu sehen. Ich erspähte die Tür mit dem kleinen Männchen drauf. Daneben war ein kleines Schild mit »Toilette« angebracht. Ich betrat den kleinen Raum. Es war ein nobles, kleines WC. Der Spiegel war groß und die Waschbecken in einem strahlenden weiß mit silbernen Wasserhähnen. Die Fließen sahen auch recht sauber und gepflegt aus. Aber das war erst einmal neben­sächlich.

Ich vergewisserte mich kurz, ob noch jemand hier war. Niemand war zu sehen, also drehte ich den Wasserhahn auf. Klares Wasser floss in das Waschbecken und verschwand im Ausguss. Ich beugte mich vor und legte meinen Mund an den sanften Strahl. Ich saugte etwas und schon schmeckte ich die Flüssigkeit, wie sie meine trockene Kehle hinunterfloss. Ich nahm noch einen Schluck und noch einen. Doch das Gefühl der Trockenheit ging nicht weg. Mit beiden Händen umkla­mmerte ich das Waschbecken mit der stillen Hoffnung, dass das Wasser seine erwünschte Wirkung zeigen würde.

 

Plötzlich drehte jemand das Wasser ab. Ich öffnete die Augen und sah nur eine weiße Hand, wie sie den Wasserhahn fest umgriff. Meine Augen folgten der Hand zum Arm, über die Schulter und schon sah ich die weißen Haare.

»Was tust du da?«, sagte Kiyoshi mit mahnender Stimme.

»Etwas trinken …«, murmelte ich und wischte mir beim Aufrichten das restliche Wasser vom Mund.

»Du sollst das Blut trinken und nicht Wasser.«

»Ich will es aber nicht trinken!«

»Das tut hier nichts zur Sache«, zischte er mir zu. Ich zuckte kurz zusammen und sah seinen Vampirinstinkt durchkommen. Sofort blickte ich zur Seite und seufzte kaum hörbar.

»Hiro, es ist besser für dich. Niemand will dich hier quälen oder dir Vorschriften erteilen, aber es ist nur zu deinem Besten, wenn du das tust, was man dir sagt.«

»Mag sein. Aber mein Wille sagt mir ständig etwas anderes. Und mit dem bin ich schon länger in Kontakt als mit euch. Oder dir

»Hiro, bitte.«

»Fang deine Sätze nicht immer mit meinem Namen an. Ich schenke dir auch so genug Aufmerksamkeit.«

»Ich mache das nicht, damit ich deine Aufmerksamkeit bekomme, sondern -…«

»Ist okay!«, unterbrach ich ihn wieder. Sofort schwieg er. Ich fasste mir an meinen Kopf und stützte mich am Wasch­beckenrand ab. Mein Blick fiel kurz in den Spiegel und ich sah eine verreckende Kreatur, deren Augenränder rot und blau anliefen. Dann musste ich wieder husten und fasste mir instinktiv an meinen Hals.

 

Kiyoshi konnte das wohl nicht mehr mit ansehen. Er packte mich an den Schultern und drückte mich in eine Toiletten­kabine. Ich lehnte an der Wand hinter dem Klo und konnte schon kaum mehr atmen. Jedes Schlucken tat weh und jeder Atemzug, der im Grunde nicht nötig war, stach wie tausend kleine Nadeln in meinem Hals.

Mein Bruder schloss kurzerhand die Tür ab und zog seinen Blazer aus. Vorsichtig legte er ihn auf den Deckel der Toilette und krempelte seinen rechten Ärmel hoch.

»Was … tust du da?«, brachte ich gerade noch heißer raus und sah ihm gebannt zu.

»Dir helfen, Dummkopf.«

 

Ich konnte meinen Augen kaum trauen.

Kiyoshi krempelte sein Hemd bis zum Ellebogen hoch und biss sich selbst in die Hauptschlagader. Das Blut tropfte kurz auf den Boden. Gebannt starrte ich auf den Tropfen, dann sofort wieder zu Kiyoshi. Aus seinem Mund tropfte es ebenfalls. Seine großen Fangzähne waren mit Blut überströmt. Dann kam er auf mich zu und hielt mir sein Handgelenk hin.

»Trink.«

Schwer atmend starrte ich auf sein blutüberströmtes Hand­gelenk und wie aus den zwei eleganten Löchern immer mehr Blut quoll. Kiyoshis Augen leuchteten, so wie ich es liebte. Ja, ich liebte es, wenn er mich so anstarrte, wenn er so eine benebelnde Wirkung auf mich hatte. Ich spürte meine Fang­zähne immer größer werden und wie ich den Geruch seines Blutes genoss. Mein Herz klopfte schnell und hämmerte förmlich gegen meine Brust.

»Jetzt trink!«, forderte Kiyoshi mich ein zweites Mal auf. Innerlich rief mein noch menschliches Ich ‚Nein’, aber mein sterbender Körper ‚Ja’.

 

Ich wusste nicht wie mir geschah, da schluckte ich das süße Blut. Wie ein Raubtier umklammerte ich Kiyoshis Handgelenk und drückte es an meine Lippen, um so viel Blut wie möglich aus den zwei Löchern saugen zu können. Kiyoshi selbst stützte sich an der Wand, an der ich lehnte, ab und sah mir dabei zu, wie ich sein Blut mit vollstem Genuss trank. Es tropfte nur so an meinem Kinn herunter. Es war wie ein Rausch. Wie bei Drogen. Alles in mir wurde taub. Aber auf eine so angenehme Weise, dass es niemals enden sollte. Sein Blut schmeckte so gut. Es war das eines Reinblütlers. Es war so süß und mild, schon fast wie Nektar. Einfach umwerfend. Ich hätte nie gedacht, dass ich so von Blut schwärmen würde, aber sein Blut war eine Delikatesse. Ganz anders als das Künstliche von damals.

 

Ich war so in meinem Sumpf des Genießens, dass ich gar nicht an Kiyoshi dachte. Der atmete auch immer schwerer und verkrampfte sich allmählich an der Wand.

»Hiro …«, hauchte er mir ins Ohr. »Das muss reichen …«

Doch ich wollte nicht aufhören. Auch wenn meine trockene Kehle schon längst wieder befeuchtet war, wollte ich noch mehr trinken. Ich spürte, wie sich meine Fingernägel in sein Fleisch krallen. Jeder Schluck war so kostbar.

Kiyoshi atmete laut und gab quälende Geräusche von sich. In meinem Blickwinkel sah ich seine Hand immer weißer werden, während er das Blut von seinem Gesicht gierig ableckte und mich beobachtete.

 

Plötzlich entriss er mir sein Handgelenk. Das Blut, was noch in meinem Mund war, tropfte auf den Boden. Als ich Kiyoshis Blutquelle schon hinterher haschen wollte, drückte mich seine linke Hand gegen die Wand. Verkrampft und wahrscheinlich mit letzter Kraft hielt mich Kiyoshi am Hals von ihm fern. Ich sah wie er das restliche Blut von seinem Handgelenk ableckte. Schon verheilte die Wunde und nichts deutete mehr auf einen Biss hin. Er drehte sich langsam zu mir um. Sein Blick traf meinen. Geschwächt und außer Atem sah er mich durch­dringend an.

»Das … war definitiv zu viel …«, murmelte er und ließ seine linke Hand von meinem Hals über meine Brust gleiten. Er schnappte sich seinen Blazer und öffnete die Toilettentür. Taumelnd verließ er daraufhin das kleine WC.

Noch wie angewurzelt blieb ich in der Kabine stehen. Erst als ich Stimmen hörte, wischte ich mir blitzschnell das restliche Blut von meinem Mund und ging mit gesenktem Blick aus der Toilette. Ich wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Jetzt erst recht.

 

Während ich noch auf dem Gang schon fast in den Kunst­raum rannte, klingelte es. Ich blieb kurz fassungslos stehen.

»Ich habe doch nicht zwanzig Minuten lang …?«, murmelte ich zu mir selbst. Wenn ich wirklich knappe zwanzig Minuten von Kiyoshi getrunken habe, dann habe ich ihn ja schon fast getötet …

Geschockt schlurfte ich in den Kunstraum. Der Lehrer oder die Lehrerin waren noch nicht da. Trotzdem saßen schon alle an ihren Leinwänden und holten sich Farben und Paletten aus einem kleinen Schrank. Neben der Tür stand das Lehrerpult, auf dem ebenfalls einige Farben standen. Kiyoshi stand, als wäre nichts geschehen, an seinem Platz und mischte an­scheinend grade die Farben. Reumütig schlich ich mich auf meinen Platz und setzte mich geräuschlos hin. Mit meiner Tasche auf dem Schoß sah ich den anderen zu, wie sie gekonnt die Bilder kolorierten. Ich traute mich gar nicht mehr, irgend­etwas zu Kiyoshi zu sagen. Er half mir und ich saugte ihn förmlich aus. Was war ich nur geworden?

 

Nach wenigen Minuten kam dann auch eine Frau in das Zimmer und schloss die Tür. Sie lächelte freundlich und ging mit einigen Pinseln in der Hand zu ihrem Pult. Schnell legte sie ihre Tasche ab und kramte ihre Unterlagen raus. Dann blickte sie in die Menge und strich ihre langen roten Haare aus ihrem Gesicht. Sofort fielen ihre Augen auf mich.

»Wir haben einen Gast?«, fragte sie in einer lieblichen Stimme und kam schon fast auf mich zu getänzelt. Sie reichte mir ihre Hand. »Ich bin Frau Aoki, die Kunstlehrerin.«

Vorsichtig reichte ich ihr meine Hand.

»Ich bin Hiroshi Kabashi«, murmelte ich schon fast und versuchte zu lächeln.

»Kabashi? Huch? Ihr seid Zwillinge? Ist ja amüsant«, kicherte sie und ließ meine Hand los. »Kiyoshi, wieso erzählst du mir denn nicht, dass du deinen Bruder mitbringst? Dann hätte ich eine Leinwand mitgebracht.«

Ohne sich auch nur zu ihr umzudrehen, sagte er monoton:

»Das wurde kurzfristig entschieden.«

 

Frau Aoki schüttelte grinsen den Kopf und sah wieder zu mir.

»Na ja. Wie auch immer. Möchtest du denn etwas zeichnen? Unser aktuelles Thema lautet: ‚Vorlieben in Dingen und Farben’.«

»Äh … Ich kann aber nicht gut zeichnen …« Ich betete, dass ich nicht zeichnen musste. Blamieren wollte ich mich eigentlich nicht.

»Ach, das macht nichts. Übung macht den Meister. Warte ich hole dir ein Blatt.«

Damit verschwand sie wieder kurz aus dem Raum. Ich seufzte leise und ließ meinen Kopf auf die Tasche fallen. Wieso ich?, fragte ich mich in Gedanken.

 

Und da kam Frau Aoki auch schon wieder mit einem DinA3 Blatt und einer Schachtel Kohlestifte. Sie machte mir neben Kiyoshi eine Ecke frei und legte die Sache auf den weißen Tisch.

»Wo ist denn Rebecca heute?«, fragte sie Kiyoshi. Der zuckte nur mit den Schultern, während ein anderes Mädchen von gegenüber ihr zurief, dass die sich frei genommen hatte. Dann redete die Gruppe noch etwas, während ich mich lustlos an das Blatt begab. Vorsichtig spähte ich zu Kiyoshi. Der schien sehr vertieft in seiner Arbeit zu sein und malte ganz genau an einer Linie entlang. Der ganze Hintergrund war nun schwarz und das Kreuz wurde dunkelgrau mit einigen Lichteffekten. Wenn ich an das Thema dachte, verdrehte ich beim Anblick von Kiyoshis Arbeit nur die Augen. Tolle Vorlieben hat er ja.

Mein Blick schweifte durch die restliche Klasse. Die vier anderen Jungen malten alle etwas mit Sport oder Action, während die Mädchen ihre Bilder mit Blumen oder Herzchen bemalten. Ich wechselte hin und wieder mal den Blick zwischen meinem Bruder und den anderen und musste etwas verärgert feststellen, dass Kiyoshi sich nun wirklich nicht in die Rolle eines typischen Vampirs einordnet lässt. Die Vampire hier sind fast wie Menschen. Ihr Verhalten vielleicht nicht ganz, aber vom Grundsatz her schon. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass Kiyoshi von Geburt an ein Vampir war, während alle anderen bis vor ein paar Jahren noch Menschen waren.

 

Ich krempelte meine Ärmel hoch und nahm widerwärtig einen Kohlestift in die Hand. Ausdruckslos starrte ich auf das weiße Blatt Papier und nahm mir fest vor, einfach drauf los zu malen. Nach ein paar Strichen wusste ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich noch mal zu welchem Thema machen wollte. Lustlos stützte ich mich auf meiner linken Hand auf und kritzelte einfach rum.

 

Ich war wohl so in meinen Gedanken versunken, dass ich das Klingeln überhört haben musste, denn Kiyoshi nahm seine Flasche raus und trank wieder nur einen kurzen Schluck, um dann wieder in sie hineinzustarren. Ich blinzelte kurz auf. Dann noch mal.

»Oh, die Stunde ist rum?«, bemerkte ich etwas spät.

»Ja, wir haben noch eine«, antwortete Kiyoshi monoton und schraubte seine Flasche wieder zu.

»Hm …« Dann fasste ich mir kurz an den Kopf. Mein Blick fiel auf sein Bild. Es war schon fast fertig. Das Glas war silbern geworden und die Rose ebenfalls schwarz, so wie eigentlich alles auf diesem Bild. Trotzdem konnte man alles erkennen. Es sah so düster aus. Eigentlich würde nur noch das Fenster mit dem Ausblick auf einen Friedhof fehlen.

»Das sieht schön aus«, versuchte ich ihn zu loben und deutete auf seine Leinwand. Er sah erst mich, dann die Leinwand an.

»Findest du?«

»Sonst würde ich es nicht sagen.«

»Na ja.«

Ich zog eine Augenbraue hoch.

»Jetzt sag nicht, du findest es nicht schön?«

»Es hält sich in Grenzen.«

Ich seufzte und wendete mich ab. Als ich mich etwas reckte, sah ich auf das Blatt Papier, das vor mir lag. Ich konnte meinen Augen kaum trauen:

Mein ‚Gekritzel’ ohne irgendwelche Gedanken verkörperte zwar nichts sensationell Gutes, aber für meine Verhältnisse sah es klasse aus. Traurig starrte ich jedoch auf die Kohlestriche. Es war unser Wohnzimmer. Das Wohnzimmer meiner Mutter. Ich hatte alles gezeichnet. Das Sofa, davor der Glastisch. Unser Plasmafernsehr, mit dem hässlichen Teppich. Daneben unser großer Esstisch, sogar mit etwas Ikebana von meiner Mutter. Und an dem Tisch … sogar meine Mutter selbst wie sie an ihrem Zeug arbeitete. So vertieft wie sie war, beachtete sie gar nicht, dass sie ihren Laptop neben sich stehen hat. So wie es immer war. Ich würde dann gleich von der Schule kommen und sie dort sehen. Aus Spaß würde ich sie erschrecken. Ich würde lachen und meine Mutter meckern. Herzerfüllt würde sie mich jedoch in den Arm nehmen und mich begrüßen, sofort in die Küche springen, um mir was zu essen zu machen. Liebevoll würde sie den Tisch decken und mich ausfragen, wie es in der Schule war. Früher war es mir nervig, doch jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als das. Meine Mutter, wie sie für mich da war und alles tat, worum ich sie bat. Meine Mutter, wie sie mit ihrer hohen Stimme mich versuchte zu zähmen und ich doch immer wieder Mist baute. Trotzdem vergab sie mir immer wieder. Ich brauchte das einfach. Dass sie mir jeden Abend einen gute Nachtkuss gab und jeden Morgen einen guten Morgenkuss. Früher wollte ich die nie haben. Das war peinlich. Aber jetzt, wo mir genau diese Liebe fehlte … wünschte ich sie mir sehr.

 

Ich merkte gar nicht, wie die Tränen auf mein Kohlebild tropften. Da ich das Bild in einer Schräglage hielt, liefen sie runter und zogen die Kohle mit sich. Das Sofa und der Esstisch verzogen sich nach unten und verschwanden bald ganz, als noch mehr Tränen tropften. Ich musste kurz schluchzen und vergrub mein Gesicht hinter dem Bild. Verkrampft hielt ich es noch in meinen Händen und versuchte nicht allzu viel Aufmerk­samkeit auf mich zu ziehen. Doch da hörte ich schon Getuschel und wie Frau Aoki mit ihren Stöckelschuhen auf mich zukam.

»Hiroshi? Was ist denn los?«, fragte sie besorgt und legte ihre zarten Hände auf meinen Rücken. Ich schluchzte immer mehr. Dann hörte ich Kiyoshis Stimme. Er sagt irgendetwas zu Frau Aoki, die nahm ihre Hände von mir und schon spürte ich andere kalte Hände.

»Komm, wir gehen kurz raus«, hauchte mir Kiyoshi ins Ohr. Ich ließ das Bild los und ging mit meinem Bruder aus dem Raum, während uns alle hinterher starrten. Seine rechte Hand lag noch auf meiner Schulter, als er die Tür schloss. Wir gingen mit schnellen Schritten den Gang entlang und steuerten die Haupttür an. Als wir dort waren, öffnete Kiyoshi sie mit einem Schwung und ich betrat die frische Luft. Der Himmel war bezogen und keine Sonne war zu sehen. Sofort drehte ich mich zu meinem Bruder um. Er ging ohne irgendeinen Schutz raus. Sofort wendete ich meinen Blick ab. Ich setzte mich langsam auf die kleine Steinmauer, die Kreisförmig vor dem Eingang stand und innen bepflanzt war. Verzweifelt und immer noch am schluchzen, legte ich meinen Kopf in die Hände.

Kiyoshi setzte sich sanft neben mich.

»Vermisst du sie so sehr?«, fragte er leise.

»… Ja …«, schluchzte ich in meine Hände.

»Aber du telefonierst doch jeden Tag mit ihr.«

»… Das reicht doch nicht.«

»Was fehlt dir denn?«

»Mein ganzes zu Hause!«, schrie ich verzweifelt und beugte mich so nach vorne, dass mein Kopf meine Knie berührte.

»Du bist erst vier Tage hier und bekommst schon so Heim­weh …«, murmelte er.

»Hier ist es auch grauenhaft …«

»Na ja …«

»Ist es!«

»Für dich vielleicht. Aber für uns hier ist es normaler Alltag. Habe ein wenig Verständnis, dass auch wir ein geordnetes Leben brauchen.«

»Ihr, aber nicht ich

Er seufzte und lehnte sich ein wenig zurück. Wir schwiegen. Ich versuchte mich zu beruhigen, während Kiyoshi nur meinem Schluchzen zuhörte.

Als ich mich endgültig beruhigt hatte, richtete ich mich auch etwas auf und wischte mich meine restlichen Tränen aus dem Gesicht. Ich starrte auf den gepflasterten Boden.

»Ich werde sterben …«, murmelte ich vor mich hin. »Heute war so erschreckend … Ich habe dein Blut getrunken.«

»Ich habe es dir auch in einer Weise aufgedrückt«, versuchte er die Situation etwas zu verbessern.

»Trotzdem habe ich es getrunken … Weil ich es brauchte. Abscheulich.«

 

Als keine Reaktion kam, blickte ich kurz auf. Ich sah in seine ausdruckslosen Augen und erkannte ein Stückchen Traurigkeit. Dann bemerkte ich, was ich eigentlich gesagt hatte.

»Nein, nein! So meinte ich das nicht.«

»Wieso sagst du es dann …?«

»Weil … weil ich erst rede und dann denke. Tut mir wirklich Leid.«

Ich sah ihn entschuldigend an, während er keinen Ausdruck von sich gab. Etwas in mir wollte nicht, dass er wütend auf mich war.

»Wirklich, es tut mir Leid …«, versuchte ich es noch einmal. Doch seine Miene war unerweichlich, bis er seinen Blick abwendete und gen Schulgebäude schaute. Schweigen umhüllte uns.

Ich sah ihn eine Weile lang an in der verzweifelten Hoffnung, er würde ein Wort sagen; nur eine kleine Phrase, damit ich wusste, dass er nicht sauer auf mich war. Doch es kam nichts.

»Kiyoshi … Ich finde dich nicht abscheulich. Es ist nur für mich als Mensch so fremd, sich in so etwas hineinzufinden«, murmelte ich vor mich hin und senkte den Kopf in seine Richtung. Als immer noch nichts von ihm kam, blickte ich auf und sah ihn gespannt an. Er dachte wohl nach, öffnete seinen Mund und wollte wohl gerade etwas sagen. Doch so schnell er seinen Mund öffnete, schloss er ihn auch wieder und wiegte sich weiterhin in Schweigen.

»Kiyoshi!«, sagte ich nun etwas lauter und umfasste seine Hand, die vorher ruhig auf dem kalten Stein lag.

 

Sofort wendete sich sein Blick zu mir und unsere Blicke trafen sich.

»Habe ich jetzt deine Aufmerksamkeit? Wenn ich Sätze mit deinem Namen anfange, scheint das ja nicht wirklich viel zu bringen«, neckte ich ihn und konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Er seufzte kurz zur Seite und wendete seinen Blick für kurze Zeit wieder ab.

Ich drückte seine Hand ein wenig und schon sah er mich wieder an.

»Redest du jetzt nicht mehr mit mir?« Langsam wurde ich etwas wütend. Ich stand unter Tränen, komme mit meinem eigenen Schicksal nicht zurecht, lasse verletzende Wörter aus mir heraussprudeln, entschuldige mich mehrmals dafür und er spielt immer noch den Beleidigten. Aber wenigstens weiß ich jetzt, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich richten konnte …

»Doch«, gab er kurz zurück.

»Ich habe mich entschuldigt, für das was ich gesagt habe. Warum muss ich immer so Kleinlich bei dir werden? Kannst du nicht einfach wie jeder andere auch ein Feedback geben, wenn ich etwas sage?«

»’Wie jeder andere’, hm?«, bemerkte er arrogant und ließ seine gesamte abfällige Art durch.

Und da ging es mit mir durch.

 

Ich packte ihn an seine Oberarme und achtete gar nicht, wie sehr ich zudrückte. Es musste einfach aus mir heraus, also schrie ich ihm alles entgegen, was mir in dem Moment durch den Kopf ging:

»Ja, ich weiß, du bist nicht ‚wie jeder andere’! Und ich weiß auch, dass du etwas Besseres bist, jedenfalls besser als der Rest hier. Ja, vielleicht sogar um einiges besser, eleganter, schlauer, reifer, schöner, erhabener und schlagfertiger als ich. Sowieso bist du der Vampir unter den Vampiren. Ich schätze dir hoch an, dass du mir vorhin geholfen hast; ich glaube, ich wäre verreckt wegen meiner Sturheit. Ich würde wahrscheinlich nicht lange ohne dich überleben, jedenfalls nicht in dieser Welt. Das hier ist nicht mein zu Hause, du hast mich hier hin geschleppt. Wegen dir bin ich hier, du hast mich in dieses Höllenloch geschubst, also ist es auch deine Verantwortung, die du zu tragen hast. Aber kannst du es nicht wenigstens einmal unterlassen, ständig einen auf Besser zu machen? Wenigstens einmal so tun, als würdest du wie ein Mensch sein? Wenigstens einmal vorgeben, mich ein kleines Stückchen zu mögen? Ist das möglich?«

Meine Stimme wurde immer bebender und brach an manchen Stellen sogar kurz ab, weil mir die Tränen schon wieder in den Augen standen. Der Typ machte mich einfach nur fertig. Seelisch vernichtend.

 

Kiyoshi sah mir gequält in die Augen.

»Hiro …«, quetschte er aus seinen Lippen. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich ihm wehtat. Ich lockerte meinen Griff und sänftigte meine verbissene Miene. Kiyoshi atmete ein wenig auf und entspannte sich wohl auch ein wenig in seiner Sitzhaltung.

»Hast du dich jetzt wieder beruhigt?«, fragte mein Bruder vorsichtig und schon fast so leise, dass ich es kaum verstand. Ich biss mir kurz auf meine Unterlippe, wendete den Blick ab und versuchte meine restliche Wut runterzuschlucken.

Vorsichtig nickte ich.

»Würdest du mich dann freundlicherweise wieder loslassen?« Sein verletzter Unterton war deutlich zu erkennen. Er hatte also doch ein menschliches Herz, wenn es um Gefühle ging. Doch das war es nicht, was ich herausfinden wollte.

»Erst, wenn du mir versprichst, dir meine Worte zu Herzen zu nehmen.«

Sofort sah ich ihm wieder in die Augen und, habe ich mich versehen? In seinen Augen glitzerte es nass und er zwinkerte hin und wieder. Er musste es mir also nicht erst versprechen, er tat es wohl schon. War ich denn wieder so hart gewesen? In letzter Zeit kann ich meine Gefühle kaum unter Druck halten. Geschweige denn sie ausschlaggebend kontrollieren. Aber konnte ich das denn jemals?

 

Seine Augen wendeten sich nach unten. Erst, als mich seine Haare an meiner Nase kitzelten, roch ich auch seinen Duft. Dieser süße Geruch, den ich vor einigen Minuten mit dem Geruch des Blutes einatmete, löste in mir wieder Sehnsüchte aus. Situationen, wie die im Bad, auf seinem Bett, in der Küche, auf meinem Bett oder sonst wann, wo ich seinen Geruch ganz besonders wahrnahm. Genau jetzt, wo ich seine zarten Gesichtszüge mit meinen Augen entlang fuhr, wollte ich an seine Reizvollste stelle. Und diesmal meinte ich nicht seinen Hals.

 

Ich löste meine Hände von seinen Oberarmen und strich ihm an beiden Wangenseiten vereinzelt die Haare nach hinten. In dem Moment sah er wieder auf. Seine blau-violetten Vampir­augen starrten mich glänzend an. Diese Augen, die ich so liebte. Dieser Duft, den ich den ganzen Tag einatmen könnte. Dieses Gesicht, das zwar meinem so ähnelte, aber doch ein ganz anderes war. Diese blasse Haut, die jede Ader unter ihr preisgab. Diese Lippen, die schon ein Stück auseinander lagen …

 

»Kiyoshi …«, flüsterte ich noch ein letztes Mal, bevor ich meine Hände ganz um seine zarten Wangen legte und ihn an mich zog.

"Nicht gut"

»Kiyoshi …« Genüsslich flüsterte ich seinen Namen und zog ihn weiter an mich.

Ob es Verwirrung war? Oder einfach die Sehnsucht nach Liebe? Die Anziehungskraft unter Zwillingen? Dass er mein Bruder war? Er ein Vampir war und die Anziehungskraft manuell ausübte? Oder wirklich einfach die pure Zuneigung zu einer Person, die mir bis vor wenigen Tagen noch so fremd und jetzt so nah war?

 

Das, was ich tat, war tabu. Das, was ich in dem Moment dachte, erst recht. Das, was ich am liebsten mit ihm getan hätte, dürfte ich wahrscheinlich noch nicht mal in einem stillen Kämmerchen tun.

Wenn Mom das sehen würde, würde sie weinen. Dad sicher auch. Obwohl er schon ein Machtwort ausgesprochen hatte. Wieso kann ich mich nicht einfach daran halten? Regeln brechen lag mir zwar schon immer gut, aber warum gerade diese?

Es fühlte sich wie damals im Bad an, nur viel besser. Nur viel angenehmer. In diesem Moment, hätte er nur seine Arme um meinen Hals legen müssen und ich hätte nicht mehr an mich halten können. Gut, dass er es nicht tat. Immerhin waren wir noch vor der Schule, im Grunde hätte nur jemand aus dem Fenster gucken müssen und er hätte uns gesehen.

 

Dieser Kuss war so wunderschön. Ich spürte seine weichen Lippen an meinen, die etwas rauer waren. Sein sanfter Atem lag auf meiner Haut, während sein Duft wie benebelnd auf mich einwirkte. Ich hätte ewig so verharren können.

 

»Was zur Hölle tust du da, Hiro?«, rief Kiyoshi auf einmal und drückte mich mit aller Kraft weg. Er stand sofort auf und sah mich verschreckt an. Wie lange hielt der Kuss denn an? Eine Minute? Oder doch nur wenige Sekunden?

Ich starrte ebenfalls etwas verwirrt zu meinem Bruder, der sich über den Mund strich. Mit der Zeit wurde sein Gesichtsaus­druck wieder hart und verbittert. Damit drehte er sich um und öffnete die mächtige Eingangstür.

»Wir sollten zurückgehen.«

Mit diesen Worten verschwand er im Gebäude. Noch wie angewurzelt blieb ich auf der kleinen Mauer sitzen. Was ich da getan habe? Das fragte ich mich in dem Moment auch. War das richtig? Sicher nicht. Ich habe meinen Bruder geküsst. Einfach so. Weil mir danach war. Weil ich es wollte. Weil ich es verlangte.

 

»Widerlich …«, murmelte ich für mich, wischte mir ebenfalls mit dem Handrücken über den Mund und betrat das Schulge­bäude.

 

Vorsichtig ging ich wieder den Klassenraum, indem noch alle Schüler fröhlich weitermalten. Der erste Blick von mir fiel sofort zu meinem Bruder, wie er weitermalte. Als ob nichts gewesen wäre. Wie vorhin. Er scheint darin geübt zu sein.

»Ist wieder alles in Ordnung, Hiroshi?«, fragte Frau Aoki freundlich und kam auf mich zu.

»J-Ja. Es geht wieder, danke«, versuchte ich ihr mit einem Lächeln zu vermitteln. Sie nickte zufrieden und deutete auf meine Kohlezeichnung.

»Sie musste leider viel Wasser einstecken. Vielleicht kannst du es wieder etwas nachgehen. Sie sieht nämlich wirklich schön aus.«

Mein Blick verharrte auf dem DinA3 Blatt, das mit schwarzer Kohle verschmiert war. Dann schüttelte ich den Kopf.

»So finde ich es gut.«

»Aber -…«

Doch ich ging schon wieder zu meinem Platz. Die Kohle­zeichnung, die unser Wohnzimmer darstellte, war nun mit meinen Tränen beschmiert. Moderne Kunst aus Emotionen nennt man so etwas heutzutage. Vielleicht zeige ich es irgendwann meiner Mutter, sodass sie nie wieder auf die Idee kommen würde mich hierher zu schicken. Wobei das wahrscheinlich nach vollendeter Verwandlung nicht mehr möglich sein wird …

Ich seufzte vor mich hin. Kiyoshi beachtete mich gar nicht, selbst dann nicht, als mein Blick zu ihm haschte. Der Tag konnte einfach nicht noch besser werden. Es steigerte sich nur noch ins schlechtere. Von Stunde zu Stunde. Und ich hatte noch eine Menge Stunden vor mir, das konnte ich mir denken.

 

Immerhin war das schon die sechste Stunde. Die Erlösung kam vielleicht doch bald? Schweigend verbrachte ich den Rest der Stunde neben Kiyoshi und beobachtete ihn, wie er weiter an seinem Bild malte. Er schien sich von meinem starren Blick nicht stören zu lassen. Strich für Strich arbeitete er an seinem Kunstwerk. Einerseits faszinierend, aber andererseits auch stink langweilig. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und nickte wohl kurz weg.

Es dauerte nicht lange, da saß ich auf meinem Bett. Schwei­gen umhüllte mich. Nicht einmal mein Herz schlug. Kein Vogel zwitscherte, obwohl die Sonne gerade erst unter ging. Vor­sichtig blickte ich an mir runter. Ich trug diese Dinge, diese Kleidung aus meinem anderen Traum. Ich war mir also bewusst, dass ich nur träumte. Oder vielleicht doch nicht? Ich fühlte mich so tot. So tot, wie der Tod nur sein kann.

Ein leises Quietschen kam von der Tür. Sie öffnete sich einen Spalt und herein kam eine Person. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Sie trug eine enge, schwarze Jeans und ein Hemd. Oder war es eine Bluse? Ob es Mann oder Frau war konnte ich noch nicht einmal erkennen. Es fühlte sich an, als könnten sich meine Augen nicht richtig öffnen. Als würden sie darum kämpfen wollen, nichts sehen zu wollen. Die Person kam langsam auf mich zu. Schien sie zu grinsen? Ich wusste es nicht. Vorsichtig öffnete ich meinen Mund und wollte schon nach etwas fragen, doch mir entfiel was genau. Noch immer waren meine Augen wie betäubt.

Doch meine Ohren konnten mich nicht täuschen.

»Hiro …«, kam seine Stimme mir entgegen. Ich blieb ruhig auf der Bettkante sitzen und ergriff nur seine zarten Hände, die er mir hinreichte. Vorsichtig zog ich ihn an mich. Er setzte sich auf meine Beine und schlang seine Arme um meinen Hals. Was ging da vor sich? In mir schrie es, ich solle weglaufen. Ich solle mich wehren, so schnell wie möglich fliehen, bevor er mich packte. Doch mein Körper rief da etwas anderes.

 

Vorsichtig drückte ich meine Lippen auf seine. Sie waren so zart und weich, so angenehm. Meine Hände strichen über seine schmale Hüfte und drückten mein Gegenüber näher an mich. Ich genoss den leidenschaftlichen Kuss. Als ich über seine zarten Lippen leckte und um Einlass bat, öffnete er tatsächlich seinen Mund. Unsere Zungen spielten ein wenig miteinander. Sein Atem wurde schneller, so wurden auch unsere Be­wegungen heftiger. Ich strich mit meinen Händen unter sein Hemd und streichelte seine nackte Haut. Als seine Hände unter meinen Hemdkragen fuhren, kam in mir ein gewaltiger Schauer hoch. Diese kalten Hände, die sich so tot anfühlten. Ich hatte mich wirklich noch nicht daran gewöhnt?

Es dauerte nicht lange, da knöpfte ich sein Hemd immer weiter auf, nur um es am Schluss neben dem Bett fallen zu lassen. Sein Körper war so zärtlich und weich, fast wie bei einer Frau, aber doch an manchen Stellen muskulös und stark. Er zog mir langsam mit seinen zarten Fingern den Blazer und das Hemd aus. Die Krawatte ließ er wie eine Kirsche auf der Torte auf den Kleiderhaufen neben meinem Bett sinken. Sanft drückte ich ihn in mein Bett und löste mich von seinem Mund. Zärtlich und ganz vorsichtig leckte ich an seinem Kinn entlang, bis zur Brust, wo ich ihn mehrere Male küsste. Ob ich ihm Knutschflecken machte? Das wusste ich nicht, aber es erregte mich, sein leises Stöhnen zu hören. Ich strich ihm immer wieder um die Taille bis ich mich zur Hose durchgeküsst hatte. Dort öffnete ich seinen Knopf und strich ihm über seinen Boxershortsbund. Als ich meine Hand über seine empfindliche Stelle streifen ließ, stöhnte er leicht auf.

 

War das wirklich nur ein Traum? Es fühlte sich so real an. Ich blickte kurz auf, ob ich überhaupt so weit gehen durfte, aber als ich sein errötetes Gesicht sah, dass nur vor Erregung strotzte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich zog ihm seine Hose aus und wollte mich schon an die Boxershorts begeben, da zog ich ihn noch einmal an mich heran und küsste ihn leidenschaftlich. Seine Erregung stieß mehrmals gegen meinen Hüftknochen und auch ich konnte nicht verleugnen, dass es mich nicht minder erregte. Im Flusse des Verlangens, rutschte ich wieder zwischen seine Beine und zog ein Stück an seiner Shorts, um ihn

 

»So, dann bitte abgeben«, rief die schrille Stimme von Frau Aoki.

Meine Augen waren weit geöffnet und ich starrte geschockt in den Raum. Die Schüler gaben einzeln ihre Bilder ab und packten ihre Sachen zusammen. Auch Kiyoshi ging zu Frau Aoki. Als er wieder zu seinem Platz kehren wollte, blickte ich ihm direkt in die Augen.

Und da kam sofort dieses Gesicht aus meinem Traum wieder hoch. Dieses errötete Gesicht, welches Bände sprechen könnte.

»Ist was?«, fragte er schroff, als er seine Sachen ebenfalls einpacken wollte.

»Äh … Nein … Nichts …«

Als ob nichts wäre. Meine Fantasie war gut in Takt. Oder gerade nicht. Was war nur mit mir los? Ich wollte es mit meinem Bruder … tun? Ich wollte Sex mit ihm? Wie absurd ist denn dieser Gedanke? Was für widerliche Vorstellungen plagen denn da mein Gehirn?

Er ist ein Mann, mein Bruder, mein Zwilling zu guter letzt. Er dürfte das nie erfahren, nie und nimmer. Würde er das erfahren, hielte er mich bestimmt für oberschwul. Okay, für das könnte er mich jetzt sowieso schon halten. Immerhin habe ich ihn vorhin geküsst. Und dafür würde mir ausnahmsweise mal keine Ausrede einfallen, wenn die Frage nach dem Grund kommen würde. Mir fiel noch nicht mal eine für mich selbst ein, um mir dieses (Fehl-)Verhalten erklären zu können. Im Grunde wollte ich gar nicht wissen, was er von mir dachte. Aber wenn ich mich so an die Situation erinnerte, hatte er schon mitgespielt. Die ersten Sekunden des Schrecks wahrscheinlich …

»Komm, wir haben jetzt eine Stunde Pause«, sagte mein Bruder in seinem anmutigen Ton und schwang seine Tasche gekonnt um die Schulter. Zögerlich schnappte ich mir auch meine und hing sie mir um. Kiyoshi verließ den Kunstraum und verabschiedete sich von zwei Mädchen, die ihm zuwinkten. Er hat noch mehr Freunde? Oha.

»Echt? Eine ganze Stunde? Warum gehen wir nicht nach Hause?«, fragte ich Dummkopf natürlich, während wir beide den wieder sehr belebten Gang betraten.

»Weil wir danach noch Unterricht haben.«

»Wie lange denn noch?«

»Drei Stunden.«

»Uff …«, seufzte ich los. Noch so lange.

 

Auf dem Gang kamen uns Kat und Ichiru händchenhaltend entgegen. Wir blieben kurz stehen und schienen noch auf Yagate zu warten. Wir begrüßten uns nur kurz, dann trat sofort Schweigen ein. Um es zu brechen, ließ ich meine Neugierde spielen.

»Sagt mal, geht mich ja eigentlich nichts an, aber … seid ihr zusammen?«, fragte ich Kat und Ichiru interessiert und deutete auf die fest umschlossenen Hände. Die Blicke der beiden gingen kurz zu den Händen, dann wieder zu mir. Sie lächelten glücklich.

»Ja, seit knapp zwei Jahren«, antwortete Kat glücklich und umschlang Ichirus Arm. Dieser grinste auch zufrieden und nickte ein wenig. Ich versuchte zu lächeln.

»Ach so. Das ist ja schön.« Was Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein.

Sofort trat wieder Stille ein. Wobei der Gang ziemlich laut und lebendig war, wurde es in unserem Grüppchen etwas unangenehm. Vielleicht bemerkte es unser Pärchen nicht ganz, aber zwischen mir und Kiyoshi war eine verdammt harte Spannung, die mir die Kehle zuschnürte. Ich drehte am Rad. Jedenfalls erklärte ich mir so meine seltsamen Handlungen. Ich wollte ihn küssen, unzählige Male, habe es im Endeffekt vorhin ge­schafft. Super. Zu guter letzt versinke ich in meinen Tag­träumen, wie ich heißen Sex mit meinem Zwillingsbruder in meinem Bett habe. Wobei wir natürlich noch nicht zum Hauptteil gekommen waren, was aber einerseits auch gut war. Ich wollte den Kunstraum nicht mit der Erregung verlassen, die ich in meinem Traum empfand. Das wäre ja noch die passende Krönung gewesen. Außerdem, was sollte Kiyoshi von mir denken? Was denke ich eigentlich über mich? Bin ich etwa … homosexuell geworden? Aber doch nicht mit meinem Bruder! Aber solche Gedanken habe ich normalerweise nur dann, wenn ich es dringend nötig habe, oder ich mit Jiro Pornos gucke. Wobei ersteres noch nicht allzu oft vorkam. Trotz allem waren das alles Frauen in meinen Träumen und keine Männer, die aussehen wie ich.

 

Yagate kam mit einem großen Kasten zu uns. Er lächelte schon von weitem und schien extrem stolz auf den Inhalt des Kastens zu sein.

»Hey, Yagate, was ist da drin?«, fragte Ichiru neugierig und versuchte in die Kiste zu schauen.

»Mein Geschichtsprojekt. Pompeji mit Gips nachgebaut«, erwähnte er stolz und präsentierte sein Werk. Es sah wirklich gut aus, wobei ich natürlich keinen blassen Schimmer davon hatte, wie Pompeji aussah. Kat lobte ihn groß und wollte es schon anfassen, da hielt es Yagate weg und steckte es wieder in den Kasten.

»Lieber nicht anfassen, ist alles noch was instabil.«

 

Nach weiteren Bewunderungen und Lobredungen, verließen wir wie viele andere das Gebäude. Es war relativ warm, aber bewölkt. Kein Sonnenstrahl kam durch die dicke Wolken­schicht zu uns. Glück für die Vampire. Schlecht für mich.

»Heute ist aber ein schönes Wetter. Es regnet mal nicht«, redete Kat das Wetter schön. Meine Miene verfinsterte sich von Schritt zu Schritt. Nicht nur ein miserabler Tag angesichts des langen Schultages mitten in meinen Ferien, sondern auch noch aufgrund des Wetters, meinem Bruders und zu guter Letzt wegen der störenden Fantasien. Heute ging alles schief. Ich freute mich schon auf zu Hause. Und diesmal schon allein auf das ‚Vampirvilla-zu-Hause’.

Wir verließen mit gemäßigten Schritten das Anwesen und liefen die lange Allee entlang, von der Kiyoshi und ich ge­kommen waren. Niemand sagte ein Wort oder hatte zumindest vor eins auszusprechen. Das ganze war mir ein wenig zu dumm.

»Wo gehen wir eigentlich jetzt hin?«, fragte ich abrupt und ohne Vorwarnung in die Gruppe rein. Yagate, Kat und Ichiru, die ein Stück vor mir und Kiyoshi gingen, drehten sich kurz um, dann lächelte Kat. »In ein kleines Café. Dort können wir uns ein wenig ausruhen.«

Ich nickte kurz. Ausruhen? Von was denn? Der Unterricht war ja bis jetzt nicht weltbewegend anstrengend gewesen. Ich zuckte nur innerlich die Schultern und hoffte auf baldiges Zurückkehren nach Hause.

Das Café war wirklich nicht groß und bot sowohl Sitzplätze draußen als auch drinnen an. Wir setzten uns natürlich in das Café. Es könnten ja doch noch Sonnenstrahlen rauskommen. So ein Schwachsinn.

»Sagt bloß ihr bestellt hier auch was?«, fragte ich perplex, als sich die drei, ausgenommen meinem Bruder, die Karte schnappten.

»Wo denkst du hin? Natürlich«, lachte Ichiru und suchte sich zusammen mit Kat etwas aus. Verwirrt sah ich zu Kiyoshi, der seinen Kopf nur auf seiner Hand aufstützte. Er bemerkte meinen Blick und zuckte mit den Schultern.

»So was wie Chloes Laden.«

»Oh Gott, schon wieder so ein Vampirbunker?«

»Ja, genau.«

»Wieso hätte ich mir das nicht denken können?«

»Keine Ahnung.«

» … « Ich verkniff mir einfach den Kommentar, dass das eine rhetorische Frage sein sollte. Kiyoshi sah regelrecht gelangweilt aus und schien schon wieder fast einzuschlafen. Ich knuffte ihn kurz in die Seite.

»Bestellst du nichts?«, fragte ich leise, sodass es die anderen nicht unbedingt mitbekamen.

»Nein. Steh ich nicht so drauf.«

»Was gibt’s denn hier?«

»All das, was es in der Menschenwelt gibt.«

»Nur, lass mich raten, mit der Würzung ‚Blut’?!«

»Ja …«

»Okay, mag ich auch nicht.«

Damit schwiegen wir wieder. Als dann die Kellnerin kam, fiel ihr Blick sofort auf mich. Ihr anmutiger, aber doch starrer Blick, ließ mich vermuten, dass sie ebenfalls ein Vampir war. War denn dieser Ort so etwas wie die Hochburg dieser Art?

»Was darf es denn sein?«, fragte sie freundlich in die Runde, trotz ihres misstrauischen Blickes.

Die drei bestellten sich jeweils alle einen Latte Macchiato. Kiyoshi und ich schüttelten nur den Kopf, als die Augen der Kellnerin unsere Gesichter musterten. Damit verschwand sie auch wieder.

»Und Hiro, wie war Mathe und Kunst?«, fragte Yagate, während er die Karte wieder in den kleinen Metallständer am Rande des kleinen runden Tisches reinsteckte.

»Hm, ganz okay. Nicht viel anders als bei uns.« Stimmt ja irgendwo auch. Beides war stinklangweilig, wie bei uns.

»Das ist doch schön. Wir haben gleich Philosophie, Sozial­wissenschaften und Latein.« Kat musste kichern. »Cool, oder?«

… Total.

»Philosophie? Klingt ja sehr spannend«, sagte ich, während mir ein kleines sarkastisches Lächeln über die Lippen huschte.

»Ist es auch. Im Moment lesen wir Kant«, erklärte Ichiru und rutschte mit seinem Stuhl etwas näher an Kat ran.

»Habt ihr den auch schon gelesen?«, fragte Yagate neugierig.

» … Wer ist das denn?«

Sofort trat Stille ein. Als ich die entgleisten Gesichtszüge als schlechtes Omen deutete, fügte ich schnell meinen Grund für meine Unwissenheit hinzu: »Ich habe kein Philosophie bei mir an der Schule.«

»Die menschlichen Schulen werden von Jahr zu Jahr komischer«, murmelte Ichiru zu Kat.

»Ja, selbst das haben die nicht mehr; Menschen verdummen ja richtig«, antwortete diese.

»Das Grundwissen scheint da ja ziemlich weit unten zu liegen«, fügte nun auch Yagate hinzu.

Mein Blick zerknirschte sich. Was halten die eigentlich von sich? Gut, die Schule scheint vom Stoff her besser zu sein, was aber doch noch lange kein Grund ist, die menschlichen Schulen derart runter zu machen. Ich ließ meinen Blick durch die Runde schweifen. Jegliches Lächeln verschwand aus ihren Gesichtern und mit der Nettigkeit war es wohl auch vorbei. Ich hatte es eindeutig vermasselt; die hielten mich jetzt für strohdumm. Vorsichtig sah ich zu meiner Linken. Kiyoshi starrte nur abwesend auf den Tisch.

»Und? Hast du auch was an meiner menschlichen Schule auszusetzen?«, fragte ich meinen Bruder etwas gereizt. Dieser sah mich nur gelangweilt von der Seite an.

»Ich kenne sie nicht persönlich, also halte ich mich mit Stereotypen zurück.«

» … Mit was?«

Er winkte ab.

»Schon gut.« Sofort wendete er seinen Blick ab. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Jetzt reichte es. Ich würde für den Rest des Tages die Klappe halten und nur antworten, wenn ich etwas gefragt werden würde. Die sind doch alle übergeschnappt.

Die Stille war erdrückend und doch angenehm zugleich. Ich war froh, dass niemand etwas sagte, aber andererseits wusste ich, dass es wegen mir war.

Die Kellnerin kam mit den drei Milchgetränken an. Als sie sie auf den Tisch abstellte, wünschte sie guten Appetit, und ging wieder. Der Inhalt der Gläser sah widerlich aus. Die Farbe ähnelte den Matschgetränken, die ich im Kindergarten im Sandkasten immer fabriziert hatte. Mich interessierte zwar, wieso die das trinken konnten, immerhin war ja ein Teil Kaffee drin, aber ich hielt den Mund. Angepisst und ziemlich wütend auf die ganze Runde, blieb ich tatsächlich eine halbe Stunde mit verschränkten Armen im Stuhl sitzen. Yagate, Kat und Ichiru unterhielten sich fröhlich, während Kiyoshi schlief. Er hatte seinen Kopf noch immer auf seiner Hand abgestützt und schien ganz weit weg zu sein. Wie kann man nur so viel schlafen? Entweder hat er die ganze Nacht nicht geschlafen oder er hat chronischen Schlafmangel.

Hin und wieder blickte ich auf die Uhr, die hinter der kleinen Theke an der Wand hing. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen und meine Armen fingen an zu schmerzen. Ver­krampft und immer noch wütend, fing ich schon an vor Langeweile zu zählen.

Eins, zwei, drei, vier … fünfhundertachtzig …

Die wohl langweiligste Pause denn je. Würde ich mit Jiro so Pausen haben, würden wir Kyo und Roku erst mal mit nach McDonalds schleppen. Dort würden wir uns die Wampe mit Cheeseburgern voll hauen, um uns danach noch ein dickes Eis mit Karamellsoße zu holen. Wir würden die Kassierer ver­arschen und die Putzen ärgern. Wie die kleinen Kinder würden wir dann verschwinden und weglaufen, nur um dem Filialleiter zu entkommen, der uns Hausverbot erteilen würde. Lachend und mit noch einer Menge Karamellsoße am Mundwinkel würden wir zehn Minuten später in den Unterricht kommen, wobei der Lehrer selbst noch nicht mal da wäre. Und den Rest des Tages würden wir nur gammeln und nicht zuhören. Egal, ob es Geschichte, Religion, Mathe oder Deutsch wäre. Ist ja alles nicht so ganz interessant.

Und hier? Das wohl langweiligste Leben überhaupt. Kein Wunder, dass Vampire mit der Zeit Lebensmüde werden. Vermutlich ist es auch das, was Kiyoshi so runterzieht. Immerhin sind wir Zwillinge und vom Grundsatz her gleich gebaut. Vielleicht bräuchte er auch mal etwas Spaß oder ein Hausverbot bei McDonalds. Wäre jedenfalls spannender, als in Philosophie über einen Herrn Kant zu reden.

Es dauerte noch eine Weile, bis die drei ihre Getränke aus­getrunken hatten. Die Stimmung blieb auch nach dem Bezahlen noch zerknirscht. Wir verließen das Café und traten den Rückweg an. Natürlich genau zehn Minuten vor Stundenbeginn, damit wir auch ja pünktlich waren. Ich musste mir wirklich den Kommentar »Prominenz kommt immer zu spät« unterdrücken. Den Witz würde hier eh keiner verstehen.

 

Der Hof vor der Schule mit dem runden Beet in der Mitte füllte sich allmählich mit Schülern, die von ihrer Pause zurückkamen. Im Grunde schien es nicht sehr viele Schüler auf dieser Schule zu geben, da ich manche Gesichter wieder erkannte.

Auch das von Alexander. Mit siegessicherem Blick kam er auf uns zu.

»Sieh an, sieh an«, rief er laut, »Hätte ja nie gedacht, dass ihr euch so gut versteht.«

»Was willst du?«, fragte Yagate sehr gereizt und stellte sich schon vor unsere kleine Gruppe.

»Nichts, nichts.« Alexanders Grinsen reichte ihm über beide Ohren, als er mich sah. Im Hintergrund standen schon seine Leibwächter bereit, die Kiyoshi in der zehn Minuten Pause verschleppten.

»Der kleine Mensch hier scheint sich ja schon gut einzuleben. Wann trittst du uns denn bei?« Der Sarkasmus dröhnte in meinen Ohren. So was lasse ich mir nicht bieten. Schon gar nicht von dem.

»Gar nicht. Aber danke für die Einladung«, keifte ich zurück, richtete meine Tasche, die ich über eine Schulter hängen hatte und wollte an ihm vorbeigehen. Doch da schnellte seine kalte Hand hervor und hielt mich an der Schulter fest.

»Bist du dir da sicher? Immerhin scheinst du ja sehr an deinem Bruder zu hängen«, lachte er laut los. Mein Blick weitete sich. Hatte er uns etwa vorhin gesehen? Wie ich ihn geküsst hatte? Niemals …

»Was weißt du denn schon?«, maulte ich wieder und wollte mich aus seinem Griff befreien. Mit einem Ruck wollte ich meine Schulter drehen, doch seine Hand umschloss meinen Blazer, riss mich zu ihm und packte noch fester zu. Mit einem Mal sah ich etwas weißes auf den Boden gleiten. Sofort spürte ich den heißen Schmerz und wie die rote Flüssigkeit ihre Bahn lief. Das war nicht gut …

»Dein Bruder hat ganz schön zugebissen«, sagte Alexander und glänzte mich mit seinen blutroten Augen an. Sofort drehten sich andere Vampire auf dem Hof zu mir um und sahen mich hungrig an. Ihre Blicke schienen mich zu durch­bohren, einige fuhren sich schon mit der Zunge über die Lippe.

Dieser Alexander hatte mir das Pflaster abgerissen und mir damit meine dünne Haut zerstört. Nun war ich der Lecker­bissen der Schule. Gerade ich als Mensch.

»Vielleicht solltest du uns lieber ran lassen. Wir machen das sicherlich besser …« Alexander kam auf mich zu. Die anderen Vampire machten auch ihre Schritte vorwärts, während ich versuchte so viel Abstand wie möglich zu gewinnen. Doch eine Flucht wäre sinnlos gewesen. Würde ich rennen, würden die mich schnell wieder einholen. Würde ich schreien, kämen höchstens noch mehr Vampire. Würde ich versuchen zu kämpfen, würde ich untergehen; die waren alle viel stärker als ich.

 

Es war die Horrorvorstellung pur. Diese hungrigen Augen blickten mich von allen Seiten an. Hin und wieder knurrte sogar jemand. Mit zittrigen Händen versuchte ich das Blut zu stoppen, doch es quoll immer mehr aus den zwei Löchern. Tränen schossen mir in die Augen.

»Verdammt …«, stieß ich noch aus.

Plötzlich sprang Alexander auf mich los und als hätte er den Startstuss gegeben, all die anderen auch. Vor Verzweiflung kniete ich mich auf den Boden und hielt mir meine Arme schützend über den Kopf, um die tödlichen Griffe der Monster ab­zuwarten.

 

Niemand fasste mich auch nur an. Nach wenigen Sekunden blickte ich wieder auf und starrte auf Kiyoshis Rücken. Ein Lächeln der Erleichterung huschte über meine Lippen, während eine kleine Träne sich ihren Weg über meine Wange bahnte. Die restlichen Vampire wichen sofort zurück und zeigten größten Respekt, in dem sie reuevoll ihre Blicke senkten. Langsam stand ich auf.

»Ruf Vater an«, kam der schroffe Befehl von Kiyoshi.

»Was?«

»Du sollst Vater anrufen.«

»Und was soll ich ihm sagen?«, fragte ich mit noch etwas zittriger Stimme. Kiyoshi drehte sich ein Stück zu mir um.

»Sag ihm, er soll uns abholen.« Als ich aber nicht handelte, wurde er laut. »Sofort!«

Ich nickte abrupt und kramte erschrocken mein Handy raus.

»Aber … ich habe die Nummer doch gar nicht …«

»Doch hast du. Ich habe sie eingespeichert.«

Ich suchte mein Telefonbuch durch, bis ich auf die Nummer meines Vaters kam. Sofort wählte ich sie, hielt mir das Handy ans Ohr und wartete auf ein Abheben.

 

»Hiro?«, kam die verwunderte Stimme aus meinem Handy.

»Dad? Du musst uns abholen kommen, hier eskaliert grade alles!«, rief ich verzweifelt ins Telefon, während ich mir die restlichen Tränen abwischte.

»Eskalieren? Was ist denn passiert?«, fragte er hörbar auf­geregt.

Plötzlich wurde mir das Handy entrissen.

»Man, hol uns einfach ab! Ist doch nicht so schwer!?«, schrie mein Bruder ins Telefon und legte stur auf.

Kaum hatte er den restlichen Vampiren den Rücken zuge­dreht, hörte man es wieder knurren und murmeln. Auf einmal sprang ein Mädchen aus der Menge und knurrte laut auf. Ich zuckte sofort zusammen, griff instinktiv nach Kiyoshis Arm. Er drehte sich zum Mädchen um.

 

Ein leises, aber doch durchdringendes Knurren entfuhr Kiyoshis Mund. Das Mädchen schien wie erstarrt und riss ihre Augen auf. Sie fiel zu Boden und krabbelte verzweifelt wieder in die Menge. Die Vampire wichen zurück.

Auch ich konnte eine Spannung fühlen. Kiyoshis Arm schien zu beben, als ob alles in ihm angespannt wäre. Ich konnte seinen Ausdruck nicht erkennen, doch nach dem Verhalten der Vampire zu urteilen, war es kein angenehmer.

Ein Lehrer schob sich durch die Massen. Dann noch einer und noch einer. Es war der grimmige Physiklehrer, ein Mann, den ich nicht kannte und die freundliche Mathelehrerin. Sie quetschten sich durch die Massen und fanden Kiyoshi und mich in der Mitte des Kreises auf.

»Alle Schüler sofort ins Gebäude!«, schrie er Physiklehrer und gab ein Handzeichen zur Tür. Einige Schüler gehorchten, andere starrten noch gebannt auf meine Wunde. Der andere Mann wurde handgreiflich und packte sie am Arm, um sie in Richtung der Tür zu schubsen. Die Mathelehrerin kam auf uns zu. Sie machte kurz vor Kiyoshi einen Knicks. Erst als er nickte, er­hob sie sich wieder und sah mich mit besorgtem Blick an.

Mein Blick fiel auf Kiyoshis Gesicht. Ich erstarrte wie Stein. Sein Augenweiß war nunmehr schwarz, seine vorher blau-violetten Augen in einem blutrot getunkt und seine zarte Porzellanhaut fast so weiß, wie Fliesen, durchzogen von blau-grünen Äderchen. Selbst im Gesicht. Sein ganzer Körper sah mutiert aus. Fingernägel, lang und spitz, Finger so dünn und seine Ausstrahlung wie ein … Monster aus der Unterwelt. Wie ein Dämon.

 

»Bist du in Ordnung?«, fragte die Lehrerin freundlich, aber doch recht zurückhaltend. Mein Blick lag immer noch auf meinem Bruder. Abwesend murmelte ich ein »Ja«. Sein Zustand verbesserte sich innerhalb Sekunden. Seine Muskeln ent­spannten sich und seine Hautfarbe wurde wieder einigermaßen normal. Als endgütlich alle Schüler gegangen waren, sah er wieder wie vorher aus. Die Lehrer kamen ebenfalls auf und zu.

»Das war Haarscharf«, sagte er eine Lehrer, der etwas freund­licher als unser Physiklehrer aussah.

»Das nächste Mal solltest du etwas mehr aufpassen«, bekam ich vom eben genannten Physiklehrer zugezischt.

»Es war nicht meine Schuld, Alexander hat -«

»Das spielt keine Rolle. Du hast eine Wunde gehabt und kommst so in die Schule. Das ist Verantwortungslos.« Seine grimmige Art unterstützte er also auch noch durch Gemeinheit. Wunderbar.

»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten«, kam die be­kannte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah in die braunen Augen meines Vaters. »Ich habe ihn hierher geschickt.«

Sofort verbeugten sich die drei Lehrer und bewegten sich nicht.

»Ich werde ihn bei mir behalten, bis die Wunde verheilt ist. Wir gehen jetzt.« Damit ging mein Vater. Als Kiyoshi auch zum Gehen ansetzen wollte, spürte er, dass ich meine Hände noch immer um seinen Arm geschlungen hielt. Sein Blick folgte meinen Armen in mein Gesicht. Ich sah wohl ziemlich fertig aus.

»Du musst hier nicht mehr hin«, sagte er in einer schon fast beruhigenden Stimme. Ich nickte zögerlich, dann ließ ich seinen Arm los. Erst, als Vater und Kiyoshi den Lehrern den Rücken zu gedreht hatten, erhoben sie sich wieder. Mein Blick fiel noch einmal zum Schulgebäude. Viele Schüler schauten durch die getönten Scheiben und beobachteten das Schauspiel. Ein kalter Schauer fuhr mir über meinen Rücken. Sofort ging ich zum schwarzen Auto, welches vor dem riesigen Tor stand. Vater stieg vorne ein, Kiyoshi hinten. Langsam öffnete ich die Tür und setzte mich in das noble Auto. Kaum hatte ich die Tür zugemacht, fuhr Vater los. Mit einem ziemlichen Tempo verließen wir recht schnell sowohl die kleine als auch die große Allee. Die Autofahrt verlief schweigend, auch wenn sie nicht lange dauerte.

Kaum fuhren wir auf unseren kleinen Vorhof, hielt Vater den Wagen an.

»Steigt aus«, sagte er etwas schroff. Sofort ergriffen Kiyoshi und ich die Türgriffe und betraten das Freie. Er fuhr weiter in die Tiefgarage. Mein Bruder ging zu unserer Eingangstür. Langsam folgte ich ihm. Die Sonne war immer noch hinter den dicken Wolken versteckt. Seufzend betrat ich den großen Saal. Kiyoshi ging einfach schnurstracks mit seinen Schuhen zur Treppe und stapfte hoch. Verloren und verlassen blieb ich vor der Eingangstür stehen. Leise ließ ich meine Tasche auf den Boden gleiten. Dann hörte ich schnelle Schritte.

Mamoru kam aus der Küche gerannt und fuchtelte schon mit seinen Händen um sich.

»Mein Gott, Herr Hiroshi, was treiben sie denn nur?« Er trug einen kleinen Kasten mit Verbandszeug in der Hand. »Machen solche haarigen Dinge! Schlimm genug, dass Sie vom Herrn Kiyoshi gebissen wurden und jetzt noch das!«

Als er vor mir stand und mir die Tasche abnehmen wollte, hielt ich sie vorsichtig hinter meinen Rücken.

»Danke, Mamoru. Aber ich gehe lieber auf mein Zimmer. Die Wunde verheilt bestimmt auch so …« Ich versuchte so nett und freundlich zu klingen, wie ich nur konnte. Trotzdem blickte ich etwas verschämt zur Seite. Die ganze Sache war mir peinlich. Wegen mir gab’s so Stress. Wegen mir mussten Kiyoshi und ich ab­geholt werden. Wegen mir wird Kiyoshi wahrscheinlich von den anderen noch mehr gemobbt. Wegen mir bekommt Vater wohlmöglich auch noch Stress. Dabei wollte ich noch nicht mal hier hin.

Mamoru sah mich zwar noch etwas irritiert an, beließ seine Hand aber bei sich und gab mir den Weg zur Treppe frei. »Wie Sie wünschen.«

Ich nickte freundlich und preschte an ihm vorbei. Mit schnel­len Schritten rannte ich die Treppe hoch, indem ich zwei Stufen auf einmal nahm. Als ich auf dem matten Gang war, verlang­samte ich meine Schritte. Mit getrübtem Blick schlurfte ich zu meiner Tür. Langsam kramte ich meinen Schlüssel aus meiner Hosentasche. Erst, als ich den Schlüssel in das Loch steckte, bemerkte ich, dass die Tür wieder ganz war. Das ging ja schnell, dachte ich nur nebenbei und schloss auf. Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugemacht und meine Tasche neben dem Schreibtisch abgestellt, lockerte ich meinen Kragen und sah schon das Blut. Seufzend griff ich ein paar Taschentücher aus meiner Tasche und tupfte es von meinem Hals. Als nach einer Weile nichts mehr zum Abtupfen war, ging ich von einem recht sauberen Hals aus. Mein Bett war ordentlich gemacht und die Rollläden zur Hälfte runter gefahren. Ich ergriff das Band und zog sie hoch. Die schon tiefe Sonne strahlte noch vereinzelnd in das Zimmer. Erst genoss ich die warmen Strahlen auf meiner Haut, da es nur wenige am heutigen Tag gab, doch dann fing es an zu brennen. An meiner Hand, an meinem Hals, auf meinen Wangen und sogar auf meinen Augen. Ich dachte erst, es würde an meinem Kreislauf liegen, doch als mein Atem schneller wurde und der Schmerz immer stechender, sprang ich sofort einen Schritt zur Seite; aus der Sonne. Der Schmerz ließ nach und meine Haut entspannte sich. Trotz allem rötete sie sich ein wenig. Geschockt starrte ich auf die rötliche Hautpartie meiner Hand.

»Das kann nicht sein …«, murmelte ich. »Das geht einfach nicht …«

Sehnsüchte

Mein geröteter Handrücken ließ mich stocken. Ich konnte es nicht glauben, dass ich nicht mehr in die Sonne gehen durfte. Das ging alles so schnell. Schon nach zwei Tagen waren meine Optionen so eingeschränkt. Ich konnte kein normales Essen mehr zu mir nehmen, konnte kein Wasser mehr trinken und konnte jetzt sogar nicht mehr in die Sonne gehen. Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen. Alles ging allmählich zu Nichte. Alles wurde mir weggenommen, was vorher so selbstver­ständlich war.

Verzweifelt ließ ich mich auf mein Bett fallen. Weinend saß ich dann auf der Bettkante und heulte in meine Hände. Ich war so eine Heulsuse geworden und schämte mich schon fast vor mir selbst. Aber alles glitt mir aus den Händen. Kiyoshis Anblick ging mir ebenfalls nicht aus dem Kopf. Ich hatte Angst, genauso zu werden. Irgendwann auch so auszusehen wie ein Dämon; frisch aus der Hölle entlaufen. Mein Leben ging den Bach runter. Heute Morgen war ich noch euphorisch und sah das Leben als etwas gutes, egal wie es verlaufen würde. Aber jetzt hatte ich die harte Wahrheit vor meinen Augen liegen. Vampire konnten nett sein, hielten aber doch mehr von sich selbst und verspotteten andere. Sie waren nur Tiere, in Menschenform, die Blutdürstig sind. Tiere, die ihre eigenen Triebe nicht unter Kontrolle hatten, und wenn, dann nur schwer. Ich als Mensch war in diesem Haufen einfach Fehl am Platz. Und das würde ich auch nach meiner Verwandlung sein. Ich könnte einfach nicht so sein wie die. Ich würde nie so handeln können. Auch wenn ich vor einiger Zeit immer gedacht hatte, dass ich nie Blut trinken könnte, habe ich es doch vor wenigen Stunden getan. Vielleicht wäre ich sogar irgendwann in der Lage Menschen zu töten? Wegen ihrem Blut? Wäre ich vielleicht genauso eine Gefahr wie die anderen für mich heute? Die Vorstellung allein plagte meinen Kopf und ich schluchzte Laut auf. Melancholie war in meinem Fall schon fast untertrieben. Depressiv passte eher. Mein Leben bestand nur noch aus ‚Aber’. Nichts ging mehr. Ich würde nicht zurückgehen können, nie wieder in meine alte Schule. Ich wäre nur eine Gefahr für meine Freunde. Meine Selbstkontrolle endete ja schon bei Schokolade, wie wäre es dann nur bei meiner Lebenswichtigen Nahrung? Undenkbar. Ich sitze hier fest. Ich kann hier nicht mehr weg. Das hier ist meine Hölle. Meine persönliche Hölle.

Meine Tränen kullerten von meinen Wangen auf den Boden. Was sollte ich nur tun? Wie konnte das nur passieren? Ich hatte keine Lust mehr auf mein Leben …

 

  Plötzlich vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Etwas erschrocken kramte ich es raus. Es war Jiro. Er hatte ja gesagt, er würde anrufen. Ich versuchte mich zu beruhigen und räusperte mich kurz, damit meine Stimme nicht weg bräche.

»Hey Jiro«, begrüßte ich ihn, gespielt fröhlich.

»Alter, was ist los? Du klingst fürchterlich!«, hörte ich nur eine besorgte Stimme auf der anderen Leitung.

»Haha, alles okay. Ich habe vorhin nur Wasser getrunken und habe mich fürchterlich verschluckt. Ist gleich weg.« Was ich lügen konnte. Überhaupt knabberte mein Gewissen allmählich an mir, da ich sowohl Jiro als auch meine Mutter anlügen musste.

»Bist du dir sicher?«

»Jiro, ich werde mir wohl sicher sein, ob ich Wasser getrunken habe oder nicht«, spaßte ich.

»Na gut …« Er schien sehr misstrauisch zu sein. »Geht’s dir denn besser als gestern?«

»Ja, doch. Auf jeden Fall.« Nein, mir ging’s noch um einiges schlechter als gestern.

»Na, wenigstens etwas. Wobei du nicht sonderlich besser klingst.«

»Hm, ich musste heute zur Schule gehen.«

»Was? Wieso das denn?«

»Ich sollte die Schule meines Bruders mal kennenlernen.« … Weil es bald meine sein wird.

»Oh Gott.«

»Sagst du was.«

Ich wartete kurz ab. Als Jiro nichts sagte, traute ich mich auch nicht mehr im Groben über die Schule zu erzählen.

»Und? Wie ist sie so?«, fragte Jiro dann doch nach einigen Sekunden, aber sehr auffordernd.

»Äh …« Ich suchte noch nach Worten, da ich ‚Vampire’ auf keinen Fall einbringen durfte.

»Hero? Was ist los? Normalerweise erzählst du einfach los. Da muss ich nicht groß fragen.«

»Tut mir Leid. Ich glaube, die strenge Erziehung meines Vaters wirkt schon auf mich ein.«

»Sobald du wieder hier bist, wirst du wieder zum alten Hero. Glaub mir, dafür werden wir sorgen.«

Ich musste kurz lachen. Ob das wirklich gehen würde? Ob ich wirklich wieder zum alten Hiroshi werden könnte, auch nach meiner Verwandlung?

»Bin ich ja mal gespannt«, lachte ich kurz. »Also die Schule ist ja eine Privatschule. Ziemliches Geisterhaus, weil es ein altes Gebäude ist. Die Lehrer sind alle auf einem viel höherem Niveau und über die Schüler muss ich ja nicht sprechen, oder?«

»Alles so Schnösel?«

»Frag lieber nicht.«

»Du armer!« Jiro musste kurz lachen. Obwohl es eigentlich nicht witzig war, huschte mir auch ein Grinsen über die Lippen.

»Und wie ist Kiyoshi so in der Schule?«, fragte er unerwartet.

»Wow, du hast dir seinen Namen gemerkt«, bewunderte ich sein Gedächtnis. Normalerweise vergaß er neue Namen nach nur wenigen Stunden wieder.

»So einen Typen vergesse ich sicher nicht. Immerhin ist er ja auch dein Zwilling.«

»Hm, stimmt auch wieder.«

»Also?«

»Ach ja … Er ist ein ganz schöner Streber. Melden, melden, melden und das Lieblingskind der Lehrer. Jedenfalls kam es so rüber.«

»Oh je. Gibt’s eigentlich auch Gemeinsamkeiten zwischen dir und ihm? Außer das Aussehen?«

»Gute Frage …« Ich tat so als würde ich überlegen. Da gab es eine Menge. Wir beide sind launisch, unordentlich in Dingen Zimmerbehausung, Morgenmuffel, ziemlich schnell gereizt, mögen keinen Latte Macchiato mit Blutextrakt und lieben das Blut des jeweils anderen. Der letzte Punkt war mir unangenehm. Zudem kam noch, dass das alle Punkte waren, die nicht unbedingt als positive Seiten eines Charakters gesehen werden.

»Ich glaube, da gibt’s kaum welche«, sagte ich schließlich zu Jiro. Der seufzte.

»Krass. Kommt der eigentlich irgendwann auch mal zu dir?«

»Ich hoffe nicht!« Horrorvorstellung. Er, meine Mutter und ich in der kleinen Wohnung. Er in meiner Schule. Er mit meinen Freunden. Da trafen zwei Welten aufeinander, die sich noch weniger vereinbaren ließen als diese mit meiner.

»Okay, okay. Also wird er Mister X für uns bleiben?«

»Soweit jedenfalls ja.«

»Hm, schade.«

»Wieso?«

»Ich wollte schon immer mal zwei Heros sehen«, spaßte er. Auch ich musste etwas lachen.

»Hast du doch schon. Als du den Joint von Lampe geraucht hast.«

»Psst, wenn das meine Mom erfährt!«, flüsterte er ins Telefon. Ich musste kichern.

»Hab doch auch einmal gezogen.«

»Ja, aber deine Mom würde höchstens wieder drei Oktaven höher werden und dir Hausarrest geben.«

»Schlimm genug. Mehrere Tage nur mit ihr ist auch schlimm.« Das wäre jetzt genau das richtige, was ich brauchte. Einfach nur ich und meine Mom. Niemand anders. Kein Kiyoshi, kein Vater, kein Mamoru und kein anderer Vampir. Den ganzen Tag Pizza essen und vorm Secondhand Plasmafernsehr hängen. Die Vorstellung ließ mich etwas aufatmen.

»Wie auch immer. Was machst du morgen? Gehst du wieder zur Schule?«

Oh.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Wieso nicht?«

»Konnte meinen Dad überreden, dass ich Ferien habe und die auch genießen will.«

»Verständlich. Ich bin ja ab morgen Nachmittag im Flieger.«

»Was? Wohin?«, fragte ich verwundert.

»Hero, du hast mir wieder nicht zugehört, stimmt’s?«

Ups.

»Hm, ja, schon. Ein bisschen. Ich war mit meinen Gedanken schon bei meinem Dad, sorry«, gab ich zu und hoffte innerlich, er würde mir nicht sauer sein.

»Ich fliege nach Nagasaki.«

»Für wie lange?«

»Drei Wochen.«

Nein! Nein, nein, nein. Dann könnte ich nicht mehr mit ihm telefonieren. Niemand, der mich aufmuntert. Seine Mutter nimmt ihm nämlich in jedem Urlaub sein Handy weg, damit er Urlaub hat und sich nicht ablenken lässt.

»Ist ja mies …«, murmelte ich.

»Wenn was ist, kannst du es auf dem Handy meiner Mom versuchen. Die hat das ja an. Schreib einfach ne SMS und ich versuche sie zu überreden, dich anrufen zu dürfen.«

»Alles klar. Danke, Jiro.«

»Kein Problem. Aber tu es auch wirklich und erzähl mir was los ist.«

»Klar, mach ich doch immer.« Ich benahm mich schon wie meine Mutter. Die log auch immer so selbstverständlich. Immerhin wusste sie ja auch noch nicht, dass ich über die ganze Sache informiert war.

»Ich schick dir eine SMS, wenn ich am Flughafen bin und mein Handy ausliefern muss, okay?«

»Alles klar. Dann viel Spaß und gute Erholung.«

»Danke, dir auch weiterhin viel Spaß, falls es den in irgend­einer Weise gibt.«

Wir mussten kurz lachen, dann legten wir auf. Seufzend ließ ich das Handy in mein Kissen fallen.

Sofort blieb mein Blick dort haften. Dieses Kissen erinnerte mich an meinen Traum. An den Traum mit Kiyoshi. Dieser abartige Traum, der doch seinen Reiz hatte.

Ich schüttelte heftig meinen Kopf und klopfte mit der rechten Hand gegen meine Schläfe.

»So was denkt man nicht, Hiro«, sprach ich zu mir selbst in die Stille hinein. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon kurz vor halb sechs war. Seltsamerweise hatte ich aber weder Hunger noch Durst. Wenn ich auch wirklich knappe zwanzig Minuten an Kiyoshi gesaugt hatte, war ich wohl erst einmal versorgt. Trotzdem sehnte ich mich nach seiner Gesellschaft. Er war mein persönlicher Hoffnungsschimmer in diesem Loch. Ich wusste zwar nicht wieso oder warum, da er ein ganz schönes Arschloch sein konnte, aber der Drang sein arrogantes Gesicht zu sehen stieg immer weiter an. Mit geschlossenen Augen überlegte ich kurz, erhob mich, ließ mein Handy auf dem Kissen liegen und ging zur Tür.

Ich machte sie auf und sah in sein Gesicht. Mit dem rechten Arm am Türrahmen angelehnt und die linke Hand an der Hüfte blickte er erst nach unten. Ohne mich anzuschauen betrat er schweigend mein Zimmer. Ich schloss einfach nach ihm die Tür und drehte mich um. Er setzte sich leise auf die Fenster­bank, nachdem er die Rollläden runter gelassen hatte. Es war auf einmal so dunkel in meinem Raum. Ich konnte kaum etwas erkennen, bis er eine schwarze Kerze anmachte und sie auf meinen Schreibtisch stellte. Und da war die Gruselstimmung wieder perfekt.

»Tz. Schleppst du die immer mit dir rum?«, fragte ich sarkas­tisch und stemmte meine Hände an die Hüfte.

»Ich wollte mich für vorhin entschuldigen«, warf er in den Raum und hatte einen reuevollen Blick. Der Satz kam so unerwartet, dass ich meine Hände sofort wieder gen Boden fallen ließ.

»Entschuldigen? Für was denn?«, fragte ich perplex und kam einen Schritt auf ihn zu.

»Ich habe mich etwas gereizt verhalten, nachdem wir wieder im Schulgebäude waren.«

Nachdem wir wieder im Schulgebäude waren? Meinte er nachdem wir draußen waren? Er spielte doch nicht etwa seine Reaktion nach unserem Kuss an?

»Ist ja verständlich«, murmelte ich vor mich hin und kratzte mich etwas am Nacken.

»Findest du?«, fragte er etwas erstaunt.

»Na ja, wenn ich vorher so einen Mist mache …« Ich musste meinen Blick abwenden. Bei so was konnte ich ihm einfach nicht in die Augen sehen. »Ist ja verständlich, wenn du dich dann etwas gereizt verhältst.«

»War also ein ‚Ausrutscher’ von dir?«, fragte er mit einem seltsamen Unterton.

Nein, war es nicht, aber das wollte ich ihm nicht sagen.

»Ja, wahrscheinlich …«

»So wie die letzten paar Male auch?« Der Unterton wurde immer stärker.

»Beim ersten Mal hast du aber gesagt, es war ein Ausrutscher von d -« Dann verstand ich. Mein Blick schweifte zu ihm. Seine Augen sahen enttäuscht aus. Auf eine sehr traurige Weise.

 

Langsam ging ich auf ihn zu. Ohne den Blickkontakt zu brechen, näherte ich mich meinem Bruder. Der bewegte sich kein Stück, beobachtete mich nur.

Als ich bei ihm war, legte ich meine Hände hinter ihn auf die Fensterbank und lehnte meinen Körper etwas an seinen. Da er auf der Platte lehnte, war er ein kleines Stückchen kleiner als ich. Vorsichtig legte ich meine Stirn auf seine. Sein Körper war so kalt, wie die Platte auf der er saß. Seine Haut so weiß, wie die Wand neben uns. Seine Augen so matt, wie ich sie noch nie vorher gesehen hatte.

»Alexander hatte uns gesehen …«, flüsterte er kaum hörbar, »Da dachte ich, ist es vielleicht besser, so zu tun, als wäre es ein Unfall gewesen …« Er senkte seinen Blick und schien Reue zu empfinden, da die Sache derart eskalierte.

»Ich denke, das war auch besser so …«, flüsterte ich zurück.

Kaum denkbar, was ich da tat. Ich umgarnte meinen Bruder? Ich genoss seine Nähe, spürte seinen Atem auf meiner Haut und wollte ihn hier und jetzt küssen. Seine zarten Lippen auf meinen spüren. Zum dritten Mal. Danach noch mal, und noch mal und dann am liebsten noch mal. Immer wieder, bis ich seine Reaktion sehen könnte.

»Hiro, wir …«, fing er einen Satz an, brach ihn jedoch ab. Ich kam immer näher und legte meinen Kopf schon etwas zur Seite. Meine Augen fixierten nur noch seine Lippen, die ich an­steuerte. Was zur Hölle tat ich da? Was zur Hölle taten wir da?

Millimeter vor unseren Lippen, fuhren wir vor Schreck wieder auseinander.

»Hiro? Hiro, kommst du bitte runter? Du musst dich doch verbinden lassen«, rief Vater von unten. Ich seufzte und wendete meinen Kopf endgültig zur Seite. Er drehte seinen Kopf ebenfalls etwas zur anderen Seite und drückte seine Lippen aufeinander. Wir beide waren ziemlich erschrocken, da man in diesem Haus nicht ungestört sein konnte. Ich haute einmal kurz mit beiden Händen auf die Platte und ließ dann seufzend von ihm ab.

»Sorry …«, murmelte ich und begab mich aus meinem Zim­mer. Kiyoshi schien noch da zu bleiben.

Meine Gesichtsfarbe wurde dermaßen rot, dass ich meine kalten Hände gegen die Wangen hielt, in der Hoffnung, sie würden ihre Naturfarbe wieder erreichen. Einerseits war ich schockiert über das, was ich tun wollte, andererseits war ich wieder wütend, weil wir unterbrochen wurden. Ständig kam irgendwer dazwischen.

 

Mäßig trabte ich die Treppe runter und erblickte schon meinen Vater im Esszimmertisch. Ich betrat den großen Saal.

»Muss das denn sein?«, fragte ich etwas nörgelnd, als Vater schon im Verbandskasten kramte.

»Es ist auf jeden Fall nicht schlecht. Außerdem heilt die Wunde besser, wenn sie geschützt ist.«

»Sie heilt aber auch an der frischen Luft besser«, fügte ich hinzu. Außerdem sollte mich lieber wieder Kiyoshi verbinden. Das wäre viel angenehmer. Aber Vater schöpfte wahrscheinlich Verdacht. Oder er hatte schon wieder seine geheimen Augen auf uns gerichtet, die die Kunst besaßen, uns immer im falschen Moment zu unterbrechen. Er wollte es also unterbinden, mit allen Mitteln.

»So ist es besser, Hiro, glaub mir.« Er lächelte freundlich und sprühte mir etwas auf die Wunde. Es brannte kurz, doch so schnell wie mein Vater gesprüht hatte, klebte auch schon ein Pflaster auf der Wunde.

»So, das war’s schon. Geh dich bitte duschen; lass das Pflaster drauf.«

»Stinke ich so?«, spaßte ich. Doch die Miene meines Vaters wurde schlagartig ernst.

»Du weißt, was ich meine. Blutgeruch in diesem Haus ist nicht ungefährlich«, sprach er anmutig mit einem tadelnden Blick.

»Tut mir Leid, ich weiß«, murmelte ich schüchtern und ging aus der offenen Tür. ‚Blutgeruch ist in diesem Haus nicht ungefährlich’? Der hat gut Reden. Der einzige, der mich anfallen würde, wäre wahrscheinlich Kiyoshi. Und das wäre eine Sache, die ich nicht abweisen würde. Ich wünschte, er würde noch in meinem Zimmer sitzen und auf mich warten, damit ich die Tür hinter mir schließen und zu ihm kommen könnte. Damit ich seinen kalten Körper auf meinem spüren und seine zarten Lippen berühren könnte. So oft, bis es Nacht wäre, damit ich die Kerze ausmachen, ihn in mein Bett nehmen und seinen Porzellankörper mit Vorsicht genießen könnte.

 

Widerliche Gedanken. Würde er jetzt an mir vorbeilaufen und mich dabei berühren, könnte ich nicht mehr an mich halten. Glaubte ich jedenfalls und hoffte, er würde nicht mehr in meinem Zimmer sein.

Obwohl ich es hoffte, war die Enttäuschen groß, als er wirklich nicht mehr da war. Seine Zimmertür war geschlossen. Auf dem Gang war nichts zu hören. Selbst von unten kam kein Geräusch. Ein richtiges Geisterhaus.

Ich schnappte mir meine nötigen Sachen und begab mich Richtung Bad. Meine Schuluniform war auch schön blut­durchtränkt. Wenn Mom das sehen würde, dächte sie wahr­scheinlich, ich hätte mich geprügelt.

Vorsichtig klopfte ich an der Badtür. Als nichts kam, trat ich ein. Ich schaltete das Licht ein, legte meine Sachen auf die Marmorplatte neben dem Waschbecken und fing an mich auszuziehen. Bis jetzt kam Kiyoshi bei jedem meiner Bad­besuche dazu. Jetzt wäre eine gute Gelegenheit.

Ich ließ die Boxershorts an und kramte eine Bürste hervor. Sorgsam kämmte ich mir die Haare. Danach hing ich mir schon mal mein Handtuch um die Schulter, ordnete meine Zahn­bürste im Zahnputzbecher, legte die Zahnpasta dazu, dann doch wieder daneben, machte das Wasser im Waschbecken an, wusch mir die Hände, machte es wieder aus, trocknete mir bestimmt zwei Minuten lang die Hände ab.

Alles nur, um Zeit zu schinden. Doch er kam nicht. Ich zog mir die Boxershorts aus und schmiss sie auf den restlichen Kleidungshaufen. Etwas enttäuscht stieg ich in die Dusche. Das tolle Wassersystem langsam kapiert, machte ich das Wasser warm und wusch das Blut ab. Es tat etwas an der Wunde weh, war aber durch das Pflaster recht aushaltbar.

Nach ein paar Minuten war ich fertig und begab mich aus dem Milchglasgestell. Mit nur einem Handtuch um die Taille griff ich wieder zur Bürste und kämmte mir die Haare. Ich ließ mir mächtig Zeit. Ich probierte verschiedene Scheitel aus und drehte und wendete die Haare, wie ich es für lustig hielt. Als mir der Spaß daran vergangen war, nahm ich mir vor, den Föhn zu suchen. Ich fing unter dem Waschbecken an, dort war er nicht. Dann ging ich zum weißen Schränkchen, ebenfalls ohne Erfolg. Ein weiteres Regal stand neben der Dusche, doch auch da war kein Föhn zu sehen. Seufzend drehte ich mich wieder zum Spiegel.

 

Ich war schon verrückt. Innerlich hatte ich gehofft, dass Kiyoshi reinkommen und mir den Föhn selbstsicher und arrogant hinlegen würde, mit dem Kommentar: »Suchst du den?«. Ich würde wieder einen auf locker machen und fies grinsen, einen gemeinen Spruch loslassen. Er würde die Augen verdrehen und wieder aus dem Bad gehen, während ich mich über seine Perfektion ärgern würde. So wie am Samstag. So, als ich noch ein Mensch war.

Vorsichtig berührte ich den kalten Marmor. Mein Blick fiel nach vorne. Die Kreatur hatte sich seit dem letzten Blick in den Spiegel nicht verändert. Ausgelaugt und tot. Ich senkte etwas den Kopf ohne dabei mein Spiegelbild aus den Augen zu lassen. Ein Grinsen huschte mir über die Lippen. Dann musste ich kopfschüttelnd lachen.

»Armer Irrer …«, murmelte ich vor mich hin und wiederholte damit Kiyoshis Worte von heute morgen. Ja, das war ich wohl.

 

Ich zog mir einfach eine Boxershorts an. Eine schwarze Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt sollten für den Rest des Tages reichen. Seufzend verließ ich das Bad, mit einem Haufen von Schmutzwäsche. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, kam Mamoru von der Treppe aus angerannt.

»Herr Hiroshi, das nehme ich«, sagte er hektisch und schnappte sich meinen Haufen Wäsche. Noch etwas perplex über die plötzliche Abnahme, sah ich ihm hinterher, wie er zu Kiyoshis Zimmer kam und klopfte.

»Ja?«, brummte es.

»Herr Kiyoshi, ihre Wäsche bitte.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein ganzer Korb, der bis zum Rand mit Wäsche voll war, wurde durch diesen gereicht. Mamoru hatte zwar seine Schwierigkeiten beide Dinge zu koordinieren, schaffte es im Endeffekt aber doch und rannte wieder an mir vorbei. Hastig eilte er die Treppe runter und war dann nicht mehr zu hören. Innerlich grinste ich zwar, wurde aber schnell wieder vom Gedanken eingeholt, dass er ebenfalls ein Vampir war. Ich hörte noch das Klacken von Kiyoshis Tür. Sofort drehte ich mich um. Doch er blieb in seinem Zimmer. Sollte ich zu ihm gehen? Ob er das überhaupt wollte?

 

Ich ging schnurstracks zu meinem Zimmer. Ich traute mich einfach nicht, in seins zu gehen. Es war das Zimmer, wo er mich gebissen hatte, wo ich mein Schicksal besiegelt hatte, wo die Gruselstimmung noch heftiger als im Rest des Hauses war. Vorsichtig schloss ich die Tür und setzte mich auf mein Bett. Es war schon kurz nach sieben. Ich hatte ja viel Zeit totge­schlagen.

Geschafft ließ ich mich nach hinten fallen. Die weichen Kissen fingen meinen Körper sanft auf und luden zum Schlafen ein. Doch war ich nicht müde. Trotzdem schloss ich die Augen und genoss die weitere Stille. Mein Zimmer war noch immer dunkel. Als dann auch noch der Rest der Sonne hinter dem Wald verschwand, wurde es stockduster. Nach einiger Zeit öffnete ich meine Augen und tastete mich zu meinem Handy vor. Mit dessen Licht schlich ich zum Schreibtisch. Vorsichtig zog ich an einer Schublade und sah die Streichhölzer, die Kiyoshi benutzt hatte. Ich zündete die schwarze Kerze an, die noch an ihrem Platz stand. Mein Raum wurde schlagartig hell und als würde es Tag sein, konnte ich jede Einzelheit erkennen. Kopfschüttelnd packte ich mein Handy in eine Tasche der Jogginghose. Ich schob den edlen Stuhl etwas zur Seite, setzte mich drauf und starrte, während ein Bein auf dem anderen lag, die Kerze an. Sachte ließ ich mich etwas im Stuhl sinken. Verschwörerisch betrachtete ich das flackernde Licht. Das Mystische hatte es mir doch angetan. Ich bekam Lust auf feinfühlige Dinge, Verschnörkelungen jeglicher Art schwirrten mir im Kopf rum, während ich den Drang empfand meinen Kleidungsstil zu wechseln in ein noch düsteres Aussehen, ein Aussehen, das meiner jetzigen Lebenslage entsprach.

 

Dann lachte ich laut. Mit dem Kopf im Nacken, legte ich die linke Hand auf meine Stirn.

»Hiro, du wirst irre … Kiyoshi, du machst mich verrückt«, flüsterte ich in die Stille und behielt immer noch ein Grinsen auf den Lippen. Ich sollte ihn vergessen. Das wäre das Beste. Immerhin war er mein Bruder, ich war mit ihm verwandt und eine Liebe zwischen uns wäre undenkbar. Liebe? Wieso dachte ich über eine Liebe nach? Ich kenne den Kerl seit vier Tagen und ‚liebe’ ihn schon? So schnell geht das? Ausgerechnet einen Typen? Hätte es nicht wenigstens eine Schwester sein können?

Meine Hand wanderte über meine Augen, die wieder im Begriff waren sich mit Tränen zu füllen. Ich stellte also eine ‚Liebe’ nicht außer Frage, ich dachte noch nicht mal darüber nach, ob es sie überhaupt gab.

Mein Herz war so schwer. Nicht nur wegen Kiyoshi. Auch weil ich in so einer schrecklichen Lage war. Ich wollte nur noch nach Hause.

 

Als ich eine Weile noch auf dem Stuhl saß und die Kerze betrachtete, beschloss ich ins Bett zu gehen. Vorher schlurfte ich aber noch ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Innerlich hoffte ich wieder auf die Erscheinung Kiyoshis auf dem Flur, doch natürlich traf ich ihn nicht. Er geisterte entweder in seinem oder in meinem Zimmer rum. Wahrscheinlich hat er letztens die Küche das erste Mal in seinem Leben gesehen.

Schweigend und recht down mit der Stimmung, schlurfte ich den matt beleuchteten Gang entlang. Während ich lustlos meinen Weg ging, holte ich mein Handy raus, sah kurz auf die Uhr und packte es wieder weg. Es war schon zwanzig vor acht. Jedoch war es schon so still im Haus, dass es auch mitten in der Nacht hätte sein können. Die Familie, die früh ins Bett geht. Wenigstens leide ich so nicht mehr unter Schlafmangel, dachte ich sarkastisch und ärgerte mich über die vergeudete Zeit. Doch was sollte ich schon tun? Im Haus herumschleichen und dabei den Rest zu erkundigen fand ich nicht so prickelnd, da mir immer noch der Schreck durch die Gliedmaßen fuhr, wenn ich ein Geräusch hörte.

Als ich an meiner Tür stand und sie grade geschlossen hatte, sah ich den goldenen Schlüssel. »Hier ist der Schlüssel für dein Zimmer. Sperr dich bitte nachts ein, das ist eine Bitte von mir.«

Wofür? Mein Vater hatte seltsame Vorstellungen. Wenn jemand mein Zimmer betreten will, schafft er es auch, wenn sie abgeschlossen ist. Immerhin sehe ich das ja an Mamorus Kunst Schlösser zu knacken und an Kiyoshis Kraft sie zu zerstören. Also wenn, dann schafft man es auch so.

Ich ließ den Schlüssel einfach im Schloss stecken und beließ es dabei. Vorsichtig mümmelte ich mich ins Bett und kuschelte mich in die weichen Kissen. Das Bett roch immer so gut und frisch, dass ich mich wohlmöglich noch daran gewöhnen würde. Hätte meine Mutter schlechte Karten.

 

Ich stand aber noch kurz auf, um die Kerze auszumachen. Sanft pustete ich die Flamme aus. Wenige Sekunden später, lag ich wieder im Bett.

Es dauerte auch nicht lange, da döste ich schon. Kurz kam mir der Gedanke, dass meine Mutter sich nicht gemeldet hatte. Normalerweise rief sie ja reden Tag an, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich dann auch keine Lust mehr wieder aufzustehen, das Licht anzumachen und mit ihr zu telefonieren. Das könnte auch bis morgen warten. Vielleicht war sie grade mit ihrem Weiberhaufen in irgendeinem Lokal und gackerte sich einen ab. Da vergaß sie mich schon mal gern.

 

Endgültig im Traumland angekommen, sah ich mich wieder am Grab. Mein eigenes Grab. Doch der Traum war nicht so erschreckend, wie er es beim ersten Mal war. Es war als würde alles so schnell gehen. Ich sah die Gräber, mein eigenes, sah Kiyoshi, wie er auf mich zukam, mit dem Gesicht eines Monsters, mich festhielt, ich seinen Atem auf meiner Haut spürte, seine etwas kratzige Stimme in meinen Ohren hörte, wie sie meinen Namen rief, wie sein Porzellankörper an meinem hing und ich seine Berührungen in vollsten Zügen genoss. Jedoch hatte ich die ganze Zeit das Gefühl wir würden beobachtet werden. Augen, nicht nah, aber schon in der Nähe, die uns beobachteten. Die wir nicht sehen konnten, aber sie uns. Ein mulmiges Gefühl, ich wollte es Kiyoshi sagen, sagen, wie mir zumute war, dass wir besser aufhören sollten, doch aus meinem Munde kam kein Geräusch. Nicht mal ein Ton. Er verstand mich nicht ganz, wieso ich auf einmal aufhörte, sah beleidigt aus, wie ein kleines Kind, doch als ich ihn zur Versöhnung auf die Lippen küssen wollte, spürte ich nur einen Schmerz in meiner Brust. Sie fing an zu Bluten. Kiyoshi sah geschockt aus, schien aber auch Schmerzen zu haben. Mein Blick fiel hinter ihn, auf Vater, wie er unsere Herzen in den Händen hielt, sie feste drückte und finster in die Welt sah. Seine Augen verformten sich zu Schlitzen, während seine Lippen eine gerade Linie bildeten. Sein Anblick ließ mich zittern, mir wurde kalt und warm zugleich. Ich dachte, es würde etwas von Verboten und Gesetzen reden. Doch ich hörte keine deutliche Stimme, sie erschien nur in meinem Kopf, der die Worte für mich wiederholte, damit ich sie verstehen konnte. Es war verboten, es war tabu, es war widerlich, was ich da tat. Kiyoshi und ich seien verdammt, seien Sünder.

Ja, Sünder war ein gutes Wort.

 

Ein Quietschen ließ mich aufhorchen. Mit klopfendem Herzen starrte ich die Zimmerdecke an. Das Quietschen kam noch einmal und endete mit einem Klacken. Es kam vom Gang. Dann kamen die Schritte. Sie näherten sich meinem Zimmer. Es waren die Schritte, die ich am ersten Abend ebenfalls gehört hatte. So auch an dem Abend danach. Letzte Nacht war ich wohl zu sehr in meinem Traum oder es war wirklich mal ruhig. Dieses Gefühl, nicht allein zu sein, machte mich verrückt. Natürlich war ich es auch nicht. Ich redete mir ein, es wäre Mamoru oder Vater. Vielleicht sogar Kiyoshi. Obwohl der ja nie sein Zimmer verließ.

Die Schritte wurden klarer, bis sie aufhörten. Doch es hörte sich nicht so an, als würden sie vor meiner Tür stehen bleiben. Vielleicht hatte wirklich jemand nur das Zimmer gewechselt. Doch dieses unberuhigte Gefühl wollte nicht verschwinden. Vorsichtig richtete ich mich von meinem Bett auf. Mit zusammen­gekniffenen Augen versuche ich zu erkennen, ob jemand vor meiner Tür stand. Doch der Spalt unter dem alten stück Holz wollte nichts preisgeben.

Es knarrte.

Sofort suchte ich nach etwas, womit ich mich verteidigen könnte. Doch Stifte bringen sicher nicht viel, eine Kerze ist auch nicht das wahre Selbstverteidigungsmittel und etwas anderes als den Stuhl ließ sich nicht ohne weiteres bewegen. Langsam und mit größter Vorsicht auch kein Geräusch zu machen, stand ich vom Bett auf und schlich zum Stuhl. Ich wartete einige Sekunden.

Die Türklinke senkte sich.

Langsam und etwas quietschend wurde die Tür geöffnet.

Ein kleiner Spalt gab eine weiße und dünne Hand preis.

Wieder öffnete sie sich etwas.

Mein Herz klopfte schon fast schmerzhaft in meiner Brust. Vater wollte, dass ich abschloss, ich tat es nicht und jetzt würde etwas passieren? Aber wer kam denn in unser Haus? Einfach so? Mit zittrigen Händen ergriff ich den Stuhl und hob ihn vorsichtshalber schon mal ein Stück an. Meine Knie wurden mit der Zeit immer weicher; Sekunden verstrichen, während meine Augen nach Anzeichen eines Fremden suchten.

Die Tür öffnete sich weiter, bis ein Fuß in mein Zimmer gesetzt wurde. Mit der Zeit wurde ein Körper sichtbar. Er war schmal und groß. Das fahle Mondlicht schien etwas durch die heruntergefahrenen Rollläden. Mein Atem stockte, als die Gestalt noch einen Schritt in mein Zimmer machte. Die Bewegungen waren langsam, aber geschmeidig, so durchdacht. Wie ein Vampir. Ich konnte auch nicht abstreiten, dass ich dieses Gefühl im Magen hatte, einem Vampir ausgeliefert zu sein. Ich war nicht nur in einem Nest voller Vampire, sondern auch noch im Speisesaal von denen. Wenn ich nur an den Schmerz an meinem Hals dachte, drehte sich mein Magen um und ich hätte schreiend weglaufen könne. Aber wohin? Wohl käme dann Vater oder Kiyoshi, um mir zu helfen. Doch ich wollte kein Baby sein, das unbedingt Hilfe brauchte. Auch wenn es vielleicht in meiner misslichen Lage verständlich gewesen wäre.

Die Person trat nun ganz in mein Zimmer. Das Mondlicht gab mir ihr Gesicht preis. Ich atmete auf.

»Kiyoshi, man. Was soll dieses Rumgeschleiche mitten in der Nacht?«, fragte ich sichtlich erleichtert und lies den Stuhl wieder auf dem Boden nieder.

Anstatt mir eine Antwort zu geben, schloss er hinter sich die Tür. Sein Ausdruck war kaum zu erkennen, da das fade Licht nur einen Teil seines Gesichts anleuchtete. Doch irgendetwas stimmte da nicht.

»Was ist denn los? Warum bist du hier? Kannst du nicht schlafen?«, wollte ich leicht zögerlich wissen, »Du solltest Nachts schlafen und nicht in der Schule, weißt du …« Ein Grinsen huschte mir über die Lippen. Doch von ihm kam immer noch nichts. Sofort versiegte mein Lächeln.

»Kiyoshi? Alles klar bei dir?« Wieder keine Antwort. Statt­dessen noch einen Schritt auf mich zu. Und noch einen. Dem folgten noch weitere kleine Schritte. Bis ich sein Gesicht vollständig erkennen konnte.

 

Die blutroten Augen starrten mich hungrig an, während seine weißen Haare sein ebenfalls weißes Gesicht etwas verdeckten. Seine kleinen Äderchen stachen blaugrün heraus. Als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und er dabei seine Fangzähne entblößte, wusste ich definitiv was er wollte.

»Kiyoshi, was auch immer schon wieder mit dir los ist … Das ist nicht mehr lustig«, versuchte ich die Situation zu erklären und ging schon einen Schritt zurück. Der Stuhl fiel mir wieder ins Auge, doch wenn ich den jetzt ergreifen würde, wäre ich in weniger als einer Sekunde Futter. Seine Aura war die aus der Schule. Seine ‚Verwandlung’ oder was auch immer das war, beängstigte mich nicht minder als vor wenigen Stunden. Hatte er sich jetzt auch unter Kontrolle? Ich betete dafür.

Er wendete seinen Blick kurz von mir ab, strich sich mit langen Fingernägeln durch die Haare und wendete den Blick wieder auf mich. Sein schwarzes Hemd lag ihm locker auf seinem Körper, wobei die Ärmel hochgekrempelt waren. Auf den Rest wollte und konnte ich nicht achten, da seine finstere Monstermiene mich viel mehr beschäftigte.

»Kiyoshi?«, wiederholte ich mit zittriger Stimme seinen Namen. »Kiyoshi, bleib stehen …«

 

Er setzte zum Sprung an, leckte sich noch einmal die Zähne, ging in die Knie und sprang auf mich zu. Mit seinem festen Griff packte er meine Schultern und drückte mich auf meine Bettdecke. Ich wollte schreien. Ich wollte um Hilfe rufen. Doch alles ging so schnell.

Da war dieses lähmende Gefühl. Dieses Gefühl wie beim ersten Mal, wo er auf mich losging. Vielleicht sah er schon damals so aus und ich hatte es nur nicht bemerkt.

Er knurrte auf. Er öffnete seinen Mund, vereinnahmte meine Augen gänzlich. Trotz seiner rohen Kraft, drückte er meine Handgelenke sachte in die Weiche der Decke und hielt meinen Körper mit seinem eigenen Gewicht in Schach. Aber als ob er nichts wiegen würde, spürte ich nur einzelne Körperteile von ihm auf meinen. Sachte saß er auf meiner Hüfte, atmete leicht und starrte mich an.

 

Seine linke Hand fasste meine linke Wange und drückte sie nach rechts. Sofort spürte ich seine Zunge, wie sie meinen Hals leckte. Wie sie gierig nach meinem Blut dürstete.

»Kiyoshi …«, flüsterte ich, sichtlich aufgeregt.

Er hörte nicht auf. Immer wieder spürte ich seine Zunge, seine Lippen, wie sie meinen Hals bearbeiteten. Ich versuchte mich trotz der Lähmung zu wehren, bewegte meinen Kopf hin und her, versuchte meine Hände zu bewegen, ihn von mir zu drücken. Doch alle Versuche brachten nichts. Trotzdem er mir schon wieder wehtun wollte, hatte ich nicht so viel Angst wie beim ersten Mal. Ich wusste, oder hoffte mehr, er würde mich nicht umbringen. Es tat zwar weh und verheilte nicht so schnell wie bei ihm selbst, war aber nicht sonderlich schlimm. Ich verlor nur ein paar Liter an ihn. Das war alles. Und ein Vampir war ich schon. Oder vielmehr: Würde ich ja noch werden. Das einzige, was mich in dem Moment fürchtete, war er selbst, wie er war, wie er sich verhielt. Er war nicht wie Kiyoshi, nicht mein launischer, arroganter Bruder, der alles weiß. Es war das Monster aus der Hölle, das versuchte mich auszusaugen.

Sekunden verstrichen, noch immer spürte ich seine Zunge. Hin und wieder küsste er mein Kinn oder beglückte mein Schlüsselbein mit seiner rauen Zunge. Ich konnte, um ehrlich zu sein, nicht verleugnen, es würde mir nicht gefallen. Es gefiel mir, es erregte mich auf eine Weise. Erst, als er kurz an meinem Ohr knabberte, hörte ich seine schnellen Atemzüge. Das brachte mich wohl um den Verstand. Jegliche Versuche, mich zu wehren, unterließ ich. Ich ließ ihn machen, was er wollte. Ob er mich nun beißen würde oder nicht, aber er sollte nicht damit aufhören.

Seine Lippen arbeiteten sich von meinem Ohr zu meiner Wange, bis ich seine Lippen an meinem Mundwinkel spürte. Sie küssten mich sachte an genannter Stelle, immer wieder und immer wieder. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf zu ihm. Seine Augen waren noch die gleichen. Diese roten Augen, die mich so beängstigten. Doch das war mir egal. Wieder küsste er mich auf den linken Mundwinkel, bis ich ihn mit meiner Nase etwas an der Wange berührte. Ich küsste ihn ebenfalls sanft auf seinen Mundwinkel.

Unsere Nasen berührten sich kurz …

Verboten

Unsere Nasen berührten sich kurz; ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Zögerlich fixierte ich seine zarten Lippen, aus denen seine Fangzähne blitzten. Einerseits starb ich vor Angst. Mein inneres Ich mochte meinen Gegenüber wohl nicht ganz so sehr wie mein Körper, mein Herz, meinen Kopf oder meine Seele. Doch mit verdrängter Angst genoss ich den Augenblick.

Ich spürte seine Lippen ansatzweise auf meinen. Er war so zögerlich. Ich ebenfalls, nichtwissend, wie weit ich gehen durfte. Kurz lösten wir uns, berührten uns wieder, diesmal stärker. Nach nur wenigen Sekunden küssten wir uns leiden­schaftlich, während unser Atem schneller wurde. Seine Lippen waren so weich und zart; er küsste so gut. So etwas hätte ich niemals gedacht, aber auf mir saß der ‚untote’ Beweis. Vorsichtig knabberte ich an seiner Unterlippe. Seine Hände ließen meine Handgelenke los, wanderten zu meinen Händen, umschlossen sie sanft, drückten mit der Zeit immer stärker zu. Zögerlich ließ ich meine Zungenspitze über seine Lippen wandern, traute mich kaum ihn darum zu bitten. Jedoch war das noch nicht mal nötig. Er öffnete seinen Mund, ließ meiner Zunge einlass und spielte mit ihr. Es fühlte sich so gut an. Hatte ich jemals einen so guten Kuss? Meine Exfreundinnen könnten nicht mit ihm mithalten. Nicht mal nach mehreren Kussübungen. Es fühlte sich einfach unglaublich gut an. Unsere Lippen rieben immer mehr aneinander, während unsere Zungen sich nicht voneinan­der lösen wollten. Immer wieder berührten sich unsere Nasen, der Atem lag des jeweils anderem auf der Haut, während uns hin und wieder ein kleines Geräusch unserer Stimme entfuhr. Es war so erregend, wie er auf meiner Hüfte saß. Ich löste mich von seinen Händen, legte sie sachte um ihn und drückte ihn an mich. Ich spürte seinen ganzen Körper auf meinem. Seine zarten Hände wanderten um meinen Nacken, während seine Fingerkuppen Gänsehaut auf meinem Körper verursachten. Sie waren kalt und im ersten Moment unangenehm, doch je länger sie mich kraulten, desto ange­nehmer wurde es. Unsere Lippen waren wie verschmolzen. Immer wieder küssten wir uns aufs neue, mal mit Zunge, mal ohne. Meine Finger strichen über seinen Rücken, bis sie eine freie Stelle seiner Haut entdeckten. Vorsichtig strichen sie das Hemd beiseite, fuhren unter das schwarze Kleidungsstück und streichelten seine zarte Porzellan­haut. Es schien ihm ebenfalls zu gefallen, da seine Küsse energischer wurden, während ich eine langsam steigende Erregung in meiner Hose nicht mehr unterdrücken konnte. Im ersten Moment dachte ich: Das ist gar nicht gut, ganz und gar nicht. Aber im zweiten vergaß ich den Gedanken sofort wieder und widmete mich meiner leidenschaft­lichen Zuwendung. Ich konnte meine kleine Erregung nicht mehr weiter unterdrücken; war mir nicht sicher, ob ich da nicht auch eine weitere an meinem Bein spürte?

Mit einem Ruck drückte ich ihn in mein Kissen. Unsere Lippen lösten sich dabei nicht, unsere Hände berührten den jeweils anderen und genossen die Nähe. Während seine zarten Finger in meinem Nacken ruhten, strich ich ihm über sein Hemd und begab mich an den ersten Knopf. Ich löste mich von seinen Lippen, küsste mich vom Kinn bis zum Hals runter.

»Hiro …«, hörte ich ein leises Flüstern. Kurz löste ich mich von seinem Schlüsselbein und sah ihm tief in die Augen. Seine Augen glänzten mich an, bettelten um etwas, das er brauchte. Ein fieses Grinsen huschte mir über die Lippen. Unbesorgt machte ich weiter. Ich knöpfte die weiteren Knöpfe auf, küsste ihn an seiner Brust.

»Ja?«, flüsterte ich nach einer Weile auf meinen Namen.

Sachte strich ich über seinen Oberkörper, genoss jeden Millimeter Haut, spürte sein Beben der Brust. Es war unge­wohnt einen männlichen Körper zu beglücken, doch machte es weitaus mehr Spaß, als irgendeinen Frauenkörper zu nehmen. Lag es daran, dass ich es ausnahmsweise mal wirklich wollte? Ich wusste nicht genau, was zu tun war, küsste mich aber über seinen Brustkorb entlang und spielte mit meiner Zunge an seinen Brustwarzen. Als er kurz aufstöhnte, wusste ich was zu tun war. Nach nur wenigen Sekunden waren sie hart geworden. Vorsichtig fing ich an, an ihnen zu knabbern, sachte drückte ich immer wieder meine Zähne auf sie. Sein bebender Körper war so anreizend.

»Hiro …«, wiederholte Kiyoshi meinen Namen, diesmal etwas deutlicher. Genussvoll leckte ich ihm über seine Brust, küsste mich wieder zu seinem Hals, bis ich ihm meine Lippen aufdrückte. Nachdem wir uns wieder einem leidenschaftlichen Kuss hingegeben haben, nahm ich seinen Kopf in meine Hände und erkundete mit meiner Zunge seinen Kiefer.

»Hiro … Bitte …«, flehte er schon fast in mein Ohr. Seine Stimme klang rau und ausgetrocknet. Ich ließ kurz von ihm ab, genoss unsere Körperberührung und küsste ihn.

»Niemand hält dich davon ab …«, flüsterte ich ihm entgegen. In Sekundenschnelle umschlangen mich seine Arme und drückten mich gegen ihn. Meine Haare fest in der Hand, den Kopf zur Seite gerichtet, spürte ich den hungrigen Blick auf meinen entblößten Hals. Noch spürte ich seine Zunge, die Küsse und wartete auf den blutigen Schmerz.

 

Auf einmal riss mich etwas am Arm von Kiyoshi weg, schleu­derte mich auf den Boden. Ich hörte Stimme meines Bruders, wie er ‚Nein’ rief, mehrmals hintereinander. Dann drehte ich mich entsetzt wieder zum Geschehen.

»Der Faden reißt, eindeutig!«, schrie Vater und packte Kiyoshi an den Schultern. Mehrmals schüttelte er ihn, während Mamoru das Licht einschaltete. Vater riss meinen Bruder aus dem Bett, schubste ihn zu Mamoru, der ihn im Klammergriff aus meinem Zimmer beförderte, wobei Kiyoshi seine mutierte Form noch beibehielt. Dann verschwanden beide. Zurück blieben mein Vater und ich. Ich musste mich noch vom rauen Griff meines Vaters rehabilitieren. Es tat ziemlich weh. Mein Arm schmerzte be­achtlich, während mich mein Vater mit verachtendem Blick ansah. Eine Weile hörte ich noch Kiyoshis Schreie, bis sich eine Tür schloss und endgültige Stille eintrat.

»Hast du das beabsichtigt?«, schrie mein Vater auf einmal. Ich zuckte heftig zusammen. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Nur damals gehört, aber nicht gesehen. Ich hatte Angst und zwar richtig.

»… W-Was? Was beabsichtig?«, stotterte ich und sah ver­ängstigt zu meinem Vater auf, da ich noch auf dem Boden hockte.

»Dass dein Bruder hier rein kommt! Was hast du dir dabei gedacht, die Tür nicht abzuschließen? Und was um alles in der Welt war das gerade eben? Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt?« Seine Stimme bebte in meinen Ohren, ließ mich erstarren und zittern. Ob es daran lag, dass er ein Vampir war oder dass meine Mutter nie so schreien konnte, war mir in dem Moment egal. Mein Vater stand vor mir, schrie mich an, war wütend und ich hatte das Gefühl, er würde mich jeden Moment töten wollen.

»Ich … Ich dachte …« Weiter kam ich nicht. Meine Stimme versagte und Tränen kullerten mir über die Wange. Wie ein kleines Kind hockte ich auf dem Boden, hielt mir vor Schmer­zen den Arm und winkelte meine Beine an.

»Ich meine es Ernst!«, schrie Vater wieder, packte mich erneut am Arm und zog mich zu ihm hoch. Es war zum Glück der Andere, schmerzhaft war es trotzdem.

»Ich meine es wirklich Ernst, Hiroshi! Du und Kiyoshi seid Brüder, so etwas tut man nicht. Andere Rasse hin oder her. Ich hatte Befürchtungen, ihr würdet euch nicht ausstehen können, da ich Kiyoshis Verhalten gut kenne. Aber wenn ich so etwas sehe, habe ich wohl das Gegenteilige bewirkt.« Meine Tränen flossen immer weiter. Ich wusste ja selbst nicht, was Kiyoshi für mich war. Es war ein Fluss des Begehrens. Ob es daran lag, dass wir Zwillinge waren? Und diese magische Anziehungskraft zwischen uns schon natürlich hervorgerufen wurde? Oder ob es wirklich um Kiyoshi ging, wusste ich nicht. Aber wieso konnte ich ihm das nicht sagen? Jegliche Worte blieben mir im Hals stecken.

»Hiroshi, ich will das nie wieder sehen! Falls doch, schicke ich Kiyoshi für die Zeit, die du zur Verwandlung brauchst, auf ein Internat. Damit das klar ist: Auf dich wartet dann auch eine Strafe!« Seine Stimme beruhigte sich etwas, war aber noch immer beängstigend. »Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«, schrie er mir plötzlich wieder entgegen. Schnell nickte ich und zeigte ihm deutlich, dass er mich loslassen solle. Er sah mich noch eine Weile finster an, ließ dann von mir ab und verließ meinen Raum. Mit einem lauten Türschlag trat Stille in mein Zimmer ein.

Laut schluchzte ich auf, beugte mich nach vorne und ließ meinen Tränen freien lauf. Ich konnte mich kaum mehr beruhigen. Immer wieder gluckste ich und weinte laut. Meine Arme schmerzten, wobei der rechte mehr weh tat; mein Herz schlug wie verrückt, Tränen verschwammen mir die Sicht. Ich kniff fest die Augen zusammen, wollte alles einfach verdrängen, aus meinem Kopf bekommen. Doch alles blieb, wo es war. Die Bilder, die Gedanken, die Gefühle. Mit einem Mal ließ ich mich auf dem Boden fallen. Auf dem Bauch liegend, legte ich meinen Kopf in meine Arme und weinte bitterlich. Die Tage hier waren so grausam. Jeden Tag weinte ich. Sei es aus banalen oder aus wirklich für mich schrecklichen Gründen. Ich wollte nach Hause. Mit Kiyoshi. Dort würde er nie geschlagen werden. Dort würde meine Mutter ihn lieb haben, jedenfalls würde ich dafür sorgen. Aber würde meine Mutter das so hinnehmen, wenn sie mich in so einer Lage mit Kiyoshi erwischt hätte? Ich wollte es gar nicht wissen. Dass Vater uns erwischt hatte, war schlimm genug. Die Schreie von Kiyoshi, als er weggezogen wurde, ließen mich noch mehr weinen.

 

So ging es noch weitere Minuten. Vielleicht auch schon fast Stunden? Ich weinte so lange, bis ich gar nicht mehr genau wusste, wieso ich eigentlich weinte. Doch das mulmige, schwere Gefühl in meinem Körper ließ mich nicht aufstehen. Erschöpft und ausgelaugt blieb ich auf dem Boden liegen und weinte noch ein wenig. Hin und wieder schluchzte ich kurz auf. Bis ich vor Erschöpfung einschlief.

 

Die Sonne schien in mein Zimmer und schmerzte auf meiner Haut. Noch im Halbschlaf drehte ich mich auf die Schattenseite meines Bettes. Langsam öffnete ich meine Augen. Ich starrte auf meinen Schreibtisch. Vorsichtig drehte ich mich um und blinzelte nach draußen. Ein neuer Tag stand vor dem Fenster, lächelte mich schon fast an und zeigte mir, wie glücklich alles war. Mein Gesicht verzog sich und ich wurde wütend. Mit einigen Schmerzen in den Gelenken errichtete ich mich und stand auf. Mein Blick fiel auf meine Arme.

»Oha …«, brachte ich raus und starrte auf die roten Streifen um meine Oberarme. Sie waren rot, blau und grün in einem. Richtige Quetschungen. Noch taten sie etwas weh, aber es war aushaltbar. Langsam schlurfte ich zum Fenster und ließ die Rollläden so runter, dass nur durch die kleinen Schlitze Licht in mein Zimmer kam. Ich setzte mich auf mein Bett und sah mein Handy unter dem Nachttischschränkchen liegen. Es musste wohl rausgefallen sein. Ich bückte mich kurz, nahm es und sah auf das Display. Es war schon zehn nach zehn. Und ich hatte zwei SMS.

Die eine war von Jiro.

»Hey Hero. Muss mein Handy jetzt schon abgeben, gibt’s einfach nicht! L Pass auf dich auf und hab Spaß, denk an mein Angebot mit der SMS! Bis dann! Hadde!«

Ich grinste matt und drückte sie weg. Zurückschreiben würde eh nichts bringen, außer er wollte in drei Wochen eine SMS von mir sehen, wie ich ihm auch viel Spaß für seinen schon vergangenen Urlaub wünschte.

Die andere war von meiner Mom. Schon erfreut, dass sie an mich gedacht hatte, öffnete ich sie.

»Hiro, dein Vater hat mich vorhin angerufen. Ich hoffe, dass du eine gute Erklärung für dein Verhalten hast. Wir telefonieren heute Nachmittag, wenn ich von der Arbeit zurück bin.«

Das war’s. Kein Tschüss, kein ‚Ich liebe dich’, kein ‚Mein Schatz, pass auf dich auf’ oder sonstiges. Vater hatte sie angerufen und geplaudert, was letzte Nacht war. Jetzt wusste sie be­scheid? Oder hatte er ihr nur von meinem ‚Verhältnis’ mit Kiyoshi erzählt? Wahrscheinlich …

Eine Träne floss über meine Wange auf das Display meines Handys. Traurig drückte ich die SMS weg und legte es wieder auf das Nachttischschränkchen. Ich wischte mir die restlichen Tränen aus dem Gesicht und seufzte leise. Jetzt war meine Mutter auch noch gegen mich? Was würde ich ihr denn erklären? Am besten die Wahrheit. Aber zur Wahrheit gehörte auch die Sache mit dem Beißen. Allein deswegen hatte ja alles angefangen. Nur deswegen. Deprimiert und ziemlich down, hockte ich auf meinem Bett und dachte über die Geschehnisse nach, wobei sich meine Gedanken immer und immer wieder wiederholten. Ein klares Zeichen bei mir für Verzweiflung. Langsam glaubte ich auch, keinen Ausweg mehr zu finden. Sonst fand ich immer einen, auch wenn er nicht der ange­nehmste war, so war er doch ein Fluchtweg aus meiner misslichen Lage. Aber jetzt? Nicht mal einen Ansatz von Hoffnung.

 

Draußen zwitscherten die Vögel fröhlich vor sich hin. Die Sonne verschwand manchmal hinter den Wolken, die sich anbahnten. Doch trotzdem kam sie immer wieder raus und schien warm in mein Zimmer rein. Ich ließ mich in mein Bett fallen und drückte mein Gesicht ins Kissen.

Ich roch seinen Geruch. Den süßlich, herben Geruch von ihm. Ich liebte ihn so. Sanft schloss ich die Augen und genoss die restlichen Züge, die ich von letzter Nacht übrig hatte. Ob wir es wirklich getan hätten? Immerhin waren wir gut davor. Ich wollte Sex mit ihm und hätte es beinahe geschafft. Dafür, dass ich keine Ahnung von dem hatte, was ich da tat, hielt ich es für ganz gut gelungen. Allein der Gedanke an die Hand­lungen, die ich ausübte, ließen meine Lust steigen. Sofort schüttelte ich innerlich den Kopf und wollte das vergessen. Kiyoshi war jetzt in der Schule. Und würde Vater uns noch mal er­wischen, würde Kiyoshi dann für mich nicht mehr zugänglich sein. Internat … Und das wegen mir. Irgendwo knabberten heftige Schuldgefühle an mir, aber andererseits war er auch selbst Schuld daran. Er kam in mein Zimmer, konnte nicht von mir ablassen, wie ein Tier stürmte er auf mich zu, überrumpelte und verführte mich. Natürlich wechselte die aktive Position schnell in meine Wenigkeit, aber das hielt ich für nebensächlich. Hauptsache war, dass er damit angefangen hatte. Meine Gedanken waren kindisch, beruhigten mich aber in einer Weise.

Ich schloss meine Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Sein Gesicht erschien mir kurz in meinem Kopf. Wie er leise meinen Namen flüsterte. Wie er mich um Blut bat. Ich hätte es ihm gegeben. Bedingungslos. Ich seufzte.

 

Vorsichtig erhob ich mich und sah mich in meinem Zimmer um. Ich sollte mir langsam eine Antwort ausdenken, die ich meiner Mutter entgegenbringen würde. Langsam stand ich auf und ging zur Tür. Mit einem leisen Quietschen drückte ich die Klinke runter und ging aus meinem Zimmer. Der goldene Schlüssel steckte noch auf der Innenseite. Warum sollte ich abschließen? Wenn Kiyoshi dann kommt, wollte ich es erst recht nicht. Trotzdem wollte ich es genauer wissen, traute mich aber nicht im Geringsten direkt zu meinem Vater zu gehen und zu fragen.

Brauchte ich auch gar nicht.

Er stand unten im Foyer und blätterte in einem Haufen Blätter, die er in einem großen Aktenordner, den er trug, hatte. Ich stand regungslos an der Treppe und wusste nicht ganz, was ich genau wollte. Sein Blick huschte zu mir. Mit ausdrucksloser Miene betrachtete er mich. Wie ein Häufchen Elend stand ich wahrscheinlich an der Treppe; hatte eine Hand auf dem Geländer liegen, verheulte Augen, keine richtige Haltung, da mir alles wehtat und trug noch immer meine Jogginghose mit T-Shirt.

»Guten Morgen, Hiroshi«, sagte er monoton, war dennoch freundlich.

»Guten … Morgen …« Ob er noch sauer war? Vorsichtig schlurfte ich die Treppe runter und versuchte jeglichen Augenkontakt zu vermeiden.

Plötzlich huschte Mamoru an mir mit einem riesigen Wäsche­korb vorbei nach oben. Ich erschrak und sprang noch weiter zum Geländer.

»Entschuldigen Sie, junger Herr Hiroshi«, sagte Mamoru in seiner Eile und verschwand direkt wieder im Gang. Noch sichtlich erschrocken sah ich auf die Stelle, wo er verschwunden war.

»Hiroshi, ich möchte mit dir reden.« Sofort wendete ich meine Augen wieder zu Vater. Er sah ernst aus und schien keine Scherze mehr zu machen. Ich schluckte heftig und schlich weiter die Treppe runter. Mein Herz schlug gegen meine Brust, während ich schon fast vor Angst starb. Er ging ins Esszimmer und setzte sich an den großen Esstisch, während er mir meinen Stuhl halb neben sich zeigte. Nachdem ich mich links neben ihn setzte, trennte uns nur die Ecke des Tisches.

»Du weißt, dass ich gestern ziemlich wütend war«, fing er an. Ich nickte stumm und sah betrübt auf den Tisch. Ich wollte auf keinen Fall hochsehen. »Was läuft zwischen dir und Kiyoshi denn genau?«

Sofort weiteten sich meine Augen. Hilflos sah ich dann doch zu ihm auf und öffnete meinen Mund. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Vater lockerte seinen Blick ein wenig, da meiner anscheinend sehr entsetzt wirkte.

»Ich will das nicht wissen, um dir darüber eine Moralpredigt zu halten. Ich will das wissen, um im Klaren zu sein, wo ihr beide steht, damit ich das Schlimmste verhindern kann.«

Das Schlimmste klang sehr harsch.

»Hiro, bitte.«

Ich öffnete meinen Mund und versuchte einen Ton durch meine Lippen zu schieben.

»Was … genau willst du denn wissen?«

Er schien erleichtert, dass ich noch reden konnte. »Am besten alles, was du mir erzählen kannst.«

»Äh …« Ich stockte. Wo sollte ich denn anfangen? Ich wusste ja selbst noch nicht mal, wo das ganze anfing. »Ich bin mir nicht sicher, was genau passierte, aber …«

Sein Blick schien interessiert, doch abweisend zugleich. Er wollte das wahrscheinlich wirklich nur wissen, um unsere Beziehung zu Nichte zu machen und nicht, um sie in irgend­einer Weise zu fördern.

»Kiyoshi … tat es Leid mich gebissen zu haben … Im Bad, als ich so blutete, wusch er es mir ab. Da war so eine Ver­bindung. Ich glaube, wir beide wussten nicht ganz … was wir taten …« Meine Stimme wurde gegen Ende immer leiser.

»Was habt ihr denn gemacht?«

Ich presste meine Lippen aufeinander. Meine Wangen er­röteten leicht, während ich vor Scham meine Hände zwischen den Knien zusammendrückte.

»… Wir haben uns … geküsst …« Sofort drückte ich meine Augen zusammen und hoffte, er würde nicht handgreiflich werden. Denn das traute ich ihm in dem Moment zu.

»Geküsst?«

Ich nickte.

»Verstehe.«

Er klang wirklich mal verständnisvoll. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah ihn an. Seine großen Hände lagen sachte gefaltet auf dem Ebenholzesstisch, während seine Augen auf den Tisch sahen.

»Ist diese Art von Zuneigung zwischen euch schon öfter vorgekommen?«

Ich schwieg kurz.

»Welche … Art meinst du? Dass wir uns …?«

»Ja.«

»Vor dem letzten Mal … Zweimal … und …« Ich stockte.

»Und?«

Zögerlich hob ich die Schultern kurz an.

»… und mehrere Versuche.«

»Was war denn dazwischen gekommen? Sicher nicht die Vernunft.« Der Satz stach etwas in meiner Brust. Vernunft ist ein sehr dehnbares Wort, aber das behielt ich für mich.

»Um ehrlich zu sein … du.«

»Ich habe euch abgehalten?«

»Ja … entweder kam Mamoru rein, du hast mich gerufen oder sonst irgendetwas …«

Er nickte. »Aha.«

Das ganze Gespräch war mir so unglaublich peinlich. Immer­hin stand ich nicht auf Männer. Die ganze Sache war für mich ebenfalls so schockierend wie anscheinend für ihn.

»Und das gestern? Ist das auch schon vorgekommen?«

»Nein …«

»Versucht?«

»Nein.«

Ein kurzes Schweigen trat wieder ein. Dann atmete Vater tief ein und hielt kurz inne.

»Liebst du ihn?«

Bamm.

Er fragte mich genau das, was ich die ganze Zeit überlegte. Ich mochte ihn, kein vertan. Aber wie sehr ich ihn mochte, wusste ich nicht. Jedenfalls wollte es mir nicht klar werden. Liebte ich ihn wirklich? Aber er war ein Mann, mein Bruder, und keine scharfe Braut. Meine Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf, während ich mit glühendheißer Birne auf den Boden starrte.

»Hiro?«, fragte mein Vater nach. Ungeduldig war kein Aus­druck für den Nachbrenner der Frage.

»Ich …«, brachte ich raus. »Also …« Kein vollständiger Satz wollte aus meinem Mund kommen.

»Hiro, du kannst auch einfach schweigen. Dann denke ich mir meinen Teil, wenn du es mir nicht sagen möchtest.«

Um Gottes Willen, das wäre ja noch schlimmer.

»I-Ich weiß es nicht …«, stotterte ich mich leiser Stimme.

»Du weißt es nicht?« Mein Vater schien überrascht, da er sich wahrscheinlich schon seine Meinung gebildet hatte.

»Ich bin mir nicht sicher … Einerseits mag ich ihn wirklich, aber … ich …« Dann versiegte meine Stimme wieder. Ich schnappte nach Luft und versuchte mich innerlich zu beruhigen, aber da ging nichts mehr. Mein Vater seufzte kurz, stand auf und schob den Stuhl an den Tisch.

»Ich will dich nicht verhören. Zwischen euch scheint also nichts Ernstes zu laufen, wenn ich das so richtig verstanden habe.«

Etwas erleichtert über den Abbruch des Gesprächs nickte ich.

»Trotzdem bitte ich euch beide darum, euch auch wie Brüder zu verhalten. Jedenfalls in meiner Gegenwart. Was ihr draußen macht, kann ich nicht kontrollieren; solange ihr bei mir seid, macht ihr so etwas nie wieder.«

Etwas überrascht über den Teil mit dem ‚was ihr draußen macht, kann ich nicht kontrollieren’, sah ich ihn mit großen Augen an. Hieße das, er wollte das einfach nur nicht sehen?

»Verstanden?«

»J-Ja …«, sagte ich schnell und nickte kurz. Dann verschwand er geräuschlos aus dem Zimmer. Ich blieb noch wie ange­wurzelt auf dem Stuhl sitzen. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, während ich versuchte die Situation zu realisieren. Vater war gegen eine Beziehung zwischen mir und Kiyoshi, klar, welches Elternteil wäre das nicht. Aber indirekt hat er gesagt, dass wir in seiner Abwesendheit tun und lassen können was wir wollen. Das fand ich gut. Ich freute mich richtig. Es schien also, dass, wenn ich noch mal mit Kiyoshi reden würde, wir da weitermachen konnten, wo wir stehen geblieben waren.

 

Sofort versiegte mein plötzliches Grinsen. Ich wollte da weitermachen? War ich denn verrückt geworden? Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Verwirrt und nicht ganz im Klaren mit mir selber, torkelte ich die Treppe hoch in mein Zimmer.

Mamoru stand an meinem Schrank und räumte meine Klamot­ten sorgfältig in ihn.

»Oh, äh … Mamoru, das müssen Sie aber nicht tun …«, sagte ich etwas zurückhaltend und versuchte zu lächeln. Er sah mich durch seine kleinen Brillengläser an.

»Junger Herr, das ist meine Aufgabe.«

»Mag ja sein, aber ich brauch auch was zu tun. Also lassen Sie gut sein, ich mach das schon.«

Er sah etwas perplex aus, ließ aber den Korb stehen und ging aus meinem Zimmer. Sachte rastete die Tür in das Schloss ein.

Hatte ich Mamoru gesiezt? Hatte ich ihn nicht immer geduzt? Ich war mir selbst nicht mehr sicher. Normalerweise duzte ich Leute immer, egal ob sie älter oder jünger als ich waren.

Immer noch sichtlich benebelt durch das Gespräch, schloss ich die Schranktür. Der halbvolle Korb stand zwar noch neben meinem Schreibtisch, jedoch hatte ich jetzt keine Lust den Inhalt einzuräumen. Ich wollte nur allein sein. Warten, bis Kiyoshi nach Hause kommen würde. Einfach abwarten, was er mir zu sagen hat bezüglich Vaters Meinung. Er hat sicher auch schon mit ihm darüber gesprochen oder tut es noch. Leise setzte ich mich aufs Bett und atmete tief ein und aus. Erst jetzt bemerkte ich das frisch gemachte Bett. Sofort stand ich auf und strich über die kleinen Falten, die ich gemacht hatte. Ich zog mir den Stuhl heran und setzte mich auf ihn. Ordentlich mit gefalteten Händen im Schoß und einer geraden Haltung starrte ich auf die schwarze Tagesdecke mit den schönen Rosen. Nach einer Weile, fast ohne Gedanken im Kopf, sah ich auf meine Hände. Sie waren weiß und dünn. Sie sahen so anders aus. Wenn Mom mich am Ende der Woche sehen wird, weiß sie sicher Bescheid. Dann könnte ich nicht mehr lügen. Sowieso müsste sie es spätestens dann erfahren, wenn mein Todestag gekommen wäre. Meine Tage waren gezählt. Und ich dachte, das würde man nur in dummen Filmen sagen.

Vorsichtig beugte ich mich nach vorne und legte meinen Kopf in meine Hände und lauschte den Vögeln außerhalb meines Zimmers. Ob meine Veränderung auf persönlicher Ebene mit der grundsätzlichen, körperlichen Veränderung oder mit meinem Umfeld zu tun hatte, wusste ich nicht, doch es beschäftigte mich. Ich war so anders geworden, so abwesend. Nicht mehr der lustige, fröhliche Hiroshi. Was war nur geschehen? Wie konnte es nur dazu kommen?

Wie Flashbacks kamen mir die Bilder wieder zurück in den Kopf. Wie ich mich im Spiegel bluten sah, wie ich am liebsten schreiend weggelaufen wäre, wie sich alles in mir drehte, als ich das Blut trank, wie ich am liebsten geschrien hätte, obwohl es nichts mehr zu sagen gab. Weiß ich überhaupt was ich bin? Wohin gehöre ich eigentlich? Ein Mix aus Vampir und Mensch, glaubte ich zu sein. Gehöre weder in die eine noch in die andere Welt. Ein Untoter, wie aus einem schlechten Horrorfilm. Es dauerte wohl auch nicht mehr lange, dann würde ich wie Kiyoshi aussehen: Düster, mysteriös, Angst einflößend, untot. Ein Leben in ewiger Dunkelheit.

 

Ich wusste nicht wie lange ich so da saß; ich hatte kaum ein Gefühl für Zeit, hing mit meinen Gedanken noch so vielen anderen Dingen nach. Die Sache mit Kiyoshi, das Gespräch mit Vater, ganz weit hinten dem verhängnisvollen Biss, meiner Zuneigung zu Blut und der zu Kiyoshi.

Er war mir so wichtig geworden. Nicht wie ein Bruder, das sicher auch, doch mehr als Freund. Als eine Person, ohne die ich diesen Alltag nicht überleben würde. Auch wenn er oft an meiner inneren Wut Schuld war oder er mir öfters auf die Nerven ging, so war er mir doch unglaublich wichtig. Sehn­süchtig wartete ich die Zeit ab, die mir noch blieb, die ich zu verschwenden hatte. Sehnsüchtig würde ich warten, bis er von der Schule kommen würde. Sehnsüchtig, ihn einfach in den Wald zu entführen und ihn gegen einen Baum zu drücken, ihn zu küssen, ihn zu berühren, ihn zu riechen, seinen Duft einzuatmen, ihn …

 

Fast wie erschrocken, erhob ich mich schnell aus meiner Position und starrte wieder auf meine Hände, in denen vorher mein Kopf lag. Ich öffnete kurz den Mund, wollte schon etwas zu mir selbst sagen, schloss ihn aber doch und schwieg.

 

Das klang dumm und absurd. Das war nicht der Hiroshi, der das dachte. Das war einfach nicht so, wie es hätte sein sollen. Wie verhängnisvoll ein einfacher Besuch sein konnte. Ob das wirklich der Hiroshi war, der das dachte? Der diesen Schmerz im Herz hatte, die Sehnsucht empfand? Der innerlich vor Schmerzen schrie, weil er nicht das bekam, was er wollte? Weil er wusste, dass er das nicht bekommen durfte? War das Hiroshi? Oder war das schon das Monster in mir, das zu erwachen drohte?

Ein Grinsen huschte mir über die Lippen. Traurig und mich selbst als Dummkopf bezeichnend ließ ich mich etwas im Stuhl sinken. Diese Gedanken waren eindeutig. Die Sehnsucht nach ihm. Ich wollte es nicht sagen, ich wollte es nicht wahrhaben, doch musste ich es mir eingestehen …

 

Ich liebte ihn.

 

Er war alles in meinem kurzen Leben geworden. Ich wollte alles an ihm haben. Seine Seele, sein Herz, seine Liebe, sein Blut, seinen Körper, mit Haut und Haaren. Er sollte mir gehören. Nur mir. Seine glänzenden Augen sollten mich ansehen, seine kratzige, dunkle Stimme meinen Namen rufen, seine zarte Haut meine streicheln, während er seine Lippen nur meinen widmen würde. Und das war nur ein Teil meiner immer größer werden­den Besitzansprüche an ihm. Ich erschrak vor mir selbst, wissend, dass ich das ernst meinte. Vorsichtig fasste ich mir an meine Stirn. Tastete sie ab, suchte innerlich nach einem Einstich, wo die Gehirnwäsche stattgefunden haben könnte. Natürlich fand ich weder ein Loch noch irgendeinen Hinweis auf eine Gehirnwäsche. So schnell konnte ich mein Herz verlieren? So schnell wurde ich von einer Person abhängig? Unglaublich, was aus mir geworden war.

 

Mein Blick fiel kurz aus dem Fenster. Durch die kleinen Löcher der Rollläden spähend, suchte ich nach Leben. In diesem Haus suchte man nach so etwas ja vergebens. Seufzend griff ich nach meinem Handy, sah auf das Display und legte es wieder zurück. Noch bestimmt sechs Stunden, wenn es bei Kiyoshi wieder später werden würde. Sechs Stunden waren verdammt lang, wenn man weder Fernseher noch Computer hatte. Meine Mutter würde mit ihrem ‚Früher haben die Kinder mit Steinen und Stöcken gespielt’ ankommen. Sicher, früher, aber damals hatten die auch keinen Computer. Denn hätte es den schon damals gegeben, hätten die Kids wahrscheinlich auch den ganzen Tag vorm Bildschirm verbracht.

Die Langeweile trat schon nach nur wenigen Minuten ein. Ich hatte jedoch keine Lust mich anzuziehen, den Schrank einzuräumen, etwas zu essen oder sonst irgendetwas Produk­tives zu tun. Einfach rumhängen und nichts tun war aber auch nicht in meinem Sinne. Ich drehte mich etwas auf dem Stuhl und lehnte mich zum Schreibtisch. Auf ihm lagen noch die schönen Bücher meiner Mutter. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sie dort liegen zu lassen, bis ich wieder zurückfahren würde, doch jetzt hatte ich nichts Besseres zu tun, als Mist zu lesen.

Etwas angenervt schnappte ich mir das erste Buch und schlug es auf.

 

»Mein erster Tag an der neuen Schule. Ich war so aufgeregt, dass mein Herz gegen die Brust hämmerte. So viele junge Frauen und Männer auf dem kleinen Schulhof, alle in wunderschönen Uniformen. Sie alle tummelten sich in Grüppchen an einigen Stellen und quatschten wild. Immerhin waren die Sommerferien um und jeder hatte sicher eine Menge zu erzählen. Ich auch:

Meine Familie und Ich sind hier hergezogen, weil mein Vater eine neue Stelle angeboten bekam. Ich selbst war von der Idee weniger begeistert, da ich alle meine alten Freunde verlassen musste, und wer tut das schon gerne? Dieser Ort hier war knappe 100 km von meinem alten Heimatort entfernt. Traurige Aussichten für eine Aufrechterhaltung einer Freundschaft. Grade dann, wenn die beste Freundin weder Handy oder Computer hatte. Briefe schreiben war nie so mein Ding gewesen.

Ich dachte immer, ich müsste mich auf Mobbingattacken und Lästereien einstellen, doch die Schüler sahen alle nett aus. Langsam ging ich lächelnd den Schulhof entlang, bis mich eine Lehrerin anlächelte und grüßte. Ich grüßte zurück, drehte meinen Kopf zur Seite und achtete nicht, wohin ich eigentlich lief. Und da passierte es schon:

Ich lief in den wohl attraktivsten und nettesten Jungen der gesamten Schule. Schusselig wie ich war -«

 

Seufzend klappte ich das Buch nach der ersten Seite wieder zusammen. Grauenhaft war kein Ausdruck dafür.

»Mom, das ist für Mädchen. Ich bin ein Junge«, murmelte ich für mich selber und legte den pinkfarbenen Wälzer wieder zu den anderen. Bei mir mussten Bücher schon sehr gut ge­schrieben sein, damit ich sie las. Und interessant, selbst­verständlich. Da musste Blut fließen, Morde begangen werden, Intrigen und Gewalt vorkommen, Action pur mit vielleicht einer Spur Hintergrundstory. Als ich die Titel der Bücher durchging, gefiel mir keins auf Anhieb. Sofort ließ ich die Idee mit dem Bücherlesen wieder fallen.

Ich schob den Stuhl etwas näher an den Schreibtisch heran und stützte meinen Kopf auf. Gelangweilt betrachtete ich die glatte Oberfläche der Holzplatte. Massives Holz war teuer und edel, das wusste selbst ich als ‚IKEA-Plastik- Schreibtisch-Besitzer’. Neugierig öffnete ich die erste Schublade des Tisches. Darin enthalten lag nur das Feuerzeug. Enttäuscht schloss ich sie wieder und öffnete die darunter. Ein Blätterhaufen ergoss sich schon fast aus der Schublade. Doch zu meiner Enttäu­schung nur blanke, weiße Seiten. Wieder schloss ich sie und hoffte auf mehr Sehenswürdiges in der dritten. Doch auch in dieser befanden sich nur ein Tesafilmabroller mit Tesafilm, ein Tacker, ein Locher und eine Schachtel Klammern für den Tacker. Gereizt schmiss ich auch diese Schublade wieder zu und seufzte genervt auf. Mein Magen knurrte auf einmal etwas.

Ich blickte an mir runter und versuchte zu deuten, was mir mein Körper sagen wollte. Hatte ich Hunger auf menschliches Essen oder bevorzugte mein Magen lieber etwas Blutiges? In der Tat verspürte ich ein wenig Appetit. Mit geschlossenen Augen versuchte ich herauszufinden nach was ich verlangte. Ich wusste es nicht. Kiyoshi würde mir sicher jetzt wieder eine seiner tollen Tabletten hinhalten. Stur wie ich war, würde ich sie natürlich nicht nehmen. Aber stur und vielleicht auch feige wie ich im Moment war, wollte ich auch nicht runter in die Küche gehen und an das abgeschlossene Kühlfach gehen. Außerdem verfolgten mich diese schlechten Erfahrungen mit Kunstblut noch immer. Mit einer eleganten Handbewegung griff ich hinter mir und packte die kleine schwarze Dose. Sofort schnellte meine Hand wieder zu mir. Eine Weile starrte ich auf die Dose. Mich ekelte der Inhalt dermaßen an, dass ich schon ans Kotzen dachte. Ich war ja immer der optimistische Kerl und hoffte auf Genesung ohne Tabletten oder Pillen, doch diese Krankheit war chronisch. Leider.

Sanft drehte ich am Deckel und öffnete die besagte Dose. Sofort lächelten mich lauter roter Tabletten an. Ich ließ die Dose auf die Tischplatte fallen.

»Nein. Nein, nein, nein. So was nehme ich nicht«, sagte ich zu mir selbst und hob abweisend die Hände. Stur schloss ich meine Augen.

Das Bild von Kiyoshi kam mir in den Kopf. Diese Mutation, wie er kaum Kontrolle über sich hatte, wie er nach Blut dürstete, es kaum aufhalten konnte. Würde ich vielleicht auch Menschen angreifen? Nur um an Blut zu kommen? Wäre ich dazu in der Lage? Der Gedanke an solche Taten ließ mich eine Tablette aus der Dose nehmen. Sie war klein und rund, gar nicht so groß, wie ich sie in Erinnerung hatte, als Kiyoshi mir eine reindrückte. Ich atmete einmal tief ein und aus.

»Nur zum Wohle der anderen …« Murmelnd schloss ich die Augen, atmete noch einmal tief ein. Ich kam mir schon fast lächerlich vor, da ich mich fast wie bei einer Geburt anstellte. Oder als würde ich mir gleich einen Finger abhacken müssen, weil es irgendwie für eine ‚Heldentat’ nötig war. Während mein Herz wie wild klopfte, hielt ich den Atem an.

 

Ich schmeckte Blut. Jedenfalls den Geschmack von Blut, wobei ich mir nicht sicher war, ob in diesen Tabletten wirklich Blut enthalten war. Widerwärtig über den Geschmack und der Tatsache, dass ich eine Tablette zu mir nahm, schluckte ich sie runter. Eine Weile verharrte ich in meiner angespannten Position. Dann öffnete ich die Augen und sah auf meine Hände. Es war nichts passiert. Ich mutierte nicht, ich fühlte mich körperlich gut und hatte weder Beschwerden noch seltsame Halluzinationen, wie ein weißes Licht am Ende des Tunnels auf mich zukam. Schultern zuckend über die Tat, wunderte ich mich, dass es gar nicht so schlimm war, wie ich es immer dachte. Lag vielleicht daran, dass ich damals noch so benebelt und mein Hals halb vorm Austrocknen war.

Auf einmal wieder schwer genervt, griff ich wieder nach meinem Handy, starrte aufs Display und legte es neben mich auf den Schreibtisch.

»Zehn Minuten erst rum? Tz …«, zischte ich vor mich hin, schloss die schwarze Dose und legte sie zum Feuerzeug in die Schublade. »Wie um alles in der Welt soll ich die Zeit tot­schlagen? Soll ich hier vergammeln?« Wieder stützte ich meinen Kopf auf und starrte gegen die weiße Wand. Mein Hunger war beseitigt, körperlich ging’s mir richtig gut, doch seelisch recht bescheiden. Um genau zu sein beschissen. Ich hatte bessere Zeiten gehabt. Obwohl nicht der richtige Zeitpunkt war, sarkastische Witze über mein eigenes Ende zu machen, musste ich doch leicht schmunzeln.

Ich hatte noch genau drei Tage vor mir. Drei grauenvolle Tage. Wobei ich diesen Tag als sehr entspannt empfand. Oder als relativ langweilig, wie man’s nahm. Da kam mir die Idee, meine Flugbestätigung aus dem Koffer zu kramen. Sofort huschte ich zum Schrank und zog meinen Koffer raus. Nachdem ich ihn geöffnet hatte, stieß ich mit der Klappe an die Holzkiste. In sie hatte ich damals alle Dinge verstaut, die meine Mutter mir unbedingt noch mit in den Koffer gegeben hatte. Meine Bewegungen wurden schlagartig langsamer und ich zog das Stück Papier mit nur halb so großer Begeisterung aus dem Koffer. Denn die Dinge meiner Mutter, erinnerten mich an sie und sie erinnerte mich wiederum an das tolle Gespräch, was ich noch mit ihr führen werde. Je nachdem wie das ablaufen würde, wäre sicher auch meine Begeisterung wieder zurückzufahren. Wenn ich überhaupt zurückfahren dürfte.

Vorsichtig klappte ich den Zettel auf und las meine Flugdaten durch. Ein Lächeln huschte über meine Lippen.

»Abflug um viertel vor zehn. Halleluja.« Wenigstens etwas. Das hieß zwar früh aufstehen, aber demnach auch früh wieder weg. Ich küsste kurz den Zettel, faltete ihn wieder schön zusammen und legte ihn zurück in den Koffer. Diesen verstaute ich wieder im Schrank.

Die Neugierde übertraf wieder mal meinen Kopf und ich öffnete die Holzkiste. In ihr lagen Dinge wie Plüschtiere, CDs, Hefte und sogar ein Bild. Ich griff nach dem silbernen Bilder­rahmen und sah mir das Foto an.

 

Es war meine Mutter mit mir, als ich meinen ersten Tag im Gymnasium hatte. Sie war so stolz auf mich. Das Foto hatte eine Freundin von ihr geschossen. Sie hielt mich im Arm, während ich glücklich meine Schultasche umklammerte. Damals war ich noch kleiner als sie und trug die Dinge, die sie an mir sehen wollte. Wir beide grinsten glücklich in die Kamera, während ich mir ein trauriges Grinsen nicht verkneifen konnte. Wir beide waren ein Herz und eine Seele, sie war so stolz auf mich an diesem Tag, wünschte mir alles Gute und Glück. Sie fuhr die ersten Tage immer mit mir in der Bahn, damit ich auch ja sicher ankam.

Eine kleine Träne kullerte mir über die Wange. Ich vermisste sie und der Gedanke, dass ich ihre Liebe immer mit Füßen getreten hatte, es nicht geschätzt habe, wie sie für mich da war, machte mich noch trauriger als vorher. Die Träne tropfte auf das Bild. Sofort drehte ich es um und wischte das Nasse an meiner Jogginghose ab. Da fiel mir etwas Geschriebenes auf. Ich drückte den Ständer des Rahmens etwas zur Seite und las das mit Edding geschriebene leise vor:

»Ich bin immer für dich da, mein Schatz.«

 

Ich ließ den Bilderrahmen fallen und drückte mir meine Hände vors Gesicht. Ich schluchzte laut los und weinte bitter. Was tat ich eigentlich immer? Was war ich eigentlich für ein Sohn? Ich stritt mich immer mit ihr, folgte nie ihrem Willen, tat immer genau das, was sie nicht wollte. Sicherlich war sie nicht immer perfekt und machte mit ihrem versuchten Perfektionis­mus vielleicht auch manches noch schlimmer, trotz allem war sie eine gute Mutter. Trotzdem ich so gemein zu ihr war, trotzdem ich kein guter Sohn war, liebte sie mich so sehr und tat so viel für mich. Sie wollte mich nicht verlieren, das war alles. Meine Tränen liefen an meinen Handgelenken runter, mein Hals tat schon vom fielen Schluchzen und Weinen weh.

 

»Hiro?«, kam eine dunkle Männerstimme von meiner Tür aus.

Bittere Wahrheit

»Hiro?«, kam die Stimme meines Vaters. Ich wollte nicht aufblicken. Selbst das Schluchzen und Glucksen wollte nicht aufhören. Ich spürte seine großen Hände auf meinen Schultern. »Hiro, ist alles in Ordnung mit dir?«

Er klang besorgt, aber konnte man sich nicht denken, was los war? Als ich keine Antwort gab, spürte ich, wie das Bild von meinem Knie entfernt wurde. Ich hörte ihn etwas stärker ausatmen. Ein Klacken war zu hören und ich spürte das Bild wieder an meinem Bein. Seine linke Hand blieb auf meiner Schulter, während er sich neben mich kniete.

»Hiro, ich weiß was du mitmachst ist nicht einfach für dich. Du vermisst deine Mutter bestimmt so sehr wie sie dich. Aber es war an der Zeit, dass du über deine Familie informiert wirst. Das sah sie ein. Irgendwann würde es dich einholen. Und mal eben erfahren, dass der Vater ein Nachtschattengewächs ist und sich von Blut ernährt, während der bis dahin unbekannte Zwillingsbruder genauso handelt, ist sicher noch schwerer, als es auf diese Weise zu erfahren. Also bitte, beruhige dich, Hiro. Dich will niemand ärgern oder erniedrigen. Die ganze Sache ist aus dem Ruder geraten.«

Seine Stimme klang zwar im ersten Moment beruhigend, doch waren die Worte, die er verwendete spitz und unangenehm in meinem Kopf. Er vermied das Wort Vampir, wollte Kiyoshis Namen ebenfalls nicht nennen und versuchte die Situation als ‚aus dem Ruder geraten’ einzustufen, was sie aber sicher nicht war. Er verstand mich nicht. Er verstand die ganze Sache nicht. Die Sache mit Kiyoshi und mir, die Sache mit meiner Verwand­lung, die Sache mit meiner Mutter und mir. Einfach alles.

»Hiro, bitte beruhige dich. Wenn du mit deiner Mutter sprechen willst, kannst du sie anrufen.«

Ich schüttelte leicht den Kopf. Auf keinen Fall wollte ich jetzt mit ihr sprechen. Sie würde mich fertig machen bezüglich meiner Tat. Vielleicht würde ich sogar ausplaudern, was genau zwischen mir und den Vampiren hier vorgefallen war und dann würde sie sicher nicht mehr so lieb zu mir sein. Sie verachtete die Vampire sicherlich. Kiyoshi erzählte mir immer, wie sie auf ihn zu sprechen war. Das habe ich ja auch gemerkt, wenn ich ihn erwähnt hatte. Würde sie mich dann auch verstoßen wollen? Würde sie mich dann auch nicht mehr lieben? Die Vorstellung alleine schnürte mir noch weiter mein Herz zu. Jeder Gedanke an meine Mutter, an Kiyoshi, an mich selbst zog ein bisschen stärker am Faden.

»Gut … Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst oder wenn du deine Mutter sprechen willst.« Mit den Worten ließ er von mir ab und ging aus meinem Zimmer. Ein leises Klacken der Tür war zu hören. Dann blickte ich auf. Niemand war mehr in meinem Zimmer. Ich hätte am liebsten gefragt, wann Kiyoshi zurückkommen würde, aber da hätte ich wohl schlechte Karten bei meinem Vater gespielt. Klappe halten bezüglich meines Bruders war jetzt angesagt. Damit war jegliches Familienleben zu Nichte gemacht worden. Durch mich und durch Kiyoshi. Ich strich mir kurz übers Gesicht, um die Tränen wegzu­wischen, und stand mit dem Bild in der Hand auf. Vorsichtig stellte ich es auf mein Nachttischschränkchen. Danach ging ich wieder zurück zur Holzkiste und schloss sie. Ich wollte nicht noch weiter nach alten Erinnerungen suchen, die alles nur noch schlimmer machen würden.

Immer noch sichtlich mitgenommen, schlurfte ich aus der Tür auf den Flur. Ich wusste nicht wohin mit mir, aber ich wollte auch nicht in meinem Zimmer bleiben. Es war so still und einsam. Das was ich jetzt brauchte war Gesellschaft. Aber über die Anwesendheit meines Vaters konnte ich verzichten. Auch die von Mamoru, obwohl der mir nichts getan hatte. Jiro wäre jetzt gut oder von mir aus auch Lampe, Hauptsache irgendwer aus meinem alten Leben, der mich aus diesem Sumpf der Depressionen rausziehen konnte.

Mein Blick fiel auf die einsame Tür am anderen Ende des Gangs. Kiyoshi sagte etwas von Studio. Alte Dinge seien in diesem Raum. Ein bisschen rumschnuppern würde sicher nicht schaden, also ging ich schnurstracks zur Tür und öffnete sie. Tatsächlich war sie auch offen und freizugänglich. Noch haschte ich schnell einen Blick hinter mir und vergewisserte mich, dass niemand mich sah. Sofort verschwand ich im Zimmer und schloss leise die Tür.

 

Vorsichtig drehte ich mich um und sah in einen hell belichteten Raum. Zwei große Fenster ließen die warme Sonne in den Raum fließen. Ein großer schwarzer Flügel stand in der Mitte des Raumes. Er war wunderschön, verziert mit goldenen Verschnörkelungen. Ein kleiner schwarzer Samthocker stand vor dem Flügel. Direkt links neben mir standen Leinwände, abgedeckt mit einem großen weißen Tuch. Direkt daneben stand die Staffelei mit einer großen Leinwand, die noch unbemalt war. An der linken Wand, die zu den Fenstern führte, stand eine Kommode mit vielen Schubladen. Auf ihr lag eine Violine. Sie war genauso verziert wie der Flügel und ebenso schön und edel. Neben der Kommode stapelten sich alte Bücher aufeinander, die durch eine große Lampe gehalten wurden. Die Lampe selbst hatte einen schwarzen Stoffschirm über der goldenen Stange hängen, an deren Ende eine Glüh­birne versteckt war. Lange weiße Vorhänge hingen zusammen­gezogen an den Fenstern. Die Fenster waren so groß, dass sie die Komplette Wand vereinnahmten. Auf der anderen Seite stand ein Regal mit weiteren Büchern und anderen Gegenstän­den. Direkt daneben stand ein Gebilde, verdeckt durch ein großes weißes Tuch. Es sah seltsam aus, erinnerte mich aber an etwas Bekanntes. Nebenan stand noch eine Kommode, doch sie sah anders aus, als die gegenüber. Die links war dunkelbraun, die rechts war cremeweiß und mit schwarzen Verschnörke­lungen und seltsam geformten Griffen für die Schubladen ausgestattet. Auf ihr stand ein großer Kerzen­ständer. Er war schwarz und, kaum nötig zu erwähnen, verschnörkelt. Die Kerzen ebenfalls schwarz und schon ein Stück abgebrannt. Eine Vorliebe für das Schwarze und Düstere war bei der Lebensweise kein Wunder. Doch das Zimmer hatte etwas. Etwas Entspannendes. Ein wirkliches Studio.

Neugierig über die Gemälde, spähte ich kurz unter das Laken. Es waren bestimmt zehn große Leinwände, die alle wunder­schön bemalt waren. Auf der einen war eine Landschaft, auf der anderen Leinwand eine Frau, auf der danach wieder eine andere Landschaft.

Ich hielt kurz inne.

Vorsichtig schob ich das Laken beiseite und zog das Gemälde mit der Frau ein Stück raus.

»Wow …«, murmelte ich, während ich in das lächelnde Gesicht meiner Mutter sah. Sie saß auf einem schönen Hocker, vor ihr eine große Harfe. Sie sah noch jung aus, da ihre Haare ihr fast bis zur Hüfte reichten und noch dunkelblond waren. Ihre Gesichtszüge waren so zart und fein gemalt worden, dass es fast wie eine Fotografie aussah. Die Harfe war golden und glänzte im Licht der Sonne, die durch die großen Fenster kam. Mein Blick fiel hinter mir. Diese großen Fenster in diesem Studio waren hinter meiner Mutter. Ich zog das Bild raus und lief mit der Leinwand im Raum rum, bis ich die Sicht des Malers hatte. Dort wo meine Mutter saß, war nichts, nur ein Stück des Flügels war nun dort. Das seltsame Gebilde unter dem Laken, das rechts an der Wand stand, erhaschte meine Aufmerksamkeit. Es war groß und hatte eine Ähnlichkeit mit dem goldenen Gegenstand meiner Mutter. Vorsichtig zog ich am Laken und entfernte es. Eine riesige goldene Harfe erstrahlte in ihrem Glanz vor mir. Einige Saiten waren zwar etwas dunkel geworden, sahen aber nicht weiter beschädigt aus. Noch einmal sah ich auf das Bild. Die Hände meiner Mutter lagen an den Saiten. Ob sie wirklich Harfe spielen konnte? Vielleicht kann sie es ja immer noch? Neugierig über den Ton einer Harfe, zupfte ich kurz an einer mittleren Saite. Der sanfte Klang summte in meinen Ohren. Er war wirklich schön. Wenn meine Mutter Harfe spielen konnte, dann würde ich sie bitten, einmal für mich etwas zu spielen. Wer das Bild wohl gemalt hatte? Kiyoshi? Ich wusste ja, dass er gut malen konnte, aber so gut? Und woher wusste er, wie Mutter aussah? Okay, von Fotos wahrscheinlich, aber konnte er diese Bilder dann so gut umstellen? Vielleicht gab es auch irgendwo so ein Foto und er hat es abgemalt?

Dann sah ich eine Signatur am Rande des Bildes. Sie war kaum lesbar, trotzdem erkannte ich einzelne Buchstaben.

»Fudo Kabashi …«, flüsterte ich in den stillen Raum. »Mein Vater hat meine Mutter gemalt?« Die künstlerischen Fähig­keiten lagen wohl in der Familie. Ich schätzte, dass das Bild aus der Zeit vor der Geburt von Kiyoshi und mir war. Denn danach, schienen sich beide getrennt zu haben. Ich fühlte mich in dem Moment etwas schuldig. Auch wenn ich natürlich nichts für die Trennung der beiden konnte. Eine gewisse Mitschuld trug ich doch. Kiyoshi sicher auch.

Vorsichtig nahm ich das Laken und legte es wieder über die schöne Harfe. Sie war fast so groß wie ich selbst. Die Vorstel­lung, dass meine kleine Mutter darauf spielen konnte, brachte mir ein kleines Lächeln auf die Lippen. Sanft stellte ich das Gemälde wieder zu den anderen und schob das weiße Tuch darüber. Sowieso sah hier alles sehr gepflegt und ordentlich aus, obwohl der erste Eindruck eher Chaos verschaffte. Immerhin lagen Bücher und Blätter wild verstreut in der Gegend rum.

Trotz allem: Dem Bild entnahm ich, dass meine Mom hier auch mal lebte. Dass sie diesen Raum wenigstens schon einmal betreten haben muss. Vielleicht lebte sie wirklich einige Jahre hier mit meinem Vater, bis sie schwanger wurde und uns gebar. Um ehrlich zu sein, kannte ich meinen Geburtsort gar nicht. Hat mich nie so interessiert. Sowieso war Familie und die ganze Verwandtschaft nicht die Welt für mich. Es war immer ganz nett, wenn meine Tante mütterlicherseits vorbeikam. Oder mein Onkel mir, als ich klein war, kleine Matchboxautos schenkte. Ansonsten war die Vaterfrage nie sonderlich groß gewesen. Ob also der Rest meiner Verwandtschaft aus Vampiren bestand? In gewisser Weise war es eine interessante Vorstellung, auf der anderen eine unangenehme, wenn man bedachte, aus was der Kuchen beim Kaffeeklatsch sein würde.

Ich streifte mit meinem Zeigefinger auf der Oberfläche der dunkelbraunen Kommode entlang und blieb an der Violine stehen. Hier konnte wohl irgendeiner Violine spielen. Obwohl ich Angst hatte, irgendetwas kaputt zu machen, nahm ich das Holzgestell in die Hand und legte es mit vielem hin und her an meine Schulter. Vorsichtig berührte ich das schwarze Plastik mit dem Kopf. Ich hatte keine Ahnung, ob ich die Violine richtig hielt oder auch nicht. Trotzdem griff ich nach dem Bogen und strich vorsichtig über die vier Saiten. Ein heller Ton durchfuhr den Raum. Er klang nicht sonderlich angenehm in meinen Ohren, trotzdem strich ich weiter über die Violine. Sie hatte etwas für sich. Nach einigen schiefen Tönen, die ich fabriziert hatte, legte ich sie wieder weg. Jemand, der gut Violine spielen konnte, hatte meinen Respekt, insbesondere, weil ich jetzt wusste, dass es nicht leicht war.

Ich ging den Raum weiter entlang und blieb am Haufen der Bücher stehen. Vorsichtig pustete ich den Staub von ihnen. Ich griff direkt nach dem ersten Buch und blätterte ein wenig darin rum. Die Schrift war so verschnörkelt und alt, dass ich sie kaum lesen konnte. Sogar für mich so unlesbar, dass ich noch nicht mal sagen konnte, was ich da für ein Buch in den Händen hielt. Es hätte eine Horrorgeschichte sein können oder ein Lexikon aus alten Zeiten. Seufzend legte ich es wieder zurück. Als ich die Einbände der restlichen Bücher durchging, starb meine Hoffnung auf etwas Lesbares, da selbst die Überschriften so verschnörkelt geschrieben waren.

Plötzlich brannte es an meinen Füßen. Es stach richtig. Sofort stand ich auf und trat einen Schritt nach hinten. Meine Füße lagen für kurze Zeit in der prallen Sonne. Das hatte ich nicht bedacht. Mit gewagten Akrobatiken löste ich die Schleife und zog den halb durchsichtigen Vorhang vors Fenster. Das gleiche tat ich für das andere Fenster. So konnte ich ruhig von der einen Seite zur anderen gehen. Eigentlich traurig. Ich werde wohl nie wieder in die Sonne gehen können. Nie wieder …

Um mich abzulenken, betrachtete ich die verschiedenen Gegenstände, die im Regal standen. Zwischen einigen anderen alten Büchern stand ein komisches Gestell, dass, wenn man es anschubste, zu wackeln begann und auch weiter machte. Es bestand aus zwei metallischen Kreisen, die sich in jeweils entgegen gesetzter Richtung bewegten. Auf den ersten Blick sah es recht seltsam aus, aber mit der Zeit wurde es immer interessanter. Vorsichtig griff ich nach dem Metallgegenstand und nahm es aus dem Regal. Nach mehreren Untersuchungen, von unten und von oben, bemerkte ich einen kleinen Magneten im Inneren der einen Kugel, die am Innenkreis befestigt war, und einem größeren Magneten im Inneren des Sockels, worauf die beiden Stangen befestigt waren. Das ganze funktionierte also mit Magnetismus. Die Pole schienen sich abzustoßen.

Sofort stellte ich das Gestell wieder ins Regal.

»Das hat einen Lerneffekt …«, murmelte ich vor mich hin und betrachtete noch weitere Magnetische Gegenstände. Ein weiteres war das mit den vielen Kugeln, die nebeneinander aufgereiht waren. Das funktionierte zwar nicht mit Magneten, war aber genauso interessant. Wenn man die eine Kugel auf die andere aufprallen ließ, sprang die letzte Kugel auf der anderen Seite ab. Und immer so weiter, bis die Schwingungen aufhörten. Wie ein kleines Kind betrachtete ich die sich bewegenden Gegenstände. Das gefiel mir alles sehr. Es klackte und quietschte zwar etwas, war aber doch auf eine Weise entspan­nend. Langsam ging ich weiter, betrachtete den großen Kerzenständer. Neugierig über das Gewicht, hob ich ihn kurz an.

»Uff!«, prustete ich los, da er aus massivem Edelstahl bestand. Er war richtig schwer und erinnerte mich vom Gewicht her an eine Kiste Wasser. Während ich den Leuchter vorsichtig wieder auf die Kommode stellte, fiel mir eine kleine Schale mit einer Packung auf. Die Schale war weiß und mit rosa Blumen verziert. In ihr lagen ein paar Krümel oder mehr Staub. Ich griff nach der Packung. Ein gewaltiger Geruch von Vanille und Zimt kam mir entgegen, als ich die Schachtel kurz öffnete. Schnell hielt ich die dunkelblaue Packung etwas weiter von mir und zog ein Räucherstäbchen raus. Es war schwarz und roch im ersten Moment nach Zimt. Der Okkultismus war hier also Gang und Gebe? Auf der Rückseite der Packung standen die Düfte. Das was ich in der Hand hielt, sollte angeblich Opium sein. Sofort hielt ich das Stäbchen an meine Nase.

»Opium? Das ist doch kein Opium«, sagte ich enttäuscht. Dann las ich genauer. Natürlich bestanden die Räucherstäbchen nicht aus der Droge, sondern nur aus dem Duftstoff, aus dem Opium gemacht wurde. Wohl etwas enttäuscht packte ich das schwarze Räucherstäbchen wieder in die Packung und legte diese zum Schälchen zurück.

Als ich dachte, dass ich durch den Raum war, wurde ich kurz geblendet. Sofort trat ich einen kleinen Schritt zur Seite und starrte auf den Flügel. Der glänzende, schwarze Lack der Oberfläche reflektierte das Licht wunderschön durch den Raum. Obwohl die Sonne nun ein Feind meinerseits war, faszinierte sie mich mehr denn je. Vielleicht gerade weil sie für mich unzugänglich geworden war.

Nicht weiter darüber nachdenkend, setzte ich mich auf den Samthocker. Vorsichtig strich ich über den Deckel der Tasten. Ich traute mich kaum einen Blick darunter zu werfen. Als ich darüber spekulierte, ob ich es trotzdem öffnen sollte, erspähte ich einen kleinen Stapel von Blättern und Heften auf dem Flügel. Ich griff nach einigen Blättern und stellte fest, dass es Noten waren. Komplizierte Noten für meinen Geschmack. In meinem Musikunterricht waren da mal der Violinschlüssel und der Bassschlüssel, mehr nicht. Mit ein paar Noten und mit vielleicht einer Oktave war das Thema schon wieder beendet und wir sangen weiter. Ich und singen war zwar auch so eine Sache für sich, trotzdem war es besser als die langweilige Theorie. Zwar wunderte es mich, dass ich mich noch an die dämlichen Fachbegriffe erinnern konnte, nahm es aber im ersten Moment einfach mal hin. Neugierig schlug ich das Heft auf. Es sah schon sehr alt aus. Auf der ersten Seite waren die Tasten erklärt, wie sie heißen und wie man sie spielen konnte. Dreiklänge, Moll und Dur wurde erklärt, sowohl einige Notenschritte. Auf der nächsten Seite standen dann schon einfache Noten, die man wahrscheinlich spielen sollte. Ich grinste in mich rein. Ich und spielen wäre bestimmt eine lustige Kombi.

Also ergriff ich den schweren Deckel und öffnete ihn. Mich strahlten elfenbeinfarbene Tasten an, die im faden Licht etwas glänzten. Sie waren so glatt und weich. Und kalt. Sie erinnerten mich an Kiyoshis Haut. Würde er auf diesen Tasten spielen, würde man seine Hände sicher kaum erkennen. Ich schüttelte kurz den Kopf und legte die Noten auf den ausklappbaren Notenständer. Vorsichtig drückte ich eine Taste runter. Der typische Ton eines Klaviers erfüllte den Raum. Dazu drückte ich noch eine Taste. Es hörte sich eigentlich ganz gut an. Ich versuchte mich an Rokus Klavierkünste zu erinnern. Er spielte vor dem Musikunterricht immer ein kleines Stück. Einmal hatte er versucht Kyo eins beizubringen. ‚Alle meine Entchen’ meinte er, wäre das meist erste Stück aller Klaviereinsteiger. Ich überlegte und überlegte, kam aber nicht auf den ersten Ton. Trotzdem spielte ich eine Taste nach der anderen und überlegte hin und wieder, wie es weiter ging.

 

Ich musste gestehen, es machte mir Spaß am Klavier zu sitzen und mir selber ‚Alle meine Entchen’ beizubringen. Auf die schlaue Idee, eines der Hefte zur Hilfe zu nehmen, kam ich erst nach mehreren Minuten. Dort war das Stück nämlich abge­druckt und mit der Hilfe der ersten Seite, wo alles kleinlich genau erklärt wurde, schaffte ich es sogar nach fast unendlich viel Zeit das Stück fertig zu spielen. Sogar auswendig. Ich war so stolz auf mich selbst; so lange war ich es nicht mehr seit ich im Physiktest die volle Punktzahl hatte (Obwohl ich nicht gelernt hatte, versteht sich).

 Ich spielte noch ein wenig mehr, probierte noch die Pedale aus und war über den Klang überrascht.

Plötzlich klopfte es an der Tür. Ich erschrak schon fast und drehte mich schlagartig zur ihr um.

»Hiro? Hier bist du?«, hörte ich die besorgte Stimme meines Vaters durch den Türschlitz. »Was machst du denn hier?« Sein Kopf kam durch die Tür und sah mich überrascht an. Er trat in den Raum und betrachtete mich, wie ich am Klavier saß und Notenhefte sowohl auf dem Notenständer, als auch auf meinen Knien aufgeschlagen hatte.

»Du spielst Klavier?«, fragte er immer noch überrascht und tätigte einen Schritt auf mich zu, nachdem ich nichts sagte.

»Äh … Na ja. Ich bringe es mir grade bei«, gab ich zu und kratzte mich am Nacken.

»Das ist aber schön. Gefällt dir Klavierspielen?« Ich sah ihm in die Augen und sah die Vaterfreude, wie sein Kind sich für etwas interessierte, dass ihn wahrscheinlich auch am Herzen lag. Ich nickte erst zögerlich, blickte zum Flügel und nickte dann sicherer.

»Ja, es gefällt mir sehr.«

»Warum nimmst du keinen Unterricht?« Er stellte sich neben mich an den Flügel und legte eine Hand auf ein Notenheft.

»Früher dachte ich, so etwas würden nur Leute spielen, die etwas von sich halten. Und zu denen gehörte ich ja nicht.«

»Aber das ist doch quatsch.«

»Na ja, nicht ganz, oder? Ich meine der Flügel hier war bestimmt nicht  im Discounter im Angebot, oder?«

Er musste wieder laut loslachen. Ich hatte wieder einen meiner urkomischen Witze gerissen, über die ich selber nicht lachen konnte.

»Nein, natürlich nicht. Aber heutzutage gibt es doch Key­boards oder elektronische Klaviere, die sind doch billiger.«

»Immer noch zu teuer für meine Mom.«

Sofort versiegte sein Lächeln. Sein Blick sah fragend aus und nicht ganz verständlich. Als er nichts sagte, sondern mich nur anstarrte, verstand ich, warum er so fragend überrascht war.

»Mom arbeitet als Sozialpädagogin in einer Beratungsstelle, da verdienen wir nicht die Welt. Ein Klavier auszuleihen wäre da undenkbar, geschweige denn eins zu kaufen.«

»Deine Mutter arbeitet in einer Beratungsstelle?«

Er sah ziemlich fertig aus über die Tatsache, dass wir nicht die Menge an Geld hatten. Ich konnte mir die Frage einfach nicht unterdrücken.

»Wusstest du das nicht?«

Er lächelte etwas unsicher und sah zur Seite.

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Im Ernst nicht? Wo dachtest du denn, kommt unser Geld her? Vom Baum? Oder vom Esel, der im Keller steht?« Also ein bisschen Selbstinitiative für das Verständnis der eigenen Familie wäre ja nicht schlecht gewesen.

»Von ihrem Konto?«

»Da muss erst mal Geld draufkommen, oder?«, fragte ich etwas gehässig und wollte ihm damit zeigen, dass Geld nicht auf Bäumen wächst.

»Ich überweise ihr jeden Monat eine gewisse Geldsumme. Sie weiß davon. Willst du mir also sagen, ihr benutzt das Geld nicht?«, sagte er, wobei sich sein Gesichtsausdruck in einen etwas Entsetzten wandelte.

»Was? Im Ernst?«, fragte ich perplex. Wir haben Geld? Wir haben sogar eine Menge Geld? Wir müssen gar nicht in so armen Verhältnissen leben? Okay, wenn ich recht überlegte, hatte ich schon ein gutes Handy, einen iPod, der zwar im Tresor meiner Mutter lag, weil sie dachte ich würde ihn verlieren, doch auch der Plasmabildschirm war sicher nicht billig. Aber wir hatten doch ständig Schulden. Wieso bezahlte sie die nicht mit dem Geld von Vater.

 

Doch ich kannte meine Mutter.

»Sie ist wieder mal zu stur, um es zu benutzen …«, murmelte mein Vater vor sich hin und legte seine Stirn in Falten. Vorsichtig nickte ich. »Das wird’s wohl sein …«

Er seufzte laut auf und grinste mich an.

»Typisch deine Mutter. Will alles alleine Regeln.«

»Bis jetzt klappte es auch irgendwie … schon …«

»Ja, sicher, ich halte deine Mutter für fürsorglich genug, dass sie darauf achtet, dass ihr Sohn ein gutes Leben hat. Doch hätte sie es wesentlich einfacher gehabt, wenn sie das Geld einfach benutzt hätte.«

Er seufzte ein weiteres Mal und war sichtlich mitgenommen darüber, dass meine Mutter das Geld nicht annehmen wollte. Ich nickte vorsichtig. Mein Blick wanderte von meinem Vater zur Tür. Auf dem Gang sah ich Mamoru, wie er einen Korb in Kiyoshis Zimmer brachte. Erst jetzt bemerkte ich den Stand­punkt der Sonne. Sie stand schon tief, was mich darauf schließen ließ, dass es später Nachmittag war.

»Wie viel Uhr ist es eigentlich? Ich hab die Zeit hier total vergessen …«, log ich etwas, obwohl es zum Teil wahr war.

»Es ist halb sechs.«

»Oh, schon so spät?«, wunderte ich mich. Ich hatte wirklich sehr viel Zeit hier verbracht. Vor allen Dingen lief ich immer noch in meinem Joggingoutfit rum.

»Kiyoshi wird gleich von Mamoru abgeholt.« Mit den Worten ging mein Vater aus dem Studio, ließ die Tür aber offen. Der besagte Satz hallte noch klanghaft in meinen Ohren nach.

Trotzdem: Krass, dass meine Mutter arm sein wollte, aus ihrer Sturheit heraus. Ich konnte es einfach nicht fassen. Apropos Mutter …

Ich rannte sofort aus dem Studio und schloss leise die Tür hinter mir. Der matte Gang huschte wie verschwommene Bilder an mir vorbei, als ich wie aus dem Nichts in meinem Zimmer stand. Ich konnte kaum bremsen, als ich stehen bleiben wollte. Schnell griff ich nach meinem Handy, das noch immer auf dem Schreibtisch lag. Vier verpasste Anrufe zeigte mir mein Display an.

»Oh …«, murmelte ich und atmete tief ein. Meine Mutter wollte ja noch mit mir reden. Vier Anrufe waren diesmal aber noch Gütig.

»Junger Herr, sie hatte hier angerufen. Sie bittet Sie, zurückzu­rufen«, hörte ich Mamorus Stimme an meiner Tür. Ich drehte mich langsam um.

»Danke, Mamoru. Werde ich tun.« Ich nickte kurz, dann ging er wieder.

Seufzend setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl und wählte ihre Nummer. Im Grunde wollte ich mir ihre Stand­pauke nicht anhören, aber andererseits wollte ich ihre Stimme wieder wahrnehmen.

 

Ein Freizeichen war zu hören. Es tutete. Dann hörte ich ihre besorgte Stimme.

»Hiro? Hiro, bist du das?«

»Hallo Mom, ja ich bin’s«, antwortete ich hörbar ruhig und freundlich.

»Hiro, wo warst du? Wieso bist du nicht an dein Handy gegangen?«

»Ich war im Studio und hatte es noch auf dem Schreibtisch liegen, hier in meinem Zimmer.«

Kurze Stille trat auf der anderen Leitung ein. Als sie jedoch anhielt, ergriff ich wieder das Wort.

»Eine schöne Harfe hattest du, Mama«, sagte ich ruhig und grinste ein wenig.

»Du … Du sollst deine Nase doch nicht in Dinge reinstecken, die dich nichts angehen.«

»Tut mir Leid, Mom.«

» … «

»Mom?«

»Du gibst keine Widerworte?«

»Passiert ist passiert, oder?«

»Hiro, Schatz, was ist mit dir passiert?« Sie klang so aufgeregt. Ich hatte das Thema um Kiyoshi und mir wohl damit abge­würgt.

»Glaub mir, wenn ich wieder da bin, dann bin ich wieder der Alte. Obwohl ich versuchen werde, ein nicht allzu schlechter Sohn mehr für dich zu sein.«

»Was redest du denn da? Du bist doch kein schlechter Sohn für mich! Gut, du bist öfter mal ungezogen und nicht immer nett zu mir, aber daran bin ich oft auch selber Schuld.« Sie klang kurz vor den Tränen.

»Mama …«

»Hiro, du bist ein guter Sohn. Du bist mein Schatz, das weißt du doch …« Dann brach ihre Stimme ab und ein Schluchzen kam durchs Telefon.

»Mama, bitte nicht weinen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie schluchzte noch einmal und zog kurz die Nase hoch.

»Mama, bitte…«

»Tut mir Leid, mein Schatz … Ich vermisse dich so …«, gluckste sie ins Telefon.

»Ich dich auch, Mama. Ganz dolle.« Ich wollte einmal ihr kleiner Hiro sein, den sie sich immer so wünschte. Auch wenn ich es im Moment etwas kindisch fand, fiel es mir nicht schwer, so zu sein. Zu meiner eigenen Verwunderung.

»Versprich mir, dass du mir erzählst, wenn dich irgendetwas bedrückt … Ja?« Ich schwieg kurz. Da belasteten mich genau zwei Dinge: Dass ich bald sterben werde und dass ich meinen Bruder liebe. Aber beide Dinge wollte ich ihr um keinen Preis erzählen.

»Mama, ich brauche auch meine Geheimnisse …«

»Die kannst du ja auch haben. Aber wenn dich etwas be­drückt und du dich schlecht fühlst, dann sag’s mir. Und nicht, weil das mein Job ist, sondern weil ich deine Mutter bin.«

»Klar, Mama.«

»Versprichst du es?«

» … « Ich wollte sie nicht anlügen. Und wenn ich es ihr versprechen würde, bräche ich unser Versprechen. Sie merkte wohl meine kleine Nervosität und nutzte die Situation schlag­artig für das tolle Thema aus.

»Hiro … Was ist passiert? Zwischen dir und deinem Bruder?«

»Mama, das …«

»Du weißt, dass ich eigentlich mit dir darüber reden wollte.«

»Ja, aber …«

»Hiro, das ist nicht mehr lustig. Ich hoffe für dich, dass du an dem Abend etwas genommen hast.«

»Was? Mama!«

»Hast du nicht? Du meintest das ernst?«

»Was genau sollte ich deiner Meinung denn ernst gemeint haben?« Unsere Stimmen wurden von Satz zu Satz immer lauter und aggressiver. Dabei wollte ich mich nicht mit ihr Streiten.

»Du hast … Du hast ihn geküsst … Und ihn verführt … Wolltest du etwa Sex mit ihm?«, schrie sie ins Telefon und klang weitaus verzweifelt.

Ja, wollte ich.

»Mama, natürlich nicht …«

»Bist du dir da sicher?«

»Ja, doch! Er ist mein Bruder, das wäre nicht nur Schwul, sondern auch noch Inzest!«

»Warum küsst du ihn dann?«

»Ich …« Mir fiel keine Ausrede ein. »Um ehrlich zu sein, weiß ich das auch nicht ganz. Ist so gekommen …«

»Tz!«, schnaufte sie ins Telefon. »Was ist mit ihm? Wollte er das?«

»Weiß ich nicht …« Meine Stimme senkte sich immer weiter.

»Du weißt es, Hiro. Wenn man sich küsst, merkt man doch, ob dein Gegenüber das ebenfalls möchte.« Wieso hatte meine Mutter so etwas studiert? Wieso fielen ihr solche Argumente immer ein und mir nicht?

»Ja, verdammt, er hat mitgemacht! Na und? Ich habe Jiro auch geküsst und es war kein Drama!«

»Du hast was?«, schrie sie in ihrer drei Oktaven höheren Stimme. Ups …

»Man, das war auf einer Party. Und jetzt war es halt die Müdigkeit oder irgendetwas anders!« Mein Faden war kurz vorm Reißen. Warum konnte sie mich in solchen Situationen nicht einfach das machen lassen, was ich machen wollte.

»Schatz … Wenn du dich für Männer interessierst, dann informiere mich doch -«

»Mama!«, schrie ich ins Telefon und sprang von meinem Stuhl auf. Sofort trat Stille ein. »Ich habe kein Interesse an Männern, noch interessiere ich mich für Kiyoshi. Ich weiß selber nicht ganz, was genau ich da gemacht habe, bin mir aber zu hundert­prozentig sicher, dass Kiyoshi sich genauso wenig was dabei gedacht hat, wie ich mir.«

Das Schweigen blieb erhalten. Ich war wieder laut geworden, schnauzte sie an. Aber was um alles in der Welt sollte das werden? Werden meine seltsamen Handlungen jetzt durch Homosexualität abgestempelt? Okay, wie sollte man es sonst nennen, trotzdem wollte ich mich mit diesem Stempel nicht abfinden.

»Mama, das … das ganze ist eine Sache zwischen mir und Kiyoshi. Ich wäre sehr damit verbunden, wenn du und insbesondere Vater, eure Nasen daraus halten würdet.«

»Ich …«, fing sie an, brach jedoch ab. Sie klang ziemlich fertig. »Ich dachte nur … Ich könnte dir vielleicht helfen in Bezug auf manchen Gefühlschaos in dir. Du warst in letzter Zeit so … seltsam. Und dann erzählte mir dein Vater heute Morgen, was zwischen dir und deinem Bruder passiert war. Ich dachte wirklich nur … es läge eventuell daran.« Sie klang nicht nur fertig, sie war es.

»Mama, wenn es dich beruhigt: Zwischen mir und Kiyoshi sind zwar eine Menge Unklarheiten, aber wir regeln das. Ich rede bald mit ihm und dann werde ich dir sagen, was wir abgemacht haben.«

»Abgemacht haben? Hiro, bei Liebe geht es nicht um Verträge, die man abmacht

»Welcher Idiot hat denn bitte von Liebe gesprochen?«, schrie ich wie aus dem Nichts wieder in mein Handy. Meine Mutter atmete ein, wollte etwas sagen, blieb aber still. Ich fasste mir an die Stirn, atmete tief ein und aus und versuchte meinen Puls ein wenig runterzuschaukeln.

»Mom … Tut mir Leid, aber … Versteh bitte, dass sich niemand etwas dabei gedacht hat. Wirklich nicht. Die einzigen, die in diese Sache zu viel hineininterpretieren seid ihr beiden, du und Vater.«

»Du liebst ihn also nicht?« Sie klang schon fast enttäuscht.

»Nein, Mama.«

»Gar nicht?«

»Natürlich liebe ich ihn …« Ich musste stocken. »… als Bruder, aber mehr auch nicht.«

»Ich verstehe …«

Nun schwiegen wir. Es war eine peinliche Stille, sie machte mich verrückt. Weil es genau um meine Gefühle ging, bei denen ich meine Mutter anlügen musste. Ich versank richtig in meinem Lügenschlund.

»Kann ich ihn sprechen?«, brach meine Mutter die Stille.

»Wen? Vater?«

»Nein, deinen Bruder.«

Oh, oh.

»Äh, der ist noch in der -«

Wie als hätte er den richtigen Moment abgewartet, öffnete sich die Tür und Kiyoshi trat in mein Zimmer.

Unsere Augen trafen sich. Seit gestern Nacht hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er sah zwar etwas fertig aus, wahr­scheinlich wegen dem langen Schultag, trotzdem zeigte er seine standardmäßige Anmut. Sein Blick verriet im ersten Moment nichts, doch so langsam durchschaute ich seine Mimiken. Seine Augen glänzten ein wenig. Auch er schien sich bei meinem Anblick an gestern Nacht zu erinnern. Und was noch viel wichtiger war: Abstoßend oder angewidert sah er nicht gerade aus. Er strahlte eher das Gegenteilige aus.

 

Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, kam er auf mich zu.

»Oh, hallo Kiyoshi«, sagte ich erstaunt. Er stellte sich kurz neben mich.

»Hallo, Hiro.« Seine Stimme war so ruhig und sanft in meinen Ohren, fast wie eine Melodie. »Du telefonierst?«

»Ja, Mom ist dran.« Ich hielt das Handy wieder an mein Ohr. »Mom? Kiyoshi ist doch da. Willst du ihn noch haben?«

»Ja, bitte, gib ihn mir.«

Sofort spürte ich seine kalte Hand an meiner, wie er noch an meinem Ohr nach dem Handy greifen wollte. Unsere Blicke trafen sich ein weiteres Mal, ich kam ihm etwas näher. Ein Kuss wäre schön gewesen …

Ich spürte seinen Atem schon auf meiner Haut, seine Nase berührte kurz meine. Er hielt still, wartete wahrscheinlich nur darauf, dass wir uns berührten.

»Hallo?«, kam die Stimme meiner Mutter aus meinem Handy. Sofort ließen wir voneinander ab. Das ‚Hallo’ wiederholte sich noch einmal, dann überließ ich Kiyoshi mein Handy und er ging ran.

»Hallo Mutter«, begrüßte er sie. Ganz anders als ich. So versteift, obwohl ich meinen Vater auch nicht direkt am Anfang ‚Dad’ genannt hatte.

Ich verstand nicht viel vom Gespräch. Sie fragte ihn wohl, wie es ihm ging, ob alles klar sein würde. Dann packte sie das Problem wohl am Schopf. Kiyoshis Miene blieb unergründlich, sagte nichts über seine Emotionen aus. Er sagte nur ‚ja’ und ‚nein’, mehr nicht. Er wich nicht von meiner Seite, blieb genau da stehen, wo er vorher stand. Ich traute mich aber nicht, mein Ohr ans Handy zu legen und zu lauschen, während er telefonierte. Ich wusste zwar worum es ging, doch hatte ich keine Ahnung, wie weit da Privatsphäre drin war.

Plötzlich hörte ich meine Mutter etwas fragen und Kiyoshi schwieg. Sein Blick wanderte sofort nach rechts. Er legte seine Stirn in kleine Falten und bildete mit seinen Lippen eine gerade Linie.

»Ich weiß es nicht …«, murmelte er. Er schien sich etwas von mir wegzudrehen. Ich konnte mir denken, welche Frage das war. Wahrscheinlich die, die ich erst auch mit ‚Ich weiß es nicht’ beantwortet hatte. Obwohl ich mir jetzt sicher war. Und ich bejahte die Frage. Ob er sie innerlich auch bejahen würde? Mein Herz fing heftig an zu schlagen. Mein Puls stieg an und mein Atem wurde abgehackt. Ich war so aufgeregt, wollte wissen, was er wirklich dachte.

Dann setzte er wieder sein ‚ja’ und ‚nein’ fort. Nach wenigen Minuten nickte er kurz und drehte sich wieder zu mir.

»Soll ich dir Hiro noch mal geben?«, fragte er sanft. Sie sagte wohl ‚ja’, denn er verabschiedete sich und reichte mir den Hörer.

»Mom?«

»Ich wollte dir noch eine gute Nacht wünschen, Schatz.«

Ich sah im Augenwinkel, wie Kiyoshi schon gehen wollte. Da packte ich sein Handgelenk und hielt ihn davon ab. Er sah mich verwirrt an, blieb jedoch brav stehen. Sofort kam er wieder auf mich zu, schob sein Handgelenk etwas höher und legte seine Hand in meine.

»Oh klar. Dann … schlaf schön und eine gute Nacht«, mur­melte ich schon fast.

»Danke, dir auch, träum schön. Wir … reden spätestens am Ende der Woche noch mal darüber.«

»Klar …« Hm, gefiel mir jetzt nicht so.

»Tschüss, Schatz.«

»Ciao, Mama.«

Ich nahm das Handy von meinem Ohr und legte auf. Sachte platzierte ich es wieder auf meinem Schreibtisch. Ich spürte Kiyoshis fragenden Blick. Zärtlich umschloss er meine Hand, drückte sie ein wenig. Es tat mir innerlich weh, die Sache anzusprechen, wollte ich ja weder Streit noch ihn wegen irgendeiner misslichen Lage anlügen. Ich wollte ihm sagen, was ich fühlte, wobei ich mit mir selbst noch nicht ganz im Klaren war. Vorsichtig sah ich ihm in die Augen. Seine Miene sah gleichgültig aus, trotzdem schien er auf eine Reaktion meiner­seits zu warten.

»Wir sollten darüber reden …«, sagte ich in einem weniger harten Ton, als er beabsichtigt war. Sofort blickte er auf den Boden. Er schluckte kurz. Suchte er nach Worten?

»Schließe heute Abend einfach dein Zimmer ab«, murmelte er vor sich hin, während er sich eine kleine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie fiel wieder zurück.

»Willst du nicht darüber reden …?« Enttäuschung stieg in mir auf.

»Was willst du bereden? Egal wie es von uns gewollt war, oder dementsprechend nicht, es wird in keinem Fall noch einmal vorkommen. Da können wir wenig machen.« Sein Blick sah traurig aus, sagend, dass er keine Hoffnung für irgendetwas hatte. Aber das war nun mal mein Bruder. Hoffnungsloser Fall bezüglich des Lebens und des Lebens Freuden.

»Vielleicht wenig, aber immerhin etwas …«, flüsterte ich ihm entgegen, als ich näher auf ihn zukam. Fünf Zentimeter trennten vielleicht unsere Gesichter voneinander. Er blickte auf, sah sofort in meine Augen und schien erst nicht ganz zu verstehen was ich meinte. Ich schloss meine Augen, drehte mich zum Fenster und wendete meinen Blick wieder zu ihm. Seine Augen weiteten sich etwas, sahen ebenfalls aus dem Fenster. Er schien kurz zu überlegen, was ich meinte, dann lächelte er. Wie schön er war, wenn er lächelte. Meine Wangen erröteten leicht, als er seine Augen wieder gen Boden senkte.

»Dann …«, fing er an und kam auf mich zu. Mein Herz klopfte so wahnsinnig, als er mir in mein Ohr flüsterte, während er meine Hand drückte. »… leg den Schlüssel auf den Türrahmen ohne, dass Vater es merkt. Dann komme ich dich um Mitternacht abholen.«

Ich nickte wie benebelt. Unsere Finger der jeweils anderen Hand berührten sich kurz, dann umschlossen wir auch dort die Finger. Ich spürte seinen Atmen in meinem Hals, seine Nähe an meinem Körper. Sollten wir wirklich wieder …? Hier und jetzt? Ist es das Risiko wert, dass wir wieder erwischt werden?

Die Sonne schien noch fade durch die Löcher der Rollläden …

Das Monster

Seine Nähe war so angenehm und doch beängstigend anziehend. Ich könnte es jedes Mal denken, jedes verdammte Mal, wenn wir uns berührten.

»Hiro …«, flüsterte er sachte meinen Namen, während er mir fest in die Augen sah. Wir durften das nicht tun; würde Vater uns nur noch einmal erwischen, müsste er gehen. Wegen mir. Wegen meiner mangelnden Selbstbeherrschung.

Wir legten unsere Stirn aufeinander, versinkend in den Augen des anderen. Diese Augen, die aussahen wie meine, dieses Gesicht, das meinem so ähnelte, diese vampirische Aura, die mich so fesselte.

 

Das war also Liebe.

 

Ich wendete meinen Blick abwärts, legte meinen Kopf etwas schräg und näherte mich seinen Lippen. Tatsächlich hielt er still, schloss seine Augen und wartete ab, was ich tat. Das gefiel mir so unglaublich.

Unsere Lippen berührten sich kurz. Sachte lagen sie auf­einander, bis ich meine etwas stärker an seine drückte. Mit leichten auf und zu Bewegungen unserer Lippen genossen wir den leidenschaftlichen Kuss. Ich spürte, wie ihm das gefiel, wie sein Kuss energischer wurde. Dabei sollten wir nichts über­stürzen … Wenn er jetzt weitermachen würde, könnte ich vielleicht nicht mehr an mich halten. Vielleicht würde ich dann da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Und das wäre ganz und gar nicht gut gewesen.

Wir lösten unsere Hände von­einander. Er schlang seine um meinen Nacken, während ich meine Hände auf seinen Rücken legte. Vorsichtig strich ich über sein schwarzes Hemd. Die Erinnerung an gestern Nacht kam zurück und erweckte in mir große Sehnsüchte. Doch ich durfte nicht. Ich durfte einfach nicht, auch wenn ich danach verlangte.

Sanft drückte ich ihn von mir. Er sah mich etwas perplex an, verstand wahrscheinlich nicht, wieso ich ihn abwies. Sofort zog ich ihn wieder an mich, legte aber nur meine Stirn auf seine.

»Wir dürfen nicht … Wenn sonst, dann …«, flüsterte ich ihm entgegen. Er nickte nach einigem Zögern.

»Ich weiß …«, flüsterte auch er, setzte aber erneut zum Kuss an. Ich wich zurück.

»Kiyoshi, ich mein es ernst. Wenn Vater uns erwischt, war’s das mit unserem bisherigen Kontakt.«

Sein Blick senkte sich. Dann nickte er erneut, diesmal mit mehr Einsicht.

»Okay … Du hast Recht, sorry.« So locker? Meine Art zu Reden färbte wohl genauso auf ihn ab, wie seine auf mich.

Wir lösten uns voneinander; nur bedingt damit einverstanden ließen wir uns los. Wir standen uns gegenüber, wie bestellt und nicht abgeholt. Starrten beide auf den Boden und warteten irgendetwas ab. Ich bemerkte, wie Kiyoshi kurz seine Lippen aufeinander drückte.

»Ich geh dann lieber mal in mein Zimmer. Ist ja schon spät.« Damit setzte er niedergeschlagen zum Gehen an. Doch ich packte ihn unbewusst wieder am Handgelenk. Er drehte sich zu mir um und wartete ab, was ich tat. Vorsichtig hob ich seine Rückhand an und küsste ihn sachte, sah in seine Augen. Sein Blick weitete sich überrascht.

»Gute Nacht, Kiyoshi …«, sagte ich mit einem sanften Lächeln und ließ seine Hand wieder los. Langsam sank sie wieder zu ihm. Er lächelte mich an. Als hätte ich ihm die größte Zuneigung in seinem bisherigen Leben geschenkt. Er sah glücklich aus. So glücklich hatte er noch nie gelächelt. Es schien, als ob er alle Depres­sionen vergessen hatte. Wie mein Herz klopfte, als er mich auf diese Weise anlächelte.

»Danke … dir auch«, hauchte er leise.

Damit verschwand er endgültig.

 

Ich hatte zwar keine genaue Ahnung, was ich da grade getan hatte, war aber stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, ihn zum Lächeln zu bringen. Auch noch zu einem solch glücklichen Lächeln.

Wie festgewurzelt stand ich am Schreibtisch und starrte auf die geschlossene Tür. Ich seufzte dann kurz, der Euphorie wieder nachblickend. Meine Hand­lungen wurden von Mal zu Mal komplizierter. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Langsam drehte ich mich zum Fenster. Die Sonne stand noch tiefer als vorhin und nur wenige Strahlen kamen in den abgedunkelten Raum. Ich ging zum Band der Rollläden und ließ sie mit einem lauten Aufschlag vollständig herunter­fahren. Ich konnte zwar nicht gut sehen, aber einiges wurde allmählich klarer. Vorsichtig zündete ich die schwarze Kerze mit dem Feuerzeug aus der Schublade an. Ein gedämpftes Licht er­hellte meinen Raum. Ich legte das Stück Plastik wieder zurück in die Schublade und setzte mich wieder auf den Stuhl.

Aus Langeweile spielte ich ein wenig mit der Kerze.

Ob er die gleichen Gefühle hat? Ob er diese Gefühle für mich empfindet? Immerhin deutete alles darauf hin. Kaum verkenn­bar, dass er es nicht wollte. Eine kleine Hitzewelle durchfuhr mich bei dem Gedanken an letzter Nacht. Diese Bilder wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Mein damaliger Traum wäre beinahe Wirklichkeit geworden. Dieser Tagtraum, der einerseits seinen Reiz hatte, aber andererseits unglaublich widerlich war. Verbunden mit meinem anderen Traum, in dem Kiyoshi und ich auf dem Friedhof waren und Vater unsere Herzen in seinen Händen zerquetschen wollte, dachte ich schon fast, ich könnte Hellsehen. Aber der Gedanke erwies sich als absurd, als ich weitere Träume von mir durchging und keiner von denen in Erfüllung ging. Mit meinem Zeigefinger durch die Flamme gehend, lauschte ich der Stille. Ich musste nur noch einige Stunden warten. Vielleicht sollte ich etwas schlafen? Mein Blick fiel auf mein Bett. Nicht, dass ich verschlafe.

»Noch knappe vier Stunden …«, murmelte ich. Ich war weder müde noch wollte ich schlafen gehen. Aber vier Stunden in der Nacht schienen unendlich lange zu dauern. Gerade dann, wenn ich nichts zu tun hatte.

 

Nach mehreren Minuten stand ich auf und ging zu meinem Schrank. Vorsichtig öffnete ich ihn, um jegliches Quietschen zu vermeiden. Mit meinen weißen Händen griff ich in den dunklen Schrank, zog ein weißes Hemd raus und meine schwarze Krawatte. Es wäre mal Zeit, sich umzuziehen, der Jogginganzug war mir langsam zu unordentlich. So wollte ich nicht mit ihm reden. Sachte platzierte ich das Hemd mit der Krawatte auf meinem Bett, ging wieder zum Schrank, zog die neue Jeans mit den vielen Nieten und Taschen raus. Kiyoshi mochte sie nicht, trotzdem passte sie zur Stimmung: finster und obskur.

Ich zog mir mein T-Shirt aus, schmiss es zusammengeknüllt auf mein Bett und ging weiter ins Kerzenlicht. Kleinlich betrachtete ich meinen Bauch. Er war zwar stramm und hatte für mich kein Gramm Fett zu viel, trotzdem störte mich etwas an ihm. Waren es die blauen Adern, die nun heraus stachen, oder war es die blasse Haut, die mich so mager erscheinen ließ?

»So anders …«, flüsterte ich, während ich über meine Haut strich. »Fühlt sich so anders an …« Ich betrachtete ihn weiter, wanderte mit meinen Augen auf meine Arme. Kleine, weiße Härchen wuchsen auf ihnen, kaum erkennbar, aber im faden Schein der Kerze wie fein gesponnenes Garn.

Mit einem leichten Kopfschütteln ließ ich von meinem Körper ab, zog meine Jogginghose aus und knüllte sie zusammen. Ich ergriff die schwarze Hose, zog sie an und erinnerte mich kurz an den menschlichen Moment, wo ich in der Umkleide stand und begeistert an der Hose rumfummelte. Sie passte wie für mich geschneidert und sah in Kombination mit dem Hemd gar nicht so extrem aus. Vorsichtig knöpfte ich das Hemd zu, ließ die ersten zwei Knöpfe aus und band die Krawatte locker um meinen Kragen. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich ihn hochgestellt lassen sollte, klappte ihn aber dann doch um, da ich ein bisschen ‚Hiro’ noch beibehalten wollte. Sachte strich ich mir durch meine Haare. Sie waren schon wieder sehr lang geworden, aber so lang wie Kiyoshis Haare waren sie noch lange nicht. Ob er überhaupt mal beim Friseur war? Wahrscheinlich schnitt er sie sich selbst, so sah es nämlich aus. Aber genau diese zerzauste Mähne stand ihm so unglaublich gut. Nur an ihm sah das klassisch aus. Nur an ihm wurden Haare zu einer sexuellen Ausrichtung.

Ich richtete grinsend noch etwas meinen Kragen, zog noch ein wenig am Hemdrand, damit das Stück Kleidung richtig saß.

 

Plötzlich klopfte es an der Tür.

»Ja?«, sagte ich und wartete auf die Reaktion.

Vorsichtig und langsam öffnete sich die Tür und mein Vater schaute in mein Zimmer.

»Hiro? Ist alles klar bei dir?«, fragte er schon fast besorgt und schloss hinter sich die Tür.

»Ja, wieso?« Dabei sah ich mich verwundert um.

»Es ist so dunkel hier. Willst du nicht das Deckenlicht an­machen?«

»Hm, nee. So ist’s angenehmer für die Augen.«

»Sicher.« Er nickte kurz und verfestigte seinen Ausdruck. Seine Lippen bildeten eine strenge Linie, wie Kiyoshi es gerne tat. Trotzdem spürte ich seinen musternden Blick auf mir.

»Wozu bist du so angezogen?«, fragte er sicher nicht nur aus reiner Neugier.

»Nur so«, log ich und sah an mir runter. »Wollte die neue Hose noch mal anziehen.«

Er nickte langsam. Eine Schweigeminute trat ein, während sein Blick durch mein Zimmer wanderte. Doch dann brach er die Stille.

»Ich bin hier«, fing er an, »um dir kurz gute Nacht zu sagen und mich zu vergewissern, dass du wirklich abschließt.«

Ich musste schlucken.

»Wieso sollte ich nicht abschließen?«

»Na ja. Darüber müssen wir ja nicht reden.« Er räusperte sich kurz.

»Mich würde schon interessieren, wieso ich abschließen muss. Den richtigen Grund hast du mir ja noch nicht genannt.«

»Kiyoshi kommt gerne vorbei, wenn Türen offen stehen«, murmelte er schon fast.

»Wieso schläft er nicht? Wie jeder andere auch.«

»Wir sind normalerweise Nachtaktiv. Das solltest du aus den Filmen und Büchern kennen.«

»Na ja, normalerweise. Aber ihr bewegt euch ja Tagsüber wie normale Menschen durch die Gänge.«

»Das kommt nur durch Kiyoshis Schule. Ansonsten arbeiten wir alle nachts.« Seine Miene wurde angespannt. Er wollte wahrscheinlich nicht so genau mit mir über diese Dinge sprechen.

»Arbeiten? Das heißt du bist nur in der Nacht als Privat­detektiv unterwegs?«

»So in der Art.«

»Wow.« Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen. »Und was ist jetzt mit Kiyoshi? Wieso dreht er so ab, wenn es nachts ist?«

»Das kannst du ihn ja selber fragen.«

»Willst du es mir nicht sagen?«

»Lieber nicht.«

Ich seufzte laut auf. Vater machte gerne Geheimnisse um etwas.

»Vater. Ich bin schon halb tot. Bin auf bestem Wege, so zu werden wie ihr. Wäre es dann also nicht langsam mal an der Zeit mir zu sagen, was Sache ist?« Mein genervter Unterton wurde von Wort zu Wort stärker, da ich es kaum mehr unterdrücken konnte. In solchen Dingen regte er mich mit seiner höflichen und zurückhaltenden Art einfach nur auf.

»Kiyoshi und du seid euch doch schon so nah gekommen. Dann wird er dir sicherlich auch jede Frage beantworten, die du ihm stellen wirst. Ich weise dich nur auf Gefahren hin, weiter nichts. Der Rest liegt bei dir.« Hm. Der Part mit Kiyoshi war hart sarkastisch.

»Okay, jetzt habe ich die Gefahr kennen gelernt. Schlauer bin ich trotzdem nicht.«

»Schließ einfach ab.« Damit ging er zur Tür und öffnete sie. »Gute Nacht, Hiro. Du bleibst morgen selbstverständlich auch zu Hause.« Dann ging er. Sachte wurde die Tür hinter mir verschlossen.

Um ihn glücklich zu machen, ging ich zum Schloss und drehte den besagten goldenen Schlüssel um. Das Gefühl, dass er noch hinter der Tür stand, verschwand in Kürze. Ich seufzte kurz auf. Unglaublich dieser Mann. Ein Wunder, dass meine Mom sich für ihn interessierte. Oder interessiert hatte. Mein Problem war aber nicht er, sondern der Schlüssel. Ich zog ihn aus dem Schlüsselloch und überlegte, wie ich ihn ohne große Umstände auf den Türrahmen bekommen sollte. Natürlich der Türrahmen auf der anderen Seite. Ich überlegte kurz und kam zu dem Entschluss die Tür ohne den Schlüssel irgendwie abzuschließen. Das Schloss sah nach einem einfachen Kegel­schloss aus. Ich hatte so meine Erfahrungen mit Türen in Schulgebäuden. Unsere Schule war nämlich auch nicht mehr die Jüngste und wenn auf die Schnelle kein Lehrer kam, um uns die Tür aufzuschließen, haben wir sie eben selber aufgemacht. Da war nie irgendeine Petze, die den Lehrern gesagt hat, wie böse der Hiro war und die Tür mit einer Haarnadel von Lampe geöffnet hatte. Für andere Dinge habe ich meine Kenntnisse natürlich noch nie verwendet ... Nein. Ich würde niemals in ein Freibad einbrechen. Oder bei Jiro, um ihn zu erschrecken. Nein, nein.

Also schloss ich meine Tür wieder auf, sah kurz in den Gang und als ich niemanden entdeckte, legte ich den Schlüssel oben auf den Türrahmen. Sofort verschwand ich wieder in meinem Zimmer und schloss die Tür. Hastig suchte ich nach einer Haarnadel, natürlich besaß ich keine. Dann fiel mein Blick auf den Schreibtisch. Ich rannte zu ihm, öffnete die letzte Schub­lade und entkleidete den Tacker, um an seine Heftklammern zu kommen. Mit viel Gefummel hatte ich das kleine Stück Metall in eine Nadel geformt. Am Ende knickte ich sie etwas, ging zurück zur Tür und steckte die funkelnde Nadel in das Zylinderloch. Es war eine ziemliche Fummelarbeit, aber irgendwann machte es ‚Klack’. Ich drehte noch einmal, um die Nadel wieder aus dem Schloss zu bekommen. Mit einer prüfenden Handbewegung drückte ich die Klinke runter. Die Tür war verschlossen. Das war so krank, so absurd. Ich schloss mich selber in meinem Zimmer ein ohne den Schlüssel bei mir zu haben. Was ich nicht alles tat, nur damit wir in Ruhe irgendwo sein konnten. Ungestörtes Reden oder Handeln war in diesem Haus wirklich undenkbar. Ständig war irgendwer in der Nähe. Das war noch schlimmer als bei meiner Mutter und mir in der kleinen Wohnung. Selbst dort hatte ich mehr Freiheit um die Hüften.

Seufzend schmiss ich mich wieder auf den Stuhl und tätigte einen prüfenden Blick auf meine Handyuhr. Kurz nach halb neun war nicht sonderlich spät. Und mir war jetzt schon langweilig. Ich starrte auf den Berg Schmutzwäsche auf meinem Bett. Vor Langeweile stand ich auf und entfernte ihn, schmiss ihn neben meinen Schrank. Legte ihn doch lieber auf meinen Stuhl, aber da wollte ich sitzen, also schmiss ich ihn in den Schrank. Doch da war meine saubere Wäsche, also platzierte ich ihn neben mein Nachttischschränkchen; da sah das ganze Zimmer mit eiem Mal sehr schlampig aus. Ich legte den Schmutzhaufen endgültig auf die Holzkiste und dort würde er auch bleiben. Da stand ich nun. Nichts tuend. Wieder strich ich mir durch die Haare. Mir fiel dieser leichte Fettfilm auf den Fingern auf. Mist, ich hatte tatsächlich vergessen, dass ich noch duschen musste. Da konnte man mal sehen, wo ich im Moment mit meinen Gedanken war.

Ich wollte mir schon mein Hemd ausziehen, ließ es aber doch lieber an, da ich noch einen freizu­gänglichen Gang betreten musste. Also knöpfte ich es nur auf, schnappte mir eine Boxershorts und wollte aus dem Zimmer gehen. Erst wunderte ich mich, wieso die Tür abgeschlossen war. Dann riss ich am Türgriff. Ich suchte verzweifelt den Schlüssel. Erst, als ich die kleine Nadel auf meinem Schreibtisch sah, erinnerte ich mich, was ich getan hatte. Etwas genervt griff ich die Nadel und öffnete mit viel Gefummel wieder die Tür. Kurz lauschte ich, ob jemand auf dem Gang war. Als niemand zu hören oder wahrzunehmen war, betrat ich ihn vorsichtig. Hinter mir schloss ich leise die Tür und so schnell ich konnte, rannte ich ins Bad. Da jedes Mal, wenn ich duschen wollte, niemand im Bad war, öffnete ich einfach die Tür. Und schon hörte ich das Wasser rauschen.

Sofort drehte ich mich zur Dusche um. In ihr stand er. Splitternackt, unter der Brause, kaum erkennbar durch das Milchglas. Doch es war definitiv er. So viele Leute, die mir so ähnlich sahen, gab es in diesem Haus nicht. Mein Herz klopfte unglaublich. Es machte bis zu seinem Stillstand noch eine ganz schöne Menge mit. So viel Herzklopfen wie in letzter Zeit, hatte ich selten. Beziehungsweise noch nie.

Erst als ich meine Boxershorts auf einem der weißen Schränke ablegte und näher zur Duschkabine vortrat, schien er zu bemerken, dass jemand weiteres im Bad war. Sofort steckte er seinen nassen Kopf durch die Duschwand.

»Hiro? Was machst du hier?«, fragte er sichtlich überrascht über meinen Besuch; konnte mich sicherlich kaum sehen, da seine langen Haare ihm nass im Gesicht hingen.

»Äh … Oh … Ich …«, stotterte ich los und wusste nicht ganz wo ich anfangen sollte. Immerhin stand er nur wenige Meter von mir entfernt, nackig noch dazu und klatschnass. Meine Wangen färbten sich leicht rosa, als mich auch noch seine Augen trafen und nicht loslassen wollten.

»Wolltest du auch duschen?«, fragte er erneut, wesentlich entspannter, als ich es war.

»Äh, ja. Ja, eigentlich schon, aber wenn du ja grade am duschen bist, dann komm ich gleich noch mal wieder.« Für diesen dämlichen Satz hätte ich mich schlagen können. War es denn nicht der perfekte Moment?

Er schien kurz zu überlegen, da er seinen Blick von mir abwendete und auf die Fliesen starrte. Doch auf einmal sah er mich wieder entschlossen an. Mein Herz klopfte noch stärker als vorher.

»Ja, ist … besser so, denke ich.« Er nickte kurz und ver­schwand dann wieder in der Dusche. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich meinen Atem angehalten hatte. Langsam ließ ich die aufgestaute Luft wieder raus. Etwas enttäuscht drehte ich mich schon um und ergriff die Türklinke.

Noch wartete ich kurz ab. Doch als nichts Weiteres kam, drückte ich die Klinke runter und ging aus dem Raum.

Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir. Mit dem Rücken zur Wand wartete ich ab, bis er fertig war. Stumm und starr blickte ich zu Boden und spielte mit dem Gedanken, einfach wieder ins Bad zu stürmen und ihn nieder zu küssen. Immerhin war er schon mal nackt, da würde ich mir einiges sparen. Doch ich fasste mir nur an die Stirn und rieb heftig.

»Idiot, Idiot, Idiot …«, flüsterte ich zu mir, während ich meinen Kopf in meine Hände legte.

Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür einen Spalt.

»Also von mir aus, kannst du jetzt wieder reinkommen«, flüsterte Kiyoshi durch den Türspalt. Ich lauschte auf. Es schien, als würde Vater uns wieder abhören.

»Okay, danke.« Mit einem leichten Lächeln betrat ich wieder das Bad; bemüht um mehr Selbstbewusstsein. Er stand in nur einem Handtuch um die Hüften vor dem Spiegel und kämmte sich die Haare. Ich konnte gar nicht meinen Blick von seinem Körper abwenden. Es war das erste Mal, dass ich ihn so bei Licht sah. Seinen freien Oberkörper einfach so ansehen konnte. Er war dünn und bleich, ein paar Sehnen stachen heraus. Von den unzähligen Adern mal abzusehen. Ich fühlte mich schon fast dick, als ich seinen schmalen Körper so betrachtete. Aber wenn ich mich direkt neben ihn ihm Spiegel betrachtete, fühlte ich mich gleichzeitig auch muskulöser. Stärker. Dominanter. Ich schüttelte leicht den Kopf und spürte, wie heiß mein Kopf wurde. Kiyoshi, nur in einem Handtuch, stand wenige Meter von mir. Und das aller Beste: Ich zog mich auch aus. Fürs Duschen sollte ich nackt sein. Erst ließ ich das Hemd fallen und faltete es ordentlich neben meiner Boxershorts auf dem weißen Schrank, dann fing ich an meine Hose aufzuknöpfen. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, da ich ihm meinen Rücken zudrehte, konnte ich seine Blicke spüren. Er beobachtete mich durch den Spiegel hindurch. Wahrschein­lich ging es nicht nur mir so benebelt. Als ich auch meine Hose ordentlich neben meinem Hemd faltete, verharrte ich kurz in meiner Bewegung. Ich überlegte, was ich vom Waschbecken gebrauchen könnte, als Vorwand zu ihm zu gehen. Leise hörte ich das Klacken der Bürste, wie sie wieder auf die Marmorplatte gelegt wurde. Ich überlegte und überlegte, doch mir wollte nichts einfallen. Sofort brach ich den Gedanken ab und fasste mir an meinen Boxershortsbund. Ich wollte duschen gehen, musste dafür diese Hose noch ausziehen. Kiyoshi ist schon so gut wie nackt, ich wäre es dann auch noch.

Ich hörte seine Schritte, wie er zum Whirlpool ging. Vor­sichtig drehte ich mich um. Mein Blut schoss mir sofort in den Kopf.

Er hatte sein Handtuch weggelegt, hing es um eine der weißen Stangen an der Wand und griff langsam nach seinen Sachen. Ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Das war der Körper, den ich so begehrte. Dieser Körper, der in meinen Fantasien herumspukte, stand vor mir, einfach so, unmittelbar von mir entfernt.

 

Schnell zog ich meine Boxershorts aus und sprang in die noch offene Duschkabine. Leider vergaß ich, dass der Boden von Kiyoshis Duschgang noch nass war und rutschte mit hoch­rotem Kopf aus. Ein Gepolter der feinsten Art. Ein schmerz­haftes Stöhnen entglitt mir. Ich hörte seine schnellen Schritte näher kommen. Dann lugte er in die Dusche.

»Ist alles klar, Hiro?«, fragte er etwas besorgt, den monotonen Unterton nicht ausblendend. Doch versah ich mich? Seine Gesichtsfarbe wurde zartrosa, als er mich splitter­nackt in der Dusche hocken sah. Zum Glück konnte er nichts Wesentliches von mir sehen, da ich auf allen Vieren hockte. Ich blickte zu ihm auf und Grinste.

»Alles klar!«

Mir war das fürchterlich peinlich, obwohl ich schon schlim­mere Situationen gewöhnt war. Immerhin kannten wir dieses Spiel schon zu gut von damals, wo ich das Duschsystem nicht kapiert hatte. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, doch Kiyoshi schien keine Anstalten zu machen, sich von der Dusche zu entfernen. Eine kleine Stille trat ein. Kiyoshi hing wie ein kleiner Junge am Rande des Milchglas und starrte auf den Boden. Ich stand genau vor ihm, er hätte nur aufschauen müssen. Aber was hätte ich schon zu verbergen gehabt. Als niemand etwas sagte, räusperte ich mich kurz.

»Kiyoshi? Ich … will dich ja nicht von der Dusche scheuchen, aber …«, murmelte ich vor mich hin.

»Klar, tut mir Leid.« Mit den leisen Worten löste er sich vom Milchglas und ging zurück zu seinen Sachen. Sachte schloss ich die Tür der Duschkabine und schaltete das Wasser an. Irgendwann, Kiyoshi. Irgendwann duschen wir zusammen.

 

Das Wasser prasselte auf mein Gesicht, die kleinen Wassertropfen massierten sachte meine Haut. Mit beiden Händen strich ich mir durch die Haare. Ich fühlte mich gut. Ich war weder erschöpft noch übermüdet, keine Kopfschmerzen oder sonstige Beschwerden. Ich spiegelte mich etwas an der glatten Oberfläche der Wand. Meine Augen versanken richtig in ihren schwarzen Kuhlen, während die Wassertropfen über meine kahle Haut flossen, ihre Bahn über meine fast weißen Lippen fortsetzten, um dann von meinem Kinn zu tropfen. Vorsichtig betrachtete ich meine Hände. Es verging so wenig Zeit und ich sah schon so verändert aus. Was wohl in meinem Körper gerade vorging? Mom würde mich nicht wieder­erkennen. Sie würde es merken. Sicherlich.

Ich hörte ganz leise im Hintergrund Schritte, bis sich eine Tür öffnete und wieder schloss. Danach trat Stille in den Raum, ausgenommen das Wassergeplätscher.

Wir würden uns gleich sehen. Uns treffen. Außerhalb dieses Hauses. Ich war noch nie außerhalb dieser vier Wände mitten in der Nacht. Wenn er sich wieder nicht unter Kontrolle hat? Mir egal. Hauptsache, ich hatte ihn bei mir.

Ich musste grinsen.

»Wahnsinn, bin ich schwul …«, flüsterte ich in den Wasserstrahl der Brause. Wenn meine Ex über so etwas damals redete, ekelte ich mich. ‚Bedingungslose Liebe’ und ‚Für immer und Ewig’ hieß es da immer. Das waren Horrorvorstellungen für mich. Weswegen ich meinen Exfreundinnen dann auch nach spätestens drei Monaten den Laufpass gegeben hatte. Aber jetzt ... es gab keine schönere Vorstellung in meinem Kopf, als noch viele weitere Tage, Wochen oder Jahre mit Kiyoshi zu verbringen. Als hätte ich ihn endlich nach so langer Zeit gefunden. Meinen Seelenpartner.

Sanft massierte ich das Shampoo in meine Haare ein, spülte es wieder ab und cremte mich mit Duschgel ein. Mein Körper war dünn geworden. Als hätte ich fünf Kilo abgenommen. Be­stimmt hatte ich die auch, immerhin aß ich nichts mehr. Außer diese Tabletten; und die hatten bestimmt keine Kalorien oder Fettanteile. Wovon sollten sich meine Muskeln dann auch ernähren ...

Als ich meinen Duschgang endlich beendet hatte, stieg ich aus der Kabine und trocknete mich mit meinem Handtuch ab. Schnell zog ich mich wieder an, kämmte meine Haare und legte das Handtuch wieder über den Ständer. Ich wollte jegliche Blicke in den Spiegel vermeiden, so hatte ich schon genug heute ausgetauscht. Ausnahmsweise war mir mal nicht nach depressiven Blicken eines Monsters, welches sich nur selbst bemitleidet und aus Verzweiflung mit sich selber sprach. Den noch immer verschollenen Föhn wollte ich auch nicht mehr suchen. Ich glaubte langsam, dass es hier überhaupt keinen gab.

Ich zog wieder meine Hose und mein Hemd an, band die Krawatte um den Kragen und schnappte mir meine Schmutz­wäsche, die eigentlich nur aus meiner Boxershorts bestand. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Gang war still und wieder einmal nur matt beleuchtet. Die verschnörkelten Lichter an den Wänden des Ganges tauchten ihn in eine finstere Stimmung. Doch wie so alles wurde auch das nach einer Zeit langweilig. Also ließ ich mich nicht weiter von der Stimmung stören und tätigte meinen Weg weiter in mein Zimmer. Kurz lauschte ich an Kiyoshis Tür. Natürlich hörte ich nichts. Manchmal fragte ich mich, was es alles für Aktivitäten gab, bei denen man kein einziges Geräusch von sich geben würde. Lesen, schlafen, nur rum sitzen oder einfach gerade dann, wenn ich vorbeikam, nichts machen. Der letzte Punkt klang etwas absurd, wobei ich die anderen Aspekte auch nicht als wirklich Realitätsgetreu für mehrere Stunden Aktivität hielt.

An meinem Zimmer angekommen, öffnete ich zwar die Tür, vergewisserte mich aber mit einem kurzen Blick auf den Türrahmen, ob mein Schlüssel noch dort lag. Anschließend ging ich rein. Mit einer Handbewegung schmiss ich meine Boxershorts auf den schon vorhandenen Schmutzhaufen auf meiner Holzkiste und griff nach der Nadel. Es brauchte seine Zeit, bis es wieder Klack machte und die Tür verschlossen war. Nach getanem Werk, seufzte ich kurz und platzierte die Nadel wieder auf dem Schreibtisch. Ein kurzer Blick auf die Handyuhr würde wohl nicht schaden, dachte ich mir und starrte aufs Display. Es waren noch immer knappe drei Stunden zu warten. Die Zeit wollte nicht vergehen, jedenfalls fühlte es sich so an.

 

Ungeduldig saß ich auf dem Stuhl, ließ meine Fingerkuppen immer wieder auf die Oberfläche des Schreibtisches trommeln und starrte genervt auf die dunkelgrauen Rollläden, während die Flamme der Kerze immer wieder aufflackerte. Mir war langweilig, ich hatte nichts zu tun. Und wenn mir langweilig war, ausgerechnet auch noch abends, dann wurde ich müde. Das war gerade das Gefühl, was ich nicht gebrauchen konnte. Immer wieder klopfte ich mir mit meiner linken Hand auf die Wangen, während meine recht schön weiter trommelte. Irgendwann taten mir jedoch die Finger weh und ich stützte genervt meinen Kopf auf. Jetzt starrte ich auf die weiße Wand, die vor mir lag. Das waren wohl die Aktivitäten, die keine Geräusche machten.

»Toll …«, murmelte ich. Angepisst war kein Ausdruck. Könnte er nicht jetzt schon vorbeikommen? Ich könnte die Zeit bis zu Mitternacht mit ihm besser überbrücken, als ohne ihn. Aber da das nicht der Fall war, musste eine andere Beschäftigung her. Ich schnappte mir einen Stift aus dem Stiftbecher und griff aus der zweiten Schublade ein Stück Papier. Mit einer schnellen Handbewegung schloss ich die Schublade wieder und nahm eine Zeichnung in Angriff. Ich wusste nicht genau, was ich zeichnen wollte, aber mir war nach irgendetwas. Mit der linken Hand stützte ich gelangweilt meinen Kopf auf, während ich mit der rechten versuchte einen Baum zu zeichnen. Ich sah auf meine Hand, wie sie sich bewegte und ließ meine Gedanken spielen, bis ich auf Kiyoshi kam. Er war Linkshänder. Prompt nahm ich den Stift in die linke Hand und versuchte zu zeichnen. Doch jeder Strich misslang und ging in eine ganz andere Richtung, als beabsichtigt. Ich lachte ein wenig, konnte mir kaum vorstellen, wie jemand so schreiben konnte, geschweige denn zeichnen. Was der für tolle Bilder hinbekam, bekomme ich noch nicht mal mit der rechten Hand hin. Nach wenigen Sekunden nahm ich den Stift wieder für mich normal. Ein müdes Lächeln blieb mir auf den Lippen.

»Er ist so perfekt … Ein richtiger Vampir …«, murmelte ich in meine Hand, die meinen Kopf hielt. »Was kann er eigentlich nicht?« Ich musste kurz auflachen. Er konnte eigentlich alles. Alles, außer das typische ‚Lieb und Nett’ sein. Aber das würde schon noch kommen. Sicherlich konnte er nett sein. Wenn es seine "nette" Art war, Menschen zu zeigen, dass er sie gernhat, indem er sie ausnahmsweise mal nicht wie Abschaum ansah, sollte es halt so sein. Damit kann ich mich abfinden, dachte ich bei mir, während ich den Stift über das Papier kreisen ließ.

 

Gelangweilt kritzelte ich Bäume und Pflanzen. Meine Augen wurden immer schwerer. Ich hielt mich mit Fantasien wach, die von Vorsätzen handelten, wie ich die Sache im Wald angehen würde. Darunter waren Dinge wie: ‚Ich werde ihn an einen Baum drücken, ihn küssen, ihm unter sein Hemd fahren und seine Reaktion abwarten’ oder ‚Ich rede mit ihm über die wichtigsten Dinge, sind wahrscheinlich nicht so viele; wir werden uns küssen und ich streichle ihn, während unseres Kusses, am Nacken’. Dinge wie ‚Wir reden nur’ oder ‚Wir gehen kurz raus und gehen wieder rein’ war schon von Anfang an nicht drin. Sowieso liefen meine ganzen Vorhaben auf die Tätigkeit von gestern Nacht zu. Störte mein Gewissen in irgendeiner Weise, meinen Körper weniger.

Ich wusste nicht ganz, was passierte, ich schloss nur auf einmal meine Augen, während ich den Stift sachte auf den Schreibtisch legte. Ich murmelte noch etwas von ‚Ich darf nicht ein­schlafen’ und dann war ich auch schon weg, mit dem Kopf auf der Tischplatte. Ich benötigte wohl schlaf. Früher war das eigentlich kein Problem gewesen, einfach mal eine Nacht durchzumachen und jetzt schaffte ich es noch nicht mal bis Mitternacht …

 

Etwas strich über meinen Nacken, liebkoste mein Ohr und meine Wange Als ich keinen Mucks von mir gab, weil ich es zu sehr genoss, kniff es mich ins Gesicht.

»Mh!«, gab ich von mir. Sofort hörte das Streicheln auf. Vor­sichtig öffnete ich meine Augen und starrte auf zarte Finger, aus denen spitz zulaufende Fingernägel wuchsen. Meine Augen weiteten sich von Sekunde zu Sekunde. Der Blick wanderte von der Hand zum Arm, ein schwarzes Hemd, darüber eine schwarze Jacke, mehr ein Mantel; zur Schulter, der Hemd­kragen, locker geöffnet; der weiße Hals mit den Adern … Das Gesicht, überflossen mit Äderchen, die roten Augen, die im Kerzenlicht erstrahlten, die weißen Haare, die schon fast mit seiner Hautfarbe konkurrierten.

»K-Kiyoshi …«, murmelte ich mehr vor Schreck, als vor Erleichterung. Er war wieder in dieses Monster verwandelt. Hatte er seine Kontrolle oder würde er gleich sofort auf mich losspringen? Als ich jedoch den goldenen Schlüssel in seiner anderen Hand sah, atmete ich auf. Er hatte sein Bewusstsein. Die letzten Male, wo ich abgeschlossen hatte, kam er nämlich nicht einfach so rein, jedenfalls riet ich das in dem Moment.

»Komm«, sagte er monoton, strich mit seiner Hand von meinem Arm über meine Schulter und öffnete leise die Rollläden meines Fensters. Mein Blick huschte beim Aufstehen kurz zur Tür. Sie war verschlossen und wahrscheinlich auch abgesperrt. So konnte Vater erst einmal nichts merken. Schnell zog ich mir meine Turnschuhe an, beließ meinen Bruder im Auge. Vorsichtig folgte ich Kiyoshi und trat zu ihm ans Fenster, welches er leise öffnete.

»Wir sollen aus dem ersten Stock springen?« Wobei das noch nicht mal ein normaler erster Stock war, da die Decken viel höher waren, als bei normalen Häusern.

»Was sonst?«, flüsterte er zurück und starrte mich mit seinen ausdrucksstarken Augen an. Ich schluckte kurz, setzte aber trotzdem einen Fuß auf das Fenstersims.

»Du bist ja ein vollständiger Vampir. Ich nicht …« Ein zögerliches Lächeln durchzog meine Lippen, während ich versuchte Kiyoshi von meinem Belangen nicht zu springen zu überzeugen.

»Das wirst du überleben. Und jetzt spring.«

 

Ich spürte nur seine Hände, wie sie mich am Rücken kurz abschubsten und ich aus dem Fenster fiel. Der Luftzug durchströmte meine Haare, peitschte mir mit einem Mal in mein Gesicht. Ich wollte schreien, doch dazu kam ich nicht, alles ging viel zu schnell. Ich sah den Boden auf mich zu­kommen, er kam immer näher. Zweifelnd an weiteren Lebens­sekunden, hoffte ich, wenigstens auf meinen Füßen aufzu­kommen.

Mit einem lauten, aber dumpfen Schlag kam ich unten auf. Als ich meine Augen wieder öffnete, kniete ich mit einem Bein auf dem Boden und stützte mich mit einer Hand ab. Vorsichtig stand ich auf, wartete auf den kommenden Schmerz. Als jedoch nichts kam, betrachtete ich wieder meine Hände. Voller Staunen riss ich meine Augen auf.

»Ich bin Superman geworden …«

 

»Ist alles klar bei dir?«, kam eine laut geflüsterte Stimme von meinem Fenster. Sofort sah ich nach oben und nickte. Kiyoshi stand auf dem Fenstervorsprung und schloss sachte das Fenster hinter sich. Dann sprang auch er ab. Doch das sah gleich viel schöner und eleganter aus. Er glitt quasi durch die Luft, mit leicht ausgestreckten Armen versuchte er wahrscheinlich seine gerade Position zu halten. Als er aufkam, war kaum ein Geräusch zu hören; nur wie einige Steinchen vom Sand beiseite ge­drückt wurden. Er kniete kurz, um den Druck des Falls abzulassen und erhob sich elegant. Auch wenn es dunkel war und ich nur erraten konnte, was für ein Gesicht er zog, erstrahlte seine vampirische Aura in vollsten Zügen. Mit geradem Gang, kam er auf mich zu, ging jedoch an mir vorbei. In Richtung Wald.

»Du willst in den Wald?«, fragte ich vorsichtig, noch immer flüsternd.

»Wo wolltest du denn hin?«, stellte er eine Gegenfrage und drehte sich demonstrativ arrogant um.

»Irgendwohin, wo ich auch weiß, wie ich wieder zurück­komme?« Mein sarkastischer Unterton ließ in seiner Miene eine Spur von Gereiztheit.

»Schlag was vor«, kam die schroffe Aufforderung. Er war wieder so, wie ich ihn kennengelernt hatte. Wie schnell er ungezogen werden konnte. Dabei hatte ich ihn als letztes mit einem derart warmherzigen Lächeln gesehen, dass ich ihn fast vor Freude abgeknutscht hätte. Und jetzt: Nicht mal eine Spur von Freundlichkeit wurde mir da entgegengebracht. Das konnte ja noch was werden. Diskutieren mit einem Vampir, juchhu.

»Hier in der Nähe bleiben?«, fragte ich vorsichtig, während ich langsam auf Kiyoshi zuging.

»Man, mach keinen Stress«, motzte er auf einmal rum und packte mein Handgelenk. Dieser kleine Schock, als er mich berührte, ließ mich zusammenfahren. Mein Körper hatte immer noch Angst vor diesen Wesen, obwohl ich das auch einerseits verstehen konnte.

Grob zog er mich in den Wald und schleifte mich quasi hinter sich her. Der Teil, in den wir hineingingen, war nicht derart zugewachsen, aber eine Lichtung war es auch nicht. Leise gingen wir durch das Gras, welches an einigen Stellen in Moos überging. Im Grunde hörte ich nur meine Schritte und hätte ich ihn nicht vor mir gesehen, wüsste ich gar nicht, dass er da war. Die Nacht war so still. Kaum ein Geräusch war zu hören. Als wir an einer kleinen Lichtung vorbeikamen, schien das fade Mondlicht auf uns herab. Kiyoshi blieb stehen, mir immer noch den Rücken zudrehend. Weder ließ er mich los, noch machte er Anstalten sich zu mir umzudrehen. Meine Gedanken über­schlugen sich schon fast. Ich war zwar schon oft mit meinen Kumpels auf Friedhöfe gegangen, aber dort waren weder Vampire noch andere Kreaturen, vor denen ich hätte Angst haben müsste. Zudem kam noch, dass wir immer mindestens vier Leute waren. Zu zweit, von denen einer ein mutierter Vampir war, in einem dunklen Wald auf einer Lichtung mitten in der Nacht zu stehen, war nicht gerade angenehm. Wobei ich keine richtige Angst verspürte, sondern mehr die Aufregung, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte oder wie ich hätte anfangen können.

Kiyoshi blieb noch immer still, lockerte aber langsam seinen Griff um meinen Arm.

»Kiyoshi …«, flüsterte ich etwas monoton in die Stille des Waldes. Er drehte leicht den Kopf zu mir um. »Willst du dich nicht zu mir umdrehen?«

Er schwieg.

Eine leichte Brise fuhr durch seinen Mantel und bewegte ihn etwas in meine Richtung. Dieser lange schwarze Mantel, mit vielen Verschlüssen versehen, passte einerseits überhaupt nicht zu Kiyoshi, andererseits aber in das obskure Getue von ihm. Meine Augen fuhren über seinen Körper, erkannten nur wenige Dinge, da er vollkommen in schwarz gekleidet war.

Als er mir immer noch keine Antwort gab, hatte ich die Faxen dicke.

Ich drehte meinen Arm nach außen, er musste loslassen. Sofort griff ich nach seiner Schulter und drehte ihn zu mir um. Die roten Augen stachen aus der Dunkelheit und sahen mich hungrig an. Doch das waren nur Sekunden.

»Nein!«, schrie er und wendete sich von mir ab. Sofort legte er seine Hände auf sein Gesicht und ging ein paar Schritte von mir weg.

»Was? Aber …«, brachte ich noch grade so raus, verwirrt über seine Reaktion.

»Sieh mich nicht an …«, murmelte er, als er langsam in die Knie ging. Seine Stimme klang schmerzverzerrt und unter­drückt.

»Was ist hier überhaupt los?«, fragte ich ihn aufgebracht. Mein Herz klopfte unglaublich stark vor Aufregung.

»… Ich bin ein Monster …«, sagte er mit zittriger Stimme, während ich ein kleines Glucksen hörte.

Ich hielt kurz den Atem an. Weinte er? Ist das wieder eine depressive Phase von ihm?

»Kiyoshi … Du bist kein Monster …«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Indirekt war er es ja schon. Ich war immer derjenige, der ihn so genannt hatte. Ich war es, der ihn mit diesen Worten beschimpft und verachtet hatte. Und jetzt behauptete ich einfach mal so das Gegenteil.

»Hörst du? Du bist kein Monster. Du bist einfach ein Vampir, das ist eine Klasse für sich …« Das sagte er Richtige, der selber voll Schiss vor seinem eigenen Tod hatte und sich am liebsten vor der Verwandlung erhängen würde.

»Nein …« Ich verstand ihn kaum. Mit langsamen Schritten ging ich auf ihn zu. Vorsichtig hielt ich den Atem an, immer mit angespannten Muskeln, da ich nicht wusste, was er tun wollte.

Er schluchzte kurz auf.

»K-«, fing ich an, doch er unterbrach mich.

»Sieh mich doch an!«, schrie er verzweifelt und drehte sich zu mir um. Da er sich so schnell und plötzlich wieder erhob und einen Schritt auf mich zukam, zuckte ich heftig zusammen. Sein ganzes Abbild verschaffte meiner Angst noch einen zusätz­lichen Schub.

»Sieh mich an! Ich bin ein Monster. Ich trinke Blut, wie ein Verrückter, habe keine Kontrolle über mich selbst, verlange immer mehr, tue sogar den Menschen weh, die mir etwas bedeuten! Als was würdest du mich bezeichnen, wenn wir uns nicht kennen würden? Als ein Dämon, ein Teufel, wie frisch aus der Hölle gestiegen!« Seine Stimme blieb bebend in meinem Kopf, während seine Augen langsam feucht wurden. Dieser Verzweifelte Blick von ihm, der mich durchbohrte. Hin und wieder öffnete ich meinen Mund, wollte etwas sagen, doch ich konnte nicht.

»Ich darf … nie den Verstand verlieren. Nie. Ich muss wach­sam bleiben, bevor ich meinen Instinkten folge …«, sagte er mit zittriger Stimme, die hin und wieder wegbrach. »Ich darf mich nie gehen lassen, nie ausruhen … Sonst würde mein Körper überhand nehmen …« Langsam senkte er sich wieder gen Boden und legte seine Hände wieder auf sein Gesicht. Ich wollte ihm helfen, aber wie? Ich hatte doch keine Ahnung von so etwas. Ich wusste ja nicht mal, was er da meinte ...

»Was genau … passiert denn mit dir? Wenn du so bist …?«, fragte ich vorsichtig, hoffend, er würde mir antworten können. Eine kurze Pause trat ein, dann sah er mich vom Boden aus an.

»Jede Nacht … des zunehmenden Mondes, kocht mein Blut in mir. Das ist eine Fehlbildung der D.N.S. mit dem Vampirblut wurde mir gesagt. Mein Körper dürstet dann immer nach Blut, braucht mehr, da er kein eigenes produziert. Manchmal kann ich es unterdrücken, manchmal nicht …« Dann senkte er wieder den Blick.

»Das heißt, du hast fünfzehn Nächte Ruhe und fünfzehn Nächte diese Verwandlung?«

»Ja …«

Eine weitere Brise durchfuhr uns, wehte ein wenig in den Bäumen. Eine Fehlbildung der D.N.S. klang nicht gut.

»Hat das … mit deinem Reinblütlerblut zu tun?«

Er nickte kurz.

»Vater ist ein Reinblütler, Mutter ein Mensch. Häufig ent­stehen unter solchen Umständen nur Menschen. Selten ein Reinblütler, da diese sich oft nur unter sich fortpflanzen.«

»Das heißt ja … du bist richtig was Besonderes …«, sagte ich leise und versuchte es von der positiven Seite zu sehen.

»Ja... richtig besonders... dumm…« Er stützte seinen Kopf auf seine Hände und grub seine Finger in seine Haare.

»Aber ich verstehe nicht ganz … Wieso du dich von abge­schlossenen Türen aufhalten lässt. Außerdem war meine Tür ja einmal dermaßen demoliert …«, murmelte ich vor mich hin, seinen schlechtmachenden Satz einfach ignorierend.

»Tiere sind halt dumm, die öffnen keine Türen mit Steck­nadeln«, sagte er leicht grinsend. Obwohl es mehr ein ver­zweifeltes Grinsen war.

»Und die Tür, die du zerstört hattest?«

»Das war kurz bevor ich dich geweckt hatte.«

»Du hattest also dein Bewusstsein?«

»Ja.«

Ich nickte. Wir redeten über eine Distanz von mindestens drei Metern, das war mir etwas unangenehm. Ihm wohl gerade Recht, er wollte ja nicht, dass ich ihn in dieser Form ansah.

»Warum kannst du dich jetzt beherrschen?«, fragte ich prompt. Er hob etwas den Kopf, sah aber noch weiter auf den Boden. Dann lächelte er verzweifelt, obwohl es ein schönes Lächeln war.

»Ich beherrsche mich?«, stellte er eine Gegenfrage und konnte meine Meinung wohl nicht ganz teilen, hielt sich die zittrigen Hände vor die Brust.

»Du unterhältst dich mit mir, ganz normal. Du siehst halt … nur anders aus …«

»Normal?« Er vergrub sein Gesicht wieder in seinen Händen.

 

Ich wusste nicht ganz was genau geschah, es waren Sekunden, nein, Bruchteile von Sekunden. Er verschwand, tauchte wie aus dem Nichts wieder vor mir auf und drückte mich mit voller Wucht gegen einen Baum. Einige Blätter fielen von der Krone. Ich riss vor Schreck meine Augen auf, spürte einen leichten, dumpfen Schmerz in meinem Rücken. Seine blutroten Augen starrten mich hungrig an, während er seine langen Reißzähne aus den Lippen fuhr. Die Adern stachen heraus, pochten unter seiner Haut und durchzogen das Augenweiß in ein blutiges rot.

»Nennst du das etwa normal?«, knurrte er mir zu. Seine Stimme wurde noch kratziger als vorher, dunkler und Angst einflößender. Wie ein … richtiges Tier.

Sünden der Nacht

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Verrückt

Mein Wecker schrillte heftig in meinen Ohren. Noch halb im Schlaf drehte ich mich zur Seite und haute auf den schwarzen Knopf. Sofort hörte das Gebimmel auf und ich kuschelte mich wieder in die Decke. Zwei feine Hände strichen über meinen nackten Oberkörper, ließen aber von mir ab und griffen die Uhr. Noch etwas verwirrt, wessen Hände das waren, starrte ich auf die Uhrzeit. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Mein Blick fiel auf das Fenster. Kleine Sonnenstrahlen kamen durch die geöffneten Scheiben. Da stellte eine Hand die Uhr wieder hin.

»Wir müssen aufstehen …«, murmelte die bekannte Stimme hinter meinem Rücken und kroch langsam auf meine Seite, um aus dem Bett zu steigen. Sofort drehte ich mich um und riss die Augen auf. Kiyoshi sah mich sofort an, fragte sich wahrschein­lich, warum ich so einen Gesichtsausdruck machte.

»K-Kiyoshi?«, fragte ich perplex und starrte in seine glänzen­den Augen, vor denen das verwuschelte fast weiße Haar lag. Sein Oberkörper war ebenfalls nackt, jedoch stellte ich in meiner Panik sofort fest, dass wir wenigstens noch Boxershorts trugen. Doch dann erblickte ich die Knutschflecke an seinem Hals und seiner Brust. Es waren verdammt viele. Die ersten Gedanken, die mir durch meinen Kopf schossen, waren, wieso er in meinem Bett war, wieso er halb nackt war, wieso er sich nicht wunderte und was wir zur Hölle getan hatten. Und dann klickte es.

»Kommst du heute nicht mit in die Schule?«, fragte er sofort etwas enttäuscht, ließ sich wohl nicht weiter von meinem verwirrten Blick beirren. Als meine Gesichtsfarbe schlagartig rosafarben wurde und allmählich ins rot überging, legte er sachte seinen zarten Körper auf meinen.

»Was ist los?« Besorgt war gar kein Ausdruck in seinem Unterton.

»Ich … Wir … Du und ich, wir …«, versuchte ich nach Worten zu suchen, bekam aber nichts zu Stande.

»Langsam, Hiro. Eins nach dem anderen«, sagte er sachte und küsste mich kurz auf den Mund. Als er sich löste und mich erwartungsvoll ansah, sprudelte es aus mir raus:

»Wir hatten Sex!«

Sofort schoss das Blut in Kiyoshis Kopf und er wich einige Zentimeter von mir ab.

»M … Musst du das so sagen?« Dabei sah er etwas verschämt zur Seite. Aber anstatt, dass ich mich über meine Worte schämte, freute ich mich umso mehr.

»Du liebst mich! Wir hatten Sex; wir sind zusammen!«, rief ich freudestrahlend und umarmte ihn feste. Sofort schmiss ich ihn auf den Rücken und küsste ihn immer wieder auf die Lippen. Er schien sich wehren zu wollen, machte Widerstand­geräusche und fuchtelte etwas mit Armen und Beinen. Hin und wieder, wenn seine Lippen frei waren, rief er meinen Namen und ‚Halt!’. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, hörte ich abrupt auf. Ich lächelte ihn glücklich an.

»Ich kann’s kaum fassen …«, murmelte ich. Kiyoshi sah sehr überrumpelt aus, fasste sich dann aber doch und setzte wieder eines seiner perfekten Lächeln auf. Seine schmalen Finger lagen sanft auf meinem Rücken, strichen ein wenig über meine Haut. Etwas zarter küsste ich ihn erneut, diesmal erwiderte er ihn. Es war wie in einem Traum, aus dem ich nie erwachen wollte.

Nach unserem Kuss konnte ich ein geflüstertes ‚Ich liebe dich’ nicht unterdrücken und küsste ihn dabei sachte auf seine Wange. Er lächelte mich immer noch an und antwortete mit ‚Ich dich auch’. Ich sagte ja bereits, wie in einem Traum. Nur das Beste: Es war keiner.

 

Dann kamen Schritte. Sofort sprang Kiyoshi über mich aus dem Bett, zog sich in Windeseile seine Hose an und streifte sich sein schwarzes Hemd von gestern über. In der Zeit, wo er das alles tätigte, setzte ich mich nur auf und wartete, dass jemand das Zimmer betrat. Dann öffnete sich die Tür.

»Guten Morgen ihr beiden«, sagte Vater. Er lächelte zwar etwas, trotzdem war es mehr ein verkrampftes Lächeln. Ob er roch, dass hier etwas mächtig falsch ging?

Kiyoshi saß lässig auf meinem Stuhl am Schreibtisch und hatte ein Bein über das andere geschlagen. Als säße er dort schon die ganze Zeit. Er setzte seinen arroganten Blick auf und starrte Vater missbilligend an. Wie schnell er seine Miene abändern konnte. Mein Ausdruck blieb wohl etwas verwirrt, da Vaters Blick genau auf mir lag.

»Hiro, was hast du an deinen Armen gemacht?«, fragte er; kam einige Schritte auf mich zu. Die Wunden, die mein lieber Bruder mir zugefügt hatte. Oh je, oh je. Dass mich ein Tier angefallen hatte, konnte ich schlecht sagen. Als er an meinem Bett stand, sah ich kurz zu Kiyoshi, der leicht entsetzt zu uns blickte. Anscheinend war wieder einer dieser Momente, wo wir beide in der Zwickmühle saßen.

Ich sah auf mein Bett und legte meine rechte Hand auf die Wunde am linken Arm. Vorsichtig strich ich über die Kruste. Etwas verschämt blickte ich zur Seite, holte tief Luft.

» … Ich war wütend …«

»Du warst wütend? Hast du dir das etwa selber zugefügt?« Schlagartig rutschte ein besorgter Unterton in Vaters Stimme. Ich blickte verärgert auf und presste Tränen in meine Augen.

»Hier kann man ja nicht anders werden als depressiv!«, schrie ich ihm entgegen, sprang aus dem Bett und verschwand in Windeseile aus dem Zimmer. So schnell ich lief, kam mir keiner hinterher. Ich rannte ins Bad und drückte die Tür zu. Es wurde so still, nichts war zu hören. Hoffentlich kaufte er mir das ab, dachte ich sofort und ließ aufgestaute Luft aus meinem Mund.

 

Vor meinen Augen fing es plötzlich an zu flimmern. Stern­chen kamen, dann wurde alles schwarz. Ich fühlte den kalten Marmor unter meinem Bauch; wie ich versuchte wieder aufzustehen. Mein Kopf brummte heftig, ich hörte mein Herz pochen. Wie schnell es klopfte. Mein Atem wurde immer schneller, als wäre ich einen Marathon gerannt. Ich legte meinen Kopf in meine Hände, schloss die Augen und wartete, ob es besser wurde. Sicher der Kreislauf, zu schnell aufgestanden. Doch alles wurde nur noch schlimmer. Plötzlich ergriff mich ein heftiger Schmerz in meiner Brust. Ich hörte meine Stimme laut ertönen, wie sie schrie. Dieser Schmerz war unbeschreiblich groß, wie tausend glühende Messerstiche. Ich fasste mir an die Stelle, drückte heftig zu, hoffte damit den Schmerz zu dämpfen, krallte meine Nägel in meine Haut. Vereinzelte Stellen wurden vor meinen Augen zwar wieder sichtbar, jedoch blieb der meiste Teil schwarz. Ich wusste nicht was los war. Dann hörte ich Vaters Stimme, Kiyoshis und Mamorus von weitem. Wie die Tür aufgeschlagen wurde, wie mich viele Hände berührten, mich umsorgten und Stimmen auf mich einredeten.

»Es ist soweit!«, rief Vater. Dann kapierte ich, was los war. Der Moment war gekommen. Ich wollte nicht, ich wollte einfach nicht. Jetzt, da ich doch so glücklich mit ihm war. Jetzt sollte doch nicht alles einfach so enden? Einfach im schwarzen Loch enden, welches mich in die Ewigkeit saugen würde …

»Nein …«, hörte ich mich flüstern. Dann wieder und wieder. Bis ich es schrie. Sofort hörten die Geräusche auf. Es wurde schlagartig leise. Die Personen um mich herum schwiegen. Meine Sicht wurde sofort klar, mein Atem wurde normal und das Pochen schlagartig leise. Vorsichtig tastete ich mich ab, merkte, dass ich auf dem Rücken lag und mein Kopf erhöht war. Ich blickte in seine Augen, wie sie mich entsetzt ansahen. Diese blau-violetten Augen, wie sich in ihnen wieder Tränen füllten. Ich war so glücklich. Ich lebte noch, ich hörte mein Herz schlagen. Was auch immer das gewesen war, es war vorbei. Ich lächelte wie aus dem Nichts. Mein Lächeln steigerte sich in ein zögerliches Lachen. Vorsichtig erhob ich mich, blieb starr sitzen.

»Ich dachte, jetzt wär’s vorbei …«, flüsterte ich und lockerte den Griff an meiner Brust. Meine Haut war stark errötet, blutete aber noch nicht. Trotzdem ich langsam die Fassung fand, zitterte ich am ganzen Körper.

»Ist alles in Ordnung, Hiro?«, hörte ich die tiefe Stimme meines Vaters. Ich drehte mich leicht zu ihm um, nickte und versuchte zu lächeln.

»Wahrscheinlich der Kreislauf. Bin zu schnell aufgestanden.« Das war es wohl definitiv nicht, aber eine andere Erklärung fiel mir im Moment nicht ein.

Trotzdem ich jetzt noch am Leben war: Diese Schmerzen, die mich überkamen, waren unerträglich. Jetzt hatte ich noch mehr Angst vor meinem Tod als vorher, da ich nun das Ausmaß dieser Umstände kannte. Und sie würden vielleicht noch stärker werden, immerhin war ich jetzt noch nicht tot. Ich spürte zarte Finger an meiner Hand, die zum Abstützen auf dem kalten Marmor lag. Sofort blickte ich auf die andere Seite und sah in Kiyoshis Augen, die mich traurig anstarrten. Seine Lippen formten eine strenge Linie, während sein perfektes Gesicht unergründlich blieb. Er hatte sich Sorgen gemacht. Am liebsten hätte ich ihn geküsst, in den Arm genommen und mich entschuldigt. Ich erwischte mich schon dabei, wie ich versuchte durch Vorbeugen näher an ihn ranzukommen, wich aber sofort wieder zurück, als sich seine Augen etwas weiteten. Klar, Vater saß hinter mir.

»Hiro … Du solltest heute lieber wieder zu Hause bleiben«, sagte Vater und stand auf.

»Nein, nein. Das ist schon okay. Ich fühl mich wieder gut und falls -«

»Du bleibst hier.«

»Vater …«, nörgelte ich. »Falls ich wieder zusammen­kollabiere, kann Kiyoshi mich immer noch beißen, oder?« Ich sah zu meinem Bruder, hoffte er würde nicken. Er schien etwas aus der Rolle gebracht worden zu sein, blickte mich verwirrt an, öffnete seinen Mund, nickte schnell und fügte dem sein Zustimmen zu.

»Klar. Also, im Grunde würde ich das machen können, doch, ja …«

»Ein Nein, bleibt ein Nein. Hiro, wenn es wirklich soweit kommen sollte, hat Kiyoshi nichts an deinem Hals verloren. Er könnte sich vielleicht nicht derart beherrschen, dass er dich verwandeln könnte. Also leg dich jetzt wieder hin.«

Damit verschwand er aus dem Bad, während Mamoru noch am Türrahmen stehen blieb und uns beobachtete. Kiyoshi wartete noch einen Moment, dann fiel er mir um den Hals.

»Oh Gott, ich hab mir so Sorgen gemacht, Hiro! Ich dachte, ich würde dich hier und jetzt verlieren!« Dabei rief er etwas zu laut in mein Ohr, klammerte immer fester, wollte mich gar nicht loslassen. Doch mein entsetzter Blick wanderte zwischen Kiyoshi und Mamoru. Immerhin wusste der doch davon gar nichts und es wäre vielleicht auch besser gewesen, wenn es so geblieben wäre. Ich schätzte ihn ja so ein, dass er Vater schön alles erzählte. Doch der grinste nur zu meiner Verwunderung und blieb schön brav an der Tür stehen.

Ich griff Kiyoshi vorsichtig an die Schultern und drückte ihn leicht von mir. Ich suchte verzweifelt nach Worten, versuchte das irgendwie zu erklären. Doch mir fiel nichts ein. Immerhin waren diese Worte mehr als deutlich gewesen.

»K-Kiyoshi … Äh, also …« Mein Blick fiel zu Mamoru. Kiyoshi folgte meinem Blick, musste grinsen und sah zu Boden.

»Er … weiß Bescheid …«, murmelte er kaum verständlich. Doch für mich klar genug. Schlagartig färbte sich meine Gesichtsfarbe rot.

»Bitte was?«, prustete ich los und sah entsetzt zur besagten Person.

»Entschuldigen Sie das, Herr Hiroshi. Ihr Bruder erzählte mir von Ihren Problemen.« Dabei verbeugte er sich etwas, als Entschuldigung. Mein Blick schweifte zu Kiyoshi.

»Er hatte uns ja schon öfters erwischt … und na ja, ich hatte Angst, er würde alles Vater erzählen. Da wollte ich mich versichern und bat ihn um diesen Gefallen, es nicht zu erzählen. Dabei rutschte mir wohl mehr raus, als gewollt …«

Ich seufzte laut auf. Dann grinste ich ihn mit roten Wangen an.

»So lange Vater nichts weiß, ist’s doch okay.«

Kiyoshi lächelte mich so perfekt an, legte seine Hände auf meine Schultern und lehnte sich an meinen Oberkörper. Vorsichtig berührten sich unsere Lippen, während ich meine Hände an seine Hüfte legte. Wir wollten den Kuss schon intensivieren, da räusperte sich Mamoru.

»Der Herr Kiyoshi sollte sich bereit für die Schule machen«, sagte er in seinem höflichen Ton und wartete wohl darauf, dass ich das Bad verließ und wie befohlen in mein Zimmer zurück­kehrte.

»Ich will aber mit in die Schule!«, motzte ich rum und drückte Kiyoshi an mich. Ich hätte nie gedachte, dass ich diesen Satz mal aussprechen würde. Okay, ich tat so viele Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, ich würde sie tun. Kiyoshi schien die feste Umarmung sehr zu genießen und drückte sein grinsendes Gesicht an meine Brust.

»Überlassen Sie das mir.« Damit verschwand Mamoru von der Tür. Verblüfft über die schnelle Umstimmung starrte ich noch auf die leere Stelle. Kiyoshi löste sich von mir und grinste mich noch weiter an. Ich wurde etwas rot, kratzte mich am Nacken.

»Sehr liberal, euer Butler …«, murmelte ich. Immerhin ging es hier um eine nicht ganz erlaubte Beziehung.

»Na ja … Was soll er schon machen? Er steht immerhin im Dienste unserer Familie.« Sein Lächeln versiegte allmählich. Ich nickte schnell, sah in seine Augen. Sie waren etwas matter als sonst, und als würden sie immer mehr ihren Glanz verlieren, rieb sich Kiyoshi etwas an ihnen. Sofort wurden die Augenringe rot und er sah verschlafen aus. Verträumt starrte er auf den Boden, legte seinen Kopf etwas schief und zwinkerte immer mal wieder mit den Augen. Sein langer, schlanker Hals endete in seinem Hemd, das wie Seide auf seinen Schultern lag. Sein ganzes Antlitz ließ meine Sehnsüchte erwachen. Wie unschuldig er da vor mir saß, als wäre die Bestie von gestern Nacht wie ausge­storben. Dieses erregte Gesicht mit diesem wunder­schönen Mund, welcher immer wieder meinen Namen gerufen hat, war nur gering an dieser Person vorstellbar, die vor mir saß. Diese samtweiche Haut, welche ich gestern Nacht für mich bean­spruchen durfte, hatte wieder ihren elfenbeinfarbenen Glanz, welcher mich so faszinierte. Wie gerne hätte ich ihn wieder für mich gehabt, aber so früh am morgen und ausge­rechnet im Bad, mit offener Tür, wobei die ganze Familie im Haus versammelt war, wäre nicht so optimal gewesen. Das Verbot, das für Kiyoshi und mich galt, war noch immer aktuell, obwohl mich die Spekulation über das Wissen unseres Vaters nicht loslassen wollte. Als würde er von allem nichts mitbe­kommen, stand außer Frage.

Kiyoshi seufzte kaum hörbar und stand auf. Leise ging er zur Tür.

»Du kannst dich als erstes fertig machen, okay?«, fragte er noch etwas neben der Rolle. Er griff zur Klinke, wollte schon rausgehen, da hielt ich ihn am Handgelenk zurück. Sachte drückte ich die Tür vor ihm zu und lehnte mich gegen ihn. Er selbst wurde mit der Brust gegen die Tür gedrückt. Zärtlich küsste ich seinen Hals, strich seinen Kragen beiseite und küsste seine Schulter. Er hob schon seine Hände, wollte sich anschei­nend nach seinem etwas leidigen Gesichtsausdruck zu urteilen wehren. Doch ich umfasste seine beiden Handgelenke und drückte sie gegen die Tür.

»Hiro …«, flüsterte er meinen Namen. Es klang wie gestern Nacht. Vorsichtig, aber doch in einer Weise rau. Langsam knabberte ich an seinem Ohr und beglückte seinen Kiefer mit meiner Zunge. Sein Atem hörte sich aufgrund der nahe stehenden Tür noch viel intensiver an, erregte mich und meine Gedanken. Ein überwältigendes Gefühl durchzog mich, als ich seine Adern unter meiner Zunge spürte, er meinen Namen erneut sagte und ich dabei seinen freigelegten Rücken auf meiner Haut spüren konnte. Sein schwarzes Hemd hing nur noch in seinen Armbeugen, da die Knöpfe schon fast von allein aufgingen. Vorsichtig ließ ich seine Arme los, strich über seine zarte Brust und öffnete seinen Hosenknopf. Ich spürte seine dünnen und kalten Finger auf meiner Hand, wie sie etwas widerstand leisteten.

»Hiro … Lass das …«, sagte er nun etwas kräftiger. Doch ich wollte nicht aufhören, rutschte mit meiner rechten Hand unter seinen Bund. Doch bevor ich auch nur ein Stückchen seiner empfindlichen Stelle erreichen konnte, rammte er mir seine Nägel in meine Haut. Ich schrie auf und zog sie sofort von ihm weg.

»Spinnst du? Wie oft willst du mir noch deine Nägel rein­hauen? Schneid sie dir mal!«, motzte ich rum, da mein dunkel­rotes Blut schon aus den Wunden am Handrücken quoll. Schmerzerfüllt hielt ich mir meine Hände vor die Brust und versuchte durch Drücken den Schmerz zu hemmen.

»Wenn ich nicht will, solltest du das lieber akzeptieren …«, flüsterte er von der Tür aus, drehte sich etwas zu mir um und hielt sich seinen blutverschmierten Zeigefinger an die Lippen. Vorsichtig küsste er sich das Blut vom Finger, während mich seine glänzenden Vampiraugen anstarrten. Als er kurz den Mund öffnete, ragten schon seine Reißzähne raus. Danach verschwand er geräuschlos aus dem Zimmer.

Ich seufzte Laut auf und sah verärgert zur Seite, musste jedoch etwas grinsen.

»Gibt’s nicht …«, murmelte ich vor mich hin und wusch mir das restliche Blut von der Hand. Es pochte ganz schön an den Wunden, als das kalte Wasser darüber floss. Zu meiner Verwunderung stoppte die rote Flüssigkeit doch recht bald und verschloss die offene Wunde mit einer leichten Schicht. Ich schaltete das Wasser aus und fuhr mir mit den noch nassen Händen durchs Haar.

»Da haben sich ja zwei Monster gefunden …«, sagte ich grinsend. Dass er gleich hand­greiflich wurde, passte mir zwar überhaupt nicht in den Kragen, trotzdem musste ich seine Meinung wirklich akzeptieren, um nicht irgendwann etwas Ernsteres zu spüren zu bekommen. Es war eine gute Drohung, das musste ich eingestehen. Und irgendwie machte es mich auch an. Alles an ihm machte mich an. Es war also egal, was er tat.

Ich bemerkte mein Pflaster am Hals. Vorsichtig knibbelte ich an den Ecken, bis ich eine Stelle zu greifen bekam. Ich riss mir das Pflaster mit einem Zug vom Hals. Die Wunde war vollständig verschwunden. Sanft strich ich mit meinen Fingern über die Stelle. Meine Haut war noch nie so zart gewesen, noch nie so weiß und noch nie so … zerbrechlich. Ich dachte nur daran, dass es keiner starken Gegenstände bedurfte, um sie zu zerstören. Ich schüttelte den Kopf und schmiss das Pflaster in die silberne Mülltonne unter dem Waschbecken.

Schnell sprang ich unter die Dusche, hielt mich aber nur an eine Katzenwäsche. Großreinigung war gestern gewesen. Ich trocknete mich schnell ab, zog mir meine Boxershorts wieder an und rannte wie immer mit nassen Haaren aus dem Bad. Doch bevor ich nach der Türklinke greifen konnte, fiel mir etwas im Spiegel an meinem Körper auf. Sofort stellte ich mich wieder vor ihn und strich mir meine Haare am Hals weg. Da lächelte mich ein Münzengroßer Knutschfleck an. Meine Augen weiteten sich ein wenig; kaum fassbar strich ich an ihm entlang. Wann ich das letzte Mal einen Knutschfleck hatte? Es war schon so lange her, dass ich mich noch nicht mal daran erinnern konnte. Wieder etwas rosa im Gesicht, musste ich grinsen. Legte meine Haare aber wieder über die Stelle, damit Vater sich nicht allzu sehr wunderte. Langsam schritt ich aus dem Bad, schloss die Tür und schlurfte den Gang entlang. Doch da kam mir schon Kiyoshi aus seiner Tür entgegen. Er trug unter seinem Arm seine Schuluniform. Diese dunkle Uniform, die in jeden Horrorfilm passen würde. Doch dann dämmerte es langsam in mir. Gerade als er an mir vorbeiging, hielt ich ihn am Handgelenk fest. Sofort drehte er sich ge­schockt um. Er dachte wohl, ich würde mitten auf dem Gang wieder was Dummes tun. Ich seufzte innerlich, setzte zu meiner Frage an:

»Meine Uniform musste etwas ‚leiden’ und ist dreckig … Soll ich meine normalen Sachen anziehen?«

»Um Gottes Willen, nein«, prustete er sofort los und legte seine perfekte Stirn in Falten. Ich rollte meine Augen und ließ sein Handgelenk los.

»Was dann?«

»Leih dir was von mir.«

Damit ging er ins Bad. Ich hob noch den Zeigefinger und atmete ein, um etwas zu sagen, ließ es aber, als die Tür ins Schloss fiel. Ich zuckte mit den Schultern und ging zu seinem Zimmer. Ich dachte nicht weiter nach und betrat es einfach. Sofort kam mir diese Duftwolke entgegen mit der ich sowohl Schreckliches als auch Gutes verband. Dieser Geruch, den ich von vornherein mochte; den ich mit meinem Schicksal kennen lernte.

Auf seinem Stuhl und seiner Kommode stapelten sich die Klamotten, sein Bett war nicht gemacht, die Vorhänge nicht schön zur Seite gebunden und auf dem Schreibtisch alle möglichen Bücher. Ich konnte einfach nicht anders, als mich in seinem Zimmer umsehen. Die Klamotten, die verstreut überall herumlagen, waren haupt­sächlich schwarz und wenn anders farbig, dann trotzdem dunkel. Selbst seine ganzen Boxershorts waren schwarz, dunkelgrau oder dunkelblau. In seinem Bett lagen noch weitere Bücher und Hefte. Sah nach Schule aus. Unter anderem pflanzte sich ein iPod auf seinem Kopfkissen.

»Ja, Papa hat Geld«, murmelte ich, während ich ihn anschaltete und mir einen Kopfhörer ins Ohr steckte. Ich sah mir seine Playlist durch und fand zu meiner Überraschung auch Bands, die ich hörte. Und ich durfte mir von ihm anhören, dass ich ein Punk wäre, dabei hörte er genau dasselbe, wie ich auch. Manche Lieder kannte ich nicht, klickte aus Spaß einfach mal eins an. Sofort hörte ich die harten E-Gitarren und Bässe, das Schlagzeug passend dazu schlagen und wie ein Mann schrie. Das ging einige Sekunden so, bis ein Solo der E-Gitarre kam. Und das ganze spielte sich einer Lautstärke ab, in der ich nur selten hörte. Sofort riss ich mir den Kopfhörer von meinem Ohr und machte den iPod aus. Extrem, was mein Bruder für Musik hörte. Trotz allem hätte ich mir bei seinem depressiven Getue auch nichts anderes vorstellen könne. Im Nachhinein war ich sogar glücklich, dass wir im Grunde dieselbe Musik hörten... Ich grinste innerlich und wendete mich den Büchern vom Schreibtisch zu.

»Wie ein Bücherwurm sieht er ja eigentlich nicht aus …«, murmelte ich vor mich hin und blätterte in einem der Wälzer. Da waren Titel wie ‚Racheengel’ oder ‚Tag des jüngsten Gerichts’, ‚Säulen der Toten’ oder ‚Vollmondmord’. Wenigstens klangen diese Bücher besser als die, die meine Mutter mir mitgegeben hatte. Aber über den Geschmack von Kiyoshi ließ sich wirklich streiten. Erst, als ich das Buch wieder weglegte, fielen mir die vielen schwarzen Kerzen auf. Sie waren alle fast abgebrannt und ihr Wachs ergoss sich über die goldenen Kerzenständer. Sowohl auf der Fensterbank, als auch auf den Büchern, dem Schreibtisch und dem kleinen Brett an der Wand standen sie. Ob ich ihm mal zeigen sollte, wie ein Lichtschalter funktionierte?

Ich wühlte mich durch das Chaos bis zum Schrank und öffnete ihn. Sofort kamen mir einige Schäle und Taschen entgegen. Ich hob etwas von den Sachen auf und hielt einen dunkelblauen Wollschal in der Hand. Er war richtig weich und lang. Solch ein Schal sähe bestimmt gut an ihm aus, dachte ich und legte ihn ordentlich wieder in eines der Fächer. Die schwarzen Taschen, die ebenfalls auf dem Boden lagen, hatten etwas feminines. Feines Leder, mit ein paar goldenen Schnallen. So puristisch. In Gedanken über seine Outfits am grübeln, stellte ich sie wieder in den Schrank. Das Chaos war nicht zu übersehen und erinnerte mich etwas an das zu Hause bei meiner Mutter. Einerseits gefiel mir das, was ich sah, andererseits würde es eine große Überwindung kosten, es anzuziehen. Zwar war alles hauptsächlich schwarz (Ich erwähnte das bereits), trotzdem waren es Hemden, Stoffhosen, vielleicht zwei oder drei Jeans und ansonsten ein paar T-Shirts. Er verlangte wohl von mir, dass ich eines seiner dunkelroten Hemden anzog, da das ja die Schuluniform war. Etwas angesäuert zog ich mir ein solches heraus und warf es mir über. Die Jeans, die er besaß, waren alle skinny. Ich hasste solche Jeans. An ihm sahen sie gut aus, aber ich persönlich würde sie nie freiwillig tragen. Mein Schritt braucht Platz.

 Das hieß wohl, ich musste eine Stoffhose anziehen. Genervt am seufzen zog ich mir eine raus, hing den Bügel wieder in den Schrank und machte die Schranktüren zu. Ich zog mir die Hose an und zupfte noch ein wenig am Hemd. Ohne direkt zu mosern musste ich jedoch eingestehen, dass es mir ein wenig zu klein war. Bei seiner zierlichen Figur konnte es mir ja nur zu klein sein. Ich war bei weitem kein Schrank. In diesem Hemd fühlte ich mich auf einmal wie einer.

Ich musste etwas lachen, doch es versiegte sofort wieder, als Kiyoshi mit offenem Hemd ins Zimmer gestürmt kam.

»Du bist ja immer noch hier«, motzte er unfreundlich und lief an mir vorbei, um seine Tasche mit noch restlichen Dingen zu füllen.

»Ich musste mich erst einmal durch diesen Dschungel kämpfen«, lachte ich etwas angenervt und stemmte meine Hände in die Hüfte. Er hielt in seiner Bewegung inne und sah kurz zu mir auf. Sein böser Blick wurde noch durch ein sarkastisches »Haha« verstärkt. Das ließ mich natürlich noch weiter lachen. Er konnte so kratzbürstig werden.

»Hey, Witzbold, steck das Hemd rein«, maulte er mich plötz­lich wieder an und stopfte ein Buch in die Tasche.

»Vergiss es, Kaktus. Ich bin der lockere Typ, ich stecke meine Hemden nie rein«, sagte ich mit einem breiten Grinsen. Dann verschränkte ich meine Arme vor der Brust.

Er seufzte genervt auf und legte ein Buch wieder auf den Schreibtisch, da es nicht mehr in seine Tasche passte.

»Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt, oder was?« Er klang sehr genervt. Wahrscheinlich trug ich grade bestens dazu bei.

»Einen ganzen Clown, hast du ihn nicht gesehen? Die Leiche liegt sicherlich noch unter dem ganzen Krempel hier, Yoshi.«

Er schloss genervt die Augen und atmete feste aus. Aufgestaute Luft rauslassen. Ich musste mir das Lachen unterdrücken; es war so lustig ihn zu ärgern.

»Zieh wenigstens den Blazer an, Zwerg.«

»Hä? Welcher Blazer?«

»Der vor deiner Nase liegt.«

»Hier liegt ne Menge vor meiner Nase.«

Er seufzte auf, bückte sich vor mich und hob einen schwarzen Blazer von der Kommode auf.

»Den!«, sagte er auffordernd und drückte ihn mir gegen meine Brust. Ich nahm ihn verwundert an und betrachtete ihn.

»Das ist doch eure Schuluniform. Musst du den nicht tragen?«

»Ich habe mehrere.«

»Konnte ich mir auch denken …«, murmelte ich und zog ihn mir über. »Jetzt sehe ich aus wie ihr …« Der etwas widrige Ton in meiner Stimme ließ Kiyoshi aufhorchen. Er drehte sich zu mir um und kam auf mich zu. Er knöpfte meinen oberen Knopf noch zu und öffnete eine Schublade vom Schrank. Schnell knöpfte ich den Knopf wieder auf. Als er sich zu mir umdrehte, hielt er eine schwarze Krawatte in der Hand und seufzte abermals.

»Den solltest du zumachen«, sagte er unerwartet ruhig.

»Ich sagte doch, ich mag es eher -…«

»Ja, ja«, redete er mir ins Wort und zog die Krawatte um meinen Kragen. Sachte band er sie für mich. Ich konnte einfach nicht anders. Wie er da so vor mir stand und diese Krawatte fixierte, mit offenem Hemd und der Krawatte herunterhängend. Als er fertig war, richtete er noch einmal meinen Blazer. Ich legte meine Hände auf seine Oberarme und kam seinem Kopf etwas näher. Vorsichtig wartete ich seine Reaktion ab, als er jedoch nichts einwendete, schloss ich meine Augen und presste sanft meine Lippen auf seine. Ich blinzelte kurz, ob das in Ordnung war und sah, dass er seine Augen auch geschlossen hatte. Ich intensivierte den Kuss ein wenig, ließ ihn aber nach einigen Sekunden wieder beenden. Ich wollte ja nicht über­treiben. Und schon gar nicht erwischt werden.

Vorsichtig sah ich in seine Augen. Sie glänzten wieder und erleuchteten in ihrer typischen Farbe. Ich lächelte ihn leicht an und ging auf Abstand. Seine Miene blieb erst unergründlich, doch als mein Lächeln versiegte, formte er seine Lippen auch in ein zartes und warmes Lächeln. Es umschmeichelte mein Herz und ließ es schneller schlagen. Sofort grinste ich wieder und schlang meine Arme um ihn. Sein kalter, lebloser Körper lag nun in ihnen, Wange an Wange spürte ich seine zarte Haut. Seine dünnen Finger strichen über meinen Nacken und Rücken, verursachten bei mir Gänsehaut. Ich drückte seinen Körper weiter an mich, in der Hoffnung dieser würde ein Lebenszeichen von sich geben. Doch es kam nichts. Es war immer noch so ungewohnt, einen toten Körper zu umarmen. Fast, als wäre mein Geliebter eine Leiche.

»Schwänzen wir morgen?«, hörte ich ihn in mein Ohr flüstern.

»Was denn? Du schwänzt?«, musste ich leicht kichern.

»Eh! Natürlich! Ein bisschen zu oft... manchmal.«

Ich musste lachen. Natürlich schwänzte er nie, das hörte ich raus, aber es war ein Angebot für sich.

»Wenn du willst. Ich will da eh nicht hin …«

»Gut …«, hauchte er mir schon fast ins Ohr. Er roch so gut; sein Körper war so zart. Langsam wurde er warm, wahrschein­lich durch meine Körpertemperatur. Ich wollte ihn nicht loslassen. Nie wieder. Für immer hätte ich so stehen bleiben können. Hauptsache, ich konnte ihn halten.

Plötzlich spürte ich, wie er schwerer wurde. Ich atmete ein, wollte etwas sagen, doch da zuckte er schon zusammen und zog seine Arme von meinem Hals, wich aber nicht von mir. Er blickte etwas verschämt gen Boden.

»Ich schlafe jetzt schon fast ein …«, murmelte er. In der Tat sah er sehr müde aus, aber im Grunde war er das immer.

»Lass dich doch heute befreien. Wenn du jetzt schon so müde bist, hat’s doch keinen Sinn …«, schlug ich ihm vor, doch er antwortete nur mit Kopfschütteln.

»Nein, ich muss in die Schule.«

»Wieso musst du?«

»Ich habe heute einen Vortrag in Geschichte. Der ist extrem wichtig …«

Ich seufzte. Gerade deshalb würde ich nicht in die Schule gehen …

Trotzdem nickte ich verständnisvoll und drückte ihn noch einmal an mich. Er legte kurz seinen Kopf auf meine Schulter. Doch es dauerte nicht lange, da riss er sich von mir weg. Kurz danach wurde die Tür geöffnet. Vater stand lächelnd am Türrahmen.

»Kommt ihr?«

Ich drehte mich um und nickte etwas verlegen. Gut, dass Kiyoshi da so einen guten Spürsinn für hatte, sonst wäre so manche Situation schon in die Hose gegangen.

»Hiro, die Uniform steht die sehr gut«, machte mir Vater ein Kompliment und nickte aufmunternd. Ich versuchte zu lächeln und murmelte ein »Danke«. Kiyoshi schnappte sich seine Tasche und hing sie über seine Schulter.

»Du solltest deine Tasche auch mitnehmen«, sagte er mir noch beim Vorbeigehen und verschwand um die Ecke aus der Tür. »Ach ja«, murmelte ich noch vor mich in und drängte mich ebenfalls an Vater vorbei. Der machte nur schwerfällig für mich Platz und gewährte mir Durchgang. Schnell rannte ich in mein Zimmer und schnappte mir meine eigene Tasche. Die Flasche von gestern war noch drin, ich hatte vergessen sie heraus zu nehmen. Als gleichgültig abgestempelt verließ auch ich meinen Raum, schnappte mir noch meinen goldenen Schlüssel vom inneren Schloss der Tür. Ich stockte kurz und blieb stehen. Verwirrt starrte ich auf das goldene Ding.

»Wie kann das sein?«, flüsterte ich in die Stille um mich herum. Kiyoshi hatte den Raum abgeschlossen, nachdem er reinge­kommen war. Was zur Hölle war eigentlich zwischen dem Thema ‚Wald’ und dem Thema ‚Bett’ passiert? Irgendjemand musste die Tür aufgeschlossen haben. Vielleicht Kiyoshi selbst? Aber hätte ich das nicht mitbekommen? Mein Kopf dröhnte schon fast vor Wirrsal.

»Hiro, komm endlich«, rief Vater erneut von der Treppe aus und zeigte mir mit einem Handzeichen, dass ich mich beeilen sollte. Schnell schloss ich die Tür hinter mir und rannte ein Stück bis zu ihm. Unten stand noch Kiyoshi und wartete neben der offenen Haustür auf mich. Die morgendlichen roten Sonnenstrahlen umschmeichelten seine Elfenbeinfarbene Haut, wie in einem Kitschfilm. Und auch wenn ich kein Freund von solchen Dingen war, so hätte ich Stunden auf ihn starren können. Jedoch musste ich mit ihm in die Schule, sprintete die Treppe runter und wollte schon wieder umdrehen, da ich meine Schuhe vergessen hatte, wurde jedoch mit meinem Namen zurückgehalten.

»Hiro, sie sind hier«, rief mir Kiyoshi hinterher und zeigte auf meine Uniformschuhe. »Ah …«, brachte ich leicht lächelnd raus und fragte mich wieder innerlich, wie die an diesen Platz kamen, da ich der festen Überzeugung war, sie in mein Zimmer gestellt zu haben. Mysterien waren hier wie Sand am Meer.

Endlich startklar, schlurfte ich mit Kiyoshi aus der Villa zum Auto. Diesmal war es ein schicker BMW, welche Klasse genau, konnte ich nicht erkennen. Aber die Innenausstattung war schon Luxus genug. Sachte ließ ich mich auf die hellen Ledersitze fallen und schloss die Tür. Sofort fuhr Mamoru los, ohne irgendein Wort zu sagen.

»Sag mal, Mamoru«, brach ich die Stille und beugte mich zu ihm nach vorne, »Wie hast du es hinbekommen, dass Vater mir jetzt doch erlaubte in die Schule zu gehen?«

Er grinste leicht und sah durch den Rückspiegel.

»Ich überzeugte ihn, indem ich ihm mitteilte, dass es Ihnen besser ginge und Sie bereit wären, Ihren baldigen Platz in der Schule einzunehmen.«

Ich schluckte leicht. »Oh« war alles was mir dazu einfiel. Mein ‚baldiger Platz’? Ja, das befürchtete ich wohl auch. Nickend setzte ich mich wieder auf meinen Platz und starrte aus dem Fenster. Wir befanden uns schon auf der Allee. Es dauerte auch nicht lange, da durchfuhren wir wieder die Einfahrt der Schule. Einige Schüler waren diesmal noch auf dem Campus, wenn man das schön angelegte Gartengelände so bezeichnen konnte. Kiyoshi verabschiedete sich kurz von Mamoru und stieg aus. Er war schon längst am anderen Ende des Autos, während ich noch mit meinem Anschnallgurt zu kämpfen hatte.

»Tschüss Mamoru. Und noch mal danke.«

»Selbstverständlich, Herr Hiroshi.«

Ich seufzte etwas. Er sollte mich besser Duzen. Aber wahrscheinlich würde er es noch in hundert Jahren machen, wortwörtlich.

Ich folgte meinem Bruder durch die schwere Holztür. Es war ganz anders, das Schulgebäude mit Schülern zu betreten, alles zu kennen und sich schon ein wenig wohlzufühlen. Die Umgebung war nicht mehr allzu neu, sie war bekannt. Einige Gesichter erkannte ich sogar wieder. Auch das von Kat und Ichiru.

»Hiro!«, rief Kat durch die Menge und streckte ihren Arm in die Höhe, um mir zu winken. Ich winkte etwas zögerlich zurück und lächelte. Sofort kam sie angestürmt und fiel mir um den Hals. Mich durchzog es wie ein Blitz, die kalte Haut, der ungewohnte Geruch, diese Gefahr, die sich mir so unglaublich unnachgiebig näherte. Ich drückte sie sofort von mir. Sie selbst sah mich verwundert an.

»Oh, äh … Sorry, ich bin noch nicht so heile …«, redete ich mich raus. Kiyoshi war wirklich der einzige, der sich mir überhaupt nähern durfte ohne gleich meine Fäuste zu spüren zu bekommen.

»Ach so! Tut mir Leid. Schön, dass du wieder da bist«, quietschte sie mir entgegen und wehte ihren leicht gebundenen Pferdeschwanz nach hinten. Ichiru kam auch langsam lächelnd auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Hallo, Hiro. Freut mich, dass es dir wieder besser geht.«

Ich nahm sie freundlich an und schüttelte sie etwas.

»Hey, Ichiru. Danke …« Dann ließ ich sie wieder los.

Eine kurze Stille trat ein. Kat und Ichiru nahmen sich wieder an die Hand und sahen uns glücklich an. Ich hätte auch gerne Kiyoshis Hand genommen und wäre mit ihm in die Klasse gegangen. Doch das wäre … seltsam gewesen. Kat stutzte auf.

»Ist irgendetwas zwischen euch passiert? Ihr wirkt so … anders«, sagte sie verwundert und legte ihren Kopf etwas schief. Sofort riss ich meine Augen auf und spürte, wie das Blut in meinen Kopf gepumpt wurde.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Kiyoshi monoton. Sofort sah ich ihn an. Sein Blick war desinteressiert, seine Augen auf halb acht und sein ganzes Erscheinungsbild recht teilnahmslos. Wie schnell er seine Art ändern konnte, faszinierte mich immer wieder aufs Neue.

»Och, na ja … Ihr beide wirkt so … distanziert«, bemerkte sie schließlich und legte ihre Hand überlegend auf ihre Wange. Ichiru musste nicken und stimmte ihr demnach zu.

»Distanziert … echt?« Ich konnte es kaum glauben. Immerhin war ja das genaue Gegenteil eingetreten. Mir brannte es richtig auf den Lippen den beiden zu sagen, was wirklich war. Am liebsten wären mir Phrasen wie ‚Wir hatten aber Sex, stellt euch vor’ und ‚Wir sind jetzt ein Paar’, ‚Kiyoshi kann richtig heftig stöhnen, kann man sich bei ihm gar nicht vorstellen’ und noch vieles weitere. Aber das unterdrückte ich mir, das wäre recht peinlich geworden.

»Wenn ihr’s nicht seid, ist doch in Ordnung«, lachte Kat wieder und zuckte mit den Schultern. Ich nickte stockend und ging unbemerkt einen kleinen Schritt zur Seite. Sachte berührte ich seine Schulter. Ich huschte kurz mit meinem Blick zu ihm, in der Hoffnung, er würde auch herüberschauen. Doch er blickte nur stur geradeaus und schien einen toten Punkt zu fixieren. Er war wirklich müde. Und dann hatte er heute noch einen Vortrag. Der Arme, dachte ich bei mir und wendete meinen Blick wieder ab. Von weitem kam Yagate auf uns zu, grinste breit und winkte uns zu. Wir alle winkten zurück, außer Kiyoshi, und gingen ein paar Schritte auf ihn zu.

»Guten Morgen, ihr vier. Hey, Hiro. Wie geht’s dir?«, fragte er freundlich und hielt mir seine Hand hin. Ich schüttelte sie wie bei Ichiru und nickte. »Danke, wieder besser …«

Nach noch kurzem Verweilen im Foyer, gingen wir die große Treppe in den ersten Stock hoch. Es wurden immer weniger Schüler auf dem Gang, der Unterricht schien bald zu beginnen.

»Was haben wir jetzt?«, fragte ich in meiner typisch nervenden Stimme. Ich fragte diese Phrase andauernd, aber Kiyoshi ließ mich ja nicht an seinem Stundenplan teilhaben.

»Biologie«, antwortete Ichiru und zeigte auf eine noch offen stehende Tür. Ich nickte einmal dankend. Bio, na toll, dachte ich innerlich seufzend.

Wir betraten den kleinen Hörsaal und suchten uns Plätze.

»Da hinten sind noch drei Plätze frei«, sagte Kat und deutete auf eine hintere Reihe. »Ansonsten hier vorne noch vier.«

Ohne ein Wort zu sagen, platzierte sich Kiyoshi in die erste Reihe und schmiss sich auf einen der Klappstühle. Ich zuckte mit den Schultern und ging zu ihm, setzte mich neben ihn und packte meine Tasche unter den Tisch. Kurz blickte ich zu den drei anderen, wie sie wortlos nach hinten gingen.

»Wäre es nicht netter gewesen, die drei darüber zu informie­ren, wo wir uns platzieren? Vielleicht hätten sie lieber hier gesessen?«, flüsterte ich zu Kiyoshi, der mich nur desinteressiert ansah.

»Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die drei im Unterricht aufpassen.«

»Na, trotzdem!«

»Glaub mir, das ist schon in Ordnung so.«

Ich seufzte kurz. Mein Blick fiel kurz durch die Runde der Klasse. Die Gesichter sahen alle fremd aus, niemand war von Montag hier. Aber etwas Gutes hatte es: Kein Alexander. Den hatte ich so gut wie gefressen. In meiner Schule hätte der ein paar Schläge auf sein arrogantes Maul bekommen. Den hätte Jiro mal kennenlernen sollen. Da hätte es hier aber Verletzte gegeben.

Die Lehrerin betrat den Raum, schloss sachte die Tür und schob einen Overheadprojektor vor sich her. Lächelnd stellte sie ihre Tasche ab und schaltete den Projektor ein. Es war eine junge und hübsche Lehrerin. Sie hatte kurze, schwarze Haare und ein niedliches Gesicht. Außerdem war sie bestimmt einen Kopf kleiner als ich. ‚Süß’ wäre eine gute Beschreibung für sie gewesen.

»Guten Morgen, ihr Lieben«, begrüßte sie uns in ihrer hohen Stimme. Ein kurzes militärisches ‚Guten Morgen’ dröhnte durch den Raum, dann setzten sich alle hin.

Während sie noch ihre Folien in ihrer Tasche suchte, sprach sie zu mir ohne mich dabei anzusehen:

»Und du bist Kiyoshis Zwillingsbruder?«

»Äh, ja«, gab ich kurz zurück und genierte mich wieder etwas. Mit Erwachsenen reden war schon unangenehm und jetzt noch mit vampirischen Erwachsenen war ja dementsprechend noch unerträglicher.

»Schön, dass du hier bist. Wie lange bleibst du?«, wollte sie wissen und sah mich endlich dabei an, als sie die Folie auf die Projektorfläche legte.

»Nur noch diese Woche.«

»Oh, schade. Dann sehen wir uns wohl heute zum ersten und letzten Mal. Trotzdem, ich bin Frau Albert. Und du bist …?« Sie reichte mir freundlich ihre zarte, weiße Hand, die schon fast Ton in Ton mit ihrem Kittel war. Lächelnd gab ich ihr meine.

»Hiroshi. Aber nennen Sie mich bitte Hiro.«

»Alles klar, Hiro«, sagte sie schon fast auffordernd. Dann wusste ich auch, was sie meinte. »Dann kannst du uns bestimmt auch etwas über die D.N.S sagen.«

»Äh …« Nein, konnte ich nicht. Ich wusste noch nicht mal, was genau das war. Obwohl das Thema gerade für mich und Kiyoshi nicht uninteressant wäre. »Tut mir Leid, leider nicht«, musste ich etwas eingeschüchtert zugeben. Frau Albert lachte und winkte ab.

»War nur ein kleiner Scherz. Als Gast musst du das doch nicht wissen.«

Aber wenn ich bald auf diese Schule gehen würde, müsste ich es wissen; das war das Schlimme. Und ich könnte in meinem ganzen Leben den Stoff nicht nachlernen. Jedenfalls hatte ich das auch nicht vor, das Thema hatte ich schon einmal.

»Aber dein Bruder kann es sicher«, forderte sie Kiyoshi auf, der nur teilnahmslos auf die Folie starrte, auf der einzelne Gebilde abgebildet waren, die wie Bausteine aussahen.

»Was genau wollen Sie denn wissen?«, stellte er indirekt eine Gegenfrage und wartete ruhig ab. Frau Albert schien verwun­dert, stockte etwas, sah ihn nur verwirrt an.

»Zum Beispiel … was sie ausgeschrieben bedeutet.«

»Desoxyribonukleinsäure.«

»Ja, genau, richtig. Hinten, Atushi: Wie heißen ihre vier organischen Basen?«

Ein Junge aus den hinteren Reihen antwortete irgendeinen Wirrwarr, den ich nicht verstand. Ich beugte mich etwas zu meinem Bruder.

»Wie heißt das?«, flüsterte ich ihm zu.

»Merk dir einfach D.N.S.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay.«

Die Stunde handelte nur von der D.N.S, wie sie in einer Doppelhelix aufzufinden war, in ihr Aminosäuren enthalten waren und der genetische Code aus vier Basen mit diesen Aminosäuren und Proteinen bestand, oder so ähnlich. Die Stunde verbrachte ich in meiner üblichen Abwesendheit und wartete bis es klingelte. Schon bereute ich es innerlich dieses Gebäude betreten zu haben, bis eine seltsame Durchsage durch die Hallen der Schule erklang.

Untote Angst

Es rauschte kurz, eine Frauenstimme war zu hören. Es wurde schlagartig still. Die Stunde war fast zu Ende.

»Achtung, eine Durchsage. Kiyoshi Kabashi, bitte ins Sekreta­riat kommen. Kiyoshi Kabashi, bitte. Danke.«

Es rauschte wieder kurz und alles verstummte. Mein Blick fiel auf Angesprochenen. Er schloss kurz die Augen, ließ langsam Luft aus seiner Nase und stand auf.

»Nimmst du meine Sachen einfach mit?«, fragte er mich schnell, während er seine Tasche auf den Sitz stellte.

»Klar, was hast du danach?«

»Geh einfach mit Kat mit.«

Dann verschwand er ohne ein Wort aus der Tür. Schien er zu wissen, was los war? Mir war das etwas unangenehm, da ich alle Blicke auf mir spüren konnte. Ob meine menschliche Aura noch erhalten war? Hungrige Augen auf einem zu spüren war kein angenehmes Gefühl. Schon gar nicht, wenn ich alleine, also ohne ihn, war. Doch man hörte nur Stühle klappern, wie mehrer Schritte nach vorne kamen und sich neben mir platzierten. Yagate setzte sich auf Kiyoshis Platz, Kat und Ichiru auf die andere Seite neben mir. Alle lächelten mich freundlich an. Ich grinste erleichtert zurück. So ganz alleine war ich also doch nicht. Auch wenn es manchmal ziemlich arro­gante Vampire sein konnten, so waren sie doch ganz gute Freunde.

»Weißt du, was los ist?«, fragte mich Kat flüsternd. Ich schüttelte den Kopf. »Das wollte ich euch schon fragen.«

»Seltsam, normalerweise muss er nie ins Sekretariat«, be­merkte Yagate und stützte seinen Kopf auf. Ich zuckte mit den Schultern. »Mal sehen, was los ist.« Ich erwartete ja nichts schlimmes, ging einfach davon aus, dass alles in Ordnung war.

Nach einigem Getuschel und fragenden Blicken, ging der Unterricht weiter. Doch es dauerte nicht lange, da klingelte es im sanften Dreiklang und die Lehrerin verschwand. Kat stand auf, Ichiru und Yagate blieben sitzen.

»Äh, Kat?«

Sie drehte sich kurz zu mir. »Ja?«

»Ich soll mit dir mitkommen, ist das in Ordnung?«

»Ja, natürlich!«, lacht sie und quetschte sich an Ichiru vorbei aus der Reihe. Ich versuchte auch an Yagate rauszukommen, schnappte mir Kiyoshis Sachen. Mit einem freundlichen Winken verschwanden wir aus der Klasse. Ihre langen Haare wehten mir schon fast ins Gesicht, als sie am Ende des Ganges eine scharfe Linkskurve nahm. Doch dann blieb sie stehen.

»Da hinten ist das Sekretariat …«, murmelte sie. Ich folgte ihrem Blick und sah eine weiße Tür am Ende des Ganges. An ihr war das Schild Sekretariat befestigt. Eine seltsame Stimmung kam aus dem Raum.

»Da stimmt irgendetwas nicht …«, sagte Kat etwas aufge­bracht und sah mich fragend an. Ich konnte meinen Blick nicht von diesem Zimmer abwenden. Die geschlossene Tür, das große Schild, diese seltsame Aura.

»Was auch immer es ist, ich denke Kiyoshi wird damit fertig.« Damit drehte ich mich um und wartete, dass Kat mich zum Klassenraum führte. Doch sie bewegte sich nicht. »Kat?«

»Ja, du hast Recht«, stimmte sie mir schnell zu, machte ebenfalls auf dem Absatz kehrt und ging an mir vorbei. Etwas verwundert über ihre Reaktion folgte ich ihr. Nur wenige Schritte entfernt, bog sie in eine Klasse ein. Es sah nach einer großen Küche aus. Mehrere lange Tresen mit Backöfen und Herdplatten standen hintereinander gereiht im Raum. Kat platzierte ihre rosa Tasche neben einem solchen Tresen.

»Kannst du hier ablegen«, sagte sie und deutete auf Kiyoshis und meine Sachen. Ich nickte, legte sie vorsichtig zu ihrer Tasche und betrachtete den Raum. Große Fenster schmückten ihn, natürlich waren diese mit Vorhängen zugezogen. Einige bekannte Gesichter standen schon vor Töpfen und Pfannen. Es war ein altbekanntes Geschehen: Hauswirtschaft. Obwohl ich dieses Fach nicht an meiner Schule hatte. Es wurde nur an Haupt- oder Realschulen unterrichtet. Und an Privatschulen.

Doch dann kam ich ins stutzen, während Kat schon einmal Töpfe und Pfannen nach einer kleiner Anleitung, die auf einer freien Arbeitsfläche lag, herausnahm. Ich kam ihr etwas näher.

»Ich dachte ihr könnt keine menschliche Nahrung zu euch nehmen?«, flüsterte ich ihr zu. Sie sah mich verwundert an, dann grinste sie.

»Wir essen sie ja auch nicht.«

»Wie? Und wofür macht ihr das ganze dann?«

»Das Fach ist vorgeschrieben. Warum auch immer, da wir ja eigentlich eine private Schule sind.«

»Und was macht ihr mit dem Essen?«

»Wegschmeißen oder, wenn es etwas haltbar ist, dem Waisen­haus hier ein paar Straßen weiter geben.« Langsam füllte sie Wasser in den Topf. Ich nickte langsam. Seltsame Schule, seltsame Schüler, seltsame Lehrer, seltsame Fächer. Was war eigentlich nicht seltsam?

»Holst du schon mal die Butter aus dem Kühlschrank? Wir sind Tisch drei.« Sie zeigte auf einen großen, weißen Kühl­schrank, der an einer Art Hauptküche angebracht zu sein schien.

»Äh, klar.« Ich schlurfte zum besagten Gegenstand und öffnete ihn. Genauso viel Inhalt, wie bei uns zu Hause, dachte ich, als ich in den vollgepackten Kühlschrank blickte.

»So voll sollte er mal bei Mom sein …«, murmelte ich vor mich hin, als ich die Butter suchte. Ich fand weder Nummerie­rungen noch irgendwelche anderen Gefäße, in denen Butter sein könnte.

Plötzlich griff eine zarte Frauenhand mit rot lackierten Fingernägeln in den Kühlschrank und öffnete eine Schublade. Sie griff nach einer kleinen Schachtel mit der Nummer drei und reichte sie mir.

»Suchst du die?«, kam die erotische Stimme hinter mir. Ich drehte mich zu ihr um und musste innerlich seufzen. Rose lächelte mich mit ihrem roten Lippenstift an und hielt noch die Butter in ihren Händen.

Ich versuchte zu lächeln, nahm die Butter und sagte kurz »Danke«. Natürlich ließ sie mich nicht sofort durch.

»Schön dich wiederzusehen, Hiro«, sagte sie in einer Art auffordernd und stützte sich auf eine der Tresen ab, um mir weiterhin den Weg zu versperren.

»Ja … Finde ich auch …«, murmelte ich vor mich hin, wäh­rend ich spürte, dass die Butter in meinen Fingern anfing zu schmelzen.

»Wo warst du gestern? Ich habe dich vermisst …« Sie legte ihre rechte Hand auf meine Brust und strich vorsichtig über mein Hemd.

»Ich war krank.«

»Die Uniform steht dir wirklich gut, Hiro.« Sie legte ihre zweite Hand auch auf meine Brust.

»Danke.« Ich wendete meinen Blick ab, hoffte, dass sie mich aufgrund meines Desinteresses einfach in Ruhe ließ. Doch da hoffte ich das genaue Gegenteil.

»Bist du heute nicht so gut drauf? Soll ich dich aufheitern?«, fragte sie antörnend, legte ihre große Oberweite an mich. Schnell blickte ich mich im Raum um. Nur ihre Schwester Sam war im hinteren Teil der Küche mit irgendeinem anderen Typen am flirten und beachtete uns gar nicht. Ich seufzte und blickte auf sie herab. Mit einer bestimmten Handbewegung drückte ich sie von mir.

»Du weißt, dass das unter sexuelle Belästigung fällt, ja?«

In ihrem Ausdruck formte sich Unverständnis. Die Situation ausnutzend, drückte ich sie zur Seite und ging an ihr vorbei. Kat grinste mich schon von weitem an. Sie hob ihre eine Augen­braue kurz an. Ich musste lachen und reichte ihr die Butter.

»Wow. Das hat sie sicher geschockt.« Sie gab die schon fast flüssige Butte in die Pfanne und zerließ sie.

»Kann sein. Aber so lässt sie, denke ich mal, Abstand von mir, oder?«

»Keine Ahnung. Bis jetzt hat sich noch kein Typ getraut ihr das zu sagen«, lachte sie und holte aus einer Plastiktüte verpackten Speck raus. »Rührst du die Nudeln um?«

»Klar.« Ich schnappte mir den Kochlöffel und rührte sachte die langen Spaghetti im Topf um. »Was machen wir eigentlich für ein Gericht?«

»Spaghetti Carbonara.«

»Oh, lecker …«, schwärmte ich und hätte am liebsten gefragt, ob ich es essen dürfte. Der leckere Geschmack von Spaghetti haftete noch in meinem Mund. Alte Zeiten kamen wieder hoch und mir war wie immer zum Heulen zu Mute. Aber nicht vor versammelter Mannschaft.

»Darfst du es nicht mehr essen?«, fragte Kat und sah mich besorgt an.

»Nein, also … Ich denke mal.« Ich lächelte sie an und wollte ihr damit zeigen, dass alles in Ordnung war, aber anhand ihres Blickes, schien sie mir nicht ganz glauben zu wollen.

»Vielleicht kannst du nachher mal probieren.« Dabei zwin­kerte sie mir zu und legte die Speckstreifen in die Pfanne. Es zischte laut. Sowieso war es im Raum recht geräuschvoll. 

»Ist hier kein Lehrer?«, fragte ich leise und sah mich um.

»Doch, da hinten. Herr Ohara.« Sie zeigte auf einen sehr jungen Lehrer, der nicht nur recht gutaussehend war, sondern anscheinend auch gefallen an seinen Schülerinnen gefunden hatte.

»Verstehe …«, murmelte ich und seufzte leise.

»Er bemerkt dich wahrscheinlich nicht, weil er denkt, du wärst Kiyoshi.«

»Meinst du? Versprühe ich nicht eine ganz andere Aura als er?«

»Natürlich«, lachte sie, »Aber so genau wird er wohl nicht darauf achten.«

»Ach so.« Oberflächlich, also. War ja klar.

Als Kat eine ganze Knoblauchzehe in die Pfanne warf, roch es schon richtig gut. Ich bekam schon Hunger.

»Bekommt ihr denn keinen Hunger, wenn es in der Küche so lecker riecht?«

»Lecker?«, fragte sie skeptisch nach.

»Findest du nicht, dass es lecker riecht?«

»Es stinkt nach Fett und Knoblauch …«

»Oh ja, ihr Vampire mögt ja keinen Knoblauch …«, sagte ich verständnisvoll und rührte die Nudeln weiter um. Kat holte die bräunlich gewordene Zehe aus der Pfanne und warf sie weg.

»Nein, nein. Es gibt viele Vampire, die auf Knoblauch schwö­ren.«

»Im Ernst?«

Sie lachte. »Das ist nur alter Aberglaube, mehr nicht.«

»Na ja. Bis vor kurzem dachte ich auch noch, dass ‚Vampire’ grundsätzlich ein Aberglaube wären.«

Kat schnappte sich drei Eier und verquirlte sie in einer kleinen Schüssel mit Parmesan. »Und jetzt bist du selber einer.«

Ich seufzte und hörte kurz auf zu rühren.

»Ja, und wessen Schuld ist das? Seine …«, motzte ich leise rum und legte den Kochlöffel zur Seite. Kat reichte mir mit einem aufmunternden Lächeln ein Sieb. Sie würzte die Mischung mit ein wenig Salz und frisch gemahlenem Pfeffer. Dann ließ sie die Schüssel stehen, stellte die Pfanne auf eine kleinere Hitze und kam zu mir rüber. Sie stellte eine Schüssel unter mein Sieb und nahm mir den Topf an.

»Ich mach das lieber«, sagte sie freundlich. Ich nickte.

»Du bist die Frau.« Dabei klopfte ich ihr auf die Schulter und grinste. Sie nahm es mit Humor und lachte. Nachdem sie die Nudeln abgeschöpft hatte, gab sie diese zum Bacon in die Pfanne. Den Rest Wasser, den sie mit einer Schüssel abgefangen hatte, schüttete sie bis auf eine geringe Menge weg. Zu diesem Wasser gab sie die verquirlten Eier und rührte, bis es eine dickliche Soße wurde. Diese mischte sie schnell unter die Spaghetti in der Pfanne und verrührte alles schön. Zum Schluss gab sie noch den restlichen Parmesan hinzu.

»Fertig.« Stolz füllte sie eine große Schüssel mit den Spaghetti und ließ in die heiße Pfanne etwas Wasser ein. Ich roch kurz am Endprodukt.

»Das riecht wirklich gut.«

»Probier doch, ob’s auch gut schmeckt.« Sie grinste und holte eine Gabel aus der Schublade am Tresen. Ich nahm sie zögernd an.

»Und wenn ich kotzen muss?«

»Dann renn ich mit dir schnell zum Klo.«

»Okay …«

Vorsichtig pickte ich ein paar Nudeln auf die Gabel. Ich zögerte kurz, nahm die Gabel aber dann doch mit dem Essen in den Mund. Ich kaute kurz, schluckte es runter. Es schmeckte richtig gut. Vorsichtig richtete ich mich auf, sah zu Kat. Gespannt, was passierte, sah sie mich an.

»Und?«, fragte sie.

»Schmeckt richtig gut.«

»Keine Übelkeit?«

»Bis jetzt noch nicht …«

»Ah! Herzlichen Glückwunsch!«, kreischte sie rum und fiel mir an den Arm. Sofort zuckte ich wieder zusammen, versuchte mich aber zu beruhigen, dass es nur Kat war und keine ‚Gefahr’.

»Willst du dann was haben?«, fragte sie freundlich und öffnete schon ein kleines Schränkchen mit Tellern.

»Äh, also eigentlich schon, gerne. Aber ist das nicht auffällig, wenn ich hier anfange zu essen?«

Sie winkte ab, holte einen Teller raus und machte mir eine Portion auf den Teller. »Quatsch, die sind alle noch dabei, zu kochen.« Und tatsächlich war fast jede Gruppe noch dabei die Nudeln abzuschöpfen. Kat reichte mir den Teller und ich fing an zu essen. Es war so angenehm mal wieder etwas Richtiges zwischen die Kiemen zu bekommen. Nicht dieses metallisch schmeckende Blut. Okay, ich war verrückt danach, aber das war mehr genetisch bedingt und nicht, weil ich es so lecker fand. Kat räumte, während ich die leckeren Spaghetti aß, den Tresen auf.

»Äh, soll ich dir nicht lieber helfen?«, fragte ich und stellte meinen Teller kurz ab. Doch sie winkte ab.

»Iss erst mal auf, dann kannst du mir helfen.« Sie lächelte mir freundlich zu und ließ Spülwasser in die Spüle ein. Ich nickte kurz und widmete mich wieder meinem Essen zu. Wenn das Vater sehen würde, wäre er ganz schön wütend. Immerhin sollte ich doch langsam mal meine ‚menschlichen Angewohn­heiten’ ablegen. Doch wenn ich es mir Recht überlegte, brach ich gerne diese Regel und aß meine Nudeln mit Genuss.

 

»Kiyoshi? Hey, Kiyoshi, kannst du mir mal den Kochlöffel geben?«, hörte ich eine Mädchenstimme vom hinteren Tresen. Ich drehte mich um und ein hübsches Mädchen winkte mir zu. Sie hatte lange, glatte rotbraune Haare und ein süßes Lächeln. Als ich wohl nicht auf die schnelle reagierte, kam sie auf mich zu. Schnell packte ich den Teller weg und versteckte ihn hinter einer Plastiktüte.

»Seid wann hast du deine Haare so kurz?«, fragte sie leicht verwundert, aber immer noch mit einem Lächeln.

»Äh, also du musst wissen ich …«, fing ich an, doch Kat redete mir ins Wort.

»Ich hab ihm die Haare geschnitten; ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie er herumlief.« Sie lächelte das Mädchen freundlich an, die nur auf meine Haare starrte. Dann blickte sie mir fest in die Augen.

»Es steht dir. Obwohl ich die langen Haare auch mochte«, sagte sie etwas schüchtern. Wurde sie etwa rot?

»Äh, könntest du mir dann den Kochlöffel geben, unser ist irgendwie weg.«

Ich reagierte erst nicht, suchte dann aber doch schnell den Kochlöffel. Vorsichtig zog ich ihn vom Tresen und gab ihn ihr. Sie bedankte sie mit einem kleinen Knicks und lief wieder zurück. Sofort hörte man Gekicher und Getuschel von ihrem reinen Mädchentresen aus. Ich wendete meinen Blick zu Kat.

»Wieso hast du sie im Glauben gelassen, ich sei Kiyoshi?«

Sie zuckte nur kurz mit den Schultern. »Fand ich lustig.«

»Das gibt nur ärgern, das kann ich dir jetzt schon mal sagen.«

»Spätestens, wenn sie euch auf dem Gang sieht, wird sie überlegen, ob sie Drogen genommen hat oder ob Kiyoshi geklont wurde.« Dabei lachte sie etwas hämisch und legte einzelne Dinge in die Spüle.

»Machst du dich darüber lustig, sie zu verarschen?«, fragte ich sie direkt. Sofort versiegte ihr Lachen und sie sah mich ernst an.

»Sie nervt gerne. Da kann man sich doch einen Scherz mal erlauben.«

»Nervt sie alle oder nur dich?«

»Alle, glaub mir. Ständig, wenn sie Kiyoshi sieht, läuft sie ihm nach, spricht ihn an, begleitet ihn sogar manchmal bis ins Café während der Pausen.«

»Was ist dabei?«

Sie seufzte etwas genervt. Ich schien wohl ihr nicht schnell genug zu verstehen.

»Es nervt einfach, dass sie uns hinterherläuft. Und Kiyoshi hat nicht die Ambition, ihr einen Laufpass zu geben. Dem ist das doch völlig egal.«

Da musste ich ihr wohl zustimmen, dass dem die Frauenwelt mehr als egal war. Und die Männerwelt, ausgenommen vielleicht mich, ebenfalls. Jedenfalls konnte ich mir das lebhaft vorstellen.

»Trotzdem … Die Kleine ist total in ihn verschossen, viel­leicht solltest du es ihr mal überlassen.«

»Was soll ich ihr überlassen?«, hakte Kat nach und hatte das erste Teil gespült. Ich aß schnell den Rest auf, legte den Teller auch in die Spüle, während ich mir ein Spültuch nahm und das Besteck anfing abzutrocknen.

»Verarscht zu werden. Kiyoshi macht das schon gut alleine.«

»Er verarscht sie doch nicht …«, wendete sie ein und sah mich verständnislos an.

»Und als was würdest du es dann bezeichnen, was er da abzieht? Jeder andere würde ihr doch sofort sagen, dass daraus nichts wird, um ihr Herz nicht komplett zu zerstören.«

Da verstummte sie. Ihr Blick wich gen Boden. Dann seufzte sie leise.

»Hast ja Recht.«

»Na also.«

Ich packte die trockenen Sachen auf die Arbeitsplatte und stapelte die Teller.

»Vielleicht rede ich mal mit ihm«, fügte ich noch hinzu und achte da auch an unsere Beziehung. Auch, wenn sie süß war und ganz nett, so konnte das zum Problem werden. So konnte sie ganz schnell zum Problem werden.

»Ja, tu das. Vielleicht hört er ja wenigstens auf dich.«

»Ich denke schon.« Hoffentlich. Doch dann stutzte ich kurz auf. »Apropos.«

Kat horchte auf und wusste sofort was ich meinte.

»Ja … Er ist schon jetzt über eine dreiviertel Stunde im Sekretariat.«

»Hoffentlich ist wirklich alles in Ordnung«, murmelte ich. Kat ließ das Spülwasser aus und räumte mit mir die Sachen weg. Wenigstens war das mal eine angenehme Stunde. Während ich die Schüsseln wieder in den kleinen Schrank unter der Arbeits­fläche stellte, sah ich das Mädchen von vorhin in meinem Augenwinkel. Vorsichtig erhob ich mich und blickte direkt in ihre Richtung. Sie wollte zu mir sehen, bemerkte, dass ich zu ihr sah und wendete sofort wieder ihren Blick ab. Die war richtig in Kiyoshi verschossen. Dabei konnte ich mir im Moment nicht vorstellen, wie das kam. Immerhin konnte sie ihn gar nicht so genau kennen, wie ich es tat.

»Bist du fertig?«, fragte Kat und legte das Spültuch ordentlich wieder an die Spüle.

»Ja, ich denke schon«, antwortete ich und wartete auf weitere Anweisungen von Kat. Diese zuckte nur mit den Schultern.

»Gut, dann können wir länger Pause machen.«

»Im Ernst? Einfach so?«, fragte ich verwirrt, da sie schon anfing, ihre Sachen zu packen.

»Klar, wir sind doch fertig.« Dann grinste sie und reichte mir sowohl Kiyoshis als auch meine Sachen. Ich nahm sie dankend an und machte mich mit ihr aus dem Staub. Doch ich spürte schon die Blicke des Lehrers auf uns.

»Wohin denn so schnell, Kat und Kiyoshi?«, rief er uns zu. Kat drehte sich zu ihm um, hielt schon den Griff der Tür in der Hand. »Wir sind fertig.«

»Alles aufgeräumt?«, fragte er und stemmte seine Hände in die Hüfte.

»Sicher doch. Spaghetti stehen auf der Arbeitsfläche«, antwor­tete meine Partnerin und winkte freundlich. Dann zog sie mich am Ärmel aus der Tür. Schnell stürmten wir den leeren Gang entlang. Doch ich hielt sie zurück. Verwundert sah sie mich an.

»Lass uns bitte mal ins Sekretariat gehen.«

Kat versuchte zu lächeln.

»Hiro, da kommst du nicht einfach so rein.«

»Wieso das denn nicht?« Sehnsüchtig blickte ich auf die weiße Tür.

»Hinter der Tür sitzt die alte Schreckschraube. Glaub mir, zu der willst du nicht«, flüsterte sie mir zu.

»Schreckschraube?«, fragte ich verwundert und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. So was gab es also auch unter Vampiren.

»Eigentlich heißt sie Thymister. Aber für uns ist sie die Schreckschraube. Bei der kommt so mancher heulend raus.«

»Oho«, lachte ich los und ging schon in Richtung Sekretariat. Komischer Name für eine Japanerin.

»Hey, hey! Hast du mir grade nicht zugehört?«, rief sie mir zu und lief hinterher. Schnell packte sie mich am Ärmel. »Das meine ich Ernst, Hiro. Mit der ist nicht zu spaßen, wenn du keine Anmeldung hast.«

Ich überlegte kurz.

»Ich sag ihr einfach, dass mein Bruder da drin ist und ich gerne wüsste, was los ist.«

»Ha, die wird dich schreien wieder rausschicken.«

»Ausprobieren geht über studieren, oder?« Damit löste ich mich von Kat und ging lächelnd zur weißen Tür. Ich hörte sie noch seufzen und wie sie etwas von »Ich warte solange« murmelte. Mein Herz klopfte zwar etwas, aber die Schrulle konnte mir sicher nichts anhaben. Reinblütler sollten doch ihren Stand der Dinge wissen, oder?

Ich atmete noch einmal tief aus, griff nach dem Türgriff und öffnete die Tür. Ich lugte erst kurz in den Raum. Niemand war zu sehen oder zu hören. Vorsichtig betrat ich den Raum und schloss die Tür hinter mir. Es roch so wie in jedem Sekretariat, seltsam. Eine Mischung aus Raumerfrischern und alter Luft. Der Raum an sich war nicht groß, zwei Türen jeweils rechts und links. Vor mir eine typische Theke, hinter der meistens die unfreundlichen Sekretärinnen saßen. Doch niemand war zu sehen. Es waren weder die zwei Türen beschriftet, noch schien es hier eine Klingel oder so etwas zu geben. Also beschloss ich zu warten. Mein Blick schweifte über den geordneten Schreibtisch, geordneten Papierstapel, geordneten Arbeitsplatz überhaupt. Ich trommelte etwas mit meinem Fingern auf dem hellen Holz der Theke. Wenn nicht bald jemand kam, würde ich alleine herausfinden, was sich hinter den Türen befand. Doch als hätte man vom Teufel gesprochen, wurde die linke Tür aufgeschlagen und heraus kam eine kleine, schlanke Dame auf roten Pumps. Ihr ganzes Kostüm war in einem schlichten roten Ton. Ihre wasserstoffblonden Haare gingen ihr gerade über die Schultern. Außerdem musste man nicht raten, um zu erkennen, dass sie von der Art her hier genau richtig war: Sie war ein Vampir. Da half auch keine Meterschicht Schminke.

»Hiroshi Kabashi?«, fragte sie schroff, während sie hinter ihre Theke ging.

»Ja, genau …«, murmelte ich und kratzte mich etwas am Nacken. Die alte Schreckschraube hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Gut, die jüngste war sie nicht mehr, eher so das alter der freundlichen Mathelehrerin, aber einer Schreckschraube sah sie nicht so ähnlich.

»Was willst du?«, fragte sie erneut sehr unfreundlich, während sie die Unterlagen, die sie mit herein gebracht hatte, auf ihren aufgeräumten Schreibtisch legte.

»Mein Bruder müsste sich hier befinden. Ich wüsste gerne, wo er bleibt«, versuchte ich mich so höflich wie möglich auszu­drücken. Sie sah mich missbilligend an und hob eine Augen­braue.

»Er ist noch hier.« Damit sollte meine Frage beantwortet sein, da sie sich wieder ihrer Arbeit zuwendete.

»Äh, ja … Das habe ich mir gedacht. Aber ich wüsste gerne, ob er heute noch mal irgendwann wiederkommt.«

»Sicher.«

Sie beachtete mich gar nicht. Unaufhaltsam wühlte sie in einer großen Schublade mit mehreren Akten.

»Was genau ist denn los, dass er hier ist?«, fragte ich nun direkt, da mir ihre abweisende Art überhaupt nicht gefiel. Doch da drehte sie sich auf einmal um und stützte sich auf die Theke, auf der auch ich mich gestützt hatte. Sie kam mir etwas näher und setzte einen bösen Blick auf.

»Hör mal zu, Junge. Wenn es dich was angehen würde, dann wärst du auch gerufen worden. Hast du das verstanden? Dann verschwinde wieder.«

Sie sah mir noch etwas in die Augen, wartete wohl darauf, dass ich anfing zu heulen, so wie jeder andere auch. Doch ich musste nur grinsen. Da hatte ich aber schon ganz andere ‚Schreckschrauben’ am start.

»Ich will wissen, was los ist. Haben Sie das verstanden? Dann geben sie mir eine Antwort.«

Das hatte sie wohl weniger erwartet. Sie riss ihre Augen auf, öffnete ihren Mund, um loszubrüllen. Ich behielt schön mein Grinsen auf den Lippen.

»Was erlaubst du dir, du Noneternal! Du Abschaum eines Vampirs! Verschwinde sofort aus diesem Raum, oder ich rufe den Schuldirektor!«, schrie sie los und zeigte mir mit ihren rot lackierten Fingernägeln, dass ich die Tür hinter mir nehmen sollte.

»Tun Sie das bitte. Vielleicht sagt der mir ja, was los ist.« Dabei verschränkte ich meine Arme und wartete auf ihre Reaktion. Sie wurde wütend, immer mehr. Ihr Kopf färbte sich schon rot, ihre Augen schienen zu leuchten. Ob sie die Kontrolle verlieren würde? Keine Chance, Kleine, dachte ich. Ich hab jede Nacht ein Tier in meinem Haus; komm da erst mal ran.

Sie lief mit schnellen Schritten von der Theke hervor und pirschte an mir vorbei. Ich blieb erwartungsvoll an meiner Stelle stehen. Sie klopfte kurz an der rechten Tür, wartete eine Antwort ab. Man hörte eine Männerstimme. Vorsichtig wurde die Tür von innen geöffnet und eine junge Frau öffnete sie. Man sah nur ihren Kopf, Schreckschraube stand genau vor dem Spalt. Schien richtig geheim zu sein.

Sie wechselten ein paar kurze Worte, flüsterten schon fast. Ich verstand nur Satzfetzen. Dann verschwand die junge Dame hinter der Tür, redete mit der Männerstimme. Ich wartete zwar, aber es riss etwas an meinen Nerven. Plötzlich wurde neben mir die Eingangstür geöffnet. Kat spähte in den Raum.

»Hey …«, murmelte ich ihr zu.

»Was ist los? Ist was passiert?«, fragte sie etwas aufgebracht, weil ich anscheinend schon zu lange in diesem Raum war.

»Keine Ahnung, scheint sehr geheim zu sein, das ganze«, flüsterte ich ihr zu. Sie nickte und kam mit in den Raum. Vorsichtig stellte sie sich hinter mich. Die Schreckschraube hatte es wohl bemerkt, drehte sich schnell um.

»Und was willst du hier?«, motzte sie rum. Kat zuckte heftig zusammen.

»Sie ist nur hier, um zu sehen, ob ich noch lebe«, scherzte ich, wobei ich keinerlei Lächeln auf den Lippen hatte. Die Sekretärin atmete genervt aus, schien ihre Wut zu unterdrücken. Dann erschien ein großer Mann mit Schnauzer an der Tür. Er trug eine Brille und spähte an Schreckschraube vorbei.

»Hiroshi«, sagte er und winkte mich zu sich.

»Herr Direktor!«, zischte Schreckschraube ihm zu, doch diese winkte nur ab, sie solle gehen. Etwas fassungslos befolgte sie seinen Befehl und setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. Kat blieb einfach an der Tür stehen und sah mir zu, wie ich zum Direktor ging. Er reichte mir seine Hand, ich nahm sie an.

»Freut mich, dass du hier bist«, sagte er freundlich, aber bestimmt. Ich nickte kurz und versuchte an ihm vorbei in den Raum zu blicken.

»Hiroshi, das ganze hier ist etwas heikel. Was mit dir geschehen ist, tut mir auch wirklich Leid.«

»Das braucht es Ihnen nicht …«, murmelte ich und erblickte Kiyoshi. Er saß auf einem verschnörkelten Sessel. Hinter ihm stand auch jemand, es war die junge Frau. Doch wer war das, der neben Kiyoshi saß?

»Ich bitte dich doch trotzdem Verständnis dafür zu haben, dass Kiyoshi erst einmal nicht wiederkommt. Es gab ein paar Komplikationen.«

»Und die wären?«, fragte ich direkt und blickte ihm dabei tief in die Augen. Er war zwar einen halben Kopf größer als ich, trotzdem schien ich mir etwas Respekt zu verschaffen.

»Darauf werden wir später zu sprechen kommen, Hiroshi, wenn es soweit ist.« Damit wollte er das Gesprächsthema beenden. Er wartete noch auf meine Reaktion ab, doch ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

»Geht es Kiyoshi gut …?«, fragte ich noch kurz, bevor er die Tür schließen konnte. Schnell öffnete er sie wieder und nickte.

»Ja, es geht ihm gut. Er kommt später wieder.« Noch bevor er die Tür schließen konnte, erspähte ich einen langen schwarzen Mantel, Springerstiefel und die seidenen schwarzen Haare, die ihm glatt über die Schultern liefen. Dann schloss sich die Tür endgültig. Meine Augen weiteten sich. Sofort drehte ich mich zur Schreckschraube um und lief an die Theke.

»Hey, ist da drin Vincent?«, fragte ich aufgebracht. Doch sie beachtete mich nicht, arbeitete nur an ihren Unterlagen.

»Hey, ich rede mit Ihnen!«, rief ich, doch sie beachtete mich nicht.

Kat griff nach meinem Arm und zog mich aus dem Raum. Noch immer aufgebracht, stand ich mir ihr im Flur, während sie die Tür schloss.

»Was ist denn auf einmal los? Geht es Kiyoshi nicht gut?«, fragte sie mich und versuchte mir ins Gesicht zu schauen.

»Doch, es … geht ihm gut. Jedenfalls noch«, murmelte ich. »Ich muss da rein, Kat. Da drin ist jemand, der ihn möglicher­weise für seine Tat bestrafen will.«

»Bestrafen? Weil er dich gebissen hat? Meinst du etwa, da drin ist ein …?«

»Ja, ein Hunter …«

 

Es gongte und sofort öffneten sich die umliegenden Türen. Schüler pirschten aus den Klassen, gingen mit schnellen, eleganten Schritten den Gang entlang. Kat und ich blieben wie versteinert mitten drin stehen. Ihre Augen weiteten sich schlagartig, sie konnte es nicht fassen. Ich blickte nur verzwei­felt zu Boden und überlegte, was ich tun könnte. Was ich ausrichten könnte, damit er nicht bestraft oder wohlmöglich noch getötet werden würde. Der Gang wurde laut und unruhig. Wir hatten zehn Minuten Pause. Kat klammerte sich an meinen linken Arm. Ich sah zu ihr.

»Meinst du …«, murmelte sie und blickte zu Boden, »… er wird getötet?« Dann sah sie mich verzweifelt an und hoffte, ich könnte ihr eine sichere Antwort geben. Doch ich konnte nicht.

»Ich weiß es nicht …« Sofort wendete ich meinen Blick ab. Tränen schossen mir in die Augen bei dem Gedanken, er würde wegen mir getötet werden. Er würde sterben, nicht mehr da sein. Jetzt, wo er doch meine Welt war. Das wäre nicht fair. Das wäre einfach nicht fair gewesen.

»Hey, was ist denn mit euch los?«, rief Ichiru glücklich und kam auf uns zu. »Seht so traurig aus, ist was passiert?« Sofort versiegte auch sein Lächeln, als wir beide keine Antwort gaben. »Ist echt was passiert?«, fragte er ernst.

»Kiyoshi … bekommt vielleicht Ärger«, murmelte Kat und ließ meinen Arm los. »Da drin ist ein Hunter.«

»Ein Hunter?«, wiederholte Ichiru und weitete ebenfalls seine Augen. »In unserer Schule? Kommt der hier überhaupt rein?«

»Anscheinend. Hiro hat ihn gesehen, stimmt’s?«, fragte Kat und sah mich an. Ich nickte.

»Es ist Vincent«, informierte ich Ichiru, der seinen Mund öffnete.

»Vincent? Der Vincent?«, hakte er nach.

»Wie viele gibt es denn?« Verwundert sah ich ihn an, überlegte noch einmal, ob das wirklich der Name dieses Hunters war.

»Hat er lange schwarze Haare, überhaupt sehr gruselig?«

»Ja, genau.«

»Oh mein Gott …«, flüsterte Kat. Auch Ichiru hielt sich die Hand vor den Mund und biss sich kurz auf die Unterlippe. Ich wusste nicht was los war. Sofort stieg die Ungewissheit in mir hoch, Verzweiflung, Aufgebrachtheit, alles auf einmal.

»Was ist denn los? Ist das schlimm? Wieso ist Vincent so ein Thema?«, fragte ich aufgebracht und wechselte meine Blicke zwischen Kat und Ichiru.

»Vincent … ist dafür bekannt …« Kat stockte.

»Er hält sich ungern an seine eigenen Regeln«, sprach Ichiru weiter.

»Das heißt?«

»Er ist kaltblütig und mordet einfach Vampire, ob sie nun ein Verbrechen begangen haben oder nicht. Für ihn sind alle Vampire Abschaum und so etwas wie Müll, der entfernt werden muss, um eine saubere Welt zu haben.«

» … « In mir stieg das Blut, mein Puls pochte. Ich flüsterte »Nein«, wieder und wieder. Plötzlich drehte ich mich um, rannte zum Sekretariat. Ichiru hielt mich an den Schultern fest; Kat stellte sich vor mich.

»Hiro, du kannst da nicht rein!«, rief er.

»Kiyoshi macht das schon!«, sagte auch Kat und drückte mich von der Tür weg. Verzweifelt blickte ich zu Boden, wiederholte immer wieder das »Nein«. Ich konnte es nicht fassen, ich wollte ihn nicht verlieren. Nicht jetzt, nicht an einen Hunter. Langsam ließ ich locker, verlor jegliche Spannung. Kat und Ichiru ließen mich los, wechselten Blicke. Kat umarmte mich sanft, wollte mich trösten, während Ichiru eine Hand auf meiner Schulter beließ und vorsichtig darüber strich.

»Das wird bestimmt wieder …«, sagte sie aufmunternd und lächelte mir zu. Ich nickte, versuchte auch zu lächeln.

»Danke …«

Dann schwiegen wir. Der belebende Gang schien lauter als vorhin gewesen zu sein. Einige tuschelten. Andere lachten laut und gingen an uns vorbei. Von weitem sah ich Alexander. Am liebsten wäre ich jetzt auf ihn zugegangen und hätte ihm in sein arrogantes Gesicht geschlagen, aber er konnte ja nichts für meine Wut. Dann verschwand er auch wieder mit seinen zwei Bodyguards in einem Klassenzimmer.

»Was haben wir jetzt …?«, fragte ich die beiden.

»Philosophie«, antwortete Ichiru und zeigte mir mit einer Kopfbewegung, dass wir ein Stockwerk runter gehen mussten. Ich nickte und folgte den beiden einfach. Hoffentlich war wirklich alles in Ordnung.

 

In der Klasse, die auf dem Gang war, wo sich auch der Mathehörsaal befand, trafen wir noch auf Yagate. Wir setzten uns zu ihm in die Reihe und warteten die zehn Minuten Pause ab. Die Stunde zog sich recht lange, obwohl meine Gedanken nur bei ihm waren. Ob er wohlauf war? Ob es ihm gut ging? Ob es Probleme gab? Oder ob er überhaupt noch einmal zu mir zurückkehren durfte?

Ich hoffte so sehr, dass ich schon innerlich anfing zu beten. Ich betete nie. Ich wollte ihn nicht verlieren. Um alles in der Welt, nur nicht ihn.

 

In dem Moment schmerzte mein Herz derartig, ich dachte es zerspränge mir gleich. Vorsichtig legte ich meinen Kopf auf die Tischplatte und wartete ab, bis der Schmerz verschwand. Doch er ging nicht. Es war nicht der, den ich heute Morgen hatte. Es war der, den ich schon so oft spürte, wenn ich wusste, etwas würde nicht klappen, etwas würde schiefgehen. Kiyoshi würde leiden.

Hunter Strafe

Es klingelte im Dreiklang. Alle Schüler sprangen auf. Sie rannten aus der Tür. Der Lehrer ging auch. Kat, Ichiru und Yagate blieben sitzen. Ich beließ meinen Kopf auf der Tisch­platte. Ich spürte eine zarte Hand auf meinem Rücken, wie sie über ihn strich.

»Ist alles in Ordnung, Hiro?«, fragte Kat besorgt und kam etwas an mich heran. Ich nickte, so wie es mir mit dem Kopf auf der Tischplatte möglich war.

»Okay … Wir haben jetzt Latein. Wir bleiben in diesem Raum, in Ordnung?«

Wieder nickte ich, dann ließ sie von mir ab. Ich hätte sterben können, so schlecht ging es mir. Ich spekulierte schon den ganzen Tag mit dem Gedanken Vater anzurufen. Er sollte kommen, Kiyoshi helfen. Obwohl, so wie ich ihn kannte, er wahrscheinlich nicht viel machen würde. Immerhin hatte Kiyoshi das selbst zu verantworten. Aber würde er seinen Sohn einfach so einem Hunter überlassen? Weitere Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Was ich tun würde, wenn er wirklich sterben würde. Ich würde ihm folgen. Da war ich mir sicher. Ich, als Vampir, alleine in dieser Welt? Es war schon fast un­erträglich, wenn er nur, so wie jetzt, anderthalb Stunden weg war. Es täte mir Leid für Mom, für Jiro und die anderen, wenn ich einfach verschwinden würde ohne ein Wort zu sagen. Aber das müsste ich ja so oder so. Es würde eh nie wieder so sein wie früher …

 

War ich denn wirklich schon so verrückt geworden? Ich öffnete meine Augen und starrte auf die weiße Tischplatte; meine Arme um mich selbst geschlungen. Ich wollte Suizid begehen? So wie Kiyoshi es vorhatte? War das eine Art Attitüde bei Vampiren? Gequält schloss ich wieder die Augen und legte meinen Kopf auf die Seite, da mir langsam meine Stirn wehtat. War mir jetzt auch egal, ob ich lebe, sterbe oder irgendetwas dazwischen wäre. Mir wurde alles egal. Was sollte ich schon noch ändern? Nichts. Nichts ließ sich ändern. Schicksalsräder drehen sich, unaufhaltsam, ohne irgendeine Unterbrechung. Da konnte ich Dummkopf auf nicht viel machen. Ich musste es hinnehmen. Ob es mir passte oder nicht. Also was sollte ich schon tun können? Selbst die einfachsten Dinge blieben mir verwehrt.

Ist es, Gott, dass du mir diese Liebe nicht gönnst, weil sie so tabu ist? Weil du nicht willst, dass ich ihn liebe? Weil er mein Bruder ist? Weil er auch noch ein Mann ist? Ist es deswegen? Machst du mir deswegen alles schwerer? Oder macht es dir nur Spaß mich leiden zu sehen? Wie ich dahin gehe? Ist es genau das, was mich und ihn trennt? Dein Wille, der uns das Schönste der Welt verbietet?

Ich konnte nicht mehr klar denken. Alles drehte sich in mir. Jetzt redete ich schon mit Gott, in der Hoffnung, er könnte irgendetwas ausrichten. Ob es überhaupt einen Gott gab? Vielleicht war es der indirekte Einfluss der Philosophie, der mich dazu anspornte, so etwas zu denken. Obwohl sich die Philosophie mehr mit Ethik beschäftigte. Ach, was ging’s mich an.

Ich hörte lateinische Sätze, wie jemand übersetzte, wie For­men und Fälle gebildet wurden. Das alles interessierte mich nicht. Interessierte mich noch nie. Ging mich ja auch nie etwas an. Obwohl ich auch Latein hatte. Ich hörte einfach nicht zu. Achtete nur auf meine Atmung, um mich abzulenken. Doch hinter mir tuschelten zwei Mädchen so laut, dass ich nicht anders konnte, als hinhören.

»Hast du gehört?«, kam eine Stimme.

»Ja, extrem seltsam …«, antwortete die andere.

»Warum der wohl hier ist?«

»Ich hab gehört wegen Kabashi …«

»Im Ernst?«

»Ja, er hat seinen Bruder gebissen … Hier, vor uns.«

»Oh, nicht, dass er uns hört!«

»Ach, quatsch …«

»Aber im Ernst? Er hat ihn gebissen?«

»Die Verwandlung ist irgendwie schiefgegangen. Er ist jetzt ein Noneternal.«

»Wow, ich hab noch nie einen gesehen.«

»Ich auch nicht. Aber jetzt ist Vincent da, um seinen Bruder zu bestrafen.«

»Dass die den hier reingelassen haben. Muss echt ernst sein.«

»Ja, ich denke auch …«

Dann verstummten die beiden und beschäftigten sich ander­weitig mit einer Aufgabe. Sie wussten es? Es sprach sich schnell rum, wahrscheinlich hatte es jemand vorhin auf dem Gang mitbekommen.

Was war denn nur so schlimm an der Tatsache, dass er mich gebissen hatte? Es gab zwar Regeln zwischen Huntern und Vampiren, aber es war doch soweit nichts passiert …

Die Stunde klingelte zum Ende. Die Lehrerin verschwand ohne ein Wort. Wahrscheinlich dachte sie, so wie der Philosophie­lehrer und der Hauswirtschaftslehrer, ich sei Kiyoshi. Hoffentlich machte ich ihm keine schlechten Noten. Kat, Ichiru und Yagate standen auf und packten ihre Sachen. Ich erhob meinen Kopf und blickte verschlafen in den Raum. Einige Schüler standen auf, gingen, andere kamen und setzten sich.

»Was haben wir jetzt?«, fragte ich reichlich desinteressiert.

»Äh … Ich weiß nicht. Wisst ihr, was Kiyoshi jetzt hat?«, fragte Kat in die Runde. Ichiru zuckte mit den Schultern.

»Wir haben doch jetzt Leistungskurs. Ich schätze, dass er Kunst hat«, sagte Yagate und hievte sich seine Tasche um die Schulter.

»Ah, stimmt«, bemerkte Kat, »Du hast jetzt Kunst. Oder willst du lieber mit uns mitkommen?«

Ich überlegte kurz. Doch ich schüttelte den Kopf.

»Passt schon, ich gehe in den Kunstunterricht. Die Lehrerin kennt mich ja schon.«

»Okay, dann … pass auf dich auf und bis später, wir können uns ja dann im Foyer treffen, wenn wir zwanzig Minuten Pause haben. Danach haben wir zusammen Sozialwissenschaften.« Kat winkte und ging mit den anderen beiden aus dem Raum. Ich blieb noch eine Weile dort sitzen, griff dann aber doch nach den Sachen und verschwand. Mit schnellen Schritten ging ich den Gang entlang, wuselte mich durch die Massen der Schüler, wie sie mich mit ihren arroganten Blicken ansahen. Nach Montag schien ich hier wohl bekannter geworden zu sein. Aber diese hungrigen Blicke ließen nach. Wahrscheinlich verlor ich meine menschliche Aura immer mehr. Schade drum, ich wäre gern ein Mensch geblieben, wäre gerne irgendwann gestorben, wie jeder andere auch. Doch was sollte ich tun? Nichts konnte ich tun. Meine Gedanken wiederholten sich abermals.

Ich betrat den Trakt der Kunsträume. Der Geruch von frischem Terpentin kam mir wieder in die Nase. Ich haschte kurz einen Blick in einen Raum. Das war nicht Kiyoshis Kurs. Im nächsten war er auch nicht und im übernächsten auch nicht. Selbst in dem Raum, wo wir letztes Mal drin waren, war er nicht. Doch dann traf ich Frau Aoki auf dem Gang, wie sie mir mit den Leinwänden entgegen kam.

»Ah, Frau Aoki, guten Tag«, begrüßte ich sie höflich. Sie schien überrascht.

»Hallo, Hiro. Was gibt’s denn?«, fragte sie freundlich und blieb neben mir stehen.

»Wo haben wir denn jetzt Kurs? Ich finde den Raum nicht.«

»Ach, wir sind heute in der Aula. Wir haben nur eine Stunde, deswegen machen wir heute Theorie. Wo ist denn Kiyoshi?«

Ich wusste, dass diese Frage kommen würde. Nur leider hatte ich noch keine passende Antwort für sie gefunden.

»Er … ist noch im Sekretariat.«

»Also stimmen die Gerüchte doch?«, fragte sie aufgebracht und schien plötzlich steigerndes Interesse zu haben.

»Gerüchte?«, hakte ich nach. Immerhin wollte ich nicht gleich mit ‚Huntern’ um mich schmeißen.

»Ja, dass Vincent hier ist. Ist er es, weißt du das?«

»Äh, ach so. Nein, tut mir Leid, das weiß ich nicht. Ich habe Kiyoshi seit heute Morgen auch nicht mehr gesehen.« Das war zwar gelogen, aber ich wollte die gesamte Schule nicht in Aufruhr bringen.

»Verstehe …«, murmelte sie vor sich hin. Dass es sogar die Lehrer erreicht hat, war erstaunlich. Hier kannte man jeden, hier wusste man wahrscheinlich auch, wer mit wem zusammen war und wer mit wem Schluss gemacht hat. Wie ein kleines Dorf, indem die Tochter noch mit dem Nachbarsjungen verlobt wurde.

»Na gut. Dann komm mit, ich muss ja jetzt auch in die Aula.«

Ich nickte kurz und folgte ihr den Gang zurück. Warum sie die Leinwände dabeihatte, wusste ich auch nicht, immerhin sprach sie ja von Theorie, aber was ging’s mich an. Wir kamen ins Foyer, es wurde langsam leerer. Da klingelte es auch schon wieder. Einige Türen wurden schon geschlossen, andere standen noch offen. Hier begann der Unterricht ja wirklich punktgenau. Ich seufzte innerlich.

Wir gingen an der großen Treppe vorbei und steuerten auf eine mächtige Milchglastür an. Sie war mit dunklem Gold verziert, hatte Griffstangen aus Rosensträngen. Im Allgemeinen sah sie sehr barock aus. Über ihr stand in alter Schrift »Academy Red Rose«. Das war wohl diese Schule.

»Machst du mir eben die Tür auf?«, fragte sie freundlich und zeigte mir, dass sie die Hände wegen der Leinwände voll hatte. Ich nickte, und stemmte die schwere Tür auf. Frau Aoki betrat die riesige Halle. Viele Stühle standen in ihr, aneinander gereiht. Eine große Bühne mit vielen Lichtern und schweren, dunkel­roten Vorhängen bildeten das Ende der Aula. Große Fenster, die bis an die Decke gingen, schmückten den Raum, ließen ihn freundlich wirken. Seltsamerweise waren hier keine Vorhänge, sondern nur Rollläden, die ein Stück heruntergelassen wurden. Einige Schüler, diese nämlich aus dem bekannten Kurs, tummelten sich auf der Bühne, auf Stühlen oder liefen in der Aula rum.

»So setzt euch bitte«, rief Frau Aoki und ging zur Bühne und legte sie Leinwände ab. Alle anderen Schüler gingen zügig zu ihren Stühlen und setzten sich. Ich platzierte mich eine Reihe hinter den anderen und legte meine Sachen ab. Dann drehte sich ein Mädchen um.

»Hallo Hiro«, sagte sie monoton. Ich sah ihr ins Gesicht, überlegte kurz.

»Oh …«, brachte ich nur raus. Es war das Mädchen von Hauswirtschaft. Sie hatte wohl jetzt herausgefunden, dass ich Hiroshi und nicht Kiyoshi war. Sie versuchte zu lächeln und drehte sich wieder um. Sie war wohl etwas wütend …

»So, heute haben wir unsere Theoriestunde. Ich bin dafür, dass wir uns mal eure Bilder ansehen, sie beschreiben und versuchen die stilistischen Mittel zu finden, die ebenfalls in der Barockzeit zu finden waren. Damit meine ich Verzierungen, Spielereien …«

Ich blockte einfach ab. So etwas interessierte mich weniger. Kunstgelaber über alte Zeiten war nicht mein Fall. Erst als es um die Aufgabenstellung ging, lauschte ich wieder kurz.

»Ich verteile die Leinwände hier auf der Bühne. Ihr seht sie euch an und macht euch Notizen. Hiro, mach dir bitte auch welche.« Sie lächelte mich an und winkte etwas. Ich nickte freundlich und holte meinen Block raus. Zwar hatte ich dazu weniger Lust, aber es war besser, als nur dazusitzen und mir Sorgen zu machen. Obwohl ich nicht der Überzeugung war, dass Bilderbeschreiben derart ablenkend war. Der Kurs erhob sich langsam, während Frau Aoki wieder von der Bühne ging. Sie kam auf mich zu.

»Bleibst du jetzt den Rest des Schuljahres hier? Die Uniform steht dir gut«, bemerkte sie. Doch ich schüttelte den Kopf.

»Danke, aber ich bin am Freitag wieder auf der Rückreise.«

»Oh, du wohnst nicht hier?«

»Nein, ich wohne im Süden.«

»Da ist es sicher schöner als hier.« Dabei zwinkerte sie mir zu und ging. Ich nickte für mich. »Ja, da ist es schöner …«, murmelte ich vor mich hin und begab mich auf die Bühne zu den anderen. Die Bilder sahen alle überwältigend aus. An ihnen standen Zahlen, ich nahm mal an, das war zur orientieren. Ich begann also mit dem ersten. Es sah schön aus, mit viel rosa. Sicher von einem Mädchen. Ich wollte schon den Stift ansetzen.

»Schreib bloß nichts böses«, kicherte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und blickte in ihr Gesicht.

»Äh, nein. Es ist wirklich schön«, gab ich zu und war etwas überrascht, dass sie anscheinend doch nicht so wütend war. Sie stellte sich neben mich und nickte etwas. »Die sind alle schön hier«, fügte sie hinzu.

»Ja, das stimmt wohl. Aber keins ist so rosa wie deins«, spaßte ich und versuchte zu lächeln. Sie lächelte zurück und hielt ihren Block an ihre Brust. Sie war wirklich niedlich.

»Wieso hast du heute Morgen nicht gesagt, dass du nicht Kiyoshi bist?«, fragte sie nun und ging mit mir zum nächsten Bild.

»Na ja, ich wollte, aber Kat quatschte mir ja ins Wort. Tut mir Leid.«

»Hm«, sie zuckte mit den Schultern, »Schon okay.«

Ich lächelte wieder und machte mir einige Notizen auf meinem Block. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ‚schön’ oder ‚bunt’ wirklich zu einem Ergebnis führen konnte.

»Wusste nur nicht, dass Kiyoshi einen Zwillingsbruder hat«, sagte sie und machte sich ebenfalls Notizen. Sie war Linkshänderin. Sah lustig aus, wie sie ohne Unterlage auf einem Block schrieb

»Tja, lustig, oder? Könnte man schöne Streiche spielen …«, scherzte ich und blickte in ihren entsetzten Ausdruck.

»Im Ernst? Ihr würdet alle verarschen?«, fragte sie ungläubig.

»Als ob Kiyoshi das tun würde.«

»Deswegen ja.«

»Niemals.«

»Ich denke auch.«

»Ich schon eher.«

Sie blickte auf.

»Echt?«

»Klar. Ich liebe es, Scheiße zu bauen. Ich habe dafür schon Medaillen und Urkunden bekommen.«

Sie lachte laut los.

»Nicht im Ernst!«

»Doch. So Dinge wie ‚Hausverbot’ oder ‚Strafzeugnis’. Am besten war immer noch der Pokal unserer Schule, den ich mit meinem Kumpel geklaut hatte.«

Da lachte sie wieder, hielt sich ihren Block vor den Mund. Als sie sich wieder beruhigt hatte, lächelte sie mich an.

»Du bist viel lustiger als Kiyoshi.«

Ich sah in ihr glückliches Gesicht und hoffte, dass ich nicht gerade etwas Dämliches getan hatte.

»Ach, das ist keine Kunst.«

Doch sie lachte wieder.

»Findest du?«

»Er ist ein ziemlicher Stoffel. Aber eigentlich ist er der beste Bruder der Welt.«

Doch dann versiegte ihr Lächeln. »Echt?«

Wir waren mittlerweile beim vierten Bild, doch meine Notizen wurden nicht besser.

»Ja, er ist immer da, wenn man ihn braucht. Außerdem kann man mit ihm über alles reden. Er hört immer zu und gibt Ratschläge, solange er die geben kann.«

Sie nickte, blickte zu Boden und sagte nichts. Wahrscheinlich hatte ich ihre ‚Kiyoshi Vorstellung’ ganz schön zerstört.

»Ist er wirklich so nett?«, fragte sie dann und schien mir nicht ganz glauben zu wollen.

»Ja, natürlich.« Was tat ich denn da? Ich machte meinen Bruder für ein Mädchen schön, obwohl er mir gehörte. Ich war auch wieder mal unglaublich blöd.

»Hm, wenn du das sagst, dann glaube ich dir mal.« Dann lächelte sie wieder. »Ach, übrigens: Ich bin Rebecca. Du bist Hiroshi, stimmt’s?«

»Ja, aber bitte Hiro. Mein voller Name klingt so spießig.« Da kicherte sie wieder und winkte ab, ich solle nicht solche Späße machen. Obwohl ich das als weniger spaßig empfand. Langsam widmete ich mich wieder den Bildern zu. Da kam Kiyoshis Bild. Es war schon fast fertig, wie alle anderen auch. Doch seins war anders. Sehr anders. So dunkel und düster, fast wie kleine Gegenstände in einem dunklen Raum, ohne irgendein Fenster. So, wie er sich vielleicht manchmal fühlte. Einsam und verlassen in einem dunklen Raum, ohne Zuflucht. Auch wenn es nur ein Bild war. Es sagte so viel.

Ich kniete mich zu der Leinwand, strich sanft über die Bemalung.

»Das hat Kiyoshi gemalt, oder?«, fragte Rebecca hinter mir. Ich nickte. »Der hat immer so düstere Bilder«, fügte sie hinzu und seufzte etwas.

»Kann ich mir vorstellen.« Ich stand wieder auf und setzte meinen Gang mit Rebecca fort. Hin und wieder wurde sie von ihren Freundinnen gerufen, sie lachte gemeinsam mit ihnen, aber sie wich nicht von meiner Seite. Manchmal fragte sie mich, wie ich ein Bild fand, was ich dazu aufschreiben würde. Sie gab mir auch Ratschläge, wie ich mich besser bei solchen Dingen ausdrücken könnte. Eigentlich war sie sehr nett. Aber sie hatte so eine Art an sich, die sich nie mit Kiyoshi in Einklang bringen könnte. Eine Art, die nicht zu ihm passen würde. So aufgedreht und fröhlich, hell und freundlich. Das genaue Gegenteil von Kiyoshi. Gegensätze zogen sich ja manchmal an, aber in diesem Fall waren es einfach zu viele Unterschiede. Kiyoshi bräuchte jemanden, der ihn versteht und auch mit ihm leiden könnte. Ich be­fürchtete, dass Rebecca nie dazu im Stande wäre. Im Stande, auch einfach Dinge nur negativ zu sehen. Ich schätzte sie als eine große Optimistin ein, die die meisten Dinge als etwas Schönes und Gutes ansah. Eigentlich war Kunst genau das richtige Fach zum hineininterpretieren. Ein Bild kann schön und hässlich zugleich sein, es kommt immer ganz auf den Betrachter an und aus welcher Perspektive man es betrachtet.

Nachdem ich mit Rebecca alle Bilder beschrieben hatte, setzten wir uns auf die Kante der Bühne. Frau Aoki schien es weniger zu stören, dass manche mit ihrer Aufgabe schon fertig waren. Sie war viel zu vertieft in ihren Unterlagen, als dass sie bemerken würde, wie manche Schüler untätig auf ihren Stühlen saßen. Nach einigem Schweigen, brach Rebecca die Stille:

»Hat dich Kiyoshi jetzt eigentlich wirklich gebissen?«

Ich schwieg weiter. Beachtete die Frage gar nicht. Starrte einfach geradeaus.

»Hey, Hiro. Hast du mich gehört?«

»Ja, habe ich.«

»Und? Hat er?«

»Das …«, fing ich an, stockte aber. Sie lauschte auf, sah mich interessiert an. »Das, tut mir Leid, ist eher eine private Sache. Ich denke es ist besser, wenn das bei mir und Kiyoshi bleibt.« Dabei lächelte ich sie an und hoffte auf Verständnis. Sie nickte zu meiner Verwunderung und sah nach vorne.

»Ja, ich denke auch. Immerhin gibt’s ja jetzt einigen Ärger deswegen.«

»Also ich weiß nicht wieso hier alle so aufgeregt sind. Hier hat doch keiner irgendetwas mit der Sache zu tun, oder?« Mein Unterton schien etwas genervt, da Rebecca lachte und sich wieder zu mir umdrehte.

»Ich finde schon. Immerhin ist dein Bruder der einzige Reinblütler hier auf der Schule. Er ist die Respektperson, jeder achtet ihn. Wenn er nicht mehr hier wäre, würde das ganze System zusammenbrechen.«

»Im Ernst? Kiyoshi ist doch schon fast unbedeutend … So machte es jedenfalls immer den Anschein.«

»Der Schein trügt. Er ist zwar still und sagt kaum was, trotz­dem braucht er nur einen Finger zu rühren und alle stehen gerade, trotzdem er allen ein wenig suspekt ist.«

»Wow … Hier lernt man nie aus.« Da musste sie wieder lachen, wurde jedoch schnell wieder ernst.

»Also, wenn Kiyoshi weiterhin so ein schlechtes Vorbild bleibt, wird er wahrscheinlich von der Schule geschmissen und es wird ein neuer Reinblütler hergeholt.« Ich zuckte ein wenig zusammen. Es würde einfach ein Ersatz geholt werden?

»Wieso schlechtes Vorbild? Ich finde ihn ein hervorragendes Vorbild.«

»Ja, sicher. Das ist er ja auch. Aber solche Sachen schreiben die sich direkt auf die schwarze Liste.« Rebecca wurde immer leiser mit ihrer Stimme.

»’Die’?«, hakte ich nach, da ich ihr unbehagliches Verhalten im Augenwinkel bemerkte.

»Der Oberstudienrat des Clans ‚Red Rose’«, flüsterte sie, »Eine gewaltige Organisation, die die Fäden zieht; im gesamten Clan. Wenn hier jemand etwas Dummes tut, dürfte er schneller als ihm lieb ist dafür büßen müssen. Sie führen schwarze Listen und wenn sich bei einigen etwas anhäuft …«

»Das ist ja schon fast eine Diktatur, die die hier aufstellen!«, brach ich empört ihren Satz ab. Sie erschrak etwas, sah mich entsetzt an. Schnell fasste sie sich wieder und setzte wieder an.

»Na ja. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Aber trotz­dem sollte man nicht einfach blind durch die Welt laufen. Grade wir als Unsterbliche nicht.«

Wir schwiegen und sahen zu Boden.

»Ja … Unsterbliche…«, wiederholte ich dieses erschütternde Wort. Es war Realität geworden. Sonstige Horrorfilme, die ich mir im Stuss mit meinen Freunden nachts mit viel Bier und Nachos reingezogen hatte, waren nun schreckliche Wahrheit geworden. Ich lebte von nun an in einer abgeschnittenen Welt, in der es noch zuging wie bei Hitler im zweiten Weltkrieg. Wer sich nicht dem System anpasste, wurde dem System angepasst. Ansonsten wurde er ausgelöscht.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich die Tür zum Foyer aufgehen hörte. Herein kam die alte Schrulle aus dem Sekretariat. Mit grimmiger Miene stapfte sie in die Aula, vorbei an Frau Aoki, die ihr nur verwirrt hinterher sah. Sie packte nach meinem Arm und zog mich wortlos von der Tribüne.

»Hey! Was soll das?«, rief ich ihr zu, versuchte mich von ihren Kunstnägeln zu befreien.

»Komm mit. Der Direktor will dich sprechen«, motzte sie mit strengem Unterton und zog mich durch die Aula.

»Frau Thymister? Ist alles in Ordnung?«, fragte Frau Aoki schüchtern und stand sachte von ihrem Stuhl auf, als wir an ihr vorbeirauschten.

»Ja, sicher. Er ist für heute vom Unterricht suspendiert.« Damit schnappte sie sich meine Tasche und riss mich aus dem Raum.

»Wohow! Mal langsam!«, rief ich ihr zu, »Darf ich da auch ein Wörtchen mitreden?«

Abrupt blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. Ich wäre beinahe in sie gelaufen.

»Du hörst mir mal ganz genau zu«, zischte sie mir zu, »Dein Bruder sitzt vor einem Hunter, kurz davor die letzten Stunden zu verbringen. Der Direktor will mit dir sprechen, sodass Vincent sich doch noch beschwichtigen lässt. Immerhin geht es hier um einen riesigen Fehler, den dein Bruder begangen hat!«

Ich hielt die Luft an. Meine Augen starrten in ihre. Entsetzung, Trauer, Wut, Verwirrung und noch so viele andere Emotionen flossen durch meine Adern. Tränen drückten sich durch meine Augen.

»Er … wird sterben?«, flüsterte ich neben der Rolle. Das schrecklichste der Welt würde stattfinden.

»Im Moment, ja.« Sie ließ wieder ein Stück Abstand von mir, behielt aber ihre arrogante Visage. »Und jetzt komm.«

Schnell liefen wir den Gang entlang. Kein Schüler war zu sehen, einfach gähnende Leere, wie immer. Wir stürmten die Treppe hoch, während mein Herz wie verrückt klopfte. Meine Gedanken überschlugen sich, wie ich ihm am besten folgen könnte. Dass ich darüber nachdachte, wie ich mich am besten umbringen könnte, ließ noch mehr Tränen über meine Wange fließen. Als wir im Sekretariat standen, klopfte sie zaghaft an der Tür des Direktors an. Während sie abwartete, wischte ich mir die Tränen weg. Dabei stach der Geruch von ihm in meine Nase. Es waren sein Blazer und sein Hemd. Ich musste mich wirklich beherrschen nicht wieder zu weinen.

Die Tür öffnete sich und der nette Direktor spähte durch den Türschlitz.

»Hiroshi, gut, dass du da bist. Komm doch bitte rein.« Damit öffnete er die Tür noch ein Stück. Ich trat mit starkem Herzklopfen in den Raum. Er war leicht abgedunkelt, wie alle Räume in diesem Gebäude. Die Atmosphäre wirkte schon so negativ, dass mir ein weiterer Schauer über den Rücken lief. Ich blickte durch den Raum. Auf einem Sessel, der direkt am Fenster stand, saß Vincent. Er sah mich vernichtend an. Sein langer schwarzer Mantel fiel sachte von dem großen Sessel, während seine Mimik unergründlich blieb. Die langen schwar­zen Haare glänzten in der leichten Sonne, die durch das Fenster schien. Trotz dem eigentlich angenehmen Bilde, versprühte er eine recht abweisende Aura. Ob es auf menschlicher oder vampirischer Ebene war, ich spürte es eindeutig: Er war ein Mensch. An ihm war nichts Totes. Alles Lebende an ihm, stach wie ein schwarzes Schaf heraus.

Der Direktor schloss die Tür und seufzte kurz.

»Setz dich doch, Hiroshi.« Er wies auf einen weiteren Sessel, der weiter hinten im Schatten stand. Ich fasste all meinen Mut zusammen und schluckte die Angst förmlich runter.

»Nein, danke. Ich habe nicht vor lange zu bleiben. Wo ist mein Bruder?«, sagte ich bestimmt, mit einem riesigen Haufen Angst im Unterton.

»Hiroshi, bitte, jetzt …«, fing der Direktor an, doch Vincent unterbrach ihn. Eine dunkle Bassstimme fuhr wie ein halber Singsang durch meine Ohren.

»Lassen Sie gut sein, er will ihn doch nur sehen.« Dabei hob er seine Hand und grinste mich hämisch an. Vorsichtig legte er sie auf ein seidenes Tuch, welches über einem großen Gegens­tand lag. Ich stutzte. Da wird doch nicht …?

»Vincent, wir hatten vereinbart, dass er ihn vorerst nicht sieht!«, warf der Direktor ein, doch schon mitten im Satz hatte Vincent das beigefarbene Tuch abgerissen. Es flatterte durch den Raum, bis es auf den Boden fiel.

 

»Kiyoshi!«, rief ich und lief auf ihn zu. Er saß auf einem anderen Sessel, Beine und Arme gefesselt, auch der Mund war mit einem Tuch bedeckt. Seine Augen sahen entsetzt aus, als er mich sah. Er setzte sich ein wenig auf. Schnell riss ich ihm das Tuch vom Mund und umarmte ihn stürmisch.

»Kiyoshi, ich bin so froh, dass es dir gut geht!«, schrie ich ihm fast ins Ohr. Unkontrollierbare Tränen rollten über meine Wange.

»Hiro …«, flüsterte er und schien die Umarmung zu genießen.

»Wie niedlich«, erbrummte die gefährliche Stimme hinter mir. Schnell drehte ich mich um und starrte in die eisblauen Augen von Vincent. »Jetzt sag mir nicht, er hat dich aus Liebe getötet.«

»Vincent, bitte werden Sie nicht zynisch. Sie wissen doch worum es hier geht …«, kam es vom Direktor.

»Um Bruderliebe? Herrje, werden Sie doch nicht gleich so sentimental …« Bedrohlich ging er einige Schritte durch den Raum. Der Direktor schien machtlos zu sein, da er nur an der Tür stand und Vincent hilflos zusah, wie er seine Schritte durch den Raum machte. Wie eine Beute umringte er uns, blickte uns erniedrigend an. Schützend umschlang ich Kiyoshis Kopf und blickte verängstigt zu ihm rüber.

»Kiyoshi Kabashi … Wieso hast du deinen Bruder getötet?« Sein Blick durchbohrte uns, wie eine Schrotflinte ihre Ziel­scheibe.

»Ich … Ich sagte doch bereits, dass es ein Unfall war und keine böse Absicht …«, brachte Kiyoshi heiser raus.

»So ein Schwachsinn …«, murmelte Vincent ungläubig, schüttelte den Kopf und sah mich schließlich durchdringend an.

»Hiroshi Kabashi … Wieso hast das zugelassen?«

Ich stutzte. Ich konnte mich doch gar nicht wehren, war das erste was mir durch den Kopf schoss. Natürlich hätte ich ihm mit dem Schreibtischstuhl eine rüber hauen können, sicherlich hätte ich mich in Superman verwandelt und hätte ihn zusammen­schlagen können. Für sarkastische Gedanken war keine Zeit. Vincent wurde genervt:

»Hiroshi! Antworte!«, brummte er mit bestimmender Stimme. Ich zuckte leicht zusammen.

»Was hätte ich denn tun sollen …? Es war meine Schuld... Ich hab es herausgefordert! Mir blieb am Ende keine Wahl, als es zuzulassen... «, flüsterte ich in Kiyoshis Haare. Vorsichtig umschlang ich ihn fester. Mein Herz klopfte fürchterlich. Mein Atem stockte. Wenn es jetzt gleich vorbei sein würde - dann mit ihm.

»Was hätte schon der arme Hiroshi tun sollen, so schwach wie er war, als Mensch, verloren in den Armen seines Bruders, hätte ja nie erwartet, dass es sich bei seiner Familie um blutrünstige Vampire handelt …« Immer wieder lief er um uns herum, redete wie ein Wasserfall, drückte sich immer höhni­scher aus. In mir stach es. Ich bekam kaum Luft. Mir wurde leicht schwarz vor den Augen.

»N-Nein …«, murmelte ich, hielt mich an Kiyoshi fest, um nicht umzukippen.

»Hiro? Hiro, ist alles in Ordnung?«, fragte er sofort besorgt. Er sah mich an, doch seine Augen verschwammen in meiner Sicht. Alles um mich herum drehte sich.

 

Da kam er wieder. Der Schmerz.

 

Ich schrie auf, spürte noch den harten Boden unter mir. Der Direktor sagte irgendetwas, Kiyoshi schrie meinen Namen; mehrmals hintereinander. Dieses Flimmern von heute morgen wurde stärker, bis meine Sicht sich vollständig verdunkelte. Ich schnappte mehrmals nach Luft, versuchte mich in irgendeiner Weise zu beruhigen, damit mein Herz nicht so schmerzhaft gegen meine Brust hämmerte, doch nichts half. Ich ergriff meine Brust, krallte mich in sie, drehte und wendete mich auf dem Boden. Ich wälzte mich so sehr, dass ich meinen Körper mit meinem Kopf vom Boden abdrückte und nur meine Füße ihn noch berührten. Dann starrte ich in Vincents Gesicht. Wie er auf mich herab sah. Verachtend, ohne jeglichen Gefühle, starrten mich diese Eisblauen Augen an. Vernichtend.

Ich schnappte weiterhin nach Luft. Erst, als ich mich langsam an den Schmerz gewöhnt hatte, hörte ich meine Laute. Sie klangen tierisch, nicht menschlich, wie ein Dämon aus der Hölle. Meine Vampirzähne ragten aus meinen offenen Mund. Das Pochen hörte nicht auf, es dröhnte in meinen Kopf.

Auf einmal fasste mir Vincent an beide Arme, riss mich hoch und zog mich in eine Ecke des Zimmers. Kiyoshi schrie weiterhin, versuchte aufzustehen. Mehr konnte ich jedoch nicht vernehmen. Der Direktor holte die Schreckschraube, sie rannte verzweifelt hin und her. All diese Begebenheiten, diese Laute, dieser Schmerz machte mich innerlich verrückt.

»Siehst du das? Siehst du dieses Monster, Hiroshi Kabashi?«, schrie Vincent und drückte mich vor einen riesigen Spiegel. Ich wollte nicht hineinsehen. Mit alle Kraft drückte ich meinen Kopf nach oben, schrie mehrmals »Nein!« und verkrampfte mich immer mehr. Doch Vincents Kraft siegte über meine. Mit seiner rechten Hand drückte er meinen Kopf nach vorne und richtete ihn zum Spiegel.

 

Ich wusste nicht was schlimmer in dem Moment war. Der Schmerz in meiner Brust oder der widerliche Anblick im Spiegel.

Das Monster in mir, erwacht und geprägt. Die weiße Haut, mit grün-blauen Adern verziert, blau-lila Lippen mit weißen, spitzen Zähnen aus ihnen ragend, rot unterlaufende Augen, jegliches Augenweiß hatte den Kontrast der schwärze ange­nommen. Ich war ein Monster. Ein Dämon. Ein Untoter. Immer wieder gab ich diese Laute von mir, Hilfe suchend bewegten sich meine Augen durch den Raum.

»Willst du so enden? Willst du wirklich ein Monster werden, Hiroshi?«, schrie Vincent erneut, drückte mein Gesicht endgültig zu Boden. Ohne groß zu überlegen, antwortete ich:

»Nein! Nein! Niemals!«

Tränen flossen über meine Wange. Ich versuchte mich zu wehren, versuchte mich zu beruhigen. Ich wollte kein Monster werden. Aber ich wollte auch nicht sterben. Ich wollte doch nur ein Leben mit Kiyoshi führen. Mit meiner Mutter und meinem Vater. Mit meinen Freunden, mit Mamoru und mit allen anderen auf dieser gottverdammten Scheiß-Welt! Wieso ich? Wieso muss ich so leiden? Wieso musste es ausgerechnet mir passieren?

»Dann soll es so sein«, brüllte Vincent, zog einen langen Stab aus seinem Mantel und hielt ihn über meinen Rücken. »Dann bete dein letztes Gebet, Vampir.«

»Vincent, hören Sie sofort auf!«, rief der Direktor und ver­suchte ihn davon abzuhalten.

»Bleiben Sie wo Sie sind, Müllhaufen! Ich erledige nur meinen Job im Namen der Menschheit.« Ich hörte wie Vincent seinen Griff um den Holzstab festigte.

Ich hatte gesagt, ich wolle lieber sterben. Ich hatte gesagt, dass ich nie ein Vampir werden will. Ich hatte sie alle verdammt, sah keinen Ausweg aus meiner Situation. Ich sehe ihn auch immer noch nicht …

 

»Kiyoshi!«, schrie ich mit aller Kraft, die ich noch hatte. Obwohl ich kaum etwas sah, kaum Luft bekam, kaum noch irgendetwas spürte, außer den stechenden und heißen Schmerz in meiner Brust, wollte ich leben. Oder was es halt dazwischen gab, zwischen Leben und Tod. Für ihn.

Ich sah meinen Geliebten im Augenwinkel auf mich zukom­men, der Direktor hatte ihn befreit. Doch alles ging so schnell.

Vincent rief »Stirb!«, ließ mich los, packte den Stab mit beiden Händen an, holte noch Schwung. Ich versuchte mich schnell wegzubewegen, doch mein Herz ließ es nicht zu. Ich streckte Kiyoshi meine Hand entgegen, doch er nahm sie nicht. Er umfasst mich, drückte mich hoch. Der Stab kam auf dem Boden auf, ich hörte es noch.

Vorbei, dachte ich. Ich lebe, Kiyoshi hatte mich gerettet. Er umarmte mich von hinten, hielt mich auf den Beinen. Wir torkelten zu einer Wand.

 

»Nein! Ihr sollt sterben, Drecksvampire!«

 

Es spritzte. Ich wurde gegen die Wand gedrückt. Ich sah nach unten, sah die rote Flüssigkeit aus meinem Bauch kommen. Aus dem Loch, aus dem Stab, aus den Händen von Kiyoshi. Ich realisierte nichts. Erst, als sein leises Stöhnen in meine Ohren drang und wir zu Boden fielen, wurde alles schlagartig schwarz und ich wusste: Es war vorbei.

Letzte Chance

Es ist vorbei. Endgültig. Das war mein Leben. Es war im Grunde nicht lang. Aber es war erfüllt. Mit Freude, Glück und Liebe. Manchmal auch mit Hass, Trauer und Enttäuschung. Doch wenn ich in meine Vergangenheit blicke, sehe ich nur ihn. Nur meinen geliebten Bruder. Wie er nackt auf mir liegt, im Wald, auf der Lichtung. Wir beide ganz allein, zusammen glücklich; neben uns hätte die Welt untergehen können. Der Moment hätte nicht schöner sein können, das Leben hätte nicht erfüllter sein können.

Doch jeder Moment endet.

Und jedes Leben stirbt.

 

 

 

 

Ich lag in meinem Bett, erschöpft und bis zum Kinn zuge­deckt, obwohl es ziemlich warm war. Der Verband kratzte ein wenig. Ich starrte auf meine weißen Hände, die sachte auf meinem Bauch lagen. Mein Blick schwenkte zu Mamoru. Er packte meine Sachen in den Koffer. Stück für Stück, geordnet und sauber.

»Mamoru, du brauchst das nicht machen …«, murmelte ich ihm zu und versuchte langsam die Decke von mir zu strampeln.

»Nein, Herr Hiroshi, Sie sind immer noch verletzt. Überlassen Sie das mir. Schlimm genug, dass Sie morgen fliegen wollen.«

Ja, es war schon Donnerstag. Eigentlich wollten Kiyoshi und ich heute schwänzen. Nun konnten wir jetzt so oder so nicht in die Schule. Ich seufzte kurz, legte mich sachte wieder unter die Bettdecke und drehte mich auf die Seite. Es schmerzte noch etwas, aber erträglich. Ich schloss die Augen und versuchte noch etwas zu schlafen.

 

Als Kiyoshi mich vor Vincent gerettet hatte, dachte ich für einen kurzen Moment, ich sei mit ihm in Sicherheit, doch ein Hunter wäre keiner, wenn er nicht alles versuchen würde, seine Beute zu erledigen. Er warf seine Stange, Speer, Pfahl oder was auch immer es war auf uns zu. Wir wurden quasi durchbohrt, durch Kiyoshi, durch mich, in die Wand. Der Direktor hatte der Sekretärin anscheinend befohlen, meinen Vater anzurufen. Denn als er kam, sah er Vincent und seine Tat und verlor die Kontrolle. Ich habe nicht ganz verstanden, was genau passiert ist, aber Vincent ergriff wohl die Flucht und ist seitdem verschwunden. Vater und der Direktor riefen sofort Ärzte, die natürlich nur für Vampire zuständig waren. Aus irgendeinem Grund schienen keine wichtigen Organe beschädigt worden zu sein, sodass wir außer Lebensgefahr waren. Glück im Unglück. Kiyoshi schien es jedoch schlimmer getroffen zu haben, da er noch im Krankenhaus liegt. Aber es geht ihm gut, ich durfte schon mit ihm telefonieren. Trotzdem liegt ein großer Stein auf meinem Herzen. Getrennt von ihm zu Hause zu sein, im Gewissen, dass er noch nicht gesund ist. Der Stein füllte sich auch mit anderen Dingen an. Ich hatte mich immer noch nicht verwandelt. Vincent hatte die Verwandlung mit seinem Angriff unterbrochen. Jetzt warte ich immer noch auf mein Ende. Ich durchdachte meine Entscheidung auf dem Weg vom Kranken­haus nach Hause noch einmal ganz genau. Ich kam zu dem Entschluss ein Vampir werden zu wollen. Tod hin oder her, mein Leben zählt. Es ist immer noch ein Unterschied richtig tot zu sein oder ein totes Leben zu führen. Das habe ich durch diesen Vorfall erkannt. Nichts sollte mich von Kiyoshi trennen.

Mein Flug ging morgen wie geplant. Mein Vater rief meine Mutter an, erzählte ihr irgendeine Lüge, um sie nicht zu beunruhigen, wieso ich nicht auf ihre unzäh­ligen Anrufe geantwortet hatte. Ich wollte noch nicht mit ihr sprechen. Auf irgendeine Weise hatte ich verdammt viel Angst, sie zu hören oder zu sehen. Sie würde erkennen, dass ich nicht mehr derselbe bin. Sie würde sehen, dass ich tot bin. Dass ich aussehe wie Vater und Kiyoshi. Zudem hatte ich Angst meine Freunde wiederzusehen. Sie würden es doch auch erkennen. Vor all dem hatte ich fürchterliche Angst. Trotz allem hatte ich das Bedürfnis nach Hause zu gehen, in die kleine Wohnung, in mein knarrendes Bett, in meine alte, abgewrackte Schule. Alles hinter mich lassen, was hier geschehen war und ein neues ‚Leben’ beginnen. Trotzdem wurmte es mich, was jetzt aus Vater und Kiyoshi werden würde. Vincent ist zwar verschwunden, kommt aber sicher wieder. Er war ein Feind der Vampire und suchte meinen Bruder. Mich sucht er sicher auch, aber bis er mich im Süden gefunden hat, wird es sicher noch dauern. Aber Vater und Kiyoshi wohnen noch hier. Er wird sicher wieder kommen, den Tod meines Bruders verlangen.

Ich würde ihn morgen verlassen. Für eine ganze Weile werde ich ihn nicht mehr sehen. Die Angst, wir könnten uns aus den Augen verlieren, stieg in mir von Minute zu Minute. Innerlich, im Traum, sehe ich mich immer auf einer alten Bank im Wald sitzen, alleine, hoffend auf Erlösung, auf jemanden, der mir Beistand leistet. Kiyoshi setzt sich oft zu mir, geht aber auch immer wieder. Ich verliere ihn aus den Augen, wieder und wieder. Gestern dachte ich für immer. Als die Ärzte versuchten ihn mit Blut wieder zu beleben, hatte ich erst Befürchtungen es würde nicht funktionieren. Auch mir hatten sie Blut gegeben, doch ich würgte es wieder aus. Ich bin noch immer ein Mensch … mit vampirischen Zügen. Nur Kiyoshis Blut schien bisher drinnen zu bleiben.

Die ganze Schule blickte uns hinterher, dem Krankenwagen. Dieser Augenblick brannte sich in mein Gedächtnis, ich werde ihn nie vergessen. Meinen nahen Tod. Die Stunden und Tage sind immer noch gezählt.

 

Der Tag neigte sich dem Ende, die letzten Sonnenstrahlen schienen noch in mein Zimmer, hin und wieder klapperten die Rollläden durch den Wind. Mamoru ging, als er mit Packen fertig war. Es roch so nach Abschied. Eine Woche Grauen, eine Woche Angst, Trauer und Wut. Eine Woche lang Schmerzen, so viele Veränderungen durchlebt. Ich habe die Wahl: Leben oder Tod.

Die Tür knarrte ein wenig, als sie zaghaft geöffnet wurde. Langsam blinzelte ich über die Decke hinweg und erblickte ihn. Der Geruch von Krankenhaus zog durch den Raum. Ich lächelte vorsichtig, setzte mich auf. Er kam auf mich zu, setzte sich auf das Bett und sah mich an. Ein trauriges Lächeln fuhr über seine Lippen. Wir beide wussten was jetzt kommen würde. Die letzten Stunden sollten ihm gehören. Sachte legte ich meine Hände auf sein Gesicht und küsste seine Lippen. Ich spürte seine Finger in meinem Nacken, wie sie mich streichelten. Kalt und leblos, wie immer. Es wurde mir egal, ob wir jetzt erwischt werden würden. Der Kuss intensivierte sich, doch hörte abrupt auf.

»Wie geht es dir, Hiro?«, fragte er, meine Hände in seinen haltend.

»Besser. Die Wunde heilt schneller als erwartet.«

Er nickte.

»Und dir? Wie geht’s dir?« Besorgt musterte ich ihn.

»Alles bestens. Ich muss noch ein paar Medikamente nehmen, aber nicht lange. Die Wunde ist so gut wie verheilt, morgen vor dem Flug bekomme ich noch die Fäden gezogen.«

»Hoffentlich dauert es nicht so lange, immerhin will ich mich morgen noch von dir verabschieden, bevor ich fliege.«

Schweigen. Wir beide starrten auf den Boden. Unsere Hände, fest miteinander verbunden, lagen auf der Bettdecke. Es war so traurig, wie lange nicht mehr. Ich hatte geahnt, dass dieser Tag kommen würde. Und er war grausamer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Nach all dem, was jetzt passiert war. Wie oft dachte ich, ich würde sterben. Wie oft war doch nichts passiert. Wie oft kam ich grade so noch mit dem Leben davon. Das alles war ja kein Vergleich. Dieses drückende Gefühl, eine geliebte Person für eine ganz schön lange, unbekannte Zeit zu verlassen, tat mehr weh, als irgendein physischer Schmerz.

Wir beide wussten, dass ich morgen gehen würde. Eine Verlängerung dieses Urlaubes wäre tödlich gewesen. Eigentlich war es vorgesehen, dass, wenn ich mich nicht bis zu meiner Abreise verwandeln sollte, ich länger hiergeblieben wäre, doch aufgrund der Gefahr von Vincent getötet zu werden, war das nicht mehr möglich. Das war klar.

Ich hörte ihn auf einmal schluchzen. Wie er seine Lippen aufeinander presste, um nicht zu weinen. Ich sah ihn an, dieses zarte Gesicht, welches mir seinen inneren Schmerz zeigte, war auf der einen Seite so faszinierend wie immer, aber doch ergreifend zugleich. Sachte legte ich meine Stirn auf seine. Da tropfte die erste Träne auf meine Hand.

»Hör auf zu weinen, sonst muss ich auch …«, flüsterte ich ihm zu. Er lachte kurz auf, formte seine Lippen kurz zu einem Lächeln. Er drückte seine Augen zu, um die Tränen zu stoppen, doch sie flossen unerbittlich weiter.

»Du heulst doch auch …«, murmelte er und sah mich mit einem traurigen Lächeln an. Ich versuchte zurückzulächeln, küsste ihn vorsichtig auf seine Lippen.

Wir hatten nichts. Nur die Erinnerung an den jeweils anderen. Funkstille. Nicht mal der telefonische Kontakt würde uns gelassen sein. Vincent könnte es zu mir zurückverfolgen...

Leidenschaftlich ließen wir uns auf das Bett fallen, verfielen dem Kuss immer weiter. Ich spürte, dass wir beide versuchten die Zeit in irgendeiner Form anhalten zu können. Es ging nicht.

Ich hätte ihn gerne noch ein letztes Mal gehabt. Ich spürte in seinem Kuss, dass er den gleichen Gedanken fasste. Jedoch waren wir verwundet, Vater und Mamoru waren da und umsorgten uns zu jeder Stunde. Es war also so gut wie unmöglich. Also ließen wir es.

 

Nach wenigen Minuten der Hingabe, lösten wir uns vonein­ander. Ich starrte in seine leeren, gequälten Augen. Er in meine. Unsere Hände zusammen in der Mitte von uns. Wir lagen uns gegenüber auf der Seite und sagten nichts. Um uns diese verdammte Stille. Hin und wieder küssten wir uns flüchtig auf den Mund, ließen wieder voneinander ab und starrten uns weiter an. Die Gedanken standen uns im Gesicht geschrieben. Ich wusste woran er dachte und er wusste es von mir. Die Geschehnisse, die unkontrolliert passiert sind, lagen in der Vergangenheit, nicht veränderbar. Der Verdauungsprozess der Gefühle fing langsam an, ich realisierte endlich in was für einer Situation ich mich befand. In welcher er sich befand. Gefangen in einem Käfig, aus dem es kein Entkommen gab.

Wir sind Vampire, Brüder, Zwillinge und zuletzt Männer. Verbotener konnte es eigentlich schon gar nicht mehr werden. Aber Gefühle wären keine Gefühle, wenn sie kontrollierbar wären. Dieses Tabuthema ließ mich einerseits nicht los, doch konnte ich es gut verdrängen. Jedenfalls für diesen einen Moment.

Wir hörten Vater kurz etwas lauter reden, wie eine Tür zufiel und die Stille wieder eintrat. Trotzdem nichts zu hören war, lauschten wir weiter. Er schien mit irgendwem zu reden. Ohne den Augenkontakt zu lösen, sahen wir uns neugierig an. Mit wem er wohl sprach? Vielleicht Mamoru?

»Hörst du ihn auch?«, fragte Kiyoshi plötzlich flüsternd. Jedoch sah ich ihm an, dass es mehr eine rhetorische Frage war, als eine erst gemeinte.

»Ja … mit wem er wohl spricht?«, flüsterte ich zurück. Seine kratzige, dunkle Stimme zu hören war so angenehm. Es erinnerte mich an früher. An unsere erste Begegnung, wo Vater und Kiyoshi mich ziemlich geängstigt haben. An den Ausflug in die Stadt, in der ich nur einmal war, obwohl ich gerne noch einmal hingegangen wäre. An die verhängnisvolle Nacht mit ihm, die mein Schicksal bestimmte. An die Shoppingtour in Chloes Laden, die ich auch gerne noch einmal wiedergesehen hätte. An meinen ersten Schultag, der so aufregend wie auch erschreckend blutig war. An die Erkundungstour durch diese Villa, die mir so einige Informationen über meine Familie brachte und meine geheimen Klavierspielkünste weckte. An diese Nacht danach. An das Gespräch mit Vater und Mutter. Das Gespräch mit ihm. Das Liebesgeständnis, der Sex im Wald, Mamorus Mitwissen, Vaters scheinbare Unwissenheit, der verhängnisvolle Schultag, Vincent, das baldige Ende, meine knappe Verwandlung und so vieles mehr. So viele Dinge verknüpfte ich mit ihm. Gute wie auch Schlechte. Mein Leben: eine 180 Grad Wendung im Schnelldurchlauf. Alles spielte sich in meinem Kopf wie ein Tape ab. Wie ein schlechter Horror­film, ein beschissener Vampirfilm. So eine Vampirsaga, auf die diese Kids immer stehen. Alle wollen Unsterblichkeit, den ganzen Tag sich von Blut ernähren, dunkle und obskure Dinger reißen, nachts auf Friedhöfen spuken und Satan anbeten. Oder so ähnliche Dinge. Früher reizte mich so ein Leben auch. Ein Leben voller Spaß und Fete, nie einen Gedanken an das Notwendigste verschwenden. Schule, Eltern, System, Pflichten, Bestimmungen, Ziele. All das wäre nicht mehr. Verlockend für kleine Erwachsene.

Die Realität sieht anders aus. Erschreckender. Man ist ein Monster, gefangen in seinem eigenen Käfig. Es wäre Mord den Käfig zu verlassen. Wie ein elender Köter an einer Leine gefesselt, muss man vom nötigsten Leben, versteckt unter der dicken Wolkenschicht oder dem leuchtenden Mond. Synthetikblut aus Kapseln, Spritzen, Tabletten oder Plastikflaschen trinken, bevor man stirbt. Blässe, die alle Adern und Venen preisgibt, die alle anatomischen Feinheiten deines Körpers für alle sichtbar macht. Das unkontrollierbare Monster in dir, welches jederzeit zu erwachen droht. Das ist ein Vampir. Das ist die Verdammnis.

 

Kiyoshi schien meinen Gedanken nicht folgen zu können. Ich driftete ab, vergaß, wo ich war.

»Hiro …?«, fragte er vorsichtig und leise dazu. Wie aus der Trance zuckte ich leicht zusammen und sah in seine besorgten Augen, immer noch leicht mit Tränen gefüllt.

»Tut mir Leid … Ich …«, versuchte ich zu erklären.

»Schon okay. Es ist viel mit dir passiert, das muss wirklich hart für dich sein …« Dabei streichelte er mein Gesicht und gab mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich lächelte zurück, während ich eine angenehme Wärme an meinem Herzen spürte. Vorsichtig rutschte ich nähe an ihn, küsste ihn auf seine kalten Lippen.

»Ich liebe dich, Kiyoshi …« Ich sah ihm tief in die Augen. Er schloss seine.

»Ich dich auch, Hiro … mehr als alles andere«, flüsterte er und küsste mich.

Mein Herz machte leichte Sprünge. Wäre nicht dieser Stein, der auf ihm läge, so würde es sich um einiges mehr freuen.

 

Nach einigem Schweigen, dachte ich wieder an das Studio. Es war so wunderschön, wenn die Sonne herein schien. Wahrschein­lich war es nur noch ein fades Licht, trotzdem verspürte ich den Drang noch einmal in dieses Zimmer zu gehen.

»Kiyoshi? Kommst du mit?«

Als ich aufstand und seine Hand hielt, ihn fragend ansah, verstand er wohl erst nicht ganz, was ich meinte. Er nickte zögerlich, stand ebenfalls auf und folgte mir durch den dusteren Gang. Wir hörten wieder Vater, wie er streng mit jemandem sprach. Wer es auch war, es interessierte mich nicht.

»Ins Studio? Wieso willst du da rein?«, fragte Kiyoshi leise, folgte mir aber trotzdem weiter.

»Es hat eine schöne Atmosphäre …«, murmelte ich und betrat mit ihm das leicht erhellte Zimmer. Vorsichtig schloss ich die Tür und ging zum Klavier. Ich öffnete den schwarzen Deckel und setzte mich auf den Samthocker.

»Kannst du spielen?«, fragte Kiyoshi und umarmte mich um meinen Hals.

»Ein bisschen … Also nicht wirklich, ich habe es mir Diens­tag selber beigebracht.«

Er lachte kurz und setzte sich neben mich.

»Dann spiel mal was«, forderte er mich auf. Ich atmete tief ein, streckte meine Hände von mir und dehnte sie  gespielt professionell. Kurz verharrte ich in dieser Position, spähte zu Kiyoshi; wir beide lachten los. Zaghaft und zögerlich, aber von Herzen, als ob nie etwas Schlimmes passiert wäre. Dieser Raum hatte diesen Art von Zauber, alles zu vergessen und nur im Moment des Seins zu leben.

Ich legte meine Finger auf die Tasten und spielte ein kleines Stück. Manchmal verspielte ich mich, suchte eine Taste, verharrte auf einer für viel zu lange Zeit. Als ich nicht mehr spielen konnte, hörte ich auf und lehnte mich zurück. Ich grinste Kiyoshi an, er mich, nickte anerkennend, dann starrten wir beide aus dem Fenster.

 

Plötzlich fing er an zu spielen. Eine summende Melodie durchfuhr den Raum. Ich sah ihm zu, wie seine dünnen Finger über die Tasten huschten, eine warme Melodie produzierten. Der Flügel harmonierte mit der Atmosphäre im Raum, tunkte alles in eine weiche Stimmung. Ein so wunderbares Stück, das er spielte. Ich genoss es bis zur letzten Note. Als er aufhörte, legte er seine Hände auf seinen Schoß.

»Wie lange spielst du schon?«, fragte ich vorsichtig.

»Lange … vielleicht schon zehn Jahre oder länger, ich weiß es nicht mehr …«, nuschelte er mir entgegen. Ich nickte.

»Dieser Raum hier … er hat wirklich etwas zauberhaftes«, sagte er, sich umschauend. »Ich war lange nicht mehr hier.«

»Diese Bilder, sind die von Vater?« Ich deutete auf den Stapel der alten Bilder, von denen auch das eine mit meiner Mutter war.

»Ja, die sind schon ziemlich alt. Vater will sie nicht weg­schmeißen, er hängt sehr an ihnen.«

»Mutter ist zu sehen …«

»Ja, ich weiß …«

»Kann sie eigentlich Harfe spielen?«

»Weiß ich nicht … Du meinst, weil sie auf dem einen Bild mit der Harfe zu sehen ist?«

»Ja, genau.«

Er schwieg. Dann zuckte er die Schultern und wendete seinen Blick wieder gen Flügel. Wusste er wohl auch nicht.

»Wer spielt hier eigentlich Geige?«

Er grinste mich an.

»Ich.«

Meine Augen wurden groß, leuchteten schon fast. Er lächelte mich warm an, stand auf, gab mir einen flüchtigen Kuss und ging zur Kommode, worauf die Violine lag. Er nahm sie in Position und setzte zum Spielen an.

Es klang fast noch schöner, als das Klavier. So zart und ruhig. Aber traurig. Sehr traurig. Es holte uns in die Wirklichkeit zurück. Kiyoshi spielte noch etwas, hörte aber dann abrupt auf. Er ließ die Violine sinken und starrte zu Boden.

»Vater ist sehr traurig darüber, was passiert ist. Er wünschte, du könntest noch ein bisschen bleiben«, murmelte er schließlich. Ich erhob mich und ging langsam auf ihn zu.

»Ich wünschte, ich könnte auch noch etwas bleiben …«

Er sah verwundert auf.

»Ich dachte, du kannst diesen Ort hier nicht leiden?«

»Durch dich schon«, sagte ich lächelnd und strich über seine zarte Wange. Er legte die Violine wieder weg und umarmte mich. Sachte legte ich meine Hände auf seinen Rücken, während seine Finger über meine Schultern strichen.

»Ich werde dich vermissen«, murmelte er.

»Ich dich auch.«

Irgendwann gingen wir dann zurück. Ich verabschiedete mich innerlich von all den Dingen, die in dieser Villa waren. Ich hatte ge­hofft, er würde diese eine Nacht noch bei mir verbringen, aber er wollte anscheinend nicht Vaters Zorn noch kurz vor meiner Abreise unter Beweis stellen. Er verschwand nach einem Gutenachtkuss in sein Zimmer, ich ging noch schnell ins Bad. Ein Toilettengang war nötig, Zähne putzen und schnell frisch machen.

Ich betrachtete mich zum vorletzten Mal in diesem Spiegel. Erinnerte mich an das letzte Spiegelbild, welches mir Vincent gezeigt hatte. Hämisch grinste ich hinein.

»Hübsches Monster bist du geworden, du kannst stolz auf dich sein.«

Damit verließ ich das Bad auch wieder. Langsam trottete ich in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir. Natürlich schloss ich nicht ab, jetzt wusste ich ja, was auf mich zukommen könnte und ich hatte nicht so eine Angst vor Vaters Zorn wie Kiyoshi mich deinem Willen zu widersetzen. War eh die letzte Nacht. War eh das letzte Mal... Ich kuschelte mich in meine Decke und knipste das Licht aus. Es war dunkel geworden. Ich konnte nicht schlafen. Mein Herz war schwer und trübe. Zudem kam noch die Aufregung vor dem morgigen Flug. Die Begegnung mit meiner Mom. Die Begegnung mit meinem alten Leben. Ob das überhaupt funktionieren würde? Ich wusste es nicht, dachte lange darüber nach, bis ich doch einschlief. Die Erschöpfung siegte wohl über mich und meinen Körper. Ich träumte von nichts. Jedenfalls nichts Wichtiges, obwohl ich es mir wünschte. Ganz tief, weit unten in meinem Bewusstsein saß ich wieder auf der Bank im Wald. Dachte nach. Betrachtete die Wolken, wie sie an mir vorbeizogen. Ich hielt Kiyoshi feste an meiner Hand. Hin und wieder lächelten wir uns an, dann betrachtete ich wieder den Himmel. Aus Angst erwischt zu werden, küssten wir uns nicht, aber die Hände waren fest umschlossen, sodass uns niemand trennen konnte. Das war der einzige Beweis, dass er bei mir bleiben würde. Vielleicht sogar für immer. Das konnte ich nun sagen. Für immer.

 

Der Morgen begann mit meinem schrillen Wecker. Ich häm­merte auf ihn ein, knurrte innerlich, weil ich keine Lust hatte nach Hause zu fliegen. Die Begeisterung hielt sich schwer in Grenzen. Die ganze Woche auf diesen Tag hingefiebert und jetzt?

Langsam erhob ich mich und merkte schon: Sowohl mein körperlicher als auch geistiger Enthusiasmus für einen Aufbruch war sehr bescheiden. Trotzdem stand ich auf, ging direkt in Richtung Tür und öffnete sie. Beinahe stolperte ich über meinen Koffer, was mich an meinen ersten Aufbruchsmorgen erinnerte. Da bin ich auch gestolpert und zwar heftig. Mit einem leichten Grinsen stempelte ich das ab.

Wie in Trance begab ich mich auf den Gang, trabte ins Bad. Ich hörte unten Geklapper und Geräusche jeglicher Art. Als ich an Kiyoshis Tür vorbeiging, dachte ich erst kurz darüber nach, mal vorbeizuschauen, doch dann erinnerte ich mich an seine Ankündigung, die Fäden von der Wunde gezogen zu bekommen. Etwas enttäuscht schloss ich die Badezimmertür hinter mir. So schnell verging die Nacht; so schnell verging doch die Woche. Rückblickend vergeht immer alles schneller.

Eine kurze Dusche ließ mich richtig aufwachen. Bevor ich mich anzog, betrachtete ich noch meine Wunde im Spiegel. Bei mir musste zum Glück nicht genäht werden, trotzdem war eine dicke Kruste in der Mitte meiner Brust zu sehen. Sie war etwas aufgeweicht, sah nicht sehr appetitlich aus. Schnell verband ich sie wieder mit einem neuen Verband. Nach den vielen Eskapaden, wusste ich ja jetzt wo das Verbandszeug lag. Jetzt wo ich überhaupt wusste, wo was war, musste ich abreisen. Ich hatte sogar den Föhn gefunden.

Vorsichtig zog ich mich an, warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ich wollte mir keine Gedanken mehr darüber machen, was aus mir geworden war. Ich akzeptierte es einfach. Immerhin hatte ich auch keine andere Wahl, als damit klar zu kommen. Ich zupfte noch einige Haarsträhnen zurecht, kämmte schließlich doch noch einmal drüber und spekulierte über einen baldigen Frisörbesuch. Ich stützte mich auf dem Waschbecken ab.

Hier haben Vampire alles was sie brauchen, wie es wohl bei mir im Süden aussieht? Ob es dort auch Vampire gibt? Solche Gedanken flogen mir wieder durch den Kopf. Ich grinste noch einmal in den Spiegel. Dafür, dass mir sonst alles egal war und ich eigentlich nie nachgedacht hatte, grübelte ich jetzt oft genug hin und her.

Noch einmal richtete ich mein schwarzes Hemd, die ‚neue’ Hose und machte mich innerlich bereit in mein neues, altes Leben zu gehen. Mein Herz klopfte, doch ich freute mich, es noch zu hören. Es wird mir ziemlich fehlen, wenn es erst einmal so weit ist, dachte ich bei mir und ging schließlich aus dem Bad.

 

Die Haustür öffnete sich und herein kamen Kiyoshi und Vater. Ich lächelte den beiden schon zu, da klapperte Mamoru auf dem Gang. Langsam sah ich nach rechts, beobachtete, wie Mamoru mit einem riesigen Koffer aus Kiyoshis Zimmer kam.

»Was zum …?«, murmelte ich, das Spektakel weiter betrachtend.

»Hiro! Hiro!«, rief Kiyoshi und kam die Treppe mit einem so glücklichen Lächeln wie selten hoch gerannt. Er sprang mir in die Arme, hielt irgendetwas in der Hand.

»Wohow! Was ist denn los?«, rief ich ebenfalls, während wir uns einmal um uns selbst drehten.

»Ich fliege mir dir!«

Er hielt mir zwei Tickets vor die Nase und lächelte weiter. Es waren Flugtickets. Ich schwieg. Drehte mich zu Mamoru, der mittlerweile den Koffer auf den Gang befördert hatte. Sah wieder zu Kiyoshi.

»Du kommst mit?«, rief ich nun auch endlich freudestrahlend aus. Er nickte heftig. Sofort fielen wir uns wieder um den Hals, freuten uns wie zwei kleine Mädchen und sprangen und drehten uns im Kreis, hin und her.

»Das ist ja toll! Das ist richtig toll!«, sagte ich noch einmal und konnte mein Glück nicht fassen.

»Ja, das ist es«, wiederholte Kiyoshi. Wir lächelten uns beide an, sahen uns tief in die Augen. Meine Hände lagen noch auf seinen Armen; vorsichtig zog ich ihn an mich heran, setzte zum Kuss an. Wir beide schlossen die Augen.

»Lassen Sie mich mal bitte durch!«, rief Mamoru und drückte sich zwischen uns, sodass wir unsanft nach hinten gedrückt wurden. Erst wollte ich schon zu einem Satz ansetzen, doch dann sah ich Vater unten stehen, wie er uns beobachtete. Seine Miene war unergründlich, sanft ließ er seine Augen nach unten rollen. Damit folgte er Mamoru ins Wohnzimmer.

Fassungslos, dass er nichts gesagt oder getan hatte, sah ich ihm hinterher.

»Hiro?«

Dünne Finger zogen an meinem Hemd. Denen folgend sah ich wieder in das strahlende Gesicht. Wir setzten zum zweiten Mal zu einem Kuss an. Ich vergewisserte mich, dass Vater nicht hinsah und küsste ihn glücklich auf seine weichen Lippen. Die Arme um den jeweils anderen umschlungen, hielt Kiyoshi die zwei Flugtickets in der Hand.

Ich war so glücklich. Zwar hatte ich keine Ahnung, wieso ich ihn mitnehmen durfte, aber es war mir so egal. Nachdem wir beide uns schon auf ein Nimmerwiedersehen eingestellt hatten, konnte er nun mit mir kommen. Ich durfte ihn mitnehmen, er würde bei mir wohnen. Unsere Wohnung war so klein, dass er sicher bei mir schlafen müsste. Das gefiel mir. Das gefiel mir sogar sehr …

Händchenhaltend gingen wir gemeinsam kurz in sein Zimmer. Es war ziemlich leer geräumt, nur einzelne Gegenstände lagen noch verstreut auf dem Boden.

»Sag mal … wie lange bleibst du dann eigentlich?«, fragte ich, um die Stille zu unterbrechen. Der Moment war einfach viel zu schön, um jetzt zu schweigen.

»Keine Ahnung. Ich denke mal eine Woche, oder zwei.«

»Du weißt nicht wie lange zu bleibst?« So was weiß man doch!

»Ist mir ziemlich egal, weißt du«, summte er mir entgegen, gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund und tanzte auf die andere Seite des Zimmers. Er war also auch glücklich, wohl mehr als das.

»Sag mal, hast du deine Okkulten Kerzen und Räucherstäbchen etwa alle mitgenommen?« Ich deutete mit einem Finger auf das leere Regalbrett, auf dem vorher alles stand.

»Nicht alles … aber das meiste.« Er zuckte mit den Schultern und schien wohl darauf zu bestehen, dass diese Dinge mitkamen. Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

»Mom wird das bestimmt nicht erlauben …«

»Bin sowieso mal gespannt, wie sie reagiert, mich zu sehen.« Er packte einige Stifte noch in ein Mäppchen.

Ich stutzte.

»Weiß sie etwa nicht, dass du kommst?«

»Doch, doch. Vater hat sie gestern überredet. Wegen Vincent und die ganze Geschichte.«

»Wohow! Moment!«, rief ich aufgebracht. Er drehte sich zu mir um, während er mit seiner Aktivität innehielt.

»Sie weiß bescheid?«, quietschte ich schon fast vor lauter Aufregung.

»Dass Vincent hinter mir her ist? Ja, das weiß sie.«

»Nein, nein! Das andere!«

»Dass du ein Noneternal bist?«

»Ja, genau!«

»Nein, das weiß sie nicht«, sagte er gelassen und packte weiter die Stifte ein. Ich atmete feste aus und versuchte mich zu beruhigen.

»Echt, und ich dachte schon …«, murmelte ich und strich meine Haare nach hinten.

»Na ja …«, summte Kiyoshi, »Ein Vampir ist ja in ihrem Wissen da. Bin ja mal gespannt, wie viel Knoblauchzehen und Kreuze sie aufgehängt hat.« Dabei grinste er hämisch und schien sich schon richtig auf diese Situation zu freuen.

»Bestimmt eine Menge Kram … Obwohl ich ihr auch zutrauen würde, dass sie dich erst mal in ein Zimmer sperrt und guckt wie lange du darin brauchst, um zu verrecken, damit sie weiß, wie oft sie dir am Tag Essen durch den Türspalt schieben muss.«

Er hielt inne, sah mich geschockt an und hielt den Atem an. Ich zog eine ernste Miene, nickte langsam, um ihm den Ernst der Situation deutlich zu machen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg jedoch weiterhin.

Da lachte ich los. »So ein Quatsch! Als ob sie das machen würde!«

»Du kennst sie besser als ich, wer weiß«, murmelte er und schien trotzdem etwas angespannt zu sein. Nach dem Witz, herrschte wieder glückliche Stille. Plötzlich knurrte mein Magen. Kiyoshi sah mich grinsend an.

»Hunger?«

»Pizza wäre jetzt nicht schlecht …«, spekulierte ich über das Frühstück.

»Pizza zum Frühstück?«, wunderte er sich und packte weiter Sachen in eine Tasche.

»Ich hab auch schon kalte Pizza mit Pommes und Würstchen vom Vorabend zum Frühstück gegessen. Ich glaube, eingelegte Hackbällchen waren auch dabei, schmeckte ein bisschen so.«

»Bah!« Er zog einen angewiderten Gesichtsausdruck und stellte sich die Pampe wohl grade vor.

»War gar nicht so schlecht. Nicht so schlimm, wie abgestandenes, lauwarmes Bier.«

»Hör auf, sonst kotz ich!«, rief er und wedelte mit der Hand vor meiner Nase rum. Ich lachte kurz, hielt sein Handgelenk fest und küsste seinen Handrücken. »Tut mir Leid.«

Er formte seine geraden Lippen zu einem Lächeln und ging an mir vorbei.

»Hiro? Kiyoshi? Seid ihr fertig? Wir müssen los!«, rief Vater von unten.

»Oh!«, brachte ich noch raus, stürmte aus dem Zimmer und rannte noch schnell in meins. Zu meiner Verwunderung hatte Mamoru meinen Koffer wohl schon nach unten getragen, obwohl er wahrscheinlich wieder sehr schwer war. Nur noch meine kleine, schwarze Tasche stand an meinem Schreibtisch. Schnell packte ich meinen Wecker und mein Handy in sie und wollte schon aus meinem Zimmer stürmen, da hielt ich jedoch noch einmal an der Tür an. Langsam drehte ich mich um.

 

Leichte Sonnenstrahlen fuhren durch die Rollläden und tunkten das Zimmer in ein angenehmes Licht. Das Bett war noch nicht gemacht, alles andere stand an seinem Platz. Ich verließ mich einfach darauf, dass Mamoru alles eingepackt hatte. Und selbst wenn nicht, so konnte Vater es, wenn es wichtig war, noch schicken. Jetzt war es nicht mehr allzu schmerzhaft, diesen Ort hier zu verlassen. Natürlich war es schade, in einem so großen Haus wohnen zu können; für eine kleine Zeit hier sein Leben zu verbringen wäre sicherlich nicht schlecht. Aber nun konnte ich meinen größten Schatz, den ich hier gewonnen hatte mitnehmen, wie ein Plüschtier. Bei dem Gedanken Plüschtier musste ich grinsen und verließ endgültig das Zimmer. Leise schloss ich die Tür und ließ den goldenen Schlüssel stecken. Ein letzter Blick auf die geschlossene Tür und ein letzter Blick auf den sonst so gruseligen Gang. Kiyoshi stand schon an seiner Tür, auf mich wartend mit mir nach unten zu gehen.

»Seid ihr fertig?«, rief Vater erneut. Kiyoshi antwortete mit einem »Ja« und stürmte mit mir die Treppe runter. Wie zwei Mädchen stolperten wir schon fast zu Vater, zogen uns die Schuhe an. Er nickte und ging aus der Haustür. Stattlich gekleidet wie immer. Dagegen fühlte ich mich wie bei der Anreise richtig plump, obwohl ich mich schon feiner gekleidet hatte. Kiyoshi war in seinen bekannten schwarzen Klamotten, ungekämmtes Haar, weiße Haut und blau-violette Augen. Mamoru stand in einem schwarzen Anzug und Brille am teuren Mercedes und hielt uns die Türen offen. Wir stiegen ein und ehe ich mich versah, fuhren wir los. Ich kurbelte das Fenster runter und sah der riesigen Villa noch ein letztes Mal hinterher. Ich hatte im Gefühl, dass das nicht mein letzter Besuch war. Ich würde wiederkommen. Ganz sicher. Ob lebend oder nicht. Es war mein zu Hause.

 

Die Fahrt dauerte wieder recht lange. Jeder schwieg. Eigentlich hätte ich mich noch fröhlich mit Kiyoshi weiter unterhalten können, doch ich traute mich nicht. Er sah mich manchmal glücklich an, blickte dann wieder aus dem Fenster. Er scheint sich richtig zu freuen; er kann ja so süß sein, dachte ich bei mir, selber lynchend, dass ich das Wort ‚süß’ benutzte. Der Flughafen kündigte sich schon Kilometer weit vorher an. Die Schilder auf der Autobahn, die Flugzeuge am Himmel. Alles erstrahlte in einer ganz anderen Weise als vorher. Trotzdem alle Insassen am ganzen Körper bedeckt sein mussten. Auch ich.

Wir fuhren in das Parkhaus. Mamoru wollte schon beide Koffer nehmen, doch Kiyoshi und ich nahmen sie lieber selbst. Vater begleitete uns schweigend. Die anfängliche Nettigkeit war also nicht mehr ganz so präsent. Es fiel mir schon gar nicht mehr so auf, aber die Leute, die an uns vorbeigingen, gafften ganz schön. Sie musterten uns von oben bis unten, folgten mit ihren Augen, bis wir nicht mehr für sie sichtbar waren. Es war ein Gefühl der Wichtigkeit, ein Gefühl, das mein Ego steigen ließ. Es war, als wären wir Filmstars gewesen, die auf dem roten Teppich entlang gingen.

Wir waren knapp dran, unser Flug sollte in zehn Minuten zum einchecken bereit sein.

»Habt ihr eine Ahnung, an welches Gate wir müssen?«, fragte ich ganz naiv, immerhin kannte ich den Flughafen nicht und so etwas wie eine Anzeigetafel hatte ich noch nicht gesehen.

»Da hinten, wahrscheinlich …«, murmelte Kiyoshi und zeigte auf mehrere Schalter, an denen unsere Fluggesellschaft stand.

Als wir dann endlich die Koffer losgeworden sind, hieß es Abschied nehmen. Wir standen schon am Schalter, wo es zum durchleuchten ging. Nur wenige Schritte und Kiyoshi und ich wären von hier weg.

»Herr Hiroshi, passen Sie gut auf sich auf. Beehren Sie uns recht bald wieder.« Mamoru verbeugte sich mit einer Hand am Bauch vor mir. Ich grinste verlegen.

»Ja, ich denke doch, dass wir uns wiedersehen werden …«

Kiyoshi drückte sich halb an mir vorbei und umarmte Mamoru feste.

»Mach’s gut, Mamoru!«, sagte er und drückte ihn noch einmal. Mamoru selbst sah etwas verwirrt aus, erwiderte aber die plötzliche Umarmung.

»Passen Sie auch gut auf sich auf, Herr Kiyoshi. Kommen Sie uns heil wieder.«

Kiyoshi nickte abwägend und ließ von ihm ab. Während die beiden beschäftigt waren, wand ich mich zu Vater.

»Dann … sag ich fürs erste mal ‚tschüss’?«, fragte ich schüchtern, da er nichts sagte, sondern mich nur schweigend ansah. Er nickte.

»Achte auf deine Gesundheit, Hiro.«

Ich nickte.

»Und trink genug.«

Ich nickte erneut.

»Mach deiner Mutter nicht allzu viel Kummer.«

Damit spielte er wohl auf die Vampir-Sache an.

»Und halte dich mit Kiyoshi zurück.«

Ich schluckte. Zögerlich nickte ich. Zurückhalten? Daran glaubte er doch wohl selbst nicht!

Er öffnete vorsichtig seine Arme und legte sie um meinen Körper. Zögerlich umarmte ich ihn auch, er klopfte mir ein paar Mal auf den Rücken und ließ wieder von mir ab.

»Wir telefonieren, wenn du angekommen bist.«

Ich lächelte.

»Hiro? Kommst du?«, hörte ich Kiyoshis Stimme. Er stand schon vor dem Schalter, um durch die Lichtkontrolle zu gehen. Verwundert ging ich zu ihm.

»Willst du dich nicht von Vater verabschieden?«, flüsterte ich ihm zu. Er schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht?«

»Nein.«

Ich drehte mich noch einmal um. Vaters Miene war unergründlich, er stand einfach da und sah uns nach. Dann winkte er. Im Augenwinkel sah ich Kiyoshi winken. Sofort drehte er sich um und zeigte sein Ticket. Ich wollte ihm schon folgen, doch er blieb abrupt stehen und drehte sich um.

 

»Hiro! Kiyoshi!«, rief eine Frauenstimme unsere Namen. Man hörte nur Geklapper, Taschen und Anhänger klimpern. Drei Personen kamen auf uns zu gerannt, mit ganzen Armen am winken. Kiyoshi kam noch einmal zurück, lächelte glücklich und wurde schon von Kat umgerannt.

»Ihr fliegt einfach so, ohne uns Tschüss zu sagen?«, fragte Ichiru auffordernd und fiel auch mir um den Hals. Yagate kam als letzter bei uns an, lächelte verlegen und legte seine beiden Arme um uns.

»Da wollen uns die Zwillinge einfach so verlassen!«, gab er seinen Senf schließlich auch noch dazu.

»Woher wusstet ihr, dass wir heute …?«, fragte ich leicht verwirrt. Kat kicherte und deutete auf Kiyoshi. »Er hat mir eine SMS geschrieben.«

»Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr …«, murmelte mein Bruder.

»Es war nicht so leicht aus dem Gebäude zu fliehen … Es fällt sicher auch gleich auf, dass wir nicht da sind.« Ichiru kratzte sich am Kopf.

»Aber«, rief Kat fröhlich, »jetzt können wir uns wenigstens von euch verabschieden!«

Wir legten die Arme um den jeweils anderen, bildeten einen Kreis und steckten unsere Köpfe in die Mitte.

»Also ihr beiden wisst ja: Keine Menschen anfallen und aussaugen. Und wenn: dann geheim halten!«, lachte Yagate.

»Und ihr müsst uns mindestens einmal einen Brief schreiben, wie ihr so zurecht kommt und ob da noch mehr von uns sind!« Zwinkernd deutete Ichiru auf Kiyoshi.

»Und natürlich zuletzt: Passt auf euch auf und macht’s nicht zu offensichtlich!« Alle drei lachten, während Kat Kiyoshi ein Küsschen auf die Wange gab. Ich verstand erst nicht ganz, bekam von Kat auch noch ein Küsschen auf die Wange. Wir drückten uns alle noch einmal, dann mussten Kiyoshi und ich uns wirklich beeilen. Als wir durch die zum Glück nicht allzu volle Lichtschranke waren, winkten wir noch einmal allen zu. Vater und Mamoru, Yagate, Ichiru und Kat. Was eine Woche alles mit sich gebracht hat. Es war ein schönes Gefühl, das ich daließ.

»Was meinte Kat eigentlich mit ‚macht’s nicht zu offensichtlich’?«, fragte ich, während wir eincheckten und den langen Finger zum Flugzeug entlang gingen.

»Ich weiß nicht …«, murmelte Angesprochener.

»Kiyoshi …«, mahnte ich ihn. Er verdrehte nur die Augen. »Woher weiß sie das bitte?«

»Weiß nicht …« Er grinste und stieg ins Flugzeug ein. Ich schüttelte nur den Kopf und folgte ihm. So ein Plappermaul. Dabei sprach er sonst so wenig. Als wir endlich unsere Plätze eingenommen hatten, machten wir es uns gemütlich. Die Leute um uns starrten uns fürchterlich dumm an. Natürlich war es auffällig: Zwillinge, seltsam blass aussehende Kinder in einem Flugzeug in den Süden.

Kiyoshi saß am Fenster und sah schon gespannt aus.

»Bist du überhaupt schon mal geflogen?«, fragte ich zögerlich, immerhin war er ja mehr ein Stubenhocker.

»Ja, aber nur mit Privatmaschinen. Noch nie in einer Touristenmaschine.«

Ich verdrehte die Augen. Kleiner verwöhnter Bengel …

 

Es dauerte nicht lange, da rollte das Flugzeug auf die Startbahn. Die Sonne prallte ganz schön durch das Fenster, aber anscheinend war es aus so dickem Glas, dass die Sonnenstrahlen nicht wehtaten. Kiyoshi ergriff während des Starts meine Hand und drückte sie fest. Er lächelte mich glücklich an, versank dann aber doch wieder in die Welt außerhalb des Flugzeuges. Ich startete in ein neues Leben. Mit ihm. Mit meinem geliebten Bruder. Gott, ich bin ein Sünder, dass ich meinen eigenen Zwillingsbruder liebe. Satan, wenn du mich in der Hölle haben willst, kannst du lange warten, denn ich habe eine Ewigkeit vor mir. Ob sie grausam, schön, lustig, traurig oder ganz anders als erwartet wird, überlasse ich dem Schicksal. Ich schloss meine Augen.

 

Ich liebte mein Leben und alles was damit verbunden war. Doch wo verdammt noch mal blieb meine Rettung?

 

Ich hielt sie fest umschlungen in meiner Hand.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ah- Wein - eh? Get it?

Kleiner Witz am Rande, wir wissen alle, was das ist... ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Endlich kam mal der zweite Mann dazu!
Das Shonen-Ai wird aber noch auf sich warten lassen... ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Noch nicht mal in der Stadt angekommen und schon gibt's nur Ärger... ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jaaa~ endlich ist mal was Romantisches passiert! ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja ja... es wird ein bisschen abgehoben. Ich erinnere hier noch einmal, in welchem Alter ich das ganze geschrieben habe ;-)) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... bald ist es soweit, hehehe (〃 ̄ω ̄〃) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Sodala, es geht in die heiße Runde, wortwörtlich (ง ◕ั⌑◕ั)ว ⁾
Ich befürchte jedoch, dass dann das nächste Kapitel Adult sein wird... Also ich beschreibe eigentlich nicht viel, deswegen "Versuche" ich es morgen erst mal ohne... Weil, wirklich, jeder 50 shades of grey Band hat mehr Beschreibung des Koitus. (#゚ロ゚#)
Mal abwarten, nur dass ihr in etwa Bescheid wisst! Das Kapitel hier jedenfalls hat ja nichts schmutziges (*ꈍ꒳ꈍ*) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
⁄(⁄ ⁄ˊૢ⁄ ⌑ ⁄ˋૢ⁄ ⁄)⁄

Ende!

Ja, wirklich! Der Roman ist zu Ende, ihr habt es geschafft! (⺣◡⺣)♡*
Ich freue mich wirklich sehr, dass die Geschichte so einen guten Anklang fand! Und natürlich habe ich jeden Kommentar gelesen und geschätzt! Absoluter Wahnsinn, wie viel Feedback ich erhalten habe!!

Ich danke euch vielmals und bin so froh, dass ich die Geschichte mit euch teilen konnte!

... Falls ihr noch Fragen habt: Schreibt sie in die Kommentare, ich versuche sie zu beantworten! Es war mal vor langer Zeit ein zweiter Teil in Planung, die ersten 40 Seiten habe ich auch geschrieben, aber... Seitdem eben nicht mehr. Zurzeit arbeite ich an einer "Visualisierung" des Romans: Sprich einen Manga. Ich kann zurzeit nicht viel daran arbeiten (Klausuren und Co), aber das ändert sich hoffentlich bald! Dann könnt ihr da die Geschichte "erneut" verfolgen. (Ich ändere sie natürlich ein Stückchen ab!).

Wie gesagt: Fragen in die Kommentare! An einen zweiten Teil werde ich mich wohl vorerst nicht setzen, aber wenn dies geschehen sollte - Ich werde es auf jeden Fall publik machen ˚✧₊⁎˓˓⁽̨̡ ˚͈́꒳​˚͈̀*⁾̧̢˒˒⁎⁺˳✧༚

Ein herzliches Dankeschön für's Lesen! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (107)
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Von:  Lamello
2022-09-18T13:38:55+00:00 18.09.2022 15:38
Hey, also ich bin ja schon ein großer Fan von 'Acapulco', die Story ist so toll und spannend geschrieben. Hab sie schon zwei mal verschlungen. Jetzt hatte ich endlich Zeit weiter in deinen Storys zu stöbern und hab mit den Vampirbrüdern weiter gemacht. Ja, was soll ich sagen, auch ich hatte schlaflose Nächte. Ich konnte es nicht weglegen! Du schreibst echt mega, so spannend, mitreißend, gefühlvoll und immer auch noch mit Humor! Also, von mir wieder ein Loblieb! Ich habe deine Story mit Genuss gelesen, bin schon fast traurig, dass es vorbei ist, aber bin froh, dass es den zweiten Teil gibt ☺♥ Herzlichen Dank für deine tolle Geschichte!

VG
Lamello
Von:  Schwabbelpuk
2019-04-25T01:10:10+00:00 25.04.2019 03:10
Ich hatte mir den Roman auf der LBM'19 geholt, nachdem ich ihn mir vorher schon ewig ins Auge gefasst hatte. Nachdem er jetzt ein wenig rumlag, hab ich ihn angefangen zu lesen und innerhalb weniger Tage verschlungen. Ich konnte ihn kaum aus den Händen legen, habe teilweise die Nächte durchgemacht (wie passend für eine Vampirgeschichte) und kann nun sagen, dass ich den ersten Band durchhabe. Der Zweite liegt schon bereit und wird die nächsten Tage dann auch verschlungen, worauf ich mich schon sehr freue. ^^

Kurzum, der Schreibstil ist brillant, die Geschichte toll und alles war so spannend geschrieben, dass ich mich keine Sekunde gelangweilt habe. Jede Szene hatte ihren Reiz und der Spannungsbogen ist am Ende fast explodiert. Die Szenen, wenn die Beiden sich näher kamen, waren unglaublich liebevoll geschrieben, dass ich jedes Mal einen ganzen Film vor Augen hatte. Die Charaktere der Beiden, wow, sie sind mir so ans Herz gewachsen, besonders Kiyoshi.

Ich könnte dir jetzt einen eigenen Roman schreiben, um dir zu sagen, wie sehr mir das Ganze gefallen hat, aber ich denke, das tue ich dir jetzt nicht an. Ich bin tief beeindruckt, wie man so ein Werk in so einem jungen Alter schreiben kann und möchte dir einfach an der Stelle kurz danken. Ich hatte sehr viele schöne Stunden mit deinem Roman und freue mich jetzt einfach nur noch auf Band 2.

Lg.
Antwort von:  ellenchain
25.04.2019 11:11
Vielen herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar zu meinem Roman! Ich freue mich wirklich sehr, dass er dir gefallen hat! :-) :-)
Und vielen Dank auch für deine Unterstützung! Ganz viel Spaß auch bei Band 2!
Von:  Romanonyo
2017-04-23T18:32:52+00:00 23.04.2017 20:32
Einfach nur klasse Geschichte.❤️❤️
Ich hab damals mit deiner ff angefangen, sie leider nicht zuende gelesen und aus den Augen verloren. Dieses Jahr habe ich deinen stand auf der LBM gesehen, es war wohl Schicksal das ich mich schlagartig wieder an deine Story erinnert habe. Natürlich wurde auch gleich der erste Band gekauft. Ich bereue es das zweite Buch nicht auch gleich mit gekauft zu haben. 😩 wie gesagt super Hammer geile Story xD
Von:  vorsicht_bissig
2015-12-17T22:40:00+00:00 17.12.2015 23:40
Ich liebe es!! XD Hab die FF in einem Rutsch durchgelesen weil sie so gut war! Und werde sofort mit dem zweiten Teil anfangen. Du hast nen richtigen tollen Schreibstil! Grandios! Es macht seeehr viel Spaß es zu lesen. Die Charaktere sind echt gut dargestellt und ich hab total mitgefiebert. XD
Von:  Taiet-Fiona-Dai
2015-10-13T14:57:59+00:00 13.10.2015 16:57
^^ geschaft. Ich habe jetzt endlich dein FF durch. Er ist echt klasse. Das Lesen hat mir echt Spaß gemacht, konnte manchmal gar nicht aufhören zu lesen so das ich viel zu lange wach war. Ich finde die Idee mit den Zwillinge echt toll auch das der ein ein Mensch war und der andre nicht. Ich hatte auch nicht das Gefühl das es abgehoben war. So wie du es erklärt hast war es sehr verständlich. Ichfreue mich jetzt auf die Fortsetzung.

Lg. Taiet
Von:  Sunai
2015-10-11T12:54:22+00:00 11.10.2015 14:54
Wow. Ich muss sagen das ich echt beeindruckt von deiner Arbeit bin *^* Ich freu mich schon mega die Fortsetzung zu lesen. Ich habe nicht unter jedes Kapitel was geschrieben aber ich hoffe das das auch genügt xD Ich war einfach so gespannt wie es weiter ging und hatte mich dazu entschieden ganz am Ende ein Kommentar da zu lassen.

LG und cookies von sunai :3
Von:  Veri
2015-09-30T10:50:05+00:00 30.09.2015 12:50
Anbei lese ich jetzt alles noch mal von Anfang, damit ich mein Cosplay auch richtig umsetzen kann :3
Ich will dich ja nicht enttäuschen :3
Antwort von:  ellenchain
30.09.2015 14:00
(〃´ノω`〃) ... das ist soo lieb von dir! Ich glaube, du könntest mich gar nicht enttäuschen!
Von:  Cari
2015-09-25T01:24:48+00:00 25.09.2015 03:24
Roller Roman, freu mich schon darauf, den zweiten Teul zu lesen.
An der Abstimmung hab ich auch schon Teil genommen ^.~
Den Manga verfolge ich auch und dein Zeichenstil ist echt toll!
Von:  hayamei
2015-08-25T18:49:00+00:00 25.08.2015 20:49
Der Roman war so toll, so gruselig, so romantisch und so liebenswert *ich kann echt nimme, die Gefühle fahren echt auf Hochtouren XD*.
Ich hab mich jetzt echt drei Tage immer nach der Arbeit bis 1 Uhr Nachts vor den PC gehockt und mir ein Kapitel nach dem anderen reingezogen. Und es hat einfach so ein tollen Endeeeee ;) *will noch mehr von den Beiden leseeeen * XD

Das wäre echt ein Buch, das ich nur zu gerne in meiner Sammlung hätte ^^ *hachhh*

Ich Danke echt für diesen Augenschmaus ^^
Von:  hayamei
2015-08-25T17:33:35+00:00 25.08.2015 19:33
Boahhh alter, ich krieg so Gänsehaut, wie toll das alles erzählt wird


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