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The Sound of Rain

von

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Ankunft in der Villa

Das Wetter hätte wirklich nicht schlimmer sein können. Es regnete in Strömen und der Donner grollte laut. Wenn es nach Sunny gegangen wäre, dann wäre er lieber zuhause geblieben und hätte auf ein besseres Wetter gewartet. Aber andererseits wollte er auch so schnell wie möglich die Hausbesichtigung hinter sich bringen und dann endlich seinen Umzug in die Wege leiten. Immerhin war die Testamentseröffnung erst gestern Morgen gewesen, nachdem sein Onkel Malcolm Wilson einen weiteren Tag zuvor einem Herzinfarkt erlag und tot auf der Straße zusammengebrochen war. Sonderlich überrascht hatte es eigentlich niemanden, denn er hatte bereits zwei Herzinfarkte gehabt und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der nächste ihn endgültig umbringen würde. Und nicht wenige hatten diesem Moment entgegengefiebert, in welchem der 55-jährige ein für alle Male seinen Lebensatem aushauchen würde. Nicht wenige in der Familie hatten sogar gemunkelt, dass es alleine an seinem Charakter lag, dass es mit seinem Herzen so schlecht stand. Denn Malcolm Wilson war der schlimmste Mensch, den Sunny in seinem Leben je gekannt hatte. Zwar sagte man über die Toten nichts Schlechtes, aber es ließ sich leider ziemlich wenig Gutes über den Verblichenen sagen. Er war zu Lebzeiten ein verbitterter und hasserfüllter Mensch gewesen, argwöhnisch und bösartig. Für niemanden hatte er ein gutes Wort übrig gehabt und noch weniger für die eigene Familie, sodass Sunny nicht selten als Kind der Gedanke gekommen war, dass sein Onkel die Realversion von Charles Dickens’ Ebenezer Scrooge war. Nur mit dem Unterschied, dass ihm keine rettenden drei Geister erschienen waren, sondern stattdessen drei Herzinfarkte ereilt hatten, die ihm letztendlich das Leben gekostet hatten. Blanke Ironie mochte man sagen. Die ganze Familie hatte ihn gehasst und kein gutes Haar an ihm gelassen und Freunde hatte er auch keine gehabt. Etwas anderes hätte Sunny auch wirklich verwundert, denn er hatte seinen Onkel nicht ausstehen können. Aber sein Hass reichte nicht weit genug, um ihm jedes Mal feindselig zu begegnen und ihm seinen schlechten Charakter vorzuhalten. Bei jeder Begegnung war er stets höflich geblieben und hatte sich um einen vernünftigen Umgang bemüht. Er hatte seinen Onkel ja auch mal anders kennen gelernt. Damals, als er noch ein Kind war, vielleicht so acht Jahre, da hatte er oft in der Villa gespielt. Und da war sein Onkel noch einigermaßen umgänglich gewesen. Diese Menschenfeindlichkeit war wie eine schleichende Krankheit gewesen, die ihn über die Jahre hinweg immer weiter befallen und ihn schließlich ganz zerfressen hatte. Über die Ursachen ließ sich nur spekulieren. Vielleicht, weil Malcolm Wilson aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit niemals eigene Kinder gehabt hatte und er dachte, dass ihn stattdessen das Geld glücklich machen würde. Tja, das war letzten Endes nicht der Fall gewesen und das Resultat war nun, dass Malcolm Wilson einsam verstorben war und es niemanden gab, der seinen Tod großartig betrauern würde. Nicht einmal Sunny selbst. Er hatte nie wirklich ein enges Verhältnis zu seinem Onkel gehabt und hatte sich deshalb auch gewundert, warum er von ihm als Alleinerbe eingesetzt wurde. Aber andererseits… wenn man es aus der Sicht betrachtete, dass Malcolm seiner Familie eins auswischen und die einzelnen Angehörigen gegeneinander ausspielen wollte wie schon so oft, dann passte es zu ihm und Sunny vermutete darin den Grund für das überraschende Testament. Und da Malcolm auch als raffgieriger Geizhals bekannt war, fehlte ihm auch die Güte und Selbstlosigkeit, um es an Hilfsbedürftige zu spenden.
 

Tja und nun durfte Sunny das alles ausbaden, denn nicht wenige seiner Verwandten hatten gestern alles andere als begeistert reagiert. Denn obwohl alle Malcolm auf den Tod nicht ausstehen konnten, sein Geld wollten sie dennoch haben und als Sunny vom Notar als Alleinerbe bestimmt wurde, hatte es nicht wenig Argwohn vom Rest der Verwandtschaft gegeben. Immerhin handelte es sich um ein ziemlich großes Vermögen von gut und gerne zwei Millionen. Vieles davon stammte aus Firmenanteilen und Wertpapieren, aus penibler Sparsamkeit und enormem Arbeitseifer und gutem Spürsinn an der Börse. Denn Malcolm Wilson war zu Lebzeiten ein gefürchteter Börsenhai gewesen. Gnadenlos, mit Nerven aus Stahl, rücksichtslos und mit einem perfekten Spürsinn fürs gute Geschäft. Sunny hatte es bei der Summe wirklich die Sprache verschlagen, vor allem weil nicht einmal die Lebensversicherung mitgerechnet war. Es hatte ihn schon fast beschämt, das Erbe anzunehmen, aber seine Eltern hatten ihm gut zugeraten, es doch zu tun. Ganz egal, wie die Verwandtschaft reagieren würde. Sunny hatte nach kurzer Überlegung beschlossen, die Wertpapiere an seine Großeltern, Tanten und Onkel weiterzugeben. Er wusste sowieso nichts damit anzufangen und so konnte er sie ja auch irgendwie am Erbe beteiligen, was er nur als gerecht empfand. Und mit den Wertpapieren ließ sich ja auch so einiges dazuverdienen. Das hatte insbesondere seine Tante Audrey etwas gnädiger gestimmt, die wohl am meisten erpicht auf das Erbe gewesen war und sich schon zu Malcolms Lebzeiten erfolglos bei ihm einzuschleimen versucht hatte. Zwar wollte sie auch noch das Geld haben und hatte sogar schon mit einer Testamentsanfechtung gedroht, aber Sunny konnte sich auf seinen Vater verlassen, der als Anwalt genau einschätzen konnte, wie die Sache ausgehen würde. Und da das Testament notariell beglaubigt damit voll und ganz rechtskräftig war, konnte Audrey da nichts machen. Und lieber gab sie sich mit den Wertpapieren zufrieden, als gänzlich leer auszugehen. Sie bekam die eine Hälfte, die andere seine Großeltern, damit sie zusätzlich etwas zur Rente dazu bekamen und auch mal wieder verreisen konnten. Seinen Eltern hatte Sunny bereits einen Urlaub geschenkt. Den Rest des Geldes hatte er auf Anraten seines Vaters gut angelegt, denn man konnte nie wissen, wann man mal größere Summen brauchte. Es konnte alles Mögliche passieren und so wäre er abgesichert. Sunny hatte eh nicht vorgehabt, einen auf dicke Hose zu machen und das Geld mit vollen Händen auszugeben. Es reichte ihm schon, wenn er sich sein Studium damit finanzieren und sich ein Leben als Schriftsteller leisten konnte. Er war ja schon glücklich genug damit, dass er endlich von Zuhause ausziehen konnte. Bis gestern hatte er noch wirklich gedacht, er müsste noch ein paar Jahre warten, bis er es sich endlich leisten konnte, sich wenigstens ein WG-Zimmer zu mieten. Und jetzt zog er tatsächlich in eine Villa ein. Gleich am Morgen nach der Testamentsverkündung, der anschließenden Familienversammlung und der Erledigung der Formalitäten, war Sunny direkt mit dem Auto losgefahren, um sich in der Villa umzusehen, die er schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Er wusste nicht so wirklich, was ihn dort alles erwarten würde und war natürlich neugierig. Im Testament stand ja sonst auch nicht viel drin. Außer höchstens, dass da noch ein Angestellter im Haus lebte, den er aber noch kennen lernen würde. Das alles war noch so neu für ihn und er fragte sich, wer dieser Angestellte war und ob er sich gut mit ihm verstehen würde. Vor allem interessierte es ihn natürlich, was dieser Angestellte so für Aufgaben hatte, denn das war irgendwie nicht so ganz deutlich geworden, als das Testament verlesen wurde. Er wusste nur, dass dieser Angestellte auch in der Villa wohnte, was ihn nun doch etwas verwunderte. Denn sein Onkel hatte das Leben mit anderen Menschen gehasst und so etwas passte doch überhaupt nicht zu ihm. Naja, vermutlich würde er bald mehr herausfinden, wer der Angestellte war. Spätestens dann, wenn er die Villa erreicht hatte. Höchstwahrscheinlich war es eine Putzfrau, die vermutlich aus Mexiko stammte und die sich sein Onkel vielleicht noch als kleine „Ablenkung“ von der Arbeit im Haus gehalten hatte. Soweit Sunny sich richtig erinnerte, war sein Onkel ja schon seit Jahren allein stehend und hatte nie geheiratet. Allerhöchstens hatte er irgendwelche Frauengeschichten, aber das war es auch schon.
 

Je mehr Sunny so darüber nachdachte, desto mehr fragte er sich, ob sein Onkel eigentlich glücklich gewesen war, so wie er gelebt hatte. Er musste doch damit gerechnet haben, dass niemand ihm hinterhertrauern würde, wenn er erst einmal tot war. Oder war ihm das vollkommen egal gewesen? Er selbst konnte es sich jedenfalls nicht vorstellen, dass er eines Tages nicht mehr da war und man nichts Gutes über ihn sagen konnte. Keiner, der da sein würde, um sein Grab zu besuchen oder mal an ihn zu denken. Das wäre irgendwie traurig und in der Hinsicht bemitleidete er seinen Onkel, dass dieser dachte, er bräuchte nichts als sein Geld, um glücklich zu werden. Letzten Endes war er es nicht geworden, sondern war stattdessen immer hasserfüllter und jähzorniger geworden. Sunny hatte nicht den ganzen Familienstreit mitgekriegt, aber von seiner Mutter, die eine geborene Wilson war, hatte er gehört, dass Malcolm auch im Zorn zu Gewalttätigkeit neigte und auch sie mal geschlagen haben sollte. Ein weiterer Grund, warum ihm niemand freiwillig nachtrauern würde. Der 20-jährige Literaturstudent konnte sich einfach nicht vorstellen, wie ein Mensch nur so boshaft sein konnte. Und deshalb konnte er für seinen Onkel auch nur Ablehnung und Hass empfinden und es auch nicht über sich bringen, um ihn zu trauern. Das wäre einfach nur geheuchelt.

Ein lautes Donnergrollen ertönte und grelle Blitze durchzuckten den Himmel. Nach einer knapp zehnminütigen Autofahrt erreichte er endlich die Villa. Er fuhr die Auffahrt hoch und kramte den Hausschlüssel heraus. Da es immer noch wie aus Kübeln goss, nahm er das kurze Stück lieber den Regenschirm mit, denn bei dem Guss würde er vollkommen durchnässt sein, worauf er auch keine Lust hatte. Er schnappte sich den kleinen Schirm vom Beifahrersitz, nachdem er den Motor abgestellt und die Handbremse angezogen hatte. Dann öffnete er die Wagentür und spannte den Schirm auf. Laut prasselte der Regen auf den Schirm nieder und nachdem der den Wagen verriegelt hatte, eilte er das letzte Stück zu Fuß. Die Villa war groß und hatte etwas Vornehmes und Altmodisches von außen. Der Vorgarten war sehr gepflegt und auch die weiß gestrichene Außenfassade mit den hohen Fenstern und dem großen Außenbalkon war in einem hervorragenden Zustand. Das Haus war nicht allzu modern, sah aber auch nicht direkt wie eine Geistervilla aus, sondern hatte einen gewissen Charme von einem Herrenhaus. Es wirkte trotz des düsteren Regenwetters sehr einladend und nachdem Sunny die Stufen erklommen hatte, fand er auch schon eine Fußmatte mit der üblichen „Willkommen“-Aufschrift. Eine blanke Ironie, wenn er daran dachte, was für ein Mensch sein Onkel gewesen war.

Schnell ging Sunny durch die Tür und stellte den Schirm in einen daneben stehenden Schirmständer. Erleichtert darüber, dass er endlich wieder im Trockenen war, atmete er aus und sah sich in der Eingangshalle um. Es hatte sich nicht viel verändert, seit er als Kind hier gewesen war. Die Wände strahlten in einer sehr hellen und wunderschönen Cremefarbe und waren mit einigen Gemälden verschönert worden, die allesamt dem Impressionismus zugeordnet werden konnten. Sehr schöne Bilder, aber nicht alle nach Sunnys Geschmack. Er überlegte sich schon, ob er die Bilder nicht vielleicht verkaufen sollte, wenn sie etwas wert waren. Dafür könnte er ja andere hinhängen. Aber andererseits hatte diese Villa im Herrenhausstil einen ganz speziellen Charakter und eine besondere Atmosphäre, die er nur ungern ruinieren wollte. Als aufstrebender Schriftsteller und Literaturstudent kam ihm so eine Kulisse doch gerade recht. So ein Haus war eine perfekte Inspiration für allerlei Geschichten, die man erzählen konnte. Allein schon als er den Flur entlang ging und das große Arbeitszimmer mit den großen Fenstern und schweren Vorhängen, den Mahagonimöbeln und den Bücherregalen sah, da kamen ihm schon erste Ideen. Er konnte bildhaft einen alten und ernsten Mann sehen, der über seinem Schreibtisch gebeugt seiner Arbeit nachging. Das Gesicht von Griesgrämigkeit und kaltem Ernst gezeichnet, während er seinen Sohn argwöhnisch beäugte, der bald seine Nachfolge antreten sollte und mit einer Frau verheiratet war, die nicht in das Bild der geeigneten Schwiegertochter passte. Ja, vielleicht noch der eine oder andere Familienskandal, schwere Krisen und ein Zerfall der Familie, wie man es von Thomas Manns ausgezeichneten Werk „Buddenbrooks“ kannte.
 

Langsam und fast schon andächtig betrat er das weitläufige Arbeitszimmer und bemerkte sofort, dass der Boden mit einem Roten Teppich ausgelegt war. Naja, vielleicht sollte er in Betracht ziehen, den Teppichboden auszutauschen. Er mochte solche Böden nicht, weil er wusste, dass sie schwer zu pflegen waren und schnell dreckig wurden. Ein hübscher Fliesen- oder Holzboden würde jedenfalls nicht schaden. Er steuerte direkt das Regal an und sah sich an, was sein seeliger Onkel denn so alles gelesen hatte. Aber wie sich herausstellte, waren es hauptsächlich Lektüren über die Börse und Wirtschaft, Rechte und Gesetze und andere Sachliteratur. Die kam auf jeden Fall weg. Stattdessen würde aus dem Arbeitszimmer sein persönliches Schreibzimmer werden und hier konnte er dann auch seine ganzen Bücher unterbringen. Dann noch seinen Computer zum Schreiben, das war auf jeden Fall wichtig. Na dann war ja die Planung fürs erste Zimmer ja schon mal fertig. Als nächstes inspizierte er das Bad. Es besaß eine Dusche und eine Badewanne. Was Sunny sofort auffiel war, dass wirklich alles sauber war. Nicht ein Staubkorn war zu sehen und selbst das Bad strahlte vor Sauberkeit. Selbst auf den Schränken war alles sauber und sogar die Lampen. Wer auch immer hier sauber machte, er war definitiv eingestellt, denn so sauber hatte es Sunny nicht mal zuhause gehabt. Nicht, dass seine Mutter keinen Sinn für Ordnung hatte. Aber sie war auch nicht der übereifrige Putzteufel, der selbst sie Glühbirnen in den Fassungen sauber machen musste. Ob das vielleicht dieser Angestellte war, von dem im Testament die Rede war? Wo war er denn eigentlich? Nun, Sunny hatte sein Besuch ja nicht angekündigt gehabt und da war wohl davon auszugehen, dass er diesen Angestellten erst später treffen würde. Na hoffentlich war es kein Sauberkeitsfanatiker, der es mit der Ordnung und Sauberkeit allzu sehr übertrieb.
 

Als er das Bad wieder verlassen hatte, inspizierte er noch die anderen Räume. Die Villa war wirklich groß und eigentlich schon zu groß für eine einzelne Person. Wer weiß… vielleicht zogen ja seine Freunde bald auch noch hier ein und er machte das Haus dann zur WG. So schlecht war der Gedanke ja auch nicht.

Nachdem er die Treppe hoch ins obere Stockwerk gegangen war, fand er das Schlafzimmer. Es war etwas lieblos eingerichtet und das große Doppelbett zu sehen, welches so ordentlich hergerichtet war, dass es nirgendwo auf dem Laken eine Falte gab, war dann doch etwas seltsam für Sunny. Hier drin hatte sein Onkel geschlafen. Und dieser Raum hatte einen ganz eigenen Geruch, wie ihm auffiel. Er konnte es nicht genau beschreiben, aber es gab ja tatsächlich Räume, denen man schon vom Geruch her genau zuordnen konnte, zu welchem Bewohner sie gehörten. Etwas Altes und Herbes lag in diesem Geruch. Der typische Geruch eines frisch gewaschenen Anzuges, etwas Aftershave und etwas Kühlem. Man konnte allein schon an diesem Geruch erkennen, was für ein Mensch diese Person gewesen war, die hier gelebt hatte. Nämlich eine, die dem Leben mit anderen Menschen entsagt hatte, um sich einzig und allein auf das Geschäft zu konzentrieren. Fest stand schon mal, dass hier einiges gemacht werden musste. Die Matratzen mussten weg, ebenso wie die Kissen und Decken, sowie die Kleidungsstücke im Schrank. Auch der Teppichboden würde entfernt werden und eventuell kam hier auch noch ein anderes Bett herein. Sunny ging zum Fenster und öffnete es, um frische Luft hereinzulassen. Im Anschluss wollte er das Zimmer wieder verlassen, blieb jedoch stehen, als er eine kleine schwarze Gestalt am Türrahmen sah. Eine schwarze Burma-Katze mit goldgelben Augen, die ihn anstarrte. Na so was. Sein Onkel hatte eine Katze gehabt? Seltsamerweise hatte er bisher noch nichts gefunden, was auf ein Haustier hingedeutet hatte. „Na wer bist du denn?“ Sunny näherte sich langsam und vorsichtig dem Tier, um es nicht zu erschrecken. Die Katze blieb stehen und beobachtete ihn. Etwas Prüfendes lag in ihren Augen, so als wolle sie feststellen, mit was für einem Menschen sie es von nun an zu tun haben würde. Als der Student nahe genug dran war, hockte er sich hin und streckte seine Hand nach der Katze aus. Als er sie vorsichtig zu streicheln begann, bemerkte er, dass sie ein Halsband trug. Eine Katze mit Halsband. Das gab es auch nicht alle Tage. Neugierig sah er sich die Marke am Halsband an und las den Namen „Orobas“. Ein etwas ungewöhnlicher Name für eine Katze, wie er zugeben musste. Dann musste das also ein Kater sein.

„Hallo Orobas, hast du etwa meinem Onkel gehört?“ Der Kater begann zu schnurren, als Sunny ihm den Hals kraulte. Anscheinend der das Tier sehr zutraulich und es gehörte jemandem. Aber Sunny konnte sich beim besten Willen einfach nicht vorstellen, dass ausgerechnet sein Onkel Tierliebhaber war. Er hatte doch alles und jeden gehasst. Warum sollte er jetzt auf einmal zum Katzenfreund geworden sein? Naja, vielleicht wollte er nicht ganz so einsam sein. Schließlich aber hatte der Kater genug Streicheleinheiten genossen und ging wieder seiner Wege. Das gleiche tat auch Sunny, der sich nun weiter im oberen Stockwerk umsah. Ein weiteres Bad und ein Zimmer, welches mal wahrscheinlich eine Art Hobbyraum war. Hier gab es mehrere Sessel und Bücher, einen Billardtisch und auch eine Bar mit allerhand alkoholischen Getränken. Darunter auch Cognac. Nun, vielleicht war der miese Charakter seines Onkels nicht der einzige Grund für seinen Herzinfarkt. Wahrscheinlich hatte der Alkoholkonsum seinen Teil dazu beigetragen. Auf jeden Fall musste der Fusel raus. Sunny trank eh keinen Alkohol, darum würde er das Zeug auch nicht wirklich gebrauchen können. Aber seltsamerweise fand er hier nirgendwo ein zweites Schlafzimmer, was darauf hindeuten könnte, dass hier der Angestellte wohnte. Ob er unterm Dach lebte? Nun, es gab zwar nur einen Weg, das herauszufinden, aber Sunny hatte nicht wirklich Lust, da oben nachzusehen. Nicht, wenn da schlimmstenfalls alles voller Ungeziefer war, wie man es von Dachböden her kannte. Eine grausige Vorstellung. Und da er eh schon so schreckhaft war, was solche Sachen betraf, wollte er das Risiko lieber nicht eingehen.
 

Ein lautes Donnern war wieder zu hören und es sah verdächtig danach aus, als würde es gleich stürmen. Da war es wohl besser, wieder das Fenster im Schlafzimmer zu schließen. Also ging Sunny wieder zurück ins Erdgeschoss und steuerte das Schlafzimmer an. Doch als er es erreicht hatte, stellte er fest, dass es bereits geschlossen worden war. Etwas perplex blieb er stehen. Hatte er denn nicht das Fenster geöffnet? Wieso war es auf einmal wieder zu? Die Katze konnte es ja wohl kaum gewesen sein. Aber dann dämmerte es ihm: der Angestellte musste das Fenster geschlossen haben. „Hallo?“ rief er und sah mich um, erhielt aber keine Antwort. „Ist hier jemand?“ Vorsichtig trat Sunny auf den Flur und sah sich um. Doch es war nirgendwo eine Menschenseele zu sehen. Also ging er weiter nachsehen und hörte dann ein Klappern. Verwundert runzelte er die Stirn und folgte den Geräuschen, die ihn wieder runter ins Erdgeschoss zurückführten. Auf dem Flur sah er wieder Orobas, der ihm einen kurzen Blick zuwarf und dann durch einen Türspalt huschte, der direkt in die Küche führte. Dort befand sich die Quelle des Geräuschs und als er vorsichtig die Tür öffnete, sah er jemanden an der Arbeitsfläche stehen und arbeiten. Da die Person mit dem Rücken zu ihm stand, konnte er nicht viel erkennen. Nur dass es eine männliche Person war, erstaunlich groß und in einen schwarzweißen Pullover gekleidet, der ihm gut und gerne ein bis zwei Nummern zu groß war. Seine Jeans war ein wenig abgenutzt, ebenso wie seine Schuhe. Die Haare waren rotbraun und leicht gelockt. „Äh, Entschuldigung?“ Sofort zuckte die Person zusammen und drehte sich um. Nun erkannte Sunny, dass das ein Junge war, der vielleicht etwas jünger war als er selbst. Seine Augen waren groß und aufgeweckt und hatten ein schönes moosgrün. Er war aber recht blass, so als würde er nicht sehr oft nach draußen gehen. Er reagierte sehr erschrocken auf Sunnys plötzliches Erscheinen und wich erst zurück. Der 20-jährige, der nicht weniger erschrocken war, blieb stehen und hob die Hände, um seine guten Absichten zu unterstreichen. „Keine Panik, ich tu schon nichts. Ich bin Alexis Lane, der Neffe von Malcolm Wilson und der neue Hausbesitzer. Und wer bist du? Ich darf doch wohl du sagen, oder?“ Der Junge sah ihn schweigend an und war erst wie erstarrt. Dann aber wanderte sein Blick kurz zu dem Kater, der sich neben Sunny auf dem Boden hingesetzt hatte und leise miaute. Dann wanderte der Blick dieser moosgrünen Augen wieder zu Sunny und dann schien sich der erste Schreck zu legen. Allmählich entspannte er sich wieder und holte einen Briefumschlag hervor, den er offenbar bei sich gehabt hatte. Diesen reichte er Sunny und wies ihn mit einer stummen Geste an, sich zu setzen. Etwas unsicher nahm der Student den Brief an und setzte sich an den Tisch. Er öffnete den Umschlag und holte den Brief heraus, der von seinem Onkel geschrieben worden war.
 

„Dies ist mein Hausangestellter Daniel Ronove. Er erledigt alle Arbeiten in der Villa, die täglich anfallen. Was also die Garten- und Haushaltsarbeiten mit einschließt. Mach dir nicht die Mühe, mit ihm zu reden. Der Bengel kriegt seit Jahren kein Wort mehr hervor. Sollte er Ärger machen, weise ihn auch entsprechend zurecht, weil der Nichtsnutz nur Flausen im Kopf hat. Als Lohn für seine Arbeit bekommt er Verpflegung, Kleidung und Unterkunft. Geld braucht er nicht. Lass dir nicht von ihm auf der Nase herumtanzen.“
 

Kurz und bündig ohne Begrüßung, so wie er es von Malcolm kannte. Aber etwas verwunderte Sunny doch schon: dieser Daniel arbeitete seit Jahren hier? Der konnte doch nicht älter als 19 Jahre sein. Wie lange lebte er denn schon in der Villa und spielte das Hausmädchen? Und vor allem störte Sunny eines: Daniel bekam nicht mal Lohn, sondern nur Verpflegung und Unterkunft? In welchen Zeiten lebten sie denn bitte und was hatte sich sein Onkel hierbei nur gedacht? Aber das war ja mal wieder so was von typisch für Malcolm. Der hatte sich diesen Daniel sicher nur als billige Arbeitskraft gehalten und ihn nach Strich und Faden ausgenutzt. Oh Mann… das konnte ja noch heiter werden. „Okay…“, murmelte er schließlich und faltete den Brief wieder zusammen. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Daniel. Ich darf doch Daniel sagen, oder?“ Nach einem kurzen Zögern nickte dieser und sie reichten sich zur Begrüßung die Hand. Immer noch wirkte Daniel sehr nervös und schien nicht ganz sicher zu sein, was er jetzt tun sollte. Auf Sunny wirkte er fast wie ein leicht verstörtes Kind, das Angst davor hatte, geschlagen zu werden, wenn es auch nur einen falschen Handgriff tat. Wahrscheinlich hat mein werter Herr Onkel ihn auch nicht immer so gut behandelt, dachte sich Sunny und versuchte die Stimmung etwas zu lockern. „Setz dich doch. Und keine Angst, ich beiße schon nicht.“ Daniel wirkte überrascht und brauchte einen Moment, um der Bitte nachzukommen. Immer noch war er sehr zurückhaltend und schien noch nicht ganz zu wissen, wie er die ganze Situation einschätzen sollte. Aber je länger Sunny ihn ansah und sein Gesicht betrachtete, desto sicherer war er sich, Daniel irgendwo schon mal gesehen zu haben. Diese moosgrünen Augen und diese rotbraunen Locken kamen ihm irgendwie bekannt vor. Er konnte sich nicht helfen, aber er hatte wirklich das Gefühl, Daniel schon mal in der Vergangenheit gesehen zu haben. „Sag mal…“, begann er langsam. „Kann es sein, dass wir uns vor einigen Jahren schon mal begegnet sind?“ Daniel wich seinem Blick aus und schwieg. Offenbar konnte er wirklich nicht sprechen. Aber warum? Was konnte die Ursache sein? War es die Angst, Schüchternheit, oder hatte er ein ganz anderes Problem? „Hör mal, du brauchst keine Angst vor mir zu haben, okay? Mein Onkel war ein Arsch, ich hab ihn nie leiden können und ich bin nicht so wie er. Scheiß doch drauf, was er in diesem Brief schreibt und was er über andere dachte. Er ist tot und ich hab auch nichts dagegen, wenn du weiter hier bleibst. Ich glaube, ich wäre mit dem Haus alleine völlig überfordert. Und ich werde dich auch anständig bezahlen, daran soll es nicht liegen. Hauptsache ist, wir beide kommen gut miteinander aus und ich kann mich auf dich verlassen.“ Zögernd suchte Daniel doch wieder den Augenkontakt zu ihm, so als würde er langsam seine Scheu verlieren. Dennoch wirkte er sehr zurückhaltend und vorsichtig. Sunny räusperte sich schließlich und steckte den Brief ein. „Also Daniel, wo genau wohnst du eigentlich hier im Haus? Ich hab mich hier schon umgesehen und wusste ehrlich gesagt nicht, dass du hier bist. Dürfte ich mal sehen, wo du wohnst?“ Eine ganze Weile verging, in der keine Reaktion von Daniel kam. Seine Augen ruhten auf Sunny und ihm war, als würde dieser Junge, der kein einziges Wort sprach, versuchen wollen, ihn zu durchschauen. Die Angst war langsam gewichen und nun schien es so, als wolle er auf eine stille Art und Weise seinen neuen Arbeitgeber durchschauen, um seine wahren Absichten zu erkennen. Dann aber nickte er schließlich und erhob sich. Mit einer stummen Handbewegung wies er Sunny an, ihm zu folgen.

Das Kennenlernen

Als Daniel zur Küchentür ging, folgte ihm der Kater Orobas, den er sogleich auf den Arm nahm. Sogleich fragte Sunny nach. „Ist das dein Kater?“ Etwas unsicher schwieg der 19-jährige erst, bevor er mit einem Nicken antwortete. Sie gingen eine Treppe hinunter, die direkt zum Keller führte und so langsam wunderte sich Sunny aber doch. Warum führte Daniel ihn denn direkt in den Keller? Der wohnte doch nicht ernsthaft dort, oder? Sie gingen weiter die Treppen runter und kamen direkt am Heizungsraum vorbei. Daneben folgte eine Tür, vor der Daniel schließlich stehen blieb. Er setzte Orobas ab und schloss die Tür auf. Als er sie öffnete und hindurchging, folgte Sunny ihm und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Vor ihm lag ein kleiner Raum mit kahlen Wänden und einer kleinen Pritsche in der Ecke. Es gab ein Waschbecken, allerdings keine Toilette und auf dem Boden lagen Bandagen, an denen Blut klebte. Sunny konnte nicht glauben, was er da sah. Das war kein Schlafzimmer, das war eine Knastzelle. Er hatte seinem Onkel ja so einiges zugetraut, aber das hier waren doch keine menschenwürdigen Lebensverhältnisse. Daniel arbeitete hier, bekam kein Geld und musste hier im Keller leben? Der wurde ja wie ein Sklave gehalten. Fassungslos schüttelte Sunny den Kopf und ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, was sein Onkel da getan hatte. Das ging einfach über sein Fassungsvermögen hinaus und in diesem Moment fühlte er eine wahnsinnige Wut auf diesen Menschen. „Hier lebst du wirklich?“ fragte er und nach einem kurzen Zögern nickte Daniel, machte aber nicht den Eindruck, als wäre es ungewöhnlich für ihn. Stattdessen schien er an derlei Lebensverhältnisse gewöhnt zu sein. Das war endgültig zu viel für den hilfsbereiten Sunny. Er ergriff Daniels Handgelenk und wollte mit ihm diesen Raum wieder verlassen, doch da hielt er inne, als er sah, dass der 19-jährige vor Schmerz das Gesicht verzog. Sofort ließ er ihn wieder los, sah sich dann aber den Arm an. Am Handgelenk erkannte er blutige Abschürfungen und Spuren von Fesseln und Hämatome. „Was zum…“ Die nächsten Worte blieben ihm im Hals stecken und fassungslos sah er Daniel an, dem das Ganze sichtlich unangenehm war. Sunny kämpfte innerlich mit sich. Irgendwie fiel es ihm schwer zu glauben, dass Daniel ein einfacher Angestellter im Haus war. Sonst würde er doch nicht solche Verletzungen haben und nicht wie ein Gefangener im Keller hausen. „Hat… hat mein Onkel dir das angetan?“ Keine Antwort, nicht mal ein Nicken oder Kopfschütteln. Aber der Blick sprach Bände. Daniel verbarg die Verletzungen wieder unter seinem Ärmel und ging auf Abstand. In diesem Moment fühlte Sunny sich schuldig, vor allem als er erkannte, dass Daniel nicht gewollt hatte, dass jemand diese Verletzungen sah. Aber so konnte er das auch nicht im Raum stehen lassen. „Tut mir leid“, sagte er schließlich. „Ich wollte dich nicht bedrängen. Soll ich dich zu einem Arzt bringen, damit der sich deine Verletzungen ansehen kann?“ Ein Kopfschütteln.
 

Da Sunny den schüchternen Jungen zu nichts zwingen wollte, beließ er es deshalb erst einmal dabei und bot ihm an, dass er wenigstens die schlimmsten Wunden verarztete. Zwar war Daniel noch etwas skeptisch, aber schließlich nickte er und gab damit sein Einverständnis. Sie verließen gemeinsam den Keller und aus dem Bad holte Daniel Verbandszeug und ein paar Salben, sowie eine Schere. Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer. Ein großer Salon mit einem Flügel und einem Kamin. Es gab hier sehr große Fenster, wodurch der Raum noch mal besonders hell wurde. Auf Sunnys Bitte hin zog Daniel seinen Pullover aus und zeigte damit seinen Oberkörper. Er hatte eine wirklich blasse Haut, aber dennoch einen schönen Körper, das musste der Student zugeben. Wären da nur nicht diese ganzen Hämatome an der Schulter, an den Schulterblättern, die diesen Körper deutlich verunstalteten. Die Hämatome waren nicht sonderlich groß und dunkel, was ja wenigstens darauf schließen ließ, dass es keine inneren Verletzungen gab. Da seine Mutter als Rettungssanitäterin arbeitete, hatte er schon so einiges mitgekriegt gehabt und genügend Erste Hilfe Kurse besucht, um sogar im Falle eines Herzinfarktes helfen zu können. Zwar war er kein Arzt, aber diese ganzen Verletzungen sahen nach einfachen Schlägen aus. Offenbar hatte sein Onkel den einen oder anderen Wutanfall an Daniel ausgelassen und ihn verprügelt. Und diese Abschürfungen an den Handgelenken stammten dann wahrscheinlich von Fesseln.
 

„Du hör mal“, sagte Sunny nach einer Weile und begann nun die verletzten Handgelenke, deren Wunden leicht gerötet waren und was auf eine beginnende Entzündung hindeutete, mit Salbe zu behandeln. „Es tut mir leid, was mein Onkel dir angetan hat.“ Eigentlich wusste er, dass er sich nicht zu entschuldigen brauchte. Immerhin hatte er ja nichts mit Daniels Verletzungen zu tun und hatte auch nicht gewusst, was sein Onkel in seiner Villa alles getan hatte. Aber dennoch fühlte er sich dennoch irgendwie in der Verpflichtung, sich zu entschuldigen. „Nur damit du es weißt: es zwingt dich niemand, hier zu bleiben. Ich kann es auch verstehen, wenn du gehen willst.“ Immer noch sagte Daniel nichts und es war nur sehr schwer zu erkennen, was er gerade dachte. Dann aber lächelte er schüchtern und wirkte erleichtert. Es war ein so unschuldiges und fröhliches Lächeln wie das eines Kindes. Eine seltsame Ausstrahlung ging in diesem Augenblick von ihm aus, wie ein inneres Licht. Sunny konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern und er war insgeheim erleichtert, dass er Daniel lächeln sah. „Dann willst du weiterhin hier arbeiten?“ Dieses Mal nickte der 19-jährige sofort, ohne nachzudenken. „Okay. In dem Fall werden wir ein paar Veränderungen vornehmen. Ich schau gleich mal nach, welches Zimmer wir umräumen können, aber im Keller wirst du jedenfalls nicht mehr wohnen. Das da unten ist nicht mal ein richtiges Zimmer, sondern ein Knast.“ Daniels Augen wurden groß, so als könne er sein Glück nicht fassen. In Sunnys Augen hatte sein ganzes Wesen etwas so Unschuldiges an sich, dass er beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte, warum der Junge trotz dieses Martyriums noch so lächeln konnte. Diese schweren Misshandlungen und das Leben in dem Keller waren doch sicherlich nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.
 

Vorsichtig begann Sunny nun damit, die Handgelenke zu bandagieren und wurde dabei von Daniel beobachtet, der die ganze Prozedur brav über sich ergehen ließ. Irgendwie kam es Sunny in dem Moment so vor, als würde er sich um einen kleinen Bruder kümmern, dabei war er sein ganzes Leben immer Einzelkind gewesen. Aber je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, Daniel schon mal begegnet zu sein. Und zwar in der Villa. Damals müsste Daniel sieben Jahre alt gewesen sein. Ob er ihn darauf ansprechen sollte? Nun, bis jetzt hatte Daniel noch kein einziges Wort gesprochen und aus dem Brief seines Onkels ging ja deutlich hervor, dass das schon eine ganze Weile Zustand bei ihm war. Und da es ihn irgendwie nicht mehr losließ, wollte er es wenigstens einmal angesprochen haben. „Weißt du Daniel, ich werde wirklich das Gefühl nicht los, als hätten wir uns schon mal getroffen, als wir noch Kinder waren. Ich glaube, ich war ungefähr acht Jahre alt und ich war hier bei meinem Onkel, weil meine Mutter im Krankenhaus war und jemand damals auf mich aufpassen musste. Ich glaube, du warst damals auch in der Villa gewesen und hattest am Fenster gesessen und dem Regen gelauscht.“ Daniel starrte ihn mit einem etwas verständnislosen Blick an, so als könne er sich selbst nicht mehr so wirklich daran erinnern, dass sie sich schon mal begegnet waren. Naja, es war ja auch ziemlich lange her und man konnte ja wohl kaum erwarten, dass man sich an eine kurze Begegnung erinnerte, die gut und gerne zwölf Jahre zurücklag. Es wunderte Sunny ja selbst, dass er sich selbst daran erinnern konnte. Aber es waren einfach diese Augen, die er nie vergessen hatte. Und nun trafen sie sich nach zwölf Jahren wieder und Daniel lebte als Angestellter hier. Und dann noch in solchen Verhältnissen. Für den Studenten stand fest, dass er das unbedingt ändern musste. Da war im oberen Stockwerk eh ein Zimmer frei, welches man umräumen konnte. Dann würde das von nun an Daniels Zimmer sein. Wenn er weiter hier wohnen sollte, dann brauchte er eine vernünftige Bleibe. Etwas anderes konnte Sunny mit seinem Gewissen auch nicht vereinbaren und da war ihm auch das Schreiben seines Onkels vollkommen egal. Der Kerl war ein Dreckskerl gewesen und das hatte sich in Daniels Fall nur allzu deutlich herausgestellt.
 

Nachdem Daniels Handgelenke verarztet und die Hämatome mit Salbe behandelt worden waren, entschuldigte sich Sunny kurz und verließ das Wohnzimmer. Nachdem die Tür zugefallen war, sprang Orobas der Burma-Kater auf das Sofa und ließ sich neben Daniel nieder. „Sieht so aus, als würde dieser Alexis Lane nicht so schlimm sein, wie du zunächst befürchtet hast, Daniel.“ Der 19-jährige schwieg und betrachtete seine bandagierten Handgelenke. Zugegeben, sein Körper tat selbst jetzt noch weh nach der stundenlangen Prügelei vorgestern. Und als er erfahren hatte, dass die Villa von Malcolms Neffe geerbt worden war, hatte er wirklich Angst gehabt, dass das Martyrium weiterging. Dass er wieder an ein Heizungsrohr gefesselt und geschlagen und getreten wurde, weil er das Tabu gebrochen hatte. Doch stattdessen hatte Sunny seine aufgeschürften Handgelenke verarztet und sich entschuldigt. „Ja, da hast du wohl Recht“, gab er schließlich zu und lächelte. In all den Jahren hatte er es nicht geschafft, in der Gegenwart von Menschen zu sprechen. Orobas war der Einzige, aber auch nur deshalb, weil er eine Katze war und vor allem sein Freund war. Ja, Orobas war sogar mehr als das. Er war auch sein Lehrer und Ratgeber. Schon als Daniel seine Mutter verloren hatte, war Orobas an seiner Seite gewesen und hatte ihn den Umgang mit seinen Fähigkeiten gelehrt. Und dank seiner telepathischen Fähigkeiten war Daniel auch in der Lage, ihn zu verstehen. „Er ist wirklich ganz anders als Malcolm. Irgendwie ziemlich nett. Ich glaub, ich mag ihn.“ „So direkt wie immer“, kam es von Orobas, der sich an Daniel schmiegte und sich von ihm streicheln ließ. Daniel hing sehr an dem Kater, der eines Tages einfach aufgetaucht war und ihm erklärt hatte, dass er ihm von nun an zur Seite stehen und ihn den Umgang mit seinen Kräften lehren würde. Auch wenn Daniel das Haus seit knapp fünf Jahren nicht mehr verlassen hatte, so wusste er dennoch, dass Orobas keine normale Katze war. Das verriet ihm allein schon die Tatsache, dass der Kater nicht nur die menschliche Sprache verstand und sogar lesen konnte, er konnte sich sogar besser artikulieren als so manch normale Menschen. Naja, zumindest auf einer mentalen Ebene, denn sprechen konnte der Kater nicht. Aber dank Daniels telepathischen Fähigkeiten war es ihnen möglich, auf diese Weise miteinander zu kommunizieren. Zu Anfang war es wirklich schwer für ihn gewesen, diese Fähigkeit zu kontrollieren und nicht verrückt zu werden, weil er so viele Stimmen unkontrolliert in seinem Kopf hörte und darum hatte er auch Angst gehabt, das Haus zu verlassen und so viele Stimmen in seinem Kopf zu hören. Weder seine Mutter noch irgendjemand anderes hatte ihm da helfen können, doch Orobas hatte ihn verstanden und hatte ihn stets sicher geführt und ihm beigebracht, seine Fähigkeiten zu unterdrücken und sie zu kontrollieren. Inzwischen war Daniel in der Lage, auch seine telepathischen Fähigkeiten gezielt einzusetzen und konnte sich inzwischen vor diesen vielen Stimmen isolieren und entscheiden, wessen Gedanken er hören wollte.
 

„Was wirst du nun tun, Daniel?“ fragte der Kater und seine goldgelben Augen ruhten nun auf dem 19-jährigen. „Willst du weiter hier bleiben, oder willst du die Chance nutzen und diesen Ort verlassen, an dem du so lange eingesperrt warst? Malcolm Wilson ist tot und er kann dir nichts mehr tun. Also wie willst du dich entscheiden?“ Tja, die Frage war schwierig zu beantworten. Wenn Daniel so darüber nachdachte, musste er ja zugeben, dass er nirgendwo hingehen konnte. Er hatte den Großteil seines Lebens in der Villa verbracht und hatte außer zu Malcolm und Orobas zu niemandem Kontakt. Er kannte keinen Menschen da draußen und wusste auch nicht, wo er denn sonst hin sollte. „Außer der Villa hab ich doch nirgendwo ein Zuhause und ich weiß auch nicht, wo ich sonst hingehen soll. Und so schlecht scheint Alexis ja nicht zu sein. Immerhin hat er gesagt, dass ich nicht mehr im Keller wohnen muss… Was glaubst du, Orobas? Was soll ich tun?“ Der Kater begann nun damit, eine seiner Vorderpfoten zu säubern. „Das ist allein deine Entscheidung, mein Junge. Aber ich sehe, dass du deine Lage gut überschaust. Es stimmt auch. Jetzt im Moment bist du nicht in der Lage, etwas eigenes auf die Beine zu stellen, weil dir die nötige Selbstständigkeit fehlt. Ich bin zwar dein Ratgeber, Freund und Begleiter, aber ich kann dich nicht das Leben eines Menschen lehren. Das liegt nicht in meiner Aufgabe.“ Als er von Aufgabe sprach, sah Daniel ihn fragend an. „Was genau ist eigentlich deine Aufgabe?“

„Das habe ich dir bereits erklärt: dir den Umgang mit deinen Fähigkeiten beizubringen und dich zu begleiten. So wie ich es schon mit deinen Vorgängern tat, die ebenfalls mit dieser Gabe zur Welt kamen.“ „Dann bist du wohl ziemlich alt, was?“ fragte Daniel scherzhaft und streichelte den Rücken des Katers, der mit seiner Fellpflege unbeirrt fortfuhr. Schon seit Jahren versuchte Daniel einen Weg zu finden, mehr über seinen geheimnisvollen Begleiter herauszufinden, der ihm schon so oft beigestanden und ihm den richtigen Weg gewiesen hatte. Aber viel hatte Orobas nie über sein Leben erzählt. Außer, dass er den Auftrag erhalten hatte, jene Personen zu unterweisen und zu begleiten, die mit besonderen Fähigkeiten geboren wurden, so wie Daniel. „Ich bin in der Tat älter als eine normale Katze“, bestätigte er. „Und ich bin auch nicht das, was man als normale Katze bezeichnen würde. Ich bin mehr als das, aber auch weniger als das, was du dir vielleicht vorstellst. Es ist ohnehin nicht wichtig, wer oder was ich bin. Es zählt einzig und allein, was ich für dich bin und das ist ein Freund und Ratgeber. Und egal wie du dich entscheiden solltest, ich werde bei dir bleiben. Aber ich werde dich nicht das Leben eines Menschen lehren. Ich habe zwar lange unter ihnen gelebt, aber ich habe auch meine Würde.“ Nun, diesem Argument konnte Daniel auch nicht viel entgegensetzen. Und er war ja schon froh genug, dass Orobas bei ihm bleiben würde. „Gibt es denn noch andere so wie dich?“ „Ja die gibt es. Amducias zum Beispiel, aber den habe ich schon seit langem nicht mehr gesehen. Ich vermute, er wird beschäftigt sein.“ Gerade wollte Daniel wieder etwas sagen, doch da ging die Tür wieder auf und Sunny kam zurück. In dem Moment verschlug es Daniel wieder die Sprache.
 

Der Literaturstudent kam von einem kurzen Telefonat mit seinen Eltern wieder zurück und entschuldigte sich für die Unterbrechung. Daniel zog seinen Pullover wieder an und schaute ihn fragend an, so als versuche er ohne Worte die Frage zu formulieren, was denn jetzt folgen würde. Auch Sunny schien sich ein wenig unschlüssig zu sein und dachte nach. Dann aber hatte er eine rettende Idee. „Wenn wir sowieso schon hier unter einem Dach wohnen, kann ich dir auch mal etwas mehr über mich erzählen.“ Da der 19-jährige interessiert aussah und nickte, begann der Literaturstudent zu erzählen. „Meine Freunde nennen mich Sunny und ich bin derzeit noch an der Universität und studiere Literatur. Ich bin nebenbei noch als Schriftsteller tätig.“ Als Daniels Neugier in große Bewunderung umschlug, räusperte sich Sunny verlegen und fügte hinzu „Naja, der große Durchbruch muss mir erst mal noch gelingen. Ich schreibe derzeit noch Kurzgeschichten und Prosatexte und nehme an kleineren Literaturwettbewerben teil.“ Dennoch war die Bewunderung in Daniels Blick nicht zu übersehen. Diese Bewunderung hatte etwas so Ehrliches und Unschuldiges, dass Sunny wieder den Eindruck hatte, er hätte ein Kind vor sich. Aber irgendwie machte es Daniel auf eine gewisse Art und Weise sympathisch. Wie kam sein Onkel nur dazu, einen solchen Menschen im Keller einzusperren und so lange zu misshandeln? Vielleicht, weil dieser Junge mit seiner offen und ehrlichen Art für seinen Onkel, der niemandem wirkliches Glück gönnte, eine einzige Provokation war. Malcolm war nicht glücklich mit seinem Leben gewesen, also hatte er auch niemandem sonst irgendeine Form von Glück gegönnt. „Also Daniel, ich werde gleich schon mal losgehen. Ich wollte sowieso noch fürs Schlafzimmer ein paar neue Sachen besorgen gehen. Kannst du dich einigermaßen bewegen?“ Sofort kam ein Nicken zur Antwort, wobei der 19-jährige fragend den Kopf zur Seite neigte und die Augenbrauen zusammenzog. Er war ein sehr expressiver Mensch, was irgendwie im krassen Gegensatz zu der Tatsache stand, dass er nicht ein Wort sagte. Aber bei ihm hatte Sunny irgendwie das Gefühl, als wären Worte bei Daniel nicht nötig, so als könne man ihn auch ohne Worte verstehen. Wenn diese Zeit bei Malcolm nicht gewesen wäre, dann wäre Daniel vielleicht ein sehr lebhafter Mensch gewesen. Vielleicht etwas direkt, aber dennoch ein herzensguter Mensch. Er besaß etwas Ehrliches, so als hätte er das Lügen als Kind nie wirklich gelernt. Oder es kam ihm einfach nicht der Gedanke zum Lügen. „Okay. Dann würde ich dich bitten, schon mal das Zimmer so weit auszuräumen. Wenn irgendetwas zu schwer ist und du dich wegen deiner Verletzungen nicht richtig bewegen kannst, dann warte, bis ich zurück bin und wir machen das gemeinsam.“ Sunny holte sein Smartphone hervor und begann sich Notizen zu machen. Er brauchte auf jeden Fall zwei Decken, Kissen, Matratzen und ein anständiges Bettgestell. Zum Glück kannte er ein Fachgeschäft nicht weit von hier, wo er alles kriegen konnte. Währenddessen konnte sein Angestellter, der nun auch so etwas wie sein Mitbewohner war, gleich sein altes Zimmer räumen und das neue beziehen. Später würden seine Eltern mit den Umzugskartons vorbeikommen und dann musste er sich noch überlegen… Sunny unterbrach sich selbst, als er erkannte, dass er gerade vollkommen unstrukturiert und chaotisch voranging und sich alles nach purem Chaos anhörte. Er musste sich wirklich einen besseren Ablauf überlegen.
 

Okay, dann machte er es so: er würde gleich zum Fachgeschäft fahren und die Sachen holen und währenddessen würde Daniel gleich eines der Zimmer ausräumen, damit sie es neu einrichten konnten. Danach würde er das Schlafzimmer in Angriff nehmen und seine Eltern würden mit den Klamotten herkommen. Dann war wenigstens schon mal der Einzug schnell erledigt und seine anderen Sachen konnte er ja noch morgen abholen. Da es ja nicht viel an Sachen war, die er mitnehmen wollte, würde der Umzug auch schnell erledigt sein und danach konnte er die Umzugsparty für seine Freunde schmeißen. Angeline und Josh würden sich garantiert freuen und in einer so großen Villa zu feiern, hatte auch irgendwie Stil.

Letztendlich hatte Sunny aber noch eine Frage, die er an Daniel stellen wollte und die ihn interessierte. „Eines muss ich noch wissen: kannst du überhaupt nicht sprechen, oder könntest du und willst es einfach nicht?“ Unsicher sah ihn der 19-jährige an und gab keine Reaktion darauf. Da Sunny dies als Antwort deutete, dass keines von beidem zutraf, stellte er noch eine Theorie auf. „Kannst du vor anderen Menschen nicht sprechen?“ Kurz wanderte der Blick des Schweigsamen zur Seite, so als würde er kurz nachdenken. Dann aber nickte er. Wieder lag Unsicherheit in seinem Blick. Er wusste nicht, was jetzt folgen würde und inwieweit seine Antwort wichtig für Sunny war. Doch als Sunny dann nur meinte „Schade, aber vielleicht findet sich ja irgendwann mal eine Möglichkeit, wie wir miteinander sprechen können“, da schlich sich wieder ein etwas schüchternes Lächeln über seine Lippen. Doch seine moosgrünen Augen waren da deutlich lebhafter. An ihnen ließ sich deutlich erkennen, wie sehr es Daniel freute, so etwas zu hören. Und Sunny war sich sicher, dass der Junge mehr aus sich herauskommen würde, wenn sie sich erst mal aneinander gewöhnt und besser kennen gelernt hatten. Nachdem die etwas holprige und unbeholfene Vorstellungsrunde vorbei war, verließen sie gemeinsam das Wohnzimmer und nachdem Daniel den Verbandskasten und die Salben weggebracht hatte, gingen sie hoch ins obere Stockwerk, wo sie ein Zimmer ansteuerten, welches zwar nicht allzu groß war, aber dennoch große Fenster hatte und dadurch hell ausgeleuchtet wurde. Hier standen hauptsächlich Regale mit Ordnern. Dieser Raum wurde wahrscheinlich als eine Art Archiv benutzt. Man konnte Malcolm Wilson vorhalten, was man wollte, aber er dokumentierte seine Arbeit akribisch genau und war ein Ordnungsfanatiker gewesen. Sunny durchlief das Zimmer und begann zu überlegen. Hier passte locker ein eigenes Bett, ein Schreibtisch mit Bürostuhl, ein Fernseher und zwei große Schränke rein. Ja, hier ließ sich definitiv was machen. Aber um sicherzugehen wandte er sich an seinen Mitbewohner und Angestellten. „Und was meinst du, Daniel? Ist das Zimmer okay für dich?“ Dieser sah ihn mit einem Blick an, als wolle er fragen „Du willst mir wirklich das Zimmer hier überlassen? Bist du dir sicher?“ Und das hätte nicht einmal abwertend geklungen, sondern eher danach, als könnte er sich nicht so wirklich an diesen neuen Luxus gewöhnen. In dem Moment musste Sunny an ein Zitat denken, das von einem deutschen Aphoristiker stammte:
 

Wer im Gefängnis geboren ist, der vermisst die Freiheit nicht, weil er sie nie kennen gelernt hat.
 

Irgendwie war ihm so, als würde dieses Zitat genau auf Daniel zutreffen. Allein der Gedanke, ein richtiges Zimmer zu bekommen, erfüllte ihn mit einer solch kindlichen Begeisterung, als hätte er schon sein ganzes Leben im Keller leben müssen. Sunny wollte sich nicht vorstellen, wie es sich für einen kleinen Jungen angefühlt haben musste, allein in einem Keller zu leben. Was für ein trostloses Dasein man fristen musste und vor allem wie einsam man da sein musste. Auch wenn Daniel nichts gesagt hatte und seine Vergangenheit anscheinend auch nicht näher thematisieren wollte, so war er doch ziemlich leicht zu durchschauen. „Okay. Die Akten können wir erst mal nach unten in den Keller bringen. Den ganzen Krempel kann ich sowieso nicht wirklich gebrauchen und ich denke mal, dass ich alles noch entsorgen werde. Unten kann erst mal alles zwischengelagert werden. Ähm…“ Er musste kurz innehalten, um sich noch mal zu sortieren. „Ich fahr jetzt los und besorg schon mal ein Bett und alles weitere. Du räumst hier soweit es geht alles aus, damit wir nachher das Zimmer einrichten können. Es kann übrigens sein, dass meine Eltern nachher mit ein paar Sachen vorbei kommen. Wäre nett, wenn du ihnen Bescheid gibst, dass ich weg bin. Wenn du es nicht sagen kannst, schreib es einfach auf. Mit meinem Dad können wir nachher über einen vernünftigen Arbeitsvertrag reden. Er ist Anwalt und kennt sich mit solchen Dingen ganz gut aus.“ Als er wieder die Unsicherheit in Daniels Blick sah, fügte er noch hinzu „Keine Bange, er ist ganz in Ordnung und wird das schon alles regeln. Er ist nicht so wie mein Onkel. Um ehrlich zu sein war der das einzige miese Arschloch und keiner von uns konnte ihn wirklich leiden. Hör mal, ich kenn mich mit diesen ganzen Sachen nicht wirklich so aus, okay? Das alles ist auch für mich recht neu. Ich bin Student und hatte noch nie irgendwelche Angestellten. Und wir beide sind ja auch irgendwie fast gleich alt. Wie alt bist du eigentlich?“ Daniel hob seine Finger um zu signalisieren, dass er 19 Jahre alt war.

Da hatte Sunny wohl richtig gelegen mit seiner Einschätzung.

Dann bist du gerade mal ein Jahr jünger als ich. Ich denke mal, wir können ganz gut miteinander auskommen. Fakt ist eben halt, dass ich jemanden brauche, der den Haushalt hier erledigt, weil ich für so etwas überhaupt kein Händchen habe. Und ich denke mal, das waren auch die Tätigkeiten, die du bisher immer ausgeführt hast, oder?“ Ein Nicken kam zur Antwort. Mittels Gestik wies Daniel ihn auch noch daraufhin, dass er sogar kochen konnte, was eine zusätzliche Erleichterung für Sunny war. Denn vom Kochen hatte er nicht die geringste Ahnung. „Das ist gut. Ich bin auch nicht sonderlich anspruchsvoll, was das Essen betrifft. Das Einzige, was ich halt nicht mag, sind Fertigprodukte und Auflauf. Aber ansonsten bin ich ganz pflegeleicht.“ Daniel schmunzelte über diese scherzhafte Anmerkung und es war auch deutlich spürbar, dass so langsam aber sicher die ängstliche Schüchternheit wich und Daniel auch so langsam aber sicher seine Furcht vor Sunny ablegte. Und das war auch für den Studenten eine große Erleichterung, denn nach dem Schock über die Geschichte, dass Daniel seit Jahren im Keller hauste wie ein Gefangener und auch noch verprügelt worden war, war es ihm wichtig gewesen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Natürlich war es praktisch für ihn, eine Haushaltshilfe zu haben, die rund um die Uhr verfügbar war und auch im Haus wohnte. Aber er wollte sich auch so mit Daniel gut verstehen und ihm helfen. Echt unfassbar, was für ein Psycho mein Onkel war, dachte er sich und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es in ihm brodelte. Der hat Glück, dass er tot ist. Sonst hätte ich ihm den Hals umgedreht.

Ein neues Leben

Daniel konnte sein Glück immer noch nicht fassen und grinste regelrecht, während er damit beschäftigt war, die ganzen Akten nach unten zu bringen. Das machte er natürlich nicht selbst. Er nutzte einfach seine telekinetischen Kräfte, die er, gleich nachdem Sunny die Villa verlassen hatte, zum Einsatz gebracht hatte. Auch Orobas hatte ihm dazu angeraten, da es wichtig war, dass er immer in Übung blieb und jederzeit volle Kontrolle bewahren konnte. Damals, als Daniel im Alter von acht Jahren gelernt hatte, seine Kraft gezielt einzusetzen und sie nicht immer nur unbewusst ausbrechen zu lassen, war er gerade mal in der Lage gewesen, einen einzigen Gegenstand zu bewegen und das auch nur innerhalb seines Sichtfeldes. Es hatte unglaublich viel Konzentration erfordert und sonderlich gut hatte er seine Fähigkeiten auch nicht im Griff gehabt. Gläser, die er bewegen wollte, waren zersprungen, dann hatte er die Flugbahn nicht mehr unter Kontrolle gehabt und es waren Gegenstände quer durch die Luft geschossen. Aber inzwischen konnte er problemlos mehr als 50 Gegenstände gleichzeitig bewegen und das auch außerhalb seines Sichtfeldes. Er hatte im Laufe der Jahre ein besonderes Gespür entwickelt. Eine Art zusätzlicher Sinn, der es ihm erlaubte, sein Umfeld auf geistiger Ebene genauso deutlich wahrzunehmen, als würde er es sehen. Er sah es quasi vor seinem geistigen Auge und hatte sogar gelernt, sich auch darüber zu orientieren, sodass er auch schon mal blind durchs Haus laufen konnte, ohne sich irgendwo zu stoßen oder zu verlaufen. Auch das war Teil des Trainings gewesen, welches Orobas ihm unterzogen hatte. Und inzwischen konnte er innerhalb der Villa wirklich alles bewegen, was er wollte. Der schwarze Kater betrachtete aufmerksam und mit prüfendem Blick das Schauspiel. „Du beherrschst deine Fähigkeiten inzwischen fast perfekt, Daniel. Ich hatte selten einen Schüler wie dich. Aber du siehst: die tägliche Übung ist entscheidend.“ Ja, da hatte Orobas nicht ganz unrecht und wenn Daniel ehrlich war, dann liebte er diese Spielerei mit seinen Fähigkeiten. Es erforderte schon fast keine Konzentration mehr von ihm und ging ihm so leicht von der Hand, dass die Telekinese inzwischen keine Konzentration, sondern eine Art Spiel für ihn geworden war. Meist, wenn er im Keller eingesperrt worden war, nachdem Malcolm ihn wieder erwischt hatte, da hatte er mit seinen Murmeln geübt. Sie waren klein, ließen sich leicht steuern und sie ließen sich vor allem leicht verstecken. Diese hatte Orobas ihm mitgebracht, damit er üben konnte. Seitdem waren diese Murmeln Daniels wichtigster Besitz, gleich neben der Fliegerbrille, die er meist getragen hatte, wenn er seine Übungen machte, denn nicht selten war es passiert, dass die Gegenstände plötzlich auf ihn zugeflogen kamen. Malcolm hatte ihm oft genug gesagt, er dürfe seine Kräfte nicht einsetzen und ihn jedes Mal verprügelt, wenn er ihn dabei erwischt hatte. Doch Orobas hatte ihn gewarnt, dass es gefährlicher war, wenn er sie nicht zu kontrollieren lernte.
 

Schlimmstenfalls könnte wieder jemand zu Schaden kommen.
 

Nach und nach schwebten die Ordner in Reih und Glied in den Keller, während Daniel sich nun den Regalen widmete. Hier musste er schon deutlich mehr Konzentration aufwenden. Er schloss die Augen und visierte die Schrauben an, die das Regal zusammenhielten. Schrauben zu lösen oder Maschinen auseinander zu nehmen, war da deutlich kniffliger, weil es auf so vieles Acht zu geben galt. Es gab so viele winzige Einzelteile, die alles doch recht unübersichtlich machten und so war es schwierig zu erkennen, wie er da am besten rangehen sollte. Deswegen traute er sich manchmal nicht wirklich, an technischen Objekten zu arbeiten, aber so wie er Orobas kannte, würde dieser ihn auch darin unterweisen und nicht locker lassen.

Daniel sah das Bild der Schrauben direkt vor sich und um den Vorgang zu erleichtern, begann er seine Hand langsam zu drehen, woraufhin sich auch die Schrauben bewegten. Nach und nach lösten sich die Schrauben und wanderten zu dem Tisch nicht weit entfernt. Die Regalbretter selbst stapelten sich im Anschluss übereinander und folgten den Ordnern in den Keller. „Beim nächsten Mal versuchst du es ohne Handbewegung“, hörte er Orobas und seufzte. „Schrauben zu drehen ist nicht einfach, wenn ich dabei noch das Regal stabil halten und die Ordner bewegen muss.“

„Manchmal erstaunt ihr Menschen mich wirklich. Ihr behauptet immer, so viele Dinge gleichzeitig tun zu können und letztendlich seid ihr mit solchen Nichtigkeiten überfordert. Wenn es dir solche Schwierigkeiten bereitet, ein Regal auseinanderzuschrauben, dann weißt du, was du in Zukunft zu tun haben wirst.“
 

Nachdem alle Sachen im Keller verstaut waren, nahm sich Daniel das Schlafzimmer vor und begann dort die Kissen, Decken, die Matratze und Malcolms Kleidung ebenfalls nach unten in den Keller zu bringen, während er die wenigen Habseligkeiten, die er besaß, nach oben holte. „Warum muss ich eigentlich immer noch üben, Orobas? Ich meine, ich beherrsche meine Fähigkeiten doch ganz gut. Ich kann Dinge bewegen, die nicht mal in meinem Sichtfeld sind und dann auch noch alle gleichzeitig. Ja ich kann sogar ein ganzes Menü kochen, ohne auch nur ein einziges Mal Hand anlegen zu müssen. Und dennoch muss ich weiterüben…“ Daniel setzte sich auf den Bürostuhl und Orobas kletterte seinerseits auf den Tisch, wo er sich niederließ und seinen menschlichen Freund anschaute. „Weil Menschen wie du niemals damit aufhören dürfen. Denn seine Gabe einzusetzen, erfordert mentale Stärke. Wenn sie nicht vorhanden ist und man nicht weiterhin hart an ihr arbeitet, dann ist man anfällig.“

„Anfällig wofür?“ fragte Daniel verwirrt.

„Anfällig für Kontrollverluste. Es gibt Menschen, die mit einem unglaublich großen Potential geboren werden. Der mentalen Kraft der Kinese sind keine physischen Grenzen gesetzt, also könntest du sogar ganze Flugzeugträger bewegen. Im absoluten Ausnahmefall würden deine Kräfte sogar so weit gehen, die Naturgesetze dieser Welt auszuhebeln und damit das Chaos heraufzubeschwören. Eine, wie ihr Menschen sagen würdet, göttliche Macht. Aber sie hat auch ihren Preis. Denn diese Macht einzusetzen bedeutet auch eine enorme psychische Belastung. Wenn du nicht hart an dir arbeitest, könnte es dazu führen, dass du mentale Schäden erleidest. Im allerschlimmsten Fall sogar körperliche.“ Davon hörte Daniel zum allerersten Mal, dass seine Kräfte sogar körperliche Schäden anrichten konnten. Und irgendwie wurde ihm ganz anders bei dem Gedanken. Der Kater begann sich hinterm Ohr zu kratzen und fügte hinzu „Ich habe solche Fälle schon miterlebt. Tragische Fälle von Begabten, die ihre psychischen Belastungsgrenzen überschritten hatten und ein Bild der Zerstörung hinterlassen hatten, bevor sie dem Wahnsinn verfielen oder starben. Stell dir das Ganze wie ein Tropfen vor, der ins Wasser fällt. Was glaubst du, was dabei passiert?“ „Das Wasser beginnt Wellen zu schlagen“, antwortete Daniel und war gespannt, worauf Orobas hinauswollte. Doch der Kater streckte sich erst einmal, bevor er seine Erklärung weiter ausführte. „Und so funktioniert es auch ungefähr mit deinem Körper. Deine telekinetischen Kräfte lösen gewissermaßen einen Rückstoß aus, der insbesondere in deinem Kopf ausgelöst wird. Deshalb hattest du zu Anfang deines Trainings auch sehr oft Kopfschmerzen. Wenn die Belastung also zu viel wird und du mental nicht stark genug bist, um deine Kräfte unter Kontrolle zu halten, kann es dazu führen, dass diese Belastung auf deinen Körper niederschlägt. Schlimmstenfalls würde es deinen Tod bedeuten.“

Bei diesen Worten gefror Daniel das Blut in den Adern. Er konnte sterben, wenn er die Kontrolle verlor? Allein der Gedanke jagte ihm Angst ein und als Orobas sah, wie diese Nachricht seinen Schüler erschreckte, sprang er auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn. „Keine Sorge, Daniel. Dafür wurde ich ja zu dir geschickt. Nämlich, damit das nicht passiert. Und deshalb ist es wichtig, dass du nie aufhörst, an dir zu arbeiten.“ Diese Worte bauten den 19-jährigen wieder etwas auf und mit einem etwas nachdenklichen Lächeln begann er Orobas den Nacken zu kraulen, woraufhin dieser ein leises Schnurren vernehmen ließ. Zu wissen, dass der Kater ihm helfen wollte und ihn auch nicht alleine ließ, beruhigte ihn ungemein. Aber auch sonst war er froh darüber, wie sich das Ganze hier momentan entwickelte. Er war überglücklich, dass sein neuer Arbeitgeber so nett war, ihm ein richtiges Zimmer gab und sogar ein Bett für ihn organisierte. So etwas war ihm noch nie passiert. „Weißt du Orobas, Sunny ist wirklich viel netter als Malcolm. Ehrlich gesagt bin ich sehr froh drum, dass er jetzt hier wohnt. Aber sag mal … ist Malcolm wirklich an einem normalen Herzinfarkt gestorben?“ Daniel stellte diese Frage nicht grundlos, denn Orobas hatte schon mal verlauten lassen, dass Malcolms Terror nicht mehr lange anhalten würde. Und darum konnte er auch nicht wirklich ausschließen, dass sein rätselhafter Freund vielleicht etwas mit diesem dritten Herzinfarkt zu tun hatte. Dann aber sprang der Kater auf den Boden und durchwanderte den Raum. „Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun, aber ich weiß eben so einige Dinge. Außerdem müsstest du doch wissen, dass Tiere ein ganz anderes Gespür haben als Menschen.“ Das stimmte zwar, aber Daniel hatte so seine Zweifel, dass Orobas überhaupt ein Tier war. Aber er entschloss sich, an dieser Stelle das Thema erst mal zu beenden.
 

Es klingelte schließlich an der Haustür und so erhob sich Daniel und ging runter, um zu öffnen. Zu seiner Überraschung waren es aber nicht Sunnys Eltern, wie er vermutet hatte, sondern der Student selbst. Da war er aber schnell wieder zurück. Oder war die Zeit etwa so schnell vergangen? „Ich hatte Glück, die hatten im Fachgeschäft alles, was ich brauchte. Nimmst du die mal bitte?“ Damit reichte er ihm die Matratzen, die noch zusammengerollt in einer Vakuumverpackung waren und die dem Studenten etwas zu sperrig waren. Im Anschluss holte er noch die Decken und Kissen und im Anschluss noch das Bett, was noch zusammengeschraubt werden musste. „Dann lass uns den Kram schon mal nach oben bringen. Danach helfe ich dir mit den Akten.“ Nach und nach schleppten sie alles hoch und steuerten direkt das Zimmer an, welches Daniel ausgeräumt hatte. Sunny, der noch nicht ganz so lange weg war, staunte dementsprechend nicht schlecht, als er sah, dass sämtliche Ordner weggeräumt und auch die Regale längst unten im Keller verstaut waren. Er hätte ja damit gerechnet, dass die Ordner schon weg waren, aber dass auch schon die Regale auseinandergebaut und nach unten gebracht worden waren, machte ihn sprachlos. Vor allem als er sah, dass Daniel auch schon seine ganzen Habseligkeiten hochgebracht hatte. „Mensch, das ging ja schnell“, bemerkte der Student mit deutlicher Bewunderung in der Stimme. „Wenn das hier auch noch so schnell geht, dann haben wir eigentlich soweit alles fertig. Ich…“ Hier zupfte Daniel an seinem Ärmel und machte Gesten, als wollte er irgendetwas sagen. Da im Raum weder Zettel noch Stift vorhanden waren, improvisierte Sunny kurzerhand und gab ihm sein Smartphone, damit der 19-jährige es ihm schreiben konnte. Doch da er offenbar mit der Bedienung eines Handys ziemlich überfordert war, zeigte es der Literaturstudent ihm und so teilte Daniel ihm via Handy mit „Ich mach das hier schon. Ich hab übrigens auch schon das Schlafzimmer soweit geräumt.“ Sunny starrte seinen Angestellten ungläubig an, so als würde er sich gerade veräppelt vorkommen. Aber dann ging er selber nachsehen, um sich zu vergewissern, dass das auch wirklich stimmte. Und tatsächlich: der Kleiderschrank war leergeräumt und auch die Decke und die Matratze waren weg. Der Student stand in diesem Moment echt vor einem Rätsel. Wie schnell arbeitete der Kerl denn bitte? Zwei Regale mit zig schweren Ordnern, eine große Ehebettmatratze, Klamotten und Decke und Kissen runtergebracht, nebenbei noch die eigenen Habseligkeiten nach oben gebracht und das in gerade mal eineinhalb Stunden und dann wirkte er noch nicht einmal sonderlich außer Atem. Der arbeitete ja für drei Leute. „Alter Verwalter“, murmelte Sunny als er das sah und wandte sich an Daniel, der ihm gefolgt war. „Wie schnell arbeitest du? Das ist ja der Hammer.“ Und dieses Kompliment machte den 19-jährigen so glücklich, dass er nicht mehr an sich halten konnte und Sunny stürmisch umarmte. In dem Moment vergaß er komplett, dass sie sich vorhin erst wirklich kennen gelernt hatten und Sunny ja streng genommen sein Chef war. Der Student war selbst erst völlig überrumpelt von dieser Umarmung und erschrak ziemlich, aber komischerweise störte es ihn auch wirklich nicht. Nein, eher im Gegenteil. Es freute ihn, dass Daniel seine Scheu vor ihm inzwischen so weit überwunden hatte, dass er ihn umarmte. Da konnte er auch nicht anders, als zu schmunzeln und ihm auf den Rücken zu klopfen. „Schon gut, Daniel. Schon gut…“ Doch der 19-jährige war nicht mehr zu bremsen. Und wie Sunny schon vermutet hatte, war sein Mitbewohner einer von der recht direkten Sorte, die ohne groß nachzudenken einfach ihren Gefühlen Ausdruck verliehen und dann auch einfach mal eine Umarmung springen ließen. Zwar war Sunny jetzt nicht direkt der Schmusetyp, aber bei Daniel war es irgendwie anders. Vielleicht weil er so etwas Ehrliches und Unschuldiges ausstrahlte.
 

Knapp eine Stunde später trafen Sunnys Eltern ein. Wie angekündigt brachten sie ein paar Umzugskartons vorbei und grüßten dabei auch Daniel auf eine sehr freundliche Art und Weise. Der 19-jährige lächelte etwas scheu und erwiderte den Händedruck. Der Student räusperte sich und stellte sie einander vor. „Mum, Dad… das ist Daniel. Er hat vorher für Onkel Malcolm als Haushaltshilfe gearbeitet. Daniel, das sind meine Eltern.“ Der Schweigsame nickte ihnen noch mal zum Gruß zu, woraufhin Sunny erklärte, dass Daniel nicht sprechen konnte. Dieser führte sie ins Wohnzimmer und erhielt sogleich die Bitte, Kaffee zu kochen. Der Aufforderung kam er natürlich sofort nach und ging in die Küche, während er auf telekinetischem Wege die Umzugskartons nach oben brachte, damit das auch schon mal erledigt war. Er spürte, wie sein Herz vor Aufregung raste und er nervös wurde. Man hatte Sunnys Mutter sofort die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder angesehen und ihm war, als würde er wieder Malcolms Gesicht sehen. Und in seinem Kopf hörte er wieder diese Worte, die dieser zu ihm gesagt hatte: „Wag es nie wieder, deine Kraft einzusetzen, du Missgeburt! Sonst bring ich dich um.“

Ein lautes Klirren ertönte und erschrocken zuckte Daniel zusammen, als er sah, dass ein Glas zu Bruch gegangen war. Verdammt, er hatte es versehentlich zerspringen lassen. Das war ihm schon seit Monaten nicht mehr passiert. Schnell ließ er den Scherbenhaufen in den Müll wandern und er hoffte, dass Orobas das nicht mitbekommen hatte. Doch da war es schon zu spät. Er lauerte bereits an der Tür und hatte alles mitbekommen. „Du lässt dich von deiner Angst beherrschen, Daniel. Wenn du deine Gefühle nicht unter Kontrolle hast, könnte es noch gefährlich werden.“ „Es war ein Unfall“, rief der 19-jährige und setzte das Wasser auf. „Mrs. Lane sah Malcolm so ähnlich, da hab ich mich eben etwas erschreckt, das ist alles.“ Die Wunden waren einfach noch sehr frisch. Es war erst vorgestern her gewesen, dass Malcolm ihn dabei erwischt hatte, wie er im Keller eingesperrt seinen Übungen nachging. Er war daraufhin so heftig ausgerastet, dass er ihm die Hände auf den Rücken gefesselt und dann auf ihn eingeprügelt und –getreten hatte. Daniel hatte wirklich geglaubt gehabt, Malcolm würde seine Drohung dieses Mal wahr machen und ihn umbringen würde. Er hatte einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen und war daraufhin ohnmächtig geworden. Und als er wieder aufgewacht war, da war Malcolm wieder gegangen und er hatte sich gefragt, was ihn davon abgehalten hatte, ihn einfach umzubringen. „Orobas… weißt du, warum er mich nicht einfach totgeprügelt hat, wie er es eigentlich vorgehabt hatte?“ Der Kater kam nun zu ihm und schmiegte sich an sein Bein, um ihn von seinen Gedanken an Malcolm abzulenken. „Er hat sich wohl noch an das Versprechen erinnert, welches er deiner Mutter damals gegeben hat. Auch wenn er dich gehasst und verachtet hat, diesen einen Schwur hat er nie vergessen.“ Das Versprechen… ja, daran konnte er sich noch erinnern. Seine Mutter hatte Malcolm damals das Versprechen abgenommen, dass er sich um ihren Sohn kümmern würde, wenn sie sterben sollte. Aber wirklich von kümmern war seitdem nie die Rede gewesen. Nun gut, Daniel hatte Privatunterricht bekommen, aber ansonsten war er hier immer nur am Arbeiten gewesen und durfte das Haus niemals verlassen. Immerhin war er eine potentielle Gefahr für andere. Das wusste er ja selbst und er hatte sich auch immer wieder eingeredet, dass Malcolm dies zu seinem Schutz tat. Aber manchmal war sich Daniel nicht ganz sicher gewesen, ob das wirklich der Grund war, oder ob Malcolm ihn nur deshalb am Leben gelassen hatte, weil er seine Wut an ihm auslassen wollte. Womöglich gab er auch ihm die Schuld für das, was damals gewesen war. Orobas hatte zwar gesagt, dass er keinerlei Schuldgefühle haben musste, weil er nie etwas Falsches getan hatte, aber manchmal plagten ihn doch so leise Zweifel.
 

Nachdem der Kaffee fertig war, stellte Daniel die Thermoskanne, Milch und Zucker, das Geschirr und etwas Gebäck auf das Tablett und ging damit ins Wohnzimmer. Wenn er ehrlich war, hatte er Angst davor, wieder auf Sunnys Eltern zu treffen. Was, wenn sie ihn mit Fragen löchern wollten und dementsprechend eine Antwort von ihm verlangten? Nun, dann musste er sich dementsprechend etwas einfallen lassen. Aber er hatte irgendwie das Gefühl, Sunny vertrauen zu können. Er war sympathisch, freundlich aber auch ein wenig schreckhaft. Das machte ihn auf eine schräge Art und Weise sogar irgendwie niedlich. Er war eigentlich genau das Gegenteil zu Malcolm und hatte sogar seine Wunden versorgt, was ja auch dafür sprach, dass er keine Angst vor ihm haben musste. Während Daniel so seinen Gedanken nachging, goss er jedem der Anwesenden eine Tasse Kaffee ein und nahm schließlich selbst Platz, denn nun kam Sunny nämlich auf das Wichtigste zu sprechen. Er erzählte seinen Eltern, dass Daniel als Haushaltshilfe in der Villa arbeitete und bisher nie bezahlt wurde und im Keller leben musste. Sein Vater Richard schaute seine Frau Cora an und schüttelte den Kopf. „Dein Bruder…“, murmelte er nur und sagte nichts weiter dazu, aber man sah ihm an, dass er sich innerlich wieder mal über seinen jüngst verstorbenen Schwager ärgerte. Es hatte zwischen ihnen ziemlich heftige Streitereien gegeben, insbesondere als Malcolm vor zwei Jahren die Beherrschung verloren und seine jüngere Zwillingsschwester ins Gesicht geschlagen hatte. Hätte Cora ihn nicht davon abgehalten, dann hätte Richard Lane ihn persönlich angezeigt und dafür gesorgt, dass er dafür bezahlen würde. Seitdem war das Verhältnis extrem angespannt gewesen und auch Sunny hatte seinem Onkel den Schlag ins Gesicht nicht verzeihen können. Es war für ihn sowieso unvorstellbar gewesen, wie man nur so drauf sein konnte, eine Frau ins Gesicht zu schlagen. Nun aber wandte sich der gebürtige Rechtsanwalt dem 19-jährigen zu und fragte „Seit wann arbeitest du hier?“ Nun stand Daniel vor der großen Frage, was er antworten sollte. Er wusste nämlich, dass es so manche Dinge gab, die vielleicht zum Problem werden konnten, wenn er alles auspackte. Hilfesuchend wandte er sich an Orobas, der ihm riet „Erzähl es ihnen ruhig. Was soll denn schon passieren?“ Nun, eigentlich hatte er Recht und so nahm Daniel all seinen Mut zusammen. Er stand kurz auf und holte aus einem Schrank einen Kugelschreiber und genügend Papier. Damit kam er wieder zurück und begann zu schreiben. Auf diese Weise teilte er mit, dass er schon im Alter von sechs Jahren hergekommen war, zusammen mit seiner Mutter. Nach ihrem Tod vor knapp zwölf Jahren hatte sich Malcolm um ihn gekümmert und ab diesem Zeitpunkt hatte er angefangen, als Hilfskraft im Haushalt zu arbeiten, bis er schließlich sämtliche Arbeiten übernommen hatte und da war er 13 Jahre alt gewesen. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er auch im Keller gelebt und das Haus so gut wie nie verlassen. Außer Kleidung, Unterkunft und Verpflegung hatte er nie eigenes Geld verdient. Nachdem Sunny die Zeilen laut vorgelesen hatte, wurden unsichere Blicke ausgetauscht. Keiner wusste so wirklich, was er davon halten sollte und so fragte Cora nach einer Weile „Bist du ein Verwandter meines Bruders?“ Sofort schüttelte Daniel den Kopf und schrieb, dass seine Mutter ihn erst später kennen gelernt hatte und von Verwandtschaft nie die Rede gewesen war.

„Und was ist mit deiner Mutter passiert?“

Hier ließ Daniel nur ein Schulterzucken vernehmen, auch wenn das gelogen war. Aber er wollte die Wahrheit nicht sagen. Er hatte Angst vor dem, was sonst passieren könnte. Doch irgendwie war ihm, als würde Sunny sehen, dass das nicht ganz die Wahrheit war. Aber seltsamerweise fragte dieser gar nicht weiter nach, sondern beließ es einfach dabei. Genauso wie auch seine Eltern nicht nachfragten. Stattdessen wurde Daniel gefragt, ob er eine Familie habe, woraufhin er den Kopf schüttelte. Das war die letzte Frage bezüglich seiner Familie und so kamen sie auf das eigentliche Thema zu sprechen, worum es ging. „Dad, ich wollte einen Arbeitsvertrag machen und ich dachte, du könntest mir dabei helfen. Du hast ja schon oft mit Arbeitsrecht und Verträgen zu tun gehabt, oder?“ Richard Lane hob etwas erstaunt die Augenbrauen und fragte „Du willst ihn einstellen?“ Der Student nickte und erklärte „Ich krieg den Haushalt sowieso nicht vernünftig hin und die Villa ist riesig. Da bin ich den ganzen Tag beschäftigt. Aber so wie ich das hier gesehen habe, arbeitet Daniel sehr gründlich und schnell und während ich mich auf mein Studium und auf das Schreiben konzentrieren kann, erledigt er hier die ganze Arbeit. Ich habe ihm auch schon ein neues Zimmer gegeben. Was mich interessieren würde wäre, was alles in einen solchen Vertrag rein muss, was es alles zu beachten gilt und wie viel Lohn angemessen ist. Außerdem würde ich gerne wissen, ob ich irgendwelche Nachzahlungen leisten muss.“ Daniel hörte das alles, fühlte sich aber in dem Moment ziemlich überrollt von so vielen Dingen. Er hatte noch nie mit einem Vertrag zu tun gehabt, insbesondere nicht mit einem Arbeitsvertrag und so wusste er auch nicht, wie solch einer aussah. Auch hatte er selbst keine Vorstellungen, was ihm an Lohn zustand. Vor allem, weil es ja ein Problem gab: er hatte ja nicht einmal ein Konto. Zwar hatte er Papiere und einen Personalausweis, aber ansonsten überhaupt nichts. Wie denn auch, wenn er die meiste Zeit im Haus gewesen war, weil Malcolm ihm verboten hatte, nach draußen zu gehen? In diesem Moment erschien es ihm so, als würde alles, was er versäumt hatte, mit einem Mal über ihn hereinbrechen. Doch zu seiner Erleichterung war Richard sehr zuvorkommend und freundlich und versprach ihnen, den Arbeitsvertrag zu schreiben. Sie machten eine Urlaubszeit von 30 Tagen aus, da Daniel ja eine ganz andere Arbeitszeit hätte als in anderen Jobs und es wurde schließlich ein Lohn von 1.400 $ ausgemacht. Ursprünglich sollten es 2.500 $ sein, aber da Daniel ja im Haus als Mieter lebte und auch die Verpflegungskosten übernommen wurden, reduzierte sich dies dementsprechend. Daniel, der noch nie eigenes Geld verdient hatte, starrte die Familie Lane ungläubig an und ihm klappte die Kinnlade herunter, als er realisierte, wie viel Geld das eigentlich war.

„Und da er jahrelang unentgeltlich gearbeitet hat“, fügte Richard Lane noch hinzu, „steht ihm eine Entschädigungssumme zu, solange er nachweisen kann, seit wann er hier arbeitet. In dem Fall könnte er es sogar rechtlich einklagen.“ „Dad!“ rief Sunny sofort. „Willst du etwa, dass er mich vor Gericht bringt, oder was willst du damit andeuten?“ Daniel, der noch nie in seinem Leben mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, geschweige denn jemals vor Gericht gestanden oder irgendetwas eingeklagt hatte, begann wild abwehrende Gesten mit den Händen zu machen und mit dem Kopf zu schütteln, um auf diese Weise zu signalisieren, dass er kein Interesse daran hatte, so etwas zu tun. So wurde sich darauf geeinigt, dass eine außergerichtliche Einigung getroffen und somit 16.000$ nachgezahlt wurden. Am liebsten hätte der 19-jährige darauf verzichtet, denn er wollte niemandem das Geld aus der Tasche ziehen. Vor allem da Sunny so nett war und ihm erlaubt hatte, in der Villa zu wohnen. Aber wenn er bedachte, was er alles brauchte… Seine Sachen waren größtenteils abgenutzt und kaputt, er brauchte Möbel für sein Zimmer und auch wenn er ein sehr genügsamer Mensch war, er hatte auch gewisse Wünsche. Außerdem würde er wohl bald vieles mehr brauchen, jetzt da sich sein Leben durch Sunny immer mehr zu verändern begann. Er würde ein Bankkonto eröffnen müssen, wahrscheinlich noch eine Krankenversicherung benötigen und noch so einige andere Dinge.

Das war ziemlich viel auf einmal und überforderte ihn auch erst mal ziemlich, doch er wollte auch nicht davor weglaufen. Immerhin war dies seine große Chance, sich endlich ein eigenes Leben aufzubauen, nachdem Malcolm ihn nicht mehr länger einsperren konnte. Von nun an würde alles anders laufen und er freute sich auch darauf. Vor allem, weil er jetzt mit Sunny hier in der Villa wohnen würde.

Irgendwie hatte er das Gefühl, als würde sein Leben jetzt erst richtig anfangen.
 

Nachdem sich das Ehepaar Lane wieder verabschiedet hatte, umarmte Daniel Sunny stürmisch und grinste fröhlich. Erschrocken zuckte der Student über diesen plötzlichen Überfall heftig zusammen, denn obwohl dies nicht das erste Mal war, so kam es doch recht unerwartet für ihn. „Mensch, Daniel“, rief er, nachdem er sich von dem Schreck erholt hatte. „Kannst du mich nicht das nächste Mal vorwarnen? Ich krieg hier noch einen Herzkasper…“ Doch als er das überglückliche Strahlen im Gesicht des 19-jährigen sah, der ihn so herzlich umarmte wie einen engen Freund, da konnte er ihm einfach nicht böse sein. „Oh Mann… du bist aber auch einer von der anhänglichen Sorte, wie?“ Daniel sagte selbst jetzt nichts, sondern umarmte ihn noch fester. Und ihn so glücklich zu sehen, machte auch Sunny zufrieden. „Ich glaube, wir beide werden uns noch ganz gut verstehen.“

Erwachte Gefühle

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Einzugsparty

Am nächsten Morgen wachte Sunny etwas spät auf und hatte die Erinnerungen an diesen Traum fast vollständig verdrängt. Als er runter in die Küche ging, hatte Daniel schon Kaffee gekocht und die Zeitung geholt. Gut gelaunt begrüßte er den Studenten mit einer Umarmung und teilte ihm mittels Notiz mit, dass er noch seine Wünsche fürs Frühstück brauchte. Im Anschluss würde er es dann ins Wohnzimmer bringen. Nach kurzer Überlegung fragte Sunny „Kannst du Rührei machen?“ Sofort nickte der 19-jährige und schrieb auf den Notizblock, dass er ihm gleich Rührei mit Speck und auch einen Kaffee bringen würde. Damit ging Sunny ins Wohnzimmer und streckte sich müde. Es war irgendwie ungewohnt, am Morgen ein Frühstück serviert zu bekommen, aber das gehörte wohl zu Daniels Aufgaben dazu. Neugierig sah sich Sunny ein wenig im Wohnzimmer um, welches er noch nicht so genau unter die Lupe genommen hatte. Aber viel gab es hier nicht. Es gab hier nicht mal einen Fernseher und er setzte im Geiste seiner Liste noch etwas hinzu, das er auf jeden Fall organisieren musste. Na zumindest waren die Möbel hier antik und waren auch in einem sehr guten Zustand. Man sah sofort, dass sie regelmäßig mit irgendwelchen Mitteln behandelt wurden, um zu glänzen und Abnutzungserscheinungen vorzubeugen. Und nirgendwo fand sich ein winziges Staubkorn. Wirklich alles war sauber poliert, wobei er sich ernsthaft fragte, wie Daniel an die Lampen an der Decke hochkommen wollte, denn die lagen verdammt hoch. Da brauchte man schon eine Leiter, um da ranzukommen. Während er so durch den Raum ging, entdeckte er auf dem Kaminsims eingerahmte Fotos. Sie zeigten einen jungen Mann von knapp höchstens Mitte 30 und neben ihm eine Frau, die noch mal etwas jünger wirkte. Sie hatte rotbraunes lockiges Haar und ein fröhliches Lächeln auf den Lippen. An der Hand hielt sie ein Kind. Es war ein Junge, doch hatte man sein Gesicht einfach ausgebrannt und damit unkenntlich gemacht. Wenn Sunny nicht alles täuschte, musste der Mann auf dem Bild sein Onkel Malcolm sein. Nur wirkte er nicht so griesgrämig und hasserfüllt wie er ihn in Erinnerung hatte. Nein, er schien glücklich zu sein. Ein sehr befremdlicher Anblick, insbesondere wenn man bedachte, was für ein gewalttätiger und bösartiger Mensch er gewesen war. Und wer war die Frau auf dem Bild? Seine Frau konnte es jedenfalls nicht sein, denn Malcolm hatte nie geheiratet und das Kind auf dem Bild konnte damit auch nicht sein Sohn sein. Wie denn auch, wenn er zeugungsunfähig gewesen war? Und seine Schwester Audrey war es nicht, die sah erstens anders aus und zweitens war sie seine Zwillingsschwester und damit im selben Alter. Die Frau auf dem Foto war da etwas jünger. Sunny nahm das Bild vom Kaminsims herunter und sah es sich genauer an. Diese lockigen rotbraunen Haare, das fröhliche und ehrliche Lächeln… gewisse Ähnlichkeiten mit Daniel waren schon vorhanden. Ob das vielleicht seine Mutter war? Nun, das würde vielleicht erklären, warum das Gesicht des Kindes ausgebrannt worden war, sodass nur noch ein Loch zu sehen war. Und das brachte den Studenten zu einer Frage: was hatte Daniels Mutter mit Malcolm zu schaffen gehabt und wieso hasste er Daniel so abgrundtief, dass er ihn sogar vom Foto entfernt hatte? Auch auf den anderen Fotos war wieder diese Frau zu sehen und der Junge auf den Fotos war unkenntlich gemacht worden. Und dann fand er noch etwas: eine Todesanzeige, die ebenfalls eingerahmt worden war. Die Person in der Todesanzeige hieß „Jessica Ronove“. Also war das tatsächlich Daniels Mutter. Sogar die Namen der Trauernden waren vermerkt: Charles & Helen Ronove (geb. Stepford), Desdemona Ronove, Tessa Ronove, Daniel und dann zu guter letzt… Malcolm T. Wilson.
 

Sunny hörte, wie die Tür aufging und sah auch schon, wie Daniel mit dem Tablett hereinkam. Als er dieses auf den Tisch gestellt hatte, rief er den 19-jährigen zu sich. „Sag mal Daniel, ich hab hier diese ganzen Fotos und diese Todesanzeige gefunden. Diese Jessica Ronove… ist sie deine Mutter?“ Man sah deutlich, dass da irgendetwas war, das Daniel unter keinen Umständen erzählen wollte. Irgendein Geheimnis, welches er für sich behalten hatte und welches ihm dennoch zu schaffen machte. Ihm war anzumerken, dass er nicht über seine Familie sprechen wollte. Dennoch wollte Sunny es wissen. „Wer sind denn die anderen Namen hier?“ Nach einigem Zögern begann Daniel zu schreiben und antwortete, dass Charles und Helen seine Großeltern, Desdemona seine Tante und Tessa deren Tochter war. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu, dass sie alle tot seien. „Oh“, murmelte der Student und legte die Todesanzeige zurück. „Das tut mir leid. Aber sag mal… was genau war denn mit deiner Mutter? Sie ist auf ziemlich vielen Fotos mit meinem Onkel zu sehen. Kann es sein, dass die beiden irgendwie ein Verhältnis gehabt hatten?“ Daniel wandte den Blick ab und reagierte nicht auf die Frage. „Hey“, sagte Sunny und legte eine Hand auf die Schulter des 19-jährigen. „Es ist schon okay. Ich werde doch deswegen nicht schlechter von dir denken.“ Doch Daniel schüttelte nur den Kopf und ging. Irgendwie schien er überhaupt nicht über seine Familie sprechen zu wollen. Aus welchem Grund auch immer. Naja… vielleicht stammte er ja auch nicht aus den besten Verhältnissen, das war ja auch möglich und da konnte er schon verstehen, wenn Daniel nicht darüber sprechen wollte. Er redete ja auch nicht gerne über seinen Onkel. Jessica Ronove… vielleicht konnte er ja im Internet etwas herausfinden, denn in der Anzeige war nichts über die Todesumstände zu lesen. Aber ihn ließ einfach nicht die Tatsache los, dass Daniels Mutter auf den Fotos mit Malcolm zu sehen war. Sie wirkten beide so vertraut miteinander, dass man wirklich meinen konnte, dass die beiden vielleicht tatsächlich ein Verhältnis gehabt hatten. Sunny dachte zurück und war sich sicher, dass dies vielleicht der Grund dafür war, dass sein Onkel so ein Menschenhasser geworden war. Womöglich hatte er den Verlust nicht verkraftet. So etwas gab es ja. Aber wieso dann der Hass auf Daniel? War es vielleicht, weil er ihn als Störenfried ansah, weil er seine geliebte Jessica nicht für sich allein haben würde und sie sich in erster Linie immer zuerst für ihren Sohn entschieden hatte? Nun, das war jedenfalls möglich. Aber ihn ließ einfach das Gefühl nicht los, als wäre da noch etwas, was dahintersteckte. Ob die Mutter bei einem Unfall starb und Daniel irgendwie darin verwickelt gewesen war? Womöglich war sie aber auch gestorben, als sie ihren Sohn retten wollte. Ach was, jetzt ging wieder die Schriftstellerfantasie mit ihm durch.

Nach dem Frühstück ging Sunny ins Bad und genehmigte sich eine heiße Dusche. Im Anschluss fuhr er zusammen mit Daniel los, um die Einkäufe für die Party zu erledigen. Alles lief rund und Daniel erwies sich als wirklich große Hilfe beim Schleppen der Einkaufstüten. Als sie aber zum Getränkemarkt fuhren, da wurde Sunny das Gefühl nicht los, dass sie verfolgt wurden. Ein staubgrauer Mercedes fuhr ihnen schon die ganze Zeit hinterher und zuerst hatte Sunny ja noch angenommen, dass es nur Zufall war und er sich vielleicht etwas einbildete. Aber es war eindeutig das gleiche Nummernschild, nur dummerweise konnte er nicht genau erkennen, wer da hinterm Steuer saß. Die Person trug eine Sonnenbrille und hatte eine Kapuze auf. Aber um ganz sicher zu gehen, dass er sich nicht irrte, fuhr er nach rechts in eine kleine Seitenstraße. Und tatsächlich: der Mercedes folgte ihnen. Was sollte das? Wieso folgte der Mercedes ihnen denn?

Schließlich erreichten sie den Getränkemarkt und stellten den Wagen auf dem Parkplatz ab. Statt aber reinzugehen, steuerte Sunny direkt den Mercedes ab, der nicht weit von ihnen entfernt parkte. Er wollte den Kerl sprechen, der sie verfolgte und herausfinden, was das zu bedeuten hatte. „Hey, Sie da!“ rief er. „Wieso…“ Er sprach nicht weiter, als er sah, dass der Wagen leer war. Was zum Teufel sollte das? Er hatte doch gerade noch gesehen, dass da jemand im Wagen gesessen hatte. Warum war der Wagen jetzt plötzlich leer? Daniel zupfte an seinem Ärmel und warf ihm einen fragenden Blick zu. Doch auch Sunny wusste nicht so wirklich, was er sagen sollte. „Da saß doch gerade jemand noch im Wagen. Und dieser Wagen hat uns verfolgt. Aber jetzt sitzt da niemand drin. Ich kapier’s nicht…“ Daniel trat nun vor und versuchte etwas zu erkennen. Tatsächlich saß da niemand drin, aber zur Sicherheit setzte er seine telepathische Wahrnehmung ein. Mit der konnte er jemanden ausfindig machen, ohne ihn sehen zu müssen. Dazu schloss er die Augen und konzentrierte sich. Aber da war nichts. Der Wagen war leer. Auf mysteriöse Art und Weise war dieser Verfolger verschwunden und das war seltsam. Selbst in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, dass er sich komplett unsichtbar machen konnte, hätte er ihn sofort wahrgenommen. Doch er war einfach verschwunden. Das war in der Tat merkwürdig. Auch ihm war aufgefallen, dass der Mercedes ihnen schon folgte und natürlich hatte er diese merkwürdige Person mit der Sonnenbrille auch wahrgenommen. Aber wie konnte sie von einer Sekunde auf die andere spurlos verschwinden, ohne den Wagen verlassen zu haben? Und warum wurden sie verfolgt? Vielleicht wusste Orobas eine Antwort…
 

Nachdem sie den Einkauf im Getränkemarkt erledigt hatten, war der Mercedes verschwunden und sie machten sich da auch keinen Kopf mehr drum. Auch als sie wieder zurückfuhren, war nirgendwo etwas von dem Mercedes zu sehen. Und auch Sunny wirkte so, als hätte er es wieder völlig vergessen, allerdings galt das nicht für Daniel. Denn als sie wieder zurück waren und der Student sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, um den W-LAN-Anschluss einzurichten, ging Daniel das Bad putzen, während er nebenbei noch seine telekinetischen Fähigkeiten einsetzte, um den Wellnessbereich, die Küche, den Hobbyraum und das Wohnzimmer auf Hochglanz zu bringen. Orobas saß an der Türschwelle und hörte sich Daniels Bericht an. „Jedenfalls war diese Person auf einmal weg und ich konnte sie auch nicht aufspüren. Dabei habe ich es mir doch nicht eingebildet. Selbst Sunny hat den Unbekannten gesehen. Wenn es überhaupt ein Mann war. Das konnte ich leider nicht erkennen.“

„Und er hat euch also verfolgt?“ fragte der Kater und Daniel nickte. Er begann nun damit, die Fliesen zu reinigen und mit einem speziellen Mittel zu behandeln, um sie auf Hochglanz zu bringen und damit das Wasser besser abperlen konnte. Den Trick hatte er aus einem Buch für altbewährte Hausfrauentricks. „Ja. Dabei ist er nicht mal aus dem Auto ausgestiegen. Von einer Sekunde zur anderen war er einfach weg. Hast du eine Erklärung dafür?“ Orobas streckte sich und kletterte auf den Rand der Badewanne, um einen besseren Blick auf Daniel zu haben. „Nun, das klingt in der Tat ungewöhnlich. Wenn Menschen von einer Sekunde zur anderen verschwinden, steckt meist nur eine simple Illusion dahinter, weil ihr Menschen euch eben hauptsächlich nur auf eure Augen verlasst. Aber wenn sich diese Person selbst deinem telepathischen Spürsinn entziehen konnte, dann steckt mehr dahinter. Und wenn dieser Mensch euch verfolgt hat, dann hatte es vielleicht sogar mit dir zu tun.“ „Mit mir?“ rief der 19-jährige verwundert. „Wieso denn ausgerechnet ich? Ich habe so gut wie nie das Haus verlassen in den letzten 12 Jahren und kaum je einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen. Malcolm hatte mich damals selbst von Sunny ferngehalten, als wir noch Kinder waren. Wieso also sollte mich jemand verfolgen, wenn doch außer Malcolm kein Mensch weiß, dass es mich überhaupt gibt, ganz zu schweigen von meinen telekinetischen Fähigkeiten?“ Da war sich der Kater auch nicht so sicher. „Ich werde das auf jeden Fall überprüfen und in Erfahrung bringen, ob dieser Mensch eine Bedrohung für dich darstellen könnte. Mach dir keine Sorgen, Daniel. Ich werde sicherlich nicht zulassen, dass dir jemand etwas tun wird. Heute Abend werde ich mich auf den Weg machen und Informationen sammeln. Du amüsierst dich derweil auf der Feier.“ Erleichtert atmete Daniel auf und streichelte Orobas den Kopf. „Danke, Orobas. Du bist wirklich ein guter Freund.“ Der Kater sprang vom Rand der Badewanne herunter und verließ den Raum. Insgeheim war Daniel beruhigt, denn er wusste, dass er seinem treuen Freund und Begleiter vertrauen konnte. Und mit Sicherheit hatte der so seine Wege, um an Informationen zu kommen. Aber wieso sollte jemand hinter ihm her sein? Es wusste doch kein Mensch außer Malcolm und seiner Familie, dass er diese Begabung hatte und sie waren alle tot. Und gesprochen hatte garantiert niemand darüber. Wieso denn auch? Na hoffentlich klärte sich das und es steckte nichts Ernsthaftes dahinter. Aber wenn Sunny auch noch mit reingezogen wurde, dann musste er sich etwas einfallen lassen. Auf jeden Fall würde er nicht zulassen, dass dieser Unbekannte ihn da mit reinzog und in Gefahr brachte. Bevor das passierte, würde Daniel seine Fähigkeiten einsetzen und ihn daran hindern. Noch einmal würde er jedenfalls nicht zulassen, dass wieder jemand starb, der ihm wichtig war. Dieses Mal hatte er seine Fähigkeiten perfekt unter Kontrolle und konnte sie viel besser einsetzen. Und er würde sie auch notfalls gegen Menschen einsetzen, wenn er dadurch jemanden beschützen konnte. Aber vielleicht musste er das ja nicht tun. Womöglich war dieser Unbekannte ja harmlos und er machte sich nur unnötig Sorgen.
 

Als es 16 Uhr war und Daniel das Ganze Haus auf Hochglanz gebracht hatte, klingelte es an der Tür und er ging hin, um zu öffnen. Vor der Tür stand ein Mädchen, welches ungefähr in seinem Alter, vielleicht auch ein kleines bisschen älter war. Sie hatte schwarzes, wild frisiertes Haar mit farbigen Strähnchen und trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck „Bored in the USA“, dazu trug sie noch Nietenschmuck, trug eine zerschlissene Jeans und sie war ziemlich schlank. Ihr Begleiter trug eine rote Baseballmütze, hatte Dreadlocks und einen eher lässigen Look. „Hey“, sagte das Mädchen und kaute einen Kaugummi. Mit ihrer Aufmachung machte sie einen eher rauen Eindruck, aber sie hatte ein freundliches Lächeln und hob zur Begrüßung die Hand. Daniel bemerkte sofort die Totenkopfringe an ihren Fingern. „Ich bin Angeline und das ist Josh. Wir wollten zu Sunny, ist er da?“ Ach so, dann waren das also die beiden Freunde. Der 19-jährige nickte und wies sie mit einer winkenden Geste an, ihm zu folgen. „Redest wohl nicht viel, hä?“ bemerkte Josh und folgte ihm zusammen mit Angeline. „Bist du auch ein Freund von… yo Sunny!“ Josh drängte sich an Daniel vorbei und ging direkt auf den Studenten zu, den er auf eine sehr eigenartige Art und Weise begrüßte, wie Daniel sie noch nie gesehen hatte. Josh und Sunny hoben je ihre rechte Hand und drückten sie gegeneinander. Dasselbe tat auch Angeline, wobei sie ihm noch einen freundschaftlichen Fauststoß auf den Oberarm gab. „Hey Leute“, rief er begeistert. „Da seid ihr ja. Hört mal, das ist Daniel. Er hat für meinen Onkel als Haushaltshilfe gearbeitet und ist bei der Party dabei.“

„Yo Danny!“ Josh nickte ihm zu und hielt ihm die Faust hin und Daniel, der keine andere Idee hatte, was er damit sollte, machte es einfach Sunny nach. „Bist du so etwas wie der Butler hier?“ Verständnislos blickte er Josh an und konnte sich nicht erklären, wieso er jetzt mit einem Butler verglichen wurde. Und da er nicht antworten konnte, erklärte es Sunny für ihn. „Daniel erledigt so ziemlich alles im Haus, aber ein Butler ist er jetzt nicht. Ähm… er hat ein kleines Sprachproblem und redet deshalb nicht.“

„Ist doch kein Problem“, meldete sich Angeline und legte einen Arm um Sunnys Schultern. Zu sehen, dass jemand anderes ihm so nahe war, ließ in Daniel Eifersuchtsgefühle aufkommen und am liebsten hätte er die beiden wieder voneinander getrennt. „Jetzt führ uns doch mal rum. Schick hast du es hier jedenfalls. Hast ja echt Sauglück gehabt, so reich zu erben.“ Während Sunny die Gruppe durchs Haus führte, ging Daniel schon mal nach unten, um die letzten Sachen vorzubereiten. Er holte die Snacks aus der Küche, die er schon mal vorbereitet hatte und während er nach unten ging, versuchte er wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dennoch fühlte er immer noch die Eifersucht, als er daran dachte, dass Angeline Sunny so nah gekommen war. Dabei hatte er noch nie so etwas gefühlt. Selbst Neid war ihm immer fremd geblieben. Warum auf einmal fühlte er so etwas Furchtbares? Angeline war doch eine Freundin von Sunny und da war es doch normal, wenn man einander auch mal umarmte. Aber trotzdem… Er war eifersüchtig und wusste nicht, wie er am besten damit umgehen sollte. Auch sonst waren so viele Gefühle neu für ihn, vor allem weil er noch nie in jemanden verliebt gewesen war. Natürlich wollte er Sunny seine Gefühle mitteilen. Er war sowieso nicht der Typ Mensch dafür, der mit so etwas lange hinterm Berg blieb. Doch seine Gedanken kreisten die ganze Zeit darum, dass Angeline und Sunny sich vielleicht näher stehen könnten. Und in dem Fall würde sich die Frage stellen, was er wohl tun konnte. Welche Möglichkeiten hatte er denn überhaupt? Einschüchtern oder Gewalt anwenden war nicht seine Art und ihre Gedanken zu manipulieren kam auch nicht infrage. Das hatte er sowieso noch nie gemacht und er bezweifelte, dass seine telepathischen Fähigkeiten überhaupt dafür ausreichten. Seine Stärke lag hauptsächlich in der Telekinese. Etwas demotiviert seufzte er und fragte sich, wie er wohl am vernünftigsten reagieren sollte.
 

Wenig später hörte er Stimmen und Schritte. Er hatte gerade die letzte Dekoration zurechtgerückt, damit auch alles perfekt war, da kamen schon Sunny und seine beiden Freunde um die Ecke. Diese staunten nicht schlecht und ihre Augen wurden groß. „Heilige Scheiße, Sunny. Das ist ja mal ein hammergeiler Pool! Gibt es hier irgendwo eine Umkleide oder so?“ Daniel räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen und ging zu Angeline hin. Er führte sie raus aus dem Wellnessbereich in ein kleines Zimmer, welches zwischendurch für Massagestunden genutzt worden war. „Ah super!“ rief sie begeistert. „Danke, Danny. Sag mal, stimmt es wirklich, dass du vor anderen nicht sprechen kannst?“ Ein zögerliches Nicken kam zur Antwort. Angeline sah ihn etwas erstaunt an, aber es lag auch etwas anderes in ihrem Blick. Verständnis… Mitgefühl… „Es ist echt hart, aus solchen Verhältnissen zu kommen, ich kenne das“, seufzte sie und legte ihre Jacke und ihre Handtasche ab, die mit unzähligen bunten Buttons verziert war. „Ich bin bei meinem Alten aufgewachsen und der war ein totaler Hurensohn. Hat mich bei der nächstbesten Gelegenheit zu einem Kindermädchen abgeschoben und ich hab auch mal die eine oder andere Abreibung gekriegt. Ich kam zwischendurch bei Pflegefamilien unter und da erlebt man halt viel. Du hast wohl auch schon so einiges erlebt, oder?“ Er nickte etwas zögernd und Angeline gab ihm einen Knuff gegen den Oberarm. „Das sieht man sofort, wenn man selbst ähnliches erlebt hat. Aber du scheinst ja trotzdem ganz niedlich zu sein. Und mach dir keinen Kopf. Wir werden schon gut miteinander auskommen. Josh ist zwar eine absolute Pfeife und kann A von B nicht unterscheiden, aber mit ihm kannst du jeden erdenklichen Schwachsinn machen. Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du auch mal gerne mit mir quatschen.“ Es bewegte ihn schon sehr, als er hörte, was Angeline in ihrer Vergangenheit erlebt hatte und sie nachfühlen konnte, was ihm passiert war, auch wenn es nicht exakt das Gleiche war. Und dass sie ihm sogar anbot, mal mit ihr zu reden, war für ihn überraschend. Dabei hatte sie von den Klamotten her nicht wirklich danach gewirkt, als würde sie eine von der sozialen Sorte sein. Aber offenbar konnte man sich auch irren. Schließlich ließ er sie dann aber doch allein, damit sie sich umziehen konnte. Er ging wieder zurück zum Pool, wo Josh und Sunny bereits von den Snacks aßen und gesellte sich zu ihnen. Dabei fiel ihm sofort auf, dass Josh tätowiert war. Es war ein kreisförmiges Labyrinth, das fast seinen gesamten Rücken ausfüllte. Daniel, der noch nie in seinem Leben ein solches Tattoo gesehen hatte, war fasziniert und der bewundernde Blick entging Sunny nicht. „Hey Josh, ich glaub da interessiert sich jemand für dein Tattoo.“ Sofort drehte sich der Dreadlocksträger um und grinste stolz. Nun sah Daniel, dass auch auf dem rechten Oberarmen, auf der Brust und an den Unterarmen und sogar an den Beinen Tattoos zu sehen waren. „Ja ich steh voll auf Kunst. Insbesondere auf Körperkunst.“

„Josh ist Künstler“, erklärte Sunny ihm. „Und er will selbst professioneller Tätowierer werden.“ „Yo Mann, das ist es, was ich halt unter moderner Kunst verstehe“, erklärte Josh und trank sein Bier aus. „In Tattoos liegt die Zukunft. Keiner will mehr Rembrandt oder Renoir sehen, die kannst du in die Tonne hauen. Bodyart ist die Kunst der Zukunft.“ „War ja typisch, dass das aus deinem Mund kommt…“ Angeline war wieder zurück und Daniel wäre bei dem Anblick fast die Kinnlade heruntergeklappt. Angeline trug einen schwarzen Bikini und hatte einen Bauchnabelpiercing. Des Weiteren hatte sie sich auf ihrem linken Oberarm ein Spinnennetz tätowieren lassen und ihren anderen zierte eine schwarze Feder, die sich in unzählige kleine schwarze Vögel aufzulösen schien. Ein weiteres Tattoo in Form eines Rosenkranzes war an ihrem rechten Fußgelenk zu sehen, das bis zu ihrem Fußrücken reichte. Doch sein Blick blieb etwas weiter oben heften. Natürlich war es nicht seine Absicht, ausgerechnet auf ihre Oberweite zu starren, aber er hatte noch nie eine Frau oder ein Mädchen so gesehen und dementsprechend war dieser Anblick auch recht neu für ihn. Doch das bemerkte Angeline zum Glück nicht, sondern redete einfach weiter mit Josh. „Du solltest erst mal erwachsen werden und nicht so einen Schwachsinn über moderne Kunst oder Kunst der Zukunft schwafeln. Da glaubt man echt, du hättest wieder was geraucht.“

„Was denn?“ fragte Josh, der sich keiner Schuld bewusst war. „Ich gehe halt meinen Träumen nach. Du hast deine ja schon längst aufgegeben.“

„Ich bin erwachsen geworden“, erklärte sie. „Ich bin kein 16-jähriges Mädchen mehr und ich weiß, dass aus mir kein Rockstar wird. Und mit meinem Job bin ich auch ganz zufrieden.“ Job? Nun war Daniel neugierig und fragte nach, indem er die Frage auf den Notizblock schrieb und ihn Angeline zeigte. Sie lachte und antwortete „Ich arbeite in einer Arztpraxis als medizinische Fachangestellte. Das heißt ich bin nicht nur am Telefon oder mit den Akten zugange, ich darf den Patienten auch schon mal die eine oder andere Spritze geben.“

„So haben wir beide mit Nadeln zu tun.“ Nun stieß sie Josh den Ellebogen in die Seite und funkelte ihn angriffslustig an. Daniel beobachtete diese Szene und fragte sich, warum Angeline immer so gegen Josh stichelte. Ob sie ihn nicht leiden konnte? Als die beiden in den Pool sprangen und Angeline die nächste Gelegenheit nutzte, um ihn unter Wasser zu drücken, da wandte sich Daniel an Sunny und fragte nach. Und der Student nickte, wobei er murmelte „Ja, die beiden sind eine Nummer für sich…“ Er nahm sich noch einen von den Snacks und nach kurzer Überlegung bediente sich auch Daniel. „Josh und Angeline sind schon seit der High School ein Paar, nur zeigen sie ihre Liebe eben dadurch, dass sie sich gegenseitig ärgern müssen. Angeline hat in der Hinsicht eine leicht teuflische Ader und Josh ist sowieso absolut schmerzfrei und das in jeder Hinsicht. Dem kannst du sogar eine leere Bierdose an den Kopf werfen, er wird sich nicht darüber aufregen. Manchmal könnte man wirklich meinen, er kommt von einem anderen Planeten.“
 

Die Party kam richtig in Gang und auch Daniel wurde deutlich lockerer. Er lachte mit, hörte den Geschichten der drei zu und versuchte auch Alkohol zu trinken. Nur war das leider überhaupt nicht sein Geschmack und so blieb er doch lieber bei Cola. Die einzige Sache, bei der er nicht mitmachte, war der Pool. Er konnte nämlich nicht schwimmen und dummerweise war der Pool zu tief, um darin stehen zu können. Deshalb setzte er sich einfach an den Beckenrand und tauchte lediglich die Füße ein. Hinterher wurde noch laut Musik gemacht und es wurde richtig gefeiert. Für Daniel war es die allererste Party in seinem Leben und für ihn war dies der bis dahin schönste Tag in seinem Leben. Zum ersten Mal feierte er mit anderen Menschen, lachte mit ihnen und tanzte mit ihnen zur Musik. Die Party ging bis spät in den Abend hinein und dauerte bis zwei Uhr morgens. Daniel, der es nicht gewohnt war, so lange so aktiv zu sein, war irgendwann einfach auf seinem Stuhl eingeschlafen und ließ sich nicht mal durch die laute Musik stören. Josh bemerkte es als Erster und stupste ihn an, wobei er mit leicht bekifft klingender Stimme rief „Ey Mann, was ist los? Alles fit bei dir?“ Nun kam Sunny dazu und sah ihn tief und fest schlafen. Dabei konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er bemerkte, wie süß Daniel eigentlich aussah, wenn er schlief. „Die Party muss ihn ganz schön geschlaucht haben. Er ist ja auch schon ziemlich früh auf den Beinen und hat die ganze Zeit gearbeitet. Ich glaub, ich bring ihn besser auf sein Zimmer.“ Damit wollte Sunny ihn hochziehen und auf den Rücken nehmen, nur gab es da ein kleines Problem: Daniel war größer als er… und auch schwerer. Als Angeline das sah, prustete sie vor Lachen und gab Josh, der direkt neben ihr stand, dabei einen Klaps auf den Rücken. „Ich glaub’s ja nicht. Was bist du denn für ein Halbstarker, Sunny?“ „Sehr witzig“, grummelte der Literaturstudent und schmollte. „Er ist eben größer als ich…“

„Ihr Literaturstudenten habt aber auch echt keine Muckis. Hey Josh, hilf ihm mal. Du bist doch so stark.“ Damit kam der aufstrebende Tätowierer zu seinem besten Freund und half ihm, den tief und fest schlafenden Daniel hochzuheben und ihn nach oben in sein Zimmer zu bringen. Während sie durch das Haus gingen und dann die Stufen erklommen, wandte sich der Dreadlocksträger Sunny zu. „Du kümmerst dich ja echt rührend um ihn. Seid ihr beide irgendwie… naja du weißt schon…“ Doch Sunny, der ein klein wenig schwer von Begriff war, verstand nicht direkt, worauf sein bester Freund da anspielen wollte und schüttelte verwirrt den Kopf. „Was meinst du?“ „Ach schon gut…“ Sie erreichten schließlich Daniels Zimmer und legten ihn ins Bett. Damit ging Josh auch direkt wieder, doch Sunny blieb einen kurzen Moment und betrachtete den Schlafenden. Er musste wieder an diesen Traum denken, den er gehabt hatte und er fragte sich, wie er bloß dazu kam, einen Sextraum mit Daniel zu haben. Und dann auch noch ein anderer Junge… Nun gut, er hatte schon mal im Alter von 16 Jahren für einen Jungen geschwärmt, auch wenn er noch nie mit einem zusammengekommen war. Es hatte höchstens mal einen kurzen Kuss gegeben und mehr nicht und danach war er nur mit Mädchen zusammen gewesen. Aber er hatte längst akzeptiert, dass er eine bisexuelle Ausrichtung hatte und das wussten auch Josh und Angeline und die beiden kamen damit klar. Immerhin hatte auch Angeline eine bisexuelle Neigung und war auch schon mit einem Mädchen zusammen gewesen, bis sie sich für Josh entschieden hatte.

„Sunny…“

Diese plötzliche Stimme ließ den 20-jährigen aufhorchen und er wandte den Blick zur Tür und dachte zuerst, Josh hätte ihn gerufen. Aber das war gar nicht seine Stimme gewesen. Nein, das war die von… Nun konnte es der Student erst recht nicht glauben. Hatte er tatsächlich zum ersten Mal Daniels Stimme gehört? Und hatte dieser gerade wirklich im Schlaf seinen Namen genannt? Zögernd ging Sunny zu ihm hin, da er sich nicht sicher war, ob Daniel noch schlief, oder vielleicht schon aufgewacht war. Er sah, wie sich seine Lippen ein wenig bewegten, so als würde er reden, aber es war so leise, dass er nichts verstehen konnte. Darum beugte er sich näher zu ihm herab und versuchte zu verstehen, was der Schlafende da vor sich hinmurmelte. Doch als er sich zu ihm herunterbeugte, da wachte Daniel auf. Ohne Vorwarnung öffnete er die Augen und seine moosgrünen Augen sahen Sunny überrascht und verwirrt an. Vermutlich konnte er sich in diesem Moment auch nicht wirklich erklären, wie er hierher gekommen war. Und dennoch stahl sich ein warmherziges Lächeln auf seine Lippen. Ein Lächeln, welches von einer solchen Ehrlichkeit zeugte, dass sie beinahe naiv wirken konnte. Sunny war wie hypnotisiert in diesem Augenblick und registrierte erst einen Augenblick später, dass Daniel sich aufgesetzt hatte, einen Arm um ihn legte und ihn dann küsste. Wie vom Donner gerührt erstarrte Sunny und war nicht fähig, etwas zu tun. Er schaffte es nicht, Daniel wegzudrücken, geschweige denn den Kuss zu erwidern. Man hätte meinen können, er sei in eine Schockstarre verfallen, vor allem weil ihn diese plötzliche Aktion doch recht erschreckte. Alles in seinem Kopf drehte sich mit einem Male und er schaffte es nicht mal zu atmen. Und Daniels Kuss hatte etwas so Direktes und Ungebremstes an sich, als würde er nicht eine Sekunde lang Zweifel hegen, ob das, was da gerade geschah, wirklich richtig war und ob es nicht vielleicht Konsequenzen zur Folge hätte. Es kam ihn einfach nicht in den Sinn. Stattdessen dachte er offenbar nur daran, genau das zu tun, was er gerade wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Und Sunny? Der war völlig überfordert mit der Situation und wusste nicht, wie ihm geschah. Vor allem, weil ihn ausgerechnet jener Junge küsste, den er doch als so schüchtern und zurückhaltend erlebt hatte und dem er geholfen hatte. Und nun küsste ihn ausgerechnet jener Junge, der sich anfangs nicht mal getraut hatte, ihm in die Augen zu sehen oder sich von ihm verarzten zu lassen. Für einen Moment war der Kunststudent noch in der Schockstarre, doch dann löste er sich von Daniel und verließ fluchtartig das Zimmer.

Sunnys Gewissensbisse

Die Nacht war mondlos und rabenschwarz. Die perfekte Zeit für Orobas, um seine Wege durch die Gassen und Straßen zu wandern. Nur dieses Mal führte ihn sein Weg nicht ziellos durch die Gegend, weil er ein rastloser Zeitgenosse war. Dieses Mal hatte er ein ganz bestimmtes Ziel. Er richtete sich ganz nach seinen Instinkten, die ihn wie ein roter Faden durch die pechschwarze Nacht leiteten. Und so erreichte er den Park, der lediglich von Laternen ausgeleuchtet wurde. Es war totenstill und nicht einmal die Fledermäuse, die um diese Jahreszeit umherschwirrten, ließen einen Ton von sich hören. Aber dann konnte er schon mit seiner Nase den vertrauten Geruch aufnehmen und beschleunigte sein Tempo. Flink und blitzschnell flitzte er durch die Hecken und Sträucher und erreichte eine Parkbank, auf dem ein Mädchen saß, das vom Aussehen her nicht älter als elf oder zwölf Jahre sein konnte. Sie trug ein schwarzes Kleid mit langen, weit geschnittenen Ärmeln und weißem Kragen. Um ihren Hals trug sie eine Goldkette mit einem Medaillon. Ihre glatten und hellblonden Haare waren kurz geschnitten und ihre Augen waren von Bandagen bedeckt. Auf ihrem Schoß hatte sie eine schwarze Katze, die eine rote Schleife mit einem Glöckchen um ihren Hals trug. Darunter befand sich eine Marke, auf der „Marbas“ stand. Neben dem Mädchen stand ein groß gewachsener schwarzhaariger Mann mit weiser Miene und der Aufmachung eines Butlers. Er trug eine Brosche am Revers, auf dem ein fremdartiges Symbol eingraviert war. Auf der goldenen Brosche stand „Astaroth“ geschrieben. Das Mädchen lächelte zufrieden und streichelte der Katze auf ihrem Schoß den Rücken. „Es tut gut, mal wieder Dark Creek zu verlassen und die sternenklare finstere Nacht zu genießen“, merkte sie an. „Vor allem, weil ich keinem Menschen über den Weg laufen muss.“ Orobas näherte sich dem Mädchen, von dem eine unheimliche Ausstrahlung ausging. Auch wenn sie wie ein unschuldiges Kind wirkte, so spürte er mehr als deutlich, welche Macht sich hinter dieser Fassade verbarg. Sie war bei weitem stärker als Daniels. Um Dimensionen stärker. Das Mädchen wandte sich dem dazugekommenen Kater zu und obwohl ihre Augen bandagiert waren, schien sie dennoch sehr gut sehen zu können. „Ah Orobas. Es ist schön, dass du kommst. Damit wären wir ja fast vollzählig. Meine kleine Schwester hat es vorgezogen, lieber in Dark Creek zu bleiben, Amducias leistet ihr Gesellschaft damit sie nicht einsam ist, Seir wartet ebenfalls dort und Eurynome ist noch in Backwater. Was führt dich her? Bist du gekommen, um mich zu begrüßen, oder hast du ein Anliegen?“ Orobas trat näher und kletterte auf die Bank, woraufhin er sich neben dem Mädchen niederließ. Und sogleich spürte er ihre warme und zarte Hand an seinem Kopf und ließ sich bereitwillig von ihr streicheln. „Ich komme aus beiden Gründen. Einmal weil ich die Gelegenheit nutzen wollte, um Euch zu grüßen und weil mich tatsächlich ein Anliegen herführt. Es hat eventuell mit meinem Schüler zu tun.“

„Daniel?“ fragte das Mädchen und wurde hellhörig. „Wie macht er sich denn so?“

„Er ist als Konstrukteur sehr talentiert, allerdings zeigt er als Dream Walker keine besondere Begabung, so wie seine Schwester Tessa. Er macht seine Sache sehr gut. Besser jedenfalls als Tessa. Hab ich nicht Recht, Marbas?“ Nun blickte der andere Kater auf und ließ ein leises feindseliges Fauchen vernehmen. „Kann ich etwas dafür, wenn dieses Gör schon von Anfang an zu instabil und nicht belehrbar war?“ Beide Katzen blickten einander angriffslustig an und fauchten, bis das Mädchen sie unterbrach. „Jetzt hört auf, euch wieder deswegen zu streiten! Also Orobas, was ist dein Anliegen?“ Zwar war der Kater immer noch etwas aggressiv, weil er Marbas nicht ausstehen konnte, aber sie gerieten schon öfter aneinander und das Gleiche galt auch für Eurynome und Amducias. Lediglich Astaroth konnte sich mit allen gut arrangieren, was aber auch daran lag, weil er eine sehr ausgeglichene Persönlichkeit besaß. Und Seir war schon immer eine gute Seele gewesen.

„Daniel hat mir berichtet, dass eine Person ihn und Alexis Lane, den Erben Malcolm Wilsons, verfolgt habe. Doch als sie auf einem Parkplatz ausstiegen und zum Wagen gingen, war niemand darin und Daniel war nicht in der Lage, diese Person aufzuspüren.“

„Vielleicht ist dein Schüler auch einfach bloß unfähig, einen Menschen zu erkennen, wenn er sich direkt vor seiner Nase befindet“, stichelte Marbas und ein feindseliges Miauen kam von Orobas, der sich sogleich aufrichtete und in Angriffsstellung ging. Das Mädchen seufzte und setzte daraufhin Marbas auf den Boden ab. „Du bist jetzt still, Marbas. Also diese Person hat sich scheinbar einfach in Luft aufgelöst, habe ich das richtig verstanden? Und du möchtest Informationen, um zu erfahren, ob dein Schüler in Gefahr sein könnte.“ Orobas nickte und setzte sich wieder, wobei er sich deutlich entspannte, nachdem Marbas erst mal auf Abstand gesetzt worden war. „Das ist richtig.“ Das Mädchen dachte kurz nach und legte den Kopf in den Nacken, wobei sie ein bedächtiges „hm…“ vernehmen ließ. Dann aber schien sie ihre Antwort gefunden zu haben. „Offenbar hat sich ein Dream Walker an seine Fersen geheftet, aus welchem Grund auch immer. Vermutlich ist es derselbe, der auch schon Tessa gestoppt hat. In dem Falle wird er wohl aus ähnlichen Gründen hinter Daniel her sein. Wahrscheinlich fürchtet er, Daniel könnte zu einer Gefahr werden.“

„Wie soll ich mit dem Dream Walker verfahren? Soll ich ihn töten?“

„Nein, das wird nicht nötig sein“, winkte das Mädchen ab. „Dieser Dream Walker ist nicht gefährlich, zumal er kein geborener Dream Walker ist. Außerdem denke ich nicht, dass er in böswilliger Absicht gekommen ist, in der Hinsicht habe ich eine sehr gute Menschenkenntnis. Nein, du lässt ihn einfach erst mal weiter seine Arbeit machen. Er wird schon von selbst kommen, wenn die Zeit reif ist. Außerdem mag ich es nicht, jemanden völlig unbegründet zu töten. Schon gar nicht einen Dream Walker oder Konstrukteur. Geh einfach zurück und sage deinem Schüler nur, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche. Aber sag ihm vorläufig nichts weiter. Aber ich werde selbst noch ein Auge auf den weiteren Verlauf haben und sehen, wie sich das entwickelt.“

„In Ordnung, Josephine. Ich werde mich nach euren Anweisungen richten.“

Damit verabschiedete sich Orobas und verschwand wieder in die Finsternis. Auch das Mädchen erhob sich und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Das dürfte noch interessant werden“, murmelte sie und wandte sich zum Gehen. Der schwarze Kater Marbas und der Butler folgten ihr. „Ich bin wirklich gespannt, wie sich die ganze Sache entwickeln wird. Vor allem würde mich wirklich interessieren, wer denn wohl in einem Zweikampf die Oberhand hätte. Astaroth, was meinst du?“

„Nach meiner Einschätzung der Dream Walker“, antwortete der Butler und das Mädchen nickte. „Ja, das ist wohl wahr. Ein Dream Walker ist einem Konstrukteur schon immer überlegen gewesen. Darum sind sie auch fast schon natürliche Feinde, obwohl sie sich prima ergänzen würden. Na denn… lasst uns noch ein wenig spazieren gehen, bevor wir nach Dark Creek zurückkehren.“
 

Am nächsten Morgen wachte Sunny mit pochendem Herzen auf und war schlagartig hellwach. Verdammt noch mal, es war schon wieder passiert. Schon wieder so ein Sextraum mit Daniel und das ausgerechnet nach diesem überraschenden Kuss gestern. Das kam ja noch erschwerend dazu. Daniel hatte ihn aus heiterem Himmel tatsächlich geküsst und er war daraufhin einfach abgehauen. Nicht gerade die feine Art und vor allem wusste er nicht, wie er Daniel jetzt gegenübertreten sollte. Zugegeben, der Kuss war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Wenn er so darüber nachdachte, dann war ihm schon am Anfang aufgefallen, dass er sich deutlich mehr um Daniel kümmerte und sorgte, als um irgendjemand anderen. Aber war es wirklich deshalb, weil er mehr für Daniel empfand? Er fand einfach keine Antwort auf diese Frage und insgeheim fürchtete er sich auch ein wenig davor, Daniel über den Weg zu laufen. Immerhin war er einfach so ohne ein Wort abgehauen und hatte ihn einfach da stehen lassen. Nicht wirklich die fein englische Art, aber er hatte in dieser Situation einfach keine andere Möglichkeit gesehen. Und nun plagte ihn das schlechte Gewissen. Daniel musste ziemlich geknickt sein. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging Sunny ins Wohnzimmer, wo wirklich alles wie immer makellos sauber war. Er ließ sich auf dem Sofa nieder und wollte sich ein wenig an seinen Laptop setzen, da wurde die Tür geöffnet und Daniel kam mit einem Tablett herein. Offenbar hatte dieser bemerkt gehabt, dass der Student aufgestanden war. „Oh, Daniel…“ Als er das fröhliche Lächeln bei dem 19-jährigen sah, der wie das blühende Leben wirkte, war er insgeheim erleichtert. Offenbar hatte Daniel sich die gestrige Flucht nicht ganz so sehr zu Herzen genommen. Das Tablett wurde vor ihm abgestellt und auf schriftlichem Weg teilte sein Angestellter ihm mit, dass er im Wellnessbereich aufräumen ging. Zuerst überlegte Sunny noch, ihn wegen dem Kuss letzte Nacht anzusprechen, aber er ließ es dann doch sein und ließ ihn gehen.

Während Daniel mit der Hausarbeit beschäftigt war, zog sich Sunny ins Arbeitszimmer zurück und setzte sich an den Computer, um an seiner Kurzgeschichte zu arbeiten. Die Geschichte war recht simpel: ein Künstler erlebte an der Küste nahe eines Leuchtturms seine Sommerliebe, die aber nur den Sommer andauerte und nur noch eine schöne Erinnerung blieb. Er hatte sie schon fast fertig, es fehlte nur noch der Abschluss und dann musste er es nur noch Korrektur lesen.
 

Noch nie war ich so sentimental wie in diesem Moment und zu verdanken hatte ich es ihr. Sie hatte mir die Augen geöffnet für die wahre Schönheit der Dinge. Und ich ärgerte mich selbst dafür, dass ich all die Jahre so blind gewesen war. Am liebsten hätte ich wirklich alles gemalt, weil mir alles auf einmal so schön erschien. Angefangen vom rötlich gefärbten blühenden Efeu an den Hauswänden, den Sonnenblumen auf den Feld bis hin zum Leuchtturm, an dessen Klippen sich die Wellen brachen. Ja sogar den Himmel, die Straßen und die Wanderer hätte ich am liebsten auf meine Leinwand gebracht. Es war, als würde sich in meinem Kopf eine wunderbare Melodie abspielen, die mir die schönsten Bilder vor Augen führte, die es allesamt Wert waren, verewigt zu werden.

Als ich den Leuchtturm erreichte, sah ich ihn wieder. Seine sanftmütigen, moosgrünen Augen und sein warmherziges Lächeln, welches wie das eines Engels wirkte.
 

Hier hielt Sunny inne, denn ihm fiel auf, dass er auf einmal etwas völlig anderes geschrieben hatte, als er mit seinen Gedanken abgedriftet war. Auf einmal hatte er nicht mehr das blonde Mädchen im weißen Sommerkleid vor seinen Augen, die ja diese Sommerliebe darstellen sollte. Stattdessen hatte er plötzlich angefangen, über Daniel zu schreiben. Sofort löschte er diese Zeile wieder und korrigierte sie. Lange ging es aber trotzdem nicht gut, denn da verdrängte der Gedanke an Daniel erneut das namenlose schöne Mädchen und so langsam aber sicher erkannte Sunny, dass es nichts brachte. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren und jeder Versuch, zu seiner Kurzgeschichte zurückzukehren, endete damit, dass er wieder unbewusst auf Daniel zurückkam und er dann wieder die ganzen Zeilen löschen konnte. Schlussendlich versuchte er, einfach eine neue Kurzgeschichte zu schreiben, in der Hoffnung, dass es so besser klappte. Doch nach kürzester Zeit gelang es ihm auch hier nicht, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. So langsam erkannte er, dass er anscheinend nur noch an Daniel denken konnte und das erleichterte die Sache auch nicht wirklich. Insbesondere nicht, nachdem er gestern Abend einfach abgehauen war. Aber warum passierte das alles? Wieso hatte er Sexträume mit Daniel und konnte nicht aufhören, an ihn zu denken? Er seufzte und schaltete den Computer aus. Vielleicht sollte er einen kleinen Spaziergang machen, um auf die Weise wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Bevor er aber dazu kam, klingelte sein Handy und er sah schon auf der Displayanzeige, dass es sein Vater war. Sofort ging er ran und meldete sich „Ja Dad, was gibt’s?“ „Ich wollte dir Bescheid geben, dass Daniels Arbeitsvertrag fertig ist. Du kannst ihn gerne bei mir in der Kanzlei abholen kommen, wenn du Zeit hast.“ Ach der Arbeitsvertrag… Den hatte er fast vergessen. Er versprach, gleich vorbeizukommen und verabschiedete sich. Sogleich stand er auf, schnappte sich seine Tasche und seine Jacke und wollte die Treppe runter ins Erdgeschoss. Am anderen Ende der Treppe sah er schon Daniel mit einigen Putzutensilien um die Ecke kommen, der offenbar schon mit der Arbeit im Wellnessbereich fertig war. Sunny wollte schon nach ihm rufen, da hielt er jedoch inne als er bemerkte, dass irgendetwas mit Daniel nicht stimmte. Er wirkte irgendwie geistesabwesend und nachdenklich. Und etwas Trauriges lag in seinem Blick. Offenbar war er doch sehr verletzt nach Sunnys plötzlicher Flucht. Dem Student überkam das schlechte Gewissen, als er das sah und wagte sich kaum vorzustellen, wie sehr er ihn damit wohl verletzt haben musste.

Allerdings rechnete er nicht damit, dass Daniels Blick nichts mit den Geschehnissen der letzten Nacht zu tun hatte. Zwar war er Anfangs verwirrt und auch ein wenig verletzt gewesen, aber er hielt immer noch an seinem Entschluss fest, auch in Sunny dieselben Gefühle zu wecken, wie er sie hegte. Und da wollte er sich auch nicht durch Sunnys plötzliche Flucht beirren lassen. Der einzige Grund für seinen geistesabwesenden Blick lag einfach darin, weil er gerade dabei war, mithilfe seiner telekinetischen Fähigkeiten die Lampen im Wohnzimmer zu reinigen. Doch das konnte Sunny ja nicht ahnen. Und da er sowieso nicht sprach, konnte man seinen Blick schnell falsch interpretieren.
 

Sunny haderte noch etwas mit sich und wollte Daniel ansprechen und seine gestrige Reaktion erklären, aber letztendlich fand er einfach nicht den Mut dazu. „Äh Daniel…“ Der 19-jährige wandte sich zu ihm um und mit einem Mal klärte sich sein Blick wieder. „Ich… ich geh eben zu meinem Vater in die Kanzlei. Der Vertrag ist fertig und ich geh ihn eben abholen.“ Irgendwie war das Meiste, was er hervorbrachte, nur ein leichtes Gestammel und es fiel ihm schwer so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Denn das war es nicht und ihn plagte das schlechte Gewissen. Und als Daniel nickte und ihn umarmte, da schnürte sich ihm die Brust zusammen. Einen kurzen Moment war er schon fast versucht, diese Umarmung zu erwidern. Es hatte etwas Angenehmes, wenn Daniel ihn umarmte. Wirklich beschreiben konnte er es nicht, aber ihm war dann so, als würde er sich besser fühlen. Er fragte sich, wie Daniel es bloß schaffte, einfach seinen Gefühlen nachzugehen, ohne Angst zu haben, dass es schief gehen könnte. Hatte er denn keine Zweifel oder Ängste? Insgeheim beneidete Sunny ihn darum, denn er war schon immer jemand gewesen, der immer auf Nummer sicher gehen musste. Er war in Liebesdingen schon immer sehr zurückhaltend gewesen und gehörte auch nicht gerade zu der Sorte Mensch, die sich in den Vordergrund drängen musste oder die vor Selbstbewusstsein nur so strotzten. Nein, er hatte sich selbst immer als die Sorte Mensch angesehen, die zwar sehr hilfsbereit und sozial war, aber dennoch eher zurückhaltend blieb und nur dann deutlich mutiger wurde, wenn die entsprechende Sicherheit da war. Und das war auch der Grund gewesen, wieso er bei seiner Begegnung mit Daniel direkt das Ruder übernommen hatte. Ach Mensch, dachte er sich und seufzte leise. Immer wenn es wirklich darauf ankommt, kriege ich Schiss und haue ab.

Was musste Daniel bloß von ihm denken, dass er sich plötzlich wie ein Feigling benahm. Zugegeben, dieses immer direktere Verhalten überforderte ihn teilweise und er wusste dann meist nicht, wie er reagieren sollte. Womöglich wäre es einfach das Beste, Daniel direkt darauf anzusprechen, aber die Frage war, ob er es dann überhaupt über die Lippen bringen konnte. Nachdem er sich von Daniel verabschiedet hatte, machte er sich auf den Weg und bemerkte, dass es schon wieder ziemlich bewölkt war. Na super… als ob das Wetter die letzten Tage nicht schon bescheiden genug gewesen war. Es musste doch mal endlich wieder Sonne geben. Als er das Haus verließ, glaubte er für eine Sekunde wieder den grauen Mercedes zu sehen, der nahe der Villa parkte und ebenso war er sich kurz sicher, wieder die Person mit der Sonnenbrille zu sehen. Nun hielt er inne und sah genauer hin. Doch da war nichts. Seltsam… er hätte schwören können, dass da gerade noch der Wagen gestanden hatte, aber der Platz war leer. Begann er jetzt etwa auch noch Gespenster zu sehen? Allem Anschein nach schon. Und nur weil ein Wagen ihnen beim Einkaufen hinterhergefahren war, hieß das doch noch lange nicht, dass sie ständig verfolgt wurden, oder? Sunny war sich sicher, dass er sich das alles nur eingebildet hatte und ging deshalb weiter. Während er die Straßen entlangging, hörte er ein wenig Musik dabei und war froh, dass er sich dazu entschieden hatte, mal einen kleinen Spaziergang zu machen. Das tat ihm auch mal ganz gut nach dem, was alles gewesen war. Und die Zeit nutzte er auch, um über eine andere Sache nachzudenken, die ihn beschäftigte: nämlich sein Onkel. Er begann sich zu fragen, ob da vielleicht wirklich eine Beziehung zwischen Malcolm und Daniels Mutter gewesen sein könnte. Aber selbst wenn, wieso hatte er so einen Hass auf Daniel gehabt und wieso hatte er ihn weiterhin in der Villa leben lassen und ihn letztendlich sogar in den Keller gesperrt? Er hätte ihn doch einfach abschieben können, so grausam das auch klang. Und irgendwie wollte ihm der Name Desdemona Ronove nicht aus dem Kopf und das lag nicht daran, dass Desdemona der Name einer Figur aus Shakespeares „Othello“ war. Nein, da gab es doch mal einen Fall, den er mal in der Zeitung überflogen hatte. Nun, vielleicht wusste sein Vater es ja. Der beschäftigte sich ja intensiv mit den verschiedensten Fällen, da er bis vor fünf Jahren noch Staatsanwalt gewesen war. Danach hatte er sich allerdings aus dem Beruf zurückgezogen, nachdem er immer häufiger Morddrohungen erhalten hatte, weil er unter anderem auch gefährliche Mörder hinter Gittern gebracht hatte. Und ein Mal hatte einer der Verurteilten sogar damit gedroht, seiner Familie etwas anzutun. Das Risiko wollte Richard Lane nicht mehr länger eingehen, insbesondere wegen seiner Familie und so arbeitete er seit Jahren als Rechtsanwalt. Und diesen Entschluss hatte er auch nie bereut. Nach knapp einer halben Stunde erreichte Sunny die Kanzlei seines Vaters und als er sie betrat grüßte er sogleich auch schon Susan Burns, die für seinen Vater arbeitete. Er ging direkt in sein Büro und fand seinen Vater am Schreibtisch sitzend vor. „Hi Dad, hast du kurz Zeit?“ „Klar habe ich die“, antwortete Richard und putzte kurz seine Brille. „Was kann ich für dich tun?“ Sunny sah schon den Arbeitsvertrag auf dem Tisch liegen und packte ihn schon mal ein, wobei er sich noch mal bei seinem Vater für die Hilfe bedankte. Dann kam er auf sein Anliegen zurück. „Dad, hast du schon mal den Namen Desdemona Ronove gehört?“

Hier veränderte sich das Gesicht des Anwalts. Hatte es vorher von Freundlichkeit und Gelassenheit gezeugt, wurde es mit einem Male sehr ernst und Sunny begann zu ahnen, dass da etwas im Argen lag.
 

„Wieso fragst du das?“ Etwas unsicher zuckte Sunny mit den Achseln und erklärte „Ich hab im Wohnzimmer der Villa eine Traueranzeige gesehen, wo der Name auftaucht. Ich glaube, dass Daniels Mutter Jessica mit ihm zusammen war und im Nachruf tauchte auch der Name Desdemona auf. Und ich glaube, ich habe den Namen schon mal gehört.“ Sein Vater atmete geräuschvoll aus und fuhr sich mit der Hand über seine Stirn. Sunny kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass dieser so einiges wusste. Doch anstatt direkt zu antworten, murmelte dieser erst nur „Das nenne ich mal einen Zufall…“

„Dad?“ Richard Lane lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und begann zu erzählen. „Der Fall ereignete sich vor zwölf Jahren. Desdemona Ronove war psychisch krank, sie litt an paranoider Schizophrenie und neigte zu extremen Wutanfällen. Sie hatte eine Tochter namens Tessa gehabt, aber auch diese war psychisch labil und wurde schon als Kind in eine Klinik eingewiesen. Die Mutter war nicht ganz unschuldig daran, da sie auch mehrmals versucht hatte, ihre Tochter umzubringen.“ Sunny erstarrte, als er das hörte. Eine Mutter wollte ihr eigenes Kind töten? Aber warum? Als er nachfragte, erklärte sein Vater „Sie sagte aus, ihre eigene Tochter wolle sie in den Wahnsinn treiben und sie beschrieb Tessa als wahre Böse. Man wies Desdemona in eine Nervenheilanstalt ein und auch ihre Tochter musste in eine Klinik. Allerdings konnte Desdemona ausbrechen. Sie tötete erst ihre Eltern und dann erstach sie ihre Zwillingsschwester Jessica mit einem Küchenmesser.“ Eine Pause trat ein und Sunny wurde anders, als er daran dachte, dass Sunnys Tante seine Mutter und seine Großeltern umgebracht hatte. Das war ja schrecklich. Kein Wunder, dass Daniel nicht darüber sprechen wollte. Wer würde das denn schon gerne? „Und hat man sie denn verhaften können?“ fragte der Student nach einer Weile, woraufhin sein Vater antwortete „Die Polizei fand ihre Leiche im Elternhaus, wo sie die drei Morde begangen hatte. Sie hatte sich erhängt und einen Abschiedsbrief hinterlassen, in welchem stand, dass ihre Tochter sie zu dieser Tat gezwungen habe. Es war wirklich einer der bizarrsten Fälle gewesen und er blieb lange in den Medien. Und Daniel ist also der Neffe von ihr… Ich kann es nicht glauben.“ Ich auch nicht, dachte Sunny, aber nun konnte er sich auch erklären, warum Daniel nicht mehr sprach: der Verlust der ganzen Familie durch die psychisch kranke Tante musste ein sehr schweres Trauma für ihn gewesen sein. Doch eine weitere Frage ließ ihn nicht los: wieso hatte sich sein Onkel Malcolm die Mühe gemacht, sich um Daniel zu kümmern und warum dieser Hass? Gab er ihm vielleicht die Schuld an Jessicas Ermordung? Das war doch vollkommener Unsinn. Damals war Daniel doch gerade mal sieben Jahre alt gewesen. Wie sollte er denn da bitteschön Mitschuld am Tod seiner Familie haben?

„Das ist echt heftig“, murmelte er und musste das erst mal sacken lassen. „Aber… wieso sollte ausgerechnet Malcolm auf den Trichter kommen, sich um Daniel zu kümmern, wenn er sowieso jeden Menschen auf der Welt gehasst hat?“ „Nun“, murmelte Richard und faltete bedächtig die Hände. „Vielleicht sah er es als seine Pflicht an, sich um Jessicas Sohn zu kümmern, wenn er sie tatsächlich geliebt hat. Das wäre für mich die einzige vernünftige Erklärung.“ Ja, das klang auch für Sunny plausibel. Aber die Erkenntnis, dass Daniel so etwas Schreckliches passiert war, setzte ihm zu. Vor allem wenn er daran dachte, wie Malcolm ihn all die Jahre behandelt hatte. Doch er musste insbesondere daran denken, was er getan hatte…

„Sunny, was ist los? Bedrückt dich irgendetwas?“ Der Student seufzte und fragte sich, ob er seinem Vater davon erzählen sollte. Dieser wusste schon seit langem, dass sein Sohn bisexuell war und hatte es inzwischen akzeptieren können. Und er ging auch sehr gut damit um, auch wenn er nicht direkt mit Begeisterung reagierte. „Es ist so, Dad: gestern hatten Josh, Angeline und ich die Einzugsparty gehabt und da hab ich auch Daniel eingeladen. Und… naja… es ist halt so, dass… als er eingeschlafen ist und ich ihn zusammen mit Josh hochgebracht habe, da hat er mich geküsst.“ Nun war Richard sprachlos und es war, als wäre er in eine kurzzeitige Schockstarre verfallen. Dann aber versuchte er sich wieder so einigermaßen zu sammeln. Aber es war natürlich erst mal ein Schlag für ihn. „Er hat dich geküsst?“ Sunny nickte und murmelte „Naja, er ist… er ist etwas direkt mit seinen Aktionen und hat auch mich ziemlich überrumpelt. Als er mich geküsst hat, da war ich ziemlich überfordert und bin aus dem Zimmer geflüchtet. Zwar tut er in meiner Gegenwart so als sei nichts, aber er wirkte trotzdem ziemlich geknickt.“ Richard Lane schwieg erst, denn diese Nachricht musste er sacken lassen, denn es war ja nur natürlich, dass er sofort davon ausgehen musste, dass sein einziger Sohn sich zu einem Jungen hingezogen fühlen konnte. Zwar wusste er schon seit Jahren von Sunnys Bisexualität und hatte sie auch akzeptiert, aber dennoch war es erst mal hart zu hören, dass sich da vielleicht eine gleichgeschlechtliche Beziehung anbahnen könnte. „War es dir unangenehm, dass er dir so nah gekommen ist?“ Hier schüttelte der 19-jährige den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Und auch die Tatsache, dass er mir bei jeder Gelegenheit gleich um den Hals fällt, stört mich nicht. Ich mag ihn und ich dachte erst, das wäre bloß auf freundschaftlicher Basis. Ich weiß auch nicht… und dann jetzt diese Geschichte. Ich hab ehrlich gesagt ein schlechtes Gewissen, weil er so viel erleben musste und ich dann einfach abhaue…“

Sunny war klar, dass er das nicht immer so im Raum stehen lassen konnte und das auch mal langsam klären musste. Der Meinung war auch sein Vater, der noch hinzufügte „Tu das, was du für richtig hältst. Du weißt, deine Mutter und ich werden jede deiner Entscheidungen akzeptieren. Die Hauptsache ist nur, dass du glücklich bei der ganzen Sache bist.“
 

Glücklich… tja mit welcher Entscheidung wäre er denn wirklich glücklich? So ganz sicher war er sich da noch nicht und so bedankte er sich für das Gespräch und verabschiedete sich wieder. Er machte sich direkt auf den Rückweg zur Villa und hörte in der Ferne wieder das Grollen des Donners. Und als er wieder die Straße erreichte, glaubte er für einen kurzen Augenblick, wieder aus den Augenwinkeln den grauen Mercedes zu sehen. Doch als er genauer hinschaute, war da wieder nichts. „Oh Mann“, sagte er sich selbst. „Ich beginne echt schon Gespenster zu sehen…“

Liebeserklärung

Sunny atmete tief durch und sammelte sich innerlich, als er wieder die Villa betrat und er versuchte zu überlegen, wie er Daniel am besten gegenübertreten sollte. Vor allem beschäftigte ihn die Frage, was er ihm denn sagen sollte, da kam dieser auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Man hätte wirklich meinen können, er wäre wochenlang weg gewesen. „Ist ja gut, Daniel. Schon gut…“ Er klopfte ihm auf den Rücken und schließlich ließ Daniel wieder von ihm ab. Seine Augen, die so voller Leben waren, wirkten so wunderschön und strahlten etwas Unschuldiges aus. Als ob keine Dunkelheit sie zu trüben vermochte. Dabei musste diese Seele doch schon so viele Narben tragen. Der Tod der Familie, die einsamen Jahre im Haus und die fehlende Liebe. Wie konnte Daniel immer noch die Kraft aufbringen, immer noch so unbeschwert zu lächeln wie jetzt? Woher nahm er die Kraft dafür? Als Sunny wieder daran dachte, was er über Daniels Familie erfahren hatte, schnürte sich ihm die Brust zusammen und ihn plagten wieder diese Schuldgefühle. „Daniel“, begann er langsam, doch da unterbrach ihn auch schon ein Kuss. Ohne Vorwarnung hatte Daniel einen Arm um ihn gelegt und ihn geküsst. Immer noch erwiderte Sunny den Kuss nicht, denn er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt tun sollte. Nur langsam löste sich Daniel wieder von ihm und atmete tief durch. Er wirkte sehr angestrengt, als versuchte er einen inneren Kampf auszutragen. Er kniff die Augen zusammen und zuerst wusste Sunny nicht, was denn mit ihm los war und warum sich Daniel auf einmal so verhielt. Aber dann hörte er ganz schwach, wie er leise und kaum hörbar etwas hervorbrachte, das nach einem heiseren Gestammel klang. Und dann erkannte er, was los war: Daniel versuchte angestrengt, etwas zu sagen und damit sein seit zwölf Jahren andauerndes Schweigen gegenüber anderen Menschen zu brechen. Doch es kostete ihn enorme Kraft und Überwindung und es fiel ihm wirklich nicht leicht. Sunny wollte ihn schon abhalten, damit er sich nicht so quälen musste. „Daniel, lass es doch, wenn es zu schwer für dich ist.“ Doch Daniel schüttelte den Kopf und holte wieder tief Luft, dann legte er seine Hände auf Sunnys Schultern. „Ich… ich…“ Zuerst blieben ihm die nächsten Worte wieder im Hals stecken, aber er gab nicht auf und sprach weiter. „Ich liebe dich, Sunny.“ Der 20-jährige stand da und war erst mal wie weggetreten. Diese Worte zu hören und dann auch noch ausgerechnet von Daniel, waren zu viel für ihn. Er war vollkommen überwältigt in diesem Moment und war erst nicht fähig, darauf zu reagieren. Weder mit Taten, noch mit Worten. Das alles kam so plötzlich und überraschend für ihn, dass er nicht einmal sagen konnte, was er in diesem Moment überhaupt fühlte. Wie denn auch, wenn er urplötzlich von jemandem eine Liebeserklärung bekam, den er erst seit drei Tagen kannte?

Nachdem Daniel diese vier Worte über seine Lippen gebracht hatte, schien auch seine Blockade überwunden zu sein und nun fiel ihm auch das Reden deutlich leichter. Doch er sprach sehr hektisch und dann auch noch, ohne zwischendurch Luft zu holen. „Es tut mir leid, dass das alles so plötzlich kommt, Sunny. Aber ich habe mich in dich verliebt und ich will dir nahe sein, verstehst du? Ich will… ich will…“ Er suchte nach Worten, doch es fiel ihm immer noch schwer, in Anwesenheit eines anderen Menschen zu sprechen, nachdem er es schon seit zwölf Jahren nicht mehr getan hatte. Es verwunderte Sunny, dass Daniel überhaupt noch eine Stimme hatte, es sei denn, er hatte die letzten zwölf Jahre mit seiner Katze geredet. „Daniel…“ „Was ich sagen will ist: ich will Sex mit dir.“ Diese Worte entwaffneten den Studenten völlig und sein Herz setzte fast einen Schlag aus. Innerlich wurde er gerade von einem Zug überrollt und von Daniels direkter Art völlig erschlagen. Er hatte ja mit einigem gerechnet, aber nicht damit, dass dieser so unverblümt sagte, dass er mit ihm schlafen wollte. Nun war er es, der vollkommen sprachlos war und nicht wusste, was er sagen sollte. Er konnte ja wohl kaum „Schön für dich“ sagen.

Heiliger Himmel, nicht mal er hatte so etwas je zu einem Mädchen gesagt, mit dem er zusammen gewesen war. Sie kannten sich erst drei Tage und schon kam Daniel mit so etwas an. Das war nun wirklich zu viel für den Literaturstudenten. „Sunny, was ist los? Geht es dir nicht gut?“ fragte Daniel und neigte mit einem verwirrten Blick den Kopf zur Seite. „Das war… ziemlich direkt“, murmelte der 20-jährige und versuchte, halbwegs Worte zu finden, um es zu erklären. „Ich meine… so etwas sagt man doch nicht so einfach unverblümt, wenn man denjenigen kaum kennt.“ „Wieso nicht?“ Offenbar schien Daniel nun überhaupt kein Problem mehr damit zu haben, in Sunnys Gegenwart zu sprechen. Es war so, als hätte sich in seinem Kopf mit einem Mal ein Schalter umgelegt und auch das war eine Nummer, die der Student erst mal verarbeiten musste. Er war es gewohnt, dass alles langsam von statten ging und sich schrittweise entwickelte. Das war ihm auch alle Male lieber, dann hatte er ja zumindest die Gelegenheit, sich wenigstens vorzubereiten. Aber bei Daniel war es ganz anders. Er machte manche Dinge einfach, ohne sich von irgendwelchen Sorgen und Zweifeln ablenken oder beirren zu lassen. Und deshalb sagte er auch einfach geradeheraus, was ihm durch den Kopf ging.
 

„Warum? Na weil…“, murmelte Sunny und räusperte sich verlegen. Er wich Daniels fragendem Blick aus und kam sich immer noch ziemlich überrumpelt vor. „Weil so etwas sehr persönlich und intim ist. Weißt du überhaupt, was das bedeutet?“ Von dem scheuen und ängstlichen Jungen war überhaupt nichts mehr zu sehen. Stattdessen wirkte Daniel nun wie jemand, der sich das nahm was er wollte und in seinem Denken auch recht unkompliziert war. Ja, er war auf eine Art und Weise unkompliziert, weil er nicht dieses innerliche Hin und Her hatte, was Sunny von sich kannte. „Ich hab zwar zwölf Jahre lang hier isoliert gelebt, aber ich bin durchaus aufgeklärt worden, was den Sex betrifft“, versicherte der 19-jährige ihm. „Ich habe in den letzten Jahren kaum einen Menschen zu Gesicht bekommen, aber das heißt nicht, dass ich meine eigenen Gefühle nicht verstehe. Ich will dich, Sunny. Ich liebe dich und ich will, dass auch du mich liebst.“ Noch direkter hätte man es wirklich nicht sagen können. Erneut wurde Sunny mental von einem Zug überrollt und wusste darauf nichts zu erwidern. Diese direkte und unverblümte Art erschlug ihn regelrecht und er musste sich an der Wand abstützen, da er spürte, wie seine Knie weich wurden. „Sag mal Daniel, hast du denn nicht mal eine Sekunde überlegt, was das bedeutet, dass du für einen Jungen Gefühle hegst?“ Ein Kopfschütteln kam zur Antwort, wobei Daniel noch hinzufügte „Nein, wieso denn auch? Ist das denn ungewöhnlich?“

„Natürlich ist es das. Normalerweise ist es nämlich so, dass ein Mann und eine Frau zusammen sind. Oder hast du das nie gelernt?“ Doch auch hier zuckte Daniel nur mit den Schultern und erklärte ihm, dass sein Privatlehrer ihm erklärt habe, dass jede Form von Beziehung normal war. Im Grunde war Daniel also ein Paradebeispiel dafür, was geschah, wenn ein Junge vollkommen isoliert von irgendwelchen Einflüssen der Umwelt aufwuchs und somit ohne Vorurteile und Voreingenommenheiten aufwuchs. Er hatte quasi nie erfahren, dass es bestimmte Dinge gab, auf die viele Menschen erst mit Zweifeln oder Vorurteilen reagierten. Sunny erkannte so langsam, dass es schwierig war, Daniel begreiflich zu machen, wie andere vielleicht die ganze Sache sehen könnten. Aber so ganz schien es diesen auch nicht mal zu interessieren. Nein, er ließ sich einfach von seinen Gefühlen leiten und war bereit, alles dafür zu tun. Für Sunny, der schon immer zu den vorsichtigen und zurückhaltenden Menschen gezählt hatte, war dies unvorstellbar. „Liebst du mich nicht?“ fragte Daniel schließlich und der Student so allmählich den Eindruck, als würde sich so langsam aber sicher eine Sprachblockade bei ihm bilden. Denn je mehr Daniel ihm auf den Pelz rückte, desto mehr versagte ihm die Sprache. „Das kommt mir alles etwas plötzlich“, rief er und ging die Treppe hoch, Daniel folgte ihm. „Ich meine… wir kennen uns doch so gut wie gar nicht, du bist streng genommen mein Angestellter und plötzlich sagst du mir aus heiterem Himmel, dass du mich liebst und mit mir Sex haben willst. Was erwartest du denn bitteschön?“

„Eine Antwort auf meine Frage.“ Sunny wollte am liebsten einfach abhauen und dieser Situation entkommen. Er fühlte sich komplett in die Ecke gedrängt und wusste nicht, wie er mit dieser ganzen Situation umgehen sollte. Gerade als er die Tür hinter sich zumachen wollte, blockierte Daniel sie mit seinem Fuß und blieb im Türrahmen stehen. „Wieso läufst du vor mir weg?“ rief er man sah in seinen Augen, dass es ihn verletzte. Es tat Sunny auch weh, aber er wusste sich einfach nicht anders zu helfen. „Ich… ich muss…“ Doch weiter kam er nicht, denn da drückte Daniel ihn gegen die Wand und küsste ihn wieder. „Wieso halten dich all diese Dinge davon ab? Nur weil ich hier arbeite, ist das doch kein Grund dafür, dass wir einander nicht lieben können, oder nicht? Und man kann sich doch auch verlieben, wenn man einander nicht kennt. So etwas gibt es auch, davon hab ich oft genug gehört. Und ich sage dir doch nur das, was ich für dich empfinde. Was ist daran falsch? Oder findest du mich abstoßend?“

„Nein, das ist es doch nicht“, rief Sunny und versuchte sich wieder loszureißen, doch Daniel drückte ihn gegen die Wand und hinderte ihn an der Flucht. „Mir fällt es nun mal halt schwer und du überfällst mich hier komplett mit deinem Geständnis. Wie soll ich denn deiner Meinung nach reagieren?“

„Ich will doch nur wissen, ob du mich auch liebst.“ Sunny hatte das Gefühl, als würde ein Kloß in seinem Hals feststecken und er kam sich in diesem Moment ein wenig hilflos vor, so als wäre er in die Ecke gedrängt worden. Und in dem Moment rutschte ihm etwas heraus, was er so garantiert nicht gewollt hatte. Nämlich genau das Gegenteil zu dem, was er eigentlich sagen wollte. „Nein, das tue ich nicht!“ Und als er das rief, stieß er Daniel mit aller Kraft von sich, um sich aus dieser Lage zu befreien. Im selben Moment, wo er diese Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie zutiefst und hätte am liebsten die Zeit zurückgedreht und es ungeschehen gemacht. Doch es war zu spät. Daniels moosgrüne Augen weiteten sich und er wich fassungslos vor Sunny zurück. Der Student sah, wie Daniel blass im Gesicht wurde und wie unendlich tief verletzt er war. Oh verdammt, warum nur musste er auch so eine Scheiße bauen? Er hatte ihn doch gar nicht verletzen wollen. Er wollte doch nur aus dieser Lage raus und wenigstens wieder etwas Abstand haben, um wieder klar im Kopf zu werden. Und nun hatte er ausgerechnet den Menschen verletzt, den er nie und nimmer verletzen wollte. „Daniel, es tut mir leid. Ich…“ Ein ohrenbetäubender Knall ließ den Studenten zusammenzucken, als plötzlich eine Vase zu Bruch ging. Ohne Vorwarnung war sie einfach zersprungen und die Scherben flogen durch die Luft. Erschrocken zuckte Sunny zusammen und riss die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen. Was zum Teufel war das denn gewesen? Als er zu Daniel sah, um sicher zu gehen, dass ihm nichts passiert war, erkannte er, dass dieser völlig neben der Spur stand. Tränen hatten sich in seinen Augenwinkeln gesammelt und er begann am ganzen Körper zu zittern. „Daniel!“ In dem Moment vergaß er, weshalb er ihn von sich gestoßen hatte und wollte zu ihm, um ihn zu beruhigen, doch da riss ihn plötzlich etwas nach hinten und er prallte mit dem Rücken gegen die Wand. „Bleib weg!“ rief der 19-jährige und er wirkte mit einem Male völlig verängstigt und durcheinander. Sunny verstand nicht, was hier los war und was ihn da gegen die Wand geschleudert hatte. Doch er ahnte, dass Daniel irgendetwas damit zu tun hatte, auch wenn er nicht sagen konnte, was es war. Er kam wieder auf die Beine und wagte einen erneuten Versuch.

„Daniel, bitte beruhige dich doch. Lass mich…“

„Nein!“ Im selben Moment zersprang die Fensterscheibe und der Schrank fiel um. Es gelang Sunny noch rechtzeitig, sich auf Daniel zu werfen und ihn wegzuziehen, als der Schrank auch schon mit einem lauten Krach zu Boden fiel. Im nächsten Augenblick schoss plötzlich ein Kugelschreiber quer durch den Raum und das Bett und der Schreibtisch begannen zu wackeln. Irgendetwas Unheimliches ging hier vor sich und Sunny bekam allmählich Angst. Was zum Teufel war denn hier bloß los und wieso bewegte sich auf einmal das ganze Zimmer? „Daniel…“ Der 19-jährige stand völlig neben sich und so langsam wurde Sunny klar, dass er ihn beruhigen musste. Er nahm ihn in den Arm und versuchte, beruhigend auf ihn einzureden. Und dann hörte es auf. Von einer Sekunde zur anderen kehrte Ruhe im Zimmer ein und Daniel sackte bewusstlos zusammen. „Daniel? Hey, Daniel! Was ist los mit dir? Daniel!“ Sunny sah mit Entsetzen, wie blass der 19-jährige eigentlich war und bekam es mit der Angst zu tun. Er legte ihn vorsichtig auf den Boden und versuchte ihn wieder aufzuwecken. Dabei wanderte sein Blick durch den Raum und er betrachtete das Chaos im Zimmer. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er tatsächlich sagen, dass das alles Daniel gewesen war. Irgendwie hatte er es geschafft, die Möbel im Zimmer zu bewegen…
 

Orobas kam gerade gut gesättigt von der Jagd zurück und fragte sich, was sein Schützling wohl in der Zwischenzeit gemacht hatte. Immerhin war er für ein paar Stunden außer Haus gewesen, um auch mal wieder etwas Abwechslung zu haben und seinem Jagdtrieb nachzugehen. Aber als es genug war, hatte er sich dann doch lieber dafür entschieden, wieder zur Villa zurückzugehen. Ihn beschlich da nämlich ein merkwürdiges Gefühl und er hielt es für besser, schnell wieder zurückzukehren um sicherzugehen, dass auch alles in Ordnung mit Daniel war. Nachdem er schon mitbekommen hatte, dass sein Schüler Gefühle für diesen Sunny hegte, war er umso mehr besorgt. Dabei ging es nicht mal um Sunny selbst, denn den konnte er als vertrauenswürdig einstufen und dieser Literaturstudent hatte schon allzu deutlich bewiesen, dass er Daniel nach all der Zeit gut tat. Es waren die Gefühle, die hier das Problem darstellten. Gefühle waren zwar schön und gut, aber sie konnten auch gefährlich werden, insbesondere wenn sie ins Negative umschlugen. Insbesondere die Liebe, die leidenschaftlicher als Hoffnung und viel tiefer als Schmerz sein konnte. Schlug sie in Verzweiflung um, dann waren all die Jahre des Trainings umsonst gewesen. Denn Gefühle konnte man nicht kontrollieren. Sie waren es, die den Menschen kontrollierten. Und darum waren sie so extrem gefährlich.

Als er die Straße erreichte, sah er jemanden aus der Villa kommen und das war nicht Daniel und auch nicht Sunny. Es war ein Mann von knapp 30 Jahren, vielleicht auch etwas älter. Er hatte eine fast schneeweiße Haut und aschblondes Haar. Er trug eine Kapuzenjacke und eine Sonnenbrille. Ganz gemütlich schlenderte er zu seinem Wagen, einem staubgrauen Mercedes und stieg ein. Allerdings fuhr er nicht los. Orobas erkannte sofort, dass das kein gewöhnlicher Mensch war. Das war der Dream Walker, der Daniel und Sunny schon während des Einkaufs verfolgt hatte. Aber was hatte er in der Villa zu suchen gehabt? Orobas näherte sich vorsichtig dem Auto und jeder Muskel seines kleinen Katzenkörpers spannte sich an. Er konnte nicht sagen, wie gefährlich der Dream Walker war, aber sollte er erfahren, dass er entgegen Josephines Einschätzung Daniel schaden wollte, würde er nicht tatenlos herumsitzen und nichts tun. Immerhin hatte er dem Jungen versprochen, auf ihn aufzupassen und er stand seinen Schützlingen treu zur Seite.

Dann aber bemerkte der Dream Walker den Bombay-Kater und nahm seine Sonnenbrille ab. Zum Vorschein kam ein graues Augenpaar, das zu einem fein geschnittenen Gesicht gehörte. „Na sieh an, gehörst du auch zu Josephine, Kater?“

„Mein Name ist Orobas.“ Dass der Dream Walker Josephine kannte, konnte tatsächlich darauf hindeuten, dass er derselbe war, der auch schon Tessa gestoppt hatte. Doch er konnte trotzdem nicht direkt einschätzen, ob er den Kerl als Gefahr einstufen sollte. „Was genau hat ein Dream Walker wie du hier verloren? Bist du hinter Daniel her?“ Der Mann lächelte und setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Das klingt ja danach, als hätte ich es auf sein Leben abgesehen“, stellte er fest und lachte. „Nein, ich bin nicht daran interessiert, ihn umzubringen. Zumindest nicht, solange keine Notwendigkeit besteht. Ich will nur sichergehen, dass er sich nicht in eine tickende Zeitbombe verwandelt. In der Hinsicht können die Konstrukteure sehr gefährlich werden, insbesondere wenn sie die Kontrolle verlieren.“

„Willst du damit auf etwas Bestimmtes hinaus? Was hast du in der Villa zu suchen gehabt?“ Orobas ließ ein bedrohliches Knurren vernehmen. Doch davon ließ sich der Mann auch nicht sonderlich beeindrucken und erklärte ganz einfach „Ich habe nur Präventionsmaßnahmen getroffen, damit dein Schützling keine Dummheit macht und ich keine ernste Gewalt anwenden muss. Keine Sorge, ihm geht es gut. Wie gesagt: es steht nicht in meiner Absicht, ihm ernsthaft etwas anzutun, wenn die Notwendigkeit nicht besteht.“ Dies genügte Orobas fürs Erste und so machte er sich wieder auf den Weg. Aber für ihn stand dennoch fest, dass er diesen Kerl im Auge behalten würde.
 

Sunny hatte schon ernsthaft überlegt, den Notarzt zu rufen, da kam Daniel langsam wieder zu sich. Er wirkte noch etwas benommen und setzte sich langsam auf. Erleichtert schloss der Student ihn in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Mensch Daniel, hast du mir einen Schrecken eingejagt.“ Es kam keine Antwort. Für einen Moment fürchtete der 20-jährige, dass Daniel wieder in sein Schweigen zurückverfallen war, doch da sah er wieder die Tränen in dessen Augen. „Es tut mir leid“, brachte Daniel hervor und senkte den Blick. „Ich… ich wollte das nicht. Ist dir irgendetwas passiert?“ „Mit mir ist alles in Ordnung. Aber… was war das gewesen? Der ganze Raum hat auf einmal wie verrückt gewackelt, der Schrank ist umgefallen und die Scheiben sind zerbrochen.“ Immer noch wirkte Daniel blass im Gesicht und es war Angst in seinen Augen zu erkennen. Sein Blick wanderte zu dem Schrank, der umgestürzt war und der ihn beinahe unter sich begraben hätte, wenn Sunny nicht rechtzeitig genug reagiert hätte. Und dann geschah etwas Unglaubliches, was der Student erst gar nicht fassen konnte: langsam begann sich der Schrank zu bewegen. Ja, er richtete sich ganz von allein wieder auf und rückte wieder an seinen Platz. Selbst die Scherben auf dem Boden sammelten sich zusammen und wanderten in den Papierkorb. Auch sämtliche Gegenstände, die heruntergefallen waren, kehrten wieder auf ihren Platz zurück. Fassungslos beobachtete Sunny das Geschehen und bekam es fast mit der Angst zu tun. Dann wanderte sein Blick zu Daniel. „Machst… machst du das gerade?“ Ein Nicken kam zur Antwort, woraufhin der 19-jährige erklärte „Seit meiner Geburt habe ich diese Begabung. Ich kann Dinge durch meine Willenskraft bewegen und ich habe diese Fähigkeiten schon von klein auf trainiert, um sie perfekt zu beherrschen. Ich weiß nicht, wieso ich das kann… es ist einfach so.“ Das war erst mal ein starkes Stück für Sunny. Aber das erklärte, wie es Daniel schaffen konnte, in so einem unglaublichen Tempo so gründlich zu arbeiten. Er benutzte seine Fähigkeiten, um gleichzeitig mehrere Aufgaben auszuführen. Sunny musste sich setzen, denn das war erst mal echt eine unglaubliche Nachricht. Daniel beherrschte telekinetische Fähigkeiten. Er war wie Stephen Kings Carrie White… Unglaublich. Es gab tatsächlich Menschen, die übernatürlich begabt waren!

„Wusste mein Onkel davon?“ Daniel nickte zögernd und erklärte „Er hat mich deswegen in den Keller gesperrt und mich jedes Mal verprügelt, wenn er mich dabei erwischt hat. Er hat gesagt, wenn er mich noch mal dabei sieht, bringt er mich um. Deswegen habe ich das alles heimlich gemacht und meist mit meinen Murmeln im Keller geübt. Ich hatte Angst, eines Tages die Kontrolle zu verlieren und jemandem wehzutun. Malcolm wollte auch verhindern, dass ich zu einer Gefahr für andere werde. Deshalb hat er mich in der Villa von der Außenwelt isoliert und im Keller einquartiert. Und darum durfte ich fast nie raus. Ich wollte es dir noch sagen, Sunny. Aber ich hatte Angst, dass du mich für einen Freak oder für eine Missgeburt hältst und mich rausschmeißt. Und ich wollte nicht, dass du mich hasst.“ So langsam wurde Sunny das ganze Ausmaß klar der ganzen Situation klar. Jetzt verstand er auch, warum sein Onkel Daniel all die Jahre im Keller wohnen ließ und woher die Verletzungen an seinem Körper stammten. Und das erklärte auch das plötzliche Durcheinander im Zimmer. Diese Zurückweisung hatte ihn so dermaßen durcheinandergebracht, dass er die Kontrolle über seine Fähigkeiten verloren hatte. Und das alles nur wegen mir, dachte Sunny und er fühlte sich wirklich mies in diesem Moment. Nur weil ich kalte Füße gekriegt habe, hab ich ihn dermaßen vor den Kopf gestoßen und seine Gefühle verletzt, dass er die Kontrolle verloren hat. Oh Mann, ich bin aber auch wirklich ein totaler Vollidiot.
 

Sunny senkte den Blick und wagte es kaum, Daniel anzusehen. Sein schlechtes Gewissen nagte an ihm. „Es tut mir leid, Daniel“, sagte er schließlich und seufzte. „Es tut mir leid, dass ich das vorhin gesagt habe. Ich war nicht ganz ehrlich…“ Wieder war dieses Scheue und Zurückhaltende in Daniels Augen, wie er es bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. „Ich… ich fühlte mich einfach total in die Ecke gedrängt und hab Panik gekriegt, okay? Wenn ich ehrlich sein soll, war mir schon seit dem Kuss gestern Abend klar, dass wohl keine freundschaftlichen Gefühle da sind, sondern tiefere. Und… naja… es ist nicht so, dass ich es überhaupt nicht will. Ich war nur halt nie mit einem Jungen zusammen und ich war einfach überfordert mit der Situation.“ Immer noch war eine gewisse Unsicherheit in Daniels Augen zu sehen und zögernd fragte er „Dann heißt das also, dass du mich auch liebst? Und du hältst mich nicht für ein Monster?“

„Wieso sollte ich das tun?“ fragte Sunny, allerdings war ihm anzumerken, dass diese Erkenntnis über Daniels Fähigkeiten ihm immer noch tief in den Knochen steckte. „Für seine Fähigkeiten kann man nichts. Es ist zwar echt ein starkes Stück, vor allem weil ich nie an so etwas geglaubt habe. Aber ehrlich gesagt wäre ich neidisch drum und hätte am liebsten auch solche Fähigkeiten. Und… ob ich dich jetzt liebe? Also… ähm…“ Sunny schaffte es nicht, klare Worte zu finden und so beließ es Daniel einfach dabei und küsste ihn. Nach kurzem Zögern erwiderte der Student den Kuss und spürte, wie Daniel seine Arme um ihn legte. So langsam wich der Schreck und er war einfach nur froh, dass es Daniel gut ging und ihm nichts passiert war. Als dieser einfach so ohnmächtig geworden war, hatte Sunny fast befürchtet, Daniel müsse ins Krankenhaus.

Natürlich war das alles noch etwas schwierig für ihn. Vor allem nach der Erkenntnis, dass Daniel tatsächlich eine übernatürliche Begabung hatte. Auch diese Gefühle für Daniel waren erst einmal etwas schwierig für ihn, vor allem weil seine letzte Beziehung knapp acht Monate her war. Aber andererseits konnte er nicht verleugnen, dass er Gefühle für ihn hatte und diese Sexträume waren ihm ja auch nicht unangenehm. Doch innerlich schien sich ein Teil von ihm davor zu drücken wollen. Aus welchem Grund auch immer. Ach verdammt, dachte er sich und erwiderte die Umarmung. Ich sollte aufhören, mich wie ein schreckhafter Feigling aufzuführen und endlich mal Eier in der Hose haben. „Sunny“, hörte er Daniels Stimme an seinem Ohr. „Ich will dich…“

„Jetzt hier?“ fragte er und errötete. „Du bist gerade noch ohnmächtig gewesen! Willst du dich nicht lieber erst mal ausruhen?“ „Es geht mir gut“, versicherte der 19-jährige und dem Studenten schwante so langsam, dass er sich hier nicht mehr herauswinden konnte. Nein, Daniel würde sich durchsetzen und er würde wohl nicht drum rum kommen. „Ich bin einfach nur glücklich, dass du mich nicht hasst, weil ich diese Kräfte habe und dass du auch etwas für mich fühlst. Weißt du, es ist… es ist das erste Mal seit Mums Tod, dass sich jemand so um mich gekümmert hat wie du, Sunny.“ Wieder musste der Student an das denken, was sein Vater erzählt hatte. Über Daniels Tante Desdemona, die seine Mutter und seine Großeltern getötet hatte.

„Daniel…“ Er spürte, wie die Umarmung sich verstärkte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie einsam Daniel all die Jahre gewesen sein musste. Wie trostlos für ihn Feiertage wie Thanksgiving, Ostern oder Weihnachten und Geburtstage gewesen waren. Eine glückliche Kindheit sah anders aus. „Vielleicht bin ich so stürmisch, weil ich einfach nicht mehr alleine sein will“, murmelte Daniel und seine Stimme hatte etwas Trauriges angenommen. „Außer Orobas hatte ich niemanden mehr gehabt. Die ganzen Jahre war ich allein und niemand hat sich um mich gekümmert, geschweige denn, dass mich irgendjemand geliebt hat. Und dann bist du gekommen… Es tut mir wirklich leid, wenn ich dich überfordere. Aber ich will einfach mehr von diesen Gefühlen, verstehst du? Ich will es einfach selber erleben, wie es ist, jemanden zu lieben und mit ihm alles zu teilen.“ Diese Worte bewegten den Studenten zutiefst und in dem Moment vergaß er auch seine ganzen Zweifel. Im Grunde hatte Daniel ja Recht. Es war nichts falsch daran, jemanden aufrichtig zu lieben. Und nun hatte Daniel zum allerersten Mal in seinem Leben die Chance, eine völlig neue Liebe zu erfahren und ausleben zu dürfen. Und sollte er ihm diese verwehren, nur weil er seinerseits ein Angsthase war? Als er so darüber nachdachte, fasste er für sich einen Entschluss. Er hielt Daniel fest im Arm und spürte, wie dieser mit seinen Gefühlen kämpfte. „Ist schon gut, Daniel. Wenn das dein größter Wunsch ist, dann lass es uns tun.“

„Bist du dir sicher?“ fragte Daniel und löste sich wieder von ihm. Doch Sunnys Entschluss stand schon längst fest. „Glaub mir, ich bin mir sicher.“

Das erste Mal

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Daniels kleiner Ausflug

Der nächste Morgen begann für Sunny mit Schmerzen. Er konnte sich kaum bewegen, ohne dass seine gesamte untere Körperhälfte wehtat und er schaffte es nur mit Mühe aus dem Bett. Er wankte mehr oder weniger ins Bad und fragte sich, ob der Schmerz vielleicht noch nachlassen würde. Auch sonst sah er ziemlich gerädert aus. Vielleicht hätten sie es doch nicht so übertreiben sollen, aber andererseits hatte er es ja genauso gewollt. Und deshalb war es auch nicht fair, die Schuld bei Daniel zu suchen. Nur blöd, dass er heute zur Uni musste, daran hatte er ja gar nicht gedacht. Kurzerhand rief er dort an und meldete sich für heute krank. Stattdessen beschloss er, sich nach dem Essen wieder etwas hinzulegen. In der Küche traf er Daniel, der seinerseits topfit war und gerade das Frühstück vorbereitete. Und er schien in ein Gespräch vertieft zu sein. „Ich weiß, was ich tue und ich habe keinen Grund, Sunny nicht zu vertrauen. Ich liebe ihn, was ist daran falsch?“ Eine kurze Pause trat ein und der Student bemerkte, dass Orobas der schwarze Kater auf der Küchenarbeitsfläche saß und Daniel ansah. Ob Daniel etwa mit ihm redete? Nun, er hatte zumindest gestern gesagt gehabt, dass er seine Telepathie hauptsächlich einsetzte, wenn er mit Orobas reden wollte. „Es geht mir gut und mir wird schon nichts passieren“, versicherte Daniel und drehte sich um, als er bemerkte, dass Sunny hinter ihm stand. „Guten Morgen, Sunny. Hast du gut geschlafen?“

„Ja, nur mit bewegen ist es heute nicht so wirklich… Redest du etwa mit dem Kater da?“ Ein Nicken kam zur Antwort, wobei der 19-jährige erklärte „Orobas ist nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein Lehrer. Er hat schon einige Menschen gekannt, die genauso eine Begabung hatten wie ich und deshalb bringt er mir den Umgang mit meinen Kräften bei.“ Eine Katze, die einen Menschen unterrichtete… Das klang irgendwie vollkommen verrückt, aber nach dem, was er gestern erlebt hatte, hielt Sunny inzwischen so ziemlich alles für wahrscheinlich. Wenn es schon Menschen wie Daniel mit übernatürlichen Fähigkeiten gab, warum sollte ein Tier ihn nicht unterrichten? Inzwischen glaubte der Literaturstudent, so ziemlich alles gesehen zu haben. „Okay… Klingt irgendwie schräg, aber wenn es so ist… Du hör mal, Daniel. Könntest du vielleicht gleich eben zur Uni gehen und dort etwas für mich abgeben?“ Als Daniel hörte, dass er das Haus verlassen sollte, sah er etwas nervös aus und wahrscheinlich fürchtete er sich ein wenig davor. Dann ließ aber Orobas ein leises Miauen vernehmen und er schmiegte mit einem leisen Schnurren seinen Kopf an Daniels Hand. „Keine Sorge, ich schreib dir den Weg auf“, schlug Sunny vor. „Zur Not kannst du dich auch durchfragen. Auf der Uni sind alle ganz in Ordnung und wenn du fragst, helfen sie dir auch. Es ist halt nur wichtig, dass der Text zu Professor Rhodes kommt. Ansonsten krieg ich noch richtig Ärger.“ Und das war für Daniel Argument genug, um zu gehen. „Okay, dann mach ich mich gleich auf den Weg. Wo liegt denn der Text?“ Sunny musste kurz nachdenken. „Ich glaube, der war noch in meiner Tasche. Ach ja! Ich hab ja noch den Arbeitsvertrag, den hatte ich ja gestern völlig vergessen. Den müssen wir gleich noch zusammen durchlesen.“

Daniel nickte und ließ Sunnys Tasche aus dessen Zimmer in die Küche kommen. So wirklich hatte sich der Student noch nicht daran gewöhnt, dass sein Freund und Angestellter übersinnlich begabt war und immer noch wirkte es ein wenig gruselig auf ihn. Die Tasche flog direkt auf Sunny zu und er nahm sie entgegen. „Wie machst du das eigentlich?“ fragte er erstaunt nach. „Ich meine… wie kannst du all diese Sachen bewegen, ohne dass du sie siehst?“ „Das wird über eine Art zusätzlichen Sinn gesteuert, den man sich wohl antrainieren kann“, erklärte der 19-jährige, während er nun Speck und Spiegeleier in der Pfanne anbriet. „Es ist so, als würden diese Dinge eine Art Resonanz ausstrahlen, die ich wahrnehmen kann. Fast so wie eine Art Sonar funktioniert das. Jedenfalls kann ich mich anhand dessen auch orientieren, selbst wenn ich nichts sehen kann. Hat zwar ziemlich viel Übung gebraucht, aber inzwischen kann ich das ganz gut.“ Offenbar schien es mehr übersinnlich begabte Menschen zu geben, als Sunny selbst gedacht hätte.
 

Sunny begann in seiner Tasche zu kramen und holte den Vertrag und den Text heraus. Er gab Daniel beides und nachdem dieser den Vertrag durchgelesen hatte, unterschrieb er diesen und gab ihn Sunny zurück. Den Text ließ er in sein Zimmer in seine Tasche verschwinden und nachdem er die exakte Wegbeschreibung erhalten hatte, verabschiedete er sich und machte sich mit seiner Tasche und mit Orobas in Begleitung auf den Weg. Der 20-jährige, der sich noch ziemlich gerädert fühlte, ging ins Wohnzimmer und machte es sich auf der Couch bequem. Er schaltete den Fernseher an und schaute sich ein paar Sendungen an. Allerdings schweiften seine Gedanken immer mehr zu Daniel ab und er fragte sich, ob er wohl zurechtfinden würde. Immerhin hatte er das Haus ja kaum verlassen und da konnte er schon verstehen, wenn dieser erst mal etwas Angst hatte. Naja, aber andererseits hatte er Daniel den Weg so genau aufgeschrieben, dass er sich unmöglich verlaufen konnte. Und so weit war die Universität ja nicht entfernt. Sicherheitshalber schrieb er aber noch mal Angeline an, um ihr Bescheid zu geben. Sie konnte Daniel ja am Eingang treffen und die Sachen entgegennehmen. Josh wollte er das lieber nicht aufbürden, der würde das komplett verpeilen. Nein, Angeline war da deutlich zuverlässiger und Daniel verstand sich auch sehr gut mit ihr. Es würde schon alles gut gehen.
 

Als Daniel sich auf den Weg gemacht hatte, war ihm aufgefallen, dass der Weg zur Universität am Friedhof vorbeiführte. Er wandte sich an Orobas, der ihn wie immer begleitete. „Meinst du, es geht in Ordnung, wenn wir einen kurzen Abstecher zum Friedhof machen? Ich wollte kurz Mums Grab besuchen.“ „Ich wüsste nichts, was dagegen sprechen sollte.“ So bogen sie eine Straße früher ab und als Daniel die hohe Mauer und das schmiedeeiserne Tor sah, da hatte er das Gefühl, als würde seine Nervosität langsam schwinden. Dieser Ort hatte etwas Vertrautes an sich. In all den Jahren, wo er nur höchstens drei Mal im Jahr das Haus verlassen durfte, war er zum Friedhof gegangen, um seine Mutter zu besuchen. Es hatte ihm jedes Mal Trost gespendet und hier hatte er auch Orobas getroffen, nämlich bei der Beerdigung. Von da an war der Kater niemals von seiner Seite gewichen.

Normalerweise hatten Friedhöfe meist etwas Bedrückendes und Unheimliches an sich, aber dieser Eindruck war an Daniel irgendwie vorbei gegangen. Er sah sich gerne die wunderschön gepflegten Gräber an und sah nach, wie denn die Personen hießen, die verstorben waren. Und gleich schon, als er fast das Grab seiner Mutter erreicht hatte, sah er da jemanden stehen. Es war ein groß gewachsener Junge von vielleicht 18 Jahren mit langem schwarzem Haar. Daniel hatte ihn noch nie zuvor gesehen, aber er spürte sofort, dass etwas Seltsames von ihm ausging. Er blieb sicherheitshalber auf Abstand und hörte, wie der Junge redete. Ja, er hielt den Blick zum Grabstein gerichtet und redete. Aber mit wem? „Orobas, wer ist der Junge?“ Der Kater trat etwas näher und schnupperte aufmerksam. „Mach dir keine Sorgen, das ist ein Nekromant.“ „Ein Nekromant?“ fragte Daniel irritiert, denn so etwas hatte er noch nie zuvor gehört. Er betrachtete den Jungen unsicher, der gar nicht zu bemerken schien, dass er beobachtet wurde, stattdessen redete er einfach weiter. Orobas sprang flink auf einen Grabstein und setzte sich. „Es gibt viele Arten von Begabungen auf dieser Welt, mit denen Menschen geboren werden. Und das beinhaltet nicht nur Telepathie und Telekinese. Es gibt auch eine uralte Kunst, mit der die Nekromanten arbeiten. Sie werden auch Totenflüsterer genannt. Sie können die Seelen der Verstorbenen sehen, ihre Stimmen hören und mit ihnen Kontakt aufnehmen. Manche von ihnen sind sogar in der Lage, die Toten wieder ins Leben zu holen. Dies tun sie aber äußerst selten, weil es gefährlich sein kann, die Gesetze des Todes zu brechen. Aber vorgekommen ist es schon. Und da sie den Tod beherrschen, können sie ihn auch verursachen.“ Irgendwie fiel es Daniel schwer zu glauben, dass ein Mensch tatsächlich den Tod beherrschen konnte. Aber andererseits… er war ja selbst nicht das, was man als normal bezeichnen konnte. Warum sollte dieser Junge da am Grab seiner Mutter eine Ausnahme bilden? „Und wieso redet er an Mums Grab?“

„Nekromanten suchen instinktiv die Nähe zum Tod, weil sie sich oft von den Menschen missverstanden fühlen. Man könnte sagen, dass der Junge dort als eine Art Seelsorge für die Verstorbenen fungiert und sich ihre Sorgen und Nöte anhört und mit ihnen redet. Aber hab keine Angst. Die Nekromanten verfügen zwar über eine erschreckende Gabe und wirken auf andere erst einmal sehr unheimlich, aber sie sind ein friedfertiges Völkchen und haben kein Interesse an irgendwelchen Konflikten. Sie bleiben lieber unter sich.“ Dann spricht er also mit meiner Mutter? Als Daniel dieser Gedanke kam, näherte er sich vorsichtig dem Jungen und nahm all seinen Mut zusammen, um ihn anzusprechen. „Ähm… Entschuldigung…“
 

Selten hatte Daniel so eine Angst verspürt, als er dem Jungen, der knapp an die 1,90m groß war, direkt ins Gesicht sah. Seine Augen leuchteten in einem tiefen Blutrot, leichte Augenringe zeichneten sich ab und seine Miene wirkte finster und bedrohlich. „Ja?“ fragte der Fremde ihn und beinahe hätte Daniels Stimme versagt. Nur mit Mühe konnte er sich zusammenreißen und Worte finden. „Me-mein Name ist Daniel Ronove. Du ähm… also ich…“ Der 19-jährige spürte, wie ihm die Knie zitterten. Er konnte sich nicht erklären, warum der Junge so furchteinflößend auf ihn wirkte, aber ihm war, als könne er regelrecht spüren, dass dieser etwas Kaltes und Unnatürliches ausstrahlte. „Du bist also Daniel“, stellte der Junge fest und hob die Augenbrauen. Dann aber reichte er ihm die Hand zur Begrüßung. Um nicht unhöflich zu erscheinen, erwiderte Daniel diese Geste und lächelte schüchtern. „Gut, dass du da bist. Ich habe gerade noch mit deiner Mutter gesprochen und soll dir von ihr ausrichten, dass sie dich sehr liebt und es ihr leid tut, dass sie dich so früh verlassen musste. Und sie hofft, dass es dir gut geht. Sie lässt dir ausrichten, dass du immer ihr kleiner Engel sein wirst.“ Als Daniel das hörte, schnürte sich ihm die Brust zusammen und Tränen sammelten sich in seinen Augen. Erinnerungen an damals kamen zurück, als er von ihr immer „kleiner Engel“ genannt wurde. Und ihm wurde wieder klar, wie sehr er sie eigentlich vermisste.

„Danke“, sagte er und wischte sich die Tränen weg. „Mir… mir geht es gut und ich bin auch glücklich.“ Der rotäugige Junge nickte und versprach „Ich werde es sie wissen lassen“, dann wandte er sich um und wollte gehen, doch da hielt Daniel ihn zurück. „Warte, ähm… wie ist eigentlich dein Name?“ Wieder ruhten diese unmenschlich wirkenden Augen auf ihm und ein eiskalter Schauer fuhr Daniel über den Rücken. Ihm war, als würde der Blick dieses Nekromanten töten können. „Ich heiße Lumis.“

„Bist… bist du öfter hier?“

„Nein, ich komme aus Backwater. Ich bin nur zu Besuch hier.“ Backwater? Von der Stadt hatte Daniel noch nie etwas gehört, aber da er eh das Haus fast nie verlassen hatte, waren seine Kenntnisse über die Ortschaften in der Gegend auch mehr als dürftig. Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich Lumis und ging seiner Wege. Daniel sah ihm nach und bemerkte, als er sich dem Grab seiner Mutter zuwandte, dass seltsame Blumen in eine Vase gestellt und ein Grablicht angezündet worden waren. Neugierig betrachtete Daniel die Blumen, konnte sie aber nicht zuordnen, woraufhin er Orobas fragte „Was sind das für Blumen?“ „Das sind rote Spinnenlilien“, erklärte der Kater und bekam eine kleine Feldmaus zu fassen, die an ihm vorbeiflitzte. „Blumen, die mit dem Tod verbunden werden, üben eine Faszination auf Nekromanten aus und ich denke, dieser Lumis hat deiner Mutter die Blumen vorbeigebracht, als er sie besucht hat.“ Er hat meiner Mutter Blumen gebracht und ein Grablicht für sie angezündet, obwohl er sie gar nicht kennt, dachte Daniel und schaute wieder in die Richtung, in die Lumis verschwunden war. Doch von ihm war nichts mehr zu sehen. „Er wirkte ziemlich gruselig, aber er scheint ein ganz netter Kerl zu sein.“

„Es gehört zu den natürlichen Eigenschaften eines Nekromanten dazu, dass sie mit einer Aura geboren werden, die auf viele Menschen unheimlich wirkt. Zumindest auf jene, die auch Angst vor dem Tod haben. Doch vor den Nekromanten braucht man keine Angst zu haben. Sie sind für euch Menschen vielleicht etwas seltsam, weil sie eine so enge Verbundenheit zum Tod haben, aber sie sind für gewöhnlich sehr friedfertig und harmlos.“ Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, kehrte Daniel schließlich wieder zur Hauptstraße zurück, nachdem er ein paar Worte zu seiner Mutter gesprochen hatte und derweil erfuhr er von Orobas, dass es noch mehr Menschen mit einer besonderen Begabung gab. So lernte er dabei auch, dass jene mit ausschließlich telekinetischen Fähigkeiten Konstrukteure genannt wurden, weil sie das Konstrukt der äußeren Welt beeinflussen konnten. Hier aber fragte er nach, was denn die „äußere Welt“ war, woraufhin der Kater erklärte, dass die äußere Welt alles war, was sie umgab. Der Himmel, die Erde, das Wasser, die Straßen, die Häuser… also alles, was in irgendeiner Art und Weise greifbar war und sich größtenteils durch Telekinese steuern ließ. Flüssige und gasförmige Dinge ausgenommen. „Die innere Welt ist die am meisten angreifbare und fragilste von allen. Das sind deine Erinnerungen, deine Gefühle, dein Denken und deine Wahrnehmung. Also alles, was in deinem Kopf stattfindet. Auch deine Träume gehören dazu. Diese innere Welt wird von den Dream Walkern beeinflusst. Das sind Telepathen, die in der Lage sind, das Unterbewusstsein zu verändern. Sie können dich Dinge tun lassen, ohne dass du es merkst. Sie gelten als Feinde der Konstrukteure, weil diese sich nicht gegen diesen Einfluss wehren können. Um also einen Dream Walker aufzuhalten, braucht es einen anderen Dream Walker.“
 

Daniel war beeindruckt und hatte nicht gedacht, dass es verschiedene Arten von begabten Menschen gab. Dabei hatte er fast gedacht, er würde eine Ausnahme bilden. „Gibt es noch mehr?“ „Nun, es gibt auch noch Menschen, die zwar keine Begabung in dem Sinne haben so wie du. Aber sie verfügen über einen unfassbar scharfen und treffsicheren siebten Sinn, den sie auch Intuition nennen. Durch diesen können sie ihre Mitmenschen durchschauen und Dinge erahnen, die noch nicht passiert sind, oder die längst geschehen sind. Hier aber ist es so, dass diese Gabe nicht zufällig auftritt, so wie in deinem Fall. Dieser besondere Sinn liegt sozusagen in der Familie und wird weitervererbt. Das wären nach meinem Kenntnisstand alle Arten von Begabungen, die die Menschen besitzen.“

Es war unglaublich, aber wenn Daniel so darüber nachdachte, dass er nicht alleine war, so beruhigte es ihn auch ein Stück weit zu wissen, dass es auch andere Menschen gab, die mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet waren. „Wie viele Konstrukteure gibt es denn?“ Hier musste der Kater überlegen. „Sehr wenige. Telekinese gehört zu den seltensten Fähigkeiten, weil die Konstrukteure lange Zeit verfolgt und getötet wurden. Meist gibt es nur einen bis maximal drei Konstrukteure auf der ganzen Welt innerhalb einer Generation. Auch Nekromanten sind eher selten, wohingegen Dream Walker und Seers, also Menschen mit einem besonderen siebten Sinn recht häufig vorkommen. Allerdings wissen viele von ihnen gar nicht, dass sie diese Begabung haben. Sie glauben meist an Zufälle, wenn sie etwas denken und der andere spricht es aus. Die Menschen haben einfach ihren Glauben verloren, deshalb scheint sich auch diese Macht langsam aber sicher zu verlieren.“

„Und gibt es auch Menschen, die alle diese Fähigkeiten haben?“ Orobas blieb stehen und seine goldgelben Augen funkelten Daniel an. Er schwieg und erst sah es nicht danach aus, als würde er darauf antworten. Aber dann brach er doch sein Schweigen. „Es gibt einen einzigen Menschen, der solch eine Macht in sich trägt. Und dieser ist sehr mächtig und vor allem gefährlich. Diese Person trägt sowohl die Kräfte eines Dream Walkers, eines Konstrukteurs und eines Nekromanten in sich. Allerdings zeigt sie sich so gut wie nie, weil sie die Menschen abgrundtief verachtet. Die Chance, dieser Person zu begegnen, tendiert also gegen Null.“ Daniel versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn er selbst über solche Kräfte verfügen würde. Und wenn er ehrlich war, jagte ihm diese Vorstellung irgendwie Angst ein. Unfassbar, dass es einen Menschen gab, der so mächtig war. „Ist dieser Mensch gefährlich?“ „Auf eine gewisse Art und Weise schon. Aber sie zieht es lieber vor, alleine zu leben und den Kontakt zu Menschen zu meiden. Wenn man ihr freundlich begegnet, dürfte eigentlich kaum eine ernste Gefahr bestehen.“ Aha, dann war es also eine „sie“. Am liebsten hätte Daniel noch mehr gefragt, aber er musste auch auf den Weg achten und aufpassen, dass er sich nicht noch verlief. Teilweise war es wirklich sehr schwierig und er merkte auch, wie hilflos er eigentlich war, was die Orientierung anbelangte. In diesem Moment wünschte er sich, dass Sunny bei ihm wäre. Er wollte am liebsten mit ihm durch die Straßen gehen und die Stadt endlich einmal selber sehen. Am liebsten hätte er den ganzen Tag an seiner Seite verbracht.
 

Nach knapp einer Viertelstunde hatte er endlich die Universität erreicht und als er das riesige Gelände sah, verließ ihn gleich der Mut und ihm rutschte das Herz in die Hose. Hilfe, wie sollte er denn hier zurechtfinden? Wo sollte er denn bitte hin? Etwas orientierungslos schaute er sich um und entdeckte dann eine Art Lageplan, wo man genau erkennen konnte, wie die Verteilung der einzelnen Gebäude war. Er schaute noch mal auf seinen Zettel und las, dass er in Gebäude „LI“ gehen musste. Okay, das war auch auf dem Plan zu sehen. Daniel studierte den Plan genauer und versuchte sich den weg genau einzuprägen, dann ging er los und steuerte sogleich das Gebäude an, von dem er sicher war, dass es das richtige sein musste. Auf dem Campus waren mehrere Studenten versammelt und saßen rum, manche trugen die typischen Collegejacken und machten einen ziemlich sportlichen Eindruck. Gerade, als er an ihnen vorbeigehen wollte, da stand einer von ihnen auf und kam direkt auf ihn zu. Es war ein blondhaariger, ziemlich durchtrainierter Kerl, der nach der Kleidung zu urteilen zum Sportlerteam der Universität gehörte. „Was gibt’s da zu glotzen, du Milchbube? Was suchst du hier überhaupt hier? Das ist das Gebiet der Verbindung Gamma-Phi-Delta!“ Verbindung? Gamma-was? Daniel verstand nicht ein einziges Wort von dem, was der Kerl sagte und sah ihn ratlos an. Am liebsten hätte er sich schnell entschuldigt und wäre wieder gegangen, aber ihm versagte komplett die Stimme und er brachte nicht einen Ton hervor. Erschrocken wich er zurück, doch da kamen schon zwei weitere auf ihn zu und ehe er sich versah, wurde er eingekreist und dann packte ihn der Blonde am Kragen. „Bist du taub, oder was? Wenn ich etwas frage, verlange ich auch eine Antwort, oder du kannst dich gleich hier und jetzt von deinen Zähnen verabschieden!“

Doch Daniel, der vor Angst in eine regelrechte Schockstarre verfallen war, brachte kein einziges Wort hervor. Lauf weg, rief eine Stimme in seinem Kopf. Na los, worauf wartest du? Lauf weg! Endlich schaffte es der 19-jährige, wieder aus seiner Schockstarre zu erwachen und wegzulaufen. Er drängte sich an den dreien vorbei und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Wohin er rannte, wusste er in diesem Moment selbst nicht so genau. Hauptsache nur schnellstmöglich weg von diesen Kerlen. Doch die rannten ihm tatsächlich noch hinterher und riefen ihm nach. Hilfe, dachte er sich und in seiner Angst kamen ihm auch noch Tränen. Und dabei hat Sunny doch gesagt, die sind alle in Ordnung. Da hat er mir nichts von irgendwelchen Typen erzählt, die auf Streit aus sind. Er bekam Angst und wollte nur noch weg von hier. Schließlich aber rannte er in eines der Gebäude rein und stieß dabei fast mit jemandem zusammen. Stattdessen trat er ungünstig mit dem Fuß auf und fiel vornüber zu Boden. „Danny, alles in Ordnung?“ Er hob den Blick zu seiner Erleichterung war es Angeline, die ihm auch schon auf die Beine half. Aber er zitterte immer noch heftig am ganzen Körper und Tränen flossen ungehindert seine Wangen hinunter. „Hey, was ist denn mit dir passiert?“ Laut knallte die Tür auf und als Angeline den Blick hob, sah sie die drei Sportler hereinstürmen. Sie konnte sich schon denken, was passiert war und stellte sich vor Daniel hin. Obwohl sie kleiner war als die drei, so wirkte sie dennoch sehr selbstbewusst. „Na wenn das nicht Todd und seine Kindergartentruppe. Sitzt jemand auf eurer Schaukel, oder was sucht ihr hier?“ Der Blonde, der sich angesprochen fühlte, stapfte direkt auf die Arzthelferin zu. „Du hältst hier mal den Rand und verpisst dich von unserer Uni, oder…“ Bevor er weiterreden konnte, hatte Angeline ihm den Arm verdreht, sodass Todd laut vor Schmerz aufschrie. „Du sollst doch beim Spielen nett zu den anderen Kindern sein, Toddy. Offenbar vergisst du, dass ich Krav Maga beherrsche. Beim nächsten Mal zerquetsch ich dir die Eier, ist das klar? Also schnapp dir deine beiden Hampelmänner und sieh zu, dass du Land gewinnst.“ Und um zu zeigen, dass sie es ernst meinte, rammte sie ihm ihr Knie in den Bauch. So suchten die drei doch lieber das Weite.
 

Daniel atmete erleichtert auf und umarmte Angeline zum Dank. Eigentlich hätte er sich am liebsten richtig mit Worten bei ihr bedankt, aber er fühlte sich gerade einfach nicht in der Lage, den Mut zum Reden aufzubringen. „Schon gut“, sagte die Schwarzhaarige und tätschelte ihm lächelnd den Kopf. „Ich war sowieso hier, weil ich Josh besuchen wollte. Er studiert hier Kunst… naja, zumindest tut er es noch. Bis er eine Stelle beim Tätowierer gefunden hat, macht er hier weiter. Ich hab hier auch ein Jahr lang studiert, allerdings war das nichts für mich und ich hab abgebrochen. War ohnehin das Beste, was mir passieren konnte. Sunny hatte mir vorhin eine SMS geschickt und mir Bescheid gegeben, dass du was für ihn abgeben sollst.“ Der 19-jährige nickte und holte den Umschlag aus der Tasche, in dem sich Sunnys Text befand. Angeline nahm ihn entgegen mit der Erklärung „Ich erledige das schon. Willst du lieber wieder zurückgehen?“ Nach dem Schreck, den er erlebt hatte, war ihm das deutlich lieber und er nickte. Aufmunternd klopfte Angeline ihm auf die Schulter und lächelte. „Mach dir nichts draus, Danny. Todd und seine beiden Schießbudenfiguren sind Arschlöcher. Kaum ist jemand in einer Verbindung drin, schon denken sie, die können sich alles erlauben.“ Auf Daniels fragendem Blick hin erklärte sie „Eine Verbindung ist wie… wie so eine Art privater Uniclub, dessen Name immer aus griechischen Buchstaben besteht. Diese Verbindungen haben teilweise sogar eigene Mannschaften und absolut erniedrigende und abartige Aufnahmerituale. Und man muss sich ziemlich viele Demütigungen gefallen lassen. Und meist sind sie eh nur am kiffen und saufen, wenn sie sich nicht gerade Nutten in die Häuser holen. Und die halten sich alle sowieso für die absoluten Kings.“ Nun, das erklärte für Daniel so einiges und so machte er sich schließlich auf den Rückweg. Dabei fragte er sich, ob Sunny auch in einer solchen Verbindung war. Na hoffentlich nicht. Er schien sowieso nicht wirklich der Typ zu sein, was solche Dinge betraf und er war auch viel zu vernünftig für so etwas. Na hoffentlich musste er nie wieder solchen Menschen begegnen. Dieses Erlebnis hatte ihn wirklich gereicht. Schnell verließ er das Universitätsgelände und atmete erleichtert durch, als er endlich in Sicherheit war. „Oh Mann“, seufzte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass es auf der Uni so heftig zugeht. Wie schafft Sunny das denn bloß?“

„Es wirkt hauptsächlich nur deshalb so erschreckend auf dich, weil du das Haus kaum verlassen hast. Für manche Menschen ist dies der ganz normale Alltag.“ Na super. Das überzeugte ihn nicht gerade davon, dass er mal öfter aus dem Haus gehen sollte. Und für ihn stand schon mal fest, dass er so schnell nicht mehr dieses Universitätsgelände betreten würde. Zumindest nicht, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Aber wenigstens hatte er heute die Chance gehabt, einen anderen Menschen zu sehen, der eine ähnliche Begabung hatte. Und ganz alleine rauszugehen, hatte ihm letztendlich auch gezeigt, dass er wirklich frei war und gehen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass er dafür eine Strafe zu erwarten hatte. Malcolm war tot… und mit seinem Tod hatte Daniel endlich seine Freiheit wieder, selbst über sein Leben zu entscheiden und zu gehen, wohin er wollte. Und das war ein seltsames, aber auch schönes Gefühl.

Aber wenn er ehrlich war, so war ihm diese neue Freiheit nicht so wichtig. Nein… viel lieber wollte er bei Sunny sein und bei ihm bleiben. Wenn er bei ihm sein und diese Liebe mit ihm teilen konnte, brauchte er die Freiheit nicht, genauso wenig wie seine Gabe. Ja, solange er Sunny hatte, war er glücklich genug.
 

Während er so die Straßen entlang ging und dabei zufrieden vor sich hin lächelte, bemerkte er nicht den grauen Mercedes, der langsam hinter ihm herfuhr und ihn verfolgte.

Der Nekromant

Daniel kam Mittag wieder zurück und begrüßte Sunny wie immer mit einer stürmischen und festen Umarmung, als wären sie wochenlang voneinander getrennt gewesen. Der Student hatte sich inzwischen daran gewöhnt und erwiderte dieses Mal die Umarmung. „Na du scheinst ja gute Laune zu haben. Hat alles gut geklappt?“ Der 19-jährige nickte und erzählte ihm, was er alles erlebt hatte. Auch von seinem Zusammenstoß mit Todd, woraufhin Sunny wohl wissend nickte und murmelte „Der Kerl ist echt unausstehlich. Der macht sich auch manchmal einen Spaß draus, mir das Leben schwer zu machen. Aber sag mal, kriegst du nicht langsam auch Hunger?“ Jetzt wo es Sunny ansprach, merkte Daniel so langsam, wie ihm der Magen knurrte. Aber wahrscheinlich hatte er es wegen der ganzen Aufregung nicht gemerkt. „Okay, dann koche ich uns gleich eben was. Worauf hättest du Lust?“ Da der Student keine guten Einfälle hatte, beschloss Daniel somit zu improvisieren und so gingen beide in die Küche, um ein wenig miteinander zu reden. Und dabei erzählte Daniel auch von seiner Begegnung mit dem Nekromanten und was er von Orobas erfahren hatte. Sunny hörte ihm aufmerksam zu und war natürlich neugierig. Schließlich, als Daniel zu Ende erzählt hatte, konnte sein Freund nicht anders als zu schmunzeln. Echt unglaublich, dass es verschiedene Arten von Begabungen auf der Welt gab. Nicht nur Telekineten wie Daniel, sondern auch noch Telepathen und Nekromanten. Das war doch eine geeignete Fundgrube für Schriftsteller. Und für ihn eigentlich die beste Inspirationsquelle. „Sag mal Sunny, hast du eigentlich noch Schmerzen?“ Dieser Frage folgte ein sehr schuldbewusster Blick, der dem eines Hundes nahe kam, der genau wusste, dass er die Sofapolster nicht hätte zerfetzen dürfen. Daniel sah einfach verdammt niedlich aus, wenn er so schuldbewusst dreinblickte, obwohl er doch gar nichts falsch gemacht hätte. „Jetzt mach dir keinen Kopf deswegen“, beruhigte Sunny ihn. „Mir geht es schon viel besser.“ So ganz ehrlich war es nicht, aber das wollte er nicht direkt an die große Glocke hängen, dass ihm der Hintern noch ziemlich wehtat. Aber anscheinend ließ sich Daniel nicht so leicht etwas vormachen. „Du kannst dich kaum bewegen und hast Schmerzen. Und das nur meinetwegen. Dabei… dabei wollte ich dir nicht wehtun. Es tut mir leid, wirklich! Es tut mir aufrichtig leid…“ Irgendwie schien Daniel heute ziemlich nah am Wasser gebaut zu sein. Er begann heftig zu schluchzen und Tränen liefen seine Wangen hinunter. Sein Körper zitterte leicht und das Ganze schien ihn ziemlich mitzunehmen. „Du bist so gut zu mir und was tue ich? Meinetwegen hast du Schmerzen.“

Sunny seufzte leise und stand auf, dann nahm er Daniel in den Arm. „Jetzt mach dich nicht gleich so verrückt. Am Anfang ist es halt schmerzhaft, aber es macht mir nichts aus und ich werde schon nicht daran sterben, okay? Morgen ist das wieder vorbei, da bin ich mir sicher. Ich denke, mit der Zeit gewöhnt man sich halt dran.“ „Aber…“, begann Daniel, aber weiter ließ ihn der Student gar nicht erst kommen. „Nichts aber!“ rief er sofort. „Schmerzen gehen vorbei. Genauso wie Wunden verheilen. Und jetzt hör auf zu weinen. Man könnte echt meinen, ich liege hier im Sterben.“ Und zur Strafe kniff er dem Weinenden in die Nase. „So, jetzt ist das ja wohl geklärt, oder? Also beruhige dich und hör auf, dir irgendwelche Schuldgefühle reinzureden. Ich hab es ja genauso gewollt wie du.“ Etwas schwach lächelte Daniel, aber seine Tränen wollten einfach nicht aufhören zu fließen. Und so brauchte Sunny noch eine Weile, bis er ihn wieder beruhigt hatte. Naja, vielleicht liegt es auch daran, weil er selber all die Jahre so schwer misshandelt wurde, dachte er sich, während er den völlig aufgelösten Daniel im Arm hielt und tröstete. Oder aber er hat Angst davor, dass jemand, den er liebt, zu Schaden kommen könnte. Nun, bei seiner Familiengeschichte würde es mich jedenfalls nicht wundern.
 

Schließlich, nachdem Daniel sich wieder gefangen hatte, begann er mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen. Er fand recht schnell wieder in seine gute Laune zurück und summte dabei ein Lied vor sich hin. Sunny ging ihm ein wenig zur Hand und schnitt das Gemüse, wobei Daniel aber mehrmals betonte, dass er alles auch problemlos alleine machen könnte. Aber er musste selbst zugeben, dass das Kochen zu zweit ja auch irgendwie romantisch sein konnte. Zumindest freute es ihn auf jeden Fall, dass Sunny tatsächlich bei ihm war und mit ihm kochte. Es gab ein indisches Curry, nachdem Daniel nach mehrmaligem Durchstöbern von Kochbüchern zufällig darauf gestoßen war und es unbedingt mal ausprobieren wollte. Da nicht alle Zutaten vorhanden waren, hatten sie ein wenig improvisieren müssen und mussten zugeben, dass es trotzdem wirklich gut schmeckte. Nach dem Essen erledigte Daniel den Abwasch und wollte mit der Hausarbeit weitermachen, aber da hatte Sunny eine bessere Idee. „Warum machen wir es uns nicht etwas im Wohnzimmer gemütlich und schauen uns einen Film an?“ Und diese Idee begeisterte den 19-jährigen so sehr, dass er dem Studenten wieder um den Hals fiel, sodass dieser allmählich damit begann, Daniel tatsächlich mit einem Hündchen zu assoziieren. Das passte einfach zu gut. Schließlich fiel Daniel aber noch etwas ein und etwas verlegen senkte er den Blick. „Ich… ähm…“, begann er zu stammeln und spielte nervös an seinen Fingern. „Die Fenster sind bei meinem Ausrutscher zu Bruch gegangen und ich kann sie leider nicht reparieren.“ Die Fenster… die hatte Sunny ja völlig vergessen. Aber irgendwie schien er auch gedacht zu haben, dass Daniel wohl auch in der Lage war, sie zu reparieren. Dem schien aber wohl nicht ganz der Fall zu sein. Und so langsam realisierte er auch, was das bedeutete „Dann hast du in dem Zimmer nachts bei dieser Kälte geschlafen?“ Naja, von Kälte konnte man jetzt nicht direkt sprechen. Es war Sommeranfang, weshalb mit Minusgraden nicht zu rechnen war. Aber nachts waren die Temperaturen kälter als 10°C und außerdem war wegen dem vielen Regen auch die Luftfeuchtigkeit hoch. Ideale Bedingungen, um krank zu werden. Sunny überlegte kurz, wie er das Problem am besten lösen konnte. In den Keller würde er Daniel jedenfalls nicht zurückschicken, das wäre mehr als unmenschlich von ihm. Und im Wohnzimmer einquartieren? Das wäre noch vielleicht eine Lösung gewesen, aber ihm fiel eine bessere ein. „Du kannst bei mir im Bett schlafen, bis das Fenster repariert ist. Aber nur unter der Bedingung, dass du nicht schnarchst.“

Daniels Augen wurden groß und begannen zu strahlen. Er umarmte Sunny und konnte sein Glück gar nicht fassen. Sie beide würden zusammen in einem Bett schlafen. Allein die Vorstellung war zu schön, um wahr zu sein. „Keine Sorge, ich schnarche nicht!“ versicherte er und wirkte total aufgeregt. Man hätte wirklich meinen können, er wolle am liebsten gleich sofort ins Bett. Sunny konnte sich einfach nicht den Gedanken verkneifen, dass sein Freund und Angestellter irgendwie ziemlich niedlich war. „Hey, kein Grund so aus dem Häuschen zu sein. Ich kann dir ja vertrauen, nicht wahr? Na komm, lass uns mal schauen, welchen Film wir uns ansehen wollen.“ Wenn Daniel ganz ehrlich war, so war ihm noch nicht ganz hundertprozentig wohl dabei, dass er nicht weiter seiner Arbeit nachging, sondern stattdessen einfach bei Sunny saß. Er war es einfach gewohnt, den ganzen Tag zu arbeiten und sich dann meistens noch anhören zu dürfen, dass er schlampig gearbeitet habe und sein Anblick unerträglich wäre. Das alles war schon echt verrückt. Kaum, dass Malcolm fort war, änderte sich sein Leben wirklich in allen Bereichen. Er durfte ein richtiges Zimmer bewohnen, seine Wunden wurden behandelt, er konnte das Haus verlassen, verdiente sein eigenes Geld und er durfte den Menschen lieben, dem er all dies zu verdanken hatte. Für ihn war Sunny wirklich der großherzigste und liebevollste Mensch auf dieser Welt und er verehrte ihn auch regelrecht. Warum denn auch nicht? All das, was er jetzt hatte, verdankte er allein ihm und er liebte ihn. Ja, er liebte ihn mit voller Hingabe und war bereit, wirklich alles für ihn zu tun. Und er wollte es ihn auch wissen lassen.
 

Es klopfte an das Fenster an der Beifahrerseite des grauen Mercedes und als Anthony sah, wer es war, öffnete er die Tür und ließ die Person einsteigen. Es war ein Mann mit langem hellblondem Haar und leuchtend blauen Augen. „Sag bloß, du beobachtest ihn immer noch, Tony.“

„Was hast du erwartet?“ erwiderte der Sonnenbrillenträger mit einer Gegenfrage, woraufhin er noch hinzufügte „Ich habe Tessa damals versprochen, dass ich auf ihn aufpasse. Und ich glaube, mich daran erinnern zu können, dich gebeten zu haben, mich nicht immer Tony zu nennen.“ „Ach wieso denn nicht?“ fragte der Langhaarige und warf ihm einen etwas beleidigten Blick zu. Anthony seufzte und erklärte „Weil ich immer an diesen bescheuerten Tony Stark aus den Iron Man Filmen denken muss, Vincent. Deshalb!“ Immer noch schmollte sein Sitznachbar etwas und gab ihm einen leichten Fauststoß gegen den Oberarm. „Für mich bist du eben ein Held. Zwar keiner mit einer coolen Rüstung, aber dank dir wurde mein Verstand wenigstens nicht durch den Mixer gedreht und du hast mich aus der Klinik geholt, bevor sie mir am Hirn herumschnibbeln konnten.“ Doch Anthony schwieg dazu und wirkte nicht sonderlich stolz darauf. Und Vincent konnte es ihm nicht einmal verübeln. Die Erlebnisse in der Archer-Klinik waren für sie beide schlimm gewesen und hatten insbesondere Anthony sehr mitgenommen. Der Tod von Tessa Ronove, an dem er mitverantwortlich war, hatte Spuren bei ihm hinterlassen, genauso wie ihre bizarre Alptraumwelt, die sie in seinem Kopf erschaffen hatte. Und da waren die Sorgen ja auch gewissermaßen berechtigt, dass von Daniel eine Gefahr ausgehen könnte. Zumindest war sie erheblich gestiegen. Aber Vincent dachte da über andere Lösungen nach. „Du kannst ihm doch nicht bis an sein Lebensende hinterherlaufen und ihn jedes Mal gleich schlafen schicken, wenn Gefahr ansteht. Wo soll das denn hinführen?“

„Das will ich auch gar nicht“, erklärte Anthony und nahm die Sonnenbrille ab. Erschöpft rieb er sich die Augen, denn er hatte die letzte Nacht auch nicht geschlafen, sondern war stattdessen in Bereitschaft geblieben. „Es ist nur solange, bis Jesse Entwarnung gibt. Sie sagte, dass etwas passieren wird und Daniel Amok laufen wird. Und bis die Gefahr vorbei ist, werde ich erst mal hier bleiben. Ich will einfach nicht, dass nach einem Dream Walker auch noch ein Konstrukteur außer Kontrolle gerät. Und wir sind die einzigen, die ihn aufhalten können.“ Hier beugte sich Vincent zu ihm vor und umarmte ihn. Dabei spürte er Anthonys Erschöpfung mehr als deutlich. „Vielleicht machst du dir auch zu viele Sorgen und es muss gar nicht passieren.“ Doch hier befreite sich Anthony wieder aus der Umarmung. „Jesses siebter Sinn liegt nie daneben und er hat ganz klar gesagt, dass Daniel außer Kontrolle gerät, wenn niemand etwas dagegen unternimmt. Und dann ist auch noch ein Nekromant aufgetaucht.“

„Ein Nekromant?“ fragte Vincent überrascht. Anthony nickte, kurbelte das Fenster runter und zündete sich eine Zigarette an. „Du weißt, dass Nekromanten immer ein schlechtes Omen sind, wenn sie auftauchen. Es bedeutet meist, dass ein Unglück bevorsteht und deshalb werde ich Daniel nicht aus den Augen lassen.“ Vincent seufzte und erkannte so langsam, dass er Anthony wohl nicht wirklich überzeugen konnte, für heute wenigstens eine Pause zu machen. Also kam er stattdessen mit einem anderen Vorschlag. „Was hältst du davon, wenn ich für heute deine Schicht übernehme und du ruhst dich aus? Wenn etwas passieren sollte, kann ich genauso gut helfen.“ Doch so wirklich überzeugt war Anthony nicht wirklich über diese Idee. Er erinnerte sich nämlich noch sehr gut daran, was Vincent alles erleiden musste und er war sich nicht sicher, ob er ihm diesen Stress zumuten konnte. Als hätte Vincent seine Gedanken gelesen, kniff er Anthony in die Wange, woraufhin er noch hinzufügte „Wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Es geht mir gut und ich erfreue mich bester Gesundheit. Also lass dir helfen und mich für heute hier die Stellung halten.“ Da Anthony selber wusste, dass er dringend eine Pause gebrauchen konnte, gab er klein bei und öffnete die Wagentür. Auch Vincent stieg nun aus, damit sie die Plätze tauschen konnten. Als sie sich auf halber Strecke trafen, umarmte Anthony Vincent. „Pass aber trotzdem auf dich auf, okay?“ „Du machst dir zu viele Sorgen, Tony“, meinte der Langhaarige nur und schnippte ihm gegen die Stirn. „Es geht mir gut. Das Ganze liegt inzwischen fünf Jahre zurück und es mag ja sein, dass es mir das erste Jahr nicht gut ging, aber inzwischen bin ich vollständig wiederhergestellt und außerdem habe ich deutlich mehr Erfahrung mit der Anwendung von Telepathie als du.“ Dem konnte Anthony kaum widersprechen und mit einem Schulterklopfer sagte er nur „Dann überlasse ich dir dann also das Feld, Rapunzel. Das war übrigens die Rache für Tony.“ Vincent funkelte ihn angriffslustig an, sagte aber nichts mehr dazu, sondern setzte sich in den Wagen. Das hat ein Nachspiel, dachte er sich und beobachtete Anthony im Rückspiegel, während dieser nach Hause ging. „Wenn das hier vorbei ist, dann werde ich mich dafür revanchieren. Und dann wirst du die nächsten Tage nicht mehr sitzen können.“

So machte es sich Vincent im Auto bequem und rechnete nicht wirklich damit, dass etwas Spannendes passieren würde. Doch dann bemerkte er eine Person, die sich dem Grundstück der Villa näherte. Es war ein Junge mit langem schwarzem Haar von vielleicht 17 oder 18 Jahren, der insbesondere durch seine Größe herausstach. Wortlos blieb er stehen und sah zu der Villa. Vincent spürte sofort, dass es ein Nekromant war. Diese unheimlich erscheinende Gruppe von „Totenflüsterern“ nahm man ja schon wahr, bevor diese überhaupt in Sichtweite waren. Eine kalte und unmenschliche Aura umgab sie, wie ein Verwesungsgeruch.

Vincent erschauerte es, als er den Jungen sah und ihm wurde mulmig zumute. Was hatte ein Nekromant hier zu suchen? Ob Anthony Recht hatte und das war ein böses Omen? Na hoffentlich nicht…
 

Es wurde langsam spät und nachdem sie sich die Stirb Langsam-Reihe angesehen und zu Abend gegessen hatten, zeigte Daniel Sunny etwas von seinem Können. Dazu holte er seine Murmeln und begann sie durch die Luft fliegen zu lassen, wobei er sie immer in einem bestimmten Muster anordnete, sodass es wie ein einstudierter Tanz wirkte. Sunny konnte seine Augen kaum abwenden und war begeistert. Vor allem als Daniel auch noch die Couch hochschweben ließ. Irgendwann machten sie ein Spiel draus und so verband sich der 19-jährige die Augen und bewegte jeden Gegenstand, den Sunny ihm nannte und stapelte schließlich auch blind mehrere Champagnergläser zu einer Pyramide. Inzwischen hatte der Student seinen anfänglichen Schreck überwunden und entwickelte sein Interesse an Daniels Fähigkeiten. Er ließ sich immer wieder neue Kunststücke zeigen und hatte sichtlich Spaß dabei. Dann aber kam er mit einer sehr ungewöhnlichen Frage. „Kannst du auch mich fliegen lassen?“ Hier wirkte der 19-jährige etwas unsicher und murmelte „Kann ich. Allerdings ist das viel komplizierter und anstrengender, als wenn ich leblose Materie bewege. Und sonderlich viel Erfahrung habe ich damit noch nicht. Aber ich kann es ja mal versuchen. Beweg dich aber bitte nicht allzu viel.“ Daniel schloss die Augen und begann sich zu konzentrieren. Man sah ihm an, dass er all seine mentale Kraft aufwenden musste, um es zu schaffen. Zuerst merkte Sunny nichts, doch dann spürte er, wie ihn irgendetwas von der Couch hochhob. Zuerst erschrak er sich ziemlich, als er plötzlich merkte, dass er tatsächlich vom Boden abhob, vor allem weil er noch nie so etwas erlebt hatte. Es fühlte sich seltsam an. Wie dieser kurze Moment einer Schwerelosigkeit, die man während einer Achterbahnfahrt erlebte, wenn man gegen den Sitz gedrückt wurde. Etwas hilflos hing er in der Luft und wollte versuchen, sich irgendwie aus dieser Situation zu befreien, doch da hörte er Daniels Stimme, die ihn ermahnte, still zu bleiben. Also rührte er sich nicht und schwebte langsam immer höher. Und so kam es tatsächlich, dass er bis an die Decke schwebte und sie mit seinem Rücken berührte. Begeistert lachte er und rief „Das ist ja Wahnsinn!“ Daniel, den dieses Manöver ziemlich anstrengte, versuchte sich das nicht anmerken zu lassen und ließ Sunny ein paar Runden durchs Zimmer fliegen, bis er ihn wieder auf die Couch absetzte. Auf die letzten Zentimeter versagte Daniels Kraft und Sunny plumpste auf die Couch nieder. Der Student sah sofort, wie sein Freund und Angestellter blass im Gesicht wurde und etwas neben der Spur war. „Daniel…“ Er ging zu ihm hin, aber der 19-jährige hatte sich inzwischen wieder gefangen und lächelte. „Alles in Ordnung. Es ist nur wahnsinnig anstrengend und…“

„Daniel, du blutest!“ Der Angesprochene war etwas irritiert. Er merkte nur, wie ihm die Nase lief und als er es wegwischen wollte, sah er, dass es Blut war. Schnell holte Sunny ein paar Taschentücher und gab sie ihm. „Oh, das ist jetzt irgendwie peinlich“, murmelte Daniel und drückte sich das Taschentuch gegen die Nase. „Entschuldige.“ Doch der Student wirkte besorgt, denn ihn ließ das Gefühl nicht los, als wäre das Nasenbluten nicht zufällig aufgetreten. „Sag mal… kann es sein, dass es wegen meinem Rundflug war?“ „Glaub ich nicht“, meinte Daniel und schüttelte den Kopf. „Als ich Orobas bewegt habe, da ist es nie aufgetreten. Nein, ich glaube, das hat nichts zu bedeuten.“ Doch so ganz beruhigte es Sunny nicht so wirklich. Er holte schließlich noch einen Kühlakku aus dem Eisfach in der Küche, wickelte ein Geschirrtuch darum und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück.

Als er sah, wie Daniel den Kopf in den Nacken legen wollte, hielt er ihn davon ab und rief „Nein, lass das! Neig den Kopf nach vorne, nicht nach hinten. Moment, ich gebe dir was zum Kühlen. Das hilft, die Blutung zu stoppen.“ Daniel folgte seiner Aufforderung und schon drückte Sunny ihm den Kühlakku in den Nacken. Ein bisschen blass wirkte der 19-jährige noch, aber es sah nicht direkt danach aus, als würde es ihm schlecht gehen. „Geht’s wieder?“ fragte er dennoch nach und bekam wieder ein Nicken zur Antwort. Dennoch sah man, dass Daniel wirklich peinlich war.
 

Ein Klingeln an der Haustür ließ den Studenten aufhorchen. Wer klingelte denn? Er entschuldigte sich kurz bei Daniel und ging zur Haustür, um nachzusehen. Kaum, dass er die Tür öffnete, schlug ihm etwas Eiskaltes und Unheimliches entgegen. Vor ihm stand ein Junge, der wahrscheinlich noch High School Schüler war, aber derart bedrohliche und furchteinflößende Augen hatte, dass man Angst vor ihm bekommen musste. Augenblicklich rutschte dem Studenten das Herz in die Hose und er bekam Angst vor diesem Kerl mit den rot leuchtenden Augen und den pechschwarzen Haaren. „W-was… kann ich…“, stammelte er, da wurde er gefragt „Wohnt Daniel Ronove hier?“ Etwas unsicher antwortete Sunny mit ja, woraufhin er etwas in die Hand gedrückt bekam. Es war ein Anhänger, der die Form eines Engels hatte. „Der ist ihm am Friedhof von der Tasche abgegangen“, erklärte der Junge tonlos und wandte sich zum Gehen. Erst blieb Sunny etwas verdattert stehen und stand noch ein wenig unter der Nachwirkung des Schreckens, den der Junge ihm eingejagt hatte. Im nächsten Moment schämte er sich schon fast wieder dafür, dass er so reagiert hatte und fragte „Möchtest du kurz reinkommen?“

Die Augen des Jungen funkelten gefährlich und ein unheimlicher Glanz ging von ihnen aus. Dann aber fragte er kurz „Ganz sicher?“, so als war er nicht sonderlich davon überzeugt, dass Sunny das wirklich wollte. Offenbar war er sich seiner Wirkung auf andere Menschen durchaus bewusst. Doch Sunny wollte es durchziehen und führte den Jungen rein und führte ihn ins Wohnzimmer. Dort saß Daniel immer noch mit dem Taschentuch da, doch inzwischen hörte seine Nase allmählich auf zu bluten und seine Augen wurden groß, als er den Ankömmling sah. „Lumis?“ rief er erstaunt. „Was machst du hier und woher wusstest du, dass ich hier wohne?“

„Deine Mutter hat es mir gesagt“, erklärte der Rotäugige und erklärte den Grund seines Kommens. Als Daniel den kleinen Engel entgegennahm, wirkte er erst mal entsetzt darüber, dass er ihn doch tatsächlich verloren hatte. Denn so wie er erklärte, war das ein Geschenk seiner Mutter gewesen. „Dankeschön, Lumis!“ Der Nekromant sagte nichts dazu. Er schien es offenbar nicht gewohnt zu sein, ein Dankeschön zu hören. Erst jetzt fiel auch auf, dass er einen Rucksack dabei hatte, in welchem es raschelte. Stumm setzte Lumis ihn ab und öffnete ihn. Eine Katze mit grauem Fell kam heraus. Sie schüttelte sich kurz, wobei das helle Bimmeln eines kleinen Glöckchens zu hören war, welches sie um den Hals trug. Die Katze sah etwas mitgenommen aus. Sie hatte am Körper sichtbare Narben und es sah auch aus, als wäre sie auf einem Auge blind. Auch ihr Fell wirkte borstig. Daniels Augen wurden groß, als er sie sah. „Was ist denn mit ihr?“

„Eurynome? Dem geht es gut“, meinte Lumis nur und schien sich nicht sonderlich an dem Anblick zu stören. „Er sah schon so vernarbt aus, als ich ihn gefunden habe. Und du hast also Orobas bei dir, oder?“ Nun waren sowohl Daniel als auch Sunny überrascht. Woher wusste dieser Junge denn, dass ihr Kater Orobas hieß? „Äh… ja“, antwortete Daniel zögernd. „Aber woher weißt du davon?“

„Ich bin ein Nekromant. Ich erkenne ein nichtirdisches Wesen, wenn es vor mir steht. Und sowohl Orobas, als auch Eurynome sind keine Tiere. Sie sind etwas viel Älteres. Aber… das ist nicht der Grund, wieso ich hergekommen bin.“ Lumis Augen wirkten bedrohlich und ein unheimlicher Glanz ging von ihnen aus. Man konnte es nicht mit Worten beschreiben, aber ihn allein schon anzusehen, löste Ängste in ihnen aus, die sie an ihre schlimmsten Ängste in der Kindheit erinnerten, wo sie sich so hilflos und schwach gefühlt hatten. Es war ein schreckliches Gefühl. Und als dann auch noch Lumis ein Messer aus seinem Rucksack zog und die Klinge direkt auf Daniels Halsschlagader richtete, da kehrte entsetzt Stille ein. Orobas, der das mit seinen wachsamen Katzenaugen sah, sprang fauchend auf und wollte sich auf Lumis stürzen, doch da schnellte der graue Kater auf ihn zu und nagelte ihn am Boden fest. Daniel erstarrte vor Angst und sah Lumis fassungslos an.
 

„Wa-warum…“ Mehr brachte er nicht hervor und er hatte wirklich Angst, dass er gleich sterben würde, denn der Nekromant wirkte nicht danach, als würde er bloß bluffen. Nein, er meinte es verdammt ernst. Aber warum bedrohte dieser ihn mit einem Messer? Er kannte ihn doch gar nicht und hatte nie einer Menschenseele etwas getan. Warum also geschah das hier gerade? In Daniels Augen sammelten sich Tränen und er wusste nicht, was er tun sollte. Seine Gabe einsetzen, um Lumis davon abzuhalten? Nun, das wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, doch der Gedanke, er könnte ihn dabei verletzen, war für ihn unerträglich. Er wollte niemandem wehtun, er wollte keinen Menschen töten. Doch was war, wenn er es nicht tat? Dann würde dieser Lumis ihn umbringen. Jedenfalls sah es deutlich danach aus, als hätte er genau das vor. „Ich habe von einem Verstorbenen den Auftrag erhalten, ein gefährliches Monster zu töten, bevor es uns alle umbringen wird“, erklärte der Nekromant mit ernster Stimme. „Der Verstorbene trägt den Namen Malcolm Timothy Wilson.“ „Was?“ platzte es aus Sunny heraus und er musste sich beherrschen, um keine allzu plötzlichen Bewegungen zu machen. Er hatte ernsthaft Sorge, dass der Junge sonst überreagieren und Daniel töten würde. „Mein… mein Onkel wollte, dass du ihn umbringst? Aber wieso?“

„Weil Daniels Kraft zu gefährlich ist, um ihn nach draußen, geschweige denn überhaupt am Leben zu lassen. Malcolm konnte es nicht tun, weil er Jessica Ronove versprochen hatte, sich um Daniel zu kümmern. Darum hat er mich nach seinem Tod gebeten, diesen Job zu übernehmen.“ Nun verstand Sunny gar nichts mehr. Lumis hatte mit seinem toten Onkel gesprochen? Damm war dieser Junge also ein Nekromant, der die Stimmen der Toten hören konnte, so wie Daniel ihm erzählt hatte? „Das kannst du doch nicht machen!“ rief der Student. „Nur weil irgendein Toter dir was erzählt, kannst du doch keinen Menschen umbringen.“

„Und ob ich das kann“, erklärte Lumis. „Als Nekromant kann ich jeden Menschen töten, den ich will. Und ich habe seine Worte ganz klar verstanden: wenn niemand Daniel tötet, dann bringt er uns alle um. Also steht es, Daniel. Entweder du tötest mich, oder ich werde dich umbringen.“

Unheilkind

Daniel zitterte am ganzen Körper und konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. Er und Sunny hatten einen so schönen Nachmittag und jetzt… jetzt musste er sich entscheiden, ob er oder Lumis sterben sollte. Wie konnte das nur passieren? Warum nur geschah so etwas Schreckliches? Hatte er irgendetwas falsch gemacht? Gab es irgendetwas, wofür er diese Strafe verdiente? Wieso nur zwang man ihn, so eine Entscheidung zu treffen? Das war einfach nicht fair. Er hatte sich stets bemüht, gut mit anderen auszukommen und er hatte seit dem Tod seiner Mutter das Haus so gut wie nie verlassen. Er kannte Lumis nicht mal und dennoch wollte dieser ihn töten.

Immer mehr Tränen sammelten sich in seinen Augen und er konnte nicht aufhörten zu schluchzen. In seiner Verzweiflung wusste er sich nicht anders zu helfen und riss das Messer telekinetisch aus Lumis’ Hand und schleuderte es weg, damit dieser es nicht zurückholen konnte. „Ich will niemanden töten“, rief er, wobei er seine Stimme kaum zusammenhalten konnte. „Und ebenso will ich auch niemandem wehtun. Warum sagt Malcolm so etwas über mich? Was habe ich denn je falsch gemacht, dass er sagt, ich würde Menschen töten? Ich habe niemals jemandem etwas getan und ich will es auch nicht. Wieso will das denn niemand verstehen und warum hasst Malcolm mich selbst nach seinem Tod so sehr, dass er mich tot sehen will? Wieso kann das nicht endlich mal aufhören?“ Völlig aufgelöst begann er zu weinen wie ein Kind und konnte sich nicht beruhigen. Hier aber begannen sich Lumis’ Gesichtszüge deutlich zu entspannen und dann geschah etwas, womit nun keiner gerechnet hatte: er legte tröstend eine Hand auf Daniels Kopf. „Entschuldige“, sagte der Nekromant und senkte den Blick. „Du brauchst nicht zu weinen. Es muss niemand sterben.“ Etwas verwirrt hob Daniel den Blick und schluchzte heftig auf, wobei er sich die Tränen wegwischte. Auch Sunny verstand nun gar nichts mehr. Bevor Lumis aber mit seiner Erklärung begann, setzte er sich und wies seinen Kater an, Orobas loszulassen. Dieser Bitte kam der graue und vernarbte Kater nach und ging von Orobas runter, der sofort zu Daniel eilte. „Entschuldigt den Schreck gerade eben. Ich wollte nur sichergehen, dass auch wirklich keine Gefahr von dir ausgeht. Ich hatte nie vorgehabt, irgendjemanden zu töten. Und wenn ich es vorgehabt hätte, dann wäre ich sicher nicht so blöd gewesen und hätte ein Messer gegen einen Konstrukteur verwendet. Das hätte doch eh nichts gebracht.“ Stimmt, jetzt wo er es sagte… Sunny erinnerte sich noch daran, dass Daniel das Messer einfach weggeschleudert hatte, um Schlimmeres zu verhindern. Wenn Lumis wusste, dass Daniel telekinetisch begabt war, dann hätte er wissen müssen, dass Waffen zwecklos waren. „Aber was wäre gewesen, wenn er dich mit dem Messer angegriffen hätte?“ „Wir Nekromanten können in unseren Körpern wieder zum Leben erwachen, solange sie noch intakt genug sind. Das heißt: hätte ich das Messer in die Brust gekriegt, hätte ich wieder aufwachen können. Nein, die Sache war einfach die, dass dieser Malcolm mir schon die ganze Zeit auf die Nerven geht und von mir verlangt hat, Daniel zu töten, weil er eine zu große Gefahr darstellt. Tja, ich hab ihm mehrmals klar gemacht, dass ich keine Menschen töte, auch wenn ich vielleicht die Macht dazu habe. Aber ich konnte seine Bedenken auch nicht ignorieren. Wenn es gestimmt hätte und Daniel wäre wirklich eine Gefahr gewesen, dann wäre es schwierig geworden. Also hab ich mich kurzerhand auf den Weg hierher gemacht und wollte ihn testen.“

Erleichtert atmeten Sunny und Daniel auf. Insbesondere letzterer war heilfroh und konnte sich langsam aber sicher wieder beruhigen. „Entschuldige, dass ich euch so einen Schreck eingejagt habe. Das war nicht richtig von mir und es tut mir leid.“ In Lumis’ so finster dreinblickendem Gesicht zeichneten sich Schuldgefühle ab und die ganze Situation schien auch für ihn nicht sonderlich angenehm gewesen zu sein. „Muss hart sein, einen solchen Ziehvater zu haben, was?“ Daniel wischte sich die Tränen weg und nickte. Zwar wirkte Lumis immer noch ziemlich bedrohlich und unheimlich von der Erscheinung her, aber es ließ sich dennoch erkennen, dass so eine Situation nicht fremd für ihn war und er nachfühlen konnte, was Daniel alles erleben musste. „Meine Eltern haben sich auch lieber ein normales Kind gewünscht, das nicht so sonderbar ist. Ich war auch echt geschockt, als der Kerl mich aufgefordert hat, dich umzubringen. Er schien einen ziemlich großen Groll gegen dich zu hegen und sagte auch, dass es deine Schuld ist, weil Jessica sterben musste. Details hat er aber nicht genannt und deine Mutter war auch recht verschwiegen.“

Daniel senkte den Blick und wirkte sehr niedergeschlagen. Innerlich kämpfte er mit sich, vor allem, weil er Angst hatte. Sunny wollte ihm schon sagen, dass er die Geschichte nicht unbedingt erzählen und sich damit auch nicht so quälen müsse, wenn er nicht darüber reden wollte, aber da hatte der 19-jährige schon eine Entscheidung getroffen. „Es ist wegen Tessa“, erklärte er mit ernster Stimme. Auch sein Blick hatte etwas so ernstes angenommen, dass man hätte meinen können, dass das gar nicht mehr Daniel war, sondern eine andere Person. Tief atmete er durch und sein ganzer Körper war angespannt. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um die Geschichte zu erzählen.
 

„Mum, also ich meine Jessica, war nicht meine richtige Mutter, sondern nur meine Ziehmutter. Meine leibliche Mutter ist Desdemona und Tessa ist meine Schwester.“ Diese Nachricht riss Sunny aus allen Wolken. Mit der Wendung hätte er jetzt nicht gerechnet. Aber so erfuhren sie allmählich die Wahrheit. Mit schwerem Herzen erzählte Daniel, dass seine Mutter Desdemona ihn in die Obhut seiner Tante gegeben hatte, als ihre psychische Erkrankung immer schlimmer wurde. „Meine leibliche Mutter hatte Angst, dass mir etwas zustoßen könnte, weil sie der festen Überzeugung war, dass Tessa mich töten will. Jessica adoptierte mich und da sie und meine Mutter eineiige Zwillinge waren, hätte niemand etwas gemerkt. Während meine leibliche Mutter immer mehr ihrem Wahnsinn verfiel und auch Tessa immer aggressiver wurde und ihr Kaninchen mit einem Hammer getötet hatte, wuchs ich ganz normal auf und bekam nichts mit. Schließlich… als da dieses Familientreffen war… da kam meine Mutter mit dem Messer und tötete meine Großeltern und meine Tante. Ich hatte mich im Kleiderschrank versteckt und die Schreie gehört.“ Wieder kamen Daniel die Tränen. Allein als wieder diese Erinnerungen zurückkamen und er sich erinnerte, wie hilflos er da war… „Ich habe nichts unternommen, um meine Mutter aufzuhalten. Obwohl ich diese Gabe habe, hatte ich nichts getan, um das zu verhindern, was passiert ist. Und Malcolm hatte vollkommen Recht. Meine Familie ist nur wegen mir gestorben, weil ich nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Und da hört ihr es auch. Meine Mutter war eine wahnsinnige Mörderin, die meine Familie umgebracht hat und mich vielleicht auch umgebracht hätte, wenn sie mich gefunden hätte. Und ich habe nichts getan, um das zu verhindern, sondern mich einfach wie ein Feigling versteckt und sie dem Tod überlassen. Ich bin und bleibe nun mal Abschaum. Ein Monster, das man besser für den Rest seines Lebens im Keller einsperren sollte!“ Den letzten Satz schrie er förmlich heraus und kaum, dass seine Stimme verhallt war, zersprang eine Vase auf dem Kaminsims. Daniel sprang auf und rannte aus dem Wohnzimmer. Sofort stand Sunny auf und rief ihm nach. „Daniel, warte!“ Lumis erhob sich vom Sofa und wandte sich dem grauen Kater mit den türkisfarbenen Augen zu, der stolz da saß und Orobas nicht mal eines Blickes würdigte. „Komm schon, Eurynome. Wir sollten besser gehen.“ Damit ging der Nekromant und wurde dabei von dem grauen und vernarbten Kater begleitet. Gemeinsam verließen sie das Haus und dabei fiel dem Nekromanten auch schon der graue Mercedes nicht weit vom Haus entfernt auf. Und er spürte sofort, wer oder besser gesagt was sich in diesem Auto befand. „Ein Dream Walker“, bemerkte er und runzelte die Stirn. „Was will der denn hier?“ Doch der graue Kater schien nicht sonderlich interessiert zu sein und leckte sich desinteressiert die Vorderpfote. „Das ist nicht unsere Angelegenheit. Sehen wir lieber zu, dass wir zurück zum Hotel kommen. Es wird langsam spät und ich will mich schlafen legen.“

Doch für Lumis war es schon seltsam. Er als Nekromant und dann noch ein Dream Walker… und sie beide schienen Interesse an Daniel zu haben. Da stimmte doch etwas nicht. „Irgendetwas ist faul, Eurynome. Wenn die drei Großmächte zusammenkommen, hat das meist irgendetwas zu bedeu…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn ihm kam da gerade ein Gedanke.

Was, wenn dies hier wirklich so war, wie seine Vorfahrin Sally es ihm erzählt hatte? Wenn sich die Großmächte versammelten, dann bedeutete es, dass ein weiteres „Unheilkind“ geboren wurde. So wie damals vor über 600 Jahren. Ja… jetzt so langsam ergab es einen Sinn. Eurynome… Marbas… Orobas… Es war alles ihr Werk. Das Werk jener, die man auch die Schwester des Todes nannte. „Eurynome, wenn wir zurück im Hotel sind, verlange ich ein paar Antworten von dir. Und ich hoffe für dich, dass du sie auch ehrlich beantwortest.“
 

Sunny war Daniel hinterher geeilt und zuerst hatte er befürchtet, dieser würde blindlings aus dem Haus stürmen, doch stattdessen hatte dieser sich im Keller verkrochen und kauerte schluchzend in einer Ecke. Wie ein kleines verängstigtes Kind, das miterleben musste, wie sich die Eltern stritten und gegenseitig schlugen. „Daniel…“ Sunny streichelte sanft seinen Kopf und versuchte, ihn zu beruhigen. Doch der 19-jährige war vollkommen aufgelöst und zitterte am ganzen Körper. „Hey Daniel, was machst du denn hier? Der Keller ist doch nicht der richtige Ort. Na komm, lass uns wieder hochgehen.“ „Lass mich!“ rief der Angesprochene und ein heftiger Ruck ging durch einen Schrank neben Sunny und schob sich zwischen sie, als der Student zurückwich. Offenbar hatte Daniel solche Angst, dass er sich komplett abschotten und isolieren wollte. Doch so leicht wollte er sich nicht abwimmeln lassen. Sein Entschluss, Daniel zu helfen, war ungebrochen und so versuchte er den Schrank weg zu schieben, allerdings war dieser schwerer als erwartet. „Daniel, jetzt lass dir doch helfen. Das, was dir passiert ist, das ist wirklich schlimm, aber wieso läufst du denn weg?“

Das Schluchzen wurde lauter und irgendwie kam sich Sunny in diesem Moment hilflos vor. Er wusste nicht, wie er Daniel diese schwere Last von der Schulter nehmen sollte, geschweige denn was er tun konnte, um ihm seine Angst zu nehmen. Ein leiser Seufzer entfuhr ihm und er senkte den Blick. „Es tut mir leid, was dir passiert ist. Aber… du hast doch keine Schuld an dieser Tragödie von damals. Du warst erst sieben!“

„Ich hab meine Familie im Stich gelassen, als sie mich am meisten gebraucht hat“, kam es von der anderen Seite. Daniels Stimme zitterte heftig und man konnte hören, dass er sehr unter dieser Geschichte litt. „Ich konnte niemanden retten. Nicht mal meine Mutter.“ „Du musst dir diese Vorwürfe nicht machen!“ rief Sunny und schlug mit der Faust gegen den Schrank, der sich nicht von der Stelle bewegen ließ. „Du kannst von Glück reden, dass du noch lebst und Malcolm hatte doch keine Ahnung. Nur weil er seine Freundin verloren hat, hatte er noch lange nicht das Recht, dich einzusperren und seinen ganzen Frust an dir auszulassen. Du kannst doch nichts dafür und ich werde dich auch nicht verurteilen. Warum denn auch? Wenn ich in deiner Situation gewesen wäre, dann hätte ich mich auch versteckt und Angst gehabt. Du warst damals zu klein und keiner würde dir deswegen Vorwürfe machen, weil du auch keine Schuld hast. Malcolm hat nur einen Sündenbock gebraucht, auf den er sich einschießen kann und er ist ein verdammtes Arschloch gewesen. Aber du bist kein Monster und für mich warst du auch nie eines. Und weißt du auch warum? Weil ich dich liebe, Daniel!“

Stille kehrte ein, selbst Daniels Schluchzen war nicht mehr zu hören und langsam schob sich der Schrank zur Seite und so konnte Sunny zu ihm. Verschüchtert ruhten die moosgrünen Augen, die durch die Tränen etwas gerötet waren, auf dem Studenten und waren von Angst und Schüchternheit gezeichnet. Sofort ging Sunny zu ihm und nahm ihn in den Arm. „Ich lass dich nicht alleine, Daniel. Und ich werde nicht zulassen, dass dich irgendjemand jemals wieder in einem Keller einsperrt wie ein Monster.“ Der 19-jährige erwiderte die Umarmung und man konnte fühlen, wie aufgewühlt er innerlich war. Aber gleichzeitig schien er auch erleichtert zu sein. Und so langsam aber sicher beruhigte er sich wieder. „Du… du hasst mich also nicht?“ fragte er vorsichtig und als Antwort darauf küsste Sunny ihn. „Wieso sollte ich dich denn hassen? Dafür gibt es doch keinen Grund. Na komm, lass uns wieder nach oben gehen. Hier im Keller ist es doch viel zu ungemütlich.“
 

Nachdem sich Daniel wieder beruhigt hatte, gingen sie wieder nach oben und als sie ins Wohnzimmer gingen, waren sie überrascht, dass Lumis nicht mehr da war. Von Orobas erfuhren sie schließlich, dass der unheimliche Gast gegangen sei, zusammen mit Eurynome. Da sie also wieder alleine waren und sie doch recht müde waren, beschlossen sie, gleich ins Bett zu gehen. Und weil ja das Fenster in Daniels Zimmer kaputt war, durfte er bei Sunny übernachten. „Erinnere mich aber morgen mal dran, dass wir uns um das Fenster kümmern müssen. Auf jeden Fall muss es erst mal irgendwie abgedichtet werden, falls es regnen sollte.“ „Darum kümmere ich mich schon“, versicherte Daniel und lächelte müde. Er sah ziemlich erschöpft aus und als sie sich ins Bett legten, kuschelte er sich an Sunny und bewies wieder mal, wie anhänglich er eigentlich war. Und Sunny hatte ja auch nicht wirklich etwas dagegen, vor allem weil dies ja auch Daniels Laune deutlich besserte. Nach der ganzen Aufregung brauchte er jetzt eben jemanden, der ihm sowohl Zärtlich streichelte er dem 19-jährigen den Kopf und merkte, dass auch er langsam aber sicher müde wurde. Die Aufregung vorhin war aber auch echt viel gewesen.

„Sunny…“ Daniels Augen schauten zu ihm auf und wirkten im Moment wie die eines kleinen Welpen. Sie wirkten so unschuldig, dass es dem Studenten immer wieder ein Rätsel war, wieso sein Onkel ihm solche Dinge angetan hatte. „Es tut mir leid, dass ich so viele Probleme mache. Ich weiß, dass ich anstrengend bin. Egal was ich mache, ich mache anderen immer nur Ärger und ich verlange auch viel.“ Oh Mann, dachte Sunny und ließ einen leisen Seufzer vernehmen. Offenbar kommt er einfach nicht von diesem Denken los. Na dann will ich es ihm ein für alle Male klar machen. „Du machst mir doch keine Probleme. Und wenn, dann hätte ich es doch schon längst gesagt. Und was verlangst du denn überhaupt? Doch nur, dass du geliebt wirst und das ist doch nicht zu viel verlangt. Und ich habe dir doch gesagt, dass ich dich liebe. Es ist nichts falsch daran, jemanden zu lieben und so langsam musst du auch mal lernen, dich öfter durchzusetzen, so wie gestern. Da hast du mir doch auch klar zu verstehen gegeben, was du empfindest. Oder etwa nicht?“ Das stimmte zwar, aber Daniel wurde immer noch von seinen Unsicherheiten beherrscht und er fühlte sich hilflos. In all den Jahren hatte Malcolm ihm eingetrichtert, dass er ein Monster sei, das man für immer wegsperren oder am besten gleich töten sollte. Er war immer nur der wertlose Abschaum gewesen, der seine eigene Familie einfach dem Tod überlassen hatte. Diese jahrelangen Misshandlungen und Erniedrigungen hatten sehr tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen und es würde lange dauern, bis er das alles vollständig verarbeitet hatte. Das war auch Sunny klar, aber er wollte Daniel zeigen, dass er für ihn da war und ihm beistand. „Mir ist so, als wäre er immer noch da“, murmelte der 19-jährige leise, während er sich dicht an den Studenten herankuschelte. „Es ist noch alles so präsent, so als würde er wieder zurückkommen und ausrasten, weil er gesehen hat, wie ich meine Kräfte einsetze, obwohl er es mir streng verboten hat.“

„Vielleicht hilft es, wenn wir morgen sein Grab besuchen. Dann kannst du ihm alles sagen, was du ihm schon immer mal sagen wolltest und kannst auf die Weise damit besser abschließen. Das Schöne ist ja, dass er sowieso keine Widerworte mehr geben kann. Und wenn dieser Lumis schon mit den Toten quatschen kann, vielleicht haben wir ja Glück und mein Onkel kann uns auch hören. Dann kann ich ihm bei Zeiten auch sagen, dass er seinen Aufenthalt in der Hölle genießen soll. Aber lass dich jetzt nicht entmutigen. Es läuft doch alles super, oder nicht? Ich muss zwar morgen wieder zur Uni, aber ich habe ja noch zum Glück einen recht kurzen Tag. Das heißt, wir können gerne in die Stadt gehen und irgendetwas unternehmen. Du musst ja sowieso noch ein Konto eröffnen, damit du auch über deinen eigenen Lohn verfügen kannst. Ich kann dir aber auch in bar auszahlen, damit du dir schon mal ein paar Sachen kaufen kannst. Dann hast du auch mal endlich eigene Sachen, die du vielleicht schon immer mal haben wolltest.“ Ja, das war eine tolle Idee, nur gab es ein Problem: Daniel wusste nicht einmal, was er denn alles haben wollte. Er hatte ja gelernt, genügsam und enthaltsam zu leben. Sein wertvollster Besitz waren seine Murmeln, die Orobas ihm geschenkt hatte. Nun gut, er brauchte vielleicht noch ein paar Klamotten, weil seine jetzigen schon ziemlich abgenutzt waren. Aber ansonsten war er doch schon glücklich genug, dass er hier in der Villa bleiben durfte und sogar ein eigenes Zimmer hatte.

„Ich weiß gar nicht, was ich mit so viel Geld anfangen soll“, gab der 19-jährige zu. „Außer neuen Klamotten und vielleicht ein paar Möbeln brauche ich doch nichts.“ Doch Sunny schüttelte nur den Kopf und erklärte „Du hast eben halt keine Vorstellung, was man sich alles kaufen kann. Glaub mir: wenn du erst mal in der Stadt bist und siehst, was es dort alles zu kaufen gibt, dann kommst du schon noch auf Ideen. Du warst halt viel zu selten draußen, das ist alles.“

Ja, da hat er wohl Recht, dachte sich Daniel und er merkte, wie ihm so langsam aber sicher die Augen zufielen. Er ließ es einfach zu. Diese angenehme Wärme zu spüren und den beruhigenden Rhythmus von Sunnys schlagendem Herzen zu lauschen, ließ ihn all diese schrecklichen Dinge wieder vergessen, die ihm widerfahren waren und er fühlte sich seit langem wieder geborgen und sicher. Und so fiel er recht schnell in einen sehr tiefen Schlaf.
 

Es war dunkel. Die schwarzen Nachtwolken hatten selbst die Sterne am Himmel verschluckt und selbst der Mond blieb in dieser Nacht verborgen. Der Wind wehte leicht und es war spürbar kühl geworden. Aber das hielt Lumis nicht davon ab, nachts auf den Friedhof zu gehen. Wieso denn auch nicht? Er hatte es schon als kleiner Junge getan und für ihn waren sie sein zweites Zuhause, so bizarr das auch für normale Menschen klingen mochte. Aber der Tod gehörte nun mal zu ihm dazu. Von Eurynome hatte er schon des Öfteren Legenden über die Entstehung der Nekromanten gehört. Dass Babys, beziehungsweise Embryos kurzzeitig an der Schwelle zu Leben und Tod standen und in diesem Augenblick diese Kraft erlangt hatten, weil sie sich an das Leben klammerten. Ob diese Geschichten wahr waren, ließ sich schwer sagen, denn Eurynome sagte nicht immer die Wahrheit, nur wenn ihm danach war. Geschickt kletterte er über das Tor und suchte sich einen geeigneten Platz. Zwar waren die Toten immer für ein Gespräch zu haben, doch das interessierte ihn jetzt nicht. Er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Irgendwo musste nämlich jemand begraben liegen, der vielleicht mehr wusste. Also begann er der Reihe nach den Friedhof absuchen, mit nichts als einer Taschenlampe bewaffnet. Wirklich sicher, wo er hier suchen musste, war er sich nicht. Darum blieb er beim Grab eines alten Mannes stehen, der vor über 25 Jahren gestorben war. Er blieb vor seinem Grab stehen und las den Namen: William Taylor.

„Mr. Taylor, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich das Grab von Elyssia Wyatt finde?“

„Elyssia Wyatt?“ hörte er eine Stimme in seinem Kopf flüstern. „Da musst du nach rechts. Wenn du das Grab von Jebediah Conwood erreichst, der 1933 gestorben ist, musst du noch ein paar Schritte nach links und du bist da.“ Lumis bedankte sich für die Auskunft und folgte den Wegweisern. Ein weiterer Grund, warum er lieber mit Toten, als mit Menschen redete. Die Toten waren bei weitem hilfsbereiter und freundlicher. Naja, die meisten jedenfalls. Allmählich wurde es deutlich kühler und überall waren unheimliche Geräusche zu hören, die einem Menschen einen Schauer über den Rücken jagen konnten. Viele hätten Angst bekommen und die Flucht ergriffen, doch Lumis war in der Hinsicht vollkommen schmerzfrei, denn nachts trieb sich sowieso kaum jemand hier rum. Außer vielleicht irgendwelche Hardcore-Gothics, die eine Sitzung an den Gräbern halten wollten. Aber zum Glück traf es ja nicht unbedingt auf ihn zu. Nachdem Lumis das Grab von Jebediah Conwood erreicht hatte, wandte er sich nach links und suchte die Gräber weiter ab. Und tatsächlich konnte er nach ein paar Schritten das Grab von Elyssia Wyatt ausmachen. Die Gute war Anno 1910 verstorben. Soweit er richtig gehört hatte, war die Wyatt-Familie ein uralter Seer-Clan, wo seit Generationen dieser besondere siebte Sinn weitervererbt wurde. Neben Stephen und Jonah Wyatt, war Elyssias siebter Sinn der mächtigste gewesen. Womöglich konnte sie ihm ja weiterhelfen, denn Eurynome hatte mal wieder einfach einen Abgang gemacht, ohne ihm seine Fragen zu beantworten.

„Guten Abend, Mrs. Wyatt“, grüßte er und zündete ein Grablicht an. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass die Toten bei weitem redseliger wurden und auch deutlich gnädiger gestimmt waren, wenn man ihnen etwas ans Grab legte. Und nach dem Zustand dieses Grabes zu urteilen, war schon lange niemand mehr ihr Grab besuchen gegangen.
 

„Na so was. Ein Nekromant kommt mich besuchen?“ Die Stimme klang sehr jung. Offenbar war Elyssia recht jung gewesen, als sie verstarb. Vielleicht war sie 20 Jahre alt… „Das ist ja eine Überraschung. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“ Nachdem er das angezündete Grablicht hingestellt hatte, kam er auf sein Anliegen zu sprechen. „Es geht um einen Konstrukteur, der in Somnia lebt. Sein Name ist Daniel Ronove und er ist der Sohn von Desdemona Ronove. Ich bin hier, weil sein Ziehvater verlangt hat, dass ich ihn töten soll und es ist auch noch ein Dream Walker in der Nähe. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl, dass sich die drei Großmächte hier versammelt haben. Vor allem, weil ich die Seele meiner Vorfahrin in mir trage, die zudem eine Scyomantin ist. Sie gilt als die Stärkste ihrer Art und Tessa Ronove war ebenfalls eine Dream Walker. Nun will ich wissen, ob es ein Zeichen sein kann.“ Es dauerte etwas, bis die Stimme antwortete. Manchmal kam es auch vor, dass sie gar nicht antworteten. Das kam ganz darauf an, ob die Toten überhaupt gewillt waren zu sprechen. Das konnte auch schon mal vorkommen. Aber er hoffte, dass Elyssia in Redelaune war. Und tatsächlich antwortete sie „In der Tat, das ist ein Zeichen. Ein Kind, das mit beiden Gaben gesegnet werden sollte, verlor eine Hälfte, als es sich selbst zu trennen begann. Und um zusammenzufügen, was zusammengehört, um die Ordnung zu gewährleisten, braucht es einen Nekromanten. Und das, was daraus geboren wird, bezeichnen die Menschen als Unheilkind. Es ist weder Nekromant, noch Dream Walker, noch Konstrukteur.“

„Und warum passiert das? Steckt ein tieferer Sinn dahinter, dass sich bald noch ein solches Kind zeigt?“

„Es ist der Kreislauf der Dinge“, erklärte die Stimme ihm. „Wenn sich die Zeit eines solchen Höchstbegabten dem Ende zuneigt, oder er selbst sein Ende beschließt, dann wird ein neues Unheilkind geboren. Und dieses erhält die Kraft der Nekromantie, der Telekinese und der Telepathie. Es verkörpert damit den Schnittpunkt all dieser Kräfte und seine Existenz gewährleistet den Fortbestand dieser Kräfte. Das heißt damit, die Existenz eines Unheilkindes ist unbedingt notwendig, damit diese Kraft nicht ausstirbt.“ Soso… ein Unheilkind also. Ein nicht gerade schmeichelhafter Titel, aber nun ergab das alles einen Sinn. „Verstehe“, murmelte Lumis und nickte. Auch wenn er vielleicht erst 17 Jahre alt war, so verstand er die ganzen Zusammenhänge sehr gut. Er hatte ja nicht umsonst einen IQ von 128. Daniel war das nächste Unheilkind in der Reihenfolge und das war vorherbestimmt gewesen. „Aber warum ausgerechnet Daniel?“ „Weil die Basis für die Voraussetzungen eines neuen Unheilkindes festgelegt sind. Es muss ein Konstrukteur sein, sonst funktioniert es nicht.“

Und das hieß also, dass es schon sehr bald geschehen würde. Darum hatte Josephine also Marbas, Orobas und auch Eurynome losgeschickt. So langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen. Fragte sich nur, inwieweit Orobas und Eurynome darüber Bescheid wussten und ob der Dream Walker Kenntnisse über diese Entwicklung hatte. „Tja, so wie es aussieht, werde ich wohl noch eine Weile in Somnia bleiben müssen.“

Alles hat Grenzen

Am nächsten Morgen verschlief Daniel zum ersten Mal und wachte somit erst auf, als Sunny schon längst gegangen war. Er war fassungslos und fragte sich, wie ihm das nur passieren konnte. In all den Jahren hatte er noch niemals verschlafen und er machte sich große Vorwürfe. Wegen ihm hatte Sunny kein Frühstück und keinen Kaffee bekommen. „So ein verdammter Mist!“ rief er und ging ins Bad. „Ich habe total verschlafen!“ Ganze zwei Stunden, um genau zu sein. Stand er normalerweise schon um sechs Uhr auf und erledigte alles, doch ausgerechnet heute musste er verschlafen. Das war eine absolute Katastrophe. „Guten Morgen, Daniel. Was bist du denn so in Eile?“ Orobas hatte sich auf den Rand der Badewanne gesetzt und fuhr sich mit einer Pfote über sein Ohr. „Das fragst du noch? Ich habe vollkommen verschlafen und konnte Sunny sein Frühstück nicht machen. Das ist mir noch nie passiert.“ Orobas blieb hingegen die Ruhe selbst und informierte ihn nebenbei, dass Sunny ihn extra ausschlafen lassen wollte. „Und warum?“ rief der 19-jährige und zog seinen Pyjama aus. Immer noch war sein ganzer Körper von blauen Flecken verunstaltet und irgendwie war ihm so, als wären es sogar noch mehr als vorher. Und einige der alten hatten sich in ein unansehnliches Grüngelb verfärbt. Es sah wirklich übel aus und es wunderte ihn auch ehrlich gesagt, dass dieser Anblick gar nicht abstoßend auf Sunny gewirkt hatte. Er sah noch deutlich an seinem Gesicht, dass er gestern geweint hatte. Seine Augen waren noch etwas gerötet und er hatte leichte Augenringe. So bescheiden sah er für gewöhnlich nur aus, wenn Malcolm ihn mal wieder verprügelt hatte. Oh Mann, was war er gestern nur für eine entsetzliche Heulsuse gewesen. Was musste Sunny nur von ihm denken. Er hatte sich gestern komplett daneben benommen und dann auch noch völlig verschlafen. Es war wirklich besser, wenn er Sunny nachher von der Uni abholte und sich persönlich bei ihm für den ganzen Ärger entschuldigte, den er verursacht hatte. Ja, das war das einzig Richtige, was er tun konnte. Wenn Sunny heute fertig war, würde er ihn abholen kommen, auch wenn ihm der Gedanke nicht sonderlich behagte, wieder an diese unheimlichen Typen zu geraten, die ihn bedrängt hatten. Naja, es würde schon alles gut werden, zumindest hoffte er das. Wie immer erledigte Daniel den Haushalt in unglaublicher Rekordzeit und dachte dabei über all die Dinge nach, die gestern geschehen waren. Er schämte sich dafür, dass er so viel geweint hatte und es ließ ihn einfach nicht los, dass Sunny seine Vergangenheit kannte. Seine psychisch kranke Mutter, die seine Ziehmutter und seine Großeltern mit einem Küchenmesser erstochen und danach Selbstmord begangen hatte. Seine ganze Familie war tot und selbst Tessa war vor fünf Jahren einem Hirntod erlegen, nachdem sie plötzlich und ohne ersichtliche Ursache ins Koma gefallen war. Er war allein und nur Malcolm war da gewesen. Alles hatte er stillschweigend ertragen, weil es immer noch besser war, als überhaupt niemanden zu haben.

Er hatte sich die ganze Zeit davor gefürchtet, was passieren würde, wenn Sunny die Wahrheit über seine Familie erfuhr. Allein der Gedanke, dass dieser ihn hassen würde, wäre für Daniel unerträglich gewesen. Wenn hatte er denn sonst noch? Eigentlich nur Orobas, aber dieser war kein Mensch. Im Grunde war Sunny der Einzige, der ihm wirklich nahe stand und wahrscheinlich klammerte er sich deshalb so sehr an ihn. Für ihn war Sunny alles. Familie, Retter, Freund… der Mensch, den er mehr liebte als sein eigenes Leben. Ein Leben ohne ihn konnte er sich ja nicht mehr vorstellen. Eigentlich war es ja schon fast erschreckend, wie sehr er sich auf ihn fixiert hatte. Ob er schon langsam aber sicher die Züge eines Stalkers entwickelte? Na hoffentlich nicht.

Während er die Hausarbeit mittels seiner telekinetischen Kräfte erledigte, setzte er sich in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Er war noch ziemlich müde und Hunger hatte er auch. Also machte er sich noch schnell ein belegtes Brot und überlegte, ob er auch Sunny etwas mitbringen sollte. Nicht, dass er überhaupt nichts zu essen bekam. Als er Orobas diesbezüglich fragte, erklärte dieser nur „Für so etwas haben die Menschen Kantinen. Wahrscheinlich wird Sunny dort etwas essen. Mach dir nicht allzu viel Stress, Daniel. Du hast noch genügend Zeit.“ Das mochte ja vielleicht so sein, aber Daniel machte sich eben Vorwürfe, weil er einfach verschlafen und damit auch seine Pflichten vernachlässigt hatte. In der Hinsicht war er eben sehr pflichtbewusst. Leise seufzend setzte er sich an den Küchentisch und streichelte Orobas, der es sich auf seinem Schoß gemütlich gemacht hatte. Irgendwie kam er sich furchtbar einsam vor in diesem Moment und es war so still. Inzwischen hatte er sich schon so sehr daran gewöhnt, dass Sunny hier war, dass er völlig vergessen hatte wie es war, allein zu sein. All die Jahre hatte es ihm nichts ausgemacht, doch so langsam spürte er, dass er es nicht aushielt. Er hasste diese Stille und die Einsamkeit. Es kam ihm dann wieder so vor, als wäre er wieder in diesem kalten und fensterlosen Keller. „Orobas, ich glaube ich gehe gleich mal eine Runde spazieren, wenn ich die Arbeit erledigt habe.“ Der Kater gab ein zufriedenes Schnurren von sich, während Daniel ihm den Kopf streichelte und ihm den Nacken kraulte. „Irgendwie ist mir diese Einsamkeit einfach nur unangenehm geworden.“

„Das ist doch gut. Es ist ohnehin gesünder, wenn du mehr unter deinesgleichen kommst und Bekanntschaften schließt und das nicht nur bloß mit Sunny. Dann bist du auch weniger einsam.“ Freundschaften… etwa so ähnlich wie Angeline? Sie hatte ja einen ganz netten Eindruck gemacht und sie hatte ihm geholfen, als sie ihn vor diesen Todd beschützt hatte. Vielleicht konnte er sich ja tatsächlich mit ihr anfreunden.
 

Nachdem er seine täglichen Pflichten erledigt hatte, zog er sich seine Jacke und seine Schuhe an. Da es draußen dicht bewölkt war und es verdächtig nach Regen aussah, nahm er sicherheitshalber noch einen kleinen Schirm mit, den er in seine Tasche packte. Orobas, der lieber nicht in die Situation geraten wollte, vom Regen durchnässt zu werden, wollte er lieber da bleiben. „Meinst du, du kannst auf dich alleine aufpassen?“ Mit einem zuversichtlichen Lächeln sagte Daniel nur. „Was soll denn schon passieren? Ich geh ein wenig spazieren und dann hol ich Sunny von der Uni ab. Was soll denn schon passieren?“ Zugegeben, er hatte natürlich Angst, wieder an Todd und seine Truppe zu geraten, aber in dem Fall konnte er ja immer noch weglaufen. Das war ja auch noch eine Option. Doch sein Wunsch, Sunny wiederzusehen, war viel größer und er war dafür auch bereit, wieder dieses Risiko in Kauf zu nehmen.

Gerade wollte er die Villa verlassen, da fiel ihm noch etwas Wichtiges ein: er musste sich ja noch um das kaputte Fenster in seinem Zimmer kümmern! Da er keine Ahnung hatte, an wen er sich wenden sollte, ging er ins Wohnzimmer, kramte das Telefonbuch hervor und wählte die Nummer eines Glasermeisters und schilderte ihm den Fall. Dieser versprach, sich das Ganze mal anzusehen und vereinbarte mit Daniel einen Termin. Diesen notierte er auf einem Zettel und schickte ihn auf telekinetischem Weg in Sunnys Zimmer. Da dies nun auch endlich erledigt war, konnte er sich getrost auf den Weg machen. Fröhlich summte er ein Lied vor sich her, als er die Villa verließ und die Tür hinter sich abschloss. Dabei fiel ihm aber etwas auf: nicht weit entfernt stand ein grauer Mercedes, der dem, der sie verfolgt hatte, zum Verwechseln ähnlich sah. Misstrauisch runzelte Daniel die Stirn und ging zu dem Wagen hin. Und tatsächlich saß da jemand drin. Ein Mann, der einige Jahre älter war und lange aschblonde Haare hatte. Er schien zu schlafen und sein Gesicht klebte regelrecht an der Fensterscheibe der Fahrerseite. Vorsichtig klopfte Daniel ans Fenster, doch der Mann schlief so tief und fest, dass ihn rein gar nichts aufweckte. Naja, in dem Fall ließ er ihn lieber schlafen. Wer weiß, was alles gewesen war, dass der arme Kerl im Auto schlafen musste. Na hoffentlich ging es ihm bald besser.

So setzte Daniel seinen Weg fort und konnte es kaum erwarten, Sunny zu besuchen. Da aber noch genug Zeit war, schaute er erst mal beim Friedhof vorbei, um das Grab seiner Mutter zu besuchen. Vielleicht hatte er ja Glück und er traf dort auch auf Lumis. Nach all den Dingen, die gestern geschehen waren, hoffte er wirklich, dass er vernünftig mit ihm reden konnte. Immerhin schien er ja ganz nett zu sein, auch wenn er recht unheimlich erschien. Nun gut, die Aktion mit dem Messer war gestern wirklich heftig gewesen, aber Lumis war ja auch nur besorgt gewesen, dass an Malcolms Worten etwas dran sein könnte und er gefährlich sein könnte. Da konnte Daniel ihm auch nicht böse sein. Vielleicht hätte er ähnlich reagiert, wenn er in Lumis’ Lage gewesen wäre. Doch was ihn erstaunte, war die Tatsache, dass auch Lumis eine Katze bei sich gehabt hatte, die besonders zu sein schien, ähnlich wie Orobas. Eurynome… irgendwo hatte er diesen Namen mal gehört, auch wenn ihm nicht wirklich einfallen konnte, woher. War es vielleicht möglich, dass es noch mehr begabte Menschen wie ihn gab, die einen solchen Gefährten an ihrer Seite hatten? Jedenfalls hatte es nicht wirklich danach ausgesehen, als würde sich Lumis mit Eurynome sonderlich gut verstehen. Und das konnte er nicht so wirklich verstehen, denn er und Orobas waren ein eingespieltes Team. Sie vertrauten einander und es herrschte eine enge Verbindung zwischen ihnen. Aber wahrscheinlich lag es auch daran, weil Eurynome nicht sonderlich viel von Menschen zu halten schien. In dem Fall ließ sich halt schlecht etwas machen.

Als Daniel den Friedhof erreichte, suchte er vergeblich nach Lumis und war ein wenig enttäuscht. Und blöderweise konnte er ja nicht mit den Toten Kontakt aufnehmen, um herauszufinden, wo der Nekromant war. Insgeheim beneidete er Lumis dafür. Wenn er sich vorstellte, dass er mit seiner Ziehmutter reden könnte, nachdem er sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Er hätte die Chance, noch mal mit seiner Familie zu reden und er würde sogar die Macht besitzen, die Toten wieder zurückzuholen. Würde er dann seine Familie zurückholen? Er wollte so vieles wissen. Warum seine Mutter so etwas Schreckliches getan hatte und wieso sie so sicher war, dass seine Schwester Tessa dafür verantwortlich war. So vieles wollte er wissen…

Aber wahrscheinlich würde er die Antworten niemals bekommen. Stattdessen konnte er nur am Grab stehen und zu Jessica sprechen, ohne jemals die Antworten zu hören. „Du fehlst mir, Mum“, seufzte er und strich mit einer Hand über den glatten Marmorgrabstein. „Es tut mir leid, dass ich das damals nicht verhindern konnte. Wenn ich… wenn ich bloß stärker gewesen wäre, dann wäre das alles nicht passiert. Es ist alles meine Schuld. Glaubst du auch, man müsste mich wegsperren, so wie Malcolm es gesagt hat? Bin ich ein Monster, weil ich diese Kräfte habe?“ Wie sehr vermisste er sie in diesem Moment. Er fühlte sich so schrecklich einsam und hätte am liebsten wieder laut geweint wie ein Kind, um seinem Kummer freien Lauf zu lassen. Doch er tat es nicht. Weinen würde ja eh nichts ändern. Und er konnte nicht für den Rest seines Lebens immer nur weinen und sich von anderen helfen lassen. Er musste stark sein und um seinen Platz in der Welt kämpfen. Außerdem war doch jetzt Sunny da und dieser hatte ihn so akzeptiert, wie er war. Und der Gedanke gab ihm wiederum Kraft und mit einem traurigen Lächeln fügte er hinzu „Weißt du, Mum… Malcolms Neffe Sunny ist wirklich ein wunderbarer Mensch. Er hat mich aus dem Keller geholt und er kümmert sich gut um mich. Er hat sich sogar um meine Verletzungen gekümmert. Und gestern hat er mich in den Arm genommen und gesagt, dass er mich liebt, obwohl er jetzt weiß, was Mutter getan hat. Ist das nicht toll? Weißt du, Mum… auch wenn ich gestern wirklich Angst hatte, dass Sunny mich wegen Mutter hassen könnte, so bin ich doch wirklich froh, dass es endlich raus ist. Und er sagte, ich könne nichts dafür. Weißt du… solange er bei mir ist, habe ich das Gefühl, wirklich glücklich zu sein. Deshalb hoffe ich, du denkst jetzt nicht schlecht von mir, wenn ich dir gestehe, dass ich ihn sehr gerne habe. Naja… um ehrlich zu sein: ich liebe ihn und er liebt mich auch. Als ich gestern Angst hatte, dass er mich wegen meiner leiblichen Mutter hassen könnte, da hat er mir gesagt, dass er trotzdem für mich da ist und dass er mich liebt. Ist das nicht toll? Und da ich jetzt jederzeit rausgehen darf, kann ich dich auch öfter besuchen kommen. Ich hab dich lieb, Mum.“

Vorsichtig strich er über die glatt polierte Oberfläche des Grabsteins und verweilte noch einen Augenblick so. Aber dann überredete er sich selbst dazu, weiterzugehen und verabschiedete sich damit von seiner Mutter. „Mach’s gut, Mum. Ich besuche dich bald wieder.“ Somit verließ Daniel wieder den Friedhof und hörte, wie es in der Ferne donnerte. Offenbar würde es bald wieder regnen. Zum Glück hatte er daran gedacht, die Fenster abzudichten. Nicht auszudenken, was das für ein Durcheinander in seinem Zimmer geben würde, wenn alles komplett nass werden würde.
 

Als die ersten Regentropfen fielen, holte Daniel seinen Schirm hervor und öffnete ihn. Und schließlich erreichte er nach einem größeren Umweg die Universität und ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er fast schon überpünktlich war. Gleich müsste Sunny frei haben. Da er ja zum Glück wusste, wo die Literaturstudenten ihre Vorlesungen hatten, ging er denselben Weg, den er letztes Mal gegangen war und bemerkte zu seiner Erleichterung, dass nirgendwo eine Spur von Todd und seiner komischen „Verbindung“ zu sehen war. Das war eine weitere gute Eigenschaft am Regen: man hatte kaum Gefahr zu befürchten, da die Menschen ja nicht sonderlich viel davon hielten, nass zu werden. Stattdessen hatten sich die meisten einen Unterstand gesucht, oder waren in die verschiedenen Gebäude gegangen, um im Trockenen zu sein. So schlenderte er über den Campus und jeder, der ihm begegnete, war emsig darauf aus, sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen, andere wiederum hatten in weiser Voraussicht einen Regenschirm mitgenommen und rannten deshalb nicht quer über das Gelände. Aber auch sie wollten sich nicht länger als nötig draußen aufhalten. Und so wirkte der Campus fast wie ausgestorben. Daniel wollte gerade zum LI-Gebäude, da hörte er Stimmen, nicht weit entfernt. Eine der Stimmen erkannte er als Sunnys wieder. Irgendetwas stimmte da nicht. Sofort eilte Daniel los, um nachzusehen und tatsächlich sah er Sunny, der von drei Jungs umzingelt wurde, von dem einer Todd war. „Das wirst du mir büßen, du Bücherwurm!“ hörte er ihn rufen. „Ich verpass dir eine Kieferkorrektur, die du nicht mehr so schnell vergessen wirst.“ Daniel sah, dass die beiden anderen Sunny an den Armen festhielten und ihn somit daran hinderten, wegzulaufen. Und als Todd ausholte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug, da vergaß Daniel schlagartig seine Angst vor den dreien. Zu sehen, wie jemand, den er liebte, verletzt wurde, konnte er nicht ertragen. Das wollte er auch nicht zulassen. Nicht noch mal. In dem Moment blendete er komplett aus, dass Orobas ihm oft genug eingeschärft hatte, seine Fähigkeiten vor anderen Menschen zu verbergen, weil es gefährlich sein konnte. Das war ihm in diesem Moment egal. Er würde nicht noch einmal zulassen, dass jemandem etwas passierte, der ihm wichtig war.

Er fixierte Todd und stoppte ihn in der Bewegung. „Lass Sunny in Ruhe!“ rief er und drehte dem Angreifer den Arm auf den Rücken. „Und nimm deine dreckigen Hände weg!“ Wut überkam Daniel und löschte all seine Angst und Schüchternheit. Etwas in ihm hatte sich verändert, das sah man sofort. In ihm brannte schlagartig eine Sicherung durch, die ihn alles um sich herum vergessen ließ. Erneut sah er Bilder vor seinen Augen. Die Bilder des Blutbades und den Anblick seiner toten Familie, nur weil er nicht fähig gewesen war, sie zu beschützen. Nein… nie wieder. Nie wieder wollte er so etwas sehen. Nicht, wenn er das verhindern konnte. Und als er sah, wie Todd erneut zuschlagen wollte, stoppte er seinen Körper in der Bewegung.

„Ich habe gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen!“ Gewaltsam schleuderte Daniel ihn weg und Todd prallte gegen die Wand, woraufhin er benommen zu Boden fiel. Seine beiden Freunde, die offenbar nicht ganz begriffen, was hier gerade passierte, standen erst mal verwirrt da. Als sie Todd aber rufen hörten „Steht nicht so blöd rum! Verpasst ihm eine!“, da kamen sie direkt auf Daniel zu. Dieser machte sich bereit und sammelte seine gesamte Konzentration. Er hatte schon so oft in seinem Leben Dinge durch bloße Gedankenkraft bewegt. Da war es doch wohl ein Leichtes, auch irgendeinen lebendigen Körper zu bewegen. Die drei hatten immerhin genug Muskeln und waren in der Überzahl. Da war es doch nur fair, wenn er auch seinen Vorteil ausspielte.

Den linken, der geradewegs auf ihn zukam, riss er die Beine weg und schleifte ihn über den Boden. Dann riss er ihn hoch und ließ ihn wieder zu Boden fallen. Den anderen schleuderte er mit einer Druckwelle mehrere Meter weg. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er es nicht bei dieser noch recht harmlosen Behandlung gelassen, aber er wollte auch keine ernsten Verletzungen riskieren. Das brachte er nicht übers Herz, ganz egal was die drei getan hatten. Und außerdem machte sich ein starker Kopfschmerz bei ihm bemerkbar. Ihm war, als würde irgendetwas in seinem Schädel heftig dröhnen und für einen kurzen Moment fühlte er sich etwas benommen. Doch so schnell wollte er nicht aufgeben. Nein, er war noch lange nicht fertig.

Er riss Todd hoch und ließ ihn knapp einen Meter über der Erde in der Luft schweben. Dieser wusste gar nicht, wie ihm geschah und begann panisch zu werden. „Was… was soll das? Was machst du mit mir? Lass mich runter! Lass mich sofort runter.“ Nur langsam ließ Daniel ihn wieder herab und blieb direkt vor ihm stehen. Seine moosgrünen Augen funkelten gefährlich und selbst Sunny war in dem Moment erschrocken, denn so hatte er Daniel bis jetzt noch nicht erlebt. Der war ja völlig von der Rolle und sah aus, als wolle er die drei Angreifer eigenhändig in Stücke reißen.

Daniel packte Todd am Kragen und warf ihm einen feindseligen Blick zu. „Wag es auch nur noch ein einziges Mal, Sunny etwas anzutun und ich schwöre dir, dass ich nicht mehr so freundlich sein werde. Verschwinde sofort und nimm deine bescheuerten Freunde hier mit!“ Da Todd nicht verstand, was hier vor sich ging und wie diese Heulsuse, die er letztens noch über den Campus gejagt hatte, ihn einfach so von den Füßen reißen konnte, ohne ihn dabei anzufassen. Es war so, als würde das alles allein durch seine bloße Willenskraft geschehen. Und in diesem Moment wurde dieser Kerl ihm unheimlich. „Lass mich in Ruhe, du Freak!“ Eine unsichtbare Kraft presste ihn mit dem Rücken gegen die Wand und ließ ihn keinerlei Bewegungsfreiheit lassen. „Ich sage es noch mal“, sprach Daniel mit respekteinflößender und bedrohlicher Stimme. „Verschwindet von hier und wagt es nie wieder, Sunny zu schlagen!“ Damit ließ er Todd wieder frei, der genauso wie seine beiden Freunde schlagartig die Flucht ergriff und davonrannte. Das hier war ihm nun doch entschieden zu unheimlich.
 

Sunny starrte den Flüchtigen fassungslos hinterher und konnte es nicht glauben. War das gerade wirklich Daniel gewesen, der die drei in die Flucht geschlagen hatte? Einen Moment lang stand er wie vom Donner gerührt da und musste sich sammeln. Aber dann, als Daniel kraftlos zusammensackte, eilte er zu ihm hin und fing ihn auf. „Daniel!“ Er sah, wie ihm ein Blutrinnsal aus der Nase lief und mit einem Mal wurde er ganz blass im Gesicht. Nun bekam der Student wirklich Angst um ihn und brachte ihn erst mal aus den Regen raus und setzte ihn auf eine Bank. Langsam aber sicher kam der 19-jährige doch wieder zu sich und ließ sich von Sunny ein Taschentuch geben. „Danke“, murmelte er und spürte, wie sein Kopf noch ziemlich dröhnte. Immer noch war er etwas benommen und brauchte einen Moment, um zu realisieren, was eigentlich passiert war. Und da umarmte Sunny ihn auch schon.

„Verdammt noch mal, Daniel. Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt! Wie geht es dir denn?“

„Ganz gut“, murmelte der Benommene und presste sich das Taschentuch gegen die Nase. Na super. Und ausgerechnet in solchen Momenten musste er natürlich mal wieder Nasenbluten bekommen. „Ich wollte dich von der Uni abholen, nachdem ich schon heute morgen verschlafen musste. Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig aufgestanden bin und dass ich dir so einen Schreck eingejagt habe. Das tut mir wirklich leid.“ Doch Sunny schüttelte nur energisch den Kopf. „Du brichst hier zusammen und wirst kreidebleich und das Einzige, was dich interessiert, ist die Sache mit heute morgen? Na du hast Nerven.“

„Ich will halt nicht, dass du wütend auf mich bist!“ rief Daniel und schuldbewusst senkte er den Blick. „Und ich konnte doch nicht zulassen, dass sie dir wehtun.“

Sunny schüttelte den Kopf als er das hörte und konnte nicht glauben, was Daniel da sagte. Dem war das Leben jenes Menschen, den er liebte, so viel wichtiger, dass er sich gar nicht um seine eigene Gesundheit sorgte. „Daniel, warum sollte ich wütend auf dich sein. Ich hab dich extra schlafen lassen, weil du gestern so fertig warst und ich dachte, du bräuchtest einfach mal etwas mehr Schlaf. Du musst auch mal ein wenig an dich selbst denken, klar? Und ich werde schon nicht so schnell sauer auf dich werden. Das wäre höchstens dann der Fall, wenn du so rücksichtslos mit dir selbst und deiner Gesundheit umgehst.“ Gesundheit? Daniel verstand nicht so wirklich, worauf Sunny hinaus wollte. Was wollte der denn bitte die ganze Zeit mit diesem Gesundheitsthema? Als der Student merkte, dass der 19-jährige nicht so ganz verstand, was er ihm sagen wollte, erklärte er es ihm noch mal deutlicher. „Du bist ganz bleich geworden und blutest aus der Nase und das in dem Moment, wo du Todd, Benny und Rodney mit deinen Kräften zu bewegen. Auch gestern ist genau das Gleiche passiert. Ich hab keine Ahnung, was da mit deinem Körper passiert, aber das scheint überhaupt nicht gesund für dich zu sein, wenn du Telekinese anwendest. Und deshalb bitte ich dich einfach darum, dass du so etwas nicht mehr machst!“

Immer noch sah Daniel ihn etwas verständnislos an. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie Sunny darauf kam, dass das Nasenbluten daher kam, dass er einen menschlichen Körper mittels seiner Telekinese gesteuert hatte? Zugegeben, es war unglaublich anstrengend, aber es gab sicher noch eine andere Ursache dafür. „Sunny, ich glaube du…“ Weiter kam er nicht, als er plötzlich keine Luft mehr bekam. Er bekam einen heftigen Hustkrampf und beugte sich vor, während er sich die Hand vor dem Mund hielt. Ihm war, als wäre Wasser in seiner Lunge und hinderte ihn am Atmen. Er hustete krampfhaft und Sunny, der sich in der Situation nicht besser zu helfen wusste, schlug ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. Schließlich hatte Daniel aber seine Lungen gereinigt und konnte wieder durchatmen. Doch ihn durchfuhr ein eisiger Schreck, als er sah, dass da Blut an seiner Hand klebte. Wie vom Donner gerührt saß er da und ihm wurde schwindelig. Was um Himmels Willen war da bloß mit ihm passiert und wieso hustete er auf einmal Blut? Erschrocken sah er zu Sunny, der nicht weniger entsetzt wirkte. „Was… was passiert mit mir?“

Noch nie war es geschehen, dass er beim Anwenden seiner telekinetischen Kräfte plötzlich Blut spuckte. Und doch passierte es gerade vor seinen Augen. Aber warum? Wieso auf einmal jetzt? Stimmte es vielleicht, was Sunny da sagte und seine Fähigkeiten begannen tatsächlich seinem Körper zu schaden? Aber er hatte doch die ganze Zeit keine Probleme gehabt und selbst heute morgen hatte er locker den Haushalt erledigen können, ohne dass etwas passiert war. Warum ausgerechnet jetzt? Belastete ihn das Bewegen von Lebewesen etwa so sehr, dass es seinem Körper tatsächlich schadete? Als er darüber nachdachte, musste er sich wieder daran erinnern, was Orobas ihm gesagt hatte: wenn seine Kräfte überstrapaziert werden und sie eine zu hohe Belastung werden, dann wirkt sich das bei Menschen mit telekinetischen Kräften schädlich auf den Körper aus.
 

Und schlimmstenfalls drohte ihnen dann sogar der Tod…

Die dunkle Wahrheit

Der Regen war immer schlimmer geworden und Lumis hatte dummerweise seinen Regenschirm vergessen. Also rannte er durch den Regen, um schnellstmöglich sein Ziel zu erreichen. Wohin er genau gehen musste, konnte er nicht direkt sagen, aber er spürte es dafür. Ihre Präsenz war einfach zu deutlich spürbar und dass sie in der Nähe war, bestätigte seinen Verdacht nur. „Würdest du nicht ganz so schnell rennen? In diesem Ding wird mir noch übel und ich kann es immer noch nicht fassen, dass du mich in diesen stinkenden Rucksack gesteckt hast!“ Doch Lumis ignorierte Eurynomes Beschwerden und sagte einfach nur „Du bist selbst schuld, weil du ja nicht mit den Informationen rausrücken willst. Also hör auf, dich zu beschweren, oder du kannst gerne selber durch den Regen laufen, wenn dir das lieber wäre.“ Er war immer noch sauer auf Eurynome, weil der sich mal wieder als vollkommen unkooperativ und nutzlos erwiesen hatte und so war es ja auch letztendlich seine Schuld. Und da der Kater offenbar keine Lust hatte, die Informationen rauszurücken, musste Lumis selbst aktiv werden und herausfinden, was hier vor sich ging und ob Daniel tatsächlich ein Unheilkind war. Und dazu musste er diejenige finden, die schon seit langer Zeit ihre Finger im Spiel hatte.

Schließlich erreichte er ein Café und tatsächlich sah er in einer hinteren Ecke am Tisch ein Mädchen sitzen, das nicht älter als elf Jahre sein konnte. Sie hatte gerade geschnittenes, recht kurzes blondes Haar, trug ein schwarzes Kleid mit weit geschnittenen Ärmeln und weißen Kragen. Ihre Augen waren bandagiert und sie hatte einen Kater auf ihrem Schoß, den sie zärtlich streichelte. Bei sich hatte sie einen Butler, der neben ihr stand. Niemand im Café bemerkte die beiden, aber Lumis verwunderte das nicht sonderlich. Dieses Kind mit den bandagierten Augen hatte die Macht dazu und der Grund, warum er sie sehen konnte, war einfach der, weil er gegen telepathische Einflüsse immun war. Als er direkt auf sie zuging, wollte ihn schon der Butler aufhalten, aber da rief das Mädchen „Es ist schon in Ordnung“, woraufhin Lumis weitergehen durfte. Er blieb direkt vor dem Mädchen stehen, welches gerade dabei war, Tee zu trinken. Erst jetzt setzte er auch den Rucksack ab und ließ Eurynome heraus, wobei das Mädchen bemerkte „Also das ist nun wirklich sehr unhöflich, den armen Eurynome in einen Rucksack zu stopfen.“

„Das hat der Flohfänger sich selbst zuzuschreiben und ich bin hier, weil ich mit dir reden muss, Josephine Faustus.“

Das Mädchen hielt inne, als es diesen Namen hörte. Dann aber lächelte sie und trank ihren Tee. „Du kennst also meinen Namen. Nun, dann weißt du sicherlich auch, wie man mich sonst noch nennt.“

„Klar. Die Hexe von Straßburg, die Kinderfresserin von Grenoble, die tausendjährige Hexe, die Teufelsbrut aus dem Schwarzwald und das Monster von Wien. Und ich glaube, da waren noch mehr unrühmliche Namen. Und zusammen mit deiner Schwester Anna nennt man euch die Schwestern des Todes oder auch die Zwillinge des Unheils. Und ich weiß auch, was du bist: ein Unheilkind.“

„Und du bist nicht abgeschreckt?“

„Nein. Mich interessiert nur eines: warum bist du hier und wieso geschehen all diese Dinge? Ein Toter bittet mich, einen Konstrukteur zu töten und ein Dream Walker bewacht eben jenen. Und dann noch die Katzen, die du geschickt hast. Irgendetwas geht hier vor sich und ich habe auch schon mit Elyssia Wyatt gesprochen und sie erzählte mir, dass ein neues Unheilkind auftauchen würde. Nun will ich wissen: hast du vor, aus Daniel ein Unheilkind zu machen und wenn ja, warum?“ Josephine schwieg eine Weile, dann wies sie ihn an, sich zu setzen. Zuerst zögerte er noch, dann folgte Lumis ihrer Aufforderung und nahm auf dem Stuhl Platz. Seelenruhig gab Josephine noch etwas Zucker in ihren Tee. „Du bist erstaunlich clever“, merkte sie an. „Aber bei deiner Intelligenz habe ich auch nichts anderes erwartet. Ich muss dich aber korrigieren. Daniel ist schon längst ein Unheilkind, oder zumindest sollte er eines werden. Allerdings lief etwas schief. Unheilkinder werden mit der Begabung geboren, sowohl die Nekromantie, als auch die Telepathie und Telekinese beherrschen zu können. Sie sind überaus talentiert und haben ein gewaltiges Potential. Die Grundbasis ihrer Fähigkeiten ist aber immer die Telekinese. Allerdings werden Unheilkinder nicht mit ihrer vollständigen Macht geboren, sondern lediglich mit dem Potential dazu. Von Geburt an beherrschen sie sowohl Telepathie als auch Telekinese. Um diese Kraft aber einsetzen zu können, braucht es die Hilfe eines Nekromanten, weil der Körper selbst zu schwach dazu ist, um diese enorme Belastung aushalten zu können. Und zudem muss das vorherige Unheilkind seine Kraft auf das neue übertragen, um den Prozess abzuschließen. Das ist der Kreislauf, wie er seit Urzeiten vorgesehen ist. Das Unheilkind präsentiert die Vereinigung aller Kräfte in sich und damit auch ihre Quelle. Wenn sich die Lebenszeit eines Unheilkindes dem Ende zuneigt, muss es einen Nachfolger bestimmen. Wenn dies nicht erfolgt, dann wird die Nekromantie genauso für immer aus dieser Welt verschwinden, wie die Telekinese und Telepathie. Daniel sollte mit beiden Kräften geboren werden, allerdings lief etwas schief, nämlich weil er sich im Anfangsstadium seiner Geburt teilte und damit die eine Hälfte seiner Kräfte verlor. Und diese ging auf seine Zwillingsschwester Tessa über. Und da beide die Fragmente eines Unheilkindes besitzen, sind ihre Kräfte zu groß für sie und führen unweigerlich zu ihrem Untergang. Als Tessa aus Daniel entstand und die Hälfte seiner Kraft in sich aufnahm, da nahm sie auch einen Teil seines Bewusstseins in sich auf. Nämlich jenen Teil, der die Unheilkinder vernichten will. Sie repräsentierte den negativen und zerstörerischen Pol und Daniel, der selbst nur ein unvollständiges Fragment ist, verkörpert das Positive. Tessa wurde von ihrer eigenen Macht in den Wahnsinn getrieben, weil diese zu stark für ihren Verstand war und ihr der ausgleichende positive Pol fehlte, um dagegen zu halten. Betrachte es wie Yin und Yang, die voneinander getrennt wurden. Ohne den anderen werden sie früher oder später zerfallen. Gegensätze brauchen einander, um gemeinsam zu existieren, das ist das ungeschriebene und zugleich das höchste Gesetz der Natur, der sich selbst die größten Mächte nicht entziehen können. Bei Daniel ist es so, dass bei ihm dieser Prozess bereits begonnen hat. Da ihm der negative Pol seiner Schwester fehlt und er nicht in der Lage ist, eine vollständige Ausgeglichenheit zu erreichen, wird er jetzt langsam aber sicher von seiner eigenen Kraft zerstört. Nämlich indem sein Körper zu sterben beginnt.“

„Aber ich verstehe nicht ganz, was die Telepathie zu bewirken vermag, dass dieser Zerfallprozess gestoppt wird.“

„Telepathie vermag mehr als nur das Unterbewusstsein, sondern auch alle unbewussten Vorgänge im Körper zu verändern und damit auch die Regeneration. Aus diesem Grund bin ich inzwischen knapp etwas über tausend Jahre alt geworden. Das heißt: die Dream Walker besitzen das Geheimnis zur Unsterblichkeit und ewigen Jugend. Und ohne diese Kraft wird Daniel sterben. Und um zu einem Unheilkind zu werden, ist es nötig, dass er diese andere Kraft erhält und durch die Macht der Nekromanten kann diese Kraft stabil gehalten werden und sichert sein Überleben. Dazu muss er eine Toderfahrung durchlaufen, weil die Nekromantie erst mit dem Sterben vollständig erwacht. Wenn dies geschehen ist, bleibt mir nichts Weiteres zu tun, als meine Macht auf ihn zu übertragen und dann wird mein Leben und das meiner Schwester endlich ein Ende finden und unsere Rolle ist zu Ende gespielt. Ich habe lange genug gelebt und darauf gewartet, irgendwann ein normales Leben führen zu können, zusammen mit meiner Schwester. Doch wir wurden immer geächtet und vertrieben. Selbst in Dark Creek brannte man unser Haus nieder und die wütende Meute erschlug meine Schwester und zu allem Unglück kam unsere Freundin Mallory ums Leben. Wir wurden in einer Zeit geboren, in der man sich vor solchen Dingen fürchtete und diese Angst besteht bis heute noch fort. Wir werden nie unseren Frieden finden und deshalb werde ich das Erbe an Daniel weitergeben, weil er im Gegensatz zu mir und Anna Menschen hat, die ihn lieben und die sich um ihn kümmern. Etwas, das wir nie hatten. Für uns ist nun klar geworden, dass unsere Zeit vorbei ist und eine neue Generation folgen muss. Und das ist von nun an die Generation der Ronoves, die Nachfahren der Faustus-Familie.“ Mit dieser Nachricht hatte Lumis jetzt nicht gerechnet. Daniel war ein Nachfahre von Josephines Familie? „Und was genau hast du jetzt vor? Tessa ist tot und so kann ihre Kraft nicht mehr auf Daniel übertragen werden, was also bedeutet, dass er unweigerlich sterben wird.“

Doch Josephine wirkte sehr selbstsicher. Und das war schon etwas verdächtig. „Es existiert noch ihr Wille“, erklärte Josephine. „Der Wille, Daniel zu beschützen und zu ihm zurückzukehren. Du musst wissen, ihr ganzes Leben lang war sie in einem inneren Konflikt gefangen war. Ihr Bewusstsein, das durch Daniel noch vor der Geburt beeinflusst wurde und was die Zerstörung der Unheilkinder und aller Begabten gewollt hat, lebte im Konflikt mit dem Willen ihrer Kraft. Unsere Mächte haben ihren eigenen Willen, nur setzt sich dieser nie gegen uns durch. Und der Wille von Tessas Macht war, das Getrennte wieder zusammenzufügen und Daniel zu beschützen. Und dieser Wille übertrug sich noch vor ihrem Tod, um dies zu ermöglichen. Folglich also ist Daniels Tod noch nicht besiegelt. Wenn Tessas Wille auf ihn übertragen wird, bevor seine eigene Kraft seinen Körper zerstört hat, kann sein Leben gerettet werden.“

Zusammenfügen, was einst getrennt wurde… Das waren Elyssias Worte gewesen. Jetzt verstand er es auch endlich. Daniel brauchte die Macht, die einst auf seine Schwester überging, um somit das Gleichgewicht wiederherzustellen.

„Wie viel hat Malcolm Wilson davon gewusst?“

„Genug, um verhindern zu wollen, dass dies geschieht. Er wollte nicht zulassen, dass die Unheilkinder weiter fortbestehen, weil es immerhin Tessa zu verantworten war, dass die Familie Ronove getötet wurde. Tessa wollte ihren Bruder unter allen Umständen töten, um damit das Schicksal der Unheilkinder endgültig zu besiegeln. Und dazu wollte sie ihre Mutter benutzen und hat sie über die Jahre manipuliert. Doch Desdemona wehrte sich dagegen und selbst, als Tessa den Mord an ihrer Tante und ihren Großeltern anzettelte, um ihre Mutter endgültig zu brechen, erhängte sich diese stattdessen, um Daniel beschützen zu können. Eine wirklich traurige Geschichte, die aber auch zeigt, wie gefährlich es ist, wenn die Macht eines Unheilkindes aus dem Gleichgewicht gerät. Es hat nicht nur für den Träger selbst schlimme Folgen, sondern auch für sein gesamtes Umfeld.“

Das mochte vielleicht so sein, aber Daniel ließ ein ganz bestimmter Fakt nicht los. Nämlich diese ganze Tragödie geschehen war und Josephine von all dem gewusst hatte.

„Warum hast du zugelassen, dass dieses Unglück passiert, wenn du gewusst hast, was passiert?“

„Weil ich es längst aufgegeben habe, den Menschen helfen zu wollen. Ich habe für sie Krankheiten geheilt und was tun sie? Sie verbrennen mich, oder stechen mir die Augen aus und mauern mich in der Mauer eines Klosters nieder. Sie danken mir für meine Hilfsbereitschaft, indem sie mich immer wieder aufs Neue als Hexe hingerichtet und dann auch noch meine kleine Schwester erschlagen haben. Wenn du es wissen willst: es war mir egal, was mit Desdemona und ihrer Familie passiert. Mit den Menschen bin ich schon lange durch und meine Hauptaufgabe besteht einzig und allein darin, das neue Unheilkind vorzubereiten und sowohl auf die Dream Walker, als auch auf die Nekromanten und Konstrukteure Acht zu geben. Das habe ich getan und mehr kann man von mir auch nicht erwarten. Ich helfe den Menschen schon lange nicht mehr.“
 

Da Sunnys Sorge um Daniel zu groß war und er sich ziemlich erschrocken hatte, als dieser plötzlich Blut hustete, brachte er ihn sofort ins Krankenhaus. Der 19-jährige wehrte sich vehement dagegen und erklärte, dass es ihm gut ging, aber der Student ließ sich nichts vormachen. Spätestens nachdem Daniel Blut gehustet hatte, stand für ihn fest, dass da etwas Ernstes sein musste und da hatte er auch nicht mit sich reden lassen und so fuhren sie direkt ins Krankenhaus und kamen in die Notaufnahme. Daniel sah aus, als wollte er schnellstmöglich wieder verschwinden und er schien offenbar ziemlich Angst vor Krankenhäusern zu haben. Aber darauf konnte Sunny auch keine Rücksicht mehr nehmen und so hatte er sich letzten Endes durchgesetzt. Mit großem Widerwillen ließ sich Daniel auf die Untersuchung ein und als er plötzlich wieder Blut zu husten begann, ordnete der Arzt ein CT an, um genauer feststellen zu können, was nicht stimmte. Sunny saß die meiste Zeit draußen und wartete ungeduldig auf das Ergebnis. Es dauerte jedoch knapp eine Stunde, bis er erfuhr, dass Daniel operiert werden musste, nachdem er einen plötzlichen Zusammenbruch erlitte habe. Entsetzt wandte er sich an den Arzt und fragte „Was ist mit ihm, Doktor?“ fragte er sofort und erfuhr, dass Daniel mehrere innere Blutungen und einen Lungenriss habe. Sowohl in der Lunge, als auch im Hirn und mehrere Blutgefäße seien geplatzt. „Wir müssen die Blutungen stoppen, bevor sich ein Gerinnsel im Gehirn bildet. Das kann unter Umständen auch tödlich werden“, erklärte der Arzt ihm, wobei er sich noch nach Daniels Familie erkundigte, die man verständigen könnte. Doch Sunny schüttelte nur den Kopf und antwortete, dass Daniel keine Familie mehr habe und er die einzige Ansprechperson sei. Besorgt fragte der Student nach, wie es überhaupt passieren konnte, dass es so gefährliche inneren Blutungen gab. Der Arzt erklärte, dass diese normalerweise bei Gewalteinwirkung oder schweren Verletzungen passieren konnte. Und tatsächlich hatte man bei Daniel auch Spuren von Gewalt gefunden. Sunny erklärte dem Arzt daraufhin die Sache mit seinem Onkel und von der Misshandlung. Doch ob die inneren Blutungen von den Verletzungen stammten, ließ sich schwer sagen. Erst einmal müssten diese Blutungen gestoppt werden.

Diese Nachricht musste Sunny erst einmal verdauen und er machte sich schwere Vorwürfe, dass er sich nicht besser um Daniel gekümmert hatte. Er hätte mehr auf ihn Acht geben sollen, dann wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Hoffentlich ging es Daniel bald wieder besser und es war nicht allzu ernst.

„Sunny!“

Er schaute auf und erkannte seine Mutter, die auf ihn zukam. Offenbar hatte sie von ihren Kollegen gehört, dass er hier war und machte sich wahrscheinlich Sorgen. „Mum…“ Er stand auf und kam auf sie zu. Immer noch trug sie ihre Sanitäterjacke und so wie sie aussah, war sie sofort hergekommen. Sie sah ihn genau an, um sicherzugehen, dass ihm nichts fehlte. „Wieso bist du in der Notaufnahme? Ist irgendetwas passiert?“

„Daniel ist zusammengebrochen und wird gleich operiert. Er hat innere Blutungen, allerdings ist noch nicht ganz klar woher.“

„Und wer ist der behandelnde Arzt?“

„Das war… ich glaube, sein Name war Dr. Langdon.“

„Okay, ich rede mit ihm. Vielleicht klärt sich ja was.“
 

Unruhig wartete Sunny und erst knapp drei Stunden später kam Dr. Langdon zu ihm und konnte ihn mit der Nachricht beruhigen, dass die Blutungen gestoppt werden konnten und Daniels Zustand stabil sei und er bald aus der Narkose erwachen würde. Allerdings müsse er noch ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Diese Nachricht erleichterte den Studenten wirklich und er konnte erst mal durchatmen. Gott sei Dank war alles gut gegangen. „Darf ich zu ihm?“

Da Dr. Langdon keine Einwände sah, brachte er Sunny ins Zimmer, wo Daniel lag. Den 19-jährigen in diesem Zustand zu sehen, tat ihm unendlich weh und es gelang ihm nur mit Mühe, sich zusammenzureißen. Wenigstens war er schon wieder halbwegs bei Bewusstsein und lächelte, als er den Literaturstudenten sah. „Daniel!“ Sunny ging zu ihm hin und strich ihm vorsichtig über den Verband, der um seinen Kopf gewickelt war. „Wie geht es dir denn?“

„Ich bin noch ziemlich müde. Aber… ich glaube, es geht schon. Tut mir leid, dass ich dir so einen Schreck eingejagt habe. Und ebenso tut es mir leid, dass ich solche Probleme mache. Das wollte ich nicht.“

„Jetzt hör doch auf, dich für alles Mögliche zu entschuldigen. Als ob das wichtig wäre. Jetzt geht es erst einmal darum, dass du wieder gesund wirst, okay? Du bleibst schön hier und siehst zu, dass du wieder auf die Beine kommst und es dir besser geht. Du kannst froh sein, dass es nicht so ernst war und keine akute Lebensgefahr bestand. Aber bitte, Daniel… mach so etwas nie wieder. Irgendwie hängt das mit deinen Kräften zusammen und ich will nicht, dass dir wieder so etwas passiert.“ Daniel nickte und versprach es. Da er sich noch nicht so wirklich gut fühlte und immer noch mit den Nachwirkungen der Narkose kämpfte, ließ Sunny ihn erst mal alleine und versprach, ihm ein paar Sachen vorbeizubringen. Bevor er aber ging, hatte Daniel noch eine Bitte. „Könntest du Orobas sagen, dass ich ihn dringend sprechen muss?“

„Versteht er mich denn überhaupt?“

„Er kann die Menschensprache verstehen und sogar lesen. Das ist alles kein Problem. Sag ihm einfach, was passiert ist und dann wird er schon von selbst zu mir kommen.“

Nun, in dem Fall war es ja kein großes Problem und er versprach Daniel, sich darum zu kümmern. Dennoch verließ er mit gemischten Gefühlen das Krankenhaus. Er konnte es nicht näher benennen, aber er hatte ein mieses Gefühl, was die ganze Sache betraf. Eine schlimme Vorahnung beschlich ihn, dass dies erst die Spitze des Eisbergs war und sich Daniels Zustand noch weiter verschlimmern würde. Aber was konnte er tun? Er wusste so gut wie nichts über Daniels Fähigkeiten und ob sie wirklich verantwortlich dafür waren, dass es ihm so schlecht ging. Na hoffentlich täuschte er sich und steigerte sich in seiner Sorge nur in irgendwelche Ängste rein, die völlig unbegründet waren. Es musste ja nicht unbedingt zur großen Katastrophe kommen. Doch so wirklich beruhigen konnte er sich nicht wirklich und selbst als er nach Hause ging, drehte sich alles bei ihm im Kopf. Zuhause angekommen ging er sofort in Daniels Zimmer und suchte ihm Kleidung fürs Krankenhaus raus. Dabei erregte ein leises Miauen seine Aufmerksamkeit und er sah, dass Orobas am Türrahmen stand und ihn mit seinen goldgelben Augen ansah. Zuerst war er sich nicht sicher, ob er wirklich mit einer Katze sprechen sollte, aber da Daniel ihn darum gebeten hatte, machte er es trotzdem. Sicherheitshalber fragte er aber „Sag mal, kannst du eigentlich verstehen, was ich sage?“ Zuerst gab der Kater keine Reaktion von sich, bewegte aber dann seinen Kopf, um mit einem Nicken zu antworten. Und da Sunny dies als „ja“ interpretierte, erzählte er Orobas von den Geschehnissen. „Daniel hat sich mit drei Typen angelegt, die mich angegriffen haben. Dabei hat er seine Kräfte eingesetzt und sie dabei in die Luft gehoben und so… Danach hat er starkes Nasenbluten bekommen und ist zusammengebrochen. Und anschließend hat er angefangen, Blut zu husten. Er ist jetzt im Krankenhaus und erholt sich von einer Operation. Ich soll dir Bescheid sagen, dass du zu ihm kommen sollst. Ich fahr sowieso noch mal ins Krankenhaus, um Daniel ein paar Sachen zu bringen. Da im Krankenhaus keine Tiere erlaubt sind, müsste ich dich also in der Tasche reinschmuggeln.“ Damit blieb Orobas im Zimmer und wartete geduldig, bis Sunny mit dem Packen der Tasche fertig war. Auch wenn sich der Student nicht ganz sicher war, wie weit eine Katze bitteschön helfen konnte, hoffte er dennoch, dass Daniel vielleicht eine Idee hatte, was zu tun war. Immerhin hatte er ja selbst gesagt, dass Orobas sein Lehrmeister war und viele Leute gekannt hatte, die solche Kräfte besaßen. Und wenn der Kater schon so viel wusste und mit Daniel kommunizieren konnte, bestand vielleicht eine Möglichkeit, dass sie auf die Weise herausfinden konnten, was sie tun konnten. Was auch immer nötig war, um Daniel zu helfen, er wollte nichts unversucht lassen.

„Oh Mann, ich hoffe echt, dass das nicht schlimmer wird. Was meinst du?“ Damit wandte er sich Orobas zu, der neben ihm her lief und nur ein Miauen als Antwort gab. „Ach ja“, murmelte Sunny und erinnerte sich wieder. „Du kannst dich ja nur mit Daniel verständigen.“ Als er die Wagentür öffnete und die Tasche mit den Klamotten auf den Rücksitz legte, machte es sich der Burma-Kater gleich daneben bequem und wartete. So fuhren sie wieder zum Krankenhaus und als Sunny kurz in den Rückspiegel sah, glaubte er kurz wieder den schwarzen Mercedes zu sehen. Als er dann aber genauer hinschaute, war dieser wieder weg. Oh Mann, dachte er und schüttelte den Kopf. Ich glaube, ich werde langsam echt paranoid. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass es Daniel schlecht geht, jetzt sehe ich diesen blöden Mercedes wirklich überall.

Er musste sich wirklich mal auf die wichtigen Dinge konzentrieren. Jetzt war es erst einmal wichtig, Daniel zu helfen. „Na hoffentlich kannst du Daniel helfen“, murmelte Sunny schließlich und versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Egal was mit ihm ist, ich mache mir wirklich Sorgen und ich habe wirklich die böse Vorahnung, dass das noch nicht alles war und Daniel noch irgendetwas Ernstes passiert. Und dann noch diese Sache mit Lumis gestern… irgendwie ist das Ganze doch ziemlich seltsam.“ In diesem Moment wünschte er sich wirklich, er könnte mit Orobas sprechen und auf diese Weise Antworten bekommen. Aber da musste er wohl warten.
 

Als sie im Krankenhaus waren und Sunny den Kater in der Tasche in Daniels Zimmer geschmuggelt hatte, kletterte der kleine Stubentiger auf das Bett, nachdem der Student die Tasche wieder geöffnet hatte. Daniel, der immer noch ziemlich benommen wirkte, streichelte den Kopf seines tierischen Freundes und lächelte müde. „Ich glaube, ich habe es übertrieben, Orobas.“

„Ja. Sunny hat mir bereits erzählt, was passiert ist. Bei aller Vernunft, aber das war wirklich mehr als verantwortungslos von dir. Ich habe dich ausdrücklich gewarnt, deine Kräfte einzusetzen, um lebende Objekte zu bewegen. Dazu ist die Telekinese nicht ausgelegt und beansprucht dich so sehr, dass es zu Schäden in deinem Körper kommen musste.“

„Ich weiß, aber ich konnte doch nicht zulassen, dass sie ihm wehtun.“

„Sunny macht sich auch schon große Sorgen. Und ich fürchte, dass es ernst aussieht, Daniel. Ich hatte gehofft, dass dieser Umstand nicht passieren würde, wenn du deine Fähigkeiten kontrolliert einsetzt und es schaffst, dich selbst vernünftig einzuschätzen, würde so etwas niemals passieren. Aber ich fürchte, dass es lediglich das Unvermeidliche hinausgezögert hat und es letzten Endes nichts gebracht hat. Daniel, es tut mir wirklich leid. Ich habe mein Bestes gegeben und konnte es doch nicht verhindern.“ Diese Worte beunruhigten Daniel und ein wenig packte ihn die Angst. Dass Orobas so seltsam sprach, konnte nichts Gutes bedeuten und so fragte er ihn, was er damit meinte und warum er so etwas sagte.

„Weil ich fürchte, dass dir nicht mehr viel Zeit bleiben wird, Daniel. Du wirst sterben.“

Diese Nachricht war nun endgültig zu viel für den 19-jährigen. Der Schock war so groß, dass das Glas eines Bilderrahmens zersprang. Und in dem Moment packte Daniel ein heftiger Kampf. Er begann nach Luft zu schnappen und er würgte einen Schwall Blut hervor. Das EKG begann immer schneller zu piepen und Panik überkam den Studenten. Er eilte zum Flur raus und rief nach dem Arzt. Mit zwei Krankenschwestern kam dieser in Daniels Zimmer und Sunny wurde rausgeschickt. Was im Zimmer passierte, ließ sich schwer sagen und er bekam nur mit, dass nach einem Defibrillator gerufen wurde. Und wenig später wurde Daniel auf die Intensivstation verlegt.

Das Ritual

Sunny war völlig fertig mit den Nerven, nachdem Daniel einen Atemstillstand erlitten hatte und auf die Intensivstation verlegt werden musste. Sein Zustand wurde zunehmend kritischer und es wurden weitere Blutungen festgestellt. Dabei hatte sich zu allem Unglück auch noch ein Gerinnsel im Gehirn gebildet und er war daraufhin ins Koma gefallen. Wie lange er durchhalten und ob er wieder aufwachen würde, war ungewiss. Die Prognose des Arztes ließ nichts Gutes verlauten und dieser konnte sich selbst noch nicht wirklich erklären, was los war und wieso der Zustand seines Patienten minutenschnell immer dramatischer wurde und versuchte noch immer eine Erklärung für die immer wieder auftretenden Blutungen zu finden. Doch weil nichts helfen wollte, standen die Chancen schlecht, Daniel erfolgreich zu behandeln. Immer wieder erlitt er aufs Neue Blutungen und musste schließlich künstlich beatmet werden. Da der Student das Gefühl hatte, als würde ihm gleich die Decke auf den Kopf fallen, war er nach draußen an die frische Luft gegangen und versuchte, sich zu sortieren und die ganze Situation zu verarbeiten. Insbesondere die Nachricht des Arztes, dass Daniel vielleicht die nächsten zwölf Stunden nicht überleben würde. Er fühlte sich mies und fragte sich, ob das alles nicht vielleicht seine Schuld war. Wenn er Daniel davon abgehalten hätte, ihn zu beschützen, dann läge er jetzt nicht im Koma und es wäre alles in Ordnung. Was, wenn Daniel nun seinetwegen sterben musste? Das war einfach nicht fair. Fast sein ganzes Leben lang war Daniel eingesperrt worden und war so einsam gewesen und hatte niemanden. Er hatte seine ganze Familie verloren, da war es doch nur gerecht, wenn er auch mal glücklich sein durfte. Es musste doch irgendetwas geben, was man für ihn noch tun konnte. Doch der Arzt meinte, es müsse schon ein kleines Wunder geschehen, solange man nicht die Ursache gefunden habe. Eine Stimme riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Jemand rief ihn. Suchend blickte er sich um und erkannte Lumis, der auf ihn zugeeilt kam du bei sich hatte er zwei Männer, die knapp um die 30 Jahre alt sein mussten und ihnen folgte ein schwarz gekleidetes Mädchen, dessen Augen bandagiert waren. Bei sich hatte sie einen groß gewachsenen schwarzhaarigen und ernst drein blickenden Mann, der wie ein Butler aussah und sie hatte ein anderes Mädchen in Begleitung, dessen Gesicht starr und regungslos wirkte. Sie war so kreidebleich, als wäre sie bereits tot und ihr schneeweißes Kleid kaschierte dies nicht sonderlich. Auf ihrem Arm hatte sie eine schwarze Katze, die Orobas ein wenig ähnlich sah. Nur wirkte sie um einiges größer und sie hatte statt einem Halsband eine rote Schleife mit einem goldenen Glöckchen um den Hals. Sunny verstand nicht, was der Aufmarsch bedeuten sollte, doch bevor er nachfragen konnte, ergriff schon Lumis das Wort.

„Sunny, es ist wichtig: wie geht es Daniel?“

„Er liegt im Koma und es steht nicht fest, ob er durchkommt. Aber sag mal, wer sind all die Leute hier?“

„Das ist eine lange Geschichte. Der junge Mann da mit den langen Haaren ist Vincent Rose, er ist ein Dream Walker, also ein Telepath und er hat zusammen mit seinem Freund Anthony Daniel die letzten Tage überwacht und euch verfolgt. Und die beiden Mädchen sind Josephine und ihre Schwester Anna Faustus. Wir sind alle hier, weil wir wissen, wie wir Daniels Leben retten können.“

Damit begann Lumis ihm alles zu erzählen. Von den Unheilkindern und welche Rolle Tessa und Daniel dabei spielten und wie das alles zusammenhing. Auch warum sich Daniels Zustand von jetzt auf gleich so extrem verschlechtert hatte, wurde erklärt und im Anschluss gestand Anthony „Ich war in Sorge, dass Daniel außer Kontrolle geraten könnte wie seine Schwester. Darum habe ich euch überwacht und auch eingegriffen, als Daniel kurzzeitig die Kontrolle über seine Fähigkeiten verloren hat und in Panik geriet. Darum ist er auch ohnmächtig geworden.“

Sunny starrte ihn ungläubig an und wusste erst nicht, was er davon halten sollte. Aber dann erzählte Anthony ihm eine Geschichte, die ein ziemlich beunruhigendes Licht auf die Sache warf. Er berichtete, wie er vor fünf Jahren in die Psychiatrie von Somnia gehen wollte, um mit Tessa zu sprechen und mehr über die Umstände der Morde in der Familie Ronove herauszufinden. Doch Tessa hatte ihn, ehe er sich versah, in eine Illusion gesperrt, um ihn so wie viele andere der Patienten in den Wahnsinn zu treiben und wie seine Suche nach der Wahrheit zu einem einzigen Horrortrip geworden war.

„Es gelang mir lediglich mit Vincents Hilfe und dem „wahren Willen“ Tessas, sie von ihrem manifestierten Wahnsinn zu befreien und sie von ihren Qualen zu erlösen. Dabei ging dieser Wille auf mich über und sie bat mich, dass ich mich um ihren Bruder kümmern und ihn beschützen solle, damit ihm nicht das Gleiche widerfährt wie ihr.“

„Tessa und Daniel sind ursprünglich ein Individuum gewesen“, erklärte Josephine. „Doch als sie sich in zwei verschiedene Wesen spalteten, geriet das Gleichgewicht außer Kontrolle. Tessa war als Baby nicht in der Lage, die psychische Belastung auszuhalten und verfiel dem Wahnsinn. Sie ist Daniels Schatten und Daniel ist Tessas Licht. Da Tessa tot ist, muss ihr wahrer Wille zu Daniel zurückkehren, sodass wir ihn zu einem Unheilkind machen können. Nur so kann er überleben.“

Sunny sah abwechselnd zu ihnen allen und versuchte das alles zu verarbeiten. Zu hören, dass Daniel deshalb im Sterben lag, weil sein Körper ganz einfach die Belastung nicht mehr aushalten konnte und er deshalb unweigerlich sterben würde, erschütterte ihn. Aber auch die Tatsache, dass Tessa diese schrecklichen Dinge getan hatte, war für ihn unbegreiflich. Vor allem als er hörte, dass Daniel ein Unheilkind werden sollte, sorgte nicht gerade dafür, dass er sich besser fühlte.

„Wieso ausgerechnet Daniel und wofür braucht man denn bitte ein Unheilkind? Wieso nennt man sie denn überhaupt so?“

„Das geht auf den Aberglauben der Menschen zurück“, erklärte das Mädchen mit den starren Augen, die wie die einer Puppe wirkten. Sie war irgendwie unheimlich und strahlte etwas Eiskaltes und Unnatürliches aus. Ob sie auch so wie Lumis eine Nekromantin war?

„Für sie waren damals diese Fähigkeiten die Macht Satans und man nannte jene Begabte Hexen, Zauberer, Teufelsbrut, Ketzer und dergleichen. Dabei sind die Unheilkinder eigentlich die wichtigsten Menschen in dieser Welt. Sie vereinen alle Welten allein durch ihre Existenz und erhalten somit das Gleichgewicht. Nämlich die innere und äußere Welt und sowohl das Diesseits, als auch das Jenseits. Ohne die Unheilkinder würden Menschen wie Lumis oder Vincent nicht existieren. Sie sind ein wichtiger Bestandteil dieser Welt und Josephine war 1000 Jahre lang ein Unheilkind, weil sie nicht eher gehen wollte, bevor sie nicht die letzten Geheimnisse unseres Daseins entschlüsselt hat. Und nun, da sie genug Wissen angesammelt hat, will sie ihr Wissen und ihre Kraft an Daniel weitergeben. Damit würden wir beide sterben.“

„Wieso müsst ihr sterben?“

„Weil es immer nur ein Unheilkind geben darf, das ist die natürliche Ordnung“, erklärte Josephine und sie schien nicht sonderlich beunruhigt zu sein, dass sie gleich vielleicht sterben würde, zusammen mit ihrer Schwester. Dabei war sie doch noch ein Kind. Naja, zumindest erweckte es den Anschein, als sei sie ein Kind. Denn offenbar war sie schon seit langer Zeit nicht mehr gealtert und hatte sich die Erscheinung eines Kindes bewahrt. Trotzdem schien es ihr keine Angst zu machen, dass sie gleich sterben würde. Aber vielleicht hatte sie einfach schon viel zu lange gelebt, als dass sie noch Angst vor dem Tod haben könnte. Wahrscheinlich war sie inzwischen auch ihr Leben einfach nur noch leid und hatte nicht mehr den Willen dazu, es noch weiter zu führen.

„Jedenfalls muss dieser Prozess gleich vollzogen werden, bevor es zu spät ist und dazu brauchen wir Tessas Wille, einen Nekromanten und meine Wenigkeit.“

„Wird es Daniel irgendwie verändern?“

„Nein, da sei unbesorgt. Er würde nichts von seiner Persönlichkeit einbüßen. Er würde lediglich um sehr viel Wissen reicher werden. Immerhin vertraue ich ihm all mein Wissen an, das ich mir in jahrhunderte langer Arbeit angesammelt habe. Und meine Dienerschaft werde ich ihm damit auch hinterlassen. Und dazu zählen Orobas, Marbas, Amducias, Eurynome und mein Butler Astaroth. Bevor du fragst: ja, ich war es, die Orobas zu Daniel geschickt hat. Ich wollte ihm Zeit geben, mit seinen Fähigkeiten umzugehen und zu lernen, wie er sie richtig einsetzt. Außerdem war Daniel damals viel zu jung, um ein Unheilkind zu werden. Astaroth, Orobas, Marbas, Amducias und Eurynome entstammen nicht dieser Welt, aber sie sind dennoch ein fester Teil von ihr und es liegt in ihrem Interesse, diese besonderen Fähigkeiten zu bewahren und sie nicht aussterben zu lassen. Darum beschützen sie die Unheilkinder und dienen ihnen, weil die Unheilkinder auch ihre Welt im Gleichgewicht halten. Alleine durch ihre bloße Existenz. Um also Daniel zu einem Unheilkind zu machen, benötigt er noch Tessas Kraft der Telepathie, die Macht eines Nekromanten und das Wissen eines anderen Unheilkindes, wie er diese Kräfte im Gleichgewicht hält und sie anwendet, ob nun zum Guten oder Schlechten.“

Da das Meiste gesagt worden war und sie nicht noch mehr Zeit verlieren wollten, gingen sie nun gemeinsam ins Krankenhaus, wobei Sunny aber immer noch ziemlich der Kopf qualmte, weil es ziemlich viele Informationen waren. Und die ganze Sache war auch nicht einfach zu verstehen. Aber es beruhigte ihn doch, dass es eine Möglichkeit gab, Daniel zu retten und seinen Tod zu verhindern.

„Und wenn er dann ein Unheilkind ist, wird er dann wieder gesund werden?“

„Selbstverständlich“, antwortete Vincent. „Als Dream Walker hat man die Macht, seinen eigenen Körper in gewissen Maßen zu verändern. Folglich also ist es auch kein Problem, seinen Körper wiederherzustellen, wenn sein Zustand stabil ist. Aber erst einmal sollten wir zu Daniel und zusehen, dass wir ihm helfen, bevor es zu spät ist.“

Sie gingen gemeinsam zur Intensivstation und es wunderte Sunny, dass niemand sie aufhielt oder sie zumindest komisch beäugte. Spätestens wegen der Katzen hätte doch ein Krankenpfleger einschreiten müssen, aber stattdessen schien ihnen niemand Beachtung zu schenken. Es war so, als wären sie für die anderen unsichtbar. Auf seine Frage, wieso das so war, erklärte Anthony ihm das Phänomen.

„Wir kontrollieren das Unterbewusstsein unserer Mitmenschen und können somit Einfluss auf ihre Handlung und auch ihre Wahrnehmung nehmen. Sie sehen uns, aber das Hirn verarbeitet diese Information nicht, weil die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt wird. Mit anderen Worten: die Menschen sehen uns, aber sie bemerken uns einfach nicht.“ Ein seltsames Phänomen, wie Sunny fand und er tat sich schwer damit, es zu verstehen.

Schließlich hatten sie das Zimmer erreicht, in welchem Daniel lag. Er war an Beatmungsmaschinen und an einem EKG angeschlossen. Es war ein entsetzlicher Anblick und am liebsten hätte Sunny den Blick abgewendet, oder den Raum verlassen. Er konnte nicht ansehen, wie Daniel so litt und er wünschte sich, es wäre nicht so weit gekommen und Daniel müsste nicht so leiden. Als er ihn so kreidebleich und regungslos da liegen sah, wie er an Beatmungsmaschinen angeschlossen war, glaubte er nicht wirklich daran, dass es ein Wunder gab, was ihn retten konnte. Josephine ergriff die Hand ihrer Schwester und wandte sich an die anderen.

„Lumis und Anthony, ihr positioniert euch auf der anderen Seite, Anthony gegenüber von mir und Lumis gegenüber von Anna. Alexis, du bleibst bitte mit Vincent zurück. Ihr wärt bei dem Ritual keine große Hilfe.“

Damit wartete der Student abseits und spürte, wie Vincent ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter legte. Er schien sehr zuversichtlich zu sein und in dem Moment beneidete Sunny ihn auch dafür.

„Keine Sorge. Josephine weiß, was sie tut. Sie hat zwar den Ruf weg, eine bösartige und grausame Hexe zu sein, aber sie ist auch dafür bekannt, dass sie Wunder vollbringen kann, wenn sie es will. Sowohl schlechte, als auch gute. Außerdem besitzt sie das Wissen, um jede Krankheit zu heilen. Glaub mir, niemand kann Daniel besser helfen als sie.“

Josephine legte eine Hand auf Daniels Stirn, genauso wie Anthony. Dieser hielt die Hand von Lumis fest, der seine andere genauso wie Anna auf Daniels Brust legte. Es wirkte schon ein wenig seltsam und hatte fast schon etwas von einem okkulten Kreis. Das Gesicht jedes Einzelnen wirkte sehr konzentriert und nun spürte auch Sunny eine seltsame Atmosphäre. Er bekam eine Gänsehaut und ihm war, als würde sich die Luft elektrisch aufladen. Was auch immer da gerade für Mächte am Werk waren, selbst er als normaler Mensch spürte dies und es jagte ihm fast schon Angst ein. Und als dann plötzlich das EKG plötzlich ein lang gezogenes Piepsen von sich gab, das einen Herzstillstand signalisierte, erschrak Sunny und wollte schon einschreiten, doch Vincent hielt ihn zurück.

„Nicht“, rief er und hielt Sunny am Arm fest. „Wenn du sie unterbrichst, könnte es Daniels Leben in Gefahr bringen. Es wird schon gut gehen, keine Angst.“

Doch die Sekunden vergingen quälend langsam und der 20-jährige hatte Angst. Was, wenn Daniels Herz nie wieder schlagen würde und es hieß, dass er tot wäre und nichts und niemand ihn noch retten konnte? Innerlich begann er zu beten. Wenn es so etwas wie einen Gott auf dieser Welt gab, dann konnte dieser doch nicht zulassen, dass er Daniel sterben ließ. Plötzlich hörten sie Stimmen an der Tür. Offenbar wollte der Arzt mit den Krankenschwestern rein. Sofort regte sich der Butler und verschloss die Tür. Plötzlich begann das Licht im Zimmer zu flackern. Das EKG fiel nun komplett aus, selbst die Beatmungsmaschine versagte den Dienst und auch die Uhren im Zimmer standen mit einem Male still. Es war, als würde etwas Unbegreifbares vor sich gehen und dann sah Sunny es: hinter Lumis manifestierte sich langsam etwas Schattenhaftes. Es hatte erst keine feste Gestalt, sondern erinnerte an eine Art wabernden schwarzen Nebel, der sich immer weiter verdichtete. Es war nur schwer mit dem Auge zu erkennen und man hätte es auch leicht für eine Sinnestäuschung halten können. Aber dann glaubte er so etwas wie Augen darin zu erkennen. Ja, in diesem Nebel leuchteten zwei rote Augen und nun glaubte er auch, eine Silhouette in diesem schwarzen Nebel zu erkennen. Es hatte im Ansatz menschliche Konturen, wirkte aber klein. Doch als diese Augen auf ihm ruhten, da erfasste ihn ein entsetzlicher Schrecken, denn dieses Wesen da war nicht im Geringsten von dieser Welt. Es war unnatürlich, fremd und allein es anzusehen, machte ihm große Angst. Er hätte beinahe geschrieen, doch Vincent beruhigte ihn wieder.

„Hab keine Angst, sie tut dir schon nichts. Sie ist ebenfalls gekommen, um Daniel zu helfen.“

Sunny, der von dem unheimlichen Anblick dieses Wesens erst wie gelähmt war, reagierte erst nicht auf diese Worte, doch dann brachte er mit zitternder Stimme hervor „Wer oder was ist das?“

„Das ist Sally-Ann Kinsley, eine Vorfahrin von Lumis und ebenfalls eine Nekromantin. Sie ist besser gesagt eine Scyomantin. Diese Unterart der Nekromanten ist so mächtig, dass sie nach ihrem Tod keinen menschlichen Körper mehr brauchen, um so wie Lumis als Nekyomant wiederzukehren. Im Grunde ist sie also fast so etwas wie das, was normale Menschen als geisterhafte Erscheinung benennen können. Normalerweise sind sie nicht sonderlich freundlich gesinnt, aber es liegt auch im Interesse der Scyomanten, das Ritual erfolgreich zu beenden. Denn sonst werden sie einfach verschwinden.“

Der schwarze Qualm verdichtete sich immer weiter und auch wenn dieses Wesen immer noch die Erscheinung eines Schattens hatte, so ließ sich doch schwach erkennen, dass es sich tatsächlich um ein Kind handelte. Ein Mädchen mit lockigen schwarzen Haaren und glühend roten Augen wie die eines Dämons. Ihre Erscheinung schien nicht stabil zu sein, sie verschwamm immer wieder und wirkte mehr wie ein Trugbild, als eine lebende Person. Etwas unfassbar Mächtiges ging von ihr aus und es erschrak Sunny zutiefst. Ihm war, als würde eine unheimliche Kälte von ihr ausströmen, die bis tief in seine Knochen drang. Angst packte ihn, als er diese Gestalt sah und er wollte am liebsten nur noch weglaufen. Doch das Mädchen in dem schwarzen Nebel beachtete ihn nicht. Stattdessen stellte sie sich neben Lumis hin und legte eine Hand auf Daniels Brust. Immer wieder schien ihr Körper sich stellenweise aufzulösen und dann wieder neu zu formen. Wie emporsteigender Rauch aus einem Feuer. Und mit einem Male schien es so, als würde sich der Nebel ausbreiten. Ja, der schwarze Nebel kroch mit einem Male über den Boden und breitete sich aus. Er breitete sich immer weiter aus und schien regelrecht den Boden zu verschlucken. Doch der Nebel ging nicht von dem Mädchen aus, sondern schien sich ganz von alleine gebildet zu haben. Erschrocken wich Sunny davor zurück und wunderte sich, warum niemand sonst so reagierte.

„Was… was ist das?“

Doch Vincent antwortete nicht. Er starrte wie gebannt auf das Geschehen an Daniels Bett. Der Nebel verdichtete sich und verschlang nach und nach alles in sich und es wurde schwarz, sodass man nichts mehr sehen konnte. Und dann, als er scheinbar den ganzen Raum erfasst hatte, verschwand er wieder. Es war, als würde er förmlich aufgesogen werden und dann sah Sunny auch, was da passierte: der Nebel verschwand in Daniels Körper. Nach und nach wurde der Nebel quasi von ihm aufgesogen und erst jetzt sah er auch, dass Anna und Josephine verschwunden waren, ebenso wie dieses unheimliche geisterhafte Mädchen. Sie waren einfach fort. Als all der Nebel verschwunden war, herrschte für einen Moment vollkommene Stille. Dann setzte sich das EKG wieder in Gang. Selbst die Uhren liefen wieder und auch die Beatmungsmaschine arbeitete. Es war, als hätte irgendetwas die Welt wieder in Gang gesetzt und als würde sich die Zeit nun endlich weiterdrehen. Nun regte sich auch etwas bei den anderen. Lumis sank erschöpft zusammen und Anthony fing ihn auf.

„Hey Kleiner, mach jetzt nicht schlapp, klar?“

Nun eilte auch Vincent zu ihm hin, um nach dem Rechten zu sehen. Etwas unschlüssig blieb Daniel erst stehen und war sich nicht sicher, was er nun tun sollte. Aber dann drängte sich ihm eine Frage auf: „Ist es vorbei?“

„Ja“, bestätigte der Butler mit einem Nicken. „Das Ritual ist vollzogen und das neue Unheilkind ist nun geboren. Josephine und ihre Schwester sind fort und Daniel wird wieder genesen. Alles, was er braucht, ist Ruhe.“
 

Da sich Lumis nicht sonderlich gut fühlte und sich offenbar während des Rituals völlig verausgabt hatte, brachte Anthony ihn zu seinem Hotel zurück, damit der Nekromant sich von den Strapazen erholen konnte. Sunny entschied sich, noch bei Daniel zu bleiben und an seinem Bett zu sitzen. Vincent leistete ihm Gesellschaft, da dieser wohl der Ansicht war, als würde der Student jetzt jemanden brauchen, mit dem er reden konnte. Nachdenklich hielt Sunny die Hand seines Freundes und man sah ihm an, dass diese ganze Sache ihm sehr nahe ging.

„Glaubst du, es war meine Schuld, dass es so passiert ist? Ich meine, das alles hätte vielleicht nicht geschehen müssen, wenn ich Daniels Leben nicht so beeinflusst hätte.“

„Ach was“, sagte Vincent und schüttelte den Kopf. „Es war nur eine Frage der Zeit und du hast damit nichts zu tun. Es wäre so oder so dazu gekommen und du trägst keine Schuld daran. Das alles war schon vorherbestimmt, bevor ihr euch getroffen habt. Dein Onkel wusste davon und er wollte es nicht zulassen, weil er alle hasst, die eine besondere Begabung haben. Doch sein Versprechen an Jessica Ronove war ihm viel zu wichtig, sodass er selbst Daniel nicht töten konnte. Und letztendlich war dies auch unser aller Glück. Ein Unheilkind sichert nicht nur unsere Existenz, es hält alle Welten stabil. Es bildet das Verbindungsstück zwischen Gut und Böse, Leben und Tod, Himmel und Hölle und der inneren und äußeren Welt. Darum würden selbst solche Mächte wie Orobas, Eurynome und die anderen nicht auf den Gedanken kommen, ihm etwas antun. Im Grunde genommen ist Daniel wie die Kindliche Kaiserin aus der Unendlichen Geschichte. Sie ist da, aber sie herrscht nicht. Allein weil sie da ist, kann Phantásien existieren und da sie jeden gleich behandelt, egal ob er gut oder böse, schön oder hässlich, weise oder dumm ist, wird sie von allen respektiert und geehrt. Und selbst die größten Feinde würden zusammenarbeiten, wenn es ihrem Wohl dient. Nicht anders verhält es sich wie bei Daniel. Für gewöhnlich verstehen sich Dream Walker und Nekromanten nicht, was aber auch daran liegt, weil wir ihren Verstand nicht beherrschen können. Denn wir können nur jenen beeinflussen, der auch lebt. Es ist nicht so, dass wir uns gewaltsam bekriegen, aber sonderlich mögen tun wir uns nicht, weil wir zu verschieden sind. Aber mach dir keine Gedanken. Daniel ist in guten Händen und wenn etwas sein sollte, werden wir zur Stelle sein.“

Vincent lächelte zuversichtlich und wirkte sehr optimistisch. Doch dann fiel Sunny etwas auf, was ihm dann doch zu denken gab: Narben… Vincent hatte an seinen Handgelenken Narben, die aussahen, als stammten sie von Rasierklingen. Hatte Anthony nicht erzählt gehabt, Vincent wäre in derselben Psychiatrie wie Tessa gewesen? Vielleicht, weil er versucht hatte, Selbstmord zu begehen? Irgendwie wirkte dieser Mensch da neben ihm nicht wirklich danach, als wäre er schwer depressiv und suizidgefährdet. Für einen Moment überlegte er, ob er fragen sollte, aber dann ließ er es doch. Stattdessen saß er einfach an Daniels Bett. Ob Daniel jetzt schlief, oder immer noch im Koma lag, ließ sich schwer sagen, doch dann regte sich plötzlich etwas. Der 19-jährige, der vorher wie tot da gelegen und sich nicht gerührt hatte, ließ einen leisen Schlafseufzer vernehmen und drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Nun fuhr Sunny auf, als er das sah und erst glaubte er an einen Traum. Doch tatsächlich: Daniel schlief tief und fest. Und nun konnte er auch ganz deutlich ein leises Atmen hören. Vincent stand nun auf und befreite Daniel von der inzwischen überflüssigen Beatmungsmaschine. Dabei sah Sunny, dass Daniel lächelte. Vincent schmunzelte bei dem Anblick und meinte „Offenbar träumt er gerade etwas Schönes. Das ist ein gutes Zeichen, dass er alles wunderbar überstanden hat. Und ich bin mir sicher, dass es ihm auch wunderbar gehen wird, wenn er wieder aufwacht.“

„Wann wird er wieder aufwachen?“

„Vielleicht morgen. Auch für ihn war das alles sehr anstrengend und da braucht er auch den Schlaf. Ich glaube, du solltest dich auch ein wenig ausruhen. Du musst dir auch keine Sorgen mehr machen, ja? Es geht ihm gut und er hat das Schlimmste überstanden. Und ich glaube nicht, dass er glücklich darüber wäre, wenn es dir seinetwegen so schlecht gehen würde.“

Vincent hatte ja Recht, aber Sunny war nicht sonderlich wohl dabei, einfach nach Hause zu gehen und sich hinzulegen. Insbesondere nach all dem, was passiert war. Er hatte dann das miese Gefühl, Daniel im Stich zu lassen. Aber andererseits war ihm auch nicht viel geholfen, wenn er die ganze Zeit da saß und völlig am Ende war. Und vielleicht sollte Daniel erst einmal die Ruhe und die Zeit bekommen, um sich zu erholen. Er hatte es sich wirklich verdient.

„Sag mal Vincent… wie genau wird ein neues Unheilkind bestimmt?“

„Das ergibt sich einfach“, erklärte der Dream Walker und zuckte mit den Schultern. „Man hat von Geburt an diese Begabung und wenn sich die Lebenszeit eines Unheilkindes dem Ende zuneigt, wird ein neues geboren. Und wenn das Ritual vollzogen ist, stirbt das alte Unheilkind. Es gibt seine Macht und seine Erfahrung weiter, um dem neuen Unheilkind zu helfen.“

„Aber warum ausgerechnet Daniel?“

„Tja… das kann keiner so mit fester Gewissheit sagen. Vielleicht weil er auch charakteristisch die nötigen Voraussetzungen hat. Womöglich ist alles auch nur ein einfacher Zufall. So genau kann niemand das sagen. Aber man muss auch nicht immer unbedingt nach dem Warum fragen. Es sollte doch genügen, dass Daniel lebt und es ihm gut geht. Allein darauf kommt es an und nun hat er nicht nur die vollständige Kontrolle über alle Mächte, sondern auch Josephines Wissen und ihre Dienerschaft. Mehr Glück hätte er eigentlich nicht haben können.“

Da Daniel nach wie vor tief und fest schlief und auch nicht den Anschein erweckte, als würde er bald wieder aufwachen, verließen Vincent und Daniel das Zimmer und wurden von Astaroth und den anderen Katzen begleitet. Nur Orobas blieb und anscheinend wollte er auch nicht von Daniels Seite weichen. So kehrte Sunny alleine nach Hause zurück und kaum, dass er es sich im Wohnzimmer auf der Couch bequem gemacht hatte und ein bisschen die TV-Kanäle durchsuchte, wurde er von einer tiefen Müdigkeit und Erschöpfung ergriffen und schlief nach wenigen Minuten ein.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ach ja, ich hab Daniel richtig ins Herz geschlossen. Er ist irgendwie total knuffig, dass ich ihn am liebsten umarmen würde. Aber er wird nicht immer der schüchterne und ängstliche Typ bleiben, das sei schon mal gesagt.

Zugegeben, bei Daniels Vergangenheit habe ich mich ein wenig von dem Vampirmädchen „Flandre Scarlet“ aus der Touhou Spielreihe inspririeren lassen. Die jüngere Schwester von Remilia Scarlet (auch als Scarlet Devil bekannt) kam mit der Gabe zur Welt, wirklich alles zu zerstören. Da sie eine etwas instabile Psyche hatte, sperrte ihre Schwester sie daraufhin in den Keller. Inzwischen ist Flandre 495 Jahre alt und wird wahrscheinlich auch niemals die Scarlet Mansion verlassen können. Ich habe das kleine Vampirmädchen wirklich ins Herz geschlossen, auch wenn sie oft als extrem gefährliche Yandere dargestellt wird, für die das Töten eine Art Spiel ist. Daniel ist da eigentlich eher das genaue Gegenteil zu ihr.

Sein Name sollte eigentlich ursprünglich „Nathaniel“ lauten und auf einen anderen Charakter von mir basieren, den ich für mein letztes Creepypasta Extra „Last Judgement“ entwickelt habe. Nur mit dem Unterschied: Nathaniel war seit seiner Geburt ununterbrochen im Keller gewesen, ist aufgrund seiner Fähigkeiten nicht mehr gealtert und schon knapp 96 Jahre im Keller gefangen gewesen. Den Namen Daniel habe ich deshalb genommen, weil ich mir dachte, dass das ein passenderer Name wäre für einen Jungen mit telekinetischen Fähigkeiten. Außerdem klang mir das nach einem Namen, den Stephen King für einen solchen Roman nehmen würde. Vielleicht wäre „Daniel“ ja Carries Bruder gewesen ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer meine Fanfiction Mallory gelesen hat, wird Josephine sofort wiedererkennen. Tatsächlich spielen meine Fanfictions Das triste Leben des Jesse Wyatt, Alice Evergreen, La Vie de Fayette, Mallory und The Sound of Rain im ein und denselben „Universum“. Auch die beiden geplanten Side Stories werden einige Parallelen und Andeutungen auf andere Fanfictions von mir aufweisen.

Für alle, die nichts mit Mallory anfangen können, bekommen hier eine kurze Info zur Aufklärung:

Josephine und ihre jüngere Zwillingsschwester Anna sind keine gewöhnlichen Mädchen. Tatsächlich besitzt Anna allein schon eine so große Macht, dass alles, was mit ihr in Berührung kommt, zerfällt und stirbt. Selbst ihr Alterungsprozess läuft extrem langsam ab, sodass anzunehmen ist, dass sie mehrere hundert Jahre alt ist. Josephine erarbeitete sich den Großteil ihrer Macht. Ihre Spezialität sind Okkultismus und diverse kinetische Fähigkeiten. Man nennt sie und Anna auch die Schwestern der Apokalypse.
Der Legende nach hat Josephine vor über 600 Jahren einen Pakt mit mehreren Dämonen geschlossen und dabei selbst eine dämonische Präsenz geworden sein. Andere Legenden besagen, sie sei eine Hexe und wurde geblendet und im Keller eines Klosters eingemauert. Wiederum besagt eine andere Legende, dass sie so mächtig ist, dass sich selbst Dämonen vor ihr fürchteten und sie daraufhin den Teufel selbst herausforderte, der ihr daraufhin die Augen ausriss.

Ob die Legenden wahr sind, sei an dieser Stelle offen. Fakt ist, dass Josephine auch eine übernatürliche Begabung hat, so wie Daniel. Nur ist sie um einiges stärker und kaum jemand wäre in der Lage, das Mädchen zu töten. Josephine verabscheut die Menschen, allerdings steht es nicht in ihrer Absicht, sie aus niederen Beweggründen zu töten. Nachdem die Menschen versuchten, sie und ihre Schwester zu töten, zerstörte Josephine die Stadt Dark Creek und Anna erschuf daraufhin ein „neues“ Dark Creek, welches sie kontrollieren.
Welche Verbindung sie zu den Ronoves hat, ist unklar. Es kann aber spekuliert werden, dass sie eine entfernte Verwandte ist. Josephine und Anna stammen ursprünglich aus Deutschland und flohen während der Hexenverfolgungen nach Amerika. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, liebe Leute. Nachdem ihr so tapfer durchgehalten habt, dürft ihr euch auf das erste richtige Sexkapitel freuen ;-) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, Orobas hat ja schon mal sehr anschaulich erklärt, was Konstrukteure, Nekromanten und Dream Walker sind. Zu allen drei Kategorien wird auch eine eigene Geschichte geschrieben. "The Sound of Rain" thematisiert die Konstrukteure, die erste Side Story "Phantasmagoria", die den Fall Tessa Ronove thematisiert, wird über die Dream Walker handeln. Im Anschluss folgt dann "Necromancer", wo es dann um Lumis' Geschichte geht, den wir hier kennen gelernt haben.

Über Menschen mit einem besonderen siebten Sinn (die auch Seers genannt werden), habe ich schon in der Vergangenheit eine eigene Fanfiction geschrieben. Nämlich "Das triste Leben des Jesse Wyatt", wo es um den 23-jährigen Jesse Wyatt geht, dessen besonderer Sinn ein einziger Fluch für ihn ist und sein ganzes Leben zerstört hat. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  mor
2016-07-10T14:15:42+00:00 10.07.2016 16:15
ich habe mitlerweile die Hoffnung aufgegeben das neue Kappies kommen
Von:  Herzloser
2016-01-03T09:39:54+00:00 03.01.2016 10:39
Megageile FF <3 Bin gespannt wie es weiter geht ^_^ Ich mag die Charaktere ziemlich. Wird Lumis auch nach dem Ritual weiter vorkommen? Ich find ihn echt cute :3
Von:  mor
2015-12-25T18:47:36+00:00 25.12.2015 19:47
Mal Ne Frage.........wann kommt das Nächste Kappie?
Von:  mor
2015-09-17T21:03:33+00:00 17.09.2015 23:03
man ist das Spannend ^^
zuerst dachte ich wirklich Daniel Schaft es nicht mehr
Von:  Himi-sama
2015-08-01T08:09:51+00:00 01.08.2015 10:09
So habe Kapitel 14 zuende gelesen und bin bis jetzt total begeistert, dass die Story auch noch eine Wendung macht in Richtung Mystery, hätte ich nicht erwartet. Von mir aus hätte es auch eine normale Liebesgeschichte werden können. Was aber nicht heißen soll, dass ich die Story weniger lesenswert finde, ganz im Gegenteil. C: Freue mich auf die Fortsetzung.
Von:  San-Jul
2015-07-03T19:24:49+00:00 03.07.2015 21:24
Yay,
er hat es überlebt. Das schlimmste ist vorbei, oder?
Echt super Kapitel
Ganz liebe Grüße
San-Jul
Antwort von:  Sky-
04.07.2015 13:50
Hattest du wirklich gedacht, ich würde Daniel sterben lassen ;-)
Und keine Bange, das Schlimmste ist überstanden.
Antwort von:  San-Jul
04.07.2015 19:55
Bissel, aber ich dachte mir, das du ihn dann wieder belebst (wie B oder Andrew) ;)
Yayyyyy, da freu ich mich <3
Antwort von:  Sky-
04.07.2015 20:04
Das war ja auch gewissermaßen notwendig. Und wenn ich dann noch mit meiner anderen FF durch bin, folgt dann auch schon das erste Prequel "Phantasmagoria".
Von:  San-Jul
2015-06-26T12:47:18+00:00 26.06.2015 14:47
Alter, ich bin grad echt voll geflasht.
Was soll man dazu sagen außer, wehe du lässt Daniel sterben?
Bitte nicht.
ganz liebe Grüße
San-Jul
Von:  San-Jul
2015-06-23T08:09:57+00:00 23.06.2015 10:09
Oh mein Gott,
hoffentlich geht es Daniel nicht zu schlecht.
Lg San-Jul
Von:  San-Jul
2015-06-19T14:18:31+00:00 19.06.2015 16:18
Gutes Kapitel.
Daniel tut mir leid. Niemand sollte so etwas erleben und das er auch noch dieses Unheilkind ist, ist noch interessanter.
Ganz liebe Grüße
San-Jul
Von:  ReinaDoreen
2015-06-17T19:45:32+00:00 17.06.2015 21:45
Meine Güte, an so eine Möglichkeit hab ich nicht mal ansatzweise gedacht. Hoffentlich geht das gut
reni


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