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Vergiss Mein Nicht

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo :) Ich hoffe euch macht die Geschichte noch Spaß! Wer Interesse daran hat, mal zu sehen, wie ich mir die Figuren so vorstelle, der kann mal schauen! Ansonsten lasst eurer Fantasie freien Lauf! Viel Spaß!
Paul: http://img2-3.timeinc.net/people/i/2014/news/141215/paul-walker-435.jpg

Cody: http://guardianlv.com/wp-content/uploads/2014/01/Cody-Walker-could-help-finish-final-scenes-for-brot​her-Paul-296x450.jpg

Pamela: http://scontent-a.cdninstagram.com/hphotos-xpa1/t51.2885-15/10483330_772450282778408_74367375_a.jpg

Penelope: http://www.prothinspo.com/images/penelope-cruz-1_1_.jpg Komplett anzeigen

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Der Monitor

Piep, piep, piep.
 

Ein immer wiederkehrendes, kurzes Geräusch ließ die Ohren Paul's wach werden. Verschwommen klang es, weit weg und nicht so, als würde es etwas bedeuten.
 

Piep, piep, piep.
 

Er spürte, wie sich drei seiner Finger langsam krümmten, eine kleine Bewegung machten, während er einen etwas größeren Atemzug nahm. Wo war er?

Das Atmen fiel ihm schwer, als läge ein großer Stein direkt auf seiner Brust.

Einige Sekunden verharrte er so, während das leise Piepen nicht aufhörte.
 

Piep, piep, piep.
 

Gleichmäßig wie eh und je klang es, und Paul, der sich nicht wirklich rühren konnte, hätte nur zu gern die Augen geöffnet. Doch irgendwie wollte er noch nicht so richtig.
 

Was war passiert?
 

Sein Kopf war leer, als hätte sich niemals etwas darin befunden. Das Einzige, was dort nun umherschwirrte, waren Fragen über Fragen. Fragen, die keiner beantworten konnte. Die er vielleicht gern hätte beantworten wollen.
 

Als das Piepen auch nach längerer Zeit nicht nachließ, entschloss sich Paul, die Augen zu öffnen. Ganz vorsichtig, mager blinzelnd, schoben sich seine Augenlider nach oben.
 

Er war wach.
 

Der Raum, in dem er sich befand, war groß und weißlich-grau gestrichen; etliche Geräte befanden sich darin, seltsame Geräte. Medizinische Geräte, mit denen er nichts anfangen konnte.
 

In der Ecke weiter hinten im Raum stand ein Stuhl; eine dunkelblaue Jacke hing darüber. Außer einem Bild von einer Blumenvase befand sich nichts dekoratives in dem Raum.
 

Paul versuchte sich aufzusetzen; als er jedoch spürte, wie jeder Knochen im Leib zu brennen schien, blieb er lieber liegen, nachdem ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen entwichen war. Wo kam bitte der schlimme Schmerz her?
 

In den nächsten Sekunden wurde ihm bewusst, dass er sich in einem Krankenhaus befinden musste. Zu seiner linken konnte er endlich entziffern, woher das Piepen kam: Es war ein Herzmonitor, und das Piepen kam eindeutig von seinem Herzen.
 

Er atmete tief ein und aus. Die Stille, nur unterbrochen von dem leisen Piepen und dem Surren der anderen medizinischen Geräte, ließ ihn nicht gerade fröhlich werden. Er wusste nicht einmal, wie spät es war, welcher Tag, er wusste gar nichts.
 

Der Raum war dunkel, und Fenster schien es nicht zu geben, soweit er sehen konnte. Sich noch einmal etwas mehr zu bewegen wagte er nicht, aus Angst, die schlimmen Schmerzen würden wiederkehren.
 

Plötzlich ging die Tür auf, und hinein trat eine junge Frau, die ein Krankenschwesternoutfit trug. Sie lächelte leicht, als sie Paul sah; sie nickte ihm freundlich zu und begann sofort, die Instrumente zu untersuchen, sich einige Dinge zu notieren, bevor sie einen kleinen Knopf an Paul's Kopfende drückte.
 

Paul, der die junge Frau nur beobachtet hatte, wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
 

Doch den Part übernahm die junge Frau.
 

„Mister Walker, endlich sind Sie wach. Ich habe soeben einen Arzt gerufen, der sich um sie kümmern wird. Sie waren einen Tag in einem Koma - ähnlichen Zustand; es wird die Ärzte sehr freuen, zu sehen, dass sie wach sind. Wir hatten schon alle Sorge, denn sie... wir waren uns nicht ganz sicher, ob sie überhaupt durchkommen würden.“
 

Endlich, als wäre Jahre her gewesen, fand Paul seine Stimme wieder, wenn auch leise und leicht kratzig.
 

„Was ist passiert? Wo...?“
 

„Sie hatten einen schweren Autounfall. Ihr Beifahrer wurde getötet. Das Auto ist in Flammen aufgegangen... man konnte Sie jedoch noch aus dem Wrack retten, bevor der Wagen in die Luft gegangen ist... Sie hatten großes Glück. Allein schon, dass Sie leben. Dass Sie allerdings schon sprechen können, grenzt ebenfalls an ein Wunder....“
 

Ein Autounfall?

Ein brennendes Wrack, aus dem er gerettet wurde?
 

Er konnte sich an keine Szene erinnern, an gar nichts. Nicht an den Unfall, nicht an den Beifahrer,.... und nicht an sein Leben.
 

Dieser Gedanke ließ seine Glieder eiskalt werden, und sein Herz schlug fast schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Sein Leben.. wer war er? Es war alles wie weg. Alles.
 

Schlimmer als in jedem Albtraum breitete sich diese Gewissheit aus und ließ ihn leicht zittern.
 

Das Zittern tat weh.
 

Keine Minute verging, als ein in einen weißen Kittel gekleideter Arzt erschien; er kam so plötzlich in den Raum, dass Paul zusammenzuckte.
 

„Ah, Mister Walker, ein Wunder dass Sie wach sind. Loran, wie sind die Werte...?“, wandte sich der Arzt direkt an die Angestellte, die ihm das Klemmbrett mit den Werten gab. Sie unterhielten sich leise; Paul musste sich keine Mühe geben, zu lauschen. Denn er wollte es gar nicht.
 

Das leise Murmeln der Angestellten nahm er nach einer Weile nur als Hintergrundrauschen wahr; seine Gedanken schweiften ab. Es strengte an, sogar sehr, als er versuchte, sich wenigstens an irgendetwas zu erinnern; doch da war nichts. Es existierte nur das Jetzt.
 

Das grausame Jetzt, das klinische Jetzt.
 

Der Arzt riss ihn aus seinen Gedanken.
 

„Mister Walker, ich muss Sie zur Beobachtung erst einmal hier lassen. Wie fühlen Sie sich? Loran sagte mir, Sie könnten bereits sprechen, das ist sehr gut, das wird die Genesung beschleunigen...“
 

Paul zögerte einen Moment, bevor er antwortete. Am liebsten hätte er geschrien.
 

„Mir geht es nicht gut. Ich kann mich an nichts erinnern.“
 

Der Arzt schwieg einen Moment, während er angestrengt auf sein Klemmbrett starrte; dann wand er seine Augen wieder Paul zu.
 

„Hören Sie, Mister Walker... Wir wissen bis jetzt nicht, inwieweit ihr Gehirn wirklich bei dem Unfall beschädigt worden ist. Es liegt ein Schädelhirntrauma dritten Grades vor... Dass Sie überhaupt sprechen können, grenzt an ein Wunder. Wir müssen abwarten. Aber es kann sein, dass die Erinnerung irgendwann plötzlich wiederkommt. Können Sie Ihren Fuß bewegen? Oder besser gesagt, den, der nicht gebrochen ist...“
 

Paul schluckte; er blickte zum ersten Mal hinunter, auf die schneeweiße Decke, die seinen Körper verbarg, außer das gebrochene Bein, das mit einer dicken Schiene über der Decke lag. Er bewegte seine Zehen und den Fuß, der nicht gebrochen war; es tat nicht weh, doch angenehm war es nicht. Sein Rücken schmerzte.
 

„Sehr gut“, murmelte der Arzt, während er sich diese Entwicklung notierte. Er beugte sich danach zu Paul, leuchtete ihm in die Augen, die Ohren, kontrollierte die Verbände, von denen er sehr viele hatte; die Rippen waren fest eingewickelt, sie waren gebrochen; die Schulter war ausgekugelt und wurde von einer Schlinge gehalten. Etliche Schrammen, Kratzer, Schnitte durch Glasscherben und massenhaft blaue Flecken wurden sichtbar.
 

An seinem linken Arm fand sich eine kleine Brandwunde, die abgedeckt war.
 

Als der Arzt sich vergewissert hatte, dass alles sauber, verbunden und gut gepflegt war, stellte er sich wieder ans Bettende und betrachtete Paul mit einem Ausdruck leiser Sorge.
 

„Es wird lange dauern, bis Sie wieder Sie selbst sind. Sie haben einen langen, schweren Genesungsweg vor sich, und wir können nicht zu hundert Prozent versprechen, dass Sie sich wieder an Ihr Leben erinnern werden....“, erzählte der Arzt, doch Paul unterbrach ihn.
 

„Ich weiß gar nichts mehr, nichts von dem Unfall, nichts von... von meinem Leben, das ist...“
 

„Ich weiß, Mister Walker, ich weiß. Doch wir gehen der Ursache auf den Grund. Das Trauma ist sehr schwer, deswegen sind solche Verluste nicht selten...Ruhen Sie sich aus. Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie.“
 

Der Arzt nickte dem Knopf entgegen, den die Krankenschwester vorhin ebenfalls betätigt hatte. Paul nickte leicht, während er sich mit seiner relativ unverletzten Hand an die Schläfe fuhr und die Augen schloss.
 

Anhand der Tür hörte er, dass der Arzt sich entfernt hatte, ein leises Rascheln verriet ihm aber, dass die Krankenschwester noch im Raum war.
 

„Alles wird wieder gut, Mister Walker. Ruhen Sie sich aus. Ich bin die ganze Nacht noch da, wenn Sie etwas brauchen.“
 

Paul öffnete die Augen und sah die junge Frau an; sie lächelte zaghaft, während Sie einen kleinen Sack in der Hand hielt. Als sie Paul's Blick bemerkte, sagte sie: „Das sind Ihre Klamotten, zumindest die, die noch gerettet werden konnten... Ich werde Sie reinigen und Ihnen aushändigen, sobald es möglich ist.“
 

Paul nickte; bevor sie sich jedoch davon stehlen konnte, murrte er leise:
 

„Es ist nachts...?“
 

„Ja, zwei Uhr, um genau zu sein.“
 

„Danke.“
 

Sie lächelte und schloss leise die Tür hinter sich und ließ den jungen Mann in seinem Schmerz und seinem leeren Gedächtnis allein.
 

Er konnte sich einfach keinen Reim machen, aus nichts. Da war einfach nichts, außer den jetzigen Erlebnissen im Krankenhaus. Wer war er? Wie alt war er? Hatte er eine Familie? Wer hatte mit ihm im Wagen gesessen?
 

Alles Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er hatte jedoch noch nicht die Kraft aufbringen können, den Arzt oder die Schwester darum zu bitten. Zu sehr grub sich der Schmerz des Unfalls noch in seiner Glieder, und er sank vorsichtig zurück ins Kissen, um hoffentlich in einen tiefen Schlaf zu fallen.
 

Das Piepen des Monitors nahm er irgendwann nicht mehr wahr.

Wenn das alte Leben anklopft

Heftiger, brennender Schmerz riss Paul so heftig aus dem Schlaf, dass er erschrocken nach Atem rang; ein Stöhnen entfuhr ihm, ein lautes, so zerreißendes, dass es ihn selbst erschütterte.
 

Er konnte sich kaum bewegen, so sehr krampfte sich jede Faser seines Körpers zusammen; er schwitzte, während seine Muskeln immer wieder vor lauem Schmerz kontrahierten; nur mit all seiner letzten Kraft schaffte er es, den Knopf, der sich direkt neben seinem Bett befand, zittrig zu drücken, bevor er sich wieder in den heftigsten Schmerzen wand, die er bisher in diesem halbwachen Zustand verspürt hatte.
 

Es dauerte wirklich nicht lange, bis das Licht anging, und eine besorgt dreinblickende Schwester ins Zimmer trat, Loran, die auch einmal vor Stunden dagewesen war. Sie verlor keine Zeit; mit mechanischen Handgriffen packte sie Paul's Hals, fixierte so den Nacken, dass er sich nicht mehr verkrampfen konnte; als hätte sie geahnt, was mit ihm passieren würde, hatte sie schon einen kleinen Becher dabei, der eine bläuliche Flüssigkeit enthielt. Paul konnte seinen Körper immer noch nicht ruhig halten, seine eisblauen Augen jedoch waren fest auf Loran gerichtet.
 

Sie sagte leise: „Hier, schlucken Sie das, bitte. Es ist ein flüssiges Schmerzmittel, dass Ihnen Ruhe bringen wird, bis der Arzt wieder aus einer Not-OP da ist, um Ihnen eine neue Dosis Morphium zu spritzen. Nehmen Sie es, Mister Walker, keine Angst.“
 

Er wusste nicht, ob er überhaupt dazu fähig war, zu schlucken; doch der feste und fachmännische Griff ließ ihm keine Wahl.
 

Die fast neutral schmeckende Flüssigkeit rann seine Kehle hinab, während er das gesamte, kleine Becherchen leerte. Loran ließ ihn los; sie wartete einige Sekunden, bis Paul's Krämpfe vor Schmerz langsam nachließen. Der Schmerz verschwand nicht direkt; doch ganz langsam sickerte er tiefer in seinen Körper, wurde weicher und nicht mehr so heftig.
 

Paul fasste sich an die nassgeschwitzte Stirn und stöhnte erneut; als er wieder mehr Luft bekam, räusperte er sich leicht.
 

„Das war heftig...“
 

Loran lächelte, während sie den Becher auf den kleinen Tisch stellte, der neben Paul's Bett stand. Einen Moment schwieg sie, bevor sie leise ansetzte:
 

„Das wird noch lange so gehen, diese Schmerzen, wissen Sie? Der Körper hat ja unglaubliche Qualen ausgehalten, bei Ihnen war so viel gebrochen... Und irgendwann werden wir Sie nicht mehr mit so viel Schmerzmitteln versorgen können.“
 

„Nicht...?“, seufzte Paul leise, während er sich, deutlich beruhigter, in das weiße Kissen sinken ließ. Die Schmerzen ließen allmählich nach, nur noch ein wenig brannten sie im Körper. Er atmete tief ein und aus, während seine Glieder schwerer wurden.
 

„Schlafen Sie weiter, Sie brauchen den Schlaf. Sollte etwas sein, melden Sie sich bitte.“
 

Mit diesen Worten verließ sie leise das Zimmer, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, damit Paul wieder vollständig von Dunkelheit umgeben war. Das leise Surren der Geräte nahm er mittlerweile nur noch nebenbei war; der Herzmonitor zeigte nach wie vor seinen mittlerweile ruhigen Schlag an.
 

Paul starrte noch einen Moment ins vollkommen Dunkle, die Gedanken tief versunken. Er hatte es der Schwester Loran nicht sagen wollen, doch da waren Träume gewesen, seltsame Träume.
 

Feuer, Feuer überall, und unfassbarer Schmerz, der jede Faser durchschossen hatte. Da war ohrenbetäubender Lärm gewesen, so laut, dass ihm die Ohren im Traum hatten weh getan; es war die Art von Krach gewesen, die einem den blanken Horror über den Rücken jagen ließ.
 

Er wusste nicht, wovon er geträumt hatte, doch er war sich sicher, dass es verschwommene Erinnerungen an den Unfall gewesen sein mussten. Er hatte jemanden schreien gehört, so laut und verstörend, dass er es selbst jetzt nach dem Becher mit Schmerzmittel nicht vergessen konnte.
 

Man hörte Menschen nur auf die Art und Weise schreien, wenn sie am Sterben waren.
 

Loran hatte von einem Mitfahrer gesprochen; wer das wohl gewesen war? In seinen Träumen war dort nur eine verschwommene, brennende Schattengestalt gewesen.
 

Er schloss kurz die Augen und hoffte, dass die brennende Gestalt kein geliebter Mensch gewesen war, falls er diese Menschen überhaupt gehabt hatte.
 

Immerhin war bis jetzt auch noch niemand in seinem Zimmer gewesen. Hätte er eine Familie gehabt, so wäre diese doch sicher sofort gekommen. Das Gefühl, vollkommen allein zu sein, ohne jegliche Erinnerung an etwas, außer einem flammenden Inferno, trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Doch bevor er sich seiner Gefühle in diesen Momenten hingeben konnte, presste er fest die Augen zusammen, um wenige Minuten später in einen tiefen Schlaf zu fallen.
 

„Mister Walker!“
 

Er brummte tief, während er sich vorsichtig noch einmal auf die andere Seite drehte; da die Schmerzmittel noch zu wirken schienen, tat dies nicht weh.
 

„Mister Walker, ich habe hier Ihr Frühstück. Vielleicht wollen Sie einmal probieren? Sie brauchen die Kraft. Heute stehen eine Menge Untersuchungen an.“
 

Obwohl er sich gar nicht danach fühlte, öffnete er die Augen und erspähte die junge Loran, die ein Tablett mit frischen Brötchen und Aufstrich trug. Sie lächelte; Paul setzte sich vorsichtig auf, jedoch nur so vorsichtig, wie es sein geschundener Körper zuließ.
 

„Warum sind Sie noch hier? Hatten Sie nicht nur Nachtschicht...? Wie spät ist es?“, brummte er verschlafen, während Loran das Tablett abstellte.
 

„Es ist sechs Uhr morgens, und ich habe jetzt Schichtende. Ich wollte nur noch einmal nach Ihnen sehen. Der Arzt kommt in einer halben Stunde.“, sagte sie, während sie ihm dabei zusah, wie er versuchte, sich ein Brötchen zu schmieren. Das war leichter gesagt als getan. Seine Finger schienen irgendwie noch steif und leicht taub zu sein; alles fühlte sich komisch an.
 

„Na, ihr weckt einen aber verdammt früh...“, schnarrte er, die Augen fest auf sein Mahl gerichtet. Wie ein Kleinkind, dachte er, nachdem er es mehr schlecht als recht geschafft hatte, sich eine Hälfte fertig zu machen.
 

„Nun ja, der Alltag beginnt früh. Ich denke, ich werde heute Abend wieder für Sie zuständig sein, also... bleiben Sie munter und machen Sie sich keine Sorgen.“
 

Sie lächelte, während Paul ihr freundlich zunickte. Mit vollem Mund sprach man ja nun auch nicht, oder? Sie ging leise von dannen, nicht ohne noch ein kleinlautes „Tschüss!“ zu rufen, das Paul nur kurz erwiderte.
 

Den Schwestern schienen die Patienten wirklich am Herzen zu liegen, dachte er. Oder woran lag es, dass Loran's Augen länger als gewöhnlich auf ihm verweilt hatten? Obwohl... was war eigentlich noch gewöhnlich, dachte er.
 

Dein Kopf läuft nicht mehr richtig, alter Junge, sagte er sich innerlich selbst. Er beendete sein Frühstück, und wie auf Kommando schoss ein Arzt ins Zimmer, ein anderer als gestern Nacht. Er brummte Paul ein „Guten Morgen“ entgegen, während er als aller erstes das Klemmbrett an Paul's Bettende kontrollierte. Als er es eingehend studiert hatte, wandte er sich an Paul, der sich gerade ein bisschen höher gesetzte hatte, um seinen Rücken zu entlasten.
 

„Heute müssen Sie ins MRT, wir müssen Ihren Kopf noch einmal checken. Die Verletzungen scheinen relativ tief zu gehen, und beim letzten Check hatten Sie ein Hämatom in dem linken Frontallappen des Gehirns. Es stehen einige Motorik-Tests an, und heute Nachmittag wird es Ihrer Familie und den Verwandten erlaubt sein, zumindest den engen, Sie zu besuchen, aber nur eine Stunde, alles andere wäre zu viel. Eventuell wird Ihnen das helfen, sich zu erinnern, nur deswegen erlauben wir das.“
 

Familie? Paul's Herz schlug fest gegen seinen Brustkorb, einen schmerzlichen, hämmernden Ton. Es störte ihn, dass der Herzmonitor diese Veränderung direkt anzeigte; der Arzt jedoch fügte hinzu, als er seinen schnelleren Herzschlag bemerkte: „Der Monitor kann heute abgenommen werden, Sie sind ja nicht mehr im Koma.“
 

„Ich hab... eine Familie?“, flüsterte Paul zögernd, während er den Arzt mit entsetztem Gesicht musterte.
 

Dieser nickte leicht.
 

„Ja, aber setzen Sie sich nicht unter Druck. Wenn Sie sie erkennen, wissen wir, dass es mit Ihren Verletzungen bergauf geht, ansonsten haben wir Ihre Familie schon informiert. Sie wissen also Bescheid.“
 

„Woher wissen Sie, dass... ich..“
 

Der Arzt schmunzelte. „Ihr Ausweis, er befand sich zum Unfallzeitpunkt in ihrem Portemonnaie. Wir haben Experten, die so etwas immer schnell anhand der Personalien herausfinden.“
 

„Ah“, machte Paul leise, während sein Blick den Arzt nicht losließ. Wie seltsam es sich anfühlte, dass jemand auf ihn wartete, ihn kannte, während er bis jetzt nur sich selbst und das Personal vom Krankenhaus kannte. Es war beängstigend. Wer würde heute Nachmittag kommen? War er verheiratet, hatte er noch Eltern, Geschwister? Großeltern? War er Vater? Die Gedanken rasten in seinem Kopf, während der Arzt ihm noch einige Anweisungen gab.
 

Als er beendet hatte, räusperte Paul sich.
 

„Doktor, wäre es möglich, dass ich meinen... Ausweis sehe?“
 

„Natürlich, er befindet sich in der Schublade neben Ihrem Bett. Bis später, Mister Walker.“
 

Paul riss die Schublade auf, sobald die Tür verschlossen war. Er fand ein schlichtes, ledernes Portemonnaie, das teuer aussah. Er machte es auf und durchsuchte es. Er fand eine Kreditkarte, zwei Bankkarten, eine Tankkarte, diverses Geld und einen Führerschein. Er nahm die kleine, eingeschweißte Karte in die Hand und musterte sie.
 

Paul Walker, 37 Jahre alt, Augenfarbe: hellblau, Größe: 1,94 m. Haarfarbe: dunkelblond.
 

Eckdaten, und endlich, als er den Führerschein drehte, sah er ein Bild von einem attraktiven Mann mit stahlblauen Augen, der ihn von einem kleinen Foto streng ansah. Das war also er. Er kam nicht umher, leicht zu lächeln, er hatte es anscheinend gut getroffen mit seiner äußerlichen Erscheinung, vor allem für sein Alter sah er wirklich gut aus. Bis jetzt hatte er noch nicht in einen Spiegel sehen können.
 

Er schob den Führerschein wieder in das kleine, lederne Fach und zog die nächste Karte heraus, die eindeutig sein Ausweis war. Die Eckdaten stimmten mit denen des Führerscheins überein, und eine Adresse war darauf zu finden. Sie wies eine Stadt namens Georgeville aus. War er auch in dieser Stadt verunglückt?
 

Die Details seines Unfalls waren immer noch vage, und er hatte kaum etwas davon mitbekommen, außer eben den Schlagzeilen, die jeder Arzt oder jede Schwester ihm vorhielt.
 

Noch bevor er die weiteren Fächer untersuchen konnte, öffnete sich die Tür und eine andere Krankenschwester trat ein. Sie war ältlich und ein bisschen rund, doch sie hatte das freundlichste Gesicht, das Paul bis jetzt untergekommen war.
 

„Hallo, Mister Walker, ich bin Nana, Ihre Schwester. Ich muss Sie bitten aufzustehen, damit wir sie duschen und für das MRT fertig machen können. Können Sie aufstehen?“
 

„Ich weiß nicht genau, ich lag bis jetzt nur, ich glaube nicht... Mein Bein ist ja gebrochen...“, sagte Paul, doch die Krankenschwester winkte nur ab.
 

„Mister Walker, wofür haben Sie denn Krücken? Sie müssen es früher oder später lernen. Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“
 

Perplex über so eine Ansage, zog sich Paul an der Schlaufe hoch, die über dem Bett hing. Sein Körper fühlte sich schlapp an, jedoch schaffte er es, wenigstens die Beine aus dem Bett zu wuchten. Die Krücken sah er mit neigender Abscheu an.
 

„Nana, ich weiß ja nicht. Ich kann kaum sitzen ohne Hilfe...“
 

„Sie schaffen das schon, immerhin sind Sie ein trainierter Mann...“
 

„Ein was?“
 

Paul sah an sich herunter, und tatsächlich: ihm war es bis jetzt nicht möglich gewesen, einen Blick auf seinen Körper ohne Decke zu werfen. Er war tatsächlich gut trainiert und hatte einen hohen Wuchs; seine Haut war leicht gebräunt, als hätte er die letzten Tage in der Sonne verbracht. Nana lachte fröhlich.
 

„Sehen Sie, Sie haben das wohl vergessen. Ich hole einen Rollstuhl, ohne wird es doch wohl noch nicht gehen...“

Sie schlurfte gemächlich zurück, und Paul, der zum ersten Mal etwas wie gute Laune verspürte, musste leise lachen. Sie war eine alte, aber unheimlich positive Frau; allein diese zwei Minuten hatten ihm geholfen, über seine prikäre Situation wenigstens ein bisschen hinwegzusehen. Auch wenn es nicht einfach war.
 

Er wurde geduscht, was ein seltsames und komisches Gefühl war (er wollte das nicht unbedingt nochmal erleben), hatte sich mit großer Präzision in einen Rollstuhl gesetzt und wurde von Nana durch den Flur geschoben.
 

Es war seltsam, andere Menschen zu sehen; Krankenhauspersonal, kranke Menschen, Besucher, manche davon lächelten ihm zu. Es war wirklich keine alltägliche Szene; er fragte sich, ob manche wohl von dem Unfall gehört hatten, so etwas kam doch immer in den Zeitungen. Die Sonne schien durch die Fenster der Flure und tauchte sie in warmes, angenehmes Licht.
 

Irgendwie war er in diesen Momenten, die kurz an ihm vorbei flogen, dann doch glücklich, dass er noch lebte, dass sein Körper ganz war, dass er existierte.
 

Die nächsten Stunden verbrachte er mit Ärzten, Untersuchungen und medizinischen Ergebnissen und Gerätschaften. Ein Arzt teilte ihm mit, dass er zwar ein Hämatom im Kopf habe, dieses sich jedoch nicht weiter ausgebreitet hätte. Jedoch könnte dies der Grund für seinen Gedächtnisverlust sein, man müsse noch weitere Tests durchführen. Seine Motorik war, für so kurze Zeit nach einem schweren Verkehrsunfall, unheimlich gut. So konnte er seine nicht gebrochenen Gliedmaßen einwandfrei bewegen, auch wenn sie manchmal von grober Taubheit befallen waren, und die Sehtests und Hörtests bestand er.
 

Als er später am Nachmittag wieder in seinem Bett lag, kam nach einer Weile Schwester Nana hinein. Sie trug eine Flasche Wasser in der Hand und drei Gläser. Diese stellte sie auf einem Tisch ab, der sich unweit von Pauls Bett befand. Sie lächelte.
 

„Es sind Familienmitglieder für Sie da. Ihre Eltern und Ihre Frau.“, sagte sie.
 

Paul schluckte.
 

„Meine … was? Ich bin verheiratet?“
 

„Anscheinend, Mister Walker. Denken Sie an das, was der Arzt gesagt hat. Ich hole sie jetzt.“
 

Bevor Paul etwas entgegnen konnte, war sie auch schon verschwunden, und er blieb zurück mit einem unwohlen Gefühl. Gleich würden drei fremde Menschen in diesem Raum stehen, ihn erkennen und ihn froh umarmen wollen, da er noch lebte. Doch er würde sie nicht erkennen.... Es sei denn, sein Kopf machte mit. Er betete darum, dass er sie erkannte. Er hatte nicht so große Lust auf einen Haufen fremder Leute, die ihm Gefühle entgegen brachten, während er ihnen nichts erwidern konnte.
 

Herzschläge lang vergingen, die man zum Glück nicht mehr hören konnte, da der Herzmonitor nicht mehr angeschlossen war. Er lauschte angestrengt, versuchte, jedes Geräusch zu verfolgen. Bald hörte er sie: Schritte auf dem Flur, leise Stimmen, ein Schluchzen.
 

Er wand seinen Blick kurz hinunter auf sein weißes Shirt, dass man ihm gegeben hatte, damit er den Kittel nicht mehr tragen musste. Was sollte er nur sagen?
 

Die Tür ging gespenstisch langsam auf, fast verräterisch. Paul musste sich zusammen reißen, um überhaupt den Mut zu finden, hinzuschauen. Und dann traten drei Menschen in den Raum, die bitter blass und dennoch erleichtert aussahen, als sie eintraten und ihn dort sitzen sahen.
 

Es waren zwei ältere Leute; der alte Mann, der etwas zittrig ging, sah Paul ziemlich ähnlich, und die alte Frau hatte eine nette Aura. Doch - und das brachte sein Herz fast zum Stehen - ….
 

Er erkannte sie nicht.
 

Weder die alten Leute, die seine Eltern sein sollten, noch die hübsche Frau, die tränenüberströmt in den Raum trat und schluchzte, als sie Paul sah.
 

Er erkannte sie einfach nicht. Er konnte sich nicht ausmalen, wie schrecklich dieser Moment für die Menschen sein musste, die sich um sein Bett versammelt hatten und ihn ohne Worte ansahen.
 

„Paul, mein lieber Paul.. Gott sei Dank geht es dir gut....“, wimmerte die ältliche Dame, während sie nach Paul's Hand griff; Paul, dem die ganze Situation unheimlich vorkam, ließ sie aber. Er wollte diese alte Frau nicht schockieren.
 

Er lächelte nur leicht und gab vor, mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Vielleicht tat er dies in diesen Momenten auch, jedoch nicht für die Menschen, die um ihn herum standen, eher für sich. Wie konnte man so schlimm verunglücken, dass man geliebte Menschen nicht mehr erkannte?
 

Die hübsche Frau räusperte sich und ergriff Paul's andere freie Hand, die mit der Brandwunde. Sie hielt sie sehr behutsam und schluchzte leicht, als sie seine warme Haut spürte.
 

„Paul, wie geht es dir?“, flüsterte sie, während sie einen Kuss auf seine verletzte Hand drückte. Paul spürte die Berührung, die ihn erhitzen ließ; jedoch nicht vor Erregung, sondern vor Scham. Wie gern hätte er ihre Gefühle erwidert, doch sie war einfach wie eine Fremde. Jemand, den er einfach nicht kannte und den er gerade zum ersten Mal sah.
 

„Ich.. Mir geht es ganz gut.. Soweit.“, stammelte er, und seine blauen Augen wanderten über das Gesicht der Frau. Sie war wirklich hübsch; wenn das seine Frau sein sollte, dann hatte er anscheinend gutes Glück gehabt. Als könne sie die Verwirrung und den Schmerz in seinen Augen lesen, ließ sie seine Hand wieder leicht los.
 

Tränen rannen ihr aus den Augen, während sie leise sagte: „Du erkennst uns noch nicht, oder? Der Ar-... Arzt hatte so etwas angedeutet. Mach' dir keine Sorgen Schatz, die Erinnerung kommt wieder. Ohja, das wird sie.“
 

Paul nickte nur.
 

Egal, wie sehr er sich anstrengte, er konnte die Menschen einfach nicht zuordnen, kein Stück. Er empfand nicht einmal große Sympathie für diese drei. Natürlich, sie waren nett – doch das waren die Angestellten auch. Ob er wohl Kinder hatte? Er wagte es nicht, diese Frage zu stellen.
 

Es fielen eine Weile keine Worte. Paul konnte beim besten Willen nicht beschreiben, wie seltsam sich das alles anfühlte. Seine Eltern begannen damit, ihm einige Details zu beschreiben, in der Hoffnung, er würde sich eventuell erinnern: Wo er arbeitete, dass er in der Freizeit gern an Autos herumschraubte, dass er ein geselliger Mensch war, sehr beliebt, dass er viele Freunde hatte, die alle schon neugierig auf ihn waren... Dass er keine Kinder hatte, jedoch mit seiner Frau, die sich als Penelope vorstellte, welche haben wollte.... bevor der schreckliche Unfall kam.
 

Die Erzählungen klangen wie ein Traum für ihn; das Leben eines glücklichen, aber fremden Menschen, der nichts mit ihm zu tun hatte. Nichts mit dem Menschen, der hier lag und sich die ganze Zeit fragte, warum er sich zum Teufel an wirklich gar nichts erinnerte. Hatte es vielleicht einen Grund?
 

Die Zeit verging schnell und es kam Paul wie fünf Minuten vor, als die Schwester erschien und mitteilte, dass er nun Ruhe brauchte und die Geschehnisse erst einmal verarbeiten musste. Der Abschied war unangenehm, drückend. Er kam sich unbeholfen vor, als diese für ihn fremden Menschen ihn umarmten und ihm sagten, wie sehr sie ihn liebten – und er einfach nichts erwidern konnte, weil es einfach nicht die Wahrheit war.
 

Es liefen wieder Tränen, als sie sich davon machten.
 

Paul blieb noch lange starr liegen und ließ sich das Geschehene durch den Kopf laufen,wie einen Film. Diese Leute und seine Geschichte kamen ihm fast zu perfekt vor, zu glücklich, zu friedlich und fröhlich. Irgendwie unwirklich.
 

War sein Leben tatsächlich so gewesen? Wieder kam ihm der Gedanke, dass etwas nicht stimmen konnte. Warum weigerte sich sein Kopf nur, nicht eine Erinnerung an früheres Leben preiszugeben?

Der Bruder

Der Nachmittag ging in den Abend über, und Paul hatte sich gut mit Fernsehen und dem Lesen von Büchern, die er bei einer Krankenschwester erfragt hatte, ablenken können. Er war gerade dabei, ein neues Kapitel anzufangen, als die Krankenschwester vom gestrigen Abend, Loran, in sein Zimmer kam. Als sie ihn lesen sah, lächelte sie leicht.
 

„Hallo, Mister Walker. Wie es scheint, geht es Ihnen schon besser?“, fragte sie, während sie sich neben sein Bett stellte.
 

Er legte das Buch, dass er soeben noch gelesen hatte, beiseite; er nickte leicht, mit einem Seufzer als Zugabe.
 

„Sie haben die Akten doch sicher schon gelesen.“, sagte er und rieb sich mit der unverletzten Hand die Schläfe.
 

„Ja, natürlich, da ich für Sie zuständig bin, muss ich das auch. Wenn Sie Glück haben, werden Sie morgen oder übermorgen auf die normale Station verlegt. Mit Gesellschaft, dann.“
 

„Hm, ich werde die Ruhe sicher vermissen. Sagen Sie, Loran...“, begann er, während er sie durchdringend musterte; seine Augen trieben ihr ein wenig Röte auf die Wangen.

„...Wer war mein Beifahrer? Kann ich den Namen wissen? Die Verwandten, die heute da waren, haben mir nichts gesagt...“
 

Sie zögerte einen Moment, bevor sie gut überlegt antwortete.
 

„Man sagte mir, es sei ein Freund von Ihnen gewesen, Mister Walker, und das tut mir sehr leid. Ich möchte Sie mit diesem Thema noch nicht belasten. Außerdem ist es mir eigentlich untersagt.“
 

„Hm, wie schade. Eventuell ein anderes Mal. Ich kann mich auf jeden Fall an nichts mehr erinnern...“
 

„Eventuell morgen ja, Sie haben einen neuen Besucher. Ihr Bruder möchte Sie sehen.“
 

Paul hob erstaunt die Augenbrauen an; einen Bruder?
 

„Warum war er heute nicht dabei, wie die anderen Verwandten?“, fragte er grob. Oder hatte er sich nie gut mit seinem Bruder verstanden?
 

„Ich glaube, ihr Bruder musste extra aus dem Ausland anreisen, er war wohl in einem Auslandssemester. Als er von dem Unfall erfuhr, hat er den ersten Flug hierhin genommen. Er wird Sie morgen früh besuchen. Eher war es ihm nicht möglich.“
 

„Wissen Sie, ob es ein kleiner... oder großer Bruder ist?“, bohrte er nach, obwohl seine Logik und sein Verstand ihm sagten, dass es fast nur ein kleiner Bruder sein konnte. Doch man wusste ja nie; es gab auch noch Leute, die mit 40 studierten. So etwas war anscheinend modern.
 

Loran lachte leise, doch sie antwortete ehrlich auf die Frage: „Es ist Ihr kleiner Bruder. Er ist um die zehn Jahre jünger als Sie, wenn nicht noch mehr.“

Ein kleiner Bruder!
 

Paul's Herz machte zum ersten Mal einen Sprung. Er wusste nicht, wieso; denn schließlich waren alle Familienmitglieder wichtig. Doch ein kleiner Bruder... In seinen Nervenenden hinten im Nacken kribbelte es. Vielleicht würde das Gesicht des kleinen Bruders helfen, die Erinnerungen wieder aufzuleben.
 

„Danke, ich werde auch nichts dem Arzt verraten“, zwinkerte er ihr zu, während sie nur lachte. Sie hatte ein schönes Lächeln. Überhaupt war sie eine attraktive, junge Frau; er fragte sich, wie alt sie wohl war. Das lange, braune Haar war zu einem Zopf gebunden, und sie trug nur leichte Spuren von dezentem Make Up. Ihr Gesicht war freundlich und hübsch geformt.
 

„Ich werde mich dann mal um die Station kümmern, wenn Sie etwas brauchen.. Sie wissen ja, wo Sie drücken müssen.“, sagte sie und ging in Richtung Tür; Paul jedoch hielt sie mit einer letzten Frage zurück:
 

„Wie alt sind Sie, Loran?“
 

Sie drehte sich noch einmal auf der Achse um, während sie antwortete: „23, Mister Walker. Warum fragen Sie?“
 

„Einfach nur so.“
 

Sie lächelten sich noch einmal an, und die Tür schloss sich hinter Loran.
 

Dreiundzwanzig. Viel zu jung, dachte Paul, während er sich erneut in sein Kissen sinken ließ; nicht, dass er Interesse an der Frau gehabt hätte, für so etwas hatte er absolut keinen Kopf in dieser Zeit. Jedoch war es einfach nur die Interesse eines Mannes an einer Frau gewesen. Und 23 war ein Alter, mit dem er nichts anfangen konnte. Über zehn Jahre jünger, nein. Außerdem war er verheiratet – sofern er das richtig mitbekommen hatte. Ob es wohl eine glückliche Ehe gewesen war?
 

Der nächste Tag brach nach einer schmerzhaften Nacht relativ ruhig an; er wurde wieder von Loran geweckt, die er in der Nacht zweimal hatte rausklingeln müssen, wegen der heftigen Schmerzen. Erst als ein Arzt ihm beim zweiten Mal eine Spritze mit Morphium gegeben hatte, konnte er in Ruhe schlafen. Dennoch steckte ihm die kurze und albtraumhafte Nacht in den Knochen.
 

Auch in dieser Nacht hatte er von Feuer geträumt, von knirschendem Metall und von grausamen Schreien, die eindeutig von einem Menschen gekommen waren.
 

Nach dem Wecken ging es ab zu einer Untersuchung, er wurde wieder getestet und die Ärzte waren sich einer Meinung, dass er nun auf eine normale Station verlegt werden konnte.
 

Eigentlich war es für Paul keinerlei Problem; das Einzige, was er jedoch jetzt schon schmerzlich vermissen würde, war seine Ruhe, sein eigenes Bad (auch wenn er es selbst nicht gut benutzen konnte) und der Vorteil, dass Verwandte ihn nur eine Stunde pro Tag besuchen konnten. Das änderte sich jetzt.
 

Nicht, dass er seine Vergangenheit nicht aufbauen und aufleben lassen wollte, nein: Nur all diese Leute waren ihm noch fremd und konnten ihm bisher bei der Suche nicht helfen. Viel mehr waren sie wie eines der Dinge, gegen die Paul sich noch so kurz nach dem Unfall vehement wehrte.
 

Sein neues Zimmer war farbenfroher, und es war nur mit einem weiteren Patienten belegt, einem älteren Mann, der aber nicht sehr gesprächig zu sein schien. Das war Paul natürlich sehr willkommen, auch wenn er es nicht zeigte.
 

Er hatte sich gerade in sein neues Bett gelegt, als es an die Tür klopfte. Er wusste genau, wer das sein konnte; schon den ganzen Abend gestern hatte er sich im Kopf vorgestellt, wie wohl die erste Begegnung mit seinem kleinen Bruder ablaufen würde.
 

Er war angespannt und nervös, und zu allem Übel hatte er heftige Kopfschmerzen, obwohl er vor einer Stunde noch eine Tablette genommen hatte. Vielleicht doch zu viele Schmerzmittel auf einmal, dachte er sich noch, bevor er ein lautes „Herein“ verlauten ließ, um den Besucher, wer auch immer dort wartete, zu begrüßen.
 

Die Tür ging langsam, langsam auf, fast in Zeitlupe. Paul versuchte, nicht zu angespannt zu sein, auch wenn es ihm wirklich sehr schwer fiel.
 

Er erkannte seinen kleinen Bruder sofort, und das lag daran, dass sie sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelten; Paul's kleiner Bruder war etwas dünner, nicht ganz so groß wie er und hatte ein weicheres, viel lieberes Gesicht als Paul; auch war das Gesicht etwas rundlicher, was ihm ein junges, unbekümmertes Aussehen verlieh. Doch das tat nichts zur Sache; vor ihm stand eindeutig sein Bruder.
 

Als sein Bruder Paul erblickte, brach er in Tränen aus; er war so schnell auf Paul's Bett zugerannt, das dieser ihn nicht davon abhalten konnte, ihm in die Arme zu springen; und diesmal fühlte es sich nicht falsch an. Es fühlte sich richtig an. Trotz seiner Schmerzen und dem Gefühl, erdrückt zu werden, erwiderte er die Umarmung fest. Sein Gedächtnis sprang zwar noch nicht an, doch sein Gefühl und sein Herz sagten ihm, dass dies seine Familie war.
 

„Oh mein Gott, Paul... Ich hatte solche Angst... Verdammt.. Mach das nie, NIE wieder!“, schluchzte sein Bruder in seine Schulter, während Paul ihm etwas unbeholfen den Kopf streichelte.
 

„Es tut mir leid, ich kann mich selbst an nichts erinnern, sonst würde ich dir natürlich sagen, wo mein Fehler...“
 

„Nein, es war nicht dein Fehler, Paul...nicht deiner...“, die Stimme seines Bruders ging fast unter. Paul wusste nicht so recht, wie er seine Gefühle ausdrücken konnte. Dies war sein Bruder, und er weinte so bitterlich, dass Paul sich fast schuldig fühlte.
 

„Ist doch alles okay wieder....“, flüsterte Paul ihm zu, während er seinen Bruder nicht losließ.
 

„Der Arzt sagte mir, du hast keinerlei Erinnerung an den Unfall und an dein... an dein ganzes Leben... stimmt das? Ich wollte es nicht wahr haben, als ich die Nachricht erhalten habe... Mom und Dad haben gesagt, du hast sie nicht erkannt...“
 

Paul zögerte, dann jedoch sagte er leise: „Es stimmt, leider, ja. Ich weiß nicht einmal mehr, wer meine Familie ist.“
 

Sein kleiner Bruder ließ von ihm ab und wischte sich einige Tränen weg, die ihm die Wange hinunter gelaufen waren. Anhand der geröteten Augen und der dunklen Ringe darunter konnte Paul sehen, dass er wohl die letzten Nächte nicht geschlafen hatte.
 

„Ich bin Cody, dein kleiner Bruder. Aber das hat man dir sicher schon gesagt.“
 

Paul lächelte. Cody hieß er also, sein kleiner Bruder. Ein schöner Name, wie Paul fand, während er sich wieder etwas gerader hinsetzte. Die Wucht des Wiedersehens mit Cody hatte ihn etwas tiefer sinken lassen.
 

„Ja, das hat man mir gesagt. Aber irgendwie.. Ich weiß nicht. Ich erinnere mich jetzt noch nicht an dich, aber mein Herz sagt mir irgendwie, dass du wirklich meine Familie bist.“, antwortete Paul, während er Cody dabei zusah, wie er sich auf den Stuhl neben das Bett setzte.
 

„Ich hab es gehofft, und es ist mir so ein Stein vom Herzen gefallen, als hörte, dass du lebst... Die Erinnerung kommt wohl wieder. Oder auch nicht, und wir fangen neu an.“
 

Cody's Worte waren die ersten, die ihm wirklich Mut machten und die ihm zum ersten Mal eine große Sorge vom Herzen nahmen; hier war jemand, der akzeptierte, dass das alte Leben eventuell nie wiederkehren würde. Er betrachtete Cody lange, bevor er fragte:
 

„Wie alt bist du, Cody? Meine Krankenschwester meinte, du studierst... im Ausland?“
 

„Ja“, antwortete Cody immer noch etwas zittrig; „... ich studiere angewandte Physik und müsste eigentlich jetzt in Schweden sein. Aber ich konnte nicht weiter machen, als ich gehört habe, dass du... naja. Und ich bin 24.“
 

Fast wie Paul es erwartet hatte: Cody war genau 13 Jahre jünger als er. Da hatten seine Eltern wohl lange mit dem zweiten Kind gewartet, dachte er. Da waren sie wohl schon ziemlich alt gewesen.
 

„Wow, ganz schöner Altersunterschied...“
 

„Ja, aber das hat nie gestört. Du warst immer mein Vorbild, Paul.“, murmelte Cody, während er auf seine Finger schaute.
 

Paul lächelte und wuschelte seinem Bruder mit einer leichten Bewegung durch das Haar. Cody's Augen füllten sich erneut mit Tränen.
 

„Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn du nicht überlebt hättest. Ich glaube, ich hätte mich umgebracht.“
 

„Cody!“ Paul's Stimme wurde strenger und lauter; mit einem festen Blick fixierte er Cody. „Sag so etwas nie wieder, hast du gehört? Darüber macht man nicht solche... Naja, keine Scherze, aber... du weißt doch.“
 

Cody nickte, bevor er sich wieder vor lauter Gefühlsüberschwall auf seinen Bruder warf, was Paul diesmal ein Stöhnen entlockte, da Cody genau auf einer seiner gebrochenen Rippen landete.

„Ganz ruhig, Kleiner“, keuchte Paul, während Cody verschreckt zurückzuckte und sich sofort entschuldigte.
 

„Aber, du erinnerst dich anscheinend wieder an meinen Kosenamen! Kleiner hast du mich immer genannt... Oder zumindest tut dein Unterbewusstsein es.“, grinste Cody, während Paul versuchte, ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf zu geben, doch Cody wich lachend aus.
 

Sie hatten ein paar schöne Stunden zusammen, bevor Cody wieder gehen musste; er verabschiedete sich mit den Worten, dass er noch eine ganze Weile bleiben würde und ihn fast jeden Tag besuchen wollte. Paul hatte nichts dagegen einzuwenden. Cody hatte ihm viel aus der Vergangenheit erzählt und ihm viele Bilder auf seinem Handy gezeigt; Bilder, die eine ganz andere Realität als die zeigten, die er jetzt kannte. Er erkannte sich auf allen Bildern wieder, doch die dazugehörigen Erinnerungen blieben trotz der liebevollen Fürsorge seines Bruders wie verschwunden.
 

Der Tag verlief ansonsten ereignislos, nur ein Besuch von Penelope war noch dabei gewesen; doch Paul hatte vorgegeben zu schlafen, weswegen sie nur eine Weile an seinem Bett geblieben war, bevor sie wieder gegangen war. Sie hatte bitter geweint. Doch so leid Paul es auch tat, er konnte sich ihr noch nicht öffnen. Irgendetwas blockierte da bei ihm.
 

Erst als es schon sehr spät war, kam Paul langsam zur Ruhe und er legte sich schlafen. Er machte es sich gemütlich, starrte noch einen Moment auf das Foto von ihm und Cody, das Cody ihm mitgebracht hatte, bevor er die Augen endgültig schloss.
 

Nichts ahnend, dass die nächsten Stunden im Traum für ihn der absolute Horror auf Erden werden würden, nichts ahnend, dass eine gewaltige, schmerzliche Erfahrung auf ihn einprasseln würde wie ein harter Hagelschauer.

Gewissheit

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„Du bist doch echt manchmal nicht richtig im Kopf, Paul.“
 

James Lavernes Stimme hallte gerade zu in dem kleinen Sportwagen, in dem er und Paul saßen und gen Abendsonne fuhren; es war ein schwarzer Ferrari, den James geliehen hatte; Paul saß auf dem Beifahrersitz, während James mit ihm durch die allabendlichen Straßen fuhr. Es war wie immer; mindestens einmal die Woche trafen sie sich, um mit dem Auto umherzufahren.
 

Meistens waren es geliehene Sportwagen. James hielt sich fast nie an die Geschwindigkeiten, die innerorts herrschten. Von außerorts ganz zu schweigen einmal.
 

„Wieso? Ich bin ein Mann, ich bin frei, ich kann tun und lassen, was ich will“, entgegnete Paul, der gerade seinen rechten Fuß über sein linkes Knie gelegt hatte und entspannt im ledernen Sitz des Wagens saß. Er trank gekühlten Eistee, den sie gerade von der Tankstelle geholt hatten.
 

„Paul, du bist verheiratet. Penelope will Kinder mit dir. Ich dachte, das war das, was du auch immer wolltest.“, schnarrte James, während er Paul einen kurzen Seitenblick zuwarf. Paul zuckte nur mit den Achseln.
 

„Verheiratet ja, aber was sie nicht weiß... Ich kann es halt nicht anders. Wenn eine junge hübsche Frau bei mir ankommt, kann ich doch nicht nein sagen.“
 

„Du kannst nein sagen, und ob. Meinetwegen gib' den Ladys was zu trinken aus, flirte mit ihnen, solange und sooft du willst; aber mach' nicht so einen Scheiß, Paul. Das geht gar nicht.“
 

Paul seufzte leicht genervt; er hasste das Gesprächsthema, das James mindestens einmal die Woche auf den Tisch brachte: Paul und seine Frauen. Ja, er stand dazu. Er flirtete gerne und viel, und wenn eine junge und attraktive Frau ihm gewisse Angebote machte, sagte er eben nicht immer nein. Er war doch noch recht jung. Und auf den Autotreffen, die nachts stattfanden und von denen die meisten illegal waren, waren die schönsten Frauen der Stadt.
 

„Ich entscheide das selbst. Solange Penelope nichts weiß, geht das in Ordnung. Und sie ist doch ziemlich prüde in der Beziehung, das weißt du auch.“, murrte Paul, während er sich noch einen Schluck kühlen Eistees gönnte.
 

„Sie war aber nicht immer so. Ihr ward früher wie die Kaninchen. Und kaum werdet ihr etwas älter, über 30, geht es bergab. Nur weil dich mal ab und zu hübsche Frauen ansprechen...“, sagte James.
 

„Ab und zu? Oft. Ich mag das. Wer kriegt nicht gern Komplimente...“
 

„Ja, ich weiß auch selbst, dass du ein sehr hübscher Mann bist. Aber das ist lange noch kein Grund.“
 

„Aber auch kein Hindernis.“

„Paul, ich weiß von der letzten, die du hattest. Sie war nicht mal 25. Das geht nicht.“, zischte James etwas schärfer; der Ferrari bog in eine scharfe Kurve, sodass Paul etwas Eistee auf seine Jeans schwappte.
 

„Ja und?“
 

„Ja und? Die sind zu jung! Du bist keine 30 mehr, du bist 37! Das sind über zehn Jahre!“
 

„Ach.... James, lass gut sein. Ich werd' es ja lassen.“
 

„Hoffentlich! Das tut dir nicht gut, und das ist auch nicht gut. Diese jungen Mädels alle... Halt dich an Penelope.“
 

Einen Moment lang entstand Stille zwischen den beiden; Paul starrte in die untergehende Sonne, auf die spiegelnden, immer noch warmen Straßen, die sich vor ihnen ergaben und sich zwischen Häuserblocks schlängelten.
 

Nach einer Weile stieß er James jedoch an.
 

„He, James. Die letzte hatte gemachte Brüste.“, zwinkerte Paul, während sein Blick James fest fixierte. James sah einen Moment lang noch streng aus, bevor er plötzlich breit grinste.
 

„Wie groß?“, stachelte er, während er Paul kurz ansah, der nur grinsend nickte.
 

„Mindestens ein D.“
 

Die beiden Männer lachten; James drückte mehr auf das Gaspedal, da eine gerade gezogene Strecke kam.
 

„Lass uns den Wagen mal so richtig auf Touren bringen!“, schnarrte er, und Paul lachte.
 

Der Wagen beschleunigte binnen kurzer Sekunden auf ein sehr hohes Tempo. Fast gleitend befuhr er die Straßen, sehr flüssig. Es war ziemlich viel Verkehr, trotz der etwas späteren Uhrzeit. James jedoch ließ nicht ab und schnitt manche Wagen leicht.
 

„James, pass' auf. Da hinten ist eine Kurve.“, sagte Paul. Er fixierte die scharfe Kurve schon von weitem; die kannte er selbst durch das Fahren nur zu gut.
 

„Ja, ja!“, grinste James, nahm jedoch nicht den Fuß vom Pedal. Paul krallte sich etwas in seinen Sitz. Langsam wurde ihm unwohl.
 

Die Kurve kam rasend näher. Sie war keine hundert Meter mehr entfernt.
 

„James!“
 

Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung oder irgendeinen Hinweis, scherte ein Motorrad direkt vor ihnen aus.
 

James versuchte noch scharf zu bremsen, riss das Lenkrad herum, doch zu spät: er bekam den Wagen nicht mehr unter Kontrolle. Paul sah alles wie in einem Blitzschlag; alles ging zu schnell, zu raffend, zu brutal.

Der Wagen geriet urplötzlich ins Schleudern, die Bremsen quietschten laut. Paul nahm noch den Geruch von verbranntem Gummi wahr, mehr jedoch nicht. Durch das heftige Schleudern verlor er jeglichen Orientierungssinn. Wo war oben, unten, links oder rechts?
 

Er konnte James neben sich schreien hören, und dann....
 

Ein mächtiger, erdbebenartiger Aufprall zerstörte die komplette Vorderseite des Autos. Paul spürte nur noch, wie er mit aller Gewalt gegen seinen Airbag prallte, der durch ein hartes Hindernis kein richtiger Airbag mehr war; dass irgendwelche Knochen in ihm brachen. Sein Kopf schlug so heftig auf, dass er innerhalb von Millisekunden das Bewusstsein verlor.
 

Dass der Wagen gegen einen Baum mit Verkehrsschild geprallt war, bekamen die beiden Männer schon nicht mehr mit.
 

Das nächste, was Paul in einem dichten Nebel und nur verschwommen wahrnahm, war Rauch, überall Rauch, der ihm die Luft abschnitt. Er versuchte sich zu bewegen, doch er spürte seine Beine nicht mehr. Etwas hartes zwängte ihn ein wie einen Käfig.
 

Alles roch verbrannt, nach geschrottetem Metall; die Karosserie knarzte noch unter der Last des schlimmen Aufpralls. Paul öffnete ein Auge; mit dem anderen ging es irgendwie nicht so ganz.
 

Neben ihm saß James noch, angeschnallt, doch der Kopf war ihm tief auf die Brust gesunken. An der zertrümmerten Frontscheibe und an den Seiten war überall Blut. Paul konnte einen Fetzen Haut an einem dicken Riss in der Scheibe erkennen.
 

„Ja...m … James...“, röchelte er, unterbrochen von einem Schwall dunklen Blutes, das er ausspie. Seine Lunge brannte. Jedes Denken, jedes Sehen tat so weh wie sonst noch nie gefühltes im Leben.
 

Er drehte den Kopf soweit es ging; doch es waren nur Millimeter. Dennoch sah er es genau. Triefend und dick eingehüllt in Brocken aus Blut, Haut und etwas, das verdächtig weiß schimmerte, war James' Kopf zersplittert. Ein großer Riss klaffte an der Seite des Kopfes; der Knochen, die harte Schädeldecke, schien wie aufgeknackt zu sein; wie eine Schale, aus der es nun nur noch so floss. Paul konnte sogar durch all den Rauch ein Stück von James Gehirn sehen, das durch die klaffende Wunde im Kopf herausgepresst worden war, durch den mehr als heftigen Aufprall.
 

Paul wusste sofort, dass James tot war.
 

Doch in diesen Sekunden konnte er einfach nichts. Er war wie betäubt und so geschockt, dass er nicht wegsehen konnte. Wie ein Irrer starrte er auf die tote Hülle seines Freundes, der vor zwei Sekunden noch lebendig gewesen war. Starrte auf den Kopf, der so widerlich verletzt war, dass er sich fragte, warum er sich nicht übergeben musste.
 

Und obwohl er wusste, dass James tot war, keuchte er ein zweites, leises Mal seinen Namen, fast so, als würde er erwarten, dass der Mann seinen verletzten Kopf drehen würde und ihn wieder angrinsen wurde.
 

Es verging keine Sekunde mehr, da fing er an zu schreien. Er schrie so laut und markerschütternd, dass es Passanten, die sich dem Wagen wegen der Brandgefahr wohl nicht mehr genähert hatten, es hörten.

Er konnte Schritte hören, aufgeregte Stimmen, und irgendwann fühlte er Hände, die ihn mit aller Kraft aus dem Wagen zogen.
 

Alles, was er sah, war Rauch, das zertrümmerte Auto, dass so stark beschädigt war, dass er sich wunderte, dass er dort überhaupt lebend herausgekommen war. Er war nicht fähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen; alles, was er tat, war Schreien, wie am Spieß, aus den letzten Kräften, fast so, als wäre er gerade in dem Wagen gestorben und nicht James.
 

Das Auto qualmte immer mehr; lautes Knirschen von Metall war zu hören, und die schockierten, fast gellenden Stimmen irgendwelcher Menschen.
 

„Das Auto, es brennt leicht...“
 

Kleine Zungen aus Feuer schlängelten sich an der Aufprallfront des Wagens entlang.
 

Die Passanten legten ihn weiter weg vom Wagen in einen Streifen Gras; sie deckten ihn zu, beruhigten ihn. Er bekam vieles nur so mit, als sei dies alles ein schrecklicher Albtraum, der niemals enden würde.
 

„Decken Sie ihn zu, oh mein Gott, und wir brauchen etwas zum zuhalten...“
 

„Er verblutet!“
 

„Halten Sie den Kopf gerade, er ist schwer verletzt...“
 

„Schnell, machen Sie Platz!“
 

„Was ist mit dem anderen Mann?“
 

„Der ist tot, sein Kopf ist zerquetscht worden, eine Gesichtshälfte ist komplett zertrümmert....“
 

Und mit einem Mal gab es einen ohrenbetäubenden, lauten Knall, und unglaubliche Hitze breitete sich mit einem Mal aus.
 

Der Wagen, brennend, zertrümmert.
 

James....
 

Paul spuckte Blut, röchelte, und stöhnte, schrie und versuchte, sich frei zu kämpfen. Doch es gelang ihm nicht mal, den Kopf zu heben. Er musste irgendwo auf einem Schoß liegen. Und plötzlich wurde alles weiß und hell; da waren andere Leute, er konnte auf einmal besser atmen, und etwas pikste ihn; danach wurde all der betäubende, lauernde Schmerz ganz weich, und zurück blieben nur die grausamen, verstörenden Bilder, die er gerade gesehen hatte, und die sich für immer in ihn einbrennen würden.
 

Da war eine Trage, Menschen in weiß, mit Taschen, und die rannten, und auf einmal wurde alles, alles schwarz, und die Welt war keine Welt mehr, und die Gefühle starben ab so wie der Schmerz, selbst die Bilder gingen weg....
 

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Mit einem qualvollen, lauten Schrei riss es Paul so heftig aus dem Schlaf, dass er fast aus dem Bett gefallen wäre.
 

Er war so verschwitzt, dass es ihm in den Augen brannte; er zitterte so heftig, dass er sich nicht einmal durch die Haare fahren konnte.
 

Das war es also.
 

Der Unfall, gepackt in einen grässlichen Albtraum. All die Bilder waren so tief in sein hinterstes Gedächtnis gepackt, dass sein Kopf sie anscheinend erst im Traum hervorholen konnte, als er in Sicherheit war; als der Körper wieder sicher war.
 

Er wusste nicht, wie lange er dort saß und sich die grausamen, unwirklichen, brutalen Bilder durch den Kopf laufen ließ, immer und immer wieder, seine Erinnerung an sein fast da gewesenes Sterben. Es tat so weh, alles wieder zu wissen, dass er spürte, wie ihm ein heißer Schwall voll dicker Tränen die Wangen hinablief und in sein Shirt sickerten. Dass der ältere Mann neben ihm den Knopf mit der Schwester gedrückt hatte und ihn verstört ansah, störte ihn nicht.
 

Alles, was er wusste, war, dass das Leben grausam war.
 

Dass es nahm und austeilte, wann es wollte. Ein Unfall, und dabei kam so etwas Erschütterndes zustande...
 

Eine Schwester kam sofort ins Zimmer gerannt, sie sah auf den ersten Blick, was mit Paul los war.
 

Er brachte es noch nicht über sein Herz, jemandem von dem Unfall zu erzählen, er weinte einfach nur, weinte bittere Tränen um James, um den Unfall, um alles. Und er war zu keinem Wort fähig, nahm von der Schwester nur die Pillen zur Beruhigung, weinte sich an ihrer Schulter aus, bis er zu müde und erschöpft war, um noch weiter Tränen zu vergießen. Er sackte in sein Kissen, als wäre er Marathon gelaufen; der Traum und das darin verarbeitete Trauma hatten ihn so sehr erschöpft, dass es an seiner ganzen, wiedererlangten Kraft genagt hatte.
 

Nun wusste er, wer gestorben war, wen er verloren hatte, wer sein Leben geben musste.
 

Und so waren die Schreie, von denen er gedacht hatte, dass sie ein sterbender Mensch ausgestoßen hätte, von ihm gewesen.
 

Von einer sterbenden Seele.

Counting down the days

Am nächsten Morgen fühlte sich sein Kopf an, als wäre er in der Nacht explodiert. Seine Glieder schmerzten, als sei die Unfallnacht noch einmal körperlich wiederholt worden; und zu allem Übel wurde er die schrecklichen, grausamen Bilder einfach nicht mehr los, sie schwirrten in seinem Kopf umher wie ein Gespenst um Mitternacht.
 

Vor allem der Aufprall hatte sich scharf in Paul's Gedächtnis gebrannt, ebenso der Anblick des toten James, der noch angeschnallt neben ihm gesessen hatte; der einen so fatalen Schädelbruch erlitten hatte, dass er binnen Millisekunden gestorben war, davon war Paul überzeugt.
 

Wenigstens hatte er keine Schmerzen gehabt; wahrscheinlich hatte er nicht einmal etwas von dem Unfall mitbekommen.
 

Doch sobald der erste Arzt in sein Zimmer kam, erzählte er ihm von dem Traum. Für die Ärzte war es natürlich ebenso schockierend, jedoch gingen sie weitaus gefasster mit dem Unfall um. Sie freuten sich darüber, dass Paul anscheinend wieder Bruchstücke seines Gedächtnisses wiedererlangte, und sei es „nur“ von dem Unfall.
 

Erstaunt waren sie lediglich über die Detailvielfalt von Paul's Erinnerungen an den Unfall; als sei es eine außergewöhnliche Sache.
 

„Es ist natürlich schon vorgekommen, dass Patienten sich an einen Unfall sehr genau erinnert haben, jedoch ist es sehr, sehr selten, Mister Walker. Wir müssen noch weitere Tests durchführen.“, hatte der Arzt gesagt, der Paul am Morgen direkt routinemäßig untersucht hatte.
 

Für Paul waren diese ärztlichen Zusagen nicht gerade vielversprechend, und sie trösteten ihn in keinster Weise. Die klinische Sterilität im Umgang mit Patienten war Paul eher gesagt ein Dorn im Auge.
 

Der Einzige, der ihm wirklich zuhörte, war sein Bruder Cody. Er kam gegen Mittag, als Paul gerade im Bett saß und sich an seinem Mittagessen gut tat. Er lächelte unheimlich breit, als er Paul sah, und nahm ihn fest in den Arm. Paul erwiderte die Umarmung und ließ Cody einen Moment lang nicht los.
 

Als würde Cody die innerliche Angst seinen Bruders aufsaugen, flüsterte er leise: „Was ist los, Paul? Ist etwas passiert?“
 

Paul schluckte; er überlegte einen Moment lang, ob er Cody von den Erinnerungen des Unfalls erzählen sollte. War er schon so weit? Doch dann platzte es einfach aus ihm heraus: „Ich weiß jetzt, wie der Unfall passiert ist. Ich hab davon geträumt und mich... in diesem Traum anscheinend daran erinnert....“
 

Cody stockte der Atem; er ließ sich auf den Stuhl sinken, der neben Paul's Bett stand, und starrte seinen großen Bruder mit weiten Augen an.
 

„Wirklich? Jetzt ohne....?“, sagte Cody wispernd, während er Paul so entsetzt fixierte, als hätte er ihm gerade gebeichtet, dass er ein Kannibale sei.
 

„Ja, wirklich. Es war... ich kann es nicht in Worte fassen. So grausam. Ich kann mich an die Fahrt davor erinnern, und an ihn, James... Das ist... Ich weiß nicht. Es ist, als wäre es Jahre her gewesen, und doch hab ich es noch nicht verarbeiten können. Ein dummer, kleiner Fehler, der James.. der James das Leben gekostet hat.“,versuchte mit möglichst neutraler Stimme zu erläutern; doch das Brennen in seinen Augen verriet ihn.
 

Cody rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; seine Hand hatte sich auf Paul's gelegt.
 

„Willst du darüber reden? Oder lieber noch nicht? Ich kann warten. Vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Ich kannte James ja auch über dich sehr gut... Du kannst immer mit mir reden,wann du willst, selbst in tiefster Nacht. Aber wenn du mir sagst, du kannst es noch nicht, dann lass es erst. Das ist okay.“, flüsterte Cody so beruhigend, dass Paul eine große Sorge vom Herzen schwand. Er wusste nicht, wie er es anstellte, doch Cody schaffte es, all seine Ängste zu nehmen, all seinen Frust, den er binnen dieser kurzen Tage im Krankenhaus erlebt hatte.
 

Ein toller, kleiner Bruder, das war er, und zum ersten Mal seit Tagen lächelte Paul wieder richtig.
 

„Danke, Cody. Aber du kannst mir dafür etwas erzählen. Nämlich wer ich bin.“
 

Cody biss sich einen Moment auf der Unterlippe herum, bevor er leise sagte: „Ich kann dir natürlich nicht alles erzählen, aber was für ein Mensch du bist, das kann ich. Deinen Job, deine Freunde... aber was du in letzten Wochen getan hast, das weiß ich nicht, ich war ja im Ausland...“
 

Paul begann zu lachen, während Cody ihn verwirrt anstarrte; „Hab ich etwas falsches gesagt?“, fügte er hinzu, während Paul sich kaum wieder einkriegte.
 

„Cody... du bist wirklich akribisch, das ist ja kaum zu fassen. Anscheinend warst du immer der Bruder mit mehr Köpfchen, denn immerhin liegst du hier jetzt nicht. Haben wir uns immer gut verstanden?“
 

„Ja, immer schon. Du warst immer mein großer Bruder; ich hab dich so sehr für alles bewundert. Als du Mom und Dad gesagt hast, du willst nicht aufs College gehen, du willst lieber etwas mit Autos machen. Als du dir dein Leben in der Autofirma aufgebaut hast, du hast das einfach so ohne Studium managen können.. Als du Penelope geheiratet hast... Alles. Du hast alles im Leben einfach mit einer unbeholfenen Art und Weise gemacht, die dabei so sympathisch war... Ich weiß nicht. Ein kluger Chaot, so hab ich dich immer gesehen, glaube ich.“
 

„Ein kluger Chaot?“, höhnte Paul; er streckte sich ein wenig und nahm sich etwas Wasser, während er Cody's Redefluss lauschte.
 

„Ja, genau so. Das beschreibt dich am besten. Die letzten Jahre hast du etwas mit den Autos übertrieben, aber sonst...“
 

„Inwiefern?“
 

Cody schwieg einen Moment; Paul ahnte, was das bedeutete. Er erinnerte sich an die kleinen Gesprächsfetzen, die er mit James hatte, bevor der grausame Unfall passiert war: irgendetwas Illegales war im Gange gewesen.

„Cody?“
 

„Du hast illegale Autorennen gefahren, manchmal mit fragwürdigen Menschen. Ich finde das okay, jedem das seine. Doch... wegen diesen Zwischenfällen, manchmal kleine Unfälle, haben wir uns immer schrecklich Sorgen um dich gemacht. Du warst manchmal nicht so einfach. Penelope hat mir viel erzählt...“
 

„Wie bin ich bitte an diese Rennen dran gekommen?“
 

„Ich weiß es nicht....“
 

Die Brüder schwiegen sich einen Moment an; Paul fixierte Cody, der seine Hände begutachtete. Er hatte das Gefühl, als hätte er seiner Familie immer Sorgen bereitet; und als „kluger Chaot“ war er sicher nicht einfach gewesen. Zum ersten Mal bereute Paul, dass er nicht in seinen eigenen Kopf gucken und nach den Erinnerungen sehen konnte, als er Cody's leicht bekümmertes Gesicht sah.
 

„Hey, Kleiner. Das wird wieder. Ich werde sicher nicht wieder derselbe Idiot. Ich hab daraus gelernt... anscheinend. Ich weiß ja nicht, wer ich war, aber in deinen Augen scheint es nicht jemand zu sein, der unbedingt immer das Richtige getan hat.“
 

Cody hob den Blick; als die eisblauen Augen seines Bruders ihn so strahlend ansahen, konnte er einfach nicht anders als zu lächeln.
 

„Ach, Paul. Du bist einfach immer der Beste für mich, egal, was war, was ist und was sein wird.“
 

Die beiden unterhielten sich noch lange, gingen sogar etwas spazieren, wenn auch schneckenlangsam, weil Paul mit seinen Krücken und seiner verrenkten Schulter nicht schnell voran kam; doch den Rollstuhl wollte er nicht mehr benutzen, auch wenn eine Schwester ihm schimpfend gesagt hatte, er solle sich gefälligst nicht wie ein Casanova aufspielen.
 

Penelope kam ihn ebenfalls besuchen, und Paul unterhielt sich diesmal sehr lange mit ihr, erst, als Cody noch da war, und dann, als Cody gegangen war; sie war froh, dass er wieder zu Kräften kam. Trotz ihrer Schönheit und seinem aufkommenden Interesse an seiner Frau, fand Paul nicht den richtigen Draht zu ihr.
 

Sie war attraktiv und schlank; sein Kopf, der außer dem Unfall immer noch keine Erinnerung hatte, konnte sie sich gut an seiner Seite vorstellen; vor allem aber im Bett. Paul wusste nicht genau, weshalb er sie gerade auf die Art und Weise betrachtete, doch irgendetwas sagte ihm, dass er früher nicht unschuldig war. Sicher, das Gespräch zwischen James und ihm hatte Bände gesprochen. Anscheinend war die Treue ihm nicht so wichtig... Doch da war etwas anderes.
 

Er konnte diese Gefühle einfach nicht einordnen.
 

Als sie sich abends wieder auf seinem Zimmer befanden, griff Penelope nach seiner Hand.
 

„Paul“, begann sie, während sie ihm über die Haut strich; das Streicheln hinterließ zum ersten Mal ein brennendes Verlangen in Paul. „Ich habe vorhin mit Cody und mit den Ärzten gesprochen. Wenn du willst, kannst du nach Hause kommen in den nächsten Tagen. Wir werden jeden Tag ins Krankenhaus fahren müssen, wegen der Reha und Untersuchungen, aber die Ärzte sind überzeugt, dass du zu Hause viel bessere Fortschritte mit deinem Kopf machen wirst, vor allem mit deinen Erinnerungen. Magst du... magst du es wohl tun?“
 

Ihre schönen Augen glitzerten vor Neugierde, und eine leichte Röte auf den Wangen verriet, dass sie innigst auf ein Ja hoffte.
 

Paul überlegte einen Moment; der graue Alltag im Krankenhaus gefiel ihm sowieso nicht, und nach einer Weile zog er sie mit einer gekonnten Bewegung, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, an sich heran; sie errötete noch heftiger, während sie seine Hand auf ihrem unteren Rücken spürte, während er ihrem Gesicht so nah war wie lange nicht mehr. Seine blauen Augen fixierten sie.
 

„Ich würde sehr gern mit nach Hause kommen. Es wird sicher helfen, davon bin ich überzeugt. Kannst du dich denn auch so gut um mich kümmern, wie die Schwestern es hier tun?“, hauchte er ihr entgegen, während er mit einer aufkommenden Freude sah, wie ihre Augen sich leicht weiteten; anscheinend hatte er diese kokette Ader an Gewitztheit schon immer besessen, dieses anregende Flirten.
 

„Natürlich kann ich das“, flüsterte sie; ihre Augen huschten über seine Lippen und wieder zurück; sie lächelte. „Sogar noch besser.“
 

Paul hob eine Augenbraue an; er zog sie noch näher an sich, und sie half ihm, indem sie sich sehr nah zu ihm aufs Bett setzte und über sein Gesicht strich. Seine Hände fuhren tiefer den Rücken hinab; eine Hand begann, die Rundung ihres Pos zu umfassen.
 

Sie erschauderte; und mit einer flinken Bewegung beugte sie sich zu ihm hinab, zog ihn leicht hoch und küsste ihn. Erst sanft, ganz vorsichtig, als wolle sie ihn nicht schockieren; doch dann fester, als sie spürte, dass Paul den Druck der Küsse willig erwiderte.
 

Für Paul war es nicht seine Frau, die er da küsste; es war eine Frau. Die intensiven Küsse, die süß schmeckten und ihn heiß machten auf mehr, auch wenn sein Körper geschunden war, ließen ihn an eine sehr gute Zeit denken, die kommen würde. Als er irgendwann sachte von ihr abließ, kicherte Penelope.
 

„Du küsst wie früher. Es ist wie ein Traum, Paul. Ich bin so froh, dass ich dich wieder habe. Ab jetzt lasse ich dich nie wieder gehen.“, flüsterte sie, während ihre Hände auf seiner Brust ruhten, vorsichtig und bedacht. „Ich werde alles mit dem Arzt abklären.“
 

„Mach das“, antwortete er, während er sich wieder genüsslich in das Kissen sinken ließ und ihr nachschaute, als sie das Zimmer verließ. Ihr Po war schön; er beglückwünschte sich in Gedanken selbst zu dieser Frau.
 

Auch wenn er keinerlei Gefühle außer Sympathie für sie aufbringen konnte.
 

Es war nicht diese innerliche Verbundenheit wie mit Cody; es war eher ein glücklicher Zufall, der einem Unfall hervorgeeilt war.
 

Er blieb noch einen Moment ruhig liegen; dann drehte er sich zur Seite, um einen Schluck Wasser einzugießen.

Und inmitten der Bewegung erstarrte er; denn dort auf dem Tisch stand etwas, das zuvor noch nicht dagewesen war.
 

Er hatte es in dem Gespräch und den Küssen nicht bemerkt, und Penelope anscheinend auch nicht. Dort stand ein kleines, mit einer roten Schleife umwickeltes Sportauto; ein kleines, süßes Modell, und dieses Modell stand auf einer Karte.
 

Das Modellauto war rot und sah aus wie ein Porsche.
 

Paul nahm das kleine Auto in seine Hände, ebenso die Karte, die darunter lag; sie war einfach und noch geschlossen. Er legte das rote Auto auf seinen Schoß und machte sich daran, die Karte zu öffnen.
 

Darin stand nicht viel; die Schrift war etwas unbeholfen, krakelig, aber irgendetwas ließ Paul's Nacken beim Anblick dieser Schrift neckend prickeln.
 


 

Ich hoffe, dir geht es bald wieder besser. Du fehlst mir

wie ein Bruder. Ich bin froh, dass du noch lebst.
 

Melde dich, sowie du Zeit hast.

Dom
 


 

Und unter diesem Namen stand eine Nummer.
 

Paul konnte sich das nicht erklären. Wer auch immer das gewesen war, er musste gewusst haben, dass Paul mit seiner Frau unterwegs gewesen war, denn sonst hätte dieser jemand bestimmt bis zu seiner Rückkehr gewartet.
 

Wer war Dom? Und warum schenkte er ihm dieses kleine Auto, dass ihn so sehr an den Unfallwagen erinnerte?
 

Das Kribbeln in seinem Nacken ließ nicht nach; auch nicht, als er sich wieder in das weiche Kissen drückte. Er hielt den kleinen Wagen lange in der Hand und starrte ihn an, wendete ihn im untergehenden Sonnenlicht und las die kleine Karte immer wieder und wieder durch.
 

Dass sein Kopf bei diesem Namen ein seltsames Kribbeln bereit hielt, fast wie bei Cody's ersten Treffen, ließ ihn daran denken, dass dieser Mensch, wer auch immer er war, ihm anscheinend etwas bedeutet hatte.
 

Doch inwiefern?
 

Dom.
 

Kein Nachname, kein voller Name, kein Alter. Nur eine gekritzelte Nummer.
 

Fast wie ein Geist, der nur eine Spur seines Dunstes zurückgelassen hatte, um den Menschen Angst einzujagen.

Fünf Tage später durfte Paul das Krankenhaus unter gewissen Auflagen verlassen. Die Auflagen bestanden darin, dass er jeden Tag mindestens einmal eine Untersuchung und die Reha vollziehen musste; wenn es ihm zu schlecht ging, um das Haus zu verlassen, würde ein Arzt ihn zu Hause aufsuchen. Und wenn er Erinnerungen zurück gewann oder sonstiges sich an seinem Körper oder Kopf veränderte, musste sofort das Krankenhaus aufgesucht werden.
 

Außerdem gab man ihm eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Schmerztabletten mit, ebenso Tabletten, die seinen Genesungsprozess unterstützten.
 

Als Paul zum ersten Mal mit seinen Krücken aus dem Krankenhaus gehumpelt kam und in den blendenden, warmen Sonnenschein trat, atmete er tief ein und wieder aus; die frische Luft tat ihm mehr als gut. Für einen Moment schloss er seine Augen und genoss die Wärme auf seiner Haut und das Gefühl, endlich wieder frei zu sein.
 

Penelope beobachtete ihn, das spürte er genau; als er genug von der Sonne hatte, wandte er sich ihr zu; sie hielt einen Autoschlüssel in der Hand und lächelte.
 

„Bist du sicher, dass du das schon kannst, Paul?“, sagte sie leise, doch er nickte nur.
 

„Natürlich, oder sehe ich irgendwie ängstlich aus?“ Er zwinkerte ihr zu, und sie gingen gemeinsam zu einem großen Geländewagen, in tiefschwarz, der unter der glänzenden Sonne stand. Das Geräusch des Aufschließens per Funk war wie Musik in Paul's Ohren; nachdem er sich mit größter Geduld gesetzt hatte, auf den Beifahrersitz, glitt seine Hand auf Penelope's Oberschenkel, ziemlich hoch oben.
 

Ihre Wangen erröteten heftig, und sie lächelte die ganze Fahrt über.
 

Paul sah aus dem Fenster, sah der untergehenden Sonne entgegen und dachte sich, dass ein Geländewagen garantiert nicht so schnell gegen einen Baum prallen konnte.
 

Das löste seine Angst.

Sunshine

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Dom

Er hielt seinen Blick stockend für ein paar Sekunden auf Pamela, bevor er diesen Stacy zuwandte und den beiden Frauen zunickte. Pamela lächelte ihn an; ihre haselnussbraunen Augen strahlten fröhlich mit.
 

Sie hatte dunkelblondes, fast karamellfarbenes Haar, das sich in langen Wellen ihren Rücken entlangschlängelte; ihre Nase war gerade und klein, eine typische Stupsnase. Trotz ihrer äußerst kleinen Statur war sie richtig schlank.
 

Auch sie schien Paul zu kennen; er, der sich trotz der Mühe an nichts erinnern konnte, setzte sich nach einer Weile zu den Frauen. Penelope lächelte ihn an.
 

„Wir wollten gleich eine Pizza bestellen. Habt ihr Lust?“, fragte sie, auch an Cody gewandt, der sich auf den Stuhl neben Pamela gesetzt hatte.
 

„Naja, Paul und ich hatten zwar gerade etwas, aber zu Essen sagen wir nie nein, stimmt's Paul?“, keckerte Cody amüsiert, während er die Füße auf den Tisch legen wollte; ein strenges „Wag' es Freundchen“ von Paul hielt ihn aber mit einer leicht enttäuschten Miene davon ab.
 

„Na dann, ich hole mal eben eine Karte!“
 

Paul lehnte sich zurück und verschränkte genüsslich die Arme hinter dem Kopf; Cody lachte.
 

„He, Bruderherz, wenn du so weiter isst wird es sicher auch mal bei dir die nächsten Wochen ansetzen! Obwohl ich es nicht fasse, dass du nach dem Unfall noch so eine gute Figur hast... Warum hab ich sowas nicht geerbt?“, sagte Cody, während er Paul's straffen und immer noch zweifellos trainierten Oberkörper anstarrte, der sich etwas abzeichnete, nun, da Paul sich etwas zurückgelehnt hatte.
 

„Das liegt daran, dass du einfach nicht der Erstgeborene bist, ha! Nee, im Ernst. Ich werde anfangen zu trainieren, sobald ich kann.“, antwortete Paul gelassen, nur unterbrochen von Penelope's Stimme, die wieder aus der Küche kam und eine Bestellkarte auf den Tisch legte.
 

„Hier, sucht euch etwas aus. Cody, du weißt doch, dass Paul schon immer so ein Glück mit seiner Figur hatte. Manche Menschen haben dieses gewisse Etwas einfach.“
 

„Tss“, war die leise Antwort, die Paul jedoch mit einem Zwinkern an seinen kleinen Bruder abtat.
 

An diesem Abend hatten sie sehr viel Spaß; zum ersten Mal fühlte sich Paul richtig geborgen, nicht mehr so fremd in dieser neuartigen Welt. Seine Familie um ihn zu haben half ihm unheimlich, auch wenn sich nach wie vor keine neuen Erinnerungen auftaten, außer jene, die er im Traum gehabt hatte.
 

Es war schon spät, als Stacy und Pamela sich verabschiedeten; Paul und Penelope standen noch an der Tür, als sie dabei zusahen, wie die beiden Frauen in das Auto stiegen und fröhlich winkten. Paul ertappte sich dabei, wie er Pamela beim Einsteigen in den Wagen auf den Po sah.
 

Es war nicht so, dass er sich schlecht fühlte; jedoch rief er sich schon in den Kopf, dass Pamela erst 18 war und trotz ihrer Attraktivität nichts in seinem Kopf zu suchen hatte. Als hätte Penelope die Gedanken lesen können, wandte sie sich Paul zu. Ihre warmen Arme schlossen sich um seine Mitte, während sie ihren Kopf gegen seine Brust drückte.
 

„Weißt du schon mehr als vorher? Oder ist da immer noch nichts? Manchmal kommt es mir so vor, als könntest du dich erinnern.. Du gehst damit erstaunlich leicht um, Paul.“, flüsterte sie, während sie leise seufzte, als Paul's Hände ihre Schultern umfassten.
 

„Naja, was bleibt mir denn anderes übrig? Ich habe da auch nichts von, wenn ich mich den ganzen Tag wegschließen würde... Oder? Ich weiß nicht, warum ich das so einfach wegstecke, aber im Moment tut es mir einfach gut.“
 

Er sah dem Wagen von Stacy nach, bis er um die Ecke gebogen war; erst dann löste er sich vorsichtig von Penelope, um ins Haus zu gehen, wo er mit Cody einen Abend vor der Videokonsole verbrachte.
 

Der nächste Tag brach mit einer guten Gelegenheit an: Paul war gerade aufgestanden und hatte sich in ein lockeres Outfit geworfen, da er hauptsächlich vorhatte, im Garten zu liegen, als Penelope ihm entgegenkam im Flur. Sie trug eine leicht Sommerjacke.
 

„Brauchst du noch etwas Bestimmtes vom Supermarkt? Ich gehe einkaufen. Ich denke, ich werde nicht länger als eine Stunde brauchen.“
 

„Nein, alles gut, Penelope. Ich brauch' nichts. Du sorgst schon für mich.“
 

Sie lächelte und nahm den Schlüssel des Wagens vom Schlüsselbrett im Flur; Paul wartete, bis er den Wagen die Einfahrt hinabfahren hörte bevor er sich so schnell er konnte in sein Büro aufmachte. Dort, in einer kleinen Kiste versteckt in einer hoffnungslos überladenen Schublade, hatte er Dom's Nummer verborgen.
 

Bevor er die Nummer mit dem Telefon wählte, das unweit auf dem Schreibtisch lag, hielt er inne.
 

Was sollte er sagen? Wer würde sich melden? Würde er sich erinnern? Was, wenn Cody Recht hatte und er es lieber lassen sollte? Cody's Worte kamen ihn in den Sinn. Eine Waffe hast du wegen ihm gekauft, hatte er damals mit größter Sorge gesagt.
 

Doch binnen Sekunden entschied sich Paul aufgrund seines Bauchgefühls für den Anruf bei Dom. Seine Finger zitterten leicht, als er die Zahlen in das Tastenfeld eingab; als er den Hörer an sein Ohr legte, tönte das Freizeichen so laut in seinen Ohren, dass es fast weh tat. Er war sich aber sicher, dass er sich das nur wegen seiner Aufregung einbildete.
 

Es dauerte keine zwei weiteren Sekunden, da meldete sich die tiefe, dunkle Stimme, die Paul schon einmal vernommen hatte; in seinem Traum. Die Stimme klang vorsichtig, fast tastend, als sie sagte: „Hallo?“
 

Paul zögerte einen Moment; er schluckte, doch bevor Dom am anderen Ende noch etwas sagen konnte, begann er vorsichtig:
 

„Dom? Hier ist... hier ist Paul. Ich … ich hab gedacht, ich melde mich mal bei dir, ich habe deine Nachricht im Krankenhaus erhalten... Ich.. kann mich nur nicht mehr so ganz genau daran erinnern, wer du bist...“
 

Ein Lachen ertönte am anderen Ende des Hörers, jedoch kein böses; es war ein erleichtertes Lachen, das Paul direkt die Angst zu nehmen schien. Gespannt presste er den Hörer mehr an sein Ohr.
 

„Paul, mein Gott, was bin ich froh, dass du dich doch bei mir meldest. Ich hatte für ein paar Tage schon ernsthafte Sorgen... Von deinem Zustand habe ich gehört, deswegen bin ich auch nicht persönlich vorbei gekommen, sondern habe einfach meine Nummer hinterlegt. Ich dachte, das wäre einfacher für dich, weil du dann entscheiden kannst, wann du bereit bist...“, sagte Dom mit einem fröhlichen Unterton. Trotz des bulligen Auftretens in seiner Erinnerung hatte Paul das Gefühl, dass Dom gar nicht so übel zu sein schien, wie seine Familie es ihm hatte weiß machen wollen.
 

„Ja, ich weiß auch nicht, inwieweit es jetzt.. schon soweit ist, aber... Man, es tut gut, dich zu hören. Ich hab zwar keine Ahnung, wer du bist, doch... Man, das ist so komisch.“, antwortete Paul, während er genau wusste, wie er sich fühlte: angenommen, bestätigt, wohl, freudig. Etwas Warmes schien seinen Körper zu fluten wie ein Damm, der gebrochen war. War Dom vielleicht wirklich der Schlüssel zu seiner Vergangenheit?
 

„Du glaubst gar nicht, wie gut es mir tut, dich endlich wieder zu hören. Letti und ich hatten tierische Angst um dich, wir dachten echt, wir würden dich verlieren...“
 

„Letti?“
 

„Ach, Paul, später. Die wirst noch früh genug kennen lernen. Denkst du, du wärst bereit, dich mal die Tage zu treffen?“
 

Paul überlegte. Da er morgen wieder ins Krankenhaus musste sowieso heute auch, würde er einfach... Ach, sein Bein. Mit dem gebrochenen Bein konnte er kein Auto fahren. Es sei denn, er wirkte Cody mit in den Plan ein.
 

„Hör mal, Dom, das wird schwierig, weil anscheinend meine Frau etwas gegen dich hat.. Und da mein Bein noch gebrochen ist, kann ich nicht alleine Auto fahren. Ich werde mich melden, aber ich denke, mit Cody's Hilfe...“
 

„Ja, das ist okay. Wenn du mit Cody sprichst, wird das wohl in Ordnung gehen. Finde ich übrigens astrein, dass er extra aus Schweden wiedergekommen ist...“
 

„Klar, was sollte er sonst tun?“
 

Die beiden Männer lachten.
 

„Also, ich melde mich nochmal bei dir. Die Tage, irgendwann. Und danke für den kleinen Flitzer.“, stieß Paul amüsiert aus, während er Dom dabei zuhörte, wie er sich bedankte, dass Paul überhaupt mit ihm sprach und sich gemeldet hatte. Sie verabschiedeten sich; als Paul den Hörer hinlegte und aufstehen wollte, fuhr er unweigerlich zusammen und wäre fast wieder umgekippt.
 

Cody stand mit verschränkten Armen in der Tür; wie lange er dort schon stand, konnte Paul nicht ausmachen, jedoch waren seine Augen leicht zusammen gepresst.
 

„Mensch, Cody, klopf' das nächste Mal an, ja?“, raunzte Paul, bevor er sich mit seinen Krücken abkämpfte und sich auf den Weg zum Türrahmen machte, in dem sein kleiner Bruder misstrauisch stand und ihn beäugte.
 

„Du willst dich also mit Dom treffen.“, herrschte er Paul an, der den Blick seines Bruders nur mäßig quittierte.
 

„Was ist dabei? Er ist ein Teil meines Lebens, und ich habe das Gefühl, es wird einiges besser mit meinen Erinnerungen, wenn ich ihn treffen werde. Du hast mir gar nichts zu verbieten.“, war Paul's eher weniger nette Antwort.
 

Cody seufzte.
 

„Ich will es dir ja nicht verbieten, ich habe nur Angst um dich. Ich will nicht, dass du wieder so wirst, wie du eine Zeit lang mal warst... Immer unterwegs, schnelle Autos, illegale Rennen, Schlägereien... Alkohol....“
 

Paul starrte seinen Bruder für einen Moment an; in den blauen Augen, die den seinen so ähnlich sahen, sah er wirklich nichts außer großer Sorge.
 

„Ach Cody, nur weil ich Dom treffe, wird es nicht wieder so werden. Ich will mich einzig und allein wieder erinnern und ein Stück meines Lebens zurück bekommen. Kannst du das nicht verstehen?“
 

„Doch... Es tut mir leid. Aber dennoch: du fährst mit mir dahin, und ich werde dabei sein. Okay? Zumindest das erste Mal.“
 

Paul grinste.
 

„Natürlich, wenn du willst, Kleiner... Sag mal, läuft da eigentlich was bei dir und Pamela? Ich hab da so Blicke gesehen...“, zwinkerte Paul, während er mit einem Lachen registrierte, dass Cody puterrot wurde.
 

„Nein, sie ist die Tochter von Mom's Freundin und sie ist mir zu jung. Sie ist erst 18, ich bin 24....“
 

„Eigentlich ganz okay, sollte man meinen...“ Paul wuschelte seinem kleinen Bruder durch die Haare, der zum ersten Mal ein ärgerliches Gesicht machte. Das amüsierte Paul so sehr, dass er noch lachte, als Penelope mit drei vollen Einkaufstüten wiederkam und auf das Lachen Paul's und den bösen Blick Cody's keine richtige Antwort bekam.
 

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Als Paul seine Hände hob, waren sie voller Blut. Es war dickflüssig und tropfte von den Fingerspitzen; seine Faust schmerzte. Im Hintergrund hörte er Gegröle. Der Mann, der zu seinen Füßen lag und sich nicht mehr rührte, hatte derart große Wunden im Gesicht, das Paul sich fragte, ob es nur seine reine Faust gewesen war.
 

Eine Hand umfasste seine Schulter; als er sich umdrehte, stand dort Dom, mit einer zerbrochenen Flasche in der Hand.

„Lass uns gehen, ehe die Bullen auftauchen.“, sagte er leise, und zog Paul zu sich hoch. Paul spürte einen dämmernden Schwindel in sich aufsteigen. Als er einen Schritt beiseite ging, weg von dem blutenden Mann, schwankte er.
 

Dom zog ihn weiter.
 

„Du bist betrunken, komm schon. Lass ihn, er wollte seine Freundin nur verteidigen und dir eine reinhauen, weil du sie gevögelt hast. Komm, Paul.“
 

„Niemand legt sich... mit mir an, scheiss egal, wer er meint z..zu sein.“, sagte Paul; der Nebel lichtete sich nach wie vor nicht. Er musste wirklich ziemlich betrunken sein.
 

Dom lachte nur und schob ihn in Richtung eines schönen, schwarzen Sportwagens, eher älterer Generation, dennoch wunderbar verarbeitet und wie getunt. Als Dom Paul ins Auto schob, die Tür schloss und auf der Fahrerseite selbst einstieg, grunzte Paul: „Du kannst doch nich mehr fahrn, Dommi.“
 

„Natürlich, ich hab immerhin nur ein paar Shots und ein Bier gehabt. Man, mach dich mal sauber, wenn du so nach Hause kommst bringt deine Frau dich um.“
 

Paul lachte in sich hinein, suchte aber wie befohlen nach einem Taschentuch. Er fand nur ein Handtuch unter Dom's Sitz, deswegen nahm er dieses an sich und fuhr sich damit durchs Gesicht und über die Hände, die immer noch klebrig waren von dem Blut des Mannes, den er gerade ohne zu zögern niedergeschlagen hatte.
 

„Trink Wasser, dann wirst du wieder klarer.“
 

Ohne zu antworten nahm Paul die Flasche entgegen, die Dom ihm reichte; als sie losfuhren und er einige Schlücke getrunken hatte, ging es ihm schon besser.
 

„Tut mir leid, aber er hat angefangen. Was kann ich dafür, dass seine Freundin mit mir schlafen wollte? Ich hab sie nicht gezwungen.“, sagte Paul, schon weniger lallend als zuvor, dennoch war ihm immer noch ordentlich schwindelig.
 

Dom starrte auf die Straße, die er befuhr. Er antwortete nicht direkt.
 

„Paul, ich mach dir nie Vorwürfe, das weißt du doch. Letzte Woche hab ich Unsinn gemacht, diese Woche warst du es. Tu' mir nur den Gefallen und verrate es Penelope nicht. Die wird mich sonst nie wieder sonntags zu euch einladen. Ich liebe ihren Braten.“
 

„Jaa, den kann sie ganz gut. Gehen wir noch weiter?“
 

„Nein, es dämmert schon. Ab ins Bett mit dir.“
 

„Oh mannn, Penelope bringt mich um. Guck dir mein Shirt an.“ Paul deutete auf sein blut- und ölverschmiertes T-Shirt, dass er heute Abend extra frisch angezogen hatte. Sie hatten eigentlich nur eine Runde fahren und anschließend feiern wollen. Aber das war wohl wieder eskaliert.
 

„Wenn du Glück hast, schläft sie.“, meinte Dom, während er in das Viertel einbog, in dem Paul sein Haus hatte. Angekommen, sahen sie sich einen Moment lang an; Paul lächelte, und Dom tat es ihm gleich.
 

„Weißt du, Dom, ich hoffe diese Tage werden niemals enden.“
 

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Als Paul seine Augen aufschlug, pochte sofort der drückende Schmerz im Kopf; und doch, er war sich sicher, dass dies eine der Erinnerungen sein musste, die er so schmerzlich vermisst hatte. Und endlich wusste er, wie Dom aussah: Dom sah aus wie zu Hause, wie Vergangenheit, wie Gegenwart, wie Zukunft.

When friendship turns to a bond

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Rückfall

Am nächsten Morgen spürte Paul warme Hände um seine Mitte. Er wusste nicht, wie spät es war; als er die Augen leicht öffnete, schien die Sonne jedoch noch nicht ganz aufgegangen zu sein. Er blickte nach unten; Penelope hatte sich eng an ihn gedrückt und atmete tief ein und aus an seiner Brust.
 

Paul streckte sich leicht, jedoch nicht zu doll, da er Penelope nicht wirklich wecken wollte. Doch es kam anders.
 

„Hey, guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“, surrte die leicht heisere Stimme von ihr an seinem Ohr, während sie ihm einen warmen Kuss auf die Wange gab.
 

„Naja, es geht, ziemlich... komisch geträumt. Ich weiß nicht mehr genau was. Kamen auf jeden Fall Waschmaschinen drin vor...“, murrte Paul, während er sich sachte die Augen rieb. Er war froh, dass die harte Erektion von letzter Nacht kaum mehr da war.
 

„Waschmaschinen? Ach du... Du träumst Sachen.“
 

Sie kicherte und drückte sich näher an ihn; ihr rechtes Bein glitt über seinen Unterkörper und verharrte dort. An der Art, wie sie atmete, erkannte Paul sofort was sie wollte.
 

„So, ich glaube, ich steh heute mal früher auf....“, versuchte er einzulenken und schob sie sachte weg; ganz so einfach war dies jedoch nicht.
 

„Paul, bleib' doch noch... das letzte Mal ist auch schon etwas her... Hast du keine Lust?“
 

Er erwiderte zwar ihr Lächeln und drückte ihr einen festen Kuss auf den Mund, jedoch stand er ohne ein weiteres Wort auf. Er brauchte sich nicht noch einmal umzudrehen, um mitzubekommen, wie enttäuscht ihre Miene war.
 

So langsam war er auch schneller mit seinen Krücken; duschen klappte nun ganz von alleine. Als er unter der kühlen, nassen Brause stand und sich die Haare wusch, fuhr ihm auf einmal wieder der Unfall in den Kopf, jäh und unberechnend.
 

Er sah vor seinem geistigen Auge den schwerst verletzten James; die klaffende Wunde am Kopf, das Stückchen Gehirn, die pochende Wunde. Er konnte seinen eigenen, markerschütternden Schrei hören, er roch das Feuer, die Karosserie, das knarzende Metall, das sich unter der Hitze ausweitete.
 

Seine Hände begannen zu zittern, und er keuchte leise. Obwohl er den Stuhl eigentlich nicht mehr brauchte, stand dieser immer noch im Bad, in der Dusche, und er war diesmal heilfroh darüber. Zitternd und bebend ließ er sich darauf nieder. Sein Kopf platzte vor Schmerz. Obwohl er sich die Schläfen massierte, wurde er die Schreie im Kopf nicht los.
 

„Ist alles gut?“
 

Eine männliche Stimme riss ihn aus den Gedanken; er zuckte so heftig zusammen, dass er fast vom Stuhl fiel. Als der durch das Glas der Dusche linste, sah er Cody, der mit einem besorgten Ausdruck im Türrahmen stand.
 

Paul antwortete nicht sofort. Er hatte sich wirklich erschrocken, doch vor seinem kleinen Bruder spürte er keine Scham. Er stellte sich wieder hin, während Cody nicht aus dem Rahmen wich.
 

„Es geht schon wieder.“
 

„Was war denn los?“
 

„Nur ein kleiner Rückfall, ich hab... ich hab die Bilder nochmal gesehen, die vom Unfall... War nicht so schön..“
 

Cody biss sich auf seiner Lippe herum, während Paul sich weiter abduschte und sich letztlich ein Handtuch nahm, das unweit der Dusche hing. Er band sich das Handtuch um die Hüften, fuhr sich durch die nassen Haare und stellte sich Cody gegenüber, der leicht errötete, weil er seinen Bruder lange so nicht gesehen hatte.
 

Paul bemerkte den Blick und grinste.
 

„Ja, und das ohne Training, da guckst du, Kleiner, was?“
 

Cody rümpfte die Nase, konnte seinen neidvollen Blick aber nicht abwenden.
 

„Das ist doch unfair“, murmelte er, während er Paul dabei beobachtete, wie er sich vor dem Spiegel zurechtmachte.
 

„Na, kein Neid hier! Wenn du in mein Alter kommst, hast du diesen wertvollen Walker-Gene genauso wie ich.“, schnarrte Paul, während er sein Kinn untersuchte und prüfte, ob es rasiert werden musste. Doch es war ein perfekter Drei-Tage-Bart.
 

„Was ging eigentlich noch zwischen dir und Pam gestern?“,fragte er Cody, während er sich seine Zahnpasta auf die Zahnbürste machte. Cody wurde noch roter im Gesicht; seine Augen wandten sich ab.
 

„Ach, nichts. Da läuft nichts und da wird auch nie was sein. Ich glaube, sie sieht mich nur als großen Bruder.. und dich als ihren liebsten Onkel. Dich hatte sie immer schon lieber als mich.“, antwortete Cody, während er an dem Türrahmenholz ein wenig herumspielte. Mit den Fingern riss er einen kleinen Span heraus.
 

„He, die Tür kann da nichts für, also nichts rausreißen. Ach, Kleiner, das wird schon. Mädels mit 18 sind schwierig.“
 

Paul kam sich schlecht vor; er sah Cody's betrübte Miene und dachte an seinen leicht perversen Traum von letzter Nacht; er und Pam. Dass Cody so für sie empfand, riss ein noch tieferes Loch in Paul's Herz. Er war froh, dass es nur ein Traum gewesen war.... Wie er sich es immer so schön einredete.
 

„Meinst du, es liegt am Alter? Ich denke eher, es liegt an mir...“
 

„Cody, verdammt! Du bist so ein hübscher, junger Mann, das Abbild von mir....“, er zwinkerte Cody scherzhaft zu; „es liegt nicht an dir. Lass sie einfach, sie rafft das wohl noch.“
 

Oder es liegt an mir, schoss es Paul für einen Moment durch den Kopf; er wandte sich jedoch schnell ab und beendete sein Zähneputzen.
 

Der Tag war angefüllt mit Krankenhausbesuchen, Tests und einem fröhlichen Essen mit der Familie. Als ein wenig Ruhe am späten Nachmittag eingekehrt war, legte Paul sich ein wenig mit einer gemütlichen Sonnenliege in die pralle Sonne, die nun mehr hoch am Himmel stand.
 

Er hatte sich eine kleine Auszeit gegönnt; Penelope und Cody hatte er gesagt, er brauche seine Ruhe. Denn so war es ja auch. Doch das er die Zeit auch für etwas anderes verwenden wollte, hatte er den beiden nicht gesagt. Er hatte sich ein kleines iPad mit nach draußen genommen, und sobald er Codys Lachen nicht mehr in der Nähe vernahm, schob er die Schutzhülle nach hinten und begann mit seiner Suche.
 

Er brauchte nicht lange, um einen Artikel über den Unfall zu finden; in den Lokalzeitungen war alles davon voll gewesen.
 

Er musste schlucken bei den Bildern und bei den Zeilen, es war seltsam, es so strukturiert zu lesen, während die persönliche Erfahrung einem ins Mark und Bein gegangen war; einem das Leben zerstört hatte.
 

Horror-Autounfall auf der Avenue 143
 

Am Mittwoch ereignete sich auf der Avenue 143 gegen 19 Uhr

ein schrecklicher Verkehrsunfall, bei dem ein Mann ums Leben

kam und ein weiterer schwer verletzt wurde.
 

Nach Angaben von Zeugen und Polizei war der schwarze Sport

wagen aufgrund eines schneidenden Motorrades und über-

höhter Geschwindigkeit ins Schleudern geraten und dann

gegen einen Laternenpfahl und einen Baum geprallt.
 

Der Wagen ging nur Sekunden nach dem Aufprall in Flammen

auf. Der Fahrer des Wagens erlag noch während des Unfalls

seinen schweren Verletzungen, während der Beifahrer, ein

37-jähriger Mann aus Georgeville, noch aus dem brennenden

Fahrzeug gerettet werden konnte. Passanten leisteten Erste

Hilfe, bis ein Krankenwagen kam und den Schwerverletzten

ins nächstgelegene Krankenhaus brachte.
 

Die Avenue 143 war für 3 Stunden voll gesperrt. Der Unfall

hatte einen Sachschaden in Höhe von über 300.000 Dollar

zur Folge.
 

Paul ließ das iPad vorsichtig sinken, während er sich die Bilder erneut in den Kopf rief. So sachlich es hier auch stand, die persönlichen Erfahrungen rissen ein tiefes Loch in sein Herz.
 

Was wäre, wenn er, Paul, gefahren wäre? Wäre er dann gestorben? Hätte er den folgenschweren Unfall verhindern können?
 

Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er sich nie nach Verwandten von James erkundigt hatte. Hatte er eine Frau gehabt? Kinder vielleicht? Paul war sich sicher, dass seine eigene Familie es ihm noch verschwieg, da sie dachten, er würde mit dieser Last noch nicht zurechtkommen.
 

Dass der Tod von James ihn einfach noch nicht so stark berührte, lag daran, dass er außer von dem Unfall einfach keine Erinnerung an diesen Menschen hatte. Es war anders als bei Cody und Dom, es war einfach nur wie eine Spazierfahrt zu einem grausamen Ereignis.
 

War er wohl schon beerdigt? Oder hatte die Behörde den Leichnam noch bergen müssen für eine anschließende Untersuchung? Bei den Verbrennungen schien es ihm unmöglich, dass noch ein Teil von James in den lodernden Flammen hätte überleben können... Hätte gefunden werden können...
 

Als Paul sich den Zeitungsabschnitt noch einmal durchlas, fiel ihm auf, dass er sich noch gar nicht erkundigt hatte, wer ihn gerettet hatte. Doch wie fand man so etwas heraus? Er beschloss, heute einmal bei der örtlichen Polizeibehörde vorbeizuschauen, eventuell konnten die ihm ja weiterhelfen.
 

„Cody!“, rief er, während er das iPad wieder zuklappte.
 

Cody brauchte nicht lange, bis er schlürfend und mit einem Trinkpäckchen in der Hand auf den Rasen gelaufen kam, während er leise summte.
 

Paul grinste leicht; er wartete, bis Cody sich neben ihn auf der breiten Liege niederließ und begann dann:
 

„Du musst mit mir heute zur Polizei gehen.“
 

„Was, wieso das denn?“
 

Paul seufzte; er hob eine Augenbraue an, während er Cody's blaue Augen fest fixierte.
 

„Weil ich einen Bankraub begangen hab, mein Gott, natürlich nicht. Weil ich gerne wissen möchte, wer mich aus dem brennenden Fahrzeug gezogen hat. Ich will mich bei diesen Leuten melden und mich bei ihnen bedanken.“
 

Cody wurde etwas blasser, als die Worte vom Unfall wieder fielen; jedoch nickte er zustimmend.
 

„Ja, denen möchte ich auch gerne danken, dass sie dich für mich gerettet haben. Ich hätte mir nicht vorstellen können, weiter zu leben, wenn du auch bei dem Unfall gestorben wärst...“
 

„Bin ich ja zum Glück nicht. Aber ich möchte mich auf jeden Fall bei diesen Leuten bedanken. Die haben mir das Leben gerettet. Was schenkt man da? Ich kann da ja nicht mit nichts auftauchen...“
 

„Deine Dankbarkeit und meine wird ihnen denke ich genug sein. Sie haben ein Leben gerettet – so etwas kann man nicht mit Geschenken wieder wettmachen.“
 

Paul nickte; wie recht sein kleiner Bruder da doch hatte.
 

„Zum Glück bist du der Schlauberger bei uns, ich wäre jetzt mit einer teuren Flasche Whiskey aufgetaucht und so einem.. keine Ahnung, Obstkorb?“
 

Cody musste lachen.
 

„Man kann das natürlich auch mitbringen, dein Dank wird genug sein, glaub mir.“
 

„Na dann, gehen wir?“
 

„Aber nur wenn du dir ein Shirt überziehst!“, murrte Cody, während Paul ihm nur durch die Haare wuschelte und ihm einen freundschaftlichen Stoß gab.
 

Sie brauchten nicht lange zur hiesigen Polizeiwache, da diese direkt um die Ecke lag. Als sie den Warteraum betraten und sich noch ein wenig setzen mussten, ließ Paul seinen Blick schweifen. Es war fast wie in Filmen; weiter hinten war ein geräumiges Büro, in dem viele Leute saßen und Schreibarbeiten verrichteten. Telefone klingelten unablässig, es war alles relativ wuselig.
 

Als sie eine Viertelstunde gewartet hatten, erschien eine junge Polizistin; sie hatte ihre langen, blonden Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine kurzärmelige Uniform. Sie trug nur eine Spur von dezentem Makeup, jedoch sah sie einfach umwerfend aus. Ob die Tatsache dazu beitrug, dass sie eine Uniform trug, war nicht ganz eindeutig; jedoch sahen Cody und Paul sie erst einmal eine Weile an, während die Polizistin mit einem Lächeln zu reden begann:
 

„Ah, Sie müssen Mister Walker sein, mein Kollege hat mich gerade informiert. Ich hoffe, es geht Ihnen schon besser?“
 

Paul nickte, während er ein blendendes Lächeln aufsetzte. „Ohja, es geht mir schon wieder etwas besser, aber ganz geheilt ist noch zu gut wie nichts.. Ich habe wahnsinnig Glück gehabt, dass ich da heile herausgekommen bin...“
 

Die Polizistin lächelte. „Ich war eine der ersten Polizisten vor Ort, als der Unfall geschehen ist; ich habe Sie noch kurz gesehen, als Sie auf dem Gras lagen. Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht. Und Sie möchten nun die ehrenwerten Erste-Hilfe- Leister kennenlernen?“
 

„Ja, genau. Es liegt mir doch wirklich am Herzen, dass ich ihnen für mein Leben danken kann.“
 

Cody lehnte sich leicht vor und starrte Paul mit einer hochgezogenen Augenbraue an, und Paul wusste genau, wieso: Er setzte seine charmante Ader ein, flirtete ein wenig mit der hübschen Polizistin, die diese Flirtereien anscheinend willig annahm. Ihre Augen blitzten, als sie mit Paul sprach.
 

„Oh, das ist wunderbar. Es gibt leider, leider nur sehr wenige die das tun. Ich werde Ihnen eben die Nummer geben, und die Adresse, warten Sie einen Moment.“
 

„Natürlich.“
 

Als die Polizistin sich kurz entfernte, schnaubte Cody.
 

„Paul, ist das dein Ernst? Du bist verheiratet, warum flirtest du...“
 

„Ach, also bitte, Cody, das ist nur ein Spiel. Ich mache doch gar nichts außer einer schönen Frau ein Lächeln zu schenken. Was ist daran bitte schlimm?“
 

„Es ist die Art und Weise, wie du sie anstarrst. Flirtest wohl öfters fremd, was?“
 

Paul lehnte sich zurück und stöhnte leise, während er Cody mit einem etwas abgesenkten Blick musterte.

„Keine Ahnung, weiß ich ja nicht mehr. Aber eigentlich nicht.“
 

Dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach, verriet er erst gar nicht. Wenn Cody schon bei kleineren Flirtereien aus der Haut fuhr, sollte er die ganzen Eskapaden gar nicht erst erwähnen.
 

Cody verschränkte die Arme vor der Brust, als die Polizistin auch schon wieder kam. Sie drückte Paul einen Zettel in die Hand.
 

„Hier, das sind die Adressdaten und die Telefonnummer Ihrer Retter. Es ist ein Ehepaar, sie waren als erstes an der Unfallstelle. Und unten steht noch einmal meine Nummer, falls Sie noch weitere Fragen haben. So etwas ergibt sich ja mal immer wieder nach so einem Unfall... eventuell, wenn Sie sich mal wegen der Schäden einen Anwalt nehmen.“ Ihre Stimme war weich.
 

Paul grinste und schenkte der Polizistin ein breites Lächeln.

„Ich danke Ihnen, ich werde mich auf jeden Fall noch einmal melden. Na, dann wollen wir mal.“
 

Sie gaben sich alle zum Abschied die Hände, und Paul, der sich nochmal leicht umdrehte, sah der Polizistin nach.
 

Jedoch spürte er zwei Sekunden später ein Klatschen im Nacken.
 

„Verdammt Paul, reiß dich mal zusammen! Geh ins Auto!“, zischte Cody Paul zu, der nur amüsiert lachte.
 

„Ach, Brüderchen, du musst noch so viel lernen...“
 

Sie setzten sich ins Auto, und Cody wirkte immer noch irritiert.
 

„Was ist denn jetzt noch?“, sagte Paul und schnallte sich an, während seine blauen Augen auf Cody verweilten.
 

„Wirst du sie anrufen?“
 

„Nein, natürlich nicht, aber das sagt man doch so..“
 

„Wehe, ich krieg das raus. Ich geh sofort zu Penny. Die reißt sich den Arsch für dich auf, und so solltest du ihr nicht danken....“
 

Paul verdrehte die Augen.
 

„Ist ja gut, fahr los.“
 

Paul hatte sich gedacht, dass er erst morgen bei dem Ehepaar vorbei fuhr, da ihn schon wieder leichte Schmerzen plagten. Er bat Cody, wieder nach Hause zu fahren, während er versuchte, den Schmerz konstant im Zaum zu halten.
 

Doch mit einem Mal wurden die Schmerzen so heftig, dass er sich regelrecht zusammenkrampfte. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er stieß ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. Seine Adern brannten, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen.
 

„Paul? Paul, was ist los? Oh mein Gott...“
 

Er spürte, wie Cody den Wagen kurz anhielt, um Paul zu helfen; als dieser jedoch begann, sich immer heftiger zu winden und zu wimmern, legte er den Gang ein und fuhr direkt Richtung Krankenhaus.
 

Paul bekam nicht mehr viel mit; er wusste noch, dass Cody versuchte, ihn aus dem Wagen zu bekommen, doch alleine schaffte er es nicht. Es waren einige Leute vom Krankenhauspersonal in der Nähe, die sofort mit einer Trage kamen.
 

Sie versuchten ihn zu fixieren, jedoch war das nicht so einfach.
 

Paul hatte einiges an Kraft, und diese Kraft schien sich nun in seinem gesamten Körper zu bündeln, während er zitterte, schrie und wimmerte.
 

Als sie die Tür zum Krankenhaus passierten, wurde ihm schwarz vor Augen, und die Welt um ihn herum wurde taub und dumpf und dunkel.

Gerüchte

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Die Männer in der Runde lachten, als Dom seine Geschichte über eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz erläutert hatte. Acht Männer saßen rund um einen Tisch; Zigarettenrauch vernebelte die Luft, und es standen hochprozentige Drinks auf dem Tisch. Karten wurden ausgeteilt.
 

Paul war einer dieser Männer in der Runde. Er leerte gerade ein Glas Whiskey auf Eis; als er schluckte, brannte das Getränk in seiner Kehle. Er spürte schon jetzt einen leichten Schwindel in sich aufsteigen; der Kopf duselte ihm. Jedoch hielt sich alles noch in Grenzen, wie er fand. Er traf den Blick von Dom; dieser lächelte und nickte Paul zu.
 

„Noch einen Drink, Paul?“, fragte er, doch ohne eine Antwort abzuwarten, goss er ihm ein. Paul verneinte jedoch nicht, sondern grinste nur.
 

„Ich habe vier Fünfer“, grunzte Lenny, ein düster aussehender Kerl mit schwarzem Haar und einer breiten Narbe im Gesicht. Paul kannte ihn noch nicht lange; doch das, was er von Dom gehört hatte, ließ ihn lieber auf Abstand gehen.
 

Zwei Männer stöhnten und schmissen ihre Karten auf den Tisch; Paul, der ein gutes Blatt besaß, schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich geh mit. Fünf Fünfer.“
 

Lenny lachte; er fixierte Paul aus seinem dunklen Augen, fast wie eine Beute. Paul jedoch das störte das nicht wirklich. Als er sich zurücklehnte, spürte er deutlich den Druck von dem Gegenstand, den er heute heimlich mitgebracht hatte, in seinem unteren Rücken, nahe des Gürtelrandes.
 

„Tommy, was meinst du? Ziehst du?“, raunte Paul, und der braunhaarige Mann mit Namen Tommy nickte. Tommy war groß und hager; doch auch aus der eher zwielichtigen Gegend.
 

„Sicher. Diesmal gewinnst du nicht, Paul. Du hattest ein gutes Blatt, mehr nicht.“
 

„Ach, Schnauze.“
 

Dom lachte; er goss den anderen Männern ebenfalls ein; bei Paul's Glas stoppte er. „Paul, trink aus. Ex oder Bulle.“
 

Paul schnaubte; er tat jedoch wie befohlen. Als es später wurde, dröhnte der Alkohol nicht nur Paul im Kopf herum. Die Gespräche wurden lauer, härter, illegaler. Paul bekam nicht unbedingt viel mit; er hatte sein Handy aus der Hosentasche gezogen und schaute seine Nachrichten nach. Eine sah er auf dem Bildschirm blinken.
 

Als er sie öffnete, lächelte er in sich hinein. Sie war von Pamela. Selbst in digitaler Form schienen die Worte schöner auszusehen wenn er sie las, wenn er sie aufnahm. „Gute Nacht, Paul, wir sehen uns am Donnerstag bei KFC“, stand darin.
 

„.... Und ich habe gehört, er soll seine Neffin ficken.“
 

Die Worte rissen Paul aus den Gedanken. Rasch ließ er sein Handy wieder in seine Tasche gleiten. Er sah sich verstört um; die Männer in der Runde lachten.
 

„Wer fickt seine Neffin?“, stieß Paul hervor; etwas brennendes breitete sich unter seiner Haut aus, er spürte es genau. Es wanderte von seinen Schläfen zu seinen Wangenknochen und ließ sich nicht wegreiben.
 

Tommy hob den Blick; er stieß den Rauch seiner Zigarette aus, während er Paul streng musterte. Es wurde stiller als zuvor.
 

„Wieso? Hast du gerade etwa geträumt, oder warum guckst du so blöd aus der Wäsche?“, gackerte Tommy.
 

Paul schnaubte erneut. „Nee, ich hab nur was nachgeschaut. Also, sag, wer fickt seine Neffin?“
 

„Sag ich dir nicht. Da hättest du schon zuhören müssen. Du wärst wahrscheinlich auch so ein Kandidat, der seine Neffin vögeln würde. Ohja. Du würdest sogar deine Neffin vögeln, wenn sie minderjährig wäre. So ein Typ bist du, Paul.“
 

Paul spürte eine heiße Welle der Wut in sich aufkochen; er starrte Tommy verständnislos und mit leicht zusammengepressten Augen an. Tommy erwiderte diesen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
 

„Tommy, halt die Klappe... Paul vögelt gern, aber keine Teenies.“, brummte Dom, bevor er einen Schluck Whiskey nahm. Paul ließ Tommy nicht aus den Augen.
 

„Sag das nochmal, du Bastard“, fauchte er ihm zu, während Tommy sich über den Tisch hinweg zu ihm herüber beugte.
 

„Ich sagte, du würdest sogar deine Neffin ficken, wenn sie noch minderjährig wäre, so ein Wichser bist du, Paul.“
 

„Paul....“, warnte Dom, doch Paul war bereits aufgestanden, mit einem lauten Rucken war der Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte, umgefallen; Tommy rührte keine Miene.
 

„Wag es noch einmal, du mieser kleiner....“, zischte Paul, während er seine Hände zu Fäusten ballte. Tommy stand ebenfalls auf, und mit ihm einige mehr der Männer. Dom knackte mit seinen Schultern.
 

„Was denn, Paul? Rastet du gerade etwa so aus, weil es die Wahrheit ist? Ich weiß genau, dass du sowas wie ne Neffin hast, die ist echt heiß, und die hängt doch so oft bei euch ab... Konntest sicher deine Scheiß Finger nicht von der Alten lassen, was?“
 

Tommy's Worte waren wie Gift für Paul's Herz und Seele, und es schmerzte. Mit jedem Zittern mehr in seinem Körper wurde ihm bewusst, dass Tommy der Wahrheit näher kam als ihm lieb war.
 

Dom sah zwischen den beiden aufgebrachten Männern hin und her. Die Stimmung kippte ins Bedrohliche.
 

„Wie redest du da über meine verdammte Familie, du Affe? Geht's dir noch gut??“,blaffte Paul, doch Tommy spuckte nur auf den Tisch.
 

„Bin doch nicht blöd, du Perverser“, raunte er.
 

Paul biss sich auf die Lippen; als Tommy den Blick immer noch nicht abwandte und nochmals auf den Tisch spuckte, riss ihm der Geduldsfaden.
 

Es dauerte keine zwei Sekunden, da riss er mit einer schnellen Bewegung eine Waffe aus seinem Gürtel, dort, wo er sie schon die ganze Zeit hatte sitzen lassen. Wildes Gebrüll begann den vernebelten Raum zu erfüllen. Dom riss Paul an der Schulter herum und schrie ihm ins Gesicht: „Gott verdammt, Paul, geht’s noch? Pack die Scheiß Waffe weg!“
 

Doch Paul hörte nicht. Er richtete die Waffe mit dem silbernen Lauf erneut auf Tommy, der nur bitter lachte.
 

„Du bist so arm, Paul, so arm. Was ist, willst du mich abknallen? Nur weil ich nen blöden Witz gerissen hab?“
 

Lenny warf Paul einen warnenden Blick zu; Paul ließ die Waffe etwas sinken.
 

„Halt meine Familie einfach raus, ja? Ich hab keinen Bock auf so ne Scheiße.“, murrte Paul. Seine Hände sanken noch ein Stück tiefer. Dom fasste Paul an der Schulter und zog ihn ein Stück zurück.
 

„Lass es, ist doch alles gut. Lass den Mistkerl reden.“
 

Es bedarf noch ein „Komm schon, Paul“ mehr, als Paul endlich die Waffe sinken ließ und sie wieder in seine Jeans steckte. Die Männer setzten sich erneut hin.
 

„Meine Fresse, mach nächste Mal nicht so einen Aufstand. Piss' dich nicht so an, war nur ein Joke.“
 

Die Karten wurden neu ausgeteilt, ebenso eine neue Runde kühlen Alkohols.
 

Zwei Stunden später schwankte Paul aus dem Hintereingang des düsteren Hauses; er ging durch den leicht verwitterten Garten seitlich hinaus bis zur Hauptstraße; die gelblichen Lampen flackerten ab und zu. Er musste sich gegen eine Laterne lehnen, da ihm der Rausch für einen kurzen Moment die Orientierung nahm.
 

Eine Minute später und ein paar tiefe Atemzüge weiter stieß er sich wieder von der Laterne ab. Plötzlich jedoch vernahm er ein Knacken hinter sich.
 

„Was zum....?“
 

Er wollte sich gerade umdrehen, da bekam er mit voller Wucht eine Glasflasche auf den Kopf geschlagen; die Flasche zersplitterte und schnitt ihm eine kleine Wunde in den seitlichen Hals.
 

Paul stöhnte laut auf; sein Kopf schien zu platzen, jedoch fiel er nicht direkt in Ohnmacht. Er hatte noch genug Kraft, sich umzudrehen, und sah eine Faust auf sein Gesicht zufliegen. Er wich leicht schwankend aus; doch das brachte nichts.
 

Nur eine Sekunde später traf ihn ein harter Schlag ins Gesicht, ließ seine Lippe aufplatzen. Er schmeckte Blut vermischt mit dem Scotch, den er vor einer halben Stunde noch getrunken hatte.
 

„Du denkst auch, du stehst über allem, oder??“, brüllte eine fürchterlich angespannte Stimme, und Paul wusste, dass es Tommy war.
 

Er sackte auf die Knie, als er einen weiteren Schlag gegen seine Schläfe spürte; sein Kopf dröhnte und er spürte, wie ihm ein glucksiges Lachen in der Kehle stecken blieb.
 

„Komm, schlag nochmal zu, Basstard, mach...“, spuckte Paul mit einer kleinen Menge Blut aus, die sich warm in seinem Mund gesammelt hatte.
 

Ein weiterer Schlag riss ihn endgültig aus dem Bewusstsein; die Welt wurde schwarz, und der Schmerz wurde ausgeblendet.
 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, lehnte er immer noch an der Laterne; es dämmerte schon, jedoch war die Sonne noch nicht ganz aufgegangen. Die Straßen waren noch leer.
 

Als er sich leicht bewegte, fühlte sein Kopf sich an, als würde er explodieren; er schmeckte saures Blut im Mund und spürte, dass einige Stellen in seinem Gesicht mit etwas Krustigem überzogen waren.
 

„Fuck...“, stieß er hervor, bevor er sich langsam aufrappelte und sich umsah. Niemand war da. Als er panisch seine Jeans durchsuchte, war noch alles da, alles, sogar die Waffe. Dass sie in seiner Ohnmacht und während den Schlägen nicht losgegangen war, grenzte an ein Wunder.
 

Als er eine Stunde später noch halb betrunken, blutverkrustet und erschöpft zu Hause ankam, betete er, dass Penelope schief und ihn nicht hören würde, wenn er sich das Blut der letzten Nacht wegwaschen würde.
 

Und er hatte gesagt, er wäre auf einer harmlosen Party gewesen...
 

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Licht.
 

Irgendwo her kam ein grelles Licht. Es tat ihm in den Augen weh; es stach und brannte fürchterlich im Kopf nach dem wirren Traum, den er gerade gehabt hatte.
 

Wo war er?
 

Er versuchte die Augen zu öffnen, doch er konnte nicht ganz. Die Lider flatterten nur kurz, und er stöhnte. Gott, irgendetwas tat schrecklich weh.
 

Sein Stöhnen schien anscheinend etwas in seiner Umgebung auszulösen; es war ein tiefes, fast melodisches Schluchzen.
 

„Paul....“, schluchzte der vermeintliche Mensch neben ihm; er spürte einen warmen, vertrauten Händedruck. Erst dann öffnete er langsam die Augen.
 

Neben ihm an einem weißen Krankenbett saß Cody, die Augen heftig gerötet und verweint. Er stieß einen kurzen Schrei aus, als Paul ihn ansah, und wie schon vor einer Woche warf er sich in die Arme seines verletzten Bruders, der immer noch nicht wusste, warum er wieder im Krankenhaus war.
 

„Gott, Paul, ich bin fast gestorben vor Angst... Mach' so etwas nie wieder! Bitte... Ich will dich nicht verlieren...“, schluchzte er in Paul's Schulter, der nur seine Arme matt um seinen kleinen Bruder schlang.
 

Cody's bebenden Körper so nah an seinem zu fühlen löste Schmerz in ihm aus. Was war passiert?
 

„Cody, was ist los? Wieso.. bin ich hier?“
 

Cody hob den Kopf nicht an; er weinte immer noch in Paul's Schulter. Seine Stimme hörte sich dadurch sehr gedämpft und hohl an, als er antwortete.
 

„Du hast im Wagen auf dem Rückweg auf einmal so eine Art Anfall bekommen. Du hast verkrampft und wie am Spieß geschrien. Ich habe gedacht, du stirbst gleich. Ich hab dich ins Krankenhaus gefahren... Irgendwann bist du einfach weg gewesen.“
 

„Hm“, machte Paul, weil er nicht wusste, was man darauf antworten konnte. Er begann damit, Cody beruhigend über den Rücken und die Schulterblätter zu streichen.
 

„Die Ärzte sagen, dein Gehirn hatte so etwas wie einen Schlaganfall. Irgendein Kurzschluss, ausgelöst durch das Trauma vom Unfall. Sie meinten, das kommt wohl öfter vor. Du wirst wohl Tabletten bekommen... Man, hatte ich eine Angst.“
 

Paul murrte ein leises „Shhh““, damit Cody sich wenigstens ein wenig wieder beruhigte. Dass er einen Teil seiner eher nicht so tollen Vergangenheit erlebt hatte, erzählte er Cody nicht. Da war sie nämlich gewesen, die Waffe, vor der Cody immer tierisch Angst gehabt hatte.
 

Das Schluchzen seines Bruders klang ganz langsam ab. Nur noch mechanisch ging der Körper den Bewegungen nach. Paul, der irgendwie schon immer wusste, dass sein Bruder unglaublich sensibel war und dies auch nie hatte verbergen können, lächelte leicht.
 

„Hee, Kleiner. Es ist alles wieder gut. Ich bin ja nicht verletzt oder so.“
 

Cody hob den Blick an; er verharrte auf Paul's Brust, obwohl seine Tränen langsam versiegten.
 

„Ich glaube, ich breche mein Studium ab. Ich hab so Angst, dass etwas passiert, wenn ich wieder in Schweden bin... und ich dann nicht da bin...“
 

„An sowas brauchst du nicht mal im Traum zu denken. Du machst dein verdammtes Studium zu Ende.“
 

„Nicht, wenn es so weitergeht! Du bist mein großer Bruder, denkst du, ich lass dich in dieser harten Zeit alleine?“
 

„Denkst du, ich lasse zu, dass du wegen mir deine guten Chancen auf die Zukunft verbaust?“
 

„Ich könnte an Autos schrauben wie du...“
 

Paul seufzte. Er drückte Cody eng an sich, so nah, dass er dessen Herzschlag deutlich an seiner eigenen Brust spürte. Einen Moment verharrte er so; er spürte, dass sein Bruder sich sichtlich lockerte und weniger heftig atmete. Nur Cody's Herz schlug schneller, ansonsten blieb er vollkommen ruhig.
 

„Du gehst den Weg, den du schon bestiegen hast, mein Kleiner. Keinen anderen.“
 

Zwei Herzschläge später drückte Paul Cody einen kurzen, aber festen Kuss auf die Stirn; dann löste sich Cody von ihm, und Paul spürte, dass seine Rippen dieses dankbar zur Kenntnis nahmen. Sie waren immerhin immer noch gebrochen.
 

Bevor Paul ein weiteres Wort verlieren konnte, ging mit einem lauten Ruck die Tür auf, und ein Arzt kam herein. Dass Paul wieder bei Bewusstsein war, nahm er nickend zur Kenntnis.
 

„Mister Walker, da haben Sie uns aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Sie hatten einen Schlag, ausgelöst durch die multiplen Traumata ihres Unfalls. Das Hämatom in Ihrem Kopf scheint einen Reflex ausgelöst zu haben, und das zentrale Nervensystem hat ein wenig verrückt gespielt. Das ist normal, jedoch behalten wir Sie für eine Nacht hier.“
 

„Kann ich nicht...?“, versuchte Paul einzulenken, jedoch unterbrach der Arzt ihn rasch.
 

„Nein, wir müssen Sie noch eine Nacht zur Beobachtung hier behalten. Ihre Frau ist auch auf dem Weg hierher.“
 

„Danke.“
 

Der Arzt sah noch einmal auf das Klemmbrett, das an Paul's Bettende hing, und schnipste kurz gegen den Tropfer, der an Paul's Venen angeschlossen war, bevor er sich wieder auf den Weg machte.
 

Paul lehnte sich zurück und stöhnte.
 

„Auch das noch... Sie wird sich wieder viel zu sehr einen Kopf machen.“
 

„Was auch kein Wunder ist...“, murmelte Cody, während sein Blick auf Paul ruhte.
 

Paul jedoch schoss nur durch den Kopf, dass sein Leben jetzt mit dem Leben, was er einst geführt hatte, nichts mehr zu tun hatte. Ihm dröhnte der Kopf.
 

Was war eigentlich noch Wirklichkeit, und was war Traum? Erinnerungen, Träume, Bilder, James' Kopf....
 

Pauls Kopf sank in das weiche Kissen; seine Augenlider wurden schwerer und sackten komplett zu. Sein Herz schlug sicher, jedoch verlangsamt.
 

James Wunden, der zerschmetterte Kopf, das Blut, das Stück Haut in dem Riss in der Windschutzscheibe... Der Geruch von verbranntem Fleisch... James Kopf...
 

„Paul....“, hörte er Cody von weit weg fragen, er spürte erneut eine Berührung an seinem Arm, einen festen Druck, den er nicht mehr erwiderte.
 

Was war wahr, was war falsch...
 

Es war ein Albtraum.
 

Wer war er wirklich?

Vergessene Verbote

„Was ist passiert?“
 

Paul nahm die Stimmen in seiner Nähe noch in einem leichten Nebel war. Obwohl er seine Sinne und seinen Körper wieder spürte, bewegte er sich noch nicht. Er wollte die besorgten Blicke und die Tränen noch nicht sehen, sie nicht trösten wollen, ihnen nicht erklären wollen, wie es ihm ging.
 

„Erst ist er im Auto kollabiert, dann, als er hier im Krankenhaus war, nachdem der Arzt dagewesen ist. Ich hab' den Arzt direkt zurückgeholt, und er hat ihm eine Spritze gegeben. Der Kreislauf ist wohl einfach weggesackt. Er hat so viel durchgemacht... Der Körper braucht einfach mal Ruhe.“
 

Er erkannte diese leichte, von tiefer Traurigkeit erfüllte Stimme sofort. Es war die von Cody. Ein Schluchzen folgte, und er hörte, wie sich die zwei Menschen im Raum umarmten.
 

„Er bleibt erst einmal hier, oder? Vielleicht hab ich ihn zu früh nach Hause gebeten...“, hörte er Penelope sagen, die Stimme ebenfalls brechend. Es tat ihm weh zu wissen, dass sie nur wegen ihm alle so dermaßen am Boden zerstört waren.
 

Cody schien sich zu lösen; Paul spürte, wie er seine Hand auf seinen Arm legte und die Haut leicht drückte. Er versuchte, seinem Körper zu befehlen, auf diese Berührung nicht zu reagieren.
 

„Ja, ich glaube schon, Penny. Er musste und muss noch so viel verarbeiten.. Wir können uns ja nicht einmal vorstellen, wie viel wirklich... Wir sollten ihm vielleicht einfach mehr Zeit geben.“, sagte Cody leise, während von Penelope nur ein weiterer Schluchzer kam.
 

„Wann wird er nur wieder normal werden? Er wirkt so abgespannt... Manchmal glaube ich, er will sich gar nicht...“
 

Cody's scharfe Stimme unterbrach Penelope; Paul spürte, wie sich Cody's Finger in seine Haut drückten.
 

„Wie kannst du so etwas sagen, Penny? Er hatte einen Autounfall! Er hat alles verloren! Wie würdest du dich fühlen, wenn du nach einem so grausamen Unfall alles aus deinem Leben verlierst? Dich nicht mehr erinnern kannst?“
 

Schritte ertönten, und nach ein paar Sekunden schlug eine Tür fest zu. Paul wusste, weshalb Penelope aus dem Raum gestürmt war.
 

Erst als er spürte, wie Cody den Griff wieder etwas lockerte, öffnete er seine Augen. Das Licht stach zum Glück nicht mehr so wie es das das letzte Mal getan hatte.
 

„Mein Gott, sie hat vielleicht Probleme...“, murrte Paul.
 

Cody fuhr herum und zuckte zusammen, als er seinen Bruder relativ munter dort liegen sah; er lächelte leicht und drückte Paul's Arm wieder etwas fester.
 

„Wie lange bist du schon wach?“, zeterte Cody, doch Paul grinste nur.
 

„Lang genug, um ihre Worte mitzubekommen. Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Es regt mich nur etwas auf, dass sie so redet. Sie hat doch keine Ahnung. Wahrscheinlich kann ich mich deshalb nicht an sie erinnern.“
 

„Kannst du dich gar nicht an sie erinnern?“, fragte Cody, während er sich auf den Stuhl neben Paul's Bett niederließ.
 

Paul zuckte mit den Schultern.
 

„Nein, nicht einmal etwas. Ich habe mittlerweile schon ein paar Erinnerungen wieder, doch sie war nie dabei.“, antwortete er, und er wusste genau, warum Cody unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
 

„Was hast du alles gesehen? Also.. an was hast du dich erinnert?“
 

„Ich... naja, eher so kleine Sachen. Und natürlich an den Unfall. Das, was vor dem Unfall im Wagen passiert ist... An dich habe ich mich erinnert, an Dom.. und an so kleine Sachen halt. Nichts besonderes. Aber Teile davon sind da.“
 

„Oh... Aber das ist doch gut. Mach dir keinen Kopf Paul, sie kriegt sich wohl wieder ein. Sie ist halt immer schon leicht reizbar gewesen...“
 

Die beiden lachten; Paul seufzte leise. Was war nur los mit ihm? Wollte er sein altes Leben gar nicht zurück? Bis auf seinen Bruder und Dom und den Frauen schien es ihn nicht zu interessieren. Weshalb verschwieg ihm sein Kopf nur noch so viel über Penelope?
 

Er schwieg einen Moment. Den Blick seines kleinen Bruders auf sich zu spüren störte ihn nicht, viel mehr hatte es eine beruhigende Wirkung.
 

„Warum war ich wieder weg?“, fragte er leise, während sein Blick auf den kleinen Tisch neben seinem Bett fiel. Seine Tablettendose war neu gefüllt worden.
 

„Dein Kreislauf war wohl ganz unten. Kein Wunder bei den ganzen Tabletten und dem Stress und... ach, du brauchst einmal so richtig Ruhe.“
 

„Dann lass uns ab in den Urlaub fahren.“
 

„Paul!“
 

„Was denn?“
 

„Nicht, solange nicht ein renomiertes Team von Ärzten mitfährt und dich die ganze Zeit im Auge behält.“
 

Paul lachte. „Ach, du bist viel zu besorgt, aber okay. Dann fahren wir mal in den Urlaub, sobald ich wieder richtig gehen kann und so weiter. Aber dann wirklich. Nur wir zwei. Okay?“
 

Cody nickte. „Dazu würde ich niemals nein sagen. Ich habe auch mit meinen Professoren telefoniert. Ich kann mein Studium ein Jahr aussetzen lassen, ohne dass dies Auswirkungen haben würde. Das ist das Tolle an Schweden, weißt du? Sie machen sich richtig Sorgen um einen.“
 

„Ein Jahr? Denkst du nicht, du verpasst was?“
 

„Nein. Und außerdem habe ich mit die besten Noten im ganzen Jahrgang. Und du bist es mir einfach wert. Du bist Familie. Und... achja... apropro Familie... Du solltest Mom und Dad mal wieder besuchen, wenn du wieder darfst. Sie halten sich so souverän zurück, aber ihnen brennt es natürlich unter den Nägeln dich auch mal wieder sehen zu dürfen.“
 

„Klar. Sobald ich hier wieder raus bin.“
 

Es dauerte nur ein paar Tage, da konnte Paul wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Man hatte ihm einige Tabletten mitgegeben; er hatte Infusionen erhalten und eine Vitaminkur, damit sein Kreislauf wieder in Schwung kam.
 

Paul hatte es doch tatsächlich geholfen; er fühlte sich besser als die vorherige Zeit nach dem Unfall. Er bekam doch tatsächlich wieder etwas Farbe und fühlte sich körperlich fitter. Seine Wunden waren gut verheilt; die gebrochenen Gliedmaßen brauchten noch ihre Zeit, jedoch verlief der Heilungsprozess sauber und ordentlich. Die Reha musste er zwar immer noch jeden Tag vollführen, jedoch fiel es ihm mit jedem Mal leichter.
 

Penelope war nicht da, nachdem Cody ihn zu Hause abgesetzt hatte und mit ihm das Haus betrat. Paul sah sich neugierig um.
 

„Wo ist sie?“, heischte er Cody an, der sich gerade etwas aus dem Kühlschrank nahm.
 

Cody antwortete nicht.
 

Paul stellte sich gegenüber von ihn und sah ihn unverwandt an. Als Cody's Wangen langsam erröteten, wusste er, dass er die Antwort bekommen würde.
 

„Sie ist für ein, zwei Wochen zu ihren Eltern gefahren. Du wirst sie zwar jeden Tag anrufen müssen, aber ich habe ihr gesagt, für dich ist es erstmal besser so. Ich fürchte, sie hasst mich jetzt.“, murrte Cody leise.
 

„Ach, wird sie nicht. Sie ist einfach nur eingeschnappt.“
 

„Sie wird mir nie wieder Pasta kochen.“
 

„Das kann ich ja jetzt machen.“
 

Cody lachte. „Du konntest noch nie kochen und wirst es auch nie können. Du hast es einmal probiert und dabei fast das Haus abgefackelt.“
 

Paul konnte es sich bildlich vorstellen und stimmte in Cody's Lachen ein.
 

Am Abend hatten es sich Cody und Paul zu zweit auf der großen Couch gemütlich gemacht; sie hatten sich Fast Food kommen lassen, tranken ein paar Bier und sahen sich Filme an. Paul hatte sich selten so geborgen gefühlt; es war, als wäre der Unfall nie passiert und als hätte er ein Leben lang mit Cody auf diese Art zusammen gelebt.
 

Er blieb auch noch dort sitzen, als Cody sich müde ins Bett machte; er drückte Paul einen Kuss auf die Stirn, und Paul, der sich gemütlich gegen die weichen Kissen gelegt hatte und halb zugedeckt war, sah noch zwei weitere Filme, ohne dass er sich auch nur ansatzweise schlecht fühlte.
 

Da war die Welt einmal in Ordnung.
 

Er spürte nicht, wie er in einen tiefen, glühenden Schlaf glitt.
 

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Es war ein schöner Abend gewesen. Sie hatten lange auf den beiden großen Couches der Walkers gesessen und gegessen, Filme gesehen und geredet: Paul, Stacy, Penelope, Pamela, ein Mann namens George und Jack, ein kleiner, freundlicher Junge, der wohl der kleine Bruder von Pamela und der Sohn von George und Stacy war.
 

„Wir werden uns dann mal auf ins Bett machen, Jack wird quengelig“, sagte George mit einem Lächeln auf dem Gesicht; Paul erwiderte es und nickte.
 

„Er ist ja auch den ganzen Tag auf Trab gewesen. Kein Wunder, dass er jetzt müde ist. Ihr habt aber alles soweit?“, fragte er, während er Stacy und George musterte; George trug Jack auf dem Arm.
 

„Ja, und nochmal danke, dass wir in euren Gästezimmern unterkommen. Es ist wirklich ärgerlich, dass der Wasserschaden bei uns noch nicht wieder behoben wurde...“, erwiderte George.
 

„Nun ja, du kennst das doch. Klempner halt. Nächstes Mal machen wir das. Fühlt euch ganz wie Hause, wisst ihr doch. Unser Haus ist euer Haus.“
 

„Pam, willst du noch nicht schlafen?“, wandte sich Stacy an ihre Tochter; Pamela schüttelte den Kopf. Sie saß mit angezogenen Beinen auf der beigen, rechten Couch und trug wie so oft ein Lächeln auf den Lippen.
 

„Nein, ich bleibe noch. Ich will nachher unbedingt den Horrorfilm...“, begann sie, doch Stacy unterbrach sie.
 

„Du willst doch nicht wirklich diesen Film ansehen? Wehe, du kannst die ganze Nacht lang nicht schlafen, Madame!“
 

Pamela verdrehte die Augen und stöhnte. „Moooom! Ich komm schon klar. Paul und Penny sind ja auch noch da. Der Grusel kommt wohl kaum durch den Fernseher.“
 

Paul lachte; Penny grinste ebenfalls und kicherte.
 

„Ist ja gut! Aber nicht zu lange. Gute Nacht ihr Lieben!“
 

„Gute Nacht!“
 

Paul, Penelope und Pamela blieben noch eine Weile sitzen; als das Programm den Horrorfilm ankündigte, stand Penelope auf und streckte sich.
 

„Tut mir leid, ihr Süßen, ich mach mich auch auf ins Bett. So etwas brauche ich mir nicht antun. Mach nicht zu lange, Pam!“, grinste sie und drückte und Paul einen Kuss auf den Mund.
 

Paul lächelte und klatschte ihr noch einmal liebevoll auf den Po; sie kicherte und verließ das Wohnzimmer. Paul konnte sie die Stufen aufsteigen hören.
 

Pamela streckte sich auf ihrer Couch aus; Paul lehnte sich zurück in seine. Einen Moment lang schwiegen sie, bis Pamela das Wort ergriff.
 

„Dass Mom sich immer so wegen der Filme anstellt... Kannst du das glauben? Ich bin immerhin 17. Manchmal denke ich, sie glaubt, ich wäre noch ein Kind...“
 

Paul grinste und verschränkte die Arme hinter seinem Nacken, während er Pamela einen interessierten und amüsierten Blick zuwarf.
 

„Naja, wahrscheinlich ist sie einfach nur selbst ein Angsthase. Zumal der Film glaube ich ab 16 ist... Mach dir keinen Kopf, Penny wäre genau so.“
 

Der Film begann; Pamela kicherte und blickte zu Paul.
 

„Warum habt ihr noch keine Kinder?“, fragte sie. Außer dem Licht des Fernsehers waren keine Lampen mehr an; in dem bläulichen Licht wirkte Pamelas Gestalt noch sanfter als sonst.
 

Paul stöhnte leicht; er streckte seine Beine ein wenig aus, bevor er antwortete: „Kein Bock darauf irgendwie... Ich will das noch nicht.“
 

„Penny schon.“
 

„Erzähl mir was neues.“, murrte Paul; er sah Pamela dabei zu, wie sie sich leise kichernd streckte.
 

Sie fing seinen Blick auf. „Zu dir passt das aber trotzdem. Du bist sehr fürsorglich... Wirst sicher mal ein guter Dad. Du bist immerhin auch ein toller Onkel in spe.“
 

„Onkel in spe, Pam, sag das nicht immer so... Ich fühl mich dann so alt.“
 

„Ohh, du Armer! Das tut mir aber leid... Nicht!“
 

„Du wirst auch immer frecher...“, grinste Paul, während er eines der weichen Kissen nach Pamela warf. Es traf sie an der Schulter; sie setzte sich auf und nahm das Kissen in die Hand, während sie ihre langes Haar nach hinten warf.
 

„Bei einer Kissenschlacht würdest du verlieren!“, kicherte sie; Paul hob die Augenbrauen an und musterte sie amüsiert. Sie biss sich auf die Lippen, bevor sie ihm das Kissen mit voller Wucht auf den Kopf schlug.
 

Paul ergriff ihre Hände, noch während sie mit dem Kissen nach ihm schlug; er umfasste ihre Handgelenke und zog sie näher zu sich. Sie rutschte fast zwischen die Lücke der beiden Sofas, konnte sich jedoch noch lachend halten – oder wurde viel mehr von Paul gehalten, der sich vernünftig aufgesetzt hatte und sie am Werfen des Kissens hinderte.
 

„Paul!“, lachte sie, während er sie zu sich auf die Couch zog; seine Hände umfassten ihre Rippenbögen. Er zögerte eine Sekunde und stieß aus: „Also, ergibst du dich oder willst du gnadenlos gekitzelt werden? Du weißt wie gut ich das kann!“
 

„Das traust du dich nicht!“, kicherte sie und versuchte sich zu befreien. Doch Paul ließ sie nicht; erbarmungslos begann er sie zu kitzeln und sah vergnügt dabei zu, wie sie sich vor Lachen wand und sich geschickt von ihm wegzudrücken versuchte.
 

So oft hatte er sie schon damit geärgert; und jedes Mal hatte er Spaß daran. Er ließ erst von ihr ab, als sie leicht nach Luft schnappte; sie verkroch sich auf die linke Seite der großen Couch, während Paul auf der rechten sitzen blieb. Sie grinsten sich an; Paul lehnte sich wieder zurück und zwinkerte ihr zu.
 

„Du bist so gemein, alter Mann...“
 

„Pam! 36 ist nicht alt...“
 

„Fast 19 Jahre älter als ich!“, stichelte sie und streckte ihre Beine aus. Ihr Fuß stupste gegen seinen Oberschenkel; Paul sah sie nur kurz an, bevor er seine Hand auf die zarte Kuhle ihrer Fesseln legte. Er wandte seinen Blick zu dem Fernseher und versuchte die aufsteigende Hitze zu ignorieren, die sich augenblicklich in ihm ausbreitete. Obwohl er sie schon so lange kannte und sich nie etwas bei irgendetwas gedacht hatte, sei es beim Ärgern oder sonst was, so war das hier irgendwie anders. Seine Finger strichen sachte über ihren Knöchel, und daran, dass sie ihren zierlichen Fuß nicht wegzog, merkte er, dass sie diese Berührung genoss.
 

Der Horrorfilm hatte schon begonnen. Paul starrte auf den flimmernden Bildschirm, als würde der Film ihn interessieren; er musste sich jedoch nur schleunigst ablenken, damit er nicht weiter seine innere aufsteigende Erregung spüren musste.
 

Seit wann war sie nur so hübsch geworden? Wann hatte er verlernt, sie mit dem freundschaftlichen Blick anzusehen und nicht so?
 

Pam schaute ebenfalls zum Fernseher für eine Weile; ihre Finger strichen durch ihre welligen, karamellfarbenen Haare. Als eine gruselige Stelle kam, schreckte sie zusammen; unweigerlich verkroch sie sich weiter in ihre Ecke. Paul konnte spüren, dass sie den Blick vom Fernseher abwandte und stattdessen ihn ansah; ihre braunen Augen musterten ihn regelrecht. Paul hob erneut eine Augenbraue an und sah zu ihr.
 

„Angst, Pam?“, neckte er, seine Finger von ihr ablassend. Pamela schüttelte den Kopf; sie starrte ihn immer noch an, erwiderte seinen eher amüsierten Blick ernst.
 

„Das mit dem Alter meinte ich vorhin nicht so. Du bist genau richtig und trotzdem ein sehr attraktiver Mann. Auch wenn ich dich immer scherzhaft Onkel nenne...“, flüsterte sie leise; Paul konnte eine leichte Röte auf ihren Wangen ausmachen.
 

Hatte er das gerade richtig verstanden? Sein Verstand arbeitete nur schwer. Er musste erst einmal realisieren, was sie da gerade gesagt hatte...
 

„Ach, Pam, schon okay. Weiß ich doch. Wenn du eine Schulter zum Anlehnen brauchst weil du Angst hast, bitte. Aber werd jetzt bloß nicht sentimental.“, antwortete er.
 

Ehe er sich versehen konnte, war sie auf seine Seite der Couch gerutscht und hatte sich an seine Schulter gelehnt. Ihr Haar duftete so gut, dass Paul für einen Moment schlucken musste. Ihre Hände umklammerten seinen Arm, der sich noch neben ihr befand; ihre braunen Augen wurden ganz groß, als sie ihn lächelnd ansah.
 

„Find ich super, dass du mich beschützen willst. Ich glaube nämlich, der Film ist doch nicht so ganz ohne...“, flüsterte sie und drückte sich gegen ihn. Paul befreite seinen Arm aus ihrer Klammer und legte ihn stattdessen über die Couchlehne, sodass sie sich ganz an seine Schulter drücken konnte. Sie hatten so schon öfters gesessen, jedoch waren sie dabei noch nie allein gewesen.
 

Und Paul konnte nicht verbergen, dass sich eine verstörende Spannung in ihm ausbreitete. Ihm war so heiß, dass er sich fragte, ob die Heizung an war, auch wenn sein Kopf genau wusste, dass die Hitze nicht von der Heizung kam.
 

Sie könnte deine Tochter sein, dachte er und zwang sich auf den Fernseher zu sehen, während sie an ihn gekuschelt dasselbe tat.
 

Er konnte die kribbelnde Spannung zwischen ihnen jedoch nicht ignorieren.
 

Pamela seufzte und drehte ihren Kopf so, dass sie den Fernseher komplett im Blick hatte; ihr Haaransatz war nur wenige Zentimeter von Pauls Kopf entfernt.
 

Er spürte, wie sich seine Nerven anspannten; sein Arm rutschte näher um sie. Als er ein kleines Lächeln auf ihren Lippen sah, konnte er nicht anders und küsste sie sanft auf ihren Hinterkopf; der Duft war betörend, unterdrückend, anziehend. Er atmete schwer aus, als er von ihr abließ. Zu viel des Guten, mahnte sein Kopf.
 

Es war Pamela, die ihren Kopf ihm wieder zuwandte und ihn musterte; ihr Blick strahlte etwas aus, dass Paul nicht in Worte fassen konnte. Sein Herzschlag beschleunigte sich so immens, dass ihm fast übel davon wurde.
 

„Pass bloß immer auf dich auf, Pam. Du bist ein wunderschönes Mädchen, lass dich bloß nie verletzten.“, sagte er leise und bedacht; er wusste nicht, woher die Worte kamen, sie waren einfach da.
 

„Werd' ich, solange du auf mich aufpasst...“, entgegnete sie leise; ihre Finger strichen über Paul's Arm. Er bekam sofort eine Gänsehaut an der Stelle.
 

„Natürlich, das weißt du doch...“, flüsterte er; sieh weg verdammt, mahnte sein Kopf erneut, doch er hörte nicht. Wie warm diese braunen Augen waren.
 

Er wusste nicht, wie es passierte. Er wusste nicht, ob er sich genähert hatte, oder ob sogar sie es gewesen war; er wusste es einfach nicht. Es war, als hätte sein Kopf auf einmal ausgesetzt. Wie ein Schlag.
 

Und wie ein Schlag fühlte es sich an, als er mit einem Mal spürte, wie sie sich vorsichtig küssten. Sein Herz sprang ihm fast aus der Brust, sein Kopf hämmerte, sein Blut pulsierte, als sich ihre Lippen sachte trafen, für einige Sekunden so verweilten und dann voneinander abließen.
 

Sie sahen sich an; Paul wusste nicht, wie ihm geschah, er wusste nur, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Er wollte sein Gesicht weiter von ihr weg drehen, doch ihre beiden Hände umfassten sein Gesicht und zogen es nahe an das ihre; sie stieß einen kurzen Seufzer aus, und dann küsste sie ihn erneut. Und wieder. Und wieder.
 

Sie könnte deine Tochter sein, schrie eine Stimme in seinem Kopf, doch er hörte nicht, nein. Seine Hände umfassten ihr schönes Gesicht und er küsste sie, erwiderte jeden Kuss, den sie ihm geschenkt hatte, küsste sie so intensiv, dass jede Ader in seinem Körper rebellierte.
 

Sie hörten nicht auf; die Küsse wurden nur intimer, hungriger, liebevoller. Ihre Lippen waren so weich und sanft, dass Paul sich nur zu gern an ihnen verging; ihr Atem ging genau wie seiner stoßweise, und es war das süßeste Gefühl, dass er jemals verspürt hatte.
 

Seine Hände umfassten ihre Hüften und zogen sie in seine Arme; sie legte ihre Hände an seinen Schultern ab und ließ keine Sekunde von ihm ab. Paul wurde schwindelig von dem Gefühl, welches sich wie ein Lauffeuer in ihm ausbreitete.
 

Sie könnte deine Tochter sein, verdammt!, murrte die Stimme in seinem Kopf, und er ließ eine Sekunde von ihr ab, wollte klar kommen, wollte sich wieder beruhigen.
 

„Nicht!“, hauchte Pamela, und ihre Hände umfassten seinen Nacken und zogen ihn in weitere, verbotene Küsse. Wie konnte er sich nur wehren, wenn er doch nicht wollte? Er wollte sich nicht wehren, obwohl er genau wusste, dass er es tun sollte. Doch es ging nicht. Seine Hände schienen ein Eigenleben zu führen; wie in einem Traum bekam er mit, dass sie sich weiterhin küssten, dass er sie irgendwann sanft auf das Sofa legte, sich über sie beugte, dass seine Hände ihren flachen und schönen Bauch entlang fuhren, während sie sich an seinem Shirt zu schaffen machte.
 

„Pam...Wir sollten nicht...“, stieß er zwischen zwei Küssen hervor, die ihn so heiß machten, dass er seine Erregung nicht länger verbergen konnte. Er wusste genau, dass er schon seit den ersten paar Küssen eine Erregung gehabt hatte, und sie schien es genau zu wissen.
 

„Ich weiß.“, stieß sie hervor, und das war genau das, wovor Paul sich gefürchtet hatte; dass sie ihn genau so wollte wie er sie. Denn jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
 

Alles ging so schnell; er zitterte so stark, dass er ihren BH erst gar nicht öffnete; die üblichen Klamotten fielen schneller als es ihm lieb war. Sie war wunderschön und so reif, dass Paul sein Fehler nicht einmal in den Kopf stieg. Sie mussten leise sein, doch das hinderte sie nicht.
 

Sie beugte sich ihm entgegen und küsste ihn so intensiv, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb; keine Kleider stellten mehr eine Bedrohung dar, da war nur ihr nackter Körper und seiner, und ihre beiden Gelüste, die sie gegenseitig auffraßen.
 

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Verschwitzt und vor Erregung pochend schreckte Paul vom Sofa auf; der Fernseher lief noch, und verwirrt sah er sich um; doch niemand war da.
 

Er hatte geträumt... und sich erinnert. Es ließ sich nicht mehr leugnen, nichts ließ sich mehr leugnen.
 

Was war er nur für ein Mensch? Also waren all die anderen Träume auch wahr, all die Erinnerungen, die Bilder, seine Gefühle für dieses wunderschöne Mädchen. Alles war die bittere und unmissverständliche Wahrheit.
 

Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sein Herz schlug so heftig gegen seinen Brustkorb, dass es weh tat.
 

Du Idiot, du unglaublicher Idiot, dachte er und starrte auf den Boden. Er liebte eine vollkommen verbotene Frau, und er hatte sie sich schon zu Eigen gemacht, als sie eigentlich körperlich verboten war.
 

Sein Verstand glich einer zerbrochenen Vase.
 

Was war er nur für ein Mensch? Sicher fand Liebe meist seine eigenen Wege, doch... wieso er?
 

Hatte er all die Sprüche mit den Frauen nach der Zeit mit Pamela nur erfunden? Er erinnerte sich an den Unfall... hatte er nur so geredet, um seine wahre Affäre zu verbergen? Hatte nach außen immer noch den Macho gegeben, obwohl er dies nicht mehr war?
 

Er biss sich so fest auf die Lippen, dass es fast anfing zu bluten und raufte sich durch die Haare.
 

Pamela.

Forbidden Choices

Auch am nächsten Morgen kam er auf die Tatsache, dass er schon lange etwas mit Pamela vor dem Unfall gehabt hatte und sie unmissverständlich liebte, nicht klar.
 

Er hatte nach der Erinnerung nicht mehr einschlafen können; er war pochend und Haare raufend in die Küche gestapft, hatte sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Scotch genommen, sich an den Küchentisch gesetzt und ein Glas nach dem anderen getrunken, während seine Gedanken rasten wie eine Lawine.
 

Sein Herzschlag beruhigte sich auch nach dem dritten Glas nicht; als er auf die Uhr schaute, war es sechs Uhr morgens. Was hatte er nur getan? Die Tochter einer guten Freundin verführt, die zu dem Zeitpunkt keine 18 war... Was war nur kaputt bei ihm? Wusste Pamela noch mehr über ihre gemeinsame Sache?
 

Er musste es herausfinden, um die äußerst erregenden Bilder wenigstens für einen Teil zu vergessen. Doch es waren einfach zu viele Beweise darin für seine verbotene Liebe. Erinnerungen waren Erinnerungen, doch das lockerte die Angelegenheit nicht im Geringsten.
 

Es war sieben Uhr morgens, als Cody in die Küche kam und Paul nach wie vor sitzend an dem Küchentisch fand, die halbleere Flasche Scotch vor sich und düster vor sich hinstarrend. Cody räusperte sich leicht, doch Paul nickte nur, um anzudeuten, dass er registriert hatte, dass Cody da war.
 

„Ist alles gut bei dir, Paul? Warum trinkst du? Schon mal auf die Uhr geguckt?“, sagte Cody leicht abgespannt, während er sich auf den gegenüberliegenden Stuhl setzte und Paul mit besorgter Miene musterte.
 

Paul nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas und seufzte schwer. Er sah Cody nicht an, während er in seinem Kopf nach den richtigen Worten suchte, aber keine fand.
 

Nicht ein Wort passte.
 

„Hast du... schon mal jemals in deinem Leben einen Fehler begangen, von dem du weißt, dass er einfach nicht wieder gut zu machen ist? Einen Fehler, der so... fatal und... dumm... und falsch ist, dass du genau weißt, dass du... damit niemals mehr ein normales Leben führen könntest?“
 

Paul's Worte schienen in der Küche widerzuhallen, und für einen Moment entstand vollkommende Stille. Nur das Ticken der großen Uhr war zu hören.
 

Cody setzte zu einer Antwort an, doch Paul unterbrach ihn.
 

„Und dieser Fehler basierte nur aus reiner Liebe? Du weißt genau, du liebst, es ist Liebe, aber dieser Fehler ist einfach... wie ein Glashaus, in dem man mit Steinen wirft, und es zerbricht, sobald auch nur ein Wort nach draußen gelangt...“, murrte er, während er seine Lippen erneut an das Glas ansetzte.
 

Cody's Stimme klang traurig, als er endlich antwortete.
 

„Nein, ich kenne das nicht. Paul, was ist los? Gestern war noch alles klar, hast du wieder....?“
 

„Ja.“
 

„Und du meinst, dass diese Erinnerung ein... Fehler war? Was war es denn?“
 

„Das kann ich dir nicht sagen, noch nicht. Ich muss... ach, verdammt. Mir geht es einfach nur dreckig.“
 

Cody's Hände langten über den Tisch und strichen über Pauls; Paul setzte ein trauriges Lächeln auf.
 

Cody grinste. „Gieß mir auch was ein, ein Glas nur, und dann machen wir uns nen coolen Tag im Garten, okay?“
 

Paul lachte. Sie stießen an, tranken ihre Gläser in einigen schnellen Zügen leer und machten sich ein ausgiebiges Frühstück.
 

Die Sonne stand prall am Himmel an diesem Nachmittag, und Cody und Paul hatten sich in den Garten verzogen; sie trugen beide Badeshorts, der Grill war an und sie tranken Bier. Der Pool war schon benutzt worden; Paul, der sich wenigstens ein bisschen wieder hatte ablenken lassen, genoss die freie und unbeschwerte mit seinem kleinen Bruder sehr.
 

„Wann sind die Rippen endlich fertig?“, rief Cody Paul zu; er hatte sich in den Pool verzogen, während Paul mit einer Flasche Bier am Grill stand und die Spareribs drehte und wendete.
 

„Halt die Klappe, wenn du mal grillen könntest würde es niemals so lecker werden! Sowas braucht verdammte Zeit, du Bengel!“, entgegnete Paul lachend, während Cody den armseligen Versuch unternahm, ihn mit Wasser zu bespritzen, doch der Grill stand zu weit weg.
 

„Sei froh, dass ich soweit weg bin!“
 

Paul lachte und nahm einen Schluck Bier; geschickt wendete er zwei Rippchen. Der Duft war köstlich und ihm knurrte schon jetzt der Magen vor Sehnsucht nach diesen Köstlichkeiten.
 

„Oh, hi, Pam!“, hörte er Cody's Stimme rufen; sein Herz sackte ihm mit einem Mal in die Hose. Das konnte nicht wahr sein. Nicht heute, nicht jetzt, nicht hier. Er wagte es nicht, sich umzudrehen; doch anhand des Kribbelns in seinem Nacken wusste er, dass er gerade nicht träumte. Vor allem nicht, als die zarte Stimme, die Paul's Herz höher schlagen ließ, antwortete.
 

„Hey, Cody! Wie ich sehe, genießt ihr eure freie Zeit?“, rief Pamela und lachte; Paul starrte angestrengt auf den Grill, doch das brachte nur kurze Zeit etwas; er spürte, wie sich Pamela's kleine, zierliche Gestalt direkt ihm zuwandte.
 

Sie stand unmitttelbar vor ihm; sie trug helle Jeansshorts, Sneakers und ein weißes, enges Top, in dem sie einfach nur verführerisch aussah. Paul ließ seine Augen nur langsam an ihrem Körper hochgleiten zu ihrem hübschen Gesicht; ihre Locken waren zu einem lässigen Zopf gebunden und als er endlich mit seinen blauen Augen an den ihren angelangt war, lächelte sie. Doch ihre Augen strahlten etwas anderes aus.
 

Er musste für einen Moment an die Szenerie vor einer Woche in der Küche denken, als sie ihn innig umarmt hatte und er noch nicht gewusst hatte, was da genau eigentlich Hintergrund gewesen war.
 

Er sah sie an, ebenso wie sie ihn; für einen Moment schwiegen sie, dann ergriff Pamela das Wort. Ihre Lippen zeigten ihr übliches Lächeln.
 

„Hey, wie geht’s dir? Ich wollte einfach mal nach dir sehen, ich habe von Penny erfahren, dass sie für ein oder zwei Wochen ausgezogen ist, und ich hab mir... ich hab mir Sorgen gemacht, dass ihr...“; sie brach ihre Worte ab; sie biss sich auf ihre Unterlippe, während Paul sein Bier wegstellte und sie musterte.
 

Dass sein Herz ihm bis zum Hals schlug ließ er sich nicht anmerken; dass er genau wusste nun, weshalb er empfand, wie er empfand, versuchte er unter einer gleichgültigen Maske zu verstecken.
 

„Nein, es ist alles gut bei uns, die... die ganze Sache mit dem Unfall war einfach zu viel für sie und... ich brauchte etwas Abstand. Also haben wir beschlossen, dass Cody auf mich aufpasst und wir es... es so versuchen.“, sagte er leise, während er die Grillzange weglegte.
 

Gott, wie schön sie war. Sie nickte, als sie seine Worte vernahm; für einen Moment strich sie eine Strähne, die sich aus dem Zopf gelöst hatte, hinter ihr Ohr und sah sich kurz um; als sie sicher war, dass Cody noch außer Hörweite war, lehnte sie sich etwas näher ihm entgegen.
 

Paul atmete tief ein; er betete, dass er sich jetzt nicht verriet. Ihm wurde schwindelig von der Nähe.
 

„Paul, ich wollte mit dir reden, also...“, begann sie, doch sie wurde unterbrochen; Cody kam nass auf beide zugelaufen und grinste über das ganze Gesicht.
 

„Na, ihr beiden? Geheimes Tratschen? Pam, willst du nicht mitessen? Wir haben eh viel zu viel Fleisch gemacht.“
 

Pamela lachte. „Ja, na klar, Mom und Dad sind eh nicht zu Hause und ich hatte eh vorgehabt, länger bei euch zu bleiben. Wenn Paul nichts dagegen hat...“
 

Sie wandte den Blick ihm zu, und bevor Paul antworten konnte, unterbrach Cody ihn.
 

„Na klar, Paul wäre der letzte, der etwas gegen seine Nichte in spe sagen würde. Komm, wir decken den Tisch!“
 

Paul biss sich auf die Lippen, als er den beiden dabei zusah, wie sie ins Haus liefen und Geschirr für das Essen holten; sein Herz beruhigte sich kein Stück. Nur der Schwindel war wieder gegangen.
 

Sie aßen fröhlich und gut gelaunt, zumindest tat Paul sein Bestes, nach außen so zu wirken; es war, als wäre nie ein Unfall oder sonstiges passiert. Und noch etwas merkte Paul: in ihrer Nähe, in Pamela's, ging es ihm besser.
 

Als wäre der Schmerz einfach durch ihr Lachen aufgesogen.
 

Sie tranken noch ein, zwei Bier; als Cody vorschlug, dass sie sich doch alle nochmal in den Pool verziehen sollten (Paul wurde ganz nervös bei dem Gedanken, Pamela in Bikini zu sehen); doch Pamela schüttelte den Kopf, während sie ihren letzten Schluck Bier trank.
 

„Eigentlich gerne, aber ich bin hier, weil ich noch mit Paul sprechen muss. Es geht um so eine Sache in der Schule, und ich brauche da echt Hilfe.... Falls du eben fünf Minuten hast?“, fragte sie, und drehte ihren Kopf Paul zu, der so erschrak, dass er sich glatt verschluckte.
 

„Ich? Bei.. Schulsachen?“, erwiderte er verwirrt, und Cody lachte.
 

„Vielleicht kann ich dir helfen, Paul ist schon etwas länger aus der Schule raus...“, warf Cody ein, doch Pamela schüttelte den Kopf.
 

„Ist lieb von dir, aber das geht wirklich nur mit Paul.“
 

„Klar, kein Ding. Ich gönn mir noch ein paar Rippchen.“, grinste Cody.
 

Paul hustete noch einmal von seinem Verschlucken, bevor er Pamela ansah.
 

„Also, worum geht es?“, sagte er, doch Pamela stand auf.
 

„Lass uns dafür bitte kurz ins Haus gehen, ich hab da meine Tasche abgelegt...“, erwiderte sie und warf ihm einen Blick zu, bei dem Paul wusste, dass er jetzt besser nichts dagegen sagen sollte.
 

Also stand er ebenfalls und folgte ihr durch die große Glasschiebetür ins Haus hinein. Sie ging ins Wohnzimmer. Paul schloss die Tür hinter ihnen und folgte ihr. Er war froh, dass aufgrund der Sonne die Rollläden hinuntergelassen waren, um das Haus kühl zu halten; so hatte Cody keine Möglichkeit, ins Haus zu sehen.
 

Er setzte sich neben sie auf die Couch, auf die große, beige, zu der er eine ganz besondere Erinnerung im Kopf trug, die er nun siedend heiß zu verbergen versuchte. Sie schwiegen einen Moment, bis Paul das Wort ergriff, während er sie musterte.
 

„Also, um was geht es?“, sagte er, bemüht um einen lockeren Ton. Doch so ganz gelang es ihm nicht.
 

Sie schaute auf ihre Finger, als wüsste sie nicht, wo sie anfangen solle. Sie brauchte einen Moment, bis sie antwortete.
 

„Paul, ich... ich weiß nicht, inwieweit... nein.. Ich weiß, dass die letzte Zeit hart war und ich weiß, dass deine Erinnerungen noch nicht wieder da sind, aber... ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich...“; fing sie an, doch ihre Stimme brach.
 

Paul, der sich auf der Couch zurück gelehnt hatte, wusste nicht, wohin mit seinen Gefühlen; versuchte sie ihm gerade das zu sagen, von dem er doch im Herzen gehofft hatte, seitdem ihm klar geworden war, was da gewesen war?
 

„Dass du was, Pam? Ist alles okay...?“, sagte er leise, doch sie schüttelte den Kopf. Anhand daran, dass sie zur Decke blickte, sah er, dass sie versuchte, sich ihre Tränen zurück zu halten.
 

„Paul, ich weiß... ich kann nicht...“, begann sie, doch Paul ließ ein leises „Shhht!“ erklingen und zog sie an sich heran. Er wusste nicht, ob es richtig war, ob sie überhaupt das meinte, wonach sein Herz schrie, doch er tat es einfach.
 

Seine Arme umschlangen sie fest, und ihr zierlicher Körper barg sich an seiner Brust. Sie begann schüttelnd zu schluchzen und drückte sich fest an ihn. Paul konnte ihren Herzschlag an seiner Brust spüren, spürte die Tränen seinen immer noch freien Oberkörper entlang laufen, und er hielt sie einfach nur. Sein Herz riss es fast in Stücke, die ganze Situation war wie ein Traum. War es überhaupt real?
 

„Es... es tut mir leid, du weißt sicher nicht mal, was los ist... Ich bin nur so verdammt kaputt seit deinem Unfall, ich kann nicht mehr klar denken und ich... komme damit nicht klar, dass du dein Gedächtnis...“, schluchzte sie bitterlich, während ihre Finger sich in seinen Körper gruben. Paul erschauderte.
 

„Pam, es ist alles gut. Ich... ich... weiß, was...“, begann er, spürte genau, wie sie ihren Kopf anhob und ihn ansah.
 

„Du... weißt was?“
 

„Naja... dass.. die Sache.. also.. Ich glaube zumindest, zu wissen, dass... da mal etwas war.“
 

„Etwas?“, fragte sie, und ihre Tränen versiegten leicht. Paul's Körper spannte sich innerlich so an, dass er dachte, er würde jede Sekunde daran zerreißen. Was tat er hier? Er sollte diese verbotene Affäre beenden, die sowieso in Nichts führte. Gerade weil sie so ungewöhnlich war...
 

„Dass mit uns. Da sind einige Erinnerungen, die... für sich gesprochen haben. Ich weiß nur nicht, Pam.. ich meine... Ich .. es tut mir so leid, dass ich das getan habe, ich weiß, dass das vollkommen verboten und...“
 

Doch weiter kam er nicht; sie hatte ihm einen Finger auf den Mund gelegt, und er war direkt zu Eis erstarrt. Die Blicke trafen sich; für einige Sekunden entstand eine Ruhe zwischen ihnen, die genug aussagte als ellenlange Gespräche.
 

„Paul, heißt das, du erinnerst dich an mich.. an uns?“, flüsterte sie, und er nickte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus, als er das Leuchten in ihren Augen sah. Es war genau das gleiche Gefühl, dass er beim ersten Treffen mit Cody gehabt hatte: Es war einfach richtig.
 

„Ja, das heißt es. Pam, verzeih mir, aber ich kann nicht...“, begann er; seine Hände umfassten ihre Taille; „...ich kann das nicht verantworten, es war...“
 

Die braunen Augen ließen nicht von ihm ab; wie konnte er diesen Augen nur zumuten, dass es alles ein Fehler war? Dass sie das nicht tun sollten, weil es nicht nur in den Augen von Familie und Freunden, sondern auch in den Augen der Gesellschaft ein eher weniger gutes Thema sein würde?
 

„Ja?“, antwortete sie und wartete, bis er seinen Satz fortführte.
 

Er wusste nicht, was genau ihn da ritt, doch in diesen Sekunden überfiel ihn eine eigenartige, hitzige Strömung, wie ein elektrischer Schlag, und er hörte sich nur selbst zischen: „Ach verdammt, zur Hölle damit...“, bevor er ihr Gesicht in beide Hände nahm, sie an sich heranzog und sie so fest küsste, dass es ihm selbst den Atem nahm.
 

Dieser atemraubende Kuss hielt einige Sekunden an; erst dann löste er sich vorsichtig von ihr, fast tastend, weil er Angst hatte vor dem, was passieren würde; doch gewehrt hatte sie sich nicht.
 

Seine blauen Augen fanden die ihren; er lehnte seine Stirn gegen ihre, und die beiden sahen sich einige Sekunden atemlos an, bevor Pamela leise hauchte: „Du hast mir so gefehlt, Paul... Ich bin verrückt geworden ohne dich.. Ich hatte solche Angst...“
 

„Es ist alles gut, Baby, ich bin da... verdammt, warum tun wir das... Was machst du da mit mir...“, flüsterte er ihr entgegen, und sie kicherte leise. Er spürte ihre Finger an seinem Hals, an seiner Wange, und er beugte sich ein Stück tiefer, um sie erneut zu küssen, wieder und wieder. Ihm war trotz der Kühle des Hauses so heiß, dass er die leichten Schweißperlen auf seinem Rücken spürte.
 

„Die Frage kann ich dir ebenso stellen“, erwiderte sie zwischen einem Kuss, und zog ihn näher an ihren Körper. Es war unmöglich, die Spannung zwischen den beiden zu ignorieren, und Paul ärgerte sich fast darüber, dass er schon jetzt Ansätze einer Erregung bei sich spürte.
 

Diese Frau machte ihn wahnsinnig. Es war doch unnormal, dass er so verrückt nach ihr war....
 

„Wir sollten das lassen. Cody fragt sich sicher, wo wir bleiben...“, zischte Paul, doch seine Hände sagten etwas anderes; sie fuhren über Pamela's Rücken, schoben sich unter ihr Top, zogen sie auf seinen Schoß. Ihre Lippen fanden wieder zueinander; die Küsse waren sinnlich, vertraut, leidenschaftlich und zerrütteten Paul's Verstand mehr als alles andere.
 

„Du hast Recht, wir sollten... aufhören... Kann ich dich wenigstens wieder öfter sehen?“,wisperte sie keuchend, die Beine um Paul's Hüfte schlingend. Paul knurrte leise von dem Gefühl, dass sich in ihm ausbreitete, als er ihren Schoß auf seiner Errektion spürte, wenn auch durch Shorts und Jeans verdeckt. Seine Hände umfassten ihren Po, und er küsste sie nochmal fest, bevor er leise entgegnete:
 

„Du kannst mich immer sehen, Pam, immer... Wenn du willst, schmeiß' ich alle raus und lass dich hier einziehen...“
 

Sie kicherte leise, und während der nächsten zwei Küssen liefen ihr wieder ein paar Tränen die Wangen hinunter, doch diesmal wusste Paul, dass es Freudentränen waren.
 

Obwohl Paul sich innerlich rasend dagegen weigerte, ließen sie voneinander ab; sie besprachen, dass sie sich am nächsten Tag treffen würden, wenn Cody aus dem Haus sein würde.
 

„Aber wir müssen aufpassen... wie immer. Ich will nicht, dass Penny es mitbekommt oder sonst wer... das wäre mein Untergang, meine Eltern würden mich ins Kloster stecken...“, sagte Pamela, als sie aufgestanden waren und Richtung Tür gingen.
 

Paul lachte; etwas in seinem Herzen und in seinem Kopf war wieder frei. „Und ich ins Gefängnis, meine Liebe. Da würde ich das Kloster vorziehen....“

Kleidungsstücke

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