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Kleiner Engel

- Die Geschichte einer Rose -
von

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Blüte

Dichter Nebel hing über dem schier unendlich weiten Land. Der Himmel war überzogen von einer grauen, undurchdringlichen Masse. Feuchtigkeit hing in der Luft, die sich bei jeder noch so kleinen Bewegung auf meine eisige Haut legte, und deren winzige Wassertröpfchen in meinem flachen Atem herumwirbelten, wie hunderte winzig kleine Tänzer.
 

Der Schmerz war längst gegangen. Alle Empfindungen und Gefühle waren einer zähen Masse aus Taubheit gewichen. Es war beinahe so, als hätte ich meinen Körper bereits verlassen. Ich existierte nicht mehr. Ich war nur noch ein Schatten meiner selbst.

Und ich wehrte mich nicht mehr dagegen. Ich hatte mich bereits aufgegeben.
 

Doch trotz allem konnte ich meine Gedanken nicht daran hintern, zurückzukehren und sich immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Warum musste es soweit kommen? Warum ist das alles passiert? War ich so naiv gewesen? War mein Traum einfach nur ein kindisches Hirngespinst gewesen?

Immer und immer wieder ging ich sie durch, doch ich kam keinen Schritt weiter. Wieso gab ich mir also die Mühe und versuchte es immer wieder? Es gab keinen Grund dafür. Es würde sowieso sehr bald alles egal sein.
 

Ich bewegte mich nicht. Saß stumm an diesen kahlen Baumstamm gelehnt. Ob der Baum im Frühling wohl noch immer Blätter trug? Oder sogar Blüten? Es musste ein wunderschöner Anblick gewesen sein. Hier auf dieser Wiese. Das Gras trotz des nahenden Winters so hoch, als würde es nach den Sternen greifen wollen. Ein Meer aus bunten Blütenblättern würde in der Luft hängen und ein sanfter Duft, der alle Sinne betörte, würde in der Nase kitzeln.

Wie gerne hätte ich das erlebt.
 

Immer weiter driftete ich in das Nichts. Die Sicht vor meinen Augen verschwamm mehr und mehr. Das dreckige Weiß des Nebels schien nach mir zu greifen, mich zu verschlingen. Wie Klauen umklammerte es meinen tauben Körper, nicht gewillt, je wieder loszulassen, und mich mit sich in die Tiefe zu reißen.
 

Mein Leben, diese glühend heiße Qual, würde bald ein endgültiges Ende finden.
 

„Ihr solltet nicht hier draußen liegen. Ihr erkältet Euch sonst noch.“ Eine helle Stimme ließ mich aufschrecken. Es kostete mich unendliche Mühe meine Augen zu öffnen, doch es war nicht schwer ihre bunte Silhouette in dem weißen Meer zu finden. Doch ihr Anblick überraschte mich.

Ein junges Mädchen, nicht älter als neun Jahre, hockte vor mir und starrte mich an. Ihre goldblonden Haare lockten sich verspielt um ihr schönes Gesicht. Mit blauen Augen, die schöner waren, als das Funkeln des Meeres, und einem so wundervolles Lächeln, wie es selbst die Engel nicht zustande bringen könnten, hockte sie in ihrem weißen, mit Blumen verzierten Kleid nur Zentimeter von mir entfernt.

Ich war von ihrem Anblick so fasziniert, dass ich keinen Ton herausbrachte.
 

„Ihr seid verletzt“, sagte sie nach einer Weile und holte mich damit aus meinen Gedanken. Ihr Lächeln war verblasst und ihre Augen hatten ihren Glanz verloren. Es schmerzte mich, sie so traurig zu sehen. Endlich fand ich meine Stimme wieder.

„Das sind nur ein paar Kratzer, bitte macht Euch keine Sorgen.“ Es fiel mir nicht leicht sie zu belügen, doch ich wollte diesem kleinen Kind nichts von dem Schrecken erzählen, den ich erlebt hatte. In Wahrheit wusste ich, dass das Leben unaufhörlich aus meinem Körper rann. „Was macht Ihr überhaupt hier? Es ist gefährlich! Geht lieber schnell nach Hause. Eure Eltern machen sich sicher schon Sorgen.“ Meine Stimme klang leise und krächzend, doch das kleine Mädchen schien das kaum zu bemerken.

„Ich spiele oft hier oben! Auf dieser Wiese gibt es so viele Blumen! Und im Frühling, wenn der Kirschbaum blüht, tanzen tausende von Blütenblättern durch die Luft!“ Mitten in ihrer Erzählung war die Kleine aufgesprungen und hatte mit leuchtenden Augen ihre Arme ausgebreitet. Wie ein seidenes Tuch umgab sie der Stoff ihres kleinen Kleidchens, während sie um mich und den Baum herum sprang und tänzelte, wie eine kleine Elfe. Sie war völlig in ihrer eigenen Welt und ich wusste, was genau sie vor ihrem inneren Auge sah. Welch ein schöner Anblick!

„Das klingt wirklich … wundervoll“, sagte ich, nicht ohne den Anflug eines Lächelns auf den Lippen.

„Ihr solltet unbedingt im Frühling hier noch einmal herkommen! Dann zeige ich Euch die vielen Blumen, ja?“ Ich lächelte sie an.

„Das würde ich wirklich sehr gerne tun.“ Sie klatschte bei meiner Antwort vergnügt in die Hände. Ich würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Wie könnte ich?
 

„Aber jetzt geht lieber nach Hause, bevor Euch noch etwas passiert.“ Ich sah, wie meine Worte ihre Freude ein wenig trübten, doch das Grinsen auf ihrem Gesicht kam genauso schnell wieder, wie es verschwunden war.

„Einen Moment noch!“ Sie kicherte geheimnisvoll und verschwand in der Nebelwand. Ich spürte, wie mein Herz sich zusammenzog, als plötzlich keine Spur mehr von ihr zu sehen war. Sorge krallte sich in meine Eingeweide und alle Taubheit war auf einmal vergessen. Der heiße Schmerz einiger Wunden ließ meine Muskeln verkrampfen. Ein Stöhnen lag in der Luft. Meine Sicht verschwamm. Bald würde alles dunkel sein.
 

„Hier!“ Noch ehe ich begriff, dass das Mädchen wieder neben mir stand, sah ich etwas Rotes dicht vor meinen Augen. Ich musste ein paar Mal blinzeln, ehe ich die Rose in ihrer Hand erkannte. Ich war verblüfft über die schiere Schönheit der Pflanze. Dutzende Blütenblätter umschlangen sich in perfekter Harmonie und bildeten einen faszinierenden Kreis. Das dunkle Rot wirkte rein und mystisch und ich konnte nicht anders, als sie ehrfurchtsvoll entgegen zu nehmen. Plötzlich waren alle Schmerzen vergessen.

„Sie ist… wunderschön“, meinte ich leise und sah zu dem blonden Mädchen hoch. Das Lächeln in ihrem Gesicht überstrahlte alles, was ich je gesehen hatte.

„Ja, das ist sie! Ich liebe Rosen wirklich sehr!“ Sie kicherte. „Auf Wiedersehen, werter Herr!“
 

Einen Moment später war sie im Nebel verschwunden.

Bedauern

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich ohnmächtig geworden war, aber als ich meine Augen wieder öffnete, hatte sich bereits die Nacht über das Land gelegt. Doch der Nebel hatte mich noch immer nicht seinen Griff befreit.

Ich stöhnte, als ich mich versuchte aufzurichten, doch die wenige Kraft, die mir noch geblieben war, reichte einfach nicht aus. Resigniert sank ich zurück gegen den Baum und schloss meine Augen erneut.

Der Duft der Rose lag in der Luft und schien sie voll und ganz auszufüllen. Wie einen kostbaren Schatz drückte ich sie gegen meine Brust. Ich klammerte mich regelrecht daran, wie ein Ertrinkender auf dem weiten Meer an ein rettendes Stück Holz.
 

Ob sie wohl sicher nach Hause gekommen war? Es war gefährlich sich so weit in die Wildnis zu begeben. Weg von den schützenden Mauern der Städte. Das war es, was dieser sinnlose Krieg aus der Welt gemacht hatte: Eine Welt, in der nicht einmal die Kinder gefahrlos spielen konnten.
 

Ich erlaubte mir einen Gedanken an sie. Nur einen kurzen, bevor ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern konnte. Meine Verlobte. Sie war einfach so wunderschön. Ihre langen, schwarzen Haare, die samtgrünen Augen und die Haut, weiß wie kostbarsten Marmor. Ihr Lächeln betörte jeden, dem sie es schenkte. Und ich war derjenige, den sie erwählt hatte …

Das kleine Mädchen war meiner Verlobten gar nicht so unähnlich. Wahrscheinlich würde aus ihr auch so eine reizende, liebenswerte und unvergleichlich schöne junge Frau werden, die einen anderen Mann so glücklich machte, wie meine Verlobte mich.
 

Doch das waren bloß weit entfernte Erinnerungen. Ich war gegangen, obwohl sie mich unter Tränen gebeten hatte, zu bleiben. Doch der Ruf des Krieges war auch in unser weit entferntes Dorf gehallt und hatte mich gezwungen meine Liebsten zu verlassen. Ich hatte um die Gefahr gewusst, mich jedoch immer für etwas Besseres gehalten. Leichtherzig hatte ich versprochen, schon sehr bald zurückzukehren.

Und das hatte ich nun davon. Ich saß sterbend irgendwo im Feindesland, wo mich niemand finden würde. Und wenn, würde ich diese Begegnung nicht überleben, da war ich mir sicher.
 

„Seid Ihr noch am Leben?“ Ihre Stimme schreckte mich auf. Erst, als ich die Augen öffnete, bemerkte ich, dass der Tag bereits hereingebrochen war. Der Nebel war noch immer nicht gewichen und legte sich wie eine schwere Glocke über die Wiese. Irgendwo dahinter erkannte ich schwach die Lichtstrahlen der Sonne, die den Nebel seltsam glühen ließen.

Ich drehte meinen Kopf und sah in ihr strahlendes Gesicht. Sie war … Das Mädchen von gestern … Ich nickte schwach und versuchte zu lächeln, was aber eher wie eine Grimasse wirken musste. Sie jedoch quiekte vor Freude.

„Ich habe Euch etwas mitgebracht, seht!“ Sie legte einen kleinen, pinkfarbenen Beutel auf meinen Bauch und öffnete diesen vorsichtig. Eine Scheibe Brot, belegt mit Käse, und dazu einen halben Apfel. Auch an eine kleine Wasserflasche hatte sie gedacht. Freudig strahlte sie mich an. „Das habe ich von meinem Frühstück für Euch aufgehoben, falls ich Euch noch einmal treffen sollte!“ Für einen Moment konnte ich sie nur verdutzt ansehen, doch langsam dämmerte es mir, was sie Kleine dafür für ein Opfer gebracht hatte. Es gab nicht viel zu essen. Viele Menschen verhungerten elendig in diesen Zeiten und dieses Mädchen gab mir ihre Portion…

„Vielen Dank, junge Dame“, lächelte ich, was sie mit einem noch breiten Grinsen quittierte.
 

Mit letzter Kraft griff ich nach dem Brot und begann langsam daran zu kauen. Wie lange hatte ich schon nichts mehr gegessen und getrunken? Ich wusste es nicht mehr. Alles schien so … verschwommen. So, als würden meine Erinnerungen nach und nach verschwinden.

„Wieso seid Ihr wieder hergekommen? Ihr wisst doch, dass es hier draußen gefährlich ist!“, meinte ich zwischen zwei Bissen in den Apfel. Sie zuckte bloß mit den Schultern.

„Ich bin jeden Tag hier. Hier ist es einfach so wunderschön!“ Ich staunte über den Mut der kleinen Blonden. Aber auf der anderen Seite verknotete Sorge meinen Magen.

„Ihr solltet aber trotzdem lieber zuhause bleiben. Lassen euch eure Eltern denn so einfach spazieren gehen?“ Ihr Blick trübte sich ein wenig und ich wusste nur zu genau, was das bedeutete. Ich schluckte den letzten Bissen Obst herunter. Plötzlich schmeckte er alt und gammlig.

„Meine Eltern sind nicht mehr hier. Sie sind jetzt im Himmel! Sie haben ganz tapfer gegen die bösen Menschen gekämpft!“ Wie sie diese Worte sagte … Mit einem Stolz, den sie wahrscheinlich gar nicht verstand. Ein Stolz, der ihr von anderen Menschen eingeredet wurde, wobei es ihr völlig egal gewesen war, warum ihre Eltern gegangen waren. Sie wollte doch nur ihre Familie zurück haben! „Ich wohne jetzt bei meiner Tante! Sie wartet auch noch darauf, dass mein Onkel und ihr Sohn wieder zurückkommen. Sie sind nämlich ganz stark! Sie kommen ganz bestimmt zurück!“
 

Etwas in ihren Worten fraß mich bei lebendigem Leibe auf. So viel Leid, so viel Schmerz. Die Trauer in ihren Augen war nicht zu übersehen. Sie glaubte nicht daran, dass ihre Familie eines Tages zurückkehren würde. Genau wie ihre Eltern war er wahrscheinlich längst tot.

Vielleicht … hatte sogar ich sie getötet. Oder ihre Eltern …
 

Ich wollte schreien, weinen und mich selbst verfluchen. Ich hatte so viele Leben genommen, so viele Familien zerstört. Ich sah ihre Gesichter in dem Moment, in dem sie durch meine Waffe zu Boden gingen. Schreck, Angst, Verzweiflung, Trauer, Verlust. So viele Emotionen blickten mir im Moment ihres Todes entgegen.

Männer und Frauen, die nur ihre Lieben beschützen wollten, doch ich habe ihnen die Heimkehr verwehrt. Ich habe sie getötet, ohne zu wissen wer sie waren oder wen sie liebten.

Ich bedauerte es. Ich bereute jeden Moment, in dem ich zu einer Waffe gegriffen hatte.
 

Ich bedauerte es, dass ich jemals geboren wurde.
 

„Was ist los mit Euch, Herr Soldat? Hat es Euch nicht geschmeckt?“ Ihr Blick war plötzlich voller Sorge. Wie konnte ein kleines Mädchen bloß schon so erwachsen sein? Das war nicht richtig! Das war einfach nicht richtig! Sie sollte spielen und über ihre Wiese toben! Zusammen mit ihren sie liebenden Eltern an ihrer Seite! Welche Rose sie als nächstes pflückte sollte ihre einzige Sorge sein!

„Es tut mir so leid! So wahnsinnig leid! Ich bin auch einer dieser bösen Männer und ich habe so vielen Leuten wehgetan! Es tut mir leid! Bitte verzeiht mir!“ Ich spürte die Tränen in meinen Augen brennen, doch ich hielt sie nicht zurück. So lange habe ich still gelitten, mir nie etwas anmerken lassen, doch nun war mir das alles egal. Vollkommen egal …
 

„Aber, Ihr seid doch gar nicht böse!“ Ihre Worte verdutzten mich. Sie hatte sich neben mich in das Gras gesetzt und sah mich verwundert von der Seite an. „Meine Mama hat immer gesagt, die bösen Männer wären ganz fies und gemein, aber Ihr seid doch gar nicht böse! Ihr seid doch sehr, sehr nett!“ Da war es wieder, dieses strahlende Lächeln, bei dem selbst die Sonne erblasste. Sofort versiegten meine Tränen und eine unbeschreibliche Wärme breitete sich in mir aus. Unglaublich, was dieses Kind für eine Wirkung auf mich hatte!

Aber sie lag falsch. Sie war einfach noch zu jung, um das alles zu verstehen.

„Nein, ich bin nicht nett. Ich bin böse. Ich habe viele Menschen in den Himmel geschickt. So viele …“

„Aber bestimmt nur, weil Ihr auf eure Familie aufgepasst habt, nicht wahr? So wie meine Mama und mein Papa das gemacht haben, richtig?“ Ich dachte kurz über ihre Worte nach. Ich konnte kaum verstehen, warum ich das alles eigentlich tat, und dieses Mädchen war schon so viel klüger, als ich es jemals sein würde.

„Ja, aber … Das ändert nichts, Liebes. Ich habe böse Dinge getan und werde meines Lebens nie wieder froh sein können.“
 

Vollkommen erschüttert sah sie mich an und schüttelte plötzlich energisch den Kopf, sodass ihre blonden Locken wie wild tanzten.

„Nie wieder froh sein? Das geht doch gar nicht! Das ist nicht gut! Wartet es nur ab! Ich bringe euch morgen noch eine viel schönere Rose, als die da“, sie zeigte auf die makellose Pflanze in meiner Hand, „und dann werdet Ihr ganz sicher wieder froh sein!“ Schwungvoll stand sie auf und nahm das kleine pinkfarbene Beutelchen von meiner Brust und stemmte ihre Hände in die Hüften. Vollkommen überzeugt davon, dass sie mich wieder zum Lachen bringen kann.

Tatsächlich musste ich grinsen, als ich sie so dort stehen sah. Wie ein kleines, eingeschnapptes Kind, dem gerade erzählt wurde, es könne etwas nicht tun, weil es noch zu klein war.
 

„Ihr werdet schon sehen!“, sagte sie noch trotzig und verschwand wieder in den Nebel hinein. Das Lächeln wich nicht aus meinem Gesicht.

Morgen würde sie wiederkommen. Ja, morgen würde ich noch schaffen. Ich würde leben und warten. Für sie.

Blut

Ein schriller Schrei schoss plötzlich durch die Luft und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Verzweifelt sah ich mich um, doch der Nebel blockierte meine Sicht völlig.

War das nicht … ihre Stimme gewesen? War ihr etwas passiert? War sie gestützt? Was war bloß passiert?
 

„Nein, loslassen!“ mein Herz schlug so schnell, wie es noch nie geschlagen hatte. Plötzlich begann mein ganzer tauber Körper innerlich zu verbrennen. Auf einmal war es mir egal, dass ich schwer, wenn nicht sogar lebensgefährlich verletzt war! Ich würde aufstehen und nach ihr sehen, egal, was es mich auch kosten mochte!

Mein Körper protestierte mit jedem schwankenden Schritt. Ich spürte die Schmerzen heiß in mir lodern. Wusste, dass mein gebrochenes Bein diese Belastung nicht tragen konnte, doch ich ignorierte es völlig. Ich ging weiter. Immer weiter in die Richtung, in der sie verschwunden war. In die Richtung, aus der ihr verzweifelter Schrei gekommen war.
 

Alles um mich herum war Weiß. Die Feuchtigkeit drang immer tiefer in meine zerrissenen und blutbefleckten Kleider ein und ließ mich beinahe zu Eis erstarren. Doch das war alles nebensächlich. Nur eins zählte. Sie.

Plötzlich zeichneten sich dunkle Schemen zwischen all dem Weiß ab. Zwei große Gestalten standen seitlich von mir, eine Kleine war beinahe völlig in dem hohen Gras verschwunden. Nur das gelegentliche Schluchzen war das Anzeichen dafür, dass sie dort war.

Dort unten, ängstlich kauernd und dem Lauf der Waffe entgegensehend.
 

Ich zwang meinen Körper schneller zu laufen, bis ich beinahe rannte. Es dauerte nicht lange, bis ich die Uniform der zwei Männer erkannte und beinahe vor Erleichterung gestorben wäre. Doch etwas in mir verbot mir dieses Aufatmen. Ich wusste genau, dass hier etwas nicht stimmte …

„Nehmt die Waffen runter! Sie ist doch nur ein kleines Kind!“ Meine Stimme brachte die Anwesenden dazu, sich zu mir umzudrehen und plötzlich war die Waffe auf mich gerichtet. Ich hielt inne und bewegte mich nicht, ließ aber den dunkelhaarigen Mann mit der Pistole nicht aus den Augen.

„Hey, lass das! Der gehört zu uns!“, meinte der Blonde hinter ihm und sein Kollege schien es nun ebenfalls bemerkt zu haben. Doch ich freute mich nicht. Noch nicht.
 

Ich überwand den letzten Meter und baute mich schützend vor dem kleinen Mädchen auf. Ich sah zu ihr hinunter und bemerkte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht und als sie mich erkannte, erwiderte sie schüchtern die Geste. Ein tapferes Mädchen!

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Soldaten.

„Lasst das Mädchen laufen! Sie ist noch so jung! Sie ist keine Gefahr für uns!“ Ihre verdutzten Blicke lagen auf mir, als ich ihnen den Blick auf das Kind verdeckte.

„Sie gehört zum Feind!“

„Sie ist ein Kind!“, sagte ich mit aller Ausdrücklichkeit, die ich mit meiner kratzigen Stimme aufbringen konnte. Ich spürte, wie mein Körper jede Sekunde unter seiner eigenen Last zusammenbrechen würde. Meine Sicht verschwamm und eine warme Flüssigkeit tropfte mein Bein hinab. Die Wunde hatte sich wieder geöffnet. „Sie wird niemandem etwas tun! Also lasst sie gehen!“
 

Noch ehe ich reagieren konnte, nein, noch ehe ich begreifen konnte, was gerade geschah, hallte ein Schuss ohrenbetäubend laut in meinen Ohren. Ich hörte ein leises, dumpfes Geräusch hinter mir, und ich wusste, dass in diesem Augenblick mein Herz aufgehört hatte zu schlagen.

Unfassbar langsam drehte ich mich um und brach im selben Moment zusammen. Ihre kleinen, goldenen Löckchen waren völlig verdreckt und mit Schlamm verkrustet. Das ehemals weiße Kleidchen war nun über und über mit roten Flecken bedeckt und die so strahlenden, blauen Augen blickten nichtssehend in den grauen Himmel.

Wie in einem roten Wasserfall floss das Leben aus ihr heraus, bis das Blut auf ihrer aschgrauen Haut unheilvoll glühte.
 

Ich schrie. Schrie lauter, als ich es jemals getan hatte. Immer und immer wieder. Ich spürte den Schmerz nicht mehr in mir, sondern nur noch diese heiß lodernde Flamme des Zorns, die meinen Körper zu Asche zu verbrennen schien.

Wutentbrannt wandte ich mich um. Die beiden Männer standen bewegungslos hinter mir. Einer davon immer noch die Waffe auf das unschuldige Kind gerichtet. Ihre Augen vor Schreck weit aufgerissen. Sie schienen beinahe … Angst zu haben. Und ich wusste auch wovor.

„Ihr verdammten Mistkerle! Sie war ein kleines Mädchen! Kein Feind! Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich!“ Alles in mir zog sich zusammen, alles in mir brannte. Ich wollte nach ihnen greifen, sie zu Boden ringen. Einmal noch. Einmal noch töten! Ein letztes Mal! Dieses eine Mal die wirklich bösen Männer töten!
 

Doch ich hatte nicht genug Kraft. Der Schuss traf mich mitten in die Brust. Die Wucht des Einschlags schleuderte mich zurück. Kraftlos ging ich zu Boden. Direkt neben dem kleinen Engel.

Ich sah sie an. Stellte mir ihr schönes Lachen vor. Ihre funkelnden Augen. Ihre wild tanzenden, goldenen Locken. Ihre sanfte Stimme…

Ich hielt sie noch immer in der Hand. Spürte, wie die Dornen meine Haut zerkratzen und ich genoss das Gefühl. Sanft legte ich die Rose auf ihren Bauch. Sie hatte nun dieselbe Farbe, wie ihr Kleid.

„Das war schon die allerschönste Rose, die ich je gesehen habe. Danke, dass Ihr mir sie gezeigt habt. Dank Euch war ich noch ein letztes Mal in meinem Leben froh. Danke.“
 

Plötzlich verlor ich den Halt. Es war, als würde der Boden unter mir verschwinden und ich inmitten eines schneeweißen, warmen Lichtes der Luft schweben. Alles an mir war so seltsam leicht. So vertraut und doch ungewohnt.

Nun wusste ich, dass die Qual endlich ein Ende hatte.
 

„Ich wusste doch, dass Ihr kein böser Mensch seid!“ Ich öffnete meine Augen. Vor mir sah ich ihn. Den kleinen, blonden Engel und dem schönsten Lächeln auf Erden. „Kommt! Ich stelle Euch meinen Eltern vor!“ Grinste sie voller Freude und streckte mir ihre kleinen, zarten Finger entgegen.

Ich lächelte zurück und ergriff ohne zu zögern ihre Hand.
 

Entschuldigt, Geliebte, dass ich nicht wie versprochen zu Euch zurückkehren konnte. Ihr hattet von Anfang an recht gehabt. Ich habe Blut vergossen und bedauere jeden Tropfen dieses kostbaren Lebenssaftes zutiefst, den ich verschwendet habe. Bis in alle Ewigkeit.

Doch bitte, immer, wenn Ihr eine Rosenblüte seht, erinnert euch an mich als den Mann, der sich einfach nur eine bessere Welt gewünscht hatte. Eine Welt, in der jeder hätte glücklich leben können.
 

Eine Welt, in der sich jeder jedes Jahr wieder auf den Kirschblütenregen freuen konnte.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  RhapsodosGenesis
2014-11-27T20:29:34+00:00 27.11.2014 21:29
Oh Gott T.T Der letzte Absatz treibt mir echt Traenen in die Augen ... Den Rest des Kapitels musste ich mit aufgeklapptem Mund und unglaeubig weit geoeffneten Augen lesen, weil ... lies es und du weisst es!!!
Wie konnte das nur so aus den Fugen geraten! (Ich hab da so nen Verdacht *zu Mary schielt*) ... Das ist so grausam T_T
Das arme Maedchen hatte doch noch ihr Leben vor sich! Warum musste ein Arsch mit Waffe das alles versauen?! Wieso konnte er nicht auf den Hauptcharakter hoeren? Das ist so ... schrecklich ;.;
Und ich muss noch betonen, wie mutig ich den Hauptcharakter finde! Trotz seiner Verletzungen geht er zum Maedchen ... und ich habe bis zum Sch(l)uss gehofft, dass doch alles gut wuerde. Dass er morgen noch eine tollere Rise bekommen wuerde. Dass sie zusammen den Fruehling geniessen koennen wuerden .... So tragisch ;,; Ich kann mich nur wiederholen!
Und das nur, weil so viele fuer i h r e glueckliche Welt kaempfen wollten. (Wo auch immer besagter Herr HmGefahr im kleinen Engel sah!)

Und dass er sie letzten Endes als Engel bezeichnet, sie in den Himmel fuehrt - man koennte es als happy ending bezeichnen, weil sie ihre Eltern wieder sieht, weil sie doch noch zusammen sind - aber das aendert nichts an der Trauer der Hinterbliebenen, an den Schuldgefuehlen der Soldaten und daran, dass so viele Unschuldige und am meisten davon dieses kleine Kind grausam aus dem Leben gerissen wurden :( Sowas isf kein Happy End. Das ist ein 99%-bad-End oder so :( Ich will nicht, dass sie so enden T.T
Aber Kapitelende ist Kapitelende :'(

Die Geschichte hat mir inhaltlich sehr gut gefallen! Es sind so viele heikle Themen angesprochen und die Gefuehle, die einem vermittelt werden, hauen einen beinahe um! Vor allem die schrecklichen bei jedem Cliffhanger, wenn man nicht weiss, was im naechsten Kapitel passiert ... und wenn es dann noch schlimmer wird, als man es sich vorgestellt hat.
Zehr beeindruckend sind auch die namenlosen Charaktere, die in 3.000 Woertern mein Herz erobert haben! Respekt, Respekt. (vor allem fuer das Herzbrechen am Ende D:<)

Aber insgesamt hat es echt Spass (Haha!) gemacht, die Geschichte zu lesen und ich wuerde mich ueber weitere kleine Geschichten freuen, weil dein Schreibstil, deine Ideen und deine Charaktere einfach irre sind!

Sehr grosses Lob - immer weiter so!
Antwort von:  MarySae
28.11.2014 06:21
Dankeschöööön! :D
Hab ich richtig gefreut, als ich deine Kommentare gesehen habe! <3 Vielen Dank dafür!
Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat! :D <3

Ja, es ist wieder ein bisschen ... düster geworden. :/ Vielleicht sollte ich wirklich mal ein bisschen was fröhlicheres schreiben ^^ Fällt mir dieses Jahr aber etwas schwer ...
Werde es trotzdem mal versuchen xD

Wenn du Lust hast, kannst du dich auch gerne mal durch meine Original-OS-Sammlung "Vom Schreiben und Träumen" wühlen :)
Da sind einige kleine Oneshots zu verschiedensten Themen drin (wenn sie auch teilweise schon ziemlich alt sind :/)
Und, man glaubt es kaum, es gibt sogar einige positive Geschichten! Jaha! Das kann ich auch! xD
Würde mich freuen, deine Meinung zu hören :D

Also danke nochmal!
vG, Mary
Von:  RhapsodosGenesis
2014-11-27T20:09:33+00:00 27.11.2014 21:09
Oh Gott, wie traurig! Okay, sie war kein magisch-mystischer, koerperlich heilender Engel, aber ein Engel ohne Zweifel! Wie sie dem Mann zum Leben verhilft, wie sie einen Sterbenden laecheln laesst ... das ist so ruehrend.
Und dabei hat sie selbst so eine harte Vergangenheit. Tote Eltern. Verwandte, die nicht zurueckkehren ... Das ist alles so schrecklich - sie ist ja noch ein Kind! Und dass sie dennoch hinter seine Ruestung sieht, dass sie ihm ihr Essen gibt ... Sie ist so lieb. Sie hat ein glueckliches Leben verdient - genauso wieces der Hauptcharakter sagt!
Und auch das Paradoxon mit dem Beschuetzen durch Toeten, mit den Boesen auf der jeweils anderen Seite ... Es geht einem so nahe, dass der Krieg schon war. Schon alles verloren ist. Und nichts mehr abaenderbar - ich hoffe, zumindest der Verlobten geht es gut :(
Und was ich am allermeisten hoffe: Dass der Hauptcharakter ueberlebt! Ja, er hat getoetet - aber er fuehlt Reue fuer etwas, das er vielleicht gar nicht d i r e k t getan hat. Er sieht, was er angsrichtet hat. Er will es aufrichtig ungeschehen machen ... Hoffentlich kann man ihm helfen :(

Die Geschichte ist total tragisch und deprimierend. Und ich bin schon auf die naechste Rose gespannt, die da kommt ...! Hoffentlich wird das eine heilende Rose sein :(

Sehr gut geschriebenes Kapitel! Ich bin beeindruckt - man kennt keine Namen und dennoch sind einem beide Charaktere schon sehr ans Herz gewachsen. Ich hoffe, dass deine Action-Thriller-Horror-Tod-und-Verderben-Seite in dieser Geschichte nicht mehr zuschlaegt! Es ist so schon dramatisch ;.; Dann traue ich mich jetzt ueber das naechste Kapitel! Irgendwie bun ich total beunruhigt! Was wird am naechsten (n i c h t letzten!) Tag bloss passieren ...?

Sehr gut gemacht! Immer weiter so!
Von:  RhapsodosGenesis
2014-11-27T19:51:46+00:00 27.11.2014 20:51
Der Einstieg ist schon einmal sehr spannend - wenn auch ziemlich deprimierend! Was ist dem armen Mann nur widerfahren? :( Darauf bin ich schon sehr gespannt! Die Beschreibung seiner Fast-Todesempfindungen ist sehr gelungen - man leidet mit ihm mit, vertritt bloss den Wunsch, dass er doch endlich geheilt werden moege ... und da tqucht das Maedchen auf!
Die Kleine ist wirklich zuckersuess, was sie sagt ist o ... voller Leben inmitten dieses Sterbens! Das ist sehr aufbauend. Und sie der Charakter die bittere Wahrheit von ihr fernhalten will ... so mutig! Wie er sein Leid versteckt, um eine Fremde nicht traurig zu machen ...
Und dann noch die Sache mit den Blumen! Zwei Saetze - und man will einfach, dass der Charakter ueberlebt, sodass sie zusammen die Blumen geniessen koennen ... und dann kommt die Rose! Ist er jetzt geheilt?! Und wo ist das Maedchen hin? War sie ein Engel? Konnte sie ihm helfen? Und im naechsten Kapitel warten hoffentlich Antworten!!

Kapitel 1 hat mich schon mal mit Inhalt und Schreibstil ueberzeugt! Und damit starte ich auch gleich zu Kapitel 2 durch!! Ich bin gespannt *^*

(PS: Da oben steht irgendwo "hintern" anstatt "hindern" ... xD"')


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