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Stumme Sehnsucht

von

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Erwachen

Dieses Werk ist ausschließlich *ifastcaranbethrem* zu verdanken! Sie hat hier eine wundervolle lebendige FF auf die Beine gestellt, um welche man nicht umhin kommt, sie zu lesen! Viel Spaß dabei! Nähere Hinweise könnt ihr in den Kommis von uns innerhalb der Story lesen :o)
 

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Sie erwachte durch unerträgliche Schmerzen in der Brust und in ihrem Kopf. Es war ein Ziehen und Klopfen von unvorstellbarem Ausmaß. Vage erinnerte sie sich an die vergangenen Ereignisse, aber sie wollte diese auch gar nicht erst aufleben lassen. Wo war sie?

Als sie ihre Augen öffnete, wurde sie von warmen, wenn auch gleißendem Licht geblendet. Hell und warm sendete die Sonne ihre Strahlen durch das geöffnete Fenster. Staubflocken tanzten in den Lichtstreifen. Unruhig betrachtete sie das kleine Zimmer.

Der Raum war winzig und spärlich möbliert. In ihm befanden sich nur ein Tisch, worauf eine schwerer Kerzenleuchter aus angerostetem Eisen stand und ein breites Bett, welches sie selbst hütete.

Ihre Finger fuhren behutsam über das lange, abgetragene Nachthemd.

Erneute Schmerzen holten sie aus ihrer Gedankenwelt zurück. Die Augen geschlossen, versuchte sie den Qualen zu entfliehen. Sie stellte fest, dass man ihr einen Verband sorgsam um den Kopf gebunden hatte. Jemand hatte sie zu sich gebracht und sich die Mühe gemacht, sie wer weiß wie lange zu pflegen. Kaum das sie überlegte, wer das sein könnte, öffnete sich leise, doch knarrend die Holztür neben ihr.

"Lady Oscar?" erklang eine angenehme, ungemein erleichterte Stimme.

"Rosalie?" rief Oscar verwundert und versuchte sich im Bett aufzusetzen.

"Nein! Tut das bitte nicht!" Rosalie trat sofort an ihre Seite und hielt sie rechtzeitig von ihrem Vorgehen ab. "Der Arzt sagt, dass Ihr Euch auf jedem Fall schonen müsst," erklärte sie verantwortungsvoll. Sorgevoll betrachtet sie das blasse Gesicht ihrer unfreiwilligen Patientin.

"Was ist mit mir passiert?" fragte Oscar und seufzte auf, als die Schmerzen in ihrer Brust von neuem begannen. Mit einem unsicheren und traurigen Blick auf Oscar, begann Rosalie zu erzählen.

"Als Ihr mit der Söldnertruppe die Bastille angegriffen habt, gab der Oberbefehlshaber der Bastille seinen Leuten den Befehl ausschließlich auf Euch zu schießen. Eine Kugel traf dabei in Eure Brust und eine andere verfehlte nur knapp Euren Kopf. Sie streifte aber Eure rechte Schläfe. Die darauffolgenden Schüsse trafen Euch nur nicht, weil ein Soldat aus Eurer Truppe schneller reagierte und sich über Euch warf...," Rosalie konnte nicht weitersprechen. Zu schmerzvoll waren die vergangenen Ereignisse, denn auch Rosalie hatte bei dem Sturm auf die Bastille mitgekämpft.

"Welchen Soldat habe ich auf dem Gewissen?" fragte Oscar tief bestürzt, durch die gerade gehörte, bittere Wahrheit.

"Jean," flüsterte Rosalie und blickte dabei zu Boden. Oscar konnte nichts mehr sagen. Das Verlangen die Vergangenheit zu ändern, um Jean von seinem Eingreifen abzuhalten, wurde übermächtig. Er hätte sich nicht für sie opfern dürfen.

Jean war seit ihrem Beginn, als Oberst der Söldnertruppe, in ihrem Regiment. Er hatte so viele Träume gehabt und außerordentliche viel Mut. Als die Unruhen in Paris ihren Anfang nahmen, scheute er sich nicht bekannt zu geben, dass das Volk richtig handelte. Wie all seine Mitsoldaten kam er aus dem Bürgertum. Für ihn stand fest, dass er nicht gegen seine Familie kämpfen würde. Im Gegensatz zu Oscar, die diese Entscheidung fast zu spät gefällt hatte und das bis heute bereute.

"Aber Jean hätte nicht so gehandelt, wenn er sich nicht absolut darüber im Klaren gewesen wäre, dass Ihr seine Familie retten würdet," fügte Rosalie hinzu, als sie denn bitteren Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin sah. Sie sagte dies nicht nur, um die Schuld an Jeans Tod zu mindern. Es entsprach einfach der Wahrheit. Rosalie kannte Jeans letzte Worte, in denen er versicherte, dass ein Oberst überleben musste. Der letzte Wille von Jean erfüllte sich. Oscar lebte und der Arzt war guter Hoffnung, was ihre Genesung betraf. Jedenfalls, die Verletzungen aus der Schlacht. Es war ein Schock zu erfahren, dass Lady Oscar an der gefährlichen Lungenkrankheit litt.

"Jean war ein tapferer Mann, tapferer als ich es je sein werde," flüsterte Oscar bedrückt.

"Hört auf! Bemitleidet Euch nicht selbst. Jean hat seine Entscheidung getroffen und er hat dies aus gutem Grund getan, weil er von Euch erwartet, dass Ihr weiterkämpft. Die Söldnertruppe und das Volk braucht Euch! Ebenso hättet Ihr Euch auch für ihn geopfert. Wenn es ginge, für jeden einzelnen Eures Regiments. Ist es nicht so?" Rosalie sprach sanft aber auch deutlich auf sie ein. Sie war jetzt in Schwung gekommen.

In diesem Moment wurde Oscar bewusst, wie anders die erwachsene Rosalie war. Seit ihrem Weggang aus dem Hause der de Jarjayes, war viel Zeit vergangen. Rosalie schien ihre Gefühle gut zu kennen. Das machte ihr Angst, denn bisher dachte sie, dass nur eine Person ihre wahren Gefühle kannte.

"Ich habe gar nichts ausgerichtet."

"Ach, Lady Oscar, eine Stunde nachdem ihr angeschossen wurdet, ist auf der Bastille die weiße Flagge gehisst worden." Ein kleines Lächeln zeigte sich auf den weichen Zügen der jungen Frau.

"Ihr habt es also geschafft."

"Nein, ,wir' haben es geschafft."

Oscar lachte traurig und bereute es sogleich zutiefst, denn neue Schmerzen wühlten in ihrer Brust.

"Ich habe gar nicht geschafft. Ich war bewusstlos."

"Ihr könnt Euch das doch nicht zum Vorwurf machen! Ihr wart wie ein Symbol, wie ein stilles Feuer, das den Kraftgeist Eurer Soldaten entfachte." Rosalie betrachtete Oscar liebevoll, doch sofort drückte ihre Miene wieder Sorge aus "Entschuldigt bitte, ich habe Euch noch nicht einmal gefragt, wie Ihr Euch fühlt."

"Oh Rosalie, mir geht es gut, bitte mach dir keine Sorgen! Du hast sicher andere Probleme, als dich um eine einzelne Person zu kümmern," beruhigte sie Rosalie.

"Ihr habt über drei Wochen ohne Bewusstsein im Bett gelegen. Auch jetzt sind die Wunden noch nicht ganz verheilt. Ich glaube, es ist das Mindeste, was ich für Euch tun kann. Nachdem was wir alles miteinander erlebt haben. Ihr habt mich damals so fürsorglich in Eurem Hause aufgenommen... Ich war so glücklich bei Euch." Rosalie erinnerte sich gern an die gemeinsame Zeit mit Oscar zurück.

"Jetzt schont Euch bitte noch! Ihr müsst viel schlafen, um bald wieder zu Kräften zu kommen!" bat Rosalie im weichen Ton und zog die Decke hoch. Sie fing leise an zu lachen. "Übrigens, das Nachthemd steht Euch gut."
 

***

Hoffnung

Der Tag wurde zur Nacht, die Nacht zum Tag. Sonne, Mond und Sterne wechselten sich ab.

Es vergingen Wochen bis zur vollständigen Genesung von Oscar. Zeit und Ruhe gaben ihrem Körper die Kraft, den Kampf gegen die Tuberkulose aufzunehmen. In der lange Zeit konnte sie sich viele Gedanken über ihr vergangenes und zukünftiges Leben machen. Mit dem Sturm auf die Bastille hatte sie sich gegen das Königshaus, ihrem Stand und sogar gegen ihren eigenen Vater aufgelehnt. Ihm hatte sie durch einen Brief mitgeteilt, dass er sie in das Leben einer Frau gehen lassen sollte. Was im Grunde all dem widersprach, was sie ihm einmal vor langer Zeit versprochen hatte, ihr gesamtes Leben als Mann leben zu wollten. Aber diese Entscheidung änderte sich, als sie André lieben lernte. Die Erinnerungen an André bestimmten fast ihre gesamte Existenz. Immer wenn sie die Augen schloss, sah sie ihn. Seit sie denken konnte, war sie jeden Tag mit André zusammen gewesen. Bis zu diesem Tage konnte sie sich nicht verzeihen, seine Zuneigung nie im entferntesten Sinne bemerkt zu haben. Ihnen blieb nur so wenige Zeit.

Statt dessen legte ich mein Herz Graf von Fersen zu Füßen, der ausschließlich die Königin liebte, dachte sie bitter. Sie war so dumm gewesen.

Im Grunde wusste sie schon viel länger, dass sie André liebte, aber war zu stolz gewesen, es ihm zu gestehen. Das war nicht nur dumm, dass war gefährlich. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Die Unruhen in Paris nahmen stetig zu und dies veranlasste Oscar dazu endlich aufzuwachen.

Wollte sie denn eigentlich noch ohne André leben? Nein! Was hielt sie davon ab, sich mit André im Tode zu vereinigen? Sie wusste darauf keine Antwort.

Langsam ging sie durch die kleinen Gassen von Paris, begleitet mit dem Geruch von Blut und Tod. Sie hatte es einfach nicht mehr in der kleinen Wohnung ausgehalten. Es war für sie unerträglich ans Bett gefesselt zu sein. Oscar bekam Kopfschmerzen. Sie betrachtete die zerbrochenen Fensterscheiben der einst belebten Bäckergeschäfte. Viele Häuser waren verlassen, aus Angst Soldaten könnten an diesen Ort wieder einmarschieren. Ein Großteil der Gebäude waren fast gänzlich zerstört, da sie sich in der Nähe der Bastille befand. Sie wich in Nebengassen aus, um sicher zu gehen, dass sie nicht beobachtet oder verfolgt wurde. Noch immer gab es vereinzelt Bürger, die den Tod ihrer Familien an Adligen rächen wollten. Sie hatte sich zwar auf die Seite der Bürger gestellt, aber zählte dies, wenn die gesamte Bevölkerung voll Hass auf den Adel war? Sie trug eine dunkle Hose, mit weißem Hemd, darüber einen langen Regenmantel. Keineswegs ihre frühere Uniform.

Sie ging an einem der Wirtshäuser vorüber. Der Schrankraum war menschenleer. Ein paar Ratten huschten über umgestürzte Tische und Stühle. Sie hatte sich hier mit Bernhard, Rosalies Mann getroffen, um die Freilassung ihrer Soldaten aus der Bastille vorzubereiten.

Als sie um die Ecke bog, kam sie auf die breiter Straße, die direkt zur Bastille führte.

Oscar verließ die kleinen Gassen und erblickte mit Schrecken die Resultate der Revolution.

Das alte Gefängnis war entkleidet worden. Fast die gesamte obere Schicht war durch Bombeneinschläge zerstört, wodurch man von der Straße aus einzelne Zellen erkennen konnte. Oscar kletterte über die Schutzpalisaden der Pariser Bevölkerung. Der Geruch von verbranntem Holz stieg ihr in die Nase, als sie schließlich am Fuße der Bastille stand. Oscar schloss die Augen. Es war wieder der 14. Juli, sie konnte das Kreischen der Menge, die Schüsse und das Krachen der Kanonen hören. Sie öffnete ihre Augen wieder. Ein Schwarm Vögel erhob sich majestätisch in den wolkenlosen Himmel. Als sie weiterlief, entdeckte sie unzählige, große Einkerbungen in den Straßensteinen, die von den Kanonen ihrer eigenen Truppe stammten. Über die Holzbrücke, den Übergang von der Straße zum Gefängnis, gelangte sie in die Bastille. Sie trat durch das ehemalige Gittertor und musste sie über große Steinhaufen klettern, die durch den Angriff aus dem Mauerwerk gebrochen waren. Die gesamte, einst so abschreckende Anlage war verwüstet und zerstört. Die Bevölkerung begann schon Steine für den Eigenbedarf abzutragen. Oscar lief einen schmalen Gang entlang. Alles war so unübersichtlich, dass man denken könnte, man würde durch Wände gehen. Kerzenhalter lagen zerbrochen am Boden. Das traurige Skelett eines Treppenaufgangs ragte ihr traurig entgegen. Oscar gelangte schließlich am Ende des Ganges an einen Aufstieg, der ihr einigermaßen passierbar erschien.

Sie war hier her zurückgekehrt, um die Offizierskammer zu erreichen. Dort erhoffte sie sich einige Dokumente und Befehle zu finden, die den Angriff möglicherweise überlebt hatten.

Im obersten Stockwerk entdeckte sie eine Tür, die nicht mit Gitterstäben verriegelt war.

Als sie den Knauf drückte, blieb die Tür verschlossen. Oscar versuchte es erneut, blieb jedoch weiterhin ohne Erfolg. Sie trat einige Schritte zurück, um gleich darauf mit dem Fuß gegen die Tür zu treten, welche ohne zu zögern nachgab. Es wäre ihr auch schlecht bekommen. Mit einem lauten Krachen fiel sie ins Innere. Durch eins der zerschlagenen Fenster konnte sie auf die Dächer der umliegenden Häuser blicken. Paris lag ihr zu Füßen. Im Raum standen ein Tisch mit mehreren Schubladen. Erneut versuchte sie sich einen Weg durch die Steine zu bahnen. Als sie die Schubkästen öffnete, entdeckte sie mehrere Briefe. Die meisten davon waren bedeutungslos. In ihnen waren nur kleinere Befehle verzeichnet, zum Beispiel, wann der nächste Wachwechsel stattfinden sollte. Jedoch, unter den vielen Dokumenten fand Oscar ein Blatt, auf dem das königliche Siegel abgedruckt war.

"An den Oberbefehlshaber der Bastille,

hiermit wird verkündet, dass die zwölf Soldaten, welche sich dem Befehl des Königs wiedersetzten, auf Grund des Militärrats, ohne Anhörung oder Beisetzung eines Richters auf dem Hof der Bastille am folgenden Morgen exekutiert werden,

Oberster General der königlichen Garde"

Hier war klar und deutlich vermerkt, dass es sich hierbei um die Bestrafung ihrer ehemaligen Soldaten handelte. Damals wurden zwölf Soldaten unter Oscars Führung festgenommen, als diese sich der königlichen Garde entgegenstellten, welche die drei Ständekammer auflösen sollten. Es war eine gerechtfertigte Maßnahme gewesen, jedenfalls vom Standpunkt des Adels aus, da die Soldaten Befehle missachtet hatten. Aber das Volk hatte seine eigene Meinung. Schließlich war die Ständeversammlung eine Chance für das Bürgertum seine Rechte zu vertreten. Letztendlich wären fast die zwölf verhafteten Männer ohne Anhörung vor Gericht exekutiert worden. Doch da die Königsfamilie das aufgebrachte Bürgertum fürchtete, welches zur Bastille marschierte, um dort die Freilassung der Soldaten zu fordern, waren sie in die Freiheit entlassen worden.

Oscar sah zum Fenster hinaus und blickte einer weißen Taube nach. Sie erinnerte sich sofort an André zurück. Eine Stimme, ein Wortlaut, ein Platz, ein kleine Ereignis und die Erinnerung an André fand zurück in ihre Gedanken.

André hatte es geliebt Tauben zu beobachten. Manchmal hatte er stundenlang im Garten gesessen, um den Tauben beim Fliegen zuzusehen oder sie einfach nur zu füttern.

Oscar wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Stimmen draußen auf dem Gang näherkommen hörte.

"Hast du das gehört?"

Oscar hörte die Worte laut und deutlich. Es handelte sich um eine tiefe Männerstimme und es schien, als hätte er jemanden angesprochen, welcher wahrscheinlich bloß mit dem Kopf nickte, da keine Antwort erfolgte.

"Es kam aus der Offizierskammer!", meinte erneut die gleiche Stimme und Oscar hörte Schritte, die sich dem Raum langsam näherten.

Es musste sich wohl nur um zwei Personen handeln, aber darüber nachzudenken blieb Oscar keine Zeit mehr. Sie versuchte schnell ein Versteck finden, da sie unbewaffnet und noch immer verletzt und zu schwach war, um sich verteidigen zu können.

Die Fremden hatten das Zimmer fast erreicht. Oscar flüchtete ins Nebenzimmer.

Sie versteckte sich hinter der Tür und bereitete sich auf einen möglichen Angriff vor.

Die Männer waren nun schon in der Offizierskammer.

"Also, hier scheint niemand zu sein. Sieh' im Nebenzimmer nach!", befahl wiederum Stimme eins. Oscar sah durch den Türspalt in die Offizierskammer.

Der Mann, den sie erblickte, war von kräftiger Statur und hatte schulterlange, blonde Haare. Sein Gesicht war schmal und eckig und er trug einen langen schwarzen Umhang. Entweder zur Tarnung oder als Schutz vor Dreck und Schmutz. Obwohl all diese äußerlichen Aspekte ihn stark wirken ließen, schien sein Gesicht von fast kindlicher Natur, beinahe knabenhaft.

"Oh, verdammt!", schrie er plötzlich auf. Oscar erwachte aus ihrem Trancezustand und sah dass der Unbekannte sich den Fuß gestoßen hatte.

"Wir sind nun schon zum zweiten Mal hier! Was erhofft sich Robespierre hier nur zu finden?". Empört hüpfte er geckenhaft herum.

Plötzlich ging der zweite Mann, dessen Gesicht Oscar nicht erblickt konnte, an ihrem Sichtfenster vorbei und betrat den Nebenraum. Oscar zuckte zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie den Fremden hätte berühren können, wäre nicht die Tür zwischen ihnen. Ihr Atem beschleunigte sich und sie wartete darauf entdeckt zu werden. Doch der Fremde kamen nicht weiter ins Zimmer hinein. Er wollte den vermeintlich leeren Raum wieder verlassen, wurde jedoch von seinem Kameraden aufgehalten.

"Grand! Hast du jemanden gesehen?"

Der Angesprochene bemerkte einen Schatten durch den Spalt von Angel und Tür, der sich leicht bewegt hatte. Er ging noch näher heran und im gleichen Moment starrte Oscar in sein Gesicht. Sie fiel. Oscar fiel in ein schwarzes Loch. Als sie in die grünen Augen blickte, stand die Welt still. Sie kannte diese Augen. Oscar würde sie unter Tausenden wiedererkennen.

Auch Grand starrte seinen Gegenüber an und erstarrte. Oscar wusste, dass er es war. Mit jeder Faser ihres Körpers wusste sie es. Lautlos hauchte sie seinen Namen und er erwachte aus seiner Erstarrung. Seine Augen spiegelten nun unendliche Liebe wieder, aber nur für einen kurzen Moment, dann sah er fort und verließ das Zimmer.

Oscar wollte laufen, sie hatte das Gefühl, dass sie es bereits tat, bewegte sich jedoch nicht einen einzigen Zentimenter. Sie sah nicht mehr, wie Grand aus der Offizierskammer verschwand und der andere Mann ihm genervt entgegnete

"Wo willst du hin? Wir sind noch nicht fertig?" Und auch er verschwand daraufhin.

Es wäre Oscar egal gewesen, wenn er sie noch gefunden hätte. Sie dachte einzig und allein an diese Augen. Erst angebliche Stärke vortäuschend und dann sich in jene verwandelnd, die Oscar schon so lange kannte und liebte. Oscar atmete nicht. Sie brach unter Tränen auf dem Boden zusammen und weinte. Sie betete, dass es sich nicht um einen Traum handelte.
 

***

Oscar erinnerte sich nicht mehr, wie sie zu Bernard und Rosalie zurück kam. Als sie aus ihrem Tagtraum erwachte, dämmerte es schon. Bernard saß auf einem Stuhl neben ihr. Er schien sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er hatte gewusst, dass Oscar bei der Bastille war, doch seitdem hatte sie kein einziges Wort mehr gesprochen.

Ihre Augenlider zuckten, sie schien endlich aus ihrem Tagtraum zu erwachen.

"Oscar?", fragte er zögernd "Oscar? Ich bin es...Bernhard." Sie schien ihm in diesem Augenblick so verletzlich und weit entfernt, dass es Bernhard mit der Angst zu tun bekam.

"Ihr arbeitet für Robespierre, wenn ich mich recht erinnere, nicht wahr?", diese Frage kam so unvermittelt, dass Bernhard all seine Vermutungen vergaß und sich nun mehr über ihre gesprochenen Worte wunderte

"Ja. Das hatte sich bisher nicht geändert...Oscar? Was ist mit Euch?".

"Ihr seid mir immer ein guter Freund gewesen ... warum habt ihr mir verschwiegen, dass André noch lebt? Warum tut Ihr mir das an?" Oscar blickte in die Augen ihres Gegenübers und erkannte darin nur Verwirrung.

"Wovon sprecht ihr? Soll ich einen Arzt kommen lassen?", Bernhard wollte seine Hand an ihre Stirn legen, doch Oscar schob sie unwirsch fort.

"Heute, als ich in der Bastille war, sind mir zwei Männer begegnet." Ihr Hände begannen zittern. Noch immer fürchtete sie aus einem Tagtraum zu erwachen

"Bernhard, ich habe ... ich habe heute André gesehen. Er wurde von einem anderen Mann begleitet, der ihn stets ,Grand' nannte. Ich schwöre es, bei meiner Seele."

"Oscar, es tut mir leid, Euch das sagen zu müssen, aber André ist tot...," sie unterbrach ihn energisch "Nein! Das ist nicht wahr! Ich habe ihn gesehen!".

"Wieso glaubt Ihr das so sehr? Ich verstehe ja, dass Ihr um ihn trauert."

"Er stand nur einen Schritt von mir entfernt! Ich hatte mich vor den beiden versteckt, weil ich hören konnte, dass sie nicht erkannt werden wollten. André aber, hat mich entdeckt...Und nun sagt mir, wenn er es nicht gewesen war, warum hatte er mich dann nicht getötet? Er stand direkt vor mir. Es ist kein Irrtum möglich, Bernard."

Oscar schien sich ihrem Erlebnis sicher, das konnte Bernhard nicht anzweifeln.

Sie war bodenständig und handelte mit Bedacht. Aber hier ging es um André. Durch den schweren Verlust den Oscar durch seinen Tod erlitten hatte, war sich Bernhard nicht mehr absolut im Klaren darüber, ob nicht dadurch das Urteilsvermögen von Oscar eingeschränkt war.

"Ihr hattet davon gesprochen für Robespierre zu arbeiten," erinnerte sie ihn erneut. In ihren Augen stand Hoffnung geschrieben. Konnte sich Bernhard nicht doch an eine Auffälligkeit bei seiner Arbeit mit Robespierre erinnern.

"Ihr wisst, dass ich ein enger Vertrauter von Robespierre bin. Er hätte mir sicher von neuen Anhängern berichtet," meinte er, während er aufstand und zum Fenster schritt.

"Überlegt, Bernhard! Was wäre, wenn es sich nicht um offizielle Leute von Robespierre handelt? Vielleicht sind sie angesetzte Spitzel, von denen er Euch nicht berichtet hat, weil er mit ihnen seine persönlichen Pläne verfolgt?

Sie trat an seine Seite. Es musste ihr gelingen Bernhard zu überzeugen. Er senkte den Kopf. Hatte sie recht? Er musste zugeben, dass der ,Kopf der Jakobiner' in letzter Zeit von seinen ursprünglichen Plänen abgewichen war. Er atmete laut aus und traf eine Entscheidung

"Was muss ich tun?"

"Überzeugt Robespierre davon mich für ihn arbeiten zu lassen!"

"Nein, das kann nicht Euer Ernst sein! Er wird Euch erkennen und mich als Verräter bloßstellen, weil ich den Adel in sein Haus einlasse, gegen welchen er seit Jahren kämpft."

"Denkt Ihr, ich würde Euch in Gefahr bringen? Robespierre wird mich nicht erkennen. Ich werde Frauenkleider tragen. Obwohl selbst mir die Vorstellung absurd vorkommt." Oscar hatte ihr gesamtes Vorhaben bereits genauestens durchgeplant. Bernard wandte sich Oscar zu und versuchte sich vorzustellen, wie sie in Frauenkleidung aussehen mochte. Bei diesen Gedanken musste er unweigerlich lächeln. Die unerschrockene Oscar in Kleidern?

"Warum lächelt Ihr?"

"Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr ein solches Risiko eingehen wollt?"

"Ja, ich muss einfach wissen, ob ich heute früh wirklich André vor mir hatte. Ich verspreche Euch, nichts größeres mehr von Euch zu verlangen! Aber vorerst benötige ich Eure Hilfe, damit mir Robespierre vertraut und mich akzeptiert!Bitte Bernard!" Oscar wusste, dass Bernhard ein solches Opfer für André und sie aufs Spiel setzen würde. Dafür dankte sie ihm von Herzen.

"Er wäre unberechenbar, wenn er Eure wahre Identität entdecken würde. Das muss Euch bewusst sein!" Bernhard blickte tief in ihre blauen Augen und fast sogar ein Stück in ihre Seele, die nach Gewissheit um André verlangte. Er glaubte an sie.

"Sobald wie möglich werde ich Euch ihm vorstellen. Hoffen wir, dass er keinen Verdacht hegen wird," beendete Bernhard das Intrigengespräch, sich nicht im mindesten klar darüber ob er richtig handelte.
 

***

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Dies ist der erste Teil einer Gemeinschaftsarbeit von Anne und mir und glaubt uns, der zweite Teil wird demnächst folgen, jedoch nur unter der Vorraussetzung, dass ihr Leute (ja! Ganz recht! Ihr, die ihr das hier lest!) auch ehrliche Kommentare uns zukommen lasst. Wir bitten untertänigst darum :o) Verbesserungsvorschläge werden ebenso dankend entgegengenommen, denn wir wollen unsere Leser zufrieden stellen...

Also schreibt, schreibt, schreibt...schreibt was das Zeug hält! Und wir hoffen, dass euch die Fic gefällt :o)

Grüße von Fastcaranbethrem und DKrisi :o)

Leid

"Welchen Auftrag hatte ich Euch erteilt?" Die Frage hallten durch die Notre Dame, eine Kirche die eines der Herzstücke von Paris darstellte und der Zufluchtsort für Robespierre und seine Anhänger war. Die Stimme, bekannt in ganz Paris, tobte bedrohlich wie ein Orkan über die beiden Männer. Überall in Frankreich war Robespierre in aller Munde, weil er die Courage besaß, sich öffentlich gegen die Herrschaft der Bourbonen auszusprechen. Die Menschen vertrauten ihm. Was jedoch bisher niemand wusste und nur wenige ahnten, war, dass er selbst die Macht über Frankreich erlangen wollte. Erst die grausamen Septembermorden, würden zeigen, dass sich Robespierre nicht nur über den König, sondern auch über Gott und Kirche stellte. Viele würde durch seinen Befehl leiden und sterben, bis sein Kopf selbst fiel. Noch schüttelten ihm die Bürger treuherzig und dankbar die Hände und gehorchten seinen Befehlen. Es waren erst wenige Wochen seit der Eroberung der Bastille vergangen. Am 4. August 1789 hatte der König die Nationalversammlung einberufen, um die Adelsprivilegien abzuschaffen. Am 26. August waren die Menschen- und Bürgerrechte erklärt worden. Das alte Feudalrecht würden vor dem Ansturm des neuen Bürgertum nicht mehr bestehen können.

Grand gehörte zu den wenigen, welche die wahre Identität von Robespierre kannten. Mit jedem neuen Zusammentreffen verabscheute er ihn mehr und mehr. Grand hätte ihn längst getötet, aber Robespierre kettete seine Treue und Loyalität durch Erpressung an sich. Sollte Grand ihm nicht gehorchen, würde ein Mensch sterben. Ein Leibwächter begleitete ihn ständig und behielt ihn sorgsam im Auge. Er sollte nicht einmal die Möglichkeit in Betracht ziehen, fliehen zu können.

"Ich hatte Euch aufgetragen wichtige Dokumente aus der Bastille zu sichern! Hat einer von Euch in irgendeiner Weise meine Worte nicht richtig verstanden?" Robespierres Stimme prallte an den dunklen Mauerwänden der Kirche ab und echote durch das gesamte Gebäude.

"Wir hatten das Gefühl beobachtet zu werden," rechtfertigte sich Jean-Luc, Grands Begleiter.

"Habt Ihr jemanden gesehen?"

"Nein, Robespierre," gab er kleinlaut zu. Grand wendete sich ab. Erinnerungen an die unerwartete Begegnung in der Bastille überfluteten ihn.

Ein Gesicht, vertraut und geliebt in jeder Einzelheit.

Augen blau und klar, ihn ungläubig ansehend,

Haut weich wie Seide, noch blass von langer Krankheit,

Lippen voll und einladend und so gern von ihm geküsst.

Der Jakobiner bemerkte misstrauisch die abwesende Haltung seines Spitzels.

"Willst du mir irgendetwas sagen?" fragte er barsch und blickte ihn direkt an. Grand machte keine Anstalten ihm zu antworten. Seit er unter der Gewalt der Jakobiner stand, hatte er nicht mehr gesprochen, mit keiner Menschenseele. Er konnte still leiden. Über 20 Jahre vergrub er schon die Schmerzen seines verzweifelten Herzens tief in seinen Inneren. Er vertraute den Menschen nicht mehr, ganz besonders nicht denen, die in diesem Augenblick in der Kirche anwesend waren.

"Du schuldest mir eine Menge, Grand! MIR hast du es mir zu verdanken, dass dein rechtes Auge nicht auch noch verloren ging, wo du doch nur noch dieses eine besitzt...," Robespierre klang höhnisch und Grand zeigte ihm seine Dankbarkeit, indem er ihn nur weiter hasserfüllt entgegenblickte. Doch es war wahr. Persönliche Ärzte Robespierres hatten sein Augenlicht vollständig gerettet. Hätte er damals geahnt, für welchen Preis, dann hätte er verzichtet, ohne Reue, ohne Bedauern. Aber es war zu spät.
 

***
 

"Bernhard, du musst Lady Oscar beruhigen! Der Arzt sagt, sie soll sich unbedingt noch schonen." Rosalie lief aufgebracht hinter ihrem Mann her. Bernhard blieb an der offenen Hintertür seiner Wohnung stehen und beobachtete Oscar, wie sie einige Grundübungen des Fechtens mit ihrem Degen wiederholte.

Es war noch nicht einmal eine Stunde vergangen, seit sie ihn darum bat, sie in die Gruppe von Robespierre einzuschleusen. Der Wind zog die Wolken am Abendhimmel auseinander und riss sie in kleine Fetzen.

"Sag Rosalie, kannst du so schnell wie möglich ein Kleid für Lady Oscar schneidern?" fragte Bernhard unerwartet. Seine Frau starrte ihn ungläubig an. Oh, er kannte diesen Blick gut und beeilte sich sie so schnell wie möglich zu beruhigen.

"Keine Angst, sie wird nichts Unüberlegtes tun. Ich möchte dir aber nicht zu viel verraten. Kannst du das verstehen?" Er legte seine Hand auf ihre Schulter und sah ihr tief in die Augen

"Ja, ich vertraue dir und Lady Oscar. Das Einzige was ich wissen muss ist, ob ich mir Sorgen um Euch beide machen muss?"

"Das kann ich dir leider nicht versprechen, meine geliebte Rosalie." Er hasste es, seiner Frau Angst einzujagen, aber sie verlangte eine ehrliche Antwort.

"Versprich mir, dass du auf Euch beide aufpasst!"

"Ja," versprach Bernhard mit dem Brustton der Überzeugung und beugte sich zu ihr hinunter, um sie zärtlich zu küssen. Seine Frau erschien ihm so zerbrechlich. Er fürchtete immer, nicht sanft genug mit ihr umzugehen. Äußerlich zart, aber voll innerer Stärke, dafür liebte er sie.

"Ich werde sofort an die Arbeit gehen." Sie wandte sich zum Gehen. Ein Kleid sollte schließlich fertig werden.

"Ich danke dir, Rosalie," rief Bernhard seiner Frau nach.
 

Oscar hatte sich vorgenommen wieder regelmäßig das Fechten zu trainieren. Durch die lange Bettruhe füllte sie sich zu schwach, um sich im Notfall richtig verteidigen zu können. Früher hatte sie sich nie schwach gefühlt. Früher, ein seltsames Wort. FRÜHER, hatte sie nie viele Gedanken an die Vergangenheit vergeudet. FRÜHER, hatte sie sich kaum Gedanken an ihr Gefühlsleben erlaubt. Bestimmte Gefühle gestattete sie sich, andere nicht. FRÜHER, hatte sie geglaubt das gesamte Leben noch vor sich zu haben. Das war die größte Dummheit, die sie je begangen hatte. Ein Leben konnte so schnell vorüber sein, denn die Ereignisse überstürzten sich. Ihre Krankheit brach aus und sie erfuhr, dass André dabei war, fast vollständig zu erblinden. Und jetzt? Jetzt müsste man die Zeit zurückdrehen können, um viele Dinge früher erkennen zu können und sich anders zu entscheiden.

Sie sah auf ihre rechte Hand hinunter. Diese hielt ihr Schwert, welches seit Generationen in der Familie de Jarjayes weitergereicht worden war. Eigentlich hatte sie kein Recht darauf, es weiterhin zu tragen. Als die Französische Revolution ausbrach, hatte sie ihren Rang, Titel und den Namen ihres Vaters abgelegt, mit dem neuen Bewusstsein die Frau eines Mannes von bürgerlicher Herkunft zu werden.

Langsam hob sie das Schwert und legte das Ende der Klinge in ihre linke Hand. Sie sah es gedankenversunken an.

Von seinem Beobachtungsposten an der Tür aus, erkannte Bernhard, dass Oscar das Schwert zerbrechen wollte. Er lief ihr entgegen.

"Tut das nicht, Oscar!" rief er aufgebracht, da sie scheinbar nicht davon abzuhalten war. Er ergriff ihre Hand. "Bitte Oscar, tut das nicht!" wiederholte er "Dieses Schwert ist das einzige Erbstück, dass Euch von Eure Familie und Euren Vater geblieben ist. Ihr würdet es bereuen, dass wisst Ihr selbst."

"Warum tut Ihr das, Bernhard? Euch ist nicht bewusst, dass Blutschande und Verrat auf diesem Schwert geschrieben steht?"

"Nein," erwiderte ihr Freund "Das ist nicht wahr! Ihr habt Unrecht. Denn Ihr habt mit diesem, EUEREM Schwert für die Freiheit des Volkes gekämpft. Euer Schwert war für die Menschen ein Zeichen, welches gekommen war, um die Bastille zu erobern. Es war das Zeichen, welches zusammen mit EUCH erschienen ist!"

Schweigen legte sich über den Hof und hüllte die beiden Menschen darin ein.

"Etwas sehr melodramatisch, Bernhard."

"Ja, ich weiß. Ich bin Journalist und Redner vor dem Volk. Das ist eine Berufskrankheit." Bernhard zuckte die Schultern und lächelte, dann wurde er wieder ernst.

"Versprecht mir, das Schwert nicht zu zerbrechen!" Sie nickte.

"Es tut mir leid, Bernhard," Oscar senkte den Kopf "Ich habe nur das Gefühl die falschen Entscheidungen in meinem Leben getroffen zu haben." Bernhard sah, dass sie dabei war sich selbst aufzugeben. Er wurde ärgerlich. Nun reichte es aber.

"Ich finde nicht, dass es eine falsche Entscheidung ist, für eine gute Sache zu kämpfen. Ihr sagtet, dass Ihr Euren Rang und Titel aufgegeben habt, für den Mann den Ihr liebt und für seine Überzeugungen wolltet Ihr kämpfen. Wenn Ihr jetzt anderer Überzeugung seid, so tut es mir für André leid." Er hat recht, dachte Oscar und das gab sie äußerst ungern zu. Sie hasste es, wenn andere Recht behielten.

"Nein," meinte sie überzeugt. "Es ist noch immer so"

"Sehe ich da ein Lächeln?" Sie lächelte schief und zerknirscht. "Und nun hört auf, Euch selbst zu bemitleiden.... Und nehmt die Klinge aus der Hand, dass macht mich nervös! Oscar," sprach er eindringlicher auf sie ein. "Ich vertraue Euch. Und ich glaube an Euch. Wenn Ihr sagt, Ihr habt André wirklich gesehen, dann helfe ich Euch ihn zu finden. Ich schulde Euch meine Freiheit und mein Leben. Und ich bin Euer Freund."

Sie sah ihn kämpferisch an.

"Es ist mir wichtiger, dass Ihr mein Freund seid. Denn Euer Leben und

Eure Freiheit gehören Euch. Und ich werde André finden."
 

***
 

Er liebte die Stille. Aber diese Art von Ruhe in Paris stimmte ihn unruhig. Vor Jahren war es für ihn undenkbar gewesen im Zentrum der ,Stadt der Könige' zu sitzen und dabei nicht das geringste wahrzunehmen. Er hörte, wie der Wind leise durch die offenen Straßen von Paris streifte. Die Sonne ging langsam unter. Ihr Licht tauchte die Stadt in goldrote Farbe. Eine neue Zeit war angebrochen. Das Volk hatte es geschafft, die Herrschaft der Bourbonen zu beenden. Und dennoch, Armut und Hungersnot herrschte weiterhin in Frankreich. Viele Menschen waren gestorben und man hatte nicht einmal genug Geld um die eigenen Mitmenschen zu begraben. Die Plünderungen beim Bauernaufstand Ende Juli waren nur Tropfen auf dem heißen Stein. Angeheizt durch die Unruhen in Paris war die Lage auf dem Land eskaliert. Gerüchte über umherziehende Räuberbanden und einen bevorstehenden Militärputsch schwirrten wie Fliegen umher. Schließlich wurde der, durch die hohen Abgabepflichten schon lange schwelende Hass der Bauern, gegen ihre "Herren" übermächtig. Schlösser, Landsitze und Klöster wurden gestürmt und geplündert. Glaubte das Volk wirklich an ihre Rettung durch Robespierre?

Er wagte nicht daran zu denken. Die Menschen kannten nicht das wahre Gesicht des Extrem-Jakobiners und er betete zu Gott, dass sie es nicht zu spät wahrnehmen würden.

Das herrliche Rot der Sonne legte sich über die Dächer von Paris und zum ersten Mal seit langem konnte sich Grand an solch einem Anblick erfreuen.

Was war mit ihm geschehen?

Er hatte die Revolution gewollt. Er wollte für "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" kämpfen und siegen. Er wollte, dass unüberwindbare Schranken, wie Stand und Rang fielen, damit er diese eine Frau lieben konnte. Vor allen Dingen wollte er sie lieben, aber Robespierre ließ ihn nicht. Darum tat er, was ihm von Robespierre auferlegt wurde, ohne es zu wollen. Er verlor sie und mit ihr seine Seele.

So schrecklich ihn die Vorstellung quälte, sie nie wieder zu sehen.

So sehr er ihren Anblick, ihre Stimme, ihren Duft, ihr Lachen vermisste,

sie würde nicht wiederkehren, sie DÜRFTE nicht wiederkehren!

Denn das würde ihren wirklichen Tod bedeuten.

Still, einsam und verlassen saß er auf der Vormauer des großen Glockenturmes der Notre Dame und beobachtete, wie die Sonne langsam hinter Paris verschwand.

Niemand bemerkte, dass er hier oben saß. Weit unter ihm kümmerten sich die Anwohner von Paris nicht mehr um ihre ,lebenden' Mitmenschen.

"Grand? Komm endlich runter! Ich möchte wegen dir keinen Ärger bekommen oder hast du vergessen, dass wir neue Aufträge erhalten haben?" Jean-Luc schrie sich verärgert die Kehle wund, während er zu Grand hoch starrte und ungeduldig von einem Bein aufs andere trat. Grand sprach nicht mit ihm. Er hatte nie mit ihm gesprochen und er würde ihm auch heute nicht antworten. Er konnte still leiden.
 

***

Versuch

Die große, hölzerne Eingangstür knarrte, als Bernard sie langsam öffnete.

"Maximilian? Robespierre?" rief er durch das Tor ins Kircheninnere und wartete auf Antwort. Es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn Robespierre und seine Anhänger an diesem Morgen keine Versammlung in Notre Dame abgehalten hätten.

"Bernard Chatelet?" Die vertraute Stimme Robespierre antwortete ihm. Bernard sah ihm am Altar stehen.

"Ja! Bist du allein?"

"Ja, tritt ein! Ich bin überrascht dich wiederzusehen, Bernard. Du hast dich bereits seit Tagen nicht mehr bei uns gemeldet" meinte Robespierre ruhig, obwohl Bernard deutlich heraushörte, dass sich der Jakobiner verraten fühlte und Bernard wusste, wenn dieser Verdacht in ihm aufkeimte, war es fast schon zu spät.

"Verzeih mir! Ich bin in letzter Zeit viel herumgereist, um die Menschen zu beruhigen. Es sind zu viele falsche Gerüchte im Umlauf, deshalb ist es in den Provinzen zu Eskalationen gekommen."

Robespierre nickte wissend. "Ich habe gehört, dass du die direkte Zusammenarbeit mit Saint Juste abgelehnt hast. Warum Bernard, Saint Juste ist ein guter Kämpfer für unsere Sache. Seine Reden und Ausstrahlung begeistern das Volk."

"Die Bürger sind in diesen Tag leicht zu begeistern und zu beeinflussen." Robespierres Blick verdüsterte sich, seine Stimme wurde eiskalt.

"Glaubst du, ich übe falschen Einfluss auf das Volk aus?"

"Nein, nein," beeilte sich Bernard ihn zu beruhigen. "Saint Juste neigt mir zu sehr zu Grausamkeiten."

"Wir müssen hart und grausam sein, wenn wir die alten Machtverhältnisse stürzen wollen, BERNARD!"

"Ich bitte dich nur, mich auf meine Art und Weise arbeiten zu lassen, Maximilian! Aber ich komme wegen einer anderen Bitte zu dir."

"Das wäre?" Robespierre wippte ungeduldig auf seinen Fersen.

"Eine Cousine von Rosalie möchte für uns arbeiten. Sie will ihren Beitrag zu einem neuen Frankreich leisten. ... Sie ist ... sie ist eine große Bewunderin von dir, Maximilian."

"Bernard, ich habe nicht die Zeit, mich von irgendwelchen Frauen anhimmeln zu lassen."

"Gib ihr irgend eine Aufgabe, Maximilian. Ich habe es meiner Frau versprochen." Robespierre lächelte verhalten. "Es sind die Bitten der Frauen, Bernard, die ganze Königreiche in den Ruin treiben. Marie-Antoinette, Pompadur, DuBarry und wie sie alle heißen. ... Ich werde dich benachrichtigen."

"Ich danke dir, Maximilian." Bernard wandte sie um und schritt dem Lichttor am geöffneten Portal entgegen.

"Und Bernard," Robespierres Ton rollte grollend zu ihm hinüber. "GEMEINSAM werden wir Frankreich in eine neue Zeit führen." Widerstand regte sich in Bernard.

"Vive la revolution, Adieu Maximilian." Er nickte Robespierre zu, bevor er die Kirche verließ. Noch glaubte er an die Ideale des ehrgeizigen Advokaten.
 

***
 

Bernard verließ Notre Dame im Eilschritt und tauchte er in den verzweigten Gassen Paris unter. Die Sonne stand hoch und hell. Ihre Strahlen drangen kaum in die engen Straßen hinunter. Es war still und täuschend ruhig. Die Gegend wurde verwinkelter, als der Journalist in die Gassen um den Place St. Denis eintauchte. Er näherte sich seinem Zielort über mehrere Umwege und versteckten Hinterhöfen. Als er sicher ging, dass ihm niemand folgte, betrat er eins der baufälligen Wohnhäuser. Die Fensterläden waren geschlossen, um die Hitze der letzten Septembertage auszusperren. Das Treppenhaus erstreckte sich wacklig und dunkel zu den oberen Stockwerken. Die Stufen knarrten, wie die Gelenke einer alten Frau, als er ins zweite Stockwerk stieg. Bernard musste nicht erst anklopfen. An der offenen Wohnungstür stand sein Besitzer lässig am Türrahmen gelehnt, ein breites Grinsen lag auf den markanten Gesichtszügen. Der Grund hing an seinem Arm, jung, hübsch und fortwährend kichernd.

"Salut Alain," Bernard wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn.

"Salut Bernard, was führt Euch hierher? So, ma chérie jetzt muss ich mich leider von dir verabschieden." Es folgte ein Klaps auf die zarten Hinterbacken, dann schwebte sie kichernd von dannen.

"Süßes Ding," lachte Alain und winkte Bernard in seine Wohnung. "Kommt herein!" Das Zimmer lag im halbdunkeln. Schattenhaft zeichneten sich die wenigen Möbelstücke ab. Alan holte eine Weinflasche mit zwei Bechern und machte es sich am Tisch bequem.

"Hört auf, so lüstern zu grinsen, Alain! Ich bin nicht Eure kleine Freundin." Bernard lachte, während er sich setzte. Alain grinste noch breiter. "Ich kann nicht leugnen, dass es mir lieber wäre, sie würde jetzt hier sitzen."

"Tut mir leid, Alain, aber ich musste Euch unbedingt sprechen."

"Was macht die neue Führung unseres Landes? Wollt Ihr jetzt das Bürgertum in den Adelstand erheben und den 1. Stand auf die Felder zum Arbeiten schicken? Ich wäre gerne zur Abwechslung Wohlhabend." Alain lehnte sich genüsslich zurück.

"Ich muss Euch enttäuschen, Alain. Noch haben wir einen König."

Bernard seufzte.

"Es werden immer mehr Gerüchte laut, dass das Volk seinen König wieder in Paris haben möchte. Stimmt das?"

"Das stimmt. Unter der Bevölkerung brodelt es noch immer. Ich fürchte, die Bauernaufstände waren erst der Anfang. Überall herrschen noch immer große Armut und Hungersnot, aber die Staatskassen sind leer. Alain, weswegen ich Euch eigentlich aufsuchte ... habt Ihr André gesehen oder von ihm gehört?"

"Ich versteh Eure Frage nicht, Bernard. Das Letzte was ich von André hörte, waren seine letzten Worte an Oscar. Wollt Ihr damit sagen, dass er noch lebt?" Mit allem hätte Alain gerechnet, aber nicht mit dieser Wendung des Gespräches.

"Doch genau das will ich damit sagen," erwiderte Bernard ruhig.

"Habt Ihr ihn gesehen?"

"Nein, ich weiß es nur aus zweiter Hand."

"Und, wer will André gesehen haben?"

Langsam beugte sich Bernard Alain entgegen und feixte unübersehbar. "Lady Oscar!"

Alain lachte. Er schlug sich auf die Schenkel und lachte bis ihm die Luft ausblieb.

"Und wer will sie gesehen haben?"

"Ich! Sie ist derzeit bei mir und Rosalie zu Hause." Bernard wurde wieder ernst. "Ihre Genesung brauchte sehr lange, da sich heraus stellte, dass sie unter Tuberkulose litt. Es weiß bisher niemand, dass sie noch lebt. Beim Sturm auf die Bastille hat sie sich auf unsere Seite begeben und somit Hochverrat begangen. Wir wissen nicht, wie ihr Vater und der Militärrat zu ihr stehen. Also hielten wir es für das Beste, vorerst niemanden etwas zu sagen. Und ebenso kann auch André überlebt haben. Lady Oscar ist davon fest überzeugt."

Alain schüttelte ungläubig den Kopf. "Aber André lag tot aufgebahrt in der Kirche und Oscar war halb wahnsinnig vor Trauer, um ihn. Sie hat selbst mich kurz für André gehalten."

"Oscar ist weit davon entfernt wahnsinnig zu sein. Sie hat einen äußerst klaren Verstand und es gehört, bei der außergewöhnlich starken Persönlichkeit schon etwas mehr dazu, ihren Verstand zu schwächen. Wir haben nie gesehen, wie André' s Leiche der Erde übergeben wurde. Nachdem die Kämpfe beendet waren, war sein Körper aus der Kirche verschwunden."

"Aber er war tot."

"Scheintote, Alain, kommen vor. Wie oft werden Menschen lebendig begraben. Was wenn ihn jemand fortgeschafft und gepflegt hat, so wie wir Lady Oscar?" Alain schwieg nachdenklich. Er schwieg lange und ausdauernd, dass Bernard hören konnte, wie sich die Holzwürmer durchs Holz fraßen.

"Ich werde mich umhören, Bernard. Ich kenne halb Paris. Irgendwer wird schon etwas wissen."

"Ich danke Euch, Alain."
 

***
 

So, nun sind also auch Kapitel drei und vier beendet, aber es ist noch lange kein Ende abzusehen *lol*

Wir würden uns über Kommentare wie immer sehr freuen, wir wissen nicht was wir sonst sagen sollen, um euch alle zum Schreiben zu bewegen, denn wir wagen es zu bezweifeln, dass bis jetzt nur eine nette Dame diese Fic hier gelesen hat :o)

Grüße von Fastcaranbethrem und DKrisi

Beginn

Ganz langsam schickte sich die gelbe Scheibe der Sonne an zu erwachen und ihre Runden am Horizont zu beginnen. Paris war wach. Das Land lag noch fest in der Hand der Revolutionskämpfe. "Vive la Revolution" hallte es durch die Straßen der Hauptstadt und doch war seine Bevölkerung seit den ersten Morgenstunden auf den Beinen und fügte sich dem Alltag. Das Leben ging weiter.
 

Bernard umkreiste Oscar.

"Hört auf, Bernard! Ich fühle mich ohnehin schon unbehaglich." Oscar funkelte ihn böse an. Nervös strich sie ihren Rock glatt. Nein, sie konnte wirklich nicht behaupten, dass sie sich wohl fühlte. Ohne die schützende Männerkleidung, nackt und schutzlos ihren Feinden ausgeliefert.

Rosalie hatte keine Mühen gescheut und die Nacht hindurch an ihrem Kleid gearbeitet. Als Oscar im Morgengrauen nach ihr sehen wollte, war sie über dem Kleid eingeschlafen. Das Kleid war aus dunkelrotem Stoff geschneidert und schlicht verarbeitet. Ein Kleid für eine Bürgerliche. Es trug sich angenehm. Keine unzähligen Rockbahnen und einengende Korsagen behinderten sie. Ihre abgetragenen Schuhe waren flach und die abgelaufenen Sohlen hallten ungehört über das Pflaster der Straßen. Die Haare waren im Nacken einfach zusammengebunden.

"Ihr seid unauffällig gekleidet, aber etwas stimmt noch nicht, Oscar." Bernards Augenbraue zogen sich nachdenklich zusammen. "Ihr müsst Euch anders bewegen!"

"Ich bewege mich nicht anders als sonst."

"Mhm? Das ist es ja. Ihr haltet Euch zu gerade. An Eurer Rückenhaltung, sieht man Euch Euren wahren Stand an. Zudem lauft Ihr ... zackig. Vergesst, dass Ihr eine Uniform getragen habt!"

"Ich kann nicht einfach vergessen, dass ich eine Uniform trug. Ich habe sie 20 Jahre lang getragen?" Resigniert schob sie ihre Schultern mehr nach vorn.

"NEIN... Ihr müsst nicht gleich übertreiben! Ihr seid doch keine alte Frau. Hört auf! Ich habe das Gefühl, Ihr nehmt mich nicht ernst."

Oscar lächelte. "Ich nehme Euch ernst. Tut mir leid, Bernard. Ich bin nur angespannt." Sie wurde wieder ernst. Jahrelange Gewohnheiten abzulegen, war nicht einfach. Klassenbewusstsein, Umfeld und Erziehung waren fest in einem jeden Menschen verankert und sprachen aus seinem Auftreten und seiner Ausdrucksweise. An dem Abend, als ihre Freundschaft mit Graf von Fersen zerbrach sagte er zu ihr, dass sie, auch wenn sie es versuchte, ihre Erziehung nicht verleugnen konnte. Er hatte recht. Trotzdem verletzten sie seine Worte damals tief. Heute dachte sie anders darüber. Vielleicht, weil André sie bedingungslos liebte, gerade weil sie war, wie sie war.

Oscar nickte kaum merklich in Richtung der Nebenstraßen. Beide näherten sich dem Place du Parivis.

"Seht, Bernard! Es ist trügerisch ruhig in Paris. Die Bürger gehen ihrer gewohnten Arbeit nach, aber unter der scheinbaren Ruhe brodelt es."

Bernard nickte. "Wir befinden uns in der Nähe der Conciergerie. Immer mehr revolutionäre Gegner werden dort eingekerkert. Das Volk ist nach wie vor aggressiv und die Hungersnot, welche überall droht macht es noch schlimmer. Es wird noch fürchterliches passieren."

Sie ging sie schweigsam nebeneinander her, vertieft in ihre eigenen Gedanken.

"Wir sind fast da," sagte Bernhard. Notre Dame ragte vor ihnen auf. Die hässlichen Wasserspeier sahen auf sie hinab. Der Wind spielte mit den ersten Laub. Die rotgoldenen Blätter erhoben sich leicht in die Luft und tanzten über das Kopfsteinpflaster.

"Seid Ihr bereit?" Sie blickte ihn an. In ihren Augen stand die Angst, sich geirrt zu haben; ihren Geliebten niemals wiederzufinden und seine sterblichen Überreste tief im Erdreich vergraben zu wissen.

"Wenn auch nur die kleinste Möglichkeit besteht, dass André noch lebt ... Ich würde alles dafür tun ..." Sie verstummte und ließ sich selbst einige Zeit, um nachzudenken. "Ich hoffe nur, dass ich nicht erkannt werde." Sie sah zu den hohen Fensterbogen auf. Bunte Glastafeln verbargen den Blick ins Innere der Kirche.

"Vertraut mir, niemand wird Euch erkennen. Versprecht mir vorsichtig zu sein und nicht voreilig zu handeln!" Oscar nickte, drehte sich um und schritt auf das Portal zu.

"Ach und Oscar ..."

"Ja?"

"Ihr lauft schon wieder wie ein Soldat."
 

Verblüfft sah Oscar, dass Bernard nicht die Kirche betrat, sondern diese zielstrebig umrundete und eins der Wohnhäuser ansteuerte. Risse zogen sich durch die graue Außenfassade. Der Wind ließ die verschlossenen Fensterläden in ihrer Fassung klappern. Trist, traurig und unscheinbar ragte es vor ihnen auf. Bernard öffnete die Haustür und trat ein. Drinnen empfingen sie Dunkelheit und Stille. Bernard öffnete Tür für Tür. Sie durchquerten leere Wohnungen und verlassene Zimmer. Spärliches Tageslicht drang durch die Ritzen der Holzläden. Je weiter sie gingen, des so mehr Geräusche waren zu vernehmen. Schritte die über knarrende Dielenbretter eilten, Stimmen die Anweisungen erteilten, Türen die auf und zu schlugen.

"Wo sind wir, Bernard?" fragte Oscar während sie ihm folgte. Bernard lächelte still. "Dies ist Robespierres Wunderwerkstatt. All die Flugblätter, verbotene Bücher und Zeitung, welche die Missstände in diesem Land ankreiden, komme von hier. Dieser Ort wäre ein gefundenes Fressen für unsere Gegner." Rhythmisches Stapfen dröhnte durch die Tür. "Das sind die Druckmaschinen," erklärte Bernard auf Oscars fragenden Blick. Er verharrte kurz, bevor er die letzte Tür öffnete und wandte sich an sie.

"Robespierre darf nie herausfinden, dass Ihr hier wart, sonst Gnade uns Gott. Ihr habt zwar auf der Seite des Volkes gekämpft, aber er hat Eure langen Dienste bei ihrer Majestät der Königin nicht vergessen. Seid vorsichtig!" bat er eindringlich. Oscar nickte entschlossen. Die letzte Tür öffnete sich.

Die Wohnung hinter der Tür unterschied sich kaum von dem Schnitt der Anderen. Was dort an Mobiliar fehlte, stand hier auf jeder verfügbaren freien Stelle. Papierstöße und Bücher stapelten sich auf Tische und Regale. Männer und Frauen in unauffälliger Kleidung rannten mit Papierstapeln hin und her. In einen der Nebenräume stampfte die Druckmaschine. Es hallte dumpf, wenn die schwere Platte mit den Eisenlettern niedergedrückt wurde.

"Bernard." Eine alte Frau stieß ihre Gehilfen beiseite, während sie auf die Neuankömmlinge zukam. Sie schlürfte. Ihre Füße hoben sich kaum unter den schmutzgrauen Saum ihres Rockes. Fettige Haarsträhnen lugten unter der Haube hervor und umrahmten ein faltiges Gesicht mit derben Zügen. Bernard verbeugte sich leicht.

"Madam Merman. Ich bringe dir, wie versprochen, meine Cousine Francoise."

"Ich weiß, ich weiß. Sie soll mir helfen." Die Alte musterte Oscar skeptisch. "Sie sieht nicht so aus, als könnte sie richtig zupacken. Ist sie des Lesens mächtig?"

Ihre buschigen Augenbraue zogen sich nachdenklich zusammen. Oscar sah irritiert zu Bernard, welcher ihren Blicken auswich.

"Sie verfügt über ausgezeichnete Grammatikkenntnisse, Madam Merman." Er bewegte sich langsam, aber stetig auf die Tür zu "Ich verlasse Euch nun! Salut Madam. Francoise, wir sehen uns heute Abend!"

Dann war er weg.
 

Madam Merman musterte sie noch immer mit zusammengekniffen Augen.

"Mhm, so recht weiß ich noch nicht, was ich mit dir anfangen soll." Sie umfasste ruckartig Oscars Hände, drehte diese nach oben und fuhr mit ihren rauen Fingern über die Oberfläche. "Abgenutzt sind sie, aber an merkwürdigen Stellen?" Ihre schwieligen Hände fuhren über harte Haut, die von jahrelanger Degenführung zeugte. Oscar riss ihre Hände los und baute sich zu voller Größe auf. Sie überragte Madam Merman um zwei Köpfe.

"Ich kann Euch versichern, dass ich durchaus "zupacken" kann, aber ich fürchte hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin bereit für Monsieur de Robespierre zu arbeiten, aber dies scheint mir nicht ...."

"Ha!" unterbrach die Alte sie.

"Ha?" Madam Merman packte die verblüffte Oscar am Arm und zog diese in einen Nebenraum.

"Wusste ich doch, dass ich Euch kenne." Oscar erbleichte, ihr Körper spannte sich an. Madam Merman fuhr sich triumphierend mit der Zunge über die zwei schwarzen Stummeln in ihrem Mund, die hier in Ermangelung eins besseren Ausdrucks "Zähne" genannt werden sollen.

"Ihr seid dieses Weibsbild, welche immer in Männerkleidung herumläuft. Ihr habt die Soldaten beim Angriff auf die Bastille befehligt." Oscars Körper war angespannt, wie eine durchgezogene Bogensehne, bereit sich jederzeit sie zu verteidigen. Sollte schon jetzt alles aus sein?

"Es ist mir eine Ehre! Es ist mir eine Ehre." Madam Merman schüttelte ihre Hand, dass sie vorwärts kippte.

"Eine Frau, die den Männern Befehle erteilt. Ihr seid eine Kämpferin für die Frauenbewegung!" Eine Kämpferin für was? Madam Mermans feurige Rede, versprühte sich in feuchter Aussprache auf ihre Gesprächspartnerin.

"Madam Merman, Ihr müsst dies für Euch behalten! Bitte, ich ..."

"Verstehe, verstehe," unterbrach die Alte sie. "Meine Lippen sind versiegelt. Der Kommandeur der France Garde, es ist mir eine Ehre! Aber hier habe ich das Kommando, Schätzchen hahah. Ihr macht einfach das, was ich Euch sage und wir werden wunderbar mit einander auskommen!" Während sie sprach landete Papierbündel für Papierbündel auf Oscars Armen. "Hier, dies sind mehrere Artikel von unseren Revolutionären. Glühende Vertreter für unsere Sache und großartige Schreiber. Die jungen Männer haben viel Feuer unter dem Hinter, aber leider mangelt es ihnen an Rechtschreibkenntnissen. Bügele einfach die gröbsten Fehler raus, Schätzchen, bevor wir es unter der Bevölkerung verteilen. Hier, dies dürfte das letzte Blatt zum Korrigieren sein!" Oscar bekam einen schwungvoll Klaps auf ihren verlängerten Rücken.

Schätzchen? Hatte sie Schätzchen gesagt? Oscar hatte die beste militärische Ausbildung erhalten. Sie hatte Kompanien befehligt und Soldaten herumkommandiert. Für ihre Ideale kämpfte sie und würde dafür sterben. Ihrer Liebe zu André wegen, hatte sie sich dem König und ihren Vater wiedersetzt, aber gegen "Schätzchen" und einen gezielten Schlag auf ihr Hinterteil kam sie nicht an. Gegen einen derartigen Übergriff war sie nicht ausgebildet worden und so fügte sie sich dem Unvermeidbaren.

"Setz dich dort hin, Schätzchen! Nein, dort! Dein Geheimnis ist bei mir sicher. So, jetzt muss ich mich um andere Sachen kümmern. Ich hoffe, wir finden nachher Zeit, für ein längeres Gespräch." Mit einem verschwörerischen Zwinkern schlürfte sie von dannen.

Oh, bitte nicht, dachte Oscar gequält. Für ein längeres Gespräch war ihre Aussprache einfach zu feucht.
 

Die Sonne hatte ihre Runde beendet. Der letzte Septembertag des Jahres 1789 ging zu ende. Auf den Lande tobten noch die Kämpfe und in den Straßen von Paris wanderten aufrührerische Texte von Hand zu Hand. Der Wandel war unaufhaltsam. Lautes Klopfen an der Tür schreckte Bernard aus seinen Gedanken auf. Er eilte zur Tür um diese zu öffnen. Unerwartetherweise stand Alan vor dieser.

"Alan, ich freue mich Euch zu sehen. Kommt herein!" Beide Männer setzten sich, nachdem Alan Rosalie begrüßt hatte.

"Habt Ihr etwas herausgefunden?" Bernard beugte sich ungeduldig vor. Rosalie rutschte erwartungsvoll auf ihrem Stuhl hin und her. Ein kleiner Hinweis war so wertvoll, doch Alan schüttelte seinen Kopf.

"Es tut mir leid, Bernard. Bisher weiß ich nichts, aber verschiedene Kameraden hören sich für mich um. Ich bin eigentlich nur hier, weil ich Oscar sehen wollte. Ihre Wiederauferstehung hat mich neugierig gemacht. Außerdem wollte ich wissen, was ihr weiter vor habt." Bernard lehnte sich auf seinen Stuhl zurück.

"Oscar müsste bald kommen. Sie arbeitet jetzt für Robespierre." Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Anders allerdings, als sie es sich vielleicht vorgestellt hat."

"Was meint Ihr?" fragte Alan. Er bekam seine Antwort nicht mehr, da die Tür mit einem Ruck aufschwang. Die Holzbretter vibrierten, nachdem sie geräuschvoll an der Wand zum Stillstand kamen. Oscar stand in der offenen Türfüllung. Die Sonne ging rotgolden hinter ihr unter und ihre Strahlen vermischten sich mit dem Rot des Kleides. Ihre Augen glühten. Sie stand aufrecht und gerade. Zoll für Zoll sprach aus dem langgestreckten, schlanken Frauenkörper der Offizier. Bernard verstand, wie diese Frau in einer Männerwelt überleben konnte.

"Versteht doch, Oscar! Es war zu gefährlich, Euch näher an Robespierre heranzubringen," versuchte sich Bernard zu entschuldigen. "Und Madame Mermans genießt sein Vertrauen. Sie ist eine glühende Revolutionärin."

"Entschuldigt mich bitte, ich muss mir die Revolution aus dem Gesicht waschen gehen! Sie hat nämlich eine äußerst feuchte Aussprache. Bon soir Alan." Oscar durchquerte den Raum und nickte Rosalie und Alan zur Begrüßung zu. Rosalie hielt lächelnd den Kopf gesenkt, während Alan indes unübersehbar feixte. "Das sind die 96 % der französischen Bevölkerung. Das ist das Bürgertum, Oscar."

"Nein, das ist eklig." Rosalie kicherte verhalten.

Alain lehnte sich nachdenklich zurück und dachte näher über ihr Erscheinungsbild nach. Er konnte er sich nicht an einen, nicht einen einzigen Tag entsinnen, an dem er seinen Oberst jemals in Frauenkleidung erblickt hatte. Wie versteinert sah er ins Leere.

"Ich weiß, was Ihr denkt, Alain. Ich kann es in Euren Augen sehen!" Alain erwachte aus seinen Gedanken und sah, dass Oscar bereits wieder zurück war und sich neben Rosalie und Bernard setzte.

"Ich möchte nichts darüber hören, dass ich jetzt Kleider trage. Ob als Frau gekleidet oder nicht, ich wäre noch immer Euer Vorgesetzter...," erklärte Oscar lächelnd, ohne es erst zu meinen.

"Aber nicht doch, Oberst...", widersprach Alain grinsend und sah ihr in die Augen. "Ich würde nie Eure Autorität anzweifeln." Er sprach schnell weiter, damit sie nicht noch auf die Idee kam, ihm mit einem Schwert zu bedrohen. "Ich verstehe André, warum er Euch liebt. Ihr seht bezaubernd aus. Ihr hättet schon früher Kleider anziehen sollen."

"Ich freue mich Euch wiederzusehen, Alan," schob Oscar das Thema beiseite.

"Gleichfalls. Ich freue mich, dass Ihr noch lebt. Ihr habt meine Loyalität, Oscar."

"Das weiß ich Alan und ich danke Euch," erwiderte sie sanft.

"Nun muss ich aber fort... Ich muss noch einige Bekannte treffen ...", verlautete Alain, erhob sich von seinem Stuhl und zwinkerte Bernard zu. "und mich herumhören...". Oscar konnte nur Ahnen, worum es ging. Schon war dieses versteckte Männergespräch beendet. Alain verschwand bereits aus der Tür. Rosalie und Bernard setzten Unschuldsminen auf. Solang es keine positiven Nachrichten gab, brauchten sie Lady Oscar nicht unnötig zu behelligen.
 

***

Auftrag

Schatten huschten durch die Nacht, schnell und unauffällig. Die Dunkelheit war der beste Schutz für sie. Leidenschaftliche Revolutionäre, richteten ihre Gewehre auf alles, was sich bewegte. Die Männer fürchteten um ihre Frauen und Kinder, denn zu viele waren bei dem Sturm auf die Bastille ums Leben gekommen. Die Bevölkerung war schutzlos. Jeden Tag konnten, im Auftrag der Königsfamilie, neue Truppen in Paris einziehen.

Grand lief durch das nächtliche Paris. Unterschwellig kroch aus den Gassen der Geruch nach Blut und Verderben. Er konnte die Menschen verstehen. Aber sein Zorn über die Gewaltausübungen von Seiten des Königs, war nichts gegen den Zorn den er für Robespierre empfand. Doch er war ihm verpflichtet und so befolgte er auch diese Nacht dessen Anweisungen. Mit starrem Blick und angespannten Körper folgte er Jean-Luc über den Place St. Denis. Grand wusste, wohin es in diese Nacht ging, aber er stand ihrem Ziel mit gespaltenen Gefühlen gegenüber. Jean-Luc suchte die Umgebung mit konzentriertem Blicke ab, um zu vermeiden erkannt zu werden. Diese Nacht wirkte Paris trügerisch ruhig.

Ohne es zu bemerken, waren beide Spitzel an ihrem Auftragsort angekommen.

Grand rempelte gegen seinen Begleiter, als dieser plötzlich stehen blieb.

"Pass doch auf! Wir müssen leise sein...", zischte Jean-Luc. "Merdé, er ist zurückgekehrt. Robespierre hatte unrecht." Er kniff unwillig die Augen zusammen.

Grand blickte ihn verständnislos an. Erst als er auf das prunkvolle Haus vor ihnen blickte, begriff er Jean-Luc's Worte. Eine Kutsche stand auf dem Hof und man hatte Kerzen in den Laternen, entlang des Weges zur Villa entzündet. Aber es schien, als schliefen immerhin seine Bewohner.

"Von wegen unbewohnt ..." brummte der blonde Spitzel. "Wir werden unseren Auftrag dennoch erfüllen; egal ob sich, dieser Hurenbock, Bettwärmer der verdammten Österreicherin noch immer in der Stadt aufhält oder nicht. Robespierre wird keine Verzögerungen dulden. Aber der Schönling verdient meinen Respekt. Das er in Paris bleibt, hätte ich ihm wirklich nicht zugetraut. Wenn die Bevölkerung seine Anwesenheit in Paris bemerkt, und glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass sie es bemerken werden, dann muss er nicht nur um sein hübsches Haus, sondern noch mehr, um sein hübsches Gesicht bangen." Er lachte grimmig, ging voraus und ließ einen entsetzten Grand zurück. Wenn dieser loyale Spitzel von Robespierre etwas derartiges voraussagte, dann trat dies meist ein. Auch wenn man es nicht glauben wollte, aber Jean-Luc besaß mehr Macht, als man ihm eigentlich zugedacht hatte, denn er hatte eigene Spione im Untergrund, die nur zu Tage traten, wenn er es für richtig hielt. Und er wusste diese in richtigen Momenten einzusetzen.

Grand wusste nun, was er zu erledigen hatte. Er hatte soeben einen neuen Auftrag erhalten...von seinem Gewissen. Er musste seinen einstigen Freund warnen.

Auf der Rückseite der Villa öffneten sie eine Tür. Die langen Umhänge hinterließen schleifende Töne, als sie etwas gebückt in das Haus eintraten. Drinnen war alles still und dunkel, nur schwer konnte man die Umrisse einzelner Gegenstände ausmachen. Die beiden Einbrecher merkten, dass der Hintereingang direkt in die Küche führte. Doch das war nicht ihr Ziel. Schnell fanden Jean-Luc und Grand eine Anschlusstür, durch welche sie in die eigentliche große Eingangshalle gelangen konnten. Hier konnten sie mehr erkennen, denn durch hohe Fensterbogen fiel das kalte Licht des Mondes direkt auf den Marmorboden der Halle. Es bestätigte sich, dass das Haus aus zwei Etagen bestand. Inmitten des Nachtlichts, das durch die Kristallscheiben schien, erblickte Grand eine Treppe, welche sich an der rechten Seiten, die Wand entlang zum zweiten Stock hinauf führte. Von der Galerie führten die Räumlichkeiten des Hausherren ab. Die Bediensteten ruhten in den unteren Räumen. Jean-Luc stieg bereits die Treppe hoch, um in die oberen Gemächer zu gelangen. Grand blieb keine weitere Zeit sich näher umzusehen. Er folgte Jean-Luc.

Nun hieß es Vorsicht über alles andere zu stellen. Sie mussten das Arbeitszimmer ausfindig machen. Dies bedeutete alle Türen zu öffnen, auch wenn sich dahinter schlafende Bewohner befanden. Doch bereits die erste Tür öffnete sich zu dem gesuchte Zimmer.

"Wir haben Glück," flüsterte der blonde Spion, mehr zu sich selbst, als zu Grand. Er nickte ihm kurz zu. Das Zeichen, dass Grand seine gewohnte Aufgabe übernehmen sollte; Obacht zu halten und Jean-Luc bei der Erfüllung des Auftrages zu schützen, indem er ihn vor ungewöhnlichen Geräuschen oder sonstiges warnte. Meist tat er dies, indem er dann schlicht kurz mit dem Schuh auf dem Boden klopfte. Dies war dann das Zeichen für Jean-Luc, dass sich Gefahr näherte. Er verschwand im Zimmer. Grand ahnte was folgen würde. Der Hausherr würde später sein Gemach nicht wiedererkennen. Grand schlich sich weiter, weg von seinem Begleiter, der sich voll und ganz seiner Aufgabe widmete. In der oberen Etage war es noch dunkler als unten. Bald verschluckte ihn die Finsternis. Grand konnte kaum seine Hand vor Augen sehen.

Plötzlich wurde er zurückgerissen. Ein Arm schlang sich hinten um seinen Hals und hielt ihm einen Dolch an die Kehle.

"Wer seid Ihr und was sucht Ihr hier? Sprecht rasch, wenn Ihr nicht wollt, dass diese Klinge zum Einsatz kommt!" zischte es in Grands Rücken, kaum hörbar. Trotzdem erkannte Grand die Stimme gleich.

"Nehmt den Dolch runter, Graf von Fersen, wenn Ihr eine Auseinandersetzung mit meinem Begleiter vermeiden wollt ... Er könnte Euch hören!" Auch von Fersen erkannte die Stimme seines Gefangenen und gab ihn frei. Verblüfft sah er Grand an.

"Von Fersen, hört mich an," hauchte Grand und versuchte das Gesicht seines Gegenüber in der Dunkelheit auszumachen. "Ihr befindet Euch in größter Gefahr. Man weiß jetzt, dass Ihr Euch noch in Paris aufhaltet. Ihr müsst die Stadt, am besten gleich das Land verlassen! Ihr seid hier nicht sicher."

Hans-Axel von Fersen sah lediglich verwirrt drein. André hätte er nicht als nächtlichen Einbrecher erwartet. Das ergab keinen Sinn.

"Was tut dieser Mann in meinen Gemächern? Und was tut Ihr hier, André?"

"Er sucht nach Briefen oder sonstigen Schriftstücken, die Euch mit Marie Antoinette in Zusammenhang bringen könnten...," Grand überging die letzte Frage.

"Ich hoffe, dass Ihr keine Schriftstücke in Eurem Arbeitszimmer aufbewahrt oder überhaupt noch darüber verfügt."

"Ich bewahre sie an einem sicheren Ort auf...," Grand unterbrach ihn.

"Nein, von Fersen, kein Ort ist zur Zeit sicher. Befolgt meinen Rat und vernichtet alles was Euch an die Königin erinnert! Bilder, Briefe oder Schmuckgegenstände, die Ihr in früherer Zeit von Ihrer Majestät erhalten habt. Ihr seid ein offenes Buch für das französische Volk! Vermeidet, dass es die Liebesbeziehung wirklich beweisen kann und verlasst Paris!" Grand fuhr zusammen, denn er hatte Geräusche aus dem Zimmer, in dem sich Jean-Luc befand, vernommen. Er schien fertig zu sein und wenn er von Fersen und ihn so vorfinden würde, wären sie beide in tödlicher Gefahr.

"Versteckt Euch!"

"Andre? Ich hörte, dass Oscar verstorben ist. Es tut mir leid. Sie war ...," die körperlose Stimme des Grafen brach. ".. warum sie? Oh Gott, gebe mir etwas von ihrer Stärke!" Grand schwieg. Seine Augen im Halbdunkeln wurde starr. Er drehte sich abrupt um und beeilte sich wieder in die Nähe der Treppe zu kommen. Fersen flüchtete in den Schatten zurück. Grand schritt an dem Zimmer vorüber, aus welchem Jean-Luc heraustrat. Beide schüttelten lautlos den Kopf, Zeichen, dass sie nichts gefunden hatten. Es war Zeit die Villa wieder zu verlassen. Als sie die Treppe hinunterschlichen, betete Grand, dass es von Fersen schaffte, die Stadt sicher zu verlassen. Graf Hans Axel von Fersen war ein edler Mensch, auch wenn lange Zeit der Schmerz, Oscars Zuneigung bei ihm zu wissen, tief saß und Risse durch sein Herz zog. Grand wusste, dass er ihn niemals wiedersehen würde.

So, wie sie das Anwesen von Graf von Fersen betreten hatten, so verließen sie es auch wieder, wenn auch nicht so unbemerkt, wie es Jean-Luc annahm. Was keiner der beide bemerkt hatten, war dass sie seit dem Place St. Denis verfolgt wurden. Im Schatten einer riesigen Birke verborgen, wartete jemand auf ihre Rückkehr.

...Jemand der André erkannt hatte.
 

***

Suche

Das helle Licht der Mittagssonne fiel durch die staubblinden Fenstergläser auf die abgenutzte Tischplatte und malte Schattenkringel auf die unzähligen Blätter vor Oscar. Mit einem langgezogenen Seufzer ordnete sie die Schriftstücke. Es war erstaunlich, wie viele Theoretiker, Philosophen, Analytiker und Wirtschaftstheoretiker aus der Nichts aufgetaucht waren und ihren Beitrag zu einem besseren, neuen Frankreich leisten wollten. Sie schüttelte ihre verkrampfte Hand aus, bevor sie die Feder erneut in das Tintenfass tauchte und zum Schreiben ansetzte. Verblüfft hielt Oscar inne. Geschrei und erboste Schreie hallten zu ihr, in das kleine Zimmer und sie kamen nicht nur aus dem Gebäude. Sie kamen von draußen. Sie kamen nicht aus einzelnen Kehlen, sondern aus Hunderten von Kehlen. Sie glichen dem wütenden Brüllen eines riesigen Tieres. Rasch schob sie ihren Stuhl beiseite und lief zum Fenster. Auf dem Place du Parivis hatte sich eine entschlossene Menschenmenge zusammen gefunden. Zum größten Teil aus Frauen bestehend, reckten die Menschen ihre Fäuste erbost dem Himmel entgegen. Viele waren mit Stöcken bewaffnet, ein nicht unerheblicher Teil mit Waffen. Begann ein zweiter Sturm auf die Bastille?

Hinter Oscar schlug die Tür hart auf. Mit einem aggressiven Fauchen schlürfte Madam Merman in das Zimmer. Ihre Augen sprühten Blitze.

"Diese verdammten Bastarde!"

"Wer?" Oscar sah sie fragend an. Madam Merman's Zähne knirschten vor Wut.

"Die Offiziere der königlichen Leibwache. Diese Mistkerle sollen auf einem Bankett unsere Trikolore mit den Füßen zertreten haben. Unsere Trikolore! Unser Symbol der Revolution! Das werden sie bezahlen."

"Was habt ihr vor?"

Sie schwenkte ihren Krückstock triumphierend. "Die Marktfrauen aus den Hallenvierteln haben sich zusammengetan. Und nicht nur sie, es werden von Minute zu Minute mehr. Dieser Tag ... welchen Tag haben wir derzeit?"

"Es ist der 5. Oktober."

Sie nickte. In ihren Augen stand ein beängstigendes Feuer. "Dieser Tag wird ebenfalls in die Geschichte eingehen. Wir ziehen nach Versailles!"

Oscar erbleichte. Nach Versailles? Marie Antoinette? Sie zogen gegen den König und die Königin. Sie überlegte. Ab wann hatte sich das Volk abgewendet? Ab wann war der Hass des 3. Standes übermächtig geworden? Wo hätte sie die Königin besser warnen, mehr auf sie einreden können? War sie zu sorglos gewesen?

"Francoise?" Oscar schreckte aus der Vergangenheit hoch.

" Was ist mit dir? Befehlige deine Soldaten um uns zu helfen!"

"Unter meinen Befehl steht niemand mehr, Madam Merman."

"Verstehe!" Die Revolutionärin sah grimmig zu ihr auf, drehte sich um und prallte beinahe gegen Rosalie. Der Brustkorb der jungen Frau hob und senkte sich. Sie schien gerannt zu sein.

"Die kleine Madame Chatelet. Kommt, wir ziehen gegen Versailles! Jetzt zwingen wir die Königin in die Knie. Wir haben lange genug wegen ihrer Verschwendungssucht gehungert."

"Nein, Madam Merman, ich bleibe lieber hier." Rosalies Blick suchte hilflos Oscars Augen.

"Dann eben nicht." Wütend stieß sie die Alte beiseite und verschwand.

Oscar bewegte sich auf die Tür zu.

"NEIN!" Rosalie versuchte mit ihrem Körper die Öffnung zu versperren. "Nein, bitte Oscar, tut es nicht!"

"Geh aus dem Weg Rosalie!" Oscar sah streng auf sie nieder.

"Lady Oscar, Ihr könnt nicht zu der Königin, um sie zu warnen. Es ist zu spät!"

"Glaubst du wirklich, du könntest mich aufhalten, indem du die Tür versperrst?"

"Es ist zu spät," wiederholte Rosalie bittend. "Die Ereignisse lassen sich nicht mehr aufhalten. Bleibt hier! Ihr kämpft jetzt auf unserer Seite. Habt Ihr das vergessen?"

Oscar sah sie lange und schweigend an. Die aufgebrachten Frauen hatten schon längst den Platz geräumt und bewegten sich, wie ein riesiger Tausendfüßler in Richtung Schloss.

"Komm mit!" Oscars Kleid raschelte leise, als sie Rosalie mühelos beiseite schob.

"Aber Lady Oscar? Was habt Ihr vor?"

"Das Haus ist menschenleer. Alle haben es verlassen, um sich den Marktfrauen anzuschließen. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, um etwas über Andrés Verbleib herauszufinden."

"Wollt Ihr das Haus durchsuchen?" Rosalie beeilte sich, ihr zu folgen.

"Ja, irgendwo muss ich schließlich anfangen."
 

"Oh, nein. Wo wollt Ihr nun hin?" Rosalie trat verzagt von einem Bein auf das Andere.

"Wir habe in diesen Räumlichkeiten keine Dokumente gefunden, die uns weiterhelfen könnten." Oscar öffnete vorsichtig die Vordertür und sah sich um. Niemand war weit und breit zu sehen. Die Sonne wanderte nach Nordwesten und spiegelte sich in den bunten Glasfenstern der Kathedrale. Entschlossen trat sie auf die Straße und überquerte den Platz mit weit ausholenden Schritten.

"Bernard sagte, dass sich Robespierre oft in Notre Dame aufhält. Wir werden dort weitersuchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nirgendwo Aufzeichnungen existieren sollen. Robespierre hat das Studium zum Anwalt absolviert. Es würde gegen die Prinzipien eines Advokaten verstoßen, nichts schriftlich nieder zu halten."

"Nein, betretet nicht Notre Dame, Lady Oscar!" Hilflos lief Rosalie hinter ihr her.

"Was soll den schon passieren, Rosalie? Ich gehe in eine Kirche."

"Vielleicht dasselbe, was passiert ist, als Ihr damals das Palais Royale aufsuchtet, um den schwarzen Ritter zu suchen. Wollt Ihr wieder gefangen genommen werden?"

"Du gehst zu weit, Rosalie ...," Oscar stemmte sich gegen das schwere Holztor der alten Kathedrale. Langsam bewegten sich eins der mächtigen Torflügel und beide Frauen konnten in das dunkle Innere der Kathedrale schlüpfen. Hohe Kerzen erhellten das Altarbild am Ende des Kreuzganges. Ihre Schritte hallten hohl auf den blanken Fliesen, als sie die Betstühle entlang zum hinteren Teil des Kirchenschiffes eilten. Sie umrundeten den Altar und bogen zur rechten Seite ab, bis sie zu einer Tür kamen. Zu ihrem Unglück war sie verschlossen. Auch auf der anderen Seite, waren alle Durchgänge verriegelt. Oscar erwog, ob sie die Tür einfach mit Gewalt öffnen sollte, aber das dicke Eichenholz mit den großen Eisenbeschlägen wirkte einfach zu mächtig, um unter ihren Tritt nachzugeben. Verbittert lehnte sie sich gegen das kühle Holz.

"Ach André, wo bist du?" Ihre Stimme warf ein trauriges Echo zurück, voll Bitterkeit und Schmerz. Wütend schlug sie mit der geballten Faust auf das Holzblatt ein. Tränen rannen ihre Wangen hinunter.

"Wir hätten so glücklich werden können, Rosalie. Es ist meine Schuld. Ich hätte seine Liebe früher erkennen müssen." Rosalie umfasste sanft ihren Arm.

"Kommt nach Hause, Lady Oscar! Bernard wartet schon. Gebt Eure Hoffnung nicht auf!" Mit einem Seufzer ließ sie sich von Rosalie nach draußen führen.

Sie verließen die Île de la cité über die Pont Neuf. Unter ihnen floss das dunkel die Seine. Das goldene Licht der Sonnenstrahlen tanzte über dem Wasser. Schon hörten sie das ferne Geschrei von vielen Menschen. Am Place de l'Ecole kamen Rosalie und Oscar zum Stehen. Über die Quai de la Mégisserie sahen sie die Massen kommen. Menschen über Menschen umringten eine Kutsche. Eine erschreckend kleine Zahl von Gardeoffizieren versuchte ohne Erfolg die Bevölkerung von der prächtigen Karosse fern zu halten. Die Menschen jodelten und pfiffen. Männer schwenkten ihre Hüte mit der Trikolore. Vorwitzige Jungen tauchten unter den riesigen Pferdeleibern hindurch und klopften voll Übermut an die Kutschentür. Der Pöbel schien zu tanzen.

"Was haben sie vor?" fragte Oscar.

"Sie wollen, dass der König und die Königin wieder in Paris residieren," antwortete Rosalie, und gab die öffentliche Meinung des 3. Standes wieder. Oscar schüttelte fassungslos den Kopf. "Versailles konnte dem Königspaar vor diesen Menschenmassen keinen Schutz bieten. Es ist nicht befestigt, wie die Bastille." Laut, wild und stürmisch eskortierte die Pariser Bevölkerung ihren König in SEIN Paris. Ab jetzt würde die königliche Familie die Tuilerien bewohnen.
 

Die hohen Räder der königlichen Kutsche ratterte gleichmäßig über das Pflaster der breiten Allee. Unebenheiten wurden von der Federung und der dicken Polsterung der Sitzbänke gedämpft. Neben ihnen floss die Seine entlang. Während die Menge draußen mitlief und laut "Nach Paris, nach Paris" sangen, drückte sich Marie Antoinette tiefer ins Polster. Sie hatte sich vor dem Ansturm des Volkes gebeugt. Ihr Herz brannte vor Schmach. Nie würde sie ihnen dies verzeihen, nie das Ende der Herrschaft der Bourbonen akzeptieren. Ihre Kinder kuschelten sich in die warme Umarmung ihrer königlichen Mutter. Der König versuchte angespannt zu lächeln. Seit Stunden hatte sich sein Gesichtsausdruck nicht mehr geändert. Ab und zu gewährte er dem Pöbel einen hoheitsvollen Handwink. Die Königin unternahm keinen Versuch, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Die Menge wollte ihr Lächeln nicht sehen. Die Eröffnung der 3 Ständekammer, als sie die Abgeordneten mit kalter Verachtung begrüßten, das Eindringen in Versailles um sie, die Königin anzugreifen, zeigten ihr, wie tief sie in der Gunst ihres Völkes gesunken war. Marie Antoinette litt mit Würde und Anmut, aber ein Lächeln bekamen sie nicht. Sie hatten die Tuilerien, ihr zukünftiges Heim fast erreicht. Die Königin sah aus dem Fenster, ohne die Menge zu beachten. Ihr Blick glitt zu den unzähligen Dächern und Kirchturmspitzen von Paris. Entlang der Seine zogen sich Bäume mit rotgoldenen Kronen und dem letzten Grün des vergangen Sommers. Der Horizont nahm langsam die Farbe der frühen Abenddämmerung an. Die Kutsche kam zum Place de l'Ecole. Die Sonne warf ihre letzte Strahlen auf die Gestalt, welche am Fuße der Pont Neuf stand. Der gelbe Schein vermischte sich mit dem blonden Haar, der hochgewachsenen Frau.

"Oscar?" Marie Antoinette sah ein letztes Mal in die unverkennbaren blauen Augen, dann verschluckte die Menge ihre einstige Freundin. Sekunden später schon zerrte die Ungewissheit an ihr, wer die Gestalt wirklich war.
 

***

Wiedersehen

Dunkle Wolken hatten sich zur Abenddämmerung hin über die untergehende Sonne und dem entflammten roten Himmel gezogen. Inzwischen wurde es wieder schneller Dunkel. Die Tage wurden kürzer und wichen der längeren und schwärzeren Nacht. Oscars Vermutung bestätigte sich. Es begann mit kleinen Spritzern, die sich glänzend auf ihrem Umhang niederließen. Dann wurden sie zu runden Tropfen, welche laut auf die Erde prasselten. Ihr sonst lockiges Haar wurde nass und formte glatte Strähnen, die jeglichen Glanz verloren und ihr schwer in die Stirn hingen. Oscar zog ihren Umhang enger um ihren Körper und presste sich näher an die graue Hauswand.

Als sie das letzte Mal bei solch einem Regen durch die Gassen von Paris gegangen war, glaubte sie André in einer Kirche für immer beerdigt zu wissen. Das Schicksal hatte es anders gewollt; sie stand an dieser mager beleuchteten Ecke am Ende des Place de St. Michel im Regen, um endlich Gewissheit zu erlangen.

Ein Freund von Alain hatte ihnen mitgeteilt, dass er André hier des öfteren in der Nacht gesehen hatte. Entweder hatte er hier in der Nähe seine Unterkunft oder musste regelmäßig einen Ort in diesem Umkreis aufsuchen.

Warum verbarg sich André vor ihr? Wo er doch über 20 Jahre lang an ihrer Seite war?

Unwillkürlich musste sie an Madame de Poliqnac's verzweifelten Versuch sie loszuwerden zurückdenken. Die intrigante Gräfin manipulierte den Kronenleuchter an der Treppe der Königin. Als der tonnenschwere Leuchter sich von der Decke löste und sie beinahe erschlagen hätte, riskierte André sein Leben, um sie rechtzeitig vor dem zu Boden schnellenden Leuchter zu retten. Gemeinsam fielen sie die Treppe hinunter und Oscar hatte bis heute nicht die Kraft seiner Arme vergessen, als er sie festhielt, damit sie nicht zu viele Prellungen davontrug. Für einen kurzen Moment erlaubte sich Oscar zu lächeln und dabei in den Himmel hinaufzuschauen. Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich an vergangene Zeiten zu denken, in denen ihr alles Handeln richtig erschien.

Schon seit Stunden wartete sie nun. Ihr Fuß klopfte ungeduldig auf dem Boden. Feuchtigkeit durchdrang das feste Leder der hohen Stiefel. Der Umhang bot ihr keinen Schutz mehr vor der Nässe. Hemd und Hose klebten an ihrem Körper. Seit es zu regnen begonnen hatte, waren kaum noch Menschen auf dem Platz zu sehen.

Ihre Hoffnungen schwand von Stunde zu Stunde. Aber sie wusste, wofür sie hier wartete und sie würde nicht aufgeben. Obwohl sie sich immer noch nicht erklären konnte, warum er sich vor ihr verbarg.
 

"Notre Dame schlägt Mitternacht," sagte Jean-Luc und beendete damit letzte Vorbereitungen. "Wir brechen auf, Grand!" Mit diesen Worten befestigte er den Dolch an seinem Gürtel. Grand ließ seinem im rechten Stiefel verschwinden. Bevor die Nacht hereinbrach, verließen beide ihre gemeinsame Unterkunft in einem der ärmsten Viertel von Paris. Danach überquerten sie stets den Place de St. Michel, um zu Robespierre zu gelangen. Dort erhielten sie ihre Aufträge. Grand war klar, dass Robespierre ihn irgendwann einfach fallen lassen und wegwerfen würde, wie ein zu oft benutztes Kartenspiel. Dann konnte er seine restlichen Tage an einer Hand abzählen. Zusammen verließen sie das dunkle Zimmer. Ein weiterer spärlich möblierter Raum folgte, bis sie schließlich ins Freie traten und vom Regen überrascht wurden. Ohne es zu bemerken verzogen beide ihr Gesicht. Für den Moment ein amüsanter Anblick, doch schnell folgten sie wieder ihren ernsten Gedanken und begaben sich auf ihren Weg.

"Wie viel weißt du von unseren Auftrag heute Nacht, Grand?" fragte Jean-Luc, wie fast jede Nacht. Die Beantwortung fiel unterschiedlich aus, mal nickte Grand, mal schüttelte er seinen Kopf. Es kam immer ganz darauf an, wie viel er von vertraulichen Gesprächen gehört hatte. Jean-Luc wusste, dass sein stummer Begleiter manchmal lauschte, wenn er sich mit Robespierre oder anderen mächtigen Leuten beratschlagte. Aber Grand bekam längst nicht alles mit. Er hasste sich dafür, dass er lauschen musste. Die langen Jahre im Hause de Jarjayes, als unsichtbarer Begleiter an Oscar's Seite, hatten ihn Diskretion gelehrt. Zudem widersprach es seinem Ehrgefühl, wie ein gemeiner Spitzel an verschlossenen Türen zu horchen. Jedoch, wofür brauchte er noch seine Ehre?

Er wusste nicht, was er erlauschen wollte. Er wusste nur, dass er Oscar retten musste. Einiges erzählte ihm Jean-Luc ohnehin, entweder aus Wut, aus Langeweile oder um ihn zu quälen, weil er ahnte, wie vieles von Robespierres Vorgehensweise Grands Gewissen quälte. Selbst von Egoismus und Eigennutz getrieben, stieß sein schweigsamer Partner ihn gleichzeitig ab und faszinierte ihn. Er konnte Grands Widerwillen spüren. Eine einigenwillige Selbstlosigkeit für eine Sache, die Jean-Luc nicht verstand, trieb Grand dazu, Robespierre zu widerstandslos zu gehorchen.

Grand schüttelte auch in dieser Nacht nur mit dem Kopf.

"Ich erzähle es dir ...," dabei wies Blond mit der Hand nach rechts, so dass beide in die rechte Gasse abbogen. "Robespierre hat Zweifel gegenüber der Loyalität die der ehemalige Finanzminister Necker dem Volk entgegenbringt. Er glaubt, dass Necker ihn schon bald verraten wird und sich gegen ihn richtet. Angeblich hat er bereits seine eigenen Anhänger zu sich gerufen, um die entscheidende Chance zu ergreifen und einen Staatsstreich zu vollführen. Necker soll Verbindungen zu einem Mann haben, der durchaus in der Lage ist den Thron neu zu besteigen." Er atmete kurz durch und sah sich um, damit er sich sicher sein konnte, unbeobachtet zu sein "Wir sollen heute Nacht in seiner Villa einbrechen und uns vergewissern, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprechen."

Grand konnte sich vorstellen, wer sich dazu in der Lage sah, den Thron zu übernehmen. Der Herzog von Orléans spekulierte schon zu lange auf die Krone und verglichen mit dem Herzog wirkte Robespierre geradezu nett.

Grand stockte unmerklich. Ohne es beim Namen nennen zu können, begann sein Herz plötzlich schneller zu schlagen.
 

In der Tat waren seine Instinkte erwacht. Grand und Jean-Luc gerieten in das Blickfeld von Oscar. Es war zu dunkel, um die Gesichter genauer erkennen zu können, doch sie erregten ihre Aufmerksamkeit.

Oscar drückte sich gegen die kalte Hauswand, um vor wachsamen Augen unentdeckt zu bleiben. Beide bewegten sich schnell über das gefährlich rutschige Pflaster und schienen genau ihr Ziel zu kennen. Als sie an einer Laterne vorüber schritten, konnte Oscar für einen kurzen Moment das Gesicht von Jean-Luc erkennen und sie erinnerte sich an den Tag in der Bastille. Sie wusste genau, dass André bei ihm war. Dazu brauchte sie nicht einmal sein Antlitz erblickt zu haben. Sie spürte seine Anwesenheit. Es war Zeit ihnen zu folgen.

Raschen Schrittes befreite sich Oscar aus dem Schatten der Gasse und lief über den Platz. Die Verfolgten hatten den Weg in Richtung Louvre eingeschlagen, einstiges Königshaus bis in das 17. Jahrhundert hinein. Ludwig der XIV., sogenannter Sonnenkönig ließ dann 1661 sein Jagdschloß Versailles, als neuen Wohnsitz der Bourbonen ausbauen.

Der Regen schien in dieser Nacht kein Ende zu nehmen. Leichte Nebelschwaden stiegen aus dem Untergrund auf und ließen Paris unheimlich wirken. Genauso leer wie die Straßen waren, genauso leer fühlte sich Oscar in ihrem Inneren.

Als sie am Louvre vorüberging und wieder in einem Wohnviertel von Paris eintauchten, erschrak sie auf einmal. Sie hatte die beiden Männer aus den Augen verloren. Vor ihr erstreckte sich eine menschenlose Straße, auf der sie reglos stehen blieb. Hilflos sah sie sich nach allen Seiten um, aber die Dunkelheit hatte sie verschluckt.
 

Unlängst hatte Jean-Luc den Verfolger bemerkt und musste somit einen Umweg einschlagen. Sein Begleiter zeigte keine Regung, als er einen neuen Weg wählte, wollte auch nicht den Grund erfahren.

"Grand, ich muss dich bitten, unseren unliebsamen Begleiter aus dem Weg zu schaffen!" sagte Jean-Luc plötzlich, als sie den Louvre hinter sich ließen. "Ob du ihn dabei tötest oder nicht, sei dir überlassen. Ich möchte ihn nur nicht mehr hinter uns wissen. Ich verlasse mich auf dich!" Mit diesen Worten ging Jean-Luc unbeirrt weiter und ließ einen überraschten Grand zurück.

Er hatte sie gespürt, seit der Point de St. Michel. Auf der Point au Cange, hatte er ihren Schatten gesehen, bei der Rue des Lavandiéres war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Es war das selbe Prickeln, dass ihn bei ihrem ersten Wiedertreffen in der Bastille ergriffen hatte. Doch das auch sein Partner sie bereits ausgemacht hatte, überraschte ihn. Aber das konnte er nicht mehr ändern. Er hatte eine Anweisung erhalten und musste diese befolgen. Sein Umhang ging schwungvoll durch die Luft, als er zwischen zwei Häusern verschwand.
 

Ihre Schritte waren langsamer geworden, beinahe ehrfürchtig. Jedes Vorankommen musste gut überdacht werden. Oscar bog in die Rue de'Arbesec, bald würde der Louvre zu sehen sein. Die Straße war zwar überschaubar, aber die Nacht auch finster. Man konnte sich schnell in einem Schatten verstecken und jemandem auflauern. Sie umfasste ihren Degen fester. Der kalte Griff in ihrer Hand wirkte beruhigend. Oscar ging zu den Häusern hinüber und presste ihren Rücken erneut gegen die Wand. Sie schaute sich nach allen Seiten um und spürte dabei, wie die Tropfen des Regens an ihren Wangen herunterliefen und feuchte Spuren hinterließen. Sie glaubte, dass es ausschließlich der Regen war, doch in Wirklichkeit vermischte er sich auf ihrer Stirn mit Angstschweiß. Angst vor dem erneuten Verschwinden von André. Ihre Finger versuchten Halt an den nassen Hauswänden zu finden, als sie sich zur Seite lehnte, um sich zu vergewissern, dass sich niemand in der Seitenstraße aufhielt. Sie bemerkte nicht, wie die Kerzen in den großen Laternen erloschen, langsam und nacheinander. Sie hatten für diese Nacht ihre Schuldigkeit getan. Als Oscar sah, dass sich niemand in der Gasse aufhielt, atmete sie lautlos auf.

Doch plötzlich spürte sie einen heftigen Stoß in ihren Rücken, der sie tief in die enge Gasse hineinzwang.

Ein Arm legte sich vorn um ihre Schultern und hielt ihren Kopf zurück. Die andere Hand des Angreifers krallte sich mit seinen Fingern in ihren Umhang hindurch bis zu ihrer Kleidung am Rücken, um sie festzuhalten. Für einen Moment war Oscar zu gelähmt, um sich zu wehren, denn einen plötzlichen Angriff hatte sie nicht erwartet. Jeder andere Angreifer hätte jetzt ihre Degenscheide schmerzhaft in seiner Magengrube zu spüren bekommen. Aber warum sollte sie? Sie hatte ihn gefunden.

"André", hauchte Oscar und übertönte damit kaum das geräuschvolle Plätschern des Regen. Der Griff um sie lockerte sich. Hart wurde sie an den Schultern gepackt und herumgerissen. Willenlos ließ sie sich von ihrem Angreifer an die Hauswand stoßen und ihre Arme festhalten. Sie lächelte und suchte Andrés Blick.

"Du wirst uns nie wieder folgen! Wenn doch, wirst du sterben! Das ist kein Spiel!" Seine Stimme klang hart und seine Worte hingen beängstigend lang in der Luft. Ihr Lächeln verblasste. Geschockt starrte sie André an, denn in seinem Gesicht konnte sie nur Hass und Leid sehen. Die Liebe schien aus seinen Augen gewichen zu sein.

"Aber André?" Sein Magen drehte sich einmal im Kreis. Wie viele Jahre hatte er sich sehnlichst gewünscht, Oscar seinen Namen auf diese Weise aussprechen zu hören. Die Liebe in ihrem Blick zu spüren.

"André, ich wusste, dass ich mich nicht getäuscht habe. Aber ich verstehe das nicht. Warum versteckst du dich? Komm mit mir!" Oscar hatte neue Hoffnung geschöpft, jetzt, da sie ihn gefunden hatte. Tief im Innern wusste sie, dass er niemals aufhören könnte, sie zu lieben, genauso wenig, wie sie ihn. Warum war er derart mutlos, wo sie doch wieder einander hatten?

André begriff, dass sie nicht erkannte, um was es hier ging. Sie verstand nicht, dass sie sich in Gefahr begab. Wie auch? Er musste sie von etwas überzeugen, das ihm selbst das Herz brach. Womöglich musste er ihr vorspielen, dass er sie nicht mehr liebte, aber nur so könnte sie überleben. André ließ sie also los und baute sich zur vollen Größe vor ihr auf. Lange blickte er in ihre Augen und er erinnerte sich daran, dass er Tag und Nacht dafür gebetet hatte, dieses Glitzern nur noch ein einziges Mal sehen zu dürfen.

"André!" Ihre Stimme wurde schneidend. "Was ist mit deinem Versprechen, mich nie zu verlassen. Im Wald schworst du mir, immer bei mir zu bleiben."

André zwang sich zur Ruhe. "Gehe nach Hause, Oscar!"

"Warum André?" Ihre Stimme war nicht mehr, als ein ungläubiges Flüstern. Ihre Augen suchten hilflos in seinen eine Antwort. Eine Antwort, die es nicht gab. Von alleine hob sich ihr Arm und ihre Hand legte sich liebevoll auf seine Wange. Unbemerkt griff sie in ihre Hosentasche und zog eine silberne Kette hervor, die sie unmerklich in seine Tasche gleiten ließ. Er schien nichts davon gespürt zu haben, doch er würde sie später darin finden. Er glaubte sein Blut brennend durch seine Adern fließen zu spüren, als er ihre kühlen Finger, sanft auf seinem Gesicht spürte. Seine Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ruckartig sprang er zurück und brachte sicheren Abstand zwischen sich und Oscar. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

"Geh nach Hause, Oscar und versuche mich nicht wiederzusehen! ICH MÖCHTE DICH NIE WIEDERSEHEN!"

André wandte sich schnell ab, damit sie ihm die Lüge und den Schmerz nicht in seinem Gesicht sah. Oscar streckte die Hand aus. Er entglitt ihr. Entglitt ihr, wie in einen dieser Albträume in denen man rannte und rannte, doch nie die Person einholte, zu der man so verzweifelt zu gelangen versuchte.

"Nein...", flüsterte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. "Nein!" Er versuchte sie vor irgendetwas zu schützen, dass sie nicht verstand. "ICH LIEBE DICH!", ihr Ruf hallte durch die finstere Straße. Seine Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit, als er sich noch einmal umdrehte. Verborgen in der Nacht rollte ein Träne einsam aus einem blinden Augen.

"Versuche nicht, mich ein zweites Mal zu finden!" André kehrte ihr den Rücken und verließ die dunkle Gasse.

Oscar rutschte langsam die Wand herunter und setzte sich, ungeachtet der kalten Nässe, auf das regennasse Pflaster. Tränenblind starrte sie in die Nacht. Widerstand regte sich und überschattete die Verzweifelung. Sie würde nicht aufgeben, unter gar keinen Umständen.
 

***

Namenlos

Langsam verließ Oscar die Rue de Bailleul und kehrte zu Bernard und Rosalie zurück. Der Regen war feiner geworden, aber die nasse Kleidung klebte unangenehm und kalt auf ihrer Haut. Die Stadt war dunkel und still. Keine Lichter zeigten sich hinter den zahllosen Fenstern der Hauptstadt. Bettler, die vor dem Regen in Hauseingänge oder unter Dachvorsprünge geflohen waren, zeichneten sich als dunkle, konturenlose Scheme ab. Die Armen der Ärmsten hatten kein warmes und trockenes Zuhause zu dem sie hätten heimkehren können. Oscar atmete erleichtert auf, als der Eingang zur Wohnung ihrer Freunde in Sicht kam. Müde öffnete sie die Tür. Warmes Licht flutete ihr entgegen. Bernard und Rosalie waren noch wach. Oscar straffte ein letztes Mal ihre Schultern und trat ein. Beide sahen sie fragend an, aber sie schüttelte nur erschöpft den Kopf und ging in ihr Zimmer, um den verbliebenen Rest der Nacht schlaflos an André zu denken. Reden konnte und wollte sie nicht. Wieder einmal schloss sie ihre Gefühle in sich ein.
 

Der Morgen graute und ein neuer Oktobertag begann. Vögelschwärme flogen durch den Dunst des frühen Morgen. Bald würden sie gen Süden fliegen und Mitteleuropa mit seinem kalten Winter zurück lassen. Noch hatte die Sonne genügend Kraft, den Regen der vergangenen Nacht in den Straßen zu trocknen.

Oscar betrachtete müde die Augenringe ihres Spiegelbildes. Dann zuckte sie gleichgültig die Schultern und begab sich zu Rosalie in die Küche. Ihr Aussehen spielte für sie kaum eine Rolle. Rosalie summte zufrieden vor sich hin, während sie geschäftig in ihrer kleinen Küche herumlief.

"So gut gelaunt an diesem Morgen, Rosalie?" fragte Oscar, während sie sich an den Tisch setze. Ihre Hände strichen über die abgearbeitete Holzfläche.

"Oh, Ihr seid schon wach, Lady Oscar. Ich habe etwas für Euch." Rosalie strahlte sie an und schob ihr ein dunkelrotes Bündel zu. Atemlos sah sie zu, wie Oscar das Bündel entfaltete.

"Ein Kleid?"

"Ein Kleid!" Rosalies Strahlten überschattete die Sonnenstrahlen, welche üppig durch das Fenster fielen. Sie sah, wie Oscar zögerlich lächelte und wurde unsicher.

"Ich weiß, Ihr mögt keine Kleider." Zaghafter zog sie das Kleid aus deren Hand.

"Nein, lass bitte! Du hast viel Arbeit dieses Kleid gesteckt. Es ist sehr schön. Ich danke dir, Rosalie, von ganzem Herzen." Oscar zog das Kleid wieder zu sich. Rosalie schien zufrieden und ließ los. Ihr Strahlten glich wieder dem eines kleinen Mädchens.

"Ihr werdet wunderschön aussehen. Ich habe den Ausschnitt tiefer und die Taille enger, als bei Eurem anderen Kleid geschneidert."

"Das sehe ich," erwiderte Oscar skeptisch und betrachtete kritisch ihren Neuerwerb.

"Das ist derselbe Stoff, aus welchem du das andere Kleid geschneidert hast?"

"Ja." Rosalie sah sich unsicher nach allen Seiten um, dann beugte sie sich verschwörerisch nach vorn.

"Schwarzmarkt"

"Schwarzmarkt?"

"Ja, ich habe dort mehrere Ellen von diesem Stoff bekommen und hatte genügend für zwei Kleider. Man munkelt, dass die Stoffe aus Madame Bertains Geschäft stammen, welches kurz nach dem Angriff auf die Bastille zerstört und geplündert wurde."

"Und nun kaufst du auf dem Schwarzmarkt geplünderte Stoffe?"

"Warum denn nicht. Nicht nur die adligen Frauen haben das Recht sich gut zu kleiden," verteidigte sich Rosalie.

"... aber sagt Bernard nichts davon. Er heißt das nicht gut."

"Und das von dem ehemaligen schwarzen Ritter," murmelte Oscar.

"Oh, ich könnte für Euch günstig ein Korsett erwerben. Vielleicht fühlt Ihr Euch mit einem Korsett wohler." Oscar schob eine Augenbraue nach oben.

"Ganz sicher nicht. Wie dumm von mir. Verzeiht!" Sie musste lachen.

"Ein Korsett, ein Kleid mit einem tiefen Ausschnitt ... Rosalie? Wie sollen die Menschen in mir eine Bürgerliche sehen?"

"Ha ... dass glaubt Euch doch sowieso niemand, egal was Bernard sagt," erwiderte die junge Frau und kramte geschäftig in einer großen Truhe. "Ich habe noch einige andere Dinge günstig erstanden." ertönte es gedämpft aus der Holztruhe. Rosalies Oberkörper war fast gänzlich verschwunden. "Wir müssen mehr auf unser Geld achten. Bernard sagt, dass der Staat bald Geld in Papierform herausgegeben will. Aber er denkt, das diese Maßnahme unseren Staat nicht weiterhelfen wird. Die Preise steigen schon jetzt ins unermessliche."

Bernard sollte recht behalten. Am 2. November 1789 wurde der gesamte Kirchenbesitz verstaatlicht, um die Staatskassen aufzufüllen. Dabei scheffelten sich viele Revolutionäre das Geld in die eigene Tasche und bereicherten sich mit den Gütern des Klerus. Als das neue Papiergeld, die sogenannten Assignaten herauskam, unterlagen sie einer ungeheuren Inflation.

Ja, wir müssen mehr auf das Geld achten. Der letzte Satz von Rosalie kam Oscar in den Sinn und sie senkte Schuldbewusst die Augen. Ihr wurde bewusst, wie selbstverständlich ihr Stand Geld ansah und es mit vollen Händen herauswarf. Auch sie war dagegen nicht gefeilt. Da lebte sie schon wochenlang mit Rosalie und Bernard zusammen, ohne einen einzigen Gedanken darüber zu verschwenden, dass ihr Essen, ihre Kleidung, die Kerzen, das Brennholz den Beiden Geld kostete. Nicht einen Sou hatte sie gegeben, während sich der Sold von 20 Jahren treue Dienste als Offizier der Königin auf ihrem Bankkonto sammelte.

"Was habt Ihr heute vor, Lady Oscar?" Rosalie war aus ihrer Schatztruhe wieder aufgetaucht. "Geht Ihr zu Madam Merman?"

"Nein. Ich werde die Banquede France aufsuchen."

"Gut, ich begleite Euch, da ich auch dorthin in die Nähe muss."

"Lass mich raten! In der Nähe befindet sich der Schwarzmarkt?" Rosalie nuschelte eine unverständliche Antwort und verschwand mit rotem Gesicht in ihrer Kiste.
 

Die Sonne schien an diesem Tag erstaunlich warm. Mit Rosalie und Oscar war halb Paris unterwegs. Kinder rannten lachend durch die Straßen, Marktfrauen riefen laut ihre Waren aus, dass über mehrere Gassen schallte, Männer eilten geschäftig ihren Besorgungen nach und einige wenige Adlige bahnten sich mit ihren Kutschen den Weg durch die Menge. Missmutige Blicke folgten ihnen, aber niemand hob einen Stein oder die Faust. Rosalie beschattete ihre Augen mit der flachen Hand, um das gleißende Sonnenlicht abzuwehren, als sie zu ihrer schweigsamen Freundin hochblickte. Wie versprochen trug sie das neue Kleid. Und wie sie es trug. Rosalie lächelte. Vergessen war die Zeit, in der sie es bedauerte, dass in der eleganten Uniform eine Frau steckte. Der Stoff lag eng am Oberkörper an. Ärmel und Rock liefen weich und weit aus. Der Rock schwang leicht bei jedem Schritt. Oscar war weit fort in ihren Gedanken. Immer wieder rief sie sich ihre Begegnung mit André in Erinnerung. Sie durfte nichts übersehen.

"Er konnte wieder sehen." Rosalie blinzelte erstaunt.

"Was habt Ihr gesagt?"

"Was?" Oscar schreckte auf.

"Ihr hab gerade gesagt >er konnte wieder sehen< Was meint Ihr damit?"

"Kurz bevor André angeschossen wurde, war die Pupille seines verbliebenen Auges extrem geweitet, weil er kaum noch etwas sah. Gestern war sie aber klar und normal. Das heißt, dass sich sein Auge gebessert haben muss, wenn nicht gar geheilt ist. Und ich vermute, dass dies ärztlicher Hilfe zu verdanken ist."

"Was, Ihr habt André also wirklich gesehen?" Rosalie drückte aufgeregt Oscars Hand.

"Ja," sagte diese, nachdem sie sanft ihre Hand befreite. "Aber er verschließt sich vor mir."

"Warum?"

"Genau das versuche ich herauszufinden und bei meiner Seele, ich werde es." Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von Rosalie und betrat das elegante Bankgebäude.
 

Hohe Säulen stützten die mit malerischen Fresken versehende Decke. Große Fenster ließen verschwenderisch Licht ein. Ihre Schritte hallten auf den blanken Marmorfliesen wieder, als sie zielgerichtet durch den Saal schritt und den nervösblinzelnden Sekretär ignorierend stehen ließ. Mit anerzogenem Selbstbewusstsein steuerte sie auf einen der höheren Bankangestellten zu. Sie setzte sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch und blickte ihn so lange unverwandt starr und streng an, bis dieser sich bequemte von seinen Unterlagen hochzusehen und sie zu mustern.

"Mein Name ist Oscar Francois de Jarjayes. Erhebliche Geldbestände meines Vermögens befinden sich auf Eurer Bank. Ich möchte einen Teil davon ausgezahlt bekommen!"

"Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor, Madam." Seine näselnde Stimme ließ seinen Unmut durchhören.

"Das bezweifle ich. Ihr kennt mich! Ich habe diese Bank schon einige Male aufgesucht." Sein Blick glitt unnahbar über ihre Gestalt. Je tiefer er glitt, des do höher hob sich Oscars Kinn. Sie merkte, dass ihr Aufzug ihn irritierte, aber sie konnte Kleider tragen, wann immer es ihr passte. Eigentlich passte es ihr überhaupt nicht, ihre Autorität in einem Kleid verteidigen zu müssen, aber sie trug es Rosalie zuliebe. Ein zweiter Angestellter trat unauffällig aus dem Schatten und reichte ihrem Gesprächspartner ein Schriftstück. Beide flüsterten miteinander, dann richteten sich ihre Blicke wieder kalt und abweisend auf Oscar.

"Ich fürchte, hier liegt doch ein Missverständnis vor, Madam." Er zog jede Silbe unnötig lang. Das "Madam" bekam die dreifache Länge, der übrigen Wörter.

"In wie fern? Erklärt mir das!" Oscar sah in fragend an.

"Wir haben hier ein Schreiben, welches erklärt, dass besagte Tochter des General de Jarjayes, seit dem 14. Juli 1789 für tot erklärt wird. Ohne beglaubigter Bestätigung Eurer Person, als die angegebene Madame Jarjayes kann ich Euch keine Einsichten in die besagten Konten gewähren, geschweige denn, eine Auszahlung bewilligen. Zudem benötigt Ihr eine Bestätigung Eures Vormunds oder Ehegatten bei Wertaushändigungen! Au revoir, Madame!"

Steif und mit all ihrer Würde erhob sich Oscar und verließ mit einem letzten vernichtenden Blick das Gebäude. Hinter den riesigen Türflügeln empfingen sie lärmende Menschen und warmes Sonnenlicht. Aufgebracht schritt sie wenigen Stufen der breiten Marmortreppen hinunter. Oscar bebte vor Wut, während sie sich durch die Menge auf dem Platz kämpfte. Sie wollte nicht akzeptieren, dass ihre Selbstständigkeit von dem Wohlwollen ihres Vaters abhing. In ihrer früheren Position hätten die Beamten ihr ohne zu zögern, jeden gewünschten Betrag ausgezahlt. Eine Überprüfung ihrer Unterschrift hätte gereicht. Selten war sie derart aufgebracht gewesen. Wütend drehte sie ihr Schultertuch zwischen den Händen, bis die Handflächen heiß anliefen. >Benötigt Ihr eine Bestätigung Eures Vormunds oder Ehegatten< ... Es war ihr Vermögen! Nicht das ihres Vaters, sondern ihres, angesammelt in langen Dienstjahren und nun brauchte sie einen Mann, der bestätigte, dass sie es verwenden durfte? Ihre Freiheit begründete sich darauf, dass sie zwischen den Geschlechtern lebte. Sie nahm etwas von den Rechte des einen Geschlechtes, die es den anderen nicht zubilligte. Und nun wollte man ihr das nehmen, weswegen sie sich für das Leben eines Mannes entschieden hatte? Einige Passanten konnte nicht mehr schnell genug aus ihrem Weg springen. Oscar hätte es gern vermieden, aber sie musste ihren Vater aufsuchen und die betreffenden Dokumente von ihm verlangen. Sie murmelte eine kurze Entschuldigung, als sie den nächsten Passanten umstieß.
 

André fühlte den nächsten Stoß in seiner Seite. Das schöne Wetter hatte die Menschen aus ihren Häusern gelockt und alle schienen sich hier versammelt zu haben. Eine dralle Frau stieß ihn rüde beiseite, während sie ein quengelndes Kind hinter sich her zog. Er drehte sich seitlich, um sich vor ihrem fleischigen Ellenbogen in Sicherheit zu bringen und stieß schon gegen den nächsten Passanten. André hob das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln und erstarrte. Mitten in seiner letzten Bewegung kam sein Körper zum Stillstand. Oscar! Ihr Name hing in der Luft, aber sie hörte und sah ihn nicht. Ihr Blick war auf einen unbestimmten Blick in der Ferne gerichtet. Wegen der vielen Menschen kam sie nur langsam voran. André' s Blick streichelte ihr Gesicht. Dann glitt er ihren Körper hinunter. Verwundert registrierte er, dass sie ein Kleid trug. Es war längst nicht so raffiniert geschnitten, wie ihr Kleid für den Ballabend und aus viel schlichterem Stoff verarbeitet, aber sie trug es mit einer größeren Selbstverständlichkeit und sie trug es nicht für einen anderen Mann. Aufgebracht hob und senkte sich ihre Brust unter dem engen Ausschnitt. Ihre Hand war wütend um ein zerknülltes Schultertuch geballt. Ein sehnsuchtsvolles Ziehen ging durch Andrés Körper. Er sah ihr noch nach, als sie in der Menge verschwand.

Oscar? Jean-Luc wirbelte herum. Hatte er eben seinen schweigsamen Begleiter sprechen gehört? Er sah überrascht André an. Sehnsuchtsvoll sah dieser, wie erstarrt einer hochgewachsenen Frau nach. Er konnte nur noch üppige goldglänzende Haare sehen und die Rückansicht eines langgestreckten schlanken Frauenkörper, in einem dunkelroten Kleid. Nachdenklich prägte sich Jean-Luc die Reaktion seines undurchsichtigen Begleiters auf die Unbekannte ein.
 

***

Begleitung

Victor Clement Graf de Girodelle drehte versonnen an dem langen Stiel der schwarzen Rose, ohne die kleinen Stiche der zahlreichen Dornen zu spüren. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster seiner Kutsche auf die begrenzte Szenerie, die ihm der Ausblick bot. Er stand unweit der Tuilerien an der Seine und sah auf das glitzernd dahinfließende Wasser. In dem alten Palastgebäude war wieder Leben eingekehrt. Ungeachtet der veralteten Einrichtung musste die Königsfamilie sich in den Tuilerien heimisch einrichten. Nur noch wenige Adlige umgaben das Königspaar. Eine traurig geringe Zahl Höflinge hielt ihnen die Treue. Obwohl Graf de Girodelle seinen Posten bei der königlichen Leibwache niedergelegt hatte, hielt er weiterhin zum König. Regelmäßig ging er im alten Palast ein und aus, um kleinere Aufträge zu erledigen. Der Rosenstiel war eine Runde zu lang in den manikürten Fingern des Grafen gedreht worden. Der Stiel brach durch. Mit einem Gefühl des Bedauerns legte Girodelle sie neben sich auf die Sitzbank. Einige tiefschwarze Blätter lösten sich und fielen zu Boden.

Erst flüsternd, dann immer lauter hatte sich die Neuigkeit unter den Adligen verbreitet. Der ehemalige Kommandant der königlichen Leibwache, die treue Freundin der Königin, die edle Lady Oscar hatte die Seiten gewechselt und war zum gemeinen Volk übergewechselt, um sich gegen den König und ihre Familie zu stellen. Und das bei einer Familie, welche schon generationenlang die Treue zum König hielt. Als das Gerücht umging, die Abtrünnige wäre beim Sturm auf die Bastille gefallen, hatten die hohen Damen und Herren ihre gepuderte Nase gerümpfte und gemeint, dass geschehe ihr recht. Vergessen war die Bewunderung, die Lady Oscar entgegenschlug, wann immer man sie in Versailles antraf. Still und aufrecht hielt Victor Clement Graf de Girodelle weiterhin zu ihr. In seinem Herzen würde sie weiterbestehen und nichts von ihrem Glanz verlieren. Wieder strich er zärtlich über die Blätter der schwarzen Rosen.

Ein leichter Wind kam mit dem Öffnen der Kutschentür in das Innere. Die Tür schlug wieder zu und der Wind ward ausgesperrt. Graf de Girodelle klappte die Kinnlade herunter. Er war unfähig mehr hervorzubringen, als ein heiseres Ächzen.

"Bonjour Girodelle. Macht Euren Mund zu! Ihr seht aus, wie ein Narr." Oscar runzelte unwirsch die Stirn und blickte ihn an, als wäre sein ungläubiges Verhalten unverständlich für sie. Wäre Girodelle alleine gewesen, hätte er sich bekreuzigt.

"Lady Oscar?" durchbrach er endlich die Barriere des Schweigens. "Ihr seid nicht tot?"

"Nein, ich fühle mich sogar äußerst lebendig." Peinlich berührt hob Oscar seitlich ihr Hinterteil an und zog einen zerknautschten Strauß schwarzer Rosen hervor. "Verzeiht, ich habe Eure Blumen ruiniert."

"Das ist nicht schlimm. Sie waren ohnehin zum Gedenken an Euch."

"Danke." Oscar lächelte warm, fast zärtlich und legte die geknickten Blumen neben sich. Girodelle erwiderte ihr Lächeln zärtlich. "Ihr lebt, ich bin überglücklich. Ihr seht wunderschön aus." Sein Blick glitt bewundernd und begehrlich über ihren Körper. Oscar zog unbehaglich das Schultertuch höher.

"Graf de Girodelle, könnt Ihr mir behilflich sein?"

"Natürlich. Alles was Ihr begehrt."

"Ich benötige ein Möglichkeit, um zum Chateau de Jarjayes zu kommen."

"Euer Wunsch ist mir Befehl." Lächelnd gab der Graf seinem Kutscher ein Zeichen und die Kutsche fuhr los.

Lange Zeit ließen Oscar und Graf de Girodelle die Landschaft auf sich wirken, als sie die menschenüberfüllte Stadt Paris verließen und die lange mit Bäumen geschmückte Allee entlang fuhren, die sie zum Chateau de Jarjayes führte.

"Graf de Girodelle?" sagte Oscar plötzlich. Ihr Begleiter sah, dass sie immer noch aus dem Fenster zu ihrer Rechten hinausblickte. Sie schien gedankenversunken. Er konnte sich nicht darin entsinnen, wann Oscar ihn in den letzten Jahren mit seinem Adelstitel angesprochen hatte. Bevor sie die Leibgarde verließ, war sie der diensthöhere Offizier. Alles begann mit einem Duell vor 20 Jahren.

"Habt Ihr möglicherweise gehört, wie es meiner Familie seit dem Sturm auf die Bastille ergangen ist?" Sie wandte sich ihm zu und Girodelle konnte Hoffnung in ihren Augen sehen. Hoffnung auf das Überleben ihrer Eltern oder möglicherweise Hoffnung darauf, dass sie ihr Handeln vergeben mögen.

Girodelle senkte den Kopf und lächelte "Sie leben, Lady Oscar. Euer Vater steht noch immer treu in den Diensten seiner Majestät, auch wenn er die Tuilerien nicht sehr oft aufsuchen. Auch Eure Mutter ist noch offizielle eine Hofdame ihrer Majestät, der Königin. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. Sie hat sich vom Hofe zurückgezogen." Ja, Oscar hatte es geahnt, in der Stunde der Not, würde ihr Vater dem König mit seinem Leben zur Verfügung stehen. Eine Ehre, die sie ihrer Königin nicht mehr erweisen konnte.

"Ich habe meine Familie verraten...", sagte Oscar schuldbewusst und nachdenklich. "Ich habe mich gegen alles gestellt, woran sie glauben. Aber es gab keinen Weg mehr zurück und ich empfinde keine Reue."

"Ihr hattet sicher Gründe für Euer Tun. Ich kenne diese zwar nicht, aber durch Eure Entscheidung habt Ihr mich nachdenklich gemacht," antwortete Girodelle. "Der Adel wird sich für viele Misstaten verantworten müssen. Trotzdem denke ich, dass ein König unantastbar ist. Sie halten den König und die Königin in den Tuilerien gefangen ...." ereiferte er sich empört. Girodelle sah ihr in die Augen und lächelte. Oscar konnte erkennen, dass er nicht einen Hauch von seiner Liebe zu ihr verloren hatte. "Nur für Euch, würde auch ich die Seiten wechseln, dass hatte ich Euch schon einmal zugesichert und würde es immer noch tun," wiederholte er. "Lady Oscar, ich biete nochmals meine Hand an. Flieht hinter die Sicherheit meines Namens! Eine Ehe ohne Verpflichtungen. Ihr müsst nichts tun, was Ihr nicht wollt." Oscar wusste seine Worte wirklich zu schätzen, doch ein derartiges Opfer konnte sie nicht von ihm verlangen. Sie lächelte ablehnend.

"Ich könnte Euch nie die Liebe entgegenbringen, die Ihr eigentlich verdient, Graf. Ihr würdet ein unglückliches Leben führen, für das ich mir die Schuld geben werde. Ich habe einen Namen, unter dem ich leben möchte. Doch ich empfinde ich sehr viel Zuneigung für Euch und möchte Euch als Freund betrachten, wenn Ihr mich lasst!"

Oscar hoffte, dass er ihr Angebot akzeptieren würde. Bevor Girodelle etwas erwidern konnte, kam die Kutsche zum Stehen. Oscar blickte zum Fenster hinaus und erkannte das große Eingangstor zum Chateau, welches offen stand.

"Würdet Ihr hier auf mich warten?", fragte sie ihren Gegenüber, der sofort nickte.

"Ich danke Euch."
 

Oscar hielt die Luft an. Ihre Finger krallten sich in den Stoff ihres Kleides. Sie hatte das Tor durchschritten und wusste nicht, ob sie noch ihren Augen trauen durfte. Vor ihr breitete sich Chaos und Verwüstung aus.

Auf dem einst gepflegten Kieselweg lagen zerschlagene Holzstücke und Balken. Entsetzt stellte sie fest, dass es sich dabei um eine der Kutschen gehandelt haben musste, die zerschlagen worden war. Das Rasenstück rund ums Haus wies dunkle Stellen auf und es roch über dem gesamten Hof nach Verbranntem. Als Oscar ihren Blick auf das Haus richtete, stiegen ihr Tränen in die Augen. Die Fenster waren zum Teil zerschlagen. Vorhänge wehten traurig durch zerschundene Fensterscheibe. Marmorstaturen waren umgestoßen und Teile davon zerbrochen. Die breite Eingangstür hing nur noch lose in den Angeln. Das Haus hatte an Glanz verloren. Es schien um Hunderte von Jahren gealtert und plötzlich schwand allerlei Hoffnung in Oscar ihre Familie hier noch lebend vorzufinden.
 

***

Verloren

Zögernd betrat sie das zerstörte Haus. Fensterscheiben knirschten unter ihren Schritten. Das einzige Geräusch in einer ansonsten beängstigenden Stille. Sie erreichte die ehemals hell leuchtende Eingangshalle. Der weiße Marmorfußboden war durch unbekannte Eindringlinge verdreckt und zerkratzt. Der Kronleuchter, welcher prächtig leuchtend, bei den Besuchern immer besonders viel Aufmerksamkeit erregt hatte, lag nun zerschellt vor ihren Füßen. Die einzelnen Kristalle hatten ihren Platz in allen Ecken der Halle gefunden. Oscar wollte den Weg zu ihrem ehemaligen Zimmer einschlagen. Ihr Weg setzte sich knirschend über Glasscherben fort. Doch unter dem Geräusch von zerbrochenen Kristallen, nahm sie auch für einen kurzen Moment etwas aus den hinteren Räumen wahr. Erst glaubte sie, es sich eingebildet zu haben, doch dann erkannte sie deutliche Geräusche, die aus der Küche heraushallten. Schritte langsam, fast schlürfend. Oscar griff entschlossen unter ihr Kleid, um den Dolch, welcher mit einem Lederband um ihren rechten Unterschenkel geschlungen war herauszuziehen. Sie schlich mit dem Dolch in der Hand zum Rahmen der herausgeschlagenen Tür und warf einen Blick in das Innere der Küche.

Töpfe und Pfannen lagen verstreut auf dem Boden. Der große Esstisch und einzelne Stühle waren umgestoßen worden. Schranktüren standen offen und waren zum Teil abgerissen. Und inmitten diesem Chaos hockte eine kleine Gestalt mit grauen Haaren. Ihr einstiges Kindermädchen.

Oscar ließ benommen den Dolch sinken. Vor ihr saß eine Sophie, die um hundert Jahre gealtert zu sein schien. Noch hatte Sophie die Gestalt hinter sich nicht bemerkt, bis Oscar sich bewegte und sie ihre Schritte wahrnahm, als diese sich ihr näherte. Geschwind griff sie nach einem Messer, welches auf dem Boden lag und drehte sich herum. Es war ein unglaublich trauriger Anblick. Sophie schwankte von einer Seite zur anderen und schnaufte dabei laut, während die schwungvolle Bewegungen der Hand, in welchem sie das Messer hielt, bedrohlich auf Oscar wirken sollten. Das Messer zitterte in der altersschwachen Hand.

"Wer seid Ihr?" fragte sie zittrig, mit röchelnder Stimme. Oscar erwachte aus ihrer Starre. Sie fiel vor Sophie auf die Knie, damit diese ihr Gesicht sehen konnte. Sophies Augen waren verschwommen und blass. Noch immer trug sie ihre Hornbrille, die zerkratzt und zum Teil gesplittert war. Ihre Haut war ein einziges Faltengebirge, ihre Kleidung zerschlissen und die wenigen Haare waren zerwühlt. Sophie starrte Oscar lange an. Mühevoll kniff sie ihre Augen zusammen, um ein etwas genaueres Bild zu sehen. Nach endlosen Sekunden dann bewegten sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln hinauf.

"Oscar?" hauchte sie fassungslos. "Oscar? Oh, mein geliebter Engel, bist du es?" Ihr Blick irrte über das vertraute Gesicht ihres Schützlings. Sie streckte eine Hand aus und strich über Oscars Wange. Dicke blaue Adern zogen sich unter der, mit Altersflecken übersäten Hand lang.

"Ja, Sophie. Ich bin es."

"Ihr seid nicht tot? Oh, Oscar, dem Himmel sei dank. Ich danke Gott, dass Ihr noch lebt." Sie brach in haltlosem Schluchzen aus. Oscar umarmte ihr Kindermädchen vorsichtig. Sie schien zu zerbrechlich und schwach.

"Meine liebe Sophie", flüsterte sie ihr ins Ohr und freute sich, sie lebend zu sehen. Kraftlos schluchzte ihr altes Kindermädchen in ihren Armen. Sie schob sie vorsichtig von sich und ließ ihre Hände auf den eingefallenen Schultern liegen, um eindringlicher zu sprechen

"Sophie, sag mir, was ist hier geschehen?" Oscar wusste, dass ihrem Kindermädchen die Kraft fehlte lange Reden zu halten, deshalb musste sie ihre Fragen schnell stellen.

"Es waren viele Menschen hier...," begann diese zu erzählen und wippte dabei weiter vor und zurück. "Sie haben das Tor aufgebrochen und die Fenster eingeschlagen, diese Wilden, diese Barbaren. Ich konnte nichts tun. Sie liefen durch Euer Haus und plünderten. Sie nahmen den Schmuck, das Essen, die Seidenstoffe, ja sogar das goldene Besteck, sie nahmen einfach alles mit. Dabei schrieen sie immer: ,Tod dem Adel! Entzug aller Privilegien! Tod! Tod dem Adel!" Sophie weinte noch heftiger und immer wieder wiederholte sie ihre Worte. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen und Oscar befürchtete, dass die Leute ihr Leid angetan hatten. Pötzlich wurde Oscar die Wertigkeit ihrer Worte bewusst und sie hoffte, dass die Menschen ihre Drohungen nicht wahrgemacht hatten

"Sophie...Sophie! Wo sind meine Eltern?" Panik überfiel sie. Doch Sophie weinte nur weiterhin ununterbrochen.

"Was ist geschehen?" fragte plötzlich jemand hinter ihr und Oscar wandte sich erschrocken um. Aufgrund der Schluchzer ihres Kindermädchens, hatten sie nicht das Eintreten von Girodelle bemerkt.

Ohne große Erklärungen erhob sie sich und lief an Girodelle vorüber "Bleibt bitte kurz bei ihr, Graf!"

"OSCAR, geht nicht! Bleibt hier!" Angstvoll streckte die alte Frau die Hand zitternd nach ihr aus. Oscar nahm sie vorsichtig zwischen ihre warmen Hände.

"Ich komme bald zurück, Sophie, versprochen. Graf de Girodelle bleibt bei ihr. Alles wird gut!"

"André? Wo ist André? Der Junge sollte doch immer an Eurer Seite bleiben."

"Das ist er, Sophie. André geht es gut. Alles wird gut." Oscar ließ ihre Hand los und entfernte sich langsam.

"Ja, alles wird gut. Ihr seid zurück ...," murmelte sie.
 

Schnellen Schrittes durchquerte sie die Eingangshalle und steuerte auf die Treppe zu, die sich zum ersten Stock hinauf erstreckte.

Der Gestank nach Ruß nahm stark zu. Endlich erreichte sie ihr ehemaliges Zimmer. Auch hier war gewütet worden. Mit der Einrichtung schienen ihre Erinnerungen zerschlagen worden zu sein. Verbittert sah sie auf die traurigen Überreste des Klaviers. Sie stutzte. Anders als im Rest des Schlosses, war hier gründlicher gewütet worden. Die Zerstörung der anderen Räume zeugten von rücksichtslosen Plündern, aber hier war die Einrichtung gründlich, fast pedantisch zerstört worden. Was hatte das zu bedeuten? Nachdenklich suchte sie weiter. Schnell verließ sie ihre ehemaligen Räume und schritt alle Zimmer ab. Dabei reichte es, immer nur in die Räume hineinzublicken, denn alle gaben dasselbe Bild von der Plünderungen wieder. Die Hoffnung in Oscar schwand Wertgegenstände zu finden oder gar hier ihre Eltern wiederzusehen. Sie glaubte, sie seien geflüchtet ... an ihren Tod wollte sie noch längst nicht denken. Viele Adlige waren ins Auslandgeflüchtet. Vielleicht hatten es ihre Eltern derer gleich getan.

Oscar erreichte die Zimmerflut ihrer Mutter. Hier existierte sogar noch eine Tür, die jedoch lose herangelehnt war. Sie schob sich vorsichtig hinein und durchquerte den Salon. Das Schlafzimmer ihrer Mutter lag im Halbdunkel. Das riesige Himmelbett hob sich schemenhaft ab.

Ihr Herzschlag setzte aus. Verloren wirkend, wie ein kleines Kind, lag ihre Mutter in dem Bett. Zwischen weißen Laken ruhte ausgemergelt ihr Körper. Sie war bleich und Oscar konnte den Geruch nach Krankheit und Tod wahrnehmen. Ihre Beine fühlten sich schwer an, als sie zu ihrer Mutter hinüber ging. Sie hockte sich vor eine Seite der Bettkante und schaute lange auf das Gesicht ihrer Mutter. Sophies Zustand hatte sie erschreckt, das Bild ihrer Mutter entsetzte sie. Aus der eleganten, zurückhaltenden Lady de Jarjayes war das Leben gewichen. Tief lagen ihre rotgeränderten Augen in den Höhlen, umschattet von dunklem Blau. Die Haut spannte sich pergamentartig um ihren Schädel, Adern zogen sich sichtbar entlang der Schläfen. Das Haar lag glanz- und kraftlos auf den Kissen. Oscar spürte nicht ihre Tränen, welche unablässig ihren Weg über die Wangen hinunter fanden. Die Arme ihrer Mutter lagen etwas gestreckt von ihrem Körper. Oscar senkte ihren Kopf und legte ihn vorsichtig auf die Hand ihrer Mutter

"Ma mère...", flüsterte sie "Maman".

Die Hand der Mutter regte sich. Oscar blickte überrascht auf. Die Tot geglaubte hatte ihre Augen ein wenig geöffnet

"Mein liebes Kind." Es war mehr ein Ächzen, aber Oscar hatte es verstanden. Ihre Mutter war nicht tot, aber der Tod wartete bereits auf sie. Die Hand gab kaum noch Lebenswärme von sich. Sie schien seit Tagen nichts mehr gegessen zu haben oder aber eine Krankheit hatte sich ihren Körper angenommen und breitete sich nun unaufhaltsam in ihr aus.

"Nun weiß ich, warum Gott mir noch etwas Zeit erlassen hat...", flüsterte sie und Oscar fragte sich, woher sie nur die Kraft nahm noch vollständige Sätze zu bilden "Ich wusste, dass du noch lebst ... er hat mir erlaubt, dich noch ein letztes mal sehen zu dürfen, damit ich dich um Vergebung bitten kann."

Oscar schüttelte verwirrt den Kopf "Vergebung für was?" Sie bemerkte, dass ihre Stimme kaum mehr als ein Zittern war. Ihre Mutter versuchte einzuatmen und Kraft zu sammeln, für ihre möglicherweise letzten Worte

"Vergebung für meine Unfähigkeit bei deiner Erziehung. Ich habe mich deinem Vater nie wiedersetzt. Nicht als er alle meine Töchter an Ehemänner in den entferntesten Provinzen Frankreichs verkauft hat. Nicht als er dich zwang ein widernatürliches Leben zu führen. Er hat dich ins Verderben geführt und ich .... ich hätte dir den richtigen Weg weisen müssen. Ich hätte dich mehr unterstützen müssen ...Lebe dein Leben, Oscar ... und vergib mir bitte...!" Ihr Atem wurde schneller und Oscar erkannte eine einzelne Träne, die aus den Augenwinkeln herausgefunden hatte und nun einen nasse Stelle auf dem Kopfkissen zurückließ.

"Nie, nie habt Ihr mich enttäuscht, ma mère. Ich liebe Euch." es waren die letzten Worte, die Madame Jarjayes von ihrer Tochter wahrnahm, bevor ihre Augen brachen und ihre Gesichtszüge schlaff wurden. Das letzte bisschen Leben war aus ihrem Körper gewichen. Doch Oscars Mutter glitt glücklich in die Schattenwelt, denn sie durfte ihre Tochter um Verzeihung bitten.

Sie hörte nicht mehr den hilflosen Schrei an ihrem Todesbett, dass sie wiederkehren solle und sie sah nicht, wie Oscar unter herzzerreißenden Schluchzen über ihrem leblosen Körper zusammenbrach.
 

In Trance verließ Oscar das Zimmer. In nur so kurzer Zeit hatte sie so vieles verloren. Sie konnte nicht sagen, ob sie atmete, sie wusste auch nicht, wo sie sich im Augenblick befand. Der Schock und die Trauer über den Verlust ihrer Mutter hatte sie erreicht und vereinnahmt. Sie musste ihre Mutter begraben. Sie musste einen Priester finden. In diesen Zeiten war kaum ein Geistlicher bereit Kirche oder Kloster zu verlassen. Ohne das es ihr bewusst war, stand sie vor Andrés ehemaligen Zimmer. Hier war für die Plünderer nicht viel zu holen gewesen. André besaß nicht viele Wertsachen. Zaghaft betrat sie den Raum. Außer ein paar umgestürzte Möbelstücke war das Zimmer unverändert. Wehmütig ließ Oscar ihren Blick umherschweifen. Sie ging zum Bett und schlug die Decke zurück. Vom jahrelangen Benutzen hatte Andrés Körper eine Kuhle in der Matratze gebildet. Zärtlich strich Oscar über das Laken, dann straffte sie mit einem Seufzer die verspannten Schultern und setzte ihre Wanderung fort. Auf ihrem Weg durch das Arbeitszimmer ihres Vaters hielt sie inne.

Nachdenklich sah Oscar hoch. Hier hatte das einzige gemalte Portrait von ihr gehangen. Traurig sah sie die nackte Wand an. Es hatte gegenüber von dem Schreibtisch ihres Vaters gehangen. Überrascht sah sie herunter. Über den Boden lagen Teile des Bildes wie ein Puzzle verstreut. Alles deutete darauf hin, dass sich jemand persönlich daran zu schaffen gemacht hatte. Die Leinwand war mit einem Dolch oder einem Schwert zerschnitten worden. Sie ging zu dem prunkvollen Marmorkamin und sah, dass Teile des Rahmens angebrannt in der erkalteten Asche lagen. Oscar wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber es berührte sie merkwürdigerweise.

Plötzlich hörte sie, dass jemand in das Zimmer getreten war. Sie glaubte, dass Girodelle ihr gefolgt war, doch als sie sich umwandte, sah sie einige Meter neben sich ihren Vater stehen. Sein Gesicht war versteinert. Oscar erschrak bei der Härte seines Ausdrucks. Sie konnte sehen, wie ihr Vater sie von oben bis unten musterte. Sein Blick wurde herablassend, als er über das Kleid glitt. Auch Oscar sah sich ihren Vater genau an. Vor ihr stand noch immer der stolze Mann von vorher. Anders als bei ihrer Mutter und Sophie, hatten sich seine Züge kaum verändert. Sie waren härter, unnachgiebiger geworden. Auch seine Kleidung und die strenge Perücke waren die eines Generals angemessen. Ihr Vater schien als Einziger unberührt durch die Plünderungen gegangen zu sein.

"Jeden Tag...", sagte er unerwartet, mit seiner gewohnt tiefen Stimme, aber er brach ab.

"Was jeden Tag?", hauchte Oscar kaum hörbar. Sie wusste nicht was sie jetzt zu erwarten hatte, doch sie konnte sich ein glückliches Wiedersehen mit ihrem Vater nicht vorstellen.

"Jeden Tag zerstöre ich etwas mehr von diesem Schandfleck," sprach er und aus seiner Stimme war etwas ähnliches wie Genugtuung herauszuhören. Und augenblicklich verstand Oscar. Ihr eigener Vater hatte in Wutanfällen das Gemälde vernichtet und mit Schandfleck war Oscar selbst gemeint.

"Mutter ist tot...", murmelte sie, um ihn an seinen Gefühlen zu erreichen, doch er zeigte weder Trauer noch sonst irgendeine Art von Regung. Er schwieg. Sie konnte nur Hass in ihm sehen.

"Sie muss angemessen beerdigt werden." Er starrte sie weiterhin an.

"Das soll dich nicht interessieren. Dies ist nicht mehr deine Familie. Die Königin wird für eine angemessen Bestattung sorgen."

Ohne nachzudenken sagte sie zu ihm "Ich liebe Euch, Vater...".

Nach weiteren endlos erscheinenden Sekunden hörte sie wieder seine Stimme "Verschwinde von hier! Oder willst du, dass ich mich vergesse?!" Er trat einen Schritt auf sie zu. "Ich habe keine Tochter mehr. Du hast unsere Ehre verraten."

"Ehre? Das ist nur ein Wort. Lebt Wohl, Vater!" Oscar konnte nichts dagegen sagen. Sie wollte auch nicht, denn sie hatte geahnt, dass sie nicht mit offenen Armen von ihrem Vater empfangen werden würde. Sie wusste, dass sie ihn heute zum letzten Mal sah. Das sagte ihr Gefühl.

Sie ging hinaus aus dem Zimmer, die Treppe wieder hinunter und zurück zur Küche. Dort sah sie Girodelle, dem es gelungen war, Sophie zu beruhigen. Girodelle sah ihr tränenerfülltes Gesicht

"Was ist passiert?"

"Meine Mutter ist tot", sagte sie nur wieder monoton und blickte auf ihr Kindermädchen, dass sich auf einen ganz gebliebenen Hocker gesetzt hatte. Sophie fing wieder laut zu jammern und zu weinen an. Müde seufzte Oscar auf.

"Ich habe vergessen, nach beglaubigten Urkunden zu meiner Geburt zu suchen. Es würde ohnehin nichts nützen. Ohne Erklärung meines Vaters komme ich nicht an das hinterlegte Geld heran. Er wird wenig dazu geneigt sein, sie mir zu geben."

"Das würde nichts nützen," schniefte Sophie zwischen zwei Schluchzern.

"Was meinst du?"

"Euer Vater hat alle Geldbestände der Familie abgehoben," erzählte sie. "Auch Euer Geld. Er hatte wohl Angst, dass das Volk die Bankhäuser stürmt. Aber der Pöbel hat alles gefunden und mitgenommen, als sie hier eindrangen. Wir haben nicht einen einzigen Sou." Oscar lachte trocken. Dann wandte sie sich besorgt an Girodelle, der schweigend abseits stand.

"Graf de Girodelle, würdet Ihr Sophie aufnehmen und Euch um sie kümmern? Mir stehen nicht die finanziellen Mittel zur Verfügung um sie medizinisch zu versorgen. Ich bitte Euch...!" Es war ihr sichtlich unangenehm, ihm darum bitten zu müssen. Girodelle willigte ohne zu zögern ein.

"Kann ich etwas für Euch tun?"

Oscar schüttelte den Kopf. Es war Zeit nach Paris zurückzukehren.

Sie blickte nicht mehr zurück.

Ihr altes Leben war damit endgültig begraben worden.
 

***

Geführt

"War er es?"

"Ja."

"Kein Zweifel möglich?"

"Kein Zweifel möglich."

"Hat er dich entdeckt?"

"Ja."

"Dann ist deine Rechnung aufgegangen?"

"Ich habe es nicht anders erwartet. Ist dein Freund ihnen gefolgt?"

"Ja, er hat alles gemacht, worum du ihn gebeten hast."

"Haben sie ihn entdeckt?"

"Nein, er kennt die Stadt besser als sie. Wenn er es vermeidet gesehen zu werden, dann sieht man ihn nicht. Ihr Zielort wird dein Interesse wecken."

"Hat er herausgefunden, wo ich ihn finden kann?"

"Ja."

"Kann ich unbemerkt zu ihm?"

"Er wird ständig bewacht. Es ist unmöglich für ihn, sich unbemerkt zu entfernen, aber mit seiner Hilfe kommst du ungesehen zu ihm."

"Mehr möchte ich nicht. Ich danke dir."

Wenig später stiegen sie zusammen die wacklige Treppe hinunter, der ehemalige Soldat und sein Oberst, zu ihrem ganz eigenen Kampf. Oscar trug wieder ihre gewohnte Männerkleidung, verborgen unter einem dunklen Umhang. Es waren erst wenige Stunden vergangen, seit ihre Mutter in ihren Armen gestorben war und die Verbindung zu ihrem Vater brach. Ihre Seele und ihr Körper wollte in Ruhe trauern und alles, was einst ihre Familie und ihr Zuhause war, verabschieden, aber beides verbot sie sich. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt zu Ruhen. Alan konnte sie zu André führen. Sie war ihm wieder einen Schritt näher gekommen.

Die Sonne war untergegangen. Im Treppenhaus war es finster. Über Paris hatte wieder ein leichter Nieselregen eingesetzt, der bald zu einem dichten Schauer umschlug. Angetrieben von starken Windböen wehte ihnen der Regen direkt entgegen. Oscars raffte ihren Umhang enger und stieg über den Dreck und die Abfälle, welche der Regen die Gasse hinunter spülte, hinweg. Die heruntergekommenen Häuser entlang der engen Gasse gaben stummes Zeugnis von Hunger und Armut. Hier gingen Kinder mit leeren Mägen ins Bett. Irgendwo miaute eine Katze gequält. Der drohende Hunger hatte sie auf die Speisekarte einiger Bettler erwählt. Selbst Katzen waren Mangelware in Paris.

Zielgerichtet steuerte Alan das Ende der Straße an. Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen. Die fehlende Straßenbeleuchtung konnte jeden Hauseingang, jede Abzweigung zu einer tödlichen Falle werden lassen. Die Dunkelheit verbarg alle Attentäter. Schweigend folgte Oscar ihm durch die verwinkelten Gassen. Vereinzelte Nachtschwärmer kreuzten ihren Weg. Nässe und Dunkelheit vertrieben den Alkoholnebel aus ihren Köpfen und sie eilten mit eingezogenen Schultern nach Hause, sofern sie eines hatten. Alan erhöhte das Tempo und rückte zum Schutz näher an Oscar heran. Die Hand schützend in ihren Rücken, passte er sie seinem Schritt an.

Sie waren über eine halbe Stunde unterwegs. Ihre Kleidung war längst durchnässt. Selbst das dicke Leder der Stiefel bot keinen Schutz vor dem Regen. Ihre Umhänge zogen ihre Bahnen durch Unrat und Pfützenwasser.

Endlich verlangsamte Alan seine Schritte und sah sich suchend um. Das Straßenbild unterschied sich kaum von der Gegend um Alans Wohnung. Dicht gedrängt reihte sich Wohnhaus an Wohnhaus. Der Regen peitschte gegen Fensterläden und Türen. Baufällige Dachgiebel hielten längst nicht mehr dem Regen stand und ließen das Wasser ins Hausinnere. Dachrinnen bogen sich unter den Wassermassen. Das überfällige Wasser rann jeden Schutzsuchenden in Haare und Nacken.

Ein Mann, nur Abbild eines dunklen Schattens trat aus einem der Hauseingänge und winkte die Beiden zu sich. Mit Mühe stemmte er sich gegen den Wind und schloss die Tür hinter ihnen, dann begrüßte er Alan mit der zurückhaltenden Freude, welche unter Männern üblich ist. Ein kurzer Schlag gegen die Schulter reichte aus, um ihre Verbundenheit auszudrücken. In der trügerischen Annahme, hinter Alans Begleiter verberge sich ein Mann, bekam Oscar den gleichen freundschaftlichen Schlag gegen ihr Schulterblatt. Alans Freund stellte sich als Marius Forquet vor und führte sie, ohne weitere Vorreden tief in das Gebäudeinnere. Er war derjenige, der André gefolgt war und seinen Aufenthaltsort kannte. Alan zufolge wusste niemand in Paris besser Bescheid als sein Freund Marius Forquet. Den Weg, den er wählte, würde kein Außenstehender gehen können. Schweigend erklommen sie Mauervorsprünge, liefen durch Hintertüren, dunklen Fluren und schmalen Treppenstiegen, schlichen durch leere Wohnungen. Diesmal waren sie eine Viertelstunde unterwegs. Wortlos folgte Oscar ihrem Führer, obgleich sie annahm, dass sie erhebliche Umwege liefen, nur um Monsieur Forquets Eitelkeit zu schüren. Dieser lief mit stolz vorgereckter Brust vorneweg. Er kannte wirklich die verborgensten Wege durch Paris.
 

Endlich stoppte er und bat sie mit einer abrupten Handbewegung zu halten. Der Hausflur lag im Dunkeln. Treppe und Türen zeichneten sich kaum als schwarze Schemen in der Dunkelheit ab. Hinter der Tür war Gelächter zu hören. Dunkles Männerlachen wurde von hohen Frauenstimmen begleitet. Vorsichtig öffnete er die Tür und sah sich um. Grinsend bedeutete er ihnen, ihm zu folgen. Angesichts der großzügigen Samtvorhänge im dunkelroten Satin und der golddurchsetzten Dekoration war sofort klar, in welchen Räumlichkeiten sie sich befanden. Hätte jemand an der Art ihres Aufenthaltsortes gezweifelt, so wäre Marius's breites Grinsen, welches sein gesamtes Gesicht umspannte, Rückschluss genug gewesen. Spärlich bekleidete Mädchen räkelten sich lasziv auf Sofa und Kissen. Oscar rutschte tiefer unter ihren Umhang und hoffte, dass die Kapuze ihr Gesicht verbarg. Nicht aus Unbehaglichkeit, sich in einem Bordell zu befinden, sondern aus Angst, ihre Anwesenheit hier hätte etwas mit André zu tun. Ihr stockte der Atem, fast wünschte sie sich, André nicht wiederzusehen. Nicht an solch einem Ort.

Eine dralle Frau mit üppigen rotblonden Locken und tiefen Dekolleté kam auf sie zu. Ihr Lachen klirrte gekünstelt, wie das aneinander schlagen zweier Kristallgläser.

"Mein lieber Marius, wie kann ich dir und deinen Freunden dienlich sein?" fragte sie mit honigsüßer Stimme, während sie sich bei ihm unterhackte.

"Madeleine, meine Liebe, wo ist unser Freund?" Madeleine ließ wieder ihr Lachen klirren und führte sie durch den Salon. Mit einem anmutigen Kopfnicken wies sie ihn nach rechts.

"Monique hat sich seiner angenommen." Hinter einem weiteren dunkelroten Samtvorhang waren eindeutige Laute zu vernehmen. Sie hob den Samtvorhang. Der blonde Begleiter von André war angestrengt am Rotieren. Sein blanker Hintern sah den Zuschauern entgegen, während er die quiekende Monique bearbeitete. Wider besserer Vernunft sah Oscar hin, unendlich erleichtert, dass nicht André der Besucher dieses Etablissements war. Es hatte etwas hypnotisches, das stetige auf und ab des weißen Männerhinterns zu sehen. Mit einem diabolischen Grinsen wünschte Oscar ihm ewige Impotenz.

Marius lachte leise. "Alan, du wolltest eine Möglichkeit, deinen Freund allein zu sprechen, ohne dass sein blondhaariger Begleiter die ganze Zeit um ihn ist! Ich war sehr überrascht, als ich herausfand, dass Monsieur Jean-Luc und ich eine gemeinsame Bekannte haben. Er weiß die Künste von Madame Madeleines Mädchen genauso zu schätzen, wie ich. Zufällig überkam ihm gerade heute die Lust diese zu genießen." Hierbei kniff er Madeleine spielerisch in ihre gepuderte Wange. "Kannst du ihn bis in die Morgenstunden beschäftigen, meine Liebe?" Madeleine legte nachdenklich ihren Kopf schief. In ihren Augen stand die Gier nach einer angemessenen Bezahlung. Marius sah zu Alan, der wiederum Oscar ansah. Diese nickte und ließ ihre letztes Goldstück in die Hand der Bordellbesitzerin fallen. Madeleine biss drauf, nickte zustimmend und entfernte sich. Marius sah ihr bedauernd nach.

"Euer Freund befindet sich nicht weit von hier. Die Ausgänge werden ständig beobachtet.", erklärte er Oscar. "Ich führe Euch zu ihm!"
 

Sie verließen das Bordell wieder durch den Hinterausgang und schlichen durch das dunkle Treppenhaus weiter. In der Ferne grollte das Herannahen eines Gewitters. Draußen peitschten Wind und Regen durch Paris.

Wie versprochen befand sich ihr Ziel in einem der angrenzenden Wohnhäuser. Es dauerte nicht lange und sie standen am Fuße eine wackligen Treppe. Wieder donnerte es, diesmal lauter und langgestreckter.

"Euer Freund befindet sich in der mittleren Wohnung im zweiten Stockwerk," wandte sich Marius an Alan und Oscar.

Beide nickten. "Wie lange werdet Ihr brauchen?" fragte er.

"Das kann ich Euch nicht sagen," antwortete Oscar. Marius hob erstaunt eine Augenbraue, als die hohe Stimme aus den Untiefen der Kapuze erklang.

"Sollen wir in der Nähe warten, falls du Hilfe brauchst?" fragte Alan. Oscar lachte kurz und leise auf.

"Nein. Ich werde keine Hilfe brauchen. Achtet darauf, dass Andrés blonder Freund nicht unverhofft zurück kommt!"

"Keine Angst, Oberst. Ich halte ihn dir vom Leib," grinste er. "Findest du den Weg zu Madeleine zurück?" Oscar nickte.

"Wir werden dort auf dich warten. Egal, wie lange es dauert." Alan's Grinsen hatte Marius erreicht. Und wie sie warten würden.

"Viel Glück."

"Ich danke Euch." Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und stieg in die Dunkelheit hinauf. Ein Blitz erhellte für einen kurzen Moment die beiden zurückgebliebenen Männer.
 

***

Verlangen

Da war sie, eine dünne Tür aus mottenzerfressendem Holz, welche sie von André trennte. Fahler Lichtschein drang durch die Ritzen der veralteten Holzblätter auf den dunklen Flur. Kein Geräusch, außer dem schnellen Schlag ihres Herzens war zu hören. Hart schlug es in ihrer Brust, dröhnend in ihren Ohren. Oscar zuckte zusammen, als ihr Klopfen gegen die Tür laut in der Stille zurückhallte. Den Atem anhaltend, wartete sie. Es raschelte leise, dann wurden Schritte laut, die sich auf die Tür zu bewegten. Knarrend öffnete sie sich. Mit dem spärlichen Licht einer Kerze im Rücken stand André vor ihr. Der Schrecken, der sich durch ihr plötzliches Erscheinen in seinem Gesicht wiederspiegelte, lag im Halbdunkel verborgen. Mechanisch stellte sie einen Fuß in den Türrahmen, um das Zuschlagen der Tür zu verhindern, aber André starrte sie nur wortlos an. Am Firmament krachten Donner und Blitz fast zeitgleich und erhellten das kleine Zimmer für eine Zehntelsekunde. Die Stille hüllte die beiden Menschen an der Türschwelle ein und ließ die Zeit für einen kurzen Moment stehen, während sie unaufhaltsam für alle anderen weiterfloss.

Da stand sie und er merkte, wie er den Boden unter seinen Füßen verlor. Diesmal hatte ihn sein Gefühl im Stich gelassen. Er war nicht vorbereitet gewesen. André brauchte nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Das blonde Haar klebte nass in ihrem Gesicht. Die blauen Augen funkelten liebevoll, doch angriffslustig. Kampflos würde sie nicht gehen.

"André?" Er wich zurück, als sie näher kam. Rückwärts gehend, bewahrte er den Abstand zwischen ihnen, während Oscar ihm unaufhaltsam folgte.

"Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht versuchen sollst mich wiederzusehen." Mühsam stieß André den Vorwurf hervor.

"Und du müsstest mich eigentlich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich dir folgen werde", antwortete Oscar. Sie war stehen geblieben. "Vor allem, weil ich nicht verstehen kann, weshalb du vor mir fliehst. André, ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Ich dachte, der Schmerz würde mir das Herz in der Brust zerreißen und mein Leben erschien mir sinnlos. Als sie auf mich schossen, empfand ich das Gefühl von Erlösung, Erlösung von einem Leben ohne dich und nun willst du, dass ich dich aufgebe, nachdem ich dich wiedergefunden habe?" Die Sanftheit ihrer Worte zogen haarfeine Risse durch seinen selbsterrichteten Schutzwall. Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

"Ich möchte dich nie mehr wiedersehen. Hörst du, ich will dich nicht mehr sehen! Wir leben in verschiedenen Welten. Das war schon immer so und wird immer so sein. Gehe und sieh nicht mehr zurück, Oscar!"

"Du hast mir immer noch keinen Grund genannt, der mich von dir fern halten würde," erwiderte Oscar und trat näher. Vorsichtig berührten ihre Finger sein Haar und strichen ihm sanft die Strähnen aus der Stirn. Ihre Fingerkuppe fuhr federleicht über die Narbe seines blinden Auges. Er zuckte zurück, als hätten ihre Hände ihn verbrannt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Der Körper war angespannt und verkrampft.

"Finde jemanden anderes, dem du dein Herz schenken kannst!" Seine Antwort kam hart und heiser.

"Was ist mit deinem Herzen?"

"Es existiert nicht mehr." Oscar legte ihre Hand leicht auf seinen Brustkorb, direkt über dem Herzen. Das Herz unter ihrer Handfläche pochte und sein Gesicht spiegelte die widersprüchlichen Gefühle wieder, die in ihm kämpften.

"Das glaube ich nicht, André."
 

Wieder sprang er zurück und floh vor ihrer Berührung. André drehte sich abrupt um und sah schwer atmend aus den Fenster. Der Regen trommelte monoton gegen die Fensterscheibe. Hinter der Glasscheibe tobte das Unwetter. Blitze und Donner wechselten sich ab. Schweigend und verbittert starrte Oscar den abweisenden Rücken an. Sie löste das Band ihres Umhangs, der vollgesogen vom Regenwasser, schwer von ihren Schulter glitt. Als minutenlang keine Worte fielen, wagte André sich wieder umzudrehen. Der Anblick ihrer Tränen traf ihn unvorbereitet. Sein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Aber er blieb hart.

"Ich meine es ernst Oscar, GEHE und versuche nicht mich wiederzusehen", wiederholte André mit gespielter Ruhe.

"Nein, nicht jetzt. Nicht wo wir zueinander gefunden haben. Wo alles anders zwischen uns ist." Oscar wurde wütend. Auch sie hatte die Hände zu Fäusten umschlossen, also wollte sie ihren Schmerz darin bündeln.

"Was hat sich geändert, Oscar? Ich habe die ganzen Jahre still neben deinem Leben gelebt. Und wir werden auch weiterhin nebeneinander existieren, wie wir es schon immer getan haben." Seine Worte waren hart und sein Gesicht drückte eine größere Entfernung aus, als sie je räumlich zwischen ihnen liegen könnte. Wo war die Sanftheit, die Liebe, die Einfühlsamkeit, die sie sonst immer an ihm wahrgenommen hatte. Mit einem wütenden Knurren überwand sie den letzten Schritt, der sie von einander trennten und presste ihre Lippen auf die seinen. Im ersten Moment war André einfach nur zu überrascht, um zu reagieren. Dann merkte er, wie seine Selbstkontrolle schwand. Die Wärme, die Süße ihres Mundes berauschte ihn. Ihm war schwindlig von dem Kampf, der um sie beide tobte. Mühsam klammerte er sich an das, was er für richtig hielt, um Oscar zu schützen. Er schob sie weg, hielt aber ihre Arme noch immer umklammert.

"Geh, geh einfach nur", bettelte er, während er sie schüttelte. Der Schutzwall hatte Risse -fingerbreite, klaffende Risse- die den Schutzpanzer um sein Herz bröckeln ließen. Er ertrank in Sehnsucht, in Schmerz und Begehren.

Oscar schüttelte unter Tränen stumm ihren Kopf. Sie fühlte dieselbe Sehnsucht und klammerte sich an ihm. Ihr Blick sog sich an seinem Gesicht fest. Draußen tobte ein Inferno, als wollte die Welt in dieser Nacht untergehen. Sekunde für Sekunde erhellte der Blitz das verletzliche Gesicht der Frau in Andrés Armen. Der Schutzpanzer brach in zwei und ließ sein Herz schutzlos und nackt zurück. Er riss Oscar in seine Arme und senkte seine Lippen. Wie ein Verdursteter suchte er ihren Mund und ertrank ihn in dem Kuss, bis ihnen der Atem ausging.
 

Ein kalter Windstoß kam durch die ungedichteten Fenster und fegte durch das Zimmer. Das Licht der Kerze flackert und erlosch. Oscar fröstelte heftig in ihrer nassen Kleidung und schmiegte sich näher an die warme Männerbrust und ertrank in seinem Kuss. Er zog sie noch enger an sich. Wollte mehr von der Frau in seinen Armen spüren.

Schwer atmend sah er sie an. Er streckte die Hand aus und streichelte vorsichtig ihre Wange, einer Tränenspur folgend. Ihre Augen schlossen sich bei seiner Berührung und ihr Kopf neigte sich leicht seiner Hand entgegen. Seine Finger glitten weiter, dem Ausschnitt der Bluse folgend.

"Du wirst sterben, wenn wir zusammen sind", flüsterte er kaum hörbar. Die Worte gingen fast im fernen Donner unter. Oscar schüttelte den Kopf. "Das werde ich nicht zulassen."

"Sturkopf! Ich versuche alles, um dich zu schützen." Andre strich ihr übers Gesicht und ließ die Finger langsam in ihren Haaren verschwinden, bewegte sie durch die nassen Locken. Schauer durchliefen seinen ganzen Körper, seine Erregung war inzwischen nahezu unerträglich.

"André, mein Herz stirbt, wenn du dich von mir abwendest," sagte sie fast bittend. Er spürte, wie sie zitterte und seine Lippen suchten ihre Halsbeuge, sogen den Duft ihrer Haare, ihrer Haut ein.

Nun war sie hier. Für diesen Moment war Robespierres Drohung ohnehin nicht von Bedeutung. Es war zu spät. Er öffnete langsam ihre Bluse. Seine Hände glitten über ihren Körper. Das Hell ihrer blauen Augen wurde dunkel, wie ein Orkan der über das Meer tobte. Kühl und nass fasste sich die glatte Haut unter der klammen Kleidung an. Oscar schob ihre kalten Hände unter Andrés Hemd und fuhr die warme Haut am Brustkorb hoch. Ihre Finger ertasteten Muskeln und Sehnen. So bewegten sie sich in einem wortlosen Tanz und befreiten sich gegenseitig von ihren Kleidern. Erneut umarmten sie sich, küssten sich und sanken langsam auf das Bett nieder. Er beugte sich über sie, entzog sich für einen Moment ihrer Umarmung und nahm mit den Augen ihren Körper wahr. Sog jede Kleinigkeit in sich auf. Verlor sich ganz in ihr. Die Narbe an der linken Schulter, ein Leberfleck an der Hüfte, ein Regentropfen, der aus ihrem Haar tropfte und seinen Weg über die weiße Haut fand. Hinter den Fensterscheiben zuckte der nächste Blitz.

Wieder küsste er sie und seine Hände wanderten ganz von selbst zu Stellen, an denen sie seine Berührung wünschte. Sie tat das Gleiche, streichelte sanft über seine Schultern und ließ die Hände dann auf seiner Brust ruhen, sodass er ihre Hitze fühlte. André stieß ein tiefes, lustvolles Stöhnen aus. Seine Lippen strichen über ihre Schultern und weiter zu ihrer Brust. Mit seinem warmen Mund liebkoste er die zarte Haut und spürte wie sie auf ihn reagierte. Sie seufzte auf, ein kleiner Laut, der ihn noch mehr in Erregung versetzte. Jede Stelle, die sein Blick gestreichelt hatte, suchten seine Lippen.

So liebten sie sich. Voller Verzweiflung, als ob es kein Morgen gäbe. Verborgen unter der Decke der dunklen Finsternis im Zimmer und dem tobenden Inferno am Himmel, verloren Vergangenheit und Zukunft an Bedeutung. Das Hier und Jetzt zählte. Kein Wort wurde gesprochen, nur einem wilden Verlangen nachgegeben, doch ohne dass es sie besänftigte.
 

***

Sorgen

Rosalie schreckte auf, als ihr rechter Arm, dem Gewicht des aufgestützten Kopfes nachgab und wegklappte. Während sie einige Haarsträhnen aus der Teetasse zog und auswrang, blinzelte sie ihre Benommenheit weg. Sie war übermüdet und erschöpft, aber ins Bett gehen, um den ersehnten Schlaf zu finden, konnte sie nicht. Wiederholt fauchte sie Bernard an, dessen Fingerkuppen unaufhörlich auf die Tischplatte hämmerten. Die schlechte Laune war irgendwann in den ersten Stunden nach Mitternacht mit der Müdigkeit gekommen. Nun hockte sie in ihrem Genick, wie ein unbebetener Gast. Beharrlich und penetrant. Bernard übte sich in Geduld und Rücksicht. Sanft bat er seine Frau ins Bett zu gehen.

"Ich kann nicht zu Bett gehen." Rosalie war aufgesprungen und lief händeringend um den Tisch herum.

"Ich weiß, dass Lady Oscar ihre Gefühle in sich einschließt, aber uns einfach gar nichts zu sagen ... Sie ist einfach an mir vorbeigestürmt, um ihre Kleider zu wechseln und ist ohne ein Wort zu sagen ausgegangen. Ich mache mir Sorgen, Bernard." Bernard verfolgte mit den Augen, den unruhigen Gang seiner Frau, ohne sie in ihrem Redeschwall zu unterbrechen.

"Gestern Nacht kam sie wieder, blass und durchnässt. Wir wissen, dass sie André getroffen hat, aber sie sagt kein Wort. Was ist mit André? Lebt er? Wo ist er?" Bernard wurde schlecht. Kurzerhand hielt er Rosalie am Rock fest. "Dann verschwindet sie wieder den gesamten Nachmittag, kommt noch blasser zurück, sagt aber immer noch nichts. Wenn sie sich nicht schont, befürchte ich, dass die Tuberkulose wieder ausbrechen wird. Jetzt stürmt und gewittert es, es graut schon fast der Morgen und wir wissen nicht wo sie ist." Rosalie versuchte sich aus Bernards Griff zu winden, um ihre Wanderung fortzusetzen.

"Oscar ist eine erwachsene Frau, Rosalie."

"Du, sei ruhig!" knurrte ihn seine Frau an. "Du verweigerst mir auch die Antworten, die ich mir ersehne. Wahrscheinlich weißt du längst, wo sich André befindet. Robespierre vertraut dir doch auch sonst. Warum weiht er dich jetzt nicht ein?"

"Du hast Recht." Bernard wurde nachdenklich und sein Griff ließ nach. Ärgerlich befreite Rosalie ihr Kleid aus seiner Hand. "Warum verschweigt mir Robespierre, was er vor hat? Er plant etwas?" Seine Hand fing wieder an zu trommeln. An Rosalies überreizten Nervensträngen begann das Geräusch unangenehm zu ziehen. Es hallte dumpf, als ihre Hand vorschnellte und Bernards nervöse Finger auf die Holzplatte drückte. Bernard verzog schmerzhaft das Gesicht. "Wenn Robespierre heimlich agiert, wer weiß darüber bescheid?" fragte er sich, während er den Holzsplitter aus seinem Mittelfinger zog. "Wen weiht er ein?" Unbewusst klopfte sein Fuß auf den Boden. Rosalie trat drauf. Er ächzte. "Saint Just. Saint Just weiß bestimmt etwas. So sehr es mir auch missfällt, aber ich werde ihn am besten sogleich aufsuchen." Er bewegte vorsichtig seine Zehen.

"Jetzt, zu dieser Stunde?" frage Rosalie.

"Saint Just gehört nicht zu den Menschen, welche die Nacht zum Schlafen nutzen." Schweigen legte sich über den Raum, während beide nachdachten. Die Glocken der nahen Kirche schlugen zur vierten Morgenstunde.

Bernards Nase begann zu pfeifen. Fiepend, in die nächtliche Stille, bei jedem Atemzug. Seine Augen fingen Rosalies Blick ein. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und machte, dass er davon kam. Die konturenlose Dunkelheit der Nacht, erschien ihm sicherer als seine Frau.
 

Mit hochgeschlagenen Mantelkragen eilte er im strömenden Regen durch die Finsternis. In der Rue Saint Sulpice blieb er stehen. Das Gewitter hatte aufgehört. Über ihm schwenkte das verwitterte Wirtshausschild zum "Grand Vachenoir" vereinsamt im Regen. Das trübe Flackern der Lampe bot kaum genügend Licht, um die abgeblätterte Schrift zu lesen. Protestierend knarrte die massive Eichentür, als Bernard in das trockene Innere der Wirtsstube trat. Zu seinen Füßen sammelte sich Modder und Regenwasser. Griesgrämig sah der Wirt erst auf die Schmutzlache, dann auf seinen Gast.

"Freundchen, es ist zu spät für heute. Geh zu deinem Weib nach Hause! Hier ist keiner mehr und ich will auch in mein Bett." Bernard trat ins Licht und schob den Mantelkragen zurück. Louis Pasquier entblößte sein lückenhaftes Gebiss zu einem Lächeln. Sein riesiger Wams bebte vor Freude.

"Bernard, schön dich zu sehen. Du hast mein Gasthaus lange nicht mehr beehrt. Komm herein, komm herein! Es sind schwere Zeiten, aber so aufrichtige Männer, wie du, sieht man immer wieder gerne."

"Es tut mir leid, Louis, dass ich lange nicht hier war. Es war viel zu tun," rechtfertigte sich Bernard lächelnd, während er seinen Umhang ausschüttelte.

"Verstehe, verstehe. Ich nehme an, deine Frau sieht es auch nicht gerne, wenn du zu oft hier bist."

"Ja, dass auch," räumte Bernard ein.

"Möchtest du einen Humpen Bier?"

"Gern, aber eigentlich bin ich hier, weil ich Saint Just suche. Hast du ihn gesehen?"

"Ja," bestätigte der Wirt, während er einen Krug mit lauwarmen Bier füllte. "Er sitzt in meinem Hinterzimmer und diskutiert aufgeregt. Der Junge will den König lieber heute als morgen tot sehen." Bernard nickte. Louis Antoine Saint Justs radikale Gesinnungen waren ihm nicht unbekannt. Sie grenzten schon an Blasphemie. Die >Ancièn Régime<, das absolutistische Herrschaftssystem in Frankreich, welches bisher herrschte, war ihm derart verhasst, das er schon bei dem bloßen Wort ausspie.

Er griff sich seinen Krug und schlenderte zum Hinterzimmer. Nach kurzem Anklopfen trat er ein. Das glatte Gesicht mit den feinen Gesichtszügen Saint Just sah ihn an. Seine schönen Gesichtszüge und seine Grausamkeit verhalfen ihm später zu dem Namen "Todesengel der Revolution", unter dem er in die Geschichte einging. Er nickte Bernard zur Begrüßung zu, unterbrach aber nicht sein Gespräch. Er unterhielt sich mit zwei anderen Männern. Bernard kannte sie nicht persönlich, aber ihr Ruf eilte ihnen, düster und unheilverkündend, voraus. Zu Saint Just linken Seite saß Paul-Francois Barras, er hatte einige Aufstände in den Provinzen geschürt und die Landbevölkerung gegen den 1. Stand aufgehetzt, bis es zu blutigen Aufständen und Plündereien kam. Neben ihm saß Jean-Paul Marat, ein Arzt und radikaler Jakobiner, Herausgeber des 'ami du peuple'. Seine schmerzhafte Hautkrankheit verlieh ihm ein unangenehmes Äußeres, welche von seiner schäbigen Kleidung noch unterstrichen wurde. Schon jetzt schrie er nach Blut. Eine Weile hörte Bernard zu, bei einem Gespräch, dass es ihm die Nackenhaare sträubten. Saint Just Vorstellung, seine Utopie beruhte auf der absoluten Gleichheit und einer fast schon spartanischen Republik und diese wollte er mit allen Mitteln durchsetzen.

Endlich schickte er seine Freunde fort. Nachdem er sie mit einer nachlässigen Handbewegung entlassen hatte, lehnte er sich zurück, schob die Füße auf den Tisch und bedachte Bernard mit einem süffisantem Lächeln.

"Bernard, was führt Euch zu mir? Habt Ihr die Ketten Robespierres abgeworfen? Dem Halbgott den Rücken gekehrt?" Das Lächeln hatte nicht seine Augen erreicht.

"Ihr solltet vorsichtiger mit Euren Reden sein, Saint Just. Wer sagt Euch, dass ich nicht Robespierre alles über Euch erzähle?" antwortete Bernard so ruhig wie möglich. Er empfand Abscheu gegenüber diesem halben Kind, der mit seinen 22 Jahren zu den radikalsten Jakobinern zählte.

"Erzählt es ihm ruhig, Bernard. Es würde nichts nützen. Robespierre schürt die Eifersucht seiner Anhänger gegeneinander. Er würde Euch nicht glauben. Robespierre weiß, dass Ihr mich nicht mögt und genau dieses Wissen benutzt er für sich. Wenn wir uns untereinander zerfetzen, kann er sich in Ruhe zurücklehnen und seine persönlichen Ziele anstreben. Das wisst Ihr alles ebenso gut wie ich." Bernard musste ihm widerwillig recht geben.

"Dann helft mir, Saint Just! Robespierre plant irgend etwas. Er lässt Anhänger für sich arbeiten, von dessen Existenz offiziell niemand weiß. Wer sind diese Männer? Wie bindet er sie an sich? Was bezweckt er? Welche Aufgaben erfüllen sie?" Die Gesichtszüge seines Gesprächspartners verhärteten sich. Nachdenklich kniff Saint Just die Augen zusammen.

"Von geheimen Spionen weiß ich nichts. Obwohl ich etwas derartiges schon lange vermutet habe. Es ist interessant, was Ihr zu erzählen habt, Bernard. Seht mich nicht mit diesem Misstrauen an. Ich belüge Euch nicht, es wäre nicht von Nutzen für mich. Seid Ihr sicher?" Bernard nickte.

"Ich weiß auch, dass nicht alle freiwillig Robespierres Aufträgen folgen. Was für mich wichtig ist: Was hat er gegen sie in der Hand, dass sie ihm folgen? Leider sehe ich keine Möglichkeit an Informationen heranzukommen." Nur widerstrebend gab Bernard dies zu.

"Jetzt wo ich weiß, dass es diese Männer gibt, werde ich mich ganz anders umhören können. Wenn ich Euch helfe, werdet Ihr mir dann helfen, Bernard? Auch wenn es direkt gegen Robespierre geht? Du hast viele Freunde und Bewunderer Bernard, das könnte mir nützlich sein."

"Mir geht es um einen Mann. Helft Ihr mir ihn freizubekommen, dann helfe ich Euch! Vorausgesetzt, ich kann alles mit meinem Gewissen vereinbaren." Mit einem distanzierten Nicken besiegelten sie ihr Versprechen. Als Bernard wieder in die Dunkelheit hinaustrat, wusste er nicht, ob sich dieses Gespräch gelohnt hatte.

Verlassen

Sie konnte ihre Schritte nicht hören, aber sie spürte, wie sie an ihr vorüber gingen, wie der kalte Atem des Windes, abweisend und lieblos.

Sie blieb stehen. Wo war sie? Auf dem riesigen Platz waren unzählige Menschen versammelt. Schatten, die zu Umrisse wurden, Umrisse, die zu Körper wurden und sich wieder zu Schatten verwandelten. Sie kamen auf sie zu. Sie gingen wieder. Sie streiften sie, unangenehm und fröstelnd, aber trotzdem übersahen sie sie.

Panik überfiel Oscar. Wann hatte sie Andrés Unterkunft verlassen? Wie war sie hier her gekommen? Sie versuchte die Menschen näher zu erkennen. Die wogende Menge um sie herum war fast eins. Plötzlich schob sich ein kleiner Junge in ihr Bild, der neben einem kräftig gebauten Mann einher ging. Seine kleine Gestalt wirkte seltsam vertraut in dieser gesichtslosen Masse. Der blonde Junge lächelte Oscar zu. Unterlag sie einer Sinnestäuschung? Louis Joseph XVII schob seine kleine Hand, die große Pranke des verstorbenen Königs Louis XV. Groß leuchteten die Kinderaugen im weißen Gesicht, seltsam wissend und weit sehend. So schnell wie sie erschienen war, verschwanden sie wieder in der Menschenmenge.

Jemand musste ein Spiel mit Oscar treiben, anders konnte sie sich die eben gesehenen, eigentlich tot geglaubten Menschen, nicht erklären.

Alles war eigenartig still und losgelöst. Sie schien als Betrachter außerhalb einer eigenen Welt zu stehen. Plötzlich erklang aus weiter Ferne hässliches Gelächter, lauter und lauter werdend. Es drang in ihren Kopf, in ihren Verstand, in ihre Gedanken ein. Je länger sie darüber nachsinnte, desto schriller hallte es ihn ihren Ohren wieder. Sie spürte Blicke auf sich ruhen. Oscar drehte sich um und sah eine Frau in einem schwarzen Kleid, welche an einen Baum lehnte. Dei Frau strich sich ihre langen dunklen Haare aus dem Gesicht und sah höhnisch zu ihr auf, ein gehässiges Grinsen auf ihren Zügen. Jeanne blickte Oscar tief in die Augen, bevor sie ihren Rücken gegen den Baum schmiegte und kurz darauf darin verschwand.

Oscar konnte nicht leugnen, dass das Gefühl der Angst allmählich ihren Körper beschlich. Stiefel, die im gleichmäßigen Schritt marschierten kamen näher. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Die Monotonie der Schritte war beängstigend. Sie konnte nicht bestreiten, dass sich ihre winzigen Nackenhärchen aufstellten und mehr als Unbehagen in ihr auslösten. Die Masse teilte sich und machte den Weg frei, um einen kleineren Mann hindurch zu lassen. Seine Locken kräuselten sich in seiner Stirn, sein Gesicht war starr, sein Blick zielstrebig auf Oscar gerichtet. Sein Weg führte direkt zu ihr. Einige Meter vor ihr blieb er stehen. Der verstorbene Soldat Lasalle stellte sein Gewehr zu seiner linken Seite ab und salutierte. Ohne erdenklichen Grund schaute sie an sich hinab und stellte fest, dass sie ihre blaue Leibgardenuniform trug. Was hatte das zu bedeuten? Seine Augen waren gebrochen und leblos. Blut floss aus den Einschusslöchern in seiner Brust. Er öffnete den Mund und spie einen weiteren Blutstrom aus. Oscar schloss ihre Augen. Sie wollte ihn nicht sehen. War sein Sterben ihr verschulden? Hatte sie ihre Männer in den Tot geschickt?

Oscar zwang sich ihre Augen wieder zu öffnen. Zu ihrem Erstaunen stand Marie Antoinette vor ihr. Ihr kostbaren Kleid bauschte sich in einem Wind, der nicht wehte. Anklagend waren ihre großen, schönen Augen auf Oscar gerichtet.

Oscar erschrak. Wortlos hob die Königin ihre Hand und richtete den Finger auf sie. Ihr Mund formte Worte, aber kein Laut drang zu Oscar. Jemand stand hinter ihr. Sie drehte sich um und sah ihren Vater. Anklagend und unnahbar. Das Gesicht eine Maske aus eisiger Verachtung und Abwendung. Er hatte ihr Schwert in der Hand, legte es über sein Knie und brach es mit einer kräftigen Bewegung in zwei. Dann richtete auch er den Finger anklagend auf sie. Oscar drehte sich weiter. Vor ihr stand jetzt von Fersen. Er blickte sie seltsam mitfühlend und bemitleidend an. Marie Antoinette lachte kurz auf. Sie hielt ihre Hand vor den Mund, als versuche sie es zu unterdrücken. Doch es hielt nicht lange an und so brach das Gelächter von neuem aus. Warum lachte sie. Sie lachte weiter, demütigend und verhöhnend. Zu Oscar's Demütigung schloss sich von Fersen dem Gelächter an, der plötzlich neben seine Geliebte trat. Langjährige Freunde verletzten sie tief in ihrem Inneren. Nie hätte sie dies zu träumen gewagt. Beide traten beiseite und sie sah sich selbst, wie sie verzweifelt bemüht war, André einzuholen, über den langen Saum ihres Kleides stolpern. Sie rief seinen Namen, aber er drehte sich nicht um. Von Fersen und Antoinette richtete wieder ihre Finger auf sie und lachten weiter. Ihr Gelächter wurde lauter, als Höflinge und Adlige um sie erschienen und einstimmten. Auch wenn ihr Gesicht starr auf die Königin und den Grafen, ohne jegliche Regung gerichtet war, so war sie im Innersten darüber sehr aufgebracht und vor allem sehr traurig. Sie fühlte sich, als ob man ihr in diesem Augenblick etwas genommen hatte, etwas wichtiges. Ihre Ehre? Sie konnte es nicht genau beschreiben. Von Fersen legte seine Hand an den Rücken der Königin und schickte sich an, sich gemeinsam mit ihr von Oscar abzuwenden, ohne dabei das Gelächter zu beenden. Tränen holten Oscar ein. Sie fühlte sich kraftlos und verlassen.

Und wieder lagen Stimmen in der Luft. Sie rief ständig ihren Namen, erst leise, dann immer lauter. Oscar spürte, wie jemand von hinten über ihre Haare strich. Sie drehte sich wieder herum und erwartete ihren Vater hinter sich stehen zu sehen. Doch da war nichts. Erneut flüsterte jemand ihren Namen und plötzlich wurde das Licht heller und alle Menschen um sie herum waren verschwunden. Langsam manifestierte sich die zierliche Gestalt einer Frau. Ihr blondes Haar wehte leicht im Wind. Sie streckte ihre Hände nach Oscar aus. Endlich fanden die Tränen aus Oscars Augen, als sie erkannte, dass ihre Mutter sie rief. Die Augen ihrer Mutter strahlten hell, ihr Kleid war anmutig und ihr Gesicht von jeglicher Krankheit befreit. Oscar wollte ihre Hand nehmen, doch ihre Mutter entfernte sich. Sie flüsterte weiter ihren Namen, mit der sanften Stimme, die Oscar von ihr gewohnt war. Ihre Augen begannen blutige Tränen zu weinen. Die roten Tropfen liefen über das weiße Gesicht und hinterließen eine blutige Spur. Oscar fiel auf ihre Knie und schrie laut den Namen ihrer Mutter, wie sie es an ihrem Todesbett getan hatte.

Immer wieder, laut und lauter.
 

André erwachte und fühlte in der Dunkelheit ihren Kopf ganz nah bei seinen Lippen, unruhig schlafend lag sie auf seiner Brust. Mit einem tiefen Atemzug zog er ihren Duft und die Wärme ihrer Haut ein. Seufzend löste er sich von ihr und setzte sich vorsichtig auf. Seine Füße zuckten vor der Kälte des Fußbodens zurück, als er aufstand. Schnell und lautlos zog er sich an, dann wandte André sich wieder dem Bett zu und betrachtete die schlafende Oscar - wunderschön und seltsam verletzlich. Sie bewegte sich unruhig im Schlaf. In ihrem Gesicht waren Spuren von Unbehagen und Furcht zu sehen. Ein Albtraum plagte sie. André wagte es nicht, sie zu wecken, dann könnte er nicht das Zimmer verlassen und sich einfach wegschleichen, wie er es in diesem Moment vorhatte. Dabei wusste er genau, dass er nicht vor dieser Frau fliehen konnte. Er war an sie gekettet, seit ihrer Kindheit. Nie hatte diesen Umstand verflucht, lange Zeit nicht gegen sein Schicksal aufbegehrt. Er war auf seine Art glücklich gewesen, immer in ihrer Nähe sein zu dürfen. André war Stark. Er besaß die Kraft, die Stärke, seinen Schmerz, sein Sehnen, sein Begehren zu verbergen, für all die langen Jahre ohne die Hoffnung. Viele Menschen wären überrascht, wüssten sie von der Stärke, die in André schlummerte, aber erst mit Oscar fühlte er sich als Ganzes. Er brauchte sie sich nur anzusehen und schon überfluteten Sehnsucht und Begehren ihn. Vielleicht war doch noch nicht alles zu spät, um sie vor Robespierre zu schützen. Er konnte sie noch retten. Versuchen musste er es, aber der Preis war hoch. Er war dazu verdammt, ihr weh zu tun. Langsam öffnete er den Verschluss der goldenen Kette und legte Oscars Geschenk auf die freie Stelle im Bett, die noch seinen Abdruck und seinen Geruch trug. Mit einem melancholischen Lächeln verließ er das Zimmer und schlich in die Nacht hinaus. Ziellos würde er durch die Straßen von Paris irren, seine Bewacher hinter ihm wissend, sobald er das Haus verließ. Lebe wohl, Oscar", flüsterte er und blieb noch einen Augenblick regungslos, mit Tränen in den Augen, stehen.
 

"MAMAN," Oscar erwachte abrupt und mit dem bitteren Nachgeschmack des Traumes im Mund. Der verzweifelte Ruf nach ihrer schwindenden Mutter zerfranste ihr Bewusstsein.

Sie war allein. Allein! Der Ausdruck hallte in ihrem Kopf und verdrängte alle Erinnerungen an den vergangenen Traum. Es war noch immer Andrés Präsenz im Raum zu spüren, aber sie fühlte, dass er sie verlassen hatte. Dazu brauchte sich nicht einmal in der kleinen Wohnung umzusehen, um zu wissen, dass er gegangen war. Er würde nicht wiederkehren. Das Lacken neben ihr war noch warm, von dem Körper, der noch vor kurzem noch darauf lag. Sein Geruch lag in der Luft und ihr Körper füllte noch immer seine Berührungen. Die Luft war schwer von der Verzweiflung und dem Verlangen in der vergangen Nacht. Oscar sah auf die kleine Goldkette nieder. Deutlicher geschrieben, als eine Erklärung in tausend Worten, lag sie zwischen den Falten des zerknüllten Lackens. Enttäuschung überflutete sie. Ihre Hand krallte sich um die Goldkette und drückte zu, bis das Metall in ihre Haut schnitt und ihre Fingernägel sich ins Fleisch bohrten. Wortlos starrte sie an die Wand, ohne das ein klarer Gedanke ihre Sinne klärte. Warum hatte er sie wieder alleine gelassen? War dies ihre Strafe, weil sie ihn an ihrer Seite, die ganzen Jahre für selbstverständlich genommen hatte? Wut begann heiß in ihrem Innern zu lodern, wie ein Lavastrom, der sich durch ihre Adern ergoss. Er verdrängte die Tränen. Welche unsichtbare Hand zerstörte ihr Zusammensein und drohte ihr? Ruckartig und mit mechanischen Bewegungen stand sie auf und kleidete sich an. Die Tür schmetterte lautstark hinter ihr ins Schloss, Ausdruck ihrer Wut und Rage. In den angrenzenden Wohnung fuhren Menschen erschrocken aus ihrem Schlaf. Der Morgen begann langsam zu dämmern. Dicker Nebel verschluckte die ersten Sonnenstrahlen.

Ziellos lief Oscar durch die Straßen. Ihr war es gleich, wohin ihr Weg sie führte. Zum dritten Mal schon befand sie sich an der Port des Arts, bis sie ihre Umgebung wahr nahm. Noch immer lag dichter Nebel über Paris. Dicke Schwaden stiegen aus der Seine auf und verbargen die Sicht vor allem, was sich in 5 Meter Entfernung befand. Schemenhaft tauchten Gestalten aus dem Dunst auf und verschwanden wieder. Schattenhaft verschmolzen sie mit dem Nebel. Erinnerungsfetzen aus ihrem Traum kamen Oscar wieder in den Sinn. Nachdenklich lehnte sie an die Brückenbrüstung und sah auf den Nebeldunst nieder, der über dem Wasser lag. Andrés Bild stieg vor ihrem inneren Augen auf, eine bisher nie gekannte Verzweiflung in den Augen. Ihr Herz weinte bei seinem Anblick stumm, verborgen unter Wut und Zorn. Wovor floh er, dieser Narr? Sein Gesicht wurde verdrängt von dem Bild Robespierres. Oscar war sich sicher, dass hinter all den Fragen der Jurist stand. Maximilian de Robespierre, was wollte dieser Mann? Nachdenklich wog sie die Kette in ihrer Hand. Sie war nicht ohne Grund zurückgelassen worden. Ab jetzt würde André seine Spuren besser verbergen, so dass sie ihn niemals mehr fand. Oscar sog die kalte Morgenluft scharf ein, hob den Arm und schleuderte die Kette mit aller Kraft in Richtung der Seine. Getrieben von Verzweiflung und Einsamkeit drehte sich die Kette in der Luft und verschwand matt glänzend in der Nebelwand.
 

Hans Axel Graf von Fersen hatte sich tief in seinen dunklen Mantel gehüllt. Nicht so sehr die Kälte, sondern die Blicke seiner Mitmenschen fürchtete er. Er war nach Frankreich zurückgekehrt. Seine Gedanken wanderten zu den Tuilerien, in dessen Innere sich Marie Antoinette aufhielt, vertrieben aus dem Palast von Versailles. Noch hielt er sich fern der Königin, aber er wachte über sie. Verborgen vom dichten Nebel stand er an der Uferböschung der Seine. Zu seinem Füßen floss träge das Wasser. Erschrocken zuckte er zusammen, als etwas seinen Hinterkopf traf und in den Kragen des Mantels rutschte. Seine Augen suchten panisch das Ufer ab, aber weit und breit war nichts zu sehen, außer der grauen Nebelwand. Von Fersen fasste in seinen Nacken und zog zu seinem Erstaunen eine goldene Kette aus filigraner Arbeit hervor. Man sah ihr an, dass sie von großem Wert war. Die Kette lag noch warm von unbekannter Hand, auf seiner Handfläche. Verwundert zuckte der Graf seine Schultern. So schlechte schien es den Parisern nicht zu gehen, wenn sie schon Goldschmuck in den Fluss warfen.
 

***

Allein

Nach links, nach rechts und wieder zurück.

Bernards Blick folgte wiederholt seiner Frau, die aufgeregt durch das Zimmer lief. Er hegte bereits die Befürchtung, dass sie im Laufe des Tages eine Kuhle in die Bodendielen laufen würde, wenn sie nicht bald ihre Laufrichtung wechselte.

Seit dem Sonnenaufgang war sie nun schon in Bewegung und hatte dabei einen mehr als ängstlichen Gesichtsausdruck aufgelegt. Er selbst war kurz bevor der Morgen graute von seinem Gespräch mit Saint Just zurückgekehrt. Er hatte Rosalie lediglich erzählt, dass sich Saint Just für ihn umhören wollte. Rosalie wusste sofort, dass Saint Just die Aufgabe nicht einfach aus Freundschaft gegenüber Bernard übernahm. Sie misstraute Saint Just, aber Bernard hatte alles abgestritten was über eine einfach Gefälligkeit, ohne Gegenleistung hinausging. Vorerst hatte Rosalie damit aufgehört ihren Mann weiter zu befragen, aber Bernard wusste, dass sie normalerweise sofort riechen konnte, wenn er log. Was war das? Strahlten die Männer ihre Lügen förmlich aus, dass es jeder sah oder war es einfach nur weibliche Intuition? Er konnte sich nur vorstellen, dass es Rosalie im Augenblick wichtiger erschien zu wissen, wo sich Oscar befand, deshalb gewährte sie wohl ihrem Mann noch eine Gnadenfrist, bis er mit der volle Wahrheit herausrücken musste.

Endlich öffnete sich die Haustür knirschend. Eine sehr blasse Oscar stand im Türrahmen und starrte ihre beiden Gegenüber überrascht an. Dunkle Augenringe lagen unter ihren Augen, ihr Blick wirkte müde und erschöpft.

"Ihr seid schon aufgestanden?" fragte sie leise und legte langsam ihren feuchten Umhang von der Morgenfrische und dem Regen der vergangenen Nacht ab. Rosalie war stehen geblieben und Bernard war im Innern dafür dankbar, dass er wohl nicht in naher Zukunft die Bodenbretter austauschen musste.

"Lady Oscar!" rief Rosalie erleichtert und stürzte zu Oscar, um sich ihr an die Brust zu werfen. Rosalie verwandelte sich plötzlich von einer Furie wieder in die liebenswerte Ehefrau Bernards. Sie stotterte erleichtert. "Ich dachte, Euch wäre etwas schlimmes zugestoßen! Geht es Euch gut? Wie fühlt Ihr Euch?" Keine Vorwürfe, keine Ermahnung folgte.

"Natürlich Rosalie," meinte Oscar, wie selbstverständlich. Oscar war dazu erzogen worden, stark zu sein. Bezüglich ihrer Verletzbarkeit litt sie durch ihren Stand und ihre Ausbildung an Selbstüberschätzung. Das Frauen nicht in der Dunkelheit alleine durch die übelsten Gassen Paris laufen sollte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn. "Ich wollte etwas allein sein," damit beendete sie auch schon wieder ihre Rechtfertigung gegenüber ihren Freunden.

"Oscar, sagt, was ist mit André? Habt Ihr ihn gefunden?" mischte sich nun Bernard ein und sah von seinem Platz am Esstisch auf. Oscar blickte ihm nicht in die Augen, stattdessen hing sie ihren Mantel an die dafür vorgesehenen Haken an der Wand auf und streifte ihre schmutzigen Stiefel ab. Ihr war anzusehen, dass sie Fragen meiden wollte.

Rosalie sah zu ihrem Mann und deutete ihm an, dass Oscar wohl nicht darauf antworten würde und er es vorerst darauf beruhen lassen sollte. Sie kannte Oscar zu gut und wusste, dass sie oftmals über geschehene Dinge nicht sprechen wollte. Vielleicht später oder nie. Rosalie trat einen Schritt auf sie zu.

"Lady Oscar, wollt Ihr vielleicht etwas essen?" sie konnte nicht leugnen, dass sie sich große Sorgen machte, eben weil ihr Oscar von Tag zu Tag blasser erschien.

Plötzlich flog die Tür krachend auf. Erschrocken blickten alle auf Alan, der sich keuchend am Rahmen festhielt "Ist Oscar da?"

"Alan?" fragend wandte sich Oscar zu ihm um. Alan kam langsam wieder zu Atem "Ich suche dich schon, weil du nicht zu uns zurückgekehrt bist und unser blonde Freund sich auf den Weg machte. Es wäre fatal gewesen, wenn er dich überrascht hätte."

Oscar betrachtete ihn genauer. Seine Haare waren zersaust und standen in alle Richtungen ab. Sein Hemd hing zum Teil aus der Hose, ganz zu schweigen davon, dass er wahrscheinlich nicht mehr genug Zeit hatte, um seine Hose überhaupt genau zu richten.

"Ich dachte Ihr wart noch beschäftigt, deshalb habe ich einen anderen Weg gewählt. Ihr hattet doch ausgezeichnete Gesellschaft. Mich wundert es, dass du schon zurück bist." entgegnete Oscar so unschuldig wie möglich. Alan blickte schnell über seine Schulter."Nun Oberst, die Sonne ist schon aufgegangen. Dir scheint nicht klar zu sein, wie es um die Kondition von Männer bestellt ist."

"Du scheinst dich doch sehr gut amüsiert zu haben?"

"Tatsächlich, da muss ich dir recht geben. Die Unterhaltung war ganz ausgezeichnet. Aber jetzt bin ich doch ausgelaugt ... ja sagen wir leer," Alan schien sein Grinsen überhaupt nicht mehr loszuwerden.

"Ausgelaugt, verstehe. Eine gute Unterhaltung kann zu weilen anstrengend sein." Oscar nickte nur. Bernard und Rosalie hatten etwas verwirrt das Gespräch mit verfolgt, bis ihnen klar geworden war, wo Alan wohl in dieser Nacht eingekehrt war.

"Rosalie, verzeih, ich möchte mich hinlegen," sagte Oscar und ging durch die folgende Tür in den Nebenraum.

Bernard und Rosalie sahen ihr lediglich nach. Alan drehte sich ihnen zu.

"Sie gehört nicht zu den Gesprächigen?"
 

Oscar trat an das Fenster und starrte auf die Dächer der weiteren Häuser.

Noch immer hatte sich ihre Wut nicht gemindert. Sie bemerkte, wie sich ihre beiden Hände zu Fäusten ballten und ihre Zähne knirschten. Oscare hob die rechte Hand und schlug mit der Faust gegen die Wand. Immer gingen ihr nur die Fragen nach dem Warum durch den Kopf. Nicht nur, dass sie den Rückhalt ihrer Familie verlor, auch André verletzte sie ein weiteres Mal. Diesmal tiefer als sie es sich eingestehen wollte. Warum hatte er die Kette zurückgelassen? Sollte es das wirkliche Ende bedeuten? André hatte sich tatsächlich verändert. In seinen Augen schienen sie zusammen keine Zukunft zu haben. Auf der anderen Seite wollte es ihr Verstand nicht zulassen zu glauben, dass er sie wirklich aus seinem Leben ausschloss. Natürlich legte sie sich nicht nieder, um zu ruhen. Schweigend stand sie am Fenster und sah hinaus, mit den Gedanken weit fort.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sich die Tür leise in ihrem Rücken öffnete und Rosalie ihren Kopf hineinsteckte.

"Ihr seid wach?" Sie trat zaghaft ein. Besorgt betrachtete sie Oscar. Ihr Gesicht war wirklich von einer ungesunden Blässe überzogen und ihre Wangenknochen zeichneten sich hohl ab. Die Augen sprachen eine noch deutlichere Sprache. Die Lider lagen schwer über den Augen, das Blau der Iris funkelte fiebrig. Der Blick war von Melancholie überschattet. Wenn die Seele krank war, wie sollte der Körper die Kraft finden, gesund zu bleiben.

"Ich kann Euch ansehen, dass es Euch nicht gut geht. Wollte Ihr nicht einen Arzt aufsuchen? Vielleicht könntet ihr zu Doktor Rasson gehen!" Oscar wandte sich wieder dem Fenster zu.

"Mir geht es ganz ausgezeichnet."

"Aber ich sehe doch, dass es Euch schlecht geht. Lady Oscar, Ihr..."

"Lass es gut sein, Rosalie!" Rosalie knetete unbehaglich ihre Hände, während sie mit dem Rücken ihrer Freundin sprach. "Aber ..."

"Rosalie!"

"Gut aber legt Euch wenigstens hin und nehmt eine warme Brühe zu Euch."

"Mir geht es gut, Rosalie, ... bitte, lass mich alleine!" Die Verletzlichkeit in Oscars Stimme, machte ihre Bitte entgültiger, als ein befehlender Unterton.

"Wie Ihr wollte, Lady Oscar." Rosalie wandte sich wieder der Tür zu, um das Zimmer zu verlassen.

"Und Rosalie..."

"Ja?"

"Sage nur Oscar zu mir! Ich führe keine Titel mehr." Rosalie nickte nur und schloss die Tür.
 

Trotz ihrer inneren Unruhe, legte sich Oscar doch nieder. Sie spürte wieder das Kratzen im Hals, Anzeichen für einen kommenden Hustenanfall. Den Arm über den Mund gelegt, versuchte sich das Geräusch mit dem Stoff ihres Ärmels zu dämpfen. Der Hustanfall hatte nachgelassen. Sie betrachtete den weißen Stoff ihres Ärmels und erkannte kleine Blutspuren. Gleichgültig starrte sie auf die Flecken. Die Blutflecken würden ihren Freunden mehr Sorgen bereiten, als ihr. Deshalb versteckte sie das Hemd und kletterte ins Bett, um endlich zu schlafen.

Der Tag verging und schon längst war das Licht der Dunkelheit gewichen. Vorsichtig näherte sich Rosalie der Tür zu Oscars Zimmer. In der Hand hielt sie einen Teller mit Suppe. Sie klopfte leise an. Als sie keine Antwort bekam, trat sie einfach ein. Der Raum lag im Dunklen, abgesehen von dem Licht, dass hinter Rosalie hinein fiel. Sie trat an das Bett heran. Oscar bewegte sich unruhig im Schlafe. Sie zitterte, obwohl ihre Haut eine ungesunde Wärme ausstrahlte. Haarsträhnen hingen verklebt in ihrer Stirn. Die Krankheit hatte sie wieder fest in ihrem Griff.

Rosalie stellte den Teller ab, raffte ihre Röcke und lief ihren Mann holen. Aufgeregt schrie sie seinen Namen. Ohne sich länger aufzuhalten stürmte Bernard los, um den alten Hausarzt der Jaryajes zu suchen, während Rosalie bangend am Bett von Oscar wachte. Bernard wusste, von Oscars ersten Anfall, wo Dr. Rasson zu finden war. Bevor sich der verblüffte Arzt richtig besinnen konnte, wurde er durch die nächtlichen Straßen geschliffen, zu dem Bett seiner Patientin. Oscars war inzwischen dem Delirium verfallen. Unverständlich gemurmelte Worte wurden von rasselnden Hustenanfällen unterbrochen.

Vorsichtig schloss Dr. Rasson die Tür hinter sich.

"Dr. Rasson?" Rosalie trat vorsichtig näher. Der Arzt nickte ernst.

"Wie ich es befürchtet hatte, ein neuer Anfall. Sie hat sich nicht geschont?" Rosalie schüttelte beklommen den Kopf.

"Sie hat sich Nässe und Kälte ausgesetzt?" Sie nickte. Der Arzt seufzte resigniert. "Wir können nur hoffen, dass die Krankheit nicht noch andere Organe im Körper befällt. Ich werde täglich vorbeikommen, um ihren Körper nach kommende Anzeichen zu untersuchen. Sollten allerdings weitere Organe befallen sein, sehe ich kaum eine Möglichkeit, um sie zu retten." Rosalie liefen die Tränen über die Wangen. Er legte Rosalie beruhigend die Hand auf ihren Arm. "Sie kann sich wieder erholen. Ob sich die Krankheit weiter ausbreitet, hängt von ihren Abwehranlagen ab. Sind die körpereigenen Abwehrkräfte intakt, bricht die Krankheit nicht aus. Und Oscar war nie von einer Krankheit befallen, sie hat ein sehr gutes Immunsystem. Bis jetzt musste ich sie nur aufgrund Kampfverletzungen aufsuchen." Dr. Rasson lächelte schwach. "Ihr wisst, was zu tun ist Rosalie? Sorgt dafür, dass sie diesen Anfall übersteht und zwingt sie zur Ruhe! Gesunde, ausgewogene Ernährung, gute Luft und viel Ruhe!"

"Ich weiß, Dr. Rasson. Ich danke Euch. Ich habe leider nicht genügend Geld im Haus, um Eure Dienste zu entlohnen."

"Keine Sorge Rosalie, dass eilt nicht." Der Arzt verabschiedete sich, um zu seinem Heim zurückzukehren und seinen verdienten Schlaf für diese Nacht zu finden.
 

Die nächsten zwei Tage erwachte Oscar nicht. Ihr Schlaf begann ruhiger zu werden, obwohl ihr Atem noch immer rasselnd ging und keine Farbe auf ihre bleichen Wangen zurückkehrte. Besorgt saß Alan an ihrem Bett. Er hatte in den vergangen Tagen versucht, André wieder ausfindig zu machen, ohne nennenswerten Erfolg. Er seufzte. Wie konnte er nur so tief in das Schicksal der beiden Menschen hineingeraten? Dabei verachtete er den Adel. War nicht einer dieser verabscheuungswürdigen Blaublütler an dem Selbstmord seiner Schwester schuld? Und trotzdem saß er an dem Bett einer Adligen und versuchte im Halbdunkel des Zimmers ihr den Lebenswillen zurück zu geben. Versuchsweise probierte er es mit unanständigen Geschichten und schmutzigen Witzen, die er ihr erzählte. Er war gerade bei einer besonders schlechten Pointe, über die nur er Lachen konnte. Unter der Decke begann sich Oscar leicht zu rühren und Alan hörte ein schmerzhaftes Stöhnen.

"Alan?"

"Ja?" Ihre Stimme klang schwach, wie ein zartes Flüstern. "Willst du mich so lange unterhalten, bis es mir besser geht?"

"Ja."

"Alan."

"Was?" Er beugte sich näher. "Es geht mir schon besser."

"Wegen der Pointen oder einfach, weil du meine Stimme hörst," meinte Alan grinsend über die versteckte Beleidigung. "Willkommen im Leben, Oscar."

"Alan?" fragte Oscar schwach. "Kennst du einen Pfandhändler, der nicht zu übervorteilend handelt?" Alan nickte.

Zittrig richtete sie sich auf und nahm ihr Schwert zur Hand, welches bisher neben dem Bett lag. Sie ließ sich erschöpft wieder in die Kissen fallen.

"Es ist aus reinem Silber." Sie schob ihm das Schwert hin. "Allein die Verzierungen machen es wertvoll. Verkaufe es bitte und gebe Bernard und Rosalie das Geld!" Alan nickte. Er ahnte, wie demütigend es für sie sein musste, vollkommen von anderen abhängig zu sein.

Danach erholte sich Oscar rasch. Jeden Tag schien sie ein wenige mehr sie selbst zu werden, nur das Licht in ihren Augen wollte nicht so recht wiederkehren. Offenbar heilte ihre Seele nicht so schnell.

Während Oscar weiterhin still und in sich gekehrt war, überschüttete Rosalies sie mit fürsorglicher Liebe und ihren Kochkünsten, bis die Hustenanfälle und die Blässe in ihrem Gesicht verschwanden. Schon bald war Oscar die Ermahnungen, dass sie sich schonen müsste, mehr als verhasst. Wie ein Wachhund schoss Rosalie um die Ecke, wann immer sie sich aus ihrem Bett erhob und knurrte besitzergreifend.

Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, dass das sie eines Tages Oscars Bett leer vorfand. Das Tageslicht beschien das sauber zurechtgemachte Bett. Mantel und Schultertuch waren verschwunden. Rosalie ließ alles stehen und liegen, um panikerfüllt durch die Straße zu eilen, mit sich selbst im wilden Streitgespräch über ihre Unachtsamkeit.

Schließlich fand sie Oscar auf einer Bank an der Seine sitzen, nachdenklich auf das Wasser starrend. Rosalie schluckte ihre Vorwürfe hinunter und setzte sich schweigend neben ihre Freundin. Eine geraume Weile störte nur das Zwitschern der Vögel ihre einträchtige Stille, dann brach Rosalie das Schweigen.

"Wollt Ihr mir nicht erzählen, was Euch bedrückt Oscar? Ich will Euch doch nur helfen." Oscar schwieg weiterhin. "Wisst Ihr noch, wie ich damals zu Euch kam? Ich hatte meine Mutter verloren. Ich habe mich niemals mehr so hilflos gefühlt, wie in dem Moment, als meine Mutter mich alleine zurückließ, mit dem Wissen, dass ich nicht die war, die ich zu sein glaubte. Zu allem Überfluss stellte sich noch heraus, dass die Frau, die ich am meisten gehasst und verachtet habe, mich auf die Welt gebracht hat. Bitte, ich kann gut nachvollziehen, wie Ihr Euch fühlt. Ich bin nicht mehr das junge Mädchen, was Ihr damals aufgenommen habt. Ihr habt mir damals geholfen, nun lasst mich Euch helfen ... Bitte!" Oscar seufzte gequält und sah nachdenklich Rosalie an. Zu Rosalies Überraschung fing Oscar wirklich an zu reden. Erst stockend, dann immer schneller und gefühlsbetonter. Als sie geendet hatte, legte sich wieder Stille über sie.

"Mein Leben früher erscheint mir jetzt so einfach gewesen zu sein," unterbrach Oscar das Schweigen. "Ich war in dem Bewusstsein erzogen worden, eines Tages die Nachfolge meines Vaters anzutreten. Darauf war mein Leben ausgerichtet. Meine größte Sorge galt der Königin. ... mein Leben war wie ein Fluss, der sanft dahinschwimmt. Jetzt kommt es mir vor, als versuche ich gegen einen stürmischen Ozean zu schwimmen. Alles ist so einfach ohne Schmerz, Sehnsucht und Leid. Schon die Sehnsucht und der Schmerz, den ich bei der unerwiderten Liebe zu Graf von Fersen empfand, war mir zuwider. Wegen meines Liebeskummers habe ich die königliche Leibgarde verlassen, doch das war nichts ... nichts, gegen den Schmerz und die Verzweiflung, die ich jetzt empfinde." Wieder seufzte Oscar. "Wider meiner Erwartungen hat es gut getan, sich jemanden anzuvertrauen. Ich danke dir, Rosalie!" Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Zügen.

"Ihr werdet einen Ausweg finden, Oscar!" sagte Rosalie, um ihr Trost zu spenden. Oscar schüttelte den Kopf.

"Als ich dachte, dass André gestorben ist, starb ein Teil meiner Seele mit ihm. Der verkümmerte Rest muss einen Schicksalsschlag nach dem anderen hinnehmen. Erwarte keine Heldentaten von mir, Rosalie!"

"Andere Menschen haben auch Verluste zu beklagen und leiden." wagte es Rosalie zu widersprechen.

"Ich habe nie behauptet, dass ich anders wäre als alle anderen Menschen. Ich zerbreche genauso, wie jeder andere auch, an Verlust und Leid." Wie ein Versprechen, zog sich eine graue Wolkendecke über das Himmelszelt. Der Wind frischte auf und fegte ein paar vertrockneter Blätter auf die Seine, die müde dahintrieben.
 

***

Misstrauen

Hallo liebe Leser,

nochmal ein Danke an euch, dass ihr uns so viele nette Kommentare zusendet, dass uns bis jetzt und weiterhin im Schreiben bestärken.

Ich melde mich hier an dieser Stelle zu Wort, um euch mitzuteilen, dass von nun an alle folgenden Kapitel ausschließlich von Fasti geschrieben werden, weil es mir aus zeitlichen Gründen einfach nicht mehr möglich ist. Wenn ihr also ein Lob oder sonstiges loswerden wollt, dann gebührt das allein Fastcaranbethrem.

Liebe Anne, ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du diese Story fortsetzt und mir auch sonst immer geholfen hast. Inzwischen ist es deine Story geworden und das musste ich einfach loswerden, denn wie gesagt, das Lob gebührt dir allein :o) Ich danke dir :o)

Krisi
 


 

MISSTRAUEN
 

Die drei Männer versuchten in den staubigen Dielenbrettern zu verschwinden. Ihr Köpfe verkrochen sich zwischen die reumütig gebeugten Schultern. Die schweißnassen Hände zerknautschten nervös ihre Hüte mit der blau-rot-weißen Trikolore. Sie waren Angeklagte; aber kein gestrenger Richter vom obersten Gerichtshofe richtete über sie, kein Gott sandte seinen allmächtigen Zorn nieder. Nein, viel Schlimmer, Maximilian de Robespierre hatte in seiner Wut sein Augenmerk auf sie gerichtet und nun würden sie bezahlen. Dabei waren sie nur die Überbringer der schlechten Nachricht. Jetzt würde auf ihren Rücken sein Zorn zerschellen. Das Feuer, welches Robespierres Innere zu verzehren drohte, loderte aus seinen Augen, als er seinen Blick auf sie richtete

"Das kann nicht wahr sein. SAGT MIR, DASS ICH MICH IRRE!" Seine Faust donnerte erneut auf die Tischplatte, während er sich, mit beiden Armen aufstützend, über den Tisch beugte. Die drei Revolutionäre wichen angstvoll zurück. Die Überlegenheit, das Feuer, mit denen sie das Volk gegen den Adel antrieben, war erloschen angesichts ihres aufgebrachten Anführers.

"Wo ist Valjean? Wohin hat er sich verkrochen? Was ist? ANTWORTET MIR, IHR NARREN!"

"Das weiß niemand." Einer der zittrigen Männer war vorgetreten und wagte das Wort zu erheben. "Valjean hielt es für besser unterzutauchen." Valjean war seit geraumer Zeit verschwunden. Er gehörte zu den engeren Freunden von Robespierre. Einer der Männer, auf die er sich rückhaltlos verließ. Seine Verschwinden kam einer mittleren Katastrophe gleich.

"Besser für was?"

"...besser für seine Gesundheit. Er hat nun ja ... er hat." Der Sprecher geriet ins Stottern.

"REDE!" donnerte Robespierre.

"Er hat Schulden, bei einem Geldverleiher und kann sie nicht zurückzahlen. Die gesetzte Frist ist abgelaufen."

"SCHULDEN? GELDVERLEIHER?" spie er die Worte aus, wie Gift.

"Sie haben gedroht, ihn umzubringen." Robespierre kam um den Tisch herum. Seine Anhänger wichen weiter zurück.

"Sie wollen ihn in der Seine versenken." Robespierre kam näher.

"Und seine Frau." Sein Blick bohrte sich in sie, übermenschlich und vernichtend.

"Und seine Kinder." Hinter ihnen war nur noch die Tür. Es gab kein Entkommen.

"Was hat Valjean veranlasst einen Geldverleiher aufzusuchen?" Seine Stimme zerschnitt die Stille wie ein eigens für den Disput geschärftes Messer.

"Wir sind Sprecher vor dem Volk, wir müssen einen gewissen Stil wahren, Robespierre. Wir können nicht in abgetragener Kleidung vor das Volk treten."

"Wir sind Sprecher für das Volk, Thénardier, FÜR DAS VOLK, nicht VOR DEM Volk. Seit wann ist Euch Eure Kleidung nicht mehr genehm? Seid Ihr der Ansicht, Ihr könntet Euch zu den Herrschern Frankreichs aufschwingen? Nur neue Kleidung kann nicht der Grund sein, weswegen sich Valjean verschuldet? Unterschätzt mich nicht Monsieurs! Die Wahrheit!" Gleich würde sein Blick sie versenken. Nichts als ein Haufen verkohlte Knochen würde von diesen einst großen Männern und Idealisten übrig bleiben. Und Robespierre hatte recht. Sie wussten nicht mehr aus welcher Richtung das leise Stimmchen geweht kam, welches ihnen ein neues Frankreich, mit ihnen an der Macht versprach. War es Luzifer, der zu ihnen flüsterte, sie verlockte? Sie waren der Meinung gewesen, die Welt hätte sich gewandelt; jetzt kämen sie, die einstmals kleinen Männer an die Reihe, um in Wohlstand zu leben.

"Lucilla Javert." Ihre Stimmen waren nicht mehr als ein heiseres Flüstern, wie der Hauch des Windes.

"Was?"

"Lucilla Javert," wiederholte Thénardier. "Sie ist Schauspielerin im Varieté Montreuil. Sie ist bewundert und geschätzt in ganz Paris. Ihre Schönheit ist legendär und nun .... Valjean hat sie sich zur Kurtisane genommen. Aber die Javert verlangt Geschmeide, Kutschen, teure Kleider." Robespierre war sprachlos. Maximilian de Robespierre, der bald zu dem mächtigsten Mann Frankreichs in der Zeit der Schreckensherrschaft aufsteigen sollte, wohnte zur Untermiete bei dem Tischler Duplay. Er hatte dort ein kleines Zimmer, das mit Porträts und kleinen Büsten von ihm geschmückt war. Die Einrichtung war bescheiden - ganz im Gegensatz zu den herrschaftlichen Residenzen anderer Revolutionäre. Hier schrieb er seine Reden, machte seine gefürchteten Notizen und empfing Freunde wie Feinde. Vieles konnte ihm vorgeworfen werden, er würde nicht schuldlos vor dem jüngsten Gericht stehen, aber einen aufwendigen Lebensstil hatte er nie vertreten. Aztekisch lebte er dem Bürgertum den idealen Vertreter des Volkes vor. Schweigend starrte er seine Anhänger an. Die erdrückende Stille wirkte noch bedrohlicher, als die lautstarken Beschimpfungen.

Der Tisch schmetterte durch den Raum. Eine bronzene Büste folgt ihm und landete vor den Füßen seiner Männer

"DIESER HURENBOCK, DIESE MÄNNLICHE KURKOTTE. WIE KANN ER ES WAGEN? WIR STREBEN NACH EINEN BESSEREN FRANKREICH OHNE HERRSCHAFTSVERHÄLTNISSE UND ER GEBÄRDET SICH WIE EIN LEBEMANN. SICH EINE DIRNE ZU HALTEN. WAS DENKT ER SICH? ER UNTERGRÄBT UNSERE GLAUBWÜRDIGKEIT, er untergräbt meine Glaubwürdigkeit." Robespierres Gesicht war blutrot angelaufen, während er sich mit Flüchen gebärdete, die an Gotteslästerung grenzten. Was unter seine Hände geriet, zerstörte er.

"RAUS, RAUS, RAUS IHR NARREN UND WER AUCH NUR DIE ANMAßUNG BESITZT, SICH NEUE MANSCHETTEN ZU LEISTEN, WIRD VON MIR DEM PÖBEL ZUM FRAß VORGEWORFEN! RAAUSSS!"
 

Es dauerte noch eine geraume Weile, bis sich Robespierre beruhigt hatte. Schwer atmend stellte er Tisch und Stuhl an seinen Platz zurück und setzte sich, den Kopf schwer und kraftlos in seinen Händen vergraben. Große, aber weiche Hände. Die Hände eines Mannes der Bücher liest, nicht die eines Handwerkers. Was war nur in sie gefahren? Das waren nicht die ersten Gerüchte, welche Robespierre über seine Anhänger und Mitstreiter zu Ohren kamen. Anstatt ihr Geschick auf ein besseres Frankreich zu lenken, gaben sie Geld, dass sie nicht einmal besaßen mit beiden Händen aus. Ein Volk, dass hungerte, würde dafür kein Verständnis aufbringen. Valjeans Verrat traf ihn hart. Wie konnte er sich nur von einer Frau den Kopf verdrehen lassen. Für seine eigene Verlobte Elenora hegte Robespierre kaum Zuneigung. Blindes Handeln, von nichts anderen getrieben als der Liebe und der Leidenschaft waren ihm unbekannt und unverständlich. Hinter Robespierre traten zwei Männer aus dem Schatten, in den sie während seines Wutanfalls geflüchtet waren.

"Warum nur, Eric? Warum handeln sie gegen mich?" Murmelte Robespierre müde, ohne das er das Gesicht zu seinem Ansprechpartner hob.

"Sie werden gegen dich aufgewiegelt. Jemand setzte ihnen diese Flausen, von Ehre und Ansehen in den Kopf. Jemand der zu deinen Vertrauten zählt, aber unerkannt im Hintergrund bleibt," antwortete der Angesprochenen.

"Ich weiß, ich weiß und wenn ich ihn gefunden habe, werde ich ihm sein räudiges Herz herausreißen."

"Ich habe noch eine ungute Nachricht für dich, Maximilian." Eric trat näher zu Robespierre und beugte sich zu ihm runter.

"Sprich!"

"Von Fersen hat Frankreich verlassen, kurz nachdem deine Männer bei ihm waren, um die belastenden Dokumente zu finden. Einer der Diener berichtete, dass die Abreise nicht geplant war. Er ist gewarnt worden." Robespierre sah ihn an. Seine Augen waren rotgetränkt und unheilverkündend. Der Ausbruch hatte die kleinen roten Aderchen im Auge platzen lassen. Er nickte. "Hole mir Jean-Luc und Grand! Sie sollen nicht nach Notre Dame kommen, sondern zu mir nach Hause in die Rue Honoré Nr. 396." Robespierre war wieder ruhig und überlegen. "Wir werden sehen, wer noch loyal zu mir steht," sagte er eiskalt.
 

Eric und sein Begleiter verließen ihren Anführer. Draußen auf der Straße atmeten sie die kühle Oktoberluft ein. Über ihnen wehte die Wäsche, welche sich von Fenster zu Fenster über die Gasse spannte, rot im Licht der Abenddämmerung. Robespierre begann sein Vertrauen den falschen Männern zu schenken. Die Loyalität der beiden Männer, welche ihn gerade verlassen hatten, galt nicht ihm, sondern seinem grausamen Mitstreiter Saint Just.

Eric grinste seinen Begleiter an. "Der große Robespierre, Führer der Revolution, umstrittener Herrscher über die Jakobiner merkt, dass sein Thron zu wackeln beginnt. Seine Anhänger beginnen zu revoltieren, vor dem großen Revolutionär, ohne das sie es selbst bemerken."

Der junge Mann neben ihm lachte. "Was meinst du?"

"Was glaubst du wohl, wer Valjean das rothaarige Weibsbild Lucilla vorstellte. Und was glaubst du, wer Lucilla veranlasst hat, sich leidenschaftlich einen Mann wie Valjean hinzugeben?" fragte Eric, während er ihm beschwörend zuzwinkerte.

"Saint Just?" Eric nickte zufrieden. "Robespierres Männer werden sich nach und nach der Verlockung des Goldes und der Macht hingeben. Das Volk wird ihre Glaubwürdigkeit und ihre ehrenvollen Absichten anzweifeln. Und wenn sie fallen, dann fällt Robespierre mit. Auf wen wird das Bürgertum dann sein Augenmerk richten? Saint Just! Mich würde nur interessieren, womit er Lucille geködert hat, dass sie seine engelsgleichen Züge gegen Valjeans Hakennase eintauscht." Das Lachen der beiden Männer hallte dreckig die Straße hinunter, während sie ihren Weg fortsetzten.
 

***

Anschlag

Der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Sein Antlitz verbarg sich hinter einer dicken Wolkenwand und raubte der Nacht das Licht. Die Hufen der Pferde hallten dumpf über das Pflaster des Pont Neuf, als die Reiter Paris verließen. Dunkle, in gespenstigen Schatten getauchte Straßen folgten. André verstärkte den Druck seiner Schenkel, als er sein Pferd schneller antrieb. Der Wind peitschte ihm kalt ins Gesicht. Die Kälte kroch durch die Kleidung in die Glieder. Der November nahte. Eile war geboten, bei der Erfüllung des nächsten Auftrages. Jean-Luc trieb sie an. Der schwarze Umriss seines Körpers preschte vorne weg. Vor ihnen lag noch ein langer Weg, dessen Ziel André nicht kannte. Wieder einmal, hatte man ihn nicht in das vertraute Gespräch miteinbezogen, obwohl er Jean-Luc zur Seite stehen sollte, um ihre Aufgabe erfolgreich zu beenden. Er sah vorsichtig zu ihren dritten Begleiter. Undurchsichtig und in einem weiten Umhang gehüllt, ritt er schweigend mit ihnen. André kannte den Mann zu seiner Linken nicht. Warum hatte ihn Robespierre als Begleiter mitgeschickt? Bisher waren seine Aufträge nur mit Jean-Luc an seiner Seite durchgeführt worden. Die schmalen Augen, gefährlich funkelnd, musterten André verschlagen zurück. Aus diesen Augen sprach nichts Gutes. Die untere Hälfte seines vernarbten Gesichts blieb unter dem hochgeschlagenen Mantelkragen verborgen. Solche Männer lebten in der Nacht und mieden das Tageslicht. Unbehaglich hieb André seinem Reittier die Fersen in die Flanke, um zu Jean-Luc aufzuschließen. Sie ritten in Richtung Versailles. Vage konnte André die Umrisse der Bäumen am Wegrand erkennen. Es verwunderte ihn sehr, warum sie diesmal Paris verließen. Alle bisherigen Aufträge hatten sich einzig und allein in der Innenstadt abgespielt. Jean-Luc begrüßte seinen schweigsamen Begleiter mit einem anmaßenden Lächeln. Sein halblanges Haar weht im Wind.

"Es ist nicht mehr weit. Bald werden wir unser Ziel erreicht haben." André sah in ratlos an, aber er verbot sich nach dem Wohin zu fragen. Er würde es noch früh genug erfahren. Das ungute Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. Sein Herz begann schneller zu schlagen, während die nächtlich schwarze Landschaft an ihnen vorüberflog. Dann überschlugen sich seine Sinne. Die Hände krallten sich schmerzhaft um die Zügel. An dieser Kreuzung hätten sie links abbiegen müssen, um nach Versailles zu gelangen. Dieser Weg führte nur in eine Richtung! Mit dem vertrauten Geruch nach Heim und Vergangenheit zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Andrés Kopf arbeitete fieberhaft, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Welches Unheil würde mit ihnen auf das Chateau de Jarjayes zukommen?
 

Im Schatten der Bäume blieben sie stehen. Die Pferde wieherten leise. Unweit erhob sich dunkel das Haupthaus mit den beiden Seitenflügeln. Behände sprang Jean-Luc aus dem Sattel, zögernd folgte ihm André. Ihr dritter Gefolgsmann war schon geräuschlos zu Boden geglitten. Gemächlich streifte sich Jean-Luc Lederhandschuhe über, während er sich im Schatten der Bäume voranschlich. Als er sich zu seinem Begleitern umdrehte, bemerkte er, dass André ihn anstarrte. Ein undurchsichtiges Lächeln erschien auf den jugendlichen Zügen.

"Warum dieses Zögern, Grand? Möchtest du vorangehen?" Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf Andrés Gesicht breit. "Unser Victor," Jean-Luc wies mit seinem Kopf auf ihren Begleiter. "Kommt aus einer Bauernfamilie. Er wird sich nicht so recht auskennen, in den Schlössern und Villen dieser Parasiten. Wie steht es mit dir?" André schwieg. Sollte Jean-Luc die ganze Wahrheit über ihn kennen? Bislang war er sich sicher gewesen, dass Robespierre nichts über seine Identität preisgegeben hatte. Das war die Abmachung gewesen. Er würde für Robespierre arbeiten, wenn dieser Oscar nichts antat. Noch im gleichen Atemzug hatte Robespierre versichert, dass niemand von seinem vorherigen Leben erfahren sollte. Doch nun, machte Jean-Luc ihm gegenüber Andeutungen. Vielleicht wusste Robespierre auch schon unlängst von dem Treffen mit Oscar.

Jean-Luc konnte sehen, wie der Verstand von André fieberhaft arbeitete. Zufrieden wendete er den Blick ab und schlich weiter. Der Eingang befand sich nun unmittelbar vor ihnen. Das Schloss lag ruhig und ohne Anzeichen von Leben da. In der Dunkelheit nahm André nur Bruchstücke der Zerstörung war. Wiederholt blieb Jean-Luc stehen und lauschte vorsichtig. Der Wind spielte mit den Fensterläden und heulte unruhig durch die Nacht. André schreckte auf, als er neben sich das Klicken einer entsicherten Pistole vernahm. Mit kaltblütiger Ruhe schob Victor Jean-Luc zur Seite und wollte ungestüm an ihm vorbei, schnellen Schrittes die Treppen hoch stürmen. "Keine übereilte Eile, mein Freund." Jean-Luc hielt ihn am Mantel fest.

"Ich weiß, dass du den Adel über alles hasst, aber du wirst noch früh genug zu deiner Vergeltung kommen!" Ein unwilliger Blick, voll Grausamkeit und Kälte streifte Jean-Luc, aber der Mann im dunklen Mantel folgte und schlich wieder vorsichtig und leise weiter.

"Komm schon, Grand! Das wird lustig heute Abend," forderte Jean-Luc ihn auf, voran zu gehen. Während André mit steigendem unwollen eintrat, ließ ihn sein Begleiter nicht aus den Augen. Er merkte, wie ihn Jean-Luc's Augen folgten und sein Gesicht begierig nach Regungen absuchte. Augenblicklich wurde André klar, dass er auf die Probe gestellt wurde. Jean-Luc sollte ihn aus einem bestimmten Grund zum der Haus der Familie de Jarjayes bringen.

"Beeil dich, Grand! Unsere Opfer warten nicht auf uns!" meinte Jean-Luc lapidar und ging an ihm vorüber. Er wandte sich wieder zu ihm um. "Was hast du geglaubt? Dass wir ewig nur kleine Beweise sammeln, um die Adligen zu beschuldigen und diesen Nutznießern die Möglichkeit geben, wieder die Vormacht zu ergreifen? Nein! Es ist doch viel effektiver, die Hälfte von ihnen zu töten!" Erneut schlich sich ein gehässiges Grinsen über das Gesicht von Jean-Luc "Heute Abend werden wir beginnen. Wir haben von Robespierre den Auftrag erhalten!" Einen Moment zögerte André, doch dann folgte er ihm widerwillig. Im Augenblick war es sicherer, ihn vorerst zu begleiten. Sie waren in der riesigen Eingangshalle. Vor ihnen erstreckte sich die breite Marmortreppe schwungvoll in die obere Etage. Kaltes Mondlicht schien durch die hohen Fenster.

Sie gingen über die Treppe in den nächsten Stock und liefen durch die dunklen Flure. Nirgends regte sich etwas, nirgends schien es Leben zu geben. André blieb stehen.

Da war sie. Eine Tür, nur lose angelehnt. Dahinter ein Raum voller Erinnerungen. André verschwand in Raum und Zeit. Es war, als würde wieder leises Klavierspiel durch die Tür auf den dunklen Flur klingen. Es war, als bräuchte er nur die Tür öffnen und er würde sie sehen, sie hören, ihren Duft riechen, zufällige Berührungen spüren.
 

Hinter den Männern öffnete sich knarrend eine Tür und holte André in die Wirklichkeit zurück. Die Eindringlinge schreckten auf. Aus der Tür trat eine große, lange Gestalt heraus. Schatten wichen dem sanften Schein des Kerzenleuchters in der Hand des Mannes.

"Habe ich die Geräusche doch richtig vernommen. Wer seid Ihr? Und was sucht Ihr in meinem Haus? Sprecht rasch, bevor ich die Diener rufe!" bellte General de Jarjayes gebieterisch und trat näher. Die unheimliche Stille im Schloss ließ seine Androhung lächerlich erscheinen. Es hielt sich keine Dienerschaft mehr im Schloss auf. Der Lichtkegel erfasste André und Staunen breitet sich über die strengen Züge des Generals aus.

"André? Warum schleichst du zu dieser Stunde durch das Haus? Solltest du nicht bei meiner Tochter in Versailles sein, während sie ihren Dienst bei der Königin versieht? Habe ich dich nicht zu diesem Zweck an Oscars Seite gestellt? Warum hast du sie alleine gelassen?" Der General runzelte die Stirn.

"Ich würde Oscar nie freiwillig verlassen, General!" antworte seine ehemaliger Stallbursche ruhig. General de Jarjaye kniff ärgerlich die Augen zusammen, er deutete den leidenschaftlichen Tonfall richtig.

"Wie meinst du das, André? Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, welche Gefühle du meiner Tochter entgegenbringst. Willst du dich über euren Standesunterschied hinwegsetzten? Das ist lachhaft. Oscar wird dir keine Gefühle entgegenbringen. Sie wird einmal meine Nachfolge als General antreten, du bist nur ihr Diener. Vergiss das nie!" André schwieg. General de Jarjayes schien die letzten Ereignisse verdrängt zu haben. Er schien nicht mehr zu wissen, dass Oscar sich auf die Seite des Volkes gestellt hatte, geschweige denn, dass eine Revolution ausgebrochen war. Es war beängstigend zu sehen, wie er angesichts des leeren Schlosses und den deutlichen Spuren von Plünderungen und Zerstörung die Wirklichkeit verdrängte. Rock und Weste aus erlesensten Stoffen waren fadenscheinig und fleckig. Anscheint waren sie schon seit Tagen nicht mehr gewechselt worden. Verstaubter Puder rieselte aus der verfilzten Perücke auf den silbergrauen Stoff der Jacke.

Jean-Luc war der Konversation mit immer größeren Interesse gefolgt. Er hatte sich schon lange gefragt, warum man André für Robespierre so wichtig zu sein schien. Andrés Umgang mit Waffen verrieten jahrelange Übung und er besaß militärische Erfahrung, weil er in der Söldnertruppe gedient hatte. Das war das Einzige, was Jean-Luc bekannt war. Es war ihm auch klar, dass der Name Grand nur ein Pseudonym und das Schweigen, hinter dem André sich verbarg, selbst gewählt war. Doch es musste noch andere Dinge geben, die ihn für Robespierre so interessant machten. Möglicherweise besaß er wichtige Kenntnisse über den Adel, doch was nützte das Robespierre, wenn André nicht zum Reden zu bewegen war? Jean-Luc wusste, dass ihm ein Teil in seinem Puzzle gefehlt hatte und zwar jenes, wie man André dazu brachte bei Robespierre freiwillig zu bleiben? Dem blonden Anhänger war klar, dass André ihn schon längst in einem günstigen Moment hätte niederschlagen können. Doch er blieb an seiner Seite und führte jeden Auftrag mit ihm aus. Er musste also mit etwas wichtigem unter Druck gehalten werden. Endlich hatte er das fehlende Puzzelteil gefunden. Natürlich hatte er schon von Oscar Francois de Jarjaye gehört, der Frau, die der Königin diente und als Mann lebte. Spielte ihr Name nicht auch in der Halskettenaffäre eine Rolle? War sie nicht im amourösen Zusammenhang mit den widernatürlichen Neigungen der Königin genannt worden? Jetzt war ihm alles klar. André war der Diener dieses Mannsweibs gewesen, daher war er so wichtig für Robespierre. Und er liebte sie. War sie das Druckmittel? War sie, wider aller Gerüchte doch nicht tot?
 

André war von den ganzen Ereignisse zu überrascht, um wahrzunehmen, wie Jean-Luc den General den Weg abschnitt, als dieser wieder in sein Arbeitszimmer zurückkehren wollte. Ruhig und langsam zückte Jean-Luc seine Waffe. Erst das Entsichern der Pistole holte André in die Wirklichkeit zurück. Mit einem Lächeln, nicht ganz ohne Charme und jugendlicher Unbekümmertheit richtete er die Waffe auf den Oberkörper des Adligen.

"Entschuldigt bitte, General, aber ich muss Euch leider erschießen. Ihr habt Euch des Verbrechens schuldig gemacht, auf den gebeugten Rücken des gemeinen Volkes Euer verschwenderisches Leben geführt zu haben."

"Was?" Der Graf schien nicht zu begreifen.

"Ihr versteht, dass wir in Euch als General eine zu große Bedrohung für die Revolutionäre sehen. Ein Militärputsch hätte fatale Folgen, für uns." Der Zeigefinger krümmte sich langsam um den Abzug.

André sah, wie Jean-Luc den Abzug betätigte. Ohne nachzudenken lief er auf Oscars Vater zu und warf ihn im Augenblick des Schusses zu Boden. Der General fiel schwer unter dem Gewicht von André und prallte mit dem Kopf auf das harte Parkett. Der Aufschlag raubte ihm gleich das Bewusstsein. Dunkelheit umpfing seine Sinne. Der Kerzenleuchter fiel zu Boden und erlosch.

André versichert sich, dass der General noch lebte. Schwach schlug der Puls an der Halsbeuge. Er blickte zu Jean-Luc hoch. Mit einem bedauerlichen Lächeln, fast mitleidig sah dieser André an. In seiner Hand qualmt noch die Pistole, aber er richtete sie zu Boden. Victor löste sich aus dem Schatten, auch er hatte alles mitbekommen. Verächtlich sah er auf André hinab, dann drehte er sich um und verließ das Schloss schnellen Schrittes. André wollte aufspringen, um ihm hinterher zu eilen, aber die Waffe seines Begleiters richtete sich nun auf seine Brust.

"Mein lieber André oder Grand, wie auch immer du genannt werden möchtest, du hast dein Schicksal besiegelt." Mit einem Seufzer ließ er die Waffe wieder sinken.

"Du weißt, wo unser Freund jetzt hinreiten wird!" fuhr er fort. "Niemand kann ihn aufhalten." Ermahnend hob er seine Pistole. "Robespierre wird über die Nachricht, die er ihm überbringt wenig erfreut sein. Er hat erwartet, dass du ihn verraten würdest, André! Ich kenne nicht seine genauen Pläne, aber ich weiß, dass der Befehl zu einer Verhaftung gegeben wurde. Tja, mein Freund, so leicht verspielt man sich alles. Deine Beweggründe werde ich nicht verstehen können. Ich selbst hasse und verachte den Adel." Sein Tonfall war leicht, ohne Groll, fast als würde er über alltägliche Dinge sprechen. Als fleißiger Anhänger Robespierres führte er nur dessen Anweisungen aus, ohne freilich seine eigenen Ziele aus den Augen zu verlieren, bis es hieß, sich selbst am nächsten zu sein. Das hieß aber nicht, dass er André keine Sympathie entgegenbrachte. Endlich trat er beiseite. Mit einem letzten unsicheren Blick sah André auf Jean-Luc und den bewusstlosen General zurück.

"Keine Angst," meinte dieser, als er seinen ratlosen Blick bemerkte. "Ich werde ihm nichts antun. Er ist ohnehin halb schwachsinnig und keine Bedrohung für uns." Seine Fuß trat spielerisch in die Seite des am Boden liegenden Mannes und blickte verächtlich auf ihn nieder. Der General stöhnte, erwachte aber nicht. "Er war nur die Prüfung für dich. Du kannst meinen Worten glauben!" Und André glaubte ihm. Nichts hielt ihn mehr in dem Schloss. Er wollte nur rennen, die Treppe hinunter, zur Tür hinaus, die Straße entlang. Rennen, um zu retten, was nicht zu retten war. Oscar war verloren. Er nahm die Beine in die Hand, pfiff in der Dunkelheit sein Pferd und jagte die breite Allee entlang in Richtung Paris.
 

***

Gefangen

Die schweißnassen Flanken des Pferdes hoben und senkten sich schwer atmend. Die riesigen Nüster bliesen nebligen Atem in die kalte Nachtluft, während es durch die Straßen jagte. Die eisenbeschlagenen Hupfe hallten laut wieder, in der nächtlichen Stille. Die braune Stute gerieten ins Stolpern, aber ihr Reiter trieb sie weiter in halsbrecherischen Tempo an. Nur mit Mühe konnte André sich auf dem Pferderücken halten. Bald würde das Tier am Rande der Erschöpfung zusammenbrechen, aber noch musste es durchhalten. Ein paar schläfrige Bäckerlehrlinge, welche halbverschlafen zu ihren Backstuben schlürften, sprangen erschrocken beiseite.

Endlich waren sie an seinem Ziel angelangt. Noch während sein Pferd zum Stehen kam, sprang André aus dem Sattel und lief zu dem Eingang. Verzweifelt und laut, hämmerte er gegen die Tür. Fast wäre er gefallen, als sich diese unvermittelt öffnete und er in das aschfahle Gesicht von Bernard sah.

"Bernard?"

"André? André, bist du es wirklich?" Mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen zog Bernard seinen Freund in die Wohnung. "Rosalie, Rosalie, André ist hier." André ließ seine Blick umhergleiten. In der kleinen Wohnstube war mächtig gewütet worden. Ein Stuhl war zertrümmert, der Tisch lag umgekippt auf der Seite, ein Tischbein in seiner Mitte gebrochen. Splitter von zerbrochenem Geschirr lagen verstreut auf dem Boden. Umgekippte Kerzenleuchter hatten Spuren heißen Wachs auf den Bodendielen hinterlassen. Schluchzend hockte Rosalie in mitten der Trümmer und sammelte einzelne Tellerüberreste auf. Ihre rotgeränderten Augen sahen verzweifelt zu André auf. Helle Tränen rannen über die blassen Wangen. "Oh, André ... sie haben... sie haben...," Der Rest des Satzes ging in heftigem Schluckauf unter.

"Sie haben sie mitgenommen!" beendete er ihn tonlos und verloren. Es war, als würde jemand anderes diesen Alptraum durchleben. Rosalie nickte betrübt und brach in neue Weinkrämpfe aus. Bernard sah, wie alles Leben aus André wich. Er ließ Kopf und Schultern hängen, als hätte sein Körper nicht mehr die Kraft alleine aufrecht zu stehen.

"Männer der Polizei waren hier," schluchzte Rosalie. "Sie erklärten Lady Oscar für verhaftet. Ich verstehe das nicht! Oh André, was machen sie mit ihr?" André schüttelte nur hilflos den Kopf.

"Blut? Hier sind Blutflecken auf den Boden," fragte er fassungslos. Seine Augen irrten panisch von Rosalie zu Bernard. "Keine Angst mein Freund, das ist nicht ihr Blut. Oscar hat es ihnen nicht leicht gemacht." Eine schwere Hand legte sich kameradschaftlich und tröstend auf Andrés Schultern. Das tiefe Stakkato der Stimme in seinem Rücken, war ihm wohl bekannt. "Alan?" Sein Freund nickte ihm zur Begrüßung zu.

"Es tut mir leid, André," wandte Bernard leise ein. "Ich war nicht zu Hause, um ihr helfen zu können. Als ich kurz vor Mitternacht heimkehrte, waren sie schon hier."

"Kurz vor Mitternacht?" wiederholte André ungläubig. Zu dieser Zeit war er mit Jean-Luc und Victor gerade aufgebrochen. Es war von Anfang an egal, wie er handeln würde. Oscar war schon bei ihrem Aufbruch verloren gewesen. Zornig ballte seine Hände zu Fäusten und schlug verzweifelt auf die Wand ein. Resigniert ließ er die Stirn gegen die Wand sinken. Er verfluchte den Tag, als Robespierres Männer an ihn herantraten. Mit der Einwilligung Robespierres Handel einzugehen, hatte er sie zum Tode verurteilt.
 

"Wir wussten ...," es hickste noch immer unglücklich aus Rosalies Richtung. "Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Also haben wir Alan geholt."

"Aber was nun?" André wandte sich wieder zu sein Freunden um. "Robespierre hat sie vielleicht schon längst umbringen lassen."

"Warum sollte Robespierre Oscar umbringen lassen, André?" Bernard trat fragend näher.

"Weil ich mich auf einen Handel mit dem Teufel eingelassen habe," sagte André verbittert und versuchte zu erklären, wie es dazu kam. Es war eine unglückselige Stunde gewesen, als er bei einem seiner dienstfreien Abenden in einer Wirtsstube Robespierre traf und dieser sich an ihn als Begleiter Oscars erinnerte. Es war nur Zufall, dass in der Nacht zum 14. Juli einer der Freunde Robespierres an seinem Sterbebett wachte, als sein Herz wieder zu schlagen begann. Aber dieser Zufall bestimmten von da an über sein Leben.

"Wegen ein paar Informationen über den Adel, unterwirft dich Robespierre mit derartigen Drohungen?" fragte Bernard, als André geendet hatte.

"Nein, ich schwieg die ganze Zeit über. Mein Schweigen war meine einzige Sicherheit. Ich habe die ganze Zeit über Aufträge für ihn erledigt, aber bitte .... Es ist besser, wenn ihr nicht näheres darüber erfahrt."

"Sie ist noch nicht tot." Alle drehten sich zu Alan um, der mit verschränkten Armen ruhig an der Wand lehnte.

"Es wäre nicht logisch. Nach allem, was ich über Robespierre gehört habe, tut dieser Mann nichts willkürlich, ohne sich einen Vorteil zu verschaffen. Wenn er Oscar einfach nur töten lassen wollte, hätte er sie nicht offiziell verhaften lassen. Sie einfach nur zu töten, ginge mit weniger Aufwand."

"Als ehemalige Vertraute der Königin und als höherer Offizier des Militärs ist sie zu wertvoll für Robespierre. Er wird Oscar erst dann töten, wenn er denkt, dass sie ihm keine Informationen mehr geben kann. Das gibt uns Zeit." Bernards Augen leuchteten hoffnungsvoll. Er fing an aufgeregt auf und ab zu laufen. "Wir werden ihm die Zeit nehmen. Ich werde zu Saint Just gehen. Seine Intrigen haben Robespierre die letzen Wochen nicht ruhen lassen. Gemeinsam können wir Robespierre derart beschäftigen, dass wir Zeit haben, um Oscar befreien zu können."

"Genau, wir werden sie befreien," Laut und undamenhaft zog Rosalie die Nase hoch und wischte sich ihre Tränen von den Wangen.

Es klopfte an der Tür. Alle schreckten auf. Es wurde totenstill im Raum. Ohne Aufforderung trat Jean-Luc ein, die Pistole lässig in der Hand haltend, aber jederzeit schussbereit. Er lächelte diabolisch. Der Schein der Kerze ließ seine Gesichtszüge markanter hervortreten.

"Jean-Luc?" André sah ihn fragend an.

"Ich war so frei dir zu folgen, wo wir doch in den letzten Monaten Zeit hatten, unsere Freundschaft zu vertiefen, obgleich du nicht sehr gesprächig bist, André," Er lachte leise und spöttisch. "Ich habe gehört, wie Robespierre diese Adresse nannte, als er den Verhaftungsbefehl herausgab. Möchtest du mich nicht deinen Freunden vorstellen?"

Jean-Luc trat näher und schob die Pistole in den Gürtel. "Ihr seid Bernard Chatelet! Wir hatten bisher nicht das Vergnügen, obwohl wir für den selben Mann arbeiten."

"Ich arbeite mit Robespierre zusammen." stellte ihn Bernard richtig. "Nicht für ihn, Monsieur ...?"

"Nennt mich Jean-Luc und dies muss Eure bezaubernde Frau sein. Madame Chatelet!" Er zog Rosalies Hand hoch, dass diese vorwärts kippte und hauchte einen zarten Handkuss drauf, während er ihr tief in die Augen blickte. Alan hob abwehrend die Hand. "Wir kennen uns schon."

"Ach ja," Jean-Luc hob fragend eine Augenbraue.

"Nicht offizielle," erklärte Alan lächelnd. "Eher durch eine gemeinsame Bekannte. Von hinten sozusagen." Die dunklen Augen zwinkerten belustigt. Verwirrt wandte sich der junge Mann wieder André zu.

"Es ist wirklich schade, dass du nun nicht mehr für Robespierre arbeitest, André. Berichtige mich, wenn ich mich irre, aber ich liege doch richtig, wenn ich sage, dass du wenig geneigt bist, seine Aufträge weiterhin anzunehmen. Dabei ist Robespierre ein wirklich wunderbarer Revolutionär. Seine Leidenschaft kann ganze Empirien niederreißen. Es ist großartig für diesen Mann und seine Sache zu arbeiten ... sein Vertrauen zu genießen ... das zu wissen, was er weiß ... du verstehst, was ich meine?" Jean-Luc schlenderte durch den Raum. Mit einer lässigen Handbewegung entfernte er nicht vorhandene Fussel und richtete seine Augen unschuldig auf André.

"Ja, ich verstehe, was du meinst."

"Gut, dass freut mich. Und natürlich möchte ich alles erfahren, was unserer GROßEN Sache helfen könnte. Auch wenn ich Maximilian nicht mit allen Details langweilen möchte ... du verstehst immer noch, was ich meine?" Da waren sie wieder, diese unsichtbaren Fussel, die es zu entfernen galt. Ein neuer Handel? Wurde hier nicht ein Übel gegen ein Anderes ausgetauscht?

"Ja, ich verstehe immer noch, was du meinst. Vielleicht kann ich doch noch der GROßEN Sache dienen ..." André wusste, er hatte keine andere Wahl, als seine Informationen gegen Jean-Luc's zu tauschen.

"Vielleicht mein Freund und vielleicht treffen wir uns in den nächsten Tagen, um uns genauer darüber zu unterhalten."

"Ja, vielleicht ..."
 

Jetzt galt es für sie schnell zu handeln. Sobald der Morgen graute ging Bernard los, um sich mit Saint Just zu treffen. Misstrauisch nahm der intrigante Revolutionär die plötzliche Bereitschaft von Bernards zur Kenntnis. Bernard wusste, dass er auf einem sehr schmalen Grad balancierte. Kein Schwur der Welt, konnte verhindern, dass Saint Just ihn nicht hinterging und sich gegen ihn wandte. Wenn Robespierre einen Hauch von Zweifel an der Loyalität Bernards kam, dann stand nicht nur sein Leben auf dem Spiel, sondern auch das seiner geliebten Frau. Wie ein Blinder tastete er sich vorwärts. Jederzeit bereit, sich wieder zurück zu ziehen.

Und es schien, als hätten sie Erfolg. Robespierres Wutanfälle tobten von Saint Denis bis Saint Michel. Jeder in seiner unmittelbaren Nähe brachten sich in Sicherheit. Eingefallene Wangen und dunkle Augenringe im Gesicht des großen Revolutionärs zeugten von den vielen schlaflosen Nächten und gramgebeugten Tagen. Verleugnungen machten erst leise, dann immer lauter die Runde. Das Volk begann ihn mit scheelen Blicken zu beobachten,

treue Anhänger tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Robespierre versuchte überall gleichzeitig zu sein, um zu bitten, zu betteln, zu drohen, mit dem Feuer seiner Reden das Misstrauen im Keim zu ersticken und so machen Zweifler in den Abgrund zu versenken. In den folgenden Tagen trieb so manche Leiche, blau und aufgedunsen die Seine hinab. Seine Spionagenetz arbeite auf Hochtouren, aber die Quelle der Intrigen wurde nie gefunden. Letztendlich schaffte es Robespierre seine Macht zu behaupten und sich in den nächsten Jahren an die Spitze des grausamen Terrorregimes zu setzen. Doch es kostete ihn einige graue Haare, eitel verborgen unter der gepuderten Perücke. Erst am 28. Juli 1794 sollten sein Kopf fallen. Und ganz nach seiner eigenen Philosophie "Der Tod ist kein ewiger Schlaf. Der Tod ist der Anfang der Unsterblichkeit" ging sein Leben als umstrittenen Revolutionärs und erster Schreckensherrscher der Geschichte, nach seinem Tod im Alter von 36 Jahren, in die Geschichtsbüchern ein.

Während Robespierre um seine Macht rang, fühlte sich André wie ein Tier, das eingesperrt war und nach der Freiheit sehnte. Die Gitterstäbe seines Käfigs waren quälende Unwissenheit und zum Nichtstun verdammte Stunden. Stunde auf Stunde, die verstrichen und zu unnützenden Tagen wurden. Keiner von ihnen wusste, wo Oscar gefangen gehalten wurde, geschweige denn, wie es ihr erging. Am quälernsten war die Frage, wie viel Zeit ihnen blieb. Hatte sich Robespierre seiner Gefangen schon angenommen?
 

Endlich ließ ihn Jean-Luc durch eine schriftliche Botschaft ausrichten, dass er ihn zu sprechen wünschte. So schnell wie der kleine abgemagerte Junge aufgetaucht war, verschwand er mit André's Antwort im Gewirr der Straßen.

Die Sonne des dritten Tages, nach Oscars Verhaftung ging langsam am Horizont unter. Rot färbte sich das Haupt der Stadt. Lange Schatten wurden zur Dunkelheit. Unauffällig schlenderte André über den Markt. Bauern und Marktfrauen packten ihre Stände zusammen, um den langen Heimweg anzutreten. Wiederholt musste er Gemüsekarren und Fuhrwerken ausweichen. Nur noch wenige Verkäufer priesen heiser und lustlos ihre letzte Ware an. Das Pflaster der Straße war überlagert von Abfall und Pferdekot. Zertretendes Gemüse setzte sich in die Rillen der Schuhsohlen fest. Eine Hand zog an seinem Umhang. André gab dem Zerren nach und ließ sich hinter die Stände führen. In einer Hintergasse hielt Jean-Luc an und begrüßte ihn mit einem verschwörerischen Grinsen.

"Salut mein Freund, ich wusste, dass du meiner Einladung folgen würdest!" André nickte, aus Gewohnheit verfiel er wieder ins Schweigen.

"Lass uns ein wenig umhergehen! So manches Paar Ohren sollte uns nicht hören. Wie geht es dir?"

"Mein Befinden interessiert dich doch nicht wirklich," entgegnete André, während sie langsam die Straße hinabgingen. Der Trubel der breiten Hauptstraßen schloss sie ein und gewährte ihnen eine gewisse Anonymität.

Jean-Luc zuckte gleichgültig die Achseln. "Ich frage nur der Höflichkeit wegen."

André hob spöttisch eine Augenbraue. "Seit wann legst du Wert auf Höflichkeit." Von der ungewohnte Offensive André's aus dem Konzept gebracht, verzog Jean-Luc das Gesicht und suchte seine Sicherheit wieder hinter der gewohnten Maske aus Arroganz. "Du hast recht. Bist du bereit, dich mit mir zu unterhalten und mir das Wissen anzuvertrauen, welches du Robespierre vorenthalten hast?"

"Ja, aber du lässt dich auf ein gefährliches Spiel ein. Ich habe nichts mehr zu verlieren, nachdem ...." André schwieg abrupt und ballte die Hand zur Faust. Sekunden später schon, glätten sich seine schmerzverzehrten Gesichtszüge wieder und seine Leidenschaft verschwand hinter den Gesichtsausdruck der Zurückhaltung.

"Es geht also wirklich um dieses widernatürliche Mannsweib. Wegen ihr hast du dich Robespierre verpflichtet, obwohl du ihn verachtest?"

"Wage es nicht noch einmal, sie derart zu nennen!" André Stimme war ruhig, aber schneidend, wie ein Messer.

Jean-Luc hob abwehrend die Hände. "Jedem seine Neigungen, mein Freund."

"Was ist nun mit ihr? Lebt sie? Gibt es noch Hoffnung?"

"Oh, ich darf nichts verraten, von dem, was mir Robespierre anvertraute. Weder politische Sachen, noch das er den Verhaftungsbefehl für eine Adlige Namens Oscar Francoise de Jarjaye herausgegeben hat und sich ihr vorerst erst in der nächste Woche annehmen kann?"

"Ist er dazu bemächtigt?"

"Nein, aber das hat ihn noch nie abgehalten."

"Wo ist sie?" erkundigte sich André.

"Mein Gott, dass darf ich nicht preisgeben," gab Jean-Luc zurück. "Robespierre meinte, niemand dürfe wissen, dass sie in der Conciergerie gefangen gehalten wird."

André nickte. "Dann solltest du darüber schweigen."

"Im zweiten Kellergeschoss. Dritter Gebäudetrakt."

"Ich verstehe." André's Stirn legte sich nachdenklich in Falten.

"Die Gänge sind sehr spärlich beleuchtet. Sparmaßnahmen."

"Bestimmt solltest du auch nicht verlauten lassen, wie viele Wächter sich dort aufhalten."

"Du hast recht. Zwei am Treppenende und einer im Gang. Doch darüber rede ich nicht."

"Nein," bestätigte André.

"Wenn er erfahren würde, dass ich dir sage, dass die beste Fluchtmöglichkeit über einen versteckten Dienstgang in der Nordseite, würde er mich an meine Zehnägeln aufhängen, aber dass sage ich dir nicht."

"Und wen werde ich am Ausgang vorfinden."

"Na nun, mich."

Sie waren an der Rue Blondel angelangt. Es war Zeit, sich zu verabschieden. Jean-Luc zog fröstelnd seinen Umhang enger. "So, mein Freund, hier muss ich dich verlassen. Lass mich den Tag und die genaue Stunde wissen, wann du die Conciergerie aufzusuchen gedenkst und dann hoffe ich von dir das zu bekommen, was ich mir wünsche."

André nickte. Seine Stimme wurde drohend. "Wenn du mich verrätst, folge ich dir bis in die Hölle und weiter."

Sein blonder Begleiter lachte spöttisch. "Du nützt mir mehr, wenn ich dich nicht verrate, Au revoir, André."
 

Die unnütze Wartezeit hatte ein Ende. Bis spät in die Nacht saßen Bernard, Alan und André, grübelnd über einen Fluchtplan. Während Rosalie ein karges Mahl auftrug, hörte sie den Männern schweigend zu. Die Suppenkelle klirrte hoch und hohl in dem leeren Suppentopf. Die drei Männer sah verwundert zu Rosalie auf.

"Hört Ihr Euch eigentlich reden?" erbost raufte sich Rosalie die Haare. "Eure Pläne sind bestenfalls etwas für Romane oder Abenteuergeschichten."

"Wir tun das Bestes, was wir können," warf Bernard ein. Mit einem Ruck hob Rosalie den Topf hoch. "Dann ist das Beste von Euch nicht gut genug." Ihr schossen die Tränen in die Augen. Ihr Körper bebte vor unterdrückten Schluchzer. "Oscar sitzt derweil in einer finsteren Zelle und man tut ihr wer weiß was an. Bestimmt ist es dort kalt und feucht und sie werden ihr kein richtiges Essen geben. Was, wenn die Krankheit wieder ausbricht?" Sie stellte die Topf wieder ab und lief mit wehenden Röcken aus dem Zimmer. Betretendes Schweigen senkte sich über den Raum. André ließ den Kopf hoffnungslos sinken und barg ihn in seinen Händen. "Sie hat recht, alles was wir uns ausdenken nützt nichts. Was sollen wir nur machen? Wenn Oscar stirbt, verliert mein Leben seinen Sinn." Wieder schwiegen sie, nur Alans Zähneknirschen durchbrach die Stille und kratzte an den Nerven. Rosalie war zurückgekehrt. Sie hatte sich wieder beruhigt. Vorsichtig räusperte sie sich, um sich bemerkbar zu machen, denn sie war nicht alleine. Sie trat beiseite, um ihren Gast vorbei zu lassen. Unsicher trat dieser von einen Bein auf das Andere, mit dem untrüglichen Gefühl, sich auf einer Beerdigung wohler zu fühlen, als jetzt in diesem Raum. Drei Männergesichte starrte schweigsam zu ihm auf, jeder in seinen eigenen Gefühlen gefangen. Noch nie hatte er sich derart fehl am Platz gefühlt. Er deutete eine leichte Verbeugung an. "Salut, André, ich freue mich Euch zu sehen. Monsieurs, darf ich mich vorstellen? Ich bin Graf Victor Clement de Girodelle. Ich wollte Lady Oscar meine Aufwartung machen, um ihr von dem Befinden ihres Kindermädchens zu berichten. Komme ich ungelegen?" Betreten lockerte Girodelle seine Halsbinde. Die Männer schwiegen noch immer. André sah ihn an, als würde er in einer ihm nicht verständlichen Sprache sprechen. Seine Gesichtszüge schienen vor Gram um Jahre gealtert. Endlich sprach er. "Was habt Ihr mit meiner Großmutter zu schaffen, Graf?"

"Nun, Lady Oscar bat mich für sie zu sorgen. Ich würde alles für Oscar tun. Es ist mir eine Ehre, ihrer Bitte nachzukommen. Wo ist Lady Oscar?" Ein Lächeln breitete sich über Alans Gesicht aus und erhellte die kantigen Zügen aus. Er sprang auf. Seine Augen leuchteten beunruhigend "Graf de Girodelle, habe ich das richtig verstanden! Ihr würdet ALLES für Oscar tun?"

"Nun ja, .. . ja!" stotterte Girodelle.

"Freut mich, freut mich!" Alans kräftige Hand legte sich auf die Schultern des Grafen und drückten diesen nachdrücklich auf einen der Stühle. Girodelle hatte ja keine Ahnung, was noch auf ihn zukommen sollte.
 

***

Handeln

Schritte von schweren Stiefeln hallten durch die Gänge. Türen öffneten sich knirschend, schrille Schreie und verzweifeltes Wimmern drang auf den Gang. Befehle bellten grob durch die Dunkelheit. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang in Oscars Zelle. Man hatte sie in völliger Dunkelheit zurückgelassen. Wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht mehr. Stunden oder gar Minuten hatten für die Inhaftierten keine Bedeutung. Die kargen Mahlzeit aus schimmligen Brot und dünner Suppe, die gelegentlichen Verhöre, das Schreien der Mitgefangenen und die wüsten Bedrohungen der Wächter bestimmten den Tagesablauf, bis er als letzter Gang zur Hinrichtungen endete. Man hatte Oscar von Anfang an in einer Einzelzelle untergebracht. Sie war bei ihrer Einkerkerung an den Großzellen vorbeigekommen, in denen dichtgedrängt die Gefangenen hockten und sich um Essen und die wenigen Strohlager schlugen. Immer mehr Adlige wurden inhaftiert. Der verarmte Adel hockte mit hoffnungslosen Gesichtern in den Ecken und schlug nach den Ratten. Die traurigen Reste an Kleidung, welche die Wächter ihren blaublütigen Gefangen gelassen hatten, starrte vor Dreck und Ungeziefer. Der Teil von ihnen, der Geld vor den Plünderungen verstecken konnte, kaufte sich zu schwindelerregenden Preisen einen kleinen Rest von Würde und Annehmlichkeiten zurück.

Knirschend öffnete sich ihre Zellentür. Das Licht der Fackeln aus dem Gang vor ihrer Zelle beschien die spärliche Einrichtung. An der gegenüberliegenden Wand stand die schmale Bettpritsche. Neben der Tür befanden sich ein wackliger Tisch und ein Stuhl. Eine zerbeulte Blechschüssel in der Ecke, war das einzige Zugeständnis an den prekären Teil der menschlichen Bedürfnisse. Der Boden war kahl.

Die aufsteigende Panik und Angst in den ersten Stunden ihrer Inhaftierung war disziplinierter Ruhe und kühler Überlegung gewichen. Ihr Verstand arbeite routiniert. Sie würde sich weder mit ihrer Verhaftung abfinden, noch dem unwürdigen Ende durch eine Hinrichtung. Warum war sie verhaftet worden? Bislang war sie sich nur sicher, Maximilian de Robespierre für ihre neue Unterkunft danken zu müssen. Oscar ahnt mit ziemlicher Gewissheit, dass der Revolutionär sie bald aufsuchen würde. Sie saß mit unterschlagenen Beinen auf der Pritsche. Die Kälte des Bodens war durch ihre Schuhe gedrungen. Als die schwere Kerkertür aufschwang erhob sie sich und drückte den Rücken kerzengerade durch.

Der Hauptmann der Wächter, Michael Doucette erschien in der Türfüllung. Seine stämmige Gestalt füllte fast den gesamten Durchgang aus. Ein säuberlich gestutzter Bart umrammte den massigen Kiefer. Kleine, dunkle Augen sahen sie mit der Überlegenheit eines Wächters für seine Gefangene an. In der Unterwelt der Conciergerie war er der unumschränkte Herrscher. Breitbeinig und mit verschränkten Armen stand er im Türrahmen.

"Ich hoffe, Ihr genießt unsere Gastfreundschaft, Mademoiselle?" Er grinste höhnisch und trat ein.

"Mercie, aber das Essen lässt einiges zu wünschen übrig," erwiderte Oscar trocken.

Sein Grinsen wurde breiter. "Das könnte sich ändern, Mademoiselle. Gegen eine kleine Zuwendung von Euch, ließe sich der ein oder andere Leckerbissen einschieben," brummte er und sah sie anzüglich an. Das war nicht das erste Angebot von ihm in dieser Art.

"Ihr wisst, dass ich nicht einen einzigen France besitze, Monsieur Doucette," erwiderte Oscar, für die der Ausdruck >sexuelle Belästigung< nur eine sinnlose Folge von Silben war. Einige besonders aufmerksame Teile ihres Bewusstseins schickten zwar Alarmsignale aus, aber zerbrach an der eisenharten Überzeugung, ihr passiere nichts.

"Und solange Ihr niemanden informiert, wo ich mich befinde, wird sich an diesem Zustand nichts ändern."

"Wer redet denn von Geld, Mademoiselle." Sein Blick glitt gierig über sie. Angesichts ihres abweisenden Gesichtsausdruckes zog er sich vorerst zurück, aber nicht für lange Zeit. An seinen breiten Rücken schlängelte sich ein zweiter Wächter vorbei. Der hagere Mann trug ein Bündel Bücher und einen Kerzenleuchter unter dem Arm.

"Auf Monsieur Robespierres Geheiß, werdet Ihr etwas erbauliche Lektüre bekommen, um die Zeit Eures Aufenthalts hier zu verkürzen. Einige revolutionäre Texte, um Eure Einstellung zu ändern."

"Ich muss meine Einstellung nicht ändern, Doucette. Ich habe auf der Seite des Volkes gekämpft und das ist Robespierre auch bekannt." Michael zuckte gleichgültig die Achseln und entzündete den Docht der Kerze.

"Wie auch immer. Ich lass Euch alleine. Sollte das Licht herunterbrennen ... oder Ihr benötigt etwas anderes, ... ruft einen der Wächter!" Seine Augenbrauen tanzten andeutungsvoll, dann ließ er sie allein.
 

Wieder vergingen die Tage. Die Schriften lenkten sie von den bedeutungslosen und zum Nichtstun verdammten Stunden ab. Entweder las sie oder lief unruhig in der engen Zelle auf und ab, bis die Müdigkeit sie zum Schlafen zwang. In der Einsamkeit drängte sich Andrè's Bild auf und die Sehnsucht wuchs. Wenn sie das Licht löschte erlaubte sie sich stille Tränen. Oscar fühlte, wie die Kälte der Kellermauern und das nährstoffarme Essen die ersten Anzeichen einer Erkältung willkommen hieß und wartet auf den ersten Tag, an dem sie wieder Blut husten würde. Erneut suchte Hauptmann Doucette sie auf. Diesmal war er allein. "Haben Euch die Bücher unterhalten?"

Oscar verzog angewidert den Mund. "Wer immer diese Werke geschrieben hat, ist ein Stümper. Sie fordern den Tod der Monarchie und der bisherigen Ordnung, ohne Ansätze zur Verbesserung zu bringen. Es ist lachhaft zu denken, Ströme von Blut würden Frankreich in eine bessere Zeit führen."

Michael schnaubte wütend. "Ihre Adligen und eure verdammte Arroganz. Natürlich lehnt Ihr die Revolution ab. Euch Assfressern geht es ja an den Kragen. Nun zu uns!" Michael trat näher und Oscar konnte seinen abgestandenen Atem nach unverdautem Essen und saurem Wein riechen. "Habt Ihr über mein Angebot nachgedacht?"

"Ich weiß nicht, was Ihr meint."

Er sah sie lüstern an. "Tu nicht so unschuldig und sehe mich nicht mit diesem Hochmut an. Ihr Adligen mögt früher an der Macht gewesen sein. Jetzt ist es damit vorbei und hier unten habe ich sie. Ich wette, wenn ich einer dieser parfümierten adligen Schnösel wäre, wärst du nur zu gern bereit, mich zu empfangen!" Michael war es leid sich langsam vorzutasten. So schöne Frauen verirrten sich nicht in das 2. Kellergeschoss und der Gedanke an sie zog schon seit Tagen schmerzhaft in seinen Lenden. Er hatte die Macht, er war größer, er war stärker, seine Geduld war am Ende.

"Verlasst meine Zelle!" befahl Oscar ihm ungehalten und drückte die Schultern noch mehr durch.

"Elendes Weib, was glaubst du eigentlich, wo du bist, dass du mir Befehle erteilen kannst? Jetzt reicht es mir!" entgegnete er zornig und aufgebracht. Mit einem Satz war er bei ihr und packte sie grob bei der Schulter, um ihr das Kleid vom Leib zu reißen. Er zerrte an dem Stoff und stöhnte schwer. Der lüsterne Ausdruck in seinem Gesicht änderte sich je, als Oscar das Knie hob und zustieß. Monsieur Michel ging wimmernd in die Hocke und hielt sich stöhnend sein empfindsamstes Teil. Wieder bemerkte er nicht, Oscar den einzigen Stuhl packte und über seinen Kopf zerschellte. Benommen blieb Michel dort, wo er gerade war. Jemand räusperte sich peinlich berührt.

"Pardon, mir war nicht bewusst, dass die Angeklagte Besuch hat." Verblüfft über die zittrige, spröde Stimme des Mannes an der Zellentür, drehten sich beide herum. Michael kniff seine Augen zusammen und versuchte die Gestalt zu erfassen.

"Wer seid Ihr," fragte er lallend, während er sich aufrichtete, charakteristisch schwankend wie einen Mann mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung.

"Was wollt Ihr?" Seine Stimme klang jetzt kälter. Der diensthabende Wachmann hüstelte verlegen. Neben ihm stand ein Greis, in schlichter grau-brauner Kleidung. Schütteres Haar blickte unter einer Mütze mit der Trikolore hervor. Im Halbdunkle der Hutkrempe war ein faltiges Gesicht auszumachen. Er sah den Hauptmann, angesichts seiner krampfhaft gebückten Haltung schmunzelnd an. Schwerfällig und tief nach vorn gebeugt, von der Last des Alters, betrat er die Zelle. Unvermittelt wurde der Alte von einem Hustenanfall geschüttelt, der es ihm unmögliche machte, Michael zu antworten. Er hob entschuldigend die knochige Hand. Hinter ihm betrat ein schlanker Mann in typischer Arbeitskleidung den Kerker. Er trug die Jakobinermütze tief ins Gesicht gezogen. Die Kleidung hing weit und unförmig an ihm herunter. Der junge Mann stützte den Alten und führte ihn zu dem ramponierten Stuhl. Er half dem weißhaarigen Mann beim Platz nehmen. Oscar war abwartend in die Zellenecke getreten und verfolgte das Geschehen mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie hatte den Eindruck, dass der gebrechliche Herr jeden Moment seinen Geist aushauchen würde. Das Zwielicht des Kerkers tauchte die Gesichter in schattenhaftes Halbdunkel.

"Monsieur Doucette, dies ist Monsieur Julien Mandou. Er ist Gerichtsschreiber," stellte der Wächter den Alten vor. "Er ist für den letzten Willen der Angeklagten in den öffentlichen Gefängnissen zuständig." Monsieur Mandou nickte bestätigend, sein Hustenanfall war am Abklingen. "Ja, ich bin ...,"

"Monsieur Mandou," fiel im Michael wütend ins Wort.

"... auch befugt," Der Atem des Alten klang pfeifend, aber er fuhr unbeirrt fort. "Erklärungen oder letzte Geständnissen aufzuzeichnen oder Billetts an Verwandte oder Freunde, sowie Andenken, wie Locken oder ähnliches weiterzuleiten."

"Ich denke nicht, dass Monsieur Robespierre sein Einverständnis ...," Michael biss sich erschrocken auf die Zunge, er war dabei, zuviel zu verraten.

"... Monsieur Robespierres Wünsche sind hier ohne Belang," unterbrach der Alte ihn. "Ich bin vom Gesetzt befugt, mich um die verurteilten Gefangenen zu kümmern." Michael hatte Mühe, sich zu beherrschen. "Monsieur Mandou, Ihr seid im falschen Augenblick gekommen. Die Verurteilte und ich haben etwas Privates zu bereden. Du wirst sie später aufsuchen müssen!" Der Gerichtsschreiber beachtete ihn nicht weiter und kramte in seinen Unterlagen. In der Annahme, der Alte sei schwerhörig, beugte Michael seine plumpe Gestalt zu ihm runter und wiederholte seine Worte mit erhobener Lautstärke. Langsam hob der Alte die blasse, fleckige Hand ans Ohr, rieb es und schüttelte den Kopf. "Ich bin nur alt und schwach, nicht taub, Monsieur." Gereizt richtete er seinen Blick wieder auf seine Akten.

"Monsieur Mandou, bleibt hier," sagt Oscar fest. Bisher hatte sie geschwiegen. Sie musste Doucette loswerden. "Monsieur Doucette, wir haben nichts mehr zu bereden."

"Ich habe für Mademoiselle Jarjaye nicht unbegrenzt Zeit. Ich muss mich noch anderen Inhaftierten widmen. In diesen Tagen sind die Gefängnisse einfach überfüllt. Wenn Ihr in einer Stunde zurückkehrt, Monsieur Doucette, dann sind Mademoiselle Jarjaye's Angelegenheiten geklärt und Ihr könnt Eure Unterredung fortsetzen."

Michael schnaubte wütend. "Und ob wir das werden. Wir sehen uns nachher Inhaftierte Jarjaye." Zornig dreht er sich um und verließ den Kerker. Der Wächter bezog wieder Stellung im Gang und schloss die Kerkertür.
 

Bedächtig nahm der Alte ein leeres Blatt Papier, entstöpselte ein Tintenfass, tauchte die Feder ein und sah sie erwartungsvoll an. "Was kann ich für Euch tun, Mademoiselle?" Oscar sah ihn misstrauisch an. Sein Gehilfe war zur Zellenwand gegangen und hatte sich, ungeachtete des Schmutzes auf den Boden niedergelassen. An die Wand gelehnt, verschränkte er die Arme von der Brust und schloss die Augen. Der Alte bekam einen neuen Hustenanfall, ließ die Feder fallen und rang keuchend nach Atem. Bevor Oscar sorgenvoll näher träten konnte, schob sie der Gehilfe beiseite und klopfte seinen Herren heftig auf den Rücken.

"Wieder einen seiner Anfälle. Er braucht etwas zu trinken. WÄCHTER!" erklärte er. Seine Stimme klang heiser.

"Was gibt es?" Ungehalten wurde die Tür aufgeschlossen und der Wächter trat ein. "Was soll das?" fragte er verdutzt.

"Er braucht dringend Wasser ," antwortete Oscar eindringlich.

"Bin ich dein Diener, Gefangene?" echauffierte er sich. Das Keuchen des Alten wurde immer schlimmer. Er ächzte inzwischen furchterregend und presste die Hände an die Brust.

"Bitte!" flehte Oscar. "Es macht keinen guten Eindruck, wenn ein Gerichtsdiener hier stirbt, weil ihm Hilfe versagt wurde." Die Wache überlegte einen Augenblick, dann willigte er ein. "Ich bin sofort zurück," sagte er. "Ich lasse die Tür auf, aber komm nicht auf den Gedanken, irgendwo hinzuwandern!" setzte er drohend hinzu. "Sollte ich dich suchen müssen, wirst du mir die Mühe und die Zeit entlohnen müssen. Und dann mache ich da weiter, wo der Hauptmann aufgehört hat, der ist doch aus einem ganz bestimmten Grund zu dir gekommen, nicht wahr?" Grinsend wollte er sich wegdrehen, stutzte aber als sein Blick auf den Alten fiel. Der Gerichtsschreiber sah ihn aus den faltenumrandeten Augen mordslustig an, als wollte er sich auf ihn stürzen. Dann senkte der Alte wieder den Kopf und stöhnte grauenerregend. Der Wächter verließ die Zellen. Die Gefangene würde ihm nicht entwischen. Schließlich waren überall Wächter postiert, die sie aufhalten und sich ein Vergnügen daraus machen würden, sie zu bestrafen.

Verärgert bemerkte er, dass der in der Nische stehende Wassereimer leer war. Da das schreckliche Husten des Gerichtsagenten weiterhin durch die Gewölbe hallte, gelangte er mürrisch zu der Einsicht, es sei ratsamer, ihn vor dem Verrecken zu bewahren. Lustlos nahm er den Holzbottich und begab sich in der Hoffnung, der Schließer dieser Abteilung möge im etwas Trinkwasser überlassen, in den Osttrakt.
 

Als er nach etlicher Zeit mit einem verbeulten Blechnapf zurückkam, sah er wie sich der Greis von seinem Anfall erholt hatte. Die Gefangene lag zusammengekrümmt auf der Pritsche.

"Was ist mit ihr?" fragte er erschrocken. "Wir haben etwas dagegen, wenn uns die Verurteilten vor der Exekution wegsterben. Der Henker lässt sich nicht gerne um seine Opfer betrügen." Der Alte beachtete ihn nicht, zog der Gefangenen die Wolldecke bis zum Kinn und murmelte tröstende Worte. "Macht Euch keine Sorgen, nur ein kleiner Schwächeanfall. Es ist völlig normal, dass einem Delinquenten die Nerven versagen. Lasst sie schlafen! Wir haben alle Angelegenheiten geklärt." Der Alte entfernte sich und packte raschelnd alle Papiere zusammen. Der Wächter hielt ihm die Tür auf.

"Die Verurteilte ist eingeschlafen und sollte von niemanden gestört werden," sagte der Gerichtsschreiber in ernstem, gedämpften Ton. "Besonders nicht von Monsieur Doucette. Seine Anwesenheit würde sie nur aufregen."

"Der Hauptmann kann aufsuchen, wen er will," entgegnete der Mann gleichmütig. "Was er mit der Verurteilten treibt, geht mich nichts an."

"Sie soll bald verhört werden," erwiderte Mandou entrüstet. "Bis dahin steht sie unter Eurer Obhut. Sollte mir zu Ohren kommen, dass ihr auch nur ein Haar gekrümmt wurde, werde ich Robespierre Bericht erstatten. Die Gefangene ist sehr wichtig für Monsieur Robespierre. Ihr wollt Euch bestimmt nicht seinen Zorn zuziehen?"

"Wie mitfühlend von Euch!" bemerkte der Wächter spöttisch. Der Schreiber sah in kühl an, dann winkte er seinem Gehilfen. "Komm mein Junge, ich muss noch zu fünf anderen Gefangenen." Gähnend streckte der junge Mann sich, hob den neben dem Tisch liegenden Krückstock auf und reichte ihn seinem Herrn. Schnell schob er sich an den beiden Männern vorbei, griff das Portefeuille des Gerichtsschreibers und eilte auf den Gang. Der Alte folgte dem Jüngeren und stütze sich schwer auf dessen Schulter auf. "Ich werde langsam zu alt, um mich Tag und Nacht abzurackern," brummte er missmutig, während sie langsam den Gang herunterschlürften. Michael warf einen letzten Blick in die Zelle. Die Gefangen schief ruhig. Der Körper unter der groben Decke hob und senkte sich gleichmäßig. Das Haar hing wirr über die Kissen. Die Kerze war fast heruntergebrannt. Wenn es in der Zelle wieder ganz dunkel war, würde er seinen Lohn einfordern.

Lange harrte er im Gang aus und fragte sich, wann die Kerze wohl gänzlich hinunter gebrannt war. Als er sich gerade dazu entschloss, die Kerkertür wieder aufzusperren, bog Michael Doucette um die Ecke. Er salutierte steif und mit dem Gefühl des Bedauerns seinem Hauptmann.

"Lass mich in die Zelle!" befahl dieser. Griesgrämig kam der Mann der Order nach und sagte. "Die Gefangene hat an einem vorübergehenden Erschöpfungszustand gelitten und schläft jetzt."

Im Verlies war es finster. Angestrengt versuchte Michael durch die Türluke in das Innere zu sehen. Vor Verlangen bekam er feuchte Hände.

"Soll ich eine neue Kerze holen?" erbot sich sein Untergebener.

"Nein!" antwortete Michael barsch. "Verschwinde!" Wütend auf seinen Vorgesetzten öffnete der Wächter die Tür und schlug sie hinter ihm zu. Voller Vorfreude entledigte sich Michael seines Hutes, der Handschuhe und knöpfte den Mantel auf. Begierig bewegte er sich auf die Pritsche zu. Er hörte, wie es raschelte und sich die Gefangene aufsetzte. Sein Bein stieß schmerzhaft gegen den Stuhl. Fluchend schubste er ihn mit einem Fußtritt weg und begann seine Weste aufzuknöpfen. Blind tastete er sich vorwärt und berührte die Pritschenkante. Seine Finger fuhren die Kante entlang und gelangten zu dem Knie der Gefangenen. Er stöhnte lustvoll.

"Jetzt werden wir zu ende bringen, wobei wir unterbrochen wurden." Eine tiefer Männerbass Antwortete ihm aus der Dunkelheit. "Das würde ich nicht tun, Monsieur. Wir würden es beide bitter bereuen!" Je taumelte Doucette zurück und prallte gegen den Tisch.

"Was hat das zu bedeuten? Gagnon!" schrie er fassungslos und wutentbrannt. "Gagnon, komm sofort her!"

Die Tür wurde aufgerissen und fahler Lichtschein drang in die Zelle.

Nicht ohne Würde verbeugte sich Graf de Girodelle und zupfte das dunkelrote Kleid an sich zurecht. "Ihr müsst verstehen Monsieurs, aber ich liebe sie zu sehr, um sie Euch auszuliefern."
 

***

Flucht

Kaum war der Wächter aus der Zelle gegangen, um das Wasser zu holen, hatte Oscar überrascht gesehen, wie der immer noch qualvoll hustende Alte flink aufsprang und die Zellentür schloss. Sein Gehilfe war in den Kerzenschein getreten und hatte seine Mütze abgenommen. Langes Haar fiel ihm über die Schultern und das sanfte Kerzenlicht zeichnete weich die Züge Girodelle's nach. Vollkommen verwirrt sah sie ihn an, regungslos in ihren Bewegungen erstarrt. Auf einmal wusste Oscar, wen sie sehen würde, wenn sie sich umdrehte und den Alten ansah. Auf einmal stachen die vertrauten Züge, hinter der Maskerade aus Falten und runzliger, von Alterflecken durchzogenen Haut deutlich hervor. Wer hatte derart täuschend echt, André in einen greisen Mann verwandelt? Ohne darauf zu achten, ob Oscar ihn erkannte, befahl André ihr das Kleid auszuziehen. Es blieb keine Zeit für eine Begrüßung. Während Oscar weiterhin die beiden Männer unverwandt anstarrte, schlüpfte Girodelle behänden aus seinen Sachen. Endlich war ihr klar geworden, was die Männer im Sinn hatten.

"Nein!" Oscar blieb mit weit geöffneten Augen stehen. "Das könnt Ihr nicht tun, Girodelle, Ihr könnt doch nicht für mich ... "

"Doch, ich kann und werde, liebste Oscar." Der Graf kam zu ihr und umfasste sanft ihre Oberarme.

"Aber, sie werden Euch ..."

Sein Kuss unterbrach ihren Widerspruch. Sie war zu verblüfft, um etwas anderes tun zu können, als ihn mit ungläubigen Gesichtsausdruck anzusehen. Girodelle trat zurück und lächelte.

"Danke," sagte er, dann drückte er ihr seinen Kleiderbündel in den Arm und drehte sich wieder weg. André sah sie flehend an. Girodelle würde sich nicht von seinem Vorhaben abringen lassen. Er hatte so viele Jahre unter ihrem Befehl gearbeitet, doch von der Größe seines Herzens hatte sie bis zu diesem Augenblick nichts geahnt. Seufzend begann Oscar sich in fliegender Hast umzukleiden und gab ihr Kleid Girodelle. Rasch setzte sie sich die Jakobinermütze auf und stopfte ihr langes Haar darunter. André bückte sich und strich mit den Händen über die Steine, um den Schmutz in ihrem Gesicht zu verteilen. Dann betrachtete er sie und nickte zufrieden. Der Graf sah sie traurig an und lächelte schräg. Das Kleid spannte sich eng und lächerlich um seinen Oberkörper.

Im gleichen Moment hörten sie den schlürfenden Gang des Aufsehers näherkommen. Girodelle sprang in das Bett, drehte sich zur Wand und zog die Decke bis zum Kinn. André schob das Licht von ihm weg, dass seine Gestalt in eintönigem Grau verschwand. Flugs ging er zu der Pritsche und beugte sich über die vermeintlich Inhaftierte. Unwillkürlich erstarrte Oscar. Sie befürchtete sofort erkannt zu werden. Zu ihrem Glück beachtete der Wächter den Gehilfen des Schreibers nicht weiter und richtete seine Aufmerksamkeit auf die ruhende Gestalt. Die folgenden Minuten wurden zur Qual. Mit scheinbarer Gelassenheit sprach André mit ihm und packte seine Sachen zusammen. Schlürfend und auf Oscar gestützt bewegte er sich behäbig den Gang entlang.

Ständig rechnete sie damit, zum Stehenbleiben aufgefordert zu werden. Oscar atmete erleichtert auf, als sie unbehelligt den ersten Trakt passierten. Doch bei jedem weiteren Kontrollpunkt und dessen Wächtern, an denen sie vorbei mussten, fürchtete sie entlarvt zu werden. Sie sehnte sich nach dem trügerischen Schutz ihres Degens. Es war zermürbend, wenn die Wächter mit dem vermeintlichen Gerichtsschreiber einige freundliche Worte wechseln wollten. Sie langweilten sich, während sie an den Kontrollpunkten Wache standen und nutzten das Kommen und Gehen von Besuchern, um sich die Zeit zu vertreiben. Weder André, noch sie, waren geübt darin, jemand anderes vortäuschen zu müssen. Mit angespanntem Gesichtsausdruck zeigte André die offiziell ausgestellten Papiere vor.

Sie kamen in die obere Etage. André hatte eine günstige Tageszeit gewählt. Es war schon später Nachmittag und das Tageslicht fiel nicht ganz so üppig durch die vergitterten Fenster. Das helle Licht hätte mehr Details ihrer Verkleidung enthüllt, als der Fackelschein, der unteren Etagen. Trotzdem musste Oscar nach den Tagen im dunklen Kellergeschoss die Augen zusammenkneifen. Unwillkürlich wollte sie schneller ausschreiten, doch André verstärkte den Druck auf ihren Schultern, um sie zurückzuhalten.

"Geh langsamer," befahl er leise. "Und halte den Kopf gesenkt." Endlich kam der Ausgang in Sicht und sie passierten den letzten Posten.
 

Aus dem Schatten der hohen Gefängnismauer trat ein junger Mann in der üblichen blauen Uniform der Wache. Das halblange blonde Haar war zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Oscar zog unwillkürlich die kalte Luft ein. Sie erkannt André's undurchsichtigen Begleiter sofort. Ihre Beunruhigung legte sich etwas, als Alan ihm aus dem Schatten folgte, aber sie verschwand nie ganz.

Jean-Luc hatte ungeduldig mit Alan an der Nordseite ausgeharrt. Sie sollten nur im äußersten Notfall eingreifen. Beide trugen die Uniform der Gefängniswärter. Alan stand gelassen an der Wand gelehnt und trug die Uniformjacke mit der Selbstverständlichkeit eines Soldaten. Er bemerkte, wie ihn sein Begleiter unauffällig zu beobachten versuchte, um seine Gebärden nachzuahmen. Jean-Luc war ihm einfach zu blasiert und affektiert, um seine Sympathie zu erringen.

Jean-Luc trat quarrig von einem Bein auf das andere. Ihm fehlte der Schutz seines Gönners Robespierre's. Angestrengt überlegte er, ob sich sein Einsatz bei dieser Sache lohnen würde. Bei den Gedanken, für welchen Einsatz André sein Leben aufs Spiel setzte, rümpfte er die Nase. Es gab so viele willige, schöne Frauen in Paris. Er seufzte geziert, warum musste es dieses Mannsweib sein?

Die grau-braune Gestalt eines vom Alter gebeugten Mannes kam in Sicht. Ein wesentlich jüngerer Mann, von schlanker Gestalt stützte ihn. Durch André's Verkleidung als betagter Greis waren sie weiterhin zu langsamen Schritten verdammt. Mit einigem Abstand folgten Alan und Jean-Luc den Beiden. Sie tauchten in den Seitenstraßen unter, so dass die Männer auf das ungewöhnliche Paar aufschließen konnten. Sie folgten den dunklen, engen, verwinkelt angelegten Gassen. Vorbei an verwahrlosten Gebäuden und baufälligen Kirchen. Es waren zu dieser Stunde nicht viele Leute in den Straßen unterwegs. Einige Männer lungerten herum, Weinflaschen in den Händen, hörbar betrunken. Oscar warf weiterhin scheele Seitenblicke auf Jean-Luc. War es richtig diesen Mann zu trauen? Andererseits war es nicht von der Hand zu weisen, dass er einen erheblichen Teil zu ihrer Flucht beigetragen hatte. Unbehaglich sah sie mehrfach zurück, ob sie verfolgt wurden. Mittlerweile befanden sie sich in einer Straße, die belebter war als die Gassen, durch die sie zuvor gekommen waren. Beschwingte Musik drang aus einer Taverne am anderen Ende; Weiber in offenen Umhängen, unter denen man Kleider mit tiefen Dekolleté' s und enganliegenden Miedern sah, hielten nach Freier aus schau. Gackernd schrieen sie ihnen hinterher. Versteckt in hinter seiner Maskerade zwinkerte André ihnen zu, lehnte aber ihr Angebot, mit dem Hinweis auf seine gichtgebeugten Glieder dankend ab. Die Huren quittierten schallend lachend seine Antwort.

Die harten Schritte mehrere Menschen, im Laufschritt hallten über das Pflaster. Stimmen wurden laut. Ein halbes duzend Wächter der Conciergerie bogen um die Ecke. Man hatte sie gefunden. Die Gewehrkolben auf sie gerichtet, näherten sich die Wachleute der kleinen Gruppe.

"Schnell, in die Seitengassen!" Alan übernahm die Führung und eilte voraus. Vergessen war André's Verkleidung als alter Gerichtsschreiber. Verwundert registrierten die käuflichen Damen am Straßenrand, wie der vermeintliche Greis seine Tasche fester packte und erstaunlich schnell, mit weit ausholenden Schritten über die Straße lief. Sie bogen in mehrere Gassen ein, bis diese so eng wurden, das die Straße nicht mehr als 12 Fuß zwischen den hohen Wohnhäusern maß. Ein dünner Rinnsal Schmutzwasser lief zwischen den grob verlegten Pflastersteinen. Das große Schild einer Wäscherei wies mit seinen abgeblätterten Lettern auf ihren Firmensitz. In Laugenwasser gewalkte Tücher aus groben Leinen hingen auf unzähligen über die Straße gespannten Seilen. Mit eingezogenen Köpfen tauchten Oscar und ihre Begleiter zwischen den Laken hindurch. Das Wasser der Tücher rann ihnen in den Nacken.
 

Alan hielt abrupt. Der Ausgang der Gasse war ihnen versperrt worden. Ihre Verfolger hatten sich getrennt. Drei berittene Wächter schnitten ihnen von der einen Seite der Gasse den Weg ab, während ihre Kameraden von der anderen Seite unaufhaltsam näher kamen.

"Die Straße ist zu eng. Sie können uns nicht von ihren Pferden aus angreifen," stellte Oscar ruhig fest.

Alan nickte bestätigend. "Wir teilen uns. Jean-Luc, du hältst uns den Rücken frei, während André und ich uns den Weg freikämpfen!" befahl er.

Nervös zückte der junge Mann seinen Degen. Der Schweiß perlte ihm von der Stirn und rann in seine Augen. Ihm fehlte es an der nötigen Praxis, was den Umgang mit dem Schwert betraf. Stirnrunzelnd sah Oscar ihm zu, wie er geckenhaft hin und her tänzelte. Seine Beinhaltung war falsch und der Degen lag viel zu verkrampft in seiner Hand. Oscar verzog angesichts seiner affektierten Verrenkungen unwillig das Gesicht. Der erste Wächter kam schon in Sicht. Er kämpfte noch mit den nassen Leinenstücken, während er versuchte zu ihnen zu gelangen.

Jean-Luc legte das Gesicht angestrengt in Falten. "... von der Terz zur Septim. En tieree, nach links oben und zustecken ...," murmelte er leise, dass Lehrbuch aus dem Gedächtnis herunter, ohne wirklich zu wissen, was er tat. Dabei hüpfte er von einem Bein auf das andere und durchschnitt die Luft mit der Schwertklinge, gefährlich nah in der Reichweite seiner eigentlich Verbündeten.

"Sehr schön." Oscar trat zur eigenen Sicherheit, einen Schritt beiseite. "Wollt Ihr nicht lieber Eure Pistole ziehen und den Degen mir überlassen?" Ihre Augen blitzten spöttisch.

Jean-Luc unterbrach je seine Bemühungen. Überheblich sah er sie an. "Ganz sicher nicht, Mademoiselle. Wir befinden uns im Kampf."

"Eben drum," warf Alan ein, umfasste sein Handgelenk und riss ihm den Degen grob aus der Hand. "Das Gefuchtel kann ja niemand mit ansehen. Knall sie einfach ab!" Er hielt das Schwert Oscar hin. Überrascht schnappt Jean-Luc nach Luft, wie ein auf Land gestrandeter Fisch. Bevor er widersprechen konnte, war auch schon der erste Wächter bei ihnen. Oscar umfasste den Schwertgriff fester. Die enge Gasse gab ihren Angreifern nicht die Möglichkeit mit mehr als zwei Männern nebeneinander zu kämpfen. Grimmig parierte Oscar der Schwerthiebe ihrer Widersachers. Die geschmeidigen Bewegungen kamen von ganz allein. Ein blutiger Tanz, der den Tod dieser Männer forderte, wenn ihre Flucht gelingen sollte. Auch Alan und André hatten leichtes Spiel mit ihren Kontrahenten, da diese in der Degenführung weit weniger geübt waren.

"Eins muss ich Euch lassen, Mademoiselle. Den Degen führen könnt Ihr." räumte Jean-Luc ein, während er kaltblütig einen der Wächter niederschoss. Der akkurate Schuss durch den Lungenflügel des Mannes, gab ihm etwas von seinem angeschlagenen Selbstbewusstsein zurück. Röchelnd erstickte der Mann in seinem eigenen Blut.

"Obgleich Frauen, für meinen Geschmack, andere Vorzügen vorweisen sollten." Er suchte in ihrem, von Dreck und Schatten verborgenem Gesicht nach Regungen. Der Schmach über seine minderwertigen Kampffähigkeiten saß noch tief.

Jean-Luc hätte sich besser auf den Kampf konzentrieren sollen, anstatt soviel zu reden. Sein Leichtsinn sollte ihm fast das Leben kosten. Einer der Wächter nutzte seine Nachlässigkeit und stürzte sich auf den jungen Mann. Im letzten Moment sprang dieser zur Seite, hatte jedoch soviel Schwung, dass er gegen Oscar prallte. Seine Knie trafen ihre Beine, sein Gewicht riss sie zu Boden. Der Degen entglitt ihren Händen. Benommen versuchte Oscar auf die Beine zu kommen, aber die Wucht des Aufpralls hatte ihren Körper wie gelähmt. Betäubt lag sie am Boden und sah ihren Angreifer entgegen.

Noch zögerte der Mann. Widersprüchliche Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht wieder. Sein Blick glitt unschlüssig zu ihr, dann zu seinen toten Kameraden. Das Verlangen nach Rache und Blut verzehrte seine Züge. Er umfasste das Schwert fester und stieß zu. In deutlicher Langsamkeit sah Oscar die tödliche Spitze näherkommen, ohne dass sie sich hätte bewegen können. Bevor die Spitze ihr Ziel fand, spürte sie, wie sie herumgerissen wurde und ein Körper sie schützend barg. Die Klinge durchschnitt Stoff, Muskeln und Fleisch. Tief bohrte sie sich in André's Schulter. Oscar schrie auf, als der warme Männerkörper über ihr zusammenbrach. Hass und Angst überschattete ihr Denken. Ihre Hand fand ohne ihr Zutun den Schwertgriff und sie stieß zu. Die Schwertspitze durchbohrte den Brustkorb des Mannes. Mit gebrochenen Augen sank er tot zu Boden.

Vorsichtig umfasste Oscar die Schultern ihres Gelieben und schüttelte ihn sanft. Andre stöhnte qualvoll. Seine Lider flatterten, dann öffnete er sie langsam. Seine Augen versuchten sie zu erfassen.

"Bist du verletzt?" Seine Stimme war nur ein leises Röcheln. Oscar verneinte. Mit einem beruhigten Seufzer drückte er sie mit seinem unverletzten Arm an sich. Oscar hieß die Wärme seiner Arme willkommen. Sie drückte ihn an sich und sog den feinen Geruch, der seiner Haut und den Haaren entströmte ein. Sie fühlte sein Herz im Gleichklang mit ihrem schlagen, gleichmäßig und kraftvoll. Sie war wieder zu Hause.

"Komm, mein Freund!" Alan half André vorsichtig aufstehen und schlug leicht auf dessen Wangen, bis sein Blick sich klärte. "Bleib bei Kräften, bis wir da sind! Wir müssen jetzt genügen Abstand zwischen uns und unseren Verfolgern bringen. Ich denke, die Verstärkung wird bald zu uns aufgerückt sein. Dann wird es hier sehr ungemütlich." Mit schmerzverzehrtem Gesicht lehnte sich André an die Hauswand. Der Schmerz ließ sein Umfeld für einen kurzen Moment vor seinen Augen verschwimmen. Besorgt umfasste Oscar seine Mitte, um ihn zu stützten. Alan flankierte seine andere Seite. Er hatte die Uniformjacke ausgezogen und achtlos in den Schmutz geworfen. Unbeachtet blieb sie im Straßendreck liegen.

"Was mich wundert ist, dass sie nicht den Versuch unternommen haben, auf uns zu schießen." Alan's Blick glitt düster zu dem blonden Mann. "Ich frage mich warum."

Jean-Luc rappelte sich benommen vom Boden auf und zuckte nichtwissend die Schultern. Sein Gesicht strahlte die gewohnte Arroganz aus. Seine Augen ruhten auf André's Verletzung. Das Blut durchtränkte die Jacke. Mehr und mehr breitete sich der tiefrote Fleck aus. Er biss sich auf die Lippen und wandte sich schnell, mit seltsam erregten Blick in den Augen, ab. Mit den argwöhnischen Blicken der Anderen in seinem Rücken setzte er sich an die Spitze und lief er voran. Alan und Oscar stützten den verletzten André.

Ihre Schatten verschmolzen mit der Dunkelheit. Die Sonne hatte ihre Reise am Horizont beendet. Das Zwielicht der Abenddämmerung glitt in das tiefe Dunkel einer mondlosen Nacht über.
 

***

Verrat

Die enge Treppenstiege knirschte und knarrte bedrohlich unter ihren Füßen. Und es war dunkel, so dunkel, als hätte jemand die Schwärze der Nacht mit der Hand herausgepresst und in dieses Treppenhaus gesteckt. Finger tasteten sich langsam über die schimmlige Kalkwand, Füße suchten vorsichtig ihren Halt. Alan spürte, wie sein Fuß auf etwas weiches, lebendiges trat. Es quiekte schrill. Irgendwo miaute eine Katze triumphierend und nahm die Jagd auf. Endlich waren sie am Dachstuhl angelangt. Hier würde ihre Flucht vorerst enden. Alan stieß die Tür mit einem Fußtritt auf. Sein rechter Arm ertastete sich den Weg, sein linker Arm hielt stützend seinen verletzten Freund. Er konnte den süßlichen Geruch nach Blut riechen, der von André's Arm ausging.

"André, alter Junge, du hast es gleich geschafft. Halte durch!" Der Weg war zu lang gewesen. Erst hatten sie erwogen, die Pferde der toten Wachleute zu benutzen, aber Alan befürchtete, dass die Tiere den langen Arm der Gesetzbarkeit zu ihnen führen würde. So musste der Weg zu Fuß zurückgelegt werden und mit dem hohen Blutverlust schwand André's Kraft zusehenst. Besorgt presste Oscar Stofffetzen auf die Wunde. André benötigte Ruhe und einen Arzt.

Silbriges Mondlicht fiel durch vereinzelte Spalten im Dach und taucht den Dachspeicher in gespenstiges Licht. Hohe Balken stützten das schwere Dachgerüst. Es roch nach vermodertem Holz und Staub. Der größte Teil des Dachbodens war unbebaut und wurde als Rumpelkammer benutzt. Überall standen Kisten und ausrangierte Möbelstücke herum.

Nur der Mittelteil, in dem das Dach nicht ganz so schräg abfiel, war eine Wohnung eingelassen worden. Es waren nur zwei kleine, spärlich möblierte Zimmer. Jemand hatte versucht in aller Eile das Nötigste herzurichten. Noch immer lag in den Ecken Staub von jahrelanger Vernachlässigung. Die staubblinden Dachfenster verbargen mit ihrer beschmierten Scheibe den Blick in die Außenwelt. Rosalie hatte für sie gesorgt, indem sie frische Decken, neue Kleidung, Kerzen, Wasser und Essen bereitgestellt hatte. Asche und Putz rieselten im breiten Kamin herunter, als die Tür ins Schloss fiel. Vorsichtig ließen sie André auf die schmale Bettpritsche nieder. Traurig sah das Bild der Muttergottes auf den Verletzten nieder und wachte über ihn. Das Rad der Zeit, hatte alle kräftigen Farben ausgeblichen. Oscar kniete vor seinem Bett und drückte besorgt André's Hand. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Die Erschöpfung grub Falten in sein Antlitz. Angst umklammerte ihr Herz. André lächelte sie tapfer und aufmunternd an, dann überließ er sich seiner Schwäche und schloss die Augen.

"Wir brauchen einen Arzt!" Oscar sah bittend zu Alan hoch. "Schnell!"

Dieser nickte. "Ich werde sofort jemanden holen. Jemanden, denn wir vertrauen können." Alan sah sich nach Jean-Luc um, aber dieser war im Nebenzimmer geblieben. Er beugte sich runter und legte Oscar beruhigend die Hand auf die Schulter. "Keine Angst, André wird wieder zu Kräften kommen. Ich werde auch Bernard benachrichtigen, aber du behältst besser unseren Freund im Augen. Ich traue ihm nicht!"

"Ich auch nicht," bestätigte Oscar. Sie nickte Alan dankbar zu.

Kurz nach Alan verschwand, war auch Jean-Luc spurlos verschwunden. Mit der fadenscheinigen Ausrede, die Gegend nach eventuellen Verfolgern abzusuchen, verließ er die kleine Wohnung. Doch Oscar war zu sehr um André besorgt, um sich über sein Verschwinden Gedanken zu machen. Wenn er sie verraten wollte, so könnten sie daran nichts mehr ändern.
 

Oscar nutzte die Zeit, um Feuer zu entzünden und Wasser aufzusetzen, damit sie André's Wunden säubern konnte. Mit Stoffstreifen aus einem der frischen Hemden verband sie die Schulter und hoffte, dass der Blutstrom versiegte. An sich war eine Stichwunde am Schulterblatt, wenn sie die Knochen verfehlte keine lebensgefährliche Verletzung. Vorrausgesetzt der Patient bekam Ruhe und ausreichend medizinische Versorgung. Beides war André bisher nicht vergönnt gewesen. Statt dessen zwang ihn Oscar's Flucht zu einem Gewaltmarsch durch Paris, der ihm im günstigsten Fall eine steife Schulter einbrachte; im schlimmsten Fall eine Blutvergiftung durch Infektionen und das langsame Verbluten.

André schlief fiebrig. Sein Atem ging stoßweise und seine Augenlider flackerten. Oscar konnte nichts mehr tun, als beten und an seinem Bett zu wachen. Sie hielt André's Hand und wartete. Eine Hand war warm und zuckte unruhig.

Erst etwas später bemerkte sie, dass seine Hand ruhig in ihrer lag und sein Blick ihren unsicher suchte.

André spürte einen Kloß im Hals. Unbehaglich sah er sie an. Oscar musterte ihn besorgt. Sie hatte sich, so gut es eben ging, den Gefängnisschmutz aus dem Gesicht gewaschen und Girodelle's Verkleidung gegen saubere Kleidung getauscht. Oscar trug weiterhin Männerkleidung. So fühlte sie sich sicherer. Das Haar fiel goldglänzend über die schmalen Schultern herab.

"Oscar, ich habe niemals aufgehört, dich zu lieben." Seine Stimme brach. "Ich verachte mich dafür, dass ich dir Schmerzen zufügen musste. Aber du musst mir glauben, ich liebe dich mehr als alles auf der Welt! Ich musste es tun, um dich zu retten."

"Das weiß ich." Oscar's Gesicht wurde sanfter. Dann wurde sie wieder ernst. "Aber warum hast du mir nicht gesagt, was Robespierre vor hat? Wir hätten uns wehren können. Wir hätten ihn bekämpft."

"Das ist es ja," wandte André ein. "Du kennst keine Angst und du unterschätzt Robespierre. Glaube mir, Oscar. Das ist der größte Fehler, dem man diesem Mann gegenüber begehen kann."

"Doch ich kenne Angst, André. Ich habe Angst mich umzudrehen und dich nicht mehr hinter mir zu wissen." André schüttelte heftig den Kopf. "Nein, ich werde dich nicht mehr verlassen, nie mehr!" Oscar seufzte und enthielt sich einer Antwort. In ihrem Inneren kämpften ihre Gefühle.

"Ich liebe dich, André!" flüsterte sie schlicht. Obwohl sie vieles sagen wollte, fand sie keine Worte.

Die Tür schwang auf und Alan kam in Begleitung eines älteren Herrn herein. Die schwere abgenutzte Tasche wies ihn als Arzt aus.

Oscar trat zurück. Sie sah dem Arzt über die Schultern und beobachtete jeden seiner Handgriffe.

"Alan?" flüsterte sie und winkte ihn zu sich. "Unser blonder Begleiter ist verschwunden."

Alan hob fragend eine Augenbraue und sah über die Schultern.

"Jetzt ist er wieder da," sagte er. Seine Abneigung und sein Misstrauen standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. "Er sitzt drüben und starrt ins Feuer."

"Er wird uns verraten," flüsterte Oscar. "Oder hat es wahrscheinlich schon getan."

"Das bleibt abzuwarten," erwiderte Alan. "Durch André's Verletzung sind uns ohnehin die Hände gebunden. Wir müssen hier bleiben und abwarten." Der Arzt sah sich um und warf beiden einen bitterbösen Blick zu. Sein Patient hatte Teile des Gesprächs mitgehört, weil Alan die Stimme erhoben hatte. Alarmierend setzte sich André auf. Unnachgiebig drückten ihn der Arzt auf das Bett zurück und zischte Oscar und Alan ärgerlich zu, sie sollten leiser sein oder das Zimmer verlassen. Betreten schwiegen beide, aber Sorge und dunkle Vorahnungen standen weiterhin auf ihren Gesichtern geschrieben.
 

Angewidert betrachtete Jean-Luc sein Taschentuch. Der Versuch, die schmutzgraue Schicht auf der Fensterscheibe zu entfernen, hatte seine Spuren auf dem blütendweißen Tuch hinterlassen. Mit spitzen Fingern schmiss er das Tuch in den Kamin, strich gewohnheitsmäßig einen der blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht und trat wieder an das Fenster. Er war kurz vor Alan zurückgekommen und wusste, dass André gerade von einem Arzt untersucht wurde. Jean-Luc schnaubte verächtlich. Als ob das jetzt noch eine Rolle spielen würde.

Noch immer konnte er nichts hinter der Scheibe erkennen. Die Nacht tauchte die Stadt in Finsternis. Das helle Mondlicht beschien lediglich die hohen Dachgiebel und Kirchturmspitzen. Bis in die Gassen drang es nicht,

aber sie waren dort unten. Jean-Luc wusste es, denn er hatte sie gerufen.

Sobald der Arzt André verließ, würde er seine Belohnung einfordern. Besaß er endlich, seine Informationen, von denen er sich soviel erhoffte, dann konnte den Rest Robespierre übernehmen. Tief im Schatten verborgen, wartete Robespierre auf sein Zeichen.

Jean-Luc fühlte, wie das Gefühl der Unsicherheit sein Rückrat hoch kroch. Es war anstrengend, sich wie ein Aal durch die Intrigen zu winden, um nicht selbst in die Fallen zu tappen, die er so eifrig für andere auslegte. Er wollte nicht länger nur ein einfacher Handlanger sein. Viel zu lange übernahm er schon die Drecksarbeit für Robespierre. Vielleicht sollte er André gestehen, dass er sie an Robespierre verraten hatte? Ihnen aber die Flucht versprechen, im Austausch gegen ihre Informationen? Sie war viel wertvoller, eine enge Vertraute der Königin, was wusste schon ein ehemaliger Lakai? Doch waren sie so dumm, ihm zweimal Glauben zu schenken? Ganz sicher nicht. Robespierre musste sich ihrer annehmen ...

Das Bild, wie sich die Schwertklinge in André's Schultern bohrte, als dieser sich schützend über seine Geliebte warf, stieg hinter seinen geschlossenen Lidern vor. ... er hatte Blut geleckt ... nicht, Robespierre, er Jean-Luc musste sich ihrer annehmen. Er würde sie bluten lassen. Die Frau, weil in ihren Adern adliges Blut floss, weil sie alles verkörperte, was er hasste, weil er in ihren Augen Arroganz und Hochmut zu sehen glaubte, weil sie ihn verhöhnt hatte. Ihn, weil er sie liebte, weil seine Selbstlosigkeit, sein Herz, sein Edelmut, Eigenschaften waren, die er nicht besaß und das demütigte ihn. Gierig fuhr seine Zunge über die schmalen Lippen.
 

***

Loyalität

Als das Jahr 1789 sich langsam dem Ende neigte, waren die Menschen Frankreichs überzeugt, einer besseren Zeit entgegen zu gehen. Stürmisch war die Zeit für die Menschen, stürmisch kam der Herbst über Paris.

Ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Die Temperaturen in dieser Nacht sanken unter Null Grad. Sollte dem kalten Herbst ein noch eisiger Winter folgen? Ein Winter, der dem von 1707/1708 gleich kam, mit seiner todbringenden Kälte? Damals waren Postbeamte erfroren von ihren Pferden gefallen, Herde und Ernte elendig verreckt.

Die Männer drückten sich näher in den Schutz der Häuser und zogen ihre Umhänge enger.

Robespierre sah zum Fenster hoch. Das dunkle Feuer seiner Augen war zu Eis erstarrt, der Unterkiefer unnachgiebig vorgeschoben. Seine Augen tränten durch den kalten Wind, aber er wendete den Blick nicht ab. Er hörte, wie sich hinter ihm Schritte näherten. Ein Schatten trat neben seinem und weißer Atem blies in die dunkle Nacht. Die ferne Kirchenglocke schlug zur ersten Stunde nach Mitternacht.

"Bonjour, Maximilian." Langsam wandte sich Robespierre dem Eigentümer des Schattens zu. Sein Gesicht zeigte kein Willkommen. Der frostige Zorn in seinem Herzen, hatte seine Gesichtszüge erstarren lassen. Bernard hauchte sich den warmen Atem, in die vor Kälte schmerzenden Hände. Seine Augen folgten Robespierre's Blick zum Fenster hoch.

"Lass sie gehen, Maximilian!" bat er, ohne diesen anzusehen. Robespierres dunklen Augen verrieten noch immer keine Regung, geschweige denn, ein Einlenken.

"Stellst du dich auch gegen mich?" fragte er schließlich. Bernard lächelte verhalten.

"Nein! Meine Ideale, meine Arbeit als Journalist hast du geprägt. Ich verdanke dir viel und ich kämpfe an deiner Seite den Kampf für ein besseres Frankreich. Du hast keinen Grund an meiner Loyalität zu zweifeln." Robespierre zog misstrauisch die Stirn in Falten, aber er schwieg. Er richtete den Blick wieder hinauf zum Dachfenster. Das Atmen tat in der Kälte weh. Robespierre verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein. Das taube Gefühl durchfrorener Füße zog durch seine Zehen.

"Loyalität?" sagte er endlich, mit einem bitteren Unterton in seiner Stimme. "Ein Wort, dem man in dieser Zeit keine Bedeutung mehr beimisst!" Die letzten Wochen des Verrats hatten einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. "Mit Vertrauen und Verlass verhält es sich ganz ähnlich. Treulosigkeit und Verrat, dies sind Eigenschaft dem der Vorzug gegeben wird."

"Ja, ich weiß. Vertrauen wirst du niemanden mehr, Robespierre! Du wirst überall Misstrauen und Heimtücke sehen. Daran wirst du zugrunde gehen und andere mit in den Abgrund reißen!" erwiderte Bernard. "Deshalb willst du diese beiden Menschen dort oben dafür büßen lassen."

"Ich weiß, welche Rolle du bei diesem possierlichen Bühnenstück spielst. Sei froh, dass ich meine Aufmerksamkeit noch auf deine Freunde richte," drohte Robespierre schneidend. "Ich bin deiner Einmischungen leid. Ja, sie werden dafür büßen. Sie und dieser alberne Adlige, der jetzt an ihrer statt in der Conciergerie sitzt. Sie entkommen mir nicht. Die Zeit hat mich gelehrt Ergebenheit und Gehorsam mit Angst und Kontrolle zu fesseln. Zeige Erbarmungslosigkeit gegen seine Feinde, sonst wirst du nicht bestehen."

"Sie sind nicht deine Feinde, Robespierre. Sie haben an diesem Ringen um Macht und Behauptung keinen Anteil. Du hast André und Oscar übel mitgespielt. Es ist an der Zeit sie gehen zu lassen. Glaubst du wirklich, einer der Beiden könnte dir wertvolle Informationen liefern?" Bernard lachte trocken. "Sie haben sich nie mit den Intrigen Versailles befasst und Oscar Francois de Jarjayes hat ihre Loyalität zum Volk bewiesen, indem sie sich gegen ihren Rang und ihre Herkunft stellte, um für uns zu kämpfen. Selbst wenn sie etwas wissen, wird ihr Wissen dir nichts nützen.

Aber hier geht es nur um das Prinzip, nicht war, Maximilian?" fragte Bernard. "Du hast dir diese zwei Menschen aus der gesichtslosen Masse derer, die du als deine Feinde betrachtest gegriffen und verurteilst sie für alle anderen?"

"Wie geht es deiner Frau, Bernard?" fragte Robespierre und sah ihn an. "Ich hoffe, sie befindet sich wohl?"

"Willst du mir wirklich drohen?" sagte Bernard ohne die Frage zu beantworten. "Ich werde ihnen auch weiterhin helfen," fuhr er fort. "Weil meine Loyalität Oscar genauso gilt, wie dir. Sie hat mir damals das Leben gerettet und ihr Edelmut verdient meinen Respekt. Du kannst nicht jede Loyalität mit Schmutz kaufen.

Und ich sage dir noch etwas. Morgen wird die Geschichte eines unglücklichen Adligen herauskommen. Frisch gedruckt. Die wahre Begebenheit einer unerfüllten Liebe eines Grafen. Auch der Name des ehemaligen Kommandeur der königlichen Leibgarde wird fallen und ihre Rolle in dieser Revolution. Ich werden ihnen Unsterblichkeit verleihen. Es wird reißenden Absatz finden. Du kennst die Macht des Volkes, unterschätze es nicht.

Noch ist dein Name in dieser Geschichte nicht gefallen ...." Bernard lächelte still. Er hatte sich nie als Buchautor gesehen und Geschichten, wie die des Grafen de Girodelle würden bestimmt nicht sein Genre bleiben. Doch nicht ohne Grund, war er stolz auf sein Werk, welches schon in der ersten Auflage gedruckt, zum Verteilen bereit in einer geheimen Druckerei lag. Er sah Robespierre ernst und direkt an.

"Ich glaube noch an dich, Maximilian und an unsere Ideale. Ich glaube, dass du noch großartiges vollbringen wirst. Du brauchst mich nicht mit Gewalt an deine Seite binden. Du kennst mich, du weißt, dass ich die Wahrheit spreche. Richte dein Augenmerk lieber auf deine anderen Gefolgsleute. Dort solltest du den Verräter suchen." Sein Kopf wies zum Dachfenster hoch. "Ich verabschiede mich, Maximilian. Ich bin müde, mir ist kalt und ich bin der Intrigen leid, Adieu." Mit diesen Worten verließ Bernard ihn. Was Robespierre tun würde war ungewiss, aber es gab nichts mehr zu sagen. Robespierre sah ihm nicht nach. Sein Blick war weiterhin unverwandt auf das spärlich beleuchtete Dachfenster gerichtet. Seine Gefolgsleute im dunklen Schatten der engen Gassen murrten leise über die klirrende Kälte und die zermürbenden, zum Warten verdammten Stunden.
 

Das Feuer knisterte und flüsterte leise im Kamin. Der Geruch nach verbrannter Asche vermischte sich mit der abgestandenen Luft. Jean-Luc öffnete die Läden einen spaltbreit und zog die kalte Nachtluft aufatmend ein. Die klare Kälte der Luft vertrieb die Schläfrigkeit aus seinem Kopf. Er wartete. Der fortgeschrittene Zeiger seiner Taschenuhr zeigte ihm, dass er schon seit geraumer Zeit wartete. Im Nebenraum war es still. Keine Laute drangen durch die dünnen Türblätter zu ihm. Die völlige Stille in der kleinen Wohnung hatte etwas endgültiges. Er warf einen erneuten Blick auf das Ziffernblatt. Es war schon zu viel Zeit vergangen. Der Arzt müsste seine Untersuchung schon längst abgeschlossen habe, aber um die Dachwohnung verlassen zu können, hätte dieser an ihm vorbei gemusst. Es war Zeit nach dem Rechten zu sehen. Robespierre würde nicht mehr lange untätig bleiben.

Mit einem letzten Blick in die Nacht hinaus, zu den Männern, welche verborgen im Dunkeln unten warteten, wandte er sich der Zimmertür zu. Er hob den Handknöchel zu einem diskreten Anklopfen und drehte langsam den Türknauf. Die Tür schwang auf. Das Bett vor der kargen Mauerwand wurde sichtbar... und zu Jean-Lucs Leidwesen nur das Bett. Sein Besitzer fehlte. Einzig die zerknüllte Decke wies auf seine Benutzung hin. Entgeistert drückte er die Tür ganz auf und trat in das Zimmer. Vor dem Bett blieb er stehen. Jetzt sah er deutlich die einzelnen Blutspuren auf dem Laken und die Einbuchtung eines Körper, der hier unlängst lag. Jean-Luc ließ fassungslos seinen Blick von dem Seitenwänden zu dem verlassenen Bett wandern.

Er war entsetzt. Sie konnten doch nicht weg sein. Sie hätten an ihm vorbeigemusst. Der Ausstieg aus dem Fenster war nicht möglich und eine zweite Tür gab es nicht. Sie konnten nicht einfach alle verschwunden sein. Spätestens das Klicken einer entsicherten Schusswaffe in seinem Rücken brachte ihn zu der Erkenntnis, dass doch nicht alle fort waren.
 

Wieder hörte es Robespierre hinter sich knacken, gefolgt von spuckendem Geräusch. Mit tödlicher Gereiztheit im Blick drehte er sich um und musterte den Mann hinter sich. Dieser sah gelangweilt auf seine Fingernägel, hob die Hand und sah Robespierre ins Gesicht. Bestürzt hielt die Hand auf halbem Weg zum Mund inne und verschwand schnell unter dem Umhang. Mürrisch wendete sich Robespierre wieder dem Haus zu. Noch immer kein Zeichen. Er hätte im warmen Bett bleiben und seinen Männern diese Aufgabe überlassen sollen. Warum nur nahm er sich der Sache persönlich an?

Er klappte den vergoldeten Deckel seiner Taschenuhr zu und ließ sie wieder in die Manteltasche gleiten.

"Wir gehen!" Ohne sich nach seinen Männern umzusehen, trat er aus der Gasse und schritt auf den gegenüberliegenden Hauseingang zu. Seine vier Gefolgsleute folgten ihm. Es gab ein kurzes Gerangel an der schmalen Eingangstür, weil drei der alles andere als schmal gebauten Männer gleichzeitig eintreten wollten, dann tauchten sie in die konturenlose Finsternis des fensterlosen Flurs ein. Ihre Schritte polterten laut die Treppe hinauf.
 

***

Verwirrung

Der kalte Lauf der Pistole bohrte sich in seinen Rücken. Es war still geworden. Er hörte den ruhigen Atem des Anderen hinter ihm. Stoff raschelte leise.

"Rührt Euch nicht!" Bevor er die Stimme in seinem Rücken zuordnen konnte, hatte er schon den zarten Duft gerochen, der Haut und Haare entströmte, als sein Gegner näher trat, um ihm seine Schusswaffen und den Degen zu entwenden. Jetzt wusste er, wer hinter ihm stand.

"Setzt Euch auf den Stuhl und nehmt die Hände nach hinten!" befahl Oscar und drückte ihm die Pistole stärker in sein Rückrat. Jean-Luc gehorchte und setzte sich. Gehorsam schob er die Hände nach hinten. Oscar nahm einen Strick aus robustem Hanfseil und band die Hände hinter der Stuhllehne zusammen. Wieder stieg Jean-Luc flüchtig ihr Geruch in die Nase. Sie roch gut. Oscar trat einen Schritt zurück und begutachtete zufrieden ihr Werk. Der Strick saß fest, ohne die Blutzufuhr abzuschnüren. Jean-Luc versuchte die Hand zu bewegen. Anstatt nachzugeben, zog sich der Strick enger um die Handgelenke. Er war gekonnt geknotet worden.

Kalter Schweiß brach ihn ihm aus. Er hatte nicht direkt Angst. Die Ungewissheit war es, die ihm Unbehagen bereitete. Er konnte diese Frau einfach nicht einschätzen. Frauen ordnete er gemeinhin nicht der Kategorie ,Gegner' zu, nahm sie geschweige denn ernst, aber Oscar Francois de Jarjayes gab ihm Rätsel auf. Die, für diese Zeit als üblich geltenden Eigenschaften einer Frau, würde er bei ihr nicht finden und laut den Gerüchten, die im Volk, über die berüchtigte Frau in Männerkleidern kursierten, war sie ein durchaus ernstzunehmender Gegner. Allerdings hatte Jean-Luc den Nachreden bisher wenig Glauben geschenkt. Um seine Unsicherheit zu überspielen, strafte er sie mit Verachtung. In Gedanken schimpfte er sie ein anmaßendes Mannesweib, mit widernatürlicher Lebensweise, die sich schlichtweg überschätzte und mit dem Feuer spielte, bis sie sich verbrannte. Jean-Luc wurde ruhiger. Draußen wartete schon Robespierre und er war ein Mann, der schon schlimmere Situationen gemeistert hatte.

"Wo ist André?" fragte er gleichmütig.

"Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich Euch das verraten werde?" fragte sie sanft. Jean-Luc lächelte spöttisch. "Das ist völlig nebensächlich," erwiderte er. "Ihr seid an keinem Ort in ganz Paris sicher. Robespierre überwachte Euch von Anfang an, keine Eurer Handlungen entging seiner Kenntnis. Es gibt kein Entkommen. Er ist ganz in der Nähe und wartet darauf, sich Eurer annehmen zu können."

"Da bin ich mir sicher. Ich habe es nicht anders erwartet," entgegnete sie belustigt. Kein Groll, kein Zorn lag in ihrer Stimme. Jean-Luc war sich sicher, dass er ein Lächeln auf ihren Zügen sehen würde, wenn er sich zu ihr umdrehte. Sie schien ihrer Sache ziemlich sicher.

"Mit seiner Verletzung wird André nicht weit kommen. Er hat viel Blut verloren," nahm er den Faden weiter auf. "Es kann ihm das Leben kosten. Ihr werdet ihn wieder verlieren."

"Das wird es nicht. André ist stark. Um vieles stärker, als Ihr denkt," sagte sie liebevoll. "Ihr solltet Euch lieber Gedanken um Euch machen!" Jean-Luc lachte trocken auf. "Ihr werdet mir nichts tun," widersprach er.

"André ist ein Narr. Seine Liebe hat ihn angreifbar gemacht. Nur weil Ihr ihm so wichtig seid, konnte Robespierre ihn benutzen. Aber ich bin kein Narr, Madame."

"Ja, ich weiß, Monsieur. Ihr werdet erst ein Narr sein, wenn Ihr gelernt habt, jemanden anderes zu lieben, als nur Euch selbst."
 

"Wollt ihr wohl still sein!" zischte Robespierre seinen Männern zu. Abrupt brachten die Männer ihre stämmigen Körper zum Stillstand. Den weiteren Weg versuchten sie über die Zehenspitzen zu laufen, was ungefähr soviel Lärm machte, als würde eine mittelgroße Schulklasse durch das Treppenhaus stürmen. Wieder zischte ihnen ihr Oberhaupt erbost in der Dunkelheit zu, sie sollten ihr Schritte mäßigen, aber das Poltern blieb. Empört flohen die Ratten in den Keller.
 

Oscar kam um den Stuhl herum und trat in sein Blickfeld. Blasiert hob er den Kopf und sah sie an. Für die ärztliche Untersuchung des Verletzten waren mehrere Kerzen entzündet worden. Das Licht füllte warm und hell den Raum. Zum ersten Mal sah er ihr Gesicht richtig, befreit von Schmutz und in die Stirn gezogener Mütze. Er riss erstaunt die Augen auf. Oscar holte sich einen zweiten Stuhl. Sie setzte sich mit einigem Abstand ihm gegenüber, die Waffe weiterhin schussbereit auf ihn gerichtet. Er folgte ihren Bewegungen mit den Augen.

Sie war wunderschön. Das Gesicht ebenmäßig, mit klassischen Zügen, ihr Körperbau etwas zu schlank für das traditionelle Bild einer weiblichen Figur. In jeder ihrer Bewegungen spiegelte sich unbefangenes Selbstbewusstsein und Stolz wieder, der nichts mit Überheblichkeit gemein hatte.

Sie sah ihn ernst an, nur die blauen Augen funkelten und spiegelten ihre Gefühle wieder.

"Nun, Monsieur," begann sie. "Als Ausgleich werdet Ihr mir alles erzählen, was Ihr über André wisst! Was sich seit dem 14. Juli ereignet hat!"

"Als Ausgleich für was?"

"Dafür dass ich Euch nicht ... ins Bein schieße." Jean-Luc riss ungläubig die Augen auf. "Das würdet Ihr nicht tun!", sagte er im Brustton der Überzeugung.

"Seid Ihr sicher?" Ihre Augen wurden kalt. Jean-Luc sah auf die Waffe, die ruhig in ihrer Hand lag, den Lauf auf ihn gerichtet. Nein, er war sich nicht sicher. Er sah, wie ihr Blick spielerisch über seinen Körper glitt, als suchte sie nach einer geeigneteren Stelle. Diese Frau war wahnsinnig. Sie war wahnsinnig, ihr Geliebter war wahnsinnig, ihre merkwürdigen Freunde waren wahnsinnig. Alle waren wahnsinnig. Wahnsinnige, die sich einfach in Luft auflösten.

"Ich weiß nur sehr wenig," versicherte er. "Einiges habe ich in den letzten Tagen erfahren, aber längst nicht alles."

"Dann sagt mir das, was Ihr zu wissen glaubt!" Ein Schweißtropfen perlte von seiner Stirn und lief an der Schläfe entlang hinunter.
 

Eine Frau schrie verschreckt auf und presste ängstlich ihr Betttuch an die Brust. Ein Kind wimmerte leise in seiner Wiege, seine älteren Brüder und Schwestern klammerten sich verschreckt aneinander oder krochen unter die Bettdecke. Mit einem Gesichtsausdruck, welcher weit entfernt an Verlegenheit erinnerte, lehnte einer der Männer das herausgetretene Türblatt wieder zurück an den Rahmen.

Robespierre und seine Männer kehrten um. Niemand sprach, keiner wagte den anderen anzusehen. Nur die Hoffnung, diesmal den richtigen Hauseingang zu erwischen blieb.
 

"Ihr spielt kein sehr aufrechtes Spiel, Monsieur," stellte Oscar fest, als Jean-Luc geendet hatte. "Und wer war für Andrés Maskerade verantwortlich?"

"Schauspieler aus dem Varieté Montreuil. Sie haben André in einen Greis verwandelt. Lucilla Javert hat uns geholfen. Sie ist dort Schauspielerin, sie ist eine berühmte ..."

"Ich weiß, wer Lucilla Javert ist."

"Sie war bereit uns zu helfen. Weshalb, weiß nur Bernard. Meines Wissens nach, hatte Saint-Just die Finger im Spiel."

"Und diese Wohnung?"

"Gehört einen Freund von Alan. Kann ich Euch eine Frage stellen? Wie haben sie dieses Zimmer verlassen?" Oscar zuckte gleichmütig die Schultern. "Nun, Ihr habt es selbst gesagt. Die Wohnung gehört Alans Freund. Unter dem Bett befindet sich eine Falltür, durch diese gelangt man in eine der darunter liegenden Wohnungen. "

"Sie werden Robespierre direkt in die Arme laufen."

"Nein, werden sie nicht," widersprach Oscar ruhig. "Es gibt einen unterirdischen Gang, durch den man in ein anderes Gebäude gelangt. Es ist an alles gedacht worden. Wir wussten, dass Ihr uns veraten würdet. Robespierre wird nur Euch hier vorfinden." Oscar sprang leichtfüßig auf. "Ich nehme an, dass seine Geduld nicht unerschöpflich sein wird. Er wird bald hier sein und ich lege keinen Wert darauf ihn zu treffen. Ich verabschiede mich nun von Euch, Monsieur."

"Wollt Ihr mich hier sitzen lassen?" Jean-Luc zerrte heftig an seinen Fesseln. Wieder zog sich der Strick enger.

"Natürlich, Eure Erlösung kommt sicher bald." Oscar trat näher. Jean-Luc sah zu ihrem Gesicht auf. Jegliche Freundlichkeit war aus ihren Zügen gewichen. Krankheit und Schmerz der vergangen Monate hatten einige Linien tiefer in das Gesicht gegraben. "Lasst mich noch eins sagen, Jean-Luc! Zieht Euch zurück! Erfahre ich, dass Ihr auch nur einem der Menschen, die ich liebe etwas zu leide tut oder für ihr Unglück verantwortlich seid, werdet Ihr Euch wünschen nie geboren zu sein. Das schwöre ich Euch bei meinem Blut. Wendet Euch anderen Intrigen zu!" Der Pistolenlauf lag jetzt auf seiner Brust.
 

Die Kirchenglocken von Saint Laurent hatten zur zweiten Morgenstunde geschlagen. In der zweiten Etage des vierstockigen Wohnhauses drehte sich ein Mann unruhig von einer Seite zur anderen. Wiederholt stach das Stroh seiner Matratze durch den fadenscheinigen Stoff seines Nachthemds. Im 3. Stock lag eine fünfköpfige Familie eng aneinander gekuschelt in ihrem einzigen Bett, weil kein Geld für ein zweites Lager übrig war und der Verdienst des Vaters nicht mehr für genügend Brennholz ausreichte, um die klirrende Kälte zu vertreiben. Im Erdgeschoss schlug eine Witwe in unmächtiger Wut ihr Kind, weil sie keinen Ausweg mehr aus dem Elend sah, im Hauseingang des Nebengebäudes starb ein kleines Bettlerkind an Hunger und Kälte. Keiner würde um sie weinen, keiner sie bedauern, weil das Elend allzu gegenwärtig war.

Im Dachgeschoss standen fünf Männer um ein sechs Fuß langes, fünf Fuß breites Loch im Dielenboden. Die schmale Leiter, die in das Geschoss darunter führte, verlor sich mit der fünften Sprosse in der Dunkelheit.

Im Dachgeschoss starrten fünf unzufriedene Männergesichter mürrisch in die Dunkelheit unter ihnen.

"Sie sind also entkommen!" Die Frage war nicht mehr eine Frage, eher eine Feststellung.

Im Dachgeschoss drehten sich fünf unzufriedene Männergesichter nun Jean-Luc zu und verlangten nach einer Antwort.

Jean-Luc schluckte schwer und wünschte nichts sehnlicher, als das sich der Abgrund auftun und ihn verschlingen möge. Leider tat sich kein Abgrund unter ihm auf, da waren nur die schmutzigen Holzdielen des Fußbodens. Seine Bemühungen sich zu befreien, hatten die Hände gnadenlos enger an die hölzerne Stuhllehne geschnürt. Sein Versuch aufzustehen, hatte mit einem ungekippten Stuhl auf dem Boden geendet. Unglücklicherweise war er noch immer an diesem gebunden. Er hockte kläglich auf dem Boden und sah zu Robespierre hoch. Seinen Oberhaupt maß ihn mit kaltem Gesichtsausdruck. Die Arme waren vor der Brust verschränkt, die Fußspitze klopfte ungeduldig auf den Fußboden.

"Sie ist gerade erst durch die Falltür gestiegen. Die Anderen sind schon längst weg. Allerdings wurde André schwer verletzt. Er wird die Nacht sicherlich nicht überleben! Aber Ihr könnt sie noch einholen ... es gibt im Keller einen unterirdischen Gang ..." Jean-Lucs Stimme überschlug sich vor falschem Eifer.

"Sie?" Robespierres rechte Augenbraue schob sich noch ein Stück höher. "Sie ...sie," stotterte Jean-Luc zurück.

"Du warst nicht fähig eine Frau zu überwältigen?"

"Ihr wisst genau, dass dieses Weib nicht zurechnungsfähig ist," rechtfertigte er sich. "Sie ist keine normale Frau, sie ist ... sie ist ..."

"Sie ist weg!" unterbrach ihn Robespierre ungerührt.

"Sie entkommt! Wir müssen Ihr folgen! Schnell!" Statt einer Antwort trat Robespierre an das Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Nachdenklich sah er in die Dunkelheit. Seine Helfer standen abwartend im Zimmer herum. Niemand unternahm die Anstrengung Jean-Luc aus seiner misslichen Lage zu helfen.

"Wollt Ihr ihr nicht folgen?" fragte Jean-Luc kläglich. Robespierre zuckte die Schultern. Er murmelte leise vor sich hin. Der Anflug eines Lächelns zuckte um seine harten Mundwinkel. "Gut, Bernard du sollst deinen Willen haben."

Er wendete sich wieder seinem blonden Spitzel zu. Ein dämonisches Lächeln erhellte seine Züge.

"Jean-Luc?" Seine Fußspitze stieß leicht den am Boden hockenden Mann an. "Du musst mir einiges Erklären! Ich verstehe es nicht ganz. Sag mir, warum halfst du ihnen noch mal aus dem Gefängnis zu fliehen?"

Jean-Luc schluckte schwer. Seine Stimme drohte zu versagen. "Doch nur, um sie in Eure Hände zu spielen."

"Einfälltiger Narr, was glaubst du denn, warum ich sie habe einkerkern lassen? Nun befinden sie sich außerhalb meiner Reichweite."

"Ihr könnt sie immer noch einholen. Ihr habt doch Eure Spitzel überall. Sie können nicht entkommen," krächzte Jean-Luc. Robespierres Lächeln erinnerte jetzt an den Vorhof der Hölle "Das ist wohl wahr und weißt du, was sie mir kürzlich berichtet haben?" Die Glut seiner Augen drohte Jean-Luc zu versenken. "Wie konntest du mich nur unterschätzen, Jean-Luc?"

"Aber ... Robespierre." Jean-Lucs Stimme kroch höher. Der Schweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht. Die Schatten der Männer im sanften Flackern des Kerzenscheins wurden länger, seine geheimen Ängste Wirklichkeit, als sie den Ring enger um ihn schlossen.
 

***

Bekanntschaften

Oscar lief langsam die Straße hinab. Die Schwärze der Nacht wich langsam dem schattenlosen Licht der ersten Morgenstunden. Die Dämmerung tauchte die Straßen in düstergraues Licht. Geschmückt mit dem glitzernden Gewand einer frostkalten Nacht, war die morgendliche Welt erfüllt mit Stille und Ruhe. Derart Lautlos, dass das gleichmäßig dumpfe Geräusch ihrer Stiefelschritte der Stille mehr Tiefe gab.

Ihre Schritte lenkten sie ohne ihr Zutun dem Ziel entgegen, aber ihre Gedanken trugen sie hilflos fort. Sie fühlte sich leer und kraftlos. Die Müdigkeit ließ ihren Körper bleischwer werden, die Last ihrer Sorgen deutlich auf den schmalen Schultern spüren. Sie fühlte sich schwindlig und benommen. Auf ihrer Zunge lag der metallen Geschmack eins leeren Magens. Seit der letzten faden Gefängnismahlzeit zur Mittagsstunde hatte sie nichts mehr zu sich genommen. Wie ihr Körper, sehnte sich ihre Seele nach Ruhe und Geborgenheit und dennoch, wie ihre müden Beine gezwungen waren sich weiter vorwärts zu bewegen, ließen ihre Gedanken sie nicht zur Ruhe kommen. Mit unsagbarer Schnelligkeit zogen Erinnerungsfetzen ihrer Vergangenheit an ihr vorüber. Bilder huschten durch das ganze Spektrum ihrer Wahrnehmung .... André leblos und starr, aufgebahrt in einer Kirche ... die Augen ihrer Mutter, gebrochen, eingebettet in pergamentartiger Haut ... von Fersen umfasst ihre Hand, ein Glas geht zu Boden und zerbricht .... Feuer, Rauch, Lunten zünden, die Kanonen am Fuße der Bastille beben von der Wucht der Zündung ... ein Schuss bohrt sich in den schutzlosen Rücken eines kleinen Jungen, Blut bedeckt das Pflaster... Eindrücke zogen vorbei, ohne Worte, fast wie Impressionen von Tieren, vervielfacht finster hervorgerufen durch die Müdigkeit.

Das Morgenlicht wurde langsam gleißender. Oscar senkte den Blick und schloss für kurze Zeit die schmerzenden Lider. Kleine Lichtreflexe tanzten hinter ihren geschlossen Augenlidern. Warum sang ihr Herz nicht vor Glück? Sie war dem Kerker entronnen, André wartete auf sie, vor ihnen lag ihre gemeinsame Zukunft. Sie seufzte, was sie brauchte, waren Ruhe und Schlaf.
 

Die Rue Grégoire de Tours kreuzte sich mit der Rue Saint Sulpice. An einer Hauswand gepresst wartete eine einsame Gestalt auf sie. Über ihr knirschte und quietschte schrill ein Tavernenschild in seiner rostigen Halterung. Das Gasthaus selbst war, sehr zum Leidwesen des Wartenden geschlossen.

"Wie schön hätte die Zeit des Wartens sein können, wenn das örtliche Paradies seine Pforten geöffnet hätte," begrüßte Alan sie, während er im Selbstmitleid zerfloss.

"Dies ist dein Paradies?" Oscar ließ skeptisch ihren Blick über die baufällige Fassade gleiten. "Es tut mir leid für dich, Alan, aber es ist entweder zu früh am morgen, oder zu spät in der Nacht, um die Pforten geöffnet zu haben. Je nach welchem Gesichtspunkt du es sehen möchtest." Alan war es letztendlich egal, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtete. Zu seinem Bedauern war sie nicht offen und er war dazu verdammt mit trockener Kehle in der Kälte auf Oscar zu warten. Er trat verdrießlich von einem Bein auf das andere und gähnte herzhaft, dass sein kantiges Kinn erzitterte. Trotzdem strahlte er eine schon unverschämte Vitalität aus. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen.

"Alles in Ordnung, Oberst?" Alan musterte sie aufmerksam. "Hat er dir Probleme bereitet?"

Oscar schüttelte müde den Kopf. "Nein, er war viel zu sehr von sich und seinem kleinen Versteckspiel überzeugt, als das er eine wirkliche Gefahr hätte sein können."

"Ha, ich hätte gern seinen Gesichtsausdruck gesehen. Du hättest mir erlauben sollen, mich seiner anzunehmen. Ich bringe dich jetzt zu André."

"Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Geht es ihm gut?"

"Den Umständen entsprechend. Ich denke, du brauchst nichts zu befürchten," beeilte sich Alan zu versichern, als er ihren besorgten Gesichtsausdruck sah. "Nun," Alan räusperte sich verlegen. "Während du die heimische Gastfreundschaft der Conciergerie genossen hast, hat Rosalie dem armen Jungen zugesetzt. Sie wurde nicht müde darin, im alles vorzuhalten, was dir widerfuhr. Seine ohnehin schon beträchtlicher Ansammlung an Schuldgefühle hat reichlich Zuwachs bekommen. Ich dachte mir, dass solltest du wissen, wenn er wie ein Häufchen Elend vor dir sitzt."

"Wie es mir erging? Was habt ihr ihm denn erzählt?"

"Nun, deinen Bordellbesuch haben wir verschwiegen."

"Meinen Bordellbesuch?"

"Soll ich es ihm erzählen?"

"Nein!"

"Sicher? Die Geschichte ist sehr erheiternd."

"Ist es vorbei, Alan?

Alan sah sie nachdenklich an. "Bernard wird Euch schon bald aus der Reichweite Robespierres bringen. Ihr habt nichts mehr zu befürchten. André und du, ihr könnt jetzt ein neues Leben beginnen. Ich denke, was geschehen ist, konnte keiner von euch Beiden beeinflussen. Robespierre scheint innerlich ein sehr zerrissener Mensch zu sein, wenn nicht gar Schizophren." Neue Falten bildeten sich in seinem Gesicht, als er zu einem breiten Grinsen ansetzte. "Ach, ich stell mir das bildlich vor. Ein ganzes duzend kleine rotbackige wohlgenährte Kinder, der Braten durftet im Ofen ..." Er umfasste kameradschaftlich ihre Schultern und drückte diese, die breite Zahlreihe zu einem strahlenden Lächeln entblößt.

"Mh, meine Vorstellungskraft reicht hier für längst nicht aus." Oscar's Lächeln wirkte indes reichlich schief und missglückt.

"Was ist los, Oberst? Angst?"

Angst? War es das? War dies das ungute Gefühl in ihrem Magen? Das Gefühl entwurzelt zu sein, ihrer Vergangenheit beraubt. Ihr Leben, so wie sie es gekannt hatte, würde sie nicht mehr weiterführen können. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Bisher hatte sie nur die grundsätzliche Falschheit der Dinge erkannt, ohne die Situation sorgfältig zu analysieren. Was ihr blieb war die Zukunft, aber wie würde diese aussehen? So sehr sie auch André liebte und sich eine gemeinsame Zeit mit ihm in Frieden und Harmonie wünschte, machte sie sich keine Illusionen darüber, dass sie von nun an das Leben einer Frau führen musste. Die Fesseln der Gesellschaft, mit der die Frau in ihr gekettet war; nichts erschien Oscar befremdender oder beängstigender. -Du weißt wer und was du bist, Oscar. Deine Vergangenheit kannst du nicht vergessen, auch wenn die Pfeiler der Brücke, welche sie mit dir verbanden zerschlagen sind. Bist du so zerrissen, weil du nicht weißt, was dein Schicksal dir bringen mag?- Ihr innerer Monolog beschritt einen sozialphilosophisches Terrain, der ihr mehr als nur bloßes Unbehagen bereitete. In ihrem Bewusstsein diskutierten mehrere Gefühle miteinander. Die hitzige Debatte zwischen Angst, Stolz und Unsicherheit, würde je beendet, als Scham hereinkam.

"Nein," log sie.

"Nein?"

"Nein!"

"Oh, du wirst die Wunderwelt der Küche ergründen, backen, kochen, putzen, Hemden stärken, Kinder hüten ... alles um einen Mann glücklich zu machen." Er sagte nicht, dass er selbst gern dieser Mann gewesen wäre. Nur über sein Lächeln legte sich ein Hauch von Wehmut.

"Nie wieder Befehle erteilen, kein strammes Salutieren ...."

"Lass das, Alan!" Oscar erstickte ihre Unbeholfenheit in einem verunglückten Nieser.

Alan wollte die Vorzüge des Militärs weiter ausführen, verstummte aber abrupt, als er den 6 Männer angesichts wurde, die ihnen entgegen kamen.
 

Finstere Gestalten in zerlumpter Kleidung, dessen übler Geruch nach Dreck, Schweiß und billigem Wein ihnen vorauseilte. Sie versuchten den Eindruck von scheinbarer Harmlosigkeit aufrecht zu halten. Die mürrischen Gesichter, im halbdunkel der in der Stirn gezogenen Mützen, verbesserte jedoch den Eindruck nicht gerade.

Schweigend und unmerklich angespannt, nährten sich Alan und Oscar der Gruppe. Sie zwangen sich nicht schneller zu werden. Als die Beiden auf gleicher Höhe mit den Männern angelangt waren, trat ihnen einer von ihnen in den Weg. Widerwillig blieb Oscar stehen und ließ seine Musterung über sich ergehen. Seine Augen wanderten provokativ über ihre Gestalt. Sie strahlten Hass und Unzufriedenheit aus. Eine gefährliche Mischung.

"Na, seht Ihn Euch an!" Er grinste höhnisch. "Diese glatte Haut, das Haar, diese dünnen Ärmchen ...

wenn dies keiner dieser entmannten Adligen ist?" Er trat näher und hüllte die junge Frau in eine Wolke aus Alkoholdunst und Mundgeruch ein. "Riechen tut er jedenfalls wie einer." Er lachte schallend. Alan knurrte, aber Oscar hielt ihn zurück. Sie lauschte aufmerksam. Ein- oder zweimal sah sie warnend zu Alan. Sie war klug genug, nicht zu protestieren. Einige Dingen sind zu offensichtlich, vor allem, wenn ein halbes duzend wütender Männer mit beträchtlichem Oberarmumfang einen darauf hinweisen. Die anderen Männer waren auch näher gekommen. Sie hatten einen Ring um sie gebildet, aber noch schien sie ihr Anführer zurückzuhalten. "Was will er hier?" rief einer, mit einem dumpfen Grollen in der Stimme. "Warum trägt er seinen parfümierten Arsch in unsere Gegend?" Ein anderer bohrte sich einfach nur ihm Ohr und betrachtet anschließend fasziniert seinen Finger

Ihr Anführer übernahm wieder die Wortführung. Er war groß und zäh wie ein Ochse, aber Oscars Meinung nach bestand das Problem darin, dass man diesen Vergleich auf seinen Verstand beziehen konnte. In seinen Augen leuchtete nur ein schwacher Abglanz von Intelligenz.

"Vielleicht, will er von uns, um seine Geldbörse erleichtert werden? Was ist, kleiner Schmarotzer, trägst du zu schwer an deinen Juwelen?" Sein Gesicht verzog sich langsam zu einem breiten, irren, völlig humorlosen Grinsen, einem mimischen Kampf gleich.

Niemand hatte es für angemessen gehalten, sie darauf hinzuweisen, dass Adlige zu dieser Stunde zu Fuß und in einfacher Kleidung, dessen Gesicht vor Erschöpfung gezeichnet war, keinen nennenswerten Reichtum besaßen. Der Pöbel verstand sich nicht besonders gut darauf, Informationen dieser Art weiterzuleiten. Eine Anleitung zur Erleichterung reicher Bürger um ihr Eigentum stand nirgends amtlich niedergeschrieben. Man musste sich auf Erfahrungswerte verlassen. In diesem Fall war die aufgebrachte Menge einfach nur wütend, von dem primitiven Bedürfnis nach Gewalt beherrscht und in der Mehrzahl. Damit war die Erfahrung aufgebraucht.

"Hör mal Freundchen!" bedächtig trat Alan dazwischen und schob den breiten Brustkorb beiseite. "Es wäre besser für dich, wenn du uns in Ruhe ließest."

"Wer bist du denn? Bist du das Spielzeug von unserem Blaublütler?" Ein weiterer Schwall Beleidigungen ergoss sich über beide, während Oscar Alan, unter erheblichen Schwierigkeiten beiseite zog.

"Alan, bitte versuche dem Ärger aus dem Weg zu gehen!" Alan zog seelenruhig seinen Umhang aus. Faltete ihn betdantisch und reichte ihn ihr. "Tut mir leid, Oscar. Ich wäre sehr gerne dein Spielzeug," erwiderte er rhetorisch. "aber der Ärger, wie du es so schön zu nennen pflegtest, ist Hass, der schon zu lange und zu tief in den Menschen sitzt, dass sich eine Auseinandersetzung nicht mehr vermeiden lässt. Und nun trete bitte beiseite!"

Das Lachen der Männer hallt mit der selben Intensität durch die schmale Gasse, wie akustische Laute in einer Blechschüssel. "Warum willst du uns entgegentreten, Lustknabe?"

Alan versuchte es ihm zu erklären.

Der Mob versuchte es zu verstehen.

Dann begann die Schlägerei.
 

***

Entscheidung

Alan wirbelte um seine eigenen Achse, seine Faust traf einen der Männer, sein Fuß mit der Sicherheit eines Chirurgen den Schritt des Zweiten. Sechs Augenpaare tränten voller Mitgefühl.

Angestachelt in ihrer Wut rannte einer auf Oscar zu. Diese trat blitzschnell zurück, streckte das rechte Bein aus und brachte ihren Angreifer ins Schleudern. 190 Pfund rohe Masse verloren das Gleichgewicht und prallten gegen einen seiner Kameraden. Nach dieser förmlichen Einleitung führte eins zum anderen und innerhalb kürzester Zeit waren alle Anwesenden am Kampf beteiligt. Zwei Stockwerke über ihnen schlossen Fensterläden und dessen Bewohner ihre Augen und Ohren. Ein einsamer Passant hörte das Ächzen und Stöhnen, das Knacken von dünnen Knochen und suchte heillos die Flucht in einer anderen Gasse.

Die Prügelei endete je, als Wachen des nahe gelegenen Königspalast mit ihren Piken dazwischen gingen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Pöbel breit's erheblich an Lust verloren und so suchten sie schnell das Weite, als die uniformierten Männer auftauchten. Wenige Augenblicke später war es wieder still in der kleinen Gasse. Lediglich die Bellsuren, welche Alan's Gesicht zierten, kündete von dem Kampf, welcher vor wenigen Minuten gewütet hatte. Die zerschlagene Kraterlandschaft seines Gesichtes erinnerte an die heroischen Versuche, Oscar vor dem allgemeinen Kampfgeschehen und dessen Folgen zu schützen.

"Lass ihn los!" Alan hielt sein letztes Opfer noch immer am Kragen gepackt, um ab und zuschlagen zu können.

Alan's Knie traf noch ein letztes Mal mit anatomischer Genauigkeit, dann ließ er ihn los. Der Mann ergriff die Flucht. Die Schritte des Flüchtenden waren verklungen und überließen die akustische Szene dem weit entfernten Stimmengewirr und Vogelgezwitscher.

"Mistkerle!" Alan betastete vorsichtig seine ramponierte Nase und verwischte den Dreck mit dem Blut in seinem Gesicht. Oscar sah betreten zu ihm auf und reichte ihm schuldbewusst ihr Taschentuch. Auch André hatte sie versucht während einer Schlägerei, die sie begonnen hatte zu schützen, ohne das sie diesen Umstand je anerkannt und gewürdigt hatte. Wie viele Jahre lag dies zurück?

"Es tut mir leid, Alan. Es ist meine Schuld. Sie wollten mich treffen."

"Ach, mach dir keine Sorgen, Oberst. Sie waren auf Streit aus. Wie gesagt, der Hass gärt schon zu lange in ihnen."

"Es ist nicht vorbei, nicht wahr?" fragte Oscar leise. Die Tulierien kamen langsam in Sicht. Der Königspalast erstreckte sich am Seine-Ufer entlang. Die vergoldeten Speerspitzen des hohen Eisenzauns, welcher das Gelände umschloss, glänzten in der aufgehenden Sonne. Die Blau- und Grautöne der Morgendämmerungen verwandelten sich in einen breiten bronzenen Strom.

"Was meinst du damit?" Nachdenklich kratzte sich Alan am Kinn. Es klang nach einem Stachelschwein, dass durch Stechginsterbüsche robbte.

"Die Menschen, Frankreich sind durchtränkt von Hass, Unzufriedenheit und Gewalt, gegen die Regierung und den Adel."

"Sie haben auch allen Grund dazu. Viel zu lange wurden sie unterdrückt und der Sturm auf die Bastille war nur die Quintessenz eines unterdrückten Volkes unter einer verschwenderischen, unfähigen Regierung. "

"Der Sturm auf die Bastille ist kein Resümee, des Ancien Régime, es ist der Anfang. Der Anfang für eine Welle der Gewalt, die wir uns nicht einmal mehr vorstellen können."

Alles beginnt irgendwo und irgendwie, obwohl die Frage nach dem Anfang immer Probleme aufwirft, wie beispielsweise die Frage, was zu erst da war; das Huhn oder das Ei und wo schlagen Autoren von Wörterbüchern die richtige Schreibweise nach? Aber wann begann die Französische Revolution? Sicher nicht erst mit jenem bedeutungsvollem Tag, als sich das Volk im Ballhaus zum Schwur erhob oder dem Sturm auf die Bastille. War es die Halsbandaffäre, die Königin mit ihrer Verschwendungssucht? Waren es die Tausenden zwangsrekurrierten Arbeiter, welche Ludwig XIV gigantisches Bauprojekt zum Opfer fielen, als dieser Versailles zur Hauptresidenz ausbauen ließ? War es der strenge Winter von 1707, der die Ernte des kommenden Jahres zunichte machte und Frankreich in den Hungertod trieb, während der König seinen Feldzug führte? Das Blut gärt, seit sich Einzelne anmaßten Herrschern aller zu sein, Menschen unterdrückt werden und sich im Unrecht fühlen. Viel zu früh vergessen die Leute, dass in den ältesten aller Geschichten früher oder später Blut fließt. Später nehmen sie zwar das Blut heraus, weil sie glauben, dass es für die Schulbücher minderjähriger Schüler geeigneter sei, aber das Blut bleibt. Frankreichs Revolution war aus Blut entstanden und Blut sollte noch fließen.

Oscar ließ ihren Blick über den königlichen Palast schweifen. Wie lange würde der König sich noch halten können, vom Volk gezwungen hinter hohen Eisengittern zu leben. Repräsentant seiner Königswürde, wenn er ab und zu auf dem Balkon stand, ein besorgt lächelndes Abbild königlicher Untauglichkeit.

Ihre Zukunft würde weiterhin ungewiss bleiben, aber ihr Entschluss stand fest. Sie würde nicht in Frankreich bleiben. Frankreich wurde geformt und gestaltet vom aufsteigende Bürgerturm, aber für sie und André hatte es keinen Platz mehr. Robespierres Intrigen hatten ihre Abneigung gegen Frankreich geschürt und der Hass, welcher ihnen gerade entgegen gebracht wurde, nur weil sie scheinbar einen anderen Stand verkörperte, hatte diese Antipathie nicht gerade gemindert.

Alan räusperte sich. Während sein blutverschmiertes Gesicht zu einem erneuten Grinsen ansetzte, holte er Luft, für weitere Ausführungen, in Bezug drauf, welche Vorteile des Militärlebens sie aufgab, um sie gegen die Freuden am heimischen Herd zu tauschen. Sein Blick fing Oscar's Gesichtsausdruck auf und sein Atem entwisch ihm zischend.
 

Mit dem neuen Tag erwachte auch André aus seiner Bewusstlosigkeit. Das goldene Licht der aufgehenden Sonne floss langsam über die Dächer Paris und begann seinen lautlosen Kampf gegen die Nacht. André glitt in die Welt des Bewusstseins ruckartig, unter Schmerzen und mit dem deutlichen Gefühl nach Übelkeit. Die Schmerzen im linken Schulterblatt zerrissen die fieberhaften Traumbilder und weckten ihn schlagartig. Es war, als würden brennende Widerhacken im wunden Fleisch wühlen und sich immer tiefer graben. Bruchteile der vergangenen Nacht kamen ihm in den Sinn. Der Weg war lang gewesen. Der Kellergang eng, niedrig und dreckig. Irgendwann hatten ihn seine Sinne wieder verlassen. Er war erst wieder im Bett erwacht, allein mit sich und seinen Schmerzen. Gleich darauf umhüllte ihn wieder die gnadvolle Schwärze des Schlafes und ließ ihn vergessen.

Vorsichtig sah er sich um. Das Zimmer war klein und lag in einem etwas baufälligerem Wohnblock. Jemand hatte die begrenzte Wohnfläche mit aller Gewalt in eine gemütliche Unterkunft verwandeln wollen. Überall lagen Dekorstücke. Die Fenster waren mit Gardinen aus üppigen Spitzenvolant behangen. Ein Liebhaber dieser Details musste Gelegenheit bekommen haben, sich hier richtig auszutoben, bis man ihn überwältigen und aufhalten konnte.

Panik stieg in ihm auf, weil er nicht wusste, wo sich Oscar aufhielt. Auch sonst waren keine Anzeichen von Leben im Haus zu vernehmen. Neue Schuldgefühle gesellten sich zu den Alten, schon lange ständigen Begleiter seines Gewissens. Erneut hatte er sie in Gefahr gebracht. Warum konnte er Oscar nicht beschützen? André haderte mit sich selbst, wusste nicht was er tun sollte, nicht was noch kommen sollte. Nur in einem Punkt war sich er völlig sicher: Er bekam allmählich Kopfschmerzen. Er hoffte, dass sich seine Zweifel im entsprechenden Hirnbereich aufhielten und ordentlich litten. Das Knirschen seiner Zähne, wie grobkörniges Schmirgelpapier, durchbrach die Stille. André ignorierte den bohrenden Schmerz in seiner Wunde, stemmte sich hoch und schwang die Beine über die Bettkante. Angewidert verzog er die Nase, als ihm sein eigener Geruch entgegenschlug. In der erhabenden männlichen Fürsorge seiner Freunde, hatten sie ihn vorsorglich in seinen alten Sachen gelassen, dem allgemeinen Schrecken des Kampfes noch eine todsichere Tetanusgarantie hinzufügend. Eingetrocknetes Blut, Schmutz und Schweiß ergaben eine unschöne Mischung, die ihm die Nasenhaare kräuselte. Der Schmerz durchzog seinen gesamten Körper und ließ ihn schmerzgepeinigtes Aufstöhnen. Das Inventar des Zimmers neigte sich nach links. Geschieht dir recht André, dachte er, dann stand er auf. Er hob unsicher die Brauen und sank zu Boden.

"André," Oscar eilte besorgt zu ihm und half ihm in das Bett zurück. Er rang nach Atem, bis sich die blauen und purpurnen Schlieren vor seinen Augen verflüchtigten. Seine Erleichterung Oscar wiederzusehen schwand, als er die Kratzer in ihrem Gesicht bemerkte. "Was ist passiert?"

"Nichts, mir geht es gut. Mach dir keine Sorgen!"

"Nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste? Weißt du eigentlich, worüber du redest? Deine Lipppe ist aufgeplatz, die Verfärbung an deiner Schläfe ... du wirst ein blaues Augen bekommen, aber in seiner ganzen Artenvielfalt. Jean-Luc .... ich werde ihm...!"

"Du wirst gar nichts! Du wirst gesund werden und alles erdenkliche dafür tun, dass keine bleibenden Schäden von der Stichwunde zurück bleiben!" Sanft drückte sie ihn in das Kissen zurück und streichelte liebevoll sein Gesicht, liebkoste federleicht die vertrauten Züge. "Ich brauche dich an meiner Seite und das gesund und unversehrt."

"Ist das eine sinnliche Anspielung?"

"Nein!"

"Schade, dass bedaure ich zutiefst ... um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Oscar!" beteuerte André, verzog aber wiedererwarten, wenig heldenhaft das Gesicht, als eine neue Schmerzwelle durch seine Schulter rann.

"Bewege dich nicht, André! Was kann ich für dich tun, dass es dir besser geht?"

"Liebe mich!" antwortete er schlicht. Seine Augen suchten ihren Blick.

"Du weißt, dass ich dich liebe? Mehr als alles andere." André schloss die Augen und genoss ihre Worte, wie eine verbale Delikatesse. Die Feder war stärker als das Schwert, die Liebe besiegt den Hass. Zärtlichkeiten heilen Wunden.

"Warum folge ich dir sonst wie dein zweiter Schatten? Ich möchte nicht mehr ohne dich sein. Nie mehr!" beteuerte sie.

Und dennoch, kann ich nicht in Frankreich bleiben, selbst nicht mit dir an meiner Seite und deiner Kraft, dachte Oscar. Sie wusste, dass ihr André überallhin folgen würde, aber konnte sie es verantworten, ihn aus seinem Heimatland, von seinen Freuden fortzureißen? Hatten ihn die vergangen Geschehnisse nicht auch von Frankreich und seinen Menschen entfremdet?

"Oscar, was ist mit dir?" Seine sanfte Frage holte sie in die Wirklichkeit zurück. Ein Lächeln, dass beruhigen sollte, missglückte und ließ ihre Züge um so trauriger erscheinen. - Flieh mit mir, André! Lass alles zurück, schau nicht hinter dich! - Dies wollte sie ihm sagen. Die Worte krochen den Hals empor, erreichten aber die Stimmbänder nicht, ohne sich zu verändern.

"Es wird ein schöner Tag werden. Der Himmel ist wolkenlos Blau."

"Wundervoll," bestätigte ihr André "Sind deine Gedanken wirklich beim Wetter gewesen?" Seine Hand fand ihre. Tausende kleiner Nervenzellen, im Hautgewebe fühlten, ertasteten, sendeten ihre Signale durch das gesamte Nervensystem.

"Meine Familie ist Tot, André. Mein Zuhause geplündert. Schaue ich mich um ... sehe ich Blut, metaphorisch gemeint ... sehe ich die anklagenden Gesichter, der Verfolgten, sehe ich das bleiche Gesicht meiner Mutter, die Geister der Vergangenheit. Vielleicht können wir die Hauptstadt verlassen und auf dem Land glücklich werden?"

André sah sie schweigsam an und las mit dem selben Verständnis, welches er ihr beider Leben lang aufgebracht hatte, die Gefühle hinter den Worten. Oscar würde weder in Arras noch in einer anderen Provinz Frankreichs glücklich sein. Sie sagte es nicht direkt, aber er kannte sie lange genug, um ihre subtilen Zeichen zu deuten.

"Was ist, wenn wir Frankreich ganz verlassen?" Oscar sah ihn überrascht an. "Mir ist es völlig gleich, wo wir leben, Oscar und wenn du in einer Bambushütte in Afrika leben möchtest. Auf dem höchsten Berg der Erde. Im einsamsten Landstrich der Welt. Es ist mit völlig gleich."

"Wirklich?"

"Wirklich, du musst mir nur sagen, wohin ich dir folgen soll! Soll ich es dir mit meiner Liebe beweisen?" Er zog sie mit seinem gesunden Arm näher. Oscar lachte und das Licht der hereinfallenden Sonne, tanzte in ihren Augen. "Jetzt nicht, du stinkst mein Liebster und ich auch rieche noch immer den heimischen Geruch des Gefängnisses, nach Krankheit und Verwesung an mir."

Mit dem des echten Bedauerns rief er ihr hinter her: "Dann passen wir doch zusammen," während Oscar das Zimmer verließ, um Wasser und Seife zu finden. Wie schlimm kann das Leben einer Frau schon sein, dachte sie, während sie nach der hauseigenen Armee gegen den Schmutz suchte. Das ist doch lachhaft, jede andere Frau schaffte es auch. Ein wenig war das Gefühl des Bedauerns da, dass es für derartige Fähigkeiten noch keine Ausbildung gab.

Entlassen

Es war Dezember geworden und der Winter hatte Einzug in Paris gehalten. Die ersten Schneeflocken fielen, leicht im Wind schaukelnd, sanft auf die Erde nieder. Menschen blieben auf der Straße stehen, hoben die Köpfe und sahen verträumt dem Tanz der kleinen Eiskristalle zu. Dann zogen sie ihre Mäntel fester um sich und eilten in den Alltag.

Ihr weißer Schleier kleidete die Landschaft in ein glitzernd, ätherisch-schönes Gewand. Für kurze Zeit verschwand Paris unter einer weißen Decke aus Schnee, für eine kurze Zeit zog ein schwacher Abglanz von Romantik durch die Gassen der Hauptstadt, für eine kurze Zeit gönnte sich das Land die nötige Ruhe von den Wirren der Revolutionszeit.
 

Oscar sah nervös zur Préfecture de Police, während sie sich in den Schatten der hohen Gefängnismauern drückte. Sie spürte den kalten Stein der Conciergerie durch den Stoff ihres Mantels hindurch. Ihr Atem dampfte in der kalten Dezemberluft. Das sie sich außerhalb des Gefängnisses befand, hatte die Gleiche beruhigende Wirkung auf sie, wie ein Glas Wasser, für einen Ertrinkenden. Der scheele Nachgeschmacke ihres kürzlichen Aufenthalts, kratzte an ihren Nerven. Unwillkürlich fing sie an zu zittern. Ein schützender Arm legte sich um ihre Schultern und warmer Atem strich über ihr Haar. Fragend hob sie eine Augenbraue und sah zu Alan auf. Ein entschuldigendes Lächeln antwortete ihr und schob sie André näher, welcher zu ihrer rechten Seite wachte.

"Pardon, Reflex," murmelte er zerknirscht und schob seine Hände zum Selbstschutz unter die Achseln. Oscar wich seinen Blick aus und sah nachdenklich zur Seine. Sie hatte Angst in Alan's Blicken und Gesten mehr zu sehen, als ihrer Freundschaft gut tat.

Eine dünne Eisschicht hatte sich über den Fluss gelegt. Vor Kälte schlotternde Kinder standen auf der Pont St. Michel und zerwarfen die dünne Eisdecke mit kleinen Steinen.

Der fadenscheinige Stoff ihrer abgetragenen Kleidung bot keinen Schutz gegen die eisige Kälte. Beängstigend dünne Fußknöchels steckten in löchrigen Pantinen. Wer behauptete die kleinen Körper wären dürr, ließ eine gute Gelegenheit ungenutzt, dass Wort >ausgezehrt< zu verwenden. Der Anblick der zerbrechlichen, in Lumpen gehüllten Kinder tat weh. Welch ein Elend herrschte in einem Land, dessen Könige seit Jahrhunderten Verschwendungssucht zum Inbegriff ihrer Herrschaft gemacht hatten. An keinem anderen Hof Europas wurde Prunk und Hofetikette derart bis zur Vollkommenheit zelebriert, wie in Frankreich.

Wieder rannen Schauerwellen über ihre Haut und sie konnte das Zittern, welches weder mit der Kälte, noch mit der unmittelbaren Nähe der Conciergier zu tun hatte, nicht unterdrücken. Kalter Schweiß lag auf ihrer Stirn, ein dumpfer Schmerz wütete in ihrem Rückrat und zog sich durch ihre Lenden. André spürte wie Oscar's Körper erschauderte und drückte den Rücken seiner Geliebten enger an sich. "Du hättest nicht mitkommen sollen, Oscar!" flüsterte er in ihr Haar, in der Annahme ihr wäre kalt. Oscar zog ärgerlich die Augenbraue zusammen.

"Du hättest im Bett bleiben sollen! Dein Arm ist noch immer nicht vollständig verheilt."

"Ich liege seit zwei Wochen untätig im Bett herum und ich lasse dich nicht wieder alleine, wenn ich befürchten muss, dass dich hier Robespierres Schergen angreifen," entgegnete André ruhig.

"Lass ihm seinen Willen, Oscar!" mischte sich Bernard ein und versuchte seinen Nasenweisen Gesichtsausdruck hinter hölzerner Mine zu verstecken. "Er hätte ja doch keine Ruhe gegeben. Im übrigen siehst du wirklich sehr blass aus."

"Das liegt an den kurzen, trüben Wintertagen. Da kommt er endlich." Oscar wies auf das gegenüberliegende Gebäude der Conciergie, die Policepräfektur, froh darüber der unglücklichen Wende des Gespräches entkommen zu sein. Sie hatte die ständige Fürsorge ihres alten Kindermädchens gegen die besserwisserische Obhut ihrer drei männlichen Begleiter getauscht. Sophie's mütterlichen Busen geradewegs entflohen, fand sich Oscar unverhofft an der breiten Brust gutgemeintem testostheroischen Unverständnis.

Ihr vierter Beschützer schritt gerade, in Begleitung zweier Wachoffiziere die breite Marmortreppe der Präfektur hinab. Seine Männlichkeit litt arg unter dem viel zu engen, lächerlich anmutenden roten Kleid. Girodelle's einst gepflegten Haare hingen ihm fettig und strähnig in das bleiche Gesicht. Selbst über diese Entfernung waren die Anzeichen seines Gefängnisaufenthalts deutlich zu sehen. Anzeichen, die über die üblichen Entbehrungen hinaus gingen. Girodelle war für den Gefangenaustausch bestraft worden und die Blessuren in seinem Gesicht erzählten seine traurige Geschichte. Trotzdem bewegte sich der Graf mit der sanften Eleganz, die er sich sein Leben lang zu eigen gemacht hatte. Vornehmheit deklarierte Victor Clement de Girodelle' s gesamtes Wesen. Er übte sich in Höflichkeit gegenüber jedem Menschen, selbst dem niedrigsten Bediensteten, wurde nie laut, ungerecht oder streitsüchtig und war sich seiner gehobenen Herkunft auf natürlich selbstbewusste Art bewusst. Distinguiert ignorierte er die derben Späße seiner Wächter und deren gelegentliche Klapse auf seinem verlängerten Rücken. Die grausame Scherze und Wortspielen über seinen eklatanten und fatalen Mangel an Maskulinität überhörte er geflissentlich.

Mitfühlend sah Oscar zu, wie die Wächter Girodelle einen Stoß gaben und ihn in die Freiheit entließen.

Der Graf taumelte, fand sein Gleichgewicht und näherte sich der Quai des Orférres, in dessen Schatten Oscar und ihre Begleiter warteten. Pfiffe und anzügliche Angebote begleiteten seinen Weg. Oscar's Aufmerksamkeit galt in erster Linien dem Gefühl des Bedauerns und der Sorge für Girodelle. Noch mehr peinigte sie das Gefühl von Schuld und stumme Tränen des Mitleids rannen über ihre Wangen. Es schmerzte sie, Girodelle in diesem Zustand zu sehen. Um so mehr irritierte sie das leise Lachen in ihrem Rücken. Lachen, die Disharmonie in ihrer Komposition aus Mitgefühl und Schuld. Erbost wirbelte Oscar herum und bedachte die Männer mit einem bitterbösen Blick. Wie konnten sie sich erdreisten, sich über Griodelle's beklagenswerte Gestalt lustig zu machen? Dabei war es den Dreien anzusehen, wie leid ihnen ihre mangelndes Feingefühl tat. Ihre Gesichtermuskeln zuckten und spiegelten den mimische Kampf zwischen unterdrücktem Lachen und Anteilnahme wieder.

"Wie könnt Ihr nur? Seht doch, was sie ihm angetan haben?" Dieser Blick war normalerweise für gröbste Regelverstoße gegen das Militärgesetz reserviert und das Letzte, was dem Delinquenten auf seinem Weg zum Exekutitionsgericht im Gedächtnis blieben. "Ihr seid ...Ihr ...Narren!" Nach Worte ringend drehte sich Oscar herum und eilte Girodelle entgegen.

"Seine Erscheinung ist doch wirklich lächerlich," bemerkte André.

"Zweifelsfrei ... ,ohne, dass ich Girodelle zu nahe treten möchte," versicherte Bernard.

"Das lächerlichste, was mir in letzter Zeit untergekommen ist," bestätigte Alan.
 

"Graf de Girodelle."

"Lady Oscar, Ihr konntet entkommen und seid wohlauf, dass freut mich," Der Rest des Satzes ging in rasselndes Keuchen über. Ein Hustenanfall schüttelte seinen Körper.

"Ach, Graf, ich werde meine Schuld Euch gegenüber nie einlösen können. Wie konntet Ihr nur meinen Platz einnehmen? Seht, was sie Euch angetan haben!" Verlegen tätschelte sie ihm den Rücken und sah betreten in das rot angeschwollene Gesicht des Grafen. Gütiger Gott, dieser Mann verkörperte Edelmut in jeder Faser seines Körpers, dachte Oscar beschämt. Girodelle, mein Herz gehört auf ewig André, aber ich hätte es Euch gern geschenkt.

"Wie hätte ich Leben können, während ich Euch im Gefängnis wusste? Es freut mich, Euch in Freiheit und Sicherheit zu wissen," wandte Girodelle ein. Der Rest der Gruppe hatte zu ihnen aufgeschlossen. Die Verbundenheit aus der Zeit des Fluchtpläneschmieden war verschwunden. Vor ihnen stand ein asthmatisch keuchender Mann in einem vor Dreck starrend Kleid, dessen Blessuren deutlich in dem blassen Gesicht hervorstachen. Betreten wichen sie seinen Blicken aus.

"Geht es Euch gut, Victor?" fragte Alan. Der Graf zuckte gleichmütig die Schultern und sah sich in seiner neu erworbenen Freiheit um. "Den Umständen entsprechend," sagte er, weil er glaubte, man erwartete eine solche Bemerkung von ihm.

"Das Kleid steht Euch ausgezeichnet. Es betont die vornehme Gefängnisblässe Eurer Haut."

"Findet Ihr? Ist die Farbe nicht zu aufgetragen?"

"Aber nein." Drei Menschen schüttelten ungläubig über Alan und Girodelle den Kopf. Alan's Gesichtszüge setzten zu einem Grinsen an und seine Hand hob sich, um in einem perfekten Halbbogen auf Girodelle's Hinterteil zu treffen.

"Wagt es ja nicht, Alan!" Die Hand verhaarte regungslos und verschwand wieder. Alan sah ihn fast wehmütig an. Mittlerweile waren die Straßenjungen auf Girodelle aufmerksam geworden und schlichen lauernd um die groteske Gestalt herum. Girodelle lächelte verlegen. "Ich fürchte, meine Würde ging verloren," meinte er wehmütig. "Ich kann nur hoffen, dass ich keine Bekannten treffen, vielleicht kann ich mir einen letzten Rest davon bewahren. Obwohl ich glaube Graf de Comferrey in einen der Zellen gesehen zu haben. Wisst Ihr, weshalb der Graf inhaftiert wurde? Mir erschien er immer recht harmlos. Kein großer Denker, aber sicherlich keine radikaler Royalist, der in Haft gehört."

Bernard zuckte ungewiss die Achseln: "Heute genügt es, dass er dem Adel angehört. Also, was Eure Würde betrifft ..." hilflos hielt er Girodelle ein Buch mit hellbraunen Ledereinband hin. "Ich fürchte, der Name Victor Clement de Girodelle ist derzeit in aller Munde. Das unausgesprochene Fragezeichen auf Girodelle's Gesicht verschwand auch nicht, als er seinen Namen, geprägt in goldenen Lettern auf dem Einband las. Er schüttelte ungläubig den Kopf und las einige Abschnitte. Seine Blick wurde immer unergründlicher, während sich die Lippen beim lautlosen Lesen mitbewegten. Als er den Kopf wieder hob erschien ein gespielt kummervolles Lächeln auf den ebenmäßig, wenn auch leicht zerschlagenen, Zügen. "Ich fürchte, Ihr habt Recht Bernard. Wieso habt Ihr das getan?"

"Es war die einzige Möglichkeit Robespierre unter Druck zu setzen. Eure Freilassung habt Ihr nicht seiner Großherzigkeit zu verdanken, sondern dem Buch. Ihr seid der derzeitige Volksheld, Victor," bestätigte Bernard schlich. Er hatte das Gefühl, dass diese Aussage nicht reichen würde.

"Es findet reißenden Absatz," fügte er hinzu.

Wären wir in der heutigen Zeit, dann würde Graf Girodelle sicherlich ein beeindrucktes >WOW< verlauten lassen. So aber, befinden wir uns 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung und man äußert sich gepflegter. Girodelle beließ es bei einem Ausdruck, der an einen Goldfisch erinnerte, welcher ohne großen Erfolg versuchte das Konzept von erfolgreicher Public Relation zu begreifen. Er begnügte sich mit einem verlegenen Grinsen und behielt das Buch als spätere Nachtlektüre. Man gab ihm einen Mantel, um seine >männliche< Blöße zu verdecken und überquerten die Pont St. Michel, um über den Boulevard St. Michel heimzukehren. Die Kinder folgten ihnen im sicheren Abstand, um mit einigen mehr oder minder schlecht gezielten Schneebällen die Gestalt Girodelle's zu treffen. Dicke Schneeflocken fielen langsam vom Himmel und bereicherten die winterliche Atmosphäre.
 

Die weißen Flocken begann dichter zu fallen. Weißgrau Wolkenwände verdeckten das Firmament. Die Sicht wurde immer schlechter und verwischte alle Konturen in der Ferne. Mit der Pont St. Michel hatten sie die Île de la Cité, mit der Conciergie verlassen. Das Gefängnis würde bald viel illustere Gäste beherberge. Seine grauen Steinmauern waren das letzte Zuhause Marie Antoinette's, bis ihr Kopf am 16.Oktober 1793 unter dem Jubel der Menge fiel. Wenn der Wind durch die langen Gänge streicht, wispert er ihre Geschichte.

Girodelle und seine Eskorte beeilten sich währenddessen die Brücke zu überqueren, um nach einer Kutsche Ausschau zu halten. Der ehemalige Arretierte gehörte in sein Bett, bei heißer Geflügelbrühe und fürsorglicher Pflege. Seine Hustenanfälle nahmen immer mehr zu und das Rasseln seines pfeifenden Atems begleitete ihren Weg. Eine akuten Lungenentzündung würde seine Überlebenschancen auf ein Minimum reduziert.

Den Mantel fest zusammengepresst eilte Bernard voraus, um einen freien Fuhrmann zu finden. Die Anderen folgten ihm langsam und in einigem Abstand. Zuvorkommend beantwortete Graf de Girodelle alle Fragen, wie es ihm ergangen war.

"Wie reagierte ... sein Name ist mir nicht im Gedächtnis geblieben ... als er den Schwindel bemerkte?" fragte André, während er, seinen verletzen Arm schützend unter dem Mantel an sich gepresst, neben Girodelle hereilte

"Michael Doucette ... nun," Girodelle räusperte sich verlegen. Das Sprechen fiel ihm schwer, da der Wind sich gedreht hatte und von Südwesten her, immer neue Schneewehen aufwirbelte. Sie hielten die Köpfe leicht gesenkt. Die frostigen Flocken stachen auf der Haut und brannten in den Augen.

"Er hat sich meiner angenommen und dafür gesorgt, dass ich erfahre, wie er über den Austausch denkt. Ich bin war froh darüber, Lady Oscar in Freiheit zu wissen... Danach ließ man mich erstaunlicherweise in Ruhe. Lange Zeit war ich völlig allein. Später hole mich der Polizeipräfekt zum Verhör. Allerdings hatte ich das Gefühl die Befragungen wurden eher halbherzig durchgeführt. Robespierre muss demnach eingelenkt haben?"

Vor ihnen sprach gerade Bernard mit dem Kutscher und handelte den Fahrpreis aus. Mehrere Soustücke wechselten den Besitzer.

"Was letztendlich Robespierre beschlossen hat und was er zu tun gedenkt, wissen wir nicht. Wir können es nur vermuten, aber vertrauen würde ich darauf nicht," wandte Alan ein.
 

Keiner der Männer hatte bemerkte, wie Oscar langsamer wurde und hinter ihnen zurückblieb.

Keiner der Männer hatte gesehen, wie der letzte Rest Farbe ihr Gesicht verließ, dass es aschfahl wurde.

Keiner der Männer hatte erkannte, wie sich die Augen vor Schmerzen verdrehten, bis das Weiß der Augenäpfel sichtbar wurde.
 

Sie sahen nicht, wie sie sich mit schmerzverzehrtem Gesicht krümmt.

Sie hörten nicht, wie sie keuchend zu Boden sank.

Sie rochen nicht den süßlichen Geruch nach Blut, das sich immer schneller unter dem dunklen Mantel ausbreitete.
 

***

Verloschen

Sie war gewarnt worden. Die Schmerzen waren da gewesen, aber sie hatte sie ignoriert.

Sie war sogar sehr deutlich gewarnt worden, doch wie bei den ersten Symptomen der Tuberkuloseinfektion hatte sie die Wahrungen ihres Körpers missachtet.
 

Jetzt stand ihr Körper in Flammen. Oscar spürte, wie tief in ihrem Inneren Schmerzen wüteten, als fließe flüssige Lava durch ihre Venen. Sie hatten gerade die Pont St. Michel verlassen, als der erste Krampf ihren Körper erschütterte. Der Schmerz kam plötzlich und heftig. Es war, als hätte man ein Stück heißes Eisen durch ihr Rückrat getrieben. Jetzt konnte sie die leichten Schmerzen der vergangen Tage nicht mehr ignorieren und bekam Angst; schreckliche Angst; fast Panik. Was war das Ungewisse, dass in ihrem Körper wütete und sie quälte?

Die Gestalt der Anderen vor ihr begann zu verschwimmen. Die Schmerzintervalle wurden heftiger und ließen das Gefühl von Ohnmacht zurück. Sie krümmte sich und begann flach zu atmen, um die Schlieren vor ihren Augen zu vertreiben. Abgesehen von einer leichten Übelkeit hatte sie sich seit dem Morgen gut gefühlt. Wieder marterte eine neue Schmerzwelle ihren Körper, schrecklicher als alle anderen. Oscar brannte, die Luft fehlte zum Atmen, der Schmerz raubte ihr die Sinne. Ihr Körper sackte zusammen und Dunkelheit umfing sie.
 

"OSCAR, OSCAR," Die Panik begann den Klang von André's Stimme zu verzerren und raubte ihm jeden klaren Gedanken. Verzweifelt fiel er vor ihr auf die Knie und schüttelte er die leblos liegende Gestalt im Schnee. Vorsichtig nahm er sie in den Arm und beugte sich über sie, um Herzschlag und Atem zu fühlen. Schwach schlug der Puls in ihrer Halsbeuge, schlaff ruhte ihr Körper an seiner Brust, das Gesicht farblos, vor Schmerzen verzehrt.

"Was ist mit ihr?" Ratlos kniete sich Alan nieder, um die reglose Gestalt vor dem Wind zu schützen. Girodelle und Bernard versuchten ihm über die Schultern zu blicken. Noch sahen sie nicht das Blut, dass unter Oscar den Schnee durchtränkte. Hilfesuchend sah André zu ihnen auf, als könnte er in ihren Augen eine Antwort finden.

"Ich weiß es nicht. Eben ging es ihr noch gut. Der Puls schlägt nur ganz schwach." Alle Farbe war aus seinen Gesicht gewichen. Er tätschelte vorsichtig Oscar's Wangen. Sie wimmerte leise.

"TUT DOCH IRGENDETWAS!" André schrie gegen den Sturm, gegen die Angst an. "Irgendetwas!" Seine Stimmbänder gerieten in Panik.

"Seht nur, ihre Lider flattern! Sie erwacht." Oscar's regte sich. Mit ihren Sinnen kehrten Schmerz und Kälte zurück. Langsam öffnete sie die Augen und sah in drei besorgte Gesichter.

"Oscar was ist mit dir?"

"Ich weiß es nicht?" Das Sprechen fiel ihr schwer. Ihre Lippen fühlten sich taub an. Die Kälte hatte sie blaugefärbt.

André beugte sich näher, um sie verstehen zu können. "Es geht mir gleich besser. Lass mich aufstehen!"

...

"Oscar?"

Der Wille aufzustehen war da, aber das Gehirn sendete nicht den entsprechenden Befehl an die zutreffenden Glieder weiter.

"Du musst mir helfen!"

Andrè zog ihren Oberkörper vorsichtig hoch. Heftiges Schwindelgefühl erfasste sie und ihr Körper gehorchte weiterhin nicht ihren Anweisungen. André versuchte sie hochzuheben, aber seine kranke Schulter konnte das Gewicht ihres Körpers nicht heben.

"Lass!" Alan nahm behutsam Oscar in seine Arme und hob sie hoch.

"Nein!"

Er schenkte ihr ein spöttisches Lächeln. "Sei, nicht albern, Oscar. Du könntest dem männlichen Geschlecht wenigstens einmal erlauben, sich als Retter aufzuspielen. Wir bringen dich jetzt zu einem Arzt," sagte er und sah auf den Boden. Das Lächeln blieb, aber der Reste des Gesichtes wollte plötzlich nichts mehr damit zu tun haben. Auch die Anderen sahen auf den rotgefärbten Schnee und ihre Gesichtszüge entglitten ihnen. Alan's lachte gekünstelt und eilte auf die Kutsche zu. Der schlaffe Arm seiner zerbrechlichen Last schlug im Gleichschritt gegen sein Bein. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Er konnte den blutgetränkten Mantel fühlen. Endlich hatten sie die Kutsche erreicht.

Stirb nicht, bitte stirb nicht, Oscar, flehte Andrè stumm. Warum nur versteckst du dich, wenn es dir Schlecht geht?

"Was ist nur mit ihr?" fragte Girodelle, während er sich neben André niederließ.

"Ich weiß es nicht." André schüttelte unverständliche den Kopf und beobachte angespannt Oscar's Gesichtszüge.

"Sie hat immer wieder betont, dass es ihr gut ginge."

"In der Rue de l'École de Mèdiccine befindet sich ein Hospital. Es ist liegt nur wenige Querstraßen von hier entfernt." erklärte Bernard. "Kutscher, in die Rue de l'Ècole de Mèdiccine, Schnell!"

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge laut. Sie spürten, wie ein Ruck durch die Kutsche ging, als die großen Räder sich in Bewegung setzten und über das grobe Kopfsteinpflaster rollten.
 

Der weißgetünchte Gang des Hospitals roch nach süßlicher Fäulnis, vermischt mit scharfen und beißenden Gerüchen. Das Inventar und der Boden erschienen sauber, wenn auch abgenutzt. Andächtige Stille erfüllte das Gebäude. Viel Zeit war vergangen. Das Muster der Fußbodenfliesen hatte sich fest in das Gedächtnis von André gebrannt. Der zuständige Arzt trat auf den Flur und sah sie erwartungsvoll an. "Wer der Monsieurs ist der Ehegatte der jungen Dame?"

Einer trat vor, einer hielt sich raus, zwei seufzten innerlich.

"Wie geht es ihr?" fragte André und wurde vom Arzt beiseite gezogen. Leise berichtete er, was nur für André's Ohren bestimmt war. Seine Freunde könnten nicht hören, was gesprochen wurde, aber sie sahen, wie André die Gesichtszüge aus dem Gesicht rutschten. "Kann ich zu ihr?" Der Arzt bejahrte und André stürmte davon.

Die von Falten umrandeten Augen richten sich auf die Zurückgeblieben. "Wird sie wieder gesund?" fragte Alan.

"Nun, sie wird sich erholen." Der Arzt wurde nachdenklich. "Es geht mich eigentlich nichts an, aber sagt, warum trägt die Dame Männerkleidung?" Betretendes Schweigen folgte.

"Nun ja ..." begann Girodelle zögernd. "Sie ist ... exzentrisch." Der Arzt hob eine Augenbraue und sah zu dem Teil Kleid, dass Girodelle's Umhang nicht verhüllte. "Exzentrisch? Wie ist Euer Name, Monsieur?"

"Victor Clement de Girodelle. Graf Victor Clement de Girodelle," sagte Girodelle vorsichtig. "Es ist ein stolzer Name," fügte er hinzu und hielt in den Zügen seines Gegenübers nach Spott aus schau.

"Wie Ihr meint," erwiderte der Arzt unverbindlich. "Ihr habt Euch einen schlimmen Infektion zugezogen und ansehnliche Spuren im Gesicht, wollt Ihr mir folgen, Graf de Girodelle?"

"Danke" Girodelle folgte ihm.

"Und in Zukunft, Monsieur, rate ich Euch, ein etwas weniger luftiges Gewand bei diesen Temperaturen zu tragen."
 

André betrat Oscar's Krankenzimmer. Eine Helferin räumte gerade die letzten Utensilien der Untersuchung zusammen. Ihre weiße Schürze war voller Blutflecke. Auch an den weißen Unterarmen klebten noch Reste von Blut und Schleim, die sie nicht richtig abgewaschen hatte und ihr schwerer Leib umwehte der Geruch nach Schweiß. Mit den vorsichtigen Schritten übermüdeter alter Frauen tappte sie aus dem Zimmer. Oscar saß wach in den Kissen gelehnt. Ihr Gesicht war noch immer weiß vor Erschöpfung. Sie hatte inzwischen das frühe Stadium der Trauer hinter sich gebracht und jene Stille Lagune der Resignation erreicht, in der die Stimme gelassen klingt, das Gebärden ruhig und entspannt wirkt. Nur der glanzlose Ausdruck in ihren Augen verriet das innere Inferno. Wortlos sah sie André an. Das Schweigen folgte ihm, als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, einen Stuhl näher heranzog und sich zu ihr an das Bett setzte. Ihre Augen suchten ihn. Er wusste, dass Oscar keine Fragen, keine Erklärungen und vor allem kein Mitleid wollte. Sie würde ihm ihr Leid mitteilen, aber das WIE und den Zeitpunkt bestimmte sie. So stand die Stille als stummer Begleiter zwischen ihnen.

Gibst du dir die Schuld, Oscar?< dachte er gequält. >Tu, dies nicht.< Er nahm ihre kalten Finger zwischen seine warmen Hände und ließ sich die Einzelheiten des ärztlichen Ergebnis durch den Kopf gehen; staunend und überrascht. Er fing an der Perspektiven ihrer gemeinsamen Zukunft einen neuen Wahrscheinlichkeitsfaktor hinzu zurechnen. Zwei und zwei ergaben jetzt drei.

>Es starb, bevor es zu leben begann,< widersprach Oscar ihm stumm und strich aus ihrer Rechnung den Überraschungsadditiv. Es trennten sie nur noch Tage von ihrem fünfunddreißigste Lebensjahr und der Natur waren Grenzen gesetzt. In diesem Jahrhundert galt sie als alt. Oscar holte Luft, um das Schweigen zu beenden, aber die Schatten der Gewohnheit waren zu groß. Sie zu brechen hätte einen fundamentalen Faktor ihres Wesens verletzt. So entwisch die Luft, ohne eine Chance bekommen zu haben, ein zitatfähiger Ausspruch zu werden. Der Befund des Arztes lag ihr bleischwer im Magen, wie zu fettes Essen, dass sich weigert zu verdauen. Wie konnte sie nur die Anzeichen übersehen? Fast 2 Monate lang wuchs ein neues Leben in ihrem Körper heran und sie dachte bestenfalls an eine Magenverstimmung. Sie hatte Medizin mit etwas Opium versetzt bekommen. Ihr Körper fühlte sich seltsam losgelöst an.

Viele Jahre lang hatte André Zeit gehabt zu lernen Oscar's Gefühle hinter ihren wortlose Rückzüge zu deuten, zwischen den Worten, bzw. Nichtworten zu lesen. Er bekam es langsam mit der Angst zu tun. Diese Stimmung kannte er. Wenn metaphorische Wolken aus Kummer und Trauer um Oscar schwebten, dann konnte es gut sein, dass sie beschloss, für Gefühle sei kein Platz in ihrem Leben. Als sie nach dem Bruch zu von Fersen die Ansicht vertrat, ihr Leben neu ordnen zu müssen, hieß es für André zu gehen. Was wenn sie wieder entschloss, dass Gefühle nicht zu ihrem Leben gehörten?

"Mein Körper verrät mich wieder." Andrè hob überrascht das Gesicht, als er sie sprechen hörte. Ihre Stimmung hatte sich verdüstert. Dunkel Wolken umschatteten Oscar's Antlitz, ihr Blick wanderte zum Fenster. Es hatte aufgehört zu Schneien und der Dreck auf den Straßen und Gassen begann seine Vorherrschaft zurückzugewinnen.

"Nein, dass tut er nicht." sagte André ruhig. Verständnis und Einfühlungsvermögen, waren schon immer seine größten Charakterstärken gewesen. "Oscar, sieh nur, was du durchmachen musstest. Wie hätte dein Körper nach den Strapazen der letzten Wochen die Kraft finden sollen. Er brauchte sie für dich. Auch dir sind Grenzen gesetzt."

Schweigend sagte er zu sich: >Im Gegenteil; dass Leben hat dir bewiesen, dass es auch bei dir keine Ausnahmen macht. Du, die du immer versucht hast, dein Geschlecht zu verraten. Du bist eine Frau, so vollkommen, wie eine Frau sein kann, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.< Unsicher setzte er an. "Du beschließt doch nicht wieder, dass sich unsere Wege trennen sollten?"

"Sei nicht albern, Andrè," widersprach sie ärgerlich. "Ich war eine Närrin, dass ich die ganzen Jahre deine Liebe nicht erkannt habe. Wir haben soviel Zeit verschenkt, diesen Fehler begehe ich nicht noch einmal."

Zufrieden nagte André an seiner Unterlippe. Er lehnte sich innerlich zurück, legte metaphorisch seine mentalen Beine hoch. Vor ihnen lagen noch so viele Jahre und neuer Zuwachs ...? Er grinste lüstern. Er war bereit seinen Teil dazu beizutragen, Tag und Nacht, wenn nötig. In Sonderschichten, wenn es sein musste.
 

***

Abschied

Oscar lief allein durch die Straßen von Paris. Die Nachmittagssonne wanderte über den Zenit. Schnee bedeckte die Baumwipfel, Dächer und Kirchturmspitzen. Sie hatte André gebeten einige Zeit für sich sein zu dürfen. Ihr Aufenthalt im Hospital lag seit mehr als einer Woche hinter ihr und ihr Körper hatte sich von den Schmerzen weitestgehend erholt. Sinnlos ans Bett gefesselt zu sein half ihr nicht weiter.

Oscar flanierte die Markthallen entlang, über den Geflügelmarkt am Quai de la Vallée zum Fischmarkt. Die derbe Musik eines bewegten Handelstages begleitete sie. Rüde Stimme priesen ihre Waren an, überlagert von einzelnen Stimmen im schrillen Sopran, durchmischt mit abgenutztem Altmännerbass. Von den Schlachthäusern rann ein dünner Rinnsal aus Blut über die groben Pflastersteine und vermischte sich mit den Abfällen der Marktstände.

Oscar hatte die Einsamkeit gesucht, aber im Gedränge der vielen Menschen und den lauten Stimmen fühlte sie sich eingeengt. Sie wünschte sich mit einem Mal Andrè an ihre Seite. Der Menge und ihrem Lärm ausweichend, suchte sie Zuflucht unter einer der alten Kastanien am Rande des Quai de la Vallee.

Das knochige Gerüst aus nackten schneebedeckten Ästen ragte weitverzweigt über ihr auf. Über der Baumkrone erstreckte sich wolkenlos das Himmelzelt. Ihre Blick folgte unbeteiligt dem Kommen und Gehen am Markt. Mit den Gedanken war sie weit fort. Oscar's Blick blieb bei einer alten Frau hängen und sie hob fragend eine Augenbraue. Die alte Frau saß unweit von ihr zusammengesunken auf einer der Bänke. Der schwere Wintermantel bauschte sich um die matronenhafte Gestalt. Unter dem Mantel sah man Teile eines blauen Taftrocks, welcher schon bessere Tage gesehen hatte. Der Saum war fasrig und die Farben verblasst. Dazu kam ein Gesicht das an eine gutmütige Rosine mit weißer Spitzenhaube erinnerte. Trotz des riesigen Körpers wirkte sie zerbrechlich. Das Gefühl die alte Frau zu kennen nahm zu, aber die Erinnerung woher Oscar sie kannte, blieben in den Untiefen ihres Gedächtnisses verborgen. Die alte Frau bemerkte, dass sie von Oscar gemustert wurde und drehte sich ihr zu. Sie blickte Oscar aus ihren tiefliegenden Augen provozierend an. Mit hochgezogener Augenbraue verglich sie die feingliedrige Gestalt in der unauffälligen Männerkleidung, mit dem feingeschnittenen Gesicht und verzog den breiten Mund zu einem rauen, tiefen Lachen. Die Traurigkeit in den Augen wich dem Spott. Sie hob die Hand militärisch grüßend an den die Stirn. Wusste sie, wer da vor ihr stand? Sonniges Amüsement leuchtete im feinen Faltengespinst ihres Gesichtes. Der Mantel klaffte am Oberkörper etwas auf und gab die Sicht auf eine rot-taillierte Jacke frei, auf der in Herzhöhe ein Orden glänzte. Ohne näher mit ihr bekannt zu sein, wusste Oscar nun, wer dort saß - Chevaliere d'Èon, angekleidet wie eine Madonna im ausgeblichenen pathetischem blau-rot. Einst hatte das Bild einer jüngeren, schlanker, grazileren Chevaliere d'Èon sämtliche Zeitungen des Landes geziert. Oder sollte man besser sagen -sein Bild? Über diese Tatsache wurde noch immer spekuliert. Oscar war gerade erst geboren worden, als der junge Charles-Genevieve Louis-Auguste-Andre-Timothee mit seinem grazilen Äußeren nach Versaille kam und wettete, dass er im Kleid besser aussah, als die Pompadour. Er sollte recht behalten und so kam es, dass Ludwig XV dem Fehler unterlag, ihn für eine Frau zu halten. Der König machte sich Chevaliers androgynes Aussehen kurzerhand zu nutzen und schickte ihn auf diplomatische Mission nach Russland. Kurz drauf erreichte Frankreich die Nachricht, dass ihre "Diplomatin" begann, in Russland Zärtlichkeiten mit der Zarin auszutauschen. Man wisperte hinter vorgehaltener Hand, dass der Chevalier ein Hermaphrodit sei. Sein Dienst in Russland ging dem Ende entgegen und er trat der Armee in männlicher Rolle bei. Als Dragonerhauptmann kämpfte er heroisch im Siebenjährigen Krieg für das Vaterland und ein männliches Ansehen. Wieder erinnerte sich Ludwig XV an seinen verwandlungsfähigen Diplomaten und schickte diesen kurzentschlossen nach London, nur damit dieser auch dort ein Verhältnis mit der Königin einging und den dritten Königshof in wilde Spekulationen stürzte. Es war von Vorteil, dass Georg III, der derzeit in England regierende König Chevalier für eine Frau hielt und seiner Frau den begangenen Ehebruch nicht nachsagen konnte. Wäre ein Ehebruch bewiesen worden, hätten sich die Königin Sophie-Charlotte und Georg III entzweit und damit wäre ein Keil zwischen die ohnehin wacklige Beziehung zwischen Frankreich und England getrieben. Um dem zu entgegen, erkannte Ludwig XV Chevalier d'Èon offiziell als Frau an. Ludwig XV starb und Ludwig XVI erlaubte die Rückkehr des französischen Diplomaten unter der Bedingung, dass dieser von da an nur noch Frauenkleider tragen durfte und alle Waffen ablegen musste. Aus Chevalier d'Èon wurde Chevaliere d'Èon.

Vor 12 Jahren kehrte Chevaliere d'Èon nach Frankreich an den Hof zurück und Frankreich war sich noch immer nicht im klaren darüber, ob d'Èon Mann oder Frau war. Nach 14 Jahre zurück in Frankreich stürzte sich die spottbegeisterten Pariser auf ihren subversiven Helden, wie verhungerte Assgeier und zerfetzten ihn. Erst war er interessant, dann verrissen, später exzentrisch und bald drauf eine Witzfigur.
 

Oscar versuchte weiterhin ihre Rolle als persönliche Leibwache der Königin mit der gewohnten Souveränität und Gleichmut zu erfüllen und vermiet es weitest gehend d'Èon über dem Weg zu laufen. Sehr zu ihrem Leidwesen besaß auch dieser eine schlanke zierliche Gestalt und blondes lockiges Haar, dass ein ebenmäßiges Gesicht mit blauen Augen einrahmte. Trotz 27 Jahre Altersunterschied wurden Parallelen gezogen. Letztendlich waren Oscar und Chevaliere nicht zu vergleichen und doch gleich. Aber nicht umsonst gehörten die Jarjaye's dem Hochadel an und der Name d'Èon nur einem Juristen. Der Gedanke, dass sie ein Mann war, ließ zwar die Herzen ihrer zahlreichen Verehrerinnen höher schlagen, aber das Königshaus konnte sich Spekulationen über das Geschlecht einer Person aus derart nahem Umfeld der Königin nicht erlauben. Oscar ein Mann? Ein Vorwurf, der zu delikat war, als ihn mit der jungen, schönen Marie-Antoinette und ihrer leichtsinnigen Verspieltheit in Verbindung zu bringen. Der Spott richtete sich nie öffentlich gegen sie und dem Namen Jarjaye. Vorlaute Intriganten wurden in die hinterste Provinz verband. Chevaliere d'Èon spielte weiterhin seine Rolle als Frau im Bühnenstück der Gesellschaft und Oscar weiterhin, die eines Mittelwesen zwischen Mann und Frau; ohne ein Affront gegenüber der männlichen Eitelkeit zu sein?

Leider meinte das Leben es nicht gut mit Chevaliere d'Èon. Die Einsamkeit hatte ihn eingeholt, die Gesellschaft ausgeschlossen. Die kümmerliche Gestalt auf der Bank jagte Oscar Angst ein. Der wuchtige Körper wirkte zusammengesunken und kraftlos, das breite Gesicht seiner Schönheit, seines Charmes beraubt.

Oscar erwiderte seinen Gruß mit einem kurzen Nicken. Wortlos erkannten sich die beiden elitärsten Wesen des französischen Adels, begrüßt sich und kehrten einander den Rücken, ohne sich wirklich gekannt zu haben, aber dennoch vom anderen verstanden.
 

Oscar lenkte ihre Schritte heimwärts. Sie war lange unterwegs gewesen und hatte sich, ohne es zu wissen von Paris verabschiedet. Innerhalb weniger Monate hatte sich Paris gewandelt. Seine Reize, waren wie der Duft eines Parfüms verflogen. Sein Esprit, seine Leichtigkeit in den Wirren der Revolution verschwunden. Wie betäubt war Oscar durch seine Straßen gegangen, ohne die Stadt, welche sie seit ihrer Jugend kannte wieder zu erkennen. Die kleinen Läden um den Palais Royal waren zertrümmert oder seiner bunten Schaufensterauslagen beraubt. Überall sah sie Menschen mit der blau-weißen-roten Kokarden. Die Pariserinnen, ob jung oder alt, welche früher wie ein fröhlicher Vogelschwarm durch die Straßen eilten, waren schwerfälligen Poularden gewichen, gekleidet in wuchtigen Röcken, derben Jacken und flachen Männerschuhen. Männer standen mit finsteren Gesichtern und hängenden Schultern beisammen und bedachten jeden Passanten mit zornigen Blicken. An öffentlichen Plätzen rief mittlerweile jeder, der sich selbst reden hören wollte zur Vernichtung des Adels auf, den satten Parasiten, für die sich das gemeine Volk abrackerte, schwitzte, leidete, verausgabte. Und brüllend und stampfend applaudierten ihnen die Frauen und Männer in ihrer derben Kleidung und den verschlossenen Gesichter. Oscar kam nicht um hin, den Anprangerungen ihres Standes zuhören zu müssen. "Jetzt werden diese blaublütigen Schmarotzer in ihrer ganzen Erbärmlichkeit sichtbare," brüllen sie. "Widerwärtige Drohnen in seidenen Kniehosen, die das Geld ihrer Väter, die Pension des Königs, unsere Steuern verprassen, um nichts zu tun, außer ihren Gelüsten nachzugehen, welche, jetzt merken es auch die Dümmsten, nur den niedersten Instinkten entsprechen. Auf was warten wir noch? Sollen sie alle erschlagen werden!" Die Worte folgten ihr über den Jardin de Luxembourg wie ein Schwarm Krähen.

Paris roch anders, benahm sich anders, klang anders, als schäme sie sich seiner lasziven Vergangenheit. Kein anderes Volk hatte es verstand mit dieser Leichtigkeit zu leben, wie die Franzosen, doch ihre Unbeschwertheit lag jetzt unter der dicken Kruste der Revolution. Erst in den goldenen Jahren von Napoleons Herrschaft, würde sie wieder zu Tage treten. Sie lief langsam durch die Rue de Marché-Saint-Honoré. Es war nicht mehr weit, bis zu dem, dem, was sie für kurze Zeit ihr Zuhause nannte. Zwei Stockwerke über ihr. In einer der spärlich erleuchteten Wohnungen in der Nummer 217 wohnte ein Arzt namens Guillotin. Sie kannte ihn nicht, aber diesen Namen sollte man sich besser merken, nur um sich vor ihm zu hüten. Das schwere Eisenblatt seiner Erfindung würde das Blut Tausender vergießen.

Entgültigkeit

Es war dunkel geworden. Straßenlampen begannen ihren Dienst für die kommende Nacht. Der Geruch nach ausgekochten Innereien, aus denen das Öl der Lampen gewonnen wurde erfüllte die Luft. Zwei Gestalten eilen tief verborgen in ihren dunklen Umhängen die Straßen entlang. Es war ihnen anzusehen, dass hier etwas Verbotenes vonstatten ging. Die kleinere Gestalt schmiegte sich enger an ihren Begleiter, auf der allzu trügerischen Suche nach Schutz. Sie bewies wiederholt, wie weltfremd und naiv sie in solchen Dingen war, trotz der namenhaften Lehrer, welche sich um ihre Bildung bemüht hatten und der nicht unerheblichen Lebensspannen. Ihr Mantel, zwar warm und schwarz, wie die Schatten der Nacht, war aus schimmerndem Samt, mit nerzgefütterter Innenseite. Kein Kleidungsstück, was in diesem Teil von Paris gehörte. Kamen sie näher an einen der Straßenlaternen, dann schimmerte der Stoff facettenreich unter den Strahlen des Lichts. Selbst das Klappern der zierlichen Absatzschuhe war ein eher ungewöhnliches Geräusch zu dieser Stunde, in dieser Gegend von Paris. Jedem Straßenmädchen, jedem Bettler, jedem Gauner, Meister der Beobachtung, weil dies zu ihrem Geschäft gehörte, wären sie aufgefallen. Doch das Glück wollte, dass sie unbeobachtet blieben. Die Rue de Marchè-Saint-Honorè erstreckte sich menschenleer vor ihnen. Wortlos und dicht im Schatten der Häuser haltend, eilten sie weiter, bis sie Schritte hörten. Schnell wichen sie in eine der Seitenstraßen aus und lauerten atemlos im Verborgenen.

Marie-Antoinette hörte wie ihre Geliebter die Luft anhielt. Sie setzten mit ihrem heimlichen Treffen ihr Leben aufs Spiel, aber genauso wenig konnten sie in Zeiten der Not voneinander lassen. In den Gängen der Tuillerien gab es keinen Ort, an dem sie sich heimlich treffen konnten. Es blieb nur die Hetzjagd durch die Straßen von Paris, die Dunkelheit als Schutz, den Hass des Volkes im Nacken.

Marie-Antoinette schmiegte sich enger in von Fersen's Arme und sog den feinen Duft seiner Haare ein. Sie konnte fühlen, wie sein Herz schlug, laut und schnell.

Beide hörten, wie die Schritte langsam näher kamen. Die Königin stutzte, als die schlanke Gestalt durch einen der Lichtkegel der Straßenlaternen trat. Oscar? Ihre Augen weiteten sich und sie war sich sicher, einem Trugbild zu erliegen. Das Licht der nächsten Straßenlaterne erfasste die Gestalt. Marie-Antoinette konnte hören, wie auch der Graf die Luft hart einsog. Es war kein Irrtum möglich. Das gleiche blonde lockige Haar, die feinen Gesichtszüge, die Körperhaltung, der ernste Zug um die Mundwinkel, der stolze Blick der Augen.

"Oscar?" wisperte Marie-Antoinette und sucht nach der Bestätigung in von Fersen's Augen.

"Das ist nicht möglich," flüsterte der Graf kaum hörbar zurück. "Sie ist tot. Wir erliegen sicher einer Täuschung. Das Licht spielt uns einen Streich." Seine Geliebte nickte bestätigend. Die Unbekannte war jetzt auf gleicher Höhe mit der Gasse, in welcher sich Marie-Antoinette und von Fersen versteckt hielten. Auch das Profil stimmte überein. Aber es konnte nicht Oscar sein. Seit dem Sturm auf die Bastille war der ehemalige Kommandeur verschwunden. Ihre Mutter, Lady Jarjaye hatte in Anwesenheit der Königin eine geheime Totenmessen für ihre Tochter abhalten lassen, da General de Jarjaye jede Erinnerung an seine Tochter verbot. Die auf der Bastille eingesetzten Offiziere berichtet, wie sie den Befehlshaber der aufständigen Truppe unter dem Kugelhagel tödlich getroffen fallen sahen.

Das heimliche Paar wartete, bis die Gestalt die Straßen hinunter verschwand. Sie wollte gerade ihren Weg weiter fortsetzten, als sie bemerkten, dass ein Dritter die abgestandene Gassenluft mit ihnen teilte. Sie waren nicht mehr alleine. Außer Atem starrten sich drei Augenpaare verschreckt an.

"Andrè?" Von Fersen sah abwechselnd Andrè an, dann die Straße hinab, der immer kleiner werdenden Gestalt nach.

"Graf von Fersen ... Majestät?" entfuhr es André verschreckt. Er beugte sich verblüfft vor, um genauer in den Schatten der Kapuze sehen zu können.

"Was macht Ihr ... dann war das doch Oscar?" fragte von Fersen ungläubig.

"Wer das? ... Neeein!" Eine Verneinung mit dreifachem "E" und der phlegmatisch, geduldige Gesichtsausdruck eines Mannes, von dem man getrost ein Pferd kaufen konnte. Wer würde seinen Worten nicht glauben. Wenn nötig war Andrè bereit abzustreiten Oscar jemals gekannt zu haben.

"Aber doch."

"Neeein!"

"Doch!"

"Neeein!" Es fiel ihm überhaupt nicht schwer drei "E's" zu formulieren, dabei schüttelte er heftig den Kopf.

"Wollt Ihr Eure Königin anlügen, Andrè?" mischte sich die Königin ein.

"Aber nein, Eure Majestät?"

"Ihr lügt! Dies war Lady Oscar Warum folgt Ihr ihr sonst?"

"Damit Ihr nichts passiert, Eure Majestät ... aber ich lüge Euch nicht an," beeilte sich er zu versichern. "Oscar Francois de Jarjaye wurde für tot erklärt, von ihrer Familie, vom Staat, auf dem Papier. Ihre Titel wurden ihr aberkannt, sie ist aus der Familienchronik gestrichen und ihr Vermögen wurde eingezogen."

"Aber körperlich existiert sie noch?" hackte der Graf nach.

"Das schon," räumte Andrè widerstrebend ein.

"Aber dann ..." Marie-Antoinette zupfte aufgeregt an von Fersen's Ärmel. "Aber wenn Oscar noch lebt...."

"Nein, Eure Majestät," unterbrach sie Andrè.

"Aber ..."

"Ich weiß, was Ihr sagen wollt, aber ich werde es nicht zulassen. Oscar hat Euch 20 Jahre lang gute und treue Dienste geleistet. Sie ist aus dem Militärdienst entlassen. Wir werden fortgehen. Dieses Land hat ihren Namen für tot erklärt und sie selbst fast getötet. Ich werde sie fortbringen, bevor sie es ganz schaffen."

"Vielleicht möchte mir Oscar wieder dienen?" widersprach die Königin.

"Sicherlich wird sie sich verpflichtet fühlen, aber von dieser Pflicht werde ich sie entbinden. Darum wird sie auch nichts über dieses Treffen erfahren und nun entschuldigt mich bitte, bevor ich sie aus den Augen verliere!"

Die Königin hielt Andrè am Arm fest. Ihre Augen schimmerten vor Tränen. Die letzten Monate hatten ihr körperlich zugesetzt. Die Knochen in ihrem Gesicht schienen nichts lieber zu sein, als die blasse Haut durchstoßen zu wollen. "Ich habe sonst niemanden. Die Revolutionen hat mir jeden meiner Vertrauten genommen. Ich bin allein, schrecklich allein."

"Es tut mir leid, Eure Majestät," Andrè sah sie ruhig an. "Ich habe mein gesamtes Leben darauf gewartet, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Ständen fallen, damit ich sie endlich lieben darf ... ich ein einfacher Bürgerlicher, ohne Titel, ohne Vermögen."

Tränen rannen über Marie-Antoinettes Wangen. Von Fersen löste sanft ihren Hand von André's Arm und nickte diesen verstehend zu. "Au revoir mein Freund und viel Glück Euch beiden." Mit einem dankenden Nicken verschwand Andrè in der Dunkelheit. Die Königin weinte kummervoll in den Armen ihres Liebhabers.
 

Andrè hastete die Rue de Revolin entlang. Endlich kam ihr Fluchtort in Sicht. Die wenige Zeit, die ihnen noch in Frankreich blieb, verbrachten sie in den zwei Zimmern, in der Rue de Revolin.

Andrè beschleunigte nochmals seine Schritte. Er beeilt sich, um vor Oscar zurück zu sein. Es war ein langer Nachmittag gewesen, seit Oscar aufgebrochen war und er ihr wie ein Schatten folgte. Nicht sicher, ob sie sein Verhalten gutheißen würde riss er die Tür auf und stand ihr direkt gegenüber.

" "Ehm..." Es mangelte dem Wort an Aussagekraft. Oscar legte ihm lächelnd den Finger auf den Mund, packte seinen Mantelkragen, zog ihn hinab, um ihn zu küssen, dass es ihm Atem und Sprache verschlug. Der Geruch ihrer Haare, die Süße ihre Lippen luden seine Haut statisch auf. Wollige Erregung im Lendenbereich und die Auslastung der Produktionsfähigkeit seiner Drüsen waren die Folge.

"...," brachte er hervor.

"Du bist mir gefolgt?"

"Ähm, ja."

Sie sah ihn liebevoll an. "Du warst es, schon immer."

"Was meinst du?"

"Es warst immer du. Ich dachte immer, ich wäre die Starke, die Unverwundbare. Dabei bist du es." Andrè strich ihr sanft die vorderen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. "Seit unserer Kindheit bist du an meiner Seite, der Schatten, der mich beschützt," fuhr sie fort. "Ich konnte mich in Versailles nur frei bewegen, weil du an meiner Seite warst, du bist mit mir in die France Garde gewechselt, obwohl sich unsere Wege getrennt hatten. Du hast dich gegen mein Vater gestellte und wolltest für mich sterben. Nie werde ich diese Nacht vergessen. Du hast dein Auge verloren, um mich zu befreien. Du hast dich Robespierre ausgeliefert, um mich zu schützen. Obwohl du es mir hättest sagen könne, du Narr. Das hätte uns viel Ärger erspart." Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel darüber, dass Narr als Äquivalent für eine eher handelsüblichere Koseform für Verliebte stand.

"Es tut mir leid, Oscar. Ich würde meinen Arm hergeben, um es ungeschehen zu machen."

Oscar tätschelte seinen Rücken. "Mit zweien bist du besser dran."

Andrè öffnete langsam ihren Umhang und folgten dem schweren Wollstoff mit seinen Händen.

"Selbst bei meinem Schmerz wegen von Fersen hast du mir geholfen." Ihre Stimme wurde sanft und zart, wie Seide. Erstaunt hielten Andrè's Hände auf halbem Weg.

"Nicht aufhören!" Ein Befehl kaum mehr als ein Flüstern. Seine Hände setzten ihre Wanderung fort. "Ich war so zerrissen. Das deine Worte der Wahrheit entsprachen, wollte ich nicht akzeptieren, aber dennoch haben sie mir geholfen und nun sieh, wohin du mich gebracht hast! Ich fange an Frauenkleider zu tragen." Oscar lachte leise. "Obgleich mir deine Leidenschaft in dieser unseligen Nacht Angst eingeflösste. All die Jahre dachte ich dich zu kennen, nur das du mich innerhalb weniger Minuten eines besseren belehrtest. "

"Sprich nicht mehr davon."

"Was wäre gewesen, wenn du mir früher deine Liebe gestanden hättest?

"Du hättest mich früher von dir fortgeschickt!" Er bog ihren Kopf zurück und liebkoste federleicht mit den Lippen ihren Hals.

"Du wärst nicht gegangen." Oscar schloss die Augen und gab sich den Gefühlen hin, die seine Hände und Lippen in ihr auslösten. Die Häarchen auf der Hautoberfläche richteten sich auf, der Magen zog sich zusammen, als die Wollust, wie heiße Lava durch sein Inneres fuhr, ihr Nervensystem begann an seinen Abermillionen Endpunkten zu kribbeln. Hormone signalisierten schon fast schmerzhaft höchste Bereitschaft.

"Meine Mutter ist tot, mein Vater so gut, wie gestorben ... er stand einfach vor mir und bezeichnete mich als Schandfleck. Ein Schandfleck ... während unmittelbar neben ihm meine Mutter in meinen Armen starb."

"Schhhh, ich weiß, Oscar." Er hielt mittlerweile ihr Hemd in der Hand und runzelte die Stirn, als versuche er sich an einen Einkaufszettel zu erinnern. Berauscht im Hormonstrudel landete Kleidungsstück >B< tapfer gezielt neben dem Stuhl.

"... im ganzen Schloss haben sie gewütet und geplündert und Sophie saß inmitten des Elends..." Als wäre der Damm gebrochen sprudelten die Worte aus Oscar. Teils Empörung, teils Entrüstung. Andrè ließ sie gewähren. Vielleicht musste sie darüber sprechen, jetzt und hier, damit nicht mehr darüber gesprochen werden musste. Wohin mit der Hose? Das letzte Kleidungsstück fiel. Mit fliegender Hast entledigte sich Andrè seiner Sachen und warf diese von sich.

"... woher nahmen sie sich das Recht mich einzusperren. Habe ich mich nicht auf die Seite des Volkes gestellt, habe ich nicht bewiesen, dass ich für ihre Sache kämpfe ..." Oscar verlor den Faden, da Andrè sich an ihrer bloßen Haut zu schaffen machte und ihr den Verstand raubte. Sie musste sich an ihm festhalten, da sonst ihre Beine nachgegeben hätten.

"... Jean-Luc erzählte, dass ... Robespierre uns überwachen ließ und keiner unserer Schritte ihm unbekannt wären. Wie kann dieser Mann derart anmaßend sein ... o-h-mein-Gott, Andrè ..."

Andrè hob sie hoch und trug sie zum Bett. Er ächzte, als sein kaum verheilter Arm schmerzhaft zog. Abstützend mit dem Arm sah er sie an.

"Sie haben mich in die Conciergie gesteckt."

"Ich weiß!"

"Sie haben mir die Kraft genommen, die ich brauchte. Es hatte keine Chance zu überleben."

"Ich weiß!" sagte er sanft und küsste sie.

"Nimmst du mich überhaupt ernst?"

"Aber natürlich, so erst, wie es mir möglich ist, wenn wir uns an diesem Punkt befinden." Und dann bewies er warum Liebe das süßeste ist, was es gibt. Süß genug, dass es Honig daneben bitter schmecken lässt, süß genug, um das Elend der vergangenen Monate auszulöschen, süß genug, um die Ängste der Zukunft zu vergessen.

***

Neubeginn

Der Sommer des Jahres 1791 hatte in Paris Einzug gehalten. Das Licht der Sonne ergoss sich üppig über die Stadt und ihre Strahlen drangen selbst in den finstersten Hinterhof, in die schmalste Gasse. Die Bäume standen noch im saftigen Grün des Frühlings, Blütenblätter tanzten über das glitzernde Wasser der tiefblauen Seine.

Der Sommer des Jahr 1791, ging als bewegte Zeit in die Geschichte ein und ein Datum hielten die niedergeschriebenen Erinnerungen an diese Zeit ins besondere fest, den 21. Juni 1791, die Flucht der königlichen Familie.
 

Frankreich' s Revolutionäre waren das vergangene Jahr über fleißig gewesen. Das Jahr 1790 glättet die Wogen von 1789. Das Gesetz über Modalitäten des Verkaufs von Adelsgütern wurde verabschiedet, Klöster und Orden aufgehoben, das Parlament aufgelöst und die Adelstitel abgeschafft. Die "Ami du Roi" erschien und etablierte sich als führende Zeitung der Revolutionszeit - und dennoch, das Elend blieb. Frankreich's Kinder hungerten weiterhin, während Arbeit für ihre Väter ausblieb und die Haushaltskasse ihrer Mütter leer. Die Assignaten, dass in Umlauf gebrachte Papiergeld erwies sich als nutz- und wertlos. Für das mittellose Volk blieb das Elend, die Verzweiflung und der Zorn.

Ihre Königin indes begriff den Ernst der Lage weiterhin nicht. Noch immer hielt sie an der Unantastbarkeit der Königswürde fest. Zu tief saß der Schmach der Schande vom 05. Oktober 1789. Der Glaube, von Gott zum Herrschen auserkoren zu sein, steckte tief in ihrer Seele. Sie nutzt ihre Macht über den König, um diesen nachteilig gegenüber der Nationalversammlung zu beeinflussen und verhinderte die Anhörung Mirabeau's und Lafayette's, den Helden des Bürgertums. Selbst Graf von Fersen, trotz der Gefahren, ein häufiger Gast am Königshof, konnte sie nicht von dieser Haltung abbringen. Marie Antoinette verstand ihr Volk nicht und die Bürger Frankreichs pflegten akribisch ihre Abneigung gegenüber ihrer Königin. Die zornigen wie aufgebrachten Bürger der Stadt verlangten, dass der König a) mit der Herumpfuscherei aufhörte und endlich was gegen die Misere im Staatshaushalt tat oder aber b) dafür optierten die Revolutionäre, sich der Regierung ganz abwandte und abdankte.

Die königliche Familie, hinter den verzierten Mauern der Tuilerien wussten nicht, wie sie a) bewerkstelligen sollten, fanden keinen sonderlichen Gefallen an b) und entschieden sich für c). Am 21. Juni 1791 versuchte der König mit seiner Familie zu fliehen. Spätestens seit seinem erzwungenen Umzug nach Paris wusste Ludwig XVI, dass sein Leben in Gefahr war. Weiber in Lumpen, nach Fisch stinkend, vor dreckstarrende Männer, die wie wilde Tiere, wie eine eklige Meute aus Unrat in den Palast von Versailles einbrachen, um zu plündern, zu zerstören, zu besudeln und mit gellendem Gezeter den Kopf der Königin zu verlangen.

Mit Hilfe des Grafen von Fersen's machte sich eine unauffällige Kutsche am Abend des 21. Juni auf den Weg zur österreichischen Grenze. Wie in allen tragischen Geschichten, die das Leben schrieb, wäre das Schicksal nichts, ohne eine kräftige Prise grausamer Ironie. In Varennes legte, das als Mittelstandbürger verkleidete königliche Elternpaar mit samt Sprösslingen eine Pause ein, um im örtlichen Wirtshaus zu speisen. Vor gut einem Jahr hatte noch "Vive le Roi" über der Schranktheke gestanden, darunter das Bildnis des Königs. Heute hatte, der Wirt die Ehre, den flüchtenden König zu bedienen. Und der Wirt tat noch mehr und verriet die gesamte Familie an seine Häscher. Unter Schmährufe und wüsten Beleidigungen wurden sie nach Paris zurück eskortiert. Der Schrecken der Fahrt raubte der Königin das Blond ihrer Haare und ihrem Volk den letzten Glauben an seinen König. Um einen Volksaufstand zu verhindern, stellte das Parlament die Flucht als einen Entführungsversuch dar, aber von nun an war es ein offenes Geheimnis, dass das Staatsoberhaupt Frankreichs sein Volk im Stich lassen wollte. Die königliche Familie wurde in die Conciergerie gesteckt, dem Vorzimmer zum Schafott. Kein einziger Insass entkam diesem Gefängnis noch lebendig.
 

Selbst in der englischen Hauptstadt wurde in den Salons der Lord's und Lady's das Kräftemessen zwischen den französischen Revolutionären und Royalisten diskutiert. Vorzugsweise bei einer Tasse Tee und ausreichend Gebäck. Ein nicht unerheblicher Teil der französischen High Society hatte sich in London niedergelassen, um mit den gewohnten Annehmlichkeiten des Lebens auf den Niederschlag der Revolutionsaufstände zu warten. Sie bildeten ihre eigene Gesellschaft im Kreise des englischen Adels. Empört saß man bei den Seinen, als die Nachricht der missglückten königlichen Flucht England erreichte, während der Butler in den Beständen der ausgedehnten Weinkeller nach einem passenden Jahrgang suchte. In Winschester und Somerset, den Bällen der Saison echovierte man sich über das Ringen der republikanischen Anhänger mit den Staatsoberhäupten. Bei Austern, Putenflügel mit Foi gras, gefülltes Hähnchen, geschmorte Wachteln, Haricots verts á la provencale, Truthand mit Trüffeln aus Ferney und Champagner erfuhren sie, dass am 03. September 1791 Frankreichs erste Verfassung verabschiedet wurde. Man benötigte Zeit bis zum Dessert, ehe man die Nachricht verdaut hatte. Währendessen trieb der Hunger in Frankreich die Wölfe bis in die Vororte von Paris. Arbeitslose Arbeiter durchwühlten die Müllkippen der Reichen, auf der Suche nach ranzigen Resten.
 

Weit entfernt von Prunk und Reichtum lebte man in Whitechapel. Schlangengleich kroch der vom Fluss aufsteigende Dunst durch die Straßen und Gassen. Es wurde Nacht, wenn man dieses Viertel betrat, selbst an einem heißen Junitag. Schwarz vor Dreck waren dort die Häuser und das Pflaster, die Gassen so eng, dass kein Lichtstrahl eindrang. Ratten und Mäuse liefen ohne Scheu durch die Gassen.

Stille herrschte im Haus in der Church Street, Nummer 66. Nun, normalerweise war es hier nie still. Normalerweise hörte man das geschäftige hantieren vieler Haushalte auf engstem Raum, lautes Stimmengewirr, Lachen, Stöhnen, gelegentliches Ächzen, verzweifeltes Weinen. Doch in dieser Nacht war alles still. Die Bewohner des Hauses lauschten den melodischen Klang der französischen Sprache, dem akustischen Gleichklang schwungvoller Konsonanten und Vokale. Die Vorteile eines handfester Ehestreits waren nicht von der Hand zu weisen. Kleinst noch so gut gehütete Geheimnisse, intimste Details, schwärzeste Vergangenheiten schallten durch die dünnen Wände und fanden keinen willkommeneren Ort, als die nachbarschaftlichen Ohren. Heute jedoch, wurden die Bewohner der Nummer 66 bitter enttäuscht, denn keiner von ihnen war der Französische Sprache mächtig.

Wütend und mit vor der Brust verschränkten Armen sah Oscar Andrè an. Dieser bemerkte ihr Blick, der ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers traf und hielt es daraufhin für besser, den Mund zuzuklappen und zu schweigen.

Zornig trat sie nach einen der Stühle und beobachtete mit Genugtuung, wie er nachgab und umkippte. Seit zwei Jahren lebten sie in Whitechapel und es wäre schier gelogen, wenn man behaupten würde, dass Oscar dieses Leben leicht fiel. Als vor zwei Jahren das Schiff in See stach, um Frankreichs Ufer hinter sich zu lassen, um in London vor Anker zu gehen, lag ihr zukünftiger Lebensplan klar definiert vor ihnen. Eins, zwei Jahre unter dem Mantel der Sparsamkeit in London, um anschließend mit genügend Geldmittel an die Westküste zu ziehen. Beide bezogen zwei Zimmer in Whitechape, Andrè fand Arbeit als Stallmeister eines französischen Grafen und Oscar half einem englischen Handelsvertreter bei dessen Korrespondenz mit seinen französischen Kunden.

Aber Oscar konnte sich weder an das Leben hart an der Armutsgrenze noch an das einer Frau gewöhnen. Die Eintönigkeit der Tage, die Eingeschränktheit eines zur Sparsamkeit verdammten Lebens, die Grenzen einer Frauen deprimierten sie, das Leben auf engstem Raum nahm ihr die Luft zum Atmen. Dieser Streit war lediglich ein Ventil, um ihrer angestauten Wut und unterdrückter schlechter Laune Luft zu machen. Bitter schmeckte der Geschmack ihres jetzigen Lebens. Und weil genau dies Andrè spürte und sie verstand, hatte er den Vorschlag gemacht, Oscar's ebenfalls in England exilsuchenden Schwestern um Geld und Beistand zu bitten. So begann der Streit und mit Oscar's entschiedener Ablehnung stand es unentschieden zwischen ihnen. Mittlerweile bemaß sie Andrè mit ihrem speziellen Blick welcher folgende Botschaft vermittelte: Wenn du nicht sofort das Thema fallen lässt, wirst du dir wünschen nie geboren zu sein und wenn diese Drohung nichts bewirkt, gehe ich mit dem Schürhacken auf dich los. Der Streit endete und das Thema fiel, wie kurz darauf ihre Kleider unter dem Tisch. Die anschließende Versöhnung zeigte, warum die Franzosen in l'amour die führende Meister dieser Diziplin sind. In Andrè's Armen fand Oscar wieder zu ihrer inneren Ruhe und die Harmonie ihres Beisammenseins ließ die Sonne in ihrem Leben wieder scheinen. Leider schien sie nicht lange. Kurz darauf wurde Andrè von einem ausschlagendem Pferd getroffen und brach sich das Bein. Die Arztrechnung und der Lohnverlust durch den Arbeitsausfall nahmen Oscar ihre letzten Einwände. Als am 25.04.1792 in Frankreich der erste Kopf unter der Guillotine fiel, fielen ihre letzten Einwände und sie suchte ihre Schwestern auf.
 

Der Mann wirkte wie jemand, der sich durch einen Korkenzieher denken konnte, ohne seine Gedanken zu verkrümmen. An seiner Identität konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, James verkörperte das typische Erscheinungsbild eines englischen Butlers. Nachdem er sie ansah, als wäre sie ein niederes Insekt, musste sie sich regelrecht zur Ruhe und zu einem möglichst hohen Maß an Freundlichkeit zwingen. Rasch blätterte Oscar in ihrem psychischen Buch der Etikette und sah unter Höflichkeit nach. "Mein Name ist Oscar Francois de Jarjaye. Übermittelt der Dame des Hauses bitte folgende Worte: Ihre jüngste Schwester sei hier. Trotz aller Nachrichten ist sie nicht tot und bittet um etwas von ihrer Zeit," brachte sie schließlich hervor und hasste sich abgrundtief dafür.

"Ganz sicher nicht, Madam!" Der Butler musterte ihre Erscheinung im einfachen Kleid von oben bis unten. Er griff unter ihren Ellenborgen, um sie energisch hinaus zu geleiten. "Gute Frau, ich rate dir schleunigst zu verschwinden. Für scharmloses Gesinde haben wir keine Zeit. Nimm deine infamen Lügen und scher dich fort, bevor ich den Knecht hole, der dich gewaltsam entfernt." Er stutzt, als die Unbekannte ihre Hacken in den Boden stemmt und mit erstaunlich viel Kraft seinem Ziehen widerstand.

Ruhig schüttelte Oscar seine Hand ab und blätterte zur nächsten Seite vor. "Guter Mann, Ihr geht jetzt schleunigst zu Eurer Herrin und berichtet Ihr, was ich Euch aufgetragen habe." Hochmütig sah sie auf ihn nieder, was angesichts ihrer Größe und der gedrungenen Gestalt des Butlers durchaus wörtlich zu verstehen war. "Sagt Ihr, ihre Schwester sei hier. Einer der Schwester, dessen gemeinsame Mutter eine Narbe am rechten Oberschenke aufzuweisen hat, weil sie sich unglücklicherweise auf eine Glasvase setzte, die das Dienstpersonal zum Reinigen auf einen der Stühle legte. Sie wird mir Glauben schenken." Unter den zornigen Blick der strengen Augen, im stechenden Saphirblau setzte sich James mit all seiner Würde in Bewegung und tat, was man ihm aufgetragen hatte.

Wenig später standen sich zwei äußerst ungleiche Schwestern gegenüber. Daphne Charlotte, geborene Jarjaye und jetzige Gräfin des Hauses Comferrac-Bois musterte verblüfft die Frau, welche vorgab ihre jüngste Schwester zu sein. Beide hatten sich seit 24 Jahren nicht mehr gesehen. Ihre Besucherin war von großer Gestalt, mit dem schmalen Körperbau der Jarjayefrauen und Gesichtszügen von zeitloser Schönheit. Ihr Alter war schwer zu schätzen. "Oscar?" Daphne Charlotte versuchte sie sich in Uniform und Männerkleidung vorzustellen.

"Daphne." Oscar nickte. "Du wirst sicher überrascht sein, warum ich dich aufsuche." Daphne lachte gekünstelt.

"Ja, dies ist ein, sagen wir eher ungewöhnlicher Besuch. Du musst wissen, es war schon schwer der Familie meines Mannes zu erklären, warum meine Schwester als Mann lebt, aber das ...und die Engländer werden hierfür kein Verständnis zeigen." Wieder wanderte der Blick von oben nach unten. Wieder erklang ihr gekünsteltes Lachen. Während Oscar ihr ihre Lebensumstände und ihre Bitte näher erklärte, begann ihr Lachen so unfreundlich zu klingen, als habe man ihr das lachen mehrmals geduldig erklärt, ohne irgendeinen Hinweis auf Humor. Zum Schluss schieden die beiden Schwestern mit der gleichen fehlenden Zuneigung von einander, mit der sie sich nach 24 Jahren getroffen hatten. Oscar etwas reicher, aber mit dem bitteren Geschmack ihres verletzten Stolzes im Mund. Daphne unerheblich ärmer, -wenige Pfunde, die für eine Frau ihre Vermögens kaum der Rede wert sein dürften, aber mit innigsten Wunsch Oscar nie mehr wiederzusehen.

Als am 17. 01.1793 381 von 721 Abgeordneten für die Hinrichtung des Königs stimmten, unterzeichnete Andrè

den Kaufvertrag eines kleinen Anwesens bei Plymoth. Am 21.01.1793 fiel der Kopf Ludwig XVI auf dem Place de la Rèvolution.
 

Am 16.10.1793 landet Marie-Antoinette auf dem Scharfott. Nach einem Prozess, der an Geschmacklosigkeiten nicht mehr zu überbieten war, wurde das Urteil gefällt. Zum ersten Mal zeigt sich jetzt die Willkür dieses politischen Ausnahmegerichts. Als die Witwe des Königs bezichtigt wurde, ihr eigenes Kind verführt zu haben, regte sich selbst im Pöbel Widerwillen gegen die Ankläger und dennoch jubelte sie, als die Eisenklinge fiel. An den Haaren hielt Sanson, der oberste Henker von Paris den Kopf hoch und zeigte ihn der jaulenden Menge, diesen zu früh gealterten Kopf mit schlaffen Gesichtszügen, die früher einmal als schön gegolten hatten. Manche der Zuschauer tunkten ihre Finger in das Blut und leckten es ab, Sanson verkaufte teile der Haare, junge Mädchen rissen sich aus dem blutigen Hemd der Leiche Fetzen heraus.

Seit langem schon rührte Oscar sie ungern an, die Briefe aus der alten Heimat. Tat sie es doch, dann musste sie von den Schrecken daheim lesen. Schnell gewöhnte sie sich an die Freiheiten des Landlebens. Ein große Haus aus grauem Stein, eingebetet in der malerischen Landschaft von Plymoth. Es mochte vor langer Zeit einmal einem reichen Gutsherrn gehört haben. Große Fenster, großzügige Räume und vereinzelte Verzierungen zeugten von dem Vermögen, dass der Erbauer sein Eigen genannt haben musste. Es war viele Jahre lang verlassen und die Zeit hatte ihre Spuren im Antlitz des Anwesens hinterlassen. Mit dem Geld ihrer Schwester begannen sie langsam das Haupthaus wieder herzurichten. Der Seitenarm blieb unberührt. Sie brauchten nicht mehr Raum. Pflanzen hatten die Ruinen fast vollständig überwuchert. Sie machten das Haus zu etwas besonderem und einzigartigem. Hier ließ es sich leben und Andrè's Wissen über den Umgang mit Pferden sicherte ihr Einkommen. Schließlich gab es nichts, was er nicht über sie wusste. Er war mit ihnen aufgewachsen, hat sie betreut und gepflegt. Jetzt züchtet und trainiert er sie.
 

Inzwischen zog das nächste Jahr dahin. Es kamen keine Lebensmittel mehr nach Paris hinein. Der Hunger hatte den Menschen die letzten Hemmungen geraubt. Menschen aus den Vorort überfielen die Lebensmittellieferanten, bevor diese die Stadtgrenze passierten. Die Liste der inhaftierten Adligen wurde immer länger, das Wasser in den Abwasserkanälen immer röter. Ganze Familien wanderten zum Schafott, die wenigen Zurückgebliebenen mussten hilflos zusehen, wie ihr Vermögen dem Staat übereignet wurde und der letzte Rest den Gläubigern zum Opfer fiel.

Am 20. Prairial II, die Franzosen schrieben einen neuen Kalender, feierte Paris das 'Fest des Höchsten Wesens'. Eigentlich ehrte sich Robespierre mit den Feierlichkeiten selbst. Das Volk hatte schon lange begonnen, den wahren Charakter Robespierres zu erkennen. Seine Diktatur- und Guillotinen-Politik erregte nur noch Abscheu. Bei den Feierlichkeiten schrie einer in die Richtung des Diktators 'Dieser Scheißkerl! Es genügt ihm nicht, König zu sein, jetzt will er auch noch Gott werden!' Und Recht sollte er behalten, denn das Schreckengesetz vom 22. Prairial II trug seine Handschrift. Es erweiterte die Befugnisse des Pariser Revolutionstribunals, schafft die Verteidigung ab und beschrieb die Delikte so ungenau, dass die Verurteilungen faktisch in die Willkür des Gerichts gestellt wurden Nochmals verschärfte sich der Terror. Angeklagte wurden en masse verurteilt und guillotiniert. Hinrichtungen wurden Alltag. Eine lähmende Angst erfasst das ganze Land.

Weiterhin erlebten Oscar und Andrè die Revolutionsjahre nur in Briefform. In Plymoth herrschte Idylle. Einzig ihre Kinderlosigkeit warf ein Schatten über ihr Leben. Aber unverhofft kommt oft und das Schicksal hielt einige Überraschungen bereit.

Als am 9. Thermidor Robespierre von seinen Gegnern gestürzt und der große Moralprediger der Revolution durch die Guillotine zum Schweigen gebracht wurde, legte wenig später ein Handelschiff am Hafen von Plymoth an. Königliches Bourbonenblut betrat die Britische Insel. Verborgen im Dunkel der Nacht machten sich ein 9. Jahre alte Knabe und seine Eskorte auf dem Weg. An seiner statt starb ein krankes Bettlerkind in den Mauern des Gefängnisses gestorben. Ludwig XVII hatte nur seine königliche Herkunft, eine wage Erinnerung an den ehemaligen Kommandeur des königlichen Garderegiments und einen Brief seiner Mutter. Wolken verdeckten den Mond und die Sterne, als sie den gepflegten Kiesweg zu dem großen Steinhaus hinauf schritten. Als der erste Morgenschimmer am Horizont hervorbrach verabschiedete sich Ludwig XVIII von seinen Begleitern und begann sein neues Leben in Plymoth unter den fürsorglichen Augen einer der engsten Vertrauten seiner Mutter. So rief Marie-Antoinette noch nach ihrem Tode Oscar zu Hilfe.

Ende

Wenn man zum Panthéon kommt, gelangt man zum Café Musain. Das Café ist klein und schäbig, der Platz heruntergekommen und befindet sich zwischen Wohnhäusern der ärmeren Schicht. Der ersehnte Aufschwung nach der großen Revolution von 1789 kam nicht in diese Gegend. Das zurückliegende Jahrzehnt hatte der Hauptstadt sehr viel Kraft gekostet. Besonders die kleinen Leute, die sich eine Erlösung aus ihrem Elend ersehnten, wurden bitter enttäuscht. Mit den Revolutionskriegen und dem Niederschlag der Royalistenaufstände errang sich ein einfacher Offizier, aber ein an Genialität grenzender Stratege, Robespierres Wohlwollen und darüber hinaus das Vertrauen der Franzosen. Seit 1792 herrschten verschiedene Gruppen diktatorisch mit Schrecken und Terror über Frankreich. Robespierres Kopf fiel und mit dem Jahr 1799 war das bürgerliche Direktorium am Ende und die Monarchie gewann an Anhänger. Der Bruder des verstobenen Königs Ludwig XVI, der Comte de Provence proklamiert nach der Hinrichtung des Königs 1793 den Dauphin zum neuen Monarchen Ludwig XVII und bestimmte sich selbst zum Regenten. Nach dessen Tod im Exil 1795 war endlich seine Zeit gekommen und er rief sich zum König Ludwig XVIII aus. Das enttäuschte Bürgerturm wendete sich in seiner Krise dem beliebten General Napoleon Bonaparte zu und ernannte diesen 1800 zum Konsul auf Lebzeiten. Ludwig XVIII floh ins Exil. Die militärischen Erfolge blieben nicht aus und so krönt sich Napoleon 4 Jahre später selbst zum Kaiser. Mit ihm kam die Finanzreform und der Aufschwung im Kredit- und Handelsmarkt. Jedoch auch er fiel. Nach seiner Absetzung 1814, durch den Senat kehrte Ludwig XVIII nach Frankreich zurück führte sein Volk weiter ins Elend.

Napoleon hatte es verstanden drei französische Revolutionen zu nutzen, um seine politischen Pläne durchzusetzen. 18 Jahre nach seiner Abdankung stand die Vierte bevor. Jene Zeit war nur scheinbar apathisch. Überall regten sich revolutionäre Geister. Das Volk hatte zu lange im Elend gelebt. Der Geist von 1789 und 1792 war wieder in der Luft und wie es der Wandel der Zeit will, gärt das junge Blut und die nächste Generation ist bereit den Kampf für ein besseres Frankreich zu kämpfen.

Hier im Café Musain, inmitten des Elends treffen sie sich, junge Studenten, die mit den Arbeitern auf gutem Fuß stehen. Im Café Musain wird über vieles laut Diskutiert und allerhand leise erzählt. Wenn sich ein, von revolutionären Gedanken durchdrungener junger Mann am Pantheón hinstellt und zu denen spricht, die bereit sind zuzuhören, dann nicht um über das Wetter zu reden. Und es sind, dieser Tage viele bereit, ihm zuzuhören.
 

***
 

Das Jahr 1832 ist erwacht und steht in seiner Blüte. Die Sonne erwärmt Paris, die Tage sind lang und die Nächte kurz. Die Straße ist wieder ein annehmbarerer Wohnort für Bettler und Landstreicher geworden.

Wir befinden uns immer noch auf dem Platz am Pantheón, beim Café Musain. Auf einer Kiste steht ein junger Mann, in unauffälligen Braun- und Schwarztönen gekleidet. Er wettert gegen Ludwig XVIII, obwohl dieser schon tot ist, er erinnert an die Versprechungen der Regierung, welche nicht erfüllt wurden, er ruft zum gemeinsamen Handeln auf, wo die Gemüter noch uneins sind. Die weichen Linien der Kindheit sind noch nicht ganz aus seinen Zügen gewichen, sein Adamsapfel hüpft vor Aufregung auf und ab. Er hat die Faust dem Himmel entgegen geballt und kreist wortgewaltig die gegenwärtigen Missstände der zeitgenössischen Regierung an.

"Die drei Probleme unseres Jahrhunderts sind die Entwürdigung des Mannes durch das Proletarierdasein, ..."

Man hört mit zustimmender Miene zu.

".. die Schändung des Weibes durch den Hunger, ..." Die Menschen mit ihren hungrigen Mägen und der fadenscheinigen Kleidung am Leib nicken bestätigend.

"... die Verwahrlosung unserer Kinder durch die geistige Finsternis, in der es gehalten wird. Unsere Gesellschaft befindet sich im sozialen Erstickungstod, solange diese drei Probleme nicht gelöst sind!" Wieder kommt Bestätigung von seitens seiner Zuhörer.

Etwas abseits und doch mitten unter ihnen, steht ein Mann und hört mit unbeweglichen Gesichtszügen zu. Er mag wohl 40 Jahre zählen. Sein Blick ist ruhig und offen. Dunkelbraune gelockte Haare umranden das Gesicht, mit grünen Augen. Der junge Student hat seinen Blick aufgefangen. Er ist am Ende seiner Rede angelangt. Unbeholfen, fast peinlich berührt klettert er von seinem improvisierten Podium und wendet sich dem Mann in der Menge zu. Die Menschen zerstreuen sich eilig. Mit der eintretenden Stille erinnern sie sich wieder an ihr Tagwerk.

"Ihr seid doch Bernard Chatelet, der Journalist?" spricht er ihn an. Bernard nickt bestätigend. Er war unter den Studenten wohlbekannt, auch wenn er keine zentrale Rolle spielt, wie sein Vater bei der Revolution 1789. Ihm fehlt dessen Fähigkeit, dass Volk mit seinen Reden zu fesseln. Er hat das ruhige, fast schüchterne Wesen seiner Mutter Rosalie geerbt. Doch seine Fähigkeiten als Journalist und sein politisches Gespür, stehen den seines Vaters in nichts nach. Der junge Mann sieht ihn aufgeregt an und streckt ihm seine Hand entgegen, um diese überschwänglich zu schütteln. "Fabienne Jourette, ist mein Name. Darf ich Euch zu einem Glas Wein einladen?" Bernard lacht leise und betrachte den mehrfach ausgebesserten Rock seines Gegenüber.

"Lasst mich lieber Euch zu einem Glas Wein einladen, mein Freund." Fabienne verzieht das Gesicht, als wäre er unschlüssig, ob er gekränkt oder geehrt sein sollte, dann nickt er.

"Ich habe Euren Artikel gelesen, Monsieur Chatelet," erklärt er, während sie das Café ansteuern. Die Bevölkerung war wieder dazu übergangen sich mit Monsieur und Madam anzusprechen, anstatt die Anrede Bürgerin und Bürger zu nutzen. "Obwohl er anonym ist, weiß jeder, dass er aus Eurer Hand stammt. Er ist phantastisch." Beide Männer setzten sich. Um sie herum erfüllt Stimmengewirr den Raum. Eine Zeitlang unterhalten sie sich über Politik, dann über die Wirtschaft. Bernard sind schon revolutionären Gedanken in die Wiege gelegt worden. Er ist mit den Idealen seines Vaters aufgewachsen. Auch Fabienne Jourette stammt aus einem bürgerlichen Haushalt, bei Toulon. Wie alle Kleinstädter zu dieser Zeit hält ein erheblicher Teil von ihn an Napoleon Bonaparte fest. Bei seinen Eltern daheim wurde das Glas noch auf den 1,49 m großen Kaiser erhoben, anstatt auf den übergewichtigen, charakterlosen Nachfolger der Bourbonen, Ludwig XVIII. Er war nach Paris gekommen, um Jura zu studieren.

"Ich habe die Werke Eures Vaters nach der großen Revolution gelesen," stellt Fabienne fest, nachdem sie das Thema Politik beendet haben. Bernard nickt. Die meisten Menschen sprechen ihn auf die Werke seines Vater an, wenn sie ihn das erste Mal treffen. Irgendwann gewöhnte man sich daran, im Schatten seines Vaters zu stehen. Anders, als die anderen großen Revolutionäre seiner Zeit, wie Robespierre und Danton, hatte Bernard Chatelet senior, keinen Anteil an der darauffolgenden Schreckensherrschaft. Mutter und Vater hatten sich seit dem Tod Ludwig XVI zurückgezogen.

"Sagt Bernard, ich habe gehört, der Roman "Girodelle, sei von Eurem Vater geschrieben, stimmt das?"

Bernard lächelt. "Sagt bloß, Ihr habt das Buch gelesen?" Der junge Mann wird rot und senkt die Augenlider, aber die Neugier bleibt.

"Ja, das stimmt," räumt Bernard ein. "Der Roman wurde zu einem ganz bestimmten Zweck von meinem Vater geschrieben." Fabienne lehnte sich interessiert näher. "Weswegen? Ich dachte er hasst den Adel." Bernard lächelte breit. "Im allgemeinen ja, aber er hat Menschen getroffen, bei denen er bereit ist, eine Ausnahme zu machen. Ihr solltet ihn deswegen selbst befragen, er erzählt die Geschichte immer wieder gern. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft er sie mir erzählt hat."

"Dann ist "Girodelle" authentisch?"

"Natürlich."

"Wer ist die geheimnisvolle Frau?"

"Habt Ihr je von Oscar Francois de Jarjaye gehört?" Fabienne schüttelt den Kopf. Bernard seufzt, lässt seine Gedanken kurz schweifen und beginnt dann doch zu erzählen. Vielleicht ist es nicht schlecht, dem kaum dem Kindesalter entwachsenen jungen Mann zu erzählen, was die Revolution aus Menschen macht; das eine Revolution keine graue Masse unterdrückter Menschen ist, sondern durch einzelne Schicksale geprägt wird. Es ist ein Teil der Vergangenheit seiner Eltern, aber ihre Erzählungen haben sie zu seiner gemacht.
 

Die Weinflasche ist schon längst geleert, als Bernard endet. Der junge Mann hat unentwegt an seinen Lippen gehangen. Es sind erst 40 Jahre vergangen, aber Oscar und Andre scheinen Helden einer längst vergangen Ära zu sein.

"Was ist aus ihnen geworden?" fragt er. Bernard zuckt die Schultern.

"Das wissen wir nicht genau. Es ist Fakt, dass die Königin unter Madame Guillotine landete und mit ihrem Tod Hans Axel von Fersen zu einem Menschenverächter wurde, der 10 Jahre später in seinem Schloss ermordet aufgefunden wurde."

"Und Oscar und André?" Bernard's Blick verdüstert sich. Er hat sie nicht gekannt, aber ihr Leben hätte nicht so enden sollen.

"André's Wunden verheilten und Robespierre ließ beide wie versprochen in Frieden ziehen. Als das Jahr 1890 kam und der Frühling anbrach und die ersten Schiffe wieder fuhren, sind beide nach England aufgebrochen. Viele französische Adlige waren rechtzeitig über den Kanal geflohen. Oscar hoffte, ihre Schwestern in England zu finden.

Sie und André blieben nahe der Küste zu Frankreich und versuchten dort ein neues Leben aufzubauen. Zwischen ihr und meiner Mutter herrschte regelmäßiger Schriftverkehr ... bis dieser im Frühjahr 1806 plötzlich abbrach. Zu dieser Zeit war Napoleon im Krieg mit England. Irgendwann kamen keine Antworten mehr auf die Briefe meiner Mutter. Sie verging fast vor Sorge, aber alle Nachforschungen, die meine Eltern anstellten, führten zu nichts."

"Gar nichts? Sie waren einfach verschwunden?" fragend sieht ihn der junge Student an.

"Nun ja ...," Bernard wählt seine Worte sorgfältig. "Ihr wisst sicher, dass Napoleon in der Zeit seiner Regentschaft permanent Krieg mit den europäischen Mächten führte. 1803 versuchte er England einzunehmen. 1808 begannen Österreich und Norddeutschland erheblichen Widerstand gegen Napoleon zu leisten. Es kam zu erbitterten Kämpfen."

"Das weiß ich alles, Bernard. Jedes Kind kennt Napoleons Feldzüge. Warum erzählt Ihr mir das?" fragt Fabienne.

"Habt Geduld," wendet Bernard ein und fährt fort. "1812 kommt es zu der Niederlage bei Moskau und Napoleon erliegt in den Befreiungskriegen der übermächtigen Koalition zwischen England, Russland, Österreich und Preußen.

Mein Vater wollte eine Chronik zu den Napoleonischen Kriegen verfassen. Er befragte viele zurückgekehrte französische Soldaten über ihr Leben an der Front. Ihm erschienen die Erfahrungen eines einfachen Soldaten wichtiger, als den Bericht eines hohen Offiziers. Aus den zahlreichen Kämpfen nach 1808 tauchen Berichte über einen Soldaten auf. Er hat an verschiedenen Fronten von 1808 bis 1813 für die gegnerische Seite gekämpft. Nicht der Umstand, dass er Franzosen war, war das Merkwürdige, zu dieser Zeit kämpften viele ehemalige Royalisten gegen Bonaparte, sondern die Inbrunst, mit der er kämpfte. Die Art und Weise, wie er gegen die Franzosen focht, blieb den Soldaten im Gedächtnis. Wie ein Besenkter attackierte er Napoleons Soldaten, keine feindliche Kugel oder Säbel scheuen. Einige Soldaten berichteten, dass sie glaubten, dem Teufel persönlich gegenübergestanden zu haben. Anderen, erschien er durchaus menschlich, wenn auch allen Anschein nach unverwundbar. Mein Vater ging der Sache nach und erfuhr, dass der unbekannten Soldat aus Gegend bei Plymoth stammen sollte und einer der französischen Emigranten der Revolution von 1789 war. Eben jener Gegend, in der sich auch Oscar und André niedergelassen haben und eben jener Küstenstreifen, an dem Napoleon zu landen versuchten und an dem ein nicht unerheblicher Teil der Zivilbevölkerung zu Tode kam. Kurz drauf fand mein Vater den Namen seines unbekannte Soldaten heraus und der Unbekannter war keiner mehr. Er hieß Grandier. Die Nachricht traf meine Eltern wie ein Schock. Sie hofften, dass alles nur ein Zufall war, aber die Umstände waren zu eindeutig."

"Warum?"

"Warum André in den Krieg zog?" wiederholt Bernard Fabiennes Frage. "Wenn es überhaupt André gewesen war. Seine Frau soll von Napoleons Armee getötet worden sein, als diese auf Vorratssuche einen zivilen Ort plünderten. Er wollte sie rächen. Meine Eltern hörten jedenfalls nie mehr etwas von Oscar und André."

Fabienne rutscht auf seinen Stuhl hin und her. "So endet ihre Geschichte. Was wurde aus André?"

"1813 tauchte er das letzte Mal in den Erzählungen der Soldaten auf, welche von der Völkerschlacht bei Leipzig heimkehrten. Er starb entweder bei einem der Kämpfe oder lebt irgendwo, verkümmert in seinem Hass auf Napoleon."

"Was wurde aus dem Grafen Girodelle?" Bernard zuckt die Schultern. "Robespierre entließ ihn wirklich aus dem Gefängnis. Das Buch wurde ein Erfolg, dass wisst Ihr selbst. Er fand schließlich ein kurzes und ruhmloses Ende unter der Guillotine. Wie so viele Adlige wurde er vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt. Kurz bevor er zur Guillotine schritt, verspottete er noch den Tod. Der Graf stolperte auf der Treppe zum Schafott und meinte lächelnd zu seinem Schafrichter, dass dies eine böse Vorahnung sei. Ein Römer wäre an seiner Stelle umgekehrt."

"Ich hätte nie gedacht, dass "Girodelle" auf einer wahren Begebenheit beruht," gibt Fabienne zu. Zu mehr kommt er nicht. Die Tür des Café's wird aufgerissen und ein Mann schreit laut: "Zu den Waffen! Zu den Waffen!" Erst als er sich einigermaßen beruhigt hat, erfahren sie, was passiert ist.
 

Schon lange war Paris bereit für den Funken, der eine erneute Revolution auslösen sollte. Der eigentliche Anlass der Revolution ging im Nebel der Zeit nie verloren. Frankreichs Bevölkerung geriet über kurz oder lang aus verständlichen Gründen in Wut, worauf erbitterte Auseinandersetzungen folgten. Der Funke war letztendlich der Tod des General Lamarque. Lamarque war ein Volksheld, ein Kämpfer für die Republik. Trotzdem gewährte ihm der König ein Staatsbegräbnis, aus dem einfachen Grund, dass er dessen Popularität für sich nutzen wollte. Dazu hatte der König kein Recht und es machte die Menschen wütend. Während die Pariser Lamarque's Leichenzug begleiten kommt es zum Aufstand. Ein Dragoner beginnt in die Menge zu schießen. Wie der Wind das Feuer, verbreitet sich der Funke durch ganz Paris. Innerhalb einer Viertelstunde stürmen keuchend Arbeiter, Studenten und Mitglieder der Sektionen zusammen und schreien Alarm. Am Boulevard Saint-Martin wird eine Waffenfabrik geplündert. Bürger werden aus ihren Häusern geholt und zwangsrekrutiert, Barrikaden werden errichtet. Kaum eine Stunde ist vergangen, da stehen allein am Quartier der Markthallen siebenundzwanzig Barrikaden. Ein Drittel von Paris ist in den Händen der Revolutionäre. Die rote Flagge kündet vom Sieg, die schwarzflorierten Trikoloren von der Republik.

Gegen 6 Uhr Abends beginnt die Schlacht. Die Republikaner auf der einen Seite, das Militär auf der Anderen. Paris gleicht einem Pulverfass.

Auch die Corinthe ist besetzt worden. Bernard und Fabienne haben sich den Studenten und Arbeitern angeschlossen. Aus herausgerissenen Laternenpfählen, einem umgekippten Wagen, Pflastersteinen, Haustüren, Möbeln, Fässern, ja sogar Bäumen haben sie die Barrikade errichtet. Die Nacht bricht herein und beide Parteien schließen Waffenstillstand. Sie nutzen die Zeit, um die Barrikade weiter auszubessern und zu erhöhen. Am Morgen erfahren sie, dass die Pariser Bürger sich zurückgezogen haben. Keiner hält zu ihnen, weder ein Regiment noch eine Vorstadt. Gestern lärmte das Volk noch, heute haben sie sich verkrochen. Ihre Brüder haben sie verlassen. Noch an diesem Morgen wird der Todeskampf für die Leute auf der Barrikade beginnen. Die Schritte der herannahenden Soldaten, das Getöse, mit der die Artillerie vorrückt, der Pulverdampf, der sich über die im Sonnenglanz schimmernden Dächern erhebt, werden die letzten Eindrücke sein, bevor sie alle fallen.
 

***
 

05. Oktober 1812. Monoton hämmerten die Marschtrommeln. Sie übertönten nicht den Verzweiflungsschrei von Männern die Töten müssen, um nicht getötet zu werden. Das Wimmern und Stöhnen der Verwundeten, das heisere Gebell der Befehlshaber in jeder erdenklichen Sprachen. Sie trommelten munter weiter, zum Vorrücken in die Schlacht. Dicken Staubschwaden verbargen das Sonnenlicht und hüllten das Schlachtfeld in graues Licht. Die fernen Kirchtürme der deutschen Stadt Leipzig waren im Dunst verschwunden.

Nicolas Varrenes tastete sich langsam vor. Das Bajonett in seinen Händen zitterte. Seine Füße bewegten sich unsicher über den unebenen Boden. Er war auf sich gestellt. Im Kampfgetümmel hatte er sich von seiner Einheit entfernt. Wieder hörte er das Schlagen der Trommeln. Die rhythmischen Schläge hallten durch die Ebene. Das Zeichen, dass die Infanterie vorrückte. Er hörte tausend Stiefelschritte, welche sich im Gleichschritt vorbewegen. Ist es seine Einheit? Gehören die Soldaten dem Feind an oder sind es französische Soldaten? Angestrengt versuchte er durch die graue Wand zu sehen. Die Artillerie war in Stellung gegangen und zündete die Kanonen. Der Lärm schrillte in den Ohren, als sie einschlugen und Tod und Verwüstung zurück ließen. Varrenes warf sich flach auf den Boden. Die Hände hob er schützend über den Kopf. Er spürte die Erde unter sich beben. Sand und Holz flogen durch die Luft. Die schweren Metallkugeln rissen dicke Krater in die Erde. Neue Schmerzensschreie erfüllten die Luft, während der Krach gezündeten Kanonen noch immer in Varrenes Kopf widerhallte. Nicolas stand vorsichtig auf. Er blieb weiterhin gebückt stehen und bewegte vorsichtig seine Glieder. Nichts tat ihm weh, seine Körperteile gehorchten seinem Willen. Wieder spähte er in die Nebelwand. Vorsichtig bewegte sich Nicolas vorwärts. Die grauen Schwaden lichteten sich langsam.

Vor sich nahm er konturenlose Schatten wahr. Vorsichtig schlich er näher, bis er mehr erkennen konnzr. Aus den Schatten wurden Gestalten. Ein Soldat in der Uniform der preußischen Armee kniete neben seinem Pferd und sprach leise auf das am Boden liegende Tier ein. Hilflos zuckte der prächtige Rappen, sein hinteres Bein war im unnatürlichen Winkel verdreht. Nicolas war nahe genug heran gekommen, er hob sein Bajonett und richtete den Lauf auf den feindlichen Soldaten.

Der preußische Soldat beachtete ihn nicht weiter. Während er immer noch leise auf das Tier einsprach, zückte er seine Pistole und tötet es schnell. Erst jetzt konnte Varrenes seine Worte verstehen. Erstaunt sah er seinen Gegner an. Auch der andere Soldat wendete sich im zu.

"Du bist Franzosen!" brüllte ihn Varrenes an. "Was tust du in den Blauröcken der Preußen, Mann?" Die Augen seines Gegenüber sahen ihn ruhig an. "Warum kämpfst du gegen deine eigenen Leute? Verdammt, wir sind Franzosen!" schrie Varrenes außer sich. Als würde seine Frage längst vergessenes wieder hervorrufen, entstellte Hass die Züge des anderen Soldaten. Furchtlos trat dieser näher. Seine Hand hielt weiterhin die Pistole gesenkt.

"Das hat Euch auch nicht interessiert, als ihr meine Liebe, mein Leben umbrachtet." Seine Stimme war rau und heiser vor Schmerz und Verbitterung. "Ihr werdet dafür bezahlen!" Ungläubig sah Nicolas den Mann an.

"Du kannst doch nicht die gesamte französische Armee töten, Mann, nur weil sie deine Frau umgebracht haben. Es ist Krieg, Menschen sterben nun mal." Varrenes umfasste seine Waffe fester. "Komm nicht näher!" drohte er. "Ich knall dich ab, du bist jetzt unser Feind." Verblüfft sah er, wie der fremde Soldat den Abstand zwischen ihnen weiter verringerte. Noch immer lag dessen Waffe lose in seiner Hand. Warum blieb er nicht stehen? Warum ging er in den sicheren Tod? Nicolas sah in zwei Augen, die so mild und sanft blickten, wie die eines hungrigen Wolfes. Hungrig nach dem Tod. Erschrocken keuchte er. Nicolas mochte vielleicht nicht intelligenter sein, als ein durchschnittlich begabter Schimpanse, aber er erkannt die Anzeichen von beginnendem Wahnsinn. Der Mann vor ihm hatte mit dem Leben abgeschlossen. Die Sehnsucht nach dem Tod war größer, als nach Rache. Er lauerte darauf, dass Nicolas abdrückte. Fast hypnotischen zwangen seine Augen ihn dazu. Ein Schuss löste sich. Hinter Nicolas ertönte plötzlich ein Kreischen, dass nur von einem wilden Pavian stammen konnte, dem man gerade die Banane weggenommen hatte. Nur Sekundenbruchteile später raste eine drahtige Gestalt an ihm vorbei und hob den Säbel. Nicolas Augen brachen und er sank lautlos zu Boden. Die blau-uniformierte Gestalt zog seine Klinge aus Nicolas leblosen Körper. Kopfschüttelnd maß er seinen bewegungslosen Kameraden und wechselte einige Worte im ländlichen Deutsch mit ihm, dann eilte er weite.

Der Franzose in der preußischen Uniform hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Verbittert sah er auf den toten Nicolas nieder. Harte Linien hatten sich in sein Gesicht gegraben, das einst schön genannt wurde.

"Du Narr," murmelte er. "Ich bin die Frau." Wie der verheißungsvolle Gruß in den Tod, der Jubelschrei der Zerstörung donnerten die Kanonen in unmittelbarer Nähe. Müde stolperte sie dem Mittelpunkt der Schlacht entgegen. Ihr seelenloser Körper hat nicht mehr die Kraft aufrecht zu gehen. Nur im Tod kann sie Erlösung finden. Nur im Tod wird sie ihn wiedersehen.

***



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Von: abgemeldet
2016-09-23T20:09:13+00:00 23.09.2016 22:09
Ach, jetzt bin ich ganz melancholisch. Das Ende deiner FF ist fast noch bitterer wie das in Anime und Manga. Und doch liebe ich es! So unvorhersehbar, so kriegerisch... und doch hast du den beiden ein wohlverdient größeres Maß an gemeinsamer Zeit verschafft. Ein dankbarer Wehrmutstropfen.

Deine Art zu schreiben ist perfekt und ich bedauere so sehr, nicht schon früher auf deine Geschichte gestoßen zu sein. Ich hätte so gern mehr von dir gelesen, mich mit dir ausgetauscht... Für mich ganz klar eine der besten FFs! Eine großartige und unfassbare Leistung! Vielen Dank, dass du uns daran teilhaben lassen hast.
Von: abgemeldet
2016-09-22T21:02:37+00:00 22.09.2016 23:02
Ha, ha, ha... Sonderschichten... ich hau mich weg! Natürlich ist Andre sofort bereit, das ultimative “Opfer“ für seine Oscar zu bringen. XD Ich mag diesen wohl portionierten und überdeutlichen Humor, den ihr immer wieder galant einzusetzen wisst. Vor allem die letzten vorausgegangenen Szenen. Alain und Girodel - einfach köstlich!

Und gleichfalls wieder diese tiefsinnige Philosophie. Wie sehr ich mir doch wünsche, dass Andre seine zurückgehalten Gedanken zum Thema ihres Körpers doch laut aussprechen möge...
Von: abgemeldet
2016-09-20T20:58:55+00:00 20.09.2016 22:58
Eine großartige FF bisher, die sich liest wie der Manga selbst: ausdrucksstark, zielgerichtete und absolut authentisch. Euer Gespür dafür, genau zur rechten Zeit das Richtige zu sagen, kurz und mit Tiefgang, ohne sich in Ausschweifungen zu verlieren... ich kann mich nur verbeugen.

Eure Story verspricht großes Potenzial für die kommenden Kapitel! Allerdings bezweifle ich ernsthaft, dass Robespierre Oscar nicht erkennt. Soweit ich mich an Manga und Anime zurück erinnere, gab es genügend Begegnungen zwischen den beiden um eine Täuschung glaubhaft machen zu können. Aber vielleicht liegt ja auch genau hier der Kern des perfiden Plans... ich lass mich gerne von euch überraschen.

Schade, dass so eine tolle FF nun schon so lange auf Animexx online ist und heute offensichtlich kaum noch eine Würdigung findet. Schade, dass ihr nicht mehr angemeldet seid, ich hätte gerne mehr von euch gelesen. Zum Glück habe ich hier noch einige vielversprechende Kapitel vor mir.
Von:  Yumeko-chan
2011-10-11T23:18:54+00:00 12.10.2011 01:18
Einer der besten FFs von Lady Oscar, die ich je gelesen habe! *_*
Ich hatte es nicht ausgehalten und habe ab der Hälfte alles ausgedruckt und im Zug oder wo es sich eine Gelegenheit erbot, sie verschlungen.

Der Schreibstil ist übelst gelungen. Wahrhaftig!
Mir haben die kleinen Spielereien und sehr bildlichen Darstellungen der Handlung sehr, sehr gefallen.
Auch das sich der Autor mit weit mehr beschäftigt und Geschichtsereignisse, sowie Ortschaften super recharchiert hat.

Ich liebe diese FF, aber mit einem werde ich einfach nicht klarkommen und zwar, dass Oscar und André kein gemeinsames Kind bekommen haben.
Die letzten zwei Kapitel hatten mich deswegen, ziemlich traurig gestimmt und auch, dass die beiden nicht in Frieden starben.
Es tut mir so Leid für Sie, nach all dem Leid T_T

Aber trotzdem, ich finde, dies ist echt eine super gelungene Arbeit und ich lese es verdammt gerne! *___*
Vielen Dank fürs Hochladen!
Von:  Natasha
2008-07-23T20:19:21+00:00 23.07.2008 22:19
Hallo,

ich habe diese FF schon vor ein paar Jahren gelesen und war total überrascht, sie hier zu sehen. Kann mich aber auch nicht erinnern, wo ich sie gefunden habe... Ich glaube, dass es sie auch in Englisch gibt.... Ist ja auch egal... Tatsache ist, dass ich diese FF liebe. Es ist genau die Fortsetzung, die ich mir für André und Oscar immer gewünscht habe. Die Story ist spannend erzählt. Die Gedanken- und Gefühlswelt der Charaktere wird mit so viel Fingerspitzengefühl erzählt, dass man sich mit ihnen indefizieren kann und auch mit ihnen liebt und leidet. Nur den Schluß mag ich überhaupt nicht. Ich persönlich fände es besser, wenn die Geschichte zu ende wäre, als die beiden Frankreich verlassen haben. Ein offenes Ende hätte Platz für eigene Phantasien und Gedanken geschaffen. Mit dem Gedanken, dass Oscar nun ohne ihren André geblieben ist, kann und will ich mich einfach nicht anfreunden. Man hätte sie dann beide sterben lassen sollen (das ist auch der Grund, warum ich meinen Kommentar an dieser Stelle verfasst habe). Aber naja, da kann man nichts machen... Ich werde die FF auf jeden Fall noch mal lesen, nur den Schluß, den lasse ich diesmal aus... :)

Lieben Gruß

Natasha
Von: abgemeldet
2008-04-19T18:08:51+00:00 19.04.2008 20:08
also die FF ist fantastisch mehr kann ich dazu nicht sagen. ich weiß nur dass ich gerade dabei bin sie noch ein weiteres mal zu lesen. das einzige womit ich nicht zufrieden bin ist das ende. es ist wieder traurig und entzweit unsere zwei liebenden. habe lange gebraucht um das ende zu akzeptieren. aber jetzt treibt es mich wieder die tolle FF nochmal zu lesen....

glg
Von: abgemeldet
2007-04-12T10:23:58+00:00 12.04.2007 12:23
Wow... deine FF ist echt meine liebste im ganzen Cache. Dein Schreibstil ist erste Sahne - die Geschichte übertrifft echt alles... Wunderschön, erotisch, todtraurig... von allem was dabei ^^
Ne 1+ würde ich sagen =)
Von: abgemeldet
2007-03-03T17:33:40+00:00 03.03.2007 18:33
einfach nur wunderschön!! bin total begeistert! WOW!
Von: abgemeldet
2006-06-10T15:35:18+00:00 10.06.2006 17:35
Dann schreibe ich auch mal mein Kommi zu dieser Fanfic. ^^
Wie ich dir schon per ENS geschrieben habe, ich war von dieser Fanfic total begeistert. Sie ist einfach klasse beschrieben. Ich konnte nicht aufhören sie zu lesen.
Am besten fand ich die geschichtlichen Fakten am Ende der Story.
Du hast einen echt schönen Schreibstil. Ich freue mich schon auf deine nächste Geschichte. ^^
Von: abgemeldet
2006-06-06T10:48:01+00:00 06.06.2006 12:48
Super FF. Traurig, Romantisch, Lustig und ein wenig Erotisch - hat echt alles. Aber warum ist denn der Schluss - bzw. der Epilog so traurig - ich weiß es ist kitschig aber ein "und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute" wäre mir fast lieber gewesen. Trotzdem - super super super; DANKE DANKE DANKE


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