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Schwingen der Vergangenheit

Wenn sich das Schicksal wiederholt
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo erstmal!

Also das hier ist meine erste SnK-FanFic und ich bin gespannt wie sie euch gefällt!

Inspiriert wurde ich von der Geschichte "Imaginaerum" von Jaggerjaquez auf FanFiktion.de - danke dafür :)

Zur Information:

- AU
- Charakteralter Eren und seine Homies: 21 Jahe
- Erzählperspektive wird immer 1PS sein, aber die wird sich immer mit jedem Kapitel ändern - wer gerade erzählt erfahrt ihr im Kapiteltitel~

Jetzt wünsche ich euch viel Spaß! ^-^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nun gut, Leute - ab hier beginnt die zweite Phase - also wiederholen sich die Charas von nun an.
Viel Spaß ♥ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und es geht mit Levi weiter :3

Falls sich jemand den Song, der im Kapitel erwähnt wird, mal anhören will:

OLDCODEX - The Misfit Go:

https://www.youtube.com/watch?v=T-J0HNz-c9A Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Da bin ich wieder! ♥

Zur Erklärung der Fachworte in diesem Kapitel, gibt's hier eine kleine Legende:
--> Viermaster: Zelte, gestützt von vier Masten
--> Gradin: Zuschauer-Tribüne
--> Piste: Manegenkasten ("kleine Mauer", die die Manege umgibt)

Und nun viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Soo - nun gibt's hier auch was Neues~

Ich habe eigentlich vor, hier jedes Wochenende ein Kapitel hochzuladen, also ihr dürft euch schon auf nächstes Wochenende freuen~

Inzwischen sollte man vielleicht gewarnt sein, dass es zu Spoilern aus dem Manga kommen kann - wenn man ihn mitverfolgt, wird man es erkennen, wenn nicht, wird man es wahrscheinlich nicht merken, aber ich warne trotzdem ;)

Vielen Dank auch an alle Fans und natürlich an die Review-Schreiber - ihr seid toll ♥

Und jetzt viel Spaß! :) Komplett anzeigen

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Traum - Eren Yeager

„Ich...werde sie alle TÖTEN!!!“

Ganz ehrlich, das als letzter Satz eines Actionfilmes ist wirklich billig. Aber gut, ich beuge mich dem Willen meiner Freunde – Armin und Mikasa wollten diesen Film unbedingt sehen – ist ja nicht offensichtlich genug, dass ein Film mit dem Titel „Angriff auf die Titanen“ unter aller Kanone ist. Schlechte Schauspieler, schlechte Animation und schlechte Story – kurz gesagt: grottig.
 

Mikasa schien auch nicht wirklich begeistert, gab sich aber keine Blöße, da sie den Film vorgeschlagen hatte. Armin fand den Film anscheinend tatsächlich gut, denn seitdem wir das Kino verlassen hatten, zierte ein Grinsen das Gesicht des Blondschopfs.
 

Wir folgten der Straße in die Richtung der Bushaltestelle, an der mein Bus mich später nach Hause bringen sollte. Es war bereits spät - sicher schon nach 22 Uhr, da der Film um 20:00 Uhr anfing – und kühl war es auch. Trotz Oktobernacht war es aber nicht unangenehm kalt. Ich empfand es eher erfrischend. Die Straßen waren leer, nur manchmal fuhr ein Auto an uns vorbei und ließ die gedämmt beleuchtete Straße für einen Augenblick hell aufleuchten. Abends ist es immer so schön ruhig – ich mochte diese Art der Stimmung, auch wenn ich die Dunkelheit nicht besonders mochte.
 

„Und? Wie fandet ihr den Film?“, unterbrach Armin minutenlanges Schweigen. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass das alles eine dumme Idee war und wir, obwohl wir Studenten sind, Besseres zu tun haben.
 

Gerade jetzt, wo mein Vater erst zwei Wochen tot war.
 

Es kam nicht überraschend; er war krank und ist friedlich eingeschlafen. Jedoch spürten wir zu Hause deutlich, dass jemand fehlte – meine Mutter noch mehr als ich. Sie hatte sich verändert, kümmerte sich kaum noch um den Haushalt oder um sich selbst. Ich wollte ihr Beistehen und versprach mich um die rechtlichen Angelegenheiten zu kümmern – schließlich bin ich mit 21 alt genug um dieser Verantwortung gerecht zu werden.
 

Da mein Vater vor seiner Erkrankung ein guter Arzt war und eine ordentliche Lebensversicherung abgeschlossen hatte, ging es um viel Geld. Geld tröstet zwar nicht, macht aber Vieles einfacher. Meine Mutter bräuchte erst einmal nicht arbeiten und mein Studium in Neurowissenschaften wäre gesichert – vielleicht würde ich so tatsächlich die Chance bekommen irgendwann ein guter Neurologe zu werden um so wie mein Vater anderen Menschen helfen zu können.
 

Deswegen wollte ich für unser Recht kämpfen – und heute eigentlich zu meinem Anwalt. Mikasa sah das etwas anders, da sie meinte, ich hätte seit Tagen nicht mehr gelächelt. Außerdem sei es nicht gut, wenn ich mir keine Auszeit gönne. Ich wusste nicht, ob das stimmte, aber wen wunderte das. Doch da sie meine Freundin ist, hörte ich jedoch auf ihren Vorschlag, verschob den Besuch beim Anwalt auf den nächsten Tag und stimmte dem Kinobesuch zu. Trotzdem hielt sich meine Begeisterung in Grenzen. Mein Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt, eine Auszeit bringt ihn nur dazu sich mit noch mehr zu beschäftigen.

Somit war dieser Ausflug eine dumme Idee. Aber Armin war sehr empfindlich, was solche Dinge betraf und ich hätte seine Gefühle verletzt, wenn ich ihm das so gesagt hätte. Und ich konnte es noch nie ertragen, wenn seine leuchtend blauen Augen einen traurigen Ausdruck annahmen. Deswegen schwieg ich vorerst.
 

„Nicht schlecht!“, log Mikasa offensichtlich und zauberte ein noch größeres Lächeln auf Armins Gesicht. Der schien ihr das echt abzukaufen.
 

„Und du Eren?“, fragte er mich dann direkt mit gespanntem Blick. Jetzt hatte ich keine Wahl mehr.
 

„Naja...“, begann ich meinen Satz und zögerte einen Augenblick. Wir blieben stehen - ein Auto kam vorbei, erhellte erneute unsere gedämmte Straße und ließ mich für einen Moment in klare, blaue und tiefe, schwarze Augen blicken, die mich erwartend fixierten. Ich umfasste während ich nachdachte den Anhänger meiner Kette – einen Schlüssel. Diese Kette trug mein Vater zu Lebzeiten immer; er meinte, dass dies der Schlüssel zu seiner geheimen Truhe in der er all seine Geheimnisse aufbewahrt sei – wenn man sich den Schlüssel aber einmal genau anschaute, sah er eher wie ein alter Kellerschlüssel aus. Ich denke, ihm gefiel schlicht und ergreifend das Design dieses Schlüssels.
 

„...er war...eindeutig.“
 

Eindeutig? Oh man, schlechter hätte ich nicht antworten können. Das war nicht das Ende meines Satzes, welches die beiden erwartet hatten. Wieder umschlang meine rechte Hand dabei meinen Schlüssel. Seitdem ich die Kette besaß, machte ich das ständig – ich weiß gar nicht wirklich warum. Vielleicht stellte ich mir vor, dass mein Vater mir so bei meinen Entscheidungen beistand.
 

„Du mochtest ihn nicht, oder? Tut mir Leid, Eren, dass wir deinen Abend vergeudet haben!“
 

Na toll. Jetzt war genau das eingetreten, was ich verhindern wollte und Armins Augen nahmen diesen traurigen Ausdruck an. Aber es hat noch nie etwas gebracht ihn anzulügen – er kannte mich halt einfach perfekt.
 

Ich ließ meinen Schlüssel los und legte meine beiden Hände auf seine schmalen Schultern.
 

„Ihr habt meinen Abend nicht vergeudet – es ist lieb, dass ihr mich aufmuntern wolltet und mir geht es gut. Ich geh' jetzt nach Hause – wollte morgen Vormittag noch zu einer Vorlesung. Treffen wir uns morgen in der Uni?“ - während meiner Antwort fuhr kein einziges Auto vorbei und der genaue Ausdruck in Armins Augen blieb mir aufgrund der Dunkelheit verborgen. Allerdings konnte ich auf seinem Gesicht ein Lächeln erkennen.
 

„Morgen bin ich nicht in der Uni, aber wir können uns ja nachmittags sehen.“, gab Armin mit fröhlicher Stimme zurück.
 

„Kein Problem, ich wollte noch was erledigen und dann ruf ich dich an.“ - ich wollte ihm jetzt besser nicht sagen, dass ich morgen zum Anwalt gehe. Sonst hätte ihm das nur wieder Sorgen bereitet und er hätte mich möglicherweise vielleicht sogar noch begleiten wollen.
 

„Ich bin morgen auch da – schließlich steht doch bald eine Prüfung für die Tourismusstudenten an!“, brachte Mikasa ein. Ah, ich vergesse immer wieder, dass die Vorlesungstermine und Prüfungstermine in den verschiedenen Studiengänge sich teilweise stark unterscheiden.
 

Mikasa war eine sehr gute Studentin. Ihre Eltern waren deutsch-japanischer Herkunft, womit sie schon immer einen Zugang zu anderen Ländern hatte. Sie interessierte sich für das Reisen selbst, aber auch für die wirtschaftlichen Folgen. Armin dagegen war ganz anders. Er fing schon früh an, ein Interesse für unsere Erde zu entwickeln, fragte sich wo Wasser, Himmel und Gestein herkommen, wieso das Klima so unterschiedlich ist und wollte Meere und Wüsten erforschen. Deswegen besteht sein Gebiet aus Geowissenschaften. Auch er ist notentechnisch herausragend.
 

Ich kenne die beiden seit meiner Kindheit und habe sie nie missen müssen.

Wenn ich meine Freunde so ansehe, bin ich einfach verdammt stolz, dass wir als Studenten unsere eigenen Wege gehen und dabei unsere Hände nicht loslassen. Ich glaube nicht, dass solche Freundschaften die Norm sind. Uns verbindet so viel mehr.
 

„Dann morgen nach der ersten Vorlesung in der Cafeteria?“, fügte Mikasa noch hinzu und riss mich somit aus meinen sentimentalen Gedanken.
 

„Klar!“
 

Mit einer verabschiedenden Handbewegung und einem gerufenen „Bis dann“ trennten sich unsere Wege und ich lief direkt zu der Bushaltestelle, an der ich dachte, sofort meinen Bus zu erwischen. Wie mir die Anzeige allerdings zeigte, hatte ich mich gehörig verschätzt und durfte nun 15 Minuten warten. Naja, zum Glück war es nicht allzu kalt.
 

Ich setzte mich auf die Bank im kleinen überdachten Wartebereich und beobachtete die Straße. Von meiner Position aus, konnte ich einen Spielplatz auf der anderen Seite sehen, der zu der Parkanlage der gegenüberliegenden Straße gehört. Früher war ich dort oft mit Armin und Mikasa, aber jetzt hatte ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, dass er noch existiert.
 

Die Gegenseite beobachtend, blendete ein Auto nach dem anderen vorbei und ich wunderte mich, warum auf einmal so viel Verkehr war. Gerade um diese Uhrzeit ist das eigentlich eher ungewöhnlich auf einem Donnerstag. Ein erneuter Blick auf die Anzeige verriet mir, dass es nur noch neun Minuten waren. Die Zeit schien wenigstens nicht verrückt zu spielen.
 

Minuten vergingen und ich formte mit meinen Schuhen Muster auf dem Boden, indem ich sie über den Boden gleiten ließ. Warten war noch nie meine Stärke. Schon dreimal hatte ich auf mein Smartphone geschaut, aber wie gewöhnlich keine Nachricht gehabt. Noch drei Minuten. Naja, ein vierter Blick aufs Smartphone wird nicht schaden.
 

Dieses Mal schien ich tatsächlich eine Nachricht zu haben. Eine SMS von einer Nummer, die nicht in meinen Kontakten eingespeichert war. Ich wischte über das Handy und es wurde mir die komplette Nachricht angezeigt.
 

„Hallo Eren! Schau mal rüber. Aber mit deinen richtigen Augen!“
 

Woher...kannte derjenige meinen Namen? Und meine richtigen Augen? Was meinte er? Kurz schluckend überlegte ich, wie darauf reagieren sollte. Sollte ich es einfach ignorieren? Herübergeschaut hatte ich vorhin doch schon – es gab nicht Auffälliges. Also warum noch einmal? Was sollte sich geändert haben in der Zeit, in der meine Schuhe das Pflaster mit Muster schmückten? Aber wenn der Bus kommen würde, müsste ich sowieso nach oben schauen, wobei mir ein Blick auf die gegenüberliegende Seite wahrscheinlich nicht erspart bleiben würde.
 

Erst einmal wanderte mein Blick auf die Anzeige. Eine Minute. Egal was dort drüben war, es konnte mir innerhalb einer Minute ja wohl kaum etwas antun, oder?
 

So riskierte ich ein Blick nach oben. Und ich sah...nichts. Wie erwartet. Ich konnte selbst kaum glauben, dass ich wirklich auch nur einen Moment daran gedacht hatte, das dort drüben tatsächlich etwas sein könnte. Trotz allem atmete ich leicht erleichtert auf und hörte meinen Bus anfahren. Ich stand auf, holte meine Studentenkarte raus und stellte mich bereit zum Einsteigen an den Rand des Bürgersteigs. Der Bus fuhr ein und öffnete die Türen. Ich stieg zwei Stufen hoch und zeigte kurz meine Karte vor. Gerade als ich weitergehen wollte um mich hinzusetzen, hielt der Busfahrer mich am Arm fest.
 

„Du solltest mit deinen richtigen Augen rüber sehen!“
 

Mein Herz setzte für einige Sekunden komplett aus. Mein Atem wurde schnell und flach. Woher kannte er die Nachricht? War er das? Ich kannte diesen Mann doch gar nicht. Ich versuchte meine Angst herunterzuschlucken und drehte mich um und sah dem Busfahrer ins Gesicht. Gerade als ich panisch „Lassen Sie mich los!“ schreien wollte, sah ich wie er meine Studentenkarte betrachtete. Meine panischen Augen fixierten ihn.
 

„Tut mir Leid, Junge. Meine Augen sind nicht mehr so gut. Wollte nur die Gültigkeit prüfen, geh' ruhig weiter.“
 

Schwer atmend brauchte ich eine Weile um seine Worte zu verstehen. Als ich mich umdrehte um in den Busraum zu schauen, saßen dort ungefähr zehn Personen, die anscheinend nichts von dem Vorfall mitbekommen hatten. Schweißgebadet setzte ich mich ganz hinten in den Bus. Das war doch alles nicht mehr normal...
 

Die Busfahrt verlief folgend unspektakulär. Der Verkehr schien sich auch wieder beruhigt zu haben und nach gefühlten sechs Stunden und realen 20 Minuten konnte ich an meiner Zielhaltestelle aussteigen. Als der Bus abfuhr, holte ich noch einmal mein Smartphone aus der Tasche, welches ich die ganze Fahrt über nicht angefasst hatte. Keine Nachricht. Wahrscheinlich alles ein großes Missverständnis. Der Tod meines Vaters schien mich mehr mitgenommen zu haben als gedacht.
 

Noch einmal tief einatmend folgte ich den wenigen Treppen und schloss die Wohnungstür auf. Ich wusste nicht, ob meine Mutter bereits schlief und versuchte somit leise zu sein. Sie schien auch schon zu schlafen, denn es brannte kein Licht mehr. Eigentlich wollte ich noch etwas essen, allerdings war mir der Appetit jetzt vergangen. Ich wollte nur noch duschen und ins Bett.

Nach einer Dusche und mit frischer Kleidung ging ich in mein Zimmer und fühlte mich schon um Einiges besser. Heute war ein komischer Tag, aber so etwas soll es ja bekanntlich auch geben. Gerade als ich das Licht in meinem Zimmer ausgeschaltet hatte, leuchtete das Display meines Smartphones auf. Mit pochendem Herzen entsperrte ich das Handy und ließ mir die Nachricht anzeigen.
 

„Ein Biss in deine Hand.“
 

Ernsthaft? Irgendjemand hatte hier ein ziemlich kranke Fantasie. Was sollten diese Nachrichten? Hatten Mikasa oder Armin meine Nummer an irgendeinen kranken Fetischisten weitergegeben um mich aufzumuntern? Nicht gerade erheiternd. Ich stellte den Flugmodus ein und nahm mir vor diese Nachricht zu ignorieren.
 

Es dauerte nicht lange bis ich eingeschlafen war.
 

Ich war in meinem Zimmer, es war dunkel ich sah wie mein Wecker die Uhrzeit anzeigte. 1:34 Uhr. Mich hin und her wälzend blickte ich irgendwann auf mein Smartphone und sah, dass Armin mir geschrieben hatte. Gerade als ich mir die Nachricht anzeigen lassen wollte, hörte ich ein leises Knacken in meinem Zimmer. Mich umdrehend spürte ich schon die ersten Tritte in meinen Magen und ins Gesicht und fing an zu schreien.
 

Dann wachte ich auf.
 

Ein Alptraum.
 

Dieser Tag war mir wirklich nicht gut bekommen. Ich fasste mir an den Bauch, spürte aber nichts Besonderes. Wie zu erwarten. Eigentlich sollte ich einfach schlafen, schließlich habe ich morgen viel zu tun. Auf die rechte Seite gelegt erblickte ich dann die angezeigte Uhrzeit auf meinem digitalen Wecker.
 

1:33 Uhr.
 

Mein Herz raste und ich fing an flach zu atmen. Als mein Smartphone auch noch aufleuchte konnte ich mir einige Tränen kaum verkneifen. Aber ich bewegte mich nicht. Ich hielt mir den Mund zu und blieb auf der Seite liegen, den Wecker beobachtend.
 

1:34 Uhr.
 

Es kommt mir vor, als hätte ich eine Minute lang das Atmen vergessen. Mein Smartphone leuchtete nochmals auf. Ich blieb liegen. Kein Knacken. Keine Tritte. Es geschah nichts. Langsam nahm ich meine Hand von meinem Gesicht und umfasste meinen Schlüssel ganz fest.
 

1:35 Uhr.
 

Ich war noch nie so erleichtert, dass eine Minute vorbei war. Einige Minuten blieb ich in dieser Position noch liegen und nahm mir vor mein Handy heute nicht mehr anzufassen. Nach ungefähr zehn Minuten drehte ich mich auf die andere Seite.

Erschöpft schlief ich schließlich ein und hoffte, dass ich den nächsten Morgen erleben würde. Schließlich schien nicht einmal der Flugmodus zu helfen...

Spiegel - Levi

Dieses verdammte Telefon.
 

Das einzige Relikt meiner nicht ganz legalen Vergangenheit – ein heutzutage etwas altmodisches Handy – sorgte nun tagtäglich für Terror. Und das bereits morgens um 6:00 Uhr.
 

Genervt drehte ich mich auf die Seite um so mit meiner rechten Hand knapp den kleinen Nachttisch zu erreichen, auf dem mein Handy unkontrolliert klingelte und vibrierte. Erwin verstand es tatsächlich mir bereits vor dem Frühstück auf den Zeiger zu gehen.
 

„Was willst du?“
 

Sicher hatte Erwin eine andere Eröffnung des Gespräches erwartet, denn er brauchte eine Weile, um mir zu antworten.
 

„Levi?“ – wer denn sonst?! Ruft er mich an um zu prüfen, ob ich immer noch der aktuelle Besitzer meines Handys bin oder was? Ich versuchte mir jede ironische Bemerkung zu verkneifen, da ich nicht für eine Diskussion gestimmt war.
 

„Jaaaa?“
 

Leider konnte mich mir den ironischen Ton nicht verkneifen.
 

„Wir treffen uns um 7:00 bei vor meiner Kanzlei. Hab eine Idee für dich um dein Problem zu lösen.“
 

Ich hasste es. Es war ja wirklich nett von ihm, dass er mir helfen wollte, aber diese permanente Fürsorge war mir doch etwas zuwider. Aber das hatte ich mir wohl selbst zuzuschreiben. Ich war 34, ein Architekt mit mäßigem Erfolg und hatte weder Familie noch besonders viele Freunde. Momentan lief es wirklich nicht gut mit den Aufträgen und unser Architekturbüro stand kurz vor der Insolvenz. Erwin war einer meiner wenigen Freunde – uns verbanden die Studentenzeit und noch so viel mehr.
 

Als ich ihn vor sieben Jahren kennenlernte befand ich mich nicht gerade in der besten Phase meines Lebens. Mein Studium konnte ich nur durch ein Stipendium finanzieren, meine Mutter verstarb bei meiner Geburt und mein Vater war Alkoholiker, so wuchs ich seit meinem sechsten Lebensjahr im Heim auf. Bis zur Studienzeit war ich immer ein guter Schüler – die Anerkennung meiner Leistung war das einzige was mich antrieb weiter zu machen und es war das einzige was meinem Leben Sinn gab.
 

Doch als ich dann tatsächlich die Möglichkeit bekam Architektur zu studieren, verlor ich ein wenig die Kontrolle über mein Leben. Hochmut kommt vor dem Fall sagt man doch so schön. Und so geschah es, dass ich vom rechten Weg abglitt, mich mit falschen Leuten umgab und in einer Drogenfalle endete, welche mir beinahe mein hart erarbeitetes Studium kostete.
 

Dann traf ich auf Erwin. Er war acht Jahre älter ich und fing mit dem Studium an, um seine berufliche Karriere umzupolen – zuvor hatte er eine Ausbildung zum Sozialassistenten gemacht und nun studierte er Jura. Durch ihn überwand ich diese Phase und fand zurück ins Leben. Auch wenn wir uns anfangs nicht verstanden, hat er mich dennoch gerettet und er weiß wie dankbar ich dafür bin. Allerdings hat er nie Dankbarkeit erwartet.
 

Jedoch braucht auch diese Dankbarkeit Grenzen. Und vor allen Dingen braucht seine Fürsorge Grenzen. Dazu gehört zum Beispiel, dass man mich nicht morgens um sechs anruft, um mir irgendeinen Job zu vermitteln. Oder mich für eine Stunde irgendwo hinbestellt.
 

„Erwin, ich finde das ja echt ganz lieb, aber i-“
 

„Bis gleich!“ – aufgelegt.
 

Seine Angewohnheit mich zu unterbrechen, sobald ihm meine Antwort nicht gefiel, war mir ebenfalls zuwider.
 

Den Kopf schüttelnd taumelte ich aus dem Bett ins Bad. Ich brauchte unbedingt eine kalte Dusche. Als ich mich im Bad so im Spiegel betrachtete konnte einem echt schlecht werden. Was für erbärmlicher kleiner Kerl da doch stand. Ich wusste selbst nicht wirklich was mich eigentlich störte.
 

Das einzige was mir gefiel war der Flügelpiercing im linken Ohr. Erwin schenkte ihn mir vor vier Jahren zum Geburtstag. Er stammte also aus einer noch etwas wilderen Zeit und immer wenn ich ihn ansah, erinnerte er mich an die Freiheit von damals.
 

Einige Sekunden starrte ich meinen Körper an, bevor ich unter die Dusche ging. Allerdings ging nur ich unter die Dusche und mein Spiegelbild nicht. Es bewegte sich nicht weg, blieb wir erstarrt. Verwundert ging ich einige Schritte zurück und machte einige Handbewegungen, die mein Ebenbild ausnahmslos nachahmte. Wieder entfernte ich mich vom Spiegel – und mein Abbild tat dasselbe. Seltsam - ich brauchte wirklich eine Dusche.
 

In frischer Kleidung stand ich in der Küche und kochte mir einen Kaffee. Nach der hirnlosen Einbildung im Bad musste ich unbedingt wach werden. Ich hatte das Radio eingeschaltet. Wie üblich entsprach das Programm nicht meinem Musikgeschmack, aber Sean Pauls „She makes me go“ genügte um mich wach zu machen und mich von dem Schock aus dem Bad zu erholen. Der Kaffee war mir auch nicht gelungen. Viel zu wässrig. Aufs weitere Frühstück verzichtete ich besser.
 

6:45 Uhr. Ich sollte mich langsam auf dem Weg machen. Erwin hasste Unpünktlichkeit.
 

Die Staatsanwaltschaft in der Erwin arbeitete war nicht besonders weit entfernt, so schaffte ich es drei Minuten vor verabredeter Zeit dort zu sein. Auch mein Freund stand schon dort, war aber gerade im Gespräch mit einem sehr großen, blonden Mann.
 

Als ich mich den beiden näherte, erkannte ich, dass es Mike war, der dort mit meinem Freund sprach. Mike war drei Jahre älter als Erwin und hatte mit ihm zusammen angefangen zu studieren, somit kannte ich ihn auch aus der Studienzeit. Allerdings hatte ich wenig mit ihm zu tun und als er später im Gegensatz zu Erwin anfing als Rechtsanwalt zu arbeiten, verlief sich der Kontakt im Sand.
 

Ich hatte ihn lange nicht gesehen, aber viel gealtert scheint er nicht zu sein. Er trug jetzt einen leichten Bart – außerdem waren seine Krawatte etwas schief und seine Schuhe schmutzig.
 

Ihn störte das anscheinend nicht.
 

Mich schon.
 

Mich hat so etwas schon immer gestört. Nur weil man aus Dreck geformt wurde, muss man nicht im Dreck leben. Vielleicht war dies ein verzweifelter Versuch etwas zu sein, was ich niemals war. Wie auch immer. Ich hielt mich zurück und wartete kurz, sodass ich einen Teil des Gesprächs mithören konnte.
 

„Dass du an deinem freien Tag mich besuchen kommst ist ja eine Ehre“ – Erwins sarkastischer Unterton zierte mein Gesicht mit einem leichten Grinsen.
 

„Sehr witzig Erwin – ich hab heute doch nicht frei, einer meiner Mandanten hat den Termin von gestern auf heute verschoben und da mein Büro auf dem Weg liegt dachte ich, ich schau mal vorbei. Haben uns ja lange nicht gesehen.“
 

Die blonden Haare meines Freundes glänzten in der Morgensonne und unterstrichen so sein schelmisches Grinsen, welches er Mike entgegenbrachte. Er sah wirklich gut aus für sein Alter. Nur zu gern beobachtete ich die wenigen Regungen in seinem Gesicht.
 

„Das schadet dir gar nichts Mike – freitags frei haben ist für manche Menschen Luxus.“ Nun veränderte sich sein schadenfrohes Grinsen in ein sanftes, freundliches Lächeln.
 

„Freut mich dich mal wieder gesehen zu haben. Vielleicht sehen wir uns mal ein Wochenende wieder. Werde dich demnächst mal anrufen – ich muss jetzt kurz was mit Levi besprechen.“
 

Mike sah mich an, als ob er mich jetzt erst bemerkt hatte, obwohl ich mich nicht sonderlich versteckt hatte.
 

„Oh hi Levi, klar ich stör‘ euch nicht. Bis dann Erwin.“ - in einem bequem langsamen Gang machte sich Mike auf den Weg und Erwin widmete sich mir.
 

„Erstmal guten Morgen, tut mir Leid, dass ich dich so früh aus dem Bett geholt habe, ich wollte dich nur unbedingt vor der Arbeit sehen.“
 

„Schon gut. Ist ja nicht so, als ob ich es nicht gewohnt wäre. Also was gibt’s so Dringendes?“ Mir war einfach nicht nach einer Diskussion – außerdem hatte er sich wenigstens entschuldigt.
 

„Ich hab ein Jobangebot für dich gefunden. Der neue Zirkus in unserer Stadt sucht jemanden für eine paar Shows am Abend. Die Leute dort arbeiten wohl sonst auf Rummelplätzen und brauchen für einige ihrer Shows eine Aushilfe. Und da ich weiß, dass du auf Adrenalin stehst, hab ich gedacht, das wäre übergangsweise was für dich.“
 

„Ernsthaft? Ein Zirkus? Ich steh zwar auf Adrenalin, aber diese Menschenmassen gefallen mir gar nicht. Außerdem bin ich kein Clown oder so – was sollte ich da schon tun?“ Erwin meinte das wirklich ernst.
 

„Du bist jung, gelenkig, du schaffst das schon! Lass dir wenigstens einmal von mir helfen. Die sind bis 18:00 Uhr heute am Proben – schau doch nachher mal da vorbei.“ – kaum hatte er seinen Satz zu Ende gesprochen, drückte er mir eine Karte mit einer Adresse in die Hand. So tief war ich also schon gesunken? Ein gelernter Architekt, der abends den Clown spielt? Oh man…
 

„Ich muss dann rein – schreib mir nachher wie es war.“ Mit diesen Worten verschwand Erwin im großen Gebäude vor mir.
 

Was genau ich davon halten sollte, war mir noch nicht klar. Sicher, es war nett von ihm mit aus meiner miesen Lage helfen zu wollen, aber so? Ein klein bisschen Stolz war auch mir geblieben.
 

Ich schlenderte zur Arbeit und versuchte den Gedanken an diesen Zirkus erst einmal zu verdrängen. Ein Kaffee aus der Kantine und mit dem Fahrstuhl in den 5. Stock. Mein Büro befand sich in einer Art Sammelgebäude für mehrere Behörden. Also nichts weiter als ein Platzhalter. Ich arbeitete mit drei weiteren Architekten zusammen, die ungefähr genauso erfolgreich waren wie ich. Das steigerte die Produktivität ungemein.
 

Bis zur Mittagspause hatten wir nicht wirklich irgendwas zu tun – manchmal rief ein Kunde an, sprang dann aber doch wieder ab oder „wollte sich melden“. Wie ich dieses Satz hasste. „Ich melde mich“ – sag doch gleich, ich hab kein Bock darauf. Da mein Magen knurrte beschloss ich heute schon um 11:30 Uhr zu Tisch zu gehen. Hannes, einer meiner Kollegen, begleitete mich wie üblich.
 

„Alles okay mit dir – du siehst nicht so gut aus, Levi.“ Für solchen Smalltalk beim Warten auf den Fahrstuhl war ich ja überhaupt nicht geschaffen. Aber Hannes war für solch ein Geplapper bekannt. Manchmal waren seine Äußerungen sogar witzig. Meistens kam da aber nur Scheiße raus. Der Höflichkeit wegen antwortete ich dennoch.
 

„Mir geht es gut. Bin nur etwas müde.“ Ich hoffte, das reicht um das Gespräch abzuwürgen.
 

„Das kann ich gut verstehen. Mir geht’s nicht anders, Kleiner.“
 

Als endlich das Signal des Fahrstuhls ertönte, verzichtete ich sogar darauf die Anspielung auf meine Körpergröße zu kommentieren. Die Türen öffneten sich und zwei Menschen lächelten uns aus einer großen Fahrstuhlkabine freundlich an. Hannes ging zuerst hinein. Ich wollte ihm folgen, allerdings bemerkte ich etwas in der gegenüberliegenden Spiegelwand im Fahrstuhl.
 

Mein Abbild schüttelte den Kopf und starrte mich mit eiskalten Augen an. So kalt, dass ich Gänsehaut bekam. Als hätte man jede Grausamkeit der Welt in diesen Augen gesammelt. Als würde eine gequälte Seele versuchen ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Mein Herz begann zu rasen.
 

„Komm‘ endlich Levi!“, sprach Hannes laut, während er seinen Fuß zwischen den Türen hielt, damit der Fahrstuhl sich nicht von allein schließen würde. Sollte ich Hannes sagen, was ich dort sah? Er würde mich doch sicherlich für verrückt halten – möglicherweise war ich das ja auch. Aber ich war mir sicher, nicht so ins Glas zu schauen wie es mich reflektierte. Hätte ich es einfach ignorieren sollen? Nein. Ich konnte dort nicht rein gehen.
 

„I-Ich hab‘ noch was vergessen, ich komme gleich nach.“
 

„Oh man du bist manchmal aber auch ein Dussel. Bis gleich.“
 

Hannes nahm seinen Fuß zurück und die Fahrstuhl Türen schlossen sich. Beim Schließen der Türen konnte man die beiden Frauen, die sich außer Hannes noch im Fahrstuhl befanden kichern hören. Oh man – lächerlich wie ein Clown war ich anscheinend schon. Doch was war das gerade? Ich hatte doch sonst nie Problem mit Fahrstühlen – oder Spiegeln. Ich betrachtete mich eigentlich sogar ziemlich oft im Spiegel, auch wenn mir nicht gefiel, was ich dort sah.
 

Kurz aufatmend drückte ich erneut den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen – doch plötzlich – ein Knacken und Geräusch, als würde Metall aufeinander schrammen.
 

Schreie - ein lautes Quietschen.
 

Es hörte sich an, als würde der Fahrstuhl nach oben rasen. Zitternd stand ich vor der Fahrstuhltür und wusste nicht was ich tun soll. Ich hörte Kreischen – dann einen sehr lauten Knall. Die Stimmen waren erloschen.
 

Wieder ein Knacken, etwas ist gerissen.
 

Jetzt raste er nach unten – mein Herz pochte schmerzend in meiner Brust.
 

Die Nothalterung griff. Etwas wurde abgefedert.
 

Ohne nachzudenken lief ich zum Notausgang, rannte wie ein Irrer die Treppen runter. Ich stolperte beinahe, fing aber mein Gleichgewicht wieder und rannte einfach weiter. Andere hatten den Krach anscheinend auch gehört, schon bald vernahm ich den Klang von Sirenen.
 

Polizei. Notarzt.
 

Unten angekommen sah ich die wie die Ärzte die Körper aus der Kabine des Aufzuges holten. Meine Augen fixierten den Körper von Hannes. Weit aufgerissene Augen, blasser Körper. Tot. Genickbruch.
 

Mit panischen Augen sah ich den Arzt an, bis mich plötzlich ein Polizist an der Schulter packte. Ich drehte mich um und sah ihm in die Augen.
 

„Alles in Ordnung mit Ihnen? Er war ihr Kollege, richtig?“ Er machte eine kurze Pause, die ich nutzte um kurz zu nicken. Der Kloß in meinem Hals verhinderte, dass ich etwas sagen konnte.
 

„Anscheinend war die Bremsen des Fahrstuhls defekt, sodass das Gegengewicht die Kabine mit rasanter Geschwindigkeit nach oben zog. Der Aufprall dort hat ihren Kollegen und die Damen wahrscheinlich schon getötet. Außerdem müssen die Seile dort beschädigt wurden sein, denn danach ist die Kabine abgestürzt. Allerdings wurde das Seil der Nothalterung nicht beschädigt, weshalb die Kabine im Erdgeschoss zum Stillstand kam. Leider konnten wir nichts mehr für die Passagiere tun. Es tut uns Leid.“
 

Mein Blick schweifte nachdenklich zur Seite. Ich konnte keine Worte finden, um meine aktuelle Gefühlslage zu beschreiben. Als Architekt konnte ich diese Erklärung durchaus nachvollziehen, auch wenn es schon ein ziemlich irrsinniges Ereignis war. Aber warum gerade jetzt? Ich war doch mit dem Fahrstuhl vorhin noch hochgefahren. Und dann noch dieser Typ im Spiegel…
 

„Warum haben Sie ihren Kollegen nicht begleitet?“, fragte mich der Polizist augenblicklich nachdem ich ihn wieder ansah. War das sein Ernst? Dachte er, ich hatte die Bremse zerstört? Ich konnte ihm ja wohl kaum sagen, dass mein Abbild im Spiegel mich gewarnt hatte.
 

„Ich…hatte was im Büro vergessen.“ Meine Antwort schien glaubwürdig genug. Der Polizist nickte.
 

„Okay, dann notiere ich mir ihre Personalien und wir werden uns nochmal bei ihnen melden.“
 

Meine Personalien? Der tut gerade so, als wäre hier ein Überfall passiert. Widerwillig füllte ich sein Scheiß-Formular aus und nahm seine Karte mit der Telefonnummer entgegen. Ein letztes Mal blickte ich noch einmal zu Hannes rüber. Dann deckten sie sein Leichnam zu.
 

Mein Chef sagte, ich sollte für heute nach Hause gehen. War vielleicht auch besser. Konzentrieren hätte ich mich sowieso nicht können.
 

Draußen angekommen schien mir die Sonne ins Gesicht. Vögel zwitscherten, kaum ein Wölkchen am Himmel. Zum Glück befand sich auf der Straßenseite, die ich entlang schritt fast nur Schatten.
 

Man sah diesem Tag nicht an, wie schrecklich er war. Die Straßen waren gut besucht, viele Autos, man hörte die Geräte der Bauarbeiter an der alten Stadtmauer. Ich ging an dem Gebäude vorbei, in dem Erwin jetzt saß und überlegte kurz, zu ihm zugehen. Ich wollte ihn jedoch nicht beunruhigen und verzichtete deshalb darauf. Viel lieber wollte ich mich irgendwo zu Hause verkriechen.
 

Mit gesenktem Kopf folgte ich meinem Weg, bereute dies jedoch nur wenige Schritte später, da ich mit jemanden zusammengestoßen war. Ich konnte mich gerade noch halten, er hingegen schien in Eile und verlor somit das Gleichgewicht, was dafür sorgte, dass er auf dem Allerwertesten landete.
 

Ein junger Mann mit kurzen braunen Haaren saß vor mir. Sich den Kopf reibend schaute er mich mit wütenden grünen Augen an.
 

„Hey, sag mal kannst du nicht aufpa-?“ – Augenblicklich beendete er seinen Satz und starrte mich erschrocken an.
 

„Ist alles okay bei dir?“ Seine Stimme brachte seine Sorge zum Ausdruck.
 

„Das sollte ich dich fragen oder?“ Ich untermauerte meine Antwort mit einer ausgestreckten Hand, die er ergriff um wieder aufzustehen.
 

„Mir ist nichts passiert. Du siehst nicht so gut aus.“ – diese Worte, die ich eben noch aus dem Mund meines Kollegen vernommen hatte, drangen nun aus diesem Jungen und erinnerten mich daran, was gerade passiert war. Aber ich durfte mir nichts anmerken lassen – er hatte damit nichts zu tun.
 

„Alles okay. Keine Sorge.“, gab ich zurück. Er schien nicht überzeugt.
 

„Na gut. Nächstes Mal nach oben gucken, Kleiner. Ich hab einen Termin und muss weiter – also mach’s gut!“ Kaum ausgesprochen lief der junge Mann auch schon weiter.
 

Bevor ich weiterging drehte ich mich nochmal um und schaute ihm nach. Er rannte so schnell, als würde ihn etwas jagen.
 

Als ich mich wieder umdrehte, traf sich mein Blick mit meinem Abbild in der Scheibe eines parkenden Autos. Ich starrte auf die Scheibe, dieser Mann dort schaute aber weiter dem jungen Mann hinterher. Auf solch einen kranken Scheiß hatte ich keine Lust. Jegliche Spiegelung vermeidend, rannte ich nach Hause – dort würde ich meinem Abbild spätestens wieder begegnen…

Nachricht - Jean Kirstein

Heute war er schon sechs Jahre tot.
 

Kaum zu glauben, dass ich schon so lange ohne ihn lebe. Marco war nicht nur ein Cousin für mich – er war mein bester Freund, mein Blutsbruder, mein Halt und der Grund für mich zu Leben. 15 Jahre lange wuchsen wir nicht nicht Cousin, sondern wie Brüder auf - teilten Spielsachen, prügelten uns, versöhnten uns, stritten uns um Mädchen und trösteten den anderen, wenn er verlassen wurde. Doch dann sollte sich alles verändern. Ein Autounfall. Betrunkener Mann am Steuer, nicht bei rot gehalten, Fahrer tot, Marco tot. Niemand hat den Unfall wirklich gesehen. Ich wunderte mich irgendwann, dass Marco nicht zu unserer Verabredung kam – dann ging alles schnell. Ein Anruf und ich wusste Bescheid.
 

Es gab keine große Trauerfeier; er wurde verbrannt, weil von seinem Körper nicht mehr viel übrig war. Bekommt halt nicht jeder einen dramatischen Tod mit anschließender Tragikbestattung. Wie gern wäre ich ihm damals gefolgt. Und hätte mich mein Therapeut Nyle nicht daran gehindert, hätte ich es wahrscheinlich auch getan. Dieses Gefühl der Leere war so groß, dass mir nichts mehr etwas bedeutete.
 

Heute weiß ich, dass Marco das nicht gewollt hätte – aber er wollte auch nicht sterben und darauf nahm man auch keine Rücksicht. So musste ich wenigstens darauf Rücksicht nehmen, dass er mich gern leben sah.
 

Das war heute sechs Jahre her. Wegen ihm bin ich hier gelandet. Psychologie-Student. Eigentlich wollte ich nie studieren. Eigentlich wollte ich mal eine reiche Frau heiraten – oder halt so Millionär werden und dann mehrere Frauen heiraten. Aber gäbe es Menschen wie Nyle nicht, gäbe es mich nicht mehr. So war es meine Aufgabe anderen zu helfen – ob ich wollte oder nicht. Außerdem kann ich ja mit Psychologie vielleicht ja auch mal ein bisschen Geld machen.
 

Leider machte man mir mein Studentenleben echt schwer. Ich verfluchte jede Vorlesung, in der ich diesem Spinner begegnen musste. Eren Yeager. Neurologiestudent; zweites Semester. Ich hasste dieses Arschloch aus vielen unterschiedlichen Gründen. Die hauptsächlichen waren aber, dass er mit meiner angebeteten Mikasa rumhing und dass er immer alles besser wusste. Mikasa hatte mir am Anfang unserer Studienzeit einen Korb gegeben. Das nahm ich ihr nicht mehr übel, allerdings nahm ich es Eren übel, dass er sich bei ihr so ein Nest baute. Manchmal hatte ich das Gefühl, er machte das mit Absicht.
 

Und seine Besserwisserei verfolgte dasselbe Muster. Unsere Themen überschnitten sich oft; Verhalten wird psychologisch und somit evolotionstechnisch bzw. soziologisch begründet oder aber chemisch, biologisch und somit auf Grundlage des Nervensystems erklärt. Viel zu oft kriegen wir uns sogar während der Vorlesungen in die Haare und schließlich beendet der Professor unsere Diskussion meistens mit dem Satz „Seht es einfach als Neuropsychologie.“ Als ob zwei dämlich-komplizierte Bereiche logischer werden, wenn man sie vermischt.
 

Heute hatte Eren es aber anscheinend nicht auf einen Streit abgesehen. Ob er merkte, dass mir der heutige Tag nicht bekam? Gleich nach der Vorlesung zum Thema „Kognitive Leistungsfähigkeit“ war er einfach abgehauen, hatte selbst mit Mikasa nur kurz gesprochen und sie hastig verabschiedet. Der Junge war entweder ziemlich verplant oder rücksichtsvoll. Naja, nehmen wir verplant.
 

Da es bis zu meiner nächsten Vorlesung noch etwas dauerte, wollte ich mich zu Mikasa in den Aufenthaltsraum setzen, die war allerdings nicht mehr da. Nur Berthold, Reiner und Annie – drei unserer Teilzeitstudenten – saßen dort mit ihren Laptops und schienen zu arbeiten. Da ich mich eigentlich ganz gut mit denen verstand setzte ich mich zu ihnen.
 

Die drei arbeiteten in derselben Sicherheitsfirma – Seguridad nannte die sich, glaub ich. Berthold und Reiner studierten dabei Sicherheitsmanagement und Annie war Dualstudentin für Wirtschaftsinformatik. Man bekam die drei immer nur zweimal die Woche zu Gesicht - mittwochs und freitags – aber wenn sie da waren, hinterließen sie Eindruck.
 

Berthold und Reiner schienen sich schon sehr lang zu kennen, die beiden wohnten soweit ich weiß auch in einer WG – ich weiß nicht, ob Annie da nicht vielleicht auch wohnte. Auf jeden Fall kannten sie sich schon vor ihrer Ausbildung, soviel war klar.
 

Reiner hatte mir am Anfang etwas Angst gemacht mit seinem männlichen Auftreten, denn der Typ war ein Schrank sag ich euch. Kurzes blondes Haar, markantes Gesicht; aus seinen Oberarmen hätte man zwei weitere Menschen formen können.
 

Berthold dagegen war ziemlich schüchtern – zumindest wirkte er so – was gar nicht zu seinem viel zu großem Äußeren passte.
 

Allerdings stellte sich heraus, dass die beiden echt schwer in Ordnung waren. Ich war mit denen schon mal was trinken und die sind echt locker drauf. Annie war mir nur ein wenig unheimlich. Sie war ungefähr in meinem Alter – also ca. 21 – während die anderen beiden ein- bis zwei Jahre älter waren als ich. Sie war sehr still und sprach nur wenige Worte – ihre Freunde schienen sie aber auch ohne Worte zu verstehen.
 

„Hey Jean – ganz allein hier? Heute gar keine Diskussion?“ Selbst Reiner bekam die Außeinandersetungen zwischen mir und Eren mit. Wir machten echt irgendwas falsch.
 

„Nee, der Typ ist vorhin ziemlich schnell abgedampft. Hat sogar Mikasa sitzen lassen.“, gab ich etwas mürrisch zurück. War doch mal ganz angenehm einen Tag nicht diskutieren zu müssen.
 

„Und was macht ihr so?“
 

„Nachher hat Annie noch zwei Vorlesungen und Berthold und ich wollten in der Zeit in der Bibliothek unsere Hausarbeit weiterschreiben.“ Die schienen ja einen Plan zu haben.
 

„Cool – stört’s euch, wenn ich mich dann euch beiden anschließe? Hab auch noch eine Präsentation fertig zu machen.“
 

„Nee, kein Problem, komm‘ ruhig mit. Wir wollten eh gleich los.“ mit einer gekonnten Handbewegung packte Reiner seine Sachen in seinen Rucksack und drehte seinen muskolösen Hals zu Annie.
 

„Wir sind dann in der Bibliothek –du kommst danach einfach zu uns, ja?“ Er schaffte es mit seinem markanten Gesicht Annie ein sanftes Lächeln zu schenken.
 

„Klar – bis dann.“ ihre Antwort war genauso emotionslos wie ihr Blick.
 

In der Bibilothek angekommen machten sich Berthold und Reiner gleich an die Arbeit. Die schienen ihren Job echt ernst zu nehmen. So krass zielstrebig hätte ich die jetzt nicht eingeschätzt.
 

Gechillt ließ ich mich auf einen der Stühle fallen, verschränkte meine Hände hinter meinen Kopf und spürte meinen Undercut, den ich mal wieder stutzen lassen könnte. Einmal durchs Haar gefasst, fuhr auch ich meinen Laptop hoch und während Reiner und Berthold schon fleißig am Tippen waren schaute ich auf das ewig aufleuchtende Windows Symbol und beobachtete die anderen Studenten im Raum.
 

Die Universität Rose hatte eine sehr große Bibliothek, teilweise sind hier Bücher von vor über 100 Jahren. Deswegen wählte auch fast jeder Student diese Uni, da man hier realistische Chancen auf Erfolg hatte. Schließlich hatte unsere Stadt Comforting sonst nicht besonders viel zu bieten.
 

Auch mein Laptop war bereits bis zum Anzeigen des Desktops hochgefahren und ich öffnete als erstes mein Mailprogramm. Irgendeiner spamt einen immer zu, das hatte ich hier gelernt. Deswegen sollte erst einmal das Postfach aufgeräumt werden.
 

Wie erwartet hatte ich zahlreiche Mails von meinen Mitstudenten bekommen, in dem sie mir irgendwelche hirnrissigen Videos oder Bilder empfehlen. Über ein Bild mit der Aufschrift „Ich bin noch nicht fertig mit dem Wochenende“ musste ich schmunzeln, allerdings war der schon so alt, dass es schon fast traurig war, wenn man den noch gut fand.
 

Doch dann sprang mir eine andere Mail ins Auge…
 

Freitag, 11:55 Uhr

FROM: "Bott.Marco@yahoo.com"

TO: "Kirstein.Jean@UniRose.com"

SUBJECT: -
 

Hallo Jean!

Wie geht es dir? Ich muss mir dir reden.

Gruß

Marco
 

Wer…auch immer diesen Scherz brachte…war verdammte Scheiße nochmal NICHT LUSTIG! Nachdem ich den ersten Schock runterschlucken konnte und ich eigentlich nur noch Wut empfand, wollte ich diesem Scherzkeks mal antworten.
 

"Du bist nicht witzig, du Vollidiot!

Ich schwöre dir, wenn ich raus kriege, dass du das bist Eren, dann bring ich dich um!"
 

Einen Augenblick lang hoffte ich sogar, dass es Eren war – so hätte ich endlich einen Grund ihm mal ordentlich ins Maul zu hauen.
 

"Jean, das ist kein Witz. Ich muss mit dir sprechen. Es ist wichtig."
 

Das war nicht sein Ernst. Er trieb es wirklich zu weit. Dem musste ich entgegen wirken.
 

"Wer zum Teufel bist du? Ich rede nicht mit Menschen, die den Tod nicht respektieren. Lass mich einfach in Ruhe."
 

Menschen, die den Tod nicht respektieren – meine eigenen Worte machten mich nachdenklich und traurig. Warum? Warum heute? Ich schaute auf meinen rechten Ringfinger - das einzige was ich heute noch von ihm hatte war der Ring, den er mit vor zehn Jahren geschenkt hatte. Er erinnerte mich an schöne Zeiten und daran, was für immer in meinem Leben fehlen würde. Meine Laune erreichte ihren Tiefstand.
 

"Du glaubst mir nicht wer ich bin. Frag Eren nach seinem Traum. Er wird dir sagen, dass er einen Alptraum hatte. Frag ihn."
 

Wieso sollte gerade ICH Eren nach seinen kranken Träumen fragen? War mir doch egal, was der Kerl träumt. Und was hatte das mit diesem blöden Scherz zu tun? Der Kerl regte mich einfach nur auf.
 

"Hey du Spinner, ich hab zwar keinen Plan, was du vorhast, aber ich warne dich. Spiele nicht mit dem Ruf meines Freundes, klar?!"
 

Ich ließ auf keinen Fall zu, dass er Marcos Ruf in den Schmutz ziehen würde. Soll er ihn doch endlich in Ruhe lassen.
 

"Frag ihn!"
 

Super Nachricht…
 

"Nein!!!!!!!!!"
 

"Frag ihn!"
 

Ich beschloss darauf nicht mehr zu antworten, da ich nichts Intelligentes mehr erwartete. Heute war echt ein schrecklicher Tag. Berthold und Reiner hatten zum Glück nichts von meinem Unmut mitbekommen – ihnen würde ich das mit Marco jetzt auch ungern erklären. Solche Idioten ignoriert man am besten, dann verlieren sie die Lust.
 

Ein wenig später schaute ich auf mein Handy, um zu schauen, ob mein Freund Conny schon Feierabend hatte. Conny war Azubi als Fachkraft für Postdienstleistungen – also Postbote. Und da heute Freitag war, wusste ich, dass er immer schon etwas früher Schluss hatte. Ich habe ihn vor zwei Jahren durch unser gemeinsames Hobby Fußball kennengelernt – er spielte in meiner Mannschaft und war echt gut.
 

Als ich vor einem Jahr anfing zu studieren, musste ich von zu Hause weg und da bin ich mit Conny und seiner Freundin Sasha zusammengezogen. Sasha ist zwar eine ziemlich anstrengende Person – aber wenn es ums Essen geht, macht ihr kaum einer was vor. Sie weiß wie man ordentliches Fleisch macht. Und wir kriegen das zu dritt eigentlich ganz gut hin – manchmal fragte ich mich, ob ich die beiden nicht nerven würde, aber jedes Mal wenn ich das Thema ansprach waren sie gleich total betrübt und versuchten mir das auszureden. So schlimm schien es also nicht zu sein.
 

Schon heute Morgen hatte ich ihm geschrieben, dass er mich heute wohl aufmuntern müsste – er wusste von Marco, da ich ihm letztes Jahr davon erzählte.
 

Aber anstatt einer Nachricht von Conny, hatte ich nur eine SMS von einer unbekannten Nummer, drei WhatsApp Nachrichten von einer mir unbekannten Nummer, eine Facebook-Nachricht und eine Mail auf meiner privaten Mailadresse. Und der Inhalt jeder dieser Nachricht war – wer hätte es anders erwartet -
 

„Frag ihn!“
 

Per SMS antwortete ich mit einem kurzen „Na gut“, da ich nicht noch mehr vollgespamt werden wollte und mir die Sache auch langsam etwas unheimlich wurde. Danach war Ruhe. Woher wollte derjenige eigentlich überprüfen, ob ich es wirklich tat? Aber solche Leute hatten ja immer Mittel und Wege. Ich hoffte bloß, dass das jetzt keine Stalker-Attacke werden sollte.
 

Gegen 14 Uhr schrieb mir Conny und ich verabschiedete mich von Berthold und Reiner, die immer noch fleißig am Arbeiten waren. Die kannten wohl auch kein Feierabend.
 

Ich freute mich richtig auf zu Hause, auch wenn ich wahrscheinlich vor Conny da war. Dennoch hoffte ich, dass Sasha bereits da war und etwas Leckeres gekocht hatte. Leider fiel meine S-Bahn aus.
 

Personenunfall.
 

Super. Immer diese Menschen, die sich umbringen und anderen das Leben versauen. Ich war also gezwungen den Bus zu nehmen – und war zehn Minuten später als geplant zu Hause. Nicht dramatisch, aber unnötig.
 

Irgendwie hatte ich das Gefühl heute wollte mich jeder an den Tod erinnern. Aber ich konnte auch nicht objektiv an die Sache rangehen – vielleicht war ich deshalb so empfindlich.
 

Ich holte die Post aus dem Briefkasten und fand dort einen Zettel.
 

„Frag ihn!“
 

„JA MEIN GOTT JAAAA!!!“ Das was ich eigentlich nur innerlich schreien wollte, schrie ich anscheinend durch das gesamte Treppenhaus, da Sasha im Erdgeschoss die Tür öffnete.
 

„Hallo Jean, alles okay?“, fragte sie, ihre langen braunen Haare hochgesteckt stand sie in Kochschürze und mit einer Kelle bewaffnet vor mir.
 

„Jaa, alles gut. Sorry. Ist Conny schon da?“
 

„Nein, der kommt aber gleich. Komm doch erst einmal rein.“
 

Meine Jacke abgelegt und Schuhe ausgezogen ließ ich mich erst einmal erschöpft ins bequeme Ledersofa fallen. Ich wusste nicht einmal genau wovon ich so erschöpft war, aber auf jeden Fall war ich ziemlich fertig. Ich schaute auf mein Handy. 15:14 Uhr. In meinen Kontakten hatte ich Erens Nummer eingespeichert. Das hatte ich am Anfang des Studiums getan, bevor er mir ununterbrochen auf die Nerven ging.
 

„Sasha? Wie lange dauert das Essen noch?“
 

„So hungrig? Eine halbe Stunde wird’s wohl noch dauern, wieso?“
 

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Eintrag - Erwin Smith

Der Fall über die Ermordung vom Pastor war mir immer noch ein Rätsel. Warum ermordet man einen Pastor, der nie zuvor auffiel, soweit keine Feinde hatte und dazu nichts Gewinnbringendes besaß, wie beispielsweise ein geheimes Konto oder so? Und warum foltert man ihn zu Tode? Wusste er zuviel – war es eine Befragung? Langsam brauche ich wirklich neue Erkenntnisse, mein Chef macht Druck.
 

Aber ich habe heute eine interessante Entdeckung gemacht. Ein neuer Zirkus ist für eine Weile in unserer Stadt und sucht jemanden für einige Auftritte am Abend. Da Levi momentan beruflich und finanziell ganz schön in der Klemme steckt, werde ich ihm morgen mal die Idee näher bringen. Am besten gleich morgen früh, damit er abends hingehen kann, um sich zu bewerben. Irgendwie muss ich ihm ja helfen.
 

Außerdem könnte ich Hanji morgen mal wieder besuchen. Die Kinder vermissen mich sicher schon.
 

Einen Teil meiner im gestrigen Tagebucheintrag erwähnten Do-To-List hatte ich bereits erledigt. Leider war dies nur der Teil mit Levi und der schien nicht besonders begeistert von meinem Vorschlag. Ich verstand nicht im Geringsten, warum er sich nicht helfen lassen wollte. Ehrlich gesagt machte ich mir sogar ein wenig sorgen, dass er wieder ein Rückfall erleiden würde und vielleicht wieder eine illegale Laufbahn einschlagen würde. Das wollte ich unbedingt verhindern. Schließlich war er mein Freund. Freunde lässt man nicht im Stich. Und bei Dingen, die sich auf die Seele auswirken war es schwieriger abzuschätzen was passiert. Tötet jemand den Körper, wird er verurteilt; wer aber die Seele tötet, entkommt meist unerkannt.
 

Allerdings hatte ich nebenbei auch andere Aufgaben. Mein aktueller Fall machte mir Kopfzerbrechen. Ein ermordeter Pastor, misshandelt und teilweise zerstückelt, gefunden in seiner eigenen Kirche. Kein Vermögen, keine bekannten Feinde, keine Auffälligkeiten. Vermutlich eine Verschleierungstat, er schien zu viel zu wissen. Die Tat war nun vier Wochen her – und immer noch keine neuen Erkenntnisse. Mein Chef machte schon Druck, die Familie von ihm wollte Erklärungen. Erklärungen, die ich nicht aufzeigen konnte.
 

In solchen Momenten fragte ich mich häufig, ob es wirklich eine gute Idee war, aus dem sozialen Bereich auszutreten um als Jurist zu arbeiten. Besonders weil ich zu Beginn des Studiums schon über 30 war. Doch so sehr ich Menschen auch helfen wollte, noch wichtiger war mir die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit hilft Menschen manchmal mehr als ein Gespräch. Deswegen fing ich nach meiner Ausbildung zum Sozialassistent das Jura-Studium an. Und bereuen tat ich es auf keinen Fall. Schließlich hätte ich Levi sonst nie kennengelernt. Außerdem – wenn man sich die Arbeit der anderen Dilettanten hier einmal ansah – brauchte man dringend jemanden wie mich in dieser Staatsanwaltschaft.
 

Zum Ausgleich besuchte ich ein paar Mal pro Woche das Jugendzentrum unserer Stadt. Dort konnte ich wenigstens einen Teil meines alten Jobs weiter ausüben und die Kinder dankten es mir. Eigene Kinder hatte ich nicht – und wollte ich auch nicht. Nicht in dieser Welt. Nicht, wenn ich nicht weiß, wie lange ich noch zu leben hatte.
 

Im Jugendzentrum lernte ich auch Hanji Zoe kennen. Hanji war eine junge Erzieherin, die dort im Jugendzentrum arbeitete. Die Kinder, die sie tagtäglich betreute waren zwischen 10 und 17 Jahre alt. Einige kamen täglich – sie hatten meist geschäftlich beschäftigte Eltern und nutzten das Zentrum um überhaupt einmal Kontakt zu irgendjemanden zu haben. Andere waren nur ein- bis zweimal die Woche da, um sich dort mit Freunden zu verabreden oder an dem von Hanji und ihrer Kollegin Ymir ausgearbeiteten Freizeitplan teilzuhaben. Und bei diesem Plan unterstützte ich meine inzwischen gute Freundin, die ich heute auch noch besuchen wollte – auch wenn sie ziemlich verrückt im Kopf war.
 

„Smith, Montag ist noch einmal Tatortbesichtigung!“
 

Die Menschen in dieser Kanzlei hatten sich abgewöhnt zu klopfen oder gar Begrüßungen auszusprechen. Und vor allen Dingen war es ihnen egal, ob man gerade Zeit hatte oder nicht. Man könnte meinen, dass das daran läge, dass sie so tief in ihrem Job steckten und der zwischenmenschliche Bereich halt darunter leiden müsste. Sie taten was sie können – nur leider konnten sie das was sie taten nicht. Wie gesagt, Dilettanten.
 

Ich hob meinen Kopf nicht an und ließ lediglich meine Augen kurz von meinen Unterlagen aufblicken.
 

„Verstanden.“
 

Kurz, bündig, verständlich und ohne weitere Nachfragen. So wie es meine Kollegen mochten. Obwohl dabei meist die größte Hürde war, es verständlich für sie auszudrücken. Man könnte meinen, ich sei anmaßend und überheblich. Dem ist wahrscheinlich sogar so. Andererseits war es nicht besonders schwierig sich über unterdurchschnittliche Leistungen zu heben.
 

Durch diese ganze Grübelei vergaß ich sogar das Mittagsessen. Schon 14 Uhr. Es war Zeit für eine Pause.
 

Als ich das Gebäude verließ, strahlte mir die Sonne entgegen. Ein sehr warmer Tag – zu warm für Oktober. Ich lockerte ein wenig die Krawatte und öffnete den ersten Knopf meines Hemdes, da die Hitze unerträglich wurde. So bahnte sich meine Kette einen Weg an die Luft. Der Smaragdanhänger war mein ständiger Begleiter. Ich hatte ihn als Auszeichnung nach meinem Jurastudium von der Universität erhalten, da ich mit Abstand Jahrgangsbester war. Und da es an Schulgeldern damals noch nicht so mangelte wie heute, bekam man sogar noch schicke Belohnungen für gute Leistungen.
 

Auf dem Weg zu meinem Standard-Italiener konnte ich das Gelände der Universität Rose beobachteten. Auch ich hatte damals an dieser Uni zusammen mit Levi und Mike studiert. Ein Blick dorthin erinnerte mich an schöne Zeiten.
 

Kurz bevor ich das Restaurant betrat konnte ich einen jungen Mann aus der Universität laufen sehen. 14 Uhr und schon so panisch in den Feierabend? Die Studenten von heute waren auch nicht mehr das, was ich unter arbeitseifrig verstand.
 

Ins Restaurant eingetreten, saß ich mich auf meinen Standardplatz und brauchte nicht zu bestellen, da der schon etwas ältere Besitzer mich bereits kannte und wusste was ich zu speisen vermochte. Während ich auf meine Pasta in Tomate-Mozzarella Sauce wartete, holte ich mein Tagebuch heraus. Da ich wahrscheinlich heute Abend nach dem Besuch bei Hanji zu müde für einen ausführlichen Eintrag sein würde, wollte ich schon einmal mit dem Verfassen meines täglichen Textes beginnen. Ein kurzer Blick auf meinen Eintrag von gestern erinnerte mich noch einmal ein meine heutige Vorhaben. Danach erwartete ich eine leere Seite, auf der ich meine Worte niederschreiben konnte. Allerdings war nach meinen Worten von gestern noch ein Eintrag vorhanden. Auf heute datiert. Ich hatte heute jedoch mit Sicherheit noch keinen Eintrag verfasst. Verwundert las ich mit diesen Text durch.
 

Ergebnislos haben wir den zweiten Versuch den Keller von Shiganshina zu erreichen abgebrochen. Zu hohe Verluste waren hinzunehmen.
 

182 Tote. 71 Leichen konnten geborgen werden.
 

Levis neues Team, welches aus ihm und drei weiteren bestand, wurde erneut bis auf Levi komplett ausgelöscht. Hanjis Vertraute nahm sich im Kampf das Leben, was für 13 weitere Verluste sorgte. Wir verloren 4 Versorgungswägen und 75 Pferde, wovon 35 Pferde starben und 40 wegliefen. Werde heute mit Hanji darüber diskutieren, wie wir das der Regierung erklären. Levi ist zu geschockt, um ihn damit zu belasten. Unserem Schützling Eren Yeager ist nichts passiert, aber er hat sich nicht verwandelt. Trotz Aufforderung biss er sich nicht einmal in die Hand. Er schien leicht verwirrt. Werde mit ihm reden müssen.
 

Das…hatte ich mir Sicherheit nicht reingeschrieben. Tote? Team? Und Levi und Hanji? Langsam hatte ich einen Verdacht – da der Eintrag gestern Abend noch nicht im Buch stand, musste ihn heute jemand hineingeschrieben haben – sicherlich war es Levi, als ich mich mit Mike unterhalten habe. Da trifft man einmal auf gute alte Freunde und dein bester Freund nutzt die Gelegenheit, klaut dein Tagebuch aus der Tasche und schreibt einen makaberen Eintrag hinein. Na da bin ich einmal auf Levis Erklärung gespannt.
 

Obwohl er ja schon Fantasie hatte, der Kleine. Solch eine Horrorgeschichte – und dann sogar mit Daten. Und Hanji spielte auch mit. Bravo, Levi. Leicht lächelnd klappte ich das Buch zusammen und steckte es wieder in meine Tasche. Die Lust auf eine Tageszusammenfassung war mir vergangen.
 

Mein Pastateller wurde angerichtet. Wenngleich dieser Eintrag ein alberner Scherz sein sollte, schlug er mir heftig auf den Magen. Ich schaffte nicht einmal den halben Teller zu leeren.
 

Nach der Bezahlung mit einem erhöhten Trinkgeld, da ich unhöflicherweise über die Hälfte von einem guten Essen liegen ließ, machte ich mich zurück auf den Weg in die Kanzlei. Für heute machte ich Feierabend. Übers Wochenende interessiert sich sowieso niemand für einen Tathergang von vor vier Wochen.
 

Nachdem ich meinen Mantel, den ich natürlich nur über den Arm hängen ließ, aus meinem Büro holte, machte mich auf den Weg zur S-Bahn-Station der Uni, da diese am nächsten lag und heute ausnahmsweise nicht mit dem Auto zur Arbeit fuhr. Ich stieg die endlosen Treppen zum Gleis hoch, welches mir ein sehr interessantes Bild eröffnete. Viele – sehr viele Menschen, die Anzeige war ausgeschaltet. Ich ging etwas weiter vor, da ich eigentlich immer vorn in der S-Bahn einstieg und hörte eine ziemlich unverständliche Ansage. Lediglich „10 Minuten“ hatte ich verstanden. Die Menschen dort schienen etwas genervt aber erleichtert aufzuatmen.
 

Ein junger Mann fiel mir auf, der anscheinend schon sehr lange dort wartete. Er saß auf einer dieser metallischen Stühle, die von Levi immer nett als „dreckige Drahtsitze“ betitelt wurden. Braune Haare, lockere, aber gepflegte Kleidung. Seine Schuhe kreisten auf dem Boden hin und her; sein Blick hingegen blieb starr auf den Boden.
 

Da er einer der weniger Menschen war, die weder Kopfhörer noch ein Telefon an den Ohren hatten und mir somit die Chance gab, mit ihm zu sprechen, näherte ich mich ihm um ihn zu fragen, ob er denn wüsste, was los sei. Es war schrecklich heutzutage. Finde mal einen Menschen, der halbwegs sympathisch aussieht und noch nicht mit sich selbst beschäftigt ist.
 

„Entschuldigung, darf ich sie etwas fragen?“ Damit er auch wusste, dass er gemeint war, tippte ich ihn leicht an der Schulter an.
 

Große grüne Augen schauten mich erwartungsvoll an.
 

„Ähm, klar, was kann ich für Sie tun?“
 

„Haben Sie eine Ahnung, was hier los ist, bzw. was angesagt wurde?“ Er zörgerte kurz, bevor er zu einer Antwort ausholte.
 

„Die S-Bahn-Strecke ist seit einiger Zeit gesperrt. Personenunfall. Ich warte auch schon eine halbe Stunde und wär auch schon längst zu Fuß gegangen, wenn ich nicht einen Freund besuchen wollte. Aber laut der Ansage soll in 10 Minuten wieder die erste S-Bahn fahren.“
 

Personenunfall. Achso. Na, dann hatte ich Montag vielleicht noch mehr Arbeit. Freitag, 15:14 Uhr. Man konnte sich nichts Besseres vorstellen.
 

„Danke für die Auskunft. Dann hoffen wir mal das Beste.“, erwiderte ich freundlich hörte ein plötzlich laut irgendwo Linkin Parks „Faint“ spielen. Es kam von dem Jungen dort. Aber er bewegte sich nicht.
 

Kurz räuspernd wartete ich ab, aber er rührte sich nicht.
 

„Ich glaube, Ihr Handy klingelt.“
 

„Ich weiß. Aber das ist wahrscheinlich eh wieder nur ein blöder Scherz oder mein Freund, der sich wundert wo ich bleibe.“
 

„Aber sollte man nicht gerade dann rangehen?“ Ich erntete für meine berechtigte Frage nur einen bösen Blick. Aber anscheinend hatte diese Frage ihn in Bewegung gebracht, denn er holte sein Handy aus der Tasche. Die Gesprächsfetzen, die ich auf seiner Seite der Leitung vernahm, waren eine perfekte Mischung aus seltsam und lustig.
 

„Yeager.“
 

„Was willst du denn?“
 

„Komm‘ zum Punkt!“
 

„Jaa…wieso? Und woher weißt du das?“
 

„Ernsthaft? Bist du krank oder was?“
 

„Also warst du das mit dem Scheiß? Ganz ehrlich Jean, ich wusste ja, dass du es nötig hast, aber mit dem Ausmaß hab‘ ich nicht gerechnet.“
 

„Nein. Ich hab Wichtigeres zu tun als mit dir über meine Träume zu reden!“
 

Und dann legte der junge Mann auf.
 

Mein Grinsen zu verkneifen war keine leichte Aufgabe, aber ich hatte es schon immer drauf, meine Emotionen nicht auf meinem Gesicht wiederspiegeln zu lassen. Der Inhalt des Gespräches kann nicht besonders niveauvoll gewesen sein. Interessant war einzig und allein die Tatsache, dass er Yeager hieß.
 

„Sehen Sie, nichts Wichtiges, nur ein blöder Mitstudent.“
 

„Tut mir Leid, ich dachte es könnte wichtig sein. Ich belästige Sie auch nicht länger.“
 

„Sie belästigen mich nicht. Ich hab‘ nur nicht so tolle Laune. Ich komme gerade von einem nicht so gut gelaufenen Termin. Mir tut es Leid. Sie können mich übrigens ruhig dutzen. Ich bin Eren.“
 

Eren Yeager.
 

Unserem Schützling Eren Yeager ist nichts passiert, aber er hat sich nicht verwandelt. Trotz Aufforderung biss er sich nicht einmal in die Hand. Er schien leicht verwirrt. Werde mit ihm reden müssen.
 

Ich hatte keine Ahnung, warum mir das plötzlich wieder einfiel. Schließlich war es wahrscheinlich nur ein dummer Scherz von Levi. Allerdings müsste Levi diesen Jungen dann kennen. Kann ja sein. Aber warum dann er und Hanji?
 

„Freut mich dich kennenzulernen, Eren. Ich bin Erwin Smith, nenn‘ mich einfach Erwin.“ – begleitend strecke ich meine rechts Hand aus, die er sofort ergriff. Es war ein seltsamer Moment. Als hätte ich seine Hand schon einmal gespürt. So vertraut und doch so fremd. Auch ihm schien diese Geste merkwürdig vorzukommen, deshalb lösten sich unsere Hände nach kurzer Zeit wieder.
 

Eren und ich warteten gemeinsam und nach weiteren acht Minuten fuhr tatsächlich die S-Bahn ein. Wir saßen uns in der Bahn gegenüber - Eren tippte etwas auf seinem Handy – wahrscheinlich schrieb er seinem Freund. Das hätte ich auch tun können, dachte ich mir während ich ihn so beobachtete und schrieb Hanji, ob es sie stören würde, wenn ich sie heute Abend im Jugendzentrum besuchen würde. Danach sah ich wieder zu Eren rüber.
 

„Sind Sie Anwalt oder so?“, fragte er mich plötzlich und überraschte mich damit ein wenig.
 

„Ja, ich bin Staatsanwalt. Und du? Studierst du an der Universität Rose? Dort habe ich auch studiert.“
 

„Tatsächlich? Ja, ich studiere momentan Neurologie, bin im zweiten Semester. Ist ganz schön hart das Studium.“ Der Kleine wirkte irgendwie mitteilungsbedürftig.
 

„Du wirst dich daran gewöhnen, glaub mir. Wenn du fertig bist, vermisst du die Studienzeit.“ Er lächelte sanft und schaute aus dem Fenster.
 

„Mag sein.“
 

Trotz seines Mitteilungsbedarfes, waren seine Antworten kurz angebunden. Seltsamer Junge.
 

15 Minuten später stieg ich aus und verabschiedete mich von ihm. Ich gab ihm meine Karte für den Fall, dass er mal einen Staatsanwalt brauchte, wann immer dieser Fall auch eintreten sollte. Aber ich wollte ihm die Möglichkeit geben, Kontakt zu halten, da ich mich immer noch fragte, was mich mit diesem Jungen verband.
 

Nachdem ich die Bahn verlassen hatte schaute ich auf mein Telefon.
 

„Sorry Erwin, bin heute nicht mehr im Jugendzentrum. Ymir hat sich vor’m Zug geschmissen, weil sie Monster gesehen hat. Können wir uns bei dir treffen?“
 

Personenunfall.
 

Hanjis Vertraute nahm sich das Leben.
 

Ich fasste mir an die Stirn, schloss kurz die Augen, um mich zu sammeln. Levi du krankes, kleines Kind. Aber war Levi dazu wirklich in der Lage? Hier ging etwas Seltsames vor – weit von dem mir Verständlichen entfernt.
 

„Klar Hanji, komm gegen acht einfach zu mir. Dann müssen wir sowieso mal über einiges reden. Brauchst du Hilfe?“
 

Meine Antwort war spontan getippt. Hoffentlich war das eine angemessene Reaktion auf ihre Nachricht. Andererseits fragte ich mich, ob man auf Hanji überhaupt angemessen reagieren kann. Schließlich war die Frau ein verrückt, sadistisch und außerordentlich pervers. Dafür war sie aber auch direkt, ehrlich und zuverlässig – das mochte ich so an ihr.
 

„Mir geht’s gut, ich wollte nur IN die Bahn nicht DARUNTER ;) Bis nachher <3“
 

Ihr Gebrauch von Humor und Chatsymbolen war zwar äußerst unangemessen, allerdings wusste ich so, dass es ihr anscheinend wirklich gut ging.
 

Zuhause angekommen, stellte ich meine Tasche in die Ecke und legte mich auf mein Sofa, nachdem ich den Fernseher eingeschaltet hatte. Einfach ein paar Minuten ausspannen. Für kurze Zeit schloss ich die Augen und möglicherweise schlief ich sogar kurz ein, denn als ich die Augen öffnete lief eine andere Sendung. Aber nicht nur das. Ich setzte mich auf, um auf die Uhr zu schauen. Doch anstatt auf die Uhr fiel mein Blick auf mein Tagebuch auf dem Tisch…

Anfang - Hanji Zoe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Vergangenheit - Reiner Braun

„Wir können gehen.“
 

Annie war anscheinend mit beiden ihrer Vorlesungen fertig. Wurde aber auch Zeit – freitags bis 16 Uhr in der Uni hocken ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung.
 

„Und wie war’s?“, fragte ich und wollte damit ein Gespräch anfangen, was mir aber nicht glückte. Berthold und Annie sind halt nicht die kommunikativsten Menschen.
 

Ich mochte dieses Schweigen nicht. Das war schon immer so. Jedes Mal wenn es länger als 15 Sekunden still zwischen zwei Menschen war, verspüre ich einen Drang etwas zu sagen. Die allseits bekannte peinliche Stille war es, die ich nicht ertrug. Es sei denn, es war angemessenes Schweigen. Wie beispielsweise bei einer Trauerfeier oder einer Rede.
 

Auf dem Weg nach Hause schwiegen wir uns weiterhin an. Berthold war in Annies näher noch schweigsamer als er sowieso schon war. Unsere WG war auf die Kommunikation bezogen wirklich kaum zu übertreffen.
 

Berthold kannte ich schon seit meiner Kindheit. Wir gingen in denselben Kindergarten, waren in derselben Klasse, machten gleichzeitig unseren Abschluss und fingen zusammen an bei der Sicherheitsfirma „Seguridad“ zu studieren. Mein Traum war es, die Schwächeren zu beschützen und Berthold sah das ähnlich wie ich.
 

Mit fünf kleineren Geschwistern gab es bei mir zu Hause immer jemanden, den ich beschützen musste. Berthold dagegen war ein Einzelkind, unterstützte mich aber wo er nur konnte. Schließlich war er beinahe auch ein Teil meiner Familie. Selbst meine Eltern mochten ihn – so kam es häufig vor, dass Berthold tagelang bei uns war, wenn er mal wieder Krach zu Hause hatte.
 

Leider gelang es mir nicht immer jeden zu beschützen. Vor sechs Jahren nahm sich ein Freund von mir das Leben. Ich merkte, dass es ihm schlecht ging – er kam nicht damit klar, dass sein Vater Alkoholiker war. So oft sagte ich zu ihm, er solle doch zum Jugendamt gehen, oder einfach zur Polizei, denn sein Vater hatte ihn wirklich mies behandelt. Doch er wollte nicht. Da ich sein Freund war, verzichtete ich auch darauf etwas zu sagen, weil ich es als Vertrauensbruch sah.
 

Allerdings war das genau mein Fehler. Nachdem sein Vater betrunken am Steuer verunglückt war, war mein Freund am Ende. Es war ein sehr schwerer Unfall, eine weitere Person starb dabei. Ein Junge in seinem Alter. Mein Freund kam damit nicht klar und nahm sich wenige Tage danach das Leben, in dem er vom Hochhaus sprang. Ich wollte ihn noch aufhalten, doch als ich ankam, war es bereits zu spät. Sein Körper war voller Blut, jegliches Leben aus seinem Gesicht geflohen.

Viel zu viele Kinder trauen sich nicht zu sagen was ihr Problem ist. Deswegen habe ich mir selbst als Aufgabe gegeben den Unterdrückten zu helfen und machte letztes Jahr ein paar psychologische Schulungen, um mich ein bisschen als Streetworker nützlich zu machen.
 

Berthold war davon nicht so begeistert, da er meinte, es sei zu gefährlich, weil die Menschen auf der Straße unberechenbar waren. Aber genau weil es für diese verirrten Seelen gefährlich war, wollte ich ihnen doch helfen. Und das klappte bis jetzt ganz gut. Außerdem hatte unsere Stadt ein tolles Jugendzentrum, in dem ich früher selbst häufig war. Heute half ich manchmal den netten Damen dort, die wirklich alles für die Kiddies dort taten. Leider hatte ich viel zu selten Zeit dafür und war schon lange nicht mehr dort.
 

Aber Berthold und ich waren uns auf jeden Fall in dem Punkt einig, dass wir Schwächere beschützen mussten. Deswegen Seguridad – eine ziemliche moderne Sicherheitsfirma, die sich auf das Management von Sicherheitsanlagen in Clubs oder anderen öffentlichen Plätzen spezialisiert hatte. Wir waren praktisch moderne Bodyguards. Das war bis jetzt alles was wir tun konnten. Nie wieder sollte es jemanden so schlecht gehen, wie meinem Freund damals.
 

Allerdings waren meine Taten keinesfalls ein verzweifelter Versuch mein schlechtes Gewissen zu beruhigen – ich träumte davon vielleicht irgendwann einmal sogar in die Politik zu gehen und unser System ein wenig zu verändern. Natürlich viel Träumerei, keine Frage. Aber das gab mir die Kraft meiner Verpflichtung, die ich mir selbst auferlegte, nachzukommen.
 

Annie haben wir vor zwei Jahren bei einer Feier kennengelernt. Diese kleine junge Frau hatte es ganz schön faustdick hinter den Ohren. Eine kleine Hackerin sag ich euch. Sie kannte sich unheimlich gut mit Computern aus; Passwörter waren kein Problem für sie. Wenn sie gewollte hätte, wäre sie unerkannt Millionärin geworden.
 

Aber sie setzte ihre Kenntnisse auch schon für gute Dinge ein. Nachdem wir uns mit ihr angefreundet hatten und sie in unsere WG zog, hatte sie einmal der Polizei geholfen, einen Fall von einem über Internethandel betrogenes Ehepaar aufzuklären. Der Typ hatte Ware, die er nicht besaß, verkauft und fleißig Geld einkassiert. Annie hatte seine Identität herausgefunden; Bankkonto geknackt und das Geld an die betroffenen zurücküberwiesen. Nicht, dass das legal wäre. Aber wer verdächtigte schon das kleine, schüchterne, blonde Mädchen als gefährliche Hackerin? Tja, nicht einmal die Polizei, der sie einfach erzählt hat, dass der Typ aus Angst vor der Drohung ihrerseits, ihn bei der Polizei anzuschwärzen, das Geld selbst überwiesen hatte.
 

Auch sie arbeitete ebenfalls bei Seguridad – als Wirtschaftsinformatikerin. In der IT-Abteilung optimierte sie allgemeine Geschäftsabläufe mithilfe von gewissen Anwendungen und verbesserte das allgemeine Sicherheitskonzept intern sowie auch extern. Mit uns zusammen hat sie das duale Studium angefangen – es war echt richtig Glück, dass die Firma uns gleich alle drei eingestellt hatte.
 

Wir waren schon ein tolles Team. Allerdings war bei Annie immer eine gewisse Unnahbarkeit zu spüren. Sie war ein sehr interessanter Mensch – Berthold und mir war mit ihren Launen niemals langweilig. Besonders Berthold war von ihr angetan.
 

Zuhause angekommen, Jacke und Tasche in die Ecke geschmissen und Schuhe ohne die Schnürsenkel zu öffnen irgendwie von den Füßen gestreift, ließ ich mich erstmal auf mein Bett fallen und beschloss gleich wieder aufzustehen, um mich etwas frisch zu machen. Doch aus dem gleich wurde nichts, da Berthold, wie immer, wenn wir nach Hause kamen, mal wieder abspacken musste. Dieses Mal äußerte sich das, indem er mit viel Wucht auf mich sprang.
 

„Argh, Berthold, bist du blöd? Geh‘ runter, ich will ins Bad!“ – ihn störte nicht einmal, dass die stacheligen, silbernen Nieten meines Lederarmbandes sich leicht in seinen rechten Unterschenkel drückten.
 

„Weißt du, was heute im Fernsehen läuft?“ – Berthold war zu Hause so ein Spast.
 

„Bist du dumm? Keine Ahnung, man! Wie kommst du eigentlich jetzt darauf? Geh‘ von mir runter, schnapp' dir die TV-Zeitschrift und sieh selbst nach!“, rief ich etwas genervt und hoffte, dass er sich diesen Rat zu Herzen nehmen würde. Er war zwar nicht schwer – zumindest nicht für mich, obwohl er größer war als ich – allerdings konnte ich mir angenehmere Posen vorstellen.
 

„Na gut…“, willigte er schließlich seufzend ein und erhob sich tatsächlich aus seiner sitzenden Position, sodass ich mich ebenfalls aufsetzen konnte. Annie stand kichernd im Türrahmen. Schon viel zu oft hatte sie mich und Berthold erlebt wie kein anderer. Mein bester Freund war eben ein liebenswerter Vollidiot.
 

Wie zuvor geplant stand ich auf, streifte mir Hose und Shirt vom Körper und legte mein Armband auf meinen Nachttisch. Anschließend verließ ich mit frischen Sachen bewaffnet mein Zimmer und zog mich ins Bad zurück. Nach der Uni fühlte ich mich immer so durchgeschwitzt.
 

Der Rest des Abends verlief ziemlich ruhig. Für meinen Geschmack etwas zu ruhig, deswegen wollte ich der Stille in unserem kleinen, etwas chaotischen Wohnzimmer ein Ende setzen.
 

„Hey Leute, machen wir heute Abend noch irgendwas? Ich mein‘ es ist Freitagabend, wie wär’s mit feiern?“

„Nee Reiner, lass mal stecken, ich will fernsehen nachher. Kommt ein guter Film im Fernsehen.“
 

Oh man, was ich doch für einen langweiligen Freund hatte.
 

„Ach komm schon, den kannst du dir auch im Netz reinziehen – Annie sag‘ auch mal was!“, forderte ich mit leichter Verzweiflung in der Stimme, weil ich wirklich nicht vorhatte meinen Freitagabend vor dem Fernseher zu verbringen.
 

Annies Reaktion ließ eine Weile auf sich warten, gefiel mir aber wesentlich besser als die von Berthold.
 

„Hmm, warum nicht? Ich hätte nichts dagegen.“
 

„Ha siehst du, Bertl! Wir würden doch eh erst nachts losgehen – dann kannst du doch noch in deinen komischen Film reinschauen.“
 

„Naa ich weiß nicht…ich hab auch gar nichts Gutes zum Anziehen.“
 

Jetzt ging das wieder los. Ich hasste es, wenn mein Freund Berthold sich eher wie eine Bärbel benahm. Aber da ich ein guter Freund bin, wusste ich was zu tun war, um ihn aus seiner Selbstkritik rauszuholen.
 

Langsam stand ich auf, legte die Arme auf die Schultern meines größeren, vor mir stehenden Freundes, und schaute ihn an.
 

„Berthold, du hast es nicht nötig irgendeinen schicken Fummel zu tragen. Du siehst auch in Shirt und Jogginghose gut aus. Wir wollen doch nur feiern gehen und Spaß haben – also stell‘ dich nicht zu an.“
 

Annie konnte sich wie so oft ihr Kichern nicht verkneifen – das lag daran, dass sie einen ausgesprochen dreckigen Humor hatte. Alles – wirklich alles – was man sagte, konnte von Annie zweideutig gesehen werden.
 

Nachdem das geklärt war und Berthold schwermütig nun auch einwilligte, lief er in sein Zimmer und suchte wahrscheinlich nach passenden Sachen für heute Nacht. Es war zwar erst 19:30 Uhr, aber er brauchte auch mindestens zwei Stunden um sich fertig zu machen, deswegen war es ganz gut, dass er jetzt schon anfing.
 

Da Annie am Laptop saß, blieb mir ein wenig Zeit zum Lesen. Ich liebte es zu lesen, vor allen Dingen abends. Am liebsten Geschichtsbücher – nichts ist interessanter als die Realität. Vergessene Geheimnisse, Machenschaften und die ständig wiederkehrende Dummheit der Menschen. Einer musste ja aus alten Fehler lernen, nicht wahr?
 

Meine Finger streiften über unser etwas staubiges, riesiges Bücherregal. Wir besaßen viele Bücher, da Annie ebenfalls gerne las. Sie konnte sich allerdings eher für Fantasy und Drama begeistern. Während meine Augen meinen suchenden, unentschlossenen Fingern folgten, entdeckten sie ein Buch, was ich zuvor noch die gesehen hatte. Es war dick, groß und hatte einen braunen Umschlag. Der Titel: „Für dich in 2000 Jahren“. Hatte Annie sich ein neues Buch gekauft?
 

Langsam zog ich es aus dem Regal, ignorierte den Staub, der mir dabei entgegen kam und schlug es auf. Eine alte Schrift umrahmte alte Bilder von unseren Stadtmauern. Unsere Stadt Comforting verfügte ja früher über Stadtmauern, die uns vor irgendetwas schützen sollten. Die angrenzenden Städte Calanes und Hessto, sowie unsere Touristenstadt Aipotu gehörten früher ebenfalls zu dem Land, welches die Mauern beschützten. Heute wusste keiner mehr vor was genau und man sah nur noch die Überreste dieser Mauern. Meist lockten sie eh nur die besagten Touristen an oder verleiteten pubertierende Jugendliche zu Mutproben.
 

Doch dieses Buch schien mehr zu wissen als wir alle. Es beinhaltete alte Dokumente über das Militär damals und seine verschiedenen Unterteilungen – sogar ein Bericht von einem Soldat ist enthalten. Verblüffend, dass es überhaupt noch etwas aus dieser Zeit gab. Eigentlich sollte so etwas im Museum liegen – aber wo war es überhaupt hergekommen?
 

Ich setzte mich auf das Sofa und fing an auf Seite 1 zu lesen. Die ersten Seiten beinhalteten nur Pläne der Mauern, der Städte sowie des Kanalisations- und Bewässerungssystemes. Außerdem gab es eine Auflistung der Minerale und anderen natürlichen Ressourcen über die unsere Stadt verfügte. Auf den folgenden Seiten wurde die Regierung beschrieben – es war wohl eine Monarchie wie sich das so anhörte. Zeichnungen von alten Kleidern, Skizzen von Kanonen und eine ausführliche Beschreibung des Straßensystems schmückten die nächsten 60 Seiten.
 

Nachdem ich einen Großteil interessiert überflogen hatte, war mir aufgefallen, dass trotz der ganzen detaillierten Ausführungen nicht einmal erklärt wurde, für was genau die Mauern da waren. Merkwürdiges Buch. Ich sollte den anderen davon berichten.
 

Schon 20:20 Uhr. Wollte Berthold nicht einen Film sehen?
 

„Hey Bertl, wann kommt dein komischer Film? Es ist zwanzig nach acht!“, rief ich aus dem Wohnzimmer und bekam rasch eine Antwort, indem Berthold angelaufen kam und wie, als würde ihm es sonst das Leben kosten, den Fernseher anmachte. Auch Annie gesellte sich zu uns und ich legte das Buch vorerst zurück auf das Regal.
 

„Wie heißt denn der Film?“, fragte Annie nachdem Berthold schließlich das richtige Programm fand, auf dem der Film bereits angefangen hatte.
 

„Delusory Freedom – Walls can’t protect you.” – kam es von Berthold wie aus der Pistole geschossen. Für einen kurzen Moment musste ich schlucken. Der Titel war ja mehr als verdächtig. Dieses Buch hatte meine Nerven wirklich etwas durcheinander gebracht.
 

Die ersten Minuten des Filmes versicherten mir, dass das Buch, welches ich bis eben in den Händen hielt, sicherlich das Drehbuch für diesen Film sein musste. Es stimmte einfach alles – Kleidung, Politik, Aufbau - wirklich alles. Dabei dachte ich, dass es von unserer Stadt bzw. unser Land handeln würde.
 

Aber das hier war doch kein Dokumentarfilm, oder?
 

Mein verwirrtes Gesicht schien auch nicht von den anderen unbemerkt zu bleiben, da Annie es kommentierte.
 

„Was ist los Reiner? Findest du den Film so scheiße? Der geht doch erst 15 Minuten.“
 

„Nein, ich finde nur, dass die Mauern unseren alten Stadtmauern ganz schön ähnlich sehen, findest du nicht?“ – selbstverständlich hatte ich ein „Ja, cooler Zufall!“ oder so erwartet.
 

„Hä? Wovon redest du?“, fragte sie mich und sorgte so dafür, dass ich noch verwirrter war.
 

„Na von dem Film. Die Kleidung da passt doch auch zu der, die wir aus den Geschichtsbüchern kennen, findet ihr nicht? Und die Mauern da haben denselben Durchmesser wie unsere alten Stadtmauern.“ – meine Erklärungen verfehlten ihr Ziel anscheinend erbarmungslos.
 

„Was für alte Mauern? Wir schauen doch denselben Film, oder? Die bauen Stahlwände und die haben voll die modernen Outfits an. Da geht’s um Mutanten, die man einsperren will, du Depp!“
 

Sprachlos starrte ich auf den Fernseher. Dort lief definitiv ein Film aus der Vergangenheit, aber meine Freunde schienen einen Film der Zukunft zu sehen. Was war hier los? Meine Augen fixierten den Bildschirm geradezu und ich konnte spüren, wie sich zu meiner Verwirrung noch die Panik breit machte.
 

„Ach Annie, lass den Spinner, der hat schon wieder zu viele Bücher gelesen. Reiner mach dich lieber schon mal fertig, du wolltest doch unbedingt los und Annie und ich sind schon angezogen.“
 

Gerade als ich widersprechen wollte, bemerkte ich durch ein Blick auf das Bücherregal, dass die Grundlage meines Widerspruchs verschwunden war. Das Buch war nicht mehr da. Dabei hatte ich es gerade dort hingelegt. Nun wurde mir die Sache wirklich unheimlich.
 

„I-Ich mach mich dann mal fertig…“, entgegnete ich leise Berthold, der mir eh kaum zuhörte. Der Film, den die beiden dort sahen, war wohl ziemlich interessant.
 

In meinem Zimmer suchte ich mir eine schwarze Jeans und ein dunkelgrünes Hemd raus und machte mich auf den Weg ins Bad. Auch mein Armband vom Nachttisch vergaß ich nicht.
 

Nach diesem seltsamen Ereignis klatschte ich mir erst mal etwas Wasser ins Gesicht und machte mich dann ausgehfertig. Soviel hatte ich ja nicht zu tun. Die meiste Aufmerksamkeit bekamen sowieso meist nur meine Oberarme.
 

Als ich mein Werk – womit ich eigentlich ganz zufrieden war – beenden wollte und auch schon die Haarsprayflasche in der der rechten Hand hielt, hörte ich plötzlich einen Schrei aus dem Flur. Es klang wie ein Schrei von Annie. Vor Schreck ließ ich die Spraydose fallen und stürmte aus dem Badezimmer um mich einem schrecklichen Anblick auszusetzen. Annie stand mit dem Rücken zur Wohnungstür, vor ihr Berthold – dich an sie gerückt, seine rechte Hand links über ihr auf die Tür gestützt - mit einem Küchenmesser in der linken Hand. Annie wollte zum Tritt ausholen, hatte allerdings nicht genug Schwung und wurde von Berthold abgebremst. Ihre erschrockenen Augen suchten Schutz, sein Gesicht konnte ich aus meiner Position nicht erkennen.
 

Mit einem Ruf, er solle sie in Ruhe lassen, eilte ich hin und wollte ihm das Messer entreißen, doch plötzlich richtete der sich mir nun offenbarte, wahnsinnige Blick auf mich. Er warf das Messer in meine Richtung, doch ich konnte rechtzeitig meinen Kopf nach links kippen, sodass das Messer mich nur streifte. Und obwohl mich das Messer wirklich nur streifte, spürte ich augenblicklich einen pochenden Schmerz in mir, der mich in die Knie zwang. Mein ganzer Körper war wie unter Strom, einige Tropfen meines Blutes zierten meinen Arm.
 

Berthold nutzte den Moment, lief an mir vorbei und hob das Messer wieder auf. Doch auch Annie blieb nicht untätig und rannte aus der Wohnung.
 

Das gefiel meinem Freund wohl überhaupt nicht, denn ohne zu zögern, rannte er ihr hinterher und schrie dabei laut ihren Namen. Ich brauchte wenige Sekunden um mich von diesem stechend-pochenden Schmerz in meinem ganzen Körper zu erholen und folgte ihm hetzend die Treppen runter.
 

Unten angekommen hatte mein verwirrter Freund Annie erneut an eine Wand gedrückt – dieses Mal hielt er ihre Hände mit der rechten Hand fest.
 

„Annie!!! Erinner‘ dich endlich!!!“
 

Da ich nicht verstand, was sein Geschrei sollte und ich nicht damit rechnete, dass er das Messer noch einmal in meine Richtung werfen würde, stellte ich mich zwischen den beiden und versuchte ihm das Messer zu entreißen. Allerdings schaffte ich es lediglich, Annie aus seinem Griff zu befreien.
 

„Was soll das Berthold?! Lass das Messer fallen und hör auf mit dem Scheiß!“
 

Meine Schreie in sein Gesicht brachten anscheinend überhaupt nichts. Er wirkte wie in Trance, irgendwie abwesend, als wäre er nicht mehr er selbst. Dennoch konnte ich keine Rücksicht darauf nehmen, denn egal was in ihm gefahren war, es stand mir gegenüber – bereit mich zu töten.
 

Der Stich traf mich ins rechte Schlüsselbein – ein tiefer, ziehender Schmerz machte sich auf meinem Dekolltee breit und zwang mich wieder in die Knie. Eigentlich war ich ein guter Kämpfer, hatte acht Jahre lang Judo gelernt, allerdings brachte mir das in diesem Moment kein bisschen.
 

Das Blut tränkte den grünen Stoff meines Hemdes und sickerte langsam meinen gesamten Oberkörper herunter. Mein Kopf sank hinab und ich konnte den roten Saft auf den Asphalt tropfen hören.
 

Sicher, dass der nächste Stich mein Ende bedeutete, spürte ich, dass jemand seinen Arm festhielt, denn er blieb einige Zentimeter über mir stehen.
 

Ich blickte hoch, erkannte im Schleier der Nacht nur einen großen Mann mit hellen Haaren. So wie das Licht der Straßenlaternen auf seinen markanten Gesichtszügen tanzte war es wohl bereits ein Mann mittleren Alters.
 

Mit einem gekonnten Polizeigriff hielt der Mann meinen trotz allem größeren Freund fest und verpasste ihm einen Tritt in die Kniekehlen, sodass er zu Boden gehen musste. Eine junge Frau kam gleichzeitig auf mich zu gerannt, half mir hoch und rief sofort den Notarzt.
 

„Alles gut bei dir, Kleiner?“ – die Frage dieser Frau war nahezu lächerlich, da ich sicherlich nicht viel jünger als sie und vor allen Dingen nicht kleiner als sie war.
 

„Mir geht’s gut.“ – merkwürdiger Weise ging es mir tatsächlich trotz stechenden Schmerzen am Schlüsselbein einigermaßen gut.
 

„Reiner, alles okay?“, erklang es plötzlich aus der dunklen Ecke hinter mir. Ich löste mich von der Stütze der jungen Frau und ging zu Annie, die dort etwas verschreckt, aber unverletzt in der Ecke stand.
 

„Klar - Hauptsache, du bist unverletzt. Was ist los mit dem?“, meine Frage begleitete ich mit einer kurzen Umarmung, die Annie meiner Meinung nach nötig hatte, auch wenn sie das bestritten hätte.
 

Nachdem ich mich wieder von ihr löste schauten wir beide zu Berthold rüber, der immer noch von dem älteren Mann auf den Boden fixiert war.
 

Noch bevor ich Berthold direkt fragen konnte, kam auch schon der Notarzt und brachte mich in den Krankenwagen. Auch die Polizei traf ein.
 

Auf der Trage liegend schaute ich noch einmal nach draußen bevor die beiden hinteren Türen des Wagens sich schließen würden.
 

„Hey! Danke – wie heißt ihr? Ich bin Reiner.“ – irgendwie hatte ich das Gefühl mich vorstellen zu müssen. Zudem wüsste ich gerne, wer uns gerettet hatte.
 

„Kein Problem, Kleiner. Ich bin Hanji und das da ist Erwin. Wir haben den Krach gehört.“, erwiderte die freundlich wirkende junge Frau. Nun stieg auch Annie in den Wagen – sie wollte mich wohl begleiten.

Die Türen schlossen sich und ich konnte noch ein „Gute Besserung“ von draußen hören. Nicht versuchend darüber nachzudenken, was jetzt wohl mit Berthold passieren würde, schaute ich noch einmal zu Annie. Vielleicht hoffte ich irgendwo, dass das alles ein Alptraum war. Das letzte was meine Augen sahen war Annie mit einem braunen Buch in der Hand – der Titel: „Für dich in 2000 Jahren“…

Illusion - Eren Yaeger

Hochgehoben wie eine Puppe, zerdrückt wie eine Frucht - gefressen von einem Monster.
 

Ein riesiges, breit grinsendes Monster verschlang meine Mutter. Ich schrie, zappelte, weinte, betete – doch in diesem Moment hätte mir nur Stärke geholfen. Ich war zu schwach – ich konnte sie nicht beschützen.
 

Ich riss meine Augen auf.
 

Ein dunkler Wald umgab meinen vor Angst zitternden Körper. Es war kalt. Panik füllte meine Augen, in die mein Vater unter Tränen starrte. Sein Blick durchbohrte mich, nahm mich gefangen, hielt mich fest. Immer näher kommend sagte er immer wieder dasselbe:
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

Es wirkte beinahe so, als würde er so etwas wie Hoffnung verspüren. Um meinen Hals hing ein Schlüssel. Sein Schlüssel.
 

Er näherte sich mir wieder; eine Spritze mit langer Nadel in der Hand. Ich ging einige Schritte zurück, ließ die Angst in meinem Gesicht zu. Immer näher. Immer wieder.
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

Die Nadel traf meinen Arm, als die letzte Träne zu Boden sank.
 

Schreiend wachte ich auf.
 

Mein Atem war so schnell, dass ich nicht mal mehr einen Unterschied zwischen ein- und ausatmen hören konnte. Mein Herzschlag war wie ein Hammer, der ununterbrochen gegen meine Brust schlug. Ein kalter Schauer lief mir den verschwitzten Rücken runter.
 

Ein Blick auf die Uhr. 7:46 Uhr. Verdammt ich musste los – schließlich wollte ich noch einkaufen vor der Uni! Eigentlich hätte ich wie ein Irrer aus dem Bett springen müssen, allerdings war ich nicht in der Lage mich aufzurichten. Was war das gerade? Als ich mir den Schweiß und die Tränen aus dem Gesicht wischen wollte, fielen mir Bissspuren an meiner Hand auf.
 

„Ein Biss in deine Hand.“
 

Was war los mit mir? Diese SMS war doch nur ein dummer Scherz gewesen. Auch Armin meinte, als ich ihm Freitagabend alles erzählte, dass mich da jemand verarschen will. Jedoch fand er meinen Alptraum bedenklich. Was würde er zu diesem hier sagen?
 

Auf dem Nachttisch lag mein Schlüssel – am liebsten hätte ich meiner Wut Ausdruck verliehen, indem ich ihn gegen die Wand geworfen hätte. Aber das konnte ich nicht. Er gehörte meinem Vater.
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

Diese Worte. Mein Kopf war so schwer wie eine Bowlingkugel. Ganz langsam stand ich auf, suchte mir Shirt und Hose aus dem Schrank und ging ins Bad. Meine Mutter war wohl bereits arbeiten, denn ich hörte niemanden auf den Weg dorthin.
 

Ein kurze Dusche und ich dachte, ich hätte den Schock überwunden. Aber er saß tief – vielleicht tiefer als alles andere in mir. Mein Smartphone verriet mir, dass ich eine Nachricht hatte.
 

„Such' ihn!“
 

Was suchen? Oder wen? Langsam war ich diese Nachrichten echt leid.

Das ganze Wochenende über – seitdem ich Armins Wohnung Freitagabend um 22 Uhr verließ – hatte ich keine Nachrichten mehr bekommen. Nur ein Anruf von Mikasa am Samstag morgen, bei dem sie mir erklärte, warum sie Freitag nicht zu mir und Armin kommen konnte und sie mich fragte, wie es mir ginge.
 

Seit meinen Erlebnissen am Donnerstag war ich sehr empfindlich geworden. Das Gespräch mit Armin am Freitag tat zwar wirklich gut, da er meine Meinung darüber teilte, aber der Termin mit meinem Anwalt davor trübte meine Laune immer noch. Die Lebensversicherung meines Vaters war drei Wochen vor seinem Tod aufgelöst worden. Von ihm.
 

Ich war sehr geschockt, als mein Anwalt mir dies mitteilte. Er war ein toller Anwalt; ich durfte ihn sogar bei seinem Vornamen nennen. Das brachte mir aber nichts, da ich nun kein Geld hatte. Also konnten wir nicht sorgenfreier leben – mein Studium stand weiterhin auf der Kippe und meine angeschlagene Mutter musste weiter arbeiten.
 

Viel schlimmer als die Tatsache, dass wir das Geld nicht hatten, war, dass mein Vater die Versicherung einfach aufgelöst hatte, ohne uns davon etwas zu erzählen. Wo war das Geld hin? Was wollte er damit? Wieso hat er das nie erwähnt? Durch seine Krankheit kam sein Tod nicht überraschend – warum also so kurz vor dem Ende ein solcher Schritt?
 

Mike, mein Anwalt, versprach mir, sich darum zu kümmern, herauszufinden, ob das Geld auf das Konto meines Vaters ging und was damit passiert ist. Er tat wirklich alles in seiner Macht Stehende. Ohne ihn wäre ich sicherlich schon durchgedreht.
 

Schon sehr oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich nicht noch nebenbei arbeiten gehen sollte für meine Mutter. Doch das wollte sie nicht. Ich sollte mich auf mein Studium konzentrieren. Und ehrlich gesagt, würde ich es mit einem Job wahrscheinlich wirklich nicht schaffen, da mir mein Studium nicht gerade leicht viel. Leider war ich nicht so ein Naturtalent wie Mikasa.
 

Abgesehen von alle dem, ging mir dieser Typ von der S-Bahn Station nicht aus dem Kopf. Erwin, der Staatsanwalt. Groß, blonde Haare, dunkler Undercut – muskulöser Körperbau und stahlblaue Augen. Als ich ihm die Hand gab war es so, als ob ich ihn schon jahrelang kannte. Er strahlte etwas Strenges, aber Freundliches aus und ich dachte tatsächlich darüber nach, mich mal bei ihm zu melden. Auch wenn ich nicht wusste wozu ich einen Staatsanwalt kontaktieren sollte. Zudem kannte ich ihn ja gar nicht.
 

Darüber hinaus will ich gar nicht wissen, wie er von mir denken musste, weil er das Gespräch zwischen mir und Jean ja nur einseitig mitbekommen haben musste.
 

Jean.
 

Jean war sowieso so eine Sache – fragte er mich doch tatsächlich ob ich Alpträume hatte. Das ließ natürlich die Vermutung aufkommen, dass er diesen Mist fabriziert hatte und sich jetzt vom Ergebnis überzeugen wollte. Anscheinend hatte er so etwas nötig.
 

Doch Armin meinte abends, dass er nicht glaubt, dass Jean damit was zu tun hatte, weil Jean nicht klug genug dafür wäre. Und wenn er etwas damit zu hatte, dann war er es nicht allein. Soviel zu Armins Theorie.
 

Ich hatte keine Ahnung was ich davon halten sollte. Keine Theorie erklärte mir, warum der komische Busfahrer mich angequatscht hatte oder warum der verdammte Flugmodus nicht ging. Aber das würde ich schon noch herausfinden. Nachher sollte mir Jean sowieso nochmal seinen Anruf erklären.
 

Gegen 8:30 Uhr verließ ich das Haus. Einkaufen konnte ich zwar vergessen, aber zur Vorlesung um 9:30 Uhr sollte ich es schaffen.
 

Jeden negativen Gedanken verdrängt, stieg ich in die S-Bahn und fuhr in die Universität. Schließlich durfte mein Studium nicht unter meinen privaten Problemen leiden – das hätte meine Mutter nicht gewollt. Um 16:30 Uhr hatte ich noch einen Termin bei Mike – hoffentlich hatte der gute Neuigkeiten.
 

Gegen 9:15 Uhr in der Uni angekommen begab ich mich sofort in die Aula, da ich mir dachte, dass Armin und Mikasa sicher bei unserer Treffpunkt-Säule auf mich warten. Die Aula war sehr groß. Alles war in hellen, bräunlich-weißen Tönen eingerichtet – von hier aus führten drei Haupttreppen zu den verschiedenen Hörsälen und ein langer Gang zur Kantine. Die Dozentenzimmer erreichte man über eine Art Brücke, die in einen anderen Gebäudetrakt führte. Es gab mindestens vier verschiedene Trakte mir jeweils sieben Stockwerken; beim Bereich der Sozialwissenschaften sogar neun. Im Keller, der ebenfalls noch einmal zwei Etagen umfasste, befanden sich Labore, Werkräume, Materialkammern und Übungsräume für die Studenten, wie zum Beispiel simulierte Arztpraxen oder andere Behandlungsräume.
 

Meistens befand ich mich entweder in einem normalen Hörsaal oder im Labor. Ich freute mich immer, wenn wir Praxistag hatten und wir tatsächlich mal Behandlungen simulierten. Leider kam dies viel zu selten vor.
 

Armin musste öfter ins Nebengebäude, denn neben den Vorlesungen arbeiteten die Geowissenschaftler eigentlich immer am Computer. Dafür gab es im Nebengebäude riesige IT-Räume. Es gab zwar auch Hörsäle mit Computern, aber da war eine bestimmte Software nicht darauf installiert.
 

Mikasa durfte öfter ein bisschen hin- und herspringen, da Tourismus so ein all umfassender Bereich ist. Manchmal in den sozialen Bereich, manchmal einfach nur Karten betrachten. Ihr schien es echt zu gefallen – für mich wäre das nichts.
 

„Hallo Eren!“, wurde ich freudig von Armin begrüßt und auch Mikasa lächelte mich an. Wie erwartet standen die beiden bei unserem Treffpunkt.
 

„Hey ihr beiden, wie war euer Wochenende?“
 

Meine Frage erinnerte mich daran, wie mein Wochenende war. Einsam, aber wenigstens ohne seltsame Vorkommnisse – naja bis gestern Nacht.
 

„Ganz gut, hab gelernt.“ – Mikasa war wieder einmal sehr kurz angebunden was das Antworten betraf.
 

„Joar, ganz okay – hatte mich mit Conny getroffen und ein bisschen gezockt.“
 

Conny war ein Freund von Armin, der eine Ausbildung zum Postboten machte. Ich kannte ihn nur flüchtig, aber er war ganz nett – seine Freundin Sasha dagegen hatte einen Totalschaden. Jean wohnte mit denen in einer WG.
 

Jean.
 

Wo wir wieder beim Thema waren. Ich dachte darüber nach, wie ich ihn darauf ansprechen sollte. Wie fing man sowas an? Leider wurde mir jegliche Planung abgenommen, denn noch bevor ich auf Mikasas und Armins Berichte reagieren konnte, kam Besagter auch schon die Treppe herunter – direkt auf mich zu.
 

„Hey Arschloch! Was fällt dir ein mich Freitag so abzuwimmeln?“ – er baute sich vor mir auf und sah sich im Recht. Das wollte ich ihm ganz schnell austreiben.
 

„Was fällt dir ein so eine Scheiße mit mir zu machen?“
 

„Wovon redest du man? Ich hab mega Stress wegen dir!“
 

„Bist du bekloppt? Ich hab doch den Stress, weil du mir solch komisch- “ – ich konnte meine Aussage nicht beenden, da mein ständiges Anfassen meines Schlüssels während ich redete mich wieder an diese Worte erinnerten.
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

Ich fasste mir mit beiden Händen an den Kopf. Ein pochender Schmerz, als wollte irgendetwas nach draußen kommen, offenbart werden, sich befreien. Selbst Jean schien zu merken, dass es mir ernsthaft schlecht ging, da er seine Kampfhaltung in sich einsacken ließ.
 

„Eren, alles okay?“ – ein sanfter, dünner Arm schlang sich um mich und große, blaue Augen, die Sorge ausstrahlten, schauten mich an.
 

„Ja, es geht schon wieder.“
 

Warum fielen mir immer wieder diese Worte ein? Wir hatten einen Keller, ja, aber der war voller Kartons und der Schlüssel um meinen Hals war ganz sicher nicht der Schlüssel für jenes Schloss. Außerdem meinte mein Vater doch immer, dass es der Schlüssel für seine geheime Kiste sei. Wer auch immer dahinter steckte, wie er es machte, war mir ein Rätsel.
 

„Wir reden nachher ja?“
 

Ich war etwas erstaunt, dass Armin nicht vor Ort und Stelle von mir verlangte, die Situation zu erklären. Schließlich war er sonst doch immer so neugierig. Aber ich war froh, dass er es in diesem Fall nicht war, denn Mikasa war in dieses Thema noch nicht eingeweiht und ich wollte sie auch so weit wie möglich da raushalten. Natürlich konnte ich nur hoffen, dass Armin ihr gegenüber dicht gehalten hatte.
 

Kurz nickend schaute ich wieder zu Jean, der mich ansah, als hätte er ein pinkes Pferd gesehen.
 

„Yeager, pass‘ auf was du tust, klar?!“ – mir einen abwertenden Blick zuwerfend, stolzierte er zu dem Hörsaal, in dem wir uns gleich wiedersehen würden. Schließlich nahmen wir beide gleich wieder zusammen an einer Vorlesung Teil. Dieses Mal zum Thema: „Transkranielle Magnetstimulation“.
 

„Hey ihr beiden, wir sehen uns gegen 14 Uhr okay? Ich hab zwei Vorlesungen und wollte auch noch an meiner Hausarbeit schreiben.“
 

„Klar kein Problem.“, gab Armin zurück und lief ins andere Gebäude, während auch Mikasa zustimmte und sich in ihren Hörsaal begab.
 

Im Saal angekommen sah ich Jean dort sitzen; anscheinend war er beleidigt. Versuchend ihn zu ignorieren nahm auch ich Platz und fuhr wie auch Jean es tat meinen Laptop hoch. Dieser Professor hatte nichts dagegen, wenn man sich digitale Notizen erstellte - manche störte das, aber man tat es trotzdem.
 

Kurz bevor die Vorlesung begann vibrierte mein Handy. Mikasa und Armin konnten auch keine fünf Stunden ohne mich oder?
 

Ein Blick auf das Display offenbarte mir allerdings mal wieder etwas anderes.
 

„Du suchst am falschen Ort. Benutze sie endlich.“
 

Kurz schluckend wollte ich erst panisch und ängstlich auf die Nachricht reagieren, allerdings stieg in mir eher die Wut. Meine zu Schlitzen verengten Augen trafen Jean, der nicht einmal zu mir rüber sah. Konnte er sich nicht einmal während der Vorlesung zusammen reißen?
 

Jetzt bloß nicht die Fassung verlieren. Ich würde doch wohl 90 Minuten hinbekommen, mich zurückzuhalten.
 


 

„Bei der TMS können bestimmte Bereich des Gehirns mit starken Magnetfeldern stimuliert oder gehemmt werden. Dies benutzt man beispielsweise bei neurologischen Erkrankungen wie Tinnitus oder der Epilepsie. Sie wird auch in der Psychiatrie in Teilen verwendet, meistens bei Depression oder Schizophrenie. Auf die einzelnen Erkrankungen wird in anderen Vorlesungen eingegangen.

Wie elektrische Signale über Nervenbahnen weitergeleitet werden dürfte Ihnen bekannt sein.

Technisch gesehen wird bei der TMS ein Magnetfeld durch eine angelegte Magnetspule erzeugt, die eine Potentialänderung in der schädelnahen Hirnrinde hervorruft. Dies wiederum bewirkt eine Depolarisation der Nervenzellen. So werden Nervenzellen elektrisch erregt. Für Neurologen ist die Erregungsschwelle interessant. Das ist die Magnetfeldstärke, die benötigt wird, um überhaupt eine Wirkung zu erzeugen. Meistens ist sie an Nervenenden, -verzweigungen und besonders –biegungen sehr niedrig.“
 

Unser Professor erstellte ein Tafelbild.
 


 

Phosphene – Lichtwahrnehmungen

Skotome – partieller Verlust des Sehens bzw. Wahrnehmung von „blinden Flecken“

Muskelzuckungen
 

Jean schien ja nicht besonders interessiert an dem Gerede des Professors. Er starrte nur pausenlos auf seinen Laptop. Seine Augen lösten sich nicht ein einziges Mal vom Bildschirm. Nicht einmal ein Zucken. Zwischendurch mal emotionsloses Tippen. Sonst nichts.
 

Konnte mir ja egal sein. Ich fand das Thema interessant – obwohl ich zugegebener Maßen nicht alles verstand.
 


 

„Diese Effekte sind für den Probanden möglich. Natürlich sind das nur Beispiele und es handelt sich immer um individuelles Empfinden.

Psychologisch sind die Auswirkungen der Magnetstimulation auch sehr interessant. Es gab bereits Fälle von depressiven Patienten, die nach der drei- bis vierwöchigen Therapie eine deutliche Besserung aufwiesen. Bei diesen Patienten hatten Medikamente und Ähnliches eher mäßig angeschlagen.

Allerdings wird die Transkranielle Magnetstimulation immer noch erforscht und bedarf weiterer Studien um vollkommen abschätzbar zu sein…“
 

„LASS MICH ENDLICH IN RUHE!!!“
 

Die gesamten Kommilitonen im Raum starrten augenblicklich rüber zu Jean, der nur wenige Sekunden nach seinem Geschrei den Saal verließ. Sein Laptop lag zugeklappt auf dem Tisch, seine Tasche lag offen auf dem Boden. Den Professor störte das nicht - er hielt kurz inne und redete dann einfach weiter. Die meisten der Studenten taten es ihm gleich und schauten wieder nach vorn.
 

Eigentlich hätte mir das egal sein sollen.
 

Eigentlich sollte ich hier sitzen bleiben.
 

Eigentlich wollte ich mich dort nicht einmischen.
 

Eigentlich…

…würde ich ihm doch am liebsten nachlaufen.
 

Ich packte leise meinen Laptop in die Tasche, kämpfte mich durch die besetzten Reihen zu Jeans Platz, dessen Sache ich ebenfalls packte und schließlich mit nach draußen nahm. Mit meiner und seiner Tasche bewaffnet ging ich draußen über den Campus, konnte Jean jedoch nirgends entdecken.
 

Was für ein Idiot ich doch war.
 

Am besten wäre ich einfach sitzen geblieben – doch irgendetwas musste ihn doch verschreckt haben?
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

Nein.
 

Warum fiel mir das wieder ein?
 

Fest mit meiner linken Hand meinen Schlüssel umklammernd ging ich wieder rein und setzte mich in den Aufenthaltsraum. Eine Rückkehr in den Saal wäre mir unangenehm gewesen und draußen war das Wetter nicht mehr so gut wie Freitag. Das Blau wurde von langgezogenen, grauen Wolken bedeckt, hinter denen man das Licht der Sonne nur vermuten konnte.
 

In den Aufenthaltsraum gesetzt, konnte ich meine Neugier nicht mehr zügeln. Ich klappte Jeans Laptop hoch, wollte sehen, was ihn so verärgerte oder gar schockierte.
 

Nur sein Mailprogramm war geöffnet.
 

Viele Nachrichten von einer E-Mail-Adresse: Bott.Marco@yahoo.com
 

Beim Überfliegen der Mails stockte mir der Atem.
 

„Frag ihn!“
 

„Hab ich, er hatte Alpträume – und nun? Lass mich in Ruhe und hör auf Marco dort hineinzuziehen!“
 

„Und...was hat er geträumt?“
 

„Ernsthaft? Das wird er mir ganz sicher nicht sagen und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht.“
 

„Frag ihn!“
 

„Ich habe keine Lust auf so eine Scheiße. Ich ignoriere dich jetzt. Wage es ja nicht mir zu schreiben, nochmal mein zu Hause aufzusuchen oder mich über Handy zu kontaktieren, sonst rufe ich die Polizei.“
 

Die letzte Mail beinhaltete nur ein Bild als Anhang. Leicht zitternd bewegte ich die Maus auf die Datei und machte einen Doppelklick.
 

Das Bild zeigte Jean.
 

Tot.
 

In der Mitte zerteilt, ein fehlendes Auge. Es sah aus als hätte man ihm den Mund zugenäht. Der Hintergrund zeigte eine zertrümmerte Stadt.

Ich schloss das Bild wieder.
 

Mir wurde so dermaßen schlecht, dass ich kurz davor war mich an Ort und Stelle zu übergeben. Meine Hände zitterten, mein Herz hämmerte erneut in meiner Brust. Wenn Jean das gesehen hatte, verstand ich seine Reaktion. Um nicht einen völligen Nervenzusammenbruch zu erhalten wollte ich Armin und Mikasa schreiben, ob wir uns nicht schon früher treffen konnten.
 

Eine ungelesene Nachricht. Wie unerwartet.
 

„Jeans Humor ist schrecklich, nicht wahr?“

Kehrseite - Levi

Wozu das noch alles?
 

Das ist wohl die Frage, die ich mir in den letzten zwei Tagen am häufigsten gestellt habe. Ich verbrachte das gesamte Wochenende zu Hause. Allein. Jede Spiegelung hatte ich gemieden. Nicht einmal geduscht hatte ich. Ekelhaft.
 

Eigentlich hätte ich mein Spiegelbild nicht meiden müssen. Hätte ich es nicht gehabt, wäre ich schließlich tot.
 

Warum mussten Hannes und die Frauen sterben?
 

Das war die zweithäufigste Frage. Doch wen sollte ich fragen? Mein Spiegelbild?
 

Erwin hatte mir viele Nachrichten geschrieben. Levi, wie geht’s dir? Levi, ich muss dir was erzählen. Levi, warst du beim Zirkus? Levi, was ist los? Warum schreibst du nicht? Levi, brauchst du Hilfe?
 

Auf keine Frage hatte ich geantwortet, da ich wusste, dass er sonst hergekommen wäre. Er machte sich sonst wieder viel zu viele Sorgen. Deswegen schwieg ich – schließlich hatte auch er noch Arbeit zu erledigen. So konnte ich Zeit gewinnen.
 

Doch so konnte es nicht weitergehen. Würde ich denn wollen, dass nach meinem Tod das Leben meiner Freunde und Kollegen still steht? Nein. Es geht weiter. Hannes hatte es nicht verdient – weder den Tod selbst, noch einen weiteren potenziellen Selbstmörder wie mich. Und die beiden anderen Damen ebenfalls nicht.
 

Jeder hinterlässt Spuren im Leben. Auch wenn es nur eine kleine Geste war, die uns in der Erinnerung bleibt, so bleibt dieser Mensch auch für immer in dieser Welt. Vielleicht hatte Hannes mal einer alten Dame beim Tragen ihrer Taschen geholfen. Oder er hat jemanden, der es eilig hatte, an der Kasse vorgelassen. Vielleicht half er früher oft seinen Klassenkameraden in der Schule oder hatte er sogar Familie? Egal was es war, es hielt ihn hier. Auf dieser Welt. In meinem Herzen.
 

Überzeugt davon mein Elend zu beenden und nach vorn zu sehen, begab ich mich mit frischen Sachen ins Badezimmer. Neben meines Unmutes aufgrund meiner getrübten Situation, stieg in mir auch langsam der Ekel vor mir. Es gab sehr wenig Dinge, die ich mehr hasste als Schmutz. Der Tod gehörte dazu. Aber den Tod konnte ich nicht beseitigen – den Schmutz schon.
 

Ich öffnete den Duschvorhang, trat unter die Dusche und genoss wahrlich diese Erfrischung. Einen Blick in den Spiegel vermied ich durch geschlossene Augen. In meinem abartigen Zustand wollte ich mich sowieso nicht sehen.
 

Nach meiner gründlichen Wäsche, schaltete ich das Wasser aus und öffnete erstmals die Augen. Ich blickte auf meinen Arm, beobachtete die kleinen, unterschiedlichen großen Wasserperlen wie sie völlig unkontrolliert und durcheinander über meine Haut rannen.
 

Das Handtuch geschnappt, trat ich aus der Dusche, fest entschlossen in den Spiegel zu blicken. Doch was ich sah, war das Schrecklichste, was ich sehen konnte.
 

Ich sah einfach nur mich.
 

Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass dieser Mensch dort im Spiegel nicht ich wäre, so war es trotzdem eine Tatsache. Tiefe Augenringe, blasse, von Adern gezeichnete Haut. Unrasiert, schlapp, ausdruckslos. Ein Blick in meine Augen war wie ein Blick in ein Fass ohne Boden.
 

Der junge Mann, mit dem ich am Freitag zusammengestoßen war, hatte mich gefragt, ob es mir gut ginge. Ich fragte mich in diesem Moment, ob ich denn wirklich so gezeichnet aussah. Hier war die Antwort. Was er jetzt wohl machte?
 

So durfte mich Erwin nicht sehen. Er würde doch sofort denken, dass ich wieder Drogen nahm.
 

Aber da der Mann im Spiegel ich war, hatte ich wenigstens die Möglichkeit ihn zu bearbeiten. Stoppelbart entfernt, Feuchtigkeitscreme ins Gesicht, Zähne geputzt. Und dann stand ich tatsächlich da. Fast sah ich aus wie vorher – wie Freitagmorgen. Es stimmte nur eine Sache nicht. Meine Augen. Doch gegen diesen Ausdruck in meinen Augen konnte ich genauso wenig unternehmen wie gegen den Tod.
 

Und was wollte ich nun tun? Zur Arbeit gehen? Vielleicht sollte ich das. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie lange das gut gehen würde.
 

Zwischen den vielen Nachrichten von Erwin fand ich tatsächlich noch eine Nachricht meines Chefs auf meinem Handy. Er fragte mich, ob ich Montag in der Lage wäre auf der Arbeit zu erscheinen oder nicht. Sollte ich arbeitsfähig sein, darf ich Hannes seinen Auftrag ebenfalls bearbeiten. Falls meine Verfassung noch nicht für einen Arbeitsalltag reichen würde, würde er mir sogar einen Tag Sonderurlaub gewähren. Unbezahlten natürlich.
 

Arschloch.
 

So lass ich mich von diesem geldgeilen Bastard ganz sicher nicht behandeln. Er bettelte ja geradezu darum, mal richtig auf’s Maul zu bekommen. Deswegen bekam er von mir auch eine passende Antwort.
 

„Guten Morgen Herr Heinzmann – ich werde heute nicht auf der Arbeit erscheinen. Und morgen auch nicht. Ich kündige nämlich. Die Unterlagen, sowie den Mitarbeiterausweis schicke ich Ihnen per Post zu.“
 

Wie leicht alles auf einmal ging. Wenn man sich von Allem ein wenig distanziert, ist man bereit Dinge zu sagen oder zu tun, an die man durch die Fesseln der Vernunft und der Solidarität vorher nicht einmal zu denken wagte. Mein Chef war ein schrecklicher Mann, immer nur auf Profit aus – frustriert durch seinen Misserfolg, kürzte er den sowieso schon zu niedrigen Lohn ständig, umging jegliche Tarifvereinbarungen. Schon oft dachte ich an einen radikalen Schritt, doch ich war noch nicht bereit. Musste wirklich erst jemand sterben, damit ich zu so etwas fähig war?
 

Eine Sache erledigt. Jetzt war da nur noch Erwin. Um ein Gespräch kam ich nicht herum und da ich wusste, wie er es hasste im Büro während der Arbeitszeit auf dem Handy angerufen zu werden, tat ich genau das.
 

Mindestens zwanzig Sekunden vergingen, bis er abnahm.
 

„Levi? Levi, geht’s dir gut?“
 

Hmm, das kam jetzt überraschend. Ich dachte, er würde sich wenigstens ein bisschen aufregen.
 

„Ja, mir geht es gut.“
 

„Ich hab dir geschrieben und dich versucht anzurufen. Ich wollte nachher sogar noch vorbeikommen.“
 

Gott sei Dank kam er es jetzt darauf mich zu besuchen. Jetzt gab es noch die Möglichkeit ihm diese Schnappsidee auszutreiben. Mein Plan, Zeit zu gewinnen, hatte wohl funktioniert.
 

„Brauchst du nicht. Können uns auch so treffen.“
 

„Na gut, wann passt es dir? Ich bin im Moment im Büro und kann nicht so lange sprechen – bist du auf der Arbeit?“
 

„Nein.“
 

„Soll ich doch lieber vorbeikommen?“
 

„Nein.“
 

„Dann treffen wir uns in der Mittagspause – sagen wir 11:30 Uhr? Also in zwei Stunden.“
 

„In Ordnung.“
 

„Gut, ich warte vor der Staatsanwaltschaft. Bis dann!“
 

Aufgelegt.
 

Wie er wohl reagieren wird, wenn er erfährt, dass ich nie wieder bei dieser Arbeit sein werde? Vielleicht sollte ich wirklich den Traum als Architekt aufgeben – es gab tausende Architekten und da ist so ein kleiner Arbeiter, der mit Mühe und Not sein Studium schaffte nichts dagegen. Aber was sollte ich dann machen? Ich kann nur eines richtig gut. Naja, ich dachte zumindest immer, ich könnte es…
 

Wenigstens blieb mir so etwas Zeit für das Frühstück. Dieses Mal wollte ich mich aber nicht der Radio-Musik aussetzen und legte stattdessen meine Lieblings-CD in den CD-Player in der Küche. Das erste Lied mochte ich verdammt gerne. „The Misfit Go“ von OLDCODEX. Auch wenn es japanisch war und ich nun wirklich nicht der Sprachbegabteste war – ich konnte lediglich ganz gut Englisch – gefiel mir vor allen Dingen der Refrain des Songs sehr. Es klang einfach so befreiend, emotional, aggressiv und erlösend. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte meine Emotionen auch einfach rauschreien; einfach brüllen, was ich denke, ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Den Krach in meiner Seele nach draußen lassen, meine Stimme als Katalysator für meine Emotionen und Sorgen. Worte, die nie gesagt werden könnten, aber in genau diesem Moment die richtigen sind. Einfach mal die Maske für vier Minuten abnehmen.
 

Musik war etwas Großartiges. Ich beneidete die Sänger.
 

Gestärkt mit frischem Obst und eigentlich erträglicher Laune machte ich mich auf den Weg. In der Glastür des Hauses sah ich erneut in die Augen meines Abbilds. Wieder ich. Warum erwartete ich auch etwas anderes?
 

Ich hatte es ja zum Glück wieder nicht weit. So war ich sogar zwanzig Minuten zu früh vor dem Gebäude.
 

Dies ermöglichte mir in der Nähe des Restaurants, in dem Erwin immer zu Mittag aß, einen ziemlich verwirrten Typen zu beobachten. Seine Augen wanderten ständig hin und her, er ging die Straße auf und ab, studierte die Hausnummern und dachte dann nach. Anschließend dasselbe Spielchen nochmal. Der schwarzhaarige Riese suchte wohl jemanden. Naja, nicht mein Problem.
 

11:25 Uhr. Gleich müsste Erwin kommen. Der Typ war immer noch da. Und jetzt kam der auch noch auf mich zu.
 

Ein Stoßgebet, dass er mich nicht ansprach – vergeblich.
 

„Entschuldigung, ich suche einen Anwalt – Mike Zacharius sein Name. Hab gehört, der muss hier irgendwo sein. Wissen Sie vielleicht wo er seine Kanzlei hat?“
 

Als er vor mir stand, wurde mir noch bewusster wie groß der Typ eigentlich sein musste – der war ja größer als Erwin.
 

„Da bist du hier falsch Junge – der hat sein Büro zwar in dieser Straße, aber da musst du bis zum Ende laufen. In der Nähe der Kirche.“ – mit dem Finger deutete ich in die beschriebene Richtung.
 

„D-Danke.“ – sein Gesicht machte einen etwas schockierten Eindruck, als ob er über irgendetwas verwundert wäre. Diese Jugend.
 

Ohne weitere Worte zu verlieren, folgte er meinem zuvor beschriebenen Weg. Als auch ich mich wieder umdrehte, konnte ich Erwin die Treppen hinunterkommen sehen.

Er war mal wieder top gestylt. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, grüne Krawatte. Alles ordentlich zurechtgelegt, wie alles an ihm, sogar seine Haare. Manchmal fragte ich mich, ob er anstatt mit Wasser mit Kleber duschen würde, damit alles ja perfekt sitzt.
 

„Hallo Levi. Wie geht es dir?“ – in seiner Stimme konnte ich tatsächlich Sorge raushören. Diese Tonlage war so vertraut, dass ich ihm beinahe alles erzählt hätte. Doch ich hielt mich zurück.
 

„Ganz gut. Was wolltest du mir erzählen?“ Ich nahm dabei Bezug auf die SMS, in der mir sagte, dass er mir etwas erzählen müsse.
 

„Lenk' nicht ab. Sag mir lieber, was das Wochenende über mit dir los war? Und wie war es beim Zirkus – und warum bist du nicht auf der Arbeit?“
 

Wie ein Lehrer, ein Professor oder ein Kapitän. Warum dies, warum jenes. Und antworte ja präzise. Am besten noch bevor ich die Frage gestellte habe. Erwin benahm sich immer wie jemand, der alles unter seiner Kontrolle haben musste. Wenn er etwas nicht steuerte, ging es in seinen Augen schief. Tat es meistens auch, aber erklärt das sein Handeln wirklich? Oder war es nur ein Ausdruck von Sorge? Ich verstand nicht viel von diesem Verhalten. Andererseits: Sprächen die Menschen nur von Dingen, von denen sie etwas verstehen, die Stille wäre unerträglich.
 

„Nichts. War nicht dort. Hab gekündigt.“
 

Drei Antworten, kurz und präzise. Aber anscheinend nicht zufriedenstellend.
 

„Lüg nicht. Ich weiß, dass etwas los ist. Und warum hast du gekündigt? Bist du des Wahnsinns? Gehst nicht einmal zu der Stelle, die ich dir empfohlen habe und zerstörst dann deine Haupteinnahmequelle!“
 

Oha. Er schien tatsächlich verärgert.
 

„Erwin, ich wäre heute sowieso nicht bezahlt worden. Mein Chef hätte mir unbezahlten Urlaub gegeben. Zum Zirkus konnte ich nicht mehr gehen. Habe den Abend damit verbracht um meinen Kollegen zu trauern, der bei einem Fahrstuhlabsturz…“ – weiter konnte ich nicht sprechen. Ich hörte wieder diese Schreie, dieses Knacken, Reißen, Brechen, Quietschen. Das Zittern kam zurück; wollte ich doch wieder weglaufen, so wie ich die Treppen runterlief. Nur um unten immer und immer wieder dieses Bild vorzufinden. Ich dachte, ich hätte es überwunden.
 

Zum Glück musste ich auch nicht weitersprechen. Das mochte ich so an Erwin – in den wirklich wichtigen Momenten verstand er ein Schweigen immer genau richtig. Er legte seine starke Hand auf meine Schulter und bückte sich ein wenig runter zu mir. Ich hasste es, wenn er das tat. Hoffentlich kam jetzt was Intelligentes von ihm.
 

„Levi – wie viele Menschen sind gestorben?“
 

Mir stockte der Atem. Meine sonst immer sehr kleinen, grimmig wirkenden Augen, starrten nun aufgerissen und schockiert in seine kalten Saphire. War das sein verdammter Ernst? So viel zu „in den wirklich wichtigen Moment verstand er ein Schweigen immer genau richtig.“ Mein Schweigen bedeutete ganz sicher nicht, dass ich ihm jetzt Einzelheiten oder gar die Anzahl der Toten am besten mit einer Auflistung der Verletzungen mitteilen wollte.
 

„Waren es drei?“
 

Woher…wusste er das? War er schon über den Vorfall informiert? Ging man vielleicht sogar von Sabotage aus und er sollte in diesem Fall ermitteln? Oder stand es schon in der Zeitung? Aber dann hätte er mich nicht so ernsthaft besorgt ausgefragt, oder? Meine Verwirrung verdrängte ein wenig den Schock aus meinen Augen.
 

„Also ja. Ist schon gut. Lass uns etwas essen gehen.“
 

Er stellte sich wieder gerade hin und drückte seine linke Hand etwas gegen meinen Rücken, um mich zum Gehen zu animieren. Das Wetter hatte sich von Freitag ganz schön verändert. Hässliche, graue Wolken verdeckten das schöne Himmelblau. Obwohl es noch nicht einmal zwölf Uhr war, hätte man Glauben können, es bräche die Nacht bald an.
 

Anscheinend war dieses Gespräch noch nicht vorbei.
 

„Levi? Hattest du Freitag zufällig mein Tagebuch in der Hand?“
 

Bitte?! Welches Tagebuch? Hatte der Spinner jetzt sein Tagebuch verlegt und gab mir die Schuld oder was? Seit wann besaß er überhaupt eines?
 

„Kann es sein, dass du alt wirst, Erwin? Ich wusste nicht einmal, dass du so kitschig veranlagt bist und so etwas tatsächlich besitzt.“ Für diese Aussage bleib ich sogar stehen.
 

Erwin hielt ebenfalls inne und drehte sich direkt zu mir um, sodass wir uns wieder gegenüberstanden.
 

„Wenn du das sagst.“
 

„Ganz ehrlich, deine behinderten Andeutungen kannst du dir-“ – und wieder wurde ich unterbrochen. Dieses Mal aber nicht von meinen Gedanken, sondern von dem Bild, welches sich mir in der Schaufensterscheibe als Spiegelung offenbarte. Mein Spiegelbild stand wie ich vor Erwin. Allerdings hielt er seine Arme eng umschlungen um Erwins Nacken, stand leicht auf Zehenspitzen und küsste ihn inniglich, während seine linke Hand sich in dem Haar meines Freundes vergrub.
 

Wie vom Blitz getroffen starrte ich auf diese Scheibe. Die Abbildung hörte nicht auf. Immer wieder küsste sie meinen Freund intensiv, streichelte seine Haut. Erwin packte mich an den Schultern, rüttelte leicht an mir und rief meinen Namen. Erst nach einigen Versuchen nahm ich seinen Ausruf wahr.
 

„Levi! Hey! Was ist dort? Findest du das Oberteil so hässlich?“
 

Panisch wechselte mein Blick schlagartig zu Erwin, dessen blaue Augen mich musterten. Sein Gesicht verzog sonst keinerlei Miene. Man könnte höchstens ein leicht skeptisches Heben der linken Augenbraue erahnen. Ich spürte mein rasendes Herz.
 

Ganz langsam drehte ich den Kopf wieder nach links. Das intensive Küssen hatte er unterlassen. Nun holte er eine Schere aus der Tasche. Ohne zu zögern stach er sie in Erwins Hals, Blut spritze. Die Spritzer spürte ich auf der Haut, obwohl keine da waren. Dann sah er mich an. Grinsend, die blutige Schere in der Hand - durchbohrender, alles vernichtender Blick. Langsam leckte er das Blut von der Schere.
 

Ich fing an zu schreien, zu heulen, zitterte, ging zu Boden, konnte kein einziges Wort mehr sprechen, weil die Angst mir die Kehle zuschnürte. Nur noch verzweifelte Schreie drangen aus meinem bebenden Körper. Die Augen fest verschlossen, die Hände vor dem Gesicht verschränkt; wollte nichts mehr hören, sehen oder spüren. Der bis in meinen Schädel pochende Herzschlag wurde immer schneller, schneller und schneller, bis ich nicht einmal mehr Pausen zwischen den Schlägen vernahm.
 

Der totale Zusammenbruch. Das Ende. Alles aus.
 

Noch nicht ganz.
 

Zwei starke Arme hielten mich, trugen mich weg. Sie legten sich wie Flügel um mich, gaben mir ein irreales Gefühl von Schutz – stark genug, um die Hände von meinem Gesicht zu entfernen und meine Augen zu öffnen.
 

Erwin hatte mich auf eine Parkbank, einige Meter von dem Schaufenster entfernt, abgesetzt und bückte sich vor mich, während er immer noch fest meine Schultern umklammerte.
 

Meine Augen konnten gar keinen festen Punkt mehr fixieren, ich blickte nur regungslos nach vorn. Erwin sprach mit mir, klang verzweifelt, allerdings verstand ich ihn nicht. Ich nahm die Umwelt nicht mehr war, hatte das Gefühl ganz weit weg, irgendwo anders zu sein.
 

Plötzlich ein Knall.
 

Klirren. Schreie.
 

Nun tat Erwin es mir gleich, drehte sich erschrocken um und wir blickten beide auf das Geschäft mit dem Schaufenster. Oder besser gesagt auf das, was davon noch übrig war. Überall lagen Scherben, die Puppen aus der Dekoration wurden einige Meter weit geschleudert. Die meisten verloren Arme oder Beine, manchmal beides. Ein Kopf rollte auf die Straße, wurde vom Winde davon getragen, bis schließlich ein Auto darüber rollte und ihn in tausend Teile springen ließ. Die Autos, die an der Straße parkten, waren zerbeult; teilweise sprangen die Scheiben durch die Druckwelle. Alarmanlagen kreischten, Trümmer donnerten zu Boden.
 

Aus dem Geschäft stiegen Rauch und Flammen hoch, peitschten durch die Lüfte, angetrieben vom erbarmungslosen Wind. Kein einziger Mensch kam aus dem Gebäude herausgelaufen. Das Feuer versperrte jeden Ausgang; war wie ein Zaun des Todes - heiß wie die Hölle.
 

Unfassbar.
 

Vor drei Minuten standen wir genau davor.
 

Nachdem ich diesen Anblick analysiert hatte, bewegte ich meine Augen leicht nach links und sah Erwin mit seinem Handy in der Hand. Ob er die Feuerwehr gerufen hatte? Allem Anschein nach war dem so, denn diese traf einige Minuten später ein. Einer der Männer kam auch zu uns herüber und sprach mit Erwin. Ich schaute zu den beiden und konnte ihn erneut sehen. In der Pfütze neben Erwin, wahrscheinlich durch den großen Wasserschlauch der Feuerwehr entstanden.
 

Sein ernstes, von Tränen bedecktes Gesicht war das Letzte was ich sah…

Schicksal - Jean Kirstein

Eigentlich hatte der Tag ziemlich gut angefangen. Das Wochenende über hatte ich den Laptop ausgelassen, da ich mir die Nachrichten des kranken Typen nicht geben wollte und ich sowieso anderweitig beschäftigt war. Leider konnte ich nicht mit Conny Fußballspielen, da der mit seinem Kumpel Armin zum Zocken verabredet war. Aber dafür war ich endlich mal wieder im Fitnessstudio und gestern Abend war Conny auch wieder da und wir konnten alle drei zusammen ins Kino. Der Film war zwar echt lahm – „Angriff auf die Titanen“ hieß er – aber es war toll mal wieder etwas zusammen zu unternehmen. Würde ich mit einem anständigen Mädchen ins Kino gehen, würde ich natürlich einen besseren Film aussuchen. Aber für Sasha hat’s gereicht.
 

Dann sah ich Eren. Wie er dort schon stand in der Pausenhalle – als ob er mir gleich an die Gurgel gehen wollte. Dabei hatte er mich doch abgewimmelt. Es war schon seltsam, dass er anscheinend tatsächlich irgendwelche Alpträume hatte. Aber andererseits – die hatte doch jeder mal oder? Keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Ich fürchtete mich nur etwas davor, den Laptop wieder einzuschalten. Wenigstens hatte ich bei WhatsApp und Facebook Ruhe gehabt. Post kam auch nicht. Vielleicht hatte er es verstanden? Oder er wartete einfach ab – verdammt, ich schenkte diesem kranken Kerl viel zu viel Aufmerksamkeit.
 

Das Zusammentreffen hatte ich mir anders vorgestellt. Erst diskutierte er kurz mit mir und plötzlich hatte sein Gesicht einen verstörten Ausdruck angenommen und seine Hände hielten sein Kopf ganz fest. Erst wollte ich ihn noch fragen, ob er am Wochenende zu viel gesoffen hatte, aber ich ließ es sein, denn es war wohl tatsächlich unangebracht. Eine ganze Weile hatte ich ihn danach verwirrt angestarrt, bis ich schließlich eine Warnung aussprach und schon einmal in den Hörsaal ging - „Transkranielle Magnetstimulation“ war gleich das Thema, welches ich mir zusammen mit dem Deppen anhören musste.
 

Mir war immer noch völlig unklar, was mir der ganze Kram eigentlich bringen sollte. Eren hatte einen Alptraum, super. Und jetzt? Wenn ich dem das jetzt schreiben würde, was passierte dann? Die ganze Sache machte mich echt fertig. Hatte ich doch das ganze Wochenende über diesen Kram verdrängt, so kamen nun alle Befürchtungen wieder. Warum konnte ich nicht einfach ein ganz normales Leben haben? Eren war immer schon speziell – seitdem ich ihn kannte, nervte er mich. Aber warum wurde ich da mit reingezogen? So etwas hatte Mikasa definitiv nicht verdient.
 

Wie als wäre mein letzter Tag gekommen, nahm ich meinen Platz ein und begann mit der seelischen Tortur. Der Windows-Bildschirm machte mich mit dem sich um sich selbst drehenden Ladebalken noch nervöser, als ich sowieso schon war. Ungeduldig tippte ich mit den Fingern auf den Tisch; nahm die anderen Studenten gar nicht mehr war. Dabei wusste ich nicht einmal genau worauf ich eigentlich wartete – bzw. was ich erwartete. Es war ein beklemmendes Gefühl, ein Druck, der wie ein schlechtes Gewissen die ganze Zeit in deinem Nacken sitzt, dich zu irgendeiner Tat bringen will. Aber selbst wenn du diese Sache tun würdest, würdest du dich nicht besser fühlen. So eine sinnlose Paranoia.
 

Mein Desktop wurde angezeigt. Das Bild könnte ich auch mal wieder ändern. Es war ein Foto von Sasha, Conny und mir vom Sommer, als wir zusammen im Urlaub waren. Das war eine tolle Zeit. Jedoch hatte ich immer ein komisches Gefühl, wenn wir unsere Stadt verließen – warum wusste ich nicht genau. Vielleicht war ich ja so ein Heimatskind – obwohl das eigentlich nicht sein konnte, da ich mit meiner Mum überhaupt nicht gut klar kam.
 

Trotz allem war es wirklich schön. Italien – schöner Strand, blaues Meer und richtig gutes Essen. Conny und ich spielten mit ein paar Italienern Volleyball und Sasha lernte ein paar Mädels kennen, mit denen sie die ganze Zeit am Strand verbrachte – entweder mit Sonne tanken oder baden. Nebenbei bemerkt gibt es sehr viele schöne italienische Frauen. Da Conny ja vergeben war, konnte ich mit den netten Mädels ein bisschen flirten. Abends gingen wir dann feiern – es war eine der besten Wochen meines Lebens. Sollten wir nächstes Jahr wiederholen.
 

Abgelenkt von dem Urlaubsbild vergaß ich beinahe mein Mailprogramm zu öffnen. Sofort waren die positiven Gedanken verschwunden und die Nervosität kam zurück. Eren war inzwischen auch im Saal – hatte ihn aus dem Augenwinkel bemerkt. Hoffentlich würde diese Vorlesung nicht wieder in einer Diskussion enden.
 

16 neue Mails. Die Vorlesung begann. Ich konnte nicht wirklich zuhören – erst wenn ich mir sicher war, dass es endlich vorbei war, wollte ich mich dem Professor widmen. 14 Mails von Kommilitonen, die keine Hobbies hatten. Eine Rundmail von einem Professor mit den Prüfungsterminen. Und eine Mail von einer mir leider allzu bekannten Adresse.
 

Verdammt.
 

Ich wusste es. Wieder enthielt sie nur den Text „Frag ihn!“. Hatte er nicht mitbekommen, dass ich das längst getan hatte? Sollte ich vielleicht langsam die Polizei einschalten? Schließlich könnte der mich zu sonst was zwingen wollen und mich solange terrorisieren, bis ich nachgab. Doch wer würde mir schon glauben, dass mein toter Cousin mir schreibt?
 

Nein. Es war nicht Marco. Irgendjemand musste sich in seinen E-Mail-Account gehackt haben – doch warum jetzt und warum Marco? Fragen über Fragen und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
 

Für’s erste hielt ich es für besser, mich nochmal auf den Typen einzulassen. Allerdings wollte ich auch meinen Standpunkt klar machen. Es war eindeutig eine Grenze überschritten worden. Und das nicht allzu knapp.
 

„Hab ich, er hatte Alpträume – und nun? Lass mich in Ruhe und hör auf Marco dort hineinzuziehen!“
 

Eine Antwort und meine Meinung. Hoffentlich genügte das.
 

„Und...was hat er geträumt?“
 

Was war mit diesem perversen Kerl los? Wenn er so auf Eren stand, sollte er Eren nerven und nicht mich. Und vor allen Dingen nicht als Marco. Langsam riss mein Geduldsfaden.
 

„Ernsthaft? Das wird er mir ganz sicher nicht sagen und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht.“
 

„Frag ihn!“
 

Das war nicht sein Ernst. Wie lange sollte das Spielchen noch gehen? Wenn ich Eren fragen würde - und gehen wir mal davon aus, dass er es mir auch tatsächlich sagen würde – genügen würde ihm meine Antwort doch nie. Es reichte. Ich musste das so schnell wie möglich beenden.
 

„Ich habe keine Lust auf so eine Scheiße. Ich ignoriere dich jetzt. Wage es ja nicht mir zu schreiben, nochmal mein zu Hause aufzusuchen oder mich über Handy zu kontaktieren, sonst rufe ich die Polizei.“
 

Normalerweise bin ich zwar nicht der Typ, der anderen mit den Bullen droht, doch irgendwann war Schluss. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass er wie die ganzen anderen Kleinkriminellen war und sich vor Angst in die Hose machte. So hätte ich endlich meine Ruhe.
 

Drei Minuten vergingen und ich erhielt keine Antwort. Der Professor kritzelte irgendwas auf die Tafel, aber ich wagte es nicht vom Bildschirm wegzuschauen. Ich wollte seine Antwort wissen – bzw. abwarten, ob da noch etwas kam.
 

Dann kam tatsächlich etwas. Mit einer Mischung aus Neugier und Unwohlsein öffnete ich diese Mail – allerdings war sie leer. Kein Text – nichts. Was sollte das?
 

Aber – da war doch etwas.
 

Ein Anhang. Es war eine große Bilddatei – Titel: You
 

Ich schluckte kurz, bevor ich mit unruhigen Fingern die Maus auf die Datei bewegte.
 

Doppelklick.
 

Und da war es. Ein Bild von mir. Ekelhaft zerstümmelt, sogar das linke Auge fehlte. Zugenähter Mund, herumliegende Organe, zerstümmelt und – nein, ich konnte nicht mehr.
 

„LASS MICH ENDLICH IN RUHE!!!“
 

Mein Schrei stand in diesem Moment für alle Qualen der Angst, die ich durch diese Nachrichten schon durchleben musste. Ich wollte nur noch fliehen – weg von diesen Nachrichten, weg von dieser Angst, weg von dieser Erinnerung an Marco.
 

Panisch lief ich aus dem Saal. Sicherlich war ich der Blickfang jedes einzelnen Studenten gewesen, doch das kümmerte mich nicht mehr. Ein Fuß vor dem anderen rannte ich einfach nur raus – rannte vom Campus immer weiter, bis ich erst einmal wieder Luft holen musste.
 

Warum?
 

Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
 

Und warum Marco?
 

Ich war wirklich fertig mit den Nerven – dabei wusste ich nicht einmal genau, ob ich geschockt oder einfach nur wütend sein sollte. Miese Scherze sind ja die eine Sache, aber wenn man anfängt Tote in den Dreck zu ziehen und dann auch anfängt zu drohen ist es nicht mehr witzig.

Das Bild war definitiv zu viel für mich. Auch wenn es wahrscheinlich nur eine Bearbeitung war – solch ein Schrecken hatte ich noch nie empfunden.
 

Etwas orientierungslos saß ich in der Nähe der S-Bahn-Station, ließ mir den Wind durch die Haare fahren. Auch wenn das Wetter vergleichsweise zu den letzten Tagen etwas kühl war, empfand ich es immer noch als angenehm. Solange die dunklen Wolken keinen Regen bedeuteten kümmerte es mich nicht weiter.
 

Einige Minuten starrte ich einfach nur ins Leere, ließ alles in meinem Kopf nochmal ablaufen und sah immer wieder dieses Bild. Doch plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, da mich jemand von hinten an der Schulter packte.
 

Augenblicklich drehte ich mich um, holte sogar vor Schreck zum Schlag aus, doch ließ meine geballte Faust schnell wieder sinken, als ich bemerkte, dass es Berthold war, der vor mir stand.
 

Moment mal.
 

Berthold und seine beiden Kollegen waren doch nur mittwochs und freitags in der Uni. Also wo kam der jetzt her? Skeptisch sah ich Berthold in die Augen.
 

„Alles okay bei dir Jean? Hast du geweint?“, fragte er mit ruhiger Stimme und schaute mich mit besorgten Augen an.
 

Tatsächlich waren mir wohl einige Tränen übers Gesicht geflossen. Einmal mit dem Ärmel übers Gesicht gewischt, versuchte ich einen halbwegs normalen Eindruck zu machen.
 

„Mir geht’s gut, ich hab nur ein bisschen Stress mit so nem Stalker.“ – Berthold hatte nichts damit zu tun, deswegen wollte ich ihn mit diesen Problemen auch nicht belästigen.
 

„Aber was machst du eigentlich hier?“, fügte ich hinzu und merkte, dass diese Frage ihn anscheinend etwas verletzte. Dabei hatte ich es keineswegs vorwurfsvoll oder abwertend gefragt.
 

„Ich…ich brauche Hilfe.“
 

Ich schluckte kurz und wunderte mich selbst über meine so erschrockene Reaktion auf so einen einfachen Satz. Vielleicht brauchte er Hilfe bei einer der Facharbeiten, oder er will einen Schrank aufbauen und Reiner und Annie waren beschäftigt. Also warum so geschockt? Weil ich genau wusste, dass da mehr dahintersteckte.
 

„Wobei?“ – obwohl sich alles in mir wehrte, sprach ich diese Frage dennoch aus und schien damit auch Berthold zu überraschen. Kurz zögernd, setzte er sich auf die Mauer, auf der ich gerade gesessen hatte und fing an zu erzählen.
 

„Ich habe Reiner verletzt. Freitag haben wir einen Film geschaut und plötzlich schien etwas in mir mich zu steuern. Es sind für mich nur zerfetzte Bilder, aber ich habe wohl Annie bedroht und da Reiner sie schützen wollte, habe ich Reiner mit einem Messer verletzt. Reiner war bis gestern Nachmittag im Krankenhaus und ich war bis Samstagmittag auf der Polizeiwache. Ein blonder Staatsanwalt hat mich wohl gestoppt. Die Polizisten wollten mich bis zur Verhandlung in U-Haft stecken. Der Anwalt vor Ort konnte mir nicht helfen, da angeblich Fluchtgefahr bestehen würde, weshalb ich jetzt einen neuen Anwalt suche, denn ich will nicht in U-Haft. Ich möchte herausfinden, warum ich das getan habe.“
 

Berthold wirkte wirklich verzweifelt. Seine Geschichte klang echt creepy – doch ich glaubte ihm. Anscheinend war ich nicht der einzige, bei dem es komische Vorkommnisse gab. Dennoch konnte ich ihm nicht antworten. In einem Sprüchekalender von meiner Mutter stand einmal ein Zitat von Mark Twain:
 

Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.
 

Deswegen verzichtete ich vorerst darauf etwas zu der Sache zu sagen.
 

„Du musst denken, ich sei ein kompletter Vollidiot.“
 

Okay, jetzt musste ich reagieren.
 

„Nein, das tu‘ ich nicht. Ich weiß nur nicht genau, wie ich dir helfen kann.“ – leider war das die bittere Wahrheit.
 

Berthold fasste sich verlegen mit der Hand an den Hinterkopf und fuhr einige Male durch sein kurzes, schwarzes Haar – bis er schließlich anfing zu lächeln.
 

„Naja – Google Maps sagte, hier in der Nähe sei ein Anwalt namens Mike Zacharius. Weiß du wo der Flügelweg ist?“
 

Diese Aussage war so lächerlich, dass mir ebenfalls ein Grinsen ins Gesicht schoss. Ein riesiger Typ sticht seinen besten Freund ab und verläuft sich trotz Google Maps, ein Toter schickt mir Horrorbilder und mein Erzfeind kann nicht mal richtig schlafen. Was war mit dieser Welt los? Wie sollte das nur weitergehen?
 

„Ich weiß, dass der nicht weit weg ist – wenn du diese Straße hier runtergehst und dann kommst du an einer Staatsanwaltschaft vorbei und von da an muss du irgendwie weiter gehen, aber da kann dir sicher einer helfen.“
 

Der Flügelweg sagte mir eigentlich gar nichts, allerdings war ich mir sicher, Berthold die richtige Beschreibung genannt zu haben. Warum? Keine Ahnung. Ich wollte wahrscheinlich nur nicht mit „Keine Ahnung“ antworten.
 

„Danke – vor allen Dingen für’s Zuhören.“
 

Mit seiner linken Hand klopfte er mir auf die Schulter und lief los. Jetzt war ich sogar derjenige, der jemanden helfen konnte? Wie hatte ich das denn angestellt? Schließlich hatte ich ja immer noch ein Problem.
 

Wieder auf die Mauer gesetzt vibrierte plötzlich mein Handy. Als hätte man meine Gedanken gelesen. Ich starrte auf meine rechte Hand, sah den Ring, den Marco mir vor langer Zeit schenkte. Es war alles was ich noch von ihm hatte. Diese Mails waren nicht von ihm.
 

„Eren hat deinen Laptop!“
 

Ich presse Daumen und Zeigefinger an den Beginn meines Nasenbeins, da ich allmählich Kopfschmerzen von diesem Mist bekam. Genug. Ich musste die Polizei rufen.
 

Wieder einmal fragte ich mich, warum ich das eigentlich durchmachen musste. Warum konnte mir nicht einfach mal was Gutes passieren? Die ganzen reichen Bonzen, die hier in der Straße arbeiteten, hatten doch auch nur Glück im Leben. Denen würde nie einer ein Bild schicken, auf dem sie zerteilt abgebildet werden.
 

110.
 

Langes Wählen. Wenn hier jetzt ein Amokläufer wäre, wäre ich bestimmt längst tot.
 

Dann hörte ich, dass jemand abgenommen hatte - doch ich vernahm keine Stimme.
 

„Hallo? Mein Name ist Jean Kirstein, ich brauche Hilfe!“ – meine Stimme klang anders als sonst. Sie hatte sonst immer einen bestimmenden, selbstsicheren Ausdruck. Nun würde ich mir nicht mal mehr eine Zitrone abkaufen.
 

„Du brauchst keine Hilfe, Jean. Hol dir einfach deinen Laptop wieder! Eren sitzt in der Uni.“
 

Aufgelegt.
 

Das…kam unerwartet. Panisch schaute ich noch einmal, ob ich auch die richtige Nummer gewählt hatte. 110. Meine Hände fingen an zu zittern, vor Schreck ließ ich mein Handy fallen. Wer war das, verdammt?! Konnte mir nicht einmal die Polizei helfen?
 

Langsam spürte ich wie ich es wirklich mit der Angst zu tun bekam. Eine starke Angst. Angst um das eigene Leben, Angst um das Leben meiner Freunde. Angst davor, dass alles in sich zusammenfällt. Die Polizei war doch meine einzige Möglichkeit in diesen Mauern aus Schwertern einen geschützten Raum zu finden. Doch was ist, wenn die, die wir am meisten verehrten, in Wahrheit die schlimmsten von allen waren? Was ist, wenn all das nur eine Illusion war? Und unser Schicksal begann seinen Lauf zu nehmen?
 

Mehr taumelnd als voranschreitend machte ich mich nach dem Aufheben meines Handys zurück auf dem Weg zur Uni. Wenn ich nicht kämpfen konnte, musste ich nachgeben. Vorerst. Schließlich konnte ich meine Freunde da nicht mitreinziehen. Niemals könnte ich mir verzeihen, wenn jemanden durch mich etwas passieren würde.
 

Gegen 10:55 Uhr kam ich in der Uni wieder an. Eren saß tatsächlich nicht im Hörsaal, obwohl die Vorlesung erst in fünf Minuten beendet war. Er befand sich im Aufenthaltsraum. Ich hasste dieses Arschloch immer noch. Aber anscheinend hatten wir ein gemeinsames Problem, das irgendwie gelöst werden musste.
 

Mit immer noch zittrigen, schweißnassen Händen öffnete ich die Glastür zum Aufenthaltsraum und verstand sofort, dass Eren anscheinend das Bild gesehen hatte. Sein Blick war sehr erschrocken, sein Handy lag mit einem Sprung an der ihm gegenüberliegenden Wand. Mein Laptop stand ausgeschaltet auf dem Tisch und vor Eren lag ein Blatt Papier, auf dem irgendwelche Krigeleien zu erkennen waren. Mit viel Fantasie könnte man dort so etwas wie einen Menschen erkennen. Eren saß auf dem Stuhl. Angespannt. Blass. Regungslos.
 

„Hey Eren.“, sprach ich ihn an. Keinerlei Reaktion. Nicht einmal das Klingen der Pausenglocke änderte etwas an seiner Körperhaltung.
 

„Eren – wegen vorhin – es tut mir Leid.“ – für eine Weile füllte ein erdrückendes Schweigen den Raum, ließ die kahlen Wände noch kälter wirken und bewirkte eine widerliche Gänsehaut auf meiner Haut. Eren schaute nicht einmal in meine Richtung.
 

„Du hast es gesehen, oder?“ – nun bekam ich zum ersten Mal eine Reaktion. Aufgerissene, tränengefüllte, aber willensstarke Augen starrten mir ins Gesicht, fesselten mich, durchdrangen meinen Blick, als würden sie sich direkt in meine Seele bohren. Die grüne Farbe bildete den Kontrast dazu. Hatte Eren tatsächlich Hoffnung?
 

„Die Polizei kann mir nicht helfen. Es ist wohl aussichtslos.“, sagte ich aufklärend.
 

„Von starken Tritten. Und von meiner Mutter. Und meinem Vater.“
 

Ein geschnapptes „Was?“ brach aus mir heraus, während meine Augen Eren fixierten. Sein Ausdruck blieb derselbe, aber seine Stimme war unheimlich ruhig und gelassen.
 

„Wovon ich geträumt habe. Letzte Woche von starken Tritten, mitten in der Nacht. Letzte Nacht von einem riesigen Monster, welches meine Mutter fraß. Und von meinem Vater, der mir im Wald eine Spritze gab.“
 

Dieser Moment zwischen uns war so unglaublich persönlich. Zum ersten Mal sprach ich mit Eren wie mit einem Menschen. Allerdings fürchtete ich mich ein wenig vor Eren. Dennoch wollte ich unsere derzeitige Situation nicht zerstören.
 

„Weißt du, was das bedeuten könnte?“, fragte ich ihn vorsichtig. Ich meinte es wirklich ernst. Er tat mir Leid. Aber er brauchte genauso wenig Mitleid wie ich.
 

„Nein. Ich erinnere mich immer nur an diese Worte.“ – als Eren daraufhin das Blatt umdrehte, lief es mir eiskalt den Rücken runter. Das gesamte Blatt war total vollgeschrieben mit zwei Sätzen.
 

„Denk an den Keller!“
 

„Dort wirst du die Antworten finden!“
 

„Das habe ich nicht geschrieben. Das Blatt lag bereits so in meiner Tasche. Auch wenn es meine Handschrift ist.“
 

Da hatte jemand noch mehr Probleme als ich. Irgendwie beruhigte mich das. Glücklicher machte es mich nicht.
 

„Ich habe vorhin Mikasa und Armin darum gebeten, dass wir uns schon um 12 Uhr treffen.“
 

Warum erzählte er mir das? War das etwa eine schlechte Art zu sagen „Hey, blieb doch so lange!“ oder was?
 

Naja nach Hause zu gehen hätte sowieso keinen Sinn gemacht. Conny war noch auf der Arbeit und auch Sasha war arbeiten, denn sie machte ja schließlich eine Ausbildung zur Köchin.
 

Ich wartete mit Eren sehr lange. Minutenlang schwiegen wir uns an. Am liebsten hätte ich mit meinem Handy Musik gehört, aber mein Handy wollte ich im Moment nicht anfassen. Immerhin hatte Eren meine Tasche mitgenommen, so konnte ich mir ein Buch rausholen und etwas lesen. Die Zeit verging erbarmungslos langsam. Gegen 11:45 Uhr bildete ich mir sogar schon ein, einen Knall gehört zu haben. Und Sirenen. Doch Sirenen hörte man hier ständig. Ich kam einfach nur mit dieser erdrückenden Stille nicht klar.
 

Gegen 12 Uhr kamen dann tatsächlich Armin und Mikasa in den Raum. Sie waren ganz schön verwundert, dass ich auch dort war.
 

Im Gegensatz zu mir erzählte Eren ihnen sofort was passiert war. Von seinen Träumen, seinen SMS – von denen wusste ich ja nicht mal etwas – einem Busfahrer und von dem Bild. Als er das Bild erwähnt hat, blickten die beiden augenblicklich zu mir. Armin schien etwas Ahnung zu haben, Mikasa schien nichts von dem Gesagten zu wissen.
 

Nickend stimmte ich Erens Geplapper zu, um zu verhinden noch mehr erklären zu müssen. Ich fragte mich allerdings immer noch, was der ganze Scheiß bringen sollte. Kurz überlegte ich, ob ich auch erwähnen sollte, dass Berthold ähnliche seltsame Erfahrungen gemacht hat. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch schnell wieder, da ich nicht wusste, ob Berthold damit einverstanden gewesen wäre oder ob die drei nicht sogar Angst vor Berthold bekommen hätten.
 

„Und was machen wir jetzt?“ – Armin sprach die einzige Frage aus, die sich momentan in meinem Kopf tummelte. Erwartungsvoll blickten seinen blauen Augen Eren an. Dieser holte kurz Luft und erklärte sich dann bereit, uns seinen Plan zu erklären.
 

„Ich glaube, dass der Keller, dessen Schlüssel dazu ich hier um den Hals trage, etwas damit zu tun hat. Wir sollten uns weniger darauf konzentrieren herauszufinden, wer hinter diesen mysteriösen Ereignissen steckt, sondern lieber mitspielen und erforschen, was man damit bezwecken will.“
 

Toll. Klang ja ganz einfach.
 

„Als erstes müssen wir den Keller finden.“
 

Armin und Mikasa nickten natürlich begeistert und zustimmend, nachdem Eren seine Ansprache beendet hatte. Ich war noch nicht überzeugt. Und das zeigte ich auch.
 

„Super. Und wie sollen wir das machen?“, fragte ich und wusste nicht, was für eine Diskussion ich damit begann.
 

„Wir müssen lernen, die Hinweise zu verstehen.“
 

„Eren, ich glaube du siehst das alles ein bisschen zu ernst – da steckt ein kranker Psychopath hinter!“
 

„Auch ein Psychopath kann ein Ziel haben.“ Eren machte mich so wütend, dass ich aufstand und ihn am Kragen packte.
 

„Verstehst du nicht? Du willst da drin etwas sehen, was nicht da ist. Der will keine Schatzsuche erreichen, der will uns fertig machen oder vielleicht sogar umbringen!“
 

„Das hätte er längst getan.“
 

„Ja sollen wir dafür jetzt auch noch dankbar sein oder was? Nur weil du selbstmörderisches Arschloch dich in den Tod stürzen willst, müssen deine Freunde dir nicht folgen.“ Nun schubste Eren mich gegen die Wand, ging auf mich zu und war derjenige, der mich am Saum meines Pullovers festhielt.
 

„Nein! Aber wir merken doch, dass wir mit unserer ängstlich-ablehnenden Haltung nicht weiterkommen – du warst doch derjenige, der meinte, es sei aussichtslos!“ Seine Stimme war sehr laut und eindringlich. Das konnte ich auch.
 

„Ja und damit meinte ich, dass wir uns den Typen beugen und nicht daraus eine geheime Schatzsuche machen sollten, um am Ende dagegen allein anzugehen“
 

„Jean, du kannst machen was du willst! Dein Problem, wenn dir Marco nicht genug bedeutet hat, um dich dagegen zu wehren!“
 

Woher wusste er von Marco? Dieser Mistkerl.
 

Nun sagte ich nichts mehr. Eren ließ von mir ab und wandte sich Mikasa und Armin zu.
 

„Okay Leute, ich rufe nachher jemanden an und gebe euch dann Bescheid was wir machen.“ – er blickte zu mir rüber – „Deine Nummer habe ich ja durch deinen Anruf auch, nicht wahr, Jean?“
 

Er war ein Arschloch und würde auch immer eines bleiben…

Erkenntnis - Erwin Smith

Es gibt niemals eine zweite Chance für den ersten Eindruck.
 

Deswegen musste ich mir genau überlegen, was ich diesen jungen Menschen nachher erzählen wollte. Um den Weg zu kennen sollte man allerdings zuerst den Startpunkt herausfinden.
 

Der junge Eren Yeager, dem ich Freitag begegnet war, hatte mich am Montag gegen 14:00 Uhr angerufen. Zu der Zeit war ich gerade noch bei Levi im Krankenhaus. Levi ging es überhaupt nicht gut. Er schien etwas gesehen zu haben, was kein anderer wahrnahm. Und es machte mir Sorgen, dass nur solch eine groteske Wahnvorstellung seinerseits uns davor bewahren konnte, der Explosion dieses Modegeschäftes erbarmungslos ausgeliefert zu sein. Sie schien für Levi so bizarr gewesen zu sein, dass er sie mir nicht einmal beschreiben konnte. Noch immer befand er sich im Krankenhaus. Heute Abend sollte er entlassen werden – dann wollte ich ihn abholen.
 

Der resolute Student bat mich in unserem Telefonat darum, ihm bei einer Sache zu helfen. Dabei erzählte er mir von kuriosen Vorkommnissen, die ihm und seinem Bekannten Jean – ja dem vom niveaulosen Telefonat - widerfahren waren. Sie waren ähnlich absurd wie die Erlebnisse meinerseits oder Levis Hirngespinste. Diese Tatsache machten sie allerdings wieder beachtlich und denkwürdig. So erklärte ich mich dazu bereit diesem jungen Mann zu helfen – zumindest soweit ich konnte – und wir verabredeten uns für ein Treffen im Stadtpark um 17:00 Uhr. Ein neutraler Boden ist eine angebrachte Atmosphäre für solch ein Gespräch.
 

Warum Eren gerade mich angerufen hatte, wusste ich nicht. Aber anscheinend spürte auch er eine Verbindung – die vergangenen Ereignisse bildeten schließlich auch eine stabile Grundlage für diese Annahme.
 

Hanji und ich hatten den Samstag damit verbracht, meine Tagebucheinträge sowie den Tod Ymirs zu analysieren. Nur ihr vertraute ich vorerst meine Gedanken an, da ich – wie sich später herausstelle auch mit Recht – der Meinung war, dass Levi genug eigene Problem hatte, die ihn belasteten. Nachdem Freitagabend auch noch der schwarzhaarige Herr – dessen Name Berthold Hoover war - offensichtlich die Kontrolle über sich verlor und den blonden, muskulösen Mann – namens Reiner Braun - verletzte, ergab sich ein Bild mit vielen Puzzleteilen, dass zusammengesetzt werden musste. Ich war mir ziemlich sicher, dass all diese Dinge zusammenhingen.
 

Nachdem wir gemeinsam zu später Stunde von der Polizeiwache zurückkehrten, entschied sich Hanji dazu über Nacht zu bleiben, um am darauffolgenden Tag die letzten Tage Revue passieren zu lassen. Wir schafften es eine Liste zu erstellen mit allen Ereignissen, die uns bekannt waren. Ich ordnete sie zeitlich ein, womit sich somit folgendes Bild ergab:
 

Freitag, 23.Oktober
 

ca. 11:30 Uhr – Fahrstuhl Unfall auf Levis Arbeitsstelle

ca. 13:00 Uhr – Ymirs Selbstmord (darauf folgte der Ausfall der S-Bahn bis ca. 15:30 Uhr)

ca. 14:00 Uhr – Ich machte Mittagspause und las den Tagebucheintrag

ca. 15:14 Uhr – Ich traf auf Eren, der um 15:16 Uhr einen Anruf von seinem Bekannten Jean erhielt

ca. 20:30 Uhr – Berthold greift Reiner an
 

Inwiefern uns das weiterhalf, war mir noch nicht bekannt, dennoch war eine Übersicht niemals schädlich. Hanji nahm sich vor, zu schauen, ob sie nur ansatzweise herausfinden konnte, was Ymir eigentlich gesehen hatte. Ich versprach, alle Unterlagen zu den Vorkommnissen zu besorgen. Schadensberichte, Zeugenaussagen, Verdächtige, Fotos – wenn jemand etwas finden konnte, dann ich.
 

Den Rest des Wochenendes verbrachte ich damit, die Berichte für den Fall des Pastors zu schreiben. Dies erinnerte mich wieder daran, dass ich keinen einzigen Schritt weitergekommen war. Und nun warf der Tod von Ymir ebenfalls Fragen auf. Hanji zeigte mir dieses äußerst unappetitliche Bild ihrer Leiche, auf der ihre Zähne wie lange, spitze Fangzähne aussahen. Nebenbei erzählte mir Hanji außerdem, dass ihr Reiner ein wenig bekannt vorkam und sie hätte schwören können, ihn schon einmal im Jugendzentrum gesehen zu haben. Obwohl ich oft dort war, hatte ich ihn noch nie gesehen, also war er vermutlich sehr selten dort. Vielleicht sollte ich mich mal mit diesem jungen Mann unterhalten.
 

Nun, gestern hatte ich mich nach der Arbeit mit Mike getroffen. Es war sehr spät, da mein Chef nicht gerade davon begeistert war, dass ich durch den Vorfall mit Levi nicht mehr arbeiten konnte am Montag, da ich erst gegen 16:00 Uhr das Krankenhaus verließ.
 

Bei dem Gespräch mit Mike fand ich heraus, dass er Erens Anwalt war, als ich ihm ebenfalls von meinen Problemen erzählte. Schließlich war er mein Freund und erzählte mir auch alles. Sicherlich beruflich nicht perfekt, menschlich allerdings ehrenwert und nützlich.
 

Er erklärte mir, dass Erens Vater eine Lebensversicherung hatte, die er drei Wochen vor seinem Tod auflöste. Das Geld war unauffindbar. Keine Kontoüberweisung, keine Belege – nichts. Des Weiteren erfuhr ich, dass Berthold am Montag noch bevor Eren seinen Termin hatte bei ihm auftauchte. Er benötigte Hilfe, um nicht in Untersuchungshaft zu kommen. Fluchtgefahr bestand meiner Meinung nach nicht, aber die Beamten sahen das wohl anders. Mike versicherte mir, ihm geholfen zu haben, allerdings machte er sich mehr um die Verhandlung sorgen.
 

Wie wollte der Junge seine Tat erklären?
 

Eigentlich hätte ich mich nicht auch noch in den Fall einmischen sollen, doch ich war mir außerordentlich sicher, dass er etwas mit den Kuriositäten in der letzten Zeit zu tun hatte. Alles hing in irgendeiner Weise zusammen, auch wenn ich noch nicht wusste wie. Deswegen ließ ich mir von Mike die Unterlagen geben. Bis gestern Abend um 22:00 Uhr saßen wir zusammen, tranken ein wenig und genossen die Zeit. So etwas gab es viel zu selten.
 

Erst 10:30 Uhr. Heute wollte die Zeit einfach nicht vergehen. In sechs Stunden und dreißig Minuten traf ich mich mit den Kindern im Stadtpark. Bis dahin musste ich mir überlegt haben, wie ich helfen konnte.
 

Akten über Akten. Der Fall mit dem Pastor warf immer mehr Fragen auf. Dann die Sache mit Ymir. Mein Chef ging von Drogenmissbrauch aus. Er meinte, dass sie wahrscheinlich eine Überdosis nahm, daraufhin unter Halluzinationen litt und schließlich „aus Versehen“ auf die Gleise fiel.
 

Ignoranter Dilettant.
 

Drogen könnte man nachweisen. Zudem wäre es merkwürdig, dass die Wirkung erst an der S-Bahn-Station einsetzte. Manche Menschen redeten sich alles so zurecht wie es ihnen passte.
 

Allerdings - Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann.
 

Die Männer der Feuerwehr spülten – nachdem sie an eine Blutprobe gedacht hatten - die Reste der Frau einfach weg, obwohl ihre Zähne dermaßen auffällig waren. Das allein kam mir schon eigenartig vor – hatten sie es nicht gesehen? Oder wollten sie es nicht sehen? Was war mit weiteren Untersuchungen?
 

„Smith!“

Wieder einmal siegte das primitive Verlangen das persönliche Anliegen sofort loszuwerden und unterdrückte bei meinem Arbeitgeber der Höflichkeit entsprechend zu handeln und anzuklopfen.
 

„Ja?“
 

„Den Pastor-Mord wird jemand anderes übernehmen!“
 

„Achso? Und warum?“ Ich verzog keine Miene.
 

„Ihre Erkenntnisse sind unvollständig und unbrauchbar – Ihr Kollege wird das übernehmen.“
 

„Tatsächlich?“
 

„Ja! Wenn Sie sich andauernd frei nehmen wie am Montag wird das sowieso nichts. Sie sind gänzlich ungeeignet für so etwas! Kümmern Sie sich erstmal um die ganzen kleinen Angelegenheiten – der Raudi von Freitag bekommt übernächste Woche Freitag seine Verhandlung. Bereiten Sie sich vor!“
 

„Selbstverständlich.“
 

Ohne die Tür meines Büros zu schließen, verließ er den Raum.
 

Geschäftsmänner waren mächtige Männer. Mit einem einzigen Satz konnten sie die Arbeit hunderter Menschen zu Nichte machen. Diskutieren war sinnlos.
 

Jedoch machte mir das momentan nichts. Mein Wert war nicht an der Anzahl meiner gelösten Fälle messbar.
 

Mich beschäftigte eher die Tatsache, dass ich den Fall mit Berthold übernehmen sollte – nicht dass ich das nicht gern tat, allerdings war Mike sein Anwalt und ich war schon lange nicht mehr im Gerichtssaal auf ihn getroffen. Zweifelsohne wiesen wir beide beruflich ein Mindestmaß an Professionalität auf, weswegen wir natürlich unsere Standpunkte tadellos vorlegen werden können. Doch hinter der Maske war ich mir nicht sicher was ich glauben sollte – steigerte ich mich in eine imaginäre Verschwörung hinein oder war ich dabei eine kommende Bedrohung aufzuklären? Naja, so gesehen – die Unterlagen hatte ich ja schon.
 

Plötzlich eine SMS von Hanji.
 

„Erwin? Hab dir doch gesagt ich informiere dich, wenn was Seltsames passiert. Der Fahrplan im Glaskasten der S-Bahnstation hatte eben die Überschrift >Es folgt Nummer 2< - ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich gebe dir lieber Bescheid.
 

LG Hanji <3“
 

Seltsam. Was sollte das nun wieder? Ich glaubte langsam, ich musste mir nicht überlegen, was ich den Kindern erzählen wollte, sondern was die mir vielleicht erklären konnten. Hanji sollte mitkommen. Schließlich erging es ihr nicht anders
 

„Danke für die Info – nachher treffe ich mich mit dem jungen Mann, von dem ich dir erzählte – willst du nicht vielleicht mitkommen? Sicherlich wird das interessant. 17:00 Uhr – Stadtpark-Eingang.“
 

„Ohhh, sehr gerne, dann lerne ich den Kleinen auch mal kennen – ich werde da sein :D“
 

Mal sehen, ob uns das weiterbringen würde.
 

Ich holte mein Tagebuch aus meiner Tasche. Am Wochenende waren nur meine Einträge vorhanden gewesen. Montag ebenfalls. Nachdem ich in meinem Eintrag von Montag Levis Nervenzusammenbruch schrieb, las ich gestern neben dem Eintrag von Montag den Satz „Es beginnt.“ Den hatte ich zuvor nicht geschrieben.
 

Inzwischen war ich mir sicher, dass Levi nicht dahinter steckte und mein Buch eine Brücke der Kommunikation zwischen mir und demjenigen, der diese Texte verfasste, darstellte. Indes war mir noch nicht bewusst, wie ich eine Unterhaltung aufbauen sollte. Deswegen startete ich gestern einen Versuch. Mein gestriger Eintrag endete mit der Satz: „Ich frage mich, was wohl als nächstes passieren wird.“ Nun wollte ich sehen, ob ich vielleicht heute meine Antwort darauf bekam.
 

Angespannt saß ich an meinem Schreibtisch, ließ den Blick einmal über meine Mappe schweifen, aus der Papiermassen heraushingen, da das dünne Gummiband nicht mehr ausreichte, um diese Menge an Informationen zu bändigen. Links auf dem Tisch lagen Unmengen an Kugelschreibern – kaum benutzt, da das Meiste sowieso auf der weißen, altmodischen Tastatur getippt wurde. Mein Kaffeebecher stand auch noch dort. Ein eiskalter letzter Schluck befand sich noch in der Tasse – dieser Schluck, den man immer noch in der Tasse lässt, um noch etwas zu haben und ihn später doch vergisst, bis man ihn wieder bemerkt und schließlich angewidert herunterwürgt. Der täglichen Prozedur gefolgt, öffnete ich das Tagebuch. Hoffentlich war auch ein Eintrag vorhanden für heute – sonst ginge mein Plan nicht auf.
 

Nichts. Obwohl ich mir doch so sicher war. Kein Eintrag für heute und meiner von gestern blieb ebenfalls unkommentiert. Hatte ich tatsächlich zu viel erwartet?
 

Das Tagebuch wieder geschlossen, widmete ich mich meinen Akten. Meine Konzentration hatte ihren Tiefpunkt erreicht, obwohl der Vormittag sich noch nicht einmal in seiner vollen Pracht entfaltet hatte.
 

Plötzlich erhielt ich einen Anruf auf dem Handy.
 

Während der Arbeitszeit? Ich hasste es, wenn jemand das tat – aber eigentlich machte das nur einer - Levi! Augenblicklich nahm ich ab, meldete mich nicht einmal so wie sonst und fing sofort an zu sprechen.
 

„Levi? Alles in Ordnung?“
 

„Kannst du mich vorher abholen?“
 

„Wieso? Ab 20:00 Uhr haben die Ärzte gesagt.“
 

„Bitte…“ – seine Stimme klang unweigerlich ängstlich; geradezu panisch. Ich wusste zu welchen Zeitpunkten Nachfragen angebracht waren und wann man besser einfach Taten sprechen ließ. Dies war definitiv ein Moment für Taten.
 

„Ich bin gleich da.“
 

Eigentlich hätte ich mir einen weiteren Tag ohne Arbeit nicht erlauben können – da ich nun aber den Fall mit dem Pastor offiziell los war, sollte ich diese Zeit nachholen können. Außerdem konnte keine Arbeit mich davon abhalten meinem Freund zu helfen.
 

„Herr Steger, ich bin heute früher weg – selbstverständlich werden alle Arbeiten zu morgen erledigt sein.“
 

„Smith, ist das Ihr Ernst? Sie können nicht einfach kommen und gehen, wann sie wollen. Hat es nicht gereicht, dass ich Ihnen schon einen Fall abnehmen musste?!“
 

„Anscheinend nicht.“
 

Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, machte ich mich auf den Weg.
 

Die Treppen des Parkhauses hinabgestiegen, war ich ziemlich schnell bei meinem Wagen. Heute hatte ich für mein hellbraunes Fahrzeug einen guten Parkplatz gefunden.
 

Das Parkhaus verlassen fuhr ich an der Universität vorbei auf die Bundesstraße. Nur stockend vorangekommen, ging es dann durch die Innenstadt. Obwohl der Berufsverkehr eigentlich bereits vorbei war, gab es Stau ohne Ende. Nervös tippte ich mit den Fingern auf das Lenkrad. Ich schaltete das Radio ein. Das momentane Lied wirkte nicht gerade bändigend auf meine Nervosität – es war „Hold the Line“ von Jeanette Biedermann. Obwohl das Lied nicht allzu schlecht war, konnte der Rhythmus mich momentan wirklich stressen – noch mehr stresste mich allerdings die Stille, deswegen ließ ich es an.
 

Mein Blick schweifte umher, beobachtete die Menschen auf der Straße. Objektiv betrachtet ergibt sich immer dasselbe Bild. 25% der Menschen waren jetzt noch auf dem Weg zur Arbeit, 30% Menschen, die auf dem Weg zu Arztterminen, Behördengespräche usw. waren. Dann gab es die älteren Menschen, die ihre täglichen Einkäufe erledigten oder einfach nur an die Luft gingen – diese machten ungefähr 15 % aus. Gruppenausflüge, Menschen von offiziellen Veranstaltungen bildeten ca. 5%, während Schulkinder oder Jugendliche, die eigentlich zur Schule gehen sollten weitere 15% waren. Die restlichen 10% waren die Menschen, die heute tatsächlich frei hatten und sich mit Shoppen, Treffen mit Freunden oder Ähnliches die Zeit vertrieben.
 

11:45 Uhr – so eine Übergangszeit zwischen Morgen und Mittag, in der einfach viele verschiedene Menschengruppen unterwegs waren.
 

Die Langeweile war mir ins Gesicht geschrieben. Über so etwas dachte ich nur nach, wenn ich Bahn fuhr oder einfach wirklich Langeweile hatte. Was Levi jetzt wohl machte?
 

Ungeahnt entdeckten meine Augen dazwischen etwas Anderes. Es sah aus wie eine junge Frau - vielleicht Anfang 20 – sie stand auf dem Dach eines Parkhauses neben eines Supermarktes. Genauer gesagt – sie stand auf der etwas erhöhten Mauer des Daches. Sie wollte doch nicht…?
 

Dem Hupen und Brüllen anderer Autofahrer ausgesetzt, schlängelte ich meinen hellbraunen VW aus der Schlange, parkte etwas unglücklich am Straßenrand eines Schnellrestaurants und eilte ungebremst zum Parkhaus. Immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, kam ich zwei Minuten später auf dem Dach des Parkhauses an. Ich hatte mich wohl nicht getäuscht. Eine kleine, junge Frau starrte in den Abgrund, während der Wind durch ihr blondes Haar wehte. Dieses Mädchen kannte ich doch. Dieselbe Dame, die Freitagabend noch bedroht wurde.
 

Einige Schritte nähergekommen, blieb ich etwa zwei Meter vor ihr stehen. Mein Herz hämmerte unausgesprochen schnell in meiner Brust.
 

„Junge Frau? Bitte tun sie das nicht.“
 

Es dauerte eine Sekunden bis sie reagierte. Ihre Stimme klang sehr monoton.
 

„Sie rufen mich.“
 

Irgendwie erinnerte mich das an Ymir. Nein - ich hatte nun wirklich keine Lust, dieselbe Geschichte zu durchleben wie Hanji.
 

„Sie belügen Sie junge Frau – ein Schritt weiter wird sie nicht zu ihnen führen, sondern töten.“
 

Alles in mir hoffte, dass ich sie, indem ich auf ihre Wahnvorstellungen einging, irgendwie erreichen konnte.
 

Sie antwortete mir nicht. Eine Reaktion bekam ich trotzdem. Mit ihren leeren, blauen Augen schaute sie mich an; drehte den Kopf leicht zu mir.
 

Meine Chance. Anscheinend hatten meine Worte sie doch erreicht. Jedenfalls brachte sie das Gesagte zum Nachdenken. Diese Möglichkeit wollte ich nutzen, um das Schlimmste zu verhindern.
 

Ohne zu zögern machte ich zwei große Schritte in ihre Richtung, packte sie am linken Arm und zog sie von der Erhöhung und drückte sie beruhigend an mich. Wir entfernten uns einige Meter davon und ich bückte mich zu ihr runter, um sie anzusehen. Nun hatte ihr Blick einen anderen Ausdruck. Kalte, leere Augen verwandelten sich in glänzend blaue Saphire. Erleichtert lächelte ich sie an.
 

„Wo bin ich?“
 

Sie schien etwas orientierungslos.
 

„Sie wollten gerade von diesem Dach springen, junge Dame.“ – damit hatte sie nicht gerechnet.
 

„Annie ist Ihr Name, richtig?“
 

Nun erkannte sie mich offensichtlich.
 

„Sie sind der Mann von letzter Woche. Was machen Sie hier?“
 

„Sie am Selbstmord hindern.“ – so deutlich wollte sie es wohl nicht hören. Es war jedoch eine Tatsache. Hätte ich sie nicht aus dem Stau heraus bemerkt, wäre sie wahrscheinlich jetzt tot.
 

„Kommen Sie mit mir, ich wollte sowieso gerade ins Krankenhaus fahren, um einen Freund abzuholen. Sie sollten sich auch durchchecken lassen.“ Ich legte ihr meinen langen grauen Mantel um und nahm sie mit zu meinem Wagen.
 

Da sich die Verkehrslage immer noch nicht beruhigt hatte und ich anfangs Schwierigkeiten hatte aus meiner unglücklichen Parksituation herauszukommen, haben wir weitere 40 Minuten ins Krankenhaus gebraucht. Unterwegs haben wir uns in Maßen unterhalten oder einfach der Musik im Radio zugehört. In diesem Moment war ich nur froh, dass ich sie tatsächlich vom Selbstmord abhalten konnte. Obgleich ich Staatsanwalt war – Leute vom Selbstmord abhalten gehörte noch nicht zu meinen Aufgaben und somit brachte ich keinerlei Erfahrung mit. Aber Erfahrung brachte einem in diesem Punkt wohl nichts – denn wie heißt es bei Goethe:
 

Erfahrung ist eine nützliche Sache. Leider macht man sie immer erst kurz nachdem man sie brauchte.
 

Endlich im Krankenhaus angekommen, übergab ich Annie einer Schwester und machte mich sofort auf dem Weg zu Levi. Der hatte schließlich schon lange genug gewartet.
 

Meine anerzogene Höflichkeit zwang mich trotz geöffneter Tür am Türrahmen kurz zu klopfen, bevor ich einfach ins Zimmer trat.
 

„Levi? Wie geht es dir?“
 

Seine kleinen, mausgrauen Augen musterten mich und schauten mich etwas perplex an.
 

„Tut mir Leid, dass ich jetzt erst komme. Unterwegs musste ich eine junge Frau am Selbstmord hindern – hättest du mich nicht angerufen, hätte ich das wohl niemals bemerkt und sie wäre tot, da niemand anderes Anstalten machte einzuschreiten. Aber jetzt bin ich ja da.“
 

Ich hatte das Gefühl, ich wäre ihm eine Erklärung schuldig. Schließlich klang er ziemlich verzweifelt.
 

„Erwin?"
 

„Ja?“
 

„Ich hab dich gar nicht anrufen…“

Fortschritt - Hanji Zoe

„Und so sieht der Plan aus…“
 

Bevor er weiter sprach atmete er noch einmal tief ein. Alle Augen starrten gespannt auf seine bebenden Lippen. Es schien ihm wohl schwer zu fallen – oder er war sich seiner Sache nicht sicher. Andererseits - wer war das schon? Wenn jemand uns in so einer Sache leiten konnte, dann war er es…
 

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Bis jetzt hatte ich noch gar nicht richtig verkraftet, was eigentlich passiert war in den letzten Tagen. So unheimlich und grausig diese Ereignisse auch sein mochten, so wirkten sie doch ebenso eine mindestens gleichgroße Faszination auf mich aus. Meine Freundin und Kollegin Ymir hatte sich vor dem Zug geschmissen – viele Menschen wiesen seltsames Verhalten auf und irgendwie hatte man als Beteiligter das Gefühl, dass wir alle zusammen gehören.
 

Mir persönlich gefiel diese Art von Action. Obwohl mir der Junge von Freitag wirklich Leid tat, denn so ein Messer im Schlüsselbein ist vielleicht nicht das angenehmste Gefühl. Und vor allen Dingen nicht, wenn ein Freund dieses Messer führt. Und ich vermisste Ymir. Meine tolle Kollegin und noch bessere Freundin.
 

Erwin und ich hatten am Wochenende viel gesponnen – viele Theorien umrahmten die so sorgfältig zusammengetragenen Informationen und Ereignisse. Aber Erwin ging noch weiter als ich. Für ihn war es nicht nur das Tagebuch, Ymirs Selbstmord oder die Geschichte am Freitagabend. Er meinte, dass alles was uns seltsam vorkam ein Teil davon sein konnte - jede Geste, jedes Wort, jedes Signal könnte ein Zeichen sein. Etwas rumspinnen war ja eigentlich mein Job, aber dieses Mal hätte ich gegen Erwin verloren. Davon abgesehen war diese Schrift auf der Eisverpackung schon seltsam und auch die Bahnanzeige war eigenartig – aber das gleich als Teil eines großen Ganzen zu sehen? Dazu fehlten mir Details. Schließlich war mir bis vorhin seit Freitag nichts Seltsames widerfahren. Doch als sich plötzlich die Überschrift des Fahrplanes in „Es folgt Nummer 2“ änderte, dachte ich wieder an Erwins Worte. Deswegen schrieb ich ihm auch sofort – auch wenn ich nicht wusste, was oder wer mit Nummer 2 gemeint sein könnte.
 

„Erwin? Hab dir doch gesagt ich informiere dich, wenn was Seltsames passiert. Der Fahrplan im Glaskasten der S-Bahnstation hatte eben die Überschrift >Es folgt Nummer 2< - ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber ich gebe dir lieber Bescheid.
 

LG Hanji <3“
 

Als Erwin mir darauf schrieb, dass er sich mit dem kleinen Eren von Freitag für 17:00 Uhr im Stadtpark verabredet hat und mich fragte, ob ich denn nicht mitkommen wollte, war ich natürlich endlos begeistert. Wurde das hier jetzt eine richtig coole Verschwörungsnummer? Für sowas war ich wie geschaffen!
 

Gleich zugesagt, kümmerte ich mich anschließend weiter um die Spielecke der Kinder, die demnächst hier aufkreuzen würden. 10:50 Uhr war nur die Ruhe vor dem Sturm. Und da wir schließlich eine Mitarbeiterin weniger hatten, hatten wir sechs Verbliebenen mehr Arbeit. Naja – war auch eine Art Arbeitsplätze zu sichern.
 

Nachdem ich die Spielecke aufgeräumt hatte und alle PCs mit freiem Internetzugang mit einem Update versehen hatte, ging ich in die Küche und schaute, was ich meinen Schützlingen heute anbieten konnte. Mein Shake kam letztes Mal wohl sehr gut an – zumindest erzählte mir das Christa, die gestern mal wieder bei uns war. Freitag kam sie anscheinend nachmittags ins Jugendzentrum und wollte mal wieder Tischtennis mit Ymir spielen. Tja – das erwies sich aus bekanntem Grund leider als schwierig.
 

Seitdem war sie ziemlich ruhig geworden. Gestern spielte sie die ganze Zeit nur an ihrem Handy rum und aß nicht einmal meine Monsterplätzchen. Ich wusste gar nicht, dass in diesem lieben, schüchternen Mädchen auch eine melancholische junge Frau steckte. Es schien sie sehr mitzunehmen - aber solange das sie nicht mit unter dem nächsten Zug nahm, empfand ich diese Reaktion als normal und ließ sie vorerst in Ruhe.
 

Viel bot mir die Küche nicht an – wenn Ymir nicht einkaufen ging, machte es keiner. Zum Gluck war ich ja erfinderisch. Gekochte Kartoffeln vom Vortag in den Mixer, Sahne, Schinkenwürfel und Wasser dazu und alles zusammen in den Kochtopf. Das ergab eine echt leckere Sauce. Schnell noch ein paar Nudeln gekocht und das Mittagessen „Penne mit Kartoffelcremesauce“ war fertig. Alles zusammen in die Mikrowelle, damit die Kinder nachher schnell essen konnten. Wird bestimmt lecker!
 

Heute kamen sie wohl etwas später. 11:30 Uhr und immer noch ziemlich ruhig hier. Ich setzte mich auf das Sofa im Aufenthaltsraum und legte für ein paar Minuten meine Brille ab. Dies war nicht mein Tag. Von mega müdig bis mega motiviert – heute hatte ich schon alles durch. Im Moment war mega müde dran.
 

Während ich so durch die Kanäle schaltete, fiel mir ein, dass ich ja den tollen Film von Freitag verpasst hatte. Ich war damit beschäftigt Erwin einen Korb zu geben, den er nicht brauchte und einen jungen Mann am Verbluten zu hindern. Hmm – so gesehen war das ein akzeptabler Ersatz für den Film. Und vielleicht würde ich den ja auch irgendwann im Netz finden. Das wäre mit blutenden Menschen sicherlich schwieriger – denke ich.
 

Im Fernsehen lief nichts, meine Kollegen waren beschäftigt und die Kinder waren noch nicht da – was für ein langweiliger Tag. Ich lehnte mich weit nach hinten, breitete Arme und Beine auf dem Sofa aus und setzte nach einigen Sekunden meine Brille wieder auf. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, fiel mein Blick auf den Wandkalender im Raum.
 

28. Oktober.
 

Vor genau zwei Wochen hatte Erwin Geburtstag. An dem Tag hatte ich ihn das letzte Mal vor Freitag gesehen. Wir hatten nicht einmal richtig gefeiert. Er kam ins Jugendzentrum; unsere Kleinen hatten für ihn Geschenke gebastelt und Christa hatte mit mir und Ymir zusammen einen Kuchen gebacken. Es war ein schöner Nachmittag, aber leider hatte Erwin nicht viel Zeit. Naja, viel Zeit hatte er nie, aber wenigstens an seinem Geburtstag hätte er mal kürzer treten können.
 

Und da kam mir die Idee. Oh wow, ich war sogar im Schlafmodus noch produktiv. Augenblicklich änderte sich mein Gemüt erneut in eine ungeheure Motivation und ich sprang vom Sofa auf.
 

Samstag! Eine Party! Mein Kopf sprudelte beinahe über vor Ideen.
 

Doch ich musste mich zurückhalten. Wenn wir uns nachher mit den Freaks trafen, sollten wir erstmal mal die Verschwörungsgeschichte klären, bis ich mit meiner megacoolen Idee rausrücken wollte. Oder nicht? Warum eigentlich? Was wäre, wenn genau das unser Motto wäre? Schließlich dachte ich an eine Halloween-Party – „Verfluchte Welt“ wäre doch genial als Motto! Eine Mottoparty! Es kostete mich wirklich sehr viel Kraft nicht sofort zu Erwin auf die Arbeit zu fahren und ihm von meiner Idee zu berichten. Oder sein WhatsApp voll zu spamen. Aber nein. Das sollte eine Überraschung sein. Er war doch das Geburtstagskind. Und ich wusste auch schon genau wen ich alles einladen wollte.
 

Zettel und Stift geschnappt machte ich eine Liste mit den Utensilien, die ich benötigen würde. Für die Location könnten wir Erwins Garage nehmen – er hatte eh nur ein Auto und in seine Garage hätten mindestens noch fünf weitere reingepasst. Und seine Wohnung war auch groß – für ein Getränke und Snacklager also perfekt! Außerdem waren seine Nachbarn cool – wenn draußen nicht gerade jemand abgestochen wurde, was das nämlich eine echt angenehme Gegend.
 

Das wäre geklärt. Nun - Verpflegung! Hier sah ich das geringste Problem, denn ich würde einfach einkaufen gehen und mir später mit seinem besten Kumpel Levi die Kosten teilen – naja sagen wir es so, ich werde ihm die Hälfte meiner Ausgaben abdrücken. Er wird schon mitmachen. War schließlich für seinen besten Freund – und sonst geh ich bei seinem Kollegen Mike betteln.
 

Gerade als ich mich gedanklich mit dem Motto beschäftigen wollte, vernahm ich vier Kinderstimmen aus der Halle – schon 12:30 Uhr. Jetzt musste ich erstmal die Kinder begrüßen.
 

„Na ihr, schon wieder Schulschluss?“, die Mädels kannte ich noch nicht sehr lange, aber sie waren sehr pflegeleicht.
 

„Nein, Herr Ackerman war heute irgendwie komisch. Er meinte, dass er sich auf etwas vorbereiten müsste. Hannah fragte ihn dann worauf und er sagte, dass uns das nichts angeht und wir die nächsten Tage eine Vertretung bekommen werden.“ – die Kleine strich sich ihr braunes Haar aus dem Gesicht und lächelte mich an. Dieser Lehrer hatte wohl echt ein ernsthaftes Problem.
 

„Achje, der Ackerman. Na gut, legte eure Sachen ab, in einer halben Stunde gibt’s Mittag.“ – ich trug die vier Mädchen in die Liste ein und ging wieder in den Aufenthaltsraum, um meine Partyplanung zu beenden. Schließlich wollte ich das noch vor dem Mittagessen abschließen und die Kinder waren eh mit dem Ablegen beschäftigt. Erneut ließ ich mich in den weichen Stoff fallen und schaute für beinahe eine Minute an die Decke.
 

Das Motto.
 

„Verfluchte Welt“, „die Auserwählten“ oder „Geheime Verschwörungen“ waren die besten Titel, die mir einfielen. Nicht besonders kreativ. Da musste noch etwas anderes her.
 

Was wollte Erwin wohl mit dem Treffen heute erreichen? Ob wirklich noch jemand anderes dabei als dieser Eren dabei sein wird – sicherlich würde er sich nicht allein mit Erwin treffen. Und ob Erwin Levi mitbringt? Ich kannte den kleinen Giftspaten zwar nicht so wirklich, hatte jedoch bereits genug über ihn von Erwin gehört und da mein älterer Freund davon ausging, dass alles zusammenhing, galt das sicher auch für seinen Freund, der sich das ganze Wochenende ja nicht bei Erwin meldete. Oder hatte er nichts damit zu tun? Und sein Anwaltskollege? Dieser Mike? Der war ja auch ganz reizend, aber ob er darin verwickelt war? Vielleicht waren wir ja eine ganze Truppe, die da mit drin hing. Oder fing mein guter alter Freund langsam an subtil zu werden? So viele Fragen, die es zu klären gab.
 

Mein Motto gefiel mir immernoch nicht. Solche Wörter wie „auserwählt“, „verflucht“ oder „Verschwörung“ sind zu deutlich – da ist nichts mehr Geheimes dran. Es war zwar nur eine Mottoparty für Erwin nachträglich zum Geburtstag, dennoch grübelte ich darüber, als ginge es um Leben und tot. Ging es ja anscheinend auch, denn Ymir war bereits tot. Meine Party hätte sie sicher nicht gerettet – allerdings hätte sie ihr auch nicht geschadet.
 

12:45 Uhr. Oh man, bald wollte ich den Kindern ihr Mittag geben und ein Motto hatte ich immer noch nicht. Etwas geknickt entschloss ich mich dann dazu, zum nächsten Punkt überzugehen.
 

Die Gäste. Also mein Plan war ja, mindestens alle einzuladen, die heute bei diesem Treffen dabei sein werden – und alle, die damit etwas zu tun haben könnten. Erwin feiert sonst immer nur im kleinen Kreis – wenn überhaupt. Und so würde man neue Leute kennenlernen und wir hätten genug Leute für eine tolle Party. Ob Erwin so gern Fremde in seine Bude lassen würde, wusste ich zwar nicht, aber sagen wir es einmal so: So eine richtige Wahl hatte er ja nicht.
 

Die endgültige Gästeliste konnte ich somit erst heute Abend erstellen. Jedoch konnte ich die jungen Männer von Freitag aufschreiben. Reiner Braun – das Opfer. Schon am Wochenende hatte ich zu Erwin gesagt, dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Ich war mir sicher, dass er schon einmal hier im Jugendzentrum war. Und Berthold Hoover – der Täter. Ein großer, nicht besonders intelligent wirkender Mann, bei dem wohl plötzlich die wenigen Sicherungen durchgebrannt waren. Nach Erwins Spinnerei gehörten die beiden ja auch zu dem großen Ganzen. Also mussten sie dabei sein. Um fair zu bleiben schrieb ich auch die kleine blonde auf, die dabei stand und wohl von Reiner beschützt wurde. Allerdings wusste ich nur, dass sie Annie heißt. Die drei wollte ich heute Abend mal besuchen – hoffentlich war der Irre nicht im Gefängnis. Schade, dass sie nicht beim Treffen dabei sein werden.
 

13:00 Uhr. Na gut – die Kiddies hatten Hunger. Meine „Penne mit Kartoffelcremesauce“ kamen super an – meine Schützlinge merkten nicht einmal, dass da Kartoffeln drin waren. Mir hat’s auch super geschmeckt.
 

Um 14:00 Uhr gab ich wie jeden Mittwoch Nachhilfe in Chemie. Früher war das mein Lieblingsfach und vielen Schülern – besonders Schülerinnen – sind die Themen zu trocken. Deswegen machten wir hier unsere eigenen Experimente. Momentan züchteten wir Kristalle und die hatten sich echt gut gemacht. Nachher gäbe es wieder große leuchtende Kinderaugen – ich liebte meinen Job.
 

Die Teller zusammengeräumt, setzte ich mich wieder an meine Planung. Bis zum Chemiekurs spielten die Mädels am Billiardtisch. Die beiden Jungs, die später noch dazu kamen beschäftigten sich mit dem PC.
 

Verträumt schaute ich auf meine Liste und sah, dass dort etwas mehr Stand als vorhin. Der Punkt „Motto:“ war ausgefüllt.

Motto: Aufklärungstrupp
 

Aufklärungtrupp? Klang ja fast wie beim Militär. GEILE IDEE!
 

Abgesehen davon, dass ich mich eigentlich hätte fragen sollen, warum das auf meinem Zettel stand, war ich so begeistert von der Bezeichnung, dass ich mir gleich tausend Dinge ausmalte. Ich mein, wir waren eine Truppe und der ganze Psycho-Kram musste aufgeklärt werden. Cooler geht’s doch kaum! Und Erwin werde ich davon auch noch überzeugen können. Er hatte ja eh keine Wahl. Nun hatte ich mir fest vorgenommen, mir zu überlegen, wie wir das mit Kostümen machen. Jedoch erst nach meinem Kurs.
 

Als der Chemiekurs begann war meine Laune ungebremst gut. Meine niedlichen Schüler bestaunten ihre wachsenden Kristalle und ich half denjenigen, bei denen etwas schief gegangen war. 90 Minuten später halfen mir die Kinder beim Aufräumen und packten langsam wieder ihre Sachen, um nach Hause zu gehen. Ein kurzes „Tschüss“ hinterher gerufen, schloss ich noch umsichtig die Schränke ab und hatte gerade den Raum verlassen, als plötzlich Hannah – eines der Mädchen - vor mir stand.
 

„Hey wolltest du nicht packen und langsam nach Hause?“ – meine Frage klang anscheinend wie die Aufforderung „Bitte starr mich an als wärst du Carry, des Satans jüngste Tochter“, denn genau das tat sie.
 

„Alles in Ordnung bei dir?“ – streng genommen eine dumme Frage. Konnte ein Kind, das so guckt in Ordnung sein?
 

„Das ist von Kenny Ackerman.“ – sie reichte mir einen Briefumschlag und lief davon.
 

Oha. Was wollte denn der Ackerman von mir? Hatten die Kinder von mir erzählt? Hoffentlich hatte er sich nicht in mich verliebt.
 

Vorsichtig öffnete ich den Briefumschlag und fand zwei Tarot-Karten darin. Ich mochte Tarot und kannte mich auch einiger Maßen damit aus – also welche Karten es so gab und wie man die Karten legen und deuten konnte. Deswegen war ich wahrscheinlich überhaupt nicht erfreut, als ich sah welche Karten das waren.
 

Das Rad des Schicksals und Der Turm.
 

Kurz schluckend legte ich die Karten wieder in den Briefumschlag. Ich hätte jetzt Milliarden von Deutungen anstellen können, aber den Gefallen tat ich diesem Freak nicht.
 

Gefasst wie auch zuvor ging ich die Halle, die die Kinder bereits verlassen hatten. Mein Kollege Stefan, der immer nur Mittwochnachmittag dort war stand am Empfang. Er war nicht der Hellste – irgend so ein Kerl, der nur arbeitete, weil der Staat ihn dazu zwang. Allerdings könnte er dann wenigstens seinen Job ordentlich machen und ein bisschen darauf achten, dass die Kinder nicht mit komischen Briefen durch die Gegend liefen. Das wollte ich ihm auch klar machen.
 

„Hey Stefan, sag mal ist dir bei der kleinen Hannah auch etwas aufgefallen? Hat sie Streit mit den anderen? Eben stand sie vor mir und wirkte irgendwie seltsam.“
 

Gelangweilte Augen starrten mich an. Ich blinzelte zweimal verwirrt und zupfte ungeduldig an meinem Shirt während ich auf eine Antwort wartete.
 

„Hanji? Was ist mit dir?“
 

„Wieso mit mir? Ich lauf nicht durch die Gegend und verteil Briefe mit Tarot-Karten!“ – und sah dabei aus wie Carry.
 

„Hannah ist zusammen mit den anderen rausgegangen – die ist schon seit 20 Minuten nicht mehr hier.“
 

Grinsend schaute ich Stefan in die Augen.
 

„Ach? Ist das so? Na gut – ich bin dann auch für heute weg.“ – mit schnellen Schritten schnappte ich mir meine Tasche und verließ das Jugendzentrum.
 

Irgendjemand wollte es also wirklich wissen, ja?
 

Wollte uns ordentlich Schiss machen, richtig?
 

Das Spielchen ließ ich mir nicht entgehen. Bald sollte mein Gegenschlag kommen. Das versprach ich mir und auch der ganzen Welt.
 

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Nun standen wir hier. Der junge Eren war mit seinen beiden Freunden gekommen. Dann war dort noch ein anderer junger Mann mit Undercut, goldblondem Haar und ziemlich genervter Miene. Erwin erschien auch nicht allein. Der verstörte Giftspaten neben ihm war dann ja wohl Levi – außerdem hatte er das blonde Mädchen von Freitag, Annie, bei sich. Selbst der Irre und das Opfer waren da. Warum? Absolut keine Ahnung. Erwin hatte wohl zuvor Rattenfänger von Hameln gespielt.
 

Er ließ uns auch keine Zeit zu fragen. Nachdem Eren kurz allen von seinen seltsamen Erlebnissen – darunter grausige SMS, unheimliche Alpträume und unerklärliche Konversationen - erzählte, meinte Erwin anschließend, dass er sich bereits einen Plan überlegt hatte. Mit diesem Satz erntete er natürlich von allen Anwesenden die sofortige Aufmerksamkeit.
 

„Und so sieht der Plan aus…“
 

Bevor er weiter sprach atmete er noch einmal tief ein. Alle Augen starrten gespannt auf seine bebenden Lippen. Es schien ihm wohl schwer zu fallen – oder er war sich seiner Sache nicht sicher. Andererseits - wer war das schon? Wenn jemand uns in so einer Sache leiten konnte, dann war er es…

Kontakt - Reiner Braun

Ob es noch in meiner Tasche war? Oder wieder einmal verschwand? Ich war mir sicher, dass es noch dort war. Aber würden die anderen es sehen?
 

„Wir werden uns in zwei Teams aufteilen…“
 

Nein. Ich wollte nicht nachschauen. Bis jetzt wusste es auch keiner und es war wohl besser so. Besonders jetzt, nachdem Annie sich beinahe etwas angetan hätte. Als sie mich vor zwei Stunden anrief bekam ich beinahe einen Herzinfarkt – ich hatte sie doch am Freitag nicht beschützt, damit sie sich vom Parkhaus stürzt. Sofort packten Berthold und ich unsere Sachen und besuchten sie im Krankenhaus. Gott sei Dank war sie unverletzt und wir konnten gehen – jedoch gingen wir nicht allein.
 

„Das erste Team wird sich darum kümmern, Informationen zu sammeln. Mobiltelefone, Laptops und andere elektrische Geräte, die merkwürdige Nachrichten erhielten oder andere unerklärliche Fehlfunktionen aufwiesen werden von der jungen Frau neben mir – Annie Leonhard – überprüft. Als IT-Sicherheitsexpertin sollten wir durch sie einige Erkenntnisse zur Entstehung und Verbreitung dieser Nachrichten bekommen.“
 

Wieder hatte er sie gerettet. Wie er auch mich gerettet hatte. Berthold hatte sich nachdem ich Sonntag aus dem Krankenhaus kam sofort entschuldigt. Er war beinahe panischer als ich, meinte, es täte ihm so schrecklich Leid und er wolle nicht ins Gefängnis und ging Montag zum Anwalt, der ihm anscheinend tatsächlich helfen konnte. Seitdem benahm er sich seltsam. Er war viel ruhiger als sonst, dachte viel zu viel nach – dabei hatten Annie und ich ihm verziehen. Der, der uns dort attackierte, war nicht unser Freund. Wir wollten herausfinden, warum das passiert war. Auch warum ich plötzlich solche Schmerzen hatte bevor ich verletzt wurde. Oder die Sache mit dem Film. Es gab so viel zu klären.
 

„Des Weiteren wird sich das Team darum kümmern, herauszufinden wo sich der Keller befindet. Dazu nutzen wir Levis Kenntnisse in Architektur – er wird Grundrisse über die Gebäude unserer Stadt erhalten, den Schlüssel untersuchen und dann erste Vermutungen anstellen können, wo sich der Keller befinden könnte, bzw. wann er gebaut wurde. Diese Unterlagen wird er von meinem Freund Mike Zacharius erhalten – es ist ein Anwaltskollege und einige von euch kennen ihn schon persönlich.“
 

Wir sind hier, weil Annie es wollte. Er hat sie wohl gebeten mit zu diesem okkultistischen Treffen zu kommen. Wir stimmten einfach nur zu, weil wir Annie nichts ausschlagen konnten und wir nicht ganz unbesorgt um ihren geistigen Zustand waren – auch wenn sie relativ normal wirkte.
 

„Das eben beschriebene Team wird aus Eren, Mike, Levi, Annie und Jean bestehen. Mit welchem Thema ihr am besten anfangt, sei euch überlassen.“
 

Es war sicherlich noch in der Tasche. Dieses Buch.
 

Ganz dunkel erinnere ich mich daran, wie ich im Krankenwagen lag. Dieser pochende Schmerz an meinem Schlüsselbein. Mir war so unglaublich heiß. Und Annie war dort. Sie saß bei mir und hielt es in den Händen. Ich hatte nicht genug Kraft nachzufragen woher sie das hat oder was ihr daran auffiel. Erst als ich Samstagmorgen wieder aufwachte fragte ich sie. Die ganze Zeit war sie bei mir geblieben, meinte sie habe ein schlechtes Gewissen, dass ich wegen ihr verletzt wurde. Dann holte sie das Buch aus ihrer Tasche. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt – so als habe sie es schon immer bei sich getragen.
 

„Das zweite Team beschäftigt sich mit dem Protokollieren und Auswerten der vergangenen und kommenden Ereignisse. Jedes kleine Detail der Erkenntnisse muss diesem Team mitgeteilt werden. Diese werden dokumentiert und gesammelt. Dazu bräuchten wir noch eine Software zur Verschlüsselung von Daten – die kann uns entweder auch Annie oder einer der beiden Herren hier geben, da ihre Sicherheitsfirma in diesem Punkt sehr gut aufgestellt ist. Es dürfen zur Weitergabe der Informationen nur bestimmte Kommunikationswege benutzt werden. So wird ein extra Handy besorgt für Nachrichten dieser Art. Außerdem richte ich eine E-Mail-Adresse ein, um die Daten zu sammeln. Keiner von euch darf auch nur einer einzigen Person außerhalb dieses Kreises etwas von unserem Plan erzählen. Der einzige der noch von mir eingeweiht wird ist Mike.“
 

Sie meinte, sie hätte es vor dem Krankenwagen auf dem Boden gefunden. Und das der Titel interessant klang. Allerdings war es angeblich leer. Als sie mir das Buch überreichte, konnte ich sie jedoch wieder sehen. All diese Informationen, Pläne und Dokumente – immer noch faszinierte mich diese alte, verzierte Schrift. Aber wo kam dieses Buch her? Und warum sah nur ich diese Dinge? Ich verzichtete auf den Versuch, Annie zu erklären, was ich sah und meinte nur, dass ich das sicherlich dort verloren hatte. Sie lächelte mich an und verbrachte – nach einer zweistündigen Pause um nach Hause zu fahren, Sachen zu holen usw. die gesamte Zeit mit mir im Krankenhaus bis Sonntagnachmittag. Warum das Buch zwischendurch verschwunden war, blieb mir immer noch rätselhaft.
 

In den letzten Tagen hatte ich es komplett durchgelesen – vorhin steckte ich es in meine Tasche. Jetzt war ich hier.
 

„Für diese Aufgabe habe ich Erens Freunde – Armin und Mikasa, waren eure Namen, richtig? – meine gute Freundin Hanji, sowie die beiden jungen Herren neben mir – Berthold und Reiner vorgesehen.“
 

Als hätte mich ein Blitz getroffen schreckte ich hoch als mein Name genannt wurde. Die ganze Zeit fesselten meine Gedanken meine Wahrnehmung und ich fixierte mit gesenktem Kopf den Boden. Erst jetzt bemerkte ich, dass es doch schon recht dunkel war. Es dämmerte und die Wolken waren kurz davor das erste Licht des Mondes zu offenbaren, während ein leichter Wind durch die Bäume streifte. Es war leer hier im Park; keine der Sitzbänke besetzt. Wir standen wie eine Gruppe Hunde um den Staatsanwalt herum, schauten ihn an wie einen Armeeführer, der uns durch den trügerischen Schutz eines Planes sanft in den Tod schicken wollte.
 

„Für alle Beteiligten gilt eine allgemeine Schweigepflicht über alles, was wir hier besprochen haben oder noch besprechen werden. Wir sollten uns auch von nun an regelmäßig treffen.“
 

Nun ließ ich mein Blick von einem Gesicht zum anderen wandern. Man konnte jedem einzelnen von ihnen ansehen, was sie von diesem Plan hielten. Eren und seine Freunde waren wie immer von allem schnell begeistert. Ich weiß nicht, was sie in diesem Mann sahen, aber es schien etwas Großartiges zu sein. Jean war ein echt netter Kerl – allerdings sorgte seine genervte Miene nicht gerade dafür, dass auch andere diesen Eindruck erhalten konnten. Berthold hatte einen seltsamen Blick drauf – als wollte er uns sagen, dass dieser Plan so nicht funktionieren kann, aber er dennoch daran glauben möchte. Bei Annie war ich mir nicht sicher, ob sie wirklich zugehört hatte. Oder ob sie einfach wie immer nur etwas kühl wirkte.
 

Den Kopf leicht nach rechts gedreht, offenbarte sich mir das irre Gesicht dieser Hanji. Sie hatte mich zwar gerettet, aber eine Person mit der ich permanent etwas zu tun haben möchte war sie definitiv nicht. Ein breites Grinsen verzierte ihr Gesicht, angespannt starrte sie ihren Freund an, als wartete sie nur auf den richtigen Moment etwas zu sagen. Im Jugendzentrum gab es doch auch so eine irre Frau – aber die hatte ich schon lange nicht mehr gesehen und unsere Begegnung ging nicht weiter als ein flüchtiges „Hallo“ – arbeitete sie im Jugendzentrum?
 

Und dann war da noch er. Levi war wohl sein Name. Klein, stumm, kalt. Seinen Blick konnte ich nicht deuten. Er war einfach nur durchbohrend und starr. Wie die Augen eines Toten.
 

All diesen Leuten soll also auch etwas Merkwürdiges passiert sein? Ich wüsste gern, was mit Jean war oder was diesen Eren bedrückte. Am Anfang dieses Treffens hatte er zwar kurz erklärt worum es ging, aber es war einfach zu unglaublich um so etwas nur nebenbei zu erwähnen. Auch die Probleme der anderen hätte ich gern gekannt. Nicht nur das grobe, sondern Details. Andererseits – ich befand mich im Dokumentationsteam – das sollte mir Einblick in alle Geschehnisse geben können
 

Ich schüttelte mich kurz und blickte wieder zu ihm. Ob er es auch sah? Oder war ihm das egal? Erwin Smith – was ging in dir vor?
 

Dieses Mal brauchte er etwas länger, um seine Rede fortzusetzen. Allerdings wagte es wie auch die ganze Zeit über kein einziger ihn zu unterbrechen.
 

„Wenn ihr mit dem eben Erklärten einverstanden seid, möchte ich dass ihr eure rechte Hand auf euer Herz legt und so für einige Zeit verbleibt. So kann ich sehen, ob ihr es ernst meint.“
 

Diese Aufforderung verstanden viele anscheinend als Scherz. Armin und Mikasa verkniffen sich ein Grinsen; Eren hingegen zeigte deutlich sein amüsiertes Gemüt und Jean kämpfte mit sich um nicht in Gelächter auszubrechen. Berthold schaute genauso bedrückt wie zuvor und Annie lächelte auch, jedoch nicht so wie die anderen, sondern eher zuversichtlich. Hanji unterdrückte ihr Gekicher kein bisschen und Levi verzog keine Miene. Lediglich ein kleines Zucken mit den Augenbrauen war zu bemerken.
 

Aber er meinte es ernst. Den Blick nach vorn gerichtet und das Kinn angehoben legte er seine rechte Hand auf die Stelle seiner Brust, an der sich sein Herz befand. Dabei spannte er sein gesamtes Gesicht an – kein Grinsen oder Zucken. War das übertrieben? War es zu viel des Guten für so eine Psychogeschichte? Wie viel wäre denn genug gewesen? Und wer sollte das Maß dafür setzen?
 

Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Dieser Mann war vielleicht etwas größenwahnsinnig – aber vielleicht brauchten wir so jemanden wie ihn. Zumindest um etwas zu beginnen – sonst würden wir doch noch stehen. Annie, Berthold und ich wollten doch sowieso herausfinden, was vor sich ging – und wenn uns dieser Mann dabei helfen konnte, sollten wir das Angebot annehmen. Zumindest solange wir ihn brauchten.
 

So war ich der erste, der den Schwur erwiderte und erntete natürlich skeptische Blicke. Aber ich tat es ihm gleich und schaute nur nach vorn. Ob es noch da war? Wäre jetzt richtige Zeitpunkt? Wenn ja, hieße es dann, vorhin wäre der falsche gewesen? Wie lange dauerte ein Zeitpunkt? War er vielleicht jetzt gerade vorbei, während ich überlegte?
 

Einer nach dem anderen folgte unserem Beispiel, bis wir – nachdem auch Jean sich dazu durchgerungen hatte – schließlich alle dort standen. 10 erwachsene Menschen stehen im Stadtpark und halten sich die Hand auf Herz. Ob man das jetzt nun lustig oder episch fand war egal – besonders war es allemal.
 

Die Tasche hatte ihr Gewicht noch nicht verändert – somit musste es doch noch drin sein, oder?
 

Jetzt sah man zum ersten Mal ein Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, welcher uns 30 Minuten unserer Zeit stahl.
 

„Ich danke euch – auf gute Zusammenarbeit! Hat jemand noch etwas einzubringen?“
 

Meine Hand wanderte in meine Tasche und suchte es. Aber es war nicht dort. Taschentücher, Geldbörse, Wasserflasche – aber kein Buch wurde von meiner Hand gefunden.
 

Nun gut, jemand wollte mich wohl daran hindern, es zu zeigen – aber ich wusste was darin stand. Diese Informationen könnten nützlich sein.
 

Ich hob langsam meine rechte Hand, holte tief Luft und setzte schon zum ersten Wort an, als Hanji plötzlich wie ein Vulkan ausbrach und anfing zu plappern.
 

„Erwin – ich hab‘ so eine geniale Idee! Du hast doch am Wochenende nichts vor oder? Und du hast doch so eine große Garage, da könnten wir unsere Treffen abhalten. Auf jeden Fall wären wir dort ungestört. Wollen wir nicht Samstag das nächste Treffen machen? Dann könnten wir uns dort besser kennenlernen – ich würde auch vorher kommen und dir helfen beim Umräumen der Garage.“
 

Ernsthaft? Sie fiel mir ins Wort wegen der Location des nächsten Treffens? Da dachte ich Bärbel – ähm, Verzeihung – Berthold verstand es, sich auf belanglose Dinge zu konzentrieren. Unglaublich.
 

So etwas Ähnliches musste Erwin auch gedacht haben – denn das sagte in etwa sein Blick aus.
 

Kurz räuspernd antwortete er Hanji bestimmend.
 

„Nun gut, von mir aus. Ich weiß allerdings nicht, ob der Rest von uns am Samstag Zeit hat.“
 

„Ach, die haben Zeit zu haben – weißt du noch das große Ganze und so?“
 

„Seit wann bist du denn so überzeugt davon, Hanji?“
 

„Naja, ich hab gelernt.“ – sie richtete ihre Brille.
 

„Also sorry Leute, aber ich hab Samstag was Besseres vor, als bei Opa in der Garage rumzuhängen.“ – für diesen Spruch bekam Jean einen leichten Hieb in die Rippen von Eren. Anscheinend war es ihm das wohl wert, denn sein Grinsen konnte er ihm nicht aus dem Gesicht schlagen.
 

Auch ich musste leicht schmunzeln über diese Bemerkung, die normalerweise auch von Berthold hätte kommen können – natürlich konnte ich auch verstehen, warum gerade Berthold sich momentan zurückhielt. Jeans Spruch sorgte sogar dafür, dass sich die Miene von Levi für einen Moment lang änderte und man ein Grinsen erahnen konnte.
 

„Tut mir Leid, Erwin. Jean kann sich nicht benehmen.“ – Eren tat so, als wäre er für Jean verantwortlich.
 

„Ich finde es eine gute Idee sich Samstag zu treffen – dann können wir auch einmal darüber reden, was genau bei jeden passiert ist – schließlich muss das Dokumentationsteam erst wissen was los ist, bevor es loslegen kann.“
 

Hey Berthold, hast du in den letzten drei Minuten Gedanken lesen gelernt, oder bist du einfach wirklich manchmal so klug? Mein Freund war grandios – genau das hätte ich am liebsten gesagt. So könnten wir wirklich mal erfahren, was diesen Leuten passiert war.
 

„Nun gut – wir stimmen ab. Samstag – sagen wir 16 -?“
 

„Nein Erwin, so gegen 18 Uhr!“ – Hanji unterbrach ihn erbarmungslos.
 

„Warum so spät?“
 

„Weil man er so spät eine Par – ähm, ein paar Dinge erledigt haben kann, sodass man noch was von dem Samstag hat.“ – Hanjis Herumgestotter war echt zum Schießen. Keine Ahnung was sie uns eigentlich sagen wollte.
 

„Wie du willst – Also: Samstag – 18 Uhr bei mir in der Garage – wer ist dafür?“
 

Neun von zehn Armen waren oben. Jean war überstimmt.
 

„Gut – ich hole euch von der Uni mit dem Auto ab. Mike wird auch mitkommen und dann nehmen wir euch im Auto mit. Hanji wird ja schon bei mir sein und da wir mit Mike elf Leute sind, passt es wenn jeder von uns beiden noch vier Leute mitnehmen kann.“
 

„Ich weiß wo du wohnst, Erwin. Du musst mich nicht abholen.“
 

Oha. Da war aber jemand angepisst. Genervt blickte Erwin zu ihm runter.
 

„Dann kommst du halt so vorbei, Levi. Sei einfach um 18:00 Uhr da.“
 

Levi blickte nur beleidigt zur Seite. Okay, wenn Berthold sich wie eine Bärbel benahm, dann Levi definitiv wie eine Richelle.
 

„Haben wir das dann geklärt? Ich hol euch um 17:50 Uhr an der Uni am Samstag ab – vielleicht hat das Recherche-Team in Bezug auf die Untersuchung der Elektronik ja dann schon erste Ergebnisse.“
 

Durch das Schweigen konnte man den Wind intensiver hören und auch das letzte Zwitschern der Vögel hatte aufgehört. Die Nacht brach an und unsere Gestalten konnte man nur noch als schattierte Formen wahrnehmen. Die einzige Lichtquelle, die minimale Einblicke auf die Gesichter der Beteiligten zuließ, war eine Straßenlaterne neben der Parkbank.
 

„Noch Fragen? Nein? Gut dann bis Samstag!“
 

Alle nickten vor sich hin und plötzlich löste sich diese magnetische Anziehung des Mannes, sodass jeder seiner Wege ging. Berthold, Annie und ich verließen zuerst den Park. Ich hatte tierische Kopfschmerzen und ich wollte einfach nur nach Hause. Außerdem brauchte auch Annie ihre Ruhe.
 

Bevor wir allerdings zur Bushaltestelle gingen, schaute ich noch einmal in meine Tasche. Das Buch war nicht mehr da. Ich war mir verdammt sicher es eingesteckt zu haben. Warum habe ich nicht noch etwas gesagt am Ende? Vielleicht war es besser so. Erst sollte ich die Geschichten der anderen hören, dann könnte ich immer noch reden.
 

„Und Reiner, was denkst du?“ - Berthold brach das mir so unangenehme Schweigen.
 

„Hmm – schon ganz schön krass die Nummer. Ich hoffe, es kommt am Ende raus, dass es alles nur ein Missverständnis war.“
 

Eigentlich wollte ich selbst kaum glauben, was ich da erzählte. Aber dieses Buch hatte meine Gedanken verwirrt. Berthold schien nicht zufrieden mit meiner Antwort.
 

„Naja, irgendeiner da draußen hat sicher was mit diesem Kram zu tun.“
 

„Vielleicht suchen wir aber auch nur an der falschen Stelle.“ – Annies Aussage kam so plötzlich, dass Berthold und ich uns beinahe ernsthaft erschreckt haben.
 

„Was meinst du damit?“, fragte ich vorsichtig. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte Gedankenlesen. In die Köpfe der Menschen sehen. Einmal einfach nur die Gedanken hören, ohne dass sie vom Gewissen oder der Vernunft gefiltert und bearbeitet wurden.
 

„Wer sagt uns, dass jeder dort die Wahrheit sagt?“
 

Keine Frage, Annie hatte Recht. Schließlich könnten wir doch auch einfach einen Trittbrettfahrer unter uns haben, der von der Sache Wind bekommen hat und sich sonst was ausgedacht hat, um bei uns mitzumischen. Und was war eigentlich mit Mikasa und Armin – die kannte ich so wie Eren auch nur flüchtig von der Uni, aber was war denen passiert? Seine Freunde konnte doch jeder anschleppen, oder? Wenn ich mit meinen ganzen Jugendlichen ankommen würde, die ich als Streetworker und Helfer kennenlernte, könnte ich eine eigene Ermittlungstruppe gründen und käme trotzdem nicht weiter.
 

„Annie, ich glaub sie sagen die Wahrheit. Wir sollten wirklich tun was Erwin sagt und schauen wo uns das hinführt.“
 

Was redete ich da? Ich hatte mir doch gerade selbst erklärt, dass Annie Recht hatte. Jedoch sagte irgendetwas in mir, dass diese Menschen dort nicht das Problem waren. So ein Gefühl – genau dasselbe Gefühl wie bei diesem Buch. Vertraut und doch so fremd.
 

„Wie du meinst Reiner.“
 

Lange mussten wir nicht auf den Bus warten. Als er seine Türen öffnete stiegen Annie und Berthold schon einmal ein. Ich kramte mit meiner Hand in meiner Tasche, um meine Geldbörse herauszuholen. Allerdings stoß meine Hand bevor sie die Geldbörse fand zuerst auf ein Buch…

Entschluss – Jean Kirstein

Gelangweilt ging ich einen Kurs nach dem anderen auf der Liste durch. Keines von diesen Themen sprach mich auch nur im Geringsten an:
 

- Psychologie: Begriffserklärung, Ursprung und Geschichte
 

- Methodenorientiere Evaluation des eigenen Verhaltens
 

- Professionelles Coaching
 

- Grundlagen der Parapsychologie
 

- Wirkung von Neurotransmittern
 

Wozu sollte der ganze Schwachsinn gut sein? Nyle konnte mir damals ganz sicher nicht helfen, weil er mir den Ursprung der Psychologie erklärte oder mir die Methoden der Evaluation näher brachte. Ganz sicher untersuchte er auch nicht die Wirkung von Neurotransmittern in meinem Hirn.
 

Was war mit den Dingen, die wirklich wichtig waren? Ursachen von Depressionen? Neurosen? Psychosen? Traumabewältigung? All diese Themen sind viel wichtiger im Alltag. Ich wollte Menschen helfen, so wie man mir half – und nicht irgendwelchen einsamen Bücherschreibern Geld in den Hintern schieben, indem ich mir ihre Theorien reinzog.
 

Doch ich musste mir leider eines dieser Themen aussuchen – schließlich sollten wir eine dreißigseitige Hausarbeit erstellen über eines davon. Für jedes Thema gab es 3 Pflichtvorlesungen, 2 optionale Vorlesungen und eine Praxisübung. Was man bei einer Begriffserklärung praktisch üben möchte, wusste ich zwar nicht, aber es war mir auch egal. Irgendwie ging mir alles gegen den Strich.
 

Ehrlich gesagt hätte man es auch ziemlich schwer gehabt mir ein Thema vorzulegen, welches mir wirklich zugesagt hätte. Nach dem Treffen vor zwei Tagen mit dieser „Selbsthilfegruppe“ hatte sich meine Laune drastisch verschlechtert. Eren und sein „Keller-Syndrom“, Berthold mit seiner Schizophrenie, und dieser Opa mit seinem Größenwahn.
 

Toll, wir hatten alle ein Problem.
 

Noch toller, jetzt hatten wir sogar einen Plan – bei dem sich unser großer Meister natürlich nicht eingeteilt hatte, da er ja unser nicht ernannter Anführer war. Als Anführer erledigt man keine Aufgaben oder was?
 

Dieser Erwin war mir nicht geheuer, aber immer noch lieber als das Arschloch – und dann steckte er mich doch tatsächlich mit ihm in ein Team. Seit Mittwoch hatte ich ihn nicht mehr getroffen und das war auch besser so, weil ich ihm wahrscheinlich sonst noch die Fresse poliert hätte, für den Spruch mit Marco am Montag. Nur bald müsste ich mich ja wohl mit ihm wieder abgeben, schließlich sollten wir ja wohl bis morgen ein paar Ergebnisse haben. Außerdem hätte ich nichts dagegen, wenn Annie mal meinen Laptop durchcheckt. Vielleicht hörte der Alptraum dann endlich auf.
 

In Hinblick auf die vergangenen Ereignisse sollte eigentlich klar sein, welches Gebiet ich für meine Hausarbeit auswählen sollte. Eine Vorlesung zum Thema Parapsychologie könnte ich ja beinahe schon selber halten. Andererseits würde ich dann möglicherweise ein bisschen mehr darüber erfahren warum dieser Psychopath das alles tat – oder wie. Scheiß auf den Keller, viel wichtiger war, wer dahintersteckte.
 

Nicht gerade begeistert trug ich mich in der Liste bei dem Thema „Grundlagen der Parapsychologie“ ein. Auf jeden Fall konnte ich bei diesen Vorlesungen Eren nicht begegnen, denn die Neurologen sind da nicht bei. Auch ein Grund warum meine Wahl darauf fiel.
 

Meine Vorlesung begann somit gleich um 11:30 Uhr im obersten Hörsaal. Auch noch Treppen steigen – ganz tolle Wahl hatte ich da getroffen. Und dann lief er mir auch noch über den Weg. Ich hätte heute einfach nicht herkommen sollen.
 

„Hallo Jean.“
 

„Hallo.“
 

„Weißt du wo Annie, Berthold und Reiner sind?“
 

„Seh ich aus als hätte ich sie an der Leine? Keine Ahnung, Junge.“ – Eren konnte auch nicht eine einzige Sekunde lang nachdenken.
 

„Du weißt schon, dass Erwin morgen Ergebnisse sehen will, oder?“
 

„Ja, das weiß ich. Nur ist er weder mein Vater, noch habe ich Zeit und Lust gehabt mich gestern mit einem von euch hinzusetzen und meinen Laptop auseinander zu nehmen. Wenn dir das so wichtig ist, dann geh doch allein zu Annie. Was ist eigentlich mit diesem Architekten? Von dem hat kein Arsch die Nummer, wie sollen wir uns mit dem in Verbindung setzen? Der ganz Plan ist sinnlos, wenn wir uns nicht einmal gegenseitig erreichen.“
 

Mich verwunderte selbst ein wenig, wie gesprächig ich heute war. Aber irgendwie musste das mal raus. Es kotzte mich einfach alles nur an. Wir schmiedeten tolle Pläne, wollten dieses und jenes, aber kannten teilweise nicht einmal den Nachnamen des anderen. Ich weiß sowieso nicht warum dieser Staatsanwalt auf einmal was zu sagen hatte. Nachdem mir nicht einmal die Polizei helfen konnte, war es doch sowieso sinnlos.
 

„Jean, ich weiß, dass du Angst hast, aber wir müssen zusammenhalten. Die Nummer könnten wir von Erwin bekommen – und es heißt ja nicht, dass immer das ganze Team auf einen Haufen sitzen muss. Erwin hat Mikasa und Armin auch in ein anderes Team gepackt und ich forsche trotzdem auch mit denen beiden weiter und ich denke, das läuft bei Annie, Berthold und Reiner nicht anders.“
 

Zusammenhalt.

Team.

Forschung.
 

Wo waren wir denn hier? Marketing? Militär? Selbsthilfegruppe für Fantasiebewältigung? Es war einfach nur kompletter Schwachsinn, den Eren da von sich gab. Und so langsam verlor ich auch die Geduld mit diesem Bengel. Ich verlor die Geduld mit dem allem hier.
 

Wütend ging ich auf ihn zu, packte ihm am Kragen und drückte ihn gegen die Wand.
 

„Jetzt hör mir mal zu, Kleiner! Mir reicht’s endgültig mit dieser Psycho-Nummer! Deine Alpträume oder kranken Nachrichten sind mir sowas schon scheiß-egal! Wahrscheinlich ziehst du mit deiner abartigen, pseudoheldenhaften Art diese Dinge sogar an. Aber ich will einfach nur mein Studium durchziehen, mit meinen Freunden in Ruhe leben und meinen geliebten Cousin endlich in Frieden ruhen lassen, okay?! Und deswegen könnt ihr euren blöden Plan mit euren Teams und Aufgaben sowas von vergessen! Annie kann sich gern mein Laptop ansehen – jedoch nicht weil der blonde Opa mein Boss ist, sondern weil sie eine Freundin ist, die vielleicht dafür sorgen könnte, dass dieser Spuk endlich ein Ende hat!“
 

Hatte ich den Anfang noch sehr laut und eher brüllend begonnen, so endete meine Ansage doch eher mit trauriger, ruhiger Stimme und ich hielt meine Tränen zurück. Verdammt, ich konnte doch schon so viel ertragen. Zu viel. Marco.
 

Erens erschrockene Augen, starrten mich in dem intensivsten Grün an, welches ich jemals gesehen hatte. Anscheinend hatte ihn das wohl wirklich erreicht, denn es kam nichts von ihm. Kein Wort, keine Geste, er schlug nicht einmal meine Hand weg.
 

Immer noch aufgeregt atmend ließ ich ihn los und machte mich auf dem Weg in den Hörsaal. Ich dürfte jetzt bereits schon einige Minuten zu spät sein.
 

Das letzte Umdrehen sparte ich mir. Er musste endlich einmal verstehen, dass ich das alles nicht mehr wollte. Vielleicht war ich nicht geschaffen für so einen Job. In den letzten Tagen habe ich tatsächlich ernsthaft überlegt meinen Therapeuten Nile anzurufen. Aber sollte ich ihn wirklich auch noch einweihen?
 

Wie erwartet. Die Vorlesung hatte bereits begonnen.
 


 

„Sicher fragen Sie sich: Warum sollten wir was über Parapsychologie erfahren? Ist das nicht nur ein Aberglaube? Aber ich sage Ihnen: Alles was unsere Psyche beschäftigt, hat Einfluss auf unsere Stimmung und unser Verhalten – somit sollten Sie ihren Patienten verstehen, wenn er Ihnen von Dingen erzählt, die auf Sie vielleicht unglaublich wirken. Sie sollten - “
 

Erst jetzt schien der kauzig aussehende Dozent mich zu bemerken und hielt tatsächlich eine kurze Zeit inne. Wieder einmal schaffte ich die Aufmerksamkeit aller Stunden auf mich zu lenken. Darin schien ich echt talentiert.
 

Kommentarlos setzte ich mich hin und wartete auf die Fortführung seinerseits.
 


 

„Nun gut. Zum Glück gehört Unpünktlichkeit nicht zu den Dingen, die man heutzutage als kurioses Ereignis bezeichnen könnte, denn dann müssten wir jetzt schon mit Therapiemethoden beginnen.“
 

– großes Gelächter brach aus. Ach, kommt Leute – der war wirklich schlecht!
 


 

„Fahren wir nun fort. Also Parapsychologie ist ein breit gefächertes Thema. Sie werden sich bei Ihrer Ausarbeitung in den nächsten drei Wochen auf zwei Schwerpunkte festlegen müssen. Die relevantesten Bereiche sind Hellsehen, Wahrsagerei, Telepathie, Psychokinese, Geistererscheinungen und Reinkarnation. Jeden der sechs Bereiche werden wir in den nächsten zwei Stunden kurz anschneiden, damit Sie Ihre Wahl fundiert treffen können. Die nächsten Vorlesungen werden dann allgemein so gehalten, dass alle Inhalte auf die sechs Bereiche angewendet werden können. In den zwei optionalen Vorlesungen wird es um die Themen Hellsehen, Wahrsagerei und Reinkarnation gehen, da diese doch sehr breit gefächert sind und gerade beim Hellsehen und der Wahrsagerei oft Missverständnisse auftreten.“
 

Hmm. Irgendwie klang der Kram ja gar nicht mehr so uninteressant. Ob das der Schlüssel war zu den Antworten auf die Fragen, die ich mir stellte? Verdammt, warum dachte ich schon wieder an diese Sache? Mein Blick wanderte auf meine rechte Hand. Ich hatte heute Morgen meinen Ring auf dem Küchentisch vergessen. Das war mir zuvor noch nie passiert. In diesem Moment hatte nichts ich von Marco. Marco – könntest du mir helfen?
 

Die nächsten Minuten vergingen ziemlich schnell und jedes der Themen hatte seine eigene, faszinierende Besonderheit. Vorhin dachte ich noch ich könnte mich nicht entscheiden, weil mit nichts zusagen würde. Nun war eher das Gegenteil der Fall. Notizen hatte ich mir auf meinem Block gemacht. Den Laptop wollte ich vor einer Überprüfung nicht mehr benutzen.
 

Für eine kurze Zeit hatte ich sogar den Streit mit Eren vergessen. Dieses Arschloch konnte mich leider auch so dermaßen aufregen, dass ich jegliche Beherrschung verlieren musste.
 

Als ich aus dem Hörsaal rauskam, konnte ich Annie auf der anderen Seite der Halle entdecken. Mich wunderte es, dass sie dort allein stand, aber vielleicht wartete sie einfach auf die anderen beiden. Mir viel zum ersten Mal auf, wie hübsch sie doch eigentlich war. Oh man, nicht der richtige Moment für sowas.
 

„Hi Annie, wie geht’s dir?“
 

Sie brauchte einige Sekunden um zu reagieren, doch dann widmete sie mir tatsächlich ein leichtes Lächeln.
 

„Hallo Jean, ganz gut und dir?“
 

„Naja, bisschen Stress. Wollen wir uns vielleicht nachher mal treffen, damit du dir mal meinen Laptop anschaust? Also nur wenn du Zeit hast.“
 

„Klar kein Problem. Reiner und Berthold sind auch gleich hier und wenn du heute keine weiteren Vorlesungen oder Termine mehr hast, könnten wir gleich los, denn wir sind für heute auch durch.“
 

Merkwürdig. Irgendwie war sie aufgeschlossener als vorher. Aber das gefiel mir. Wenigstens eine Person mit der man sich normal unterhalten konnte.
 

Kurz nachdem sie ihre Worte ausgesprochen hatte, kamen auch schon Reiner und Berthold zu uns, begrüßten mich freundlich und waren von der Idee ebenso begeistert wie Annie. Warum waren Eren und seine Freunde nicht so cool wie die drei?
 

Weit hatten wir es zum Glück nicht. Den ganzen Weg über schwiegen wir uns allerdings an. Naja zumindest versuchten Annie und Berthold das wohl, denn Reiner musste jedes Mal etwas sagen, wenn es mal etwas länger still war. Ich glaube, er mochte die Stille nicht.
 

Im Gegensatz zu Reiner, der seine Jacke und Tasche einfach in die Ecke warf, setzte ich mich gepflegt auf das bequeme Sofa, nachdem wir in der kleinen WG angekommen waren. Die Wohnung war nicht groß, immerhin war alles da, was man brauchte. Unsere WG war wesentlich größer, aber das allein schon, weil Sasha für ihre Klamotten eigentlich ein eigenes Zimmer bräuchte. Während Annie schon einmal den Werkzeugkasten und ihr eigenes Notebook bereitstellte, schaute ich mich etwas um und konnte aus dem Zimmer nebenan Reiner und Berthold rufen hören.
 

„Berthold, geh runter man!“
 

„Kommt davon wenn das erste Ziel nach jeder Ankunft das eigene Bett ist!“
 

„Musst ja nicht immer gleich auf mich drauf springen!“
 

„Dann muss ich ja Angst haben, dass ich dich heute nicht mehr zu Gesicht bekomme, weil du eitles Kind die ganze Zeit im Bad verbringst.“
 

„ICH benehme mich nicht wie eine Bärbel!“
 

Oha, die waren zu Hause ja echt anders. Das gefiel mir. Meine WG und die drei würden sich sicher gut verstehen. Wir waren alle ein wenig verrückt. Doch ich konnte Conny und Sasha nicht ins Spiel bringen, denn sie sollten nichts von dem Kram erfahren – das könnte sie nur gefährden.
 

„So Jean, darf ich mal dein Notebook sehen?“ – Annies Frage weckte mich aus meinen Gedanken so plötzlich, dass ich erstmal verdutzt zu ihr schaute, bevor ich reagierte.
 

„Klar, hier.“
 

Den Laptop aus der Tasche geholt, kam auch Berthold ins Wohnzimmer, während Reiner ins Bad lief.
 

„Annie soll ich erstmal alle Daten sichern, bevor du das Ding untersuchst?“ - Annie kicherte erst seltsam, bevor sie antwortete.
 

„Klar lass einmal das Copy-Tool und das Code-Programm drüberlaufen.“
 

„Gut – soll ich ein komplettes Image machen?“
 

„Nee, reicht wenn du die Mailbenutzerdatei kopierst.“
 

„Okay.“
 

Ich verstand nur Bahnhof. Die beiden hantierten an meinem Notebook rum, als täten sie den ganzen Tag nichts anderes. Ich verriet Berthold mein Passwort und er logte sich ein, ließ tausende Programme laufen mit noch mehr Fenstern wo er nur am Klicken und Tippen war. Das war mir definitiv zu hoch.
 

„Also die Mails hab ich gefunden – von "Bott.Marco@yahoo.com", richtig? Was war da noch?“
 

„Ja. Ein Bild musste noch irgendwo als Anhang einer Mail sein.“
 

„Hier ist keine Mail mit Bild.“
 

„Was?!“
 

Ich schnappte mir panisch meinen Mini-PC und bemerkte, dass die Mail tatsächlich fehlte. Aber wie kann das sein? Hatte Eren, dieser Penner, die Mail etwa gelöscht? Ich raste aus!
 

„Ich weiß nicht, warum es nicht mehr da ist. Es zeigte halt mich…tot…“ – ich schluckte kurz. Der Raum war auf einmal nur noch vom Rauschen der Notebooks erfüllt. Mein Blick wanderte auf den glatten, hellbraunen Parkettboden, der mir allerdings nur wieder dieses Bild vor Augen führte. Hoffentlich musste ich es nicht beschreiben.
 

„Hab ich aufgeschrieben – sollen ja schließlich alles dokumentieren.“ – mit diesen Worten brach Berthold das Schweigen und sorgte dafür, dass ich sofort wieder nach vorn schaute. Es reichte ihm meine Aussage? Unendliche Dankbarkeit machte sich in mir breit.
 

„Dann machen wir mal weiter – Annie du kannst jetzt anfangen, hab alles Wichtige gesichert.“
 

Annie ließ erst einmal ein Virenprogramm laufen, klickte dann noch ein bisschen hin und her und legte dann noch eine CD ein, aber ich hatte keine Ahnung was darauf war. Anschließend fuhr sie den Laptop runter, baute die Festplatte aus und setzte sie in ihr Notebook ein.
 

„Log dich mal bitte ein!“
 

Ich hatte mich eingeloggt, mein Mailprogramm geöffnet und hatte genau dasselbe Bild wie immer.
 

„Versuch mal bitte ihm zu schreiben.“
 

„Was?! Bist du verrückt?“
 

„Ich will testen, ob es jetzt geht. Deine Festplatte ist wie neu, ohne etwas gelöscht zu haben – wenn der Virus nicht auf der Festplatte war, dann dürftest du jetzt keine Nachrichten mehr von dieser Person empfangen können bzw. ihr Mails senden können.“
 

Ich versuchte es. Folgende Fehlermeldung erhielt ich nachdem ich eine Nachricht mit dem Inhalt „Hi“ an besagte E-Mail-Adresse sendete:
 

Unknown destination: "Bott.Marco@yahoo.com"; contact your adiminstrator to connect or remove from blacklist!
 

Anscheinend hatte das was Annie getan hatte – egal was es war – funktioniert. Ich hoffte nur, dass ich jetzt auch nichts mehr empfangen würde.
 

„Danke Annie. Aber was ist mit WhatsApp, Facebook, SMS oder dem ganzen Kram?“
 

„Ich kann dir eine App auf dein Handy laden, dass du nur noch Nachrichten per WhatsApp/SMS erhälst, wo du die Nummer zurückverfolgen kannst. Wenn du dann solche Nachrichten erhälst, können wir ihn per GPS orten.“
 

„Das wär klasse!“ – wow, sie konnte mir tatsächlich helfen! Endlich jemand, der wirklich was unternahm und nicht nur redete. Inzwischen war auch Reiner wieder im Raum. Er werkelte mit Berthold an seinem PC rum – wahrscheinlich überspielten sie meine Daten und schrieben die Dokumentation.
 

Es war nicht viel, was sie für mich taten, aber ich fühlte mich so unglaublich befreit und sicher. Als könnte ich endlich Schluss mit allem machen. Eigentlich sagt man ja, um etwas zu beenden muss man wissen, wie es angefangen hat. Jedoch ging es wohl auch so – denn warum das alles angefangen hat, wusste ich bis heute noch nicht. Könnte ich es noch herausfinden?
 

Eine Weile beobachtete ich die drei um mich herum. Annie trug wohl auch fast immer dasselbe Haargummi – eine schöne braune Farbe hatte es – fast wie Reiners Armband mit den silbernen Nieten, welches er immer trug. Berthold hatte auch etwas, an dem man ihn erkennen konnte – sein kleiner blauer Stein im rechten Ohr passte wirklich gut zu seinem schwarzen Haar.
 

Was war bloß los mit mir? Warum achtete ich plötzlich auf solche Kleinigkeiten? Der Vortrag über Parapsychologie war mir wohl gar nicht bekommen. Aber auffällig war es schon – jeder mit seinem ganz persönlichen Gegenstand. Nur ich hatte meinen heute vergessen.
 

Dieser Sache wollte ich nachgehen. Doch noch sollte niemand davon wissen – wie genial wäre es denn, wenn ich am Ende derjenige wäre, der allen die bahnbringenden Erkenntnisse brächte, die nicht nur mir, sondern allen ein unbeschwertes Leben ermöglichen würden?
 

„Wo sind eigentlich Eren und dieser Levi?“, fragte Reiner unerwartet.
 

„Keine Ahnung. Eren hatte ich vorhin in der Uni getroffen, aber naja – sagen wir es so – er sieht die Dinge etwas anders als ich und dieser Levi ist mir schnuppe. Ich hab nicht mal die Nummer von dem Typen und der wirkte auch nicht gerade wie jemand, der sich ehrenamtlich in Vereinen rumtreibt, wenn ihr versteht was ich meine.“
 

Unverständlicherweise hatte ich Reiner gegenüber das Gefühl zu erklären, warum ich allein hier war. Dabei gehörte er ja nicht mal zu unserem Team – und Annie schien es auch nicht zu stören. Verdammt, ich dachte ich auch schon in diesen blöden Teams. Es war doch völlig egal wer was mit wem machte – Hauptsache es wurde irgendwann mal geklärt und ich musste nicht noch mehr Leute mit reinziehen.
 

„Naja, euer Ding. Berthold und ich haben schon mal ein bisschen dokumentiert, doch wenn von Eren oder diesen Levi keine Infos kommen, können wir nichts aufschreiben. Und Armin und Mikasa werden ja wohl zu Eren halten. Bin mal gespannt, ob dieser Mike euch helfen wird.“
 

Achja, dieser Anwalt. Der gehörte ja auch noch zu uns.
 

„Berthold hattest du den nicht am Montag gesucht? Wie ist der denn so?“, mein Interesse verwunderte mich selbst.
 

„Ich find' ihn echt nett, schließlich hat er mir sofort geglaubt und mir geholfen.“
 

Nun gut, wenn ein Anwalt einem dahergelaufenen Typen, der erzählt, er habe unwissentlich seine Freundin bedroht und seinen besten Freund abgestochen, sofort Glauben schenkt, dann konnte man das sicher auf unterschiedliche Weise deuten.
 

„Okay, gut zu wissen.“, gab ich nur zurück, um Berthold nicht zu kränken. Ehrlich gesagt war es mir auch egal, ob dieser Anwalt uns hilft.
 

„Es ist schon 17:00 Uhr ich sollte langsam wieder nach Hause.“ – eigentlich wäre ich gern noch viel länger geblieben, aber dann hätte ich mich nur zu sehr an eine Situation gewöhnt, die mir nicht oft geboten wurde.
 

„Okay, ich hoffe du hast jetzt keinen Stress mehr – wir sehen uns dann morgen zum Meeting!“, sagte Reiner mit einem Zwinkern, das mir vermitteln sollte, dass er die Sache zwar ernst nahm, allerdings ebenfalls die ironisch-absurde Seite dieses Planes deutlich sehen konnte. Bei mir überwog leider diese Seite und meine Ernsthaftigkeit konnte ich diesem Mann nun wirklich nicht schenken.
 

Mit einem „Bis dann“ die Tür hinter mir verschlossen, machte ich mich auf den Weg. Ich entschied mich dazu mit der S-Bahn von der Uni aus zu fahren, denn das war zeitlich für mich kürzer, da ich sonst einmal umsteigen müsste, wenn ich den Bus von hier direkt nähme.

Nachdem ich meinen MP3-Player angeschaltet hatte, ging ich gemütlich und irgendwie gut gelaunt den nicht besonders langen Weg entlang.
 

Flames to dust

Lovers to friends

Why do all good things come to an end?
 

Ich mochte das Lied und es hob meine Stimmung ungemein, auch wenn es durch die wahren Aussagen in Traurigkeit getränkt war.
 

Für meine gute Laune gab es auch noch einen anderen Grund. Schließlich hatte ich jetzt sogar eine eigene Aufgabe für mich selbst gefunden. Ich wollte auch etwas tun, den Leuten helfen, die mir halfen. Irgendwie war das schon seltsam – wollte ich doch heute morgen noch so weit wie möglich Abstand von alledem halten, sah ich es nun – nachdem Annie all ihre Kenntnisse für mich einsetzte – beinahe als meine Pflicht auch all meine Kenntnisse einzusetzen, um ihnen zu helfen. Und wenn es nur das war, was ich aus dem Studium lernte. Außerdem wollte ich auch den anderen zeigen, dass ich mehr konnte, als jeder von ihnen vermutete. Nur weil Eren den Schlüssel besaß, hatte er noch lange nicht meine Entschlossenheit!
 

Langsam stieg ich die Stufen zum den S-Bahn Gleisen hinauf. Ein kalter Wind kam mir entgegen, doch nichts konnte mich aufhalten.
 

Sie werden schon sehen…

Begegnung - Levi

Erfahrung ist das was bleibt, wenn man nichts mehr hat.
 

Ich stellte keine Fragen mehr. Auf Fragen erwartet man Antworten – da es allerdings nicht auf jede Frage eine Antwort gibt, könnte es sein, dass man genau einer dieser Fragen erwischt, die keine Antwort aufweisen konnten und man wird enttäuscht. Viel mehr noch. Vielleicht versucht man selbst die Antwort zu finden und vergisst alles andere um sich herum. Erwin wollte immer eine Antwort. Deswegen stellte er Fragen.
 

Erwin wollte alles erklären können – dieses Treffen, dieser Plan. Alles nur verzweifelte Versuche, einem unsichtbaren Gefängnis zu entkommen. Keiner wusste wo die Gitter anfingen oder endeten, somit bewegten wir uns in diesem Bereich und dachten wir seien „frei“, bis schließlich doch jemand gegen das Gitter knallt und seine Grenzen gezeigt bekommt. Ich war bereits gegen dieses Gitter gelaufen. Mich in das Team der Recherche zu stecken war reinste Schikane – vor allen Dingen, weil ich mit diesen nichtsnutzigen Kindern zusammenarbeiten sollte.
 

Andererseits war Erwin nicht der einzige Mensch, der immer eine Antwort brauchte. Der Psychiater im Krankenhaus war genauso – seine Antwort auf die Frage, was denn mit mir los sei, war paranoide Schizophrenie. Zwei Fremdwörter aneinander gereimt, ein paar Symptome aufgezählt und schon hatte man eine psychische Krankheit. Die Menschen machten es sich wirklich einfach.
 

„Der Druck in Ihrem Beruf hat Ihnen äußerst zugesetzt. Ihr Misserfolg projizieren sie auf ihr Spiegelbild, weshalb sie Halluzinationen bekamen. Als Ihr Kollege bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, war das für Sie ein emotionaler Super GAU, der am Montag schließlich – nachdem sie auch noch Ihren Arbeitsplatz verloren hatten – zu einem völligen Nervenzusammenbruch führte. Ihr Freund, Herr Erwin Smith, beschrieb Ihre Symptome sehr genau, sodass es sich bei Ihnen um eine paranoide Schizophrenie handelt. Dabei entstehen Dinge in Ihrem Kopf, die nicht existent sind, aber für sie real, belastend und sichtbar. Aber bitte machen Sie sich keine Sorgen – das kann man behandeln. Wir werden Ihnen helfen.“
 

Der Typ im Spiegel war eine Einbildung, der Fahrstuhl ist zufällig hochgeflogen und runtergefallen und ich hatte nicht selbst gekündigt, sondern hab meinen Arbeitsplatz „verloren“ - aha, ist klar.
 

„Wir behandeln Sie mit Diazepam – ein Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine. Es wirkt angst-, krampf- und spannungslösend; ist dementsprechend sehr stark und es besteht akute Gefahr der Abhängigkeit bei zu langer Anwendung. Sie haben doch keinerlei Vorbelastungen zum Thema Abhängigkeit, oder?“
 

Oh oh. Das wird Erwin nicht gefallen.
 

Ich schüttelte auf seine Frage hin den Kopf.
 

„Sehr gut. Wir haben auch keine Drogen oder Alkohol Rückstände in ihrem Blut feststellen können. Gehen Sie bitte verantwortungsbewusst damit um – hier erhalten Sie 30mg täglich – das entspricht drei Tabletten á 10mg. Sobald Sie am Mittwoch entlassen werden, nehmen Sie bitte eine Tablette täglich – am besten abends. Diazepam wirkt sehr einschläfernd, es kann sein, dass Sie sich am nächsten Tag etwas gerädert fühlen. Sollten irgendwelche Unannehmlichkeiten auftreten, melden Sie das bitte sofort – wir werden versuchen, es langsam weniger werden zu lassen, sodass eine Behandlung mit Diazepam innerhalb von drei Wochen abgeschlossen werden kann. Bitte trinken Sie in dieser Zeit keinen Alkohol und nehmen Sie nie mehr, als Sie benötigen.“
 

So viel zu dem Gespräch, als ich Montagabend die Ergebnisse meiner Untersuchungen erhielt. Bis mich Erwin am Mittwoch abholte, wurde ich mit diesem Zeug vollgepumpt und ich muss sagen, es beruhigte mich wirklich. Ich fühlte mich so entspannt und äußerst schläfrig. Dienstag habe ich fast nur geschlafen und Mittwoch war ich immer noch entspannt, sogar als Erwin so panisch angerannt kam und von irgendeinem Anruf quatschte.
 

Wie es sein konnte, dass Erwin angerufen wurde, ohne dass ich etwas getan hatte, konnte ich jedoch nicht erklären. Ebenso wenig die anderen kuriosen Ereignisse – oder dieses Ding im Spiegel. Wie gesagt, ich fragte nicht mehr.
 

Seit dem Treffen am Mittwoch hatte ich Erwin nicht mehr getroffen, da ich die ganze Zeit viel zu müde war und gestern noch zu meinem neuen Therapeuten musste. Natürlich erzählte ich Erwin nichts von diesem Zeug – wenn er erfahren würde, dass ich wieder etwas nahm, würde er mir wahrscheinlich den Kopf abreißen. Er könnte nicht verstehen, dass ich das brauchte, um nicht vollkommen durchzudrehen. Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber hatte – er hatte mir damals mit allem was er hatte beigestanden und nun belog ich ihn. Aber ich wollte es ja auch nicht zu einer Abhängigkeit kommen lassen. Nur ein paar Tage – bis der Typ im Spiegel entweder verschwindet oder mir egal wird…
 

Heute war Freitag und mein neuer, toller Therapeut hat mir ein Vorstellungsgespräch für 10:00 Uhr organisiert. Ich hasste diesen Typen. Nile Dok – ein abartig schmieriger Typ, dessen Oberflächlichkeit als ansteckend eingestuft werden müsste. Er meinte mich komplett analysiert zu haben, da ich so leicht zu durchschauen war. Ein paar Sitzungen und meine „postpubertären Anwandlungen“ seien Geschichte. Tja, wenn er das meinte.
 

Jedenfalls sollte ich mich bei einem großen Unternehmen vorstellen – in einer der angrenzenden Städte: Aipotu. Mit der Bahn brauchte ich 45 Minuten dorthin und musste sogar noch etwas durch die Stadt gehen. Eine sehr lange Straße, zugestopft mit unzähligen Klamottenläden und Fast Food Restaurants. Menschenmassen strömten unkoordiniert durch die Straßen, viele kleine Tüten in der Hand, teilweise aufgebrezelt wie Nutten oder aber verwahrlost wie Penner. Auf der linken Straßenseite standen Vertreter einer internationalen Zeitschrift, die belustigt und überzeugt ihre gedruckten Blätter in die Luft hielten. Auf einem der riesigen Plakate, konnte man den Satz „Gibt es auch in ihrer Sprache!“ groß aufgedruckt sehen.
 

Was waren das bloß für Idioten? Wenn deutsch nicht meine Sprache wäre, verstände ich auch den deutschen Hinweis nicht, dass ebenfalls noch andere Sprachen verfügbar waren. Unglaublich.
 

Die Stadt war voller Dinge, die ich einfach nur belächeln oder mit der Nase rümpfend ignorieren wollte. Hier sollte ich demnächst arbeiten? Abartig.
 

Nachdem ich nach gefühlten zwanzig Jahren das Gebäude endlich erreicht hatte, trat ich ein und meldete mich beim Empfang. Ich wurde in einen Warteraum geschickt, fast wie in einer Arztpraxis. Pünktlich war ich allerdings noch – es war 9:53 Uhr.
 

In diesem Raum lief leise das Radio. Auf ablenkende Musik hoffend, starrte ich die geschmacklosen Bilder in diesem Raum an. Das sollte ein Architekturbüro sein? Was hatten dann Bilder von Landschaften an der Wand zu suchen? Ein Frühlingsbild mit spielenden Kindern, ein sommerlicher Strand mit Urlaubern und ein winterlicher Wald, in dem sich Tiere versteckten. Irgendwie verspotteten sie sich selbst. Die moderne Architektur hatte doch wirklich nichts mehr mit Natur zu tun.
 

Das Radio war ebenso enttäuschend wie diese Bilder – es kamen nur Nachrichten.
 

„Die kurz-vor-News – heute mit Ian Dietrich.
 

Guten Morgen – unsere Themen:

Die Explosion der Boutique in Comforting – Nachdem die Ursache für die Explosion der Boutique in Comforting am Montag vorerst unklar war, konnte nur herausgefunden werden, dass zuvor Sprengstoff außen an das Gebäude angebracht wurde. Es handelte sich dabei um eine zeitliche gesteuerte Bombenkette. Verdächtige sind noch nicht bekannt. Es starben vierzig Menschen, dreizehn wurden verletzt. Die Zeugenaussagen werden momentan ausgewertet. Man vermutet, dass dieses Ereignis als Terroranschlag einzustufen ist.
 

Neue Studentenregelung innerhalb des ganzen Landes – zukünftig sollen Studenten innerhalb des ganzen Landes, wenn sie einen bestimmten Schnitt erreichen, einen Rabatt auf die Studiengebühren erhalten. Inwieweit der Rabatt zu staffeln ist und welche Leistungen notwendig sind, ist momentan noch unklar.
 

Plötzlicher Einsturz des Einkaufszentrums – gestern Abend stürzte in Aipotu plötzlich das Einkaufszentrum „DeinDeal“ am Rande der Stadt ein. Dieses Einkaufszentrum war erst neu gebaut worden. Nach einigen Untersuchungen konnten Baumängel und grundlegende statische Fehler festgestellt werden. Momentan wird noch ermittelt, wer für den Bau verantwortlich war. Sechs Menschen starben, vierundzwanzig wurden verletzt.“
 

Gott – was war mit dieser Welt los? Ich blickte gleichgültig in die Richtung des Radios – so viele Informationen und keine davon war auch nur annähernd erheiternd. Hätte ich meine Tabletten gestern Abend nicht genommen, würde mich dieser ganze Kram wahrscheinlich ziemlich mitnehmen. Aber es war mir egal –obwohl ich von der ersten Meldung selbst betroffen war. Eigentlich hätte ich sogar als Zeuge aussagen sollten, aber Erwin meinte, er hat alles Notwendige schon erledigt, ich sollte mich damit nicht belasten. Diese Worte, die Ereignisse – vollkommen egal. Sie waren so leer und weit weg; als würde ich eine Geschichte lesen oder einen Film schauen. Einfach nicht real.
 

„Herr Ackerman, bitte folgen Sie mir.“
 

Der Aufforderung nachgekommen, trat ich in das spartanisch eingerichtete Büro, gab dem Chef die Hand und nahm nach seinem Angebot vor ihm Platz. Weißes Hemd, schwarze, gebügelte Hose und eine äußerst stark glänzende Krawatte, die gerade bis zur silbernen Gürtelschnalle reichte. Ich hatte mich angemessen gekleidet, aber es passte einfach nicht. Dieser heuchlerische Stoff schmiegte sich um meinen Körper, bedeckte diese blasse, kalte Haut, die nichts mehr fühlte. Mein Gegenüber wurde jedoch offensichtlich von dem Schein getrübt und sah mich in ähnlicher Garderobe lächelnd an.
 

„Herr Ackerman – haben Sie gut hergefunden?“
 

„Anscheinend, sonst wäre ich nicht pünktlich hier.“
 

Verdutzt starrte er mich an; hatte wohl mit dieser Antwort nicht gerechnet. Plötzlich wieder dieses falsche Lächeln.
 

„Sie scheinen ein lustiger Typ zu sein, das gefällt mir. Lassen Sie uns doch zu Ihren Kenntnissen kommen. Sie haben vorher in einem kleinen Architekturbüro gearbeitet, richtig? Haben Sie dort auch schon einmal Verantwortung für ein großes Projekt übernommen? Wir arbeiten hier in Teams und ein erfahrener Mitarbeiter, der auch bereit ist Verantwortung zu übernehmen, wäre äußerst von Nutzen.“
 

„Genau genommen gab es in meinem alten Betrieb kein großes Projekt.“
 

Schweigen breitete sich aus in diesem großen Raum. Kahle Wände starrten uns an, ein glatter Boden verschluckte jede Vibration. Die großen Fenster ließen das Tageslicht hinein und schienen direkt auf die vielen Unterlagen, die das einzige waren, was den großen schwarzen Schreibtisch bedeckte. Zusätzlich standen noch zwei Gläser Wasser auf dem Tisch.
 

„Nun gut, Herr Ackerman, dann frag ich Sie direkt – was möchten Sie mir denn über Ihre Fertigkeiten erzählen? Haben Sie Fragen über unsere Firma?“ – seine Hände waren vor ihm zusammen gefaltet und seine gesamte aufrechte Körperhaltung machte wieder einmal deutlich, dass ich ziemlich klein war. Ich hingegen hielt meine Hände auf meinen Oberschenkeln unter dem Tisch.
 

„Ich bin ein staatlich geprüfter Architekt – heißt ich habe das Studium erfolgreich abgeschlossen. Bis jetzt habe ich einige Gebäude entworfen, keine der Vorschläge wurden jedoch akzeptiert. Zu ihrer Fir-“
 

Oh nein. Er war wieder da. Dort – im Wasserglas. Leicht meinen Kopf schief gelegt, starrte ich ihn an, wartete auf seine Handlung. Dabei ignorierte ich die Nachfragen des Chefs bewusst.
 

Die Augen kalt und tot wie kleine graue Steine, die Lippen stumm und unbewegt. Der Ausdruck in seinem Gesicht glich dem Ausdruck einer Puppe. Ich hatte jedoch keine Angst. Seine rechte Hand zeigte auf die Unterlagen, die dort auf dem Tisch lagen. Meine Augen wanderten auf die schwarze Schrift, die so viele weiße Blätter schmückte. Aus dem einem Papierstapel hing ein Dokument aus, das aussah wie ein Vertrag oder so. Langsam drehte ich meinen Kopf noch mehr zur Seite um den Text des falsch herumliegenden Papiers zu lesen.
 

DeinDeal – Bauabnahme; Mängel beseitigt, Entgelt bezahlt
 

DeinDeal - Hatte diese Firma etwa das Einkaufszentrum bauen lassen? Mängel? Entgelt? Ich bin mir auch schon sicher, um was für ein dreckiges Geld es sich handelt.
 

„Herr Ackerman, was ist los? Sprechen Sie mit mir!“
 

Wieder schaute ich zu ihm ins Glas. Dieses Mal lächelte er überlegen und nickte. Meine Vermutung war also richtig. Ein leichtes Lächeln zierte mein Gesicht – es war ein ungewohnter Ausdruck, der sich wiederum nicht zurückhalten ließ.
 

„Verzeihung, ich wollte sagen: Zu Ihrer Firma habe ich keinerlei Fragen, denn die Fähigkeiten ihrer Architekten haben sich ja bereits beim Vorfall mit dem Einkaufszentrum gestern Abend gezeigt. Ich verzichte auf die Zusammenarbeit mit einem korrupten Pack wie Ihresgleichen - guten Tag!“, noch während ich den letzten Satz sagte, nahm ich meine Tasche und verließ den Raum und bald daraufhin auch das Gebäude.
 

Seltsam – dieses Mal hatte ich bewusst auf ihn gehört – dabei sollte er laut meinem Therapeuten eigentlich gar nicht mehr da sein. Doch – wäre er nicht gewesen, hätte ich erneut einen folgenschweren Fehler begannen. Er war vielleicht gar nicht mein Feind…oh gott…da sprach wahrscheinlich das Diazepam aus mir. Allerdings machte es viele Dinge einfach einfacher.
 

Heute musste Nile noch nicht wissen, ob das Gespräch gut verlief - das könnte er auch Montag erfahren. Also hatte ich jetzt Zeit – es war 10:22 Uhr. Ich fuhr zurück nach Comforting in der Hoffnung vielleicht einen dieser Studentenbälger zu finden – schließlich wäre Erwin morgen echt not amused, wenn von mir wieder mal keine Rückmeldung kommt. Auch wenn mir dieser ganze Plan zuwider war; Erwin wusste schon was er tat. Zumindest ging ich immer davon aus.
 

Ausgestiegen an der Uni-Station, stand ich gegen 11:35 Uhr vor der Uni. Ob ich einfach warten sollte? Aber wie sagt man so schön: Zu dem, der immer wartet, kommt gewöhnlich alles zu spät.

Entschlossen im Gebäude einen der Studenten zu suchen, lief mir doch tatsächlich direkt dieser Eren erneut entgegen. Er schien ziemlich wütend und leicht verstört, aber um einen erneuten Zusammenstoß vorzubeugen, sprach ich ihn direkt an.
 

„Hallo Eren.“ – verdutzt blieb er vor mir stehen.
 

„H-hallo Levi, ähm, wie geht’s?“
 

„Dein Ernst? Hast du schon dein Handy untersuchen lassen?“ – Smalltalk wäre wirklich zu viel des Guten.
 

„Was? Äh, nein, ich wollte mit Jean reden, aber der hat irgendwie keine Lust auf das alles und dich konnten wir ja nicht erreichen – so dachte ich, ich treffe mich erstmal mit Armin und Mikasa.“
 

Ohne auf seine Aussage zu reagieren, trat ich näher heran und griff nach dem Schlüssel, den er um den Hals trug. Ich schaute ihn mir nur kurz an und ging wieder einen Schritt zurück. Eren beobachtete das Geschehen regungslos. Ich weiß nicht, ob ihn meine Handlung oder meine durchaus übertriebene Kleidung so aus der Fassung brachte.
 

„Du kannst dich gern mit deinen Freunden treffen, allerdings solltet ihr anstatt rumzublödeln nach dem Keller suchen. Dieser Schlüssel ist ein sehr alter Schlüssel; nur ein Schloss eines sehr alten Gebäudes bzw. Raumes passt dazu.“ – ich überlegte kurz und schaute ihm in seine grünen, leuchtenden Augen – „Mir fallen spontan nur der Keller unserer alten Bäckerei, die ehemalige Kammer für Kriegsgefangene im anderen Stadtteil oder der unterirdische Lagerraum des Museums ein. Allerdings bin ich nicht über alle alten Bauten informiert, kann sein, dass es noch mehr aus diesem Zeitalter gibt – sobald ich die Unterlagen von Mike habe, kann ich dir mehr dazu sagen.“
 

Eren schwieg. Was sollte das? Hatte er das etwa nicht erwartet? Es diente der Sache – keinen anderen Grund gab es für mein Handeln – naja, vielleicht noch das Beruhigungsmittel, aber ich konnte ja nicht alles auf diese blöde Gammlerdroge schieben.
 

„Na gut, wir sehen uns morgen.“, sagte ich noch, da von ihm anscheinend nichts mehr kam. Zum ersten Schritt angesetzt, packte mich Eren am Arm und hielt mir sein Handy unter die Nase.
 

„Deine Nummer, Levi. Damit wir dich erreichen können.“
 

Widerwillig speicherte ich meine Nummer in sein Handy und ließ das breit grinsende Gör allein zurück. Meine anfängliche Euphorie einen der Bälger zu treffen hatte sich plötzlich in pure Anspannung verwandelt und ich spürte wie meine Beine schwerer wurden. Bewegung. Ich brauchte definitiv Bewegung.
 

Da fiel mir doch glatt noch was ein. Heute war Freitag – bis 18 Uhr liefen die Proben im Zirkus. Dort bekäme ich definitiv Bewegung. Kurz entschlossen fuhr ich nach Hause, holte die Karte, die mir Erwin damals gab und machte mich, nachdem ich mir wieder erträgliche Klamotten – bestehend aus Jeans und Hoodie – anzog, auf dem Weg zu diesem neuen Zirkus in der Stadt. Ich hatte sowieso nichts zu verlieren.
 

Ein großes Schild hing über dem großen, gelben Zelt, aus dem gut hörbar Musik schallte. „Circus Maria“ stand in Großbuchstaben und rot-schwarzer Schrift über der äußeren Fassade. Gewebestarke PVC-Planen bildeten das Dach. Ich näherte mich dem Eingang, wurde aber sofort von einem großen blonden Typen aufgehalten.
 

„Hey Kleiner, was willst du? Heute ist keine Vorstellung mehr!“
 

„Ich wollte mich hier bewerben.“
 

„Sucht der Zirkus etwa Kobolde? Ich glaub hier ist kein Job für dich, Kleiner!“
 

„Lassen Sie mich mit dem Chef reden.“
 

„Hier gibt’s keinen Chef, sondern eine Chefin und die hat sicherlich Besseres zu tun.“
 

Kurz bevor ich aufgrund der Unhöflichkeit, die dieser Typ an den Tag legte, meine Haltung verlor und ihm eine klatschen wollte, mischte sich ein anderer blonder, großer Typ ein. Dieser war allerdings geschminkt wie ein Clown – wahrscheinlich war er auch ein Clown.
 

„Hey Dieter, lass‘ gut sein - ist doch schön, wenn wir Zuwachs bekommen. Komm‘ rein, ich bin Eld; Jongleur und Clown des Zirkus. Ich stelle dir mal unsere Chefin vor.“
 

In schnellen Schritten folgte ich ihm, warf diesem Dieter keinen einzigen Blick mehr zu. Bald schon kamen wir im Inneren des Zeltes an der Manege an. Bei diesem Zelt handelte es sich um einen Viermaster und dieser Zirkus verzichtete darauf vor dem Gradin Sturmstangen aufzustellen, um die Sicht zu verbessern. Wahrscheinlich stützten sie die Dachplane stattdessen mit zusätzlichen Seilen. Die Manege selbst war ellipsenförmig, war sehr breit und die Piste, die die Manege ummantelte, ca. 50cm hoch. Anscheinend probten gerade die Seiltänzer, denn oben konnte ich ein stark gespanntes Seil über dem Mittelpunkt des Zeltes erkennen. Außerdem war unten ein Auffangnetz aufgestellt.

Ein sehr schönes Zelt mit sehr guter Bauleistung hatte ich hier erwischt.
 

„Petra, wir haben hier einen neuen!“
 

Eine sehr kleine, junge Frau mit kupferfarbenen Haaren näherte sich mir; ein freundliches, sanftes Lächeln schmückte ihre Lippen.
 

„Guten Tag, ich bin Petra Ral, die Zirkusleiterin und Dompteurin. Und wie heißt du?“
 

Interessant wie schnell diese Leute hier beim „du“ waren – jedoch hielt ich mich zurück, einer schönen Frau meine Meinung zu sagen.
 

„Ich bin Levi, ein Freund hat mir diesen Zirkus empfohlen.“
 

„Ah, interessant. Gut Levi, freut mich, dass du hier bist. Hast du denn schon eine Vorstellung, welche Rolle du hier haben willst?“
 

„Ehrlich gesagt hatte ich noch nie eine Vorstellung davon, dass ich jemals in einem Zirkus eine andere Rolle als die des Zuschauers übernehmen würde…“
 

Sie lächelte leicht und griff nach meinen Schultern.
 

„Du bist mir einer – wir finden schon heraus was du gut kannst! Am besten bringt dich Eld erstmal in die Umkleide, da bekommst du andere Schuhe von uns, damit du dir hier nicht wehtust.“
 

Eld rückte seinen Zopf zurecht und ging mit einem „Folg mir“ voraus.
 

Irgendwie waren diese Menschen seltsam. Sie akzeptierten mich einfach schon als einer von ihnen, ohne dass ich etwas erklären oder zeigen musste. Vielleicht war es naiv – oder einfach nur Vertrauen. Sie vertrauten darauf, dass ich in ihr Team passen würde. Möglicherweise wird die Zeit hier ja doch nicht so schlimm – schließlich brauchte ich das Geld. Ich hoffte nur, dass ich durch dieses Zeug nicht eingeschränkt war.
 

In der Umkleidekabine angekommen, legte mir Eld ballarinaähnliche, weiße Schuhe auf die Bank.
 

„Das sind die kleinsten die wir haben – ich hoffe sie passen.“ – mit diesen Worten ließ er mich allein.

Die Schuhe angezogen starrte ich in den großen Spiegel, der in der Nähe der Tür hing. Was machte ich hier eigentlich? Ich stand etwas benebelt in einer Zirkusumkleide - in Weiberschuhen. Wie tief musste man dafür sinken?
 

Gerade als ich meinen Anblick nicht mehr ertragen konnte und mich zur Tür umdrehte, hörte ich ein leises, geflüstertes „Hey“ hinter mir. Diese Stimme…klang wie meine.
 

Etwas erschrocken drehte mich um, erblickte wieder mein Abbild. Grinsend hielt er einen Jonglierball in der Hand – dabei war kein einziger Ball in meiner Nähe. Immer wieder warf er in hoch und fing ihn, dabei stets mich fixierend.
 

Ich trat näher an den Spiegel; wartete ab. Hatte er gerade „Hey“ gesagt?
 

„Was willst du von mir?“ – jetzt fragte ich doch tatsächlich schon meine Spiegelung aus. Mit mir stimmte anscheinend wirklich etwas nicht. Er hörte auf den Ball zu werfen, musterte mich und zögerte einige Sekunden, bevor seine Lippen deutlich hörbare Worte formten.
 

„Du hast den Keller der Universität vergessen…“

Fehler - Erwin Smith

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Verrat - Reiner Braun

Was deine Feinde nicht wissen sollen, erzähle deinen Freunden nicht.
 

Mit einer Party hatte wohl keiner gerechnet. Allerdings stellte sich diese als gar nicht so schlimm heraus. Es gab gute Musik, genug zu Essen und ich erfuhr endlich einmal ein paar Details von den Erlebnissen der anderen. Allerdings hätte ich Erwin dafür umbringen können, dass wir drei zur Universität gelaufen sind, damit wir fast wieder vor der eigenen Haustür aussteigen konnten. Er hätte doch sagen können, dass er beinahe gegenüber wohnt. Klar, wir hätten es uns auch denken können, da Erwin und Hanji mir ja letzte Woche das Leben retteten, aber er hätte ja auch zu Besuch sein können. Ehrlich. Das war das einzige, was mich immer noch wurmte. Aber egal. Bis jetzt lief alles so, wie Berthold, Annie und ich uns das vorgestellt hatten.
 

Heute Morgen hatten wir drei uns vorgenommen, erst mit Informationen rauszurücken, wenn die anderen durch waren. Schließlich sollten sie uns gegenüber nicht im Vorteil sein. Allerdings einigten wir uns darauf nur das mit dem Buch und dem plötzlichen Ausraster von Berthold zu erzählen. Die Sache mit dem Film wussten die zwei selbst nicht wirklich genau und deswegen behielt ich sie vorerst auch für mich.
 

Seit einigen Minuten waren Eren und Erwin verschwunden. Auch Levi war schon ziemlich lange weg. Während Armin, Mikasa und Hanji in der Sitzecke irgendein Video schauten, lauschten Annie und Berthold nur der Musik. Mike schien ein wenig nervös – wusste er mehr?
 

„Hey Mike, sag mal, wo sind denn Eren und Erwin?“
 

„Ach die sind Jean abholen. Sind aber schon ziemlich lange weg, ich ruf Erwin gleich mal an.“
 

Jean abholen? Also hatte ich Recht. Er kam doch noch. Wenn auch zu spät – wahrscheinlich weil er sich erst noch zurecht machen musste. Oder sein Wecker krank war. Ich mochte Jean wirklich sehr gern, aber er konnte verdammt zickig sein – beim Treffen meinte er noch, dass er auf das alles keine Lust hatte und gestern hat er seinen Laptop bei uns checken lassen. Ganz schön launisch, der junge Mann. Wahrscheinlich sollte er mal eine Janine werden.
 

„Okay, ich geh mal kurz nach oben. Erwin hat sicher nichts dagegen, wenn ich auch mal kurz sein Bad benutze.“
 

„Geh ruhig. Levi ist ja noch oben, also brauchst du nur klopfen.“
 

Ich folgte den Treppen nach oben und las im ersten Stock den Namen Smith. Hier musste er also wohnen. Mit ordentlich Schmackes klopfte ich an die Tür – der gute Mann schien heute nämlich nicht gerade der Aufmerksamste zu sein und ich dachte, dass der Kleine mich sonst überhören könnte.

Unerwarteter Weise öffnete sich die Tür, die anscheinend nur angelehnt war. Hatte er die Wohnungstür einfach aufgelassen? War er wahnsinnig?
 

Leise ging ich in die Wohnung, sah mich kurz um und entdeckte lediglich ein sehr aufgeräumtes, modernes Wohnzimmer und eine äußerst geräumige Küche. Unsere WG würde hier dreimal reinpassen. Obwohl ich Erwins Einrichtung wirklich beeindruckend fand, interessierte mich doch wo Levi war – im Badezimmer konnte er nicht sein, denn die Tür dorthin war geöffnet. Wo hatte sich dieser Kerl versteckt?
 

Ich wollte erst nach ihm rufen, da ich mir ein wenig Sorgen machte – er schien nicht gerade wenig getrunken zu haben. Jedoch verwarf ich diesen Gedanken schnell wieder, denn wenn Levi etwas Illegales hier veranstaltete wäre es doch besser, wenn ich ihn auf frischer Tat ertappen würde.
 

Plötzlich vernahm ich aus dem hinteren Zimmer ein paar Worte – war das Erwins Schlafzimmer?
 

Ich näherte mich der kaum zu vernehmenden Stimme; erkannte sie aber, sobald ich näher trat, definitiv als die von Levi. Unauffällig kniete ich vor der Tür, die zu einem Spalt geöffnet war und lauschte.
 

„Was willst du mir damit sagen?“

– seine Stimme hatte einen verwirrten Ausdruck. Mit wem redete er da? Keine andere Person war für mich erkennbar. Nur er stand dort – mit dem Rücken zum Bett gewandt und dem Blick auf den Schrank vor ihm.
 

„Wieso Jean? Der war doch nicht einmal hier…“

– er sprach über Jean? Was wusste er, was wir nicht wussten? Seltsamer Weise klangen seine Aussagen wie aus einem Dialog herausgerissen, jedoch benötigt man für einen Dialog mindestens zwei Personen. Plötzlich zuckte kurz sein festgefrorener Gesichtsausdruck; verwandelte sich in einen Ausdruck des Schocks – ich hätte niemals gedacht, dass solch eine Mimik auf seinem Gesicht möglich ist. Erst wollte ich ins Zimmer treten und fragen, ob alles in Ordnung war, doch es war nur ein ganz kurzer Moment. Sein Gesicht formten erneut diese genervt-gelangweilten Züge und ließen das Vergangene wirken, als wäre es nie geschehen.
 

„Wer hat das getan?“

– auch seine Stimme gab kein Zeichen, dass der eben offensichtlich geschockte Zustand Wirklichkeit war. Er klang so, wie ich ihn beim Treffen und hier kennengelernt hatte. Nicht einmal der Alkohol schien hier Wirkung zu zeigen. Wer sollte bitte was getan haben?
 

„Die Zeichen?“

– Zeichen? Also für einen Monolog war er ziemlich kreativ. Die einzige Erklärung für dieses Verhalten waren Drogen, ganz klar. Eigentlich waren die Leute, die ich auf der Straße unterstützte meist zwischen 14 und 25, aber er hier schien eine Ausnahme zu sein. Vielleicht dachte er aufgrund seiner Körpergröße noch in der Pubertät zu stecken.
 

„Du willst mich verarschen – meinst du etwa, dass wir alles falsch gemacht haben?“

– ganz schön harte Worte, aber seine ordinäre Ausdrucksweise konnte man ihm ja praktisch aus dem Gesicht lesen. Dennoch, was meinte er damit? Wäre ich nicht so oft schon mit Verrückten konfrontiert worden, würde ich sein Geplapper wahrscheinlich weniger ernst nehmen.
 

„Entscheidungen, die man am wenigstens bereut…was ist, wenn jemand nur bereut?“

– okay, hier lief definitiv etwas ab, was ich noch nicht verstand. Mein Buch hatte sicherlich etwas damit zu tun. War das sein Problem? Er war schizophren? War es das, was er nicht erzählen wollte?
 

Sein Blick klebte einige Zeit an dem Schrank vor ihm, bis er ihn schließlich in Richtung Tür schweifen ließ. Ein Signal für mich zu verschwinden. Sofort versteckte ich mich in Erwins Wohnzimmer, hinter der Couch. Er schaute sich beim Herausgehen nicht um, nahm dem Schlüssel von der Kommode im Flur und schloss die Tür hinter sich. Sehr gut. Nicht bemerkt.
 

Als ich mich anschließend im Zimmer umsah, konnte ich nichts Verdächtiges bemerken – nur, dass der Schrank in diesem Zimmer einen gigantischen Spiegel hatte – hatte er mit seinem Spiegelbild geredet? Oha. Da hatte jemand ja noch schlimmere Probleme als wir drei. Irgendwie beruhigend und bemitleidenswert zugleich.
 

Hier kam ich allerdings nicht weiter – wo hatte dieser Kerl wohl sein Tagebuch versteckt? Schließlich hatte er von seltsamen Einträgen berichtet; für meinen Geschmack ging er jedoch zu wenig ins Detail. Ich wollte mir selbst ein Bild von diesen ominösen Texten machen. Nachtschrank, Regal, Kleiderschrank – Fehlanzeige. Vorsichtig war der gute Mann ja anscheinend. Im Wohnzimmer – kein Schrank hatte irgendein Buch, was aussieht wie ein Tagebuch, beherbergt.
 

Wenn es nicht in seiner Wohnung war – hatte er es vielleicht bei sich? Das musste es sein – er hatte es sicherlich in seiner Tasche – die stand so viel ich wusste noch unten in bei der Sitzecke hinter den Kisten. Mitgenommen hatte er sie nicht. Na gut, dann war Beeilung angesagt – hoffentlich war er noch nicht zurück.
 

Andererseits – der Stapel Akten auf seinem Schreibtisch sah wirklich interessant aus. Kurzer Hand blätterte ich jene Unterlagen durch, las irgendwas von einem Pastor-Mord und selbst Bertholds Akte war dabei. Mitnehmen hätte ich die Papiere nicht können – das wäre aufgefallen. Jedoch wozu hatte man ein Smartphone? An die zehn Seiten abfotografiert, lief ich zur Tür, hinterließ alles so wie vorgefunden und rannte zügig die Treppen runter, damit die anderen keinen Verdacht schöpfen konnten.
 

Mit meinem Standard-Lächeln betrat ich die Garage erneut. Ein wenig wunderte ich mich, dass keine Musik mehr spielte – noch merkwürdiger war hingegen, dass mich alle Anwesenden bei meinem Eintritt anstarrten, als stände ich mit einer Kettensäge vor ihnen. Außer Levi, der war dabei die Tische abzuwischen.
 

„Was ist los, Leute?“
 

Mike trat mit langsamen Schritten an mich heran und legte seine Hände auf meine Schultern. Ich war wirklich nicht klein und schmächtig, aber gegen ihn wirkte ich wie eine Maus vor einer Katze.
 

„Reiner, es ist etwas Schreckliches passiert…“ – ich schluckte kurz, wollte noch nachfragen, brachte aber bei der Tonlage, die Mikes Stimme angenommen hatte, keinen Laut mehr heraus.
 

„Jean ist tot.“
 

Jean…tot…?
 

Ich blinzelte zweimal um mir überhaupt sicher zu sein, dass ich wach und das Gesprochene real war. War es das, was Levi meinte, als er fragte wer das war? Woher wusste er das? Wie erstarrt blieb ich vor ihm stehen, zuckte nicht einmal. Er war tot. Gestern hatte ich ihn doch noch zwinkernd verabschiedet…was passierte danach? Hätten wir ihn begleiten sollen? Irgendwie wuchs in mir ein Gefühl der Schuld, obwohl ich noch nicht einmal wusste, was passiert war.
 

Erst jetzt hörte ich Mike wiederholt meinen Namen sagen – seine Rufe rissen mich schließlich aus meinen Gedanken.
 

„Reiner! Hey, Reiner, hörst du mich?“ – da seine Worte endlich bei mir ankamen, nickte ich kurz, sagte aber nichts, da ich mir nicht sicher war, ob ich das Richtige gesagt hätte.
 

„Reiner, ich erklär dir später was passiert ist. Ich muss nun erstmal zu Erwin auf die Polizeiwache; man hat ihn als Hauptverdächtigen mitgenommen und er braucht schließlich einen Anwalt. Eren wird gerade noch versorgt und dann ins Krankenhaus gefahren. Mikasa und Armin wollen zu ihm, deswegen werde ich erst die beiden hinbringen und dann zur Wache fahren. Berthold meinte, ihr wohnt in der Nähe – kommt ihr allein nach Hause?“
 

Erwin, Hauptverdächtiger, Eren, Krankenhaus – wovon redete er da? Nicht mal im Ansatz verstehend, was er mir eigentlich erzählen wollte, nickte ich nur erneut und brachte somit ein Lächeln auf sein Gesicht.
 

„Okay, dann lass ich euch jetzt mal allein.“ – er drehte sich zu den anderen – „Mikasa, Armin – kommt ihr? Hanji du kannst Levi beim Aufräumen helfen, ich ruf euch beiden an, wenn ich mehr weiß.“
 

Berthold und Annie schauten mich, nachdem Mike mit den beiden verschwunden war, erwartungsvoll an, als ob sie nun erwarten würden, dass ich das Kommando gebe, dass wir losgehen konnten. Ich nickte nur in Richtung der Tür und ging voran. Nicht einmal ordentlich verabschiedet hatte ich mich von Hanji und Levi…leider aber von jemand anderen…
 

Ob wir die letzten waren, die Jean lebendig sahen? Es gab so viele Fragen, die mich beschäftigen. Außerdem wollte ich sprechen; wollte meine beiden Freunde fragen, was genau los war während ich weg war; wollte einfach nur dieses Schweigen brechen. Mein eigenes Schweigen widerte mich an, aber ich konnte nicht – bis Berthold mir plötzlich auf die Schulter klopfte.
 

„Wir haben keine Schuld, Reiner!“ – und die Ketten meiner Zunge waren gelöst.
 

„Wir hätten ihn nicht gehen lassen dürfen, Berthold.“
 

„Er wurde im Keller der Uni gefunden.“
 

Im Keller der Uni? Hatte Levi nicht vorhin noch etwas zu Eren über den Keller gesagt. Levi, du kleiner Mistkerl – du wusstest mehr als wir und tatest ja ach so betroffen. Vielleicht hatte er sogar? Nein – soweit wollten wir ja nun auch nicht gehen, aber dennoch…da stimmte etwas nicht.
 

Nach fünf Minuten waren wir auch schon zu Hause angekommen – wie gesagt, eigentlich wohnte er fast gegenüber.
 

„Berthold, ich kann jetzt nicht einfach hier zu Hause warten.“
 

„Ich weiß.“ – emotional geladen packte ich meinen größeren Freund leicht am Kragen.
 

„Nein, du verstehst nicht, was ich gehört habe. Levi, der Spiegel – und dann diese Dokumente, Berthold! Ich wollte noch das Tagebuch fotografieren…“
 

„Meinst du das hier?“ – Annies Stimme zwang mich dazu, Berthold loszulassen und mich schlagartig umzudrehen. Dort stand sie - Erwins Tagebuch in der Hand.
 

„Wie hast du -“
 

„Reiner, mein guter, glaubst du wirklich, du bist der einzige, der sich selbst von dem Zeug was hier drinnen steht überzeugen will?“
 

„Aber er wird es bemerken.“
 

„Er ist bei der Polizei, Reiner und vor morgen kommt er da auch nicht raus – war doch bei Berthold nicht anders. Bis dahin haben wir alles was wir brauchen und es ist wieder bei ihm.“
 

„Du bist echt genial, Annie!“
 

„Ich weiß.“ – ein breites Grinsen schmückte das Gesicht meiner blonden Freundin. Es war unmöglich auszudrücken, wir froh ich war, Freunde wie diese zu haben.
 

„Kommt ihr dann mit? Ihr wisst doch sicher wo ich hin will, oder?“ – natürlich wussten sie das. Als ob uns ein Anwalt daran hindern könnte unser eigenes Ding durchzuziehen – Armin und Mikasa konnten ja gern ihrem kleinen Freund sein Händchen halten. Erwins Plan brachte nichts, wenn er in den Knast kommen würde.
 

Ohne uns mit Worten zu verständigen, machten wir uns auf den Weg zur Uni. Strömender Regen und heulender Wind bedeckten die Straßen. Die Nässe drang durch meine Jacke; Kälte durchströmte meinen Körper. Es war bereits 21:10 Uhr und wir wussten nicht, inwiefern die Männer der Polizei noch da waren, aber Erwin war definitiv schon weg und Eren befand sich sicherlich auch schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Egal wer dort war, er konnte uns nicht aufhalten.
 

Nach kurzer Zeit angekommen, entdeckten wie der Eingang zur Universität weit geöffnet war. Überall hing zum Absperren das Polizeiband, welches wir gekonnt ignorierten. Einige wenige Stimmen konnte ich aus dem Keller vernehmen. Eigentlich wäre ich am liebsten nach unten gelaufen, aber dann hätten sie uns sicher bemerkt und rausgeschickt. Während Berthold und Annie schauten, ob noch woanders Polizisten rumliefen, blickte ich kurz die Treppen herunter, merkte aber zu spät, dass dort gerade vier Polizisten hochgingen. Jeweils zwei trugen zwei in weiße Tücher eingehüllte…Dinge? Ich duckte mich wieder leicht, erkannte als sie an mir vorbeigingen dennoch leider Gottes, was genau sie trugen. Aus dem ersten Bergungstuch hing ein Arm heraus – überzogen von geronnenem Blut, soweit ich das in der Dunkelheit erkennen konnte. Aus dem anderen schauten zwei Füße hervor. Aber die beiden Bergungstücher waren doch auseinander – waren es zwei Leichen oder wurde Jean etwa…? Meine eigenen Gedanken nicht beenden könnend, steig in mir plötzlich der Würgereiz und die gesamten Mahlzeiten des Tages verließen meinen Körper. Meine schnelle Atmung machte es mir nicht einfacher, weshalb ich ein wenig Panik bekam.
 

Annie, Berthold und natürlich auch die Polizisten hörten meine nicht gerade leise Reaktion auf das Gesehene. Berthold lief sofort zu mir, stützte mich und gab mir ein Tuch um das Nötigste von mir zu wischen. Annie versteckte sich erst einmal – was auch gut so war. Ein weiterer Polizist kam aus dem Keller – er musste es auch gehört haben.
 

„Junger Mann, was machen sie hier?“ – ich sah ihn nur schwer atmend an.
 

„Was haben Sie und ihr Freund hier verloren?! Das ist ein Tatort und keine Partymeile!“
 

Dachte er etwa ich kotze, weil ich zu viel getrunken hatte? Wow, was für ein Idiot. Zu gern hätte ich ihn eines Besseren belehrt, allerdings ließ das mein aktueller Zustand nicht zu. Mir war so dermaßen schlecht geworden, dabei hatte ich nicht einmal viel gesehen – allein diese Situation, diese Vorstellung – und erneut stieg in mir ein Würgereiz.
 

„Ihr beide kommt mit auf’s Revier – am besten in eine Ausnüchterungszelle!“
 

„Aber wir sind doch gar nicht betrunken – mein Freund ist nur geschockt.“
 

„Selbst Schuld, wenn ich euch hier rumtreibt. Muss ich etwa den Hauptkommissar holen?“
 

Der Typ wollte mich einsperren? Mich wollte er einsperren und so jemanden wie Jean konnte man nicht schützen? Kurz noch einmal mit dem Tuch abgewischt, stand ich auf, schaute den Polizisten an und rannte augenblicklich raus. Ich wusste, dass Berthold mir hinterherrennen würde, nur ich wollte einfach nicht mit diesem Kerl mitgehen. Meine Gedanken waren ausschließlich auf Flucht fokussiert – weg von der Polizei, weg von der Uni, vielleicht sogar weg von den Mauern – am besten weg von allem hier.
 

Draußen angekommen atmete ich erleichtert die frische Luft ein und schloss für einen Moment die Augen. Gleich würde Berthold hinter mir stehen und sich nach mir erkundigen und dafür war ich ihm auch unendlich dankbar, doch ich genoss diesen Augenblick der Stille. Lediglich die Geräusche weniger vorbeifahrender Autos und dem Regen drangen zu mir durch. Meine Übelkeit wollte nicht weichen – um mich nicht erneut zu übergeben, hielt ich meine Hand vor meinem Gesicht.
 

Gleich.
 

Gleich hätte ich mich wieder gefangen, könnte meinen Plan weiterverfolgen. Gleich würde Berthold bei mir sein. Sicher würde auch Annie bald herkommen.
 

Gleich.
 

Doch gleich wurde zu jetzt und ein erschütternder Blitz traf auf die Erde…

Realität - Eren Yeager

Schreie.
 

Überall Schreie. Blut.
 

Diese Schreie. Überall Blut. Der Geruch des Todes.
 

Diese Schreie. Dieses Blut. Überall der Geruch des Todes. Jean.
 

Hilfe. Er schreit. Schmerzen. Er blutet. Kampf. Er hat verloren. Er ist tot.
 

Jean!
 

Schreiend wachte ich auf, schreckte hoch und schlug wild um mich. Jedoch wurde ich augenblicklich von zwei Krankenschwestern zurück auf das hohe Bett gedrückt. Je öfter ich blinzelte, desto klarer wurde das Bild vor meinen Augen. Nur langsam realisierte ich wo ich eigentlich war. Weiß, steril, kalt – ein Krankenhaus. Schwer atmend drehte ich meinen Kopf zur Seite und erkannte Mikasa und Armin. Sie sagten etwas, aber ich konnte sie nicht verstehen. Lediglich ihre Lippenbewegungen konnte ich wahrnehmen.
 

Eine Schwester gab mir eine Spritze, wollte mir irgendetwas erklären, aber ich verstand sie nicht. Alles fühlte sich so weit weg an. Ich hörte nur Rauschen und Piepsen, als wäre ich unter Wasser. Mein Blick wanderte im Zimmer umher; erkannte eine äußerst geschmacklose Einrichtung. Rechts von mir ein Tisch als Ablagefläche, keine Bilder; fliederfarbene Vorhänge. Als ich mit etwas Mühe an mir runter schaute, bemerkte ich an wie vielen Geräten ich angeschlossen war – das erklärte das Piepsen. Nachdem sich meine Atmung etwas beruhigt hatte, griff ich mit einer Hand nach Armin.
 

Er ergriff sie und fing an zu weinen. Aber warum weinte er? Hatte ich etwas falsch gemacht? War mein Anblick so schrecklich? Ich wurde wieder müde. Egal wie sehr ich dagegen ankämpfte, meine Lider fielen zu und hüllten mich in endlose Dunkelheit.
 


 

Schritt für Schritt wanderte ich durch einen langen Gang. Dunkelheit umgab mich, nur ein paar Fackeln stellten eine Lichtquelle war. Ich hörte das Gummi meiner Schuhsohlen auf dem Boden schrammen, während ich immer tiefer in dieses Geflecht aus Finsternis eindrang. Plötzlich konnte ich nicht mehr weitergehen, da mir eine unsichtbare Scheibe den Weg versperrte. Kurz dagegen geprallt blieb ich stehen, tastete sie mit den Händen ab, konnte aber nicht erfühlen, was genau sich vor mir befand.
 

Gerade als ich umdrehen wollte, da ich sowieso keine Möglichkeit sah weiterzukommen, hörte ich jemanden schwer atmen und spürte Schritte auf dem Boden. Sie waren schnell, wurden hörbar, kamen näher. Links hinter der Scheibe leuchtete eine Fackel eine Treppe hoch. Angespannt starrte ich in diese Richtung, da ich von dort aus die Geräusche wahrnehmen konnte. Ein Mann – es war definitiv ein Mann, dessen Atmung ich hörte. Gepäck – er musste eine Tasche oder so bei sich haben, denn man konnte deutlich Metall gegen Plastik oder Ähnlichem schlagen hören. Unerwartet eilte ein Mann fluchtartig die Treppen runter, versuchte die ihm gegenüberliegende Tür, die ich erst jetzt bemerkte, zu öffnen, scheiterte aber kläglich an dem Versuch. Panisch schaute er sich um, tangierte sogar mich mit seinem Blick, schien mich allerdings nicht wahrzunehmen. Weitere Schritte nahmen Gestalt an, als eine weitere Person am Ende der Treppe stand. Vermutlich auch ein Mann, größer als sein gegenüber.
 

Meine Faust klopfte unaufhörlich gegen die durchsichtige Scheibe, versuchte meinen stummen Rufen Ausdruck zu verleihen, doch keiner der beiden schien auf mich aufmerksam zu werden. Die beinahe komplett von Kleidung bedeckte Person an der Treppe näherte sich dem Verängstigten mit langsamen Schritten, während dieser immer mehr zurück wich. Schließlich stand er mit dem Rücken zur verschlossenen Tür.
 

Eine ausgestreckte Hand konnte ich von links erkennen – es schien als wollte der Angreifer irgendetwas von ihm haben wollen. Der Mann mit den bernsteinfarbenen Haaren kramte ein paar Papiere aus seiner Tasche. Anscheinend waren es Dokumente, teilweise wohl auch Kontoauszüge, da das Format dafür sprach. Er wedelte damit provokant in der Luft herum.
 

Sein Gegner schien nicht amüsiert, machte Anstalten, als würde er ihn anschreien und ihm drohen. Immer näher kommend, zog er dabei zwei Messer aus seinen Taschen. Allerdings ließ sich sein Opfer nicht beeindrucken. Er bückte sich und schob den dünnen Stapel Papier, welchen er bis eben in seiner Linken hielt, ohne zu zögern unter dem Spalt der verschlossenen Tür durch. So tief, dass selbst die längsten Finger sie nicht mehr erreichen konnten.
 

Wie erwartet wurde der Angreifer wütend. Entgegen meiner Vermutung, er würde mit aller Gewalt versuchen die Tür zu öffnen oder die Dokumente mit dem Messer wieder rauszufischen, rannte er auf den Mann, der gerade vor seinen Augen etwas Wichtiges verschwinden ließ, zu und stach ihm zweimal in die Schulter. Dies zwang sein Gegenüber dazu den Rucksack in seiner Rechten loszulassen, welcher anschließend zu Boden fiel. Dabei rutschte ein Laptop heraus. Sein linker Arm war getränkt in Rot und gerade als er versuchte in seine Hosentasche zu fassen, holte sein Peiniger aus und verpasste ihm einen äußerst starken Tritt. Er ging zu Boden, krümmte sich vor Schmerz. Der Angreifer lachte stumm.
 

Immer und immer wieder schlug ich gegen die Scheibe, doch niemand hörte mich. Er brauchte Hilfe. Er hatte Schmerzen. Er kämpfte. Er würde verlieren. Jean!
 

Meine Handgelenke wurden von warmen Händen umfasst, immer wieder hörte ich meinen Namen. Eren, riefen die Stimmen. Eren. Eren.
 

Ich wachte auf und blickte in große, blaue, traurige Augen, die mich fixierten. Links neben mir saß Mikasa, die ihre Hände auf meine Schulter legte. Erneut brauchte ich einige Minuten, um meine Atmung zu koordinieren. Jean. Er war tot.
 

Nachdem ich einige Male hin und her blinzelte, versuchte ich mich leicht aufzusetzen und starrte dabei permanent auf die Wand vor mir. Warum? Warum Jean? Was wusste er vor seinem Tod, was wir nicht wussten?
 

„Wo ist Erwin?“, fragte ich plötzlich mit zittriger Stimme und wunderte mich selbst über meine Frage. Ich hatte gar nicht an ihn gedacht. Erwin – ja, wo war er? Ich erinnerte mich nicht genau, was passiert war, nachdem wir…naja…sobald ich meine Augen schloss sah ich nur dieses Bild – aber ich spürte etwas. Wärme. Jemand trug mich an einen kalten, nassen Ort, aber schenkte mir seine Wärme. Wer hatte mich überhaupt ins Krankenhaus gebracht? Und was war mit den anderen passiert?
 

„Erwin ist auf der Wache, er wird gerade verhört.“ – Wache? Also kam die Polizei dazu. Dachten sie etwa…? Nein, das war unmöglich.
 

„Eren, wie geht es dir?“ – Mikasas Frage riss mich aus meinen verwirrten Gedanken. Wie es mir ging? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht einmal wie spät es war.
 

„Wie spät ist es?“ – offensichtlich war sie nicht davon begeistert, dass ich ihre Frage nicht erwiderte. Jedoch musste ich wissen, wie lange ich schon hier war.
 

„Es ist 22:20 Uhr.“, antwortete Armin und nahm Mikasa somit die Möglichkeit meine Ignoranz zu kommentieren. Mein Blick wanderte zu dem kleinen Spalt am Fenster, den die Vorhänge nicht bedeckten. Wenn man die Augen schloss, konnte man den Regen hören. Aber ich wollte die Augen nicht schließen. Ich wollte es nicht mehr sehen.
 

„Die anderen sind auch nach Hause gegangen, Eren.“
 

Die anderen waren auch zu Hause. Und was war mit Erwin? Wir konnten ihn doch nicht auf der Wache lassen. Er hatte doch nichts getan. Mit aller Kraft versuchte ich meine Beine zu bewegen, schaffte es allerdings nicht. Was war nur los? Ich war doch nicht verletzt, oder?
 

Mikasa nur teilnahmslos anstarrend suchte meine linke Hand blind nach meinem Handy in der Hosentasche, fand es allerdings nicht, da ich andere Kleidung trug als zuvor.
 

„Wo ist mein Handy?“
 

Armin gab es mir ohne zu zögern und stellte keine Fragen. Ich liebte es, wenn sie mich einfach das tun ließen, was ich für richtig hielt. Sie waren wahre Freunde.
 

Ich schaute auf mein Handy. Keine SMS. Aus einem unverständlichen Grund ließ ich enttäuscht für einen Augenblick die Lider fallen. Da war er wieder. Jean.
 

Angsterfüllt riss ich sie wieder auf, sammelte mich und versuchte den Schock herunter zu schlucken. Das Bild, welches ich eigentlich durch diese seltsame Mail kannte, hatte sich noch viel tiefer in mein Gehirn gebrannt. Jeder einzelne Blutstropfen hätte von mir aufgemalt werden können. Jeder einzelne.
 

„Eren, der Hauptkommissar möchte gern mit dir reden. Er wollte gegen 22:30 Uhr wiederkommen.“
 

Hauptkommissar? Konnte der nicht bis morgen warten? Ich wollte nicht mit ihm reden. Eigentlich wollte ich gerade mit niemanden reden.
 

Ein Klopfen an der Tür. Nein, bitte geh wieder.
 

„Herein!“, brachte Mikasa hervor und erntete damit einen ermahnenden Blick von mir. Ich wollte ihn nicht sehen.
 

„Guten Abend, junger Mann. Mein Name ist Farlan Church, ich leite momentan die Ermittlungen im Fall Jean Kirstein.“
 

Meine Augen musterten den blonden Polizisten, meine Lippen bebten, brachten aber keinen Ton hervor.
 

„Du bist Eren Yeager, richtig?“ – er nahm neben meinem Bett auf einem Stuhl Platz.
 

Wer hatte ihm das „du“ angeboten? Ich fand diesen Kerl ziemlich unverschämt, nickte aber dennoch bestätigend.
 

„Es tut mir Leid, was passiert ist. So etwas hat niemand verdient. Aber deswegen möchte ich auch so schnell wie möglich herausfinden, wer das getan hat – hilfst du mir dabei?“
 

Ich nickte erneut, diesmal aber eher abwimmelnd als bestätigend. Dieser Mann war seltsam.
 

„Ich danke dir. Also. Erst einmal die Frage: Warum bist du mit Herrn Smith dorthin gegangen?“
 

Mein Atem stockte.

Die SMS.

Zu spät.

Jean.
 

Plötzlich schlugen alle Erinnerungen auf mich ein, erdrückten mich, verschlugen mir Luft und Sprache. Ich schnappte nach Luft und fühlte Tränen meine Wangen herunterfließen. Verdammt. So würde ich niemanden helfen können.
 

Der junge Polizist stand auf, legte seine Hand auf meine Schulter und bückte sich ein wenig, um mir direkt in die Augen zu schauen.

„Hey Kleiner, alles okay. Lass dir Zeit für die Antwort. Ich weiß, es ist schwer. Aber glaub mir, das alles hier hat einen Sinn. Am Ende sind das die Momente auf die wir zurückblicken und sagen: Zum Glück haben wir dort gehandelt!“
 

Dieser Mann strahlte soviel Entschlossenheit aus, dass man sich bei seinen Worten sofort sicher und gut aufgehoben fühlte. Ich war mir nicht sicher, ob er an das was er sagte selbst glaubte, aber ich glaubte ihm.

Gerade als ich ausholen wollte, um ihm auf seine Frage zu antworten, öffnete sich unerwartet die Tür des Zimmers.
 

„Eren. Ich brauche deinen Schlüssel. Schnell!“ – es war Levi, der mit schnellen Schritten auf mich zuging mir somit einen gigantischen Schrecken einjagte. Kommissar Church ließ sich das jedoch nicht gefallen.
 

„Junger Mann, ich befrage den Herren gerade! Wer sind Sie bitte?!“ – er drehte sich zu Levi und baute sich vor ihm auf.
 

„Vielleicht der Retter der Menschheit, wenn Sie mich mal durchlassen würden, Officer!“ – Levi sprach diesen Satz in einer ironisch-abwertenden Tonlage, sodass die Provokation für den Polizisten kaum zu überhören war.
 

„Ich denke – so wie Sie riechen - sollten Sie erst einmal sich selbst vor dem Alkohol retten, bevor Sie die Menschheit retten.“
 

„Möchten Sie sich vielleicht um das Monster dort draußen kümmern, Officer?“ – der Kommissar schwieg, legte den Kopf etwas schräg und schaute Levi nur verwirrt an. Was meinte er mit Monster?
 

Sich nicht von Herrn Church beirren lassend, packte er meinen Schlüssel, den ich immer noch um meinen Hals trug und riss ihn mir vom Hals. Eigentlich schmerzte es nicht so stark, doch als der Schlüssel von mir getrennt wurde, hatte ich das Gefühl, er würde einen Teil meiner Seele aus meinem Körper reißen.
 

Noch bevor einer der Anwesenden etwas gegen ihn unternehmen konnte, verschwand der kleine Dieb auch schon aus dem Raum und wahrscheinlich wenige Momente später aus dem Krankenhaus.
 

Immer noch etwas verstört, wuchs mehr und mehr die Wut in mir. Wer dachten diese Leute eigentlich wer sie waren? Mord, Diebstahl, Beleidigung, Drohung – wo lebten wir denn? Ich wollte meinen Schlüssel zurück – schließlich brauchten wir ihn noch. Die Ermittlungen unserer geheimen Truppe – Aufklärungstrupp wie Hanji sie genannt hatte – waren noch nicht abgeschlossen. Gerade jetzt, wo einer von uns Opfer wurde, mussten wir doch erst recht zusammenhalten und handeln. Einer von uns. Jean.
 

Ich konnte Jean noch nie wirklich leiden. Er hat ununterbrochen Mikasa angemacht, obwohl sie ihm deutlich erklärt hatte, dass sie nichts von ihm will. Seine Arroganz war beinahe ein eigenständiges Wesen und er zog es vor bequem zu leben. Dennoch. Das – das hatte er verdammt nochmal nicht verdient!
 

Egal wie sehr ich es versuchte, ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten und auch Armin, der sowieso viel näher am Wasser gebaut war als ich, konnte sich nicht länger zusammenreißen. Mikasa wollte stark sein für uns, aber auch ihr stand die Trauer ins Gesicht geschrieben.
 

Kommissar Church trat nach Levis plötzlichen Abgang näher an uns heran und legte seine Hand erneut auf meine Schulter.
 

„Es tut mir Leid, der Kerl hat mich überrascht. Du scheinst ihn zu kennen – ich hol dir deinen Schlü-“ – seine Beschwichtigungsrede wurde auf einmal von dem Klingeln seines Diensthandys unterbrochen.
 

„Church.“
 

„Was?!“
 

„Ja, ich komme sofort hin. Schickt das Sondereinsatzkommando nach!“
 

Er richtete seine Augen wieder auf uns drei.
 

„Tut mir Leid, ihr drei. Dort draußen geschieht anscheinend etwas Unglaubliches und ich muss los, um das Schlimmste zu verhindern. Am besten bleibt ihr hier und ruht euch aus.“ – mit diesen Worten verschwand er.
 

Wehmütig hielt ich meine Hand an meinen Kopf. Es war alles zu viel. Das Bild, das Treffen, Jean, Erwin, der Kommissar, Levi und nun das, was dort draußen war. Aber was meinte Levi mit Monster? Und warum kam er plötzlich hierher? Wo war Mike eigentlich? Und diese verrückte Hanji? Ich hatte den kompletten Überblick über die Ereignisse verloren. Daten, Fakten, Zeiten – alles vermischte sich miteinander. Außerdem fragte ich mich immer wieder, ob wir es hätten verhindern können. Hatten wir etwas falsch gemacht? Hatten wir etwas vergessen zu berücksichtigen? Oder war Jean selbst Schuld? Doch warum Jean?
 

Ich wünschte mir in diesem Moment, ich würde aufwachen, wie an dem Tag, an dem mein Horror begann. Dass dies alles ein Alptraum war und ich einfach kurz vor den Ereignissen aufwachen würde. Sofort würde ich losstürmen, die Geschehnisse verhindern oder zumindest verändern…doch das hier…war kein Traum.
 

Überraschend hörten wir etwas sehr Schweres auf den Boden fallen. Es kam von draußen und es klang als wären es Steine oder so gewesen. Ebenfalls konnten wir ein Beben der Erde spüren. Neugierig öffnete Armin den Vorhang, sodass wir hinaus sehen konnten. Das, was wir sahen, war nicht zu glauben. Wahnsinn und Realität waren noch nie undeutlicher zu trennen. Ich wollte aufwachen.
 

Doch das hier…war kein Traum…


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo - nun sind wir mit der ersten Phase durch, das heißt, dass in Zukunft immer einer von dieses sechs Charas erzählt - die Reihenfolge ist dabei jedoch nicht zwingend~

Ich hoffe euch hat es gefallen und ich bin gespannt auf eure Meinungen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Was haltet ihr von Hanjis tollen Rezepten? Wären doch mal ein Rezeptbuch wert oder? :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetzt sind wir mit der 2. Phase durch - unsere Helden haben einen Plan und wir sind mal gespannt wie der umgesetzt wird ;)
Die Reihenfolge der Charas wurde in dieser Phase noch eingehalten, verlasst euch das nächste Mal nicht darauf 8D

Auf eine tolle Phase 3! :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit sind wir in die 3. Phase gestartet!

Freu mich auf eure Meinungen ♥ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey Leute ♥

Ich hoffe, ihr habt das letzte Kapitel gut überstanden! Ich weiß, es war ein Schock :o

Mal sehen was ihr zu diesem hier sagt - vielleicht habt ihr ja eine Vermutung was passiert ist? ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von: abgemeldet
2015-04-05T20:00:24+00:00 05.04.2015 22:00
Wow. Ich habe mal deine FF durchgelesen und finde sie unglaublich spannend *-* Du hast einen sehr guten Schreibstil. Bitte schreib weiter. Bin schon so gespannt wie es weiter geht O.O

LG^^Alien^^
Antwort von:  AbaddonCornix
05.04.2015 22:33
Vielen lieben Dank, da wird auf jeden Fall bald mehr kommen!

LG
Abaddon~
Von:  Kawaii_Inu
2014-09-24T16:15:34+00:00 24.09.2014 18:15
Hey^^

Ich find deine FF bisher einfach genial^^ diese ganzen Ereignisse bei den einzelnen Personen und wie die ganzen Geschichten dann zusammenführen is einfach super XD bin echt auf den weiteren Verlauf gespannt, bitte schnell weiterschreiben :)
Antwort von:  AbaddonCornix
28.09.2014 16:42
Vielen Dank für dein Lob - so etwas freut mich natürlich immer :)

Es geht auf jeden Fall schnell weiter, ich muss auf die Freischaltung hier waren ;)
Von:  -Drachenblut-
2014-09-06T15:49:35+00:00 06.09.2014 17:49
Das Kapitel war mal wieder toll *o*
Mach bitte ganz schnell weiter ♥^♥
Antwort von:  AbaddonCornix
08.09.2014 10:41
Vielen lieben Dank für deine ganzen tollen Kommis *^*
Von:  -Drachenblut-
2014-09-06T15:24:47+00:00 06.09.2014 17:24
Hanji sollte da echt mal eins schreiben XD
Die würde in Kochen bestimmt auch Sasha übertreffen *°*
Übrigends fand ich den Namen Giftspaten für Levi echt genial XD Ich sollte mir da mal alle Namen für den aufschreiben, da kommt ne Menge zusammen v-v
Antwort von:  AbaddonCornix
08.09.2014 10:43
Haha, gut zu wissen :D
Levi ist auch ein Giftspaten :3
Von:  -Drachenblut-
2014-09-06T14:32:01+00:00 06.09.2014 16:32
Wow okay, dat is geil *q*
Huii ♥......♥ Ich liebe Erwin x Levi so abgöttisch und dazu noch das psycho Gedingse (okay, hier muss ich mich wirklich für meine Beschreibung entschuldigen) von unserem geliebten kleinen Chibi X3
Meow, ich hoffe wirklich das von den beiden Sachen noch ganz viel kommt >x< (vielleicht ist es auch schon, sind ja schon weitere Kapitel da c:)
Antwort von:  AbaddonCornix
08.09.2014 10:50
Oh Gott, da kann ich dich mega verstehen, ich liebe dieses Pair auch *o*
*EruRi-Fähnchen schwenk*

Da kommt bestimmt noch was ;)
Ich kann dir dann auch nur meinen OS "Struggle" empfehlen, das geht es nur um Erwin und Levi ♥
Von:  -Drachenblut-
2014-09-06T12:50:03+00:00 06.09.2014 14:50
Okay, ich liebe diese Ff und du musst sie unbedingt zu ende bringen ♥x♥
Die Story ist genial und das alles ist wirklich angenehm zu lesen *o*
Antwort von:  AbaddonCornix
08.09.2014 10:44
Keine Sorge, die FF wird noch lange leben und auch beendet werden ;)


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